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German Pages 821 [828] Year 1980
de Gruyter Lehrbuch
w DE
G
Helmut Köster
Einführung in das Neue Testament im Rahmen der Religionsgeschichte und Kulturgeschichte der hellenistischen und römischen Zeit
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1980
Die wissenschaftliche Leitung der theologischen Lehrbücher im Rahmen der „de Gruyter Lehrbuch"-Reihe liegt in den Händen des ord. Prof. der Theologie D. Kurt A l a n d , D. D., D. Litt. Diese Bände sind aus der ehemaligen „Sammlung Töpelmann" hervorgegangen.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutseben Bibliothek
Köster, Helmut: Einführung in das Neue Testament: im Rahmen d. Religionsgeschichte u. Kulturgeschichte d. hellenist. u. röm. Zeit / Helmut Köster. Berlin, New York: de Gruyter, 1980. (De-Gruyter-Lehrbuch) ISBN 3-11-002452-7
© 1980 by Walter de Gruyter & Co., vormals G.J.Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer • Karl J. Trübner · Veit Sc Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Weg (Photokopie, Mikroskopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: H. Heenemann KG., Berlin. Einband: Lüderitz Sc Bauer, Berlin.
Dem Andenken an meinen Lehrer RUDOLF BULTMANN
VORWORT Die Anregung, eine „Einführung in das Neue Testament" als Geschichte des frühen Christentums im Rahmen der neutestamentlichen Zeitgeschichte zu schreiben, ergab sich aus der Erneuerung des Werkes von Knopf-Lietzmann-Weinel mit dem gleichen Titel in den Lehrbüchern der Sammlung Töpelmann (jetzt de Gruyter Lehrbücher). Es handelt sich also hier nicht um eine „Einleitung in das Neue Testament" (Diskussion von Abfassungszeit, Verfasser, Integrität und Aufbau der einzelnen neutestamentlichen Schriften) noch um eine frühchristliche Literaturgeschichte. Sie ist von Ph. Vielhauer mit seiner „Geschichte der urchristlichen Literatur" in dieser Lehrbuchreihe geliefert worden. Hier geht es vielmehr um die Darstellung des geschichtlichen Ablaufs. Die frühchristlichen Schriften sind jeweils an dem ihnen zukommenden O r t innerhalb der geschichtlichen Entwicklung behandelt. Daß ich mich dabei nicht auf die kanonischen Schriften des Neuen Testamentes beschränken konnte, ist selbstverständlich; denn bei der Rekonstruktion der frühchristlichen Geschichte wollen neben den 27 Schriften des Neuen Testaments noch etwa 60 weitere frühchristliche Schriften mitgehört werden, die in den ersten 150 Jahren des Christentums verfaßt wurden und teils vollständig, teils fragmentarisch erhalten sind. Der Versuch einer geschichtlichen Darstellung erfordert aber nicht nur eine Überschreitung der Grenzen des neutestamentlichen Kanons, er verlangt auch vom Historiker daß er sich entscheidet, ob eine Schrift „echt" ist und wann und wo sie entstanden ist. Die Ergebnisse historisch-kritischer Forschung müssen also ständig angewandt werden. Die Problematik solcher Entscheidungen habe ich in jedem einzelnen Fall darzulegen versucht. Daß die zeitliche und geographische Einordnung nichtkanonischer Schriften oft problematischer ist als die der kanonischen Bücher, liegt z.T. an der traditionellen Konzentration wissenschaftlicher Arbeit auf den neutestamentlichen Kanon, z.T. daran, daß viel apokryphes Material erst in jüngster Zeit entdeckt wurde und die wissenschaftliche Diskussion noch in den Anfängen steckt. Aber es schien mir besser, durch Hypothesen die Forschung voranzutreiben als
VIII
Vorwort
das neue Material einfach links liegen zu lassen. W e r sich in das N e u e Testament einarbeiten will, kann bei der heutigen Forschungslage keinen sorgfältig abgesteckten Bereich gesicherter Ergebnisse erwarten. Die neutestamentlichen Schriften sind Zeugen f ü r die Probleme, Kontroversen und Entscheidungen einer vielfach bewegten geschichtlichen Entwicklung. N e u e Handschriftenfunde aus der Frühzeit des Christentums ebenso wie der Wandel in der historischen Fragestellung fordern dazu auf, die Linien dieser Entwicklung innerhalb des Rahmens der Kultur- und Religionsgeschichte der Alten Welt neu zu zeichnen. D a f ü r will dieses Buch Hilfe und Anregung geben. Es ist selbstverständlich, daß ich mich bei dem U m f a n g des hier verarbeiteten Materials nicht immer auf eigene Forschungen berufen kann. Auf vielen behandelten Teilgebieten wird der Fachmann ein besseres Urteil haben als ich. Zu D a n k verpflichtet bin ich aber nicht nur den veröffentlichten W e r k e n anderer Gelehrter, sondern vor allem auch meinen Studenten an der Harvard-Universität, die viele Vorarbeiten zu diesem Buch mit aufmerksamer Kritik begleitet haben, sodann meinen Kollegen, von denen ich in den beiden letzten Jahrzehnten in gemeinsamen Lehrveranstaltungen, Gesprächen und Diskussionen unendlich viel gelernt habe. Mein besonderer D a n k gilt den Kollegen und Freunden Klaus Baltzer, Frank M. Cross, Dieter Georgi, George MacRae, Krister Stendahl, John Strugnell und Zeph Stewart. O h n e die Geduld meiner Frau und meiner Kinder wäre dieses Buch wohl nie fertig geworden. Philip Seilew hat einen großen Teil der Last der bibliographischen Arbeit mit Eifer und Sachkenntnis auf sich genommen. Gary Bisbee hat die beigegebene Karte erstellt. Beiden danke ich f ü r ihre Hilfe. Gewidmet ist dieses Buch dem Andenken an meinen Lehrer Rudolf Bultmann, der mich einst zur Beschäftigung mit außerkanonischen Quellen ermunterte und dessen unbeirrbares Festhalten an der historisch-kritischen Methode und an der religionsgeschichtlichen Arbeit f ü r den Fortgang der neutestamentlichen Arbeit verpflichtend bleiben muß. Harvard-Universität, Cambridge, Massachusetts Im August 1979
Helmut Köster
BENUTZUNGSHINWEISE FÜR DIE LITERATURANGABEN, ABKÜRZUNGEN Bei den bibliographischen Angaben handelt es sich nicht um ein Literaturverzeichnis, sondern um Hinweise zum Weiterlesen und um Anregungen zur vertieften Beschäftigung mit den einzelnen Problemen und den verschiedenen Schriften, die hier behandelt sind. Vor allem im II.Abschnitt des Buches habe ich des öfteren (jeweils in Klammern) gesagt, wozu die Angabe eines Titels dienen soll (z.B.: griechische Textausgabe, deutsche Übersetzung, grundlegende Monographie, usw.). Zwar habe ich versucht, die wichtigsten Bücher und Aufsätze jeweils zu nennen, mich aber nicht um Vollständigkeit bemüht, sondern vielmehr darum, nützliche und weiterführende Werke in Auswahl zu nennen, gelegentlich auch die Erwähnung interessanter Beiträge aus der gegenwärtigen Diskussion der Anführung wissenschaftlicher Kommentare vorgezogen; für das Auffinden einschlägiger Sachliteratur stehen ohnehin viele leicht zugängliche Hilfsmittel zur Verfügung. Für die Literatur zu den frühchristlichen Schriften sei an dieser Stelle vor allem auf Ph.Vielhauers in der gleichen Reihe erschienene Geschichte der urchristlichen Literatur verwiesen, im übrigen auf die einschlägigen Lexika: Das Reallexikon für Antike und Christentum, Der Kleine Pauly, Die Religion in Geschichte und Gegenwart, The Interpreter's Dictionary of the Bible (hier von allem auf den kürzlich erschienenen Supplementband). Die in den Literaturangaben verwendeten Abkürzungen entsprechen dem Internationalen Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete von S. Schwertner (De Gruyter, 1974). Die bei biblischen Büchern verwendeten Abkürzungen entsprechen dem allgemeinen Gebrauch. Im übrigen werden folgende Abkürzungen verwendet: AT BG
Altes Testament Berliner Koptisch-gnostischer Papyrus
χ
Abkürzungen
c. CG Jh. nChr NT vChr
Kapitel Koptisch-gnostische Schriften aus Nag Hammadi Jahrhundert nach Christi Geburt Neues Testament vor Christi Geburt
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort VII Benutzungshinweis für die Literaturangaben, Abkürzungen . . IX I.
GESCHICHTE, KULTUR UND RELIGION HELLENISTISCHEN ZEITALTERS
DES
§ 1 GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK 1. Griechenland und die Welt des östlichen Mittelmeeres vor Alexander a) Hellenisierung bis zum 4. Jh. vChr b) Die östliche Mittelmeerwelt vor Alexander c) Griechenland d) Das persische Weltreich 2. Alexander der Große a) Die Voraussetzungen für die Eroberung des Ostens b) Der Eroberungszug Alexanders c) Die Lage beim Tode Alexanders 3. Die Diadochenkämpfe und die Bildung der Diadochenreiche a) Die Entwicklungen bis zum Tode Antipaters b) Die Ereignisse bis zur Schlacht bei Ipsos c) Die Konsolidierung der hellenistischen Reiche . . . . 4. Die einzelnen Reiche und Staaten der hellenistischen Welt bis zur römischen Eroberung a) Griechenland und Makedonien b) Kleinasien c) Ägypten d) Das Seleukidenreich und Syrien e) Sizilien und Unteritalien 5. Politische Ideologie und Herrscherkult a) Grundlagen der politischen Ideologie b) Ursprung und Anfänge des Herrscherkultes c) Herrscherkult in Ägypten d) Herrscherkult im Seleukidenreich
1 2 2 2 3 4 6 8 8 9 11 12 12 14 16 17 18 21 24 26 30 32 32 33 35 37
XII
Inhaltsverzeichnis
§ 2 GESELLSCHAFT U N D W I R T S C H A F T
38
1. Hellenismus und Hellenisierung a) Der Begriff des Hellenismus b) Das Griechentum und die beherrschten Völker . . . .
38 38 39
2. Grundstrukturen der Verwaltung und Wirtschaft . . . . a) Griechenland und Makedonien b) Die Griechenstädte Kleinasiens c) Die kleinasiatischen Königreiche d) Ägypten und Cypern e) Das Seleukidenreich f) Steuern
41 42 44 45 47 48 51
3. Die Gesellschaft a) Die Stellung der einheimischen Bevölkerung b) Die Stellung der Griechen und Fremden c) Sklaven und Sklaverei d) Wohlstand und Armut e) Das Vereinswesen
52 52 54 57 62 65
4. Die hellenistische Stadt a) Stadtgründungen (einschließlich der Kleruchien) . . . b) Stadtplanung und Bauten
68 68 71
5. Die Landwirtschaft a) Die Lage der landwirtschaftlichen Erzeugung b) Neuerungen in der landwirtschaftlichen Produktion ·
75 75 76
6. Handwerk und Industrie a) Bergwerke und Metallindustrie b) Textilien c) Keramik und Glas d) Schreibmaterial und Bücher
78 78 79 80 81
7. Handel, Geld- und Bankwesen a) Die wichtigsten Handelsinteressen b) Die wichtigsten Handelsstraßen c) Geld- und Münzwesen d) Banken
85 85 87 90 92
§ 3 BILDUNG, SPRACHE, LITERATUR
94
1. Grundzüge des kulturellen und geistigen Lebens a) Die Öffentlichkeit der Kultur b) Die Internationalität des kulturellen Lebens
94 94 99
Inhaltsverzeichnis
XIII
2. Die Sprache a) Die Entwicklung der griechischen Sprache zur Koine b) Die Sprache der Literatur c) Zeugnisse für die Umgangssprache d) Die Sprache der frühchristlichen Schriften und die Koine e) Das Neue Testament und die semitischen Sprachen .
103
3. Die Wissenschaften a) Voraussetzungen und Anfänge b) Die Blüte der Wissenschaft in der hellenistischen Zeit c) Die spätere Entwicklung bis zur römischen Zeit . . .
117 117 119 123
4. Die Literatur a) Die Voraussetzungen b) Die Dichtung c) Die Geschichtsschreibung d) Biographie und Aretalogie e) Der Roman
125 126 129 133 136 140
§4 PHILOSOPHIE U N D RELIGION
145
103 105 107 110 113
1. Die philosophischen Schulen und der philosophische Glaube 145 a) Die Akademie und der Piatonismus 145 b) Der Peripatos 149 c) Epikur und die Epikureer 149 d) Die Stoa 152 2. Der hellenistische Zeitgeist a) Die Kyniker b) Der Euhemerismus c) Astrologie und Schicksalsglaube d) Der Orphizismus und die Vorstellungen vom Leben nach dem Tode
157 158 159 161
3. Die Entwicklung der griechischen Kulte a) „Synkretismus" b) Die alten Götter und ihre Kulte c) Die Orakel d) Asklepius
168 169 172 177 179
165
XIV
Inhaltsverzeichnis e) Die griechischen Mysterien (Eleusis und Samothrake) 182 f) Dionysos 185
4. Die neuen Religionen a) Sarapis und Isis b) Die Magna Mater und Attis c) Sabazios, Men und andere d) Das Problem der Mysterienreligionen
189 190 197 200 202
§ 5 DAS J U D E N T U M D E R H E L L E N I S T I S C H E N Z E I T . . 212 1. Die Geschichte Israels bis zur römischen Eroberung a) Vom Exil bis zu Alexander dem Großen b) Palästina unter hellenistischen Herrschern c) Der Makkabäeraufstand d) Die Zeit der Hasmonäer e) Die jüdische Diaspora
. . 212 213 214 216 222 227
2. Die Geschichte der jüdischen Religion a) Tempel, Gesetz, Priester (Sadduzäer) b) Die Apokalyptik c) Die Essener d) Die Pharisäer e) Die Weisheitstheologie f) Die Samaritaner
235 237 239 243 248 253 256
3. Die Literatur des Judentums der hellenistischen Zeit . . a) Die Sprachen des Judentums in der hellenistischen Zeit b) Die Septuaginta c) Die Literatur der apokalyptischen Bewegung d) Die Geschichte Israels im Spiegel der jüdischen Literatur der hellenistischen Zeit e) Von der Weisheit zur philosophischen Apologetik . . f) Philo von Alexandrien
260 261 262 266 273 280 284
Inhaltsverzeichnis
II.
XV
DIE ENTSTEHUNG UND GESCHICHTE DES CHRISTENTUMS IN DER RÖMISCHEN KAISERZEIT 295
§6 DAS RÖMISCHE REICH ALS ERBE DES HELLENISMUS 296 1. Die Entwicklung Roms zur Weltmacht 296 a) Das westliche Mittelmeer und seine Völker 296 b) Die römische Republik 298 c) Die Eroberung des Weltreichs 301 d) Der Bürgerkrieg 133-30 vChr 306 e) Augustus 316 2. Das römische Imperium bis zum Ende des Goldenen Zeitalters 321 a) Die Kaiser des julisch-claudischen Hauses 322 b) Die flavischen Kaiser 328 c) Das „Goldene Zeitalter" 331 3. Verwaltung und Wirtschaft a) Regierung und Verwaltung b) Wirtschaft und Verkehr c) Soziale Probleme
336 337 340 343
4. Die geistige Welt Roms a) Die Hellenisierung der römischen Kultur b) Die Dichtung c) Cicero und Varro d) Die Geschichtsschreibung e) Rhetorik und Zeite Sophistik f) Die Stoiker der Kaiserzeit g) Der philosophische Markt h) Dion von Prusa, Plutarch, Lukian
346 347 350 354 357 361 363 365 369
5. Die religiöse Welt Roms a) Die römische Religion und die fremden Kulte b) Der Kaiserkult c) Mithras d) Der Neupythagoreismus e) Astrologie und Magie f) Die Gnosis und die Hermetik
372 374 378 383 385 388 393
6. Palästina und das Judentum in der Kaiserzeit a) Herodes der Große
401 402
Inhaltsverzeichnis
XVI b) c) d) e) f) §7
Palästina unter den Söhnen des Herodes Judäa unter römischen Prokuratoren Agrippa I. und Agrippa II Palästina bis zum Untergang Jerusalems Das Judentum nach der Zerstörung Jerusalems . . . .
DIE Q U E L L E N FÜR DIE FRÜHEN CHRISTENTUMS
GESCHICHTE
406 408 409 411 418
DES 428
1. Bestand und Überlieferung 429 a) Die Entstehung der ältesten christlichen Schriften . . 429 b) Der neutestamentliche Kanon 433 c) Nichtkanonische Schriften des frühen Christentums . 440 d) Außerchristliche Zeugnisse 442 2. Der Text des Neuen Testamentes a) Probleme der neutestamentlichen Textüberlieferung . b) Die Papyri c) Die Unzialen d) Die Minuskeln e) Die alten Übersetzungen f) Die gedruckten Ausgaben des griechischen Neuen Testaments g) Prinzipien der neutestamentlichen Textkritik
444 444 450 453 458 461 467 472
3. Literarkritische Fragen 476 a) Allgemeines 477 b) Die synoptische Frage und die Quellen der Evangelien 477 c) Die Apostelgeschichte 482 d) Literarische Probleme der Paulusbriefe 485 e) 2. Petrus- und Judasbrief 489 f) Die Ignatiusbriefe 490 4. Form- und traditionsgeschichtliche Fragen 492 a) Die synoptische Überlieferung 492 b) Die älteren Traditionen in den Briefen 497 c) Erhaltene Traditionen bei den Apostolischen Vätern, den Apokryphen und Apologeten 500 § 8 V O N J O H A N N E S DEM MEINDE 1. Johannes der Täufer a) Leben und Botschaft
TÄUFER
ZUR
URGE504 504 504
Inhaltsverzeichnis
XVII
b) Der religionsgeschichtliche Hintergrund c) Die Wirkung Johannes des Täufers
505 506
2. Jesus von Nazareth a) Außere Lebensdaten b) Jesus als Prophet, Weisheitslehrer und Exorzist . . . . c) Die Verkündigung der Gottesherrschaft d) Die neue Situation des Menschen e) Kreuz und Auferstehung
506 507 509 511 513 516
3. Die ersten christlichen Gemeinden a) Die älteste Gemeinde in Jerusalem b) Die Hellenisten und Stephanus c) Die Gemeinde Antiochiens d) Andere christliche Gemeinden in Ost und West . . . .
518 519 522 524 526
§ 9 PAULUS 1. Paulus bis zum Apostelkonzil a) Herkunft und Erziehung b) Die Berufung c) Erste Periode der Mission; Chronologie des Paulus d) Das Apostelkonzil 2. Von Antiochien bis Ephesus a) Der Konflikt in Antiochien b) Mission in Anatolien und Makedonien c) Von Thessalonike nach Korinth d) Der 1. Thessalonicherbrief
529 529 530 531 . 534 537 539 539 541 543 545
3. Der Aufenthalt in Ephesus a) Mission in Ephesus b) Die judaistische Propaganda und der Galaterbrief . . c) Die korinthischen Pneumatiker und der 1. Korintherbrief d) Erneute Opposition in Korinth; der 2. Korintherbrief e) Ephesinische Gefangenschaft; Briefe an die Philipper und an Philemon f) Die Kollekte; letzte Korinthreise 4. Korinth-Jerusalem - Rom a) Der letzte Aufenthalt in Korinth: Römerbrief und „Epheserbrief" b) Reise nach Jerusalem und Schicksal der Kollekte . . . c) Prozeß des Paulus und Romreise
547 549 550 554 560 565 570 572 573 577 580
XVIII
Inhaltsverzeichnis
§ 10 PALÄSTINA U N D SYRIEN 1. Die Tradition der Botschaft Jesu a) Eschatologische Auslegung b) Jesus als Weisheitslehrer c) Lebensordnung und Gemeindeorganisation
582 582 583 586 591
2. Vom Auferstehungskerygma zu den kirchlichen Evangelien 595 a) Petrustraditionen 596 b) Das älteste kirchliche Evangelium 601 c) Jesu Lehren und Wirken als Kanon der Kirche . . . . 607 3. Der johanneische Kreis a) Die Entwicklung der johanneischen Sonderüberlieferung b) Erhöhung am Kreuz als Evangelium c) Die Verkirchlichung der johanneischen Tradition . . d) Das gnostische Erbe des Johannes
614 616 624 632 635
4. Das Judenchristentum 637 a) Das Schicksal der Jerusalemer Gemeinde 638 b) Judenchristentum als Zweig der großkirchlichen Entwicklung 641 c) Der Kampf gegen Paulus 643 5. Syrien als Ursprungsland der christlichen Gnosis . . . . a) Zusammenfassung bisheriger Beobachtungen b) Die Texte von Nag Hammadi und die syrische Gnosis c) Gnostische Hymnen und Lieder
§11 Ä G Y P T E N
647 648 650 654
658
1. Die Anfänge des Christentums in Ägypten a) Das Problem der Quellen und Zeugnisse b) Das Eindringen syrischer Uberlieferungen c) Ägyptisches Judenchristentum
658 658 660 661
2. Die Gnosis in Ägypten a) Zeugnis der Texte von Nag Hammadi b) Gnostisches Gemeindechristentum c) Die Ausbildung gnostischer Schulen
663 664 667 668
3. Die Anfänge des Katholizismus a) katholisches Vulgärchristentum
670 670
Inhaltsverzeichnis
b) Auseinandersetzung mit der Gnosis c) Die Durchsetzung der kirchlichen Organisation
XIX
673 . . . 676
§ 12 K L E I N A S I E N - G R I E C H E N L A N D - R O M 1. Die Erneuerung der Apokalyptik a) Apokalyptik in den paulinischen Gemeinden b) Apokalyptik und Gnosis c) Kritik an der apokalyptischen Erwartung d) Apokalyptische Lebensordnung
677 677 678 682 684 693
2. Die Verkirchlichung der paulinischen Theologie 698 a) Der Kampf gegen den Synkretismus 700 b) Der Kampf gegen die Gnosis 705 c) Apokalyptische Gnosis als Pauluserbe 710 d) Ignatius von Antiochien 717 e) Paulus und Petrus als Autoritäten der kirchlichen Lebensordnung 726 f) Die Petrusbriefe und Paulus 731 g) Kirchenordnung im Namen des Paulus 735 h) Polykarp von Smyrna 744 3. Das Christentum in der Auseinandersetzung mit der Welt a) Evangelium und Geschichte als Sieg in der Welt . . . b) Die wunderwirkenden Apostel im Konflikt mit der Welt c) Das paulinische Evangelium als Weltentsagung . . . . d) Die Stellung der römischen Behörden e) Die ältesten Apologeten f) Märtyrer Register A.
762 767 773 777 783 787
Verzeichnis der behandelten frühchristlichen Schriften . . 787 1. 2. 3. 4.
B.
747 748
Die Bücher des Neuen Testaments Im Neuen Testament verwendete Quellen Apostolische Väter und Apologeten Neutestamentliche Apokryphen
Namen- und Sachregister
787 787 787 788 789
C. Im Text genannte moderne Autoren
801
Übersichtskarte
803
I.
Geschichte, Kultur und Religion des Hellenistischen Zeitalters
Die Eroberungen Alexanders des Großen hatten einen politischen und wirtschaftlichen Großraum entstehen lassen, der zunächst von den hellenistischen Königen, später von Rom beherrscht wurde. Zu diesem Raum gehörte nicht nur die gesamte Mittelmeerwelt, sondern im Norden auch die Gebiete des heutigen Frankreich, England, West- und Süddeutschland, die Alpen- und Donauländer, im Osten das heutige Syrien, Irak und die östliche Türkei und in gewissem Sinne das ganze Gebiet bis zum heutigen Afghanistan und Pakistan. In diesem Bereich durchdrangen sich verschiedenste Kulturen und Religionen, wobei das griechische Element in der Philosophie, Kunst, Wissenschaft und Religion die Erscheinungsformen der Ergebnisse dieser Entwicklungen maßgeblich bestimmte. Die griechische Sprache wurde zur beherrschenden Weltsprache, der gegenüber andere Weltsprachen wie das Aramäische und Lateinische nur zweitrangig waren. Die Auseinandersetzungen zwischen den partikularen Traditionen, Institutionen und Interessen einer pluralistischen Gesellschaft einerseits und den zur Weltwirtschaft, Weltkultur und Weltreligion drängenden Entwicklungen andererseits bestimmten die Konflikte. Dabei spielten nicht nur die unterschiedlichen Traditionen der Völker eine Rolle, die sich zwar dem Prozeß der Hellenisierung nie ganz entziehen konnten, aber doch verlangten, daß sich die neue Weltkultur mit ihnen auseinandersetzte. N o c h wichtiger waren die Spannungen, die aus den partikularen Interessen der Städte erwuchsen, die als wichtigste Träger der Entwicklung zur Weltkultur sich als Zentren des wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Lebens weitgehend von den lokalen und nationalen Eigenheiten emanzipiert hatten. Gerade hier sind wiederum Fragen der Moral und der Religion eng mit politischen und wirtschaftlichen Fragen verbunden gewesen. Eine historisch orientierte Einführung in das Neue Testament muß daher beim hellenistischen Zeitalter einsetzen, um die Voraussetzungen zu klären, die für die Entstehung und Ausbreitung des Christentums von Bedeutung waren.
Si
G E S C H I C H T L I C H E R ÜBERBLICK
H.BENGTSON, Griechische Geschichte von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit, 1950. F.TAEGER, Das Alterum: Geschichte und Gestalt der Mittelmeerwelt, '1958. E. BAYER, Grundzüge der griechischen Geschichte, 1973. J.KAERST, Geschichte des Hellenismus, 3 1927. W.TARN, Die Kultur der hellenistischen Welt, 1966. A.J.TOYNBEE, Hellenism: History of a Civilization, 1957. J.LEIPOLDT - W . GRUNDMANN ( H e r a u s g e b e r ) , U m w e l t des
Christentums,
Bd. I: Darstellung des neutestamentlichen Zeitalters, Bd. II: Texte, Bd.III: Bilder, '1971-1973. I. Griechenland
und die Welt des östlichen Mittelmeeres
vor
Alexander
R.COHEN, La GrÄce et l'hellfenisation du monde antique, 2 1948. E.WILL u.a., Le monde Grec et ('Orient, Bd.II: LeIV e siecle et l'epoque hell6nistique, 1975. Zuc: J. BURY, A History of Greece to the Death of Alexander the Great, 4 1975. Zud: H.BENGTSON (Herausgeber), Griechen und Perser, Die Mittelmeerwelt im Altertum I, 1965. E. MEYER, Das Perserreich und die Griechen, Geschichte des Altertums IV, '1939.
a) Hellenisierung bis zum 4.Jh.vChr Bereits seit dem 10.Jh.vChr hatten ionische und äolische Auswanderer sich an der Westküste Kleinasiens festgesetzt und dort eine Reihe von Städten gegründet (Smyrna, Ephesos, Priene, Myus, Milet und viele andere). Diese Städte erlebten unter der Herrschaft der lydischen Könige im 6. und 5. Jh. ihre größte Blüte und waren ihrerseits führend an der Gründung neuer griechischer Städte in anderen Mittelmeerländern beteiligt. Milet war seinerzeit vor allem kulturell die bedeutendste griechische Stadt. Orientali-
1b
Griechenland und die Welt des östlichen Mittelmeeres
3
sehen Einflüssen standen die Griechen Ioniens aufgeschlossen gegenüber, wie sie auch umgekehrt zur Hellenisierung Kleinasiens in der vorhellenistischen Zeit erheblich beigetragen haben. Seit dem 8.Jh.vChr entstanden griechische Kolonien auch außerhalb der nahen Küsten der Agäis und der Propontis. Ich nenne jeweils nur einige wichtige Städte: an der Küste des Schwarzen Meeres Sinope, Trapezus, Pantikapaion; in Sizilien und Unteritalien Syrakus, Tarent, Neapolis; in Südgallien Massalia und Nikaia; in Nordafrika Kyrene und Naukratis, die einzige Griechenstadt Ägyptens. Die meisten dieser Städte wurden als Apoikien gegründet, d.h. durch Auswanderung eines Teiles der Bevölkerung aus der Mutterstadt. Aus diesem Grunde bestanden enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen Kolonie und Mutterstadt, die jahrhundertelang gepflegt wurden. Die Auswirkungen dieser Städtegründungen waren zunächst wirtschaftlicher Art. Sie erschlossen dem griechischen Handel neue Märkte und dienten als Umschlagplätze für Einfuhren von Rohstoffen und Getreide nach dem Mutterland. In zunehmenden Maße ergab sich aus diesen Beziehungen auch ein geistiger, kultureller und religiöser Austausch, der sich vielfach in der griechischen Religions- und Kulturgeschichte niedergeschlagen hat. In den beiden letzten Jahrhunderten vor Alexander wurden diese ehemaligen Kolonien weitgehend vom Mutterland unabhängig. Politische Entwicklungen trugen dazu bei. In Kleinasien wurde die Herrschaft der Lyder durch die bedrückendere Herrschaft der Perser ersetzt. Wirtschaftlich machten sich viele Städte selbständig und begannen mit der eigenen Verarbeitung von Rohstoffen, die bislang in das Mutterland exportiert worden waren, aus dem die Tochterstädte ihre Fertigwaren bezogen hatten. Diese Entwicklung begann im 5. Jh. in den Kolonien Süditaliens und Siziliens und setzte sich im folgenden Jahrhundert im Osten fort. Dies trug wesentlich zur Wirtschaftskrise Griechenlands im 4.Jh.vChr bei. b) Die östliche Mittelmeerwelt vor Alexander Politisch, wirtschaftlich und kulturell war die östliche Mittelmeerwelt zu dieser Zeit vom Gegensatz zwischen Griechen und Persern beherrscht. Während die Perser Syrien, Ägypten und Kleinasien (einschließlich der Griechenstädte - der ionische Aufstand 500-494 schlug fehl) innerhalb von wenigen Jahren unterwerfen
4
Geschichtlicher Überblick
konnten, scheiterten ihre Versuche, auch Griechenland zu erobern. Der Sieg der Griechen über die Perser hat das damalige griechische Bewußtsein zutiefst geprägt, hat einen vielfachen Niederschlag in der Literatur gefunden - in Dichtungen ebenso wie in politischen und wissenschaftlichen Schriften - und hat zu einer für die spätere Geschichte bedeutsamen Reflektion über die tiefgreifenden Unterschiede zwischen „ O s t und W e s t " geführt. Die Griechen hatten dem Ansturm der Großmacht aus dem Osten widerstanden. Das Bewußtsein der Überlegenheit griechischer Bildung und Erziehung, der griechischen Kultur und der griechischen Götter hat sich seitdem nicht nur den Griechen eingeprägt, sondern auch anderen Völkern - selbst später den Römern, obgleich sie die Herren Griechenlands geworden waren. In der T a t handelte es sich bei Griechenland und Persien um ganz unterschiedliche Gebilde. Auf der einen Seite das politisch zersplitterte Hellas, in dem demokratische, oligarchische und aristokratische Staaten, daneben einige Königreiche (unter denen Makedonien die Führung übernehmen sollte), im bunten und spannungsreichen Mit- und Gegeneinander existierten. Auf der anderen Seite das unter der Zentralregierung des Großkönigs stehende persische Weltreich, in dem durch militärische Macht die Herrschaft über Gebiete aufrecht erhalten wurde, die auch als persische Satrapien ihre kulturelle und religiöse Eigenständigkeit behielten. D a s zersplitterte Griechenland war politisch unfähig, sich in einem einheitlichen Staatswesen zu organisieren; jedoch entwickelten die verschiedenen griechischen Stadtstaaten, die in vieler Beziehung einander nicht unähnlich waren, eine beachtliche wirtschaftliche K r a f t und einen weit über die Grenzen Griechenlands hinausgehenden kulturellen Einfluß. Persien blieb zwar nach der Preisgabe der Absicht, auch Griechenland zu erobern, die einzige Großmacht des östlichen Mittelmeerraumes - die Auseinandersetzungen zwischen den Mächten des westlichen Mittelmeeres, Rom, Syrakus und Karthago, hatten zu jener Zeit kaum begonnen - , jedoch besaß dieses Weltreich keine prägende wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Dynamik. c) Griechenland Nachdem die Blütezeit des klassischen Griechenlands im perikleischen Zeitalter durch die 30 Jahre andauernden Wirren des peloponnesischen Krieges im späten 5.Jh.vChr ein Ende mit Schrek-
lc
Griechenland und die W e l t des östlichen Mittelmeeres
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ken genommen hatte, verschlechterte sich die Lage in den folgenden Jahrzehnten zusehends. Die politische Zersplitterung nahm zu, und die innergriechischen Kriege wollten nicht aufhören. Versuche, Bundesstaaten an die Stelle der Hegemonien der großen Städte Sparta und Athen zu setzen, blieben auf lange Sicht ohne Erfolg. Erst die Hegemonie Makedoniens brachte in der zweiten Hälfte des 4.Jh. eine kurzfristige Lösung, die freilich nur zu bald von neuen Wirren abgelöst werden sollte, an denen äußere Mächte, die hellenistischen Könige und später Rom, nicht ohne Schuld waren. Auch die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich. Zwar setzte sich der im vorausgegangenen Jahrhundert begonnene Industrialisierungsprozeß fort; Handwerksbetriebe vermehrten durch die Ausweitung der Sklavenarbeit ihre Massenproduktion an Verbrauchsgütern und bemühten sich, die durch die fortlaufenden Kriege gesteigerte Nachfrage nach Waffen und Kriegsausrüstung zu befriedigen. Der Schiffsbau wurde weiter entwickelt und das Bankwesen ausgebaut. Aber dem entsprach keine Ausweitung des griechischen Marktes. Syrien, Ägypten und die griechischen Kolonien im Pontus und im westlichen Mittelmeer ersetzten viele bisher in Griechenland gekauften Waren durch Eigenproduktionen, die moderne Ausgrabungen neben den ständig abnehmenden Importwaren aus Griechenland überall gefunden haben. Die Bautätigkeit in den griechischen Städten ging stark zurück; großangelegte Bauprojekte blieben liegen und wurden oft erst in der Zeit Alexanders oder gar erst in römischer Zeit vollendet. Dem entsprach eine Verarmung der Bevölkerung Griechenlands. Der natürliche Mangel an landwirtschaftlicher Nutzfläche, Bodenschätzen und Holz machte sich immer mehr bemerkbar und konnte nicht durch Einfuhren gedeckt werden, da der Export von Wein, Olivenöl und Keramik nicht mehr genug einbrachte. Importierte Luxusgüter wie Gold, Gewürze, Parfüm und Weihrauch (für den Götterdienst) konnte sich nur noch eine stets kleiner werdende wohlhabende Bevölkerungsschicht leisten. Im ganzen scheint die Bevölkerung weiter angewachsen zu sein. Das verschärfte die Gegensätze zwischen Arm und Reich und verschlimmerte die Arbeitslosigkeit. Ein großer Teil des Mittelstandes glitt ins Proletariat ab. Verbannungen und Vermögenskonfiskationen, eine Folge der politischen Wirren, schwächten vor allem die obere Bevölkerungsschicht. Das Schwinden der Bürgerschicht, die bis dahin die Stadt-
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Staaten getragen hatte, führte auch dazu, daß die Bürgerheere durch Söldnerheere ersetzt wurden, die sich aus den unteren Schichten der Bevölkerung und aus Anwerbungen rekrutierten. Griechische Söldnerheere traten schon vor der Zeit Alexanders gern in ausländische Dienste. d) Das persische Weltreich Der östliche Teil des persischen Reiches war im wesentlichen bäuerlich. Das gilt von den iranischen Kernlanden der Persis ebenso wie von Medien, wo es neben einem Bauernstand auch Großgrundbesitzer gab, die Vieh- und Pferdezucht betrieben. Aus diesen Gebieten rekrutierten sich die Krieger des persischen Heeres, und aus den Großgrundbesitzerfamilien stammten die Beamten der persischen Verwaltung. Landwirtschaftlich reich waren auch die weiter im Osten gelegenen Satrapien Baktrien und Sogdien. Weiter im Norden, am Kaspischen Meer und am Aralsee lebten nomadische Stämme, die ebenfalls der iranischen Völkerfamilie angehörten. Ganz anders sah es in dem westlich angrenzenden uralten Kulturland Babylon aus. Seine großen Städte (Babylon, Ur) bestanden zwar weiter, verfielen aber seit der Zerstörung der großen babylonischen Heiligtümer durch Xerxes (482vChr) zusehends. Wenn auch die Tempel mit ihren Priesteraristokratien eine beschränkte wirtschaftliche Bedeutung behielten, sich weiter der Pflege des überlieferten Rechts widmeten und die astronomische Mathematik zu einer neuen Blüte führten, so verloren sie doch einen großen Teil ihres Einflusses auf die Bevölkerung, zumal zahlreiche Einwanderer (vor allem Perser, Meder und Juden) sich in Babylonien festsetzten. Die hochentwickelte Landwirtschaft des unteren Zweistromland es blieb für das dichtbesiedelte Gebiet mit seinen zahlreichen Dörfern und Weilern eine Quelle des Reichtums, wovon freilich der persische Fiskus und die großen Privatbanken den wesentlichen Nutzen hatten. Das nordwestlich angrenzende Assyrien war seit dem Zusammenbruch des assyrischen Reiches am Ende des 6. Jh. nur noch leidlich besiedelt. Assur war noch bewohnt, aber Ninive lag in Trümmern. Das Gebiet zwischen dem mittleren Euphrat und Tigris war eine menschenleere Steppe. Jedoch war das eigentliche Syrien zwischen dem Euphrat und dem Mittelmeer mit seinen aus vielen alten Völkern stammenden Einwohnern eines der Lebenszentren des per-
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sischen Reiches. Es umfaßte im Inneren die Zentren weitverzweigter Handelsbeziehungen mit den Karawanenstädten Damaskus, Aleppo und Palmyra, an der syrisch-palästinischen Küste die großen und mächtigen Handelsstädte der seefahrenden Phönizier, die den Persern auch ihre Kriegsflotte stellten; die wichtigsten unter ihnen waren Tyros, Sidon und Byblos. Bis auf den Aufstand Sidons (350-344) w a r die persische Zeit f ü r Syrien eine Periode des Friedens und eines verhältnismäßig großen Wohlstands, an dem auch der abhängige jüdische Tempelstaat in Jerusalem teilhatte, den die Perser neu konstituiert hatten (s.u. § 5. 7a). Kleinasien blieb in persischer Zeit ein von vielen Völkerschaften besiedeltes Land ganz unterschiedlicher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen. N e b e n primitiven Bergstämmen lebten hier die N a c h k o m m e n von Völkern, die einst große Reiche gegründet und beherrscht hatten, wie die Hethiter, Phryger und Lyder, Einwanderer aus dem Mittelmeerraum (Karer und Lykier) und in den Küstenstädten der Agäis und des Schwarzen Meeres vor allem Griechen. D e r Westen, sowie die N o r d - und Südküste, war ganz nach Griechenland hin ausgerichtet und hatte an Kultur, H a n d e l , H a n d w e r k und Industrie des Mittelmeeres großen Anteil. Das Innere und der Osten boten verschiedene Formen bäuerlicher Wirtschaft (z.B. von Tempeln abhängige Bauerndörfer neben von persischen Adligen bewirtschafteten Großgütern) und K a r a w a n e n h a n del. Ägypten, Erbe einer der ältesten H o c h k u l t u r e n der Menschheit, w a r und blieb ein zentralistisch regiertes Land mit einer ebenso zentralistisch gelenkten Wirtschaft. Die Perser änderten diese Strukturen nicht, so daß das nach über 100-jähriger persischer H e r r s c h a f t im Jahre 4 0 5 v C h r wieder selbständig gewordene Ägypten unmittelbar an die alten Traditionen anknüpfen konnte. In dieser letzten Periode der Freiheit in der Geschichte des alten Ägyptens erfreute sich das Land eines großen Wohlstands, bis es vor der Eroberung durch Alexander nochmals kurz unter persische H e r r s c h a f t geriet (343 vChr). Das persische Reich hatte zwar eine zentrale Regierung mit regionalen Verwaltungen (Satrapien), die durch an allen wichtigen Plätzen stationierte T r u p p e n gestützt wurden (zunehmend handelte es sich dabei um Söldnerheere, darunter auch griechische und jüdische Söldner; bekannt ist die so entstandene jüdische Kolonie in Elephantine in Oberägypten). Aber die Perser machten keinen
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Versuch, die beherrschten Länder kulturell zu durchdringen, noch dachten sie daran, die unterworfenen Völker religiös an das persische Herrscherhaus zu binden; es gab weder eine Staatsreligion noch einen Herrscherkult. Wirtschaft und Handel haben die persischen Herrscher gefördert, weniger durch eine aktive Wirtschaftspolitik als vielmehr durch die Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit. Die Hortung riesiger Gold- und Silberschätze durch den persischen Fiskus machte sich zunehmend negativ bemerkbar. Eine einheitliche Münzwirtschaft bestand nicht, obgleich die Naturalienwirtschaft teilweise durch die Geldwirtschaft ersetzt wurde. Wenigstens in einer Beziehung schufen die Perser ein Band der Einheit, das fortwirken sollte: sie erhoben das bei vielen Völkern semitischer Herkunft gesprochene sogenannte Reichsaramäisch zur Verwaltungs- und Handelssprache. Noch zur Zeit Jesu war das daraus entstandene West-Aramäische die allgemein in Palästina gesprochene Sprache; aus dem östlichen Zweig entwickelten sich u.a. das Syrische und das Mandäische. 2. Alexander der Große J. G.DROYSEN, Geschichte Alexanders des Großen, 1833, Nachdruck 1966 (Anfang und Grundlage der modernen Forschung über Alexander). W.W.TARN, Alexander der Große, 1967. F. SCHACHERMEYR, Alexander der Große, 1973.
Zua: P . C L O C ^ , Histoire de la Macedoine jusqu'ä l'avenement dAlexandre le Grand, 1960. A R N O L D O MOMIGLIANO, F i l i p p o il M a c e d o n e ,
1934.
Zuc: F. SCHACHERMEYR, Alexander in Babylon und die Reichsordnung nach seinem Tode, 1970.
a) Die Voraussetzungen für die Eroberung des Ostens Makedonien war zwar von einem den Griechen eng verwandten Volk besiedelt, dessen Sprache ebenfalls zu den griechischen Sprachen gehört. Aber die Makedonen betrachteten sich nicht selbst als Griechen, und sie unterschieden sich in mancher Hinsicht sehr deutlich von ihnen. Schon die makedonische Landschaft hat einen ganz anderen Charakter: eine große fruchtbare Küstenebene statt der engen und vielfach gegliederten Berglandschaft des übrigen Griechenland. Die großen Flüsse Axios und Haliakmon, die
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hier in die Ägäis münden, erschließen mit ihren Nebenflüssen wenigstens teilweise die angrenzenden Bergtäler, so daß die trennende Wirkung der Gebirgszüge nicht so stark in Erscheinung tritt wie sonst in Griechenland. Hingegen gibt es keine guten natürlichen Häfen und keine zur See hin gerichteten Handelsstädte. Entsprechend stellte Makedonien auch eine politische und gesellschaftliche Alternative zum System der griechischen Stadtstaaten dar: ein bäuerlicher Flächenstaat anstelle einer von den Bürgern der Polis geprägten kleinstaatlichen Orientierung; ein Heerkönigtum anstelle des Dauerkonflikts zwischen Demokratie und Tyrannis; ein Volksheer statt des durch Söldner ergänzten Bürgerheeres; ein in sich geschlossener Wirtschaftsraum statt des stets auf den Außenhandel angewiesenen Wirtschaftssystems der Städte. Freilich war Makedonien schon im 5. und 4.Jh.vChr längst in den Bereich der griechischen Kultur hineingewachsen. Makedonische Könige vor Alexander haben diesen Prozeß ganz bewußt gefördert. Daß Euripides seine letzten Jahre am Hofe zu Pella zubrachte und Aristoteles der Lehrer des jungen Alexander wurde, ist kein Zufall. Doch war die Ausweitung des makedonischen Machtbereichs und die Errichtung seiner Vorherrschaft in Griechenland seit der Mitte des 4.Jh. nicht einfach ein Machtwechsel, sondern gleichzeitig ein folgenreicher Ubergang zu einer neuen politischen Struktur. Waren sich die Makedonen auch bewußt, das griechische Erbe zu übernehmen und die griechische Sendung zu ihrer Verantwortung zu machen, so erscheint doch dieses Erbe und diese Sendung nun in einer ganz neuen Perspektive. Der Sieg Philipps über Athen und seine Verbündeten bei Chaironeia im Jahre 338, durch den Athen seine Vormachtstellung endgültig an Makedonien verlor, bezeichnet den Beginn einer neuen Epoche. Demosthenes, der berühmte athenische Redner und Todfeind Philipps hat mit Recht in seiner Preisrede auf die Gefallenen geklagt, daß nun die Freiheit und Größe Athens für immer dahin sei. Ebenso hat der 90-jährige Isokrates die Zeichen der Zeit erkannt, als er an Philipp schrieb: „Wenn Du den Perser unterworfen hast, so bleibt Dir nichts mehr übrig als ein Gott zu werden!" b) Der Eroberungszug Alexanders Alexander war 356vChr geboren. Seit 343 wurde er mehrere Jahre lang von dem bedeutendsten Philosophen seiner Zeit, Aristoteles, erzogen. 336 rief das Heer ihn nach der Ermordung seines
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Vaters Philipp II. zum König der Makedonen aus. Zunächst vollendete Alexander die Eroberung Thrakiens, die sein Vater begonnen hatte (336/5). 335 mußte er eine griechische Erhebung unterdrükken, wobei Theben, das diese Erhebung angeführt hatte, zerstört wurde. Noch im gleichen Jahre setzte Alexander mit seinem Heer nach Kleinasien über, befreite im Triumphzug die griechischen Städte Ioniens und schlug 334 die persische Kleinasien-Armee am Granikos. Den ersten großen Sieg über den persischen Großkönig Dareios III. errang Alexander 333 bei Issos beim Ubergang von Kleinasien nach Syrien. Es folgte die fast kampflose Besetzung Syriens, Phöniziens, Samariens und Jerusalems, aufgehalten nur durch die langwierige Belagerung von Tyros. Ebenso kampflos ergab sich Ägypten, wo Alexander zum Pharao gekrönt und im libyschen Ammonstempel von Siwa als Sohn des Zeus-Ammon begrüßt wurde. In Ägypten gründete Alexander die Stadt Alexandria, die zum Symbol einer ganzen Kulturepoche werden sollte. 331 eröffnete der endgültige Sieg über Dareios bei Gaugamela östlich des oberen Tigris den Zugang zu den persischen Kernländern. Die Eroberung des Nordostens des persischen Reiches einschließlich Baktriens verwickelte das makedonische Heer in langwierige Kämpfe. 327 gelangte Alexander nach Indien, wurde aber vor Erreichen des Ganges von seinem Heer zur Umkehr gezwungen. Dieser Zug, wie verschieden auch seine politische Bedeutung beurteilt werden mag, ebenso wie die Fahrt der Flotte durch den Hydaspes, Indus und das Arabische Meer zum Persischen Golf waren gleichzeitig Entdeckungsfahrten, die der griechischen Wissenschaft wie auch der schriftstellerischen Phantasie Anregungen gaben, die noch Jahrhunderte später nachwirkten. Nach seiner Rückkehr in die persischen Kernlande versuchte Alexander eine Neuordnung des eroberten Riesenreiches. Moderne Historiker sind sich in dem Urteil einig, daß Alexander dies nicht gelungen ist, weil Hindernisse, die in der Persönlichkeit Alexanders lagen, ebenso wie die Schwierigkeiten, die sich aus den durch die Eroberung geschaffener Verhältnissen ergaben, einer Lösung entgegenwirkten. Alexanders politische Ziellosigkeit, oder auch Maßlosigkeit, seine zunehmende Unberechenbarkeit, die gleichzeitige Entfremdung der persischen Aristokratie und der griechischen Freunde und Heerführer, sowie die verfehlte und unrealistische Verschmelzungspolitik sind als Gründe genannt worden.
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In diese letzten Jahre Alexanders fallen auch die Anfänge einer göttlichen Verehrung des Herrschers. Nicht alles, was die Uberlieferung darüber sagt, ist historisch gesichert. Verbürgt ist aber, daß Alexander 324 von den Griechen verlangte, seinen verstorbenen Freund Hephaistion als Heros zu verehren, und daß griechische Gesandte vor Alexander bekränzt erschienen, wie es sich einem Gott gegenüber geziemte. Beides setzt die göttliche Verehrung des lebenden Herrschers voraus. Im Unterschied zu früheren Ansichten ist man sich heute darüber einig, daß es sich nicht um eine ins Griechentum eingedrungene „orientalische" Vorstellung handelt, sondern um eine Weiterführung griechischer Gedanken über die Gegenwart des Göttlichen in der außerordentlichen Persönlichkeit. Zur Entwicklung der Vorstellung vom Gottkönigtum ist außerdem noch mit ägyptischen Einflüssen zu rechnen (s.u.§ 1. 5a-d). In Babylon, das die Hauptstadt des Reiches werden sollte, starb Alexander unerwartet an einem Fieber im Jahre 323, noch nicht 33 Jahre alt. c) Die Lage beim Tode Alexanders Alexander hinterließ ein Reich, das zwar nicht durch äußere Feinde bedroht war und durch eine starke Militärmacht kontrolliert wurde, dessen innerer Ausbau aber völlig offen geblieben war. Eine Reihe von neuen Griechenstädten waren gegründet worden. Doch waren das zunächst meist Militär- und Verwaltungskolonien, die erst später eine darüber hinausgehende wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung entwickelten. Eine neue Organisation des Gesamtreiches gab es nicht. Man übernahm einfach die persische Verwaltung und setzte Makedonen als Satrapen und Finanzverwalter ein (später im Osten auch Perser). Militärische Gesichtspunkte herrschten in der Verwaltung vor. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß vor allem Generale mit der Verwaltung der ehemals persischen Provinzen betraut wurden, die keine Vorstellung davon hatten, wie sie ihre eigenen Herrschaftsgelüste der Idee eines neuen Gesamtreiches unterordnen konnten. Schwierigkeiten ergaben sich zunächst auch aus der psychologischen Wirkung der Nachricht vom Tode Alexanders. Griechenland erhob sich sofort nach dem Eintreffen der Todesnachricht und verwickelte den Verwalter Makedoniens, Antipater (einen alten General und Minister seines Vaters Philipp II.), in einen schwierigen Krieg. Dies zeigt deutlich, daß Griechenland politisch
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weder bereit noch imstande war, eine Verantwortung für die von Alexander im Osten geschaffenen Verhältnisse zu übernehmen. Wohl haben in der Folgezeit zahllose Griechen durch Auswanderung in die neugegründeten Städte in der ehemals persischen Herrschaft entscheidend dazu beigetragen, daß aus den neu entstehenden Reichen „hellenistische" Reiche wurden. Aber die alten griechischen Staaten haben niemals die Sache dieser neuen Reiche zu der ihren gemacht. D a ß Alexander keinen Nachfolger hinterließ, war in dieser Situation verhängnisvoll (von seiner Gemahlin, der baktrischen Prinzessin Roxane, wurde ihm erst nach seinem T o d e ein Sohn geboren, der von seiner ersten Stunde an nur der Spielball politischer Intrigen war). Zwar gab es noch einen jüngeren Bruder Alexanders. Er war aber ohnehin nicht imstande, die Rolle Alexanders zu übernehmen. Hinzu kam, daß das Heer, keineswegs dem makedonischen Königshaus auf Gedeih und Verderb treu ergeben, bereit war, dem einflußreichsten Führer zu folgen. V o n den aus Persern gebildeten Verbänden, die den makedonischen Pezhetairen zur Seite gestellt worden waren, konnte man natürlich erst recht keine Loyalität dem fremden Königshaus gegenüber erwarten.
3. Die Diadochenkämpfe und die Bildung der Diadochenreiche P.CLOCH6, La Dislocation d'un Empire: Les premiers successeurs d'Alexandre le Grand ( 3 2 3 - 2 8 1 / 2 8 0 avantJ.-C.), 1959. E.WILL,
Histoire
politique
du monde
hellenistique
(323-30
av.J.-C.),
1966-1967. H . H . SCHMITT, Die Staatsverträge des Altertums III: Die Verträge der griechisch-römischen W e l t von 33 8 bis 2 0 0 v. Chr., 1969. H.BRAUNERT, Hegemoniale Bestrebungen der hellenistischen Großmächte in Politik und Wirtschaft, Historia 13, 1964, 8 0 - 1 0 4 .
a) Die Entwicklungen bis zum T o d e Antipaters Die Kriege, die die Nachfolger Alexanders untereinander führten (Diadochenkämpfe), sind oft dargestellt worden, eingehender und gründlicher als das in diesem Rahmen möglich ist. W e n n das Wichtigste hier wiederholt wird, dann geschieht das deshalb, weil nur so die verschiedenen Kräfte und Spannungen sichtbar werden, die sowohl in der Dynamik als auch im Verfall der hellenistischen Reiche in den folgenden Jahrhunderten wirksam waren. Die Entscheidung über die Nachfolge Alexanders fiel zunächst
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der makedonischen Heeresversammlung in Babylon zu, das für den Augenblick die Rolle der Reichshauptstadt übernommen hatte. Hier zeigte sich bereits, daß die Schwerpunkte der politischen Ereignisse sich nicht wieder in das griechisch-makedonische Mutterland zurückverlagern würden. Perdikkas, der bereits seit dem T o d e des Alexanderfreundes Hephaistion den Posten des Chiliarchen bekleidete, wurde in dieser Rolle bestätigt. Er blieb als Regent des asiatischen Reichsteiles in Asien. Der bewährteste Heerführer Alexanders, Krateros, befand sich gerade mit den Veteranen des Heeres auf dem W e g e in die makedonische Heimat. Er wurde zum „ H ü t e r der königlichen Belange" bestellt (d.h. er trug die Verantwortung für den unfähigen Alexanderbruder Arrhidaios und für das noch ungeborene Kind Alexanders) und w a r in ihrem Namen der Befehlshaber des Heeres. Während der bewährte Antipater als Stratege Makedoniens bestätigt wurde, verständigte man sich über eine Neuaufteilung der wichtigsten Satrapien: Antigonos Monophthalmos („der Einäugige"), ein älterer General Alexanders, erhielt Großphrygien, Pamphylien und Lykien (also den zentralen und südlichen Teil Kleinasiens); ein anderer Offizier, Lysimachos, bekam Thrakien; der Grieche Eumenes von Kardia, der sich als befähigter Verwaltungsbeamter hervorgetan hatte, wurde Satrap von Kappadokien; Ptolemaios, Sohn des Lagos („der Lagide"), - er gehörte zur Generation Alexanders, war zunächst sein Leibwächter, hatte sich dann vielfach als Offizier bewährt - erhielt Ägypten. Daß Ptolemaios sich als einziger dieser ersten Satrapen in seiner ursprünglichen Satrapie halten konnte, lag nicht nur an seiner Klugheit und Verschlagenheit, sondern war auch in dem besonderen Charakter des Landes begründet, das er als Satrapie erhielt. Außerdem hatte Ptolemaios offenbar von Anfang an den Gedanken an eine Wiederherstellung der Reichseinheit fallen gelassen und w a r nur darauf bedacht, seine eigenen Belange als Herrscher eines Teilreiches zu wahren. Hingegen w a r es das Hauptinteresse der meisten anderen Diadochen, die Einheit des Reiches unter ihrer eigenen Führung wieder aufzurichten, wobei ihre Motive nicht immer rein selbstsüchtiger Art waren. Aber in den folgenden Jahrzehnten trat die Idee der Reichseinheit immer stärker zurück. Der Kampf ging mehr und mehr darum, fest umrissene Teilreiche aufzubauen und deren Unabhängigkeit zu behaupten. Dazu kam noch ein weiterer Kriegsgrund: es erwies sich als lebensnotwendig für die hellenistischen Reiche, die Verbindung mit Griechenland aufrecht zu er-
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halten und wenigstens einen Teil der alten hellenischen Länder aus wirtschaftlichen sowie aus ideellen Gründen unter ihre Kontrolle zu bekommen. Dies geschah freilich in ständiger Auseinandersetzung mit dem stets betrogenen Freiheitsstreben der griechischen Städte. Die mächtigste Stellung hatte zunächst Perdikkas inne, der von Eumenes gestützt - von der Hauptstadt Babylon aus die Reichseinheit unter seiner Führung herzustellen suchte. Er erlag aber bald einem gegen ihn gerichteten Bündnis der anderen Satrapen und fand dabei den Tod. 321vChr trat Antipater als Reichsverweser an seine Stelle. Ein vorläufiger Ausgleich wurde geschaffen. Seleukos, der sich am Bündnis gegen Perdikkas beteiligt hatte, wurde Satrap von Babylonien. Antigonos Monophthalmos suchte aber nun in Asien freie Hand zu bekommen, wobei ihm Eumenes und nunmehr auch Seleukos im Wege standen. Als Antipater 319 starb, brach der nur zwei Jahre zuvor erreichte Ausgleich zusammen. b) Die Ereignisse bis zur Schlacht bei Ipsos Antipater hatte bei seinem Tode den alten, bewährten General Polyperchon zu seinem Nachfolger bestimmt. Gegen diese Ernennung lehnte sich Kassandros, der Sohn Antipaters, auf, der sich übergangen fühlte. Er wurde von Eurydike, einer Enkeltochter Philipps II. unterstützt, die inzwischen Alexanders Bruder Arrhidaios geheiratet hatte. Vor allem aber verbündete sich der mächtige Antigonos Monophthalmos mit Kassandros, während lediglich Eumenes den rechtmäßig ernannten, aber wohl unfähigen Reichsverweser Polyperchon anerkannte. Im Verlauf der daraus entstehenden Kriege, wurde Polyperchon vertrieben, Eumenes, der sich am uneigennützigsten für die Reichseinheit eingesetzt hatte, besiegt und hingerichtet, Arrhidaios und Eurydike durch die aus dem Exil zurückgekehrte Mutter Alexanders, Olympias, vergiftet. Seleukos floh nach Ägypten zu Ptolemaios, da er sich durch Antigonos bedroht wußte, der jetzt der Alleinherrscher Asiens war, während Kassandros sich in Griechenland und Makedonien durchsetzen konnte. Im Jahre 311 wurde ein Zwischenfriede geschlossen, den Kassandros damit besiegelte, daß er den nun offiziell als König geltenden unmündigen Sohn Alexanders sowie dessen Mutter Roxane, die in seinem Gewahrsam waren, töten ließ. Damit schien die Gefahr eines Wiederauflebens alter dynasti-
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Die Diadochenkämpfe und die Bildung der Diadochenreiche
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scher Ansprüche gebannt und ein Ausgleich zwischen den rivalisierenden Teilreichen geschaffen, die je für sich durchaus lebensfähige wirtschaftliche Einheiten darstellten. Kleinasien und Syrien bildeten unter Antigonos das machtvollste Reich, das auch den größten Anteil am Welthandel hatte. Ägypten, zu dem zeitweise Südsyrien und die Cyrenaika gehörten, konnte seine Stellung weiter ausbauen. Seleukos war 312 nach Babylon zurückgekehrt und unterwarf sich den gesamten iranischen Osten, fand allerdings in Indien einen Widersacher in König Sandrokottos (Tschandragupta), mit dem er sich aber vergleichen konnte. Im Westen herrschte Lysimachos verhältnismäßig unangefochten über Thrakien. Kassandros in Makedonien war gleichzeitig der H e r r Griechenlands. Aber der Ausgleich scheiterte einmal an den ehrgeizigen Plänen des Antigonos, der zum letzten Male die Reichseinheit herzustellen suchte. Der Ausgleich hätte schließlich auch daran scheitern müssen, daß zwei der Großreiche, Ägypten und Babylon-Persien vom griechischen Kulturland ausgeschlossen waren. Der Krieg brach von neuem aus, als sich Demetrios Poliorketes (der Städtebezwinger), Sohn und Mitregent des Antigonos Monophthalmos im Handstreich in den Besitz Athens setzte. Damit endete für Athen die letzte Periode eigenständiger kultureller Erneuerung unter der 10-jährigen Regentschaft des Peripatetikers Demetrios von Phaleron, der nach Ägypten zu Ptolemaios fliehen mußte (307vChr). Kurz darauf besiegte Demetrios bei Salamis auf Cypern die Flotte des Ptolemaios und errang damit die Seeherrschaft über das östliche Mittelmeer, die er noch ein Jahrzehnt lang nach dem Sturz seines Vaters behaupten konnte. Durch diese Ereignisse ermutigt beanspruchte Antigonos für sich und für seinen Sohn den Königstitel; er unterstrich damit auch seinen Führungsanspruch auf dem Wege zur Reichseinheit. Die Folge war, daß nun auch Seleukos, Ptolemaios, Lysimachos und Kassandros den Königstitel annahmen und damit den Partikularismus institutionalisierten. 305/304vChr belagerte Demetrios Rhodos. Aber trotz Anwendung modernster Belagerungsmaschinen gelang es ihm nicht, die mit Ptolemaios befreundete Stadt zu erobern (Rhodos' Aufstieg zu einem bedeutenden Kultur- und Wirtschaftszentrum setzte sich seitdem ungebrochen fort). Inzwischen konnte sich die Koalition aller anderen Diadochenreiche gegen Antigonos konsolidieren. In der Schlacht bei Ipsos in Phrygien verlor er fast 80-jährig sein
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Geschichtlicher Überblick
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Reich und sein Leben. Damit war der letzte Versuch, die Einheit des Alexanderreiches wieder herzustellen, gescheitert. c) Die Konsolidierung der hellenistischen Reiche Die zweite Ursache der Auseinandersetzungen trat jetzt mehr in den Vordergrund: das Reich des Seleukos, um Syrien vermehrt, sowie das ptolemäische Ägypten hatten keinen Anteil an der Herrschaft über altes griechisches Gebiet. Der thrakische König Lysimachos hatte noch Kleinasien hinzubekommen. Der makedonische König Kassandros besaß freie Hand in Griechenland. Der erste, der sich um die Herrschaft über Griechenland bewarb, war allerdings weder der Seleukide noch der Ptolemäer. Demetrios Poliorketes, der Antigonide, der nach dem Tode seines Vaters als „Seekönig" das östliche Mittelmeer beherrschte, strebte danach, durch den Besitz Makedoniens den entscheidenden Einfluß auf Griechenland auszuüben. 298vChr starb Kassandros, von dessen Wirken als makedonischer König heute noch die von ihm gegründete und nach seiner Frau Thessalonike genannte Stadt kündet. Demetrios eroberte zunächst zum zweiten Male Athen, wo ihm schon einmal göttliche Ehren zuteil geworden waren - die Athener waren die ersten gewesen, die Demetrios und seinen Vater Antigonos als „Rettende Götter" gefeiert hatten - , danach große Teile Mittelgriechenlands, Thessalien und Makedonien. Lysimachos machte ihm jedoch im Bunde mit dem jungen König von Epirus, dem nachmals wegen seiner „pyrrhischen" Siege über die Römer bekannt gewordenen Pyrrhos, seine Eroberungen streitig. Schließlich geriet Demetrius, dieser abenteuerlichste unter allen Diadochen, nach einem zunächst erfolgreichen Unternehmen in Kleinasien in die Gefangenschaft des Seleukos (286vChr), in der er drei Jahre später starb. Den Zugang nach Griechenland sicherte sich jetzt Ägypten dadurch, daß es zur See in das Erbe des Demetrios eintrat und seine Herrschaft über die Inseln des ägäischen Meeres ausdehnte, später auch über einige Küstenstriche Kleinasiens, sobald Lysimachos gefallen war. Seleukos hingegen konnte einen Zugang zum griechischen Mutterland nur um den Preis einer Auseinandersetzung mit Lysimachos gewinnen, der als vorbildlicher Administrator und erfolgreicher Heerführer (besonders im Kampf gegen die Barbaren im Norden) ein blühendes Reich zu beiden Seiten der Meerengen zum Schwarzen Meer aufgebaut hatte. Der Anlaß zu einem offenen
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Konflikt ergab sich aus einem Familienzwist: Lysimachos hatte seinen Sohn Agathokles hinrichten lassen; dessen Anhänger waren zu Seleukos geflohen. Seleukos besiegte Lysimachos in der Schlacht auf dem Kurosfelde bei Magnesia am Mäander (281vChr); Lysimachos fiel. Daraufhin ließ sich Seleukos zum König der Makedonen proklamieren und bereitete die Eroberung Makedoniens und Griechenlands vor. Vielleicht lebte hier ein letztes Mal die Idee der Reichseinheit wieder auf. Aber beim Ubergang nach Europa wurde Seleukos noch im gleichen Jahre von Ptolemaios Keraunos, dem ältesten Sohn des Lagiden Ptolemaios, ermordet. Damit hatte der letzte Diadoche sein Ende gefunden; Ptolemaios war bereits zwei Jahre zuvor gestorben. Sowohl dem seleukidischen Reich als auch den Ptolemäern war es gelungen, die lebenswichtige Verbindung mit dem griechischen Kulturbereich wieder herzustellen. Die Verhältnisse in Griechenland und Makedonien blieben freilich ungeklärt.
4. Die einzelnen Reiche und Staaten der hellenistischen Welt bis zur römischen Eroberung A.AYMARD, Les grandes monarchies hellenistiques en Asie apres la mort de Seleucos Ier, 1965. G . H . MACURDY, Hellenistic Queens: Α Study of Women-Power in Macedonia, Seleucid Syria, and Ptolemaic Egypt, 1932. siehe auch die Literatur zu § 1.3.
Zu a: Β. NIESE, Geschichte der griechischen und makedonischen Staaten seit der Schlacht bei Chaeronea, 1893-1903. W. S. FERGUSON, Hellenistic Athens: An Historical Essay, 1911. R.FLACELIFERE, Les Aitoliens ä Delphes, 1937. N.G.L.HAMMOND, Epirus, 1967.
Zub: L. ROBERT, Villes d'Asie Mineure, 2 1962. D.MAGIE, Roman Rule in Asia Minor, 1950.
Zuc: E. BEVAN, A History of Egypt Under the Ptolemaic Dynasty, 1927. A.E.SAMUEL, Ptolemaic Chronology, 1962. Th. C. SKEAT, The Reigns of the Ptolemies, 1954.
Zud: E. BEVAN, The House of Seleucus, 1902.
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Geschichtlicher Überblick
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Η . Η . SCHMITT, Untersuchungen z u r Geschichte Antiochos' des Großen und seiner Zeit, Historia Einzelschriften 6, 1964. O.MORKHOLM, Antiochus I V of Syria, 1966. G . DOWNEY, A History of Antioch in Syria from Seleucus to the Arab C o n quest, 1961.
Zue: J.BAYET, L a Sicile grecque, 1930. D . RANDALL-MACIVER, Greek Cities in Italy and Sicily, 1931. E.SJÖQVIST, Sicily and the Greeks, 1973.
a) Griechenland und Makedonien Kulturell und wirtschaftlich gesehen ist die Zeit bis zur Mitte des 3 . J h . v C h r die Hochblüte des Hellenismus, an der Griechenland selbst freilich nur geringen Anteil hatte. Die Zeit steht im Zeichen der Söhne der Diadochen, die sämtlich bedeutende Herrscher waren: In Ägypten PtolemaiosII., in Syrien AntiochusI., später in Griechenland und Makedonien Antigonos Gonatas. V o r der Mitte des Jahrhunderts brachte der Kelteneinfall für Griechenland und Kleinasien Unruhe und schwere Kämpfe. Abgesehen von dem vorübergehenden Eingreifen des Pyrrhos in Süditalien und Sizilien ( 2 8 0 - 2 7 5 v C h r ) verlief die politische Entwicklung des hellenistischen Ostens und damit zunächst auch Griechenlands ohne ein wirkliches Bewußtsein von der Existenz Roms und dem Erstarken seiner Macht. S o wurde das erste Eingreifen Roms am Ende des 2 . J h . v C h r in die Verhältnisse des Ostens als ein Schock empfunden, der weitreichende Folgen hatte. Makedonien und Griechenland, politisch und militärisch viel schwächer als die hellenistischen Großreiche, waren von den römischen Interventionen zuerst betroffen und ihnen in keiner Weise gewachsen. Ptolemaios Keraunos war seit der Ermordung des Seleukos Herrscher Makedoniens, fiel aber 2 7 9 v C h r im Kampf gegen die Kelten. Die letzteren drangen bis Delphi vor, richteten große Verwüstungen an, zogen aber wegen des herannahenden Winters wieder ab und gingen nach Kleinasien. Die Folge des Kelteneinfalls war eine mehrjährige Anarchie in Makedonien und ein Erstarken des ätolischen Bundes in Mittelgriechenland (das Bergvolk der Atoler hatte sich im Kampf gegen die Kelten besonders hervorgetan). In Makedonien hatte Antigonos Gonatas einen kleinen Rest der Besitzungen seines Vaters Demetrios Poliorketes halten können. Es gelang ihm, die in Thrakien ansässigen Kelten zu schlagen und in
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der Folgezeit seine Herrschaft über ganz Makedonien und Teile Griechenlands auszudehnen. Auch verteidigte er sich erfolgreich gegen Pyrrhos von Epirus, der 272 in einer Straßenschlacht getötet wurde, und schränkte im Chremonideischen Krieg die Seeherrschaft der Ptolemäer in der Agäis ein, um die Kontrolle über die für Griechenland unentbehrlichen Korneinfuhren zu sichern. Antigonos Gonatas war nicht nur ein tatkräftiger, sondern auch ein philosophisch gebildeter Herrscher, ein Schüler des Zeno, des Begründers der Stoa. Er zog Philosophen an seinen Hof und versuchte die Grundsätze der Philosophie in seinem politischen Handeln zu verwirklichen. Es gelang ihm zwar, die Vorherrschaft Makedoniens in Griechenland zu festigen. Doch stellten sich in den letzten Jahren seiner langen Regierung - er starb 239 - wieder Rückschläge ein. Das Streben der großen Staatenbünde nach Selbständigkeit machte sich stärker bemerkbar; der achäische Bund wurde von Ägypten unterstützt; die Herrschaft über Euboia und Korinth ging verloren; die organisierte Seeräuberei der Ätoler nahm zu. Erst dem Antigonos Doson (229-221) gelang es, den Frieden einigermaßen wiederherzustellen. Freilich war diese Befriedigung aus doppeltem Grunde fragwürdig: einmal mußte dieser Antigonide, um sein Ziel zu erreichen, gegen Sparta vorgehen und setzte damit den eben durch den spartanischen König Kleomenes III. begonnenen sozialen Reformen ein Ende. Gerade diese Reformen hätten für das übrige Grichenland beispielhaft sein können. Zum anderen war Antigonos Doson nicht imstande, das Problem des Verhältnisses zu Rom zu klären. Dazu reichte die Macht Makedoniens nicht aus, und es hätte der Hilfe der anderen hellenistischen Staaten bedurft. Die Ptolemäer und die Seleukiden waren aber weder bereit noch imstande einzugreifen. Unter Philipp V. wurde die Frage des Verhältnisses zu Rom entscheidend. Der Friede von Naupaktos, der den Bundesgenossenkrieg (Makedonien und Achäer gegen Sparta und Ätoler, 220-217) beeendete, war der letzte unter den Griechen allein abgeschlossene Friede. Im 1. makedonischen Krieg (215-205) - Ätoler und Pergamon standen hier den mit Hannibal verbündeten Makedonen gegenüber - blieb Griechenland noch ein Eingreifen der Römer erspart. Aber als Philipp gemäß dem mit Antiochos III. geschlossenen ägyptischen Teilungsvertrag von den ägyptischen Besitzungen in der Ägäis Besitz ergreifen wollte, beschwerten sich Rhodos und Pergamon in Rom (201). Im Bewußtsein seines gerade errungenen Sieges über Hannibal
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entschloß sich Rom aus rein imperialistischen Gründen zum militärischen Eingreifen und besiegte Philipp, unterstützt von dessen Erbfeinden, den Atolern, im Jahre 197 bei Kynoskephalai in Thessalien. Philipp behielt Makedonien, mußte aber seine Flotte ausliefern, Kriegsentschädigung zahlen und auf alle anderen Besitzungen verzichten. Die Römer taten ein übriges, indem sie nun ihrerseits den spartanischen König Nabis demütigten, der versucht hatte, die sozialen Reformen des Kleomenes fortzuführen. Nach der Entführung vieler Kunstwerke und nach der Proklamation der griechischen Freiheit verließen sie Griechenland. Philipps Sohn Perseus (179-168) versuchte, die erzwungene politische Isolierung Makedoniens zu durchbrechen, knüpfte Beziehungen zu Bithynien, Rhodos und Syrien an und warb für die makedonische Sache in Griechenland. Zwar hatte er einigen Erfolg, scheiterte aber an einem hinterhältigen Bubenstück Roms, das ihm Unterstützung anbot, während bereits der Vernichtungskrieg vorbereitet wurde. In dem schließlich ausbrechenden Krieg war Perseus zunächst erfolgreich. Doch wurde er schließlich 168vChr von dem römischen Philhellenen Aemilius Paullus bei Pydna vernichtend geschlagen. Ein großes Strafgericht über Makedonien und seine griechischen Freunde folgte. Damit begann die römische Herrschaft über Griechenland. Ein Nachspiel der Niederlage war die Demütigung von Rhodos, das dieses Mal mit Perseus sympathisiert hatte. Zwar kam es nicht zu einem Krieg. Aber der römische Senat ließ sich von Wirtschaftskreisen Roms dazu drängen, Rhodos zum Verzicht auf seine festländischen Besitzungen zu zwingen und den Handel von Rhodos schwer zu schädigen (zugunsten des stärker von Rom abhängigen Delos). Friede und Ruhe war freilich damit immer noch nicht in Griechenland eingekehrt. In Makedonien erhob sich 149vChr ein Schmied namens Andriskos, der sich als Sohn des Perseus ausgab. Nach der Niederwerfung dieses Aufstandes machten die Römer Makedonien zur römischen Provinz. 146 erklärte in Griechenland der Achäische Bund dem mit Rom verbündeten Sparta den Krieg. In Korinth wurde eine römische Gesandtschaft schwer beleidigt. Nach der Niederlage des Bundes zerstörten die Römer Korinth vollständig; Korinth wurde erst durch Caesar als römische Kolonie neu gegründet und vorwiegend mit italischen Siedlern besiedelt. Auch in diesem Kriege, nach dem der größte Teil des Landes zur Provinz Makedonien geschlagen wurde, litt Griechenland unsäg-
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lieh. Neues Unheil kam über das Land im Zusammenhang mit den mithridatischen Kriegen (88-83vChr); s.u.§1. 4b. b) Kleinasien Kleinasien war nur im Westen und im Süden von den Eroberungszügen Alexanders berührt worden. Der Norden und der Osten blieben zunächst am Rande des politischen Geschehens. Im Westen Kleinasiens ergab sich die Möglichkeit unabhängiger politischer Entwicklungen einmal durch den Zusammenbruch des lysimachischen Reiches beiderseits der Meerengen zum Schwarzen Meer, zum anderen aus dem zunehmenden Machtzerfall des Seleukidenreiches im Osten. Ägypten beherrschte zwar noch längere Zeit die Küsten Kariens, Lykiens und Kilikiens, darunter einige griechische Städte (Ephesus und Milet), verlor aber auch hier nach und nach seinen Einfluß. Das auch in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht bedeutendste Reich Kleinasiens wurde im 3. und 2.Jh.vChr Pergamon. Der von Lysimachos eingesetzte Burgvogt von Pergamon, Philhetairos, Sohn des Makedonen Attalos (daher die Bezeichnung „Attaliden"), fiel in den letzten Wirren um Lysimachos von ihm ab, schlug sich auf die Seite des Seleukos und machte sich nach dem T o d e des Lysimachos selbständig. Dadurch wurde die strategisch günstig im Kaikostal im nordwestlichen Kleinasien gelegene Burg und Stadt Pergamon zur Hauptstadt eines kleinen selbständigen Reiches. Eumenes I., Neffe, Adoptivsohn und Nachfolger des Philhetairos, besiegte den Seleukiden Antiochosl. bei Sardes, festigte die pergamenische Herrschaft über das ganze Kaikostal und dehnte sein Reich bis zur Küste hin aus (263-241). In die Regierung der drei Nachfolger des Eumenes fällt die über hundert Jahre fortwährende Blütezeit Pergamons. Attalos I. Soter (241-197), Vetter des Eumenesl. legte sich nach Siegen über die Kelten den Königstitel zu und beherrschte zeitweilig den ganzen Süden Kleinasiens bis zum Tauros. Er verstand es, sich mit den Römern ins Einvernehmen zu setzen, und unterstützte die letzteren auch gegen Makedonien. Berühmt wurde Attalos vor allem durch seine Förderung von Kunst und Wissenschaft sowie durch seine glänzenden Bauten. Sein Sohn und Nachfolger Eumenes II. Soter (197-159) machte mit römischer Hilfe Pergamon zur Großmacht und baute es auch organisatorisch als Großreich aus. Von dem Reichtum und der Pracht seines Reiches zeugen die Bauten, die Weltberühmtheit erlangten: Palast des Eumenes, pergame-
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nische Bibliothek mit über 200.000 Bänden, Pergamonaltar (auch die Eumenes-Stoa in Athen). So wurden die Attaliden zu den bedeutendsten Förderern der griechischen Kunst und Wissenschaft im 2.Jh.vChr. Der nächste Herrscher, Eumenes' Bruder Attalos II. Philadelphos (159-138), setzte die Politik seines Vorgängers ebenso wie dessen Bautätigkeit (Attalos-Stoa in Athen) fort. Schließlich vermachte der frühverstorbene letzte Attalide, Attalos III. Philometor (138-133), sein Reich testamentarisch dem römischen Senat. Dies führte zur Errichtung der römischen Provinz Asia. Bithynien, im nordwestlichen Kleinasien an der Propontis und am Schwarzen Meer, konnte auch bei der Eroberung Kleinasiens durch Alexander seine Selbständigkeit behaupten. Der bedeutendste Herrscher des zweiten Jahrhunderts vChr war Nikomedesl. (264 Gründung der Stadt Nikomedien). Er wehrte sich erfolgreich gegen den Seleukiden Antiochos I. und gegen Antigonos Gonatas von Makedonien, holte sich freilich zu seiner Hilfe keltische Söldner nach Kleinasien, die noch lange, selbst nach ihrer Zwangsansiedlung im zentralen Kleinasien (Galatien), der Schrecken des Landes blieben. Der Enkel des Nikomedes, PrusiasII. (182-149), gründete die Stadt Prusa. An seinem Hofe fand Hannibal seine letzte Zuflucht nach dem Scheitern seiner Pläne während seines Aufenthaltes bei Antiochos III. von Syrien. In Prusa beging Hannibal Selbstmord, um der drohenden Auslieferung an die Römer zu entgehen (183). Hier zeigt sich wieder der wachsende Einfluß Roms, das noch mehrfach in die Geschichte Bithyniens eingriff, bis es 74vChr das Land wie schon zuvor Pergamon durch testamentarische Verfügung des letzten Herrschers erbte. Das Königreich Pontos an der Schwarzmeerküste Kleinasiens auf seinem Gebiet lagen mehrere griechische Städte (Sinope, Trapezus) - wurde von einem hellenisierten iranischen Fürstengeschlecht regiert. Der erste bekannte Herrscher der hellenistischen Zeit war Mithridates II. Ktistes (302-266). Er war zunächst von Lysimachos abhängig, nannte sich aber seit 281 König und behauptete seine Selbständigkeit auch gegenüber den Seleukiden. In Pontos wohnte eine Mischbevölkerung von Griechen, Iraniern und älteren Völkerschichten Kleinasiens, die erst im Laufe der folgenden Jahrhunderte stärker hellenisiert wurden. Die griechischen Städte blieben zunächst selbständig. Sinope wurde erst von Pharnakesl. (185-170) erobert und unter seinem Nachfolger MithridatesV.
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Hauptstadt. Das Bestreben der politischen Könige, sich den anderen hellenistischen Herrschern zur Seite zu stellen, zeigt sich u.a. in ihren griechischen Beinamen, zu denen später Ehrentitel traten, die wieder den wachsenden Einfluß Roms verdeutlichen: MithridatesIV. Philopator Philadelphos (170-150) nannte sich „Freund und Bundesgenosse der Römer", ebenso sein Sohn MithridatesV. Euergetes (150-120), der im dritten Punischen Krieg den Römern half, die ihrerseits der weiteren Ausdehnung des pontischen Reiches nichts in den Weg legten. Erst unter dem begabtesten und letzten Herrscher von Pontos, Mithridates VI. Eupator Dionysos (120-63), kam es zum Konflikt mit Rom. Der Versuch dieses hellenisierten Iraniers, als Anwalt des griechischen Erbes im Osten eine Großmacht aufzurichten, die der römischen Expansion Einhalt zu gebieten vermochte, endete in jahrzehntelangen Kriegen, unter denen Griechenland und das griechische Kleinasien am meisten zu leiden hatten. Zunächst konnte dieser Retter der Griechen nach Unterwerfung Kleinarmeniens (westlich des Euphrats) sich -zum Herrn des ganzen nördlichen und östlichen Kleinasiens und fast des ganzen Schwarzmeergebietes machen. Im ersten Krieg mit Rom, das sich einer weiteren Ausdehnung des pontischen Besitzes widersetzte, eroberte Mithridates, als „neuer Dionysos" von vielen Griechen begeistert begrüßt, im Siegeszug ganz Kleinasien und Griechenland (86vChr) - allerdings eine „Befreiung der Griechen", die von der durch Mithridates angestifteten Ermordung von 80000 Italikern in Kleinasien („kleinasiatische Vesper") und der Verwüstung des mit Rom verbündeten Delos begleitet wurde. Die errungene Freiheit der Griechen war nur von kurzer Dauer. Sulla brachte Mithridates mehrere vernichtende Niederlagen bei und zwang ihn zur Preisgabe aller seiner Eroberungen. Athen, das dem Mithridates als erste der Städte Griechenlands zur Seite getreten war, wurde von Sulla gründlich verwüstet. Weitere Kriege mit Pontos folgten, und erst Pompeius gelang die endgültige Unterwerfung dieser letzten hellenistischen Macht und damit eine politische Neuordnung Kleinasiens im römischen Sinne (63vChr). Kappadokien, im Osten des kleinasiatischen Hochlandes am Oberlauf des Halys, war erst von Alexanders Nachfolger Perdikkas der griechischen Herrschaft einverleibt worden. Es erhob sich jedoch im späteren 3. Jh. unter Ariaramnes, dem Sohn des letzten persischen Satrapen. Dessen Sohn nahm 225vChr den Königstitel an. In der Folgezeit war das Land, das immer am Rande des helleni-
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stischen Einflusses stand, teils selbständig, teils von Pontos abhängig, bis es nach der endgültigen römischen Eroberung Kleinasiens zu einem Vasallenkönigtum Roms wurde (später römische Provinz, seit 72nChr mit Pontos, Paphlagonien, Galatien unter der Verwaltung eines römischen Legaten). c) Ägypten Ägypten war geographisch und wirtschaftlich einheitlicher als die übrigen hellenistischen Reiche. Kriege betrafen mehr die Außenbesitzungen Ägyptens in Syrien, Kleinasien und der Ägäis, während das Kernland fast nie bedroht war. Diese Sicherheit war die Grundlage einer großen wirtschaftlichen Blüte und ermöglichte den Ausbau Alexandriens zum Vorort der griechischen Kunst und Wissenschaft in der Hochblüte des Hellenismus (s.u.§3.2b). Ptolemaiosl. Soter (Lagos, 323-283/2), zunächst Satrap, dann König, hat die Grundlagen zur Neuordnung Ägyptens gelegt. Er richtete eine griechische Verwaltung ein, in die die unteren Ränge des bestehenden ägyptischen Verwaltungsapparates teilweise einbezogen wurden. Die Intensivierung der Wirtschaft ging Hand in Hand mit einem Übergang zur Geldbasis bei der Abwicklung aller Geschäfte (im inneren ägyptischen Warenverkehr war bis dahin der Tauschhandel vorherrschend). Gleichzeitig schaltete sich Ägypten stärker in den Handel der Mittelmeerwelt ein. Ptolemaiosl. verlegte die Hauptstadt von Memphis nach dem neugegründeten Alexandrien. Daß Ägypten territorial nicht in die Isolierung geriet, garantierte der Besitz Südsyriens, Cyperns, der Kyrenaika und einiger Städte, Inseln und Landschaften im südlichen und westlichen Kleinasien (Milet, Ephesos, Karien, Lykien, Samos, Lesbos, Thera und Teile von Kreta) und die Schirmherrschaft über den Bund der Inseln des ägäischen Meeres (Nesiotenbund). Unter PtolemaiosII. Philadelphos (283/2-246) erlebte das hellenistische Ägypten die Zeit seiner größten Blüte. Freilich begann unter seiner Regierung die lange Serie der Syrischen Kriege, in denen es im Kampf mit den Seleukiden um den Besitz Südsyriens, Palästinas und der phönizischen Küstenstädte ging. Vorerst konnte Ägypten hier seinen Besitzstand halten, und der Einfluß seiner Kultur und seiner Wirtschaft blieb während dieser Zeit in den Wohngebieten des jüdischen Volkes ungebrochen. Im Süden brachten Feldzüge nach Arabien und Äthiopien einigen Gebietszuwachs. Philadelphos war es auch zu verdanken, daß das Verwaltungs- und Wirt-
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schaftssystem des Landes weiter gefestigt wurde. D a z u gehörte das Steuersystem, die Landvermessung, Wasserwirtschaft und die zentralisierte Regelung der Landbestellung. Im Jahre 278 verstieß Philadelphias seine Frau Arsinoel. und heiratete seine leibliche Schwester Arsinoell., die mit Lysimachos und dann mit Ptolemaios Keraunos (s.o. § 1.3c) verheiratet gewesen war. Diese Ehe w a r zwar f ü r die Griechen als Inzest anstößig, aber nach ägyptischem und achämenidischem Brauch gerechtfertigt. Arsinoell. w a r die erste der großen Frauengestalten der hellenistischen Zeit, die auch auf die Politik entscheidend einwirkte. Ptolemaios und Arsinoe w u r den schon zu ihren Lebzeiten als „Göttliche Geschwister" verehrt (s.u. § 1.5c). U n t e r Philadelphus' Nachfolger Ptolemaios III. Euergetes ( 2 4 6 - 2 2 2 / 1 ) erreichte die Machtfülle Ägyptens ihren H ö h e p u n k t . Euergetes war ein kluger Diplomat, schützte den H a n d e l durch eine starke Flotte und hatte Erfolge im Krieg gegen SeleukosII. von Syrien; er stieß sogar bis zum Euphrat vor, konnte aber außer der H a f e n s t a d t Seleukia bei Antiochien die neuen syrischen Eroberungen nicht halten. Erst unter dem nächsten König, Ptolemaios IV. Philopator (221-204) verschlechterte sich die Lage Ägyptens. Z w a r brachte der Sieg über AntiochosIII. von Syrien bei Raphia (217) zum letzten Male einen Beweis f ü r die H e r r s c h a f t Ägyptens über Palästina, aber im Süden des Nillandes konnten nubische Könige eine eigene H e r r s c h a f t errichten (206-185). D e r Mittelmeerhandel litt erheblich durch den zweiten Krieg Roms gegen Karthago, und im Inneren des Landes brachen wiederholt Aufstände der einheimischen Ägypter aus, deren die Regierung nicht H e r r werden konnte. N a c h dem T o d e Philopators, als V o r m ü n d e r f ü r seinen unmündigen Sohn PtolemaiosV. Epiphanes regierten, schlossen AntiochosIII. von Syrien und PhilippV. von Makedonien sogar einen Teiiungsvertrag über Ägypten. Antiochos eroberte Südsyrien einschließlich Palästinas, das von nun an in den Besitz der Seleukiden überging. Im Verlauf des 2 . J h . v C h r ist Ägypten von einer Reihe von T h r o n w i r r e n erschüttert w o r d e n , in denen die Schwestergemahlinnen K l e o p a t r a l l . und Kleopatra III. eine erhebliche Rolle gespielt haben. Das Reich löste sich dabei mehrmals in seine Bestandteile Ägypten, Cyrenaika und Cypern auf. Versuche, Südsyrien zurückzuerobern, scheiterten; sie f ü h r t e n im Gegenteil AntiochosIV. Epiphanes als Eroberer ins Land, das er erst auf G r u n d einer römi-
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sehen Intervention wieder verließ. Auch der Prozeß der Hellenisierung wurde in der zweiten Hälfte des 2. Jh. rückläufig. PtolemaiosVIII. Euergetes III. (schon 170-164 Mitregent seines Bruders, von 145-116 König und zweiter Gemahl seiner Schwester Kleopatrall.) wies die griechischen Künstler und Wissenschaftler aus Alexandrien aus. Damit verlagerten sich die Zentren des geistigen Lebens endgültig nach Pergamon und Rhodos. In der Verwaltung traten zunehmend hellenisierte Ägypter an die Stelle der makedonischen Oberschicht. Außenpolitisch wurde Ägypten mehr und mehr zum römischen Klientelstaat, obgleich Rom vorerst nur gelegentlich eingriff. Erst seit der Rückführung des vorletzten Herrschers, Ptolem a i o s X I I . Neos Dionysos (genannt „Auletes" = der Flötenspieler; 80-58 und 55-51 vChr), den Rom im Jahre 55vChr wieder in seine Rechte einsetzte, gab es auch eine römische Besatzung in Ägypten. Faktisch betrachteten die Römer Ägypten seitdem als ein Land, über das sie frei verfügen konnten. S o kam es, daß sich der von Caesar bei Pharsalos besiegte Pompeius nach Ägypten zurückz o g (48 vChr) und dort auf Anstiften des Ptolemaios XIII., des Sohnes des Auletes, vergiftet wurde. Der letzte Ptolemaios ertrank bei einem Angriff der Römer auf sein Lager (47 vChr). Seine Schwestergemahlin Kleopatra VII., die letzte der Nachkommen des makedonischen Lagiden, Geliebte Caesars und später Gemahlin des Marcus Antonius, personifizierte noch einmal das Erbe der hellenistischen Herrscher Ägyptens. Als alle ihre Pläne gescheitert waren, gab sie sich selbst durch den Biß einer Giftschlange den T o d . d) D a s Seleukidenreich und Syrien Die Probleme des Seleukidenreiches erwuchsen aus der Schwierigkeit, den Besitzstand dieses Riesenreiches, daß sich von Baktrien im Osten bis nach Kleinasien im Westen erstreckte, zu wahren und die syrischen Kernlande, das wirtschaftliche Zentrum des Reiches, auszubauen und zu sichern. Die Kriege mit Ägypten um den Besitz des südlichen Syriens, Palästinas und Phöniziens beherrschten das ganze 3. Jahrhundert. Der Besitz dieses Gebietes war mit der Kontrolle der wichtigsten Handelsstädte und damit der Seewege am östlichen Mittelmeer verbunden. Antiochosl. Soter (281-261, seit 293 Mitregent seines Vaters Seleukos) konnte in Kleinasien die Kelten schlagen (275) und sie in Galatien ansiedeln. Aber im 1. Syrischen Krieg gegen Ägypten war
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er erfolglos (274-271), und im Krieg gegen Pergamon wurde er 262 von Eumenesl. bei Sardes geschlagen. AntiochosII. (261-246, seit 266 Mitregent) gelang es, im Bündnis mit Antigonos Gonatas von Makedonien im 2. Syrischen Krieg (260-253) Gebiete in Kleinasien zurückzuerobern. Aber unter seinen Nachfolgern Seleukos II. Kallinikos (246-225) und Seleukos III. Soter (225-223) geriet das Seleukidenreich in eine Krise, die seinen Bestand ernsthaft in Frage stellte. Zunächst führte der aus Nachfolgestreitigkeiten entstandene Laodikekrieg ( = 3. Syrischer Krieg, 246-241) zum Verlust von Gebieten in Kleinasien und Syrien und zu einem Erstarken der kleinasiatischen Königreiche. Der Bruder des Seleukos II., Antiochos Hierax, errichtete im südlichen Kieinasien ein unabhängiges Königreich mit der Hauptstadt in Sardes, wurde aber mehrfach von Attalos I. von Pergamon geschlagen und fiel schließlich im Kampf gegen die Kelten in Thrakien (226). Zwar konnte der Vetter des 3. Seleukos Teile Kleinasiens den Pergamenern entreißen, machte sich aber wiederum als König mit der Hauptstadt Sardes selbständig. Die Schwierigkeiten bei der Thronbesteigung des Seleukos II. zeitigten im Osten noch folgenreichere Ereignisse. Der Satrap von Baktrien, Diodotus, machte sich, gestützt auf die blühenden griechischen Kolonialstädte und auf den iranischen Adel, selbständig. Dieses unabhängige griechische Königreich Baktriens bestand noch mehrere Jahrhunderte und war um 200vChr ein Großreich, das auch über Sogdien, Teile Nordindiens und vielleicht auch über Gebiete Chinesisch-Turkestans herrschte. Der Einfluß der griechischen Kultur machte sich in diesen Gebieten noch lange nach dem Zusammenbruch des baktrischen Reiches bemerkbar (Münzkunst, Architektur). Stellte die Entwicklung in Baktrien keine unmittelbare Bedrohung des Seleukidenreiches dar, so war die Begründung des parthischen Reiches gleichbedeutend mit dem Verlust des gesamten iranischen Ostens. Die Parni waren ein iranisches Reitervolk aus Zentralasien, dem es bald nach 250vChr gelang, die Satrapie Parthien (östlich des Kaspischen Meeres) zu erobern und von dort aus ein eigenes Reich aufzubauen (daher gaben sie sich die Bezeichnung „Parther"). Sie beriefen sich dabei nicht nur auf das iranische (achämenidische) Erbe, sondern knüpften ebenso an die griechische Tradition an. Griechisch war, neben dem Aramäischen, Reichs- und Verwaltungssprache. Die Sonderstellung der griechi-
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sehen Städte blieb auch unter der parthischen Herrschaft teilweise erhalten. Gerade als „hellenistische" Macht wurden die Parther zu einer ständigen Bedrohung des seleukidischen Reiches. Der erste historisch deutlich greifbare parthische König Tiridatesl. (etwa 247-210), Nachfolger des ArsakesL, des Begründers der Arsakiden-Dynastie, festigte die parthische Herrschaft in Parthien und Hyrkanien (südlich des Kaspischen Meeres) und drang weiter nach Westen vor; der Ausdehnung nach Osten waren durch das baktrische Reich Grenzen gesetzt. Erst unter AntiochosIII. (dem Großen, 223-187) konnte sich das Seleukidenreich wieder aus seiner Ohnmacht erheben. Zunächst wandte sich Antiochos gegen Ägypten, mußte aber das schon besetzte Südsyrien und Phönizien/Palästina wieder räumen, als er bei Raphia von Ptolemaios IV. geschlagen worden war (4. Syrischer Krieg, 221-217). Sodann wurde der abtrünnige Vizekönig Kleinasiens, Achaios, besiegt und hingerichtet (213). Jetzt konnte Antiochos in einem großen Feldzug („Anabasis" des Antiochos) sich auch gegen den Osten wenden. Armenien, Parthien und Baktrien wurden besiegt und mußten die Oberherrschaft des Seleukiden anerkennen. Dadurch stellte er die Macht des Reiches in einem System von abhängigen Vasallenstaaten auch im Osten wieder her (212-205). Entsprechend dem mit Philipp V. von Makedonien abgeschlossenen Teilungsvertrag Ägyptens besetzte Antiochos Südsyrien und Phönizien, sobald die Schwäche des ägyptischen Reiches nach dem Tode Ptolemaios' IV. offenbar geworden war (200). Nachdem ihm Ägypten alle seine Besitzungen in Syrien, Kleinasien und Thrakien zugesprochen hatte, wandte er sich nach dem Westen, brachte Kleinasien und die Meerengen in seine Gewalt und ließ sich durch ein Hilfegesuch der Ätoler verleiten, nach Griechenland überzusetzen. Dies rief jedoch die Römer auf den Plan. Sie schlugen Antiochos bei den Thermopylen, besiegten seine Flotte zweimal in der Ägäis und verfolgten ihn unter Führung der beiden Scipio nach Kleinasien. Bei Magnesia am Mäander wurde Antiochos vernichtend geschlagen. Er mußte ganz Kleinasien bis zum Taurus räumen (der größte Teil dieses Gebietes fiel EumenesII. von Pergamon zu) und war damit endgültig vom griechischen Westen abgeschnitten. Im Frieden von Apameia (188) wurden Antiochos schwere Kontributionen auferlegt, aus denen seinem Land die größten finanziellen Schwierigkeiten erwuchsen, die sich sehr negativ auf die Stabilität
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des Reiches auswirkten. Bei der Plünderung eines Tempels wurde Antiochos 187 erschlagen. Antiochos' Sohn, SeleukosIV. Eupator (187-175) wurde von seinem Kanzler ermordet. Sein Bruder, der 14 Jahre als Geisel in Rom gelebt hatte, wurde als Antiochos IV. Epiphanes sein Nachfolger (175-164). In einem erneuten Konflikt mit Ägypten um den Besitz Südsyriens (6.Syrischer Krieg 170-168) gelang es ihm, binnen kurzem das ganze Land zu erobern, abgesehen von Alexandria. Er mußte zunächst nach Syrien zurückkehren (in diese Zeit fällt die Plünderung des jerusalemischen Tempelschatzes), zog dann aber erneut nach Ägypten. Dort kam es in einer Vorstadt Alexandriens zu jener berühmten Szene, in der ihm der Beauftragte Roms Popillius Laenas den Beschluß des römischen Senats überbrachte und dabei mit seinem Stab einen Kreis um den König zog, um so die Notwendigkeit zu einer sofortigen Rückkehr nach Syrien und die Preisgabe Ägyptens zu verdeutlichen. Antiochos gab nach. Er starb bald darauf auf einem Feldzug nach Armenien und Medien. Der Makkabäeraufstand, der zwar unmittelbar aus der Erbitterung über die Hellenisierungspolitik des Antiochos Epiphanes entstanden ist, muß aber vor allem im Zusammenhang der nun einsetzenden Auflösung des Seleukidenreiches gesehen werden, wozu das römische Eingreifen Zumindestens ein wesentlicher Anlaß war. Das seleukidische Reich war danach nicht mehr imstande, sich über den Status eines asiatischen Kleinstaates zu erheben, was zwangsläufig zur Folge hatte, daß die bis dahin abhängigen Staaten sich nun die Selbständigkeit erkämpfen konnten. Daß nach dem Tode des Antiochos IV. ständige Thronwirren die Zentralgewalt weiter zerrütteten, ist nur ein weiteres Symptom für das Ende der seleukidischen Macht. Südsyrien war ohnehin nur wenige Jahrzehnte in der Hand der Seleukiden gewesen. Aus dem makkabäischen Aufstand erwuchs hier der jüdische Hasmonäerstaat, der sich bis zur Eroberung Syriens durch Pompeius behaupten konnte. Im Ostjordanland erhob sich der alte Araberstaat der Nabatäer mit der Hauptstadt Petra. Erst 105 nChr wurde ein Teil Nabatäas zur römischen Provinz. Parthien dehnte sich seit 160vChr in kriegerischen Auseinandersetzungen wieder weiter nach Westen aus, eroberte Medien, Babylon, und im Süden die alten iranischen Kernlande. Antiochos Sidites gewann Medien und Babylon für kurze Zeit zurück, sein Heer wurde aber 129 vernichtend geschlagen. Inzwischen erhob sich
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auch Armenien, das von einem Seitenzweig der parthischen Königsfamilie regiert wurde. Es konnte sich selbständig machen und nach Südwesten vordringen. Vorübergehend war ein Teil Kappadokiens in armenischen Händen. 8 6 v C h r eroberte Tigranes I. von Armenien den noch vorhandenen Rest des Seleukidenreiches, das, wirtschaftlich und militärisch geschwächt, ihm keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzte. Die Herrschaft der Armenier in Syrien fand erst durch die römischen Feldherrn Lucullus (69vChr) und Pompeius (64vChr) ein Ende. Diese Nachfolgestaaten des Seleukidenreiches, sowie einige kleinere Herrschaften, die in dieser Zeit eine gewisse Selbständigkeit gewinnen konnten (wie Adiabene und Kommagene), waren durchweg hellenisiert und verstanden sich als Erbe der griechischen Tradition, die sie mit ihrem eigenen völkischen Anspruch zu verbinden suchten, wenn sie nicht überhaupt, wie es vielfach geschah, gleichzeitig an die Tradition der Achämeniden und der Griechen anknüpften. Die Parther übernahmen zum Teil auch die seleukidische Verwaltung und traten, selbst hellenisiert, mit gutem Recht als die Schutzherren und Anwälte der griechischen Kultur auf (der Arsakide Mithridates I., 1 7 1 - 1 3 8 v C h r , trug z.B. die Beinamen Euergetes, Dikaios und Philhellen). Nicht schon die seleukidischen Nachfolgestaaten, sondern erst die Eroberung durch R o m setzte der politischen Kraft des Hellenismus ein Ende. e) Sizilien und Unteritalien Das Griechentum Unteritaliens und Siziliens war seit Jahrhunderten dort heimisch. Es geriet seit Ende des 4. J h . v C h r in große Bedrängnis, einerseits durch die italischen Stämme, hinter denen letztlich R o m stand, andrerseits durch Karthago. Den einzigen wenigstens teilweise erfolgreichen Versuch, das Westgriechentum zu einigen, unternahm Agathokles. Er stammte aus dem westsizilischen Thermal, wo er ca. 360 geboren wurde, erhielt später das syrakusische Bürgerrecht und wurde schließlich 3 1 9 / 1 8 Stratege und 3 1 7 / 1 6 Alleinherrscher. Er wandte sich zuerst gegen Karthago, anfänglich mit wenig Glück auf Sizilien, später in einer letztlich erfolglosen Expedition in Afrika. Aber er konnte doch das sizilische Griechentum einigen. Nach dem Frieden mit Karthago ( 3 0 6 v C h r ) nahm er den Königstitel an (nach dem Vorbild der Diadochen) und unterstützte in den folgenden Jahren die unteritalischen Griechen gegen die italischen Stämme. Das Endziel eines großen sizi-
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lisch-unteritalischen griechischen Königreiches konnte Agathokles nicht mehr erreichen, da er 289 starb. Das Eingreifen des Königs Pyrrhos von Epirus trug nicht zu einer Stärkung des unteritalischen Griechentums bei. Pyrrhos war nach wechselvollem Schicksal (so weilte er als Geisel für Demetrios Poliorketes am H o f e in Alexandrien) im Jahre 297 König der Molosser und Hegemon des epirotischen Bundes geworden (nach dem Ende des Demetrios Poliorketes wurde er sogar von dessen Heer zum König der Makedonen ausgerufen). 280 eilte er nach Italien, da die unteritalische Stadt Tarent ihn im Kampf gegen die Römer, die sich in Thurioi festgesetzt hatten, zu Hilfe rief. Das Unternehmen wurde als panhellenistischer Feldzug mit viel Propaganda und großem Aufwand betrieben. Tatsächlich gelang es Pyrrhos, die Römer in zwei verlustreichen Schlachten (Pyrrhussiege) zu besiegen. Er drang bis in die Gegend von Rom vor, setzte dann nach Sizilien über und vertrieb die Karthager fast ganz von der Insel. Aber Schwierigkeiten mit den sizilischen Griechen, eine letzte unentschiedene Schlacht gegen die Römer und schließlich die Aussicht auf den makedonischen Thron veranlaßten Pyrrhos 275 zum Verlassen Italiens, ohne daß sein Unternehmen irgendeinen bleibenden Erfolg gehabt hätte. Freilich hinterließ Pyrrhos ein anderes Erbe: der Eindruck, den er auf die Römer gemacht hatte, prägte sehr stark ihr Bild der hellenistischen Herrscher und Reiche. In den folgenden Jahren brachten die Römer ganz Unteritalien sehr schnell in ihren Besitz. Syrakus behielt unter seinem König Hieron II. (269/68-215) noch eine gewisse Selbständigkeit, war aber bald auf einen schmalen Streifen an der Ostküste beschränkt und den Römern tributpflichtig. Im l.Punischen Krieg (264-41) hatte Rom den größeren Teil Siziliens erobert, 227 wurde es römische Provinz. Syrakus erlebte indessen in diesen letzten Jahrzehnten seiner Selbständigkeit noch einmal eine große kulturelle Blüte. In die Wirren, die auf Hierons Tod folgten, griff Rom schließlich ein, eroberte Syrakus und machte es zu einem Teil der Provinz Sizilien. Das Griechentum Unteritaliens spielte seitdem jedoch eine bedeutende Rolle in der Vermittlung griechischer Kultur an die Römer und trug entscheidend zur Entwicklung der römischen Kultur bei.
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Geschichtlicher Überblick
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5. Politische Ideologie und Herrscherkult E.R.GOODENOUGH, The YCS1, 1928,55-102.
Political Philosophy of Hellenistic Kingship,
Ch. HABICHT, Gottmenschentum und griechische Städte, Zet. 14, 2 1970. L.CERFAUX - J.TONDRIAN, Le culte des souverains, 1957. F.TAEGER, C H A R I S M A : Studien zur Geschichte des antiken Herrscherkultes I, 1957.
Zua: G. BORNKAMM, Mensch und Gott in der griechischen Antike, Studien zu Antike und Christentum, 1959, 9-46. A.A.T.EHRHARDT, Politische Metaphysik von Solon bis Augustin, Bd.I: Die Gottesstadt der Griechen und Römer, 1959. V. EHRENBERG, Der Staat der Griechen, Bd. II: D e r hellenistische Staat, 2 1965. T. A. SINCLAIR, A History of Greek Political Thought, 1968.
a) Grundlagen der politischen Ideologie Die hellenistischen Könige traten als Nachfolger der Achämeniden und Pharaonen auf (von den Achämeniden übernahmen die Seleukiden das Diadem, den Siegelring und das Heilige Feuer). Aber ihre Legitimität gründete sich für griechisches Empfinden nicht in solcher Anknüpfung an persische oder ägyptische Traditionen. Vielmehr beruhte die Vorstellung der absoluten Monarchie, die hier verwirklicht wurde, auf ganz andersartigen griechischen Voraussetzungen, die im griechischen Glauben an das Recht der überragenden Einzelpersönlichkeit liegen. Solche Persönlichkeiten wurden schon seit altersher in Griechenland als Heroen nach ihrem Tode verehrt und von den Dichtern als göttlich begabte Wesen besungen. Für das philosophische Verständnis war es freilich der „Weise", den Charisma und Erziehung zum Königtum befähigten. Im allgemeinen Bewußtsein war es einfach der „beste Mann", dem man als König zu folgen bereit war. Hatten doch die Philosophen allenthalben gelehrt, daß der beste Mann an sich schon König sei und daß ihm deshalb göttliches Recht zukam. Dazu trat auf Grund stoischer Anschauungen die Idee vom Königtum des Herrschers auf der Erde, das dem Königtum des Zeus im Himmel entsprach. Ohnehin hatten sich die Philosophen der hellenistischen Zeit darum bemüht zu zeigen, daß die absolute Monarchie die beste aller Regierungsformen sei. Dem Griechen war freilich die Vorstellung fremd, daß der Staat Eigentum des Herrschers ist. Gleichwohl war es ihm selbstver-
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ständlich, daß die Interessen des Staates den Privatinteressen vorgeordnet werden müssen und daß man mit seinem Leib und Leben dem Staate zu dienen habe. M a n muß dabei allerdings bedenken, daß Vorstellung und Begriff des „Staates" im griechischen Denken fehlte (es gab d a f ü r im Griechischen kein W o r t ; vielmehr sprach man etwa von der „Polis" oder vom „ G e m e i n w e s e n " = τ ό κοινόν). V o n der Gleichsetzung des „ S t a a t e s " mit dem H e r r s c h e r kann man deshalb erst dort reden, w o das Land Eigentum des Königs ist. Das ist nun in den hellenistischen Reichen des Ostens in der T a t der Fall; das neu eroberte Land w a r speergewonnenes Land, in dem der König unbeschränktes Recht besaß. Sein Wille w a r hier Gesetz. Die Bewohner der eroberten Gebiete waren nichts weiter als Untertanen. Etwas anders war die Stellung der griechischen Städte in diesen Gebieten, die mit ihren Bürgern z w a r besondere Rechte besaßen, sich jedoch auch dem Willen des Königs nicht widersetzen k o n n t e n ; ja, in ihrem eigenen Interesse mußten sie darauf bedacht sein, den Königen Ehrungen zu erweisen, durch die sie als absolute Herrscher anerkannt wurden. Anders waren die Verhältnisse in Makedonien. Das Königtum blieb hier auch in der hellenistischen Zeit ein Volkskönigtum, das von der T r e u e des Volkes getragen wurde. So haben die M a k e d o nen auch den Antigoniden, nachdem diese einmal in Makedonien als Könige anerkannt waren, bis zum Schluß die T r e u e gehalten. D e m entsprach es, daß in Makedonien selbst die Voraussetzungen zur Entwicklung des Herrscherkultes nicht gegeben waren (nur andere Städte Griechenlands außerhalb Makedoniens haben den makedonischen Königen solche Ehrungen zuteil werden lassen). b) U r s p r u n g und Anfänge des Herrscherkultes Man hat versucht, die Entstehung des Herrscherkults im Hellenismus auf orientalische Vorstellungen z u r ü c k z u f ü h r e n . Das ist aber nicht möglich. Z w a r ist in Ägypten die Gottheit des P h a r a o seit Jahrtausenden unbestrittene Grundlage der Königs-Ideologie. Aber der P h a r a o ist immer schon als solcher göttlich, während „die Göttlichkeit des hellenistischen Herrschers auf seinen V o r z ü g e n ber u h t " (A.D. Nock). Vollends kann man die göttliche V e r e h r u n g des Herrschers im Hellenismus nicht auf persische Anschauungen begründen. Z w a r galt bei den Achämeniden das orientalische H o f zeremoniell, das den König weit über seine Untertanen erhob; aber Götter waren die persischen Könige nicht. Ü b e r h a u p t w a r im
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Osten die Vorstellung des Gottkönigs zu dieser Zeit längst verschwunden. Im griechischen Raum selbst könnte man auf den Heroenkult hinweisen. Doch bestehen hier nur indirekte Zusammenhänge; denn der Heroenkult galt einem Toten, nicht einem Lebenden. Es sind andere Anschauungen gewesen, die zur göttlichen Verehrung der Könige führten. Schon zur Zeit der Krise und des Zusammenbruchs der griechischen Polis am Ende des 5. und Anfang des 4. J h . v C h r fand sich in Griechenland die zunächst von den Philosophen propagierte Vorstellung, daß nur die göttlich begnadete Einzelpersönlichkeit O r d n u n g , Wohlstand und Frieden wiederherstellen könne. Plato, X e n o p h o n und Aristoteles haben dies in verschiedener Weise deutlich zum Ausdruck gebracht. Erziehung, Charisma und göttliche Befähigung liegen f ü r dieses Denken ganz nahe beieinander. In diesem Sinne sind bereits vor Alexander bedeutenden Herrschern oder H e e r f ü h r e r n noch zu ihren Lebzeiten göttliche Ehren zuteil geworden. In Syrakus gab es im 5. und 4. Jh. göttliche Ehren, zunächst f ü r den toten, dann auch f ü r den lebenden Herrscher, der als Wohltäter galt. Dem Spartaner Lysander, dem Sieger über Athen im Peloponnesischen Krieg, wurden bereits damals göttliche Ehrungen zuteil. Und Philipp II. von Makedonien wurde von Isokrates als Gott begrüßt. Alexander selbst hat sich zunächst nach dem Vorbild seines „ H e l d e n " Herakles verstanden. W a n n und wie sich sein Selbstbewußtsein gewandelt hat, wissen wir nicht. Bei der Befragung des Ammonorakels in Ägypten wurde er zwar vor dem Tempel vom Priester als Sohn des Gottes Re begrüßt. Aber das war für Ägypten selbstverständlich, da Alexander ja nach der Einnahme Ägyptens legitimer Pharao und so kraft seines Amtes legitimer Sohn dieses Gottes war. Was im Tempel selbst vor sich ging, entzieht sich unserer Kenntnis. Es ist möglich, daß sich Alexander seitdem als Sohn des Gottes Ammon Re = Zeus verstanden hat. Jedenfalls hat er aus einem solchen Bewußtsein heraus Akte und Zeichen einer göttlichen Verehrung seiner Person seit jener Zeit gesucht (s.o.§ 1.2b). Eine Institution ist daraus zu seinen Lebzeiten nicht geworden. Auch der mißlungene Versuch der Forderung der dem orientalischen Herrscher gegenüber üblichen Proskynese 327vChr in Baktra beweist dies nicht; denn hier handelt es sich um ein orientalisches Hofzeremoniell, nicht um göttliche Verehrung. Der Brief Alexanders an die griechischen Städte vom Jahre 324, in dem die
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Rückführung der Flüchtlinge befohlen wurde, kommt als beweiskräftiges Zeugnis nicht in Frage: erst späte Quellen berichten, daß Alexander in diesem Briefe ebenfalls gefordert habe, als Gott verehrt zu werden. Tatsächlich aber ist göttliche Ehrung Alexanders seitens der griechischen Städte bereits zu seinen Lebzeiten gelegentlich bezeugt. Die Diadochen haben für sich selbst keine Ansprüche auf göttliche Verehrung gestellt. Sie standen wohl auch noch zu sehr unter dem überragendem Eindruck der Person Alexanders. Gleichwohl wurden ihnen solche Ehrungen durch die Griechenstädte zuteil, sogar schon vor ihrer Annahme des Königstitels. Es scheint, daß ihnen oft solche Ehrungen von den Städten geradezu aufgedrängt wurden. Am deutlichsten ist das bei Demetrius Poliorketes. D e r Kult des toten Alexander wurde freilich von den Diadochen tatkräftig gefördert. Eumenes hatte in einem Zelt, das den wichtigsten Beratungen diente, den T h r o n Alexanders aufstellen lassen. Den Leichnam Alexanders, den Arrhidaios nach Makedonien bringen wollte, nahm Ptolemaiosl. ihm ab, bestattete ihn zunächst in Memphis und ließ ihn später nach Alexandrien überführen, wo Alexander auf Staatskosten ein ständiger Kult eingerichtet wurde. V o r allem in den Ionischen Städten gab es eine Reihe von Alexandertempeln und Alexanderheiligtümern, die z.T. schon zu seinen Lebzeiten eingerichtet worden waren. Die Institution eines Herrscherkultes ergab sich aber aus dieser an manchen Orten noch Jahrhunderte fortdauernden göttlichen Verehrung Alexanders nicht. c) Herrscherkult in Ägypten In Ägypten bestand selbstverständlich von vornherein bei der einheimischen Bevölkerung die göttliche Verehrung für den griechischen König, die ihm Kraft seines Amtes als Nachfolger des Pharao zukam. Dieser Herrscherkult wurde ungebrochen auf die Ptolemäer und später auf den römischen Kaiser übertragen. Unter den Makedonen und Griechen Ägyptens war der erste Schritt zur Einrichtung des Herrscherkultes die Verehrung als „Rettende G ö t t e r " , die der zweite Ptolemäer seinem Vater Ptolemaios I. Lagos und dessen Gemahlin Berenike nach deren T o d zukommen ließ. Das scheint zunächst einfach an den griechischen H e roenkult anzuknüpfen. In diesem Sinne wurden auch andere Mitglieder des Herrscherhauses (einschließlich einer Mätresse) nach
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ihrem T o d e vergöttlicht. D e r Bau eines Tempels und die Stiftung eines Festes gehörten zu den in Griechenland erwarteten Ehrungen bei solchen Anlässen (Ptolemaios II. beantragte, daß die Sieger bei diesen Spielen den Siegern der Spiele von Olympia gleichgestellt werden sollten). Später hat Ptolemaios II. aber auch sich selbst und seine Schwestergemahlin Arsinoe II. noch zu Lebzeiten als „göttliches Geschwisterpaar" verehren lassen. Das geht entschieden über das hinaus, was im Rahmen des Heroenkultes möglich war. Aber es läßt sich doch als eine Fortsetzung einer griechischen Entwicklung auf Grund griechischer Voraussetzungen verstehen. Man mag immerhin vermuten, daß die für die Ägypter ohnehin weiterbestehende Verehrung des Pharao als Gott dazu beigetragen hat, daß sich gerade in Ägypten der Herrscherkult von nun an so kräftig als Institution entwickelte. Möglich ist auch, daß es in der Absicht des Ptolemaios II. lag, mit dem Kult des lebenden Königspaares, der jedenfalls für die Griechen wie für die Ägypter nun gleichermaßen gültig war, ein einigendes Band der griechischen und nichtgriechischen Untertanen seines Reiches zu schaffen. Aber grundsätzlich unterscheidet sich dieser Herrscherkult nicht von dem, was im Seleukidenreiche galt und was auch anderen hellenistischen Herrschern gegenüber gelegentlich in Erscheinung tritt. Eine besondere Entwicklung erfuhr der Herrscherkult in Ägypten später unter Ptolemaios IV. Philopator ( 2 2 2 - 2 0 4 ) . Er berief sich auf seine Abstammung von Dionysos und trug selbst ein Efeublatt auf seinem Leibe eingeritzt. Nach einer 3 . M a k k . 2,28ff aufbewahrten Legende hat er versucht, den Juden in Alexandrien ein ebensolches Efeublatt auf die Haut zu tätowieren. Immerhin ist dies ein Zeichen für die Ausbreitung des Dionysos-Kultes zu jener Zeit (s.u. § 4.3 f). Im 2 . J h . v C h r machte sich, vor allem nach dem Verlust der griechischen Gebiete im westlichen Kleinasien und der griechischen Inseln, eine stärker ägyptisch ausgerichtete Religionspolitik bemerkbar. Eine staatliche Aufsicht über die Synoden der ägyptischen Priesterschaft wurde eingerichtet. Kleopatra III. (gest. l O l v C h r ) und spätere Königinnen traten in Proklamationen unter dem Namen der Göttin Isis auf. Aus dem 3 . J h . v C h r findet sich übrigens für die Königin Berenike II. der Titel „Isis, Mutter der Götter, Berenike" in der Weihung eines Tempels für sie. Sollte sich „Mutter der Gött e r " hier auf die phrygische Göttermutter beziehen, so zeigt dieses
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Auftauchen der kleinasiatischen Göttin, wieweit der Synkretismus auch in Ägypten fortgeschritten war. Die Hierogamie des Antonius mit der letzten Kleopatra als Neuer Dionysos und Isis war der End- und Höhepunkt dieser Entwicklung (s.u. § 6 . / d ) . d) Herrscherkult im Seleukidenreich Analog der Entwicklung in Ägypten ließ der zweite Seleukide seinen Vater Seleukos I. nach dessen T o d als „ Z e u s N i k a t o r " verehren. Man wird annehmen dürfen, daß in der Folgezeit, wie in Ägypten, ein Kult des lebenden Herrschers eingerichtet wurde. Die Zeugnisse für einen solchen Reichskult sind freilich spärlich, was aber vor allem darin begründet sein mag, daß ohnehin für das Seleukidenreich viel weniger direkte Zeugnisse auf uns gekommen sind als für das an Papyrusfunden so reiche Ägypten. Immerhin ist der Kult des lebenden Herrschers für Antiochos III. bewiesen. Hier wie auch sonst war der Herrscherkult eng mit dem Kult des Zeus und des Apollo verbunden, die die eigentlichen Reichsgötter des Seleukidenreiches gewesen sind (berühmtes Apolloheiligtum in Daphne bei Antiochien am Orontes). Außerdem haben die Seleukiden tatkräftig die lokalen Kulte gefördert. Das war in ihrem Staat aus politischen Gründen besonders wichtig, weil sich in ihrem Gebiet zahlreiche Tempelterritorien befanden, die (wie einige der griechischen Städte) gewisse autonome Rechte besaßen und der Verwaltung der Satrapien nicht unterstanden. Sie wurden von Hohenpriestern regiert (wie der Anfang des 2. Jh. von den Seleukiden abhängige jüdische Tempelstaat in Jerusalem); eine beschränkte Selbstständigkeit wurde ihnen in der Regel belassen. Über den Konflikt des Antiochos IV. Epiphanes mit dem jüdischen Staat wird später noch zu reden sein (s.u. § 5 . 1 c).
§2 GESELLSCHAFT UND WIRTSCHAFT
W.W. TARN, Die Kultur der hellenistischen Welt, 1966. M. ROSTOVTZEFF, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt, 1955-1956. Μ . I. FINLEY, T h e A n c i e n t E c o n o m y ,
1973.
1. Hellenismus und
Hellenisierung
J . G . DROYSEN, Geschichte des Hellenismus, 1836-1843 (und Neudrucke). M.HADAS, Hellenistische Kultur: Werden und Wirkung, 1963. C.SCHNEIDER, Die Welt des Hellenismus: Lebensformen in der spätgriechischen Antike, 1975.
Zub: S.K.EDDY, T h e King is D e a d : Studies in the Near Eastern Resistance to Hellenism 334-31 B . C . , 1961.
A.MOMIGLIANO, Alien Wisdom: The Limits of Hellenization, 1975.
a) Der Begriff des Hellenismus Seit J . G . Droysen verstand man unter „Hellenismus", entgegen dem ursprünglichen Wortsinn, die Verschmelzung des Griechischen und seiner Kultur mit dem Orientalischen. Die neuere Forschung ist hier vorsichtiger. Einmal gab es einen regen Austausch zwischen Griechenland und dem Osten schon in den Jahrhunderten vor Alexander. Wie oben kurz ausgeführt wurde (s.o. § 1 . 7 ) , haben die griechische Kolonisation, die Ausbreitung der wirtschaftlichen Macht der Griechen und enge kulturelle Kontakte mit dem Orient vor allem bei den Griechen Ioniens schon während dieser Zeit dazu geführt, daß sich Griechisches und Nichtgriechisches in und außerhalb Griechenlands vielfältig verbunden hatten. Meint man eben dies mit „Hellenismus", so eignet sich der Begriff schlecht zur Bezeichnung eines im 4.Jh.vChr beginnenden Zeitabschnitts. Zum andern kann man auch nicht einfach von einer Verbindung oder Verschmelzung des Griechischen mit dem Orientalischen reden. Der Versuch Alexanders, die Griechen und die Perser zu einem neuen Volk zu verbinden, ist ein unerfüllbarer Wunschtraum gewesen. Gerade die Nachfolger Alexanders haben darauf
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Hellenismus und Hellenisierung
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bestanden, daß sie Griechen, bzw. Makedonen waren und haben das griechische Element in ihren Ländern zu fördern und zu erhalten gesucht. Man wird also gut daran tun, den Begriff Hellenismus zunächst zur Bezeichnung einer historischen Epoche zu verwenden, die mit Alexander dem Großen beginnt und mit der endgültigen Eroberung des Ostens durch die Römer endet. Nach diesem Zeitalter des Hellenismus beginnt die römische Kaiserzeit. Charakterisiert wird dieses Zeitalter durch die „Hellenisierung", d.h. durch die Ausbreitung der griechischen Sprache und Kultur, vor allem aber durch die Aufrichtung der politischen Macht der Griechen über andere Völker des Ostens. Zu keiner Zeit während dieser Periode ist es fraglich gewesen, welches Element dabei dominieren würde: auch die Nachfolgestaaten der hellenistischen Großreiche sind mit dem Anspruch aufgetreten, das griechische Erbe weiterzuführen. Das trifft schließlich auch auf Rom zu, und zwar in ganz besonderem Maße: der ganze Osten des römischen Reiches blieb griechisch, und die griechische Sprache, Kultur und Religionen drangen bis weit in den lateinischen Westen vor. S o gibt es eine Fortsetzung und Nachwirkung des Hellenismus in der römischen Kaiserzeit, die oft bruchlos in die byzantische Periode übergeht. In der T a t ist ja auch das Christentum, dessen Anfänge in die römische Kaiserzeit fallen, zunächst hellenisiert worden und als hellenistische Religion aufgetreten, und zwar als Erbe des zuvor schon hellenisierten Judentums. b) Das Griechentum und die beherrschten Völker Ausmaß und Art des Einflusses der Griechen und Makedonen auf die beherrschten Völker war in den einzelnen von den Griechen beherrschten Ländern verschieden und in den verschiedenen Zeitabschnitten jeweils unterschiedlich, wie auch die Hellenisierungspolitik der Herrscher nicht immer dieselbe war. Am Anfang blieb der griechische Einfluß gering, zumal die Diadochen Alexanders Politik nicht fortführten. Die Griechen, die herrschende Oberschicht, hatten die wichtigsten Posten in der Verwaltung und im Militär inne. Die Bevölkerung der griechischen Städte und Militärkolonien war von der einheimischen Bevölkerung ziemlich scharf geschieden. Diese Städte hatten ein gewisses Maß von eigener Verwaltung, besaßen ihre eigenen Gymnasien, zu denen man nur als Grieche zugelassen wurde, ihre eigenen Tempel, in denen vor
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G e s e l l s c h a f t und Wirtschaft
§2
allem die heimatlichen griechischen Götter verehrt wurden, und ihre gesellschaftliche Struktur spiegelte sich in einem typisch griechischen Vereinswesen wider. Mit alledem kam die einheimische Bevölkerung zunächst nicht unmittelbar in Berührung. Für sie bestand der griechische Einfluß im Vorherrschen der griechischen Sprache als Amtssprache und in der Verbindung mit dem griechischen Handel und der Ausbreitung griechischer Wirtschaft. Die Begegnung auf dem Gebiet der Kultur, Literatur, Ethik und Religion entwickelte sich erst allmählich. Von einem „Synkretismus", einer tatsächlichen Vermischung, kann man zuerst und vor allem auf dem Gebiet der Religion sprechen. Hier treten schon früh, erstmals im Raum des ägyptischen Reiches, orientalische Götter und Traditionen im griechischen Gewände auf. Daß dies zum Teil auf die Initiative der Ptolemäer zurückgeht, ist bei der Schaffung des ägyptisch-griechischen Sarapiskultes keine Frage, und für die Ubersetzung des Alten Testamentes ins Griechische wird dies von der Septuaginta-Legende behauptet. Beide Ereignisse gehören ins 3.Jh.vChr. Im übrigen handelte es sich aber mehr um eine Prägung der hellenistischen Kultur durch die Antithese von Ost und West, von barbarischem Brauch und Griechentum, wie sie sich jeweils durch die in einem hellenistischen Reich vereinten Völker darstellte. Diese Antithese wirkte weder als unversöhnlicher Gegensatz, noch als Anreiz zur Verschmelzung, sondern im Sinne einer gegenseitigen Faszination, als gegenseitige Anregung auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet. Auf jedem Sektor ist das griechische Element in dieser Antithese maßgebend. Politisch wird das von Makedonen und Griechen bestimmte Handeln sehr stark auf die Verbindung mit dem griechischen Mutterland hin ausgerichtet. Wirtschaftlich bleibt der griechische Handel maßgebend (der attische Münzfuß setzt sich fast überall durch; die Banken sind meist in griechischen Händen), wenn auch die Zentren des Handels sich nach außerhalb des griechischen Mutterlandes verlagern. Kulturell bleibt die griechische Sprache und die griechische Bildung beherrschend; aber die Zentren der Bildung verlagern sich ebenfalls (Alexandrien, Rhodos, Pergamon). Der nichtgriechische Beitrag ist ebenso von Anfang an da, ist freilich nicht immer als solcher sichtbar, weil er in seiner äußeren Erscheinungsform sich der griechischen Sprache und griechischer Strukturen der Organisation bedient. Nichtgriechen spielen in zunehmenden Maße im kulturellen Leben eine Rolle (Zeno, der Begründer der stoischen Philo-
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Grundstrukturen der Verwaltung und Wirtschaft
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sophie, war der Sohn eines phönizischen Kaufmanns aus Cypern), und es wird auch unter den Barbaren selbstverständlich, sich so zu organisieren, wie es unter den Griechen üblich ist (die Niederlassung der syrischen Kaufleute aus Berytos/Beirut auf Delos erscheint als Thiasos des Poseidon). Das wichtigste Element der Hellenisierung im Seleukidenreich war die Gründung zahlreicher Griechen- und Makedonenstädte. Manche dieser Städte waren Militärkolonien, aber sie dienten nicht nur rein militärischen Zwecken, sondern vor allem der Stabilisierung des Reiches. Die neuen Städte wurden für die Einwanderer ihre Heimat (vgl. die griechischen und makedonischen Städtenamen wie Larissa, Edessa u.a.), für die sie auch bereit waren, sich einzusetzen. Eine bewußte Hellenisierung haben die Seleukiden nicht getrieben, und sie dachten auch nicht daran, einen Nationalstaat griechischen Charakters zu schaffen. Den Pluralismus der verschiedenen Völker, Kulturen und Religionen in ihrem Reich haben sie als selbstverständlich hingenommen. Aber sie wollten ihre Herrschaft erhalten, und dazu war ihnen eine starke griechisch-makedonische Präsenz die beste Stütze angesichts der starken zentrifugalen Kräfte, die in den verschiedenen Völkerschaften vorhanden waren. Dabei geschah es, daß die Griechen orientalisiert und die Orientalen hellenisiert wurden - ein Ergebnis der seleukidischen Politik, das mehr zufällig als beabsichtigt war. In Ägypten lagen die Verhältnisse anders. Es gab hier nur zwei Griechenstädte, Alexandrien und Naukratis. Neue Städte haben die Ptolemäer nicht gegründet. So blieb der Gegensatz zwischen der griechischen Stadtbevölkerung (die in Alexandrien wohnenden Juden gehörten in dieser Beziehung zu den Hellenen) und der einheimischen Landbevölkerung erhalten. Bei der letzteren setzte sich auch die griechische Sprache nicht durch, obgleich alle offiziellen Dokumente auf Griechisch abgefaßt werden mußten. Vielmehr blieb Ägyptisch die Umgangssprache, die dann in der frühchristlichen Zeit sehr bald in der Form des Koptischen als Schriftsprache wieder in Erscheinung trat. 2. Grundstrukturen
der Verwaltung
und
Wirtschaft
Siehe die Literatur zu § \ .4 und §2. Zud: W.SCHUBART,
1937.
Verfassung und Verwaltung des Ptolemäerreiches, AO 34.4,
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Gesellschaft und Wirtschaft
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2M f: H.FRANCOTTE, Les finances des citfes grecques, 1909. A.WAGNER, Steuergeschichte vom Alterum bis zur Gegenwart, 2 1910 (Nachdruck 1973). G.ARDANT, Histoire de l'impötl, 1971. Α. Η. M. JONES, Taxation in Antiquity, The Roman Economy (hg. von P.A. Brunt), 1974, 151-185.
Die hellenistischen Staaten waren Flächenstaaten mit Millionen zählenden Einwohnern verschiedenster Nationalitäten. D a s eröffnete eine Vorstellung vom Staat, die für griechisches Empfinden, das den Stadtstaat oder Kleinstaat als Form der politischen Gemeinschaft kannte, nicht nur neu war, sondern auch Aufgaben und Möglichkeiten mit sich brachte, die bisher nicht in den Horizont getreten waren. Alexanders Eroberungen mußten jetzt angemessen verwaltet und befriedet werden. Diese Aufgabe übernahmen die hellenistischen Reiche, wobei sie sich weitgehend auf die bestehende persische (oder ägyptische) Verwaltung stützten. Doch handelte es sich nicht einfach um einen Ubergang der Macht an ein anderes Volk wie etwa bei der Ablösung der Assyrer durch die Babylonier oder der Babylonier durch die Perser. Denn die Griechen brachten ein Erbe mit, wie es wohl kaum zuvor ein Volk bei einer solchen Eroberung besaß: eine hochentwickelte Wirtschaft, die unmittelbar zur Erschließung des neuen Großraumes eingesetzt werden konnte; Erkundungs- und Entdeckungsfahrten (Seeweg nach Indien, Expedition in den Sudan) erweiterten noch den wirtschaftlichen Horizont; ferner brachten die Eroberer eine ganz neue Größe des gesellschaftlichen und politischen Lebens: die Stadt. Abgesehen von Ägypten sind durch zahlreiche Städtegründungen und Neugründungen älterer Städte überall Kultur- und Wirtschaftszentren geschaffen worden, wie sie der Orient in diesem Ausmaß bis dahin nicht gekannt hatte.
a) Griechenland und Makedonien D a alle größeren Mächte immer wieder versuchten, in Griechenland Fuß zu fassen, was zu kriegerischen Auseinandersetzungen, oft auf griechischem Boden, führte, vertiefte sich die Armut des Landes während der hellenistischen Epoche mehr und mehr. Land-
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Grundstrukturen der V e r w a l t u n g und Wirtschaft
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wirtschaftlich und in bezug auf Bodenschätze war Griechenland ohnehin im Nachteil. Aber auch die N a c h f r a g e nach griechischen Industrieprodukten sank im Ausland nach einem anfänglichen Aufschwung ständig. Der Abstieg war nicht überall gleichmäßig und nicht an allen Orten im gleichen Maße spürbar. Athen behielt trotz mancher Schwierigkeiten noch lange einen mäßigen Wohlstand. Unter makedonischer Herrschaft war es das Haupthandelszentrum und die Verrechnungsbörse des makedonischen Reiches. Auch das kulturelle Niveau Athens blieb überdurchschnittlich hoch. Ebenso blieb Delphi ein wohlhabendes Zentrum des religiösen und kulturellen Lebens und verlor seine Bedeutung als diplomatischer V o r o r t Griechenlands nur teilweise. Am schwierigsten war die Lage in denjenigen Städten, die an Produktion und Handel ohnehin nur einen geringen Anteil hatten. Das zeigt besonders die Situation Spartas. Die Zahl der Vollbürger war hier von ehemals 8000 auf nur noch 700 im 3.Jh.vChr gesunken, der meiste Grundbesitz in den H ä n d e n von nur etwa 100 Bürgern konzentriert. Die Reformversuche der Könige Agis und Kleomenes III. scheiterten am Widerstand der Oligarchen und gingen in kriegerischen Verwicklungen unter. Es bleibt fraglich, ob f ü r wirkliche soziale Reformen in Sparta überhaupt eine wirtschaftliche Grundlage vorhanden gewesen wäre. Die Inseln der Agäis hatten weniger unter unmittelbaren Kriegseinwirkungen, aber um so mehr unter den Piraten und unter den finanziellen Lasten der Fremdherrschaft zu leiden. Finanzielle und wirtschaftliche N ö t e standen hier im Vordergrund. Eine Sonderstellung hatte Rhodos inne. Es konnte seine politische Unabhängigkeit bewahren, war Börse und Sitz vieler ausländischer Handelsagenturen und Hauptumschlagplatz des östlichen Mittelmeeres (Sendungen von Tyros und Ägypten gingen über Rhodos). Rhodos unterhielt zum Schutze seiner Handelsbeziehungen eine starke Flotte, der es gelang, die Piraten erfolgreich zu bekämpfen. Im Interesse seines Handels war Rhodos bereit, andere Städte zu unterstützen oder auch kriegerisch einzugreifen. Das rhodische Seerecht, in dem die Traditionen und Erfahrungen der griechischen Schiffahrt zusammengefaßt waren, blieb bis in die römische Kaiserzeit hinein gültig. Nach dem Erdbeben von 227vChr erhielt' Rhodos aus vielen Ländern Hilfe zum Wiederaufbau, gewiß nicht aus uneigennützigem Interesse der Spender. Der Reichtum der Insel und ein wohlausgewogenes System der gesellschaftlichen und in-
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G e s e l l s c h a f t und Wirtschaft
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nenpolitischen O r d n u n g machten R h o d o s zu einem der g a n z wenigen griechischen Staaten dieser E p o c h e , in dem es nie zu revolutionären Unruhen kam. T r o t z einiger Rückschläge beim U b e r g a n g der Herrschaft an die R ö m e r erhielt sich die wirtschaftliche Prosperität von R h o d o s bis in die römische Kaiserzeit hinein. Wie R h o d o s so diente auch die kleine Kykladeninsel Delos als internationales Bank- und Handelszentrum, zuerst in Abhängigkeit von R h o d o s , später unter der Protektion R o m s . Die H a n d e l s beziehungen zu Syrien waren hier besonders wichtig. D e r Wohlstand der Insel blieb erhalten bis zur Eroberung und Zerstörung durch Mithridates VI. von Pontos 88vChr. Erhaltene Zeugnisse von anderen Inseln ( K o s , Chios) lassen erkennen, daß sie leidlich fuhren, wenn sie landwirtschaftlich gut gestellt waren und einen Anteil an der industriellen Produktion hatten (wie K o s durch seine Seidenindustrie). Hier war die besitzende bürgerliche Schicht nicht so deutlich dem U n t e r g a n g geweiht wie auf dem griechischen Festland. Aber sinkende Löhne, Zunahme der landwirtschaftlichen und industriellen Sklavenarbeit und drückende Steuerlasten waren auch hier Zeichen eines wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs. b) D i e Griechenstädte Kleinasiens D i e ionischen Städte der kleinasiatischen Westküste (Ephesus, Milet) waren im 3 . J h . v C h r zwar in der eigenen Verwaltung selbständig, aber militärisch und politisch unter der Herrschaft Ä g y p tens. Die Steuerlasten waren zu dieser Zeit drückend, militärische Besatzungen lagen in den Häusern der Bürger und die Städte hatten an den Verpflichtungen gegenüber der Armee (Versorgung der Pferde usw.) und gegenüber der ägyptischen Flotte (Schiffsbau) zu leiden. Erst nach dem A b z u g der Ägypter konnte sich die wirtschaftliche K r a f t dieser Städte entfalten. Zwar war auch das V e r hältnis der Seleukiden zu diesen Städten schwierig. „ S i e konnten ohne diese Städte nicht existieren und mit ihnen nicht leben" ( R o stovtzeff). D i e Städte behielten zwar ihre eigene V e r f a s s u n g , waren aber politisch abhängig und tributpflichtig. D a z u zahlte jeder einzelne Bürger die königlichen Steuern. Wenn es auch gelegentliche Befreiungen vom Tribut und Schenkungen gab, so konnten sich die Städte der „Freiheit", die ihnen seit Alexander immer wieder versprochen worden war, doch nicht voll erfreuen. Dennoch zeigen Urkunden und Bauten, daß in diesen Städten durch
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Grundstrukturen der V e r w a l t u n g und Wirtschaft
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Landwirtschaft, Industrie und Handel großer Wohlstand herrschte, der auch fortbestand, als Pergamon die Vormacht Kleinasiens war. Erst die ausbeuterische Mißwirtschaft Roms im ersten Jahrhundert seiner Herrschaft brachte einen Niedergang, der durch die Kriege des Mithridates noch verschärft wurde. Es bedurfte später des Eingreifens der Kaiser, um den Wohlstand der hellenistischen Zeit wieder herzustellen. Die Städte an den Küsten des Schwarzen Meeres (Kyzikos, Byzanz, Herakleia, Sinope, Trapezus) bewahrten zunächst ihre Selbständigkeit (später wurden einige von ihnen pontischer Besitz). Sie waren kleine Territorialstaaten, deren Land entweder von den Bürgern oder von einheimischen Hörigen bestellt wurde. Handel, Fischfang und einheimische Industrie erhielten ihren Wohlstand.
c) Die kleinasiatischen Königreiche In Pergamon sind die Anlage von Stadt und Burg sowie die Bauten eine sichtbare Darstellung griechischen Charakters. Die Anregungen zum Bau der Stadt kamen z.T. aus Alexandrien, z.T. aus Griechenland (Athen, Epidauros, vgl. den Neubau des pergamenischen Asklepions). Uberall zeigen die Bauten den zunehmenden Reichtum. Die Ausdehnung und Befestigung des zunächst kleinen Königreiches machte das Land wirtschaftlich fast unabhängig. Pergamon besaß eigene Häfen, eine reiche Landwirtschaft (Wein und Oliven) und hatte viele Rohstoffe (Holz, Silber und Kupfer kamen aus dem Ida-Gebirge). Die Verwaltung Pergamons folgte dem ägyptischen Modell (s.u. §2. 2d). Die Hauptstadt war die einzige bedeutende Stadt. Das Land, mit seinen Dörfern in Bezirke aufgeteilt, war Eigentum des Königs und wurde von einheimischen Bauern oder von Kleruchen bestellt, die Pacht oder den Zehnten an den König zahlen mußten. Daneben gab es wohl auch hier, wie überall in Kleinasien, eine Reihe von Großgütern. Die Industrie wurde von den Königen gefördert und teilweise in staatlichen Produktionsstätten konzentriert (vor allem Textilien und Pergament). Bithynien, ein von Natur reiches Land, besaß neben einer ergiebigen Landwirtschaft viele Wälder, Stein- und Kristallbrüche. Die Städte an der Propontis und am Pontos waren freie Griechenstädte (Kyzikos, Herakleia), so daß die im Inland wohnenden Thraker in ihrem Handel von den Griechen abhängig waren. Hatten die thrakischen Könige Bithyniens zunächst ihre Selbstständigkeit erhalten
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können (teils mit Hilfe der Kelten, die sie ins Land riefen), so stellten sie sich nun mit ihren Städtegründungen (Nikomedia, Prusa) den anderen hellenistischen Königen zur Seite, gaben sich nach außen hin ganz als hellenistische Könige, schlossen Handelsbündnisse mit den Ptolemäern und Makedonen und traten in Delos und in Delphi als Förderer des Griechentums auf. Da Bithynien noch bis 74vChr selbständig blieb, während sein Nachbar Pergamon inzwischen längst in römischen Beistz übergegangen war, konnte es während dieser Zeit mit den Römern im Bankwesen und auch im Sklavenhandel konkurrieren. Sein Reichtum und Wohlstand blieben in der römischen Zeit erhalten. Pontos, das Hinterland der mittleren und östlichen Schwarzmeerküste Kleinasiens, besaß in seinen Flußtälern eine reiche Landwirtschaft (Viehzucht und Obstbau). Im Osten befand sich der wichtigste Grubendistrikt der Alten Welt, in dem Eisen, Kupfer und Silber gefördert wurden. Die Exporte gingen nicht nur nach Mesopotamien und Syrien, sondern seit Gründung der griechischen Städte an der Schwarzmeerküste (Trapezus und Sinope) auch nach Griechenland. Pontos und Kappadokien waren die Kernlande des Hethiterreiches gewesen, in der Zeit vor Alexander die Zentren des anatolischen Iranismus. Dem entsprach die innere Organisation des Landes: Großgüter mit Dörfern, die entweder iranischen Feudalherren oder Tempeln unterstanden (in denen oft iranische Gottheiten verehrt wurden). Eine städtische Kultur gab es so gut wie gar nicht. Das ursprünglich iranische Königshaus war hellenisiert und strebte danach, dem Land seinen gebührenden Anteil an Wirtschaft und Handel zu geben. Dazu diente die Eroberung der Griechenstädte Sinope und Amisos. Sinope wurde Hauptstadt und hatte einen wachsenden Anteil am Reichtum der Könige, die von nun an den Erz-Export kontrollierten und den Transithandel beherrschten, der von den Karawanenstraßen aus Asien durch Sinope und Amisos nach dem Westen ging. Kaufleute aus Sinope waren in Griechenland und später im Westen des Mittelmeeres im Handel mit Metallen und Erzen bekannte Gestalten. Mithridates V. war Ende des 2.Jh.vChr der reichste König Kleinasiens. Sein Nachfolger, Mithridates VI., konnte den Reichtum des Landes zur Ausrüstung seiner Heere und Flotten zum Kampf mit Rom mobilisieren. Im Gebiet der alten phrygischen Kultur mit ihren Städten und Tempeln (Gordion, Ankyra, Pessinus - die Heimat der Magna Ma-
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ter) waren als Herrenschicht die keltischen Galater angesiedelt worden, deren Fürsten dort als Grundherren und Raubritter lebten. Sie hatten ihre eigene Stammesorganisation. Ihre Fürsten und Adligen waren wegen ihres Reichtums bekannt. Mit den alten Städten der Phryger hatten sie zunächst wenig Kontakt. Eine Hellenisierung war anfänglich weder bei der einheimischen Bevölkerung noch bei den galatischen Herren spürbar. Im 2.Jh.vChr machten die Galater einige Versuche, sich einen Anteil an der Kultur und am Handel der griechischen Welt zu erringen und durch Einnahme der Griechenstadt Herakleia sich einen Zugang zum Schwarzen Meer zu verschaffen. Doch wurde dies von den Römern und von Pergamon vereitelt. Die Römer verwüsteten das Land, was einen furchtbaren Aufstand der Galater zur Folge hatte (168vChr), den Eumenes II. von Pergamon niederwerfen mußte. Erst danach begann die langsame Hellenisierung des zentralen Kleinasiens, besonders unter den römischen Vasallenkönigen des l.Jh.vChr. Ebenso wie Galatien blieb Kappadokien wirtschaftlich und kulturell am Rande der hellenistischen Welt. Es gibt aus Kappadokien kaum Belege für eine Hellenisierung und Urbanisierung aus dieser Zeit. d) Ägypten und Cypern In Ägypten war der weitaus größte Teil der griechisch-makedonischen Bevölkerung auf Alexandrien konzentriert. Außerhalb dieser Stadt und der älteren Griechenstadt Naukratis gab es Griechen und Makedonen nur, soweit sie in der königlichen Verwaltung beschäftigt waren. Am Wohlstand des Landes hatten fast nur die Bewohner Alexandriens einen Anteil. Hier war die Flotte stationiert, und hier fand fast der gesamte Warenumschlag im Import und Export statt. Ägypten wurde von den Ptolemäern nach dem Prinzip eines kapitalistischen Staatsmonopols verwaltet, das sie von der pharaonischen Regierung übernommen hatten. Mit der größeren wirtschaftlichen Erfahrung der Griechen wurde dieses System noch lückenloser ausgebaut und die Produktion intensiviert. Der größte Teil des Ackerlandes war Königsland und wurde nach den Vorschriften der Zentralverwaltung bewirtschaftet. Viehzucht, soweit sie privat und nicht in den königlichen Zuchtanstalten betrieben wurde, stand unter staatlicher Aufsicht (es wurden jährliche Erhebungen durchgeführt). Bienenzucht und Fischfang waren in privaten Händen,
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wurden aber mit anteiligen Abgaben belastet. In J a g d , Bergbau und Holzwirtschaft lagen alle Rechte in den Händen der Staatsverwaltung. Ein großer Teil der Industrieerzeugnisse kam aus den königlichen Werkstätten, die Rohmaterialien waren ohnehin im Besitz des Staates. Daneben gab es eine Reihe von Tempelwerkstätten, von denen die Ptolemäer wohl diese Art der Produktion und ihrer Organisation übernommen hatten. Private Produktion war auf die Herstellung einfacher Gebrauchsgegenstände beschränkt. Die wichtigsten Staatsmonopole waren die Olproduktion (verschiedene Arten von Pflanzenölen wurden hergestellt) mit fester Preisbindung für den Verkauf; Textilien, vor allem Leinen, während Wolle in privater Herstellung verarbeitet wurde; Bier, Salz, Leder und Papier. Letzteres wurde in großen Mengen hergestellt, um den Bedarf im Inland zu befriedigen (die Verwaltung Ägyptens verschlang riesige Papiermengen) und um der lebhaften Nachfrage aus dem Ausland nachzukommen (ob dieses Monopol schon von Anfang an bestand und wie es organisiert war, ist nicht sicher). Am Handel des östlichen Mittelmeeres hatte Ägypten einen regen Anteil, zunächst mit den eigenen Besitzungen in Afrika, im südlichen und westlichen Kleinasien (einschließlich Cyperns, das bis zum Beginn der Römerherrschaft fast ständig von den Ptolemäern regiert wurde) und auf den griechischen Inseln. Während aber in Kleinasien und auf den ägäischen Inseln unter ägyptischer Herrschaft die Freiheit der Wirtschaft großenteils bestehen blieb, wurde das halb griechische, halb phönizische Cypern zum Teil staatsmonopolistisch bewirtschaftet. V o r allem waren die Bergwerke (Förderung von Kupfer) - Ägypten hatte sonst nur geringe Bodenschätze - unmittelbar vom König verwaltet. Ägypten versuchte unter den Ptolemäern, wirtschaftlich autark zu werden. Der Reichtum der Könige beruhte vor allem darauf, daß der Export nach Kräften gefördert und der Import rigoros eingeschränkt wurde (nur H o l z und Erze mußten ständig eingeführt werden). Über Syrien, Phönizien und Palästina, das ja am Beginn der hellenistischen Zeit ebenfalls unter ägyptischer Herrschaft stand, siehe den nächsten Abschnitt. e) D a s Seleukidenreich In dem riesigen Seleukidenreich mit seinen vielen Völkerschaften und unterschiedlichen traditionellen Wirtschaftsstrukturen war es nicht möglich, eine einheitliche Wirtschaftsform durchzusetzen.
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Die Seleukiden richteten aber ein einheitliches Verwaltungssystem ein, das auf dem Anspruch beruhte, die legitimen Erben der Achämeniden und Alexanders zu sein. Zentralisiert w a r die Finanzverwaltung (aber nicht die Erhebung der Einkünfte), die Münzpolitik und die Entscheidung über den Export derjenigen W a r e n und Erzeugnisse, die aus den Satrapien der V e r f ü g u n g des Königs zustanden. Aber darüber hinaus unterstand der königlichen Verwaltung nur das Gebiet des beherrschten Landes, das unmittelbar Königsland war. Dieses Land gehörte zu seinem „ H a u s " . D e r U m f a n g dieser Gebiete ist nicht leicht zu bestimmen, mag aber etwa die H ä l f t e des Gesamtreiches ausgemacht haben. D e r andere Teil des Landes w a r im Besitz von Vasallenfürsten, Städten und Völkerschaften, die sich selbst verwalteten. Z u r Verwaltung des Königslandes k o n n t e sich der König in der Regel nicht auf eines der unterworfenen Völker stützen. D a f ü r mußten die Seleukiden M a k e d o n e n und Griechen ins Land ziehen. D a z u dienten die zahlreichen Städteg r ü n d u n g e n , in denen vor allem Griechen angesiedelt w u r d e n ; sie waren ein Instrument der Stärkung der königlichen Macht. Uber das Königsland in Kleinasien und in Babylonien sind einige Nachrichten erhalten (im übrigen sind die Quellen f ü r das Seleukidenreich sehr viel spärlicher als diejenigen Ägyptens). Besonders in Kleinasien gab es eine große Anzahl alter Tempelterritorien. Ihr Land w u r d e als Königsland betrachtet, wenn auch die Priesterschaft in ihrer Verwaltungsfunktion belassen wurde. Die Einw o h n e r der D ö r f e r dieser Tempelterritorien waren hörige Untertanen, o f t auch Tempelsklaven. Daneben gab es G r o ß g ü t e r im Besitz persischer Adliger oder alteingesessener Familien. Z u m Teil blieben sie in den alten H ä n d e n , z u m Teil wurden sie auch makedonischen Adligen übertragen oder vom König verliehen. Die Bevölker u n g in den D ö r f e r n der G r o ß g ü t e r setzte sich aus H ö r i g e n oder Leibeigenen zusammen, aber in der Regel nicht aus Sklaven. In Mesopotamien waren die Bewohner der Tempelstaaten Freie (nicht H ö r i g e oder Sklaven wie in Kleinasien) und bewahrten ihre Stammesorganisation. In Babylon und im Iran haben die Seleukiden weniger in die bestehenden Strukturen eingegriffen. Städte und Militärkolonien wurden überall im Lande gegründet; dazu machten die Könige von ihrem Verfügungsrecht über das Land Gebrauch. In Südsyrien, Palästina und Phönizien war auch unter den Ptolemäern die Struktur der Verwaltung derjenigen des Seleukidenreiches ähnlicher als derjenigen Ägyptens. Z w a r war das Land in H i p -
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parchien (den ägyptischen N o m o i entsprechend) eingeteilt, durch die der König das Land kontrollierte, und überall gab es Steuerpächter, die alle Belange des Königs wahrnahmen (nicht nur die Einziehung von Steuern, sondern auch die Registrierung von Vieh usw.). Aber daneben bestanden verschiedene Arten von beschränkten Selbstverwaltungen; denn das Land war uneinheitlicher als das ägyptische Kernland. Neben verschiedenen Völkerschaften standen die zum Teil hellenisierten Städte der syrischen und phönizischen Küste, vor allem Sidon, das zum Vorort der Hellenisierung wurde und dessen Einfluß weit reichte (so gab es Kolonien griechischer Sidonier in Palästina). Den Tempelstaaten (wie Jerusalem), deren freie Bewohner ihre Stammeseigenart bewahrten, sowie den Scheichtümern (wie dem der Tobiaden im Ostjordanland) beließen die ägyptischen Könige ihre eigene Verwaltung. Die Hohenpriester oder Scheiche mußten Tribute zahlen, die als runde Summe festgesetzt waren. Dasselbe war auch bei den Küstenstädten der Fall. Außerdem haben die Ptolemäer in diesem Gebiet auch Griechenstädte gegründet und dadurch den Prozeß der Hellenisierung gefördert. D a z u gehören Küstenstädte wie G a z a und PtolemaisAke, Städte des Ostjordanlandes (Philoteria, Philadelphia, Pella) und eine Reihe von Orten in Idumäa. Der Zweck war zunächst ein rein politisch-militärischer: Das Land sollte davor bewahrt werden, als Basis für fremde Eroberer ausgenutzt zu werden. Daher wurden diese Städte, ebenso wie schon bestehende städtische Siedlungen, als Festungen ausgebaut. Die Zeno-Korrespondenz zeigt auch, daß ägyptisch-griechische Händler nicht nur die Küstenstädte, sondern auch das Inland (Palästina und das Ostjordanland) mit in ihr Interessengebiet einbezogen (wichtig war für Zeno, der im Auftrag seines Herrn Apollonius 2 6 0 / 5 9 das Land bereiste, der Einkauf von Sklaven und von Produkten des nabatäischen Karawanenhandels). Während der seleukidischen Herrschaft hat sich hieran nicht viel geändert, nur daß die neuen Untertanen die Schwierigkeiten des Seleukidenreiches, vor allem seine finanziellen Nöte, nun am eigenen Leibe erfahren mußten. Die Hellenisierungspolitik wurde eher noch verstärkt, um das ins Wanken geratene G e f ü g e des Reiches wieder zu stabilisieren. Daß damit beim jüdischen Volk der Widerstand gegen die Fremdherrschaft erst recht mobilisiert wurde, lag nicht in der Absicht der seleukidischen Politik.
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f) Steuern Ein wesentliches Element der Verwaltung der hellenistischen Reiche und ihrer Wirtschaftspolitik waren die Steuern. Im klassischen Griechenland gab es direkte Besteuerung der gesamten Bevölkerung nach dem Vorbild der Reiche des Ostens nur unter der Tyrannis. Sonst wurden direkte Steuern meist nur von solchen Einwohnern erhoben, die nicht Vollbürger waren. Die Bürger wurden in Sonderfällen zu Umlagen herangezogen, und zu freiwilligen Leistungen waren bei besonderen Anlässen einzelne reiche Bürger bereit. Im übrigen gab es nur indirekte Steuern: Zölle, Verkaufssteuern, Marktgebühren, Nutzungsgebühren für öffentliche Einrichtungen wie Hafengebühren. Die hellenistischen Könige übernahmen das System der indirekten Steuern und bauten es noch weiter aus. Aber die Ausgaben dieser Reiche, vor allem die Unterhaltung der großen Heere und Flotten, erforderten neue und andersartige Einnahmequellen. Da das gesamte eroberte Land Königsland war, wurden die wichtigsten Steuern Pachtzins und Grundsteuer, die der König kraft seines Amtes erheben konnte. Außerdem gab es direkte Steuern wie die Kopfsteuer, Vermögenssteuer, wozu auch Sklaven, Vieh und Gebäude veranlagt werden mußten, und eine gewerbliche Lizenzsteuer. Die Verhältnisse waren in allen hellenistischen Reichen ähnlich. Ägypten hatte eine zentrale Finanzverwaltung, die in Ägypten selbst durch Steuerbeamte für die Einbringung der Steuern sorgte. Für die ägyptischen Gebiete in Südsyrien, Kleinasien und der Ägäis verwandte man das System der Steuerpächter. Vermögende Leute, die sich bewarben, mußten persönlich alljährlich in Alexandrien erscheinen und dem König ihr Angebot machen. Dem meistbietenden Bewerber wurde in der Regel die Steuerpacht übertragen. Die Geschichte des Tobiaden Joseph bei Josephus (Ant. 12.169ff) ist ein lebendiges Beispiel für dieses Verfahren. Das System der Steuerpächter wurde in Syrien von den Seleukiden und später von den Römern übernommen. Daß die Steuern unter den Ptolemäern sehr drückend waren, kommt in den erhaltenen Quellen immer wieder zum Ausdruck. Wahrscheinlich lag das nicht in erster Linie an zu hohen Steuern, sondern an der lückenlos durchgeführten Verwaltung. Im Seleukidenreich war die Besteuerung nicht so straff organisiert wie in Ägypten. Ältere Traditionen und individuelle Verträge bestimmten die Festsetzung der Grundsteuern und der Abga-
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ben der Städte, Tempelstaaten und Pächter von Königsland. Offenbar bestanden große Unterschiede in den einzelnen Satrapien, und selbst innerhalb einer Satrapie wurde die Besteuerung nicht einheitlich gehandhabt. Wie drückend die Besteuerung war, läßt sich nicht sagen. Noch nicht einmal im Falle der Juden scheinen die Steuerforderungen ungewöhnlich gewesen zu sein (vgl. l.Makk. 10 und 15), da hier nicht der Steuerdruck, sondern die Tatsache der Besteuerung als solche der Stein des Anstoßes war. 3. Die
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U . VON WILAMOWITZ-MÖLLENDORF - B. NIESE, Staat und Gesellschaft der
Griechen und Römer, Die Kultur der Gegenwart 114, 1910. siehe auch die Literatur zu §2. Zita: W. PEREMANS, Ethnies et classes dans L'figypte ptolemaique, Recherches sur les structures sociales dans l'antiquite classique 25-26, 1970, 213-223. Zuc: J.VOGT, Sklaverei und Humanität: Studien zur antiken Sklaverei und ihrer Erforschung, Hist. Einzelschriften 8, 1965. Zue: F.POLAND, Geschichte des griechischen Vereinswesens, 1909. M. SAN NICOLÖ, Ägyptisches Vereinswesen zur Zeit der Ptolemäer und Römer, 1913-1915.
a) Die Stellung der einheimischen Bevölkerung Im Ptolemäerreich waren die Ägypter eine gesellschaftlich streng von Makedonen, Griechen und anderen Einwanderern (viele Juden) geschiedene Klasse. Sie wurden nicht Leibeigene des Königs, behielten ihre Unabhängigkeit und hatten eine gewisse Bewegungsfreiheit innerhalb des Nomos, in dem sie wohnten, und auch innerhalb Ägyptens. Sie besaßen eigene Gerichtshöfe, die nach altem ägyptischen Recht verfuhren. Zudem waren sie nicht arbeitslos und zum großen Teil nicht arm. Ihre Arbeit für den König war vertraglich geregelt und wurde entlohnt. Tatsächlich aber waren die einheimischen Ägypter eine Klasse, die keinerlei Privilegien besaß, von den herrschenden Makedonen und Griechen völlig abhängig war und an deren Reichtum keinen Anteil hatte. Arbeitsplatz und Einkommen lagen in der Hand und Gewalt der Herrscher. Die Arbeit wurde streng beaufsichtigt, das Einkommen ge-
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nauestens besteuert. Bei Nichtbezahlung von Schulden drohte der Verkauf in die Sklaverei. Ägypter, die in den unteren Rängen der Verwaltung beschäftigt waren, etwa als Dorfvorsteher und Dorfschreiber, waren von der königlichen Verwaltung abhängig und ihr ganz ausgeliefert. Die Griechen blieben für die einheimischen Ägypter Fremde. Nicht nur sprachen sie eine fremde Sprache und verehrten fremde Götter. Sie traten ihnen auch vor allem als Beamte einer staatlichen Kontrolle gegenüber, die von ihnen verlangte, sich auf Leistungsmaßstäbe einzustellen, die ihnen ungewohnt waren. Am Ende des 3 . J h . v C h r und am Anfang des 2. Jh. nahm der Druck der Bürokratie zu, beschränkte noch mehr die Möglichkeit des Privateigentums (auch unter den Griechen) und verlangte höhere Dienstleistungen von den Einheimischen. Die Antwort darauf waren Unruhen und Aufstände, die durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage noch verschärft wurden. Dieser Aufstände konnte die Verwaltung nicht Herr werden, obgleich sie blutig unterdrückt wurden und obgleich sich die Könige für die Rechte der einheimischen Bevölkerung einsetzten. Sie brachen immer wieder aus und können nicht durch die Unfähigkeit der späteren Herrscher, durch den politischen Niedergang oder durch den wachsenden Druck Roms erklärt werden. Sicherlich sind sie auch nicht daraus herzuleiten, daß die Ägypter die Fremdherrschaft der Griechen verabscheuten und sich von ihnen frei machen wollten. Den Hauptgrund muß man vielmehr in dem staatsmonopolistischen System sehen, das denjenigen Teil der Bevölkerung, der Arbeit und Dienstleistungen erbringen mußte, beständig mit einer Vielzahl von Anordnungen und Anweisungen konfrontierte, ohne ihn in irgendeiner sichtbaren Weise am Ertrag und am Reichtum des Landes teilhaben zu lassen. Auch in der späthellenistischen Zeit, als viele Ägypter in die herrschenden Klassen und in die höheren Ränge der Verwaltung aufgestiegen und viele Griechen „ägyptisiert" worden waren, hörten die Unruhen nicht auf. Es ist also die Organisation der Wirtschaft als Staatsmonopolismus, die schließlich zur Entvölkerung der Dörfer, zum Anwachsen der unbestellten Landfläche und zur wirtschaftlichen Krise des Landes geführt haben. Dadurch verarmte die einheimische Bevölkerung am Ende der hellenistischen Epoche vollends, soweit es ihr nicht gelungen war, in die griechisch-ägyptische Oberschicht aufzusteigen - und das war nur wenigen vergönnt.
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Im Seleukidenreich waren die Verhältnisse ganz anders; denn die seulikidischen Könige haben nie versucht, ein bestimmtes wirtschaftliches System durchzusetzen und der einheimischen Bevölkerung darin einen fest umrissenen Platz zu geben. Vielmehr brachten die neu eröffneten gesellschaftlichen Strukturen, vor allem die griechische Stadt, Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, die ungleich besser waren als die ererbten Verhältnisse. Gewiß änderte sich für einen großen Teil der Landbevölkerung wenig; denn griechische Sprache und Kultur fanden hier kaum Eingang. Ebenso blieb bei den Vasallenherrschaften und den Tempelstaaten, die sich selbst verwalteten, zunächst alles beim alten. Die Seleukiden griffen in ihre wirtschaftliche und soziale Struktur nur wenig ein. Die Fremdherrschaft war für diese Territorien hauptsächlich in der militärischen Besatzung und in der Besteuerung spürbar. In den alten nicht-griechischen Städten, soweit sie nicht zerstört oder neugegründet worden waren, behielt die Bevölkerung ihre althergebrachten beruflichen und gewerblichen Stellungen. Sie wurde aber im Westen tiefgehend, im Osten wenigstens oberflächlich hellenisiert. Die neuen Städte, vor allem die Großstädte Seleukia am Tigris und Antiochia am Orontes, hatten zunächst eine Mischbevölkerung. Aber nichts hinderte die Nichtgriechen daran, sich anzupassen, Griechisch zu lernen und jede beliebige berufliche Möglichkeit zu ergreifen. S o haben diese Städte im Laufe der Jahrhunderte ungezählte Menschen „ z u Griechen gemacht". Schon aus diesem Grunde entwickelte sich im Seleukidenreich nie ein sozialer Gegensatz zwischen Griechen und Nichtgriechen. D a z u trug auch noch bei, daß die Freizügigkeit sehr groß und die wirtschaftlichen Möglichkeiten vielfältig waren. In welchem Maße auch größere Gruppen der Bevölkerung wanderten und sich andernorts ansiedelten, ist aus der Bildung der großen jüdischen Diasporagemeinden im Osten und im Westen deutlich. Griechische Kultur und Sprache waren in solchen Fällen immer das Medium, in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Die neue Institution der griechischen Stadt ist also gerade der einheimischen Bevölkerung in hohem Maße zugute gekommen. b) Die Stellung der Griechen und Fremden In Ägypten waren die Fremden (Griechen wie Nichtgriechen) als gesonderte ethnische Gruppe konstituiert. Sie waren Lasten und Steuern ebenso unterworfen wie die Einheimischen und
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ebenso galten für sie die staatlichen Monopole. Aber die Fremden hatten mehr Rechte. Sie besaßen eine gewisse Selbstverwaltung, ihnen standen besondere Organisationsformen wie die Gymnasien offen, und sie hatten ein Recht auf privaten Grundbesitz. Es versteht sich von selbst, daß die Tätigkeit der meisten Fremden mit dem Königsdienst verbunden war. Der Dienst im Heer, in der Verwaltung und im Wirtschaftsdienst (Landwirtschaft ebenso wie die Leitung staatsmonopolistischer Betriebe) boten sich als die besten Berufsmöglichkeiten an. So waren anfänglich alle höheren Zivilund Militärbeamten Makedonen und Griechen. Später wuchsen auch Angehörige der ägyptischen Oberschicht in diese Stellungen hinein, und zwar erst nachdem sie hellenisiert worden waren. Es gab auch Griechen, die in anderen Berufen tätig waren, als Handwerker, Steuerpächter und in der Landwirtschaft. Aber die Mehrzahl der Fremden war in der beruflichen Tätigkeit unmittelbar von der Gnade und Ungnade des Königs abhängig. Diese Abhängigkeit ist auch bei den Philosophen, Wissenschaftlern und Künstlern sichtbar, die der König an das Museion berief, die er aber auch wieder vertreiben konnte, wenn es ihm paßte (was im 2. Jh.vChr in der Tat geschah). Die Fremden waren in nationalen „Politeumata" organisiert, innerhalb derer Vereinigungen verschiedener Art bestanden (Kultvereine, Berufsvereine, Gymnasialvereine; s.u.§2.3e). Sie hatten ihre eigene Gerichtsbarkeit, die entweder nach dem griechischen Recht oder nach dem Recht einer anderen Nation (z.B. der jüdischen) Verfahren durchführen konnte, soweit das nicht mit königlichen Verordnungen im Konflikt stand. Alle gewährten Privilegien wurden persönlich vom König erteilt und waren jederzeit widerrufbar. Die Vereine waren exklusiv, und der Eintritt wurde streng kontrolliert (z.B. waren zum Eintritt in die griechischen Gymnasialvereine griechische Sprachprüfungen erforderlich; Kinder griechischer Eltern wie auch die Kinder gehobener ägyptischer Familien lernten nach überall verbreiteten griechischen Grammatiken, um diese Prüfungen bestehen zu können). Im Seleukidenreich waren natürlich die Angehörigen der Oberschicht anfangs ausschließlich Griechen und Makedonen. Zur Hocharistokratie gehörten 1. das „ H a u s " des Königs, d.h. seine Familienmitglieder, Freunde und engste Berater, 2. die obersten Beamten und andere Angehörige des königlichen Hofes, die wiederum jeweils ihr „ H a u s " besaßen (einschließlich vieler Untergebener und Sklaven), 3. unabhängige Griechen, die es als Großgrundbesit-
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zer oder als Großkaufleute zu Ansehen und Besitz gebracht hatten. Nichtgriechen waren in der 2. und 3. Gruppe von Anfang an vertreten (phönizische Großkaufleute, iranische Großgrundbesitzer und hohe Verwaltungsbeamte), waren aber hier nie sehr zahlreich. Alle Angehörigen dieser Gruppen besaßen vielfache Privilegien und waren sehr reich. Darüber hinaus überwogen Griechen und Makedonen in den folgenden Klassen: Offiziere und Soldaten; mittlere Beamte, die vor allem in der Steuer- und Finanzverwaltung tätig waren; Grundbesitzer, mittlere Landwirte und Siedler; Berufe, die für die neue, anfangs meist griechische Bourgoisie typisch waren wie Gelehrte, Arzte, Kaufleute, Handwerker. Auch diese Gruppen besaßen eine privilegierte Stellung. Von vornherein gab es in ihnen viele Nichtgriechen. In zunehmenden Maße wurden die Ränge mit hellenisierten Orientalen aufgefüllt. Die Könige hatten ein großes Interesse daran, diese Schichten zu stärken und sie als eine „griechische" Oberschicht zu erhalten. Das hatte mit einem Glauben an die völkische und rassische Überlegenheit der Griechen nichts zu tun, wohl aber mit dem Wissen um die Überlegenheit der griechischen Kultur. Denn die für die griechische Kultur typische Überzeugung spricht sich in der Ansicht aus, daß nur Bildung, Ausbildung und Erziehung den Menschen befähigen, den ihm gemäßen Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft zu leisten. Was die großen Reiche des Ostens brauchten, war gerade dies: eine große Anzahl von ausgebildeten Fachleuten (Technitai) für eine Vielzahl von Berufen. Gewiß haue es immer schon Fachleute für bestimmte Berufe gegeben; doch waren diese meist aus zahlenmäßig eng begrenzten Kreisen der Bevölkerung gekommen, bei denen die Wahrnehmung solcher Berufe zur sorgfältig gepflegten Tradition gehörte. Eine breite Bevölkerungsschicht, für die Erziehung und Berufsausbildung selbstverständlich war, gab es nur bei den Griechen. Es ist daher verständlich, daß die Könige nur solche, die bereit waren, die griechische Kultur (d.h. Sprache, Erziehung und Fachausbildung) zu der ihren zu machen, zu diesen privilegierten Klassen zuließen. Der Bedarf an ausgebildeten Spezialisten war in den hellenistischen Reichen groß. Heer und Flotte erforderten nicht nur Soldaten und Matrosen, sondern auch handwerkliche Spezialisten und Techniker etwa für den Schiffsbau und für den Bau und die Bedienung von Kriegsmaschinen. Die königliche Verwaltung beschäftigte Tausende von Beamten, Wirtschaftsprüfern, Finanzexperten,
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Juristen, Schreibern und Sekretären, von denen ein hohes Maß an fachlichem Können verlangt wurde. Diese o f t recht komplizierten, aber in der Regel doch gut funktionierenden Verwaltungsapparate der hellenistischen Reiche, die mit ihren orientalischen V o r g ä n gern nur sehr wenig Ähnlichkeit hatten, mußten ständig um einen qualifizierten Nachwuchs Sorge tragen. Dazu kam eine Vielzahl von freien Berufen, deren Professionalisierung in der hellenistischen Zeit weit fortgeschritten w a r : Ärzte und Rechtsanwälte, Schauspieler, T ä n z e r , Musiker und andere, deren Tätigkeit unmittelbar mit dem T h e a t e r in Verbindung stand (sie waren in den Berufsgenossenschaften der dionysischen Techniten zusammengeschlossen), die berufsmäßigen Sportler und schließlich Schriftsteller, Philosophen, Wissenschaftler und Dichter, die teils von den Königen (wie im alexandrinischen Museion), teils von anderen Mäzenen unterhalten w u r d e n , oder sonst sich als Rhetoren, Lehrer und W a n d e r r e d n e r ihren Unterhalt verdienten. Neben den Juristen hatten auch die Ärzte Tätigkeiten im staatlichen Dienst g e f u n d e n ; f ü r Ägypten ist es höchst wahrscheinlich, f ü r das Seleukidenreich nicht sicher, daß es einen staatlichen Gesundheitsdienst gegeben hat. D e r Beruf des Lehrers w a r weit verbreitet. Lehrer wurden von den Städten f ü r den Unterricht in den Schulen fest angestellt (und meist schlecht bezahlt!), o f t auch von reichen Privatpersonen beschäftigt. Allgemeine Voraussetzung f ü r fast alle diese Berufe w a r die Bildung und Erziehung in Schule und Gymnasium. D a r ü b e r hinaus gab es keine eigentlichen Fachschulen. Die Philosophenschulen, Rednerschulen und Bibliotheken kann man nicht hierher rechnen, da sie nicht speziell auf die Berufsausbildung ausgerichtet waren. Die Ärzteschulen sind die einzige Ausnahme. Im übrigen w u r d e die Fachausbildung in der Form einer Lehrzeit in dem Beruf vorgen o m m e n , in dem man tätig sein wollte. So waren die T h e a t e r gleichzeitig Schulen f ü r Schauspieler und T ä n z e r . Uber die Zulassung zum Beruf und über diese Ausbildung wachten die verschiedenen Vereine und Berufsgenossenschaften, die deshalb eine so große Rolle im Leben der hellenistischen Städte und der griechischen Bevölkerung überhaupt spielten. c) Sklaven und Sklaverei Verschiedene Formen persönlicher Unfreiheit, weitgehender Abhängigkeit und verminderter Rechtsfähigkeit sind in den meisten älteren Kulturen der Antike nichts Seltenes. Für die helleni-
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stische und römische Zeit charakteristisch ist die Kaufsklaverei, in der Menschen in großer Zahl als Ware verkauft und erworben werden können und von der das Funktionieren bestimmter Zweige der Landwirtschaft und Industrie abhängt. Nach Griechenland ist diese Form der Sklaverei im 6.Jh.vChr eingedrungen, seit dem 4. Jh. auch nach Rom (die Sklaverei in der römischen Kaiserzeit ist derjenigen der hellenistischen Zeit in mancher Beziehung ähnlich und wird deshalb hier mitbesprochen). Im klassischen Griechenland waren die Sklaven meist Barbaren. In den Kriegen der hellenistischen Zeit wuchs das Angebot an Sklaven durch die vielen Kriegsgefangenen, die in den Kriegen der Diadochen, der hellenistischen Könige und auch der griechischen Bünde und Städte gemacht wurden. Damit kamen auch mehr und mehr Griechen und hellenisierte Orientalen in die Sklaverei. Hinzu trat das lange erfolgreich arbeitende Piratentum, das planmäßig Menschen raubte und diese dann auf den Sklavenmärkten verkaufte. O f t wurden ganze Dörfer mit sämtlichen Einwohnern geraubt und in die Sklaverei verkauft. Dieses Piratenunwesen suchte gerade die alten griechischen Stammländer mehr heim als die Gebiete im Osten. Schließlich fielen den Römern in den Kriegen mit Makedonien und auf den Feldzügen bei der Eroberung des Ostens eine ungeheure Anzahl von Kriegsgefangenen in die Hände, worunter sich ebenfalls ein hoher Prozentsatz von Griechen befand. Die Sklavenhaltung erreichte dadurch ihren Höhepunkt in der späten republikanischen Zeit Roms. In der römischen Kaiserzeit wurden nur wenige Eroberungskriege geführt, wodurch das Angebot an Sklaven merklich abnahm. Gleichzeitig vermehrten sich die Sklavenfreilassungen sehr stark, so daß die Zahl der Sklaven schon in der Kaiserzeit deutlich zurückging. In der Spätantike wurde die Sklaverei zwar nicht abgeschafft, aber doch erheblich eingeschränkt, so daß sie beim Übergang der Antike ins Mittelalter so gut wie aufgehört hatte. Viele Gründe haben dazu beigetragen (darüber s.u.), unter anderem auch ein wirtschaftlicher Strukturwandel, der die Sklavenhaltung nicht begünstigte. Die wirtschaftliche, soziale und rechtliche Stellung der Sklaven war in der Regel weitaus besser als etwa die der schwarzen Sklaven in den amerikanischen Südstaaten im 18. und 19.Jh. Die Sklaven der Antike waren keineswegs rechtlos; sie besaßen eine verminderte Rechtsstellung, die ihnen nicht nur Eherechte, sondern auch gewisse Vermögensrechte beließ. Sie waren bedingt als Zeugen vor
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Gericht zugelassen. Unter den Kaisern wurde die rechtliche Stellung der Sklaven weiter humanisiert (Verbot der Mißhandlung und Tötung von Sklaven). Wirtschaftlich war die Stellung der Sklaven unterschiedlich, hing auch stark von ihrer Bildung, ihrem Beruf und ihren Fähigkeiten ab. Eine große Anzahl der Sklaven war überall in den Häusern beschäftigt und versah die verschiedenen Arbeiten und Dienstleistungen, die im antiken Haushalt nötig waren. Man muß sich dabei klarmachen, daß die Häuser der bessergestellten Bürger damals in viel höherem Maße autark waren als heute. Die Mehl- und Brotherstellung, das Anfertigen von Kleidern, Ölpressen, Seifensieden und anderes mehr wurde im Hause selbst vorgenommen. Solche Haussklaven gehörten zur Hausgemeinschaft und aßen zusammen mit der Familie des Herrn (erst mit dem Anwachsen der Sklavenzahlen änderte sich das). Im übrigen fanden Sklaven Verwendung in der Landwirtschaft, vor allem auf den großen Gütern und Latifundien, in Handwerk und Industrie und im Bergbau. Während ein Industriebetrieb vielleicht ein paar Dutzend Sklaven beschäftigen konnte, besaßen die Eigentümer von Bergwerken und Latifundien Hunderte oder Tausende von Sklaven, vor allem im Fall von staatlichen Betrieben, die unter der direkten Verwaltung der Könige standen, oder von Großgütern, die den römischen Kaisern gehörten. Freilich waren den Sklaven in solchen Betrieben auch leitende oder gehobene Stellen offen; viele erwarben sich als Verwalter, Geschäftsführer oder Betriebsleiter Kenntnisse und Erfahrungen, die ihnen nach ihrer Freilassung zugute kamen. In führende Stellungen konnten auch Sklaven aufrücken, die im „ H a u s e " der Könige oder des Kaisers oder im Haushalt reicher Geschäftsleute tätig waren. Mit der Zunahme gebildeter Griechen unter den Kriegsgefangenen erhöhte sich die Zahl der geistig, wissenschaftlich und rhetorisch gebildeten Sklaven, die vielfach Lehrer, Hofdichter, Bibliothekare und höhere Verwaltungsbeamte wurden. Daß die antike Wirtschaft nur als Sklavenhaltergesellschaft funktionieren konnte, ist falsch. Im Seleukidenreich und in Ägypten spielte die Sklaverei ohnehin nur eine untergeordnete Rolle. In Ägypten gab es noch die einheimische Sklaverei der Hierodulie: Tempelsklaven, die niedere Dienste versahen und in den Tempelwerkstätten sowie auf den Tempelländereien arbeiteten. Ihre wirtschaftliche Bedeutung war gering. Unter den Griechen und Frem-
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den Ägyptens konnten sich nur der König und wenige wohlhabende Bürger Sklaven leisten. Die Sklaverei wurde von den Königen nicht begünstigt und durch hohe Steuern nach Möglichkeit eingeschränkt. Aus Syrien ist ein Erlaß bekannt, der verbietet, daß Leute, die bisher „ H ö r i g e " waren, als Sklaven betrachtet und behandelt werden. Auch die Seleukiden hatten kein Interesse daran, daß die Untertanen ihrer Länder zu Sklaven wurden. In Kleinasien bestand zwar die Institution von Tempelsklaven weiter, und im Seleukidenreich beschäftigten Könige und wohlhabende Privatpersonen Sklaven. Aber im ganzen war die Wirtschaft und vor allem die Landwirtschaft von der Sklavenhaltung unabhängig. Das einzige hellenistische Königreich, in dem die Sklavenhaltung eine größere Rolle spielte, war Pergamon. In der Landwirtschaft und in den industrialisierten Handwerksbetrieben wurden meist Sklaven beschäftigt, ebenso in den verschiedenen königlichen Unternehmungen, bei Bauten und im Bibliotheksdienst. In viel stärkerem Maße wurde Rom im 2. und l . J h . v C h r von der Sklavenhaltung abhängig. D a s war nicht so sehr in bezug auf Handwerk und Industrie der Fall; denn die hier beschäftigten Sklaven gehörten wie im hellenistischen Osten meist Privatpersonen, die von den Betrieben bezahlt werden mußten (von dem Entgelt bekam der Eigentümer des Sklaven einen Anteil). Diese Sklavenarbeit war also teuer und bedeutete für den freien Arbeitnehmer nur dann eine Konkurrenz, wenn der Betriebseigentümer gleichzeitig Besitzer der bei ihm arbeitenden Sklaven war. D a s war aber meist nicht der Fall. Hingegen ist es kaum vorstellbar, wie die riesigen römischen Latifundien und Landgüter ohne die Sklavenhaltung hätten funktionieren können. Es ist kein Zufall, daß die großen Sklavenerhebungen der Antike in der republikanischen Zeit Roms in Italien und auf Sizilien ausbrachen, die des Eunus aus Apamea in Syrien (136-132vChr) und die des Spartakus (73-71vChr). Rom beschäftigte zu dieser Zeit ganze Heere von Sklaven in Rom selbst und auf den großen Gütern (die Zahl der Sklaven in Rom allein wird auf 200000 bis 300 000 geschätzt - ein Drittel der Gesamtbevölkerung!). Wieweit soziale Gründe Anlaß dieser Sklavenerhebungen waren, ist nicht sicher. Religiöse und nationale Motive scheinen ebenso mitgespielt zu haben. Vielleicht muß man auch die Erhebung des Aristonikos von Pergamon (133-30 vChr) gegen die Anfänge der Herrschaft der Römer, denen Pergamon durch Testament des letzten Herrschers zugefallen war, hierher rechnen. Ari-
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stonikos bestritt dieses Testament, beanspruchte, der legitime Nachfolger des letzten Königs zu sein und rief die Landbevölkerung zum Widerstand gegen Rom auf. Er proklamierte die Befreiung aller Sklaven und gab seinen Anhängern die Bezeichnung „Bürger des Sonnenstaates", womit er utopische und Sozialrevolutionäre Ideen seiner Zeit aufnahm (vgl. unten zum hellenistischen Roman §3.4e). Jedenfalls nahm die relative Bedeutung der Sklavenarbeit vom Beginn der römischen Kaiserzeit an ständig ab, obgleich sie zunächst noch ein wesentlicher Bestandteil des wirtschaftlichen Lebens war. Die Stellung der Öffentlichkeit zur Institution der Sklaverei schwankte zwischen Gleichgültigkeit und negativem Urteil. Positive Begründungen der Sklaverei sind ebensowenig vorhanden wie revolutionäre Forderungen der Abschaffung um jeden Preis. Verurteilt wurde die Sklaverei wiederholt. Schon die Sophistik hatte das Recht der Sklaverei bestritten. Stoiker und Kyniker betonten immer wieder, daß Sklaven ebenso Menschen seien wie alle anderen auch, daß sie von Natur aus die gleichen Fähigkeiten und Rechte besäßen und daß die innere Freiheit des Menschen von seinem Stand unabhängig sei. Dem entsprach, daß im allgemeinen in der Antike die Sklaven nicht als Menschen minderer Qualität angesehen wurden. In der Komödie und in der Literatur erscheinen die Sklaven als mit den gleichen Fehlern und Tugenden behaftet wie andere Menschen. Der Umgang zwischen Herren und Sklaven ist in der Regel so gewesen, daß die rechtliche Gleichstellung selbstverständlich war. Das traf vor allem für die Haussklaven zu, während die Mehrzahl der Sklaven in den Latifundien und Bergwerken vom normalen Umgang mit freien Bürgern ausgeschlossen war. Die Stellung der religiösen Gemeinschaften zu den Sklaven war eindeutig: Standesunterschiede waren für sie gleichgültig. Schon Eleusis nahm athenische Sklaven ebenso wie Vollbürger auf und weihte sie in die Mysterien ein. Vor allem haben die orientalischen Religionen, die oft durch die Sklaven selbst nach dem Westen gebracht wurden, keine Standes- und Klassenunterschiede gekannt. Zu diesen Religionen gehört auch das Christentum. Erwartet man von diesen Religionen, daß sie auf der Abschaffung der Sklaverei hätten bestehen sollen, so sind sie damit überfordert (einige Kirchenväter haben tatsächlich die Abschaffung der Sklaverei verlangt); denn echte sozialkritische Gedankengänge fehlen überhaupt in der Antike, Sklavenaufstände waren bereits in Blut und
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Tränen untergegangen und die Stellung der Sklaven bedeutete keine menschliche Disqualifizierung. Indem diese Religionen die menschliche Gleichstellung der Sklaven in ihren eigenen Gemeinden durchsetzten, knüpften sie an die besten Traditionen der Antike an. Selbstverständlich war die Freilassung eines Sklaven bei den Christen ein gutes Werk. d) Wohlstand und Armut Auch in der hellenistischen Zeit, vor allem in den Ländern des Ostens, war die Landwirtschaft die wesentliche Grundlage des wirtschaftlichen Lebens und eine der wichtigsten Quellen des Einkommens. Das trifft nicht nur für die dörfliche Gesellschaft zu, sondern auch für die Städte. Nur ein Teil des landwirtschaftlich genutzten Landes befand sich dort, wo eine dörfliche Gesellschaftsstruktur vorherrschte, d.h. in freien Bauerndörfern und in den Dörfern der Großgüter und Tempelstaaten. Hier gab es von halbnomadischer Viehzucht bis zu intensiv bewirtschafteten Landgütern die verschiedensten Formen der Nutzung. Im übrigen wurde Landwirtschaft aber auch von den Städten betrieben. Ursprünglich war hier der Landbesitz in den Händen einer breiten Schicht von Bürgern und damit die Grundlage des wirtschaftlichen Wohlstands der gesamten Bevölkerung. Während in den dörflichen Gebieten die Bevölkerung durchweg „ a r m " war, vielfach auch abhängig und hörig, so handelte es sich doch nicht um ein Proletariat. Hingegen war die Frage des Anteils der verschiedenen Schichten der Stadtbevölkerung am Besitz und die Herausbildung eines Proletariats ein soziales Problem der Armut. Die wirklich reiche Oberschicht der Städte war überall klein. Ein Proletariat von Lohnempfängern, Kleinbauern, Parzellenpächtern und Sklaven gab es in allen Städten der hellenistischen und römischen Zeit. Sehr unterschiedlich war die Breite der Mittelschicht des besitzenden Bürgertums von Bauern, Handwerkern, Händlern, Kaufleuten und der zahlreichen Gruppen von „Technitai" (s.o. §2.3b). Hiervon hing aber die Stabilität der Stadt im wesentlichen ab. In Griechenland, vielleicht auch teilweise in den alten Griechenstädten des westlichen Kleinasiens, war der Besitz fast ganz in die Hände einer sehr kleinen Oberschicht gekommen, die bürgerliche Mittelschicht verschwunden und das Proletariat stark angewachsen. Nach einem kurzen anfänglichen Aufschwung scheinen die
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Löhne während der ganzen hellenistischen Zeit ständig gesunken zu sein, während die Preise anstiegen. Obgleich die Bevölkerung mindestens gleich blieb, sank die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze. Dazu trugen einerseits die wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten bei, andererseits war die Konkurrenz der Sklavenarbeit in den Häusern, der Landwirtschaft und der Industrie daran schuld. Der Gegensatz von arm und reich nahm dadurch unerträgliche Ausmaße an. Unter den armen Schichten waren die freien Arbeiter und die verschuldeten Bauern noch schlechter dran als viele Sklaven; denn deren Herren waren verpflichtet, sie auch dann zu ernähren, wenn sie keine Arbeit für sie hatten (das führte in der römischen Kaiserzeit gelegentlich zu Sklavenbefreiungen größeren Umfangs, gegen die gesetzliche Maßnahmen ergriffen werden mußten, damit das Elend des Proletariats nicht noch vergrößert wurde). Niemand war hingegen verpflichtet, sich um das freie arbeitslose Proletariat der Städte zu kümmern. Unruhen, Revolten und Aufstände des Stadtproletariats waren daher in der hellenistischen Zeit eine ständige Begleiterscheinung des Lebens. Daß diese Revolten, die meist auf eine Neuverteilung des Grundbesitzes abzielten, alle scheiterten, lag nicht nur an dem Widerstand der Reichen, sondern auch daran, daß Griechenland überhaupt wenig Wohlstand besaß und außerdem bis zur Eroberung durch die Römer ständig in Kriege verwickelt war. Die Methoden der Kriegsführung waren nicht nur grausam, sondern auch wirtschaftlich verheerend. O f t wurde über die Hälfte des besiegten Heeres in der Schlacht getötet. Nicht nur Kriegsgefangene, sondern auch die Einwohner wurden in die Sklaverei verkauft; denn es war sonst keine andere Beute vorhanden, mit der die Kriegskosten gedeckt werden konnten. Ganze Städte wurden dem Erdboden gleichgemacht, so z.B. Mantineia durch die Achäer und Makedonen, Korinth durch die Römer. Uberhaupt war Bereicherung durch Beute oft der Hauptzweck des Krieges; das besiegte Land wurde vollständig geplündert, die Felder verwüstet. Dazu war Seeräuberei, Freibeutertum und Menschenraub gang und gäbe. Nicht nur die Inseln und Küstenstädte hatten darunter zu leiden, sondern auch das Festland. Daß tausend und mehr Menschen bei einem einzigen Raubzug erbeutet wurden, scheint mehr als einmal vorgekommen zu sein. Aus den Quellen jener Zeit hat man den Eindruck, daß auch Tempelschändung, Mißachtung der Asylie und die Beraubung von Heiligtümern alltägliche Vorfälle waren. Die krieg-
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führenden Mächte benutzten vielfach die Seeräuber für ihre Zwecke; besonders Kreta und die Atoler waren eng mit ihnen verbündet. Ganz anders waren die Verhältnisse in den Ländern des Ostens, in Makedonien und nach anfänglichen Kriegswirren in den Städten Kleinasiens. Im 3.Jh.vChr war Ägypten das reichste Land der Mittelmeerwelt. Das war ein anfänglicher Erfolg des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Aber der größte Teil des Reichtums war in den Händen des Königs oder wurde unmittelbar von ihm kontrolliert. Das trifft auch auf den Besitz der höheren Beamten der königlichen Verwaltung zu, deren Vermögen jederzeit vom König konfisziert werden konnte. Die griechische Bevölkerung, vor allem Alexandriens, scheint ebenfalls mehr oder weniger wohlhabend gewesen zu sein. Von der einheimischen ägyptischen Bevölkerung hatten nur die wenigen, die hellenisiert wurden, daran Anteil. Im übrigen war die einheimische Bevölkerung nicht „arm", Zumindestens nicht während der ersten Zeit der Ptolemäerherrschaft; denn die Löhne waren hoch, und Arbeit war in reichlichem Maße vorhanden. Doch das sollte sich in den folgenden beiden Jahrhunderten ändern. Zwar hatte die ptolemäische Verwaltung die bestehenden Besitzverhältnisse im Lande geachtet und das Grundeigentum in gewissen Grenzen auch gefördert. Man hoffte dadurch, Ägypten für Einwanderer attraktiver zu machen, wollte den Beitrag privater Initiative ausnutzen und brauchte auch eine Schicht, aus der sich der Nachwuchs für die staatliche Verwaltung rekrutieren konnte. Schließlich lag in solchem Besitz auch eine Quelle für Steuereinnahmen. Aber die Verwaltung hat es durch ihr Wirtschafts- und Steuersystem geradezu verhindert, daß die breite Masse der einheimischen Bevölkerung einen größeren Anteil am Reichtum des Landes erhielt. So war es vor allem diese Bevölkerung, die durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, durch steigende Preise und sinkende Löhne am härtesten betroffen wurde. Hingegen besaß vor allem Alexandrien bis zum Beginn der Römerzeit noch immer eine breite Schicht eines Besitzbürgertums, zu der Griechen sowie hellenisierte Ägypter und Juden gehörten. Im Seleukidenreich waren auch hinsichtlich der Verteilung des Reichtums die Verhältnisse nicht einheitlich. Kleinasien hatte im 3.Jh. erheblich zu leiden durch fortwährende Kriege, dynastische Streitigkeiten und durch den Galatereinfall. Dazu kamen Pirateneinfälle, die besonders durch die Kriege der Seleukiden mit Ägyp-
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ten in der Agäis und im östlichen Mittelmeer gefördert wurden. V o r allem die Städte litten darunter, wurden finanziell ruiniert, was zur V e r a r m u n g der Mittelschicht beitrug. Die wenigen Berichte aus dieser Zeit reden nur von N o t und Elend. D o c h das besserte sich in den folgenden J a h r h u n d e r t e n , sodaß auch unter der anfangs ausbeuterischen H e r r s c h a f t der R ö m e r eine verhältnismäßig breite Bürgerschicht diesen finanziellen Aderlaß überlebte und in der f r ü h e n Kaiserzeit sich eines Reichtums erfreute, der einem großen Teil der Bevölkerung zugute kam. In Syrien, Mesopotamien und Babylon waren die Folgen der syrischen Kriege weniger zu spüren. Die reiche landwirtschaftliche Produktion, die nicht zentral gelenkt wurde, wie auch die Blüte des Handels in den alten Handelsstädten gaben der einheimischen Bevölkerung Anteil am Wohlstand. Soweit die Könige wirklich aus eigener Initiative in die bestehenden Besitzverhältnisse eingriffen, geschah es vor allem in der N e u g r ü n d u n g von Städten. Gerade dadurch vermehrten sie den bürgerlichen Landbesitz erheblich, da die neuen Städte vielfach mit makedonischen und griechischen Einwanderern und Soldaten besiedelt wurden, deren Existenzgrundlage der durch Landlose an sie verteilte Grundbesitz war. Gab es auch in diesen Städten bald Reiche und Arme, so w a r ihr allgemeiner Wohlstand in der Regel sehr viel höher als bei den Städten Griechenlands, und eine große Mittelschicht hat sich hier viel länger erhalten. e) Das Vereinswesen Die hellenistische Zeit ist die Blütezeit des antiken Vereinswesens. Die Vereine behielten aber auch in der römischen Zeit eine große Bedeutung. Sie waren nächst den politischen Strukturen der Reiche und Städte das wichtigste Strukturelement des gesellschaftlichen Lebens. Es gab eine ungeheure Vielzahl und Vielfalt von Vereinen. Das Bild wird dadurch noch bunter, daß zwar das Vereinswesen der hellenistischen Städte im wesentlichen eine Fortsetzung des älteren griechischen Vereinswesens ist, daß aber daneben in Ägypten und in den Ländern des Seleukidenreiches bereits ein einheimisches Vereinswesen bestand, das zum Teil hellenisiert wurde, z u m Teil sich in verschiedenster Weise mit dem griechischen Vereinswesen vermischte. Obgleich wegen der Vielfalt und großer örtlicher Verschiedenheiten jede Klassifizierung des Vereinswesens unbefriedigend ist, muß doch der Übersicht halber eine Einteilung versucht werden.
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Am besten unterscheidet man 1. Vereine, die der Gemeinschaft zukommende Aufgaben erfüllen (die wichtigsten sind die Gymnasialvereine), 2. Berufsvereine, Gilden und Genossenschaften, 3. Vereinigungen zu rein gesellschaftlichen Zwecken, 4. Kultvereine. Es muß dazu bemerkt werden, daß z.B. die Gymnasialvereine auch den Zweck erfüllten, Geselligkeit zu fördern, usw., d.h. alle Vereine hatten mehrere Funktionen. Auch in der Organisationsform und im äußeren Erscheinungsbild bestanden Gemeinsamkeiten. So besaßen nicht nur die Kultvereine, sondern auch Geselligkeitsvereinigungen oder Berufsgenossenschaften religiös-kultischen Charakter und nannten sich nach einem bestimmten Gott (das war manchmal nur äußere Form - nur ist das für unser Auge nicht immer sichtbar). Musische Vereine bevorzugten Apollo als ihren Schutzpatron, Geselligkeitsvereine Aphrodite, später Dionysos, der überhaupt der am häufigsten auftauchende Schutzpatron von Vereinen ist. Die wichtigsten Vereine des öffentlichen Lebens waren die Gymnasialvereine. Sie gab es überall, nicht nur in allen Städten, wo sie zur ständigen Einrichtung gehörten, sondern auch in anderen Ortschaften, wo Griechen wohnten. Die Gymnasialvereine waren von der Stadtverwaltung anerkannt, wurden gefördert und mit Privilegien ausgestattet. Sie durften Grundstücke, Gebäude und Vermögen besitzen. An der Spitze stand der Gymnasiarch. Sein Amt war eine Leiturgie, d.h. er bezog kein Gehalt, und es wurde von ihm erwartet, daß er bei besonderen Anlässen Feste und Wettkämpfe aus seiner eigenen Tasche finanziell ausstattete. Der Hauptzweck der Gymnsasialvereine war Bau, Pflege und Ausrüstung der Gymnasien und damit die Förderung der griechischen Erziehung der Jugend. Gleichzeitig dienten sie aber auch vielen geselligen Veranstaltungen, für welche die Gymnasien die „Klubhäuser" waren. Das Leben einer griechischen Stadt war ohne einen Gymnasialverein nicht denkbar. An Berufsvereinigungen gab es eine große Vielzahl. Nicht immer wurden sie von den Königen oder von den Städten kontrolliert und beaufsichtigt. Manche Berufsvereine waren hellenisierte Genossenschaften und Gilden Einheimischer. Das ist sicher bei den Vereinigungen von Beamten der königlichen Verwaltung in Ägypten der Fall, die vom König überwacht wurden. Handwerkliche Vereinigungen und Vereine der Kaufleute sind vor allem aus Kleinasien in großer Zahl belegt, und zwar im wesentlichen durch Zeug-
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nisse aus römischer Zeit. Es ist aber wahrscheinlich, daß sie schon in hellenistischer Zeit bestanden und auf Gilden der einheimischen Bevölkerung aus vorhellenistischer Zeit zurückgehen. Berufsvereine hatten im Blick auf die große Mobilität der Bevölkerung eine besondere Bedeutung. Sie boten reisenden Berufsgenossen in der Fremde Aufnahme und Unterkunft, und sie halfen ihnen auch, sich niederzulassen oder Arbeit zu finden. Ein typisches Beispiel für einen wohlhabenden Kaufmannsverein findet sich in der Niederlassung der syrischen Kaufleute aus Berytos auf der Insel Delos; sie waren als Kultverein (Thiasos) des Poseidon organisiert, besaßen auf Delos ein großes Haus, in dem Kaufleute aus der syrischen Heimat bei vorübergehendem oder längerem Aufenthalt wohnen, essen und ihre Geschäfte abwickeln konnten; auch Gemeinschaftsräume und ein Kultraum sind vorhanden. Am weitesten verbreitet waren die Vereine der dionysischen Techniten, die alle zusammenschlossen, deren Beruf unmittelbar mit dem Theater verbunden war. Sie hatten eine bevorzugte Stellung und waren an manchen Orten (so sicher in Ägypten) unter königlicher Aufsicht organisiert. Ihre Mitglieder waren auch als Lehrer tätig, so daß sich im Zusammenhang dieser Vereine so etwas wie eine Schule für Schauspieler, Tänzer und Musiker bilden konnte. Es ist anzunehmen, daß auch andere Berufsvereine, vielleicht auf dem Umweg über die Zulassung zum Verein, eine gewisse Aufsicht über die berufliche Ausbildung ausübten. Rein gesellschaftliche Vereinigungen sind in großer Zahl bezeugt. Sie erscheinen als Vereine der „Jungen Männer", der „Alten Herren" usw. Ihr einziger Zweck war es, Geselligkeit verschiedenster Art zu ermöglichen. In ihnen fanden sich etwa Leute, die aus der gleichen Heimat stammten, oder alte Schulkameraden. Es ist nicht ausgeschlossen, daß gerade zu solchen Vereinen sich Nichtbürger und Fremde zusammenschlossen, die von der Teilnahme an bürgerlichen Aufgaben ausgeschlossen waren. Kultvereine (Thiasoi; doch findet sich dieser Name auch bei anderen Vereinen) bestanden in erster Linie für solche Götter und Kulte, die nicht von der politischen Gemeinde unterhalten und in öffentlich anerkannten Tempeln verehrt wurden. Diese Kultvereine trugen daher wesentlich zur Ausbreitung der neuen orientalischen Religionen bei (Sarapis, Isis, Attis, Men Tyrannos, usw.). Viele Dionysosvereine waren ernsthafte Kultvereine, zumal es neben den mit dem Theater verbundenen Tempeln auch in den
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Häusern gefeierte Dionysos-Mysterien gegeben hat. Gerade bei diesen Kultvereinen waren Männer eines jeden Standes, insbesondere Sklaven und Fremde, oft auch Frauen zugelassen und konnten eine führende Rolle spielen. Hier zeigt sich ein neues Gemeinschaftsbewußtsein, für das die Standesunterschiede keine Rolle mehr spielen. 4. Die hellenistische Stadt Α. H . M.JONES, T h e Greek City from Alexander to Justinian, 1940. R. Ε. WYCHERLEY, HOW the Greeks Built Cities, 2 1967. V.TCHERIKOWER,
Die
hellenistischen
Städtegründungen
von
Alexander
dem Großen bis auf die Römerzeit, 1927. E. KIRSTEN, Die griechische Polis als historisch-geographisches Problem des Mittelmeerraumes, 1956. E. BICKERMANN, La cite grecque dans les monarchies hellenistiques, RPh 65, 1939,
335-349.
R. MARTIN, L'urbanisme dans le Grece antique, 1956.
a) Stadtgründungen (einschließlich der Kleruchien) Ägypten besaß eine alte Griechenstadt: die von Milesiern um 650 vChr gegründete Handelsstadt Naukratis. Die Ptolemäer haben in Ägypten nur eine einzige Stadt gegründet, nämlich Ptolemais in Oberägypten, die zum Griechenzentrum jenes Landesteils wurde. Im übrigen beschränkten sich die Ptolemäer auf die Errichtung von Neusiedlungen, die sich an die großen Lehensgüter anlehnten, die vom König an seine höheren Beamten vergeben wurden. In diese Siedlungen kamen viele griechische Einwanderer, aus denen sich die Oberschicht bildete (Verwalter, Soldaten, Handwerker); alle Dienste wurden von Einheimischen versehen. „ S t ä d t e " im griechischen Sinne waren diese Orte nicht, sondern eher W o h n siedlungen für Technokraten und Soldaten. Sie waren auch keine Stätten, an denen die Einheimischen in die griechische Kultur hineinwachsen und so hellenisiert werden konnten. Auf der anderen Seite wurde Alexandrien, von Alexander dem Großen gegründet, nicht nur die Residenzstadt der Könige des ptolemäischen Reiches, sondern zum Symbol der hellenistischen Stadt schlechthin. Alexandrien war keiner anderen griechischen Stadt vergleichbar; denn es entwickelte sich nicht aus eigener Kraft und unter einer eigenen Verwaltung, sondern war von vornherein K ö nigsstadt. Alexandrien wurde rasch größer als die größten Städte Griechenlands und Ioniens und stand in dieser Beziehung höch-
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D i e hellenistische S t a d t
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stens den Hauptstädten des Seleukidenreiches Antiochia (am Orontes) und Seleukia (am Tigris) nach. Die Stadt wurde mit prächtigen Bauten ausgestattet. Ein Drittel des Stadtgebietes wurde von dem Komplex der königlichen Gebäude eingenommen: dem Palast, der Bibliothek, dem Museion, dem Zoologischen Garten und dem Mausoleum Alexanders des Großen. Zwei Prachtstraßen liefen durch die Stadt mit ihren großartig angelegten Plätzen, Brunnen und Tempeln, unter denen das Serapeion hervorragte. Die Bevölkerung lebte in mehreren voneinander getrennten Quartieren, dem griechischen, dem ägyptischen und dem jüdischen. Die Gesamtbevölkerung zur hellenistischen und römischen Zeit wird auf über eine halbe Million geschätzt, von denen etwas über die Hälfte Bürger, die übrigen Sklaven waren. Als Handelsstadt entsprach die Bedeutung Alexandriens den wichtigsten Großstädten des östlichen Mittelmeeres, als Stadt der Kunst, Wissenschaft und Dichtung übertraf sie in der Hochblüte des Hellenismus alle anderen und spielte in dieser Beziehung auch in der römischen Kaiserzeit eine überragende Rolle. Die Seleukiden knüpften an die Stadtgründungen Alexanders an und machten sie zu einem wichtigen Mittel ihrer Politik. Die Stadtgründungen begannen unter Seleukosl. und wurden unter seinen beiden nächsten Nachfolgern Antiochosl. und AntiochosII. fortgesetzt. Es ergab sich, daß die Stadtgründungen zum wichtigsten Faktor der Hellenisierung wurden. Das war aber nicht der unmittelbare Anlaß dieser Gründungen. Es ging vielmehr dabei zunächst um den Schutz der wichtigsten Handelsstraßen und militärischen Verbindungen, um die Abwehr der Bergstämme aus dem Norden und der Araberstämme aus dem Süden, und in Kleinasien um den Schutz vor den Galatern. Viele Städte wurden nicht als „Polis" gegründet - ein sehr kostspieliges und schwieriges Unternehmen, dem der König viel Zeit und Kraft widmen mußte - sondern als Militärkolonien (Kleruchien), wie das Alexander schon in Baktrien getan hatte. Das hatte eine ganze Reihe von Vorteilen. Auch die Ptolemäer haben ihre Soldaten angesiedelt; jedoch nicht in geschlossenen Siedlungen, sondern einzeln über das ganze Land verstreut. Deshalb wurden die ptolemäischen Kleruchen-Ansiedlungen nicht in demselben Maße wie im Seleukidenreich als Hellenisierungsfaktor wirksam. Die Vorteile der Ansiedelung der Angehörigen des Heeres liegen auf der Hand. Die Bezahlung eines stehenden Söldnerheeres
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wurde auf die Dauer sehr kostspielig. Wurden sie auf Königsland angesiedelt und ihnen dadurch eine Quelle eigenen Einkommens gegeben, so wurde nicht nur der königliche Fiskus entlastet, sondern die Soldaten selbst wurden in ganz anderer Weise an das Land gebunden, das sie im Kriegsfall verteidigen sollten. Gleichzeitig stellte dies eine Attraktion für die Griechen dar, auf dem Umweg über den Dienst im Heer in eines der hellenistischen Reiche auszuwandern. Schließlich konnte man so am leichtesten neue landwirtschaftliche Methoden einführen, die den Einwanderern aus der Heimat geläufig waren, und bisher ungenutzte landwirtschaftliche Gebiete wurden zudem neu erschlossen. Waren diese Militärkolonien auch nicht mit allen Rechten ausgestattet, die eine „ S t a d t " sonst hatte, so erfüllten sie doch im Endeffekt die gleichen Funktionen. Zu den Gründungen der Seleukiden gehören folgende Städte: In Syrien Antiochia am Orontes, die politische Hauptstadt des Landes; Apameia am Euphrat, die militärische Hauptstadt; Seleukia in Pierien und Laodikeia am Meer, die beiden wichtigsten Hafenstädte. In Kleinasien Thyatira in Lydien, Apameia Kibotos in Phrygien, Seleukia und Antiochia in Cilicien. In Mesopotamien Edessa, Dura Europos, Antiochien in Mygdonien, und vor allem Seleukia am T i gris, die östliche Hauptstadt. Neben den angeführten Orten entstanden auf diese Weise noch hunderte von Städten und Siedlungen in den genannten Gebieten. In Medien und in der Persis gab es sehr viel weniger seleukidische Städtegründungen. Die griechische Kolonisation reichte nicht so weit. Aber eine Reihe von Festungen wurde hier errichtet, die z.T. Neugründungen persischer Städte waren (z.B. Seleukia am Eulaios, die wiedergegründete persische Stadt Susa). Nach einiger Zeit waren alle diese Neugründungen „Städte". Aber in der Art ihrer Gründung bestanden rechtliche Unterschiede. Bei der Gründung einer neuen „ S t a d t " (Polis) ging das dazugehörige Land in den Besitz der Stadt über und wurde den Bürgern als Eigentum übertragen. Hingegen blieb bei den Militärkolonien das den Einzelnen zugeteilte Land im Besitz des Königs, konnte aber vererbt werden. N u r für den Fall, daß kein Erbe da war, fiel es an den König zurück. Daneben gab es feste Siedlungen (Katoikia), die als Stadt angelegt waren und befestigt sein konnten; sie besaßen aber keine Stadtrechte. Auch nach der Art der Herkunft ihrer Bewohner waren die Unterschiede anfänglich erheblich. Bei den
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Militärkolonien handelte es sich in der Regel um makedonische (oder griechische) Soldaten. In anderen Fällen gründeten zivile Einwanderer Tochterstädte alter Griechenstädte. Einige Städte sind durch den sogenannten „Synoikismos" entstanden, d.h. mehrere kleinere Gemeinden und Ortschaften wurden zu einer Stadt zusammengelegt. Hierbei handelte es sich oft um nicht-griechische Bevölkerung, ebenso bei der Verpflanzung ganzer Bevölkerungsgruppen; so wurden viele Juden aus Mesopotamien von den Seleukiden in Kleinasien angesiedelt (vgl. Josephus Ant. 12.148). Schließlich entstanden neue Städte auf der Grundlage älterer Städte, die unter einem neuen Namen reorganisiert und mit neuen Rechten ausgestattet wurden. Dabei setzte sich der alte Städtename vielfach später wieder durch. Neu gegründet wurde auf diese Weise Edessa als Antiocheia, Nisibis als Antiocheia, Ekbatana als Epiphaneia. Ebenso wurden bestehende Städte hellenisiert, z.B. Uruk-Warka als Orchoi; es hatte zwar eine große griechische Bevölkerungsgruppe, aber die Verwaltung blieb in den Händen der Einheimischen. Seleukia am Tigris (unweit des heutigen Bagdad) wurde von Seleukosl. als Hauptstadt seines Reiches gegründet. Ihr Reichtum beruhte darauf, daß sie zum Zentrum und zur Verrechnungsbörse des Ost-West Handels wurde und darin an die Stelle Babylons rückte. Die Einwohnerzahl wird auf 600.000 geschätzt. Auch als Seleukia unter die Herrschaft der Parther kam, blieb seine Selbständigkeit als Griechenstadt erhalten. Erst durch die Feldzüge der Römer gegen die Parther wurde die Stadt zerstört, zunächst von Trajan und endgültig 164 nChr. Am Orontes gründete Seleukosl. 300 vChr die Stadt Antiochia, die nach seinem Tode an Stelle von Seleukia zur Hauptstadt wurde. Die Stadt erlebte eine erste Blütezeit unter AntiochosIV. Epiphanes, wurde 64 vChr von den Römern erobert, entwickelte sich unter römischer Herrschaft als Hauptstadt Syriens zu großer Pracht und zum bedeutenden Kulturzentrum. Hier wurde auch die erste hellenistische Christengemeinde gegründet. Durch Erdbeben vielfach schwer getroffen und in den Kämpfen zwischen Römern und Persern sowie zwischen Byzanz und den Arabern heiß umstritten, blieb die Stadt bis in Mittelalter hinein von großer Bedeutung. b) Stadtplanung und Bauten Die hellenistische Stadt knüpft an die Stadt des klassischen Griechenlands an und setzt in Stadtplanung und Bauten deren Tradi-
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tion unmittelbar fort. In dem von einer mächtigen Mauer umschlossenen Bereich gibt es neben den Häusern der Bürger eine Agora, an der Tempel und Regierungsgebäude (Buleuterion, Prytaneion, Archiv) liegen, Theater und Odeion, Gymnasion und Brunnenhäuser. Schon im 5. Jh.vChr hatte sich in Ionien die nach dem Architekten Hippodamos benannte Stadtanlage entwickelt, die auf einem rechtwinkligen Straßennetz beruht und die ganze Stadt in gleich große Häuserviertel unterteilt. Hippodamos hatte nach diesem Plan die Städte Piraeus (Athens Hafenstadt) und Thurioi (in Unteritalien) gebaut. Dieser Stadtplan wurde zum Modell der Neugründungen in der hellenistischen Kolonisation. Typische Beispiele dafür sind Alexandria, Europos, Damaskus und Aleppo. Auch im griechischen Kleinasien setzte sich dieser Stadtplan durch, so in Milet, der Heimat des Hippodamos, und in Priene, dessen Straßenplan als Musterbeispiel gilt, gerade weil der hippodamische Plan einem steilen Hügel, auf dem die Stadt liegt, rigoros aufgezwungen wurde. Gegenüber den Städten des klassischen Griechenlands erscheinen in den hellenistischen Städten Änderungen, die sich zum Teil aus dem hippodamischen Stadtplan ergeben, aber auch die veränderten sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln. Die alten Städte hatten meist eine Akropolis, ehemals die befestigte Königsburg, die später mit repräsentativen Tempelbauten versehen wurde. Diese Akropolis fehlt oft in den hellenistischen Städten. Eine besonders befestigte Burg im Inneren der Stadt, auf die man sich nach dem Fall der Stadtmauern noch zurückziehen konnte, in der sich aber auch ein Tyrann festsetzen und gegen die Bürger erfolgreich behaupten konnte, widersprach der Einstellung des Bürgers zu seiner Stadt. S o verschwand die Akropolis, oder sie wurde nur noch oberflächlich befestigt (erst in byzantinischer Zeit wurden Befestigungsanlagen der Akropolen wiedererrichtet), während die Verteidigung ganz den Stadtmauern anvertraut wurde. Sie umschlossen in einem unregelmäßigen Kreis das Stadtgebiet und zogen größere unbesiedelte Flächen mit ein, wenn dies der Verteidigung dienlich war (im Unterschied zu römischen Gründungen, wo die Stadtmauern nach dem vom Heerlager abgeleiteten Viereck angelegt wurden). Die Stadtmauern, vielfach von gewaltigen Dimensionen, wurden mit Toren und Bastionen aus behauenen Natursteinen aufgeführt (nur für den Kern benutzte man Bruchsteine und Erde) - sie sollten ja den zu jener Zeit hochentwickelten Belage-
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rungsmaschinen standhalten und sie stellten beim Städtebau erhebliche Anforderungen an die Tatkraft und Einsatzbereitschaft der Bürger. Die Agora war in der klassischen Zeit ein unregelmäßig geformter Platz, der als Zentrum des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens diente. Tempel, Markt- und Kaufhallen, Regierungs- und Verwaltungsgebäude waren um diesen Platz herum angeordnet, ließen aber genügend Raum, so daß sich die Agora nach allen Seiten zur Stadt hin öffnete. In der hellenistischen Stadt wurde die Agora zu einem rechteckigen Platz gestaltet, auf allen Seiten von Stoas umrahmt und damit von der übrigen Stadt abgeschlossen, zu der nur wenige Zugänge offen blieben, an die man in römischer Zeit prunkvolle Toranlagen setzte. Außerdem wurde die offizielle Agora mit Verwaltungsgebäuden und Tempeln vom Marktplatz getrennt, so daß die größeren Städte mehrere Agoras hatten. Die dem Handel und Einkauf dienende Agora erhielt den Charakter einer Markthalle. Die Stoas wurden an den öffentlichen Plätzen vermehrt und vergrößert, manchmal mit einer doppelten inneren Säulenreihe versehen. Sie waren das Herz des Lebens der hellenistischen Stadt und standen allen Einwohnern zur Verfügung: zu Handel und Erholung, Unterhaltung und Entspannung; hier traf man sich zu privaten und öffentlichen Diskussionen; hier gab es Bildergalerien und Ausstellungen, und hier hielten Philosophen und Missionare ihre Vorträge. Die Tempel und öffentlichen Gebäude mußten sich ebenfalls dem rechtwinkligen Straßennetz anpassen. Lagen sie nicht wie die wichtigsten Tempelbauten, Buleuterion (Stadthalle, in der die Bürgerversammlung stattfand) und Prytaneion (Stadthaus mit dem heiligen Herd) an der Agora, so bekamen sie ein, zwei oder drei Straßenviertel zugeteilt. Große Heiligtümer mochten auch außerhalb der Stadtmauern an einem durch die religiöse Tradition bestimmten O r t liegen, wie der große Tempel der ephesinischen Artemis (Apg.l9,23ff). Wenn irgendmöglich, wurden auch die Theater dem strengen Netz der Straßen eingeordnet. Schlossen die Stadtmauern einen Berg oder Hügel ein, so wurden die Sitzreihen an diesen angelehnt. Es sind aber auch Theaterbauten, vor allem aus römischer Zeit, erhalten, bei denen die Sitzreihen sich auf künstlich angelegten Terrassen bis zu gewaltiger Höhe erhoben. Das Proskenion wurde in der hellenistischen Zeit zum festen Bestandteil des Thea-
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ters, also zur Bühne, auf der gespielt wurde, wenn auch die runde oder später halbrunde Orchestra ebenfalls noch diesem Zweck diente. Die Orchestra zur Arena umzugestalten, die man mit Wasser anfüllen konnte, um darin Schiffsschlachten vorzuführen, blieb dem römischen Geschmack vorbehalten. Zu den auch heute noch am stärksten hervortretenden Baulichkeiten der hellenistischen Städte gehören die Gymnasien. Waren diese ehemals Sportplätze mit Gebäuden in unregelmäßiger Anordnung, so wurden sie jetzt zu in sich geschlossenen architektonischen Einheiten: ein großer Peristyl-Hof, der den Sportplatz auf allen Seiten umschloß; auf allen oder mehreren Seiten öffneten sich in den Säulengang größere und kleinere Räume, die den verschiedensten Zwecken dienten: Umkleide- und Baderäume, Klubund Gesellschaftszimmer, Vorlesungssäle, Kulträume und später auch Bibliotheken. Die Gymnasien hatten oft riesige Ausmaße. D a s in der römischen Kaiserzeit erbaute größere Hafengymnasium in Ephesus umschloß einen Sport-und Übungsplatz von 200 mal 240 Metern! Jede Stadt hatte auch ihr Stadium, das meist außerhalb der Stadtmauern lag. Es erhielt am Ende eine halbrunde Anlage, die als kleines Theater benutzt werden konnte. Die Stadien wurden jetzt auch mit festen Sitzreihen ausgestattet, was früher nicht üblich war. Bei den Häusern der hellenistischen Städte gab es eine ganze Reihe von Haustypen, die hier nicht näher besprochen werden können. Die Häuser mußten sich ebenfalls dem hippodamischen Stadtplan anpassen. Man findet zwei, vier oder noch mehr Häuser in einem Straßenviertel, aber innerhalb einer Stadt war die Anzahl der Häuser je Straßenviertel ursprünglich gleich - jedem Bürger stand der gleiche Platz zum Bau seines Hauses zur Verfügung. Im Laufe der Zeit wurde dieses Prinzip durchbrochen. Die Häuser reicher Bürger mochten ein ganzes Straßenviertel einnehmen, griffen gelegentlich auch unter Einschluß einer Nebenstraße auf das benachbarte Straßenviertel über. W o kein rechtwinkliger Stadtplan bestand, finden sich reiche und ärmliche, große und kleine Häuser in bunter Mischung an winkligen Straßen (Delos ist dafür das bekannteste Beispiel). Unter den Haustypen setzte sich der T y p des Peristyl-Hauses als Grundtyp durch: um einen offenen Innenhof, unter dem sich manchmal kunstvoll angelegte Zisternen finden und der von Säulen umgeben war, waren die verschiedenen Räume angeordnet; während zur Straße hin sich nur selten Fenster befan-
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den, öffneten sich die Räume zum Innenhof, aus dem sie Licht und Luft erhielten. Zweistöckige Häuser waren nicht selten. Der Innenhof konnte mit einem kunstvollen Mosaik bedeckt sein, und Mosaike und Fresken zierten auch viele Räume dieser Häuser. Dieses Städtebild erhielt sich im ganzen auch in der römischen Kaiserzeit. Die Änderungen und Neuerungen, die die Römer brachten, knüpften unmittelbar an die bestehenden Elemente des Stadtbildes an. Wenigstens ein oder zwei möglichst sich kreuzende Straßen wurden in repräsentative Hauptstraßen umgewandelt und mit Prachtbauten versehen; die Agora wurde dem Forum angenähert und erhielt monumentale Torbauten; Aquädukte halfen, den gestiegenen Wasserbedarf der Städte zu decken; Gymnasien wurden zu Thermen, und kunstvolle Brunnenanlagen ersetzten die mehr praktischen Zwecken dienenden Brunnen der älteren Zeit. Der Beginn dieser Um- und Neubauperiode fällt in die Zeit, in der sich das Christentum in den großen Städten der östlichen Reichshälfte auszubreiten begann, und brachte den hellenistischen Städten vielfach neue Arbeitsplätze und neuen Wohlstand.
5. Die
Landwirtschaft
M.SCHNEBEL, Die Landwirtschaft im hellenistischen Ägypten, 1925. A.JARD£, Les cereales dans Pantiquite grecquel: La production, 1925. Κ. D. WHITE, Roman Farming, 1970. J.SCARBOROUGH, Facets of Hellenic Life, 1976, 31-69.
a) Die Lage der landwirtschaftlichen Erzeugung Alle Länder der hellenistischen Reiche schlossen Gebiete reicher landwirtschaftlicher Erzeugung ein. Einzig Griechenland hatte zwar eine hochentwickelte Landwirtschaft, war aber nicht imstande, genug zu erzeugen, um die eigene Bevölkerung zu ernähren, und daher ständig auf die Einfuhr von Getreide angewiesen. Die Haupteinfuhrgebiete waren vom 4. Jh. bis ins 3.Jh.vChr Südrußland und Thrakien. Beide Quellen flössen nach dem Kelteneinfall nur noch spärlich. Die verbliebenen Einfuhrgebiete, Cypern, Phönizien und die Kyrenaika, waren aber am Anfang der hellenistischen Zeit in den H ä n d e n der Ptolemäer, die dadurch eine Kontrolle über den griechischen Markt erhielten. Gleichzeitig steigerten die Ptolemäer die ägyptische Getreideerzeugung, so daß Ägyp-
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ten in großem U m f a n g Getreide exportieren konnte. Seitdem blieb Ägypten, auch in der römischen Kaiserzeit, eines der wichtigsten Gebiete der Getreideerzeugung, wodurch die Kontrolle über den ägyptischen Markt zu einer Schlüsselfrage für die Herrschaft über die Mittelmeerwelt wurde. Ägypten selbst war nicht auf die Einfuhr landwirtschaftlicher Produkte angewiesen. Die Fruchtbarkeit des Landes aber war vom Nil abhängig, der wichtigsten Quelle für die Bewässerung. D a s Seleukidenreich umschloß Gebiete der verschiedensten Arten landwirtschaftlicher Erzeugung und war darauf angewiesen, Unterschiede durch den Handel im Inneren des Landes auszugleichen. Hier entstanden mit dem zunehmenden Zerfall des Seleukidenreiches Schwierigkeiten. b) Neuerungen in der landwirtschaftlichen Produktion In der hellenistischen Zeit wurde die landwirtschaftlich genutzte Fläche wesentlich vergrößert. In Griechenland wurden mehrere Versuche unternommen, Sümpfe trocken zu legen. Das gleiche ist aus Ägypten für den Fajjüm bezeugt. Es ist anzunehmen, daß die Seleukiden in Mesopotamien ähnliche Unternehmen veranlaßt haben. Techniker und Tiefbauingenieure wurden für solche Arbeiten vom König zur Verfügung gestellt. Außerdem kam durch die Gründung von neuen Städten und Siedlungen viel bisher ungenutztes Land in die H ä n d e der Siedler. Neue Ländereien wurden gleichfalls durch Verpachtung, Verkauf und Verleihung von Königsland an Einzelne zur Anlage von Landgütern erschlossen. Aus dem Seleukidenreich ist nichts bekannt über die Verbesserung der landwirtschaftlichen Methoden und die Verwendung besserer technischer Hilfsmittel. Die Seleukiden waren keine Wirtschaftsplaner wie die ägyptischen Könige. Es ist sicher, daß in dieser Hinsicht auf dem Land, das die griechischen Siedler bewirtschafteten, manches geschehen ist (etwa analog zu den Neuerungen in Ägypten), während sich bei den einheimischen Bauern, auf den Tempelländereien und auf den Großgütern, die in den H ä n den der alten Besitzer blieben, wenig änderte. Schon die persischen Könige hatten Pflanzen aus dem Osten in Kleinasien akklimatisiert; wahrscheinlich setzten die Seleukiden solche Versuche fort. Jedoch sind die persischen Obstbäume Aprikose, Pfirsich und Kirsche erst in römischer Zeit auf dem Umweg über Italien in der Mittelmeerwelt heimisch geworden. Auch die meisten Citrusfrüchte wurden erst in der Kaiserzeit heimisch gemacht.
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Über Ägypten sind mehr Nachrichten erhalten. Die Griechen brachten Eisengeräte, durch die die bisher in Ägypten üblichen Holzgeräte ersetzt wurden (Pflugscharen, Hacke, Schaufel). Auch die Konstruktion der später und heute mit dem arabischen Wort Sakijeh bezeichneten Wasserschöpfmaschine geht auf die Ptclemäer zurück; sie erlaubte eine effektivere Bewässerung als die bis dahin gebräuchliche Handbewässerung. Auch waren Maschinen zur Verarbeitung der Erntefrüchte vorhanden, die auf griechische Erfindungen zurückgingen oder durch die Griechen verbessert wurden. Eine Reihe neuer landwirtschaftlicher Produkte wurde von den Ptolemäern eingeführt oder die schon vorhandene Produktion verbessert oder erweitert. Neue Obst-und Gemüsesorten wurden im Lande heimisch gemacht (Äpfel, Nüsse, Knoblauch und bessere Gemüsesorten). In der Zeit der Pharaonen wurde nur sehr wenig Wein produziert (das ägyptische Nationalgetränk war Bier); die Anbaufläche wurde vergrößert und dazu Weinreben aus Griechenland und Kleinasien eingeführt. Oliven waren bisher wesentlich als zum Verzehr bestimmte Früchte angebaut worden; die Ptolemäer sorgten dafür, daß forthin genug Olivenöl produziert wurde, um damit den eigenen Bedarf an Pflanzenölen zu decken (Importzölle bis zu 5 0 % lagen auf Olivenöl ausländischer Herkunft). Schafherden kleinasiatischer und arabischer Herkunft wurden eingeführt, damit bessere Wolle produziert wurde, auf die die Griechen, aus der Heimat an Wolle gewöhnt, nicht verzichten wollten. Für die Zucht von Schweinen, Pferden und Eseln wurden Zuchttiere aus anderen Ländern nach Ägypten gebracht. Die Könige versuchten auch, ägyptische Produkte in anderen Ländern heimisch zu machen, die unter ihrer Herrschaft standen. So kamen typisch ägyptische Pflanzen wie Bohnen, Linsen, Senf und Kürbisse zu jener Zeit nach Südsyrien und Palästina. In Pergamon griffen, nach dem ptolemäisch-ägyptischen Modell, die Herrscher selbst in die Planung und Ausführung der landwirtschaftlichen Bestellung ein. Sie versuchten, die Bewirtschaftung zu rationalisieren und die Erträge zu steigern. Ebenso zeigten sie Interesse an der Verbesserung der Rassen in der Viehzucht. Wegen ihrer Gestüte waren die pergamenischen Könige berühmt.
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6. Handwerk und Industrie R.J.FORBES, S t u d i e s in A n c i e n t T e c h n o l o g y I - I X , 1 9 5 5 - 1 9 6 4 .
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30-66.
a) Bergwerke und Metallindustrie Der Bedarf an Metallen, vor allem Gold, Silber und Kupfer (zur Bronzeherstellung) und Eisen, war in den hellenistischen Staaten sehr groß, aber auf die bekannten Quellen der Erzgewinnung beschränkt. Viel lag deshalb daran, neue Fundstellen zu erschließen; schon Alexander führte in seinem Heer Schürfmeister mit, die den Auftrag hatten, nach neuen Erzvorkommen zu suchen. In Griechenland waren die Erzlager meist erschöpft; die Griechenstädte waren schon in der klassischen Zeit auf den Import von Eisen angewiesen. Makedonien besaß allerdings in den thrakischen Gruben noch Reserven (auch Gold) und konnte einen großen Teil seines Bedarfs selbst decken. Ägypten besaß reiche Vorräte an Erzen, solange es noch über seine Besitzungen in Südsyrien und Kleinasien verfügen konnte. Eisen und Kupfer gab es in Cypern und Palästina (die Kupferbergwerke der Sinaihalbinsel wurden wegen der größeren Ergiebigkeit der Minen auf Cypern aufgegeben); Gold kam aus den Bergwerken des südlichen Ägyptens und Nubiens. Das Seleukidenreich besaß zahlreiche, über das riesige Land verstreute Fundstätten. Gold bezogen die Seleukiden aus Sibirien; doch nach
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der Erhebung der Parther erreichte dieses Gold nur noch Baktrien. Vom Silber aus den Bergwerken Kleinasiens waren die Seleukiden nach dem Verlust der westlichen Provinzen ebenfalls abgeschnitten, und die dortigen Eisenerzgruben kontrollierten die kleinasiatischen Könige, so daß die Seleukiden schließlich nur noch die Kupfer-und Eisenvorkommen des einst ägyptischen südlichen Syriens besaßen. Die Bergwerkstechnik blieb in der ganzen hellenistischen und römischen Zeit dieselbe, wie sie schon aus dem 4.Jh.vChr aus den gut erforschten Bergwerken von Laurion in Attika bekannt ist. Für die Bergarbeiter wurde sehr wenig getan. Freie Arbeiter gab es daher kaum. Meist wurden Sklaven, Gefangene und Verurteilte verwendet, daneben wohl auch die einheimische Bevölkerung zwangsverpflichtet. Die Methoden der Metallverarbeitung waren schon vor der hellenistischen Zeit auf einem hohen Stand. Die Verarbeitung wurde nicht industrialisiert, sondern blieb in den Händen kleiner Familienbetriebe. Doch hatten sich manche von ihnen auf die Herstellung von jeweils nur wenigen Artikeln spezialisiert. Wegen des großen Bedarfs an Kriegsmaterial ging es bei der Eisenverarbeitung in erster Linie um die Herstellung von Waffen als Massenartikel, die von den Königen in ihren Magazinen in großen Mengen gelagert wurden. Ebenso wurden Haushaltsgeräte als Massenware hergestellt. Der beste Stahl kam aus Kleinasien; für Herstellung noch besserer Stahlwaren blieb aber Indien während des ganzen Altertums berühmt (auch der später bekannte Damaszenerstahl war indischer Herkunft). In Ägypten stand schon in der vorhellenistischen Zeit die Herstellung von Gold-, Silber-und Bronzegefäßen in hoher Blüte. Der Eigenbedarf Ägyptens konnte anfangs aus eigener Produktion gedeckt werden; manches wurde auch exportiert, obgleich Ägypten hier die Konkurrenz der alten Herstellungszentren spüren mußte, die in Syrien und im Gebiet des östlichen Kleinasiens und Armeniens lagen, vor allem bei den berühmten Chalybern am südöstlichen Ufer des Pontos. Aber auch die persische Toreutik lebte fort und beeinflußte den hellenistischen Stil sehr stark. b) Textilien Die Herstellung der meisten Gebrauchstextilien blieb den Haushalten vorbehalten. Im übrigen waren es Klein- und Familienbetriebe, die lokal die Nachfrage befriedigten. Export gab es nur bei fei-
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neren Stoffen und Luxusartikeln. Die Art der Herstellung blieb an die althergebrachten Methoden gebunden, und technische Neuerungen sind aus der hellenistischen Zeit nicht bekannt. Eine Ausnahme bildet der aus Ägypten stammende vertikale Webstuhl, der zu Beginn der römischen Zeit auch in Italien und Griechenland gebräuchlich geworden war. Daß man sich intensiv mit Methoden zum Färben von Stoffen beschäftigte, beweisen die Bücher des Philosophen Bolos von Mendes ( 2 . J h . v C h r ) über das Färben mit Rezepten zur Nachahmung kostbarer Farben und Stoffe. Diese Bücher wurden vielfach abgeschrieben und exzerpiert und später in der Pseudowissenschaft der Alchimie wieder aufgenommen. Die Länder des Ostens waren in der Herstellung von Textilien führend. Vorhellenistische Traditionen lebten dabei fort. Aus Griechenland stammte nur die Verbesserung und weitere Verbreitung der Wollerzeugung, die den Bedürfnissen der griechischen Einwanderer entsprach. In Ägypten wurde Flachs angebaut, der in anderen Ländern knapp war. D e r als Byssos bekannte feine Leinenstoff kam aus den königlichen Webereien Ägyptens und, wie schon früher, aus den Tempelwebereien. Er war begehrt und weithin berühmt. Die Ornamente und Motive waren aber nun meist griechisch und nicht mehr ägyptisch. Gesuchte Exportartikel waren ägyptische und babylonische Teppiche. Seide wurde seit der Zeit Alexanders regelmäßig aus China importiert, in Phönizien weiterverarbeitet und von dort in die Länder des Westens verkauft. Eine eigene Seidenherstellung entwickelte sich in kleinem Umfang auf Kos. Die hier hergestellten Seidenstoffe (nicht mit der echten chinesischen Seide identisch) waren als „koische S t o f f e " bekannt. Sie wurden in größeren Werkstätten hergestellt, in denen Sklavinnen die meiste Arbeit verrichteten. Die pergamenischen Könige förderten eine Verfeinerung und Intensivierung der Textilherstellung. Einige kleinere Städte ihres Bereiches produzierten Teppiche für den Export. V o r allem aber war Pergamon berühmt durch seine Erzeugung von Vorhängen und golddurchwebten Brokaten. Ihre Herstellung fand in größeren königlichen Betrieben statt, in denen Sklaven, vor allem Frauen, beschäftigt wurden. c) Keramik und Glas Gebrauchsartikel wurden in der Keramik von lokalen Töpferwerkstätten produziert und an O r t und Stelle verkauft. Künstlerisch gestaltete Keramik kam zunächst meist aus den alten griechi-
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sehen Städten. Im 3.Jh.vChr war der Export dieser Artikel noch sehr lebhaft, aus Griechenland in alle Länder des Ostens, aus Süditalien vor allem nach Ägypten. Bald aber wurden im Osten Nachahmungen der griechischen Formen und Dekorationen produziert. Dann traten einheimische Formen an deren Stelle. Die ägyptisierten griechischen Formen exportierte Ägypten mit großem Erfolg. Am Beginn der hellenistischen Zeit war die bis dahin vorherrschende rotfigurige attische Keramik durch schwarzgefirnißte Ware ohne Bildmuster ersetzt worden. Dazu traten hellgrundige Gefäße mit verschiedenen Ornamenten. Aber wertvolle Gefäße waren nicht mehr sehr gefragt, weil hier die Toreutik der Keramik den Rang abgelaufen hatte. Gold-, Silber- und Bronzegefäße mit kunstvollen Reliefs zierten überall die Häuser der Reichen. Davon beeinflußt ist die seit etwa 250vChr aufkommende Reliefkeramik, in der die Toreutik nachgeahmt wird. Unter orientalischem Einfluß trat daneben die Fayence-Keramik (gebrannte Sandsteingefäße, die mit einem Uberzug aus Glas versehen waren). Glas wurde in Griechenland kaum erzeugt, obwohl es dort schon lange bekannt war. Aber die meisten Glasprodukte lieferten Ägypten und Phönizien. Ägypten war ein uraltes Zentrum der Glasherstellung. Von den Ptolemäern wurde diese Industrie erneuert und gefördert, insbesondere die Herstellung von Luxusgegenständen (Vasen und Schalen) und von Schmuckperlen (als Ersatz für Edelsteine), die fast ausschließlich exportiert wurden. Aus dem Seleukidenreich ist die Fortführung der persischen Tradition der Herstellung von Goldglasschalen in Syrien bekannt. Durchweg handelte es sich hier um beim Erstarren der Schmelze geformtes Glas. Die Erfindung des Glasblasens fällt erst in den Beginn der römischen Zeit. Sie revolutionierte die Glasverarbeitung und machte es möglich, daß fortan in den Zentren der Glasherstellung (Italien, Syrien und Ägypten) große Mengen billiger Gebrauchsartikel aus Glas für den Export produziert werden konnten. d) Schreibmaterial und Bücher In der Antike wurden die verschiedensten Materialien als Schreibmaterial verwendet: Holz, Stein, Wachs-und Tontafeln, Tonscherben (Ostraka), verschiedene Metalle (in Qumran hat man eine Kupferrolle gefunden). Aber nur Leder (Pergament) und Papyrus fanden in der hellenistischen und römischen Zeit weite Verwendung und wurden kommerziell hergestellt. Die Frage, ob man ent-
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weder das eine oder das andere benutzte, hing mit der Wirtschaftspolitik der hellenistischen Könige zusammen. Ägypten, das Erzeugungsland des Papyrus, besaß ein Papyrusmonopol, produzierte dieses Material in großen Mengen und verschiedenen Qualitäten vom hochfeinen Luxuspapier bis zum groben Packpapier und sorgte dafür, daß Papyrus ziemlich preiswert ins Ausland exportiert werden konnte. Allerdings gab es gelegentlich von anderen Ländern verhängte Beschränkungen der Einfuhr, so längere Zeit in Syrien, später in Pergamon. Im Seleukidenreich wurde daher das auch sonst überall bekannte Leder (oder Pergament, darüber s.u.) als Schreibmaterial gebraucht. In der Produktion dieses Materials war das Seleukidenreich autark und mußte ein Interesse daran haben, nicht von der ägyptischen Papyrusproduktion abhängig zu werden. Papyrus wurde aus dem Mark der Papyrusstaude hergestellt, einem 4-5 m hohen Schilfrohrgewächs, das in den Flachwasser- und Sumpfgebieten des Nildeltas gedieh. Der etwa 5 cm starke Stamm wurde in Abschnitte von ungefähr 30 cm Länge zerlegt, die der Länge nach aufgeschnitten wurden. Dann zerschnitt man das weiche Mark des Stammes in dünne Streifen und legte diese auf einer festen Unterlage dicht nebeneinander. Darauf kam eine zweite Schicht, in der die Papyrusstreifen im rechten Winkel zur ersten Schicht lagen. Das Ganze wurde dann gepreßt oder mit einem Hammer geklopft, bis ein festes Blatt entstand. Der Saft der Staude wirkte dabei als Klebstoff. Auf der Schriftseite liegen die Streifen von rechts nach links, parallel zur Schrift; diese Seite nennt man recto. Die Rückseite (verso) konnte ebenfalls beschrieben werden, doch war das mühsamer, weil hier die Streifen quer zur Schrift lagen. Papyrus eignete sich wegen der unterschiedlichen Qualität der Vorder- und Rückseite eher zur Herstellung von Rollen als von Kodizes. Bei Leder bzw. Pergament als Schreibmaterial handelt es sich um die besonders zubereitete Haut von Rindern, Eseln, Schafen und Ziegen. Für die Herstellung des feinsten Pergaments benutzte man die Haut von neugeborenen Tieren. Die Haut wurde nicht gegerbt, sondern mehrere Tage in ein Kalkbad gelegt, danach von den Haaren befreit, gereinigt, gespannt und getrocknet, schließlich mit Bimsstein und Kreide bearbeitet. Wie beim Papyrus gab es die verschiedensten Qualitäten. Die Einführung einer besonderen Bearbeitungsmethode wurde EumenesII. von Pergamon zugeschrieben.
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Davon ist der Name „Pergament" abgeleitet. Plinius d. Ä. berichtet in seiner Naturgeschichte (Hist.Nat. 13,21f), daß EumenesII. für die neue Bibliothek in Pergamon große Mengen von Papyrus aus Ägypten kommen lassen wollte; jedoch habe der ägyptische König (PtolemaiosV.), eifersüchtig auf dieses Unternehmen, daraufhin ein Papyrus-Embargo gegen Pergamon verhängt und dadurch Eumenes gezwungen, sich nach einem anderen Material für die Herstellung der Bücher für seine Bibliothek umzusehen. So berühmt diese Geschichte auch sein mag - die pergamenischen Könige hatten ein Interesse daran, wirtschaftlich von Ägypten unabhängig zu sein. Außerdem ist bekannt, daß sie auf anderen Gebieten zur Förderung und Verfeinerung der industriellen Produktion beigetragen haben. So produzierte Pergamon das Pergament in der T a t nicht nur in großen Mengen für den Aufbau der eigenen Bibliothek, sondern auch für den Export. Das in der hellenistischen Zeit benutzte Buchformat war die Schriftrolle. Zu ihrer Herstellung wurden mehrere Papyrusblätter nebeneinandergeklebt bis man die übliche Breite erreicht hatte. Bei Verwendung von Pergament nähte man die erforderlichen Stücke zusammen. Die übliche Breite einer Buchrolle war 6-10 m, ihre Höhe 25-30 cm. Die Rolle wurde in Kolumnen möglichst gleicher Zeilenzahl und Breite beschrieben; oben und unten ließ man die Ränder frei, ein entsprechender Abstand blieb zwischen den Kolumnen (hier finden sich oft Verbesserungen und Marginalien). Von der Tätigkeit des Rollens bei der Benutzung dieser Bücher ist die lateinische Bezeichnung „volumen" hergeleitet. Aus der natürlichen Begrenzung der Rollenbreite - sonst wären die Rollen zu unhandlich geworden - ergab sich die Einteilung der Werke antiker Autoren in „Bücher". Die größeren Bücher des Neuen Testaments haben bei normaler Schriftgröße jeweils Platz auf einer Schriftrolle. Für Lukas ergab sich schon von hier aus die Notwendigkeit, sein umfangreicheres Werk in zwei Bücher einzuteilen. In der frühchristlichen Zeit kam anstelle der Rolle der Kodex auf, der leichter zu handhaben war als die umständliche Rolle. Zu seiner Herstellung wurden mehrere Blätter aufeinandergelegt, in der Mitte gefaltet und die Lagen zusammengeheftet. Dazu war Papyrus weniger geeignet als Pergament, weil er in der Mitte leicht brechen konnte (daher wurde der Falz oft durch Pergament verstärkt) und weil nun auch die Rückseite des Papyrus mitbeschrieben werden mußte, was bei Papyrusrollen meist nicht geschah (es
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gibt auch dafür Beispiele, die man „Opistographen" nennt). Es ist möglich, daß es die Christen waren, die zuerst mit der Herstellung und Verwendung von Kodizes begannen, und zwar aus praktischen und liturgischen Gründen. V o n den aus dem 2 . J h . gefundenen Büchern enthält die Mehrzahl der Kodizes christliche, die Mehrzahl der Schriftrollen heidnische Texte. Es ist auffallend, daß sich selbst bei der Verwendung von Papyrus für die Abschrift neutestamentlicher Bücher, anders als bei den literarischen Papyri, bis ins 4 . J h . n C h r ausschließlich die Form des Kodex findet. Obgleich bei den gebildeten Heiden noch lange die Papyrusschriftrolle als die vornehmere Form des Buches galt, setzte sich doch der Pergament-Kodex schließlich durch; er war dem Papyrus (und vor allem der Papyrusrolle) vielfach überlegen, praktischer, haltbarer, und das Material konnte mühelos auf beiden Seiten beschrieben werden. D a ß der Papyrus sich überhaupt als geläufiges Schreibmaterial soweit ausbreiten und solange halten konnte, geht letztlich auf die Wirtschaftspolitik der Ptolemäer zurück. Nicht nur war es für sie das billigste, den Papyrus, der schon immer in Ägypten gebräuchlich war, für den ungeheuren Bedarf in ihrer eigenen V e r waltung zu verwenden (für den Schriftverkehr mit Beamten, Steuerlisten, Statistiken, Urkunden, Verträge); es lohnte sich für sie auch, den Export zu fördern und damit ihre Außenhandelsbilanz zu verbessern. Nachdem die Verwendung von Papyrus in der Mittelmeerwelt erst einmal in Mode gekommen war, erhielt sich seine Vorrangstellung noch lange. Erst durch das Aufkommen des Kodex als gebräuchlichere Form - und daran hatten die Christen einen erheblichen Anteil - wurde das hierfür weit besser geeignete Pergament das gebräuchlichste Schreibmaterial, bis es im hohen Mittelalter schließlich von dem aus China bekanntgewordenen Papier verdrängt wurde. Die kommerzielle Herstellung von Büchern gab es schon im klassischen Griechenland. In Skriptorien schrieb jeweils eine Anzahl von Berufsschreibern nach Diktat (hieraus resultieren eine ganze Reihe von Schreibfehlern und Textverderbnissen, mit denen der Textkritiker vertraut ist) und wurde nach der geschriebenen Zeilenzahl entlohnt. Später wurden hierzu oft Sklaven verwendet. Bei dieser Buchproduktion benutzte man die Unzialschrift, d.h. stilisierte Großbuchstaben, die sorgfältig voneinander getrennt geschrieben wurden, jedoch ohne Worttrennung. Im normalen Schriftverkehr schrieb man Kursivschrift, in der jeweils mehrere
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Gruppen von Buchstaben zusammengeschrieben sind. Ebenso müssen auch die uns nicht mehr erhaltenen Autographen ausgesehen haben. Die Buchpreise waren von den Kosten des Schreibmaterials abhängig, außerdem von der Menge der Illustrationen und von der Kostbarkeit des Einbands. Illustrationen sind erstmalig aus dem l . J h . n C h r bezeugt und waren in der Spätantike sehr verbreitet. Benutzt wurden sie wohl schon in der hellenistischen Zeit, etwa bei Lehrbüchern für Handwerker. Seit der hellenistischen Zeit gab es auch das Autorenbild als Bestandteil des Buches. Die Blütezeit der kommerziellen Buchproduktion war die römische Kaiserzeit. Die Verbreitung christlicher Schriften hatte daran teil. 7. Handel, Geld- und Bankwesen J.HASEBROECK, Staat und Handel im alten Griechenland: Untersuchungen zur antiken Wirtschaftsgeschichte, 1928. E.ZIEBARTH. Beiträge zur Geschichte des Seeraubs und Seehandels im alten Griechenland, 1929. Ders., Der griechische Kaufmann im Altertum, 1934.
Zuc: K.CHRIST, Antike Numismatik: Einführung und Bibliographie, 1972.
a) Die wichtigsten Handelsinteressen Fernhandel und Geldwesen hatten sich bis zum 6.Jh.vChr in der Mittelmeerwelt voll entwickelt. Der Handel der Phönizier, Karthager, Etrusker und Griechen reichte vom Atlantik bis nach Indien. Durch die Eroberungen Alexanders ergaben sich grundlegende Veränderungen insofern, als weite Gebiete, die bisher zum Fern- und Außenhandel gehörten, jetzt zu einem bzw. mehreren Gebieten des Binnenhandels zusammengeschlossen wurden. Auch beim Handel zwischen den verschiedenen hellenistischen Reichen muß man von einem Binnenhandel reden, dessen Handelszentren die von den großen Reichen teilweise unabhängigen Städte wie Milet, Rhodos, Delos und Athen waren. Die Außenhandelspartner dieses großen Gebietes der hellenistischen Reiche, zu denen bald auch Rom trat und das also vom westlichen Mittelmeer bis über den Euphrat hinaus reichte, waren Völker einer völlig anderen Kultur und Wirtschaftsstruktur, mochten auch hier und dort hellenistische Einflüsse zu ihnen gelangt sein. Im Osten waren diese Partner die Inder (in gewissem Sinne später auch die Parther), im Süden die Völker der arabischen Halbinsel und die Lybier, Nubier und Athio-
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pier in Afrika, im Westen und Norden die Völker Mittel- und Westeuropas (Illyrer und Kelten), sowie im Nordosten die Skythen und Sarmaten. Im Gebiet des Binnenhandels wurde Rom nicht nur im Laufe der Zeit die politisch und militärisch dominierende Macht, es spielte auch als hellenisierte Wirtschaftsmacht eine zunehmend stärkere Rolle. Im Außenhandel herrschte der Verkehr mit Luxusgütern vor: Kostbare Steine und Perlen, wertvolle Textilien (Seide und Baumwolle), Weihrauch, Salben und Kosmetika, seltene Hölzer und Elfenbein. Hingegen wurden wichtige Nahrungsmittel und Verbrauchsgüter höchstens im unmittelbaren nachbarlichen Grenzverkehr mit diesen Völkern gehandelt, während sie sonst dem Binnenhandel vorbehalten blieben. Am Anfang war der Handel mit Lebensmitteln und Verbrauchsgütern für den Binnenhandel unter den hellenistischen Ländern außerordentlich wichtig. D a s lag einerseits am Getreidebedarf der griechischen Städte, andererseits daran, daß Ägypten und das Seleukidenreich zunächst noch darauf angewiesen waren, den Bedarf an vielen Verbrauchsgütern aus der Produktion der griechischen Heimat zu decken. Doch das änderte sich rasch; denn die Könige wollten ihre Länder nicht nur hinsichtlich des Bedarfs an Lebensmitteln, sondern auch in Bezug auf sonstige Massenverbrauchsgüter autark machen. Während der Handel innerhalb der großen Reiche fortblühte, stellte dieses Streben nach Autarkie für den Handel zwischen den einzelnen Reichen und Städten ein wesentliches Hindernis dar. Zu einer wirklichen Autarkie ist es allerdings nie gekommen. Selbst Ägypten war immer noch auf die Einfuhr von Erzen und H o l z angewiesen, und der Rückgang des seleukidischen Reiches ließ den Bedarf an der Einfuhr lebensnotwendiger Güter wieder steigen. Doch entwickelte sich in diesem Binnenhandel eine Tendenz zu spezialisierten Artikeln besonderer Qualität: Spitzenweine, feinstes Olivenöl, Erzeugnisse der Keramik und Toreutik von besonderer Schönheit, usw. Gegen Ende der hellenistischen Zeit wurde der Binnenhandel durch den Sklavenhandel kräftig belebt. Die Städte Griechenlands waren auf die Einfuhr von Getreide, H o l z und E r z angewiesen. Ihren eigenen Export zu steigern, fiel ihnen zunehmend schwer, so daß der Mangel an Rohstoffen und Lebensmitteln in Griechenland chronisch wurde. Freilich gelang es einigen Städten und Inseln, sich einen erheblichen Anteil am Transithandel zu sichern; denn die Ägäis war im 3.und 2.Jh.vChr das
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Zentrum des Welthandels und verlor auch in der römischen Zeit nur wenig an Bedeutung. Ägyptens Versuch, die Rolle Athens in der Kontrolle des Handels der Ägäis zu übernehmen, gelang nur teilweise und nur für eine begrenzte Zeit. Athen blieb eine wichtige Handelsstadt, Rhodos spielte auch während der ägyptischen Herrschaft in der Agäis eine überragende Rolle, Delos war später, insbesondere durch römische Unterstützung, fast ebenso wichtig; Ephesus und Milet waren nur zeitweise von den Ägyptern beherrscht und gewannen sich ihre alte Stellung bald wieder zurück. Ägypten importierte Metalle, Bauholz (für die Flotte), Pferde und Elefanten (für das Heer). Gold, Elfenbein und Elefanten kamen aus Ostafrika auf dem Seeweg über die Häfen am Roten Meer, aber auch über Nubien und auf dem Weg über den Nil. Gelegentlich wurden Sklaven aus Afrika importiert. Aus Arabien bezog Ägypten Narden, Perlen und Korallen, aus Indien Schildpatt, Farben (Indigo), Reis, Gewürze, Baumwolle und Seide (über die Handelswege s.u.). Für die Einfuhr von Bauholz und Erzen war Ägypten von anderen Handelsmächten des Mittelmeeres abhängig. An Importen kamen trotz hoher Schutzzölle für die eigene Produktion auch solche Güter wie feines griechisches Olivenöl ins Land. Die Hauptexporte Ägyptens waren Getreide und Papyrus. Dazu suchte Ägypten, sich auch einen Anteil am Transithandel der aus Indien importierten Güter zu sichern, die über Alexandrien in andere Länder des Mittelmeeres weitergesandt wurden. Sehr viel weniger ist über den Handel des Seleukidenreiches bekannt. Der Bedarf an Luxusgütern war wohl etwa der gleiche wie der Ägyptens. Außerdem versteht es sich von selbst, daß der Anteil der Seleukiden am Transithandel mit Luxusgütern aus dem Osten erheblich war, wenn sie hier auch mit Ägypten und den Ländern und Städten am Schwarzen Meer konkurrieren mußten. In der römischen Zeit trat nur insofern ein Wandel ein, als der Bedarf an Luxusgütern in Rom und in Italien stieg, wodurch die Handelsstädte der östlichen Mittelmeerwelt erheblich profitierten. b) Die wichtigsten Handelsstraßen Bei den Handelsstraßen spielten einmal die Seewege eine Rolle, und zwar die des Mittelmeeres und des Schwarzen Meeres ebenso wie der neu eröffnete Seeweg nach Indien, zum anderen die Landwege, die durchweg Karawanenstraßen waren. Daneben kam der Flußschiffahrt untergeordnete Bedeutung zu; nur der Nil und
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Euphrat und Tigris wurden in größerem Umfang vom Handel benutzt. Die Gefährdungen dieser Handelsstraßen waren vielfältig. Von kriegerischen Auseinandersetzungen wurde der Handel immer wieder bedroht. Der Karawanenhandel, der große Wüstenstrecken zu überwinden hatte, war räuberischen Überfällen ausgesetzt und auf militärischen Schutz angewiesen, den die Karawanen sich unter Umständen selbst beschaffen mußten. Auf den Seewegen des Mittelmeeres war das Piratenunwesen zeitweise so stark, daß der Handel überhaupt in Frage gestellt wurde; während der gesamten hellenistischen Zeit gelang es niemals, dem Piratenunwesen ganz ein Ende zu machen. Die Karawanenstraßen aus dem Osten endeten an verschiedenen Punkten des östlichen Mittelmeeres oder des Schwarzen Meeres. Von dort aus wurden alle Waren per Schiff weiterbefördert, dabei zum Teil noch mehrfach umgeschlagen, bis sie ihren Bestimmungspunkt erreichten. Die nördlichste Karawanenstraße verlief nördlich des Kaspischen Meeres an das Schwarze Meer (später war dies eine der chinesischen Seidenstraßen). Sie wurde nicht von den Seleukiden kontrolliert und gewann mehr und mehr an Bedeutung, als die unsicheren Verhältnisse im Seleukidenreich ein zu großes Risiko darstellten. Eine weitere nördliche Straße, die südlich des Kaspischen Meeres zur Ostküste des Schwarzen Meeres verlief und nur teilweise von den Seleukiden, teils von den Parthern und teils von den pontischen Königen kontrolliert wurde, war weniger beliebt. Weiter im Süden lagen die alten Straßen, die Indien mit Babylon verbanden, eine nördliche durch Baktrien und eine südliche durch Gedrosien und die Persis. Beide Wege führten in der hellenistischen Zeit zum Handelsknotenpunkt und Umschlagplatz Seleukia am Tigris. Solange die Seleukiden im Osten herrschten, wurden diese Straßen aus militärischen Gründen unterhalten und gesichert. Von hier aus war der Zugang zu den Seewegen im Mittelmeer anfänglich schwierig, da Ägypten zeitweise sogar den Hafen Seleukia in Pierien kontrollierte. Später benutzte man entweder den Weg, der über den Oberlauf des Euphrat durch Syrien nach Antiochien führte - auf diesem Wege drang später das Christentum nach Osten - , oder die Straßen über Palmyra und Damaskus zu den phönizischen Küstenstädten. Die südlichste Straße führte auf dem Seeweg von Indien zum persischen Golf. Die Frage war nur, wer von hier aus bis zum Mittelmeer den Transithandel kontrollierte. Die Handelsleute bevorzugten den Weg vom persi-
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sehen Golf quer über die arabische Halbinsel durch das Gebiet der Nabatäer zum Roten Meer, zum Mittelmeer oder über die Sinaihalbinsel nach Ägypten. Solange Ägypten gute Beziehungen zu den Nabatäern hatte und auch im Besitz der südphönizischen Handelsstädte am Mittelmeer war, erhielt es auf diese Weise einen wichtigen Anteil am Transithandel. Jedoch versuchten die Seleukiden, möglichst viel von den am persischen Golf eintreffenden Gütern über Seleukia am Tigris abzuleiten, und später konnten die Parther den Handelsweg am persischen Golf unterbrechen. Die Kriege der Römer mit den Parthern um den Besitz Mesopotamiens drehten sich auch um die Frage der Kontrolle dieses wichtigen Handelsweges. Außerdem mußte zunächst den Ptolemäern und später den Römern daran gelegen sein, den direkten Seeweg nach Indien offen zu halten. Unter Ausnutzung der Monsumwinde war den ägyptischen Seeleuten die Eröffnung dieses direkten Seeweges nach Indien von der ägyptischen Küste des Roten Meeres um die arabische Halbinsel herum gelungen. Durch die Wiedereröffnung des Kanals vom Roten Meer zum Nil konnten Waren per Schiff bis nach Alexandria transportiert werden. Für den Handel mit dem westlichen Mittelmeer kam zunächst nur der Seeweg in Frage. Unter den griechischen Städten war es vor allem Korinth, das den Handel mit dem Westen betrieb; nach der Neugründung Korinths durch Caesar wurde diese Stadt wiederum der wichtigste Umschlagplatz zwischen Ost und West. Enge Handelsbeziehungen bestanden natürlich schon lange zwischen Karthago und seiner Mutterstadt Tyros an der phönizischen Küste. Während der hellenistischen Zeit wurde dieser Seeweg zunehmend wichtig, um die Luxusgüter aus Indien und Arabien durch die Schaffung neuer Märkte im Westen absetzen zu können und um den Bedarf an Rohstoffen in den hellenistischen Ländern zu ergänzen; so kam Schwefel aus Süditalien, Silber aus Spanien und Zinn aus Britannien. Mehr und mehr wurde freilich dieser Seeweg und der gesamte Handel mit dem Westen durch die wachsende Macht und die Wirtschafts- und Handelsinteressen Roms bestimmt. Auf der anderen Seite brachte dies eine Ausweitung des Binnenhandels, da die Römer durch ihre Eroberungen im Westen und durch ihren zunächst militärischen Zwecken dienenden Ausbau des Straßennetzes auch Westeuropa dem Handel der Mittelmeerwelt direkt zugänglich machten.
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Gesellschaft und Wirtschaft
§2
c) Geld- und Münzwesen Vor der Eroberung des Ostens durch Alexander befand sich das Währungswesen der Alten Welt in einem chaotischen Zustand. Verschiedenste Gold-und Silberwährungen waren in Gebrauch, und ein einheitlicher Münzfuß war nicht vorhanden. Alexander erklärte das Silber zur Reichswährung und führte für alle Prägungen den attischen Münzfuß ein. Geld war am Anfang reichlich vorhanden, und die Verhältnisse blieben, abgesehen von den Unruhen der Diadochenzeit, ziemlich stabil. Eine spürbare Abnahme des verfügbaren Silbergeldes trat erst gegen Ende der hellenistischen Zeit ein. Man nimmt an, daß eine ganze Reihe von Gründen zu diesem Niedergang beitrugen: das Abnehmen der Förderung von Edelmetallen, die Hortungen und der Abfluß des Geldes nach Rom. Geprägt wurde Geld von jedem Staat, jeder Stadt und jedem Bund, sobald diese politische Unabhängigkeit für sich in Anspruch nahmen. Maßgebend für die Währungspolitik waren freilich nur die großen Reiche und die unabhängigen mächtigen Handelsstädte. Fast alle hielten sich jedoch an den attischen Münzfuß und den Silberstandard; die einzige Ausnahme bildete Ägypten. Wie alle anderen Staaten der hellenistischen Welt benutzte auch Ägypten anfänglich den attischen Münzfuß. Aber noch unter PtolemaiosII. Soter wurde das Gewicht der Silbermünzen verringert und der Münzfuß verkleinert, so daß er mit dem in den phönizischen Staaten gebrauchten Münzfuß fast übereinstimmte. Geprägt wurde dieses neue Silbergeld in den führenden phönizischen Städten, und es fand fast ausschließlich in den ptolemäischen Besitzungen außerhalb Ägyptens Verwendung. Für den Gebrauch in Ägypten selbst wurde Kupfer geprägt, nicht als Notgeld sondern als normales Gebrauchsgeld (die Ägypter waren freilich an den Gebrauch des Kupfers gewöhnt). So besaß Ägypten faktisch ein trimetallisches System: Goldmünzen, die nur für den Außenhandel, Hilfsgelder usw. verwendet wurden, Silbergeld für den Gebrauch in den überseeischen Besitzungen und Kupfergeld für das Inland. Außerdem erzwangen die Ptolemäer den ausschließlichen Gebrauch ihres Geldes in ihrem gesamten Herrschaftsbereich. Ausländisches Geld (vor allem Gold) wurde vom inländischen Markt verbannt. Im Seleukidenreich wurde nichts an den durch Alexander geschaffenen Verhältnissen geändert. Der attische Münzfuß blieb
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maßgebend. Münzen wurden in Gold, Silber und Kupfer geprägt und in Umlauf gesetzt. Doch handelte es sich hier nicht um ein trimetallisches System wie in Ägypten. Vielmehr prägten die königlichen Münzstätten überall im Lande Gold-und Silbermünzen. Goldprägungen wurden bald eingestellt und fanden nur noch zu besonderen Anlässen statt. Kupfer diente zum lokalen Verkehr, und einige Städte, sicherlich die Griechenstädte Kleinasiens, hatten das Privileg der selbständigen Kupferprägung. Andere Münzrechte wurden vorerst nicht verliehen. Unter AntiochosIV. Epiphanes änderte sich das; er verlieh an einige Städte das Recht, königliche Münzen selbständig zu prägen, und später wurden sogar eigene Prägungen erlaubt. Fremde Münzen waren nicht zur Bezahlung innerhalb des seleukidischen Herrschaftsbereichs zugelassen. Aber hier hat es in zunehmenden Maße Ausnahmen gegeben. Neben den seleukidischen Gold-und Silberprägungen gab es noch so etwas wie eine internationale Währung. Das waren posthume Prägungen Philipps II., Alexanders und des Lysimachos, die überall in der hellenistischen Welt (wiederum mit Ausnahme Ägyptens) im gleichen Fuß geprägt wurden. Rom erschien erst verhältnismäßig spät mit einer eigenen Münzprägung unter den Wirtschaftsmächten des Mittelmeeres. Neben den seit Jahrhunderten in Mittelitalien verwendeten gegossenen Bronzestücken prägte Rom seit dem Beginn des 3. Jh. vChr Silbermünzen, die sich an die Drachmen Großgriechenlands anlehnten. Während des 2.Punischen Krieges erschien der römische Silberdenar, der ungefähr der sizilischen Drachme und dem punischen Halbschekel entsprach. Die römische Währung wurde seitdem für ganz Italien und Sizilien maßgebend; lokale Prägungen hörten auf. Durch Augustus wurde schließlich ein trimetallisches Münzsystem stabilisiert, das bis zum 3. Jh. nChr das beherrschende Währungssystem des ganzen Reiches blieb: Während es zur Zeit der Republik Goldprägungen nur als Sonderemissionen gegeben hatte, wurde fortan der Aureus im Wert von 25 Silberdenaren zum regelmäßigen Bestandteil der Währung. Ein Silberdenar enthielt 16 Asse; Die Asse wurden aus Kupfer geprägt, die Zwischenwerte Sesterz ( = 4 Asse) und Dupondius ( = 2 Asse) aus einer Legierung von Kupfer und Zinn. Neben der Reichswährung gab es von den Kaisern kontrollierte Provinzialprägungen und - besonders im griechischen Osten - Lokalprägungen von Kupfergeld, aber auch gelegentlich von Silberdrachmen. Die Reichsprägungen der Kaiserzeit
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Gesellschaft und Wirtschaft
standen ganz im Dienste der kaiserlichen Propaganda. Die Münzen verkündeten Regierungsprogramme, wichtige politische Ereignisse (z.B. die Eroberung einer neuen Provinz), die Herrschertugenden des Kaisers und seine Wohltaten. Die zahlreichen Abbildungen von Göttern und Tempeln auf römischen Münzen sind religionsgeschichtlich von großer Bedeutung. d) Banken In älterer Zeit waren die Tempel und die Schatzhäuser der Könige die einzigen Banken. In der hellenistischen Zeit gab es außerdem die Banken der Städte, die selbst Münzen prägten, und vor allem die Privatbanken. Die letzteren hatten sich aus dem Geschäft des Geldwechseins entwickelt und wurden neben den Banken der Könige die wichtigsten Bankunternehmen der Zeit. Die Tätigkeiten dieser Banken waren vielfältig. Als Geschäfte des Geldwechseins entwickelten sie sich zu internationalen Verrechnungsbanken. Hinzu kamen Verwaltung von Einlagen (kurz-und langfristig, mit oder ohne Verzinsung), Uberweisungen, Darlehen und Hypotheken. Banken gab es in allen Handelsstädten. Das größte Bankzentrum war und blieb Athen. Außer den Privatbanken spielten in den Handelszentren auch die Tempelbanken eine Rolle. Das bekannteste Beispiel dafür ist der Apollotempel auf Delos. Der bestehende Reichtum des Tempels zog die Aufmerksamkeit der Ptolemäer auf sich, die ihn als ihre Hauptbank benutzten und Delos zum Vorort des von ihnen beherrschten Nesiotenbundes machten. Später haben Rhodos, Makedonien und Rom die delische Tempelbank benutzt. Tempelbanken schalteten sich nicht aktiv in die Handelsgeschäfte ein, wurden vielmehr von den im Handel engagierten Privatbanken zur Hinterlegung und Verwahrung größerer Beträge benutzt. Die Funktion der Tempel als Bankhäuser entstammt ja nicht primär ihrem Interesse am Geldgeschäft, sondern entspricht der Vorstellung der Unantastbarkeit alles dessen, was ein Heiligtum besitzt und verwahrt. Wie an den Handels-und Warenumschlagszentren des Seeverkehrs im Mittelmeer, so gab es auch Banken in den wichtigsten Karawanenstädten. Da Karawanen die Waren jeweils nur über eine begrenzte Strecke transportierten, mußten solche Bankhäuser dafür sorgen, daß für den Weitertransport neue Karawanen ausgerüstet und finanziert wurden. Ein Banksystem eigener Art entwickelten die Ptolemäer in Ägypten. Wie die übrige Wirtschaft, so waren auch die Banken zen-
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tralisiert. Das königliche Schatzamt hatte die Funktion der Landeszentralbank mit Zweigniederlassungen im ganzen Land. Diese Niederlassungen waren wahrscheinlich kaum von den örtlichen Zweigstellen der königlichen Verwaltung zu unterscheiden. Im ägyptischen Zentralbanksystem trat die schriftliche Abwicklung durchweg an die Stelle der mündlichen Absprache. Da die einzelnen Banken Teile ein und desselben Systems waren und sämtlich zur königlichen Zentralverwaltung gehörten, war auch die bargeldlose Uberweisung, lediglich durch Gutschrift auf ein anderes Konto, eine normale Form des Geldverkehrs. Einige dieser Elemente wurden in das römische Bankwesen übernommen. Vor allem aber haben die Römer eine voll ausgebildete Buchhaltung bei allen Banken des Reiches durchgesetzt.
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BILDUNG, SPRACHE, LITERATUR
Griechische Kulturgeschichte, 1 9 6 6 . Römische Kulturgeschichte, 1 9 6 1 . P. W E N D L A N D , Die hellienistisch-römische Kultur in ihren Beziehungen zum Judentum und Christentum, 4 1972 (mit Bibliographie von H. D Ö R R I E ) . C . S C H N E I D E R , Kulturgeschichte des HellenismusI-II, 1967-1969. W. N E S T L E , Griechische Geistesgeschichte von Homer bis Lukian, 2 1944. Μ. P. N I L S S O N , Die hellenistische Schule, 1955. F.CHAMOUX, P.GRIMAL,
1. Grundzüge des kulturellen und geistigen Lebens a) Die Öffentlichkeit der Kultur Grundlage der Öffentlichkeit des kulturellen und geistigen Lebens ist die Einrichtung von Schulen. In den hellenistischen Städten war die Elementarschule in der Regel eine Angelegenheit der städtischen Verwaltung, und die Gymnasien waren, wenn auch von Vereinen getragen, eine Verpflichtung der Öffentlichkeit. Ein dreistufiges Schulsystem bildete sich zuerst in den ionischen Städten heraus. In der Elementarschule, in der die Lehrer in den fortschrittlichen Städten von der Stadt bezahlt wurden, unterrichtete man die Schüler von ihrem 7. bis zum 14. Lebensjahr im Lesen und Schreiben, daneben in Musik und Sport. In einer Reihe von Fällen ist bekannt, daß Mädchen die gleiche Schulausbildung offenstand; auch die gemeinsame Unterweisung von Jungen und Mädchen ist gelegentlich bezeugt. Die Unterrichtsmethoden waren einfach: man begann mit dem Lernen der Buchstaben und ging von da aus weiter zum Lesen und Schreiben von Wörtern und Sätzen. Daneben wurde viel auswendig gelernt. In der römischen Kaiserzeit änderte sich an diesem Unterricht wenig; ein Rückschritt ist insofern zu verzeichnen, als bei den Römern auf der Elementarstufe der Lehrer privat bezahlt werden mußte. Die Weiterbildung erfolgte bei einem sogenannten Grammatiker, den die Eltern bezahlen mußten. Er gab Unterricht in Grammatik und in der Lektüre der Dichter; an der Spitze standen Homer und Euripides. Das blieb viele Jahrhun-
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derte lang so. Plutarch setzte sich im 1 .Jh. nChr mit dieser Vorrangstellung der Dichter im Unterricht kritisch auseinander. Vom 15. (oder vom 17.) Lebensjahr an gingen die jungen Männer für 1-2 Jahre ins Gymnasium (sogenannte Ephebie). Sport und vormilitärische Ausbildung standen hier im Vordergrund. Universitäten und Fachschulen gab es, mit Ausnahme der Medizin, nicht. Aber in den großen Städten (Rhodos, Pergamon, Alexandrien, Athen, u.a.) bestanden Rhetorenschulen, die aus öffentlichen Mitteln oder aus Stiftungen finanziert wurden. Meist war der Unterricht beim Rhetor privat und mußte vom Schüler (oder von seinen Eltern) bezahlt werden. Schon aus diesem Grunde stand die Ausbildung in der Rhetorik (oder in der Philosophie) nur einem kleinen Teil der jungen Männer offen, die ihre Ausbildung im Gymnasium beendet hatten. Die Philosophenschulen konkurrierten mit den Rhetorenschulen, doch die Rhetorenschulen setzten sich als die meistbesuchten Ausbildungsstätten durch. Wer hier eine bis zu 5 Jahren währende Ausbildung empfangen hatte, dem standen die Berufe des Politikers, des Anwalts oder des höheren Verwaltungsdienstes offen. Dabei ist bemerkenswert, daß der Rhetor seine Schüler keineswegs speziell für diese Berufe vorbereitete und schulte; sondern der Unterricht bestand in Theorie der Rhetorik, Studium der großen klassischen Rhetoren und praktischen Übungen. Danach ging man zu einem Anwalt oder in der Verwaltung in die „Lehre", um sich die für den Beruf notwendigen Spezialkenntnisse zu erwerben. Seit dem Ende des 3.Jh.vChr kamen griechische Rhetoriklehrer auch nach Rom. Auf diese Weise setzte sich bis zum Beginn der Kaiserzeit die Rhetorik in Rom als die normale höhere Bildung durch, und zwar fand der Unterricht noch bis in die späte Kaiserzeit hinein in griechischer Sprache oder zweisprachig statt. Für den Zugang zu höheren Amtern und zu gehobenen Berufen galten daher überall die gleichen anerkannten Bildungskriterien. Dazu kamen moralische Qualifikationen, die ebenso allgemeine Anerkennung gefunden hatten (das war ein Verdienst der stoischen Philosophie, s.u.§4. /d). Dem entspricht, daß später bei den christlichen Theologen neben den moralischen Kriterien eine Ausbildung in Rhetorik oder Philosophie fast selbstverständliche Voraussetzung war. Seit der Herstellung und dem Verkauf von Büchern in größeren Mengen (s.o.§2.6d) drangen literarische Werke mehr und mehr in
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§3
die Öffentlichkeit. Dazu kam sehr bald der Ausbau des Bibliothekswesens. Am Anfang stehen die Privatbibliotheken der Reichen, da nur wohlhabende Leute sich Bücher in größerer Zahl anschaffen konnten. Die ersten öffentlichen Bibliotheken wurden von den Königen eingerichtet: in Pella, Alexandrien und Pergamon. Genauso verfuhren später die römischen Kaiser (vgl. die Gründung der Palatina in Rom durch Augustus). Größere Bedeutung für die allgemeine Bildung hatten die von den Städten eingerichteten Bibliotheken, sei es auf Stadtkosten oder durch private Stiftungen. Dazu kamen kleinere Bibliotheken in den Gymnasien und Schulen. Hier waren dieselben Werke im Osten wie im Westen jederman zugänglich. Die kleineren Bibliotheken hatten nur eine geringe Auswahl an Büchern: ein paar Klassiker, wobei die Dichter (insbesondere Homer und Euripides) zahlreicher vertreten waren als die Prosaschriftsteller und Philosophen, dazu nicht immer sehr gute Handbücher, Lehrbücher und Kompendien. Die Dichter konnte man nicht nur überall lesen, man konnte sie vor allem auch hören. Im Theater waren sie dem des Lesens unkundigen Teil des Publikums ebenso zugänglich wie den im Lesen Gebildeten. Und ein Theater hatte jede Stadt. Die Tradition des dionysischen Theaters mit festgelegten jährlichen Daten für die Tragödien· und Komödien-Agone gehört in das Athen der klassischen Zeit. Zwar wurden auch in Alexandrien Tragödien-Agone jährlich zu bestimmten Zeiten veranstaltet, aber in den Theatern der hellenistischen Städte hatte man sich von dieser Tradition gelöst. Stattdessen ging man zu wiederholten Aufführungen der Klassiker über." Insbesondere Euripides muß immer wieder gespielt worden sein. Daneben gab es auch gelegentlich neue Tragödien, Komödien, Aufführungen der Mimen und in römischer Zeit Vorführungen eines Pantomimos. In Rom selbst begann man bereits im 3.Jh.vChr mit der Aufführung griechischer Tragödien in lateinischer Ubersetzung. Sie wurden in Theatern gespielt, die nach griechischen V o r bildern gebaut waren. Von römischen Dichtern geschriebene K o mödien waren zunächst weiter nichts als Stücke der Neuen Komödie Athens, die in lateinischer Sprache erschienen und mit römischen Elementen durchsetzt sind. Die römischen Tragödien blieben ebenfalls an das griechische Vorbild gebunden, vor allem an Euripides. Neben den Theatern gab es Odeia und Auditorien, teils als selbständige Bauten aufgeführt, teils an andere Bauwerke angeglie-
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dert, wie z.B. das Auditorium des großen Gymnasiums in Pergamon. Diese Räume dienten Vorträgen und Dichter-, Rhetoren- und Sängerwettbewerben. Daneben blieb die Stoa ein Platz für öffentliche Vorträge und Diskussionen. Es ist bezeichnend für die hellenistische Zeit, daß die bedeutendste philosophische Bewegung, die sie hervorbrachte, nicht in einem Privathaus oder einem Bezirk eines heiligen Tempels ihren Anfang nahm, sondern in einer Stoa Athens, in der der Phönizier Zeno seine öffentlichen Lehrvorträge hielt. Als er starb, betrauerte man in Athen nicht nur das Haupt einer neuen Philosophenschule, sondern einen weithin in der Ö f fentlichkeit bekannten, geachteten und verehrten Bürger, dessen moralische Integrität von allen bewundert wurde. Man muß sich daran erinnern, wenn man den Geist verstehen will, aus dem frühchristliche Missionare ihr nachdrückliches Bestehen auf der öffentlichen Predigt und der sichtbaren moralischen Lauterkeit des Verkünders ererbt hatten (vgl. z.B. 2. Kor. 4,1-4). Sektierertum widersprach dem erziehungspolitischen Prinzip der hellenistischen Stadt, das auf der Öffentlichkeit von Bildung und Lehre beruhte, und gegen das christliche Sekten ebenso verstießen wie der Kaiser Domitian, der die Philosophen aus Rom vertrieb. Dieser Grundeinstellung entspricht die Rolle der bildenden Künste im Leben der hellenistischen Stadt. Der ursprüngliche Sitz im Leben von Malerei und Plastik war der Bereich des Sakralen, speziell der Tempel und der Grabstätten. In der klassischen Zeit waren diese Künste längst säkularisiert worden. Daneben bestand die sakrale Kunst weiter. Im Hellenismus ist die bildende Kunst grundsätzlich öffentlich. Das Gemeinwesen hat gegenüber dem Privatbesitz das Vorrecht. Theater, Märkte, öffentliche Gebäude, Gymnasien und auch weiterhin die heiligen Bezirke der Tempel sind die Plätze, an denen man Kunstwerke findet. Statuen gab es hier zu Hunderten, oft zu Tausenden, und Bilder hingen in den Pinakotheken und Stoas. N u r gelegentlich bezahlte die Stadt auch für diese Kunstwerke. Die meisten wurden von Herrschern, von Vereinen und von reichen Privatpersonen gestiftet. Es ist bezeichnend, daß Leute, die finanziell durchaus in der Lage gewesen wären, sich eine eigene Kunstsammlung anzulegen, der Stadt große Summen für Bauten, Spiele oder Getreide stifteten und dann auch noch die Ehrenstatue, die man ihnen für solche Spenden aufstellte, großzügig selbst bezahlten. Der große Aufschwung der Architektur in den hellenistischen Städten des Ostens im 3.u.2.Jh.vChr legt
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ebenfalls Zeugnis vom Öffentlichkeits-und Gemeinsinn der Zeit ab. Die Privathäuser blieben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, verhältnismäßig bescheiden. Hingegen konzentrierte sich die Bautätigkeit auf die Tempel, die Verwaltungsgebäude, öffentlichen Plätze und Theater. Ganz besonders eindrucksvoll ist auch noch für den heutigen Betrachter, wie gerade durch die bildende Kunst der einzelne Mensch in seiner Individualität sichtbar an die Öffentlichkeit tritt. Die Idealisierungen der klassischen Zeit gehen in der bildenden Kunst zurück und machen einem deutlichen Individualismus Platz. Ein delischer Kaufmann, der Priester eines orientalischen Kultes, ein alter bärtiger Philosoph, ein sterbender gallischer Krieger, auf den Münzbildern Könige und Herrscher - alle treten sie in ihrer persönlichen Eigenart vor unsere Augen. Es ist noch nicht der oft so unbarmherzige Individualismus der römischen Zeit, sondern eine Art der Darstellung des individuellen Moments, in dem Charakter, Überzeugung und Lebenserfahrung durch die äußeren Züge eines Gesichtes so hindurchscheinen, daß sie auch noch den heutigen Betrachter zu einem Dialog über den Sinn und die Grenzen des Lebens auffordern. Dazu muß man auch die Inschriften beachten, Ehren-wie Grabinschriften. T r o t z des Gebrauchs vieler stereotyper Formeln berichten sie zusammen mit den bildlichen D a r stellungen von den Werken und Tugenden nicht nur der Großen und der Könige, sondern vieler ungezählter Bürger. Was alle diese Menschen taten und erfuhren und wie ihr Glaube, ihr Schicksal und die Macht der Götter ihr Leben bestimmten, das stand damals jedem Bewohner einer hellenistischen Stadt täglich in hunderten von Beispielen mannigfaltig vor Augen. Vieles von alledem blieb auch in römischer Zeit bestehen. Aber es ergaben sich auch tiefgreifende Wandlungen. Neben die öffentliche Kunst tritt ein schnell um sich greifender Privatbesitz an Kunstschätzen, die in Luxusvillen gesammelt werden. In der Plastik überwiegt nach einer erneuten Tendenz zur Idealisierung in der frühen Kaiserzeit ein Interesse am Individuellen, das in einem nahezu grausamen Realismus seinen Ausdruck findet. Daneben blüht die schon in der hellenistischen Zeit aufgekommene Serienproduktion von Kopien beliebter klassischer Werke. Die Monumentalkunst zeugt mehr von der Macht des Einzelnen als vom Gemeinsinn der Bürger. Aber die Öffentlichkeitsverpflichtung der bildenden Künste ist doch teilweise erhalten geblieben.
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b) Die Internationalität des kulturellen Lebens W a r auch die hellenistische Welt in mehrere Reiche und eine Reihe von teils unabhängigen Stadtstaaten gespalten, so war das kulturelle Leben doch von vornherein eine Einheit, war also international. In einer dann durch die Römer auch politisch geeinten Welt kam diese Kultur voll als Weltkultur zur Geltung. Schon im 3 . J h . v C h r drang die griechische Bildung über die hellenistischen Reiche und Städte hinaus und eroberte sich Rom selbst. Nationale Elemente verschwanden keineswegs, aber sie erschienen nun als Beitrag zu der einen griechischen Kultur. Es gab keine ideologische Untermauerung der Eigenheiten, die in den älteren zum hellenistischen Bereich gehörenden Kulturen fortlebten. Freilich hat es überall Kreise gegeben, die darauf bedacht waren, sich gegen den griechischen Einfluß zu wehren. In der Revolte der Makkabäer gegen die Seleukiden kommt das deutlich genug zum Ausdruck. Aber man kann keineswegs sagen, daß sich das jüdische V o l k als solches gegen die Hellenisierung zur W e h r setzte. Im G e genteil, der größere Teil dieses Volkes wurde tiefgehend hellenisiert. Nicht zuletzt wurde das Christentum zu einer durch und durch hellenistischen Bewegung, was nur dadurch möglich wurde, daß dieser W e g in den Hellenismus bereits vom Judentum vorgezeichnet war. D a ß die den einzelnen Völkern eigenen Traditionen sich vor allem als Beitrag zur Weltkultur des Hellenismus auswirkten, gilt für alle Bereiche des kulturellen und geistigen Lebens, für das Kunsthandwerk ebenso wie für die große bildende Kunst, die Literatur und die Religion. Gefördert wurde dieser Prozeß dadurch, daß es zum Wesen des Griechen gehörte, sich durch fremde Kulturen und deren Eigenheiten faszinieren und anregen zu lassen. Hinzu kam, daß die Könige aus innenpolitischen Gründen die einheimischen Kulturen und Religionen tatkräftig förderten - mit dem oft nicht beabsichtigten Ergebnis, daß diese Kulturen aufblühten und daß die Ergebnisse solcher Erneuerung in griechischem Gewände in die internationale Kultur hineinwuchsen. S o erschienen W e r k e in griechischer Sprache über die babylonische, ägyptische oder jüdische Geschichte, Religion und Wissenschaft. Mosaike syrischer Künstler finden sich auf der Ägäisinsel Delos, W e r k e griechischer Maler in R o m , parthische Motive erscheinen auf kunstvollen, glasierten Vasen, die aus Syrien in die ganze Mittelmeerwelt exportiert wurden.
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Dem entsprach die Lehre der Stoiker, daß die Welt nur eine große Polis sei, der die Menschen aller Völker als gleichberechtigte Bürger zugehörten. Hinter allen Göttern der verschiedenen Nationen stehe nur immer die gleiche göttliche Fürsorge, und die moralische Verpflichtung, der alle Menschen unterliegen, kenne keine Unterschiede der Rasse oder des Standes. Es war nur konsequent, wenn den wandernden Philosophen, die solche Lehren allerorts verkündeten, bald auch wandernde Missionare zur Seite traten und religiöse Lehren predigten, die sich an alle Menschen wandten; denn im Milieu der hellenistischen Kultur waren die Voraussetzungen dazu gegeben, daß sich ehemals an bestimmte Völker und festgelegte heilige Plätze gebundene Religionen in Missionsbewegungen verwandelten, die mit dem Anspruch auftraten, Weltreligion zu sein. Die Literatur sah den Menschen nicht mehr als Angehörigen eines Staates oder einer Stadt, vielmehr wurden Stadt und Volk zu einer zufälligen Umwelt, in welcher der Einzelne lebt. Gewiß blieb man der Gemeinschaft, der man angehörte, weiter verpflichtet. Der Gemeinschaftssinn der Bürger der hellenistischen Städte dokumentierte sich in vielfacher und eindrucksvoller Weise. Aber der Einzelne konnte seinen Beitrag zum Leben einer Gemeinschaft auch einem anderen Ort oder einem anderen Land zugute kommen lassen; er konnte überall wirken, denn die Mächte, denen er verpflichtet oder auch ausgeliefert war, waren nicht mit den Machthabern einer Stadt oder eines Landes identisch. Selbstverständlich haben die Herrscher der hellenistischen Reiche zunächst ihr eigenes Land und ihre eigenen Hauptstädte gefördert und in erster Linie hier die Literatur, Kunst und Wissenschaft unterstützt. Daß man aber auch einer fremden Stadt, vor allem einer Griechischen, die zum Symbol der kulturellen Einheit geworden war, seine materielle Unterstützung zuteil werden ließ, war keine Seltenheit. AntiochosIV. Epiphanes stiftete Mittel, durch die eine Fortführung der Bauarbeiten an dem Monumentaltempel des Zeus Olympios in Athen .ermöglicht wurde. Die pergamenischen Könige, die sehr darauf bedacht waren, den Ruhm ihres eigenen Reiches und ihrer Hauptstadt Pergamon als Zentrum des kulturellen und geistigen Lebens herauszustellen, stifteten mehrere Bauwerke in Athen (Stoa des Attalos und Stoa des Eumenes). Die römischen Kaiser taten es ihnen nach. Private Spenden reicher Bürger kamen ebenfalls den Städten und Heiligtümern Griechenlands
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zugute (vgl. z.B. das von dem Architekten Leonidas aus Naxos in Olympia gestiftete und erbaute Leonidäon), wenn sich auch niemand mit Herodes Attikus hierin messen konnte. Von der Freigebigkeit dieses berühmten Rhetors aus dem 2. Jh. nChr, der als reichster Mann der Antike galt, zeugen großartige Bauten in Athen, Korinth, Delphi, Olympia und anderen Städten Griechenlands. Die Nachricht, daß der zur gleichen Zeit lebende christliche Reeder und Kaufmann Marcion aus Pontus der römischen Christengemeinde 200.000 Sesterzen stiftete, wird man für durchaus glaubhaft halten müssen; denn dies gehörte zu den Verpflichtungen, die sich aus dem Geist des Hellenismus ergaben. Das Symbol des kulturellen und geistigen Lebens blieb Athen. Es galt auch in der römischen Zeit als die kulturelle Hauptstadt der Welt, wenngleich dies seiner tatsächlichen Bedeutung nicht mehr entsprach. Paulus, der in Athen nur kurz und offenbar ohne großen Erfolg wirkte, hatte dies schon deutlicher erkannt als nach ihm Lukas, der sich die Tätigkeit des berühmten Apostels nur so vorstellen konnte, daß er Paulus in Athen eine nachmals berühmt gewordene Rede halten ließ (Apg. 17). Athen war schon in der hellenistischen Zeit mit neuen Bauten geschmückt worden. Die römischen Kaiser ließen sich den weiteren Ausbau der Stadt viel Geld kosten. Nero erneuerte das Theater des Dionysos Eleutherios, Hadrian vollendete den gewaltigen Bau des Zeus Olympios Tempels und stiftete eine großangelegte Bibliothek, Augustus' Freund Agrippa errichtete ein neues Odeion auf der Agora, und der schon erwähnte Rhetor Herodus Atticus erbaute ein Odeion am Südwestabhang der Akropolis. Zur römischen Kaiserzeit war Athen eigentlich bereits ein Museum, blieb aber weiter bedeutend als Sitz der Philosophenschulen. Neben der am Beginn der hellenistischen Zeit dort entstandenen stoischen Schule befanden sich hier die Schule Piatos im Gartenbezirk des Heros Akademos, das Lykeion der Schule des Aristoteles und der Garten der Epikuräer. Zum Studium der Philosophie fanden sich noch am Anfang der byzantinischen Zeit Schüler aus aller Welt ein. Neben Athen stand Alexandria, die Hauptstadt des ptolemäischen Reiches, deren Ruf als Kultur- und Gelehrtenstadt sich unter Augustus erneuerte und die wenig später als Geburtsort der gelehrten christlichen Theologie und des Neuplatonismus zu neuem Ruhme gelangte. Das Museion in Alexandria war noch vor 280 vChr von Ptolemaiosl. Soter gegründet worden. Es war das erste
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Bildung, Sprache, Literatur
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wissenschaftliche Forschungsinstitut der Weltgeschichte. Gelehrte, Dichter und Künstler, die von den Ptolemäern hierher berufen wurden, lebten in einer Gemeinschaft, die nach dem Vorbild eines religiösen Vereins organisiert war, der unter der Leitung eines vom König ernannten Priesters stand. Sie konnten sich in völliger Freiheit ihren Studien und ihrer Arbeit widmen. Seit dem 3.Jh.vChr blühten in diesem Museion insbesondere die Dichtung, die Textkritik und die Textauslegung. Dazu gehörte die Bibliothek; unter Aufwand großer Mittel aufgebaut und ausgestattet, wurde sie mit ihren 300.000 Bänden die berühmteste Bibliothek des Altertums (269 und 273 nChr wurde das Museion von Zenobia und von Aurelian zerstört; die Bibliothek wurde 389nChr durch den Patriarchen Theophilus verbrannt). Seit der zweiten Hälfte des 3.Jh.vChr wetteiferte Pergamon mit Alexandrien, konnte aber nie die gleiche Bedeutung erlangen. Wichtiger noch für das geistige Leben der hellenistischen und frühen römischen Zeit wurde Rhodos. Durch Alexander von der persischen Herrschaft befreit, blieb die Insel während der hellenistischen Zeit selbständig, wurde zwar von Cassius 42 vChr erobert und die Stadt zerstört, war aber unter den Kaisern wieder frei und mit Rom verbündet. Rhodos besaß eine bedeutende Bildhauerschule, aus der die berühmte Laokoongruppe stammt, war seit dem 2. Jh. vChr der Sitz einer der berühmtesten Rednerschulen und die Wirkstätte vieler bedeutender Gelehrter und Philosophen wie Apollonios, des Dichtergelehrten und ehemaligen Bibliothekars aus Alexandrien, und der stoischen Philosophen Panaitios und Poseidonios. Im l.Jh.vChr studierten hier viele Römer (u.a. Cicero, Lukrez, Caesar und Tiberius), so daß Rhodos in der Vermittlung des hellenistischen Erbes an Rom eine große Rolle spielte. Die Internationalität der Bildung kommt nicht nur darin zum Ausdruck, daß es für die Studenten üblich wurde, an Philosophenund Rednerschulen außerhalb ihrer Heimat zu studieren, sondern dokumentiert sich auch in der Herkunft der führenden Philosophen und Gelehrten der Zeit aus jenen Ländern, die ehemals nicht zum Bereich der griechischen Kultur gehört hatten. Unter den Schulhäuptern der großen Philosophenschulen Athens finden sich viele, die nicht in Athen oder Griechenland geboren und aufgewachsen waren, seien es Abkömmlinge griechischer Familien aus den Städten Kleinasiens oder des Ostens, seien es hellenisierte Orientale (oft läßt sich das nicht mehr mit Sicherheit unterschei-
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Die Sprache
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den). Besonders eindrucksvoll ist das bei den Schulhäuptern der stoischen Schule und den führenden Philosophen dieser Richtung: Zeno, der Begründer der Schule, war ein Phönizier aus Cypern; sein Nachfolger Kleanthes ein Grieche aus Assos in der Troas (Kleinasien); dessen Nachfolger Chrysipp kam aus Soloi in Cilicien; die nächsten Schulhäupter waren Zeno aus Tarsos und Diogenes aus Seleukia am Tigris; Panaitios entstammte einer vornehmen rhodischen Familie und Poseidonios kam aus Apamea in Syrien. In den anderen Schulen liegen die Verhältnisse ähnlich. Man könnte z.B. auf die Akademiker Karneades aus dem nordafrikanischen Kyrene und Antiochos aus der phönizischen Hafenstadt Askalon verweisen. Aber es wäre falsch, nach irgendwelchen „fremden" Elementen zu suchen, die diese Männer etwa in die Tradition der griechischen Philosophenschulen hineingebracht hätten. Im Gegenteil, sie waren alle „Griechen", die nichts weiter taten, als die die eine griechische Kultur weiterzuführen, die zur Weltkultur geworden war. 2. Die Sprache E.SCHWYZER, Griechische Grammatikl, H A W II 1 , 1 , 2 1 9 5 3 , 4 5 - 1 3 7 . O. HOFFMANN 2
A.DEBRUNNER, Geschichte der griechischen Sprache II,
1967.
M . BLACK - D . DIRINGER, L a n g u a g e a n d S c r i p t , C B H I , 1 9 7 0 ,
1-29.
Zud: W . BAUER, Zur Einführung in das Wörterbuch zum Neuen Testament, Aufsätze und kleine Schriften, 1967, 6 1 - 9 0 (wichtige Lektüre!). W.BAUER, Griechisch-Deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur, 5 1958 (Das maßgebende Wörterbuch für das Neue Testament). F . BLASS - A . DEBRUNNER -
F . REHKOPF, G r a m m a t i k d e s
neutestamentlichen
Griechisch, 1 4 1976.
Zue: M. BLACK, An Aramaic Approach to the Gospels and A c t s , 3 1 9 6 7 .
a) Die Entwicklung der griechischen Sprache zur Koine Im 5.Jh.vChr bestanden im Griechischen eine Reihe von Dialekten, die oft lokalen Charakters waren und zum Teil literarisch nicht in Erscheinung getreten sind (gelegentlich tauchen sie in lokalen Inschriften auf). Die wichtigsten Dialekte bzw. Dialektgruppen sind die folgenden: Ionisch, im Mittelabschnitt der Westküste
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Kleinasicns und im N o r d e n der Ägäis gesprochen; Attisch, der mit dem Ionischen eng verwandte Dialekt Athens und Attikas; Äolisch, im Nordabschnitt der westlichen Küste Kleinasiens, auf Lesbos, in Thessalien und Böotien; Dorisch, im Süden und Osten der Peloponnes, im Südwesten der Kleinasiatischen Küste, auf Rhodos und auf Kos; damit eng verwandt die dorischen Dialekte des mittleren und westlichen Griechenland; schließlich das Arkadisch-Cyprische, das im Inneren der Peloponnes und auf Cypern gesprochen wurde. Das Makedonische ist kein griechischer Dialekt, sondern eine andere Sprache der griechischen Sprachfamilie. In der griechischen Literatur findet sich nur das Ionische, das Aolische, das Dorische und das Attische. Ionisch ist die älteste Epik (Homer), ein Teil der Lyrik und ein Teil der älteren Prosa Kleinasiens (Herodot, Hippokrates). Das Aolische ist auf die Lyrik der Insel Lesbos beschränkt (Sappho). Dorisch ist die Chorlyrik. Seit dem 5.Jh.vChr entwickelte sich die attische Prosa, die literarisch bald dominierte, aber auch durch den beherrschenden Einfluß Athens in der Wirtschaft und Politik zur wichtigsten griechischen Verkehrssprache wurde. Dieser griechische Dialekt, der inzwischen einige Elemente des ihm eng verwandten Ionischen aufgenommen hatte (hierher gehört - σ σ - f ü r attisches - τ τ - , z.B. τ ά σ σειν, ρσ f ü r σ σ , ζ. Β. ά ρ σ ε ν , auch ν α ό ς f ü r νεώς), wurde von Alexander und seinen Nachfolgern zur Amtssprache gemacht und damit zur Weltsprache. Sie trat als wichtigste Verkehrssprache auch im Osten an die Seite oder an die Stelle des Aramäischen, das bis dahin die Verkehrssprache des Achämenidenreiches gewesen war. Aus diesem „ionisierten Attisch" entstand die „Koine", d.h. die „gemeinsame" Sprache, die lingua franca der hellenistischen und römischen Zeit. Im Zuge der allgemeinen Sprachentwicklung ergaben sich seit dem Ende der klassischen Zeit eine Reihe von Besonderheiten, durch die sich die Koine zunehmend von der attischen Prosa unterschied. l . I n der Lautentwicklung·. Bis etwa zum Beginn der frühchristlichen Schriftstellerei verschwanden die Diphthonge und hielten sich nur noch in der Schrift (auch hier fehlen sie o f t in den Inschriften und Papyri, gelegentlich auch in frühchristlichen Schriften), d . h . ε ι wurde zu ΐ, ο υ wurde zu u (später auch a t zu ä, ot zu ΐ und ευ und αυ zu ef und af), ä t , ηι und ωι wurden ä , η und ω (wobei das ι noch meist als Iota subscriptum erhalten blieb). Das η wurde dem t gleichlautend (wie auch das ει und später das ot).
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Bei den Konsonanten wurden φ = p h zu f, θ = t h zum stimmlosen „ t h " (wie im Englischen) und χ = k h zu ch (später auch β zu w, δ zum stimmhaften „ t h " , γ zu g h bzw.j). 2. In der Formenlehre ergaben sich eine Reihe von Neuerungen. Die sogenannte 2.attische Deklination starb aus (ϊλεως wurde zu ΐλεος - beides findet sich im Neuen Testament). Der Vokativ wurde weithin durch den Nominativ ersetzt (θεός f ü r θεέ). Die Endung des Akkusativ Plural der konsonantischen Stämme der J . D e klination drang auch in die vokalischen Stämme dieser Deklination ein (ίχθύας f ü r ιχθύς). Der Superlativ der Adjektive trat zurück. In der Konjugation der Verben ist auffallend, daß der Optativ weithin verschwindet und daß die periphrastischen Konstruktionen zunehmen. Die Verben auf - μ ι wurden weiter zurückgedrängt. 3. Das Vokabular änderte sich in mancher Weise. Komposita nahmen zu. Neue Fachausdrücke in den verschiedensten Bereichen wurden in der wissenschaftlichen, philosophischen, religiösen und Verwaltungssprache gebildet, zum Teil aus älteren griechischen Wörtern, zum Teil auch in Abhängigkeit von nichtgriechischen Kultursprachen. Damit drangen gelegentlich Lehnwörter aus dem Semitischen und Lateinischen, seltener aus dem Persischen und Ägyptischen in die griechische Sprache ein. 4. Auch in der Syntax ergaben sich eine Reihe von Unterschieden zur klassischen attischen Prosa. Soweit diese Unterschiede jedoch in nichtliterarischen Texten und bei wenig in der Kunstprosa geübten Schriftstellern auftauchen, erklären sie sich oft daraus, daß die Umgangssprache ohnehin stärker zu einem parataktischen Stil, zur Brachylogie, zu Anakoluthen und zu Solezismen neigt. Auf gewisse Erscheinungen der Syntax des Neuen Testamentes wird unten noch einzugehen sein. b) Die Sprache der Literatur Die Koine als U m g a n g s - u n d Verkehrssprache entwickelte sich natürlich nach ihren eigenen Gesetzen, ohne daß die Literatursprache einen unmittelbaren Einfluß hatte. Daneben gab es aber auch Schriftsteller, die ihre Werke in einer „höheren Koine", also in einer Art gehobener Umgangssprache schrieben. Die Art der Quellen bedingt es, daß wir über die Umgangssprache der hellenistischen und römischen Zeit ziemlich gut informiert sind, während f ü r die Literatursprache, vor allem f ü r die Koine als Literatursprache, die Quellen nur dürftig sind. Erst in der römischen Kaiserzeit
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fließen sie reichlicher. Ein großer Teil der hellenistischen Literatur ist untergegangen, weil in späterer Zeit das Studium der Klassiker bevorzugt wurde. Dazu kommt, daß die archaisierende Bewegung der Literatursprache in der frühen Kaiserzeit, der sogenannte Attizistnus, Maßstäbe aufstellte, denen die geschriebene Koine nicht entsprach - ein weiterer Grund für das Verschwinden dieser Schriften. Über diesen Attizismus muß deshalb zunächst einmal gesprochen werden. Während die Umgangssprache sich immer weiter von der klassischen attischen Prosa entfernte, wandte sich der Attizismus, der in zunehmenden Maße die Literatursprache beherrschte, wieder den Idealen der klassischen Sprache zu und machte die attische Kunstprosa zum Maßstab aller Schriftstellerei. Wohl gab es auch schon in der frühen hellenistischen Zeit Schriftsteller, die sich am Ideal der attischen Prosa mehr oder weniger bewußt orientierten, aber als Bewegung entstand der Attizismus im l.Jh.vChr als eine Reaktion gegen den „Asianismus". Darunter versteht man die Tendenz zu außergewöhnlichen Satzkonstruktionen und Redewendungen, einer unnatürlichen Anhäufung von tönenden Wörtern und Perioden von kurzen Sätzen, die auf rhetorische Wirkung abzielen. Dieser Asianismus begann bei einigen Rhetoren Kleinasiens und scheint auch sonst Anklang gefunden zu haben. Er traf aber bald auf eine Gegenbewegung, die auf die klassische Prosa zurückgriff, deren klarer rationaler Stil vom Schwulst des Asianismus befreien konnte. Zwar gibt es für das Fortleben des Asianismus Beispiele in pompösen Inschriften (z.B. des Antiochosl. von Kommagene), im Betrieb der durchschnittlichen Rhetorenschule (Petronius, Satirikon 1, polemisiert gegen den Schwulst und das Phrasengeklingel, die dort den Schülern beigebracht werden) und auch bei einigen Schriftstellern (Ignatius von Antiochien ist als Beispiel unter den christlichen Schriftstellern genannt worden). Der Asianismus blieb auch insofern weiter wirksam, als viele spätere Attizisten sich im Satzbau von ihm beeinflussen ließen. Aber im ganzen setzte sich der Attizismus seit Ciceros Polemik gegen den Asianismus durch. Der Rhetor und Historiker Dionysios von Halikarnassos, der seit 30vChr in Rom wirkte, knüpfte an Demosthenes an und erhob die Nachahmung der Klassiker zum Maßstab der gebildeten Rede. Im 2.Jh.nChr erstand in dem schon erwähnten Multimillionär und Kunstmäzen Herodes Attikus, einem der Hauptvertreter der sogenannten 2.Sophistik, der glänzendste Meister des attischen Stils:
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eine seiner Reden, die erhalten ist, beherrscht den attischen Stil so vollkommen, daß moderne Forscher wiederholt versucht haben, diese Rede ins 5.Jh.vChr zu datieren. Aelius Dionysios von Halikarnassos und ein gewisser Pausanias aus Syrien verfaßten um lOOnChr Wörterbücher, die dafür sorgten, daß vor allen Dingen der Wortschatz der Literatursprache nicht vom Wortschatz der klassischen attischen Schriftsteller abwich. Geniales Können und wissenschaftliche Akribie verbanden sich so zu einer erfolgreichen archaisierenden Bewegung und verewigten eine Zweisprachigkeit, die in der griechischen Sprache bis heute noch nicht überwunden ist. Die vornehmste Aufgabe der Literatur, die in der Kultivierung der lebendigen Umgangssprache besteht, haben die damals in Literatur und Rhetorik einflußreichen Kreise nicht erfassen können. Für die literarische Koine gibt es allerdings doch eine Reihe von Beispielen. Die hellenistischen Historiker stehen dieser Sprache am nächsten. Der größte Teil ihrer Werke ist verloren gegangen. Aber umfangreiche Fragmente einschließlich einiger vollständiger Bücher der Historiker Polybios (ca.200-120vChr) und Diodorus Siculus (l.Jh.vChr) sind erhalten. Recht nahe steht der Koine auch Plutarch (45-125 nChr), ebenso die jüdischen Schriftsteller Philo und Josephus. Der Sophist und Satiriker Lukian von Samosata (ca. 120-180 nChr) war zwar ein Bewunderer der klassischen Literatur und ließ außer ihr nichts gelten; aber er scheute sich nicht, manches aus der Sprache seiner Zeit zu verwenden und den übertriebenen Attizismus lächerlich zu machen. Ausnahmen sind auch der Astrologe Vettius Valens, der unbedenklich die Umgangssprache schreibt, und der stoische Philosoph Epiktet, dessen Lehrvorträge, wie sie sein Schüler Arrian aufzeichnete, eine unmittelbare und unverdorbene Quelle für die Umgangssprache der frühchristlichen Zeit bleiben. c) Zeugnisse für die Umgangssprache Reichlich fließen für die griechische Umgangssprache der hellenistischen und römischen Zeit die nichtliterarischen Quellen in den Papyri, die zum größten Teil aus Ägypten stammen, und in den Privatinschriften. Außer den literarischen Papyri gibt es vom Beginn der Ptolemäerzeit bis zur arabischen Zeit Tausende griechischer Papyri, die zum Teil amtlichen, zum Teil privaten Inhalts sind. Amtliche Urkunden bezeugen in der Regel die Terminologie der Verwaltung. Es handelt sich hier um Erlasse der Regierung, Ver-
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waltungsakten, Gerichtsakten, Berichte der Beamten und Behörden. Dazu kommen von Leuten verschiedener Klassen abgefaßte oder diktierte Eingaben, Bittbriefe, Beschwerden, sowie Privatverträge über Heirat und Scheidung, Kauf, Miete und Darlehen, Bürgschaften und Testamente. Die letzteren Dokumente stehen der Volkssprache wesentlich näher. Vollends tritt die Vulgärsprache uns in den Privatbriefen vor Augen. Solche Briefe sind von Leuten jeglichen Standes erhalten: Ehemänner schreiben an ihre Frau daheim; ein Sohn, der Soldat geworden ist, schreibt an seine Eltern; ein Vater ermahnt seine Kinder in der Fremde; Sklaven, Freie, Reiche und Arme melden sich zu Wort. Außerdem ist eine Anzahl von Zauberpapyri entdeckt worden. Obgleich diese Dokumente als religionsgeschichtliche Zeugnisse nur beschränkten Wert haben, da es sich bei ihnen um Zeugen der zur Magie abgesunkenen Religionen und ihrer Bräuche handelt, so sind sie doch als Quellen f ü r die religiöse Sprache des Hellenismus von unschätzbarem Wert. Sie zeigen auch, in welchem Maße Begriffe aus nichtgriechischen Religionen (auch aus dem jüdischen Bereich) als Transkriptionen und Ubersetzungen in die Sprache der Koine eindringen konnten. In den Jahrzehnten, die auf die ersten großen Entdeckungen der Papyri am Ende des 19. Jahrhunderts folgten, ist von Neutestamentlern und Philologen viel Material zur Erhellung der Sprache des frühen Christentums gesammelt worden und hat auch seinen W e g in die Wörterbücher (Walter Bauer) und Grammatiken zum N T (Blaß-Debrunner und Radermacher) gefunden. Jedoch ist das ebenfalls reichliche, seither neu entdeckte Material noch nicht vom Standpunkt der urchristlichen Sprachgeschichte aus systematisch bearbeitet und ausgewertet worden. W ä h r e n d der Großteil der Papyri aus Ägypten stammt, also nur ein lokal bedingtes Bild von der Umgangssprache jener Zeit vermitteln kann, sind Privatinschriften aus fast allen Teilen der hellenistischen Welt bekannt, am reichlichsten aus Griechenland, den griechischen Inseln, dem westlichen Kleinasien und Italien. Die meisten dieser Inschriften sind auf Stein gemeißelt; es gibt aber auch Inschriften auf H o l z , Metall, Tonscherben und in Mosaiken. Wie bei den offiziellen und amtlichen Inschriften handelt es sich auch bei zahlreichen Privatinschriften um eine Art Veröffentlichung, deren auf Papyrus geschriebenen Originale in Archiven aufbewahrt wurden. In erster Linie sind dies Verträge, Geschäftsurkunden, Rechnungen und Testamente. Von besonderem Interesse f ü r
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die Sprache der frühchristlichen Literatur sind Inschriften, die von Weihungen, Flüchen und Gelübden, von Krankenheilungen und Pilgerfahrten und vom Leben und Sterben der Menschen sprechen. Ohne Zweifel ist ein großer Teil auch dieser Inschriften formelhaft und bewegt sich in traditionellen Wendungen und Klischees. Nicht immer sagen sie uns, was die betreffenden Menschen individuell dachten und glaubten, sondern sie bezeugen, was man bei besonderen Anlässen, beim Tode eines Menschen, bei einer Weihung oder anläßlich einer Krankenheilung meinte sagen zu müssen. Doch gerade solche Konventionen bewegen sich in der gebräuchlichen allgemeinen Ausdrucksweise jener Zeit. Was bereits zu den Papyri gesagt wurde, gilt in noch höherem Maße für die Inschriften: eine systematische Sammlung und Erforschung des sehr umfangreichen Materials unter dem Gesichtspunkt der frühchristlichen Sprachgeschichte, bei der vor allem die lokalen Besonderheiten berücksichtigt werden müssen, steht noch aus. Ist das nichtliterarische Material der Inschriften und Papyri in erster Linie ein Zeugnis für die unmittelbar aus der Umgangssprache erwachsenen Sprachkonventionen, so tritt neben die genannten Zeugen für eine literarische Koine (Polybios, Epiktet) noch das umfangreiche Corpus der jüdischen Schriften in griechischer Sprache aus der hellenistischen und römischen Zeit. Bei einem Teil dieser Literatur handelt es sich um Übersetzungen aus dem Hebräischen (oder Aramäischen) ins Griechische. Das ist bei den meisten Schriften der griechischen Bibel des Judentums und bei einigen sogenannten Pseudepigraphen des AT (z.B. Testamente der Zwölf Patriarchen, Psalmen Salomos) der Fall. Manche dieser Übersetzungen schließen sich sehr eng an das hebräische Original an, sind also stark semitisierende Übersetzungen. Doch haben auch diese Schriften die religiöse Sprache des hellenistischen Judentums und später des Christentums beeinflußt. Wichtiger sind die freier übersetzten Teile der Septuaginta, sowie die original griechisch abgefaßte jüdische Literatur. Zur letzten Gruppe gehören die Weisheit Salomos und das 2.,3.und4.Makkabäerbuch; außerhalb der Septuaginta die jüdischen sibyllinischen Bücher, Joseph und Asenath, der Aristeasbrief und andere mehr (s.u. § 5 . 3 b undd). Vor allem sind hier die von Alexander Polyhistor im l.Jh.vChr zusammengestellten und bei Euseb (Praep.Ev.9.17-39) erhaltenen Fragmente jüdischer Schriftsteller zu nennen. Nimmt man auch noch die jüdische Spruchdichtung unter dem Namen des Phokylides
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hinzu, so wird deutlich, daß wir hier ein recht umfangreiches Corpus hellenistischer Literatur besitzen, das zum großen Teil in der Umgangssprache der Koine abgefaßt ist. Manchmal handelt es sich um „gehobene" Koine mit einem Einschlag attischer Kunstprosa das hängt von der literarischen Bildung des Autoren ab in der Regel aber ist es geschriebene Umgangssprache, der die Konventionen der literarisch gebildeten Kreise fremd sind.
d) Die Sprache der frühchristlichen Schriften und die Koine Die Verfasser der urchristlichen Schriften schrieben faßt durchweg die Umgangs-und Verkehrssprache ihrer Zeit, die Koine. Hatte man noch bis zum Beginn dieses Jahrhunderts von einem besonderen „biblischen Griechisch" gesprochen - der Unterschied zwischen dem neutestamentlichen (und Septuaginta-) Griechisch und dem klassischen Griechisch war natürlich schon längst aufgefallen so besteht heute kein Zweifel mehr über die sprachgeschichtliche Einordnung des N T . Über einige Besonderheiten, die sich aus dem engen Zusammenhang des N T mit dem AT und den Sprachen jener Gruppen des Judentums, die sich des Griechischen nicht bedienten, ergeben, wird unten noch zu reden sein (s.u. § 3 . 2 e). Aber zunächst einmal muß man unbeirrbar daran festhalten, daß die urchristliche Literatur in die sprachgeschichtliche Entwicklung des Griechischen als gesprochene Volkssprache hineingehört, die vom Beginn der hellenistischen Zeit bis zur heutigen neugriechischen Volkssprache, der „Dimotiki" reicht. Mit der griechischen Kunstsprache, die seinerzeit als attische Prosasprache in der Literatur und Rhetorik erneuert wurde, hat die Sprache des N T wenig zu tun. Innerhalb des genannten Rahmens bestehen freilich große Unterschiede. Der Hebräerbnef steht der attischen Kunstprosa näher als die übrigen Schriften des N T . Der Verfasser dieser Schrift verrät in der gewandten Periodisierung und hypotaktischen Verflechtung seiner Sätze eine gewisse schulmäßige Bildung. Das zeigt sich gelegentlich auch in der Wahl seiner Wörter, wenngleich er nicht zögert, Wörter zu benutzen, die ein strenger Attizist nicht zulassen würde. Im übrigen N T und anderen urchristlichen Schriften herrscht die Umgangssprache vor. Freilich sind weder Paulus, noch Lukas, noch der Verfasser der Pastoralbriefe oder des 2. Petrusbriefes ungebildete Leute. Der Verfasser des 2. Petrusbriefes versucht, einen gehobenen Stil zu schreiben - es gelingt ihm aber nicht auf
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so elegante Weise wie dem Verfasser des Hebräerbriefes - , und verrät auch im Vokabular, daß er in der Sprache eines gebildeten Griechen zu Hause ist. Lukas, der Verfasser des 3. Evangeliums und der Apostelgeschichte, ist stärker als andere neutestamentliche Schriftsteller von literarischen Vorbildern abhängig und mit der gehobenen Koine, der Umgangs-und Schriftsprache der gebildeten Griechen, durchaus vertraut. Der Prolog seiner beiden Bücher verrät Bekanntschaft mit literarischen Gepflogenheiten. Aramäische und lateinische Fremdwörter - sie klangen für den literarischen Geschmack zu barbarisch - wurden vermieden. W o sie in seiner Markusvorlage auftauchen, ersetzt sie Lukas durch entsprechende griechische Wörter; so schreibt er διάβολος für σατανας,
διδάσκαλος für ^αββί/^αββουνί, ferner φόρος für κηνσος/οεηsus, έκατοντάρχης für κεντυρίων/centurion. Im Evangelium hat Lukas den oft primitiven parataktischen Stil seiner Vorlage weithin durch Partizipial- und Relativsätze, wie sie in der gehobenen Literatursprache üblich waren, ersetzt. In der Apostelgeschichte zeigt sich zudem, daß Lukas nicht nur in der Komposition, sondern auch in der Wahl der grammatischen Formen dem Bildungsstand des von ihm in die Handlung eingeführten Redners Rechnung zu tragen vermag: ein gebildeter Redner verwendet den sonst in der Umgangssprache nicht mehr gebräuchlichen Optativ. Der 1. Clemensbrief benutzt eine Fülle von Wörtern und Ausdrücken, die der Literatursprache entstammen, ebenso die Pastoralbriefe. Bei dem Apologeten Justin sowie bei dem etwas späteren Athenagoras ist um die Mitte des 2.Jh. die vom attischen Stil beeinflußte höhere Koine selbstverständlich. Der Diognetbrief, eine Apologie, die um 200vChr geschrieben wurde, steht auf einem hohen Niveau der Kunstprosa. Clemens von Alexandria, ebenfalls dieser Zeit zugehörig, ist ein Meister des Prosastils und beherrscht ihn so vollkommen, daß er sich ohne weiteres über die Regeln des strengen Attizismus hinwegsetzen kann. In seinen Werken erreicht die sprachliche Ausdruckskraft der griechischen Prosa noch einmal einen Gipfel, zu dem der strenge Attizismus sich den Weg verbaut hatte. Im übrigen herrscht aber von jener Zeit an auch in der christlichen Literatur ein gemilderter Attizismus, wenngleich immer wieder bei einigen Schriftstellern eine größere Nähe zur Volkssprache durchbricht, was wohl insbesondere der christlichen Predigt zu verdanken ist, die sich ja in erster Linie an das Volk richtet. Die eben genannten Beispiele bezeichnen aber nur den End-
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punkt einer bei Lukas und im Hebräerbrief beginnenden Entwicklung. Der größere Teil der neutestamentlichen Schriftsteller steht noch diesseits der Schwelle zur Literatursprache, die Lukas überschritt. Paulus lebt ganz in der Umgangssprache, die er freilich gut beherrscht und zu handhaben versteht. Er kann sich durchaus der hypotaktischen Periodisierung bedienen und verfügt über einen verhältnismäßig großen Wortschatz, den er bewußt und gezielt einsetzt. Groß ist auch die Variationsbreite seiner Stilmittel wie Wortspiele und Paronomasien. Dieses Können verdankt Paulus einer gewissen rhetorischen Bildung und einer Ausbildung im Diskussionsstil der kynisch-stoischen Diatribe und im Predigtstil der hellenistischen Synagoge. Man muß sich hüten, die Eigentümlichkeiten der paulinischen Sprache aus seinem Temperament und aus der Tiefe seiner religiösen Erfahrung zu erklären. Es ist bemerkenswert, daß Paulus z.B. Ellipsen und Anakoluthe ganz bewußt als Stilmittel verwenden kann. Neben den paulinischen Briefen gehören auch die Evangelien des Markus, Matthäus und Johannes, die Offenbarung des Johannes und die katholischen Briefe (mit Ausnahme des 2. Petrusbriefes) der Umgangssprache an, ebenso durchweg die Apostolischen Väter (mit Ausnahme des oben erwähnten Diognetbriefes) sowie die apokryphen Schriften der frühchristlichen Zeit, soweit sie in griechischer Sprache erhalten sind. Am nächsten stehen der unkultivierten Sprache der literarisch nicht Gebildeten das Markusevangelium, die Offenbarung des Johannes, der Hirte des Hermas und die Lehre der Zwölf Apostel (die sogenannte Didache). Hier herrscht überall die parataktische Satzkonstruktion vor (die einfache Verbindung der Sätze durch „ u n d " ist die Regel), Optative fehlen völlig, periphrastische Verbformen sind häufig (z.B. Mk. 13,25 έ σ ο ν τ α ι πίπτοντες, was Mt. 24,29 richtig zu πεσοΟνται verbessert wird; es gibt freilich auch viele Beispiele für Periphrasis in den lukanischen Schriften, doch ist dafür semitischer oder „biblizistischer" Einfluß anzunehmen, s.u.). Fremdwörter aus dem Semitischen und Lateinischen werden ebenso selbstverständlich gebraucht wie sonst in der griechischen Vulgärsprache jener Zeit. Im Markusevangelium sind die Kennzeichen der Vulgär-Koine in der T a t so kraß, daß die Kirche damit nicht vor einer mittleren bürgerlichen Bildung bestehen konnte, so daß Matthäus, der ebenfalls in einem anspruchslosen Koine-Stil schrieb, zahlreiche Verbesserungen an der griechischen Ausdrucksweise seiner Vorlage vornehmen mußte,
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um überhaupt einigermaßen lesbare griechische Sätze wiedergeben zu können. Dem Paulus hierin verwandt, gelang es Matthäus, so zu schreiben, wie die meisten Leute sprachen, ohne daß er seine Evangelienschrift mit den Ungereimtheiten und Ungeschicklichkeiten eines ungebildeten Stiles belastete. Dies mag einer der Gründe dafür gewesen sein, daß dieses Evangelium zum meistbenutzten und am häufigsten zitierten Buch der Kirche wurde. Eine Sonderstellung nimmt das Johannesevangelium ein. Ohne Zweifel ist die Sprache dieses Evangeliums einfaches, normales Koine-Griechisch. Sämtliche beobachteten Besonderheiten und Eigentümlichkeiten dieser Schrift lassen sich, wie E.C. Colwell gezeigt hat, auch bei anderen Koine-Schriftstellern nachweisen, z.B. bei Epiktet. Daß sich Sprache und Stil dieses Evangeliums dennoch so stark vom übrigen N T abheben, liegt offenbar vor allem daran, daß die Stilmittel des Verfassers einfach und begrenzt sind und daher immer wieder verwendet werden. Vielleicht verrät sich hier auch eine besondere Nähe zur semitischen Sprachwelt. Dazu muß freilich sofort bemerkt werden, daß die Frage des Verhältnisses der neutestamentlichen Schriften zu den semitischen Sprachen schwierig zu bestimmen ist. Darauf soll deshalb noch besonders eingegangen werden. e) Das Neue Testament und die semitischen Sprachen Sämtliche neutestamentlichen Bücher ohne Ausnahme sind originalgriechische Schriften. Auch sonst ist von keiner frühchristlichen griechischen Schrift nachgewiesen, daß sie aus dem Hebräischen oder Aramäischen übersetzt worden ist. Daran muß man zunächst einmal festhalten, ehe man sich an das schwierige und vieldiskutierte Problem der Semitismen im Neuen Testament heranwagt. Es kann nämlich nicht füglich bezweifelt werden, daß es im N T sowie auch bei den Apostolischen Vätern und in einigen apokryphen Schriften eine in den verschiedenen Büchern jeweils unterschiedliche, aber im ganzen doch recht hohe Anzahl von Semitismen gibt. Darüber besteht kein Streit. Die Schwierigkeiten liegen bei der Feststellung eines Semitismus im Einzelfall und beim Urteil über seine Art und seinen Ursprung. Denn ohne Zweifel sind eine ganze Reihe verschiedener Ursachen für das Auftauchen der Semitismen verantwortlich, und daher sind jeweils die Konsequenzen umstritten, die sich aus der Feststellung von Semitismen ergeben. Es ist deshalb vor allem nötig, sich im Klaren zu sein über den Cha-
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rakter und die Art der verschiedenen Semitismen, die in den neutestamentlichen Schriften auftauchen. 1. Semitismen, die dadurch entstanden sind, daß der uns vorliegende Text unmittelbar aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt wurde. Hier handelt es sich um „Hebraismen", die sich im Neuen Testament nur in Zitaten einer griechischen Ubersetzung des Alten Testaments, d.h. in der Regel aus der Septuaginta, gelegentlich auch aus anderen Quellen, finden oder aus selbständiger schriftgelehrter Bemühung stammen (letzteres gilt für die meisten Zitate des Matthäusevangeliums). Es ist für solche Hebräismen gleichgültig, ob sie in ausdrücklichen Zitaten auftauchen oder in einzelnen Satzteilen und Wendungen, die der Verfasser in seine eigenen Sätze eingeschlossen hat, ohne sie ausdrücklich zu zitieren. Daß Hebraismen dieser Art auch bei Autoren stehen können, die sonst ein gutes, gehobenes Griechisch schreiben, ist selbstverständlich. Es beweist weiter nichts, als daß diese Autoren das Alte Testament kennen, zitieren und verwenden. 2. Semitismen sind dadurch verursacht worden, daß ein Text aus dem Aramäischen, der Umgangssprache der nichthellenistischen Bevölkerung Syriens und Palästinas, übersetzt wurde. Solche Semitismen heißen genauer „Aramaismen". Sie finden sich am häufigsten in den Evangelien. Jesus sprach aramäisch, ebenso die Urgemeinde Palästinas. Alles Material, das auf Jesus zurückgeht oder aus der Überlieferung der Urgemeinde, bzw. aus späteren aramäisch sprechenden Gemeinden Syriens stammt, ist irgendwann einmal ins Griechische übersetzt worden, ehe es zum Bestandteil einer frühchristlichen Schrift wurde. Freilich ist hierbei zu bedenken, daß die Ubersetzung in der Regel in ein Uberlieferungsstadium gehört, das sehr viel älter sein mag als dasjenige Stadium, dem die griechischen Quellen der erhaltenen Evangelien angehören. Übersetzt hat man bereits in der mündlichen Überlieferung, oder als die ältesten schriftlichen Sammlungen des vorhandenen Materials in zweisprachigen Gemeinden angefertigt wurden. Geschah das mehrere Jahrzehnte vor der Abfassung der Evangelien und das ist wahrscheinlich - , so muß man annehmen, daß sich in der mündlichen und schriftlichen Überlieferung dieses Materials in griechisch sprechenden Gemeinden viele der einst vorhandenen Aramaismen abgeschliffen haben und durch bessere griechische Ausdrücke und Wendungen ersetzt worden sind. Unmittelbar aus dem Aramäischen übersetzte Quellen hat vielleicht nur Markus be-
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n u t z t ; die auffallendsten A r a m a i s m e n f i n d e n sich im Gleichniskapitel Mk.4. Vielleicht w a r auch die Quelle d e r W u n d e r g e s c h i c h t e n des J o h a n n e s e v a n g e l i u m s direkt aus d e m A r a m ä i s c h e n übersetzt w o r d e n . A u ß e r d e m f i n d e n sich Ü b e r s e t z u n g s - A r a m a i s m e n in f r ü h fixierten liturgischen U b e r l i e f e r u n g e n . Die A r a m a i s m e n des in der G e m e i n d e gebräuchlichen griechischen H e r r e n g e b e t e s sind d a f ü r ein gutes Beispiel. 3.„Biblizismen". Das f r ü h e C h r i s t e n t u m ü b e r n a h m v o m J u d e n t u m nicht n u r die Bibel, s o n d e r n auch die d u r c h diese Bibel gep r ä g t e religiöse Sprache. Dies ist in erster Linie ein Erbe, das innerhalb des griechischen Sprachbereichs d u r c h das hellenistische J u d e n t u m an das C h r i s t e n t u m fiel, d.h. es ist die S p r a c h e d e r S e p t u a ginta ( d a h e r spricht m a n a u c h von „ S e p t u a g i n t i s m e n " ) u n d die S p r a c h e der d a v o n beeinflußten hellenistischen S y n a g o g e . Biblizism e n , die letztlich meist „ H e b r a i s m e n " sind, da sie ja auf die h e b r ä ische Bibel z u r ü c k g e h e n , finden sich n o c h in den späteren P r o d u k ten d e r urchristlichen Literatur, solange die griechische Bibel der hellenistischen J u d e n das Buch d e r Christenheit blieb - die heutige S p r a c h e „ K a n a a n s " . In d e r urchristlichen Literatur sind die Briefe des Paulus auffallend frei von solchen Biblizismen. Bei d e m später schreibenden Lukas sind sie sehr häufig, vor allem in d e r Apostelgeschichte. D a die U n t e r s c h e i d u n g solcher Biblizismen von Semitism e n , die d u r c h U b e r s e t z u n g einer Quelle aus dem A r a m ä i s c h e n e n t s t a n d e n sind, o f t schwierig ist, bleibt es umstritten, ob Lukas etwa f ü r die ersten 12 Kapitel seines Buches eine Quelle b e n u t z t hat, die aus d e m A r a m ä i s c h e n übersetzt w u r d e . Die Semitismen des ersten Teiles d e r Apostelgeschichte sind den Biblizismen des zweiten Teiles sehr ähnlich. Biblizismen gibt es besonders in den frühchristlichen Schriften, d e r e n V e r f a s s e r stark von d e r traditionellen S y n a g o g e n p r e d i g t a b h ä n g i g sind, z.B. im 1. Petrusbrief und im 2. Clemensbrief, ebenso d o r t , w o die jüdische A u s l e g u n g s m e t h o d e der griechischen Bibel a u f g e g r i f f e n u n d f o r t g e s e t z t w i r d ; beide M o m e n t e , die ja eng z u s a m m e n g e h ö r e n , m a c h e n sich z.B. im Barnabasbrief und im 1. Clemensbrief b e m e r k b a r . 4. Eine g a n z e Reihe von Semitismen m ö g e n d a h e r r ü h r e n , daß die griechische U m g a n g s s p r a c h e , der sie e n t s t a m m e n , in einem zweisprachigen Milieu g e f o r m t w u r d e . H e i d e n und Christen, wie a u c h J u d e n , die e n t w e d e r Griechisch o d e r Aramäisch sprachen o d e r sich beider S p r a c h e n bedienen k o n n t e n , haben in vielen Städten Syriens und Palästinas e n g z u s a m m e n g e w o h n t . D a r a u s entste-
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hende Einwirkungen einer fremden Sprache setzen sich bekanntlich in einer Umgangs-und Verkehrssprache schneller durch als in einer literarischen Hochsprache. Semitische Einflüsse dieser Art kann das frühe Christentum schon vom „jüdischen Griechisch" des hellenistischen Judentums übernommen haben. Dahin gehören Ausdrücke wie die letztlich aus der hebräischen Bibel stammenden πρόσωπον λαμβάνειν = „parteilich sein", und πρόσωπον Οαυμάζειν = „schmeicheln". Andere derartige Semitismen können auch unmittelbar in einer christlichen Gemeinde entstanden sein, in der viele Mitglieder sowohl Aramäisch als auch Griechisch sprachen, ob sie nun Juden waren oder nicht. Eine solche Gemeinde war die älteste Christengemeinde in Antiochien, und auch in Jerusalem hat es in oder neben der aramäisch sprechenden Urgemeinde „Hellenisten", d.h. griechisch sprechende Judenchristen gegeben. Vielleicht erklären sich daraus viele „Semitismen" des Johannesevangeliums: das Evangelium selbst oder seine Quellen könnten aus einer solchen zweisprachigen Gemeinde Syriens stammen. Die Grenze zwischen dem, was ein durchaus geläufiger Bestandteil der griechischen Umgangssprache sein kann, und dem, was offenbar auf den Einfluß des Aramäischen zurückgeht, läßt sich hier nicht leicht ziehen. Es kann sich nämlich oft um sonst im Griechischen zwar nicht unmögliche, aber doch ungewöhnliche sprachliche Erscheinungen handeln, die deshalb stärker hervortreten, weil parallele Ausdrücke des Aramäischen (oder des Hebräischen) das begünstigen. Das ist sicherlich der Grund für die auffallende Zunahme des instrumentalen Dativs mit der Präposition έν ( = 3 ) und für die Vorliebe für das parataktische καί ( = 1 ) in christlichen Schriften. 5. Fremdwörter aus dem Hebräischen und Aramäischen erscheinen aus den verschiedensten Ursachen. Semitische Wörter wie βόσσος = der „Byssos" genannte feine Leinenstoff, und μ ν δ = die „Mine", eine Rechnungseinheit zu hundert Drachmen, waren längst allgemein gebrauchte Bestandteile der griechischen Verkehrssprache geworden. Andere Fremdwörter mögen unmittelbar aus dem Kontakt der beiden Sprachen in einer zweisprachigen Gemeinde erwachsen sein, wie die Anrede φαββί = „Rabbi" für den Lehrer. Die Liturgie hat immer die Tendenz, spezielle Wörter und Wendungen einer fremden Sprache zu bewahren wie das bekannte μ α ρ ά ν α 9ά = ΝΠ ί « Ί 0 = „ H e r r , komm!" (1. Kor. 16,22; Did. 10,6) oder „Hosiannah" und „Amen", die sich aus dem Hebräischen über das Griechische und Lateinische bis in die modernen
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Sprachen durch den liturgischen Gebrauch hinübergerettet haben. Nicht unerwähnt bleiben darf die Beibehaltung fremdsprachiger Redewendungen als Zauberformeln. In den Evangelien finden sich έφφαΟα (Transkription des aramäischen ΠΓΙδΓΚ = „tu dich a u f ! " Mk. 7,34) und τ α λ ι θ ά κ ο ϋ μ (Transkription von Οψ NrpVö = „Mädchen, stehe a u f ! " Mk. 5,41). Dafür finden sich in den Zauberpapyri und in gnostischen Texten viele Parallelen.
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R.PFEIFFER, History of Classical Scholarship from the Beginnings to the End of the Hellenistic Age, 1968. I. L. HEIBERG, Geschichte der Mathematik und Naturwissenschaften im Altertum, H A W V I , 2, 1925. G. SARTON, A History of Science I-II, 1952-59. S. SAMBURSKY, The Physical World of Late Antiquity, 1962.
a) Voraussetzungen und Anfänge Die Anfänge wissenschaftlichen Denkens reichen in den von Griechen besiedelten Ländern und Städten bis ins 6 . J h . v C h r zurück. Die Erweiterung des Erfahrungshorizontes durch die griechische Kolonisation sowie ägyptische und babylonische Einflüsse, die bereits in frühklassischer Zeit spürbar sind, haben Wesentliches dazu beigetragen. Es waren die Griechen der ionischen Städte Kleinasiens und der Inseln, die auf fast allen Gebieten die Türen zur wissenschaftlichen Betrachtung der Welt öffneten. Dazu traten die philosophischen Bemühungen, die zwar bei den Vorsokratikern zunächst noch überwiegend spekulativ ausgerichtet waren, aber seit Piatos Mythenkritik auch eine mathematisch exakte Welterklärung forderten. Sehr früh entwickelte sich die Ethnographie. Nachdem das Mittelmeer und das Schwarze Meer (die Entdeckung dieser Meere spiegelt sich in der Odysse und in der Argonautensage) sowie die durch Karawanenstraßen erschlossenen Gebiete des Ostens bereits Teile der bekannten Welt geworden waren, führten zunächst phönizische und dann griechische Erkundungsreisen auch in den Atlantik. Die Karthager waren schon im 5 . J h . v C h r bis nach Großbritannien gefahren. Im Jahre 325 kam der Grieche Pytheas aus Massilia (Marseille) bis in die Nordsee und bis zur Insel „ T h ü l e " sechs T a -
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gesfahrten nördlich von Britannien (ob damit Island, die ShetlandInseln oder Norwegen gemeint sind, ist umstritten; jedenfalls wurde berichtet, daß es dort während der Sommersonnenwende nicht Nacht wird). Euthymenes, ebenfalls aus Massilia war schon im 6. Jh.vChr an der Küste Westafrikas bis zur Mündung des Senegal oder des Niger gekommen. Skylax (aus Karien) fuhr im Auftrag des persischen Königs Dareios 519-516vChr vom Kabulfluß durch den Indus und an den Küsten Persiens und Arabiens entlang bis ins Rote Meer. Aus solchen Reisen waren eine Reihe von Büchern entstanden, die man „Periploi" nannte und in denen von der Küste aus fremde Länder beschrieben wurden. Sie enthielten auch Angaben über Richtung und Entfernung und wurden als Handbücher für Seefahrer gebraucht, dienten aber ebenso den Geographen als eine wichtige Quelle für ihre Werke. Der älteste Geograph und Ethnograph war Hekataios von Milet (ca. 560-480), der auf seinen Erdkarten bereits eine schematische Zoneneinteilung versucht haben soll. Mit Herodot (ca. 484-430) wandte sich das Interesse aber mehr der Beschreibung anderer Völker, ihrer Sitten und Gebräuche ( = νόμοι) und der Beschaffenheit ihres Landes (φύσις τΐ)ς χώρας) zu; hinter dieser Ethnographie im Dienste der Geschichtswissenschaft trat die eigentliche Geographie vorerst zurück. Eng verwandt sind die Anfänge der wissenschaftlichen Medizin. Im 5.Jh.vChr bemühten sich Hippokrates und andere Mitglieder der koischen Ärzteschule darum, den Zusammenhang zwischen der physikalischen Beschaffenheit des Landes und der Erscheinung des Menschen zu erklären. In das 4.Jh.vChr fallen die Anfänge der wissenschaftlichen Astronomie. Die Kugelgestalt der Erde war bereits im vorausgehenden Jahrhundert entdeckt worden. Herakleides Pontikos, ein Schüler Piatos und Zeitgenosse des Aristoteles, entdeckte die Achsendrehung der Erde und nahm wahrscheinlich auch an, daß einige Planeten um die Sonne kreisten. Der ebenfalls aus der platonischen Akademie hervorgegangene Eudoxos von Knidos (ca. 400-355/347), Leiter einer Schule in Kyzikos, neben Aristoteles der bedeutendste Universalgelehrte des 4.Jahrhunderts, verfaßte eine maßgebliche Beschreibung des Fixsternhimmels, untermauerte freilich auch die verbreitete Meinung, daß Sonne, Mond und Planeten in konzentrischen Sphären um die Erde kreisten. Die in der Mathematik seit den ersten Anfängen bei den Pythagoräern und Eleaten angesammelten Erkenntnisse wurden von Eudoxos systematisch durchgear-
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beitet und weiter ausgebaut, so daß am Beginn der hellenistischen Zeit Euklid (er wirkte 306-283 in Alexandrien) in seinen „Elementen" einen in vieler Hinsicht abschließenden Leitfaden der Mathematik auf Grund dieser Arbeiten verfassen konnte. Auch praktische Erkenntnisse der Mathematik, wie z.B. das Hebelgesetz, hatten zu dieser Zeit bereits beim Bau einfacher Maschinen und in der Kriegstechnik Anwendung gefunden. Zu einem Höhepunkt wurde der wissenschaftliche Betrieb durch den Naturwissenschaftler und Philosophen Aristoteles, Sohn eines Arztes aus Stageiros auf der Chalkidike, geführt. Er kam ebenfalls aus der platonischen Akademie, gründete aber - nach mehrjähriger Tätigkeit in Mysien, in Mytilene auf Lesbos und am Hof Philipps II. in Pella - im Jahre 335 in Athen seine eigene Schule, das Lykeion. Hier organisierte und leitete er einen ausgedehnten Forschungsbetrieb auf den verschiedensten Gebieten. Neben den Naturwisschenschaften erstreckten sich die wissenschaftlichen Arbeiten auch auf die Bereiche der Politik - 158 verschiedene Staatsverfassungen wurden z.B. zusammengestellt und verglichen und auf die Geschichte, wofür umfangreiche Materialsammlungen hergestellt wurden. Aristoteles' eigener Beitrag ist am bedeutendsten auf dem Gebiet der Meteorologie, Botanik und Zoologie. Auf dem letzteren Gebiet, wo er neben der Ergänzung vorhandener Materialsammlungen und zahlreichen guten Einzelbeobachtungen ein System der Klassifizierung schuf, blieben seine Erkenntnisse bis zum Beginn der modernen Naturwissenschaften unerreicht. In der Botanik gab es bis dahin nur gelegentliche Beschreibungen von Pflanzen, die meist aus dem pharmakologischen Interesse der Medizin erwachsen waren. Von Aristoteles' eigenen Werken darüber ist nichts erhalten. Maßgeblich für die Antike wurden in der Botanik die Werke des Aristotelesschülers Theophrast: er erarbeitete eine Klassifizierung der Pflanzen, beschrieb ihre Strukturen und sammelte das Material, das Ärzte, Reisende und Verfasser von Landwirtschaftsbüchern zusammengetragen hatten. Damit steht die wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Biologie bereits am Beginn der hellenistischen Welt auf ihrem Höhepunkt. b) Die Blüte der Wissenschaft in der hellenistischen Zeit Die eigentliche Blütezeit der griechischen Wissenschaft fällt in die zwei Jahrhunderte nach Alexander dem Großen. Hier kam die Erweiterung des Erfahrungshorizontes durch die Eroberungen
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Alexanders zum Tragen, orientalische Einflüsse konnten sich nachhaltig auswirken und wissenschaftliche Bemühungen wurden von den Herrschern, vor allem von den Ptolemäern, aber auch von einigen Städten (Rhodos) gefördert. Im Peripatos, der Schule des Aristoteles, wurde der begonnene Forschungsbetrieb weitergeführt. Neben Theophrast war der gleichaltrige Eudemos von Rhodos der bedeutendste Gelehrte dieser Schule. Außer den schon oben genannten Gebieten widmete man sich auch der Anthropologie, Hydrologie und Mineralogie, ferner der Musik (hier ist der erste bekannte Musikwissenschaftler Aristoxenos zu nennen) und der Wissenschaftsgeschichte (Naturphilosophie, Geometrie und Astronomie). Ein wichtiges Resultat dieses Interesses an der Geschichte der Disziplinen war die Ausarbeitung von Biographien berühmter Männer der Vergangenheit (s.u.§3.4d). Zwar zeigt sich in dieser Schule bald ein deutlicher Niedergang; doch blieb sie ein wichtiges Zentrum des Studiums für alle diejenigen, die an politischer Wissenschaft, Wissenschaftsgeschichte, Biographie und Naturforschung ein Interesse hatten. In der Mathematik erreichte die Antike durch Archimedes von Syrakus (geb.287vChr, er wurde 212 bei der Eroberung von Syrakus von einem römischen Soldaten erschlagen) ihren Höhepunkt. Eine große Zahl von mathematischen Berechnungen und geometrischen Entdeckungen, die diese Wissenschaft der Antike verdankt, gehen auf Archimedes zurück. Er berechnete das mit dem griechischen Buchstaben ,,π" bezeichnete Verhältnis des Kreisumfangs zum Kreisdurchmesser als eine Zahl, die zwischen 310/7O und 310/7i liegen müsse, d.h. zwischen 3,1428 und 3,1408; der heute angenommene Wert ist 3,1416. Er entdeckte das Verhältnis des Volumens der Kugel zum umschreibenden Zylinder. Die Erkenntnis, daß ein Körper in einer Flüssigkeit soviel an Gewicht verliert, wie die verdrängte Flüssigkeitsmenge wiegt, ist bis heute als „Archimedisches Prinzip" bekannt. Er beschäftigte sich aber auch mit praktischen Anwendungen mathematischer und physikalischer Erkenntnisse und konstruierte den Differentialflaschenzug, die „Archimedische Schraube", die zum Wasserpumpen auf Schiffen und bei der Landbewässerung verwendet werden konnte, und Verteidigungsmaschinen, durch die er jahrelang half, die Angriffe der Römer auf das belagerte Syrakus abzuwehren.
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Die genialste astronomische Entdeckung der hellenistischen Zeit steht gleich an ihrem Anfang: die Vorwegnahme des kopernikanischen Weltbildes durch das heliozentrische System des Aristarchos von Samos (1. Hälfte des 3.Jh.vChr). Er lehrte, daß die Sonne etwa 300 mal größer sei als die Erde, daß sich die Erde und alle Planeten um die Sonne drehten und daß sich die Erde außerdem um ihre eigene Achse drehe. Piatos Forderung, zu beweisen, daß die scheinbaren Bahnschleifen der Planeten in Wirklichkeit Kreisbewegungen seien, war somit erfüllt. Aber Aristarchos konnte sich nicht durchsetzen. Er wurde sogar von dem Stoiker Kleanthes der Gotteslästerung geziehen. So blieb der Antike der Durchbruch zu einem neuen Weltbild versagt. Aber im übrigen sind in der hellenistischen Zeit doch wichtige astronomische Erkenntnisse ausgearbeitet worden. Dazu hat die babylonische Astronomie einen wesentlichen Beitrag geleistet. Reichhaltiges babylonisches Material war im Laufe des 3.Jh.vChr in griechischer Ubersetzung erschienen. Nur ist es nicht immer klar, in welchem Maße der bedeutendste Astronom der Antike, Hipparchos von Nikaia, der von 160-125 vChr meist in Rhodos wirkte, von babylonischen Berechnungen abhängig ist. Seine wichtigste Entdeckung ist die Präzession der Tag- und Nachtgleichen. Er berechnete auch die genaue Jahreslänge, die sich von der heutigen Berechnung nur um 6 Minuten, 26 Sekunden unterscheidet, sowie die genaue Dauer des Mondumlaufs, die er auf 29 Tage, 12 Stunden, 44 Minuten und l x h Sekunden festsetzte, - das ist nur knapp eine Sekunde mehr als der heute gültige Wert! Von Hipparchos stammt auch ein Katalog mit rund 800 Fixsternen, die nach drei Helligkeitsgraden geordnet sind. Nach Poseidonius sollte der Durchmesser der Sonne das 39'/2-fache des Erddurchmessers betragen; frühere Berechnungen waren erheblich kleiner - tatsächlich ist der Durchmesser der Sonne etwa 109 mal so groß wie derjenige der Erde. Für die Entfernung der Sonne von der Erde nahm er den 6545-fachen Erddurchmesser an - der tatsächliche Wert ist der 11741-fache Erddurchmesser. Mit der Entdeckung der Kugelgestalt der Erde waren die Voraussetzungen für die wissenschaftliche Geographie gegeben. Wichtige Anstöße kamen unmittelbar aus den Eroberungen Alexanders des Großen, der sofort nach der Besetzung eines Landes seinen Geodätenstab damit beauftragte, Landvermessungen vorzunehmen. Dadurch entstand ein rein geographisches Interesse, das sich von der alten Ethnographie, der es um die Beschreibung von Völ-
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kern, Klima, Pflanzen und Tieren ging, abwandte. Das Hauptziel wurde nun die Herstellung der Land-, bzw. Erdkarte. Eratosthenes, der bedeutendste Geograph der Antike, der außerdem noch philosophische und mathematische Werke und eine Geschichte der Komödie schrieb, seit 246 Bibliothekar in Alexandrien, entwarf ein System zur kartographischen Erfassung aller bekannten Länder. Er erkannte, daß alle Ozeane zusammenhängen und daß die bewohnte Erde - Europa, Afrika, Asien - eine Insel sein müsse; eine Weltumsegelung sollte also möglich sein. Eratosthenes berechnete auch den Erdumfang, wobei er wahrscheinlich nur 300 km vom tatsächlichen Wert abwich. Der schon erwähnte Astronom Hipparchos kritisierte später das kartographische Unternehmen des Eratosthenes und forderte, durch Zusammenarbeit von Beobachtern in verschiedenen Orten die Längen-und Breitengrade möglichst vieler Orte zu bestimmen. Diese Pläne kamen nur teilweise zur Ausführung. Daß viele solcher Bestimmungen vorgenommen wurden, läßt sich aus dem bei Ptolemäus (s.u. §3.3c) gesammelten Material ersehen. In der Medizin wurden in der Anatomie Fortschritte erzielt, insbesondere durch die im 3. Jh.vChr in Alexandrien wirkenden Ärzte Herophilos und Erasistratos, denen Leichname zum Sezieren zur Verfügung gestellt wurden (ein späterer Bericht behauptet auch, daß Vivisektionen von zum Tode verurteilten Verbrechern vorgenommen worden seien). Dem ersteren gelang die Entdeckung des Nervensystems, vielleicht sogar des Blutkreislaufs; früher hatte man geglaubt, die Arterien transportierten Luft - diese irrige Anschauung setzte sich später wieder durch. Auch die Philologie wurde in der hellenistischen Zeit erstmals zu einer wissenschaftlichen Disziplin, und zwar sowohl im Ausbau der Grammatik, als auch in der Bearbeitung und Herausgabe von Texten. Mehrere Generationen von Gelehrten in Alexandrien waren daran beteiligt; der bedeutendste Gelehrte war Aristarch von Samothrake (ca.216-144vChr). Die Anregungen zum Ausbau der Grammatik kamen aus der Stoa, wo die erste Einteilung der Konsonanten und Vokale vorgenommen und eine Lehre der Flexionen und Tempora entworfen wurde. Aristarch hat systematisch die Flexionslehre bearbeitet, Modelle der einzelnen Konjugationen und Deklinationen aufgestellt und eine Liste der Ausnahmen angefertigt. Sein Schüler Dionysios Thrax hat dann diese Arbeiten zusammengestellt und in einer für die ganze Antike gültig gebliebe-
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nen Form in einem Kompendium herausgegeben. Daneben widmete man sich der systematischen Bearbeitung und Herausgabe von Texten. Handschriften wurden gesammelt, verglichen und emendiert, um so neue Ausgaben möglich zu machen. Dazu wurden Kommentare, Monographien und Wörterverzeichnisse abgefaßt, durch die die Arbeit an den Textausgaben erleichtert werden sollte. Auch bei dieser Arbeit blieb Alexandrien führend, und zwar vom Beginn dieser wissenschaftlichen Philologie im 3. und 2 . J h . v C h r bis ins 3.Jh.nChr. Der Niedergang begann erst in der Spätantike, aber christliche Gelehrte wie Origenes, Lukian von Antiochien und Euseb von Cäsarea konnten mit ihren eigenen Arbeiten am Text der griechischen Bibel noch unmittelbar an diese Tradition anknüpfen. Ein anderer Zweig philologischer Gelehrsamkeit, die Etymologie, in der sich viele sehr eifrig betätigten, kam in der ganzen Antike niemals zu einer wissenschaftlichen Klärung. Schon seit Homer hatte man versucht, einzelne W ö r t e r etymologisch zu deuten. Dichter, Sophisten und Homer-Interpreten wetteiferten in dieser Kunst. Trotz Piatos Kritik an den Versuchen dieser Etymologen, das wahre Wesen der Dinge durch solche Spekulationen zu ergründen, wurden sie in der Folgezeit sowohl in der Grammatik als auch in der Philosophie, besonders bei den Stoikern, ungebrochen fortgesetzt. In der wissenschaftlichen Grammatik hat erst im l . J h . v C h r Philoxenos von Alexandrien versucht, die Etymologie auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen: er bestimmte einsilbige Verben als die Wurzeln aller übrigen Wörter. Aber hier wie überhaupt in der Frage der Auslegungs- und Interpretationsmethoden Aristarch entwickelte das Prinzip der Analogie: Homer darf nur durch Homer interpretiert werden - ist die Philologie nicht über Ansätze wissenschaftlicher Arbeit hinausgekommen. c) Die spätere Entwicklung bis zur römischen Zeit Selbst bei vorsichtigster Beurteilung läßt sich die weitere Entwicklung bis zur römischen Kaiserzeit und darüber hinaus nur als Niedergang der wissenschaftlichen Arbeit charakterisieren. Die eigentliche Forschung hörte im l . J h . v C h r auf. An die Stelle neuer Beiträge traten Enzyklopädien und Sammlungen älterer Forschungsergebnisse. Dazu kamen unkritische Popularisierungen, die nur auf Unterhaltung abgestellt waren. Hand in Hand damit ging eine Zunahme des Aberglaubens, und die Ansichten einer früheren Zeit, die vielfach durch die wissenschaftlichen Arbeiten der
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hellenistischen Epoche ad absurdum geführt worden waren, lebten wieder auf. In der Mathematik brachte die römische Zeit nichts Neues, aber bis zum Ende der Kaiserzeit wurden die älteren Erkenntnisse weiter gepflegt und in Kompendien gesammelt. In der Astronomie schuf Ptolemaios (ca. 100-170 nChr), der meist in Alexandrien wirkte, eine Zusammenfassung aller astronomischen Arbeiten und Kenntnisse der Antike, die als „ A l m a g e s t " ( „ A l " ist der arabische Artikel, „ m a g e s t " kommt von dem griechischen Titel „Megist[e Syntaxis]") bekannt ist. Dieses Buch enthält auch eigene Beobachtungen des Ptolemaios, die aber teilweise schlechter sind als die seiner Vorgänger. In der Zoologie hatte schon in der hellenistischen Zeit das Interesse an den merkwürdigen Erscheinungen des Tierreiches zugenommen. Man schrieb auch über die Intelligenz der Tiere und ihr sittliches Verhalten, verfaßte Spezialstudien, z.B. über giftige Tiere, aber weithin trat die Anekdote an die Stelle der wissenschaftlichen Kritik. All das findet sich in enzyklopädischen Werken der späteren Zeit wieder. Zum Teil wird auch die Geographie und Ethnographie von solchem Interesse beherrscht. Man möchte mehr über die Eigenheiten und Besonderheiten fremder Völker, Länder und Städte wissen. Entsprechende Werke enthalten teils mehr Geschichtswissenschaftliches, teils mehr Paradoxographie als ethnographische Studien. Große Mengen von Material sind weiterhin gesammelt worden. Historiker (Polybios) und Geographen (Strabo) haben solche Sammlungen benutzt und auch selbst neues Material beigetragen, aber keineswegs immer kritisch geprüft. Man spürt, daß manche dieser Schriften den Lesern zur Unterhaltung dienen wollen. Es hat Werke gegeben, die völlig wahllos Ernsthaftes und Unterhaltendes, Glaubwürdiges und Unglaubwürdiges über fremde Länder und Völker zusammenstellten. Die hellenistischen Romane haben aus solchen Quellen geschöpft. Die medizinische Wissenschaft hat in der römischen Kaiserzeit noch einmal eine Blüte erlebt, obgleich sich in der Stellung des Arztes in der Gesellschaft manche Auflösungserscheinungen zeigten. Die klassische und hellenistische Zeit hatte neben den weiterbestehenden großen Heil-und Kultstätten die Anfänge einer Gesundheitspflege gesehen, die durch wissenschaftlich gebildete Arzte getragen wurde. Der Späthellenismus erlebte eine Aufspaltung der Medizin in verschiedene Schulen, deren Streitereien denen der Philosophenschulen ähnlich waren. Gleichzeitig ging die Forschung
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zurück, und der Dogmatismus siegte oft über die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen. Am Beginn der römischen Kaiserzeit standen neben den Kompendien, in denen das medizinische Wissen der Alten gesammelt wurde, zunehmend unkritische Popularisierungen des ärztlichen Wissens in Schriften über Medizin, Pharmakologie und Diät. In der ärztlichen Praxis entsprach dieser Situation eine Zunahme des Spezialistentums, das den verwöhnten Bedürfnissen einer Großstadtbevölkerung Rechnung trug, und ein Uberhandnehmen der Quacksalberei, der Magie und des Zaubers. Von diesem Hintergrund heben sich die großen Gestalten unter den Ärzten der römischen Kaiserzeit wohltuend ab. Sie bereicherten das ärztliche Wissen in hohem Maße durch eigene Forschungen und Beobachtungen. Rufus von Ephesos, der zur Zeit Trajans am Anfang des 2.Jh.nChr wirkte, sammelte und klärte die anatomischen Kenntnisse seiner Vorgänger und trug in sorgfältigen Krankheitsbeschreibungen wesentlich zum Fortschritt der inneren Medizin bei. Sein Zeitgenosse Soranos von Ephesos führte in seinen Werken die antike Gynäkologie und Säuglingspflege zum Höhepunkt. Aus seiner auch sonst sehr reichhaltigen schriftstellerischen Tätigkeit wurde das Buch „Uber die Seele", das verloren ist, zur Hauptquelle von Tertullians Werk De anima. Der größte Arzt der römischen Zeit war Galen aus Pergamon (nach 129-199nChr). Auf große ärztliche Erfahrung ebenso wie auf eigene Forschungen gestützt, faßte er in zahlreichen Schriften das medizinische Wissen der Antike auf den meisten Fachgebieten zusammen. Uberall zeigt sich dabei sein eigenes Urteil, das oft dem Urteil seiner Vorgänger überlegen ist. Galens Werk ist nicht nur das letzte große medizinische Werk der Antike, sondern der letzte Höhepunkt der naturwissenschaftlichen Arbeit des Altertums überhaupt. Es blieb bis ans Ende des Mittelalters die maßgebliche Arbeit der medizinischen Praxis und Theorie.
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Literatur
A.LESKY, Geschichte der griechischen Literatur, 3 1971 (auch die hellenistische und römische Zeit ist ausführlich behandelt; bestes Lesebuch und Nachschlagwerk; Literatur!). W.KRANZ, Griechentum: Eine Geschichte der griechischen Kultur und Literatur, ' I 9 6 0 .
F.A.WRIGHT, A History of Later Greek Literature, 1952.
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Zub: U. VON WILAMOWITZ-MÖLLENDORF, Hellenistische Dichtung in der Zeit des Kallimachos, I-II, 1924. A . KÖRTE - P . HÄNDEL, D i e h e l l e n i s t i s c h e D i c h t u n g ,
2
1960.
Τ. B. L. WEBSTER, Hellenistic Poetry and Art, 1964. Zuc: Ε. SCHWARTZ, Griechische Geschichtsschreibung, 1957. M.DIBELIUS, Die Reden der Apostelgeschichte und die antike Geschichtsschreibung, Aufsätze zur Apostelgeschichte,*1961, 120-162. Zuä: L. BIELER, ΘΕΙΟΣ A N E P : Das Bild des „göttlichen Menschen" in Spätantike und Frühchristentum, I-II, 1935-1936, Nachdruck 1976. A. DIHLE, Studien zur griechischen Biographie, 1956. A. MOMIGLIANO, The Development of Greek Biography, 1971. D. R. STUART, Epochs of Greek and Roman Biography, 1925. Zue: E.ROHDE, Der griechische Roman und seine Vorläufer, 3 1914, Nachdruck 1960 (klassisches Werk, in den Ergebnissen heute überholt). R. HELM, Der antike Roman, 2 1956. M.BRAUN, Griechischer Roman und hellenistische Geschichtsschreibung, 1934. K.KERENYI, Der antike Roman: Einführung und Textauswahl, 1971 (gute Anleitung zum Lesen der Texte). R. MERKELBACH, Roman und Mysterium in der Antike, 1962 (religionsgeschichtlich wichtig, aber umstritten). Ders., Die Quellen des griechischen Alexanderromans, 1954. a) V o r a u s s e t z u n g e n In der Literatur traten Inhalte, Formen und Traditionen in den Vordergrund, die dem Weltverständnis der erweiterten Horizonte entsprachen. Die Beziehung des griechischen Erbes zur Welt des Orients und seiner Völker ist vielfach deutlich. D a ß „Orientalisches" nun im Gewände einer klassischen griechischen Literaturform auftreten konnte, wie etwa im Moses-Drama des jüdischen Tragikers Ezechiel, ist ebenso charakteristisch wie die Tatsache, daß auch die Griechen zwar nicht so sehr die Literaturformen, aber in hohem Maße Erzählungsgut, T h e m e n und überhaupt die Welterfahrung des Ostens in ihr literarisches Schaffen einbezogen. N e b e n die Griechen traten bald hellenisierte Nichtgriechen, die in ihren Werken die Tradition der griechischen Literatur fortführten: Jambulos, der Verfasser eines der ältesten griechischen Romane,
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war ebenso Syrer wie Lukian von Samosata, einer der fruchtbarsten Schriftsteller der römischen Zeit. Babrius, ein gebürtiger Römer, war der Hofdichter eines gewissen Königs Alexander in Cetis in Kilikien, eines Enkels des Herodessohnes Alexander, und setzte die Fabeln des Äsop in griechische Verse. Dazu kamen zahlreiche Schriftsteller, die Geschichte und Tradition ihrer eigenen Völker in griechischer Sprache verfaßten wie der babylonische Priester Berossos, der ägyptische Priester Manetho und der jüdische Schriftsteller Josephus. Zur vielfachen Verschlingung des Griechischen und des Orientalischen in der Literatur kommt noch die Menge und Vielfalt der literarischen Produktion hinzu. Man mag in der hellenistischen Literatur die Auflösung der strengen Formen der klassischen griechischen Literatur beklagen - es kann aber keine Frage sein, daß die griechische Literatur der hellenistischen und römischen Zeit in der Vielfalt und Menge der Produktion wie auch in der Breitenwirkung alle vorhergehenden und folgenden Jahrhunderte bis hin zur Erfindung der Buchdruckerkunst bei weitem übertraf. Es wurde unglaublich viel und unglaublich Vieles geschrieben, von dem das meiste glücklicherweise und manches leider verlorengegangen ist. Und es wurde auch sehr viel gelesen. Neben den wirklich gebildeten Lesern, die nicht ausschließlich, aber doch wenigstens vielfach wissenschaftliche und philosophische Schriften lasen, gab es ein breites Publikum, das lesen konnte und unterhalten sein wollte. Dem entsprach die Stellung der Schriftsteller in der Öffentlichkeit. Nicht nur die Könige der großen Reiche förderten die Schriftsteller in mancher Weise; jeder kleine Duodezfürst hatte seinen H o f dichter oder -historiker. Aber auch so mancher Schriftsteller, der in einer entlegenen hellenistischen Stadt lebte, durfte damit rechnen, daß er ein Publikum fand, das ihn achtete und das auch las, was er schrieb. Eine Nebenerscheinung der Buchproduktion der hellenistischen und römischen Zeit ist die Herstellung von Büchern zum internen Gebrauch. Dazu gehört die Anfertigung von Materialsammlungen in den philosophischen Schulen sowie im Museion von Alexandrien, die meist wissenschaftlichen Zwecken dienten; zu nennen ist aber auch die schriftstellerische Tätigkeit religiöser Gemeinschaften und Sekten. Davon ist uns in den jüdischen und christlichen Schriften eine reichhaltige Probe erhalten. Teils handelt es sich um Gelegenheitsschriftstellerei - Korrespondenz, die erst später veröf-
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fentlicht wurde - , teils um Schriften, die speziell dazu bestimmt waren, von den Mitgliedern solcher Gemeinschaften gelesen zu werden, teils um Schriften, die sich an ein breiteres Publikum richten. Die Formen und Gattungen solcher Literatur sind manchmal von den eigenen Traditionen religiöser Gemeinschaften bestimmt. Man darf die Geschichte dieser Literaturen aber nicht aus dem Rahmen der allgemeinen hellenistischen Literaturgeschichte herauslösen. Denn gerade im Prozeß der Hellenisierung solcher Religionen hat die literarische Kultur des Hellenismus einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Ausbildung der spezifischen Literaturformen religiöser Gemeinschaften ausgeübt. Angesichts der Vielfalt und Vielgestaltigkeit der Literatur des Hellenismus ist es natürlich nicht möglich, in kurzen Zügen das Wesentliche herauszustellen. Aber einmal besteht eine gewisse Einheitlichkeit insofern, als die hellenistische Literatur im ganzen an die Tradition des klassischen Griechenland anknüpft. Zum anderen ist die Literatur des Hellenismus doch weithin der Ausdruck gewisser Grundeinsichten und kultureller Strömungen, die sich auch in der römischen Zeit zumindest in der griechisch sprechenden Welt (und nicht nur hier!) ohne wesentlichen Einschnitt fortsetzen und weiterentwickeln. Schließlich ist es geboten, sich auf das zu beschränken, was f ü r das Verständnis des frühen Christentums wesentlich ist. Gerade unter diesem Gesichtspunkt muß zunächst auf eine Voraussetzung der hellenistischen Literatur eingegangen werden, nämlich auf das W e r k des letzten großen Dramatikers der klassischen Zeit: Euripides. Obwohl Euripides noch in die 2. Hälfte des 5.Jh.vChr gehört (er starb 407/6), ist es doch schwer, über die hellenistische Literatur oder die geistige Welt des Hellenismus zu reden, ohne ihn wenigstens zu erwähnen. Euripides hat in Hinsicht auf Themen, Motive und Problematik die hellenistische Literatur wie kein anderer beeinflußt und bestimmt. Als letzter der großen Tragiker des klassischen Griechenland hat er in einer Zeit der beginnenden kulturellen Auflösung zum ersten Male das Verhängnis der menschlichen Existenz gesehen, das f ü r die Erfahrung der folgenden Jahrhunderte so bedeutsam werden sollte. Damit steht er bereits am Beginn einer neuen Epoche, und sein Einfluß auf die Literatur der folgenden Zeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nicht, daß man ihn als Vertreter der V e r n u n f t gegenüber dem Aberglauben oder als Religionskritiker oder gar als Neuerer und Revolutionär
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einordnen könnte. Sicher war er von den Sophisten beeinflußt, aber seine Einsichten gehören keiner bestimmten Schule oder philosophischen Richtung an. Seine Wirkung besteht vielmehr darin, daß er über den Menschen sagt, was bis dahin noch niemand gesagt hatte: daß der Mensch mit seinen vernünftigen Einsichten wie mit seinen Leidenschaften letztlich allein und hilflos bleibt. Euripides sieht den Menschen in einem Dilemma, in dem es ihm nicht mehr gelingt, die Gegensätze seiner Existenz zu versöhnen, und er sieht ihn in einer Situation, in der die bestehenden politischen und religiösen Institutionen (das sind f ü r Euripides natürlich die Institutionen der Polis) keinen Beitrag zu einer Lösung leisten können. Größe und O h n m a c h t des Menschen sind f ü r Euripides gerade deshalb so verhängnisvoll - auch hier nimmt der Dichter eine Grundeinsicht des Hellenismus voraus - weil die Welt des Menschen keineswegs eine Welt geworden ist, in der es keine Götter und keine unbegreiflichen Mächte mehr gibt. Im Gegenteil, der Mensch ist in seinem Konflikt gerade solchen Mächten ausgeliefert, mag man sie nun die Götter nennen oder Zufall oder Geschick oder auch Dionysos. Der Mensch vermag zwar diese Mächte zu erkennen, aber es wird zu seinem Verhängnis, daß er keine Vorstellung von ihrer U n berechenbarkeit hat. Er mag sogar willens sein, solche göttliche Macht anzuerkennen, aber er mißt sich hier nicht mit seinesgleichen, und Harmonie ist ihm mit diesen Mächten nicht vergönnt. Die Gottheit kann sogar den Menschen in ihren Machtbereich hineinzwingen, aber damit richtet sie ihn gleichzeitig zugrunde wie Dionysos den König von Theben, Pentheus. In dieser Problematik sind einige der wichtigsten Fragen umrissen, die die hellenistische Literatur in mannigfachen Variationen noch jahrhundertelang beschäftigen sollten. b) Die Dichtung Die Tradition der klassischen Tragödie ist in der hellenistischen Zeit weitergeführt worden. V o r allem die Ptolemäer haben sie gepflegt; Philadelphos, der 2. Ptolemäer, veranstaltete in Alexandrien Drama-Wettbewerbe. Aber der Einfluß dieser Tragödiendichtung war gering. Auch ist uns von der reichen Produktion solcher Tragödien kaum etwas erhalten: von über 50 bekannten Tragödiendichtern des 3.Jh.vChr sind nur ein paar Fragmente mit insgesamt ein paar Dutzend Zeilen erhalten. Aus dem folgenden Jahrhundert sind nur zwei Fragmente bekannt; eines davon ist das Exodus-
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D r a m a des jüdischen Tragikers Ezechiel. N u r auf lateinischem Sprachgebiet wurde die Tragödie im 2.Jh.vChr durch die großen römischen Tragiker erneuert (s.u. §6.4b). Bis in die beginnende Kaiserzeit gehörte es zum guten Stil unter den Gebildeten, daß man sich in der Tragödiendichtung betätigte; sogar Caesar und Augustus versuchten sich in dieser Kunst. Aber in zunehmendem Maße traten die A u f f ü h r u n g e n von Tragödien hinter den Lesungen von Abschnitten aus klassischen Tragödien einerseits und den V o r führungen der Pantomimen andererseits zurück. So konnte man in der römischen Kaiserzeit wohl nur noch sehr selten eine A u f f ü h rung einer klassischen Tragödie sehen, aber man konnte zu einer Darstellung der Pantomimen gehen, die etwa ein D r a m a des Euripides in T a n z und Musik (ohne Worte!) vollständig vorführten. Unmittelbarer als in der Fortsetzung der Tragödie spiegelt sich der Geist des Hellenismus in der Neuen Komödie Athens. Die Erneuerung der Komödie erwuchs aus der Atmosphäre der politisch einst führenden Stadt Griechenlands zur Zeit der Diadochen. Ihr bedeutendster Dichter und der einzige, von dem wir einige Kenntnis haben, war Menander ( 3 4 2 / 1 - 2 9 3 oder 291). Es ist wohl seiner Sicht der politischen Situation zu verdanken, daß die Neue Komödie im Gegensatz zu Aristophanes völlig unpolitisch ist. Die politische Entmachtung des Einzelnen ist bei Menander vorausgesetzt. Seine Komödie redet nur vom Menschen in seiner Individualität. Entsprechend sind die Figuren der H a n d l u n g nicht mehr Typen, wie in der alten Komödie, sondern Charaktere. Themen und H a n d lung stammen aus der mittleren und unteren Klasse der Gesellschaft: Bürger und ihre Frauen und Töchter, Handwerker, Landleute, Sklaven und Reisende mit ihren persönlichen und sozialen Problemen. Sie sind individuell gezeichnet und kämpfen jeweils auf ihre Art mit den Widrigkeiten einer gesellschaftlichen Situation, die von Armut und Bosheit ebenso bedroht ist wie von einem unberechenbaren Schicksal. Gewinnsucht und Geld oder wenigstens ein schmaler Besitz zur Sicherung des eigenen Lebens scheinen das einzige Ziel des Lebens dieser Leute zu sein. In dieser Welt sucht Menander den letzten Rest eines echten und wahren Menschseins zu entdecken, das sich in der Fähigkeit zur Vergebung und Versöhnung erweist. Humanität zeigt sich gerade hier, und zwar als eine Möglichkeit, die den Griechen wie den Barbaren, dem Freien wie dem Sklaven in gleicher Weise offen steht. Sicher ist die N e u e Komödie auch über Athen hinausgedrungen; wie groß ihre Breitenwir-
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kung war, läßt sich schwer sagen. Immerhin sind die Namen von über 70 Komödiendichtern bekannt, von denen einige bis zu 100 Stücken gedichtet haben sollen. Viele dieser Dichter waren keine Athener. Am Beginn der römischen Kaiserzeit war die Neue Komödie ebenso wie die sich eng daran anschließende römische Komödie längst vom Mimos und Pantomimos verdrängt. Daß Paulus 1. Kor. 15,33 einen Satz aus einer Komödie Menanders zitieren kann, beweist nicht das Gegenteil; denn hier handelt es sich um ein auch sonst zitiertes bekanntes geflügeltes Wort („Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten"). Weder die Fortsetzung der klassischen Tragödie noch die Neue Komödie konnten der Forderung nach Unterhaltung Genüge tun. Diesem Bedürfnis entsprach eher der Mimos, der sich in der späteren hellenistischen und der römischen Zeit allerorten die Bühne eroberte. Aus dem älteren, wohl zum Teil mit dem Kult verbundenen Tanz entwickelt und stark von der Neuen Komödie beeinflußt, wurde er zur populärsten Form der dramatischen Darstellung. In Gruppen und auch einzeln zogen die Mimen durchs Land - manchmal hatten auch Könige ihre fest angestellten Mimen - und boten an Ort und Stelle in der Volkssprache Althergebrachtes ebenso wie Improvisationen, dazu Tanz, Possenspiel und Gauklerei. Es liegt in der Sache, daß von dem, was die Mimen boten, nur wenig erhalten ist. Aber die Fragmente der Mimiamben des koischen Dichters Herondas aus dem 3.Jh.vChr lassen erkennen, welcher Art und welchen Inhaltes diese Darstellungen waren. Charakteristisch sind die Titel der fragmentarisch aufbewahrten Stücke: „Die Kupplerin", „ D e r Bordellwirt", „Der Schulmeister", „Die Frauen im Asklepiostempel", „Die Eifersüchtige", „Die beiden Freundinnen oder Die vertrauliche Unterhaltung". Wie in der Neuen Komödie steht der einzelne, unpolitische Mensch der mittleren und unteren Bevölkerungsschichten im Mittelpunkt. Das tägliche und oft zu alltägliche Leben dieses Menschen in erlaubten und unerlaubten Betätigungen, die Frage der Grenzen zwischen Recht und Unrecht in Dingen, auf die man sich eigentlich ohnehin nicht einlassen sollte darf man einen von der Freundin geborgten „Baubon" weiterverborgen? - , echte und falsche Beziehungen, die alles andere als standesgemäß sind: all das wird dem Hörer vor Augen geführt. Es ist der Spiegel des Alltäglichen, der dem Menschen vorgehalten wird. Er mag sich darin wiederfinden, sich beklagen oder über sich lächeln. Aber im Einmaligen und Besonderen jenseits der alltäglichen
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Erfahrungen sich selbst zu erkennen und über sich selbst hinauszuwachsen, das vergönnt der Mimos dem Zuschauer nicht. Die Dichtkunst erlebte seit dem 3.Jh.vChr einen neuen Aufschwung, besonders in Alexandrien unter der Schirmherrschaft des Ptolemaios II. Philadelphos. Der bedeutendste Dichter war Kallimachos, der außerdem auch den alexandrinischen Bibliothekskatalog verfaßte, das erste bekannte Sachlexikon schrieb und der Autor geographischer, mythologischer und polemischer Schriften war. Neben den Epigrammen sind die Hymnen das einzige, was von der Dichtung des Kallimachos erhalten ist (einer Stelle seines Zeushymnus ist der Tit. 1,12 zitierte Vers nachgebildet). Für die geistige Welt des Hellenismus ist es bezeichnend, wie in den Hymnen die mythologische Uberlieferung verwendet wird. Mit dem Kult hat diese Dichtung nichts mehr zu tun. Sie ist freilich auch nicht kritisch im rationalistischen Sinne, sondern eine positive Aufnahme der mythischen Tradition im freien und zumeist geschmackvollen Spiel der Kunst. Gelegentlich finden sich auch Anspielungen auf den ptolemäischen Herrscher, dem seine Göttlichkeit bescheinigt wird. Doch ist das kein ernster Ausdruck des Glaubens an den König als Gott, sondern ein Stück „höfischer Dichtung". Der alte Kult und der Götterglaube sind ebenso tot wie die Mythenkritik Piatos und der Sophisten. Aber die Mythologie kommt zu einem neuen Leben in bewußter Wiederaufnahme der dichterischen Tradition Hesiods und der homerischen Hymnen. Der Einfluß dieser Dichtung auf die römischen Dichter Ovid und Vergil war bedeutend. Neben Kallimachos muß noch Theokrit aus Syrakus erwähnt werden, der wichtigste bukolische Dichter des Hellenismus. Er wirkte ebenfalls in Alexandrien, später auf der Insel Kos. Zur Feier des Sieges des Ptolemaios Philadelphos im ersten syrischen Krieg verfaßte er einen Hymnus zum Preise des Königs und seiner Schwestergemahlin, die er als „Rettende Götter" feiert. Daneben schrieb Theokrit „Eidyllien" (nicht „Idylle" im heutigen Sinne), in denen bukolische Themen und Szenen ausgemalt werden, außerdem „Mimoi", die sich mit dem städtischen Leben befassen und wie die Mimiamben des Herondas Charaktere und Konflikte aus den unteren Bevölkerungsschichten zeichnen. Ein typisches hellenistisches Werk sind die „Argonautika" des Apollonios Rhodios, der zunächst ebenfalls in Alexandrien, später in Rhodos wirkte (nach 246/45). Es ist das einzige erhaltene griechische Epos nach Homer und vor den „Dionysiaka" des Nonnos aus dem 5. Jh. nChr. Apollo-
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nios schrieb dieses W e r k nach umfangreichen Quellenstudien. Als durch und durch hellenistischer Schriftsteller zeigt er ein ausgeprägtes Interesse an Aitiologien, psychologischen Schilderungen der handelnden Charaktere und Naturschilderungen; dazu kommen vielfach trockene Reiseberichte. Eine Reihe von Elementen, die später f ü r den griechischen Roman konstitutiv werden sollten, sind hier bereits vorhanden. Ein rechter Spiegel der hellenistischen Seele ist das Epigramm. Es hatte sich weitgehend von seinem ursprünglichen Sitz im Leben, der Totenklage und Weihinschrift, gelöst und war oft eine Art kurzer Elegie, die zu den verschiedensten Gelegenheiten, etwa beim Gastmahl, vorgetragen werden konnte. Die Themen der heldischen Größe traten ganz zurück. An ihrer Stelle kamen Themen wie individuelle Freude und die Liebe zum Ausdruck. Daneben gibt es Beschreibungen von Berufen, Kunstwerken, Natureindrücken. Unter den sonstigen Dichtungen muß noch auf das Lehrgedicht hingewiesen werden. Es galt als eine große Kunst, Abhandlungen aus den entlegendsten Gebieten in Verse zu fassen. Fachliteratur aus der Medizin, Zoologie, Astronomie und anderen Gebieten mußten sich diese Behandlung gefallen lassen. Je weniger der Dichter von seinem Gegenstand verstand, umso mehr wurde seine Leistung bewundert. c) Die Geschichtsschreibung Die Produktivität auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung war in der hellenistischen Zeit besonders reichhaltig. Das steht allerdings in keinem Verhältnis zu dem, was tatsächlich erhalten ist. Neben Hunderten von kleineren Fragmenten der zahlreichen Universalgeschichten, Lokalgeschichten, Autobiographien und Monographien sind nur von den Werken des Polybios und des Diodorus Siculus größere Teile auf uns gekommen. Etwas besser steht es mit den griechischen Geschichtswerken aus der römischen Kaiserzeit: Die Werke des jüdischen Historikers Josephus sind so gut wie vollständig überliefert, die des Dionysios Halikarnassos, Arrian, Dio Cassius, Herodian und anderer wenigstens in umfangreicheren Fragmenten. Der Beginn der hellenistischen Zeit brachte f ü r die griechische Geschichtsschreibung einen Neuanfang. Aus der Generation, die Alexander noch persönlich gekannt hatte, erwuchsen - nicht ohne politische Absicht! - gut informierte Berichte, die auf eigenes Erle-
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ben gestützt oder aus zuverlässigen Quellen, wie Tagebuchmaterial und Urkunden, geschöpft waren. Zu diesen W e r k e n gehört die Geschichte Alexanders, die Ptolemaiosl. verfaßte, der Bericht des Admirals Alexanders, Nearchos, über die Fahrt von Indien bis zum Euphrat (beides ist zum Teil bei Arrian erhalten) und die Diadochengeschichte des Hieronymus von Kardia (Freund und Begleiter des Diadochen Eumenes), die zwar verloren ist, aber von späteren benutzt und zitiert wurde. In der T a t ist es bis in die römische Kaiserzeit - auch bei den lateinischen Historikern, wo Livius wohl die einzige Ausnahme darstellt - so gewesen, daß alle bedeutenden Historiker Männer gewesen sind, die in einflußreichen Stellungen als Politiker eine Rolle gespielt haben. Das trifft f ü r Polybios, Arrian und Dio Cassius ebenso zu wie f ü r Caesar und Tacitus, und in gewissen Grenzen auch f ü r Josephus. Polybios (geboren vor 200vChr, gestorben 129 oder nach 120vChr) stammte aus einer vornehmen Familie aus Megalopolis in Achaia. Er war zunächst höherer Beamter im achäischen Bund, wurde 168 zusammen mit 1000 anderen vornehmen Achäern nach Rom deportiert. W ä h r e n d der 17 Jahre, die er in Rom verbrachte, hatte er manchen Kontakt mit den führenden politischen Kreisen Roms; aus dieser Zeit stammt auch seine Freundschaft mit dem jüngeren Scipio. Nachdem Polybios im Jahre 150 kurz nach Griechenland zurückgekehrt war, nahm er im folgenden Jahr an dem Feldzug des jüngeren Scipio gegen Karthago teil und hatte auch Gelegenheit zu einer Flottenexpedition entlang der Nordküste Afrikas nach Westen. Nach der furchtbaren Niederlage des achäischen Bundes im Kampf mit Rom 146vChr (Korinth wurde am Ende dieses Krieges völlig dem Erdboden gleichgemacht) verhandelte Polybios im N a m e n der Achäer mit Rom, um das Los seiner Landsleute zu erleichtern. Wahrscheinlich nahm er später (134-133) noch an Scipios numantinischem Feldzug teil und unternahm noch eine Reihe weiterer Reisen außerhalb Griechenlands. Polybios' historisches W e r k ist eng mit seiner Tätigkeit als Politiker verbunden. Mit seiner Bemerkung, daß nur die am Geschehen aktiv Beteiligten Geschichte schreiben können, trifft er genau das, was die Qualität dieser politischen Geschichtsdarstellung ausmachte. Die Absicht seiner Universalgeschichte ist die kritische Wahrheitsfindung durch eine „pragmatische Geschichtsschreibung". Die Geschichte muß universal sein, weil man sonst das Ziel, auf das alles Geschehen hinläuft - f ü r Polybios die Weltherrschaft Roms - nicht verstehen
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kann. Wundergeschichten und Paradoxa haben in der Geschichtsdarstellung keinen Platz. Sie verstellen die Frage nach den Ursachen des Geschehens, der vornehmsten und wichtigsten Aufgabe des Historikers. D a z u gehört die Kenntnis der Voraussetzungen, die sich f ü r Polybios aus einer Untersuchung der Länder und Völker, der politischen Verhältnisse und der führenden Persönlichkeiten ergeben. Daher spielen drei zur Geschichtsschreibung gehörende Disziplinen bei Polybios eine wichtige Rolle: die Ethnographie, das Studium der Staatsverfassungen und die Biographie. Gleichzeitig weiß Polybios aber auch um die Macht der „ T y c h e " sei dies nun der Zufall, das Glück oder das Schicksal - , und er ist klug genug, dieser unberechenbarsten Ursache den ihr zukommenden Spielraum zu überlassen. Außerdem will er moralisch belehren, aber er verwirft ausdrücklich die Absicht, durch Geschichtsdarstellung zu unterhalten. Polybios' eigener Sicht des Historikers als Person, die am Geschehen aktiven Anteil nimmt, entspricht sein Quellenmaterial: eigenes Erleben, Befragung der Beteiligten, schriftliche Äußerungen, Reden und Briefe der Politiker, U r k u n den und unter diesem Gesichtspunkt kritisch gesichtetes Material älterer Historiker. Weder in der Leistung noch in der methodischen Verarbeitung des Quellenmaterials kann sich irgendein anderer Historiker der hellenistischen Zeit mit Polybios messen. Poseidonios, der Polybios' Geschichtswerk fortsetzte, ist unkritisch in der Verwertung seines Materials und nicht imstande, klaren Kriterien für die Bewertung geschichtlicher Ursachen zu folgen. H a t aber Poseidonios in seinem großen Geschichtswerk wenigstens noch versucht, „ G e schichte" zu schreiben, so muß man von den übrigen Historikern der ausgehenden hellenistischen Zeit sagen, daß sie in erster Linie Sammler und Kompilatoren waren. Das bedeutet freilich auch, daß in dem, was von ihren Werken erhalten ist, manche wertvolle Nachricht steckt. Nikolaos von Damaskus, der Hofhistoriker Herodes des Großen, der eine Weltgeschichte in 144 Büchern schrieb, wurde von Josephus benutzt, wodurch wir heute sehr eingehend betreffs dieses jüdischen Königs informiert sind. Der Kompilator Alexander Polyhistor aus Milet sammelte in einer großen Anzahl von Büchern Material über die Völker des Ostens, darunter auch zahlreiche Fragmente jüdischer Schriftsteller (einiges davon ist bei dem Kirchenhistoriker Eusebius erhalten). In größerem Umfange auf uns gekommen ist ein Teil der Universalgeschichte des Diodo-
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rus Siculus, der ebenfalls im l . J h . v C h r lebte; wichtiges älteres Quellenmaterial ist hier benutzt, w ä h r e n d die eigene Leistung Diodors als Historiker nur gering war. Anspruchsvoller ist die Römische Geschichte des Dionysios von Halikarnassus, der aber bei aller Bewunderung f ü r römische G r ö ß e o f t einen Mangel an Sachkenntnis und kritischem Urteilsvermögen zeigt. Mit diesen Historikern befinden wir uns bereits an der Schwelle der römischen Kaiserzeit (weiteres darüber s.u. §6. 4ά). N e b e n diesen größeren Geschichtswerken, denen man im allgemeinen einen gewissen Quellenwert zugesteht, steht eine reiche Schriftstellerei auf historischem Gebiet, die unserem heutigen Begriff von Geschichtsschreibung weder in der Bewältigung des Gegenstandes noch in der Absicht entspricht. Die aus der Zeit Alexanders des Großen stammende panegyrische Verherrlichung Alexanders hat allerdings großen Einfluß auf die Alexanderlegende und somit auch auf das Alexanderbild der Antike gehabt. Auch über andere H e r r s c h e r der hellenistischen Zeit sind eine Reihe von Berichten geschrieben w o r d e n , in denen Panegyrik, Rhetorik und r o m a n hafte Ausgestaltung die leitenden Motive waren. D a ß es Geschichtsdarstellungen gab, denen man vorwarf, daß sie lediglich z u r U n t e r haltung des Lesers bestimmt seien, ergibt sich aus der kritischen H a l t u n g des Polybios gegenüber solcher Abzweckung der Geschichtsschreibung. Derartiges Material ist gelegentlich bei D i o d o rus Siculus erhalten. Bei dem weitverbreiteten ethnographischen Interesse jener Zeit hat die unkritische Einstellung nicht nur manche unglaubwürdige Nachricht über f r e m d e Völker und Länder in die Darstellung eindringen lassen, sondern überhaupt die Betonung des Eigentümlichen und Merkwürdigen gefördert. Das entspricht der Entwicklung in anderen Literaturgattungen des Hellenismus, die sich noch in der römischen Zeit fortsetzt. d) Biographie und Aretalogie In den Ländern des Orients w a r der N ä h r b o d e n f ü r die Entstehung der Biographie die monarchische Staatsform. In Ägypten hatte sich die Herrscherbiographie sowie die Biographie hoher V e r waltungsbeamter und W ü r d e n t r ä g e r von alters her in festen und bis ins Einzelne ausgebauten Schemata entwickelt. Alttestamentliche biographische Stücke, die sich in der Mosesgeschichte, in den Prophetenbüchern (besonders bei Jeremia) und im Buch Nehemia finden, gehen auf solche Vorbilder zurück. Hingegen ist die Bio-
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graphie dem klassischen Griechenland unbekannt. Natürlich gibt es schon in der homerischen Epik ein gewisses Interesse an den Daten des Lebensablaufs einzelner Gestalten der Sage, und Bücher wie Xenophons Kyropädie und Piatons Apologie des Sokrates enthalten biographische Elemente. Aber um Biographien im strengen Sinne handelt es sich dabei nicht. Die politische und soziale Struktur der griechischen Gesellschaft dieser Zeit ließ dem Interesse am Leben und Schicksal der überragenden Einzelpersönlichkeit keinen Raum. Das ist wohl der wesentliche Grund dafür, daß sich diese Literaturgattung im griechischen Raum erst spät, d.h. an der Schwelle zur hellenistischen Zeit entwickelte, und zwar aus ganz anderen Motiven als denjenigen, aus denen die orientalische Herrscherbiographie erwachsen ist. Grund und Anlaß zur Ausbildung der Biographie lagen im Interesse am Leben berühmter Dichter und Philosophen. Man fragte nach dem Verhältnis ihres Werkes zu ihrem Leben, und man begann, nach Vorbildern für das rechte Leben des weisen Mannes zu suchen. Die systematische Ausbildung dieses Interesses zu einer planmäßigen literarischen Tätigkeit ist den Schülern des Aristoteles zu verdanken, vor allem dem sonst als Musikwissenschaftler bekannten Aristoxenos. Er verfaßte Biographien des Pytagoras, des Sokrates, Piatons und anderer. Unglücklicherweise ist fast nichts davon erhalten. Es ist aber anzunehmen, daß die in der Philosophie des Aristoteles herausgearbeiteten Lehren über die Differenzierung der Tugenden und den Zusammenhang zwischen Charakter und Bios hier Anwendung fanden, so daß der Zweck der Biographien war, die Grundsätze philosophischer Lehren, Lebensführung und Charakterbildung in der Form des Bios vorzuführen. Wie es dem Schulbetrieb des Peripatos entsprach, wurden auch Materialsammlungen als Vorarbeiten angelegt. Dieses Material fand nicht nur in Einzelbiographien Verwendung, sondern auch in Vitenreihen, in denen das Leben einer ganzen Anzahl von Dichtern oder Philosophen dargestellt wurde, sowie für Biographien, die man später den Klassikerausgaben voranstellte. An dem wenigen, was erhalten ist, fällt die völlig unkritische Einstellung auf; Anekdoten, Legenden und romantische Verherrlichungen überwiegen. Neben den Dichter- und Philosophenbiographien stehen am Beginn des Hellenismus einige Biographien, die sich mit den zu dieser Zeit stark hervortretenden Herrscherpersönlichkeiten befassen, und zwar insbesondere mit Alexander dem Großen und mit einigen
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Herrschern von Syrakus und von Makedonien. Abgesehen von einigen ernsthaften Werken, die Historikern wie Ptolemaios I. und Polybios zu verdanken sind, zeigt sich eine Tendenz zum Panegyrischen und zum Romanhaften. Der Alexanderroman hat hier seine Wurzeln. Eine politisch interessierte Herrscherbiographie hat es nicht gegeben; sie entstand erst im 1.nachchristlichen Jahrhundert. Ebenso sind Autobiographien von Herrschern nur gelegentlich bezeugt. Demetrius von Phaleron, der am Ende des 4.JhvChr zehn Jahre lang Regent von Athen war, der epirotische König Pyrrhos, der achäische Staatsmann Aratos von Sykion und der ägyptische König Ptolemaios VIII. EuergetesII. sollen solche Autobiographien verfaßt haben. Der Hellenismus hat in der Biographie eine Literaturgattung geschaffen, die zu einem charakteristischen Ausdrucksmittel der Kultur wurde. Der Grund f ü r dieses Hervortreten der Biographie war die hellenistische Entdeckung der Einzelpersönlichkeit und ihrer Bedeutung. Schließlich war seit Polybios die Biographie auch zum Element innerhalb der Geschichtsdarstellung geworden; denn die Einzelperson wurde im Blick auf ihren Bios als eine wichtige Ursache im Geschichtsablauf erkannt. Diese Uberzeugung blieb f ü r die römische Zeit voll bestehen. Daneben sind aus der Kaiserzeit zahlreiche biographische Werke in griechischer und lateinischer Sprache erhalten geblieben. Sie setzen nicht nur die hellenistische Dichter- und Philosophenbiographie fort, wie die Sammelviten des Diogenes Laertius, sondern konzentrieren sich jetzt auch stärker auf die biographische Darstellung politischer Persönlichkeiten (vgl. die Parallelbiographien Plutarchs und die Kaiserviten). Außerdem erscheint noch die Biographie des philosophischen Religionsstifters (vgl. die Vita Mosis des Philo und die Vita Apollonii des Philostratos). Zum Verständnis dieser Literatur, besonders in ihrer in der römischen Kaiserzeit greifbaren Erscheinungsform, die gleichwohl weitgehend von hellenistischen Vorbildern abhängig ist, muß man aber noch ein weiteres Element in Betracht ziehen: die Aretalogie. Sie entstammt nicht unmittelbar dem biographischen Interesse, hängt aber eng mit der griechischen Auffassung von der Einzelpersönlichkeit zusammen. Ursprünglich handelt es sich um die kultische Aufzählung der großen Taten eines Gottes im hymnischen Kultlied. Seit Beginn der hellenistischen Zeit fing man damit an, derartige Hymnen an die Götter in Stein aufzuzeichnen und in den
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Tempeln aufzustellen, dazu aber auch Prosaerzählungen ihrer Wundertaten in der Gegenwart - also nicht mehr nur die mythologischen Göttertaten der Vergangenheit! Von verschiedenen Kulten, vor allem bei Asklepios und Serapis (s.u. §4.3d und 4z), wurden diese Aufzeichnungen als Propagandamittel benutzt und öffentlich vorgetragen. Für griechisches Empfinden war aber die besondere menschliche Begabung nicht grundsätzlich anderer Art als die Kraft eines Gottes, die sich in der Gegenwart manifestierte (s.o. zum Herrscherkult, § 1. Λ>). So konnten die göttlichen Gaben und wunderbaren Taten von Menschen in den gleichen Formen gepriesen werden wie die Taten der Götter. Die Aretalogie hat deshalb im Hellenismus der Biographie sehr nahe gestanden und war im populären Verständnis mit ihr identisch, soweit es sich nicht um die Aretalogie eines Gottes, sondern um die des göttlichen Menschen handelt. Dieser typisch hellenistische Glaube, daß Göttliches sich in den großen Dichtern, Philosophen und Herrschern unmittelbar dokumentiert, geht bis ins Ende des 4.Jh.vChr zurück. Die euhemeristische Version der antiken Mythenkritik (s.u. §4.2b) besagt ja bereits, daß manche Götter ursprünglich Wohltäter der Menschheit waren, denen aus diesem Grunde göttliche Verehrung zuteil wurde. Mag man noch bei der Behauptung der Göttlichkeit Homers oder des Sokrates fragen, ob es sich nicht einfach um eine Überhöhung dichterischer und philosophischer Begabung handelt, so kann man im Falle des Pythagoras und des Epikur nicht umhin zuzugeben, daß zumindest die Grenze zwischen dem göttlich begabten Philosophen und dem göttlichen Religionsstifter fließend geworden ist. So ist es nicht verwunderlich, daß schon die Biographien der hellenistischen Zeit auffallend unkritisch auch Wundergeschichten in ihre Darstellung mit einbeziehen. Die Biographie war also schon früh mit aretalogischen Elementen durchsetzt. Wären uns einige dieser Biographien vollständig überliefert, so würden wir wahrscheinlich zu dem Schluß kommen, daß sie sich in mancher Hinsicht von Aretalogien nur schwer unterscheiden lassen. Das ist vollends bei einigen der aus der römischen Zeit erhaltenen Biographien der Fall, insbesondere bei denen, die sich mit der Darstellung des Lebens eines göttlichen Religionsstifters befassen. In der Vita Mosis des Philo von Alexandrien war schon das benutzte Material - die alttestamentlichen Geschichten von den bekannten Wundern, die mit der Gestalt des Mose und mit dem Exodus verknüpft wa-
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ren, - aretalogisch bestimmt. Philostratos benutzte für seine Vita des Apollonius von Tyana eine Sammlung von Wundergeschichten, die eine reine Aretalogie war. Plutarchs Biographien, die er ganz bewußt so gestaltet, daß der Zusammenhang von Bios und Charakter zum leitenden Thema wird, zeigen dennoch, wie stark manches von ihm verwendete Material aretalogische Färbung hatte. Die römische Biographie ist ganz unter griechischem Einfluß entstanden. Erst daraus läßt sich das römische Interesse am Schicksal der überragenden Einzelpersönlichkeit erklären, das im alten römischen Staatsdenken ebensowenig Platz hatte wie in der griechischen Demokratie. Die Entwicklung der römischen Biographie reicht von den Sulla-, Pompeius- und Caesarbiographien über die römischen Kaiserviten (Sueton) und Sammlungen der Lebensläufe berühmter Männer („De viris illustribus") bis hin zu den christlichen Heiligenlegenden. Auch hier machen sich verschiedene aretalogische Elemente bemerkbar, obgleich römisches Empfinden die große menschliche Tat nicht so ohne weiteres als Manifestation des Göttlichen sah. In den Kaiserviten stehen neben den Kriegstaten auch Aufzählungen von Prodigien, Erscheinungen übernatürlicher Art, die auf Größe und Bedeutung der Ereignisse und der handelnden Person hinweisen. Im Preis der überragenden Fähigkeiten einzelner Menschen finden sich viele panegyrische Züge. Vollends tritt in der Spätzeit und besonders in den christlichen Heiligenlegenden auch in der lateinischen Literatur dieser Art die Wundererzählung in den Vordergrund. e) Der Roman Neuere Papyrusfunde haben gezeigt, daß die Anfänge des griechischen Romans, die man früher in die spätere römische Kaiserzeit setzte, in das 2.vorchristliche Jahrhundert gehören. Es ist daher heute möglich, den Roman als den typischen literarischen Ausdruck hellenistischen Menschenverständnisses in seine Rechte einzusetzen. Die wesentlichen Elemente der menschlichen Erfahrung und der Überwindung der Grenzen dieser Erfahrung, die in den verschiedenen hellenistischen Literaturgattungen zum Ausdruck gekommen waren, verbindet der Roman zu einer neuen literarischen Einheit. Er trägt den durch die Eroberungen Alexanders erweiterten geographischen Horizonten Rechnung, stellt aber das Leben des einzelnen Menschen in den Mittelpunkt der Handlung,
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und er versöhnt diesen Menschen mit dem Schicksal, das ihm sonst feindlich gegenübersteht; denn wenigstens hier gibt es ein „happy end". Was auch immer die griechische Literatur an Gattungen geschaffen hat, fast alles findet sich im Roman wieder. Aus der Geographie und Ethnographie stammt der Reisebericht und das Interesse an fernen Ländern. Die häufig vorkommende Schiffsreise lehnt sich an den alten Periplous an, ist im übrigen ein Motiv, das bereits in der Neuen Komödie bei Menander (in den „Epitrepontes") vorkommt; die Beschreibung des Schiffbruchs fehlt im Roman selten. Aus der Tragödie stammt das Interesse am erotischen Motiv, das zwar auch der Komödie nicht fehlt, aber im Roman überhöht ist, denn die Liebenden bewahren ihre Keuschheit trotz aller Anfechtungen - ein Motiv, das bereits bei Euripides auftaucht. Sexuelle Exzesse und erotische Abirrungen bleiben den Nebenfiguren vorbehalten; erst in den späteren Romanparodien des Petronius und Apuleius werden sie den Hauptfiguren der Handlung zugeschrieben. Aus der Biographie stammt die Darstellung der wunderbaren Geburt oder Herkunft und die Beschreibung der vorbildlichen moralischen Haltung des Helden und der Heldin. Wie Tugend und Charakter sich zur Lebensführung und zum Schicksal verhalten, das hat der Roman aus der philosophischen Biographie gelernt. Aus der Aretalogie, der Paradoxographie sowie aus der Popularisierung der Ethnographie, Zoologie und Pharmakologie, in der sich das Interesse am Eigentümlichen und Wunderbaren so stark in den Vordergrund gedrängt hatte, entnahm der Roman eine große Anzahl von Elementen: Wunder und Paradoxa, Dämonen und Zauberei, Erscheinungen von Toten, Tiere, die sprechen können, wunderbar schnelle Schiffsreisen und seltsame Länder und Völker, Tempel, die plötzlich zusammenstürzen, Spalten in der Erde, die sich unversehens auftun, und schließlich die Begrüßung des Helden und der Heldin als Gott und Göttin. Was die religiösen und moralischen Reden des Helden, das Überstehen von Gefahren und Verfolgungen, göttliche Befehle, Orakel und Träume anbetrifft, so sind dies Züge, die man nicht selten in zweitrangigen Geschichtswerken finden kann. Schließlich hat der Roman auch noch eine Reihe von Motiven und viel Material der volkstümlichen Erzählung zu verdanken. Literarisch sind diese volkstümlichen Erzählungen und ihre Tradition nur sehr schwer greifbar. Ohne Frage hat es solche Erzählungen immer und überall gegeben, und Sagen, Fabeln, Rätsel und Schwänke tauchen immer
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wieder in der verschiedensten Literatur auf. Besonders in Ionien gab es eine reiche Erzählertradition, von der schon Herodot beeinflußt war. Aus hellenistischer Zeit kennen wir den Titel eines von Aristides von Milet verfaßten Werkes, „Milesiaca", das im wesentlichen Geschichten zweideutigen erotischen Inhalts enthalten haben muß. Es ist von Sisenna ins Lateinische übersetzt worden, und nach Plutarch trug es so mancher römische Offizier in seinem Gepäck mit sich. Die Romanschriftsteller hatten einen guten Schatz volkstümlicher Erzählungen zur Verfügung und machten davon vielfachen Gebrauch. In den ältesten bekannten Romanen, dem über Ninos und Semiramis und im „Sonnenstaat" des Iambulos, die beide aus dem 2.Jh.vChr stammen - Iambulos' Roman ist vielleicht schon ins 3.Jh. zu datieren - sind die beiden Hauptmotive des Romans bereits voll ausgebildet: im Ninos-Roman das erotische Motiv und im „Sonnenstaat" das Reiseabenteuer. Während sich aus dem Fragment des Ninos-Romans die Gesamthandlung nicht mehr erschließen läßt, ist in Iambulos' Erzählung noch deutlich, worum es geht: der Held gerät in abenteuerlicher Fahrt über Äthiopien auf eine geheimnisvolle Insel des südlichen Meeres und kehrt später über Indien wieder zurück. Das Kernstück ist eine Utopie: eine Reihe von Jahren darf der Held der Erzählung an dem idealen Staat der glücklichen Bewohner der Südseeinsel teilnehmen, wo die Sonne angebetet wird, Weibergemeinschaft herrscht und alle Bürger sich gerecht und gleichmäßig an ehrenvollen und weniger begehrenswerten Arbeiten beteiligen. Beide Motive, Reiseabenteuer und erotisches Motiv zugleich, finden sich zum ersten Male im Roman „Chaireas und Kallirhoe" des Chariton aus Aphrodisias in Kleinasien. Das Datum dieses Romans ist nicht ganz sicher; aber Papyrusfunde aus dem 2. und 3.Jh.nChr zeigen, daß er spätestens im l . J h . n C h r geschrieben wurde. Die Handlung spielt in Milet und in Persien. Die verschiedensten Motive des Romans sind in bunter Folge gemischt; Drama, Komödie, Aretalogie und sogar die Geschichtsschreibung haben Pate gestanden: Hermokrates, der Heerführer von Syrakus aus dem peloponnesischen Krieg, muß ebenso herhalten wie der persische König ArtaxerxesII., der sich in die Heldin verliebt und an dessen Hof die Handlung zum Höhepunkt kommt. Tyche bringt endlich die Lösung und führt die Liebenden zusammen. Die übrigen erhaltenen Romane stammen alle aus dem 2. oder
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3.Jh.nChr. Überhaupt scheinen in dieser Zeit Romane besonders beliebt gewesen zu sein; denn eine Reihe von kleineren Fragmenten sonst nicht bekannter Romane haben sich auf Papyri aus jener Zeit erhalten. Daß auch der Höhepunkt der christlichen Apostelromane (die apokryphen Apostelgeschichten) in diese Zeit fällt, ist also kein Zufall. In den „Ephesiaka" des Xenophon von Ephesus erscheint bei den Verwicklungen der Liebesgeschichte, die diesmal den Leser nach Ägypten führen, auch das Potiphar-Thema sowie das Motiv der Keuschheit in der Ehe mit einem armen Schäfer beides Motive, die bereits von Euripides verwendet wurden. In den „Babyloniaka" des Jamblichos des Syrers fehlt zwar die sonst fast obligatorische Seereise, aber mirakulöse Geschichten, Gespenster, Zaubereien und die schauerlichsten Verwicklungen kommen in reichlichem Maße vor; auch findet sich hier eine Reihe von eingestreuten Kurzgeschichten. Die „Aithiopiaka" des Heliodoros von Emesa (3. Jh. nChr), der letzte der großen hellenistischen Romane, zeichnen sich durch eine besonders kunstvolle Erzählung aus. Gleichzeitig kann man hier auch die Uberwindung der Grundvoraussetzungen des hellenistischen Menschenverständnisses beobachten, auf denen der Roman eigentlich beruhte: die Auslieferung des Menschen an eine feindliche Welt, deren Götter und Mächte er nicht versteht, von denen ihn aber ein gütiges Geschick zu retten vermag. Bei Heliodoros sind neue religiöse Ansichten neuplatonischen oder neupythagoräischen Ursprungs an diese Stelle getreten. Die Heldin, für die Keuschheit ein religiöses Gebot ist, erfährt als Ursache der widrigen Verwicklungen sowie der schließlichen Lösung die Macht einer höheren göttlichen Gerechtigkeit. Besonderer Art ist der Roman „Daphnis und Chloe" des Longus, der seit der Renaissance sich wieder großer Beliebtheit erfreut hat. In diesem Roman fehlt das Motiv der Reise ganz. Im Vordergrund steht eine Schäfer-Idylle, die auf der griechischen Insel Lesbos spielt und das ländliche Leben verherrlicht. Kürzlich ist der Versuch unternommen worden, den hellenistischen Roman als verkleidete Mysterienerzählung verständlich zu machen (R. Merkelbach). Der eigentliche Inhalt der Liebesromane sei religiös, und sie seien im Dienste orientalischer Erlösungs- und Missionsreligionen geschrieben. Der Roman des Iamblichos stelle die Mithrasmysterien dar, der des Longus die Mysterien des Dionysos, Xenophon die der Isis, Heliodorus den Sol Invictus, der Roman eines gewissen Antonius Diogenes, von dem nur ein Fragment erhalten ist, die Lehre der Pythagoräer. Nun ist in der Tat
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der lateinische Roman „Metamorphosen" des Apuleius, in dem der Held am Ende in die Mysterien der Isis eingeweiht wird, eine Propagandaschrift für die Isisreligion. Es ist wohl auch der Fall, daß gewisse Partien des christlichen Apostelromans des Thomas symbolische Darstellungen der Himmelsreise der Seele sind. Aber in beiden Fällen handelt es sich um eine sekundäre Übernahme schon vorgeformter Romanstoffe für die Propaganda einer Missionsreligion. Es kann keine Rede davon sein, daß vor diesem sekundären Gebrauch der literarischen Gattung, wie er bei Apuleius und in den Thomasakten vorliegt, der Roman religiös-symbolisch verstanden sein wollte. „Religiös" - wenn man dieses hier keineswegs unentbehrliche Wort schon gebrauchen will - ist der hellenistische Roman in einem ganz anderen Sinne. Er spiegelt die Sehnsucht des Menschen nach einer Überhöhung des alltäglichen Erlebens wider. Es ist die Sehnsucht des Menschen, für den die Zukunft des Volkes und der Gemeinschaft kein echter Gegenstand der H o f f n u n g ist. Die Gemeinschaft erscheint als positiver Wert nur in der Utopie oder in der Idylle, wie bei Iambulos und bei Longus, und eine prophetische politische Aussage läßt sich diesen Vorstellungen schwerlich entnehmen. Eine solche Erlösung verheißt der Roman nicht, und das wird auch der Leser nicht von ihm erwartet haben. Vielmehr ist es das Schicksal des Einzelnen als solches, in dem sich die Lösung der Sehnsucht darstellt. Daher tritt das geschichtliche und politische Geschehen ganz in den Hintergrund, ist nicht mehr als eine Kulisse. Hingegen sucht die Phantasie das Wunder außerhalb des alltäglichen Erlebens und wandert so in fremde Länder und zu fremden Völkern. Das Schicksal des Einzelnen erreicht seinen H ö hepunkt nun aber nicht in einer, wenn auch symbolisch dargestellten, religiösen Erfüllung - alle religiösen Elemente und Materialien bleiben bloßes Beiwerk - , sondern in der Erfüllung der Liebe, die in ihrer Hoheit, Reinheit und Treue als der eigentliche Zweck und höchste Sinn des menschlichen Erlebens dargestellt wird. Es ist in der Geschichte der Literatur ja keine Seltenheit, daß der Gehalt und die Gestalt einer Literaturgattung in ihrer zeitgenössischen Parodie am deutlichsten erfaßt worden ist. Im Blick auf den Roman läßt sich die oben dargelegte Ansicht seines eigentlichen Gehalts an der Romanparodie des Petronius verifizieren: hier steht die Liebe des Helden zu dem schönen Knaben Giton im Mittelpunkt, und Petronius hat die oft recht zweideutigen Widrigkeiten, die sich der Erfüllung dieser Liebe in den Weg stellen, meisterhaft geschildert.
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PHILOSOPHIE U N D RELIGION
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wesen, die an Stelle der Götter mit den Menschen unmittelbaren Kontakt aufnehmen konnten. Er unterschied auch Klassen von D ä monen, die im Himmelsraum, in der Luft, im Bereich des Geistes und der Seele wirkten. Xenokrates (gestorben ca. 315vChr.) hat in diese Vorstellungen die Unterscheidung von guten und bösen D ä monen eingebracht; die letzteren trieben in der sublunaren Welt ihr Wesen. Dadurch wurde eine schon zuvor im Volksglauben vorhandene Anschauung philosophisch legitimiert und so zu ihrer späteren Verbreitung beigetragen. Die Platoniker der römischen Zeit wie Plutarch ebenso wie die Neupythagoreer haben dieser D ä m o nenlehre einen zentralen Platz in ihrem Denken eingeräumt. Aber auch die Christen haben diese Anschauungen geteilt und vielfach verwendet; der Märtyrer Justin baute sie zu einem apologetischen Argument gegen das Heidentum aus: die heidnischen Kulte seien von den bösen Dämonen erfunden worden, um eine Erfüllung der Weissagungen des Alten Testamentes vorzuspiegeln. Die Christen konnten dabei unmittelbar an die Lehre des Xenokrates anknüpfen, der bereits den Unterschied zwischen Göttern und Dämonen relativiert hatte. Die sogenannte „Mittlere Akademie" befand sich im 3. und 2.Jh.vChr im Kampf mit der Stoa und zunehmend auch mit anderen philosophischen Richtungen. Diese Auseinandersetzungen wurden durch Arkesilaos, der 268 die Leitung der Akademie übernahm, begonnen und durch Karneades im folgenden Jahrhundert fortgesetzt. Dabei griff man auf die frühen Dialoge Piatos zurück und auf den Sokrates dieser Dialoge: wie jener den Sophisten nachwies, daß Erkenntnis durch Sinneswahrnehmung nicht möglich sei, so wandte sich jetzt die Akademie gegen die stoische Erkenntnislehre, die den aus Erfahrung, Beobachtung und Wissenschaft gewonnenen Ideen Wahrheitsgehalt zuschrieb (ähnlich machte Epikur die Erkenntnis von der Erfahrung abhängig). Dagegen stellten die Akademiker eine Dialektik, die nachwies, daß man jedem Argument ein Gegenargument entgegenstellen konnte und daß deshalb Urteilsenthaltung (skepsis) geboten sei. Das trug der Akademie den Vorwurf ein, sie sei dem Skeptizismus des Pyrrhon von Elis verfallen. Dieser Skeptizismus gegenüber der Wahrheitsfindung auf Grund der sinnlich wahrnehmbaren Welt sollte in der späthellenistischen und römischen Zeit große Bedeutung erhalten. In der Akademie selbst begann die Überwindung des Skeptizismus und der Frontstellung gegen die meisten anderen philosophischen Richtun-
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gen erst mit Philon von Larissa (1.Hälfte des l.Jh.vChr). In Rom wurde er der Lehrer Ciceros, bei dem sich ein gemilderter Skeptizismus wiederfindet. Philons Nachfolger Antiochos aus der phönizischen Hafenstadt Askalon brach endgültig mit der Skepsis seiner Vorgänger sowie mit der Frontstellung gegen die Stoa. Dem entsprach auf der Seite der Stoiker eine Aufnahme vieler platonischer Ideen. Für die Akademie hatte mit Antiochos von Askalon eine neue Epoche begonnen, die schon rein äußerlich daran erkenntlich ist, daß die Philosophen, die diese Tradition fortführten, sich nicht mehr Akademiker, sondern Platoniker nannten, und daß die athenische Akademie nicht mehr das Zentrum des Philosophierens in der Nachfolge Piatos war. Beides hängt mit der Ausbreitung platonischer Gedanken und Vorstellungen seit dem 1. Jh. vChr zusammen; denn es handelte sich hier nicht mehr um den Erfolg einer philosophischen Schule, der Akademie, sondern um den Sieg des Platonismus, der im allgemeinen Denken der Zeit beherrschend wurde. Die Entwicklung dualistischer Vorstellungen in der Kosmologie und Anthropologie ist mit dieser Ausbreitung der platonischen Philosophie aufs engste verbunden gewesen. Schon Piatos Schüler Xenokrates hatte in seiner Dämonenlehre (s.o.) Piatos Äußerungen über die zwei Weltseelen aufgegriffen: eine gute und eine böse Weltseele sind jeweils für die Wirkungen der guten und bösen Dämonen verantwortlich. Der Stoiker Poseidonios - so umstritten in diesem Punkte die Deutung seiner Philosophie auch sein mag nahm wesentliche Bestandteile des platonischen Dualismus in sein System auf. In der Kosmologie unterschied er zwei Welten: die himmlische Welt über dem Monde, die unvergänglich und unwandelbar ist, und die von stetem Wechsel und Vergehen betroffene Welt unter dem Monde. Vielleicht war es auch Poseidonios, der die nachmals weit verbreitete trichotomische Anthropologie entwikkelt hat. Danach stammt der menschliche Geist aus der Sonne, wird von der Zwischenwelt (dem Mond) mit der Seele versehen, die ihrerseits den irdischen Leib der sublunaren Welt zusammenhält und ihm die Lebendigkeit verleiht. Nach dem Tode läuft der Prozeß dann rückwärts ab: wenn der Geist sich schließlich von der Seele befreit hat, kehrt er zu seinem Ursprung zurück. Diese in die stoische Philosophie eingebrachten Vorstellungen kehren, teils in unmittelbarer Abhängigkeit von Poseidonios, bei späteren stoischen und nichtstoischen Philosophien wieder, bei den Römern auch bei Cicero und Seneca (s.u. §6.4c,f).
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Der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien (s.u.§5.3f) ist das beste Beispiel dafür, daß am Ausgang der hellenistischen Zeit ein platonisierender Stoizismus die Grundlage des Denkens geworden war, vor allem außerhalb der eigentlichen Schulphilosophie. Philos exegetische Methode, die allegorische Methode, ist stoisch, ebenso seine Deutung der alttestamentlichen Gestalten auf Tugenden. Sein Gottesbild zeigt ebenfalls stoische Züge: Gott ist unwandelbar, ewig, mehr die Grundkraft des Kosmos als eine Person (freilich kann Philo die personhaften Züge des alttestamentlichen Gottesbildes nicht ganz ausmerzen). Gott und Natur sind bei Philo oft identisch, und der Logos ist wie in der stoischen Philosophie die Macht, die alles in der Welt erhält und durchdringt. Aber im Grunde ist Philos Weltsicht und vor allem seine Anthropologie platonisch. Die sichtbare Welt, die durch die Sinne wahrgenommen wird, ist nicht nur vergänglich, sie hat auch wesentliche negative Vorzeichen. Die Seele oder der Geist stammt aus der jenseitigen Welt Gottes. Im Leibe ist sie in die Fallstricke des Diesseits geraten, aus denen sie sich befreien muß. Die Einsicht in das Wesen der Dinge ist der sinnlichen Wahrnehmung verwehrt. N u r der menschliche Geist kann Gott und den Logos recht erkennen, sich durch Tugend und Weisheit aus der sichtbaren Welt befreien, den Leib und seine Leidenschaften besiegen und schließlich in seine Heimat, die himmlische Welt, zurückkehren. In der materiellen Welt sieht Philo nicht nur die Ursache von Bosheit und Laster, sondern die Leiblichkeit ist für ihn im Gegensatz zur himmlischen Welt die Fremde schlechthin, ein der Seele nicht gemäßes Kleid. Entsprechend findet sich in der Kosmologie Philos ein deutlicher platonischer Zug. Gott hat die Welt der Ideen als Urbild der sichtbaren Welt zuerst geschaffen. N u r der Ersteren kommt Beständigkeit und Unvergänglichkeit zu, während die Letztere nichts als ihr vergängliches Abbild ist. Den Logos faßt Philo zugleich stoisch und platonisch auf. Im stoischen Sinne ist er die Macht, die alles durchwaltet; aber im platonischen Sinne ist er auch das Abbild Gottes, nach dessen Bild der Mensch geschaffen wurde. Daher ist der Mensch in seinem wahren Wesen Gott zugehörig und grundsätzlich anderer Art als die sichtbare Welt. O b der hier in Erscheinung tretende Dualismus als „gnostisch" bezeichnet werden muß, bleibt gleichgültig, weil sich die Anfänge der Gnosis mit dem Sieg des Platonismus vielfach überschneiden und überlagern (zum Piatonismus des Hebräerbriefes s.u. § 12. 2b).
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b) Der Peripatos Auf Aristoteles selbst kann hier nicht weiter eingegangen werden. Von einer philosophischen Nachwirkung des Aristoteles war jahrhundertelang so gut wie nichts zu spüren. In der Kosmologie wußte der Hellenismus mit Aristoteles' Theorie vom „Ersten Beweger" und mit seinem Bild eines mechanischen Ablaufs des Weltgeschehens nichts anzufangen. Seine politischen Schriften waren zu sehr am Modell der Polis orientiert und ließen sich nur schwer auf die veränderten Verhältnisse übertragen. Aristoteles' didaktische Schriften verbrachten 200 Jahre in einem Keller in Skepsis im nordwestlichen Kleinasien. Erst in der Kaiserzeit gewann Aristoteles vor allem als Logiker wieder an Bedeutung, nachdem Andronikos von Rhodos im l.Jh.vChr seine Schriften neu herausgegeben hatte. Der Peripatos, die Schule des Aristoteles in Athen, stand nach seinem Tode unter der Leitung seines Mitarbeiters und Freundes Theophrast (371-287vChr.), von dessen zahlreichen Schriften einiges erhalten ist: seine berühmte „Pflanzenkunde" (s.o.§3.3b), „Charaktere" (30 typische Charakterbilder) und in Auszügen eine Schrift über die „Frömmigkeit". In den beiden ersten Werken spiegelt sich das bleibende Interesse des Peripatos: einmal naturwissenschaftliche Studien, zum andern die Ausarbeitung von Charakterstudien und Biographien, vor allem von Dichtern und Philosophen (s.o. §3.4ά). c) Epikur und die Epikureer Während Akademie und Peripatos noch vor der hellenistischen Zeit entstanden, gehören die Anfänge der Epikureer und der Stoiker in die ersten Jahrzehnte der hellenistischen Epoche. Ihre Begründer, Epikur und Zeno, waren Zeitgenossen und wirkten beide in Athen. So gegensätzlich die Ansichten und Lehren beider Schulen sind, so sind sie doch beide typisch für den Hellenismus. Dazu gehört auch, daß beide Schulen sehr stark von der persönlichen Lebenshaltung ihrer Begründer bestimmt waren, was in der Akademie und im Peripatos eine weitaus geringere Rolle spielte. Epikur (341-270vCh), Sohn eines athenischen Kolonisten aus Samos, ließ sich endgültig 306vChr in Athen nieder und gründete in einem Garten seine Schule, die deshalb oft „der Garten" genannt wird. Die Lehren Epikurs sind nur schwer zu rekonstruieren, da seine Schriften bis auf drei Lehrbriefe verloren sind. Ebenso
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sind die Schriften der Schüler und Nachfolger Epikurs nur spärlich erhalten. Auf die Erkenntnislehre Epikurs (alle sinnlichen Wahrnehmungen sind wahr) und auf seinen Atomismus braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden. Bedeutsam sind für die hellenistische Geisteswelt der sogenannte Atheismus der Epikureer, ihre Eudämonielehre und die Organisation des „Gartens" als religiöser Verein von Freunden. Die Philosophie Epikurs wollte Religionsersatz sein. Das impliziert, daß die Epikureer weder irreligiös noch atheistisch dachten, obgleich man sie schon in der Antike dessen geziehen hat. Sie leugneten jedoch, daß die Götter, an deren Existenz Epikur nicht zweifelte, irgendetwas mit dem Leben der Menschen zu tun hätten. Daher sei die Verehrung der Götter sinnlos; zwecklos, ihnen zu opfern; töricht, sie in der Not anzurufen und Hilfe von ihnen zu erwarten. Mit dieser Ansicht waren die Epikureer im Grunde gar nicht so weit entfernt von dem Lebensideal anderer philosophischer Schulen, in denen ja auch gelehrt wurde, daß der Mensch sich von allem und jedem unabhängig machen müsse. Das Angewiesensein auf göttliche Intervention in den persönlichen Angelegenheiten war auch für die Stoiker und Peripatetiker des Weisen unwürdig. Aber während die Stoiker trotz ihres materialistischen Weltbildes in den Gegebenheiten und Bewegungen der Welt und der Natur das Wirken göttlicher Macht bewunderten, zogen die Epikureer die Konsequenzen aus ihrer materialistisch-atomistischen Sicht: der Ablauf des natürlichen Geschehens folgt Gesetzlichkeiten, die sich aus den Bewegungen der Atome ergeben; der Götter bedarf es dazu nicht. Geistige Wirklichkeiten außerhalb der aus den Atomen aufgebauten materiellen Welt, zu der auch die Seele gehört, gibt es nicht. Daher war es für Epikur nicht möglich, die Vorstellung von Religion und Frömmigkeit mit irgendwelchen jenseitigen Mächten zu verbinden. Er mußte den Gedanken der Frömmigkeit radikaler fassen und konsequent auf die Unabhängigkeit und Unerschütterlichkeit des Weisen ausrichten. Das geschah in der epikureischen Eudämonielehre und im Ideal der Freundschaft. Beides ist bei den Epikureern im tiefsten Sinne religiös verstanden worden - ohne Zweifel eine folgenschwere Uberforderung dieser menschlichen Ideale! Gewiß waren auch andere Philosophenschulen ihrer Struktur nach Kultvereine. Aber bei den Epikureern mußte dieser Rahmen dazu herhalten, die Voraussetzungen für ein Leben der Eudämonie und der Freundschaft zu schaffen. Das machte die Schule zu einer Art Mysterienverein;
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denn sie wurde der religiöse Lebensraum der Mitglieder, der Begründer zu einer göttlichen Gestalt. Freundschaft, Gemeinschaft und gegenseitige Seelsorge waren ebenso religiöse Pflichten wie die regelmäßig stattfindenden Mahlzeiten der Mitglieder und die Gedenkfeiern zum Geburtstag des Stifters und anderer hochgeehrter Mitglieder. Freilich waren diese Verrichtungen und Pflichten nicht wegen des Ausbaus der Gemeinschaft wichtig. Die Gemeinschaft sollte dem Einzelnen dienen, nicht umgekehrt; denn das eigentliche Ziel war es, die Unerschütterlichkeit und Eudämonie der Seele des Einzelnen herzustellen. Wie alle philosophischen Richtungen des Hellenismus, so ordnete auch der Epikureismus dem Interesse am Einzelnen alle anderen Gesichtspunkte unter. Der religiöse Freundschaftsverein war kein Selbstzweck und war nur um des Einzelnen willen da. In diesem Punkte ist die Parallele zu den Mysterien ganz eindeutig (s.u.§4.Je); auch sie waren Institutionen, in die sich einzelne Menschen zur Erlangung ihres persönlichen Heils einweihen lassen konnten. Während es sich dort freilich um einen Heilszustand handelte, der Garantien für die Welt nach dem Tode einschloß, wurde das religiös verstandene Ziel der Eudämonie bei den Epikureern rein diesseitig aufgefaßt: als Unabhängigkeit von allen Gefühlen und Erfahrungen, von Glück und Unglück, von Freude und Schmerz, ein Zustand auch jenseits der Lust - kurz eine Art nihilistischer Harmonie. In ihr konnte der Weise das Nichtvorhandensein aller Gefühle und Erfahrungen bereits für seine eigene Existenz gültig machen. Daraus ergibt sich die eigentümlich epikureische Uberwindung des Todes: da der Tod Auflösung ist, auch Auflösung der Seele, die wieder in ihre atomarischen Bestandteile zerfällt, so erfährt man den Tod gar nicht mehr und braucht ihn deshalb auch nicht zu fürchten. Der Einfluß des Epikureismus war zunächst recht bedeutend, aber wohl nur in der gebildeten Oberschicht. In Rom spielte er im l.Jh.vChr eine große Rolle; das große Lehrgedicht des Lukrez über die Natur ist eines der wichtigsten Zeugnisse. Noch Seneca ahmte die epikureische Sitte nach, seelsorgerliche Lehrbriefe zu verfassen. Aber der epikureische Einfluß ging in der Kaiserzeit zurück. In der Spätantike war der Epikureismus nur noch die Zielscheibe heidnischer und christlicher Polemik gegen den Atheismus.
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d) Die Stoa Gegründet wurde die Stoa von Zeno aus Kition auf Zypern, der dort 333/32 als Sohn des phoenizischen Kaufmanns Mnaseas ( = Manasse oder Menahem) geboren war. Zeno kam im Jahre 300 nach Athen, wo er in der Stoa Poikile an der Agora lehrte und nach langjähriger Tätigkeit hochgeehrt starb (ca. 264vChr.). Der Nachfolger Zenos als Schulhaupt war Kleanthes aus dem kleinasiatischen Assos (ca. 331-232), der Zenos Lehre weiter ausbaute; sein berühmter Zeushymnus ist erhalten. Auf ihn folgte Chrysipp aus Soloi in Kilikien (gest. ca. 205 vChr.), der Systematiker der stoischen Schule. Die stoische Lehre war von Anfang an kosmopolitisch - das Problem der Polis, das bei Aristoteles noch stark im Vordergrund stand, war für die Stoiker nicht vorhanden - und pantheistisch - lokale Götter wurden von vornherein universalistisch interpretiert. Gleichzeitig wurde die griechische Philosophie und das sokratische Erbe von den Stoikern in der Tradition der Kyniker aufgenommen. Daraus ergab sich der Vorrang der Ethik: Die Tugend ist das einzige Gut, das es gibt. Alle anderen Ziele und Motive des Handelns, welcher Art sie auch immer seien - materielle Güter, politische Ambitionen, vor allem menschliche Leidenschaften - sind Verfälschungen und Verkehrungen der moralischen Bestimmung des Menschen. Damit löste sich die stoische Ethik von allen sichtbaren und erfahrbaren Motivationen, die in der gesellschaftlichen Struktur der Welt einerseits, in den Leidenschaften und Wunschvorstellungen des Menschen andrerseits vorgegeben sind. Vielmehr galt als das einzige Ziel (telos) des Handelns „in Ubereinstimmung (mit dem Logos) leben", wie Zeno sagte, bzw. „in Ubereinstimmung mit der Natur (physis) leben", wie es Chrysipp formulierte. An den weiteren Abwandlungen dieser Telos-Formel läßt sich die Geschichte der stoischen Philosophie ablesen. Gemeint ist mit „ N a t u r " nicht die sichtbare natürliche Welt (wiewohl diese manches lehren kann), sondern die eigentliche „ N a t u r " des Menschen, nämlich der Logos, d.h. die vernünftige Einsicht, die mit jener Vernunft, die den ganzen Kosmos durchwaltet, identisch ist. „Naturgemäß" ist daher für die Stoa dasselbe wie „vernunftgemäß". Die normale natürliche Erfahrung des Menschen, also Leiblichkeit, Gesundheit und alle Dinge, derer es zum täglichen Leben bedarf, kann höchstens als Vorstufe des „der eigenen Natur gemäßen Lebens" in Betracht kommen.
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Diese Sicht der N a t u r des Menschen und seiner moralischen Bestimmung verlangte von der Stoa zweierlei: Darlegung der Kosmologie und Ausarbeitung der Psychologie. Die Kosmologie verdeutlicht die Einheit von Weltvernunft und Kosmos. Z u m Kosmos gehören dabei alle erfahrbaren Dinge, auch solche materieller Art, die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso wie die Welt der „ N a t u r " und des außerirdischen Kosmos. In der Darstellung der Kosmologie hat die Stoa aus zwei Quellen geschöpft: aus dem durch die Astrologie erweiterten Schicksalsglauben - das Schicksal (Heimarmene, s.u. § 4 . 2 c ) w u r d e als zwingende Macht der Gestirne verstanden - und aus den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen des aufblühenden Wissenschaftsbetriebes. D a r a u s ergibt sich eine streng materialistisch-deterministische Sicht alles Geschehens. Sogar die alles durchwaltende Weltvernunft wird in der Gestalt des Feuers als stoffliche Größe vorgestellt, da letztlich die Materie und ihr geistiges Prinzip eine Einheit darstellen. N u r in der Vorstellung sind sie verschiedene Dinge, in Wirklichkeit aber eins. Die Rückkehr des Alls zu sich selbst im Weltbrand, durch den die Perioden der Weltzeit jeweils abgeschlossen werden, ist ebenfalls eine materialistische Lehre von Vergehen und Erneuerung. Freilich sieht die Stoa die O r d n u n g des Kosmos nicht als sinnlosen Determinismus, sondern als vollkommene Gesetzlichkeit, in der alles aufs beste eingerichtet ist. D a h e r kann die Weltvernunft mit Zeus gleichgesetzt werden, der durch seine Gesetze alles vorherbestimmt hat und lenkt. Das hat Kleanthes in seinem berühmten Zeushymnus zum Ausdruck gebracht, in dem neben dem Eindruck des Sternenhimmels die vielfältigen nützlichen Gaben der N a t u r als Beweise f ü r das wohltätige Wirken der Gottheit genannt werden. Stoische Psychologie ist Lehre von den Affekten (pathos, lat. perturbatio, passio oder affectus). Sämtliche Affekte - nicht nur Begehren, Furcht und Lust, sondern auch Reue und Mitleid - gehören nach stoischer Lehre zu den krankhaften Zuständen der Seele, von denen der Weise sich frei machen muß, um das Ziel der U n e r schütterlichkeit (ataraxia) zu erreichen. Medizinische Anschauungen sind hier vielfach a u f g e n o m m e n . Die Auffassung der Affekte als k r a n k h a f t e Leiden der Seele lehnt sich an Einsichten der Pathologie des erkrankten Leibes an. D e r Philosoph wird z u m Seelenarzt. Für die Sicht der philosophischen Aufgabe sowie f ü r die materialistische Kosmologie der Stoa liegt die Parallele z u m Epikureismus auf der H a n d . Vollends deutlich ist die Verwandtschaft der
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beiden sich bitter bekämpfenden Schulen im Ideal des Weisen, das sich auf der Darstellung der positiven ethischen "Werte aufbaut. Formal bestehen diese Werte im Erfassen derjenigen Dinge, die den Einzelnen wirklich betreffen, im Gegensatz zu solchen Dingen, die gleichgültig sind. N u r was den Einzelnen wirklich angeht, ist mit der Zustimmung zur kosmischen Ordnung identisch. Inhaltlich grenzt sich die Stoa gegen die aristotelische Güterlehre ab, die seelische, leibliche und äußere Güter unterscheidet, und weigert sich überhaupt, einer Hierarchie der Tugenden zuzustimmen. Hingegen werden die platonischen Kardinaltugenden Klugheit, besonnenes Maßhalten, Tapferkeit und Gerechtigkeit übernommen. Im übrigen kehrt die stoische Definition der moralischen Maßstäbe immer wieder zum formalen Maßstab des der Natur Gemäßen zurück. Das begünstigt das Eindringen allgemeiner sentenzenartiger Bestimmungen des ethischen Verhaltens, wie „was überall und zu allen Zeiten als das Gute gilt". So bot sich die stoische Ethik von selbst der Popularethik als Grundlage an. Außer den Epikureern war in hohem Maße die Stoa für die Ausbildung des für den Hellenismus so typischen Ideals des Weisen verantwortlich. In der klassischen Philosophie bewährte der Weise den Vollbesitz der Tugenden im Umgang mit der Welt, seine Tapferkeit in der Schlacht, seine Klugheit in der politischen Entscheidung, usw. Der Kynismus (s.u. §4. 2a) hat dann aber ein Sokratesbild entwickelt, nach dem der Weise sich durch seine Unabhängigkeit und Bedürfnislosigkeit auszeichnete und somit auch durch seine Lösung von den Verpflichtungen der Gesellschaft. Dieses Bild wurde für die Epikureer und für die Stoiker maßgebend. Für beide ging es um das gleiche Ziel: um die Erreichung der Eudämonie, der glückhaften Ausgeglichenheit des Einzelnen, der sich mit sich selbst in völliger Übereinstimmung befindet und dadurch den Zwang des Schicksals überwunden hat. Während aber für den epikureischen Weisen die Zurückgezogenheit von der Welt die unabdingbare Voraussetzung zur Erreichung der vollständigen Eudämonie ist, charakterisiert den stoischen Weisen seine paradoxe Beziehung zu den Dingen der Welt. Der stoische Weise beweist seine Unerschütterlichkeit, durch die er im Besitze der Eudämonie ist, gerade auch in der Welt an dem Platz, an dem er zufällig steht, und in der Tätigkeit, die ihm durch Herkunft, Erziehung und politischen Rang zukommt, sei er nun Kaiser oder Sklave. Aus dieser Sicht ergibt sich das berühmte „als ob nicht", - eine Formel, die
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auch bei Paulus, mit christlichen Vorzeichen versehen, vorkommt. Der Weise vermag so durchaus aktiv am Geschehen seiner Umwelt beteiligt zu sein. Aber seine Stellung zur Welt und sein Anteil an ihr und ob er sie aktiv gestaltet oder leidend erfährt, berührt nicht sein eigentliches Ziel und sein wirkliches Wesen. Denn die Eudämonie hat mit den äußeren Umständen des Daseins nichts zu tun. Eigenartigerweise wurde gerade die Stoa, eine Philosophie mit einer streng materialistischen Welterklärung, zur Stütze des im Hellenismus erneuerten Götterglaubens und damit zur Grundlage der hellenistischen Theologie. Das lag in erster Linie daran, daß die materialistische Lehre vom alles durchwaltenden Feuer gleichzeitig eine pantheistische Theologie war, denn Gott und Welt waren ja eins. Im Gegensatz zu den Epikureern, die ja auch materialistisch dachten, stellten sich die Stoiker den Weltablauf nicht mechanistisch vor. Vielmehr nahmen sie ein vernünftiges Prinzip an, den Logos, der alles lenkte. So konnte man den alten Götterglauben bei Ablehnung der nur äußerlichen kultischen Verehrung mit den neuen philosophischen Einsichten verbinden. Die Götter waren Symbole für das überall sichtbare Walten der Weltvernunft, Zeus für den Himmel, Hera für die Luft, Poseidon für das Wasser, Hephaistos für das Feuer; die Sterne sah man als vernunftbegabte Wesen. Die verschiedenen Götter, die bei einzelnen Völkern verehrt wurden, waren in Wirklichkeit nur unterschiedliche Namen für die eine göttliche Vernunft. Diese stoische Sicht kam den synkretistischen Tendenzen der Zeit sehr entgegen und lieferte die gesuchte philosophische Begründung. Als Mittel der Welterklärung bot sich daher der Stoa die Allegorie an. Es ging in ihr in erster Linie um die Umdeutung der Mythen und Riten, um den alten Götterglauben den Einsichten der Philosophie anzupassen. Und zwar geschah das bei den Begründern der Stoa aus einer echten Ehrfurcht heraus, die sie gegenüber der althergebrachten Religion empfanden. Dem entsprach ihr Bemühen um den religiösen Gehalt der Schriften der Klassiker, vor allem Homers. Hierbei wurde die allegorische Methode ausgebaut und verfeinert. Dies ist der primäre Sitz im Leben der maßgebenden Auslegungsmethode der Antike, die dann von den hellenistisch-jüdischen und christlichen Theologen ohne weiteres auch auf die biblischen Texte angewandt wurde. Einen Abriß der so aus der Mythendeutung gewonnenen stoischen Theologie hat im l . J h . n C h r Cornutus verfaßt.
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Die sogenannte Mittlere Stoa beginnt mit Panaitios von Rhodos (ca. 180-1 lOvChr.). Seine Philosophie war vor allem eine „Rückkehr zu den Alten", d.h. zu den klassischen Philosophen Sokrates, Plato und Aristoteles. Panaitios war in seiner Physik und Kosmologie undogmatisch und verwarf die Widersprüche im System des Chrysipp. Statt dessen betonte er eine auf die praktische Lebensführung gerichtete Ethik, die sich an Plato und Aristoteles anlehnte. Sie hatte großen Einfluß auf das römische Denken. Panaitios' Schrift „Uber das richtige Handeln" wurde von Cicero in „ D e officiis" ausgiebig benutzt. Für die weitere Entwicklung der Stoa ist die in der modernen Forschung so umstrittene Gestalt des Historikers, Geographen, Astronomen und Philosophen Poseidonios von Apameia maßgeblich, der in der 1. Hälfte des letzten vorchristlichen Jh. auf Rhodos wirkte. Einerseits glich er die stoischen Lehren so sehr den Zeitströmungen des Hellenismus an, daß seine Philosophie für die späteren Stoiker unannehmbar wurde. Andrerseits nahm in seinem Denken der Stoizismus eine Gestalt an, die weithin die Entwicklung der Philosophie und der Anschauungen aller gebildeten Kreise in der Kaiserzeit bestimmte. Poseidonios nahm viele vorsokratische, platonische und aristotelische Elemente auf, grenzte sich aber scharf von Epikur ab. Das hatte einerseits die zunehmende philosophische Isolierung der Epikureer zur Folge, andrerseits förderte es die Vermischung philosophischer Vorstellungen verschiedener Herkunft in den folgenden Jahrhunderten. Das machte sich bei den späteren heidnischen (Plutarch), jüdischen (Philo von Alexandrien) und christlichen Denkern (Justinus Martyr) sehr stark bemerkbar und führte schließlich im Neuplatonismus zu einer neuen philosophischen Synthese. Die Rekonstruktion der Philosophie des Poseidonios ist schwierig und umstritten, weil die Forschung ganz auf indirekte Quellen und Zeugnisse angewiesen ist. Dennoch muß wegen der Bedeutung dieses Mannes, selbst auf die Gefahr der Verzeichnung hin, einiges über seine kosmologischen Lehren gesagt werden, weil diese in der folgenden Zeit stark nachgewirkt haben. Seine Anschauung, daß die Sonne das reinste Feuer sei, aus dem der Geist entspringt, während der Mond die Seele hinzusteuert, die Erde den Leib, findet sich in der kosmischen Anthropologie der Gnosis wieder. Die Himmelsreise der Seele, bzw. des Geistes wird in der Gnosis und in der Hermetik ganz ähnlich verstanden: beim Tode des Menschen zer-
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fällt der Leib, die Seele hält sich noch geraume Zeit im sublunaren Raum auf, bis auch sie vergeht, während der Geist zur Sonne zurückkehrt. Auch ein für die Mystik brauchbares Schema für den Aufstieg des menschlichen Geistes im mystischen Erlebnis ist so von Poseidonios geschaffen worden. Gleichzeitig kommt Poseidonios dem Dualismus entgegen, der sich gegen Ende der hellenistischen Epoche immer stärker durchsetzt. Die sublunare Welt ist bei ihm - trotz aller Bemühungen, den stoischen Monismus in der Welterklärung zu erhalten, - schließlich doch eine Welt untergeordneten Ranges. Während die Sonne und die himmlische Welt mit der reinen göttlichen Welt identisch sind, steht die sublunare Welt zu dieser Kraft in einem gebrochenen Verhältnis, d.h. sie und der in ihr lebende Mensch bedürfen der Erlösung. Es ergibt sich von selbst, daß die alles durchwirkende göttliche Kraft ebenfalls differenziert wird in Wirkkräfte verschiedenen Grades, oder - mythologisch - in Götter, Heroen und Dämonen, oder - astrologisch - in Gestirnmächte verschiedenen Ranges. So weit diese Gedanken auch wirkten, die Stoa der Kaiserzeit wandte sich von Poseidonios ab. Chrysipp blieb der maßgebende Systematiker der Stoa, auf den man sich notfalls berufen konnte. Doch schwand das Interesse an der Kosmologie überhaupt, während die stoische Ethik die Welt eroberte (s.u. §6.4f). 2. Der hellenistische
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Philosophie und Religion
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lud: Early Orphism and Kindred Religious Movements, HThR28, 1935,181-230. E . M A A S S , Orpheus: Untersuchungen zur griechischen, römischen, altchristlichen Jenseitsdichtung und Religion, 1895, Neudruck 1974. W. K. C. GUTHRIE, Orpheus and Greek Religion: Α Study of the Orphic Movement, 21952. M.P.NILSSON,
a) Die Kyniker Sokrates war dafür bekannt, daß er auf die Straßen und Plätze ging und dort mit allen möglichen Leuten diskutierte, sie herausforderte und sie dazu bringen wollte, über sich selbst nachzudenken. Daran knüpfte der Kynismus an, nicht etwa an irgendwelche speziellen Lehrinhalte des sokratischen Philosophierens. Der Begründer des Kynismus, Diogenes von Sinope (ca. 400/390-328/323vChr.), der wegen seiner Schamlosigkeit „der Hund" („kyön") genannt wurde, schreckte vor nichts zurück, wenn er seine Verwerfung kultureller Werte und der bürgerlichen Konventionen demonstrieren wollte. Eine eigene philosophische Lehre hatten Diogenes und seine Nachfolger nicht, waren aber in späterer Zeit oft von der Stoa beeinflußt. Ihre Bedürfnislosigkeit und Schamlosigkeit waren zunächst weiter nichts als Formen der Verwerfung von Gesellschaft und Konvention. Dagegen betonten sie die naturgegebene Notwendigkeit, betätigten sich auch als Ratgeber, Seelsorger und in der Fürsorge für andere. Statt auf Ausgestaltung und Überlieferung einer Lehre baute sich die kynische Philosophie auf der Schaffung und Weitergabe von drastischen Beispielen des praktischen Verhaltens auf. In der kynischen Propaganda wurden diese Beispiele in der Form philosophischer Apophthegmata festgehalten, die vor allem um die Person des Gründers Diogenes kreisten. Aus der Predigt der kynischen Bettelphilosophen entwickelte sich die „Diatribe". Das Wort bedeutet eigentlich „Zeitvertreib" und war im 4.Jh.vChr neben „schole" ( = „Muße", „Schule") eine Bezeichnung für eine Philosophenschule. Im Laufe des 3.Jh.vChr verdrängte die Methode des Diskutierens, die man „Diatribe" nannte, den Dialog als philosophische Stilform. Im Unterschied zum letzteren richtet sich die Diatribe an den Laien, nicht an den Fachkollegen oder Schüler. Sie verachtet die Fachsprache und bedient sich auch in ihren Bildern und Beispielen der Sprache des Vol-
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kes, wobei sie vor Derbheiten nicht zurückschreckt. Einwürfe fiktiver Gegner, rhetorische Fragen, drastische Beispiele, Anekdoten und schlagende Zitate sind für den Stil dieser Volkspredigt charakteristisch. Was sich in dieser kynischen Diatribe herausbildete war freilich nicht rein kynisch; Elemente aus anderen Schulen wurden im Laufe der Zeit aufgenommen, und der Stil der Diatribe wirkte später auch auf andere Kreise, vornehmlich auf die stoischen Philosophen. Als Begründer dieser „kynisch-stoische Diatribe" genannten Predigt- und Lehrmethode nennt man den im 3.Jh.vChr wirkenden Popularphilosophen Bion von Borysthenes, der sowohl von der Akademie als auch vom Peripatos stark beeinflußt war. Deutlich erkennbar ist dieser Diatribenstil erstmals bei einem sonst unbekannten Philosophen namens Teles, von dem Fragmente bei Stobäus erhalten sind. Literarisch tritt der Einfluß der Diatribe besonders in der Zeit des frühen Christentums zutage, bei Philon von Alexandrien, Seneca, Musonius, Epiktet, Maximus von Tyros, Lukian, und im christlichen Bereich vor allem bei Paulus. b) Der Euhemerismus An Theorien, welche die Entstehung des Götterglaubens erklären wollten, hat es in der hellenistischen Zeit nicht gefehlt. Zum Teil gingen diese Erklärungen auf die ältere Homer-Allegorese, auf die sophistischen Deutungen und die platonische Mythenkritik zurück. V o r allem die letztere, die Götter mit Gestirnmächten identifizierte, hat in der hellenistischen und römischen Zeit große Bedeutung gewonnen. D a z u kam die in der Stoa in den Vordergrund tretende Anschauung, daß die Götter mit den Kräften identisch seien, die den Kosmos durchwalteten, denen der Mensch kraft seiner Natur als Vernunftwesen verwandt ist. Schließlich trat dieser pseudo-wissenschaftlichen Theorie die viel populärere zur Seite, daß es sich bei den Göttern um verschiedene Klassen von D ä m o nen handele (s.o. § 4 . 1 a). Diejenige Theorie, die den weitesten Nachhall finden sollte und bereits dem Altertum als die Gottlosigkeit schlechthin galt, war der sogenannte Euhemerismus. Ihr Begründer, der Literat Euhemeros von Messene (340-260 vChr), war als der Erzgottesleugner verrufen. S o gewiß Euhemeros respektlos und zynisch war, so sicher kann man seine Lehren nicht einfach als radikale Gottesleugnung verketzern. An sich gehört die euhemeristische Mythendeutung in
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eine Tradition der Mythenentwicklung, die mit Homer beginnt, in der die Götter immer stärker in ihrem Verhalten, Handeln und Fühlen dem Bilde des Menschen angenähert worden waren. Rationalistisch eingestellt ist diese Mythendeutung schon von Anbeginn. Hekataios von Abdera (ca. 350-290) hatte kurz vor Euhemeros ägyptische Gedanken aufgenommen, in denen von den Göttern Ägyptens, die z.T. mit griechischen Göttern identifiziert wurden, gesagt wird, daß sie Könige der Vorzeit waren. Als solche hatten sie Staaten gegründet, Gesetze erlassen und die Menschen all das gelehrt, was zum Leben notwendig ist und was die Kultur der Menschen auszeichnet. Euhemeros war von Hekataios abhängig. Er ging aber noch einen Schritt weiter: als Könige der Vorzeit erscheinen in seinem utopischen Staatsroman die griechischen Götter Uranos, Kronos und Zeus mit ihren Frauen (Hestia, Rhea, Hera), Söhnen und Töchtern. Hatte man schon seit Homer von den Liebesaffären der Götter so gesprochen, als handele es sich um moralische und unmoralische Liebschaften von Menschen, so redete Euhemeros von den mythischen Kämpfen der Götter und Titanen wie von Hofintrigen und Nachfolgekämpfen in den Familien von Königen und Herrschern. Zeus selbst ist vollends nach dem Bilde Alexanders des Großen gezeichnet. Er zieht durch die Lande vom Westen bis zum Osten, gründet Reiche, in die er Satrapen und Freunde als Herrscher einsetzt, gibt Gesetze und stiftet Kulte, die seiner Verehrung dienen sollen - deutlich spiegelt sich hier der Herrscherkult der Jahrzehnte nach Alexander dem Großen wider! Zog Euhemeros auch nur die Konsequenzen aus einer langdauernden Entwicklung, so war er es, der damit die Götter endgültig entthronte. Sie waren vollends der Herrschaft entkleidet worden in jenem Raum der menschlichen Erfahrung, der zwar dem Menschen verwandt ist, sich jedoch seinem Zugriff und seiner Kontrolle entzieht. Euhemeros degradierte die Götter zu Heroen; wie jene, oder wie ein göttlicher Herrscher, wurden sie verehrt. Ihnen zu dienen, bedeutete nichts weiter, als sich solcher Wohltaten zu versichern, wie sie etwa auch einer der göttlichen Könige erweisen konnte. Aber die Welt jenseits dieses Bereiches politisch kategorisierter Theologie war verwaist, ihrer Götter beraubt und den Mächten der Gestirne und den Dämonen überlassen. Sternenglaube und Astrologie, Dämonenglaube und Zauber traten so bald an die Stelle des alten Götterglaubens.
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c) Astrologie und Schicksalsglaube Noch vor dem Beginn der hellenistischen Zeit hatte Plato geäußert, daß die Gestirne göttliche Wesen seien. Vielleicht hatten schon vorher die Pythagoreer bereits entsprechende astrologische Vorstellungen des Ostens übernommen. Doch ist eine solche Ansicht für das alte griechische Denken ungewöhnlich. Die Götter Griechenlands hatten mit den Sternen nichts zu tun. Einen Sonnenkult gab es nicht, und der Sonnengott Helios wurde nicht in gleicher Weise wie die anderen griechischen Götter als Person verehrt. Die Vorstellung, daß die Sterne, vor allem Sonne, Mond und Planeten, mächtige Götter sind, die das Schicksal der Städte und Völker, Krieg und Frieden, das Gedeihen der Feldfrüchte und Haustiere bestimmen, ist in Mesopotamien entstanden. Dort findet sich auch, erstmals am Ende des 5.Jh.vChr belegt, das persönliche Horoskop, während das Horoskop für eine Stadt oder ein Reich sehr viel älter ist. Seit dem 4.Jh.vChr war den Griechen dieser babylonische Glaube bekannt. Eudoxos von Knidos und Aristoteles' Schüler und Nachfolger Theophrast hatten ihn ausdrücklich abgelehnt. Aber vom Anfang des 3.Jh.vChr an drang der babylonische Sternenglaube zusammen mit der Astronomie mit Macht in die griechisch sprechende östliche Mittelmeerwelt ein. Wahrscheinlich war schon Zeno, der Begründer der Stoa, von der Astrologie Babylons beeinflußt. Der babylonische Priester Berossos, der in seiner griechisch geschriebenen Geschichte Babylons, Antiochosl. gewidmet, auch über die Astrologie berichtet, machte diesen eigenartigen Glauben des Ostens den griechischen Lesern zugänglich. Im Laufe des 3.Jh. breiteten sich diese Anschauungen beständig weiter aus. Als im 2. Jh. der Akademiker Karneades sich heftig gegen die Astrologie wehrte und der Stoiker Panaitios seine eigene philosophische Tradition von astrologischen Lehren zu befreien suchte, war es bereits zu spät. Die Astrologie war nicht mehr auszurotten. Diesen Sieg hatte aber nicht die babylonische Astrologie als solche errungen, sondern die griechische Wissenschaft im Bunde mit der Erneuerung der philosophischen Religiosität des Hellenismus. Alexandrien war nicht nur der Ort, an dem der griechische Wissenschaftsbetrieb der hellenistischen Zeit in höchster Blüte stand - und die Astronomie war derjenige Zweig der Gelehrsamkeit, in der die Fortschritte wissenschaftlicher Erkenntnis ihre höchsten Triumphe feierte - ; Alexandrien war auch der Geburtsort der
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auf wissenschaftlicher Grundlage betriebenen Astrologie. Hier wurde sie zum System der Schicksalsbestimmung ausgebaut, das sich der modernsten Einsichten und fortschrittlichsten mathematischen Methoden bedienen konnte. Die wissenschaftlichen Ergebnisse der hellenistischen Astronomen waren ja denjenigen ihrer babylonischen Vorgänger weit überlegen. Einen Konflikt zwischen Astronomie und Astrologie scheint es dabei nicht einmal gegeben zu haben. Der bedeutendste Astronom der Antike, Hipparchos von Nikaia (s.o. §3.3b), der im 2.Jh.vCh auch zeitweise in Alexandrien wirkte, war offenbar selber vom Wahrheitsgehalt der Astrologie überzeugt. Mathematik und Mystik schließen sich nicht gegenseitig aus. Aus dem gleichen Jahrhundert stammt das unter dem Namen Nechepso-Petosiris bekannte Grundwerk der wissenschaftlichen Astrologie, ebenso ein unter dem später so bedeutsamen Namen Hermes Trismegistos laufendes Buch ähnlichen Inhalts. Mit ägyptischen Traditionen haben diese Werke allerdings nichts zu tun. Es waren durchweg griechische Werke auf babylonischer Grundlage. Trat die Astrologie im Hellenismus von vornherein als konsequentes wissenschaftliches System auf, so konnte sie sich doch nur durchsetzen, weil sie gleichzeitig den Rahmen für eine neue philosophisch-religiöse Weltdeutung abgab. Die alte griechische Religion war ein Kult von Stadtgöttern, der in dieser Form nur bestehen konnte, solange diese Götter als Schutzpatrone der Städte verehrt wurden und Anerkennung fanden. Die Mobilität der Bevölkerung, die Erweiterung der geographischen Horizonte und der Universalismus der Wirtschaft, der Politik und der Wissenschaft konnte sich aber mit dieser „Lokalreligion" nicht zufrieden geben. Daraus, daß die Könige der neuen Reiche die alten Stadtkulte in den Dienst ihrer Politik stellten, haben sich im Hellenismus niemals unmittelbare Ansätze für ein neues Verhältnis des Götterglaubens zu universal verstandenen Gottheiten ergeben (auch den Fall der Sarapis- und Isis-Religion kann man nicht als Beispiel dafür anführen; s.u.§4.4a). Es war vielmehr die Philosophie, die hier neue Wege wies. Mit Recht hatte die Stoa als wichtigste Universalphilosophie bereits in ihrer Kosmologie auf die universalen astrologischen Vorstellungen zurückgegriffen. Die Astrologie konnte die alten Götter im neuen Gewände universaler Macht erscheinen lassen. Zeus wandelte sich vom Herrscher des Olymp als „Jupiter" zum strahlenden Herrn des Himmels, sobald man ihn mit dem babylonischen Heilgott Marduk identifizierte und als Planeten
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wiedererkannte. So wurde auch Aphrodite zur „ V e n u s " ( = Ischtar), Ares zum „ M a r s " ( = Nergal, dem babylonischen Gott des Todes), Kronos zum „ S a t u r n " ( = Ninurtu, dem babylonischen Kriegsgott), Hermes zum „ M e r k u r " (dem babylonischen Weisheitsgott Nebo). Desgleichen bestimmten sich - schicksalsträchtig - die Wochentage nach diesen fünf Planeten und nach der Sonne und dem Mond. D a ß auch dies ein W e r k des griechischen Geistes ist, ersieht man aus der überragenden Stellung der Sonne. Das entspricht griechischer Wissenschaft - im Babylonischen war der Mond als schicksalsbestimmende Macht wichtiger. W u r d e n so die griechischen Götter zu Universalgottheiten, dann ist es durchaus konsequent, daß später in der römischen Zeit die „unbesiegbare S o n n e " (Sol invictus) zum mächtigsten Symbol des Heidentums im Kampf gegen das Christentum werden sollte. H a t t e doch schon Poseidonios erklärt, daß die Sonne als das reine Feuer auch der letzte Ursprung aller V e r n u n f t und aller „Geister" sei und daß letztlich alle Macht von ihr ausgehe. Aber diese allgemeine Popularisierung der Astrologie gewann erst in der römischen Kaiserzeit an Boden. Positiv gefaßt konnte das astrologische Weltbild mit seinen V o r stellungen von Gesetzlichkeit und Macht dem Menschen eine Ahnung geben von der „Welt", in der er sich einrichten mußte, und von den Kräften, mit denen er zu rechnen hatte. Aber dieses Weltbild hatte auch eine Kehrseite, durch die ein Geist heraufbeschworen wurde, den man nicht wieder los werden sollte: die Heimarmene. Das W o r t ist von dem griechischen Verb μ ε ί ρ ο μ α ι „sein zustehendes Teil erhalten" abgeleitet; aus der gleichen Wurzel stammt das schon bei H o m e r vorkommende Substantiv μ ο ί ρ α „Los", „Schicksal". Die klassische Tragödie hatte aber statt dessen von der „ A n a n k e " gesprochen, von der unberechenbaren Notwendigkeit. Sie war das mächtige Geheimnis des menschlichen Lebens, das in Liebe, Schuld, Unglück und T o d den Menschen erscheint und seinen Tribut fordert. Aristoteles definierte die Ananke als „das, was der Bewegung der freien Wahl entgegengesetzt ist" (Metaphysik IV 5 p.1015a 20ff). Die Ananke ist aber keineswegs eine Macht, die das menschliche Leben sinnlos und absurd macht. Sie verhindert nur, daß der Mensch sein Leben im voraus berechnen kann, und macht es zum echten Leben, das voll von Geheimnissen ist und den Menschen in seinem wahren Menschsein fordert, ohne ihm zu sagen, ob Erfolg oder Verzweiflung am Ende stehen wird. Im Hellenismus jedoch wird die Ananke oder Heimarmene zu
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einer Macht, die nun ihrerseits das menschliche Leben wie ein Rechenexempel vorausbestimmt. Sie ist die größte Göttin, die letzte Gewalt über alles besitzt, das Schicksal, das in den Sternen steht und ebenso zwangsmäßig abläuft wie ihr Kreislauf. Eine charakteristische Beschreibung des babylonischen Sternenglaubens und der daraus abgeleiteten Vorstellung von der Heimarmene findet sich bei Philo von Alexandrien: „(Die Babylonier) nehmen an, daß die sichtbare Welt (d.h. die Sternenwelt und die Erde) das einzige ist, was Sein besitzt, und entweder selbst die Gottheit ist oder die Gottheit in sich umschließt als die Seele des Alls. Das Schicksal (Heimarmene) und die Notwendigkeit (Ananke) machen sie zu Göttern und füllen so das menschliche Leben mit viel Gottlosigkeit, denn sie lehren, daß es außerhalb dieser sichtbaren (kosmischen) Erscheinungen keinerlei Ursachen irgendwelcher Dinge gibt; vielmehr bestimmen die Umläufe der Sonne, des Mondes und der anderen Himmelskörper sowohl das Gute als auch dessen Gegenteil für jedes lebende Wesen." Hier gibt es keinen Raum mehr für die Freiheit; denn das Weltbild der Astrologie liefert den Menschen dem Schicksal aus. Die Kräfte und Beziehungen der menschlichen Gesellschaft sind nicht mehr imstande, einen Raum der Freiheit für den Menschen zu sichern; denn der Mensch ist aus den gesellschaftlichen Banden gelöst, ohne daß es der Philosophie gelungen wäre, den Raum der menschlichen Freiheit und sittlichen Verantwortung in der Form von politischen und sozialen Bezügen neu zu definieren. Die neue Sicht der Welt unter dem Vorzeichen der Heimarmene rechnet gar nicht mit politischen Strukturen, sondern mit siderischen und physikalischen Gesetzlichkeiten. Daß später astrologische Zeichen auch auf Kaisermünzen und militärischen Emblemen erschienen, mußte den Menschen jener Zeit genugsam bewiesen haben, daß auch die beherrschende politische Macht den Sternenmächten untergeordnet war. Die unmittelbare Konfrontation des Einzelnen mit den zwar berechenbaren, aber gleichzeitig unbarmherzigen und unwandelbaren siderischen Mächten führte zu einem sich immer weiter ausbreitenden astrologischen Determinismus. Da man sich mit physisch-materiell verstandener Macht auseinandersetzen mußte, drang der Zauber in alle Lebensbereiche ein. Man brauchte einen Magier, um ein Liebesabenteuer erfolgreich bestehen zu können, wählte die günstigste Stunde für ein Festessen nach einem astrologischen Handbuch und traf wichtige politische Entscheidungen nur nach Konsultation mit einem Astrolo-
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gen. Mit der Heimarmene ließ sich nicht rechten, aber man konnte sein eigenes Planen nach ihr ausrichten. Da die Entwicklung des astrologischen Schicksalglaubens in der römischen Zeit ihren eigentlichen Höhepunkt erreichte, mußten sich die neuen Erlösungsreligionen mit diesem Glauben auseinandersetzen oder sich mit ihm arrangieren. d) Der Orphizismus und die Vorstellungen vom Leben nach dem Tode Der Ursprung des Orphizismus ist nicht mehr deutlich greifbar, und die Gestalt des thrakischen Sängers Orpheus, dessen Leben seine Anhänger in die Zeit vor Homer datieren, bleibt für uns rätselhaft und dunkel. Die greifbaren Anfänge des Orphizismus stehen in engem Zusammenhang mit den Mythenbildungen der archaischen Zeit Griechenlands. Nach dem Vorbilde des älteren Mythendichters Hesiod waren im 6.Jh.vChr eine Reihe keineswegs einheitlicher Theogonien in gebundener Sprache entstanden, die, wie schon zuvor Hesiod, viel orientalisches Mythengut aufgenommen hatten, das dadurch bis in die hellenistische und römische Zeit fortlebte. Für Hesiod steht die enge Verwandtschaft seiner Theogonie mit den anatolischen, durch die Hethiter aufbewahrten Mythen über den Gott Kumarbi und das Ullikummi sowie mit dem babylonischen Schöpfungsmythos Enüma Elis (1400vChr) außer Frage. In späterer Zeit sind diese Mythen nochmals in der griechischen Welt bekannt geworden, und zwar der letztere durch den babylonischen Priester Berossos (3.Jh.vChr), die ersteren durch den Phönizier Philon von Byblos (46-141 nChr). Handelt es sich in diesen Fällen um literarisch bezeugte Aufnahmen orientalischen Mythengutes, so muß man aber auch damit rechnen, daß daneben vielfältige Berührungen anderer Art stattgefunden haben. Das Interesse der hellenistischen Zeit an mythischen Traditionen führte zu einer Erneuerung dieses Austauschs. An alledem haben die Orphiker offenbar einen erheblichen, wenn auch nicht zu überschätzenden Anteil gehabt. Etliche Theogonien des 6.Jh.vChr waren orphisch. Zumindestens seit jener Zeit hat es orphische Konventikel gegeben, in denen sich vor allem Angehörige der unteren Klassen zusammenfanden. Es gab orphische Priester, die religiöse Erbauungsbücher zum Verkauf anboten und zur Einweihung in die orphischen Riten (Mysterien) einluden. Die Wirkung der orphischen Mythen und der orphischen Mystik auf
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die Entwicklung der griechischen Mysterien scheint beachtlich gewesen zu sein (s.u. §4. J e undf). Voll ausgebildete orphische Mysterien sind für das 3. Jh.vChr bezeugt. Das Kernland für die Entwicklung des orphischen Mystizismus war Unteritalien, der alte Sitz der Pythagoreer (die es aber in der frühen hellenistischen Zeit offenbar nicht mehr gab; s.u. §6. 5d). Vielleicht sind hier im 4.Jh.vChr O r phizismus und Pythagoreismus ineinander aufgegangen. Orphische Hymnen sind auch im Osten bezeugt. In ihnen lebten die älteren orphischen Theogonien in der hellenistischen Zeit fort. Charakteristisch ist für diese Theologie die Tendenz zum Monotheismus: die nachmals so verbreitete Formel „Es ist ein Gott" findet sich zum ersten Mal in einem orphischen Text des 3.Jh.vChr. Auf der anderen Seite hält sich die polytheistische Spekulation der älteren orphischen Theogonien in modifizierter Form: an die erste Stelle ist Chronos getreten, der aus den Urprinzipien Wasser und Schlamm entsteht. Er zeugt den Aither und das Chaos und in ihnen das Weltei, aus dem Phanes, der typische orphische Schöpfergott, entspringt. Er ist ein geflügeltes mannweibliches Wesen mit Tierköpfen, der auch mit Dionysos identifiziert und Protogonos genannt wird. Weitere göttliche Wesen entstehen in dem darauf folgenden Ablauf des Schöpfungsprozesses, manche von ihnen mit traditionellen Göttern gleichgesetzt, andere als Mächte gekennzeichnet, wie Ananke und Heimarmene. O b diese orphischen Mythen auf die gnostische Mythenbildung eingewirkt haben, oder ob es sich bei der letzteren um eine analoge Übernahme orientalischen Mythenstoffes handelt, bedarf noch weiterer Untersuchung. Am nachhaltigsten wirkte der Orphizismus durch seine Lehre von der Seelenwanderung und durch seine in engem Zusammenhang mit dem Volksglauben ausgestalteten Unterwelts- und Strafvorstellungen. Die allgemeine Vorstellung der hellenistischen Zeit nahm an, daß die Seelen nach dem Tode in ein Schattendasein kommen, in dem sie ohne Bewußtsein dahindämmern. Zugleich lebte aller möglicher alter Glaube über die Verstorbenen im Totenkult, in den Begräbnisriten und im Zauber fort und trieb in der Spätantike reichliche Blüten. Totenmähler waren eine weitverbreitete Sitte, die sich in den christlichen Mahlfeiern an den Gräbern der Märtyrer fortsetzte. Eng damit verbunden ist die Ansicht, daß die T o ten, wenn sie es glücklich getroffen haben, sich der Teilnahme an einem immerwährenden Eß- und Trinkgelage erfreuen können. Man brachte weiter den Toten Speise und Trank, goß sie über dem
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Grabe aus oder durch in die Erde gesteckte Röhren in den Sarg. Fluchtafeln wurden auf die Gräber gelegt: der Tote sollte den Fluch vollstrecken. Von den Seelen gewaltsam Verstorbener oder Unbestatteter nahm man an, daß sie in der Nähe der Gräber ihr Unwesen trieben: im Zauber konnte man sich ihrer bemächtigen und sie sich dienstbar machen. Auch Beispiele der Nekromantie sind bekannt. Von dem trauigen Los, das die Seelen meist betrifft, redete man gelegentlich in dem Bild vom Trinken aus der Quelle des Vergessens (Lethe). Diese hellenistische Vorstellung ist gegenüber der klassischen vom Haus der Lethe neu; denn zu ihr gehört die andere von der Quelle der Erinnerung (Mnemosyne). Wer aus ihr trinkt, wird unter die Götter oder die Heroen versetzt. Es scheint, daß insbesondere die Orphiker diese Vorstellung verwendet haben. Man gab den Toten auch Goldplättchen mit ins Grab, auf denen sie ermahnt werden, die Quelle der Lethe zu meiden und aus der Quelle der Mnemosyne zu trinken. Es spiegelt sich darin ein sich immer weiter ausbreitender Glaube an das Fortleben der Seele nach dem Tode, sei es, um im Hades die Strafen für ihre bösen Taten zu erleiden, sei es, um an einen Ort der Glückseligkeit zu gelangen oder zu einem Heros zu werden. Zwar erscheint davon nur gelegentlich etwas auf Grabinschriften - hier herrschen nichtssagende Klischees vor aber die Unterweltvorstellungen auf den süditalischen Vasen, die Malereien auf den Wänden der hellenistischen Gräber bei Lefkadia in Makedonien mit Darstellungen der Totenrichter und die bis in die römische Zeit hinein wachsende Zahl von Bauten und Stiftungen, die dem Kult heroisierter Verstorbener dienten, sprechen hier eine deutliche Sprache. Die Lehren der Orphiker und später der Neupythagoreer scheinen die Katalysatoren für die Formierung und Ausbreitung der Unsterblichkeitsvorstellungen gewesen zu sein. Das gleiche gilt für die Unterweltsvorstellungen. Die Orphiker hielten trotz der Verbreitung des neuen astrologischen Weltbildes an ihrer alten Vorstellung vom Strafort (Tartaros) in den Tiefen der Erde und von den Gefilden der Glückseligen im fernen Westen fest, - und dies ist auch der Glaube, der im Volk fortlebte. Gelegentliche Versuche, diese Vorstellungen dem neuen Weltbild anzupassen, indem man den Hades an den südlichen, der bewohnten Erde abgewandten Sternenhimmel versetzte, haben daran nichts zu ändern vermocht. Der Strafort der Seelen blieb nach der ursprünglich von den Orphikern verbreiteten Lehre der Tartaros im Erdin-
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neren. Aus dieser Quelle stammen die wahrscheinlich schon in der hellenistischen Zeit verbreiteten und in der römischen Kaiserzeit bei Heiden (Vergil, Plutarch, Lukian), Juden (1. Henoch) und Christen (Apokalypse des Petrus, Apostelgeschichte des Thomas) vielfach bezeugten Höllenschilderungen. Plato hatte die orphische Anschauung von den Strafen im Jenseits bereits im Zusammenhang seiner Darlegungen über Gerechtigkeit und Vergeltung aufgegriffen. Wenn im 2. Jh. nChr der Spötter Lukian mit christlichen Predigern darin wetteifert, diese Höllenstrafen recht grausam zu schildern, so kommt darin eine innerhalb des Griechentums entwickelte Anschauung zum Ausdruck. Freilich bezeugt sich darin auch die Tatsache, daß jene Jahrhunderte der Idee der Gerechtigkeit nicht hinreichend Geltung in Bezug auf die politische Ordnung verschaffen konnten, sondern sie fast ganz an den gerechten Ausgleich in Lohn und Strafe, den der Einzelne erfährt, gebunden hatten. Ebenso offenbart sich hier einer der tieferen Gründe dafür, daß ein mythisches Weltbild wider bessere wissenschaftliche Einsicht die Oberhand behielt. Die Idee der Gerechtigkeit war unaufgebbar. Das Weltbild der Wissenschaft war materialistisch, das der Astrologie wußte zwar von Mächten und Kräften, aber es war vom Gedanken des Schicksals beherrscht. S o klammerte man sich an die alten mythischen Straf- und Höllenschilderungen, die der Gerechtigkeit, wenn auch in schauriger Weise, ein Asyl gaben. 3. Die Entwicklung
der griechischen
Kulte
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Die Entwicklung der griechischen Kulte
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a) „Synkretismus" Man hat die hellenistische Zeit als die Zeit des religiösen Synkretismus schlechthin bezeichnet. Dazu muß man sich aber klar machen, was damit gemeint ist. Die eigentliche Bedeutung des Wortes hilft nicht weiter. Der Begriff „Synkretismus" (συγκρητισμός) bezeichnete ursprünglich den Zusammenschluß der kretischen Städte, die miteinander im Streit gelegen hatten. In moderner Zeit hat man wegen der Klangverwandtschaft dieses Begriffes mit dem Verb κεράννυμι „mischen" die Bedeutung „Vermischung" herausgehört und den Begriff auf die Vermischung der Religionen, insbesondere der griechischen und orientalischen angewandt. „Vermischung" ist aber ein viel zu ungenauer Begriff. Was gemeint ist, begann mit einer gesteigerten Mobilität der Bevölkerung am Anfang der hellenistischen Zeit. Daraus entstand zunächst ein enges Nebeneinander von griechischen und verschiedenen nichtgriechischen Völkern. Das Ergebnis war ein Pluralismus von großer Buntheit. Eine Vermischung setzte erst nach und nach ein. Es ist auch anzunehmen, daß nicht die Bevölkerungsmischung als solche der Anlaß zum religiösen Synkretismus gewesen ist. Die Gründe waren vielmehr geistiger und psychologischer Art; denn es konnte nicht ausbleiben, daß die dominierende Stellung des griechischen Elements zu einer Ausbreitung griechischer Kultur führte. Umgekehrt hatte die Faszination der Griechen für alles Neue und Fremde die Auf-
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nähme orientalischer Elemente gerade auch auf dem Gebiet der Religion zur Folge. Daraus ergaben sich verschiedenste Entwicklungen, die jeweils anders geartete Erscheinungsformen des Synkretismus sind. Die Kulte und Religionen der griechischen wie der orientalischen Völker waren zunächst lokal gebunden und politisch als Staats-, Volks- oder Stadtreligionen verankert. Der Anspruch, Weltreligion zu sein, war allen diesen Kulten an sich fremd. Denn das Bewußtsein war noch sehr lebendig, daß eine Gottheit an eine bestimmte heilige Stätte gebunden war. Daß sich das änderte, war einerseits das Verdienst der Aufklärung und Philosophie, andrerseits der Mobilität der Bevölkerung. Griechische Götter wanderten nach dem Osten als Götter der neuen griechischen Städte. Wegen ihres Interesses an der Erhaltung und Förderung des griechischen Elementes in ihren Reichen begünstigten die Könige diesen Prozeß. Umgekehrt kamen Götter und Kulte aus dem Osten mit den Sklaven, Kaufleuten, Matrosen und Soldaten nach dem Westen. Zunächst geschah dies so, daß religiöse Vereine gegründet wurden, die dafür sorgten, die alten Götter an den neuen Wohnsitzen heimisch zu machen und ihnen Geltung zu verschaffen. Auf diese Weise gründeten auf der einen Seite Griechen im Osten das nachmals so berühmte Apolloheiligtum in Daphne bei Antiochien. Umgekehrt war bereits in vorhellenistischer Zeit mit den kleinasiatischen Sklaven, die in laurischen Bergwerken arbeiteten, der kleinasiatische Gott Men nach Attika gekommen. An sich war dies also nichts Neues, und von Synkretismus braucht man hier nicht zu reden. Schon Jahrhunderte vorher waren auf diese Weise der thrakische Dionysos ebenso wie die kleinasiatische Große Mutter nach Griechenland gekommen und längst von den Griechenstädten offiziell akzeptiert worden. Erst als andere Elemente hinzutraten, wurde diese Art von Verpflanzung eines Kultes an einen anderen Ort zu einem wichtigen Teil eines synkretistischen Prozesses. Ein solches zusätzliches Element war die Identifizierung oder Verbindung von Gottheiten verschiedenen Ursprungs. Auch das ist gewiß nichts Neues in der Geschichte der griechischen Religion. Die Artemis der Epheser war eine kleinasiatische Fruchtbarkeitsgöttin, deren vielbrüstige Kultstatue mit der griechischen Artemis nichts gemein hat. Viele ähnliche Beispiele ließen sich anführen. Aber in der hellenistischen Zeit entstand eine Inflation solcher Identifizierungen und Verbindungen, die damit begann, das der Name
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des neu eingeführten Gottes ins Griechische übersetzt wurde. Auf diese Weise etablierten sich viele Kultvereine fremder Götter im griechisch sprechenden Raum als Kultvereine von Göttern, die griechische Namen hatten. Auf Delos gab es z.B. einen Verein von Kaufleuten und Reedern aus Berytos (Beirut) und Rom, die sich Posidoniasten nannten; sicher verbirgt sich hinter Poseidon ein phönizischer Meeresgott. Oder griechische Götter wurden mit orientalischen Göttern verbunden: auf Kos ist ein Verein des Zeus und der (syrischen Göttin) Astarte bezeugt. Schließlich wurden griechische Götter mit orientalischen Beinamen versehen; besonders häufig geschah das mit Zeus, was in der Regel auf orientalische Kulte deutet, die von den griechischen Herrschern anerkannt worden waren (z.B. Zeus Keraunios, Zeus Sabazios). Längst hatte die griechische Ethnographie und Philosophie dieser Verbindung von griechischen und orientalischen Völkern vorgearbeitet. Schon sehr früh identifizierte man auch griechische und römische Götter (Zeus = Jupiter; Aphrodite = Venus, usw.). Hierbei nahmen die römischen Götter, obgleich sie ursprünglich ganz andersartige Gestalten waren, in der Regel die Züge an, die ihnen griechischer Glaube und griechische Mythologie zuschrieb. Ein weiterer wichtiger Faktor im synkretistischen Prozeß war die gegenseitige Durchdringung von Elementen verschiedener Religionen und Kulturen. Dazu gehören die folgenden Vorgänge. l.Die Hellenisierung orientalischer Religionen. Kultformen und Riten der orientalischen Gottheiten blieben erhalten. Ihre Mythen und Kultlegenden wurden ins Griechische übersetzt, das dabei Sprache, Gedankengut und Vorstellungswelt lieferte. 2. Vorstellungen, die allgemein die neue religiöse Erfahrung des Hellenismus beherrschten, drangen in die verschiedensten Religionen griechischen und orientalischen Ursprungs ein, so ζ. B. die Vorstellung von dem einen Himmelsgott, der über alles herrscht. Dazu gehören auch Elemente des neuen Weltbildes: die Astrologie, der popularisierte Piatonismus, die Dämonenvorstellungen, der Wunderglaube und die Betonung der Erlösung des Einzelnen. 3. Die Loslösung von der ursprünglichen Lokaltradition zwang zu einer neuen Ausdeutung alter Elemente im Sinne der Weltkultur. Viele Riten waren ehemals mit der Fruchtbarkeit des Landes verbunden. Wanderten diese Kulte in die Großstädte, so verlangte die Fremdartigkeit dieser Riten eine Erklärung, die sich oft im Rahmen einer vergeistigten Erlösungsvorstellung bewegte. Hier hat die Popularisierung
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P h i l o s o p h i e und R e l i g i o n
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von Aufklärung, Mythenkritik und stoischer Theologie nachgewirkt; denn dort waren ja bereits Mythen, Riten und Gebräuche vermittels der Allegorie als geistige und moralische Aussagen von universaler Bedeutung verstanden worden. Schließlich gab es die bewußte Neuschaffung einer Religion aus Elementen griechischer und nichtgriechischer Herkunft. Das trifft auf den Sarapiskult zu (s.u. § 4 . 4 a ) . Er ist aber nur scheinbar der typische Fall eines synkretistischen Prozesses. Denn beim Synkretismus handelte es sich nicht um kunstvolle Manipulation, sondern um Geschichte. Er ist die Antwort auf zwei einander entgegengesetzte geschichtliche Kräfte, auf der einen Seite der Zwang zur Fortsetzung der geschichtlich gewachsenen Tradition, auf der anderen Seite die Notwendigkeit des Eingehens auf eine neue Kultur und ihre geistige Welt. Die künstliche Schaffung eines neuen Kultes ist eher der Versuch einer Harmonisierung als das Austragen eines Konfliktes. In der T a t hat der Sarapiskult in den folgenden Jahrhunderten in seiner eigenen Geschichte sich dem Prozeß synkretistischer Entwicklung unterziehen müssen. Erspart blieb das keiner Religion der hellenistischen und römischen Zeit. Das Christentum war zutiefst in diesen Konflikt verstrickt, und vielleicht lag gerade darin seine Stärke. Es begann als missionarisch engagierte jüdische Sekte. Aber es war weder einfach aus dem Judentum entstanden, noch etwa ohne weiteres aus der Predigt Jesu. V o n diesen beiden Ausgangspunkten herkommend hat sich das Christentum stärker als andere religiöse Bewegungen seiner Zeit auf die verschiedensten kulturellen und geistigen Strömungen einstellen können und dabei sehr viel fremdes Gut aufgenommen, ehe es als synkretistische Religion den Anspruch durchsetzen konnte, Weltreligion zu sein. b) Die alten Götter und ihre Kulte Am Beginn der hellenistischen Zeit bestehen für das allgemeine Empfinden die alten Kulte ungebrochen fort - und zum Schaden dieser Kulte hat man bis in die Spätantike an dieser Fiktion festgehalten. Nicht nur die alten griechischen Kultstätten, sondern auch die in lokalen Traditionen verwurzelten Kulte kleinasiatischer, syrischer und ägyptischer Götter erfreuten sich weiter der Anerkennung großer Teile der jeweiligen Bevölkerung und konnten auch auf die Förderung und den Schutz der Herrscher rechnen, die keineswegs aktive Versuche unternahmen, die bestehenden orientali-
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sehen Kulte zu hellenisieren. Soweit dies überhaupt geschah, lag es meist an der Initiative der Anhänger solcher Kulte, nur in Ausnahmefällen an dem Eingreifen der Könige. Gewiß war die Selbstverständlichkeit der Verehrung solcher Gottheiten in Griechenland schon durch die in der Hochblüte der klassischen Zeit begonnene Mythenkritik dahingegangen. Seit der Zeit Alexanders des Großen verloren die Götter der unabhängigen Städte und Völkerschaften ihre außenpolitische Rolle. Ebenso war die Macht der Zentralheiligtümer politischer Bünde (Amphiktyonien) vorbei. Das galt für den Osten ebenso wie für die alten griechischen Länder. Die Großmachtpolitik der orientalischen Reiche von den Assyrern bis zu den Persern hatte im Osten längst dafür gesorgt, daß ζ. B. aus dem Jahweh-Heiligtum der israelitischen Amphiktyonie zunächst der königliche Staatstempel in Jerusalem und schließlich der unter priesterlicher Leitung reorganisierte Kult eines politisch machtlosen Klientelstaates wurde. Die zahlreichen abhängigen Tempelstaaten Syriens und Kleinasiens mit ihren oft riesigen Ländereien sind auf ähnliche Weise entstanden. Nur gelegentlich konnte sich ein solcher Staat wieder politisch selbständig machen, wodurch dem bestehenden Kult dann wieder eine politische Rolle zufiel. Die Geschichte des jüdischen Tempelstaates bietet hierfür das bestbekannte Beispiel. Vor allem wird hier auch deutlich, daß sich die religiöse Entwicklung nicht mehr ohne weiteres in die Bahnen eines staatlichen Kultes zurückführen ließ. Die Frommen, die im Makkabäeraufstand um die politische und religiöse Freiheit gekämpft hatten, trennten sich zum Teil in dem Augenblick vom Tempelkult, als dieser seine Stellung als Staatskult Israels zurückgewonnen hatte (s.u.§5. lc,d)); und ein großer Teil des Diasporajudentums war schon damals dem Tempel Jerusalems nur noch formal verbunden. Verlust der Funktion als Staatsreligion verlangte religiöse und liturgische Neuordnung. Daher sind Reformen der Kulte der alten Götter für die frühe hellenistische Zeit charakteristisch. Die Neuordnung des Jahwehkultes in Jerusalem durch Nehemia und Esra kann hier als Beispiel dienen, obgleich sie noch vor der hellenistischen Zeit stattfand. Aber die Einzelheiten sind hier recht gut bekannt; und in dem Versuch, sich auf die Verhältnisse eines abhängigen Klientelstaates einzustellen, ist der Osten den griechischen Ländern vorausgegangen. Hier hatte sich gezeigt, daß zwei Probleme bei der Neuordnung im Vordergrund stehen mußten: Erstens die Neufestsetzung und Sanktionierung des Ritus unter Berufung auf
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sehr alte Traditionen; denn auf die jüngere Vergangenheit konnte und wollte man sich nicht berufen, da der Tempel bis zur Zerstörung in Nachahmung der Großreiche königliches Staatsheiligtum gewesen war. Zweitens die Festlegung der sakralen Einkünfte; denn die Beziehungen zwischen den Einkünften der öffentlichen Hand und denen der Kultstätten verlangten wegen der veränderten politischen Verhältnisse neue Regelungen. Auf der einen Seite konnten bisher relativ unabhängige Tempel nicht mehr über Steuereinnahmen verfügen, noch mit regelmäßigen staatlichen Zuwendungen rechnen. Auf der anderen Seite war es auch Städten und Kleinstaaten möglich, aus einem gut florierendem Heiligtum erhebliche Summen einzunehmen. Auch die Könige haben sich gelegentlich aus solchen Quellen bereichert (Antiochos III. ist bei einer Tempelplünderung erschlagen worden). In dem von Esra eingeführten Kultgesetz (dem Priesterkodex) stehen Vorschriften für die Durchführung der Opfer und minutiöse sakrale Regelungen und Verhaltensvorschriften im Blick auf die Teilnahme an kultischen Handlungen und religiösen Festen im Vordergrund. Weiter spielte es eine wesentliche Rolle, daß die jüdischen Autoritäten in Jerusalem keine Rechte besaßen, Steuern und Zölle zu erheben (vgl. Esra 4,13.20; 7,24). Daß sowohl der persische Großkönig ein Anfangskapital zur Neuausstattung des Tempels stiftete (Esra 7,15 ff) als auch die Sippenhäupter erhebliche Spendengelder aufbrachten (Esra 2,68f; vgl. Neh. 5,14ff; 7,7Off), konnte auf die Dauer nicht als finanzielle Grundlage des kultischen Betriebes in Frage kommen. Die regelmäßigen Einkünfte wurden daher als Abgaben für kultische Leistungen, Erstlinge, Zehnte und Einkünfte aus den Tempelländereien festgelegt und speziell dafür ernannte Beamte mit der Einziehung der Gelder betraut (Neh. 12,44). Auch der Personenkreis derer, die Nutznießer dieser Einkünfte sein sollten, wurde genau festgelegt (vgl. Neh. 11,10 ff; 12,1 ff). Ganz ähnlich fällt bei der an vielen Tempeln der griechischen Welt am Anfang der hellenistischen Zeit durchgeführten Neuordnung die auf Altes bewußt zurückgreifende Ausarbeitung von Opfervorschriften und Festlegung der Fasti (Fest- und Opferkalender), sowie die finanzielle Sicherstellung der Tempel auf. Am besten bekannt ist die Wirksamkeit des Atheners Lykurgos, der von 338-326vChr Finanz- und gleichzeitig „Kultusminister" Athens war. Nicht nur die Tempel Athens, sondern auch die seines Einflußgebietes wie Eleusis und das Heiligtum des Heilgottes Amphiaraos
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in Oropos wurden unter seiner Leitung finanziell neu geordnet, neue kostbare Geräte angeschafft und Feste neu organisiert. Beispiele für ähnliche Neuordnungen gibt es aus vielen anderen griechischen Städten. Dazu kommen noch vielfach bezeugte Reinheits- und Fastenvorschriften für die Vorbereitung von Opfern, das Betreten der Tempel und die Teilnahme an religiösen Festen. Daß die Kulte der alten Götter kräftig weiterlebten, zeigen auch die zahlreichen Tempelneubauten für die alten Götter Griechenlands aus der hellenistischen Zeit. Manche größere Bauten wurden in Griechenland errichtet, vor allem entstand eine Reihe von Monumentalbauten in Kleinasien und auf den Inseln, wo die wirtschaftlichen Verhältnisse besser waren: der Artemistempel in Ephesus und der Apollotempel in Didyma wurden neu errichtet, beides riesige Bauwerke von gewaltigen Dimensionen, der große Zeusaltar in Pergamon erbaut, das Asklepion auf Kos in eine großartige Anlage von vier Terassen umgewandelt - um nur einige Beispiele der größeren Neubauten zu nennen. Hinzu kam eine Bautätigkeit, die von den Spenden der Könige gefördert wurde, wie der große Zeus-Olympios-Tempel in Athen, dessen Weiterbau vom syrischen König Antiochos Epiphanes gefördert wurde. Die römischen Kaiser setzten diese Tradition fort, so daß seit dem l.Jh.vChr wieder große Heiligtümer der alten Götter in neuer Pracht entstanden, und zwar auch in den nicht-griechischen Ländern, vgl. z.B. den großen Jupitertempel in Baalbek im Libanon. Auch der Tempelneubau des Herodes in Jerusalem gehört zu diesen Bauten, die das Interesse am Kult der alten Götter beweisen. Ein weiteres Zeichen für das Fortleben der alten Kulte sind die zahlreichen Feste und Spiele, die in verstärktem Maße eingerichtet und reorganisiert wurden. Die Anlässe waren vielfältig: der Jahrestag der Neuerrichtung eines Heiligtums („Kirchweihfest"), die Ehrung eines Herrschers oder auch die Wiederaufnahme irgendeiner alten, inzwischen in Vergessenheit geratenen Tradition. Man hat mit Recht dazu bemerkt, daß diese Feste wohl der religiösen Tiefe und des frommen Ernstes entbehrten. Aber es zeigt sich in ihnen doch die weiterbestehende Breitenwirkung der alten Kulte. Zu den Prozessionen, „Kirmes"-Veranstaltungen, Opfermahlzeiten und Märkten, die dazugehörten - selbstverständlich auch schulfrei für die Kinder und ein freier Tag für die Sklaven - , kamen Gäste aus der Umgebung und oft auch aus der Ferne. Volksfrömmigkeit, Massenbelustigung, religiöse Hingebung in Hymnen und
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Gebeten und politische Propaganda waren dabei unentwirrbar vermischt, bei den Didymäen Milets ebenso wie beim Laubhüttenfest in Jerusalem. In der römischen Kaiserzeit änderte sich das Bild. Mit Augustus begann eine Periode der staatlichen Förderung der griechischen Kulte, die unter dem Philhellenen Hadrian ihren Höhepunkt erreichte. Es steht aber außer Zweifel, daß sich darin ein Niedergang und Verfall der alten Kulte wiederspiegelt. Überall geht die Zahl der erhaltenen Sakralinschriften in der römischen Zeit stark zurück. Gerade an dem Ort, an dem die prächtigsten Bauten aufgeführt wurden, nämlich in Athen, trug die sichtbare Präsenz solcher Tempel nur dazu bei, seinen Charakter als Museumsstadt zu unterstreichen. Die oft zu bewußte Pflege der alten Traditionen und die Verstaatlichung der Förderung entfremdeten den Kultbetrieb dieser Tempel mehr und mehr dem religiösen Bewußtsein breiter Kreise des Volkes. Gelegentliche Neuerungen und die Aufnahme von orientalischen Bräuchen und Vorstellungen - also eine stärkere synkretistische Entwicklung der alten Kulte, die sich jetzt bemerkbar machte, - auch Entlehnungen aus den Mysterien haben daran offenbar nur wenig ändern können. Zu diesen Neuerungen gehört, daß sich die in orientalischen Kulten üblichen Lampen an Stelle der gebräuchlichen Fackeln zunächst als Weihgeschenke, dann im kultischen Brauch selbst durchzusetzen begannen. Auch das Verbrennen von Weihrauch wurde überall als eine Form des Opfers eingeführt. Nach dem Vorbild ägyptischer und anderer orientalischer Kulte breitete sich die tägliche gottesdienstliche Begehung auch bei den alten griechischen Kulten aus, besonders in den vielbesuchten Tempeln und Heilstätten, allen voran die Asklepiosheiligtümer. Damit hängt auch zusammen, daß das blutige Opfer, das auf die besonderen Feste beschränkt blieb, im gewöhnlichen Gottesdienst und seiner Liturgie am Beginn der römischen Zeit ganz zurückgetreten war, so daß Hymnen, Gebete, Rauchopfer und Lampen das normale Ritual ausmachten. Bei besonderen Gelegenheiten wurde auch eine Predigt gehalten. Der Kult der alten Götter Griechenlands war so in seiner letzten Phase in seiner Liturgie von dem, was sich im Judentum (in der Synagoge) und im Christentum als gottesdienstliche Form herausbildete, nicht sehr verschieden. N u r in drei verschiedenen Bereichen kann die frühe römische Kaiserzeit nicht als Zeit des Niedergangs des alten Kultes bezeich-
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net worden: in den ländlichen Gegenden blieb der Kult der alten Lokalgötter noch lange in voller Kraft erhalten; die Heilgötter und ihre Heilstätten, allen voran Asklepios, erreichten erst im l.und 2.nachchristlichen Jahrhundert ihre größte Blüte; und diejenigen griechischen Götter, die Mysterien hatten, also besonders Demeter und Dionysos, erfreuten sich weiter großer Beliebtheit. Neben den neuen Religionen aus dem Osten, die sich seit Beginn der hellenistischen Zeit ausbreiteten - Sarapis und Isis, die Große Mutter und Attis, Mithras und Sol Invictus, Judentum und Christentum - , blieben Asklepios, Dionysos und Demeter die am meisten verehrten griechischen Götter von internationaler Geltung. c) Die Orakel Die politische Bedeutung der Orakelstätten, meist Heiligtümer des Apollo, ging in der hellenistischen Zeit zurück. Nur Delphi bewahrte bis zum Beginn der Römerherrschaft in Griechenland noch einen Teil seines außenpolitischen Einflusses. In Kleinasien trat gelegentlich das südlich von Milet gelegene Apollo-Orakel von Didyma hervor. Aber im allgemeinen lag die Rolle dieser Orakel vornehmlich im sakralen Bereich. Sie wurden wegen des Abhaltens von Festen befragt, über Weihungen und Stiftungen und über alle möglichen Angelegenheiten der jeweils mit den Orakeln enger verbundenen Gemeinden. Daß die Orakel auch als Rechtswalter in privaten Angelegenheiten eine Rolle spielten, zeigen die zahlreichen in Delphi ausgestellten Sklavenbefreiungsurkunden. War in der hellenistischen Zeit also auch wenig Raum für die politische Stimme der Orakelstätten, so erlebte eine andere Art von Prophetie eine neue Blüte: die Sibylle, allerdings nicht in der alten Form, nach der an verschiedenen Orten weissagende Frauengestalten gefragt und ungefragt (die Orakel setzten immer eine formelle Anfrage voraus und waren an bestimmte Zeiten der Orakelerteilung gebunden) in der Ekstase meist Unheilsprophezeihungen von sich gaben. Vielmehr wurden jetzt unter den Namen berühmter Sibyllen (vor allem der Sibylle von Erithrai in Kleinasien und der von Cumae in Italien) Bücher verfaßt und in Umlauf gebracht, in denen der Welt eine unheilvolle Wendung ihres Geschicks vorausgesagt wurde. Diese sibyllinischen Bücher, von denen einige in einer spätantiken Sammlung erhalten sind, stehen der herrschenden griechischen und römischen Kultur negativ gegenüber. Wiewohl in griechischer Sprache verfaßt, nehmen sie die kritische Un-
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terströmung der antigriechischen und antirömischen Gefühle des Ostens auf und verwenden dabei viel orientalisches Gut. S o tritt zur Berufung auf die griechischen Sibyllen auch die Autorität einer sogenannten chaldäischen (babylonischen) Sibylle. Juden und Christen haben sich solche sibyllischen Bücher sowie die Form dieser Weissagung zu eigen gemacht und so ihre eigene apokalyptische Unheilsprophetie, wie auch das Bild einer besseren Welt und Gesellschaft im griechischen Gewände propagiert (s.u. §5.3c). Zu Beginn der römischen Zeit machte sich wieder eine stärkere Orakelfreudigkeit bemerkbar. Das führte auch zu einem neuen Aufschwung einiger alter Orakelstätten. Delphi war freilich jetzt mehr ein Ort des Tourismus, und Plutarch klagt über die manchmal aus Frivolität oder Neugier oder aus unlauterer und selbstsüchtiger Absicht gestellten Anfragen an das delphische Orakel. Zum Erfolg eines Orakels gehörte aber die Einstellung auf die Bedürfnisse seiner Zeit, und es war das Dilemma Delphis, daß es zu stark an seine ehrwürdige Tradition gebunden war. D a s einzige Orakel, von dem bekannt ist, daß es sich nicht nur in seinen formalen Manipulationen, sondern auch theologisch auf die Zeit einzustellen vermochte, ist das Oiakel des Apollo in Klaros (bei Kolophon zwischen Smyrna und Ephesus in Kleinasien gelegen). Mehrere Überlieferungen deuten darauf hin, daß Klaros sich die monotheistischen Ansichten der Philosophen ebenso wie moderne religiöse Anschauungen zu eigen gemacht hatte, synkretistischen Gedanken zuneigte - nach einem Spruch des klarischen Orakels ist LAO ( = Jahweh?) der höchste Gott - und Gesandtschaften oder deren Führer als Mysten in einen Mysterienkult einweihte. Dies, mehr noch als einige bekanntgewordene Orakel, die sich erfüllt hatten, war wohl der Hauptgrund für Klaros' Beliebtheit in der ganzen griechischrömischen Welt. Nicht nur aus dem kleinasiatischen Gebiet, sondern auch aus Makedonien, Dalmatien, Sardinien und Britannien sind Inschriften bekannt, die den Einfluß von Klaros bezeugen. Andere Orakel versuchten, wenigstens im Ritus der Befragung der mysteriengläubigen und wundersüchtigen Zeit entgegenzukommen. Komplizierte Einweihungsriten sind aus der römischen Zeit von dem Orakel des alten Höhlengottes Trophonios bei Lebadia in Böotien bekannt. Auf T a g e der Beachtung von Reinheitsvorschriften, dem Opfer eines Widders, Trinken aus der Quelle des Vergessens und der Erinnerung, um alles Vergangene zu vergessen und sich des im Adyton Erfahrenen erinnern zu können, erfolgte
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der Abstieg ins Adyton: durch eine kleine Öffnung wurde der Einzuweihende hinabgezogen und später wieder hinausgeschoben; danach setzte man ihn auf den Thron der Erinnerung und Priester befragten ihn über das Erfahrene: alles, was er sagte, wurde von den Priestern niedergeschrieben - dabei erfolgte durch die Priester die Interpretation des Gesehenen oder Erfahrenen. Offenbar hat es auch in anderen Orakelstätten in der römischen Zeit solche Prozeduren gegeben. Adyta sind in mehreren Apollotempeln gefunden worden. Näher bekannt sind durch den Bericht Lukians die Manipulationen des Lügenpropheten Alexander von Abunoteichos, der von einer Orakelstätte aus einen gut florierenden Geschäftsbetrieb mit Orakeln, Heilungen und religiös aufgemachten Ratschlägen einrichtete. Auch in Mysterien konnte man sich einweihen lassen. Alexander zeigt, daß man im 2.Jh.nChr zwar kein Interesse mehr an Orakeln hatte, die sich verantwortlich um die politischen Belange der Staaten, Städte und Gemeinschaften kümmerten, sondern vor allem darauf aus war, sich der Hilfe auch der übernatürlichen Kräfte für seine persönlichen Interessen zu versichern. Alexander war erfolgreich, weil es genug Menschen gab, die bereit waren, sich aus den eigenen Nöten und Ängsten blind in die Arme jener allesverheißenden Institutionen und Menschen zu werfen, die göttlichen und jenseitigen Mächten gebieten konnten. Die Orakel der römischen Kaiserzeit, soweit sie noch oder wieder florierten, waren im Verhältnis zu den alten Orakelstätten dasselbe, was der Θείος Ανήρ, der göttliche Mensch, im Verhältnis zum kynischen oder stoischen Wanderphilosophen des alten Typs war: Vergegenwärtigung der göttlichen Macht auf dem religiösen Markt zwecks Befriedigung der Wünsche und Nöte eines heimatlos gewordenen Menschen. Wie der „göttliche Mensch", so rückte auch das Orakel in die Nähe der Magie und des Okkultismus. d) Asklepios Ursprünglich war der Kult des Asklepios in Thessalien zu Hause, ein lokaler Heilgott wie etwa auch Amphiaraos, dessen Heiligtum in Oropos in der Nähe Athens lag. Zentrum der Ausbreitung des Asklepioskultes wurde jedoch seit dem 5.Jh.vChr das peloponnesische Epidauros. Das Asklepios-Heiligtum am Südhang der Akropolis in Athen ist ζ. B. eine Tochtergründung von Epidauros, ebenso das nachmals berühmte Asklepion von Pergamon. Und schließlich könnte das Asklepion in Kos, wo Hippokrates wirkte,
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falls es nicht direkt von Trikka in Thessalien gegründet wurde, ebenso eine Tochtergründung von Epidauros sein, die bereits im 6.Jh.vChr entstand. Im ganzen sind über 300 Asklepios-Heiligtümer bezeugt, was auf eine erfolgreiche systematische Propaganda von Epidauros und anderen Vororten hinweist. Denn ohne Frage handelt es sich bei der großen Ausbreitung des Kultes in der hellenistischen und römischen Zeit nicht um ein zufälliges Wachstum, sondern um das Ergebnis einer planmäßigen Propaganda, die durch eine Reihe von zeitbedingten Faktoren begünstigt wurde. Die Bedeutung der Asklepien für das religiöse Empfinden breiter Bevölkerungsschichten jener Zeit kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Es handelt sich dabei um ein vielschichtiges Phänomen eigener Art. Zunächst ging es um die Fortsetzung der alten religiösen Volkstraditionen von Heilgöttern, denen man regelmäßig oder bei besonderen Gelegenheiten und Anlässen Opfer darbrachte und die von der Bevölkerung aus dem näheren und weiteren Umkreis des betreffenden Tempels bei Krankheiten und Unglücksfällen konsultiert wurden. Als weiteres Element erschien der Anspruch einiger Tempel, daß in ihnen besonders ungewöhnliche Heilungen stattgefunden hätten. Urkunden darüber, die vermutlich auf hölzernen Votivtafeln aufbewahrt wurden, „veröffentlichte" man dann auf Stein. Die größeren Tempel beschäftigten auch Aretalogen, die bei besonderen Anlässen die großen Taten des Gottes erzählten. Solche Wundergeschichten (Aretalogien) waren beliebt und weit verbreitet. Hinzu trat nun aber in den größeren Asklepien der Ausbau eines Heil- und Sanatoriumsbetriebes ganz sicher nicht ohne Zusammenhang mit den Anfängen der wissenschaftlichen Medizin - , der in Kos, Pergamon und Epidauros recht umfangreich gewesen sein muß. Die meisten dieser Asklepien lagen außerhalb der großen Städte und besaßen in ihrem heiligen Bezirk alles, was zu einem Sanatoriumsaufenthalt notwendig war. Neben dem Tempel bzw. den Tempeln (ein oder zwei Asklepiostempel, dazu Tempel des Apollo, der Artemis und der Asklepiostochter Hygieia) gab es Badehäuser - in römischer Zeit natürlich Thermen - eine Bibliothek, ein Theater, manchmal ein Gymnasion und ein Stadion, dazu natürlich Behandlungsräume einschließlich des Abaton, in dem den Heilungssuchenden der Gott im Traum erschien, und ein Gästehaus (das Katagogion; in Epidauros hatte es 160 Zimmer!). Man wird nicht bezweifeln, daß in diesen „Sanatorien" von Wunderkuren und Traumheilungen über recht glaubwür-
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dige und oft erfolgreiche psychosomatische Heilkuren (Bäder, Sport, Vorträge, Lesungen, usw.) bis hin zu methodischer medizinischer Behandlung so ziemlich alles vorkam. Chirurgische Instrumente sind bei den Ausgrabungen der Asklepien verschiedentlich gefunden worden, und mit einigen dieser Heiligtümer waren Arzteschulen verbunden (Kos, Pergamon). Sicher waren die Verhältnisse nicht überall und zu allen Zeiten gleich, und es gab immer wieder Strömungen unter den Priestern, die sich gegen die moderne Medizin wandten und sich lieber auf die Wunderkraft des Gottes verlassen wollten. Für die vielen Tausende, die zu den Asklepien strömten, war allerdings der Unterschied zwischen wissenschaftlicher Medizin und Wunderheilung, Kurbehandlung und Quacksalberei nur selten sichtbar. Sie waren bereit, dem Gott für das eine wie für das andere in gleicher Weise Dank zu erweisen, Opfer darzubringen oder durch eine Stiftung zum Ruhme des Gottes beizutragen. Der Asklepioskult wandte sich naturgemäß in ganz besonderer Weise an den Einzelnen, in der medizinischen Behandlung ebenso wie in der kultischen Vorbereitung. Es war der einzelne Mensch, dem im Heilschlaf der Gott persönlich im Traum erschien. Dadurch entstand ein persönliches Gottesverhältnis, das vielleicht sogar in der Form der Mysterien zu einer regelrechten Einweihung ausgestaltet wurde. Leider ist unsere Kenntnis darüber sehr gering, wie auch die Bestimmung mancher Räumlichkeiten dunkel bleibt. N o c h in einer anderen Beziehung kommt die Parallelität zu den Mysterien zum Ausdruck: man stellte an den Heilungsuchenden die Anforderung, daß er „ r e i n " sein müsse, was in der hellenistischen Zeit auch als moralische Voraussetzung verstanden wurde. Es sind Fälle bekannt, daß Heilungsuchende abgewiesen wurden, weil ihr Lebenswandel den Anforderungen nicht entsprach. Von allen Göttern Griechenlands ist Asklepios der menschlichste Gott gewesen. Er war der „ R e t t e r " (Soter = Heiland), Wohltäter und „Freund der Menschen" schlechthin. In einer Reihe der erhaltenen Statuen des Gottes kommt dieser menschliche Zug des Asklepios deutlich zum Ausdruck, seine liebevolle Fürsorge, sein Mitgefühl und sein Wissen um das Leiden der Menschen. Nicht zuletzt zeigen eine Anzahl von Wundergeschichten nicht nur seine große Wunderkraft, sondern auch sein Verständnis, seine Nachsicht und seine Hilfsbereitschaft, besonders gegenüber den Armen und sozial schlechter Gestellten. Obgleich man sich hüten
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muß, Züge des christlichen Gottesglaubens in die heidnische Religion jener Zeit zurückzuverlegen, so ist doch nicht zu übersehen, daß die Menschlichkeit im Gottesbild, die Asklepios mehr als irgendein anderer Gott verkörpert, eine Erwartung jener Zeit zum Ausdruck bringt, auf die das Christentum eifrig einging und die auf das christliche Bild von Gott und Jesus nicht ohne Einfluß geblieben ist. e) Die griechischen Mysterien (Eleusis und Samothrake) Der Begriff „Mysterien" (μυστήρια) ist seit dem 5.Jh.vChr für die heiligen Handlungen im Kult der Demeter, der Kabiren und anderer gebräuchlich. Daneben gab es das Wort όργια („Orgien") = „rituelle Handlungen", das man vor allem anwandte, wenn man vom Kult des Dionysos sprach. Schließlich findet sich ein allgemeinerer Begriff τελετή, der einfach „Einweihung" heißt. Für die Entwicklung der griechischen und hellenistischen Vorstellung von den Mysterien ist der Demeter-Kult in Eleusis von entscheidender Bedeutung gewesen. Das Demeter-Heiligtum von Eleusis liegt 30 km westlich von Athen. Sein zentrales Gebäude ist ein eigenartiges Bauwerk; denn an Stelle des normalen griechischen Tempels, dessen Cella auch bei großen Ausmaßen des gesamten Gebäudes verhältnismäßig klein ist, hatte der Demeter-Tempel in Eleusis schon in archaischer Zeit die Ausmaße eines großen Versammlungsraumes, der in den folgenden Bauperioden noch vergrößert wurde, so daß er mehrere tausend Menschen fassen konnte. Demeter war die griechischste aller griechischen Gottheiten - obgleich sie minoischen Ursprungs ist - , die im Glauben des Volkes tiefe Wurzeln hatte. Demeter-Heiligtümer und Demeter-Feste gab es überall in Griechenland (weniger im griechischen Kleinasien). Demeter war die „Kornmutter", nicht, wie man manchmal annimmt, die „Mutter Erde". Ihr Hauptfest war das Fest der Frühlingsaussaat, die Thesmophorien, zu denen meist nur die Frauen zugelassen waren - allerdings nicht in Eleusis, wo Männer am Kult teilnahmen. Der Hieros Logos der Demeter ist der einzige archaische Hieros Logos, der uns in einem homerischen Hymnus aus dem 7.Jh.vChr erhalten ist. Er enthält einen ätiologischen Teil, der einige Elemente der Thesmophorien erwähnt (Fasten, das Trinken des Gerstentrankes, des sogenannten Kykeon) und dann den Kultmythos berichtet: Demeters Tochter Kore-Persephone war vom Gott der Unterwelt, Hades-Pluton, der
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sie zur Frau begehrte, gestohlen worden. Demeter durchsucht die ganze Welt nach ihr und kann sie nicht finden. Schließlich zieht sie sich in Fasten und Trauer zurück. Das hat jedoch zur Folge, daß kein Getreide mehr wächst und die Menschheit zu verhungern droht. Daraufhin greift Zeus ein und veranlaßt Hades, die Tochter der Demeter wieder herauszugeben. Seither bleibt sie zwei Drittel eines jeden Jahres bei ihrer Mutter, verbringt ein Drittel des Jahres in der Unterwelt. Die tatsächlichen Kult- und Weihehandlungen von Eleusis und ihre Verbindung mit einzelnen Elementen des Hieros Logos sind uns allerdings nur sehr fragmentarisch bekannt. Es gibt Berichte der Kirchenväter darüber; der älteste ist das sogenannte „Synthema" bei Clemens von Alexandrien (Protr. II 20). Aber obgleich angenommen wird, daß Clemens in Athen geboren wurde und man so hoffen könnte, daß er einige Tatsachen über Eleusis wußte, muß man seinem Bericht gegenüber sehr vorsichtig sein. Die von den Kirchenvätern wiederholt aufgestellte Behauptung von Obszönitäten als Bestandteile der Mysterien ist nicht recht glaubhaft und die Annahme, der Ritus in Eleusis habe auch einen „Hieros Gamos", eine heilige Hochzeit, dargestellt, ziemlich unwahrscheinlich. Wir müssen uns also mit einem mehr allgemeinen Wissen über die eleusinischen Mysterienhandlungen begnügen. Es gab drei Stufen der Mysterien: die Initiation, die Weihe und die höhere Weihe. Zu den Handlungen gehörten jeweils „Demonstrationen", „Handlungen" und „Reden". Wir wissen aber nicht sicher, was dabei gezeigt, gesagt und getan wurde, abgesehen von einigen Fragmenten. Zu den Handlungen gehörte als Vorbereitung das Fasten, ferner in der eigentlichen Mysterienhandlung das Trinken eines Gerstengetränkes. Es scheint, daß dabei auch irgendetwas aus einem Kasten genommen und in einen Korb hineingetan wurde (aber wahrscheinlich kein Phallos, sondern ein harmloserer Gegenstand). In der höheren Weihe stand das Zeigen eines heiligen Gegenstandes im Mittelpunkt - der „Hierophant", d.h. „der etwas Heiliges zeigt", war der höchste Kultbeamte in Eleusis. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß es sich um das Vorzeigen der heiligen Kornähre handelte, die durch die aufgehende Sonne durch ein Loch in der Decke beleuchtet wurde. Aber damit ist noch nicht klar, in welcher Weise die während der Nacht stattfindende Mysterienfeier in ihren Hauptstücken den Hieros Logos der Demeter aktualisierte. Man kann nur vermuten, daß diese Riten mit Demeters Trauer über die verlorene Tochter und ihrer Freude über die
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Wiedervereinigung zu tun hatten. Der Myste erhielt so Anteil an den göttlichen Geheimnissen der Natur, die jährlich wieder die Frucht des Feldes wachsen ließ. In hellenistischer Zeit waren wohl auch Gedanken damit verbunden, die sich auf den Tod und seine Uberwindung richteten. Obgleich es auch andernorts geheime und öffentliche Riten gab, die sich mit dem Wachstum der Feldfrucht beschäftigten und die mit verschiedenen Mythen indogermanischen oder mediterranen Ursprungs verbunden waren, scheint das Besondere an Eleusis gewesen zu sein, daß der Ritus hier mit der Welt des Todes und ihrer Überwindung zu tun hatte. Eleusis hat im Laufe der Geschichte andere griechische Mysterien nachhaltig beeinflußt und ist zum Inbegriff des Mysteriums schlechthin geworden. Sein Einfluß blieb auch während der römischen Kaiserzeit bestehen, ja, er kam erst in dieser Zeit zu einer wirklich weltweiten Bedeutung. Viele Römer ließen sich in die eleusinischen Mysterien einweihen, unter ihnen auch Cicero, der darüber in einem Brief an Atticus schreibt, daß wir in Eleusis „die wahren Fundamente des Lebens" erkennen können und die Uberzeugung empfangen, „mit Freude zu leben, ... aber auch mit besserer H o f f n u n g zu sterben". Später ließen sich auch viele Kaiser in Eleusis einweihen: Augustus wurde zusammen mit dem Inder Zarmaros eingeweiht, der sich später in Athen lebendig verbrannte. Hadrian empfing die Weihen zweimal. Eingeweiht wurden auch Antoninus Pius, Lucius Verus, Marcus Aurelius und Commodus. Es ist interessant, daß Nero niemals nach Eleusis kam und dort auch nicht willkommen war und daß Apollonius von Tyana, der neupythagoreische Wundertäter des l.Jh.nChr, Schwierigkeiten mit Eleusis hatte, weil man ihn wegen seiner Zaubereien nicht haben wollte. Es gibt Zeichen dafür, daß Eleusis synkretistischen Tendenzen lange widerstanden hat. Erst im 4.Jh.nChr wurde Iakchos-Dionysos unter die in Eleusis verehrten Götter aufgenommen und ein Mithraspriester Hierophant von Eleusis. Aber das geschah erst gegen Ende der ruhmreichen Geschichte dieses griechischen Mysteriums. Es wurde im 5. Jh. nChr zerstört. Eleusis war nicht das einzige alte griechische Mysterium. Es gab in der Nähe von Athen ein Mysterienheiligtum in Phlya; mehrere auf dem Peloponnes: die Mysterien der großen Göttinnen von Megalopolis, die der Despoina in Lykosura und die Mysterien von Andania. Die Einrichtung oder Neugestaltung dieser Kulte am Beginn der hellenistischen Zeit geschah in den beiden ersten Fällen
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unter dem Einfluß von Eleusis, in dem letztgenannten Fall unter dem Einfluß von Phlya. In den erhaltenen Bestimmungen ist auffallend, wie stark Polizei- und Ordnungsvorschriften überwiegen. Die Mysterienfeiern waren hier in der Tat Feste, an denen sich eine größere Volksmenge beteiligte, wie ja auch in Eleusis große Teile der athenischen Bevölkerung in die eleusinischen Mysterien eingeweiht waren. Über die Dionysos-Mysterien wird im nächsten Abschnitt ausführlicher gehandelt. Unter den anderen griechischen Mysterien war das weitaus bekannteste das Heiligtum der Kabiren auf Samothrake. Der Ursprung dieses Kultes ist vorgriechisch. Vielleicht handelte es sich um eine mit Kybele verwandte phrygische Gottheit und ihre Konsorten, die als die „großen Götter von Samothrake" verehrt und zum Teil mit griechischen Göttern identifiziert wurden, vor allem seit ca. 700vChr, als die Insel durch griechische Siedler aus Samos besiedelt wurde. Zu diesen Göttern gehörten neben der Fruchtbarkeitsgöttin auch Seefahrergottheiten, die den griechischen Beschützern der Seefahrt, den Dioskuren, gleichgesetzt wurden. In der hellenistischen und römischen Zeit waren die Mysterien der Kabiren weithin berühmt. Das Heiligtum machte offenbar auch eine planmäßige Propaganda und war missionarisch tätig. Darin kommt ein Zug zum Ausdruck, der sich deutlich von Eleusis unterscheidet. Eleusis ließ sich nicht exportieren. Seine Wirkung bestand außerhalb seines eigenen Heiligtums darin, daß Priester und Theologen aus Eleusis als Berater beim Aufbau anderer Mysterien eine Rolle spielten, wie ζ. B. der Eumolpide Timotheos, der beim Aufbau des Sarapiskultes als Berater in Alexandrien tätig war. Hingegen wurde der Kult der Kabiren als Folge der Missionstätigkeit der samothrakischen Priester in viele andere Städte verpflanzt, besonders nach Ionien und auf die Inseln der Agäis. In Bezug auf das Problem der hellenistischen Mysterienreligionen, über das später noch zu reden ist, muß hier vor allen Dingen festgehalten werden, daß „Mysterien" eine durchaus griechische Erscheinung und schon in früher hellenistischer Zeit im Bereich der griechischen Länder weit verbreitet waren. f) Dionysos So ehrwürdig, angesehen und einflußreich die Mysterien von Eleusis und Samothrake auch waren, die bedeutendste griechische Mysterienreligion war und blieb die des Dionysos. Dieser Gott, der auch oft Bakchos (Lat. Bacchus) genannt wird, war ursprünglich
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kein griechischer Gott, ist freilich schon in vorklassischer Zeit in Griechenland heimisch geworden. Er ist wahrscheinlich thrakisch, gehörte also zu den indogermanischen Einwanderern im südöstlichen Balkan und im nordwestlichen Kleinasien. Sein Name Dionysos bedeutet vielleicht „Sohn des Zeus". Seine Mutter ist Semele, die thrakisch-phrygische Göttin der Erde. Entsprechend war Dionysos zunächst der Gott der Fruchtbarkeit und des Wachstums der Feldfrüchte. Sein Kult hatte viele eigenartige Züge. N u r Frauen nahmen ursprünglich daran teil (wie auch in vielen Demeterkulten Griechenlands). Mitten im Winter wurde das orgiastische Fest des Dionysos gefeiert, bei dem die Frauen in Scharen in die Wälder und Waldgebirge zogen. Bekannt ist die sogenannte Omophagie, ein Ritus, bei dem wilde Tiere lebendig zerrissen und roh gegessen wurden. Es handelt sich dabei gewiß um ein sakramentales Mahl, in dem man sich mit dem Gott zu vereinen hoffte, von dem man glaubte, daß er als ein wildes Tier erschien. Diese Form des Dionysoskultes hat wegen seiner Wildheit und wegen der ekstatischen Formen des Ritus ebensoviel Zustimmung wie Ablehnung in Griechenland gefunden, konnte sich aber erfolgreich durchsetzen - seinem Siegeszug hat Euripides in seinen Bakchen ein bleibendes und eindrucksvolles Denkmal gesetzt. Neben diesem thrakischen Dionysos gab es aber noch einen anderen, der aus Phrygien stammte (hierher gehört auch der lydische Name Bakchos). Diese zweite Gestalt ist ein Gott der Fruchtbäume und daher auch des Weines. In seinem Mythos ist er ein Kind, das im Frühjahr geboren wird, wenn die Natur den Kreis ihres Wachstums wieder beginnt. Daher ist sein Hauptfest das Frühlingsfest, die sogenannten Anthesterien. Sein auffallendstes Symbol ist der Phallos, der in der Prozession herumgeführt wird. Dionysos selbst ist allerdings nie ithyphallisch dargestellt, wohl aber die Satyrn und Silenen, die ihn begleiten. Dieser Kult des Dionysos ist ebenfalls schon in vorklassischer Zeit nach Griechenland gewandert und hat sich mit dem thrakischen Dionysos verbunden, so daß man für Griechenland von einer einzigen Dionysos-Religion reden muß. Allerdings sind die kultischen Begehungen je verschieden gewesen, manche für uns auch nicht mehr ohne weiteres erklärlich, wie z.B. der Brauch eines Hieros Gamos des Gottes mit der Frau eines hochgestellten Würdenträgers. Dionysos hat in der hellenistischen Zeit neben Asklepios unter den griechischen Göttern die weiteste Verbreitung gefunden. Beide
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hatten für das eigentliche religiöse Leben der Bevölkerung eine weitaus größere Bedeutung als die alten olympischen Götter, und zwar auch außerhalb der alten Siedlungsgebiete. Das letztere gilt vor allem für Dionysos. Doch ist die Art seiner religiösen Bedeutung schwer zu beurteilen, weil er so vielfältig in Erscheinung tritt und später so sehr „in Mode" kommt, daß man sich fragt, in welchem Maße die vielen Abbildungen und Darstellungen des Dionysos und seiner Symbole und Begleiter auch als ernsthafte Zeugnisse einer Dionysosreligion oder gar eines Mysterienkults beurteilt werden dürfen. Aus der hellenistischen Zeit sind sowohl Mysterien als auch Orgien des Dionysos vielfach in den kleinasiatischen Städten und auf den Inseln bezeugt. Sie wurden auch von Männern gefeiert, und ebenso haben Männer an den wilden Orgien der Bakchantinnen teilgenommen. Männer sind auch vielfach Priester, Hierophanten und Daduchen; Priester und Priesterinnen leiten die einzelnen Thiasoi der Teilnehmer an den Mysterien. Für Ägypten ist die Ausbreitung des Dionysoskultes im 3. und 2.Jh.vChr durch die Nachrichten über die Religionspolitik des Ptolemaios IV. Philopator gesichert (s.o. § 1. ic). Im Attalidenreich war seit der Mitte des 3.Jh.vChr Dionysos „Kathegemon" = „der Gründer" (später bezog sich dieser Beiname auf Dionysos als Urheber und Schöpfer des ganzen Kosmos) der offizielle Gott des Königshauses. Er hat auch Züge des Sabazios angenommen, dessen Kult die Frau des Königs Attalos I. nach Pergamon gebracht hatte. Auf den in Pergamon geprägten Münzen (Kistophoren) erscheint eine Schlange, die aus einem Korb hervorkriecht, von einem Efeukranz umgeben. Das ist wohl eine Verbindung der Kultsymbole beider Götter. Den Kult des Dionysos darf man sich bei diesen Beispielen staatlicher Adoption und öffentlicher Förderung nicht als einen streng geregelten staatlichen Kult, noch auch etwa als Mysterienkult vorstellen. Auch bei den römischen Großen und Kaisern, die als Dionysos auftraten - der erste war Antonius, der sich im Osten mit seiner Gemahlin Kleopatra als Dionysos und Isis verehren ließ - , war das nicht der Fall. Die typisch „dionysischen" Züge kultischer Feier traten dabei deutlich hervor: Umzüge mit Silenen und Tänzern, Mimen und Pantomimen, Frauen als Bakchantinnen, junge Männer als Satyrn und Pane; dazu kamen öffentliche Vorführungen von Pantomimen, bakchantischen Tänzen und schauspielerischen Darstellungen. All das charakterisierte diese öffentlichen Begehungen und Feste, an denen mehrere Tage lang Alte und Junge, Män-
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ner und Frauen, Vornehme und einfache Leute teilnahmen. Wenigstens in dieser Beziehung spielten die dionysischen Kultvereine der Schauspieler ganz die Rolle öffentlicher Vereinigungen, nicht die von Mysterienvereinigungen. Das ist aber offenbar nur die eine Seite der religiösen Bedeutung dieses Kultes, wie sie vor allem in Kleinasien in Erscheinung tritt. Das andere Gesicht ist das eines von tiefsinnigen mystischen Ideen getragenen Mysterienkultes. Deutlich greifbar ist dies zuerst in Italien, und zwar bereits im 5.Jh.vChr. Daß sich der Dionysoskult hier mit orphischen Ideen verbunden hat, die bei den Griechen Süditaliens zu Hause waren und aus denen die Ausrichtung des religiösen Empfindens auf ein besseres Dasein im Jenseits stammte, ist wahrscheinlich. Was den Römern am Anfang des 2.Jh.vChr so große Sorgen bereitete, war ein Mysterienkult von großer missionarischer Kraft. Das berühmte Senatus consultum de Bacchanalibus aus dem Jahre 186vChr, mit dem Rom scharf gegen die dionysischen Mysterien einschritt, hat das Urteil des offiziellen Rom über fremde Erlösungsreligionen, die nicht-öffentliche Gemeinschaftsfeiern abhielten, für Jahrhunderte geprägt. Riten und Glaubensvorstellungen dieser Dionysosmysterien lassen sich wieder nur sehr bruchstückhaft erschließen. Man kann auch nicht annehmen, daß sie überall gleich waren, und Einflüsse anderer Mysterien sind nicht auszuschließen. Obgleich es Dionysostempel überall gab, meist in unmittelbarer Nähe der Theater, muß man annehmen, daß die Mysterienfeiern in Privathäusern stattfanden. Solche Häuser, die speziell „Hauskirchen" der Dionysosmysterien waren, sind vielleicht in der Villa Item in Pompeji und im Haus der Masken auf Delos noch erhalten. Gemeinsame Mahlzeiten, bei denen der Genuß von Wein eine Rolle spielte, darf man überall voraussetzen. Dionysos war und blieb der Gott des Weines. Der Mythos vom Sterben und Wiederaufleben des Dionysos war ebenfalls allgemein verbreitet und diente als Anknüpfungspunkt für Unsterblichkeitshoffnungen. Dabei handelt es sich nicht um die Spiritualisierung eines Vegetationskultes, sondern um die Vergegenwärtigung alter orphischer Mythen in Anlehnung an Mythen und Riten dionysischen Ursprungs. Spezifisch orientalische Einflüsse sind hierfür nicht vorauszusetzen. Die Interpretation der auf Mosaiken und Fresken dargestellten Symbole und Handlungen bleibt zumindestens sehr unsicher: ein nackter Knabe, der etwas vorliest (orphische Texte?); das „Liknon" (eine Art Worfschaufel, auf der
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sich ein Phallos befindet); eine dunkle Engelsgestalt mit einer Geißel (eine Darstellung der Schrecken der Unterwelt? - auf einem Mosaik in Delos erscheint Dionysos selbst geflügelt); die Spiegelschau (Erkenntnis des unsterblichen Selbst?); und anderes mehr wie der Thyrsos und Fackeln. Es scheint auch bestimmte Reinheitsund Enthaltungsvorschriften gegeben zu haben. Die Annahme, daß diese Mysterien im wesentlichen eine Religion der Oberklasse und damit eine mehr gesellschaftliche Angelegenheit gewesen seien, ist sicher falsch, jedenfalls f ü r die hellenistische Zeit. Die Leute, gegen deren Dionysosfeiern sich die Römer in dem schon genannten Senatus consultum wandten, gehörten nicht zur Oberklasse. Aber in der römischen Zeit waren die Mysterien auch in der oberen Bevölkerungsschicht verbreitet. Aus anderen Bevölkerungsschichten ist eben viel weniger auf uns gekommen; Fresken und Mosaike konnten sich nur wohlhabende Leute leisten. Wie ernsthaft und tiefsinnig der in diesen Mysterien dargestellte Unsterblichkeitsglaube war, läßt sich kaum abschätzen. Sicherlich hat der Kult f ü r viele eine große Bedeutung gehabt. D a ß es sich aber um eine Bewegung von großer Durchschlagskraft und von lebenserneuernden Ideen gehandelt hat, wird man trotz der Beliebtheit dieses Gottes und der weiten Verbreitung seiner Feste und Mysterienfeiern nicht annehmen können. 4. Die neuen Religionen F. CUMONT, Die orientalischen Religionen im römischen Heidentum, 5 1969.
Zua: F. DUNAND, Le culte d'Isis dans le bassin oriental de la Mediterraneel-III, EPR026,1973. L.VIDMAN, Isis und Sarapis bei den Griechen und Römern: Epigraphische Studien zu den Trägern des ägyptischen Kultes, 1970. J . G I Y N GRIFFITHS, Apuleius of Madauros: The Isis-Book (Metamorphoses, BookXI), E P R 0 3 9 , 1975. M. DIBELIUS, Die Isisweihe bei Apuleius und verwandte Initiationsriten, Botschaft und Geschichten, 1956, 30-79. Y. GRANDJEAN, Une nouvelle aretalogie d'Isis Ä Maronnee, E P R 0 49, 1975. S. K. HEYOB, The Cult of Isis among Women in the Greco-Roman World, EPR051,1975.
Wilhelm
HORNBOSTEL,
Sarapis,
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a) Sarapis und Isis Im Kult der ägyptischen Götter begegnet die am stärksten hellenisierte orientalische Religion der hellenistischen Zeit. Zugrunde liegt eine komplizierte ägyptische Kult- und Mythenentwicklung, die zur Zeit der griechischen Eroberung keineswegs zum Stillstand gekommen war und an der mehrere ägyptische Gottheiten Anteil hatten: Isis, Osiris, Apis, Horus, Anubis und Seth. Die genaue Funktion und Bedeutung dieser Götter in der vorptolemäischen Zeit Ägyptens zu umreißen, ist nicht möglich, weil die meisten dieser Göttergestalten an den verschiedenen Kultorten Ägyptens je unterschiedliche Funktionen hatten. Man kann aber von folgenden Voraussetzungen ausgehen, die den Isis-Osiris-Mythos verständlich machen, wenn auch seine Endgestalt kein ägyptisches, sondern ein hellenistisches Produkt ist. Isis war die Göttin des königlichen Throns und als solche die Mutter des Horus, der mythischen Verkörperung des regierenden Königs. Osiris, der ursprünglich ein Hirtengott des östlichen Nildeltas gewesen sein mag, wurde außerdem die mythische Repräsentation des fruchtbaren Nillandes, das alljährlich vom Nil überschwemmt und dann wieder zu neuem Leben erweckt wurde. Sein Feind ist daher Seth, der Gott der W ü ste. Gleichzeitig war Osiris jedoch der Totengott und als solcher identifiziert mit dem toten König; er repräsentiert das Leben des Königs in der Totenwelt. In dieser Funktion ist er eng mit Anubis verbunden, dem Beschützer der Friedhöfe, der den mit Osiris gleichgesetzten Leichnam gegen Seth verteidigt. Die Verbindung
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des Osiris mit Isis resultiert offenbar aus der Thron- und Königsmythologie: war Isis die Mutter des Horus und damit des lebenden Königs, so wurde Osiris als der tote König zu ihrem Gemahl und zum Vater des Horus. In seiner klassischen Form erzählt der Isis-Mythos von dem Kampf, in dem Seth seinen Zwillingsbruder Osiris tötet, ihn in Stücke zerschneidet und diese in den Nil wirft (in einer späteren griechischen Form findet der Drache Typhon den Leichnam des Osiris und zerstückelt ihn, verfolgt dann Isis und ihr Kind). Isis betrauert Osiris zusammen mit Nephthys, der Gattin des Seth; beide machen sich auf die Suche nach Osiris, finden ihn und setzen die Stücke wieder zusammen. Isis erweckt seinen Phallus, gebiert den Horus, bzw. Harpokrates ( = Horus als Kind, das oft im Schöße seiner Mutter dargestellt wird). Anubis begräbt den Leichnam des Osiris, der König des Totenreiches wird, während Horus über die Lebenden regiert. Isis war schon dem Herodot bekannt und wurde von den Griechen zunächst mit Demeter gleichgesetzt. Jedoch trat sie ihren Siegeszug in die hellenistische Welt erst im Gefolge des Sarapis an der synkretistischen Schöpfung der hellenistischen Zeit. Schon in vorptolemäischer Zeit wurde in Memphis der heilige Apis-Stier verehrt. Der tote Stier wurde zu Osiris, wie umgekehrt die Seele des sterbenden Osiris in Apis einging. Aus dieser Verbindung von Osiris und Apis stammt der Göttername Oserapis. Ptolemaiosl. brachte nicht nur den Leichnam Alexanders des Großen, der zunächst in Memphis beigesetzt worden war, nach Alexandrien, sondern überführte auch den Oserapiskult in die neue Hauptstadt und machte ihn zum Reichskult. Dabei wurde der Gott mit griechischen Zügen ausgestattet. Das Standbild, das der griechische Bildhauer Bryaxis (u.a. Mitarbeiter am berühmten Mausoleum, dem Grabmal des Königs Mausolos von Halikarnassos) geschaffen haben soll - vielleicht wurde auch ein für eine andere Gelegenheit von Bryaxis hergestelltes Götterbild übernommen - , trägt die Züge des Zeus und des Hades und hat mit Bildern ägyptischer Götter nicht das geringste zu tun. Timotheus, ein bekannter, durch theologische Schriften hervorgetretener Priester aus Eleusis, wirkte als Berater des Königs bei der Einrichtung des Kultes. Der Name Oserapis wurde zu Sarapis gräzisiert. Der Kult selbst war nach griechischen Vorbildern gestaltet, enthielt aber auch ägyptische Elemente. Es scheint, daß ägyptische Züge in späterer Zeit wieder stärker in den Vordergrund traten.
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Ü b e r die Motive f ü r die S c h a f f u n g dieses neuen Kultes ist viel gerätselt worden. Wollte Ptolemaios eine Religion schaffen, die f ü r Griechen und Ägypter in gleicher Weise bestimmend sein sollte und so die beiden Bevölkerungsteile des Reiches zu einer Einheit z u s a m m e n f ü h r e n w ü r d e ? Das ist unwahrscheinlich, da eine V e r schmelzungspolitik f ü r die ersten Ptolemäer nirgends bezeugt ist. Auch haben die Ägypter Sarapis nie akzeptiert, vielmehr weiter an der V e r e h r u n g des Apis-Stieres festgehalten. Eher mag man annehmen, daß der erste Ptolemäer sich mit Sarapis an die griechische Bevölkerung seines Reiches wandte, das damals auch Cypern, Teile des südlichen und westlichen Kleinasiens und etliche ägäische Inseln einschloß. Dabei wird die politische W i r k u n g eines Reichsgottes mit seinem wichtigsten Heiligtum in Alexandrien eine Rolle gespielt haben. D o c h haben die Ptolemäer den Sarapiskult nie als Reichskult durchzusetzen versucht, w e n n sie ihn auch tatkräftig förderten. Aber der wichtigste Anlaß f ü r die S c h a f f u n g des Kultes w a r wohl ein anderer: die ptolemäischen Könige mußten sich durch die Ü b e r n a h m e einer ägyptischen Gottheit als rechtmäßige Erben der P h a r a o n e n legitimieren. D a z u paßt die A n k n ü p f u n g an den Osiris-Apis der alten H a u p t s t a d t Memphis und die offizielle Ü b e r f ü h r u n g des Gottes nach Alexandrien. D a sie aber nicht einfach einen ägyptischen G o t t übernehmen konnten und wollten dazu waren die neuen Herrscher Ägyptens zu eng mit der griechischen Welt verbunden - blieb nur noch der W e g , einen ägyptischen G o t t zu hellenisieren. Die bleibende Bedeutung dieses Kultes lag nicht im politischen, sondern im religiösen Bereich. Sie bestand auch nicht in erster Linie in der W i r k u n g der Gestalt des Sarapis - gewiß breitete sich sein Kult schnell aus - , sondern in der überwältigenden W i r k u n g der hellenisierten Isis, die im Gefolge des Sarapis ihren Einzug hielt. Sowohl Sarapis als auch andere ägyptische Götter (vor allem Anubis und H o r u s ) , traten hinter Isis z u r ü c k und mußten ihr den ersten Platz überlassen. W e n n überhaupt je ein G o t t jener Zeit auf dem W e g e dazu w a r , z u r zentralen Gestalt einer Weltreligion zu werden, so w a r dies Isis - nicht mehr die T h r o n g ö t t i n und Gattin des Osiris, sondern die Himmelsgöttin und Muttergottheit, die alles in sich vereinte, was f ü r die religiöse E r w a r t u n g jener Zeit von zentraler Bedeutung war. Ägyptische Elemente haben dabei Pate gestanden. Als ägyptische H a t h o r w a r Isis in der Gestalt einer K u h Himmelsgöttin (daher das Bild der K u h , das bei Apuleius in der
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Prozession dem Götterbild vorangetragen wird). Ägyptisch waren auch viele der Attribute der Göttin, wie ihr Gewand, ihr Kopfschmuck, das Sistrum (ein aus Blech mit Metallstäbchen gefertigtes Musikinstrument); als Begleiter der Isis wird Anubis immer schakalköpfig dargestellt. Ihre Erscheinung und ihr Wesen sind jedoch ganz griechisch. Griechische Künstler haben ihr Bild geschaffen: es drückt Schönheit, Hoheit, Ebenmaß und Wohlwollen aus. Auch als Aphrodite wurde sie gelegentlich dargestellt. Von großer Wirkung war das Bild der Muttergöttin Isis, die den Knaben Harpokrates liebevoll auf ihrem Schöße oder an der Brust hält. Maria, die christliche Mutter- und Himmelsgöttin, ist diesem Bilde nachgeformt. Offenbar finden sich Züge der Isis auch in der Geburtsgeschichte des Messias Offb. 12,1 ff: die Frau, die mit der Sonne angetan auf dem Mond steht und die zwölf Tierkreiszeichen auf dem Haupt trägt, ist schwanger, muß jedoch mit ihrem neugeborenen Kinde vor dem Drachen (Typhon) fliehen. Am deutlichsten greifbar ist die Gestalt der Isis in den mehrfach überlieferten Isis-Aretalogien, die man das eigentliche Credo der Isis-Religion genannt hat. Isis stellt sich hier mit der Präsentationsoder Qualifikationsformel „Ich bin Isis" (έγώ είμι τ Ισις) vor. Es folgen kurze Sätze, die ihre Stellung und Macht beschreiben und in denen sich Isis auch mit anderen Göttern identifiziert, deren Werke sie für sich in Anspruch nimmt. Die Aufnahme kosmologischer und astrologischer Vorstellungen des Hellenismus und die Tendenz zur Universalität und zum Monotheismus sind in diesen Aretalogien deutlich. Das zeigt z.B. die Isis-Aretalogie aus dem 11. Buch der Metamorphosen des Apuleius: „Isis,... Die Mutter aller Dinge in der Natur, Die Herrin aller Elemente, Der Ursprung der Zeiten, Die höchste der Götter, Die Königin der Geister, Die erste aller himmlischen Wesen, Die Erscheinung aller Götter und Göttinnen in einer Person. Die die Lichter des hohen Himmels lenkt, die sanften Winde des Ozeans, die betrauerte Stille der Unterwelt.
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Die als der eine Gott in vielen Formen verehrt wird, unter verschiedenen Riten und vielen Namen: Das älteste der Völker, die Phryger, nennen mich die pessinutische Mutter der Götter; Die Leute hierzulande, die Bewohner Attikas, nennen mich die Minerva (Athene) des Kekrops; Die Kyprier... die Venus von Paphos (usw.; es folgen Identifikationen mit Artemis, Persephone, Demeter, u.a., bis der Hymnus schließt:) Und diejenigen, auf welche die aufgehende Sonne scheint, die Äthiopier beider Länder, und die Ägypter, die durch uralte Weisheit ausgezeichnet sind und mich in ihren eigenen Gottesdiensten verehren, nennen mich mit meinem eigenen Namen: Königin Isis." Nicht nur die Namen der vielen anderen Gottheiten, sondern auch ihre Werke werden in der Gestalt der Weltherrscherin Isis zu den Werken der einen Gottheit: sie hat die Gesetze den Menschen gegeben, auch die Sprache und die Kunst des Schreibens, ihnen die Bebauung des Bodens gezeigt; sie beschützt die Ehe, beschirmt die Seefahrer; sie hält die Sterne des Himmels in ihrer Ordnung und erleuchtet - als Sonne - die ganze Welt; sie hat Macht selbst über das Schicksal. Über die Prozessionen und öffentlichen Gottesdienste der Isis sind wir recht gut informiert. Ägyptische Kultgeräte und Riten, je nach dem O r t verschieden, fallen auf. Über die Einweihung in die eigentlichen Isismysterien sind bei Apuleius im 11. Buch der Metamorphosen eine Reihe von einzelnen Angaben gemacht, die freilich nichts darüber sagen, was im Heiligtum bei der Einweihung geschah. Wir lesen von Vorbereitungen, von einer im Traum empfangenen Weisung hinsichtlich des Datums der Einweihung, vom Einkauf der für die Weihe notwendigen Geräte und Gewänder billig war die Mysterienweihe nicht! - und von einer Fastenzeit und einem Reinigungsbad. Die Einweihung selbst beschreibt der Myste nur mit den Andeutungen: zur Grenze des Todes und zur Schwelle der Proserpina gekommen, sei er durch alle Elemente geführt worden, habe die Sonne mitten in der Nacht strahlen sehen und die unteren und oberen Götter geschaut und angebetet. Dann wird berichtet, wie er am Morgen nach der Weihe dem Volke vorgestellt worden sei, mit Gewändern und Insignien versehen: zwölf Stolen, die
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den Tierkreis versinnbildlichen; ein kostbares Gewand, das Kleid der höchsten Gottheit; ein Kranz von nach auswärts deutenden Palmenblättern als Symbol für die Sonne. Der Myste ist so nach Uberwindung der Mächte zur Identität mit der höchsten Himmelsgottheit gelangt; er gehört nicht mehr der vergänglichen irdischen Welt an, sondern erscheint als die Sonne, von ihrem Strahlenkranz umgeben, d.h. er ist identisch mit der unvergänglichen Welt des reinen Geistes. Aber bei den Andeutungen über die Vorgänge bei der Einweihung bleiben Fragen. Dabei ist es nicht wichtig zu entscheiden, was der Einzuweihende im Adyton des Tempels gesehen habe. Vorbereitendes Fasten und die Geschicklichkeit der Priester, die mit Bildern, Symbolen und Lichteffekten wohl umzugehen wußten, erübrigt hier weitere Nachforschungen. Entscheidend ist die Frage der Deutung. Handelt es sich um einen Ritus, in dem Tod und Wiedergeburt erfahren wird? Das ist zu bejahen. Doch hat das nichts mit der Teilhabe am Schicksal der Gottheit zu tun; denn dafür sind im Mythos die Voraussetzungen nicht gegeben. Osiris starb und wurde zum Herrn der Unterwelt; aber nie wird von ihm gesagt, er sei auferstanden. Außerdem spielt Osiris hier ohnehin keine Rolle. Die Herrscherin des Totenreiches ist nach Aussage des Textes Proserpina, d.h. Isis. Was ist ihr Werk an dem, der in der Einweihung bis zu ihrer Schwelle gelangt ist auf einem Wege, der nicht das Sterben als solches, sondern eine kosmische Reise symbolisiert, d.h. die „Himmelsreise der Seele" oder den Descensus ad Inferos? Die Göttin setzt diejenigen, die so gewissermaßen einen „freiwilligen T o d " (Apuleius, Metam. IX 21) erlitten haben, als Wiedergeborene auf eine neue Bahn des Lebens und des Heils („quodam modo renatus ad novae reponere rursus salutis curricula"). Das bedeutet weder Unsterblichkeit, noch Auferstehung zum ewigen Leben, sondern vielmehr, daß man dem bisherigen Leben abgestorben ist und damit die Möglichkeit eines neuen Lebens im Dienste der Göttin erhält. Dieses neue Leben ist eine Form des Seins, in dem der Myste sich einer Einheit mit der den ganzen Weltkreis beherrschenden Göttin gewiß ist. Das ist durch die Himmelsgewänder und durch den Strahlenkranz der Sonne zum Ausdruck gebracht. Darin unterscheidet sich der Myste von dem Nichteingeweihten. Dieses symbolische Erleiden des Todes bedeutet also nicht ein Erlangen der jenseitigen Unsterblichkeit, sondern bezeichnet das neue Sein, das von dem bisherigen Leben radikal verschieden ist. Im frühen Christentum wurden die hellenistischen Wieder-
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geburtsvorstellungen in eben dem gleichen Sinne verwendet (vgl. Rom. 6). Der Isismyste weiß freilich genauso gut wie Paulus, daß diesem neuen Sein und dieser neuen Lebenserfahrung in der Zeitlichkeit des Menschen eine Grenze gesetzt ist. Wie Paulus darauf verweisen kann, daß Christus den, der an ihn glaubt, nach dem Tode auferwecken wird, so kann sich der Isis-Myste der Zusage der Göttin vergewissern: „Wenn du den Zeitraum deines Lebensalters durchmessen hast und zu den Unterirdischen hinabsteigst, wirst du auch dort als ein Bewohner der elysischen Gefilde... mich oft anbeten, die d u . . . herrschend über das stygische Reich siehst" (ebda, XI, 5). Da Isis alles beherrscht, auch die Unterwelt, ist der Myste auch nach seinem Tode unter ihrem Schutz. Das in der Weihe erworbene neue Leben hat im Sein nach dem Tode sein Gegenstück. Parallelen mit christlichen Aussagen drängen sich bei diesem Bericht von der Einweihung in eine Mysterienreligion unmittelbar auf. Darüber, daß das N T oft die gleiche Sprache spricht wie die Mysterien, sollte man nicht streiten. Wenn Paulus sagt, daß die Getauften mit Christus gestorben sind und in einem neuen Leben auch wandeln sollen, so berührt er sich mit den Aussagen über das Isismysterium aufs engste. Man darf demgegenüber den Unterschied nicht überbetonen, daß den Christen doch außerdem noch ein ewiges Auferstehungsleben verheißen sei. Auch der Isismyste weiß, daß er nach dem Tode nicht einem bewußtlosen Schattendasein anheimfallen wird. Die für die religionsgeschichtliche Beurteilung entscheidenden Differenzen liegen woanders. Die Einweihung ins Isismysterium - und das ist bei anderen Mysterienreligionen jener Zeit ähnlich - blieb einzelnen Auserwählten vorbehalten, sofern sie die finanziellen Mittel besaßen, um die erheblichen Kosten der Weihe bestreiten zu können. Im Falle des Apuleius sind sogar weitere Weihen notwendig, um die ursprüngliche Weihe am anderen Ort zu legitimieren und erstrebenswerte weitere Grade zu erreichen, die nur einem kleinen Kreis von Erwählten vorbehalten blieben. Das Christentum hat hingegen das Mysterium demokratisiert und von materiellen Voraussetzungen unabhängig gemacht. Wie schon der Kampf des Paulus gegen verschiedene Gegner zeigt, war für die christlichen Gemeinden die Ausbildung eines elitären Bewußtseins innerhalb der Gemeinden von Anfang die größte Gefahr. Der Erfolg des Christentums als Volksreligion hing vom Ausgang dieser Auseinandersetzung ab, zu der sich Paulus
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und andere urchristliche Missionare aus theologischen Gründen verpflichtet wußten. Sarapisheiligtümer aus der römischen Kaiserzeit sind in vielen Städten entdeckt und ausgegraben worden. An ihnen ist auffallend, daß es sich in der Regel nicht um normale Tempelbauten mit kleiner Cella handelt, sondern um Versammlungsräume, in denen eine größere Anzahl von Menschen Platz hatte. Die sogenannte „ R o t e Basilika" in Pergamon, ein in der ersten Hälfte des 2 . J h . n C h r erbautes Sarapis-Heiligtum, bot im Inneren Raum für weit über 1 000 Menschen. Die Serapien in Ephesus und Milet waren nicht ganz so mächtig, hatten aber doch genügend Raum für eine größere Gemeinde. Es ist klar, daß diese Heiligtümer eigentlich „ K i r c h e n " waren, die einer größeren Gemeinde die Möglichkeit geben wollten, an den Kultfeiern und vielleicht auch an den Mysterienhandlungen regelmäßig teilzunehmen. Das widerspräche dem in der Isisweihe bei Apuleius vorliegenden Bild und rückte die Serapia mitsamt ihrer gottesdienstlichen Struktur in eine größere Nähe zu den jüdischen Synagogen und den christlichen Versammlungshäusern. b) Die Magna Mater und Attis Kybele, die große Mutter des Lebens, die mächtige und wilde Fruchtbarkeitsgöttin der Phryger, hatte den Hauptort ihrer Verehrung in Pessinus in Phrygien. Ihr Kult war von orgiastischen Riten begleitet, auf deren Höhepunkt sich die Diener der Göttin in ekstatischer Raserei entmannten. In Griechenland war Kybele schon seit der archaischen Zeit bekannt und besaß Tempel in vielen Städten, wo sie, wie in Athen das Metroon, als Staatsarchiv dienten. Bei dieser Übernahme durch die Griechen waren freilich die wilden Züge des Kultes abgestreift, vor allem die Selbstentmannung, wie auch Attis, der Geliebte der Kybele (in diesem Mythos auch Agdistis genannt), der sich in der Trauer über seine Untreue selbst entmannt, im klassischen Griechenland fehlt. Man hat auch vermutet, daß dieser Zug überhaupt erst später, und zwar aus Syrien, in den KybeleKult eingedrungen ist. An Stelle des Attis war in Griechenland die Gestalt des Adonis bekannt, des Geliebten der Aphrodite (die hier die Rolle der syrischen Istar übernommen hatte). Der Adoniskult war weit verbreitet als Symbol des bald vergehenden Frühlings; Adonis hatte jedoch bei den Griechen zunächst keine eigenen T e m pel, sondern wurde in Privatkulten verehrt. Die einzige griechische
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Stadt, in der Kybele als wichtigste Göttin des Gemeinwesens zu Hause war, ist in der klassischen Zeit das kleinasiatische Smyrna gewesen. Am Beginn der hellenistischen Zeit breitete sich der Kult der Großen Mutter von neuem über die Grenzen ihrer kleinasiatischen Heimat hinaus aus, dieses Mal jedoch mit den wilden, urtümlichen Zügen ihres Kultes und mit der Gestalt und dem Mythos ihres unglücklichen Liebhabers Attis. Im Osten hatte Kybele mächtige Konkurrenten: Atargatis/lStar in Syrien, Isis in Ägypten. In Griechenland fand die Propaganda für ihren Kult nur geringen Widerhall, aber den Westen eroberte sie sich schnell. Schon 204vChr wurde der Kult der Magna Mater in Rom zugelassen - der erste und für lange Zeit der einzige orientalische Kult, der in Rom offizielle Anerkennung fand. Unter Kaiser Claudius wurden die Einschränkungen für die Ausübung des Kultes aufgehoben. Seitdem wurde das Frühlingsfest der Magna Mater zu einem der populärsten Feste, die in Rom gefeiert wurden. Dies ist die öffentliche Seite des Kultes, die gut bekannt ist. Das große Frühjahrsfest dauerte zwei Wochen vom 15.-27. März. Am ersten Tage wurde Schilf zum Heiligtum der Göttin getragen (die Bedeutung dieses Ritus ist unbekannt). Am 22. März fällte man eine Pinie und trug sie zum Heiligtum, wo sie, reich geschmückt, aufgerichtet wurde; dies ist das Symbol des Attis - ein alter Baumkult liegt zugrunde. Darauf folgten als Ausdruck der Trauer um den Tod des Attis mehrere Fastentage. Der 24.März war die „dies sanguinis": Die „Galli", eine untergeordnete Priesterklasse, brachten sich in einem rasenden ekstatischen Tanz Wunden bei und bespritzten das Götterbild mit Blut. Während dieser Ekstase entmannten sich die Novizen. Dann folgte ein „hilaria" genannter Tag, ein Ruhetag, und am 27. März wurde das Bild der Göttin zu einem Fluß gefahren und dort gewaschen. Über die eigentliche Weihung der Gallen nach der Entmannung ist nichts genaues bekannt. Sicher handelt es sich hier um eine „Mysterium". Es fragt sich aber, ob dies der normale und übliche Weg der Mysterienweihe für die Mysten der Großen Mutter war. Die obere Priesterklasse der Großen Mutter war nicht entmannt, und es muß als wahrscheinlich gelten, daß während des großen Frühlingsfestes nur die Weihung der Gallen stattfand, während zu anderen Zeiten andere Riten zur Einweihung vollzogen wurden. Über die religiöse Bedeutung der Attis-Weihen sind manche Vermutungen angestellt worden. Aber wir wissen nicht, ob sie irgendetwas mit Tod und
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Auferstehung oder mit einer Heiligen Hochzeit (Hieros Gamos) zu tun hatte. Im Mythos ist von einer Auferstehung des Attis nirgends die Rede, und die Züge, die Kybele (oder Agdistis) im Mythos trägt, widerstreben dem Gedanken an eine Vereinigung des Mysten mit der Göttin in einem symbolischen Hochzeitsritus. Es mag auch sein, daß man sich durch das so stark hervortretende abstoßende Ritual der Selbstentmannung der Gallen beim großen Frühlingsfest überhaupt in die Irre leiten läßt. Denn vielleicht war dieser Ritus nicht eine Mysterienweihe, sondern ein Opferkult, in dem der großen Göttin die Hoden dargebracht wurden; es wird nämlich auch gesagt, daß die Hoden der Entmannten gereinigt und gesalbt im Tempel deponiert wurden. Dann muß die eigentliche Mysterienweihe dieses Kultes in einem anderen Ritus bestanden haben. Dafür kommt allerdings das recht gut bekannte Taurobolium, das mit dem Kult der Großen Mutter verbunden war, nicht in Frage. Ursprünglich war es eine Stierhetze. Es ist aber seit dem Beginn der Kaiserzeit nachweislich eine Kulthandlung der Magna Mater und des Attis. Am häufigsten sind Taurobolien für das 2. und 3.Jh.nChr bezeugt. Sie wurden entweder für den Kaiser oder für eine Privatperson veranstaltet. Der Oberpriester stieg in eine Grube, über der ein Stier geschlachtet wurde, kam dann völlig blutüberströmt wieder hervor und wurde von den Anwesenden angebetet. Die Hoden des geopferten Tieres wurden unter bestimmten Zeremonien geweiht und der Göttin dargebracht, vielleicht als stellvertretendes Opfer für solche, die sich nicht verschneiden lassen wollten. Der eigentliche Sinn des Tauroboliums liegt aber in der symbolischen Kraft des Blutes, das die Schuld tilgte und dadurch dem Eingeweihten die Wiedergeburt schenkte, und zwar, wie es hieß, für jeweils zwanzig Jahre (nur einmal wird gesagt „in alle Ewigkeit"), nach deren Ablauf der Ritus wiederholt werden mußte. Erst im 4.Jh.nChr wurde das Taurobolium als Mysterienweihe aufgefaßt. Die religiöse Bedeutung des Kultes der Großen Mutter und des Attis ist eigenartig. Gewiß hat man den Kult und seinen Mythos theologisch und mystisch gedeutet, wobei Attis sich eher als Symbolgestalt anbot als Kybele. Mit dem kleinasiatischen Gott Men zusammen wurde Attis zum Himmelsgott gemacht, seine Entmannung als Schöpfungsakt verstanden. Christliche Gnostiker haben den Attis-Mythos für sich in Anspruch genommen und an ihn angeknüpft. Das geht aus dem Bericht des Hippolyt über die Naassener
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hervor, in dem ein S t ü c k eines Attis-Hymnus zitiert w i r d : „ S e i s t du v o m Geschlecht des K r o n o s oder, Gesegneter, des Z e u s , o d e r aus der großen R h e a ( = Kybele), sei gegrüßt, Attis, auf dessen N a m e n R h e a die A u g e n herabrichtet. Dich nennen die Assyrer den dreifach-ersehnten A d o n i s , g a n z Ägypten den Osiris, . . . Dich Attis, S o h n der R h e a , preise ich, . . . als P a n , als B a k c h o s , als Hirten der leuchtenden S t e r n e " . M a n darf sich durch solchen synkretistisch-gnostischen G e b r a u c h nicht verleiten lassen, in diesen G e d a n k e n g ä n g e n den G r u n d f ü r die Popularität des Kybele-Attis-Kultes zu sehen. Welchen Eindruck machten Riten, Feste und kultische B e g e h u n g e n der V e r e h r u n g der Großen Mutter und des Attis auf das G e m ü t vieler M e n s c h e n ? D i e Religiosität des Kultes der M a g n a Mater w a r in jeder Beziehung radikal und extrem. D i e religiösen Feste waren farbig, voll von wilder S c h l a g z e u g m u s i k und berauschendem T a n z ; die Riten urwüchsig, g r a u s a m und faszinierend in ihrer primitiven Geschmacklosigkeit. V o n den moralischen F o r d e rungen und asketischen G e b o t e n der Religion der G r o ß e n Mutter ist bekannt, daß sie hart und rigoros waren. D a s Bewußtsein von Schuld und Sühne w u r d e unmittelbar angesprochen und damit eine E b e n e religiösen Erlebens und seelischer E r f a h r u n g angerührt, für die ein wirkliches Bedürfnis bestand und die von der spekulativen T h e o r i e der religiös interessierten Philosophie nicht erreicht wurde. c) S a b a z i o s , M e n und andere Sabazios w a r ein phrygischer (und thrakischer) G o t t aus Kleinasien, der mit D i o n y s o s verwandt ist. D i e Gleichsetzung von S a b a zios und D i o n y s o s , die sich gelegentlich findet, beruht auf alten Wurzeln. D e r Kult des S a b a z i o s hatte ebenfalls orgiastische Z ü g e , die an D i o n y s o s erinnern. Im klassischen Griechenland w a r S a b a zios bekannt, aber erst in der hellenistischen Zeit breitete sich sein K u l t bis in den römischen Westen aus. D a s beweisen die weitverbreiteten S a b a z i o s - H ä n d e , z u r benedictio latina erhobene H ä n d e mit Pinienzapfen, Schlangen und anderen Symbolen. D e r Kult des S a b a z i o s hatte wie der des D i o n y s o s von alters her Mysterienzüge. E s läßt sich auch vermuten, daß gemeinsame Kultmahle stattfanden. Sie versinnbildlichten vielleicht (nach dem G e m ä l d e aus dem Vincentiusgrabe in R o m zu urteilen) den Freispruch vor den Richtern der Unterwelt und die A u f n a h m e in die M a h l g e m e i n s c h a f t der Seligen. Synkretistische T e n d e n z e n scheinen bei S a b a z i o s beson-
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ders stark gewesen zu sein. Zu der alten Identifizierung mit Dionysos kommt die in Kleinasien häufige Verbindung mit Zeus und mit dem dort ebenfalls verbreiteten Kult des „Hypsistos" (des „Höchsten Gottes"), auch gelegentlich mit dem Kult der Großen Mutter und später des Mithras. Rätselhaft und merkwürdig ist die Identifizierung mit dem jüdischen Gott Jahweh. Im Jahre 139vChr wurden Juden aus Rom ausgewiesen, „die versucht hatten, die römischen Sitten durch die Verehrung des Sabazios Jupiter zu verderben" (Iudaeos qui Sabazi Jovis cultu Romanos inficere mores conati erant). Aus dem Inneren Kleinasiens gibt es verschiedene Zeugnisse für einen monotheistischen Mysterienkult des „Höchsten, Gottes", von dem gesagt wird, daß die Mitglieder den Sabbath und gewisse Speisegesetze beobachteten. Dazu kommen Inschriften von Kultvereinen der „Sabbathisten", sowie zugehörige Reliefs mit Bankettszenen. Was es hiermit auf sich hat und wie diese „Hypsistarier" einerseits zu Sabazios und andererseits zum Judentum in Beziehung zu setzen sind, läßt sich nicht eindeutig klären. Daß die Juden Kleinasiens weithin hellenisiert waren, und daß sie in der Organisation ihrer Gemeinden als Kultvereine und im Verständnis ihrer eigenen Gottesdienste als Mysterienfeiern für jene Zeit typische Formen und Inhalte übernommen hatten, ist wahrscheinlich. Jüdische Züge sind in den genannten Zeugnissen deutlich vorhanden: die Gottesbezeichnung „der Höchste" begegnet in der Septuaginta und ist auch sonst in der hellenistischen jüdischen Literatur (Philo und Josephus) geläufig, von dort auch in die christliche Sprache eingedrungen. Die Sabbathfeier - ein Festmahl mit Wein - ist typisch jüdisch. Speisegesetze können ebenfalls jüdischer Herkunft sein; doch gab es das auch sonst. Der Angelus bonus auf dem schon genannten Vincentiusgrab in Rom ist sicher aus dem Judentum entlehnt. Aber ob es sich bei den Sabazios/Hypsistos Sabbathisten um einen jüdisch-synkretistischen Mysterienkult handelt oder um die Übernahme von jüdischen Elementen in einen heidnischen Kult oder um einfache Namensverwechslungen (Sabazios-Sabbath-Zebaoth), bleibt für uns dunkel. Die These der einfachen Namensverwechslung ist angesichts der ausdrücklichen Nennung der „Juden" bei der Nachricht von der Vertreibung aus Rom nicht ganz befriedigend. Wir haben es also mit einer synkretistischen Gruppe der einen oder anderen Art zu tun, die vor allem in Kleinasien zu Hause war. Bei der Auseinandersetzung des frühen Christentums mit der Häresie sollte sich zeigen, daß auch christliche Ge-
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meinden Kleinasiens von eben diesen jüdischen Mysterienkulten synkretistischen Charakters beeinflußt werden konnten (s. zum Kolosserbrief § 12.2a). Eine andere phrygische Gottheit, deren Kult in der hellenistischen Zeit als Mysterienkult erscheint, war Men, der oft mit dem Beinamen Tyrannos bezeichnet wird. Er war schon im 4.Jh.vChr von Sklaven, die in den laurischen Bergwerken Attikas arbeiteten, nach Griechenland gebracht worden. Später findet sich Men auch in Italien, und zwar im Gefolge des Attis. Men ist ein Mondgott und wurde meist mit der Mondsichel dargestellt. Zusammen mit Attis ist er als Himmelsgott verehrt worden. Die Dea Syria, Atargatis, war im griechischen Raum nicht sehr verbreitet. Ein Tempel der syrischen Göttin mit einem Theater ist auf Delos ausgegraben worden. Lukian hat ihr eine ganze Schrift gewidmet (s.u. § 6.4g). d) Das Problem der Mysterienreligionen In der Forschung ist die Frage des Ursprungs und Charakters der sogenannten „Hellenistischen Mysterienreligionen" umstritten. Die These eines orientalisch-iranischen Ursprungs, wie sie von Reitzenstein vor mehr als einem halben Jahrhundert vorgetragen wurde, hat sich als außerordentlich fruchtbarer Ansatz erwiesen, durch den eine Reihe bis dahin nicht beachteter Gesichtspunkte zum Tragen gekommen und neue Perspektiven eröffnet worden sind. Dadurch, daß hier den Mysterienreligionen in ihrer Gesamtheit eine spezifische Mysterientheologie und eine feste Mysterienterminologie zugeschrieben wurde, lenkte sich der Blick auf die eigenartigen religionsgeschichtlichen Entwicklungen der hellenistischen und römischen Zeit. Gleichzeitig wurde der enge Zusammenhang des frühen Christentums mit diesen Entwicklungen deutlich. Die Kritik an diesen Hypothesen geht davon aus, daß der Begriff „die Mysterienreligionen" als Gesamtbezeichnung eines einheitlichen Phänomens überhaupt unangebracht sei. Diese Kritik konzentriert sich auf die folgenden Punkte: 1. Es hat zwar Mysterien gegeben. Jedoch sind diese so geartet, daß es sehr fraglich ist, ob man im einzelnen Fall von einer „Religion" reden kann. 2. Nicht nur die Riten, sondern auch die religiösen Vorstellungen der Mysterien sind jeweils so verschieden, daß man von einer
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für alle Mysterien gehenden Theologie und Terminologie nicht reden kann. Soweit sich die gleichen Vorstellungen mehrfach finden, gehören sie überhaupt der allgemeinen Sprache des Hellenismus an, sind also nicht auf die Mysterien beschränkt und somit nicht charakteristisch. 3. Die These vom orientalischen Ursprung der Mysterienreligionen, zumal vom persischen, ist höchst problematisch. Einmal haben wir zu wenig Quellen, um die persischen Hintergründe klären zu können. Zum andern können auch hellenistische Vorstellungen nach dem Osten gewandert sein. Schließlich ist die einzige in ihrem Ursprung in der Tat iranische Mysterienreligion, nämlich die des Mithras, erst in der römischen Zeit verbreitet worden. 4. Die ältesten Mysterien, die wir kennen, Eleusis und Samothrake, sind griechisch und nicht orientalisch. Es handelt sich zwar durchweg um Kulte, die nicht-griechischen Ursprungs sind und schon in vorklassischer Zeit hellenisiert wurden. Demeters Verbindung mit der Unterwelt (Die Tochter der Demeter, „Kore", ist als Persephone Göttin der Unterwelt) ist nicht griechisch. Die samothrakischen Götter und Dionysos sind thrakischen bzw. phrygischen Ursprungs. Aber diese Überlegungen helfen nicht weiter; denn für die hellenistische und römische Zeit muß man damit rechnen, daß Begriff und Vorstellung des Mysteriums aus Griechenland stammen und nicht aus dem Orient. Wir müssen also davon ausgehen, daß es dieser griechische Begriff ist, der zugrundeliegt, wenn von Kulten geredet wird, in denen es besondere Weihehandlungen gibt, die nicht öffentlich sind. Spätestens in der römischen Kaiserzeit ist der Gebrauch dieses Begriffes allerdings so vielschichtig geworden, daß man sich an ihm kaum noch orientieren kann - von dem allgemeinen und literarischen Gebrauch des Wortes überhaupt abgesehen. Etliche Kulte der alten Götter haben „Mysterien" eingerichtet, dazu religiöse Kultgemeinschaften gegründet, die als Thiasoi organisiert waren mit Priestern und Vorsitzenden, fester Mitgliedschaft und regelmäßigen Zusammenkünften. O f t dienten diese Mysterienvereine aber nur der Organisation von öffentlichen Festen und Prozessionen. Sie wollten nach Analogie der alten griechischen und neuen orientalischen „Mysterien" den eigenen Kultfeiern einen tieferen Sinn und eine geheimnisvollere Bedeutung geben. Sogar an den Kaiserkult haben sich manchmal Mysterien angeschlossen. Daß dies auch gelegentlich bei Orakeln geschah, wurde oben bereits erwähnt. Mit
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diesem Begriff kann man deshalb bei der Wesensbestimmung einer Mysterienreligion nicht allzuviel anfangen. Es ist aber zu bedenken, daß neue Religionen aus dem Osten, die sich geheimnisvoller Kulthandlungen rühmen konnten, sich damit in der Sache und im Namen „Mysterien" gleichstellten, die es in Griechenland immer schon gegeben hatte und die neuerdings recht beliebt und weit verbreitet waren. Es handelt sich also um orientalische Kulte, die hellenisiert worden sind, wobei das Verständnis besonderer Kult- und Weihehandlungen als „Mysterien" eine griechische Komponente dieser Hellenisierung war. Doch ist mit alledem nur ein Merkmal der Religionsbildung und Religionswandlung in der hellenistischen und römischen Zeit beschrieben. Bei einer Reihe von orientalischen Kulten, wohlgemerkt hellenisierten Mysterienkulten, reicht die am griechischen W o r t „Mysterion" haftende Definition nicht aus, um ihre Eigenart zu beschreiben. Das gleiche gilt unter den ursprünglich griechischen Kulten für den Dionysoskult, vielleicht auch für die kleinasiatischen und ägäischen Kultniederlassungen der Kabiren, die durch die Missionstätigkeit von Samothrake gegründet worden waren. Um ihre Eigenart zu beschreiben, muß man noch auf folgende Merkmale hinweisen, die freilich nicht immer alle gleichzeitig vorhanden waren: 1. In den einzelnen Gemeinden eine feste Organisation der Mitglieder zu verpflichteten Gemeinschaften; 2. Aufnahme durch Initiationsriten; 3. Teilnahme an regelmäßigen Zusammenkünften, bei denen sakramentale Feiern ( z . B . Mahlzeiten) nach festem Ritus abgehalten wurden; 4. Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter moralischer, oft auch asketischer Gebote; 5. gegenseitige Unterstützung der Mitglieder; 6. Gehorsam gegenüber dem Leiter des Kultes; 7. Pflege bestimmter Traditionen, die der Arkandisziplin unterlagen. W i r sind über solche Gemeinschaften oft nur spärlich informiert. Dazu hat eine Reihe verschiedener Gründe beigetragen. Einmal wurde die Arkandisziplin beachtet. Außerdem waren die Überlieferungen dieser Gruppen weithin mündlich - das war ja auch im frühen Christentum der Fall. Das soziale Niveau war schließlich mehr bürgerlich und schloß Mitglieder aus den unteren Schichten ein, selten Reiche und Vornehme (vgl. 1. K o r . 1 , 2 6 , das auf eine durchschnittlich bürgerliche Herkunft der Gemeindemitglieder schließen läßt); daher, und auch wegen der Struktur der Religiosität, waren Weihgeschenke und entsprechende Inschriften nicht üblich. Die Zusammenkünfte fanden in
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Privathäusern statt. Man darf daher aus der Spärlichkeit der Nachrichten nicht auf eine geringe Verbreitung solcher Kulte schließen. Es spricht im Gegenteil vieles dafür, daß sie außerordentlich weit verbreitet waren, vor allem in Kleinasien und in Italien. Es ist nicht leicht, unter Anwendung der genannten Kriterien einzelne bekannte Religionen diesen „Mysterienreligionen" zuzuweisen. D e r Mangel an Informationen ist mißlich, weil wir es mit einem großen Zeitraum zu tun haben, in denen die einzelnen Religionen manchem Wandel unterworfen waren. Sowohl der Ritus als auch die theologischen Interpretationen der Kultsymbole und der Uberlieferungen waren nicht dogmatisch festgelegt. Viele Unterschiede bei ein und derselben Religion waren auch regional bedingt. In der Geschichte des frühen Christentums lassen sich diese Dinge sehr deutlich ablesen: es gab eine Vielzahl von „Einsetzungsw o r t e n " des Herrenmahles, die erst durch eine längere Entwicklung zu der einzig gültigen Formel verschmolzen wurden; es gab Gemeinden, die bestimmte Speisegesetze beachteten, und andere, die dies nicht taten; es gab Gemeinden, die von „Aposteln" und „Propheten" geleitet wurden, andere unterstanden Presbytern oder einem Bischof; von einer einheitlichen Interpretation der Überlieferung kann vollends nicht die Rede sein, ja zu Anfang nicht einmal von einer einheitlichen Überlieferung. W a r für einige christliche Gruppen das Herrenmahl eine Mysterienfeier, die persönliche Unsterblichkeit garantierte, so war es für andere ein G e meinschaftsmahl, das auf die Ankunft des messianischen Retters ausgerichtet war. Alle diese Dinge muß man in Rechnung stellen, wenn man nach der religionsgeschichtlichen Einordnung der sogenannten hellenistischen Mysterienreligionen fragt. Außerdem spielt noch eine große Rolle, daß eine einheitliche weltweite Organisation nur in Ausnahmefällen entstanden ist und anfänglich nirgends vorhanden war. Manchmal bestanden noch alte Kultzentren, die eine gewisse Bedeutung und Autorität hatten, wie Pessinus in Phrygien als V o r o r t der Verehrung der Magna Mater, Jerusalem für die Juden und Christen. Aber solche Orte hatten auf die Dauer mehr symbolische Bedeutung. Bei der Zerstörung Jerusalems hatten sich die jüdischen wie die christlichen Gemeinden längst organisatorisch von diesem Zentrum gelöst. Die Entwicklung des Judentums wie des Christentums während der Kaiserzeit zeigt, auf welche Weise derartige überregionale Organisationen zustande kommen konnten, soweit man daran überhaupt ein Interesse hatte. Eines
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oder mehrere Zentren versicherten sich zunächst ihrer Vorrangstellung auf regionaler Ebene. Bei den Juden geschah dies von Jamnia aus, bei den Christen von Antiochien, Ephesus, Karthago und Rom aus. Darauf folgten überregionale Übereinkünfte, die nicht konfliktlos waren. Solche Prozesse beanspruchten viele Jahrzehnte, ja viele Jahrhunderte, und sie hatten immer den Ausschluß rivalisierender „häretischer" Gruppen zur Folge, die dennoch weiterblühen mochten und von einem Außenstehenden kaum von den „rechtgläubigen" Gruppen unterschieden werden konnten. Unter diesen Voraussetzungen und Einschränkungen wird man im Blick auf die oben genannten Merkmale sagen können, daß die Verehrer des Dionysos, des Men Tyrannos, des Sabazios, des Hypsistos und des Mithras, in mancher Hinsicht auch die Kulte der Magna Mater, der Isis und der syrischen Göttin zu diesen „Mysterienreligionen" gehörten. Zu ihnen muß man aber auch das Christentum mit seinen vielen Sekten und Gruppen, Teile des Diaspora-Judentums und nicht zuletzt auch das orthodoxe Judentum rechnen, das sich nach der Zerstörung Jerusalems in Jamnia neu konstituierte: es zeichnete sich aus durch die Pflege einer nur mündlich überlieferten Tradition, die Festlegung genauer moralischer und ritueller Vorschriften für alle Mitglieder, die Bindung der Mitglieder an regelmäßige Zusammenkünfte, ihre Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfeleistung und die scharfe Abgrenzung gegenüber den Außenstehenden - all dies sind typische Züge einer „Mysterienreligion". Es nimmt nicht Wunder, daß man Wert auf bestimmte Initiationsriten (Beschneidung, Proselytentaufe) legte, durch die man zu einem der Gemeinschaft verpflichteten Mitglied wurde. Tiefsinnige mystische Interpretationen der Uberlieferung das hat G. Scholem überzeugend nachgewiesen - blühten im rabbinischen Judentum ebenso wie bei den Christen und in anderen Mysterienreligionen. Aus allem Gesagten ist bereits deutlich geworden, daß man den Begriff der Mysterienreligionen nicht theologisch an der Vorstellung des Mysteriums orientieren darf. Man müßte dann nicht nur Mysterienhandlungen spezifischer Art und gleicher Struktur nachweisen, sondern auch bestimmte theologische Vorstellungen, die solche Handlungen als Erlösung oder als Aneignung der Unsterblichkeit durch den Einzelnen ausdeuten. Die Antwort muß in die Irre führen, weil diese Sprache und Vorstellungswelt in viel weiteren Kreisen und Schichten vorhanden waren als nur in denen, die
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unmittelbar mit einer bestimmten Mysterienreligion verbunden gewesen sind. Wir haben es also theologisch nicht mit spezifischen P h ä n o m e n e n der Mysterienreligionen zu tun, sondern mit allgemeinen Erscheinungen der hellenistischen Religionsgeschichte, die besonders in der römischen Kaiserzeit zur vollen Entfaltung kamen. J u d e n t u m und Christentum hatten daran vollen Anteil, womit freilich noch nicht g e s a g t ist, worin ihre spezifische Eigenart bestand. Selbstverständlich gehören diese theologischen Gesichtspunkte zu den Mysterienreligionen hinzu; sie sind ohne diese K o m p o n e n t e nicht denkbar. Orientalisch im engeren Sinne sind übrigens alle diese theologischen Inhalte und weltanschaulichen Vorstellungen keineswegs; sie sind „hellenistisch" - und z u m Hellenismus hat der Orient seinen Beitrag geleistet. Orientalisch hingegen sind in den Mysterienreligionen vielfach spezifische Riten und N a m e n , Kultmythen und Uberlieferungen, also das, was ihnen jeweils ihre Eigenart gab. Rituelle H a n d l u n g e n , durch die Einzelne in eine religiöse G e meinschaft a u f g e n o m m e n wurden und die im Zentrum des religiösen Erlebens dieser Gemeinschaft standen, waren weit verbreitet. Sie fanden sich bei den griechischen wie bei den fremden Kulten, drangen auch in die Kulte der alten Götter ein, ebenso in den Kaiserkult. G e m e i n s a m e feierliche Mahlzeiten waren bei vielen halbreligiösen Vereinigungen und philosophischen G e m e i n s c h a f ten ebenso wie im J u d e n t u m und Christentum üblich. W a s den Symbolgehalt und die theologische Bedeutung solcher H a n d l u n gen anbetrifft, so bestand einerseits eine große Variationsbreite, andrerseits bewegten sich alle D e u t u n g e n im R a h m e n der gleichen hellenistischen Vorstellungen. K o s m o l o g i e und H e i m a r m e n e , Seelenglaube und Unsterblichkeit, D ä m o n o l o g i e und Machtglaube waren überall dieselben, in der Popularphilosophie wie in den Mysterien, im Z a u b e r wie in den Kreisen, die den alten Göttern anhingen. Auch hier machten J u d e n und Christen keine Ausnahme. D i e S p r a c h e , in der man jeweils von diesen D i n g e n redete, war keine besondere S p r a c h e der Mysterienreligionen - die letztere beschränkte sich vielmehr auf bestimmte T e r m i n i des Ritus und der Liturgie und w a r bei den einzelnen Religionen jeweils verschieden —, sondern eben die religiös-philosophische S p r a c h e des Hellenismus überhaupt. Es war die S p r a c h e einer Zeit, die philosophische und wissenschaftliche Einsichten religiös mystifizierte und die am Hintergründigen und Geheimnisvollen ein fast überspanntes Inter-
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esse hatte. Als die Christen sich ebenfalls dieser Sprache bedienten, setzten sie sich selbstverständlich dem Verdacht aus, eine Mysterienreligion zu sein. In der Tat bezeichneten sie ja selbst ihre zentrale kultische Handlung, das Herrenmahl, als „mysterion" (lat. sacramentum), ebenso wie manchmal auch ihre Predigt. Was in Wirklichkeit im Christentum vorging, war weiter nichts als die Auseinandersetzung mit der hellenistischen Welt und ihren religiösen Vorstellungen. Man kann fragen, ob die Mysterienreligionen sich dadurch von sonstigen religiösen und philosophischen Kreisen unterschieden, daß sie die spezifische Religiosität bestimmter Bevölkerungsschichten zum Ausdruck brachten. Aber einmal wissen wir zu wenig über die soziale Schichtung der Angehörigen der verschiedenen Religionsgemeinschaften. Uber die Vermutung, daß die Anschauungen der stark fluktuierenden Großstadtbevölkerung sich von den bodenständigen Bewohnern der Kleinstädte und Dörfer erheblich unterschieden, kommt man kaum hinaus. Zum andern läßt sich mit Sicherheit sagen, daß Mysterienglaube und Unsterblichkeitshoffnungen, Okkultismus und Zauber in allen Schichten der Großstadtbevölkerung zu Hause waren. Von wenigen Ausnahmen abgesehen es gab unversöhnliche Spötter wie Lukian von Samosata, die an nichts zu glauben meinten - waren die literarisch gebildeten Kreise dafür ebenso empfänglich wie die bürgerliche Mittelschicht und die Sklaven. Gebildete bedienten sich des Zaubers, Cicero fand Mut zum Leben und H o f f n u n g im Sterben in Eleusis, und die hochgelehrten neuplatonischen Philosophen beschäftigten sich ernsthaft mit der Theurgie. Bei Literaten, die bestimmten Mysterien anhingen, findet sich nicht selten ein gewisser Snobismus gegenüber den Ungebildeten, die sich in Bezug auf die religiöse Einsicht in geheimnisvolle Zusammenhänge nicht mit ihnen messen konnten. Das darf aber keinesfalls zu der Annahme verführen, Mysterien seien speziell für die Gebildeten dagewesen. Mit Klassenunterschieden hatten diese Anschauungen und Hoffnungen wenig zu tun, wenn es auch vorkam, daß eine bestimmte Religionsgemeinschaft die eine Bevölkerungsschicht mehr ansprach als die andere. Daß der Mithraskult vor allem unter den Soldaten verbreitet war, ist genugsam bekannt. Daß die Kaiser sich in Eleusis einweihen ließen, erklärt sich aus dem Ruhm dieses griechischen Mysteriums; schließlich war man ja als Kaiser nicht irgendwer. Aber daß etwa das Chri-
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stentum zunächst die Religion der Armen und Unterprivilegierten war, ist Unsinn und läßt sich leicht widerlegen. Was die Propagandamittel anbetrifft, so gab es Unterschiede. Doch waren sie unbedeutend. Die Praktiken der wandernden Philosophen und Missionsprediger waren überall gleich. Daß man sich der Demonstration göttlicher Macht bediente, gehörte auf jeden Fall dazu. Die Wahl der Mittel war eine Frage der individuellen Lauterkeit und hatte mit der Religion oder Philosophie, die man vertrat, wenig zu tun. Von der Gefahr der Verfälschung der Botschaft durch unlautere Mittel wußte Paulus ebenso gut wie Dio Chrysostomos. Hingegen war das Ziel der Propaganda unterschiedlich. Man war entweder auf die Gewinnung Einzelner aus, die dann einem begrenzten Kreis von Auserwählten angehörten, oder man richtete sich an breite Kreise der Bevölkerung, die so für eine große Gemeinschaft gewonnen werden sollten. So klar dieser Unterschied ist, so wenig läßt er sich für eine Unterscheidung der Mysterienreligionen von sonstigen religiösen Bewegungen ins Feld führen. Die Mithrasreligion wandte sich gewiß an jedermann, aber sie hatte eine streng gegliederte Hierarchie von „mehr oder weniger Erwählten". Der Einweihungsbericht des Apuleius in die Isismysterien scheint vorauszusetzen, daß nur wenige Einzelne sich einweihen lassen konnten; aber aus Kleinasien kennen wir Sarapistempel der gleichen Zeit, die großen Menschenmengen Platz zur Teilnahme an den gottesdienstlichen Handlungen boten. Bei den Christen sollte der Widerstreit zwischen der gnostischen Auffassung von nur wenigen Erwählten mit dem christlichen Universalismus noch lange andauern. Dennoch, die hellenistische und römische Zeit kann man mit Fug und Recht das Zeitalter der Mysterienreligionen nennen. Trotz der Schwierigkeiten bei der genauen Abgrenzung ist reichliches Material vorhanden, das die weitverbreitete Existenz von Phänomenen beweist, die zu den Mysterienreligionen gehören und zu dem Milieu, in dem sie gedeihen konnten. Man muß die Mysterienreligionen in diesem Zusammenhang sehen; denn letzten Endes gründen sie sich auf die typisch hellenistische Sicht des Menschen und seiner Welt. Der Kosmos hat seine göttliche Ordnung; aber dem Menschen ist eine volle Anteilnahme daran nicht vergönnt; da er in der Welt der Sinnlichkeit und der Materie, der Unordnung und des Endlichen befangen ist, unterliegt er dem Gesetz der Heimarmene, der Macht des Schicksals. Aber der Mensch hat in seiner
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Seele Anteil an der göttlichen Welt; Kräfte, Mächte und Dämonen stehen bereit, ihn zu retten; denn ihnen ist er im letzten Grunde verwandt. Diese Rettung kann jedoch nicht im Bereich des Sichtbaren liegen - die sichtbare Welt ist als solche die Ursache des menschlichen Dilemmas. Daraus erklärt sich auch der geringe Anreiz zu verantwortlichem politischen Handeln - abgesehen davon, daß Gelegenheit und Institutionen dafür nicht vorhanden waren. Wer hier sein Glück suchte, mußte entweder zu den führenden politischen Kreisen Roms gehören - hier gab es in der Tat die Ansicht vom politischen Handeln als Bestimmung des Menschen - oder er stürzte sich in solch hoffnungslose Abenteuer, wie sie in den Sklavenaufständen und in den jüdischen Kriegen jedermann vor Augen standen. Die Rettung konnte nur aus dem Glauben an jene unsichtbaren Mächte erwachsen, die jenseits des Geschehens der sichtbaren Welt in einer größeren und harmonischeren Ordnung von keiner Vergänglichkeit bedroht existierten und vielfältig geheimnisvoll auch in diese Welt hineinwirkten. Die Bewältigung des Lebens mußte deshalb davon abhängen, wie weit es gelang, sich der Gunst dieser Mächte zu versichern und an ihren Wirkungen teilzuhaben. Im Vordergrund stand daher der Machtglaube, sei es, daß man philosophisch die ganze Welt von der Macht des Logos durchwaltet sah (so die Stoa), mit der man sich selbst in Einklang bringen mußte, - sei es, daß man gute und böse Dämonen und Götter überall am Werk sah, denen man mit geheimem Wissen und durch Zauber beikommen wollte. In gleicher Weise verkörperte sich die göttliche Macht im Geist, der der Materie gegenüberstand, in der Welt der Sterne im Gegensatz zur sublunaren Welt, und schließlich auch in der erwiesenen Macht neuer Kulte und ihrer Götter, in denen sich eine bisher unbekannte Macht kundtat - daher die Anziehungskraft der Religionen aus dem Osten. Es ging dabei zunächst auch noch um die Bewältigung dieses Lebens mit Hilfe jenseitiger Macht und jenseitiger Garantien. Erst die Gnosis (s.u. §6. 5f) war radikaler; denn ihr war das Leben in der sichtbaren geschichtlichen Welt völlig gleichgültig geworden. Wissen und Macht richteten sich ausschließlich auf die Befreiung von dieser Welt, nicht auf ihre Bemeisterung durch die Dienstbarmachung höherer Kräfte. Natürlich konnten sich gnostische Vorstellungen ohne weiteres in den Mysterienreligionen ausbreiten, wie ja auch in den hermetischen Buchmysterien gnostische
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und nichtgnostische Schriften nebeneinander stehen und wie es im Christentum Gnostiker und Nichtgnostiker gab. Es konnte nicht lange zweifelhaft bleiben, daß die Veranschaulichung, Konkretisierung und Vergegenwärtigung der Überwindung von Materie, Heimarmene und Tod und der Teilhabe an göttlicher Macht, wie sie von den sogenannten Mysterienreligionen angeboten wurde, den philosophischen Lehren überlegen war. Einmal bot der Ritus der Einweihung in symbolischen Abbildern (Götterbilder, Lichteffekte, symbolische Gewänder, Allegorien) Garantien für die Wirklichkeit jenseitiger Mächte, zum anderen bestand die Möglichkeit der Aufnahme in eine Gemeinschaft von Freunden, die in gleicher Weise im Besitz des rettenden Geheimnisses waren. Freilich hatte diese Gemeinschaft nur sekundäre Bedeutung; denn nicht sie, sondern die dem Einzelnen zuteil werdende Kraft war das Ziel der Einweihung. So darf man den Sinn der Mysterienriten nicht ohne weiteres in der Schaffung der Gemeinde einer neuen Welt sehen. Es ging zunächst nur um die Zueignung von Kraft und die Zusage des Schutzes durch höhere Mächte in den Widrigkeiten dieses Lebens ebenso wie für den Weg der Seele nach dem Tode - Gedanken, die freilich auch innerhalb des Christentums Verbreitung fanden. Erreichen ließ sich das gleiche Ziel auch außerhalb der organisierten Religionen und Kulte, etwa in der philosophischen Betrachtung, in der Mystik und in der Versenkung in Buchmysterien (wie in der Hermetik); man konnte sich auch im Zauber und in der Astrologie Zugang zu diesen jenseitigen Kräften verschaffen. Aber die Mysterienreligionen boten maximale Möglichkeiten und hatten den Zugang zu diesen Mächten institutionalisiert. Daher war ihnen, und nicht zuletzt dem Christentum, der größte Erfolg beschieden.
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DAS JUDENTUM DER HELLENISTISCHEN ZEIT
E. SCHÜRER, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Bd. 1 - 3 3 , 4 1 9 0 1 - 1 9 0 9 ; vgl. die seit 1 9 7 3 erscheinende völlig neu bearbeitete Auflage von G. V E R M E S und F. MILLAR. S . SAFRAI und M. STERN, The Jewish People in the First Century, Compendia Rerum Judaicarum ad Novum Testamentum, 1 , 1 - 2 , 1 9 7 4 . W. BOUSSET, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter, bearbeitet von H . G R E S S M A N N , H N T 2 1 , 4 1 9 6 6 .
1. Die Geschichte Israels bis zur römischen Eroberung M. NOTH, Geschichte Israels, 8 1976. A.TCHERIKOWER, Hellenistic Civilization and the Jews, 1959. Ε. BICKERMANN, Die Makkabäer: Eine Darstellung ihrer Geschichte von den Anfängen bis zum Untergang des Hasmonäerhauses, 1935. A SCHLATTER, Geschichte Israels von Alexander dem Großen bis Hadrian, 3 1925; Neudruck 1977.
Zua: F. M. CROSS, A Reconstruction of the Jewish Restoration, J B L 9 4 , 1975, 4-18.
Zuc: E. BICKERMANN, Der Gott der Makkabäer, 1937. M.HENGEL, Judentum und Hellenismus: Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2.Jahrhunderts vor Christus, W U N T 1 0 , 2 1 9 7 3 .
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J.GUTMANN
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a) Vom Exil bis zu Alexander dem Großen In den Jahren 597 und 585vChr war nach der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar, den Herrscher des neubabylonischen Reiches, die Oberschicht des Volkes nach Babylon gebracht und dort angesiedelt worden. Nachdem Babylon von den Persern erobert worden war, erhielt ein Teil der Exilierten, wahrscheinlich 521vChr, vom persischen König die Erlaubnis, in die Heimat zurückzukehren. Der Wiederaufbau der jerusalemischen Kultgemeinde in den folgenden Jahrzehnten vollzog sich unter wiederholter Einflußnahme der in Babylon verbliebenen Juden. 520-515 wurde der Tempel in Jerusalem neu errichtet. Am Anfang des folgenden Jahrhunderts begann der Mauerbau, wurde aber zunächst unterbrochen. Anfänglich unterstand Jerusalem noch dem persischen Satrapen in Samarien. Kurz nach der Mitte des 5.Jh. kam Nehemia mit königlichen Vollmachten ausgerüstet als Satrap einer von Samarien unabhängigen Provinz Judäa nach Jerusalem, vollendete den Mauerbau und setzte den Anspruch der Selbständigkeit gegen den Widerstand der persischen Verwalter in Samarien und im Ostjordanland durch. In diese Periode datieren die Anfänge der Gegensätze zwischen Jerusalem und den mächtigen (jüdischen!) Familien Samariens, denen der dortige Satrap angehörte, sowie den Tobiaden, einer reichen jüdischen Priesterfamilie, die in persischem Auftrag das Ostjordanland verwaltete. Eine Generation später, d.h. ca. 400vChr, kam Esra aus Babylonien nach Jerusalem (entgegen der Ordnung der Chronikbücher muß Nehemia vor Esra datiert werden). Er setzte die Annahme eines neuen Gesetzes durch, das vom persischen Staat autorisiert worden war (noch nicht der spätere Pentateuch, sondern einige Teile, die sich auf die Ritual- und Reinheitsgesetzgebung beziehen) und reorganisierte die Verwaltung. An die Stelle des Statthalters trat ein Ältestenrat, der dem persischen König unmittelbar verantwortlich und in engem Zusammenhang mit den führenden Priesterfamilien oberste Autorität für die Bewahrung des Rechts und die Durchführung des Kultes war. So entstand ein typischer Tempelstaat, deren es eine ganze Reihe in Syrien und Kleinasien gab. Obgleich dieser Staat im wesentlichen aus der Stadt Jerusalem bestand, zu der eine Reihe weiterer Ortschaften Judäas gehörten, so war doch der Aufbau des Staatswesens von dem eines griechischen Stadtstaates grundverschieden; denn er konstituierte sich nicht aus
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den Bürgern der Stadt und der aus diesen hervorgegangenen Verwaltung, sondern leitete seine Autorität aus dem durch göttliche Gegenwart legitimierten Tempel ab. Dadurch war das religiöse Gesetz - nicht etwa ein bürgerliches Gesetz mit göttlicher Sanktion die Verfassung des Staates und der Hohepriester der Leiter des Gemeinwesens („Theokratie"; s.o. §4.3b). Wie in anderen westlichen Provinzen des persischen Reiches, so machten sich auch in Palästina schon während dieser Zeit griechische Einflüsse bemerkar. Griechische Importe gelangten nicht nur in die Küstenstädte Phöniziens, sondern auch in das Hinterland, zu dem Jerusalem und Judäa gehörten. Die jüdischen Münzen waren der attischen Drachme nachgeahmt, trugen manchmal das Zeusbild oder die athenische Eule. Aber das eigentliche kulturelle und religiöse Leben Jerusalems blieb vom griechischen Geist vorerst noch unberührt. b) Palästina unter hellenistischen Herrschern Im Gefolge der Schlacht bei Issos (333 vChr; s.o. § 1. 2b) kam Palästina unter die Oberhoheit Alexanders. Sein General Parmenion eroberte das Gebiet, fand aber nur in der Stadt Samaria, dem Sitz des persischen Satrapen, Widerstand. Als sich Samaria während Alexanders Aufenthalt in Ägypten erhoben hatte, wurde es von Alexander (oder seinem General Perdikkas) 331vChr zerstört und als griechische Kolonie neu gegründet. Offenbar siedelten sich Teile der vertriebenen jüdischen Bevölkerung daraufhin in der alten Stadt Sichern an, bauten diese wieder auf und errichteten ihr eigenes Heiligtum auf dem benachbarten Berg Garizim. Hier liegen die Anfänge des samaritanischen Schismas; der endgültige Bruch erfolgte erst am Beginn der römischen Zeit. Nach Alexanders T o d kam Palästina mit Judäa und Samarien als Teil Südsyriens in den Besitz der ptolemäischen Könige Ägyptens (während der Diadochenkämpfe wechselte es seinen Besitzer nur vorübergehend). Die ptolemäische Herrschaft dauerte ein ganzes Jahrhundert, da es den seleukidischen Königen trotz wiederholter Anstrengungen nicht gelang, Südsyrien den Ägyptern zu entreißen. Als der mächtigste Seleukide, Antiochos III. der Große (223-187vChr; s.o.§1.4d), den Krieg um Südsyrien erneuerte, wurde er zunächst von seinem ptolemäischen Widersacher Ptolemaios IV. Philopator im Jahre 217 bei Raphia im südwestlichen Palästina geschlagen. Aber 198 besiegte er Ptolemaios V. Epiphanes an den Jordanquel-
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len (beim neutestamentlichen Cäsarea Philippi) und konnte sich so in den Besitz Phöniziens und Palästinas setzen. Die Einwohner Jerusalems unterstützten den Seleukiden, schlossen die ägyptische Besatzung ein und empfingen Antiochos mit Jubel. Dafür erneuerte Antiochos alle Privilegien des Jerusalemer Tempelstaates und fügte neue hinzu (das Dekret ist bei Josephus Ant. 12. 138-144 aufbewahrt). Die Folgezeit sah ein ungestörtes Fortbestehen des guten Verhältnisses zur seleukidischen Verwaltung, das erst unter Antiochos IV. Epiphanes in eine Krise geriet. Weder die Ptolemäer noch die ersten seleukidischen Herrscher hatten in die innere kulturelle und religiöse Entwicklung Jerusalems eingegriffen. Aber die Hellenisierung des palästinischen Landes war ein Prozeß, der sich von Anfang der hellenistischen Zeit an bemerkbar machte und von dem auch Jerusalem nicht unberührt bleiben konnte. Das tragende Element der Hellenisierung waren die Städte. Die Ptolemäer, die in Ägypten kaum neue Städte gründeten, hatten in Syrien und Palästina doch erheblich zum Ausbau der Städte beigetragen. Samaria war schon zur Zeit Alexanders als griechische Stadt neu konstituiert worden. Im Osten und Westen Palästinas entstanden in ptolemäischer und seleukidischer Zeit Griechenstädte, die meist Neugründungen alter Städte waren: an der phönizischen Küste u. a. Ptolemais (ehemals Akko), Jamnia, Askalon, Gaza; südlich und östlich des galiläischen Meeres die Städte, die später in römischer Zeit fast alle der „Dekapolis" angehörten: Pella, Philadelphia (Rabbath-Ammon, jetzt Amman), Gadara, Skythopolis (Beth-Schean), Seleukia in Baschan, und vor allem Gerasa, das von Antiochos IV. als Antiochia neu gegründet wurde und bis in die späte Kaiserzeit eine der großartigsten und wichtigsten Städte Westsyriens war. Die Einwohner dieser Städte waren zum Teil Makedonen und Griechen, aber überwiegend hellenisierte Syrer, Phönizier, Araber und natürlich auch Juden. Das Eindringen griechischer und hellenisierter orientalischer Elemente, eines neuen Lebensstils und fremder Religionen war eine zwangsläufige Folge. Die Götter, die in diesen Städten verehrt wurden, waren orientalische Götter unter griechischen Namen (ζ. B. Astarte als Aphrodite in Askalon) oder griechische Götter, die von den Gründern eingeführt worden waren (so z.B. Dionysos in Skythopolis: auf Münzen erscheint Nysa, der Geburtsort des Dionysos, als offizieller Name der Stadt). Die streng zentralistische ptolemäische Verwaltung war nur teil-
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weise in Palästina und Syrien eingeführt worden. Neben königlichen Beamten, die die Königsländereien in unmittelbarem Auftrag des Königs bewirtschafteten, blieben große Teile des Landes unter der beschränkten Autonomie von Städten, Tempeln und Fürsten. Zu diesen Tempeln gehörte der Bezirk Jerusalems; unter den Fürsten sind die reichen Tobiaden des Ostjordanlandes, die traditionellen Feinde Jerusalems aus der persischen Zeit, am besten bekannt. Der Tobiade Joseph (2. Hälfte des 3. Jh.) - sein Vater war ptolemäischer Militärbevollmächtigter des Ostjordanlandes, seine Mutter eine Tochter des Hohenpriesters in Jerusalem - wurde 22 Jahre lang der ägyptische Finanzverwalter für Syrien. Obgleich Joseph Israelit war, erscheint er doch als typisch hellenistischer Finanzmann, der mit politischer und wirtschaftlicher Macht auch den griechischen Lebensstil übernommen hatte. In der jüdischen Oberschicht jener Zeit stand er wohl kaum einzig da. Wahrscheinlich waren die führenden Priesterfamilien Jerusalems, mit denen die T o biaden durch Heirat und auch geschäftlich verbunden waren, weitgehend ebenso hellenisiert. An alledem änderte der Ubergang unter die seleukidische Herrschaft am Anfang des 2. Jh. vChr grundsätzlich nichts. Er brachte zunächst lediglich gewisse Verschiebungen der internen Machtverhältnisse. Dennoch steuerte die Entwicklung bald auf eine Krise zu, die mit der Frage der Hellenisierung in engem Zusammenhang steht. c) Der Makkabäeraufstand Ursprung und Anlaß des Aufstands sind umstritten. Sicher wirkten eine Reihe verschiedener Faktoren mit. Schon vor der Eroberung Palästinas durch Antiochos III. hatte es dort eine starke proseleukidische Partei gegeben. Zu ihr gehörte der Hohepriester Simon (der Gerechte?) ebenso wie die älteren Söhne des Tobiaden Joseph, also die mächtigsten jüdischen Familien des Landes. S o ist es weder verwunderlich, daß der neue Herrscher Antiochos III. ungewöhnlich herzlich begrüßt wurde, noch auch, daß er die „ G e setze der V ä t e r " , auf denen die theokratische Verwaltung und das religiöse Leben des Volkes beruhten, ausdrücklich bestätigte. Man muß sich aber daran erinnern, daß jene führenden jüdischen Kreise, denen so die „Gesetze der V ä t e r " garantiert wurden, bereits hellenisiert waren, allen voran die wohlhabenden und einflußreichen Tobiaden. Daß diese Kreise in zunehmenden Gegensatz zu denen geraten konnten, die am alten Glauben mit seinen überkommenen
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Formen des Lebens und der Kultur festhielten, liegt auf der Hand. Der Gegensatz zwischen fortschreitender Hellenisierung und traditioneller Religion bot aber weder genug Konfliktstoff noch hinreichende politische Motivierung zu einem langwierigen und blutigen Aufstand und Befreiungskrieg. Aus der einzigen (und nicht immer zuverlässigen) Quelle für die Entwicklungen vor dem offenen Ausbruch des Konfliktes, dem 2. Makkabäerbuch, geht immerhin hervor, daß ein wichtiger Faktor in den innerpolitischen Streitigkeiten führender (Priester-)Familien Jerusalems lag. Jedoch fällt der offene Ausbruch der Feindseligkeiten in die Zeit der Demütigung des syrischen Königs Antiochos IV. Epiphanes durch die Römer (s.o. §1.4d) und der zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten des Seleukidenreiches. Schließlich haben auch Elemente utopischer apokalyptischer Vorstellungen, die sich seit dem Exil herausgebildet und verbreitet hatten, eine erhebliche Rolle gespielt (s.u. §5.2b). Gerade das 2.Jh. der hellenistischen Epoche ist durch eine Anzahl von revolutionären Bewegungen charakterisiert, in denen sich Elemente utopischer Hoffnungen zu Wort melden (vgl. den Aufstand der Anhänger des Sonnenstaates in Pergamon; s.o. § 1.4b). Soweit sich der Hergang der Ereignisse rekonstruieren läßt, begann der Konflikt mit einem Streit der pro-syrischen und der proägyptischen Parteien um das Amt des Hohenpriesters und um die Kontrolle der mit dem Tempel verbundenen finanziellen Machtposition. Nach dem Tode des Hohenpriesters Simon (nach 200 vChr) aus der Familie der Zadokiden folgte ihm sein Sohn Onias III. Jedoch hatte dieser offenbar Beziehungen zu Ägypten und unterstützte den jüngsten Sohn des Tobiaden Joseph, der sich mit seinen älteren Brüdern, die Freunde und Parteigänger des verstorbenen Hohenpriesters Simon waren, entzweit hatte und dessen Bankkonto jetzt von dem neuen Hohenpriester Onias als Teil des Tempelschatzes verwaltet wurde. Die Ermordung des syrischen Königs Seleukos IV. im Jahre 175vChr gab den Tobiaden und ihren hellenistischen Parteigängern die Gelegenheit, Onias zu vertreiben und dessen Bruder Jason (griechische Form seines hebräischen Namens Josua) an seine Stelle zu setzen - mit Unterstützung des neuen Herrschers Antiochos IV. Epiphanes, von dem Jason das Hohepriesteramt faktisch kaufte. Gleichzeitig erhielt Jason vom König die Erlaubnis, Jerusalem als eine griechische Stadt mit dem Namen Antiochia neu zu gründen, d.h. einen Stadtrat einzusetzen, der an die
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Stelle des Ältestenrates (der Gerusia) trat, und die Versammlung der stimmberechtigten Bürger zu organisieren, sowie ein Gymnasium zu bauen und das Ephebeninstitut einzurichten. Ob es sich dabei auch um eine gleichzeitig durchgeführte religiöse Reform handelte, ist nicht klar. Auf der einen Seite wird in den erhaltenen Quellen Jason nie vorgeworfen, daß er „die Gesetze der Väter" mißachtet habe. Auf der anderen Seite scheint es nach sämtlichen Analogien selbstverständlich, daß der traditionelle orientalische Gott (der für die Griechen namenlose Jahweh) bei der Hellenisierung einer Stadt auch mit einer griechischen Gottheit (in diesem Falle mit Zeus Olympios) gleichgesetzt wurde. Weder Antiochos IV. noch seine Vorgänger hatten bei dieser Hellenisierung anderer Städte von sich aus in die Formen des Kultes und die religiösen Konventionen eingegriffen. Wäre es auch in Jerusalem bei der bloßen Namensgleichsetzung geblieben, so hätte das wohl kaum zu einem Aufstand geführt. Eine Wende brachte die Vertreibung Jasons, der zwar der Reformpartei angehörte, aber als legitimer Zadokide den Fortbestand der „Gesetze der Väter" auch für die Konservativen zu garantieren schien. An Jasons Stelle trat aber jetzt Menelaos (172 vChr), der Bruder eines höheren Tempelbeamten namens Simon. Er schien der Reformpartei genehmer zu sein, wurde von den Tobiaden gestützt und hatte dem König für das Amt des Hohenpriesters eine noch höhere Summe angeboten als Jason. Erst jetzt spitzte sich die Lage zu. Es zeigte sich, daß im Amt des Hohenpriesters mehr auf dem Spiel stand als nur die Interessen der führenden Aristokratie. Der Hohepriester war der Garant des religiösen Gesetzes für das ganze Volk. War er nicht legitim, so war faktisch die Verfassung des Gemeinwesens gefährdet. Der Widerstand des Volkes wuchs. Nur mit Mühe konnte sich Menelaos im Amt halten. Als er in Antiochien weilte, wurde sein Bruder Lysimachos, den er als Stellvertreter eingesetzt hatte, in Jerusalem erschlagen. Die außenpolitischen Ereignisse machten es außerdem möglich, daß sich der Widerstand der „Frommen" organisieren konnte. Die „Frommen" (Hasidim; zu ihnen gehörte das Haus der Makkabäer, und aus ihnen gingen später die Pharisäer und die Essener hervor) formierten sich zu einer politischen Bewegung, die es nicht mehr zulassen wollte, daß diese Frage einfach als Streit der Aristokraten um die Vorherrschaft ausgetragen wurde. Antiochus Epiphanes führte 169 und 168 zwei Feldzüge gegen
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Ägypten. Auf der Rückkehr vom ersten Feldzug besuchte er als Freund die Bürger seiner neuen griechischen Polis „Antiochia-Jerusalem"; er ließ dabei freilich die Schätze des Tempels nicht ungeschoren, denn die finanzielle Krise des Seleukidenhauses hatte solche Ausmaße angenommen, daß die Könige wiederholt zu derartigen Maßnahmen griffen. Der dadurch erneut angestachelte Zorn des Volkes, verbunden mit einem (erfolglosen?) Versuch Jasons, sich der Stadt zu bemächtigen, führte nach diesem ersten Besuch des Königs dazu, daß die Altgläubigen von der Stadt Besitz ergriffen und Menelaos und die Anhänger der Reform auf der Akra, dem befestigten hellenistischen Quartier, einschlossen. Damit war der Ausbruch des Aufstandes nicht mehr zu übersehen. Antiochos, der gerade in Ägypten von den Römern gedemütigt worden war durch ein Ultimatum des römischen Senates war er gezwungen worden, alle seine ägyptischen Eroberungen aufzugeben - reagierte sofort. Er (oder sein Beamter Apollonius) eroberte Jerusalem, ermordete oder vertrieb die jüdischen Einwohner der Stadt und machte sie zu einer „Katoikia", d.h. zu einer Stadt, in der Soldaten, Veteranen und andere Neusiedler (meist Syrer) an Stelle der alten Einwohner die Bürgerschaft bildeten. Erst jetzt schritt der Statthalter des Antiochos, Apollonios, zur Verfolgung der Altgläubigen, nicht aus religiösen Gründen, sondern um das rebellische Volk zu unterwerfen (die traditionelle Reihenfolge der Ereignisse, nach welcher der Aufstand erst die Reaktion auf die Verfolgung war, läßt sich nicht halten). Erst jetzt wurde der Tempelkult Jahwehs - seit der Reform als Kult des Olympischen Zeus bezeichnet - zum Kult eines nur oberflächlich hellenisierten syrischen Baal, des Zeus Baal Schamin, der in einem heiligen Stein im Tempel zusammen mit seinen Konsorten „Athene" und „Dionysos" verehrt wurde. Und erst jetzt wurden die „Gesetze der Väter" ausdrücklich außer Kraft gesetzt; denn sie hatten mit der Verfassung der neuen syrisch-griechischen Bürgerschaft der Katoikia Antiochia-Jerusalem ja nichts zu tun. Die Dekrete des Antiochos vom Jahre 167, die diesen Kult legitimierten und die Verehrung des jüdischen Gottes für Jerusalem und Judäa (nicht aber für jüdische Gemeinden außerhalb dieses Bereichs) verboten, brachten die religionspolitische Neuorganisation zum Abschluß. Die Verfolgung der Altgläubigen ergab sich daraus zwangsläufig; welche Ausmaße sie annahm, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen, da das meiste in den Makkabäerbüchern darüber aufbewahrte Material le-
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gendär ist. Das Dekret des Antiochos sah mit vollem Recht in denen, die der jüdischen Religion treu anhingen, das Herz des Widerstandes. Daher wurde die Bevölkerung gezwungen, am heidnischen Kult teilzunehmen; die Beschneidung wurde verboten. Das Essen von Schweinefleisch war der Prüfstein der Loyalität; wer sich weigerte, bezeugte damit in den Augen der königlichen Beamten, daß er der Rebellion angehörte. Daß dadurch viele Bekenner auf grausame Weise den Tod erlitten, steht außer Zweifel. Andere zogen es vor, in die Berge Judas zu fliehen und sich den Widerstandskämpfern anzuschließen, die ein gewisser Judas mit dem Beinamen Makkabäus ( = der Hammer) organisierte - so berichtet 2. Makk. 5,28 und 8,1. Da das Haus der Hasmonäer nicht von Judas abstammte, sondern von seinem älteren Bruder Simon, stellte der offizielle Hofchronist der Hasmonäer, der das 1. Makkabäerbuch verfaßte, die Anfänge anders dar: nicht Judas, sondern sein und Simons Vater Mattathias habe die Widerstandsbewegung aufgebaut (1. Makk. 2). Da dieser organisierte Aufstand sicher an die Kämpfe der Hasidim gegen die hellenistischen Reformer anknüpfte, konnte er sich zu einer religiös-nationalen Bewegung entwickeln. Weil er sich aber wegen der Verfolgungsdekrete des Antiochos als Guerillakrieg entwickeln mußte, fiel die Führung naturgemäß an jemanden, der sich auf diese Kriegsmethode verstand. Der spätere Bruch der aus den Hasidim hervorgegangenen religiösen Gruppen der Essener und Pharisäer mit dem Hause der Verwandten dieses Guerillaführers Judas ist hier schon vorgezeichnet. Auf der anderen Seite war die Regierung des Antiochos recht erfolgreich, alle etablierten Mächte und Interessengruppen zur Bekämpfung des Aufstandes zusammenzubringen, nämlich die griechischen Städte, die nichtjüdische Bevölkerung der Nachbargebiete, die Samaritaner und schließlich auch diejenigen Juden, die dem Hellenismus zuneigten und für die Befriedung des Landes eintraten, einschließlich der hellenisierten Aristokratie Jerusalems unter Führung des von Antiochus eingesetzten Hohenpriesters Menelaos. Nach vierjährigem Kampf, in dem die Guerillas unter Judas mehrere Erfolge errungen hatten (168-164), gelang es den hellenistischen Juden Jerusalems sogar, von Antiochos die Aufhebung der Edikte gegen die jüdische Religion zu erwirken (die neuen Dekrete sind in 2. Makk. 11,16-21. 27-32 aufbewahrt); bis zu einem festgesetzten Termin durften alle, die wegen der Verfolgung geflohen
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waren, zurückkehren, es wurde ihnen das Recht garantiert, ihre Religion frei auszuüben. Erfolg hatte dieses Einlenken allerdings nicht: kurze Zeit nach der Bekanntgabe dieser Edikte eroberte Judas Jerusalem; die Hellenisten mußten sich auf die befestigte Akra zurückziehen. Antiochos Epiphanes war zu dieser Zeit im Osten und kämpfte gegen die Parther, wo er 163 starb. Sein Gouverneur Lysias, der als Statthalter des Westens für den jüdischen Bereich verantwortlich war, konnte nicht unmittelbar eingreifen, da er wegen der Thronfolge in Antiochien gebunden war. Das gab Judas die Gelegenheit, nicht nur seine Macht zu festigen und durch kriegerische Unternehmungen sogar über Judäa hinaus seine Feinde zu demütigen, sondern auch einen Kompromiß mit dem neuen König Antiochos V. Eupator abzuschließen, in dem der Tempel in Jerusalem auch offiziell der jüdischen Religion zurückgegeben wurde (162vChr; vgl. das Dokument 2. Makk. 11, 22-26). Als neuer Hoherpriester - Menelaos wurde hingerichtet - wurde Alkimos ernannt, der wahrscheinlich dem Hause des Onias angehörte, also ein legitimer Zadokide war, jedoch als Hellenist von Judas nicht akzeptiert wurde. Kurz darauf wurde Antiochos V. jedoch von seinem Vetter Demetrios I. Soter (162-150vChr) beseitigt. Alkimos fand bei diesem ein williges Ohr und, was mehr zählte, die Hasidim in Jerusalem waren jetzt bereit, Alkimos als Hohenpriester zu akzeptieren. Judas jedoch begann den Kampf von neuem. Aber jetzt war der Vorteil auf Seiten der Zentralregierung. Demetrios' General Bakchides besiegte die Armee des Judas, dem die Hasidim die Unterstützung versagt hatten, da sie wohl mit dem bisher Erreichten zufrieden waren. Judas fiel in der Schlacht (160vChr). Alkimos starb allerdings kurz darauf, und der syrische Befehlshaber Bakchides war bereit einzulenken. Er schloß mit Judas' Bruder Jonathan einen Vertrag, nach dem dieser als „Richter" mit dem Sitz in Michmasch (einem Ort in der Nähe Jerusalems) sich niederlassen, aber nicht in die Affären Jerusalems eingreifen durfte (157vChr). Damit schien der Makkabäeraufstand beendet, die syrische Oberhoheit wieder hergestellt und die Religionsfreiheit garantiert. Das Amt des Hohenpriesters blieb vakant. Erst nach Jahren des Friedens (157-153) gaben die syrischen Thronwirren den Anlaß zur Erneuerung des Krieges. Jetzt aber ging es lediglich um die Frage politischer Macht. Jonathan und später sein Bruder Simon wußten die inneren Wirren des seleukidi-
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sehen Reiches jeweils zu ihrem Vorteil zu nutzen, mit wechselndem Erfolg, aber mit dem schließlich erreichten Ergebnis der politischen Freiheit. 153vChr versuchte Alexander Balas, sich in den Besitz des syrischen Thrones zu setzen. Der bedrohte Herrscher Demetrios I. suchte Jonathans Unterstützung und erlaubte ihm dafür, Jerusalem zu besetzen. Jonathan ging darauf ein, schlug sich dann aber auf die Seite Alexanders, der ihn zur Belohnung zum Hohenpriester ernannte - im Jahre 152vChr erschien Jonathan zum ersten Male öffentlich in seinem Amt - und ihn nach seinem Siege über Demetrios (150vChr) als Freund des Königs und als Strategen und Statthalter Judäas hoch ehrte. Der Grundstein zum Aufbau des Hasmonäerstaates war damit gelegt. d) Die Zeit der Hasmonäer Der Aufstieg der Hasmonäer zu Königen eines unabhängigen Landes und die Ausweitung ihrer Herrschaft über das gesamte Palästina erforderte eine Ausnutzung der fortwährenden innersyrischen Wirren und der Verschiebung der internationalen Machtverhältnisse. Jonathan schien dies soweit geglückt zu sein. Auch als 145vChr der junge Sohn des Demetrios I. sich als Demetrios II. Nikator gegen Alexander Balas den syrischen Thron erkämpft hatte, verstand er es, seine Stellung zu festigen; von dem neuen Herrscher wurden ihm die südlichen Kreise Samariens zugesprochen. Kurz darauf jedoch wurde Jonathan ein nochmaliger Frontwechsel zum Verhängnis. Diodotos Tryphon erhob sich gegen Demetrios II., um für Antiochos VI., den unmündigen Sohn des Alexander Balas, (im Grunde jedoch f ü r sich selbst) den Thron zu erringen. Jonathan ließ sich von dem neuen Prätendenten in seinem Amt bestätigen und seinen Bruder Simon zum Strategen des Küstendistrikts ernennen. Beide eroberten das ganze Gebiet von der philistinischen Küste bis nach Galiläa und Damaskus. Warum Tryphon daraufhin Jonathan gefangen setzte und später umbrachte, ist nicht bekannt. Jedenfalls wandte sich sein Bruder und Nachfolger Simon, der letzte der fünf Söhne des Mattathias, wieder Demetrios zu, der ihn in der Herrschaft über Judäa anerkannte, den Juden Steuerfreiheit zusagte und es duldete, daß Simon die syrische Besatzung der Akra Jerusalems vertrieb (142-141 vChr). Bedeutete dies schon faktisch politische Unabhängigkeit, so wurde das in den weiteren Schritten Simons vollends deutlich. Simon eroberte Gezer (im Westen Jerusalems) und Jaffa und ver-
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schaffte sich so einen Zugang zur Küste; er knüpfte Beziehungen zu Sparta und zu Rom an; und er begann, offizielle Dokumente nach seinen Regierungsjahren zu datieren. Während Jonathan wie seine Vorgänger vom syrischen König als Hoherpriester eingesetzt worden war, ließ sich Simon jetzt außerdem noch von einer „Großen Versammlung der Priester, der Laien, der Obersten des Volkes und der Altesten des Landes" als Priesterfürst bestätigen und die Titel „Regent", „Hoherpriester auf ewige Zeit bis zum Auftreten eines glaubwürdigen Propheten", und „Feldherr" zuerkennen (140vChr). Das sieht aus wie die Erfüllung der Hoffnungen, die fast 30 Jahre vorher die Altgläubigen, die Frommen und die politischen Rebellen zum Kampf gegen Antiochos Epiphanes einigte, und so will es auch der Verfasser des 1. Makkabäerbuches, der dies im 14. Kapitel aufzeichnete, verstanden wissen. Die politische und religiöse Problematik dieses Schrittes ist aber ebenfalls deutlich. Wenn auch der Königstitel noch vermieden wird, so ist es dennoch die Selbständigkeits- und Vollmachtserklärung eines Fürsten nach hellenistischem Muster. Seine Stellung beruht auf seiner militärischen Macht; er hat allein das Recht, sich mit Purpur und mit einer goldenen Spange zu kleiden; jeder Widerstand oder Ungehorsam wird ausdrücklich unter Strafe gestellt. Schließlich werden seine Res Gestae (von den anderen Mitgliedern seiner Familie, die doch im wesentlichen die Freiheit erkämpft hatten, ist darin kaum noch die Rede) zum Zeichen seiner Macht auf bronzenen Tafeln verzeichnet und öffentlich im Tempelbezirk aufgestellt. Daß das Hohepriestertum Jonathans und Simons keine Legitimität besaß, da sie keine Zadokiden waren, wird verständlicherweise im 1. Makkabäerbuch, der offiziellen Geschichtsdarstellung der Hasmonäer, nicht gesagt. Aber wenigstens ein Teil der Hasidim, die durch die Qumrantexte inzwischen gut bekannt gewordenen Essener, scheinen sich zu diesem Zeitpunkt, freiwillig oder gezwungen, ins Exil begeben zu haben. Unter Führung des „Lehrers der Gerechtigkeit", der ein zadokidischer Priester war, gründeten sie in der Wüste am Toten Meer ihre eigene Niederlassung. Für sie war Simon (oder vielleicht schon Jonathan?) der „gottlose Priester", der den Lehrer der Gerechtigkeit grausam verfolgte (s.u. § 5.2c). Es nimmt nicht Wunder, daß das Dekret des 1. Makkabäerbuches auch ausdrücklich Priester mit Strafe bedroht, wenn sie den Bestimmungen des Dekrets zuwiderhandeln. Ein anderer Teil
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der Hasidim, die Pharisäer, sollten später ebenfalls die Verfolgung der Hasmonäer erfahren. So sehr das hasmonäische Haus in den folgenden Jahren den jüdischen Staat einer nur mit Davids und Salomos Zeiten vergleichbaren Machtfülle zuführte, so wenig konnte es von den Frommen als Erfüllung der religiösen Hoffnungen Israels angesehen werden. Im Jahre 139vChr fiel der Thron des Seleukidenreiches zum letzten Male in seiner Geschichte an einen fähigen Herrscher, Antiochos VII. Sidites. Der neue König war zwar bereit, Simons Selbständigkeit anzuerkennen, verlangte aber die Herausgabe von Gezer und Jaffa sowie die Wiedereinrichtung des syrischen Militärstützpunktes auf der Akra. Simon weigerte sich, und in dem daraufhin ausbrechenden Krieg wurde Antiochos' General von Simons Söhnen Judas und Johannes (Hyrkanus) geschlagen. Kurz darauf fiel jedoch Simon bei einem Trinkgelage einer Verschwörung seines Schwiegersohnes Ptolemaios zum Opfer, der auch Simons Frau und zwei seiner Söhne ermordete, sich aber des Johannes Hyrkanus nicht bemächtigen konnte (135vChr). Inzwischen fiel Antiochos Sidites mit einer neuen Armee in Judäa ein. Zwar hatte Johannes Hyrkanus sich gegen seinen Rivalen Ptolemaios durchsetzen und in die Amter seines Vaters eintreten können, war aber nicht imstande, Antiochos zu widerstehen, und wurde in Jerusalem eingeschlossen. In einem Vergleich verlor er alle Neueroberungen seines Vaters und verpflichtete sich zu größeren Tributzahlungen, behielt aber seine Selbständigkeit, und die Akra blieb in jüdischer Hand. Als Antiochos Sidites 129vChr in einem Feldzug gegen die Parther, an dem auch Johannes Hyrkanus teilnehmen mußte, fiel, endete die Gefahr einer syrischen Einflußnahme auf die Geschicke des jüdischen Staates, da von nun an das seleukidische Reich endgültig politisch ohnmächtig wurde. Die folgenden Jahrzehnte sind charakterisiert durch die schrittweise Eroberung des gesamten palästinischen Gebietes, einschließlich des Küstenstreifens und der griechischen Städte. Die meisten Eroberungen fallen in die lange Regierungszeit des Hyrkanus (bis 104vChr), andere in die seiner Söhne (Judas) Aristobulus (104) und Alexander Jannäus (104-78). Unter den kulturellen und religiösen Problemen, die dadurch entstanden, ist das der Griechenstädte das bedeutsamste. Hellenisierung des Landes war ja mit der Gründung griechischer Städte gleichbedeutend gewesen. O f t waren die Bürger dieser Städte keine Griechen, sondern hellenisierte Phöni-
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zier, Syrer usw. Aber die Idee der freien Stadt - „frei" durch Verfassung und Selbstverwaltung - als Zentrum des kulturellen und kommerziellen Lebens war griechisch, ebenso wie das Recht zur Erziehung (Gymnasien gehörten zu den wichtigsten Institutionen) und zur Ausübung der eigenen Religion, sobald dem Kult der offiziellen Götter Genüge getan war. Der Aufbau eines jüdischen Staatswesens unter den Hasmonäern war mit der Idee dieser griechischen Stadt unvereinbar. Der Makkabäeraufstand hatte sich an dem Versuch entzündet, Jerusalem zu einer griechischen Stadt zu machen. Schon der Gedanke eines kulturellen und religiösen Pluralismus mußte in Bezug auf Jerusalem unerträglich sein. Vom Standpunkt der Tradition des jüdischen Glaubens her gesehen lag die konsequente Fortführung des Aufstandes in der Rückführung des ganzen Landes zum Glauben an den Gott Israels. Dazu kam die politische Einsicht, daß sich die Existenz unabhängiger Städte, die gleichzeitig ökonomische Machtpositionen innehatten, mit den Interessen eines kleinen Nationalstaates nicht vereinbaren ließ. So wurden fast alle griechischen Städte des palästinischen Raumes von den Hasmonäern erobert (nur Akko-Ptolemais an der Küste und Ammon-Philadelphia in Transjordanien blieben selbständig), die Bevölkerung vertrieben oder gezwungen, sich zum Judentum zu bekennen, und die verbleibenden Siedlungen ohne Erneuerung ihrer Stadtrechte dem hasmonäischen Reich einverleibt. Damit war dem Hellenisierungsprozeß des Landes das wichtigste gesellschaftliche Strukturelement genommen, obwohl griechische Elemente, Sitten und Sprache sich in Palästina weiter hielten. Der Hellenismus des Herrscherhauses war auf der anderen Seite im politischen Gebaren und in den äußeren Selbstdarstellungen evident. Johannes Hyrkanus änderte die Namen seiner Söhne Judas, Mattathias und Jonathan in Aristobulos, Antigonos und Alexander. Aristobulos bezeichnete sich als „Philhellenos" und nahm den Königstitel an, allerdings nur gegenüber dem Ausland - seine Münzen weisen ihn lediglich als „Johannes, den Hohenpriester" aus. Offenbar begann schon Johannes Hyrkanus damit, fremde Söldner anzuwerben. Im übrigen verfolgte das Herrscherhaus nur zwei Ziele: Vergrößerung der Macht des jüdischen Staates und Unterwerfung aller Einwohner des Landes, die sämtlich gezwungen wurden, jüdische Untertanen zu werden. Während in den Anfängen des Unabhängigkeitskrieges die ideologische Komponente vorherrschte, den Tempel, die Stadt und das
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Land von den heidnischen Greueln zu befreien, wurde die Religion jetzt in den Händen der Hasmonäer zu einem Mittel, alle Einwohner an Jerusalem zu binden, wo der Herrscher zugleich Hoherpriester war. Bei der Eroberung Idumäas wurden alle männlichen Einwohner gezwungen, sich beschneiden zu lassen. Das gleiche geschah bei der Eroberung der griechischen Städte, soweit die nichtjüdischen Einwohner nicht getötet oder vertrieben wurden. Auch die samaritanische Hauptstadt Sichern wurde erobert, der Tempel auf dem Berg Garizim zerstört und die Samaritaner gezwungen, die religiöse Oberhoheit Jerusalems anzuerkennen. Daß sich die ideale Vorstellung von der Gemeinde der Erwählten Gottes immer weniger mit der Realität der jüdischen Kultgemeinde zur Deckung bringen ließ, ist nicht nur aus der Literatur der Essener ersichtlich. Auch die Partei der Pharisäer (über Entstehung und Anfänge s.u. §5.2d), eine Fortsetzung der politisch engagierten Hasidim der Makkabäerzeit, scheint dieser Politik der Hasmonäer ebenfalls kritisch gegenüber gestanden zu haben. Zu einem offenen Ausbruch des Konfliktes kam es in der Zeit des Alexander Jannäus, der nach kurzer Regierung seines Bruders Aristobulus I. (104vChr) Hoherpriester wurde (104-78 vChr) und die Eroberungspolitik seines Vaters fortsetzte. Im Jahre 94 kam es zu einer anscheinend von den Pharisäern instigierten Revolte, die zu einem sechs Jahre dauernden Bürgerkrieg und zu einem Eingreifen des syrischen Königs Demetrios III. zugunsten der Aufständischen führte. Jannäus blieb schließlich Sieger und ließ 800 Führer der Rebellen kreuzigen. Unter der Regierung der Witwe des Jannäus, Alexandra (78-69vChr) erscheinen die Pharisäer als Regierungspartei, die sich nicht scheute, von der Macht effektiven Gebrauch zu machen (Rückberufung der Verbannten und Bestrafung der Berater des Jannäus). Nach dem Tode Alexandras verfiel die Herrschaft der Hasmonäer in den Intrigen und Kämpfen ihrer Söhne. Hyrkanus wurde von seinem jüngeren Bruder Aristobulus verdrängt und suchte Schutz bei den Nabatäern in Petra. Im Verein mit diesen und der eigentlichen treibenden Kraft, dem Idumäer Antipater (Sohn des Statthalters von Idumäa und Vater der Herodes), wurde Aristobulus geschlagen und mußte sich im Tempel verschanzen (65vChr). In dieser Situation wandten sich beide Seiten an Pompeius, der inzwischen im Osten erschienen war und mit der Neuordnung der Verhältnisse in den ehemaligen seleukidischen Ländern im Sinne
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der römischen Interessen begonnen hatte. Mit der Eroberung Jerusalems durch Pompeius (63vChr) endet die Geschichte des hasmonäischen Reiches, wenn auch einige Mitglieder dieses Herrscherhauses in den folgenden Jahren noch eine untergeordnete Rolle spielen sollten (s.u. § 6. 6a und d). e) Die jüdische Diaspora Die Geschichte der Juden Palästinas der hellenistischen Zeit ist nur ein Teilausschnitt aus der Geschichte des jüdischen Volkes in dieser Periode. Seit dem babylonischen Exil lebte der größere Teil des Volkes, oder wenigstens der Oberschicht, außerhalb Palästinas. Die Rückkehr der Exulanten nach Jerusalem änderte daran wenig. Während der hellenistischen Epoche, die ja ohnehin große Wanderbewegungen auch anderer Völker mit sich brachte, vergrößerte sich der Anteil der in der Zerstreuung lebenden Juden erheblich, so daß die jüdische Diaspora zunehmend Gewicht erhielt und sich kulturell und religiös selbständig entwickelte. Die babylonische Diaspora bestand seit dem Exil. N u r ein Teil machte von der Möglichkeit Gebrauch zurückzukehren, und auch diejenigen, die später mit Nehemia und Esra nach Jerusalem gingen, ließen eine große jüdische Volksgruppe in Babylon zurück. Die wichtigsten Städte, in denen in der hellenistischen Zeit dort Juden wohnten, waren das von Alexander neugegründete Babylon sowie Seleukia am Tigris, seit Seleukos I. (312vChr) als Hauptstadt die Handelsmetropole und volkreichste Stadt des Ostens. Die Hellenisierung der zum großen Teil orientalischen Einwohner dieser Städte berührte auch die jüdische Diaspora, wenn auch nicht im gleichen Maße wie in Alexandrien. Da die babylonischen Juden bis zum Anfang der römischen Zeit einen starken Einfluß auf Palästina ausübten (der bedeutendste Lehrer der pharisäischen Bewegung, Hillel, stammte aus Babylon)^ kamen auch auf diesem Wege hellenistische Einflüsse zu den J u d e ^ d e s Heimatlandes. Das Band zwischen Babylon und Palästina war schon deshalb eng, weil hier wie dort die Mehrzahl der Juden aramäisch sprach, während sich in der Diaspora Ägyptens, Kleinasiens und des Westens die griechische Sprache durchsetzte. Die babylonischen Juden waren gegenüber den seleukidischen und parthischen Herrschern nicht feindlich gesinnt. Rom hingegen scheinen sie weniger freundlich gegenübergestanden zu haben. Die schriftgelehrte Tradition der babylonischen Diaspora ist bemerkenswert. Bei der Neuordnung
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nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer wurde bei den Rabbinen in Jamnia der babylonische Text der hebräischen Bibel maßgebend (er ist die Grundlage des in unseren modernen Ausgaben abgedruckten masoretischen Textes), der den bis dahin in Palästina gebräuchlichen Text verdrängte; der letztere hat sich nur in der griechischen Ubersetzung der Septuaginta, im Pentateuch der Samaritaner und in den jüngst in Qumran gefundenen Handschriften erhalten. Später wurde der babylonische Talmud die maßgebliche Kodifizierung der rabbinischen Traditionen. In anderen Städten des Ostens gab es viele jüdische Gemeinden, so in Dura-Europos, Edessa, Nisibis. Aber meist handelte es sich hier um kleinere Gruppen. Einen Sonderfall stellt Abiabene dar, ein von einer parthischen Fürstenfamilie regierter Bezirk östlich des oberen Tigris (das alte Assyrien) mit einer starken jüdischen Bevölkerung (vielleicht lebten dort noch Israeliten des Nordreichs, die von den Assyrern am Ende des 8.Jh.vChr ins Exil gebracht worden waren). Am Anfang der christlichen Zeitrechnung ist hier sogar der regierende Fürst mit seiner Mutter zum Judentum übergetreten (das ist von Josephus, Ant. 20.17 ff, ausführlich beschrieben). Aber die ägyptische Diaspora sollte diejenige Babylons bald an Bedeutung übertreffen. Größere jüdische Kolonien gab es in Ägypten schon in persischer Zeit. Eine jüdische Gruppe wanderte nach der babylonischen Eroberung Jerusalems nach Ägypten und zwang den Propheten Jeremia mitzugehen; Jeremia ist in Ägypten gestorben. In Elephantine in Oberägypten bestand im 6. Jh. eine jüdische Militärkolonie, die ihren eigenen Tempel besaß; sie ist durch dort gefundene Papyri bekannt geworden. Weitere Juden kamen mit der persischen Eroberung nach Ägypten. Nach der Gründung Alexandriens durch Alexander den Großen bildete sich dort eine jüdische Gemeinde, die schon im 3.Jh.vChr recht groß war. Sie rekrutierte sich wahrscheinlich teils aus den schon vorher in Unterägypten ansässigen Juden, teils aus Neuzuzüglern aus Palästina, das seinerzeit zum ptolemäischen Reich gehörte. Jedenfalls stärkte die Zeit der Beherrschung Südsyriens durch die Ptolemäer die jüdische Diaspora Alexandriens und ihre ökonomische und soziale Position. Aber auch nach Beginn der seleukidischen Herrschaft über Südsyrien seit Beginn des 2.Jh.vChr hörten Zuzüge von Juden Palästinas nach Ägypten nicht auf. In Jerusalem gab es immer noch eine pro-ägyptische Partei, für die Ägypten Zufluchtsort war. Bezeichnend ist der Bericht über Onias, den Sohn des im
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Verlauf der hellenistischen Reform in Jerusalem gestürzten Hohenpriesters Onias III. Dieser Onias (IV.) war offenbar ein Söldnerführer in Ägyptens Dienst während der Regierung des Ptolemaios VI. Philometor (180-145vChr). Für ihn und seine Soldaten wurde in Leontopolis eine „Katoikia" gegründet und ein jüdischer Tempel gebaut. Die starke Stellung der Juden während dieser Zeit und die Tatsache, daß sie Philometor und dann seine Witwe gestützt hatten, führte zu einer Verfolgung der Juden durch seinen Rivalen und Nachfolger Ptolemaios VIII. Euergetes (seit 145vChr). Vielleicht ist dies die Quelle für die fälschlich dem Ptolemaios IV. zugeschriebene Judenverfolgung, auf der die im 3. Makkabäerbuch erzählte Legende beruht. Um lOOvChr tauchen zwei Söhne des Onias IV. als ägyptische Heerführer auf. Die ägyptische Diaspora hatte in der hellenistischen Zeit im großen und ganzen eine recht günstige Stellung. Die Juden lebten in Alexandrien keineswegs in einem „Ghetto", sondern verstreut in der Stadt und in ihrer Umgebung, wenn sie sich auch in zwei der fünf Bezirke konzentrierten. Sie waren nicht ohne politischen Einfluß und nahmen am kulturellen Leben der Stadt teil. Während die Diasporajuden in Babylonien und sonst im Osten aramäisch sprachen, war die Sprache der Juden Alexandriens griechisch. Hier entstand schon seit dem 3.Jh.vChr die später für die Christen maßgebliche griechische Übersetzung des Alten Testamentes (s.u. §5.3b) und ebenso viele weitere jüdische Schriften, teils original in griechischer Sprache, teils als Ubersetzung aus dem Hebräischen oder Aramäischen; und hier lebte und wirkte später der größte jüdische Philosoph des Altertums, Philo von Alexandrien (s.u.§5.3f). Die Ausstrahlungskraft der alexandrinischen Diaspora auf andere Länder des Westens war groß. Aus Ägypten kamen jüdische Einwanderer spätestens im 2.Jh.vChr in die Cyrenaika, wo eine bedeutende Diasporagemeinde entstand. Auf den Inseln der Ägäis, vor allem auf Kreta, befanden sich im Altertum jüdische Gemeinden - im 3.Jh.vChr wurden diese Inseln vom ptolemäischen Ägypten beherrscht. Da Alexandrien ein wichtiger Umschlaghafen für Exporte in den Westen war, darf man damit rechnen, daß auch die jüdische Diaspora Roms vom alexandrinischen Judentum abhängig war. Uber die Diaspora im weitlichen Syrien ist nicht viel bekannt. In der Hauptstadt Antiochien, die später auch Sitz des römischen Gouverneurs war, gab es spätestens seit dem 2.Jh.vChr eine jüdische Gemeinde. Auch für andere größere Städte wie Apameia
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und Damaskus sind Diasporagemeinden für diese Zeit bezeugt, und es gab viele jüdische Einwohner in den unmittelbar an Palästina angrenzenden Gebieten Syriens und Phöniziens. Nächst der babylonischen und ägyptischen Diaspora war diejenige Kleinasiens von besonderer Bedeutung. Die ersten sicheren Nachrichten stammen aus der Zeit um 200vChr: Antiochos III. siedelte 2000 jüdische Familien aus Babylonien im westlichen Kleinasien an, wohl als Militärkolonie. V o m Anfang der römischen Eroberung an (am Ende des 2. Jh.vChr) finden sich zahlreiche Erwähnungen von Juden und jüdischen Gemeinden in allen Landschaften des südlichen und westlichen Kleinasien, vor allem in den wichtigen Städten. Aber auch an der Schwarzmeerküste gab es eine jüdische Diaspora. Auffallenderweise sind so gut wie alle jüdischen Inschriften aus Kleinasien in griechischer Sprache verfaßt. Unter den ausgegrabenen Synagogen hat die Synagoge von Sardes in jüngster Zeit großes Aufsehen erregt: eine riesige Basilika, die von der Größe und der gesellschaftlichen Stellung der dortigen Gemeinde ein beredtes Zeugnis ablegt (der Bau hat allerdings erst seit dem 2. Jh. nChr als Synagoge gedient). Seit wann es eine jüdische Diaspora in Griechenland gab, ist nicht bekannt. Zu Beginn der römischen Kaiserzeit bestanden jüdische Gemeinden in den größeren Städten wie Thessalonich, Athen, Korinth und Argos. Es ist aber deutlich, daß in Griechenland viel weniger Juden lebten als in Kleinasien und auf den griechischen Inseln. Aus dem westlichen Teil des Mittelmeergebietes kommen die Nachrichten nur sehr spärlich. Sicher gab es hier weniger Juden als im Osten. Die ersten Diasporagemeinden bildeten sich in den griechischen Siedlungsgebieten Siziliens und Süditaliens. Die Kriege Roms im Osten seit dem 2.Jh.vChr brachten Juden zuerst als Kriegsgefangene nach Rom und Italien, w o viele im Laufe der Zeit die Freiheit erhielten und ansässig wurden. Die Stadt Rom wurde in der Kaiserzeit zum Zentrum des Judentums in der westlichen Reichshälfte: insgesamt 13 jüdische Synagogen sind in verschiedenen Teilen der Stadt (auch hier gab es kein jüdisches Ghetto) gefunden worden, außerdem jüdische Katakomben und Inschriften. Die Hellenisierung betraf als kulturgeschichtliche Entwicklung alle Juden, nicht nur der Diaspora, sondern auch Palästinas. Aber in der Diaspora, vor allen in den griechischen Städten, war sie tiefgreifender. In Palästina blieb die Gräzisierung hebräischer Eigenna-
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men auf das Königshaus und die Oberschicht beschränkt, wurde aber in der Diaspora allgemein. In Palästina war die griechische Sprache zwar verbreitet, verdrängte aber nicht das Aramäische; religiöse Literatur wurde in hebräischer Sprache abgefaßt, die Bibel weiter hebräisch überliefert und zum Gebrauch in den Synagogen ins Aramäische übersetzt. Hingegen war in Alexandria, Antiochien, Kleinasien und Rom die Sprache der Juden das Griechische. Die Bibel wurde schon seit dem 3.Jh.vChr ins Griechische übersetzt und im Synagogengottesdienst setzte sich diese Ubersetzung wie auch die Übernahme des Griechischen als Liturgiesprache schnell durch. Das gilt für die gesamte Diaspora, abgesehen von Babylon und den östlichen Provinzen. Es hat eine reiche jüdische Diasporaliteratur in griechischer Sprache gegeben, von der leider das meiste verlorengegangen oder nur fragmentarisch aufbewahrt ist. Schon in hellenistischer Zeit ging die Kenntnis des Hebräischen weithin verloren. In der Tat handelte es sich ja für die Mehrzahl der jüdischen Einwanderer, die aus dem Osten (Babylon oder Palästina) kamen, darum, daß die vertraute aramäische Umgangssprache durch das Griechische ersetzt wurde. Die Übernahme des Griechischen als Sprache der Bibel, der Liturgie, der Synagogenpredigt und der religiösen Literatur brachte gleichzeitig mit sich, daß hellenistische Ansichten und Vorstellungen eindrangen und die alttestamentliche Vorstellungswelt von Grund auf neu prägten. Theologische Aussagen erschienen nun als „Philosophie". Die Bücher der Bibel wurden zu Schriften philosophischer und religiöser Einsicht, die wie die Schriften Homers allegorisch interpretiert werden konnten. Die Schöpfungsgeschichte wurde zu einer Kosmogonie; religiöse Riten wie die Beschneidung und der Sabbat konnten spiritualistisch und symbolisch neu verstanden werden. Traditionelle jüdische Gebete nahmen in griechischer Übersetzung stoische Formulierungen auf. Griechisch sprechende Juden verfaßten ihre Schriften in hellenistischen Literaturformen und ließen ihre Werke manchmal unter dem Namen berühmter griechischer Schriftsteller aus der klassischen Zeit erscheinen (s.u. §5.3d und e). Das Christentum konnte bei seiner Mission in der griechisch sprechenden Welt in mannigfacher Weise an diese Hellenisierung des alttestamentlichen Erbes anknüpfen. Schließlich erscheint das hellenistische Diasporajudentum auch in seiner äußeren Gestalt und Organisationsform in einem griechischen Gewände. Die Diasporagemeinden waren im Blick auf ihren
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institutionellen Status „Vereine". Wie bei anderen Volks- und Religionsgruppen waren es entweder Vereine von Fremden einer bestimmten Herkunft, denen hinsichtlich der Niederlassung und Berufsausübung gewisse Rechte zugestanden wurden, oder Kultvereine wie sie auch von Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften organisiert wurden. Auch die griechischen Bezeichnungen für die Gemeindeämter wurden aus dem griechischen Vereinswesen übernommen. Juristische und geschäftliche Absprachen wurden auch dann, wenn sie zwischen Juden stattfanden, nach geltendem griechischen oder römischen Recht und immer in griechischer Sprache abgeschlossen. So sind diese Formen des Umgangs der Juden untereinander nicht von den Formen der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden unterschieden. Es ist daher wahrscheinlich, daß der hierarchische Aufbau der Autoritätsstrukturen, der im Zusammenhang mit dem Tempelkult in Jerusalem bestand, in den Diasporagemeinden durch das in griechischen Vereinen übliche demokratische Verfahren ersetzt wurde (Beschlußfassung durch alle versammelten Vollmitglieder oder durch einen gewählten Altestenrat). Eine überregional institutionalisierte Autorität hat es nicht gegeben. Insofern Jerusalem Autorität über die Diasporagemeinden besaß, war sie ideell und nicht institutionell. Diasporagemeinden haben jährlich eine Tempelsteuer nach Jerusalem abgeführt. Aber man darf daraus keine juristische Autorität Jerusalems konstruieren und schon gar nicht auf eine Anerkennung der Jurisdiktion Jerusalems schließen (die durch das Rabbinat nach 70 nChr erstrebte, aber auch dann noch keineswegs faktische Bindung des gesamten Judentums an eine zentrale Autorität kann man nicht auf die Verhältnisse vor dem jüdischen Krieg übertragen). Vielmehr ist die Tempelsteuer das Symbol einer religiösen Bindung an Jerusalem als heilsgeschichtliches Zentrum des Judentums. Die Tempelbehörden Jerusalems besaßen zu keiner Zeit Gerichtsrechte und Polizeigewalt über Juden, die außerhalb der von Jerusalem beherrschten politischen Grenzen lebten. Lokal hatten die einzelnen Diasporagemeinden natürlich das Recht, interne Streitfragen vor einem eigenen Schiedsgericht auszutragen - wie andere Kultvereine auch (vgl. die Verfassung der Bakchisten in Athen und 1. Kor. 6). In der Regel versuchte die jüdische Diaspora, sich aus den politischen Affären Palästinas herauszuhalten - schon aus Gründen der Selbsterhaltung - und der jeweiligen Obrigkeit Gehorsam zu leisten, die
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Gewalt über sie hatte. Diese Grundhaltung ist später von vielen christlichen Gemeinden übernommen worden (vgl. Rom. 13,1 ff; 1. Pt. 2,13ff). Das ist völlig verständlich; denn die Stellung dieser Gemeinden zu ihrer Umwelt war ohnehin problematisch genug. Die jüdische Religion konnte nur dann ungehindert ausgeübt werden, wenn die verantwortlichen Behörden gewisse Privilegien stillschweigend oder ausdrücklich gewährten: die Einhaltung des Sabbaths (erst in der römischen Zeit erstrebte man aus diesem Grunde die Freistellung vom Militärdienst; in der hellenistischen Zeit wurden Juden oft im Militärdienst verwendet, auch in Militärkolonien angesiedelt); das Versammlungsrecht und das Recht, Geld nach Jerusalem abzuführen. Solche Privilegien wurden in der Regel von den Städten oder von den Königen gewährt und später von den römischen Behörden erneuert. Aber die Angehörigen jüdischer Gemeinden besaßen nur in Ausnahmefällen das Bürgerrecht, und jüdische Einwohner wurden niemals offiziell von der Teilnahme am öffentlichen Stadt- oder Staatskult befreit. Daß die jüdische Religion eine „religio licita", eine „offiziell genehmigte Religion", war, trifft nicht zu, weil es diesen Begriff in der Antike überhaupt nicht gab, weder in hellenistischer noch in römischer Zeit. Denn auf der einen Seite war es jedermann erlaubt, seine eigene Religion auszuüben, und die Wege, die Anerkennung einer Religionsgemeinschaft zu erreichen, standen jedem offen, sei es in der Form eines Kultvereins, sei es in der Form eines Kultes, der unter die anerkannten Kulte der Stadt aufgenommen und entsprechend von den Behörden beaufsichtigt wurde. Auf der anderen Seite konnte niemand die offizielle Erlaubnis erhalten, die Götter der Stadt oder die Götter des römischen Volkes - zu mißachten. Nicht nur zufällig ist kein Dokument erhalten, das ein solches Recht verbrieft, und entsprechende Behauptungen jüdischer Autoren aus der Antike sind rein apologetischer Natur. In der Praxis wurde es einfach ignoriert, wenn Juden es unterließen, an offiziellen Kultfeiern teilzunehmen - man erinnerte sich dieser Tatsache nur dann, wenn sich aus anderen Gründen ein Mißbehagen über die ansässigen Juden breit machte. Der römische Staat hat sich später den Christen gegenüber ganz ähnlich verhalten (s.u. § 12. 3d). Es liegt auf der Hand, daß wegen der Notwendigkeit, die offiziellen Götter anzuerkennen, die Ausübung des Bürgerrechts für einen Juden mit Schwierigkeiten belastet war, wollte er dem exklusiven Monotheismus seines Glaubens treu bleiben. Aber in allen
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griechischen Städten besaß ein erheblicher Teil der ansässigen Bevölkerung ohnehin kein· Bürgerrecht und war dennoch ein wichtiger Bestandteil des ökonomischen und kulturellen Lebens dieser Städte. Unter den vielen möglichen Berufen war den jüdischen Nichtbürgern der Militärberuf nicht unbekannt, wenigstens in der hellenistischen Zeit. Das bedeutete gleichzeitig, daß sie etwa als Angehörige von Militärkolonien Landbesitz hatten und in Friedenszeiten Bauern waren. Andere waren Kaufleute oder Bankiers. Handwerker werden nur selten erwähnt; vielleicht boten die organisierten Handwerkervereine hier manche Hindernisse. Über die weniger angesehenen Berufe ist natürlich in der Regel auch weniger bekannt. Immerhin erscheinen Apg. 18,3 Paulus sowie der aus Rom stammende Judenchrist Aquila als Zeltmacher. Emanzipierte Juden hatten auch offizielle Verwaltungspositionen inne. In römischer Zeit war ζ. B. der Neffe des jüdischen Philosophen Philo, Tiberius Alexander, mehrere Jahre Gouverneur von Palästina. Trotz der weitgehenden Assimilation und trotz der grundsätzlich positiven Haltung gegenüber den politischen Gewalten gab die jüdische Diaspora wiederholt Anlaß zu „antisemitischen" (genauer „antijüdischen") Aktionen und Verfolgungen, die schon in der hellenistischen Zeit literarischen Niederschlag fanden. Dieser Antijudaismus entstand in der Diaspora und ist mit dem Gegensatz unterschiedlicher kultureller und religiöser Traditionen verbunden. Dabei spielte weniger der Widerstreit der jüdischen Religion und der beherrschenden griechischen Kultur eine Rolle als vielmehr der spannungsreiche Wettbewerb der Träger verschiedener alter Kulturen im Prozeß der Hellenisierung. Darauf scheint schon das älteste Zeugnis für den Antijudaismus, die Schrift des ägyptischen Priesters Manetho aus dem 3.Jh.vChr, hinzudeuten, die noch 300 Jahre später zur Zeit des jüdischen Historikers Josephus bekannt war und von diesem zitiert und widerlegt wurde (Contra Ap. 1.227ff). Manetho interpretierte die Traditionen über Israel in Ägypten und über den Exodus im pro-ägyptischen Sinne. Dabei konnte er sich nicht genug tun, die Juden als Aussätzige und als barbarische Kultur- und Religionsschänder zu verunglimpfen. Und zwar geschieht dies in einer Schrift, die an die Griechen gerichtet ist, sich auf uralte Urkunden beruft und die eigene Kultur und Religion in ihrer Weisheit, Frömmigkeit und Gerechtigkeit dem Leser vor Augen stellen will. Die jüdischen Apologeten, die bald zum Gegenangriff übergingen, machten es ebenso, und später standen
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ihnen die christlichen Apologeten im Wettstreit mit ihren jüdischen Vorgängern in nichts nach. W a r dies der kulturgeschichtliche Rahmen f ü r das Entstehen des Antijudaismus, so waren die unmittelbaren Anlässe verschiedenster Art. Sie lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Politische und ökonomische Faktoren mögen ebenso hereingespielt haben wie religiöse Gegensätze. Die antijüdische Polemik zeigt, woran man sich stieß: eigenartige Gebräuche wie die Beschneidung und die Einhaltung der Sabbatruhe; die jüdische Weigerung, die Götter zu verehren; das Fehlen eines Kultildes im Tempel brachte den Vorwurf des Atheismus und die böse Verleumdung, im Tempel Jerusalems werde ein Eselskopf angebetet. Die Juden bestanden auf ihrem besonderen Status, der ihnen die Ausübung ihrer Religion und Privilegien wie Steuervergünstigungen und die Abführung der Tempelsteuer nach Jerusalem garantierte. Aber sie wollten hellenisierte Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft der Städte sein, während sie gleichzeitig die Götter dieser Städte verachteten. Man kann sich denken, daß in einer solchen Situation die Vertreibung und Zwangsjudaisierung der nichtjüdischen Bevölkerung der griechischen Städte Palästinas durch die Hasmonäer den seinerzeit wohl schon bestehenden Antijudaismus noch verschärften mußte; denn das verstieß gegen den ethnischen und religiösen Pluralismus, auf den sich die Idee der hellenistischen Stadt gründete. Von diesem Pluralismus wollten außerhalb Palästinas die jüdischen Einwohner der Städte profitieren, konnten aber ihrerseits nur in beschränktem U m f a n g an dem Leben der Städte, in denen sie lebten, teilnehmen; denn dem, was das Leben dieser Städte konstituierte, standen sie wenigstens zum Teil kritisch gegenüber: Tempel, Gymnasien und öffentliche Feste. V o n hier aus gesehen mußte die Lage des Diasporajudentums prekär bleiben, weil die Widersprüche keine grundsätzliche Lösung zuließen. Die hellenistischen Könige und später die römischen Kaiser mußten wiederholt eingreifen, um einen modus vivendi zu erzwingen, den Städte mit großen jüdischen Diasporagemeinden nicht aus eigener Kraft herstellen konnten oder nicht herstellen wollten. 2. Die Geschichte der jüdischen Religion E.MEYER, Ursprung und Anfänge des Christentums, Bd.2: Die Entwicklung des Judentums und Jesus von Nazareth, '1921, Neudruck 1962. J. MAIER, Geschichte der jüdischen Religion, 1972, 1-84.
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a) Tempel, Gesetz, Priester (Sadduzäer) Der Abschluß des Pentateuch fällt in die Zeit vor der hellenistischen Eroberung. Wahrscheinlich fand nach der Reform Esras eine abschließende Redaktion unter Berücksichtigung des Esragesetzes statt. Der Neubau des Tempels machte den Tempelkult zum Zentrum der offiziellen Religion; das Gesetz war als Ritualgesetz an den Tempel gebunden. Zwar war die oberste politische Autorität die persische Verwaltung, aber innerhalb des jüdischen Tempelstaates gab es keine politische Instanz, die dem Tempel und seiner Hierarchie übergeordnet war. Jerusalem und die dazu gehörenden Bezirke waren in erster Linie eine von priesterlichen Interessen beherrschte Kultgemeinde. Die Entwicklung und Durchsetzung von kultischen Reinheitsvorschriften war gleichbedeutend mit der Aufrichtung gesellschaftlicher Normen; vgl. z.B. das Verbot der Heirat mit im Lande wohnenden Nichtmitgliedern der Kultgemeinde. Hier begann die Sonderentwicklung Jerusalems, die zu zunehmenden Spannungen mit jenen Israeliten führte, die nicht der Jerusalemer Jurisdiktion unterstanden, also mit den Tobiaden im Ostjordanland und mit den Samaritanern. Aber der Pentateuch war überall akzeptiert worden, und die palästinische Rezension des Pentateuch galt bis zum Ende der hellenistischen Zeit in Jerusalem ebenso wie in Samarien. Die religionsgeschichtliche Entwicklung des Judentums in der hellenistischen Zeit wird nur dann verständlich, wenn man sie auf dem Hintergrund der weiterbestehenden priesterlichen theokratischen Idee und der Bindung des Gesetzes an diese Idee sieht. Die Hüter des Tempels und seines Kultes sowie der Gesetzesauslegung waren die Priester. Sie stellten die Aristokratie dar und die machthabenden Priesterfamilien waren gleichzeitig die wohlhabendsten Familien des Landes (doch scheint es daneben auch Priesterfamilien gegeben zu haben, die an Macht und Geld nur wenig Anteil hatten). Man darf sich die Priester der frühen hellenistischen Zeit keineswegs als altmodische Orthodoxe vorstellen. Daß sich bei den bessergestellten Priesterfamilien hellenistische Einflüsse früh
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bemerkbar machten, steht außer Zweifel. Der hohe Grad der Hellenisierung der zadokidischen Familie der Oniaden war eines der Elemente, die zum Makkabäeraufstand führten (s.o. §5.1c). Die essenischen Texte zeigen außerdem, daß apokalyptische Vorstellungen bis zur Zeit der Makkabäerkriege auch in den Kreisen der Priester zu Hause waren. Ganz anders stehen die Priester, die nach dem Aufstand als Hauptstützen des hasmonäischen Herrscherhauses in Erscheinung treten: Die Hellenisierung des Tempelkultes in Jerusalem hat nach dem Makkabäeraufstand wohl niemand mehr auch nur zu denken gewagt! Aber auch sonst war die seit der Hasmonäerzeit unter der Bezeichnung „Sadduzäer" auftretende führende Priesteraristokratie theologisch konservativ ausgerichtet. In dem Namen „Sadduzäer" kommt wahrscheinlich der Anspruch zum Ausdruck, Nachfahren der legitimen zadokidischen Priester zu sein (daß die Nachkommen des Zadok, des Priesters Davids, Hohepriester sein sollen, wurde von Ezechiel und Esra gefordert; vgl. Esr. 7,2; Ez. 40,45 f; 43,19 u.ö.; allerdings ist diese Deutung des Namens Sadduzäer nur die wahrscheinlichste von mehreren Erklärungen). Die Sadduzäer wollten die genaue Beachtung der im Gesetz schriftlich niedergelegten Tempel- und Kultgesetzgebung garantieren. Ihnen oblag die Pflicht der Auslegung des Gesetzes, und sie bestanden darauf, daß die unmittelbare Anwendung des geschriebenen Gesetzes maßgebend sein müsse. Propheten und Hagiographen wurden zwar nicht verworfen, aber auch nicht als bindend anerkannt. Entsprechend lehnten sie die Berufung auf eine mündliche Überlieferung ab. Ebenso weigerten sie sich, irgendwelche theologischen Ansichten zu akzeptieren, die in der Schrift nicht belegt waren (Jos. Ant. 13.297 u.ö.). Es ist kein Zufall, daß sie im N T als Gegner der pharisäischen Auferstehungslehre auftreten (Mk. 12,18 ff). Josephus bestätigt dies, wenn er sagt, daß die Sadduzäer meinen, die Seele gehe beim Tode mit dem Leibe zugrunde (Ant. 18.16). Folglich werden Lohn und Strafe ganz innerweltlich erklärt: sie sind das unmittelbare Ergebnis der menschlichen Taten; ein Schicksal gibt es nicht (Ant. 13.173). Dazu stimmt der Hinweis der Apostelgeschichte, die Sadduzäer leugneten die Existenz von Engeln und Geistermächten (Act. 23,8). Was uns hier an dürftigen und durchweg negativ urteilenden Hinweisen auf die Sadduzäer erhalten ist, läßt darauf schließen, daß die mit der Bewahrung von Tempel, Kult und Gesetz betrauten priesterlichen Kreise kompromißlos der theologischen Erneue-
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rung im Geist des Hellenismus widerstanden haben, so sehr man auch vermuten darf, daß sie in ihrem persönlichen Lebensstil sich an die hellenistische Weltkultur assimiliert hatten. Die Sadduzäer hatten erreicht, daß der Tempelkult nicht zum Spielfeld von reformistischen Experimenten wurde. Sie blieben als Hüter der Auslegung des Mosesgesetzes Bewahrer des Tempels, der einem der „alten Götter" gehörte und der, wie viele andere, offizielles Ansehen genoß. Dadurch blieben sie die Führer der offiziellen Religionspolitik Israels bis in die römische Kaiserzeit hinein und bis zum Zusammenbruch Jerusalems im jüdischen Krieg. Freilich war zu diesem Zeitpunkt die religiöse Entwicklung des jüdischen Volkes in Palästina und in der Diaspora längst an ihnen vorübergegangen. Dazu hatten fremde Einflüsse auf andere Kreise des jüdischen Volkes einen nicht zu übersehenden Beitrag geleistet. b) Die Apokalyptik Die Apokalyptik wurde zur bedeutendsten theologischen Bewegung des Judentums in der hellenistischen Epoche und sollte eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des Christentums spielen. In der Apokalyptik wird das eigentliche Erbe des alten Israel und seiner Prophetie in charakteristischer Umformung dem Christentum vermittelt. Sie stellt die Brücke vom Alten zum Neuen Testament dar, hat aber auch das spätere Judentum nachhaltig beeinflußt. Die Anfänge der Apokalyptik liegen vor der hellenistischen Zeit und sind mit einem grundsätzlichen Wandel des theologischen Denkens Israels verbunden, der sich seit dem Exil vollzogen hatte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Untergang des Südreiches und die Zerstörung Jerusalems im 6.Jh.vChr den Anlaß zum Zweifel an der geschichtlichen Theodizee gab - obgleich man nicht immer die Ursache zu einem geistigen Aufbruch in negativen historischen Erfahrungen suchen muß. Das im und nach dem Exil entstandene monumentale deuteronomistische Geschichtswerk hat sich bekanntlich nicht von der geschichtlichen Theodizee abgewandt: Gott ist in der Geschichte gerechtfertigt; denn es war immer Israels Schuld, die zu den wiederholten und schließlich fatalen Katastrophen des Volkes führte; wenn Israel sich jetzt bekehrt, so wird Gott dem Volk in der Geschichte eine neue Möglichkeit geben. Aber neben dem Verfasser dieses meist rückwärts in die Vergangenheit blickenden Geschichtswerkes gab es andere, die sich weigerten, Gottes Gegenwart und Wirken unter dem beschränkten Horizont der ge-
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schichtlichen Erfahrung des Volkes zu sehen. Die Geschichte war für sie zum Rätsel geworden. Das Buch Hiob (das vielleicht schon in das 6.Jh.vChr datiert werden muß) sah die Offenbarung der Macht Gottes völlig außerhalb des Raumes von Politik und Geschichte: Gott erscheint in den Mächten der Schöpfung und in der Natur; er ist der Sieger über das Chaos. Der Mensch unterwirft sich ihm, weil er einsehen muß, daß er nichts ist gegenüber dem Wunder der Schöpfung und gegenüber der Kraft und Weisheit Gottes, die dem Behemoth und dem Leviathan ebenso wie dem Sturm und dem Wetter gebietet. Gleichzeitig wandte sich die Prophetie Israels von der immanent-historischen Sicht der Zukunft ab. Zwar konnte der als Deutero-Jesaja bekannte Prophet noch auf eine unmittelbar geschichtlich identifizierbare Person wie den persischen König Kyros als von Gott ernannten Heilbringer hinweisen; aber dennoch haben sich die Dimensionen schon gewandelt; denn Israel als Knecht Gottes leidet nicht wegen seiner geschichtlichen Schuld, sondern zugunsten einer neuen Weltordnung, die man nur in mythischen Anspielungen beschreiben kann. Ezechiel zeichnet den zukünftigen Tempel Israels nach den Maßen mythischer und kosmologischer Spekulationen. Vollends ist in den sogenannten Jesaja- und Sacharja-Apokalypsen (Jes. 24-27 und Sach. 9-14), die im 5.Jh.vChr oder wenig später entstanden, und in Trito-Jesaja die mythologische Sicht der Zukunft, die für die Apolayptik so charakteristisch ist, bereits entwickelt. Die religionsgeschichtlichen Hintergründe für dieses Aufbrechen mythischer Traditionen waren vielfältig. Sowohl kanaanäische Mythen als auch Einflüsse aus dem Osten (babylonisches und vielleicht iranisches Gut) müssen in Rechnung gestellt werden. Entscheidend ist der Wandel im theologischen Denken, der die Aufnahme und Verarbeitung dieser Mythen in einem synkretistischen Prozeß möglich machte und so eine neue theologische Orientierung vorbereitete, die das jüdische Denken in der hellenistischen Zeit bestimmen sollte. Der einsetzende Hellenisierungsprozeß brachte das apokalyptische Denken gleichzeitig in Kontakt mit mythischem Überlieferungsgut der hellenistischen Welt und führte zur Ausbildung von theologischen Strukturen, die im Hellenismus viele Parallelen haben. Die wesentlichen Elemente der Apokalyptik der hellenistischen Zeit lassen sich folgendermaßen charakterisieren: 1. Die Vorstel-
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lungen von Chaos und Schöpfung werden zunehmend durch Gedanken orientalischer Mythologien beherrscht. Schöpfung ist gleichzeitig Kampf und Überwindung chaotischer Mächte - in griechischen Theogonien waren ähnliche Vorstellungen zu Hause. 2. Entsprechend wird die Zukunft als kosmische Neuschöpfung gesehen; die Erneuerung kommt nicht aus einer Wendung der geschichtlichen Ereignisse, sondern aus einem dramatischen Umsturz, der im himmlischen wie im irdischen Bereich stattfindet. In der späthellenistischen und römischen Zeit werden astrologische Spekulationen mit dem Bild von der Katastrophe der Endzeit verbunden. 3. Eine dualistische Sicht des Bereichs der Menschen ebenso wie des Kosmos setzt sich durch. In beiden Bereichen stehen zwei diametral entgegengesetzte Mächte im Widerstreit: Gott und Satan, himmlische Heere göttlicher und satanischer Engel, die Erwählten und die Gottlosen, gute und böse Mächte in der Seele des Menschen. 4. Die Sicht der Gegenwart ist pessimistisch. In Gen. 6,1 ff ist das Kommen der Göttersöhne zu den Töchtern der Menschen geschichtlich gebändigt; es ist ein vorsintflutliches Ereignis, das die Welt für das Strafgericht der Sintflut reif macht; in der Apokalyptik wird dieser Mythos zum Symbol der Herrschaft des Bösen in der Gegenwart, das in der apokalyptischen Literatur in immer neuen Abwandlungen auftaucht. 5. Der Mensch wird gegenüber Gott nicht einfach als geringer, schwächer und machtloser angesehen, sondern als grundsätzlich unvollkommen, da er an ein leibliches Dasein und an die Geschichte gebunden ist. Erst die Aufhebung dieser Bindungen - aber nicht etwa das Streben nach Erfüllung innerhalb dieser Bindungen - kann Erlösung bringen. 6. Der Gedanke der „Sendung" wird demokratisiert: Der Knecht Gottes, der als Prophet Gott vor der Welt vertritt, ist nicht mehr eine Einzelpersönlichkeit, sondern Israel als erwähltes Volk. Die dem Propheten zugedachten Aufgaben und Verheißungen werden auf Israel übertragen. Das Erwählungsbewußtsein ist damit entscheidend modifiziert; wenn in Deutero-Jesaja wie im Buch Daniel das Volk der Erwählten zum Richter und Herrscher der Welt werden soll, so bestätigt sich die Erwählung nicht mehr in der geschichtlichen Erfahrung, sondern in der H o f f n u n g auf ein neues Zeitalter. 7. Der Zusammenhang von „Erwählten" und „Volk" wird zerrissen. Offensichtlich kann die prophetische Sendung nur von Angehörigen des Volkes wahrgenommen werden, die Gott die Treue halten und seine Gebote befolgen, während die Frevler und Gottlosen im
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Volk dem Strafgericht verfallen werden. 8. Auferstehungs- und Unsterblichkeitsvorstellungen tun sich in zunehmendem Maße kund. Im Zusammenhang damit werden Höllen- und Strafvorstellungen aus dem griechischen Denken übernommen. Beides war dem alten Israel fremd. 9. An die Stelle der Geschichtstheologie tritt die Weisheit. Das Wissen um die kosmischen Zusammenhänge, die Einsicht in die Situation des Menschen und die Lehre über das rechte Verhalten in einer vom Bösen beherrschten Welt stehen im Vordergrund, denn man kann das Wissen um sich selbst nicht mehr von der Zugehörigkeit zu den politischen Erfahrungen in der Geschichte des Volkes her verstehen. „Philosophie" und „Gnosis" sind konsequente Folgerungen aus dem Denken der Apokalyptik, die am Beginn der römischen Zeit deutlich in Erscheinung treten (s.u.§5. J e und s.u.§6. 5f). Uber die religiösen Gruppen, bei denen solche Anschauungen sich ausbreiteten, läßt sich für die frühhellenistische Zeit nichts Genaues sagen. Die Bücher, in denen solche Ideen sich erstmalig zu Wort meldeten (Deutero- und Trito-Jesaja, Ezechiel, die Apokalypsen Jes. 24-27 und Sach. 9-14) waren allgemein anerkannte Schriften und gehörten zum Uberlieferungsgut des ganzen Volkes, in Jerusalem ebenso wie in Babylonien und Alexandrien. Das Buch Ezechiel hatte einen maßgeblichen Einfluß auf die Neuordnung des Tempelkultes nach dem Exil. Man wird also Menschen, die solchen Ideen zuneigten, auch in den Kreisen der Priester suchen müssen. Das sollte sich erst nach dem Makkabäeraufstand ändern. Aber es ist bezeichnend, daß die älteren apokalyptischen Stücke in prophetische Bücher eingeführt wurden. Die Tradenten apokalyptischer Vorstellungen waren also jene Kreise, die sich auf die prophetische Tradition beriefen und sie fortsetzten. Als Institution sind diese Kreise nicht mehr greifbar. Aber das Resultat - Sammlung prophetischer Bücher, die mit apokalyptischen Einschüben versehen waren - spricht deutlich genug. Die Hasidim, die wesentlichen Träger des Aufstandes gegen die Hellenisten, sind nicht erst ad hoc anläßlich der Hellenisierung des Kultes entstanden, sondern müssen eine Vorgeschichte gehabt haben, die man sich jedoch nicht als Geschichte einer fest organisierten Gemeinschaft vorstellen darf. Daß sie apokalyptische Vorstellungen pflegten, beweist das Buch Daniel, das (wenigstens in seinen wesentlichen Bestandteilen) während des Makkabäeraufstandes geschrieben worden ist und als die Darstellung der Erfahrun-
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gen und Hoffnungen der Aufständischen bezeichnet werden kann. Der Verfasser erstrebt keine politische Lösung, sondern erwartet ein Eingreifen Gottes, das eine neue Weltzeit anbrechen läßt. In ihr wird das Volk der Erwählten (symbolisiert in der Gestalt des Menschensohnes) der gerechte Herrscher der Völker sein. Man braucht nicht viel Phantasie, um zu sehen, daß die Errichtung der hasmonäischen Herrschaft von den Parteigängern Daniels nicht als Erfüllung dieser Hoffnungen akzeptiert werden konnte. Die Apokalyptik wandte sich von der Geschichte ab, weil die behauptete geschichtliche Erfüllung nicht vor dem Anspruch der Erwartung bestehen konnte. Wollte die Bewegung der Hasidim überleben, so mußte sie sich im Gegensatz zur offiziellen Tempelreligion der Hasmonäer als Sekte neu konstituieren. Von diesem Zeitpunkt an waren die apokalyptischen Vorstellungen nur noch bei den Sekten lebendig: bei den Essenern, den Pharisäern, den Christen, und in radikaler Form in der Gnosis, in der die Geschichtsfeindlichkeit zum metaphysischen Prinzip erhoben wurde. c) Die Essener Die Sekte der Essener war durch Berichte bei Philo (Quod omn. prob. üb. 75-91), Josephus (Bell. 2. 119-161 u.ö.), Hippolyt (Refutatio 9. 18-28), sowie einige Bemerkungen bei Plinius und Dio Chrysostomus längst bekannt. Aber erst seit Entdeckung der Handschriften von Qumran am Toten Meer und seit der Ausgrabung der Ruinen der dortigen essenischen Ansiedlung in den letzten Jahrzehnten können auch die antiken Nachrichten recht verstanden und ihre Aussagen ins rechte Licht gerückt werden. Über die Identität der Qumransekte mit den Essenern der antiken Berichte kann kein Zweifel mehr bestehen. Die Geschichte der Sekte läßt sich annähernd rekonstruieren, und Denken und Vorstellungen der Essener sind durch die reichen Handschriftenfunde jetzt deutlicher erkennbar als die Anschauungen irgendeiner anderen jüdischen Gruppe jener Zeit. Die Essener sind aus den Kreisen jener Hasidim hervorgegangen, deren Protest gegen die Hellenisierung des Kultes in Jerusalem zum Makkabäeraufstand führte und die diesem Aufstand die Kraft einer religiösen Bewegung verliehen (s.o. §5. lc). Es ist wohl denkbar, daß diese priesterlichen Kreise der Hasidim, die sich später als essenische Sekte ins Exil begeben sollten, gerade auch wegen ihres Protestes gegen die Einsetzung eines nicht-zadokidi-
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sehen Hohenpriesters (Menelaos) den Aufstand unterstützten; denn das Festhalten am legitimen Anspruch der Zadokiden auf das Amt des Hohenpriesters führte zum späteren Bruch mit den neuen hasmonäischen Herren in Jerusalem. Und zwar geschah dies höchstwahrscheinlich, als der Hasmonäer Simon für sich und seine Nachkommen das Amt des Hohenpriesters usurpierte (140vChr; s.o. §5. 7d). Was die Texte von Qumran über den Frevelpriester sagen, paßt am besten auf Simon (weniger einleuchtend ist die Deutung auf Jonathan). Er ist es wohl, dem in den Qumranschriften (vor allem im Habakuk-Kommentar) vorgeworfen wird, daß er durch Gewalt und Ruchlosigkeit die Macht an sich gebracht habe, den gerechten Lehrer, der die Sekte gründete, verfolge, sich durch Unrechttun bereichere und das Volk dazu verführe, das neue Staatswesen auf der Grundlage von Blut und Lüge aufzubauen. Auch auf das Ende Simons, seine Ermordung bei einem Trinkgelage, wird mit Genugtuung angespielt. Die klosterähnliche Anlage in Qumran, am Nordwestende des Toten Meeres, die durch die Essener in ihrem Exil „in der Wüste" an der Stelle einer alten, aber längst verfallenen israelischen Befestigungsanlage errichtet wurde, muß nach dem archäologischen Befund bald nach der Mitte des 2.Jh.vChr entstanden sein. Sie hat, mit einer größeren Unterbrechung (die Gebäude wurden in dem Erdbeben von 31vChr zerstört und erst nach mehreren Jahrzehnten wieder aufgebaut), bis zum jüdischen Krieg bestanden, in dem sie von den Römern erobert und zerstört wurde (68 vChr). Die Anlage umfaßte ein großes Hauptgebäude (37,5 m im Quadrat), mit Gemeinschaftsräumen und einem Scriptorium, daneben ein großes Refektorium (4,5 χ 22 m). Beim Hauptgebäude und in der unmittelbaren Umgebung lagen mehrere Zisternen mit Kanälen und Stauteichen, die zur Bewässerung dienten und ausreichend waren, auch mehrere hundert Menschen während der Trockenzeit mit Wasser zu versorgen. Außerdem fanden sich bei den Ausgrabungen in der Nähe des Hauptgebäudes Reste weiterer Bauten, Gebäude, die landwirtschaftlichen Zwecken dienten, Wirtschaftsgebäude, Werkstätten, zwei Mühlen, ein großer und zwei kleinere Friedhöfe mit etwa 1200 Gräbern und, seltsamerweise, sorgfältig vergrabene Tierknochen. Die Handschriften stammen aus einer Reihe von nahegelegenen Höhlen. Sie stellen zweifellos die Bibliothek der Sekte dar, die bei Beginn des jüdischen Krieges in diesen Höhlen sichergestellt worden war.
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Die essenische Gemeinschaft im Qumran versteht sich als das wahre Gottesvolk des erneuerten Bundes der letzten Tage. Die Ansiedlung am Toten Meer sollte den Mitgliedern der Gemeinschaft die Möglichkeit geben, diesem Selbstverständnis entsprechend zu leben. Im Zentrum steht das Anliegen, die kultische Reinheit der Gemeinschaft zu verwirklichen und zu erhalten. Maßgebend dafür ist die Auslegung des Gesetzes, für die sich die Gemeinde auf ihren Gründer, den Lehrer der Gerechtigkeit, beruft. Er ist Priester und als solcher maßgeblicher Interpret des Gesetzes. Auf die Einhaltung alles dessen, was den Zadokiden, den Priestern, geoffenbart worden ist, wird der neu in die Gemeinschaft Eintretende ausdrücklich verpflichtet. (Offensichtlich blieb auch nach dem Tode des Gründers die Leitung der Gemeinschaft in den Händen von Priestern.) Zur kultischen Reinheit gehört die Beachtung der rituellen Reinheitsvorschriften des Gesetzes. Im Zusammenhang damit stehen auch manche essenische Sondereinrichtungen, wie ζ. B. die Einführung eines Sonnenkalenders, der so eingerichtet war, daß die Feste des liturgischen Jahres niemals auf einen Sabbat fielen. Gleichen Rang hat die Verpflichtung zur absoluten Wahrhaftigkeit und Lauterkeit im moralischen Verhalten. Vorschriften und Verpflichtungen sind in der Regel der Sekte niedergelegt, die uns erhalten ist (1 QS); diese Schrift betraf die ständig in Qumran lebenden Vollmitglieder der Gemeinde, zu der nur Männer gehörten, die zur Ehelosigkeit verpflichtet waren. Eine weitere, schon aus mittelalterlichen Handschriften bekannte Gemeinschaftsregel, die sogenannte „Damaskusschrift", galt wahrscheinlich für Angehörige der Gemeinschaft, die verstreut im Lande lebten, heiraten konnten und ein normales bürgerliches Leben führten. Der Sinn dieser Vorschriften für die Bewahrung der Reinheit wird aber erst deutlich, wenn man die eschatologische Grundrichtung des Denkens der Gemeinde beachtet. Mit einer konservativen Einstellung hat dieses Festhalten am Gesetz nichts zu tun. Die Essener verstanden sich als das wahre Volk der Erwählten, das in den bevorstehenden Kämpfen der Endzeit eine entscheidende Rolle spielen sollte. Sie mußten jederzeit für den Kampf der Söhne des Lichts mit den Söhnen der Finsternis bereit sein. Sicher haben hier alttestamentliche Vorstellungen vom Heiligen Krieg eingewirkt und das Ideal der rituellen Reinheit der Gemeindeglieder geprägt: die Mitglieder sind „Soldaten" im heiligen Krieg Gottes und befolgen deshalb alle entsprechenden aluestamentlichen Regeln, wozu
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auch die Enthaltung vom Geschlechtsverkehr gehört. In einer Schrift der Sekte, der „Kriegsregel" (1 QM) wird bis ins einzelne die Aufstellung der Schlachtordnung für die letzte entscheidende Schlacht beschrieben. Aber auch sonst ist im Leben der Gemeinde ihr eschatologisches Selbstverständnis zu spüren. Sie nimmt den verheißenen Zustand des Gottesvolkes der Zukunft in ihrem gegenwärtigen Leben schon vorweg, ja, sie ist schon jetzt dieses Gottesvolk, der Tempel Gottes. Gütergemeinschaft und persönliche Armut für alle Vollmitglieder - jeder neu Eintretende muß sein gesamtes Vermögen der Gemeinschaft übereignen - stellen schon jetzt die messianischen Verhältnisse dar, in denen es keine Unterschiede zwischen arm und reich mehr gibt. In den regelmäßig jeden Tag stattfindenden gemeinsamen Mahlzeiten spiegelt sich die Ordnung und Liturgie des messianischen Mahles. Eschatologisch ist auch die Schriftinterpretation der Essener, für die Beispiele in mehreren Kommentaren erhalten sind (vgl. die Kommentare zu Habakuk, l Q p H a b , und Nahum, 4QpNah). Die Methode der Auslegung fällt dadurch auf, daß sie nicht allegorisch vorgeht, sondern die einzelnen Schriftstellen unmittelbar mit Ereignissen der Gegenwart, Zukunft oder jüngsten Vergangenheit identifiziert. Die theologischen Vorstellungen der Schriften vom Toten Meer sind durchweg apokalyptisch. Ohne Zweifel führt die Sekte damit die ältere apokalyptische Theologie der nachexilischen Zeit und speziell der Hasidim fort (das Buch Daniel gehört zu den von den Essenern gelesenen und mehrfach abgeschriebenen Büchern) und baut sie in einer für das Denken der späthellenistischen Zeit charakteristischen Weise aus. Das theologische Schema ist streng dualistisch. Doch handelt es sich nicht um einen Dualismus von materieller und immaterieller Welt, sondern - das ist ebenfalls bezeichnend für das Denken des Hellenismus - um einen Dualismus von Mächten, die sowohl die irdische wie die himmliche Welt beherrschen. Licht und Finsternis, Gott und Belial, der Geist der Wahrheit und der Geist des Frevels stehen sich im himmlischen wie im irdischen Bereich gegenüber. Zwischen beiden besteht eine Feindschaft, die keine Versöhnung zuläßt; denn es handelt sich um mythisch in der Urzeit verankerte grundsätzliche Gegensätze. Eng damit verbunden ist ein strenger Determinismus. Die Generationen der Söhne des Lichtes und der Söhne der Finsternis sind von Gott im voraus bestimmt. Man bekehrt sich nicht von der Finsternis zum Licht, sondern man wird über seine Bestimmung belehrt, daß man
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kraft seiner Herkunft zu den Söhnen des Lichtes gehört, mit denen Gott seinen Bund erneuert hat. Diese Einsicht gehört zu dem geheimen Wissen (den „Mysterien") der Weisen der Gemeinschaft, in dem die Mitglieder unterrichtet werden. Zum besonderen Wissen der essenischen Gemeinschaft gehört auch die Einsicht in die Zukunft, denn aus ihr erhellt sich unmittelbar die Gestaltung des gegenwärtigen Lebens. Besonders auffallend sind die messianischen Anschauungen. Man rechnet mit mehreren „messianischen", d.h. von Gott offiziell legitimierten Gestalten: der eschatologische Prophet, der messianische König aus dem Haus Davids und der messianische Priester aus dem Haus Aarons. Der Lehrer der Gerechtigkeit, der die Gemeinschaft gründete, ist nicht unter den messianischen Personen zu finden (eine Parallele zu Jesus und eine Lehre von der „Wiederkunft" ist in diesem Punkte in den Qumranschriften nicht zu finden). Von den verschiedenen messianischen Gestalten kommt dem priesterlichen Messias der Vorrang zu. Aber von „dem Messias" kann man auf Grund der Qumrantexte nicht reden. Uberhaupt steht im Zentrum der apokalyptischen Erwartung das Volk der Erwählten, keine messianische Einzelgestalt. Eng verbunden mit dem Wissen um die Zukunft ist die Kenntnis der Engel, Geister und Dämonen, deren Wirken mit dem Planen und Treiben der Menschen, der Erwählten wie der Gottlosen, in unmittelbarem Zusammenhang steht. Die Qumranschriften kennen ein ganzes Heer göttlicher und widergöttlicher Geister und Engel. Es handelt sich dabei nicht um Mittlermächte zwischen Gott und Mensch, sondern um Gewalten im himmlischen und außermenschlichen Machtbereich, deren Handlungen dem eschatologischen Geschehen der Menschenwelt analog sind. Soweit der Begriff „Geist" dabei verwendet wird, ist es oft nicht möglich zu unterscheiden, ob es sich um den Gedanken Gottes, um eine Engelsgestalt oder um den Geist des Menschen handelt. Auf der einen Seite steht das Heer der Engel mit dem „Fürsten des Lichtes" oder „Gottes Engel" oder „Geist der Wahrheit" an der Spitze. Einzelne Engel, z.B. Michael, werden oft namentlich genannt. Sie sind hierarchisch gegliedert. Ihre Aufgaben liegen im himmlischen Gottesdienst und im Kampf gegen die Engel des Bösen. An beiden Funktionen der Engel Gottes nimmt die Gemeinde der Erwählten teil. Auf der anderen Seite steht der „Engel der Finsternis" (meist Belial genannt, aber auch Engel der „Feindschaft" = hebr. Mastema) mit seinem Heer. Belial ist sowohl der Gegner Gottes als
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auch der Versucher. Seine Engel oder Geister (die gefallenen Engel von Gen. 6) heißen „Geister des Frevels" oder „Geister des Irrtums". Man sieht in ihnen die Ursache der Sünde, und sie inspirieren diejenigen Menschen, die zum Bereiche Belials gehören, Böses zu tun. Auch als Strafengel können Belial und seine Geister erscheinen. Gerade in der Engellehre und Dämonologie bleiben die Aussagen der Qumrantexte eigenartig schwebend zwischen mythologischen Anschauungen eines eschatologischen Bewußtseins - hier sind die Geister kosmische Mächte, die miteinander im Kampf liegen - und psychologischen Motiven einer individualisierten Frömmigkeit - hier sind die Geister Mächte im menschlichen Herzen, die versuchend oder hilfreich eingreifen. Damit ist schon angedeutet, daß die Essener sich nicht nur um die Reinerhaltung ihrer Gemeinschaft als erwähltes Gottesvolk der Endzeit bemühten, sondern im Zusammenhang damit auch die Probleme individueller Frömmigkeitserfahrung stark betonten. Das Psalmbuch der Sekte (Hodajoth, 1 Q H ) legt davon beredtes Zeugnis ab. Es spricht von der Erfahrung der Nichtigkeit des Menschen und von seinem Angewiesensein auf Gottes Erbarmen; vom Menschen, dessen Fleisch nur Staub und dessen H e r z von Stein ist, bis Gott „Geschehnisse der Ewigkeit in das menschliche H e r z eingräbt". Die Betonung des Vertrauens auf Gottes ewig währende Treue zu seinem Frommen kann als Ausdruck des Bewußtseins der Unsterblichkeit verstanden werden. Jedenfalls schreibt Josephus den Essenern den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele zu. Nach der Zerstörung von Q u m r a n durch die Römer verschwanden die Essener aus der Geschichte. Die pharisäische Schule, die bei der Neuordnung des Judentums nach der Zerstörung Jerusalems führend war, hat die Sonderlehren der Essener nicht geteilt. Doch hat das pharisäische Judentum, und noch mehr das Christentum, viele Elemente der Apokalyptik übernommen, die vor allem die Essener der hellenistischen Zeit in der Tradition der Hasidim weitergebildet hatten. d) Die Pharisäer Unsere Kenntnis der Sekte der Pharisäer (vielleicht = „die Abgesonderten"; die Deutung ist unsicher) und ihrer Entwicklung in vorchristlicher und urchristlicher Zeit ist begrenzt. D a ihnen keine einzige erhaltene Schrift mit Sicherheit zugeschrieben werden
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kann (manche Gelehrte sehen die Psalmen Salomos als pharisäisch an), sind wir fast ganz auf Quellen angewiesen, die aus den letzten Jahrzehnten des l . J h . n C h r stammen: die Evangelien des N T , die Angaben des jüdischen Historikers Josephus und die in der rabbinischen Tradition, vor allem in der Mischna, erhaltenen Überlieferungen. Alle drei Quellen sind in je eigener Weise tendenziös. Die Evangelien enthalten Traditionen, die der Sekte der Jesus-Anhänger zugehören, die den Pharisäern nicht freundlich gesonnen waren. Josephus sucht zu beweisen, daß die Pharisäer als Vorgänger des sich neu konstituierenden Judentums eine religiöse Bewegung waren, die immer die Unterstützung des Volkes besaßen und kaum Anteil an den radikalen politischen Bewegungen hatten, die zum jüdischen Kriege führten. Die rabbinischen Überlieferungen, die erst viel später schriftlich fixiert wurden, enthalten zwar umfangreiche ältere pharisäische Traditionen, jedoch steht eine kritische und formgeschichtliche Analyse dieses Materials erst in ihren Anfängen; außerdem wurden hier nur Traditionen eines Teiles der pharisäischen Bewegung, nämlich der Schule Hilleis, gepflegt. Die Pharisäer gingen aus der Bewegung der Hasidim hervor, die im 2.Jh.vChr der Träger des makkabäischen Aufstandes war. Im Blick auf ihren Ursprung sind sie also eng mit den Essenern verwandt. Im Unterschied zu ihnen haben sie sich jedoch nicht vom politischen Leben des jüdischen Volkes während der Hasmonäerzeit abgesondert, sondern versucht, ihren Einfluß zu festigen und zu erweitern. Sie waren auch keine priesterliche Bewegung, sondern Laien - ein Priester konnte nicht Rabbi sein - , und teilten daher nicht den essenischen Anspruch auf den Besitz der legitimen Priestertradition im Protest gegen die Illegitimität des hasmonäischen Hohenpriesters, standen also nicht in einem grundsätzlichen Gegensatz zum politischen Etablissement. Ob die Pharisäer bereits in den letzten Jahrzehnten des 2.Jh.vChr mit dem Hasmonäer Johannes Hyrkanos in Konflikt gerieten, ist nicht sicher, da die Darstellung bei Josephus (Ant. 13. 288 ff) als historische Nachricht fragwürdig ist. In der rabbinischen Überlieferung wird die gleiche Erzählung mit Alexander Jannäus verbunden. Josephus setzt voraus (Bell. 1. 113 und Ant. 13. 403 ff), daß die Pharisäer in der Tat zu den von Jannäus Verfolgten gehörten. Allerdings sagt er nirgends ausdrücklich, daß die 800 von Jannäus gekreuzigten Juden Pharisäer waren. So ist es nicht möglich, sich eine genauere Vorstellung von der Art ihres Verhältnisses zu den ersten Hasmonäern zu ma-
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chen. Immerhin erklären sich die wenigen erhaltenen Nachrichten am besten, wenn man annimmt, daß die Pharisäer eine gut organisierte politische Bewegung waren. Das ist vollends deutlich in den Berichten über die Rolle, die ihnen in der Regierungszeit von Jannäus' Witwe Alexandra zufiel, die von 78-69vChr offenbar recht geschickt den jüdischen Staat leitete. Während dieser Jahre bestimmten die Pharisäer die Politik und gingen mit den Beratern des toten Königs Alexander Jannäus und anderen Feinden gnadenlos ins Gericht (Josephus Bell. 1.107-115; Ant. 13.399-418). Unter Herodes dem Großen, der sich zunächst, so gut es ging, mit den Pharisäern arrangierte, kam es später zu Konflikten - die Pharisäer versuchten offenbar, in die Hofintrigen gegen den alternden König einzugreifen - und Herodes ließ eine Reihe von ihnen hinrichten. Damit endete jedoch die Zeit, in der diese politisch-religiöse Gruppe von Laien, Rechtsgelehrten und Schriftauslegern als politischer Machtfaktor in Erscheinung trat. Zur Zeit Jesu und der ersten christlichen Gemeinden Palästinas - das ist das Bild des in den Evangelien erhaltenen älteren Quellenmaterials - und in den allgemeinen Berichten des Josephus über den Charakter der pharisäischen Bewegung (Bell. 2.162-164, 166; Ant. 13.12-17, 171 f) erscheinen die Pharisäer als eine Gruppe, die einzig und allein die Verwirklichung religiöser Ziele im Auge hatte. Man geht nicht fehl, wenn man diese Wandlung des Pharisäertums im wesentlichen dem Einfluß Hillels zuschreibt, dessen Schüler und Nachfolger die Führung des Judentums nach der Katastrophe des jüdischen Krieges von den Schülern seines Gegners Schammai übernahmen. Hillel (ca. 5 0 v C h r - 1 0 n C h r ) war ein jüdischer Rechtsgelehrter aus Babylonien, der in Palästina eine mit Schammai rivalisierende Schule gründete. In den zahlreichen rabbinischen Überlieferungen, die Hillel und Schammai einander gegenüberstellen, erscheint Hillel als der liberale und geduldige volkstümliche Lehrer, während Schammai, streng und jähzornig, auf einer elitistischen Auslegung des Gesetzes besteht. Wesentlich ist, daß Hillel durch seine Auslegungsmethode die Ermöglichung der Gesetzesbefolgung aus dem kultischen Bereich löste und in den alltäglichen Bereich übertrug, sie also demokratisierte (s.u. §6.6f). Die Tatsache, daß Hillel aus der jüdischen Diaspora stammte, hat wohl dazu beigetragen, daß diese religiöse Prägung des Pharisäertums faktisch ohne den Tempelkult bestehen konnte, daß sie durchaus „hellenistisches" Gepräge trug und daß sie volkstümli-
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chen religiösen Anschauungen aufgeschlossen gegenüberstand. Die apokalyptischen und messianischen Erwartungen der Pharisäer sind allerdings nicht einfach ein Teil solcher volkstümlichen Anschauungen, sondern ein Erbe der alten hasidischen Bewegung. Aber im Gegensatz zur hasidischen Revolution und zur politischen Phase des Pharisäertums war seit Hillel die Erfüllung der apokalyptischen H o f f n u n g nicht mehr an die Verwirklichung politischer Ziele geknüpft. Messianische Erwartungen waren bei den Pharisäern der Zeit Jesu und später im rabbinischen Judentum durchaus lebendig, aber sie waren an die Frage der Gesetzeserfüllung Israels gebunden. Daß so das Schicksal und die Zukunft des Menschen und des Volkes von der moralischen und rituellen Erfüllung des Gesetzes abhängig werden konnten, ist eine typisch hellenistische Vorstellung, ebenso die Annahme, daß solches Tun lehrbar sei. Dadurch wurde im pharisäischen Judentum die „ S c h u l e " und die vom Lehrer dem Schüler übergebene Auslegungstradition zur zentralen religiösen Institution, analog zur Funktion der „ S c h u l e " in der philosophischen Entwicklung der hellenistischen und römischen Zeit. Josephus hat also gar nicht so unrecht, wenn er die Pharisäer als philosophische Sekte darstellt. Die Aufstellung von Traditionsketten von Lehrern, die Ausprägung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, die Bezeichnung der Lehre als Weisheit oder Philosophie, - all das ist typisch hellenistisch. Auch die Terminologie der pharisäischen Schulen ist, wie die rabbinischen Schriften zeigen, voll von griechischen philosophischen Begriffen. Der sogenannte Liberalismus der Schüler Hillels ist nichts anderes als die erfolgreiche Lehre, daß die Erfüllung des alten Gesetzes des Moses auch unter den gewandelten Bedingungen einer neuen Zeit möglich ist. Die Pharisäer wollten also keineswegs die Erfüllung des Gesetzes erschweren; vielmehr ging es ihnen in ihrer Auslegung darum, diese Erfüllung zu ermöglichen - um der kommenden Gottesherrschaft willen! Die Methode dieser Auslegung war die „ H a l a c h a " („wie man sich verhalten soll"), d.h. die Erörterung der Gründe und Gegengründe in Bezug auf eine sinnvolle Erfüllung des Gesetzes in einer gewandelten Zeit. Freilich geht diese hermeneutische Methode von der Voraussetzung aus, daß alles, was einst geschrieben wurde, in der Absicht geschrieben war, in einer neuen Zeit gültig zu sein. Dies entspricht durchaus dem Geist der hellenistischen Zeit; die stoische Homer-Allegorese beruht auf ähnlichen Voraussetzungen. Hier wie dort waren Überspanntheiten und Spitzfindigkeiten der
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Auslegung eine natürliche Folge; denn man konnte nicht zugeben, daß die schriftliche Fixierung der Tradition aus der Vergangenheit im Ganzen sowie im Detail sich nicht auf Probleme des Lebens in der Gegenwart anwenden ließ. Jesus' Antithesen der Bergpredigt („Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt w a r d . . . , ich aber sage euch") stehen im scharfen Gegensatz zu dieser Gesetzesauslegung. Ein weiteres hellenistisches Element im religiösen Pharisäismus ist der Individualismus. Die Loslösung der Gesetzeserfüllung vom Tempelkult und vom unmittelbaren Zusammenhang mit der Kultgemeinde ermöglichte dem Einzelnen, das Gesetz auch innerhalb der nichtjüdischen Gesellschaft zu erfüllen, da er lernen konnte, im täglichen Leben zwischen rein und unrein zu unterscheiden. Dies wurde zu seinem eigenen Werk, durch das er für sich selbst an der ursprünglich ganz Israel geltenden Gerechtigkeit Gottes Anteil erhielt. Daß der Einzelne sich solcher Gesetzeserfüllung auch rühmen kann, versteht sich dabei von selbst. Entsprechend ist die V o r stellung von Lohn und Strafe ebenso wie die Auferstehungserwartung und Gerichtsvorstellung der Pharisäer individualistisch gefaßt und damit der griechischen Vorstellung von der Unsterblichkeit und vom Totengericht parallel. Ein weiterer Zug hellenistischer Frömmigkeit, dessen jüdische Analogie ebenfalls im Pharisäismus entstand, ist die Mystik. Sie ist ein Zeichen dafür, daß ein politisches Selbstverständnis einer persönlichen Frömmigkeit gewichen ist. Allerdings läßt sich beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht entscheiden, in welchem Maße die spätere rabbinische Mystik (Kabbala) und die gnostische Bewegung auf Anfänge zurückgehen, die im pharisäischen Judentum zu suchen sind. Immerhin kann Paulus, ein ehemaliger Pharisäer, auf seine eigene Erfahrung der „Himmelsreise der Seele" verweisen. Was die Organisation der Pharisäer anbetrifft, wird man sich hüten müssen, sie als „ S e k t e " zu beschreiben. Wohl scheinen Pharisäer sich zu gemeinsamen Mahlzeiten getroffen zu haben, aber nichts ist über die Liturgie solcher Mahlzeiten bekannt, noch gab es Initiationsriten und Regeln für ein gemeinsames Leben. Die Unterschiede zu den Essenern sind deutlich genug. Die Pharisäer waren eher eine lose gefügte Interessengemeinschaft, deren einzige Institution das Schulhaus war, in dem die jüngeren Männer wie in einer Philosophenschule unterrichtet wurden. Nach der Katastrophe des jüdischen Krieges ging die Neuorganisation des Judentums im Geist und der Tradition des Pharisäismus ebenfalls vom in-
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stitutionellen Modell der Schule aus, das für das rabbinische Judentum charakteristisch bleiben sollte (s.u. §6.6f). e) Die Weisheitstheologie Vorläufer der Weisheitstheologie der hellenistischen Zeit ist die Erfahrungsweisheit Israels. Solche Weisheitsüberlieferungen gab es in Israel in vorexilischer Zeit ebenso wie bei anderen Völkern des Altertums, so daß man von einem internationalen Phänomen reden muß. Der Schatz solcher Uberlieferungen erwuchs aus der Erfahrung von Generationen in den verschiedenen Lebensbeziehungen in Familie, Beruf, gesellschaftlicher Stellung und politischer Betätigung, sowie aus der Beobachtung der Naturzusammenhänge. In der Überlieferung galten Göttergestalten, mythische Wesen oder Menschen und Herrscher der Vorzeit als die Urheber und Vermittler solcher Weisheit, wie in Israel Henoch oder Salomo. Daher trat die Weisheit oft mit dem Anspruch auf, aus Offenbarung entstanden zu sein, sei es in einer mythischen Urzeit, sei es durch eine geschichtliche Person, der man außerordentliche göttliche Begabung zuschrieb (Salomo). Entsprechend gab es festgefügte Traditionen und das Amt des Weisheitslehrers, durch die Weisheit weitervermittelt wurden. In Israel sind die Anfänge solcher Institutionalisierung der Weisheitsüberlieferung in der Zeit Salomos zu sehen. Die angesammelten Beobachtungen wurden geordnet und in Listen, Reihen und Onomastiken zusammengestellt oft haben sich solche Listen über Jahrhunderte gehalten und tauchen in späteren apokalyptischen und gnostischen Texten innerhalb von kosmologischen Spekulationen oder eschatologischen Berechnungen wieder auf. Im ursprünglichen Kontext ging es bei der Formulierung dieses Materials um ganz praktische Interessen wie um Instruktion für Beamte, um Berufsanweisung und um Menschenbildung zur Bemeisterung der Probleme menschlichen Lebens und Zusammenlebens. Wie in Griechenland so lag dabei auch in Israel der Nachdruck auf dem Erkennen des rechten Maßes. Mit dem durch das Exil herbeigeführten Zusammenbruch der hergebrachten politischen und gesellschaftlichen Bezüge fiel der Weisheit eine ganz neue Rolle zu. Bis zur deuteronomistischen Geschichtsschreibung war es die Aufgabe der Prophetie und der heilsgeschichtlichen Aufarbeitung geschichtlicher Erfahrungen des Volkes, den Raum der politischen und sozialen Ordnung gegen die Bedrohung durch unheilvolle Mächte zu verteidigen. Die zuneh-
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mende Überzeugung von der Fragwürdigkeit solcher Bemühungen verlangte von den Weisheitsüberlieferungen eine neue Antwort. Die Weisheit war ja nicht bloß eine Feststellung dessen, was jedermann schon wußte. Vielmehr war es ihre Absicht, die Welt einsichtig zu machen, sie zu ordnen und das ständig drohende Chaos zu überwinden. Aber in der Weisheit wurde das wichtigste Ordnungsprinzip nicht in der Rückbesinnung auf geschichtliche Erfahrung gefunden, sondern in der Betrachtung der Schöpfung, der Erscheinungen der Natur und der in der Urzeit angelegten Strukturen allgemeingültiger Erfahrungen des Menschen. All dies wird durch die Widrigkeiten historischer Zufälligkeit nicht berührt. Der Mensch kann sich daran orientieren, auch wenn die Heilsgeschichte nicht hält, was sie verspricht. Wie die Apokalyptik, die Zwillingsschwester der Weisheit, konnte sich das Weisheitsdenken auf Urzeit und Schöpfung berufen. Die Anfänge der Weisheitstheologie sind darum mit denen der Apokalyptik eng verwandt. Erst später trennen sich ihre Wege, obwohl Querverbindungen noch lange bestehen blieben. In der Apokalyptik wurde die Orientierung an Schöpfung und Urzeit mit den neuen geschichtlichen Erfahrungen und Erwartungen eines auserwählten Restes des Volkes Israel verbunden. Die Weisheitstheologie bezog sich konsequent auf die Erfahrung des Einzelnen und formte zusammen mit einer für den Hellenismus typischen universalistischen Weltsicht das Ideal des Frommen - oder des Weisen oder Philosophen - schlechthin. Die „Weisheit" blieb nicht einfach eine Einsicht in die Schöpfung; sie wurde selbst zum Plan der Schöpfung und schließlich als mythische Gestalt die Mittlerin der Schöpfung. O b es sich dabei um das Aufbrechen unterschwelliger mythischer Gedanken oder um die Hypostasierung einer Idee handelte, ist schließlich gleichgültig. Daß die Gestalt der himmlischen Weisheit eine bestimmte orientalische Gottheit (etwa Anat oder Astarte) widerspiegelt, läßt sich nur schwer beweisen, weil sich jeweils nur wenige parallele Züge nachweisen lassen. Am ehesten wird man noch an die spätägyptisch-hellenistische Isis denken können, die in höherem Maße als andere orientalische Gottheiten eng mit der Weisheit und mit der Weltschöpfung verbunden war. Die Weisheit ist nicht von Gott erschaffen, sondern aus seinem Munde hervorgegangen und schon vor dem Beginn der Schöpfung da. Sie erscheint als Syzygos Jahwehs. D a durch sie alle Dinge erschaffen sind und erhalten werden, trägt sie die Züge der Himmelskönigin. Sie garantiert die Ordnung der Welt und bewahrt sie vor dem Chaos.
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Will der Mensch sich in dieser Welt zurechtfinden, so muß er nicht nur auf die Belehrung der Weisheit achten und ihrer Stimme folgen. Er muß vor allem sich selbst und seine Bestimmung erkennen, die nicht aus der Geschichte, sondern aus der Schöpfung einsichtig wird. Der göttliche Anspruch hat mit der Zugehörigkeit des Menschen zu einem erwählten Volk nichts mehr zu tun, sondern ergibt sich aus der Erschaffung des Menschen nach dem Ebenbilde Gottes, gründet also letztlich in seiner Göttlichkeit. So redet die Weisheit den Menschen auf seine Bestimmung hin an, die ebenso göttlich ist wie sein Ursprung (Weisheit Salomos, Philo; s.u.§5.3e und f)· Dadurch ist der Weise und Gerechte grundsätzlich, ja geradezu metaphysisch, vom Ungerechten unterschieden. Seines göttlichen Ursprungs teilhaftig kennt der Weise den wahren Sinn des Weltablaufs, in dem er entgegen allem Schein und trotz Verachtung und Verfolgung, die er erleiden muß, schließlich doch bestätigt und gerechtfertigt werden wird. Die Skepsis hat sich gegen diese Botschaft der Weisheitstheologie gewehrt und ihr gegenüber auf der Sinnlosigkeit des Weltablaufs und auf der Vergänglichkeit des Menschen insistiert. Das Buch des Predigers Salomo (Qohelet; s.u.§5.3e) ist dafür das deutlichste Zeugnis. Gewiß kann man die Naturzusammenhänge und ihre Abläufe beobachten und beschreiben, aber ein Sinn ergibt sich aus diesem zwecklosen Kreislauf der ewigen Wiederkehr nicht. Sieht man auf das Ende des Menschenlebens und weiß, wie der Mensch im Alter die Erniedrigung des Verfalls seiner Kräfte erdulden muß, so fällt es schwer, ihm eine göttliche Bestimmung zuzuschreiben. In der Skepsis läßt sich mit der Lebenserfahrung des Einzelnen keine Gottesvorstellung verbinden. Gott läßt sich nur als allgemeine Macht des Weltablaufs und des unpersönlichen Schicksals begreifen. Die Weisheitstheologie hat sich gegen die Skepsis und gegen die sich aus ihr ergebenden moralischen Konsequenzen gewehrt, indem sie die Weisheit mit dem Gesetz verband. Was die Weisheit lehrt, ist identisch mit dem, was das Gesetz fordert. Gesetzeserfüllung ist so der Weg zur Erfüllung der göttlichen Bestimmung des Menschen. Die Lehren der Weisheit sind das, was in der Gesetzgebung immer schon und eigentlich gemeint war. In diesem Zusammenhang gewannen die Personen der Heilsgeschichte Israels eine neue Bedeutung. Sie wurden zu Urbildern und Vorbildern eines Lebens in der Weisheit. Besonders ihr unbeirrbares Festhalten an
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ihrer Bestimmung trotz des langen Ausbleibens der Bestätigung ihres Tuns wird betont, denn das entspricht dem Verständnis der Existenz des Gerechten in der Gegenwart. Dabei wird diese Erfahrung des Weisen in der Welt als zeitlose und allgemeingültige Erfahrung dargestellt; dem dient u. a. die Auslassung der Eigennamen bei der Anführung von Beispielen aus der Geschichte (Weisheit Salomos). Wenn Philo von Alexandrien die Vorväter Israels als Urbilder des wahren Philosophen darstellt, so führt er die Tradition dieser Weisheitstheologie unmittelbar fort. Das Motiv des göttlichen Ursprungs des Weisen und der Verborgenheit seines wahren Seins in der Welt, das auch im Mythos von der Weisheit, die in die Welt kam und. dort keine Stätte fand, zum Ausdruck kommt, führt unmittelbar in das gnostische Denken (s.u.§6.5f). Auch innerhalb der apokalyptischen Theologie spielte die Weisheit eine bedeutende Rolle, die freilich hier ganz anders akzentuiert ist. Die Weisheit beruht auf Offenbarung; sie ist ein Geheimnis, das sich durch Visionen, Traumgesichte und Entrückungen (Himmelsreise) kundtut. Von diesem Weisheitsbegriff führt keine Brücke zur Philosophie - denn dazu müßte man voraussetzen können, daß die Weisheit lehrbar ist. Die apokalyptische Weisheit denkt in den Kategorien des Mythos; die Listenwissenschaft der Weisheit wird hier oft in mythologische Erzählung umgesetzt. Die irdische und himmlische „Geographie" dieser Weisheit ist daher durch und durch mythologisch; aus diesem Erbe hat das frühchristliche Weltbild seine starke mythologische Prägung erhalten. Das Wissen von der Welt beruht hier gerade nicht auf der Beobachtung der Natur und auf der Erfahrung, sondern auf der inspirierten Vision jener Dinge im Himmel und auf Erden, die der Beobachtung und Erfahrung nicht zugänglich sind. Der Weise ist inspirierter Besitzer von Geheimnissen. So enthüllt er die Zukunft und belehrt über die Vergangenheit und darüber, wie durch beide die Gegenwart bestimmt wird. Ein typisches Kennzeichen dieser Auffassung vom Weisen ist die Pseudepigraphie: die entsprechenden Schriften erscheinen unter dem Namen eines Weisen der Vorzeit wie Henoch oder Daniel. f) Die Samaritaner Bis zur Eroberung durch Alexander war die nach ihrer Hauptstadt Samaria benannte Provinz, das Gebiet der Stämme Ephraim und Manasse, politisch und religiös ebenso israelitisch wie Judäa
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und das Ostjordanland. Die Stadt Samaria war durch Omri (878/7-871/70 vChr) als Hauptstadt des Nordreiches Israel gegründet worden. Von den Assyrern 721vChr erobert, wurde sie zur Hauptstadt einer Provinz, die allerdings nicht das ganze ehemalige Nordreich, sondern nur das Gebirge Ephraim und die nördlich angrenzenden Gebiete bis zum Tal Jezreel umfaßte. So blieb es auch unter babylonischer und persischer Verwaltung. Nach der Rückkehr der babylonischen Exulanten wurden Jerusalem und Judäa dem Gouverneur von Samaria unterstellt; erst unter Nehemia erhielten sie den Status einer selbständigen Provinz. Ohne Zweifel bestand während der persischen Zeit eine gewisse Rivalität zwischen den beiden Provinzen Samaria und Jerusalem. Aber für den religiösen Bereich scheint das keine Bedeutung gehabt zu haben; denn trotz der Wegführung eines Teiles der Bevölkerung des Nordreiches durch die Assyrer waren die meisten Einwohner Samariens Israeliten, die auch, wie der samaritanische Pentateuch zeigt, voll und ganz die Gesetzesreform des Esra übernahmen. Soweit muß man die Samaritaner als „jüdisch" bezeichnen. Auch andere Anzeichen für positive Beziehungen der beiden Landesteile sind vorhanden; z.B. gab es mehrfach Heiraten zwischen den Häusern der samaritanischen Satrapen und der Jerusalemer Hohenpriester. Nach der Eroberung Palästinas durch Alexander den Großen wurde die Geschichte Samariens in andere Bahnen gelenkt als die Jerusalems. Im Unterschied zu Jerusalem rebellierte Samaria gegen Alexanders Oberhoheit, als dieser in Ägypten war. Alexanders General eroberte und zerstörte 331vChr die Stadt, vertrieb die Bevölkerung und gründete an Stelle der alten Königsstadt Israels eine makedonische Militärkolonie. Die Bevölkerung Samariens floh nach Sichern und baute diese seit 400 Jahren verlassene Stadt als neues Zentrum wieder auf; Ausgrabungen haben gezeigt, daß in Sichern nach jahrhundertelanger Unterbrechung am Anfang der hellenistischen Zeit eine neue Bauepoche beginnt. Auf dem nahe gelegenen Berg Garizim errichteten diese sichemitischen Samaritaner ihren Tempel. Das mußte jedoch nicht notwendigerweise zum Bruch der religiösen Gemeinschaft mit Jerusalem führen; denn ähnliche jüdische Tempel sind auch sonst bezeugt: die Tobiaden hatten ihren eigenen Tempel im Ostjordanland, und der aus Jerusalem vertriebene Hohepriester Onias IV. gründete später einen Tempel in Leontopolis in Ägypten. In der Tat gibt es auch keine Beweise
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dafür, daß der Tempelbau auf dem Garizim der Anlaß für das samaritanische Schisma war. Eine Reihe von guten Gründen sprechen vielmehr dafür, daß der entscheidende Anstoß zum endgültigen Zerwürfnis in Ereignissen der Hasmonäerzeit zu suchen ist. Im Jahre 128vChr zerstörte Johannes Hyrkanus den Tempel auf dem Garizim; 20 Jahre später eroberte und zerstörte er die Stadt Samaria und machte damit die gesamte Provinz zu einem Teil des hasmonäischen Reiches. Gleichzeitig versuchte er, Samaria ebenso wie andere Teile seines jüdischen Großreiches auch religionspolitisch der Oberhoheit Jerusalems zu unterwerfen. Dieser gewalttätigen Religionspolitik haben sich die Samaritaner widersetzt, konnten aber erst nach der Eroberung des Landes durch die Römer offiziell die Anerkennung als selbständige Religionsgemeinschaft erlangen. Erst von diesem Zeitpunkt an begann die Entwicklung einer eigenen samaritanischen Literatur (samaritanische Targume, später auch Midrasche). Die Gründe für diese Spätdatierung des samaritanischen Schismas sind zum Teil erst durch neuere Forschungen klar zutage getreten. Der samaritanische Pentateuch ist mit dem auf die Reform Esras zurückgehenden Gesetzbuch identisch. Sein Text ist mit dem in der hellenistischen Zeit in Jerusalem gebräuchlichen Text enger verwandt, als man bisher annahm. Bisher hatte man den samaritanischen Text mit dem masoretischen Text verglichen, der auf die babylonische Textform zurückgeht, und dabei eine große Anzahl von Varianten festgestellt. Aber die meisten dieser Besonderheiten des samaritanischen Pentateuchs verschwinden, sobald man ihn mit dem jetzt in Qumran aufgefundenen palästinischen Text vergleicht. Die enge Verwandtschaft mit dem palästinischen Text zeigt sich auch in der samaritanischen Orthographie; sie entspricht dem erst im 2.Jh.vChr entstandenen Gebrauch, der vielfach in Qumran belegt ist. Aus diesem Grunde kann man die Abspaltung der samaritanischen Tradition nicht vor dem Ausgang des 2.Jh.vChr ansetzen. Das wird durch die samaritanische Schrift bestätigt: sie beginnt ihre Sonderentwicklung von der althebräischen Schrift, die in Qumran oft für Pentateuchmanuskripte benutzt wird und sich ebenfalls auf hasmonäischen Münzen findet, erst im l.Jh.vChr. Schließlich sind auch wesentliche Elemente der samaritanischen Apokalyptik eng mit der makkabäischen Phase der jüdischen Apokalyptik verwandt. Die Erwartung Moses' als Prophet der Endzeit und des „Taheb", des samaritanischen Messias, der
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alles wiederherstellen soll, fügen sich ebenso in die apokalyptischen Vorstellungen des Judentums jener Zeit ein wie samaritanische Engellehre und Erwartung des Endgerichts und der Totenauferstehung. Allerdings sind diese meist erst in der reichen mittelalterlichen Literatur der Samaritaner auftauchenden Anschauungen in der Regel so stark von späteren Entwicklungen überwuchert, daß eine Altersbestimmung der hier aufbewahrten Traditionen nicht leicht ist. Daran, daß zur Zeit Jesu und des frühen Christentums die Samaritaner von den maßgebenden Kreisen Jerusalems abgelehnt und verachtet wurden, besteht kein Zweifel. Aber der Vorwurf, daß die Samaritaner halbheidnische, längst dem Synkretismus verfallene abtrünnige Israeliten waren, ist gewiß unberechtigt. Tatsächlich gibt es bei den Samaritanern keinen Synkretismus, der sich nicht auch in jüdischen Quellen nachweisen ließe. Daß Herodes der Große die Stadt Samaria in großartiger Weise wiederaufbaute, ihr zu Ehren des Augustus den Namen „Sebaste" gab (Augustus hatte ihm 30vChr Samaria geschenkt) und dort einen großen Augustustempel errichten ließ, kann man der samaritanischen Religionsgemeinschaft ebenso wenig anlasten wie die mögliche samaritanische Herkunft des christlichen Erzhäretikers Simon Magus. Das Johannesevangelium (Joh. 4) weiß sehr gut, daß nicht Samaria, sondern der Garizim bei Sichern das religiöse Zentrum der Samaritaner war und daß sie das Kommen des Messias ebenso erwarteten wie die Juden. Sucht man nach dem wahren Grund der Ablehnung der Samaritaner durch die Juden am Anfang des l.Jh.nChr, so wird vor allem daran zu denken sein, daß die samaritanische Kultgemeinde ihre Sonderentwicklung bereits begonnen hatte, als von den Pharisäern wesentliche Impulse zur religiösen Erneuerung des Judentums ausgingen. Gegenüber dieser neuen Phase der Entwicklung des Jerusalemer Judentums mußten die Samaritaner als Abtrünnige und als „unrein" erscheinen. Auf der anderen Seite hat das frühe Christentum sich offenbar nicht davon abhalten lassen, auch in dem Gebiet der Samaritaner zu missionieren (Apg. 8,1 ff) und hat die Vorurteile der Pharisäer gegenüber den Samaritanern nur teilweise übernommen (Mt. 10,5). Jesus selbst scheint diese Vorurteile überhaupt nicht geteilt zu haben (vgl. Lk. 10,33).
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Das Judentum der hellenistischen Zeit 3. Die Literatur des Judentums
der hellenistischen
Zeit
und J . S C H R E I N E R (Herausgeber), Literatur und Religion des Frühjudentums: Eine Einführung, 1973. 0 . STÄHLIN, Die hellenistisch-jüdische Literatur, Geschichte der griechischen Literatur, herausgegeben von Christ und Schmid, HAW 12,1, 6 1920, 535-656. S. LIEBERMANN, Hellenism in Jewish Palestine, 2 1962. J. Η. CHARLESWORTH, The Pseudepigrapha and Modern Research, Septuagint and Cognate Studies 7, 1976. J.MAIER
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a) Die Sprachen des Judentums der hellenistischen Zeit Hebräisch, die Sprache Israels, blieb auch nach dem Exil die religiöse Schriftsprache. Nicht nur die älteren Bücher wurden weiterhin in hebräischer Sprache abgeschrieben und gelesen; selbst in späthellenistischer Zeit entstanden noch neue Schriften in hebräischer Sprache. Die Handschriften vom Toten Meer haben jüngst viele dieser Schriften im hebräischen Original zutage gebracht. Doch war dieses Hebräisch der hellenistischen Zeit eine Gelehrtensprache, gelegentlich auch offizielle Sprache (auf hasmonäischen Münzen, in den Briefen Bar-Kochbas), die sich später im mischnäischen Hebräisch des rabbinischen Judentums fortsetzte. Die eigentliche Umgangs- und Verkehrssprache Syriens und Mesopotamiens war das Aramäische, das in der nachexilischen Zeit auch von den meisten Juden Palästinas im täglichen Leben gesprochen wurde. Diese Sprache der seit dem Ende des 2. Jahrtausends in Nordsyrien und am Euphrat ansässigen semitischen Völker gehört wie das Hebräische zu den nordwestsemitischen Sprachen, jedoch zusammen mit Phönizisch und Ugaritisch zu einem anderen Zweig dieser Sprachfamilie. Eine offizielle Form des Aramäischen war in den Kanzleien des assyrischen Reiches als Verwaltungs- und Wirtschaftssprache gebildet worden. Diese lingua franca wurde von den Babyloniern und dann von den Persern übernommen. Als „Reichsaramäisch" wurde es im gesamten persischen Reich von den östlichen Provinzen bis nach Ägypten hin verstanden und benutzt. Nach der Eroberung des persischen Reiches durch Alexander trat es als Verwaltungssprache hinter dem Griechischen zurück, blieb aber als Wirtschafts- und Umgangssprache bis zur römischen Kaiserzeit in Gebrauch. Nach Vermischung mit vielen lokalen Dialekten bildeten sich daraus die Tochtersprachen des Aramäischen, die bis in die spätere christliche Zeit, z.T. bis in die Gegenwart hineinreichen. Zu den westaramäischen Sprachen gehören die Dialekte, die von den Israeliten Palästinas gesprochen wurden, darunter das Galiläische (die Sprache Jesu, die mit dem Aramäisch des palästinischen Talmuds und der älteren Targume eng verwandt ist), das Samaritanische, sowie das christliche Aramäisch der Melchiten Syriens und Ägyptens. Hingegen gehören die Sprache des babylonischen Talmuds, das Mandäische und das Syrische zum Ostaramäischen - letzteres wurde die wichtigste christliche Schriftsprache des Orients. In den Schriften des Judentums der hellenisti-
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sehen Zeit w u r d e gelegentlich Aramäisch an Stelle des H e b r ä i schen verwendet, und eine Reihe jüdischer Schriften sind in Ü b e r setzungen erhalten, die auf eine aramäische Vorlage zurückgehen. Seit dem Beginn der hellenistischen Zeit gewann jedoch das Griechische in den Teilreichen des Alexanderreiches zunehmend an Boden, vor allem als Sprache der griechischen Verwaltung, und zwar in der Form der „ K o i n e " (s.o. § 3 . 2 a - c ) . D a ß es trotz des Weiterbestehens des Aramäischen als Verkehrs- und Umgangssprache größeren Einfluß gewann, verdankt es zwei Faktoren: einmal der griechischen Kolonisation, die sich in den Städtegründungen in den Provinzen des Ostens, u.a. auch Palästinas, d o k u mentierte ; zum andern seiner Bedeutung als Kultursprache, die das Erlernen des Griechischen zum ersten Schritt der Erziehung f ü r alle machte, die an der neuen ökumenischen Kultur teilnehmen wollten. So kamen die Juden Palästinas mit dem Griechischen nicht nur dadurch in Berührung, daß in vielen Städten des Landes griechisch gesprochen w u r d e ; sie sahen sich auch einer Weltkultur gegenüber gestellt, in der sie ihren Väterglauben nur dann z u r Geltung bringen konnten, wenn sie griechisch redeten und schrieben. Das galt nicht nur f ü r die Diaspora. Auch in Palästina entstanden jüdische Schriften in griechischer Sprache und Übersetzungen hebräischer und aramäischer Schriften ins Griechische, wenn auch hier eine wirkliche Beherrschung des Griechischen auf eine verhältnismäßig kleine Schicht der jüdischen Bevölkerung beschränkt blieb. An der Ü b e r t r a g u n g des religiösen Erbes des Judentums ins Griechische - ein P r o z e ß von weitreichender Bedeutung f ü r das Christentum - hatte auch das J u d e n t u m Palästinas teil, sowie gewiß mehrere jüdische Diasporagemeinden, nicht nur die Diaspora Alexandrias. b) Die Septuaginta Mit dem Terminus „ S e p t u a g i n t a " ( L X X ) bezeichnet man die griechische Übersetzung des Alten Testamentes. D e r N a m e stammt aus der Legende, die über die Entstehung dieser Übersetzung berichtet und die im Aristeasbrief (s.u. § 5. Je) erhalten ist: Ptolemaios II. Philadelphos ( 2 8 4 - 2 4 7 v C h r ) habe sich aus Jerusalem 72 Gelehrte k o m m e n lassen, die in 72 T a g e n das Gesetzbuch der Juden f ü r seine Bibliothek in Alexandrien übersetzten (daß alle 72 unabhängig voneinander durch göttliche Inspiration sonderbarerweise den gleichen griechischen T e x t hervorbrachten, sagt erst eine
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spätere Version dieser Legende). Ursprünglich war nur von der Ubersetzung des Pentateuch die Rede. Die Legende spiegelt die historische Tatsache wider, daß eine griechische Übersetzung im 3.Jh.vChr in Alexandrien entstanden ist. Die Grundlage war die alexandrinische Form des hebräischen Textes, eine Nebenform des palästinischen Textes (hingegen geht der durch das rabbinische Judentum überlieferte Text auf die babylonische Tradition zurück, dem die hebräische Grundlage der LXX oft überlegen ist). Im Laufe des 2. und l.Jh.vChr wurden weitere Bücher des AT (Prophetische Bücher und Hagiographen) ins Griechische übersetzt, und die Legende von der wunderbaren Entstehung auf sämtliche Bücher dieser griechischen Sammlungen alttestamentlicher Schriften ausgedehnt. Man fügte schließlich auch einige Schriften jüngeren Datums ein, die original griechisch verfaßt sind (3. und 4. Makkabäer, Weisheit Salomos). Dadurch und durch die Aufnahme von Ubersetzungen hebräischer Schriften, die zum späteren Schriftkanon des rabbinischen Judentums keinen Zugang fanden (1. und 2. Makkabäer, Tobith, Judith, Baruch, Jesus Sirach), sind die griechischen Sammlungen alttestamentlicher Schriften umfangreicher als der hebräische Kanon, den das rabbinische Judentum um das Jahr lOOnChr fixierte. Luther jedoch folgte in seiner Übersetzung dem aus dem mittelalterlichen Judentum bekannt gewordenen hebräischen Kanon und verwies die in ihm fehlenden Schriften der Septuaginta, die zum Teil noch in der lateinischen Vulgata enthalten waren, in einen Anhang als apokryphe Schriften des AT, „das sind Bücher, so der heiligen Schrift nicht gleichgehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind". In der reformierten Tradition wurden diese „Apokryphen" ganz fortgelassen. Diese Urteile der Reformatoren sind nur teilweise berechtigt. Zwar hat es weder in hellenistisch-jüdischen Kreisen, noch auch in der Alten Kirche jemals ein endgültiges Urteil über den Kanon des Altes Testamentes gegeben. Vielmehr war das AT der Alten Kirche, dem Brauch der hellenistischen Synagoge entsprechend, die schon vor dem hebräischen Kanon entstandene „Septuaginta", Schloß also die Apokryphen der Lutherbibel und oft noch weitere Schriften ein. Die Bedeutung der L X X für das Judentum der hellenistischen Zeit kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Übersetzungen waren zunächst für den Synagogengottesdienst in der griechischen Diaspora angefertigt worden und sind so ein indirektes Zeugnis dafür, daß eine Kenntnis des Hebräischen schon im 3.Jh.vChr
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für die Juden in der Diaspora nicht mehr allgemein vorausgesetzt werden konnte. Die Übertragung des hebräischen A T ins Griechische schuf aber nicht nur ein Buch, das im Gottesdienst verwendet werden konnte, sondern auch eine Basis für einen Neuaufbruch der jüdischen Theologie innerhalb eines neuen Kulturbereichs und ermöglichte es, die in der Tradition Israels und in der nachexilischen Theologie enthaltenen Ansätze einer Neubesinnung im Rahmen der Horizonte des Hellenismus zu entwickeln und fortzuführen. In diesem Sinne ist die LXX das vornehmste Zeugnis der Hellenisierung des Judentums. Zwar sind die griechischen Übersetzungen oft nur schwer verständliche Übertragungen hebräischer Sätze. Gelegentlich freilich geht ein Übersetzer freier mit der hebräischen Vorlage um wie in der Übersetzung des Buches Hiob (hier ist auch die hebräische Vorlage mit dem überlieferten hebräischen Text nicht identisch: LXX-Hiob ist ein Sechstel kürzer als der masoretische Text) oder in der Übersetzung der Sprüche Salomos, wo die LXX ebenfalls stark von der hebräischen Vorlage abweicht; in Prov. 8,22-31 erscheint die Weisheit deutlicher als im hebräischen Text als göttliche Gestalt, von Gott gezeugt, Garant der vollkommenen Schöpfung. Griechisch-philosophische Termini haben bei der Übersetzung in Ausnahmefällen eine Rolle gespielt. Ob es sich nun um eine sklavische oder um eine freiere Übersetzung handelte, die LXX wurde zur Quelle der theologischen Sprache des hellenistischen Judentums und damit auch des frühen Christentums. In verschiedener Weise wirkte diese griechische Bibel auf das religiöse Denken und die religiöse und teils philosophische Schriftstellerei ein. Von Anfang an bezeugt ist die Verwendung der L X X als Grundlage novellistischer Nacherzählungen der alttestamentlichen Geschichte, vor allem der Ur- und Vorgeschichte, der Geschichte Moses' und des Exodus (s.u. §5.3d). Dafür gab es Vorbilder und Parallelen im hebräischen und aramäischen Sprachraum. Die griechischen Literaturformen, in die dabei der Inhalt der biblischen Berichte umgesetzt wurde, reichen vom Roman über das Epos und das Drama bis zur Geschichtsschreibung. Erst später erschien der apologetische und allegorische Kommentar, der bei Philo von Alexandrien voll entwickelt ist und an den die christlichen Bibelkommentare unmittelbar anknüpfen konnten. Aber auch in solcher Literatur, die sich nicht direkt mit den Inhalten biblischer Schriften befaßt, ist die Wirkung der L X X auf Schritt und Tritt spürbar.
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Durch .die Übersetzung war die Bibel zu einem jedermann zugänglichen göttlichen und inspirierten Buch geworden, das uralte Weisheit enthielt, religiösen Tiefsinn und politische Einsicht. Als Lehrbuch rechten Verhaltens schien es ebenso geeignet wie als Quelle für Zauber und Magie. So konnte die jüdische Apologetik und Propaganda mit Stolz behaupten, daß die Bibel als Autorität der hellenistischen Weltkultur Homer und den griechischen Philosophen, ja auch der Weisheit Babylons und Ägyptens in nichts nachstehe, diesen sogar überlegen sei. Die Geschichte der Rezensionen der griechischen Bibel beweist, daß die Verbindung zwischen dem griechischen und dem hebräischen Text jahrhundertelang lebendig blieb. Revisionen des griechischen Textes standen in enger Beziehung zur Entwicklung des hebräischen Textes. Dadurch macht sich in den späteren Rezensionen die Wirkung des babylonischen Textes der hebräischen Bibel bemerkbar. Die älteren Rezensionen bis zum Beginn der christlichen Zeit sind für uns nur teilweise greifbar. Am Anfang steht die protolukianische Rezension, die den Text der LXX dem palästinischen hebräischen Text anzugleichen versucht. Sie erscheint gelegentlich in LXX-Handschriften, in Zitaten des Josephus und in einigen Büchern des AT (Samuel und Könige) in der als „Theodotion" bezeichneten Kolumne von Origenes' Hexapla. Aus dem l.Jh.nChr stammt die Proto-Theodotion-Rezension (auch kaige-Rezension genannt). Sie folgt dem kurz zuvor zur Geltung gekommenen babylonischen Text der hebräischen Bibel und hat großen Einfluß gehabt. Eine fragmentarische Handschrift des Dodekaprophetons aus dem l.Jh.nChr, die dieser Rezension zugehört, ist in Palästina gefunden worden, in Zitaten aus Daniel folgt das NT oft dieser Rezension, Justin hat sie für mehrere Bücher des AT benutzt, und bei Origenes erscheint sie in der als „Quinta" bezeichneten Kolumne. Die genaue Bestimmung dieser Rezension ist mit der Auswertung neuer Handschriften eng verbunden und noch nicht abgeschlossen. Auf diese ersten Rezensionen folgen die jüdischen „Ubersetzer" Theodotion, Aquila und Symmachus. In Wirklichkeit sind sie Rezensenten, die sowohl voneinander als auch von älteren Rezensionen abhängig sind. Theodotion führte im 2.Jh.nChr die Tradition der proto-theodotionischen Rezension fort und verhalf ihr zu ihrer großen Popularität. Aquila, ein Proselyt aus dem Pontos, veröffentlichte seine „Übersetzung" im Jahre 128 nChr; an ältere Revisionen anknüpfend erstrebte er größere Genauigkeit
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und Konsequenz (Verwendung der gleichen griechischen Äquivalente für dieselben hebräischen Wörter), was oft zu fast unverständlichen griechischen Sätzen führte. Im Gegensatz dazu lieferte Symmachus (man sagt, er sei Ebjonit gewesen) eine freiere Ubersetzung, die sich durch einen eleganteren Stil auszeichnet. Den Höhepunkt der Arbeit am Text der L X X stellt die Hexapla des Origenes dar. Er stellte in diesem Riesenwerk den Text des gesamten A T in sechs Kolumnen nebeneinander: hebräischer Text, griechische Umschrift des Hebräischen, die Übersetzungen des Aquila und des Symmachus, seinen eigenen revidierten Text, in dem Abweichungen vom Urtext nach der alexandrinischen textkritischen Methode durch Asterisk ( * ) und Obelus (-5-) bezeichnet wurden; in der 6. Kolumne folgt Theodotion, in weiteren Kolumnen, Quinta, Sexta und Septima genannt (da sie den andern vier Übersetzungen folgen), stehen gelegentlich zusätzliche Übersetzungen. Nur Reste dieses Werkes sind erhalten, und seine Wirkung ist nicht sehr groß gewesen. Origenes' Nachfolger in der Schule von Caesarea, Pamphilos und Euseb, haben versucht, den Text des Origenes durchzusetzen. Aber inzwischen gab Lukian, der Begründer der antiochenischen Schule (gest. 312nChr), einen Text heraus, der auf eine ältere Rezension zurückgriff (die proto-lukianische; s.o.), in der er sprachliche Härten auszumerzen suchte. Diese Rezension hat weite Verbreitung gefunden und ist der offizielle Text des griechischen AT in der byzantinischen Kirche geworden. c) Die Literatur der apokalyptischen Bewegung Die älteste und zugleich einflußreichste Apokalypse der hellenistischen Zeit ist das Danielbuch. Es ist z.T. hebräisch (Dan. I,1-2,4a; 8,1-12,13), z.T. aramäisch (Dan. 2,4b-7,28) im jüdischen Kanon des A T erhalten, und zwar nicht unter den Propheten sondern unter den „Schriften". Die Zeit der Abfassung waren die Jahre nach der Entweihung des Tempels durch Antiochos IV. (167vChr) und vor dem Tode dieses Herrschers (164). Das „vierte Reich" (Dan. 2,40 ff) ist nach dem babylonischen, medischen und persischen das Reich Alexanders. Die „Könige des Nordens" sind die Seleukiden, die „Könige des Südens" die Ptolemäer (Dan. I I , 5 f f ) . „Daniel", der jüdische Weise am H o f e des babylonischen Königs, war also sicher nicht der Verfasser des Buches, obgleich einzelne Stücke aus Dan. 1-7 auf der Verwendung älteren Materials beruhen, das bis in die Perserzeit zurückgeht. Es gehört zum
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Stil der apokalyptischen Literatur, daß auch die Ereignisse der Vergangenheit bis zum Zeitpunkt der Abfassung als eine Weissagung aus alter Zeit dargeboten werden. Darin zeigt sich eine charakteristische Abwandlung des alttestamentlichen Bundesformulars. An die Stelle der historischen Einleitung tritt in der Apokalypse eine weissagende Darstellung der vergangenen Geschichte, an die Stelle von Segen und Fluch die visionäre Vorhersage der Zukunft. Kennzeichnend f ü r die Apokalyptik ist im Danielbuch auch die Aufnahme mythologischen Gutes babylonischen (vgl. die astrologischen N a m e n der Völker und den Chaosmythos) und kanaanäischen Ursprungs (der „ H o c h b e t a g t e " ist El, der „Menschenähnliche" ist Baal aus der kanaanäischen Mythologie), das zeitgeschichtlich umgedeutet wird. Die Gestalt des Menschenähnlichen („Menschensohn") bedeutet Israel („das Volk der Heiligen des Höchsten", Dan. 7,27) in seiner erwarteten Rolle als Herrscher über die Völker. Darin kommt die eschatologische H o f f n u n g der Hasidim zum Ausdruck. Nicht zufällig sind eine Reihe von Fragmenten des Danielbuches im Besitz der Essener gefunden worden, die im Gegensatz zu den Hasmonäern an dieser H o f f n u n g festhielten. Die Wirkung dieses Buches auf die spätere jüdische und christliche apokalyptische Literatur war erheblich. Nächst dem Danielbuch ist die Henochapokalypse die wichtigste apokalyptische Schrift der hellenistischen Zeit. Vollständig erhalten ist sie nur in einer äthiopischen Übersetzung. Dieser „Äthiopische H e n o c h " (auch als 1. Henoch bezeichnet) ist ein Sammelbuch, das im 1. oder 2. Jh. n C h r zusammengestellt wurde. Das Original war aramäisch verfaßt, der Schluß des Buches, der auf einer älteren Noah-Apokalypse beruht, hebräisch. Eine Reihe von Fragmenten der Henochapokalypse sind unter den Handschriften von Q u m r a n gefunden worden. G a n z sicher frühen Datums sind die sogenannte Wochenapokalypse (Henoch 91.12-17 und 93) und die Tier-Apokalypse (Henoch 85-90), die einem in Höhle 4 von Q u m r a n entdeckten Daniel-Apokryphon parallel ist. Diese Abschnitte sind spätestens im l . J h . v C h r entstanden. Im N T wird H e noch 1.9 bereits zitiert (Jud. 14 f). Von den sogenannten Bilderreden (Henoch 37-71) fehlt bisher in Q u m r a n jede Spur; doch darf man deshalb nicht auf ein spätes Datum der Entstehung dieses Abschnitts schließen. Auffallend sind im Henochbuch die wiederholten Auslegungen von Gen. 6, denen mythologisches Material zugrunde zu liegen scheint, das älter ist als die „ g e z ä h m t e " Darstel-
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lung des Verkehrs der Göttersöhne mit den Menschentöchtern in Gen. 6. Auch sonst wird viel altes Material verwendet, darunter Weisheitsreden und astrologische Listen. Manche Anschauungen sind denen der Essener verwandt; jedenfalls wurden einige der hier zusammengestellten älteren Bücher von ihnen benutzt, was jedoch nicht unbedingt auf essenische Herkunft schließen läßt. Die Himmelfahrt des Moses ist nur in einer lateinischen Ubersetzung erhalten, die auf eine griechische Vorlage zurückgeht, der wiederum ein aramäisches oder hebräisches Original zugrunde liegt. Die Abfassungszeit setzt man meist in das l.Jh.nChr. Aber die verwendeten Traditionen stammen wahrscheinlich aus dem 2.Jh.vChr. Das Buch enthält die letzten Worte des Moses vor seiner Himmelfahrt, die selbst nicht berichtet wird. Wie im Danielbuch und bei Henoch weissagt ein Weiser der Vorzeit, hier Moses, die Ereignisse der Endzeit. Taxo (griechisch der „Ordner") aus dem Stamm Levi soll alles für das Kommen des eschatologischen Propheten vorbereiten. Diese Betonung der Rolle Levis sowie die Polemik gegen die Hasmonäer, Herodianer und Pharisäer zeigt eine enge Verwandtschaft mit den Schriften von Qumran. Eine eigenartige apokalyptische Schrift ist die in Qumran gefundene Kriegsrolle (Milchama, 1QM). 19 Kolumnen dieser hebräischen Schriftrolle sind erhalten; am Ende jeder Kolumne fehlen einige Zeilen, der Schluß des Buches ist verloren. Die in dieser Rolle erhaltene Fassung stammt aus dem l . J h . n C h r ; denn die Aufstellung des Heeres der Söhne des Lichtes zum Endkampf enthält Parallelen zur Aufstellung des römischen Heeres. In Höhle 1 und 4 haben sich aber weitere Fragmente gefunden, von denen eines vielleicht zu einer älteren Fassung gehört. Dieses Buch, das eine eschatologische Version des Themas vom Heiligen Krieg darstellt, beschreibt bis in Einzelheiten hinein (Waffenrüstung!) die Aufstellung des Heeres der Söhne des Lichtes zur eschatologischen Schlacht gegen die von Belial angeführten Söhne der Finsternis. Daneben finden sich eingesprengte Gebete, Hymnen und Priesteransprachen. In den jüdischen Sibyllinischen Büchern hat die apokalyptische Erwartung sich eine hellenistische Literaturgattung zunutze gemacht. Der Name stammt von den griechischen Sibyllen: Inspirierte, weissagende Frauen, deren Orakelsprüche in Hexametern aufgeschrieben und in Büchern gesammelt wurden (s.o. §4.3e). Drei Orakelbücher der cumaeischen Sibylle wurden in Rom in einer
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Gruft unter dem Tempel des Jupiter Capitolinus aufbewahrt. Nach dem Brand im Jahre 83vChr wurden sie ersetzt und seit 12vChr wurde eine gereinigte Sammlung von Augustus dem Tempel des Apollo auf dem Palatin anvertraut. Nur bei gewichtigsten Anlässen durften diese Bücher im Interesse des Staates offiziell konsultiert werden. Darin zeigt sich ihr Ansehen, aber auch die Furcht vor Fälschung und Mißbrauch. Die in hellenistischer Zeit entstandenen Bücher orientalischer Sibyllen versuchen, mit den älteren und offiziell anerkannten griechischen Sibyllen zu konkurrieren. Zu diesen gehört eine seit dem 2.Jh.vChr entstandene jüdische, später christlich redigierte Sammlung in griechischer Sprache, die bis zu einem Umfang von 14 Büchern anwuchs. Das 3. Buch dieser jüdischchristlichen Sibylle mit über 800 Versen scheint eine jüdische Schöpfung zu sein; ebenso sind Teile des 4. und 5. Buches jüdischer Herkunft. Dabei ist älteres Material nicht-jüdischer Provenienz mitverarbeitet worden. Neben apologetischen Motiven und der Propaganda für den Monotheismus erscheint die Apokalyptik als wichtigstes Motiv. Die Weltgeschichte wird unter dem Gesichtspunkt eines göttlichen Planes gesehen. Gott ist der Lenker aller Geschichte und beherrscht auch die Kräfte der Natur (dementsprechend wird der Götzendienst kritisiert). Die Geschichte läuft auf das Gericht und die Bestrafung aller feindlichen Mächte und der Ungerechten zu, während die Gerechten endlich den Lohn für ihr Tun erwarten dürfen. Eine hellenistische Weiterentwicklung älterer israelitischer Literaturform findet sich in der Testamentsliteratur. An die Stelle der historischen Einleitung (Vorgeschichte) des alttestamentlichen Bundesformulars ist hier die persönliche Lebensgeschichte eines Einzelnen getreten; die das Bundesformular abschließende Verheißung des Segens und Androhung des Fluches ist wieder durch apokalyptische Weissagung ersetzt. Das wichtigste Dokument dieser Gattung sind die Testamente der Zwölf Patriarchen (Test. XII). Vollständig sind sie nur griechisch (und in armenischen und kirchenslavischen Tochterübersetzungen) erhalten, und zwar in der vorliegenden Form in oberflächlicher christlicher Bearbeitung aus dem 2.Jh.nChr. Jedoch haben sich in Qumran mehrere Fragmente des Testamentes des Levi in aramäischer Sprache und des Testamentes des Naphthali in hebräischer Sprache gefunden. Ganz sicher sind also die griechisch erhaltenen Test. XII großenteils Übersetzungen hebräischer (und aramäischer) Vorlagen aus vorchristlicher Zeit.
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Jeder der Söhne Jakobs gibt hier seinen Kindern beim T o d e Ermahnungen. In jedem Testament beziehen sich die Mahnreden, durch einen autobiographischen Rückblick eingeleitet, jeweils auf eine bestimmte Verfehlung (Hurerei, Neid, usw.). Viel traditionelles paränetisches und Weisheitsmaterial wird dabei verarbeitet. Die eschatologischen Erwartungen sind denen der Essener verwandt, da sie den königlichen Messias aus Juda dem priesterlichen Messias aus Levi unterordnen. Die Organisation apokalyptischer Sekten als Volk des erneuerten Bundes hat ihren Niederschlag im Falle der Essener in D o k u menten gefunden, die das Bundesformular benutzen, das der alttestamentlichen Bundesgesetzgebung zugrunde liegt. Eines dieser Dokumente ist die sogenannte Sektenregel aus Q u m r a n (1QS). Sie besteht aus 11 hebräisch geschriebenen Kolumnen, die fast vollständig erhalten sind. Daneben finden sich zahlreiche Fragmente. Es ist keine einheitliche Schrift; sie will aber doch als Grundgesetz der Gemeinde des Neuen Bundes verstanden sein. Neben liturgischen Anweisungen f ü r die Aufnahme neuer Mitglieder finden sich Anweisungen f ü r das Bundeserneuerungsfest; Belehrungen über die beiden Geister, den Geist der Wahrheit, dem die Söhne des Lichts angehören, und den Geist des Frevels, von dem die Söhne der Finsternis abstammen; ferner Gemeinderegeln und eine Disziplinarordnung; am Schluß steht ein Hymnus. Die auf der Rückseite der gleichen Rolle aufgezeichnete sogenannte Gemeinschaftsregel ( l Q S a ) gehört eng mit der Sektenregel zusammen. Sie enthält weitere Regeln und als wichtigstes Stück Anweisungen zur Einberuf u n g der Versammlung ganz Israels, einschließlich der Frauen und Kinder, f ü r das messianische Mahl. Möglicherweise waren diese Instruktionen f ü r die Einberufung Israels in der eschatologischen Zeit des Heils gedacht. Eng verwandt mit der Sektenregel ist die sogenannte Damaskusschrift (CD). Sie wurde 1896 in drei fragmentarischen Handschriften aus dem 10. und 12. Jh. nChr in der Kairo Geniza gefunden und ist seit der Veröffentlichung durch Salomon Schechter im Jahre 1910 bekannt. Erst durch die seit 1945 entdeckten Handschriften vom Toten Meer und den Fund mehrerer Fragmente der Damaskusschrift in den Höhlen 4, 5 und 6 von Q u m r a n ist es möglich geworden, ihre H e r k u n f t genauer zu bestimmen. Bei den „Leuten des Neuen Bundes im Land Damaskus", f ü r die diese Schrift spätestens im l . J h . v C h r als Gemeindeordnung verfaßt wurde, muß es
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sich um Essener oder um eine mit ihnen verwandte Gruppe handeln, vielleicht um außerhalb Qumrans lebende Essener, zu denen auch Verheiratete gehörten. Wie in den Qumranschriften wird betont, daß die Zadokiden diejenigen sind, die am Gottesbund getreu festgehalten haben. Mit Qumran verwandt sind auch die Kalenderund Reinheitsvorschriften, Eidesbestimmungen und das hier allerdings beschränkte Verbot des Besitzes. Außerdem findet sich eine Ehegesetzgebung, die in Qumran fehlt. In der Auslegung der Bibel entwickelten die Essener eine eigene Form des biblischen Kommentars, den man „Pescher" nennt. Mehrere Beispiele solcher Kommentare sind aus Qumran wenigstens fragmentarisch erhalten. Der wichtigste und umfangreichste ist der Habakuk-Pescher ( l Q p H a b ) . 13 Kolumnen einer fortlaufenden Auslegung von c. 1-2 des Buches Habakuk sind auf einer unten teilweise beschädigten Rolle erhalten. Jeweils ein bis zwei Sätze aus Habakuk werden im Wortlaut zitiert; daran schließt sich eine meist kurze Auslegung, eingeleitet durch „Seine Deutung bezieht sich auf... Die Auslegungen sind zeitgeschichtlich orientiert und beziehen alle Worte des Propheten auf Ereignisse der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit, also auf den gottlosen Priester in Jerusalem und seine Freveltaten, die Verunreinigung des Heiligtums, auf die Verfolgung des Lehrers der Gerechtigkeit, sowie auf dessen Gabe, die Schrift auszulegen und die Geheimnisse Gottes der Gemeinde kundzutun. Ebenso wird häufig ein Prophetenwort auf politische und militärische Ereignisse bezogen, u.a. wiederholt auf die „Kittäer", womit entweder die Seleukiden oder die Römer gemeint sind. In dem Fragment des Nahum-Pescher (4QpNah; erhalten ist der Kommentar zu Nahum 2,12-3,12) ist diese zeitgeschichtliche Auslegung noch deutlicher. Die Anspielungen beziehen sich auf die Zeitspanne von Demetrios III., einem der letzten seleukidischen Könige (96-88vChr), bis zum Auftreten der Römer. Bemerkenswert ist, daß sowohl Demetrios als auch Antiochos (IV. Epiphanes?) mit Namen genannt sind. Mit dem „Löwen des Zorns", der Menschen lebendig aufhängte, wird offenbar auf Alexander Jannäus angespielt. Das Fragment des Psalm 37-Pescher (4QpPs 37) bezieht sich hingegen wieder ganz auf die Erfahrungen der Gemeinde und des Lehrers der Gerechtigkeit und die erlittenen Verfolgungen. Diese Art der Schriftauslegung war aber nicht an die versweise Auslegung eines bestimmten biblischen Buches gebunden. Aus
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Q u m r a n ist auch ein Florilegium erhalten (4QFlor), das nacheinander 2. Sam. 7,10-11; Ps. 1,1 und Ps. 2,1-2 auslegt; weitere Schriftzitate werden (eingeleitet durch „wie geschrieben steht im B u c h e . . . ") mit herangezogen. Die Interpretation ist eschatologisch und spricht von der Aufrichtung des Heiligtums in Israel am Ende der Tage, sowie vom Schutz gegen Belial und seine Frevel. Wichtig f ü r die Vermutung, daß später christliche Autoren Sammlungen von Schriftstellen benutzten, ist eine kurze derartige Sammlung aus Q u m r a n , die Testimonia (4QTest). Deut. 5,28-29; 18,18-19; N u m . 24,18-19; Deut. 33,1-8 und Jos. 6,26 folgen aufeinander, ohne daß auf den beabsichtigten Bezug dieser Schriftzitate, auf das Kommen der Messiasse Aarons und Israels, ausdrücklich hingewiesen wird. N u r auf das letzte Zitat folgt unvermittelt eine auf Belial bezogene Auslegung. Bereits in der Sektenregel und in der Kriegsrolle fanden sich eingesprengte Hymnen, ein Beweis dafür, daß auch die Hymnendichtung ihren Sitz im Leben in der apokalyptischen Bewegung hatte. Aus Höhle 1 von Q u m r a n stammt eine umfangreiche Rolle mit einer Reihe von Lobliedern, die Hodajoth (1QH). Die Handschrift ist stark beschädigt, so daß eine vollständige Rekonstruktion nicht mehr möglich ist, obgleich sich weitere Fragmente in Höhle 1 und 4 gefunden haben. In all diesen Lobliedern, die fast durchweg mit „Ich preise dich, H e r r " eingeleitet werden, spricht ein Einzelner (man hat vermutet, daß wenigstens einige der Lieder auf den Lehrer der Gerechtigkeit zurückgehen). T r o t z zahlreicher Anklänge an die alttestamentlichen Psalmen und vieler traditioneller W e n d u n gen spricht sich doch persönliche Erfahrung und religiöses Erleben unmittelbar aus. Wiederholt wird auf die Verfolgung durch die Männer des Frevels angespielt und von der göttlichen Hilfe und Rettung gesprochen. Eine neue Einsicht kündigt sich in den R e j e k tionen über die völlige menschliche Nichtigkeit an, nicht nur insofern der Mensch der Sünde verfallen ist, sondern auch im Blick auf seine irdische Vergänglichkeit, so daß er Gerechtigkeit und Leben nur durch die Güte Gottes erhalten kann. Eine weitere Sammlung von H y m n e n hat sich in den Psalmen Salomos erhalten, und zwar in einer Reihe von griechischen H a n d schriften (die syrischen Handschriften gehen auf eine Ubersetzung aus dem Griechischen zurück). Das Original, in Palästina entstanden, war hebräisch abgefaßt, ist aber verloren. Als Zeit der Abfassung sind die Jahre 60-30 vChr anzunehmen, da auf Ereignisse an-
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gespielt wird, die man am besten auf Pompeius und Herodes den Großen deutet. Über die religiösen Kreise, aus denen diese ganz im Stil des alttestamentlichen Psalters abgefaßten Psalmen stammen, läßt sich nichts Sicheres sagen. Von den Essenern unterscheiden sich die Verfasser deutlich; denn sie kennen keine priesterliche messianische Erwartung und lehnen den Tempelkult nicht ab (ihre Gegner können nicht mit den Sadduzäern gleichgesetzt werden). Es ist oft versucht worden, eine pharisäische Verfasserschaft der Psalmen Salomos zu beweisen. Aber dafür bieten sich keine festen Anhaltspunkte, obgleich diese Hypothese sich nicht ganz von der Hand weisen läßt. Wenn auch nicht alle Stücke vom gleichen Verfasser stammen, so drückt sich in allen doch die gleiche religiöse Grundstimmung aus: eine pietistische Religiosität mit einem stark ausgeprägten Selbstbewußtsein des Gerechten und strenger Kritik an den Sündern, wozu fremde und eigene Herrscher ebenso gehören wie die Gottlosen im Volk. Messianische und apokalyptische Anschauungen kommen besonders in Ps. Sal. 17 und 18 zum Ausdruck. Ein davidischer Messias wird erwartet und das kommende Strafgericht über alle Sünder und Gottlosen angekündigt. d) Die Geschichte Israels im Spiegel der jüdischen Literatur der hellenistischen Zeit Unter den Schriften, in denen die in den biblischen Büchern vorliegende Geschichte Israels in neuer Fassung wiedergegeben wird, nehmen die Neuerzählung der Urgeschichte, der Patriarchengeschichten und der Berichte über Moses den ersten Platz ein. Die einzigen umfassenden Geschichtswerke, die vollständig erhalten sind, fallen in die Zeit unmittelbar vor und bald nach dem hier betrachteten Zeitraum. Es sind die Bücher der Chronik, die im 4.Jh.vChr in hebräischer Sprache geschrieben und spätestens im 3.Jh.vChr abschließend redigiert wurden, und die Antiquitates des jüdischen Historikers Josephus (s.u.§6.4d). Aus der hellenistischen Zeit sind nur geringe Bruchstücke solcher Werke auf uns gekommen. Besser erhalten sind Bücher, die sich mit der jüngeren Vergangenheit beschäftigen, und zwar historische Darstellungen ebenso wie legendarische Verherrlichungen einzelner Ereignisse. Das Buch der Jubiläen ist teilweise in lateinischer und vollständig in äthiopischer Übersetzung erhalten, die beide auf eine griechische Vorlage zurückgehen, die wiederum auf einem hebräischen Original beruht. Fragmente von neun hebräischen Hand-
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Schriften sind in Q u m r a n gefunden worden. Die Jubiläen sind eine midraschartige Wiedergabe von Genesis 1 bis Exodus 12 in der Form einer O f f e n b a r u n g durch den „Engel des Angesichts" auf dem Berge Sinai. D e r Rahmen stammt aus Ex. 24. Der gesamte Ablauf der Ereignisse vom Anbeginn der Schöpfung an wird streng nach Jubiläen (von je 49 Jahren), Jahrwochen und Jahren eingeteilt (dabei ist ein Sonnenkalender von 364 Tagen = 52 Wochen verwendet). D e r Nachdruck liegt durchweg auf der Einhaltung der kultisch-rituellen Gesetzgebung, die auch schon N o a h und Abraham zugeschrieben wird. Nachdrücklich ist die Einhaltung des Sabbats betont und das Beschneidungsgebot ausdrücklich im Abrahamsbund begründet. D e r auch bei den Essenern gebrauchte Sonnenkalender und die große Anzahl der in Q u m r a n gefundenen Handschriften dieses Buches rechtfertigt die Annahme eines essenischen Ursprungs. Als Entstehungszeit wird der Anfang des l . J h . v C h r angenommen. Im Gegensatz dazu trägt das eng mit dem Jubiläenbuch verwandte Genesis-Apokryphon ( l Q a p G e n ) , das erst durch die Q u m r a n f u n d e bekannt geworden ist und in den Zeitraum von 5 0 v C h r - 5 0 n C h r datiert werden muß, keine typisch essenischen Züge. Es handelt sich hier um eine stark beschädigte aramäische Handschrift von 22 Kolumnen, die in einer erweiterten Erzählung Genesis 5,28-15,4 wiedergibt; dazu kommen mehrere Fragmente vorausgegangener Teile des Buches. Mit Gen. 15,4 bricht der Text ab. Das Genesis-Apokryphon ist eine erbauliche und apologetische Wiedererzählung des ersten Buches der Bibel. Die Sprecher sind die Patriarchen selbst, so daß der Ich-Stil vorherrscht (wie in den Test. X I I ; s.o. §5.3c). Ein ähnlich erbauliches und apologetisches Interesse verrät das wohl erst kurz nach 7 0 n C h r herausgegebene W e r k (die verwendeten Materialien sind zumeist älteren Datums) eines unbekannten Verfassers, das als Ps.-Philos Biblische Altertümer (Libri Philonis Judaei de initio mundi) in lateinischer Sprache erhalten ist. Zugrunde liegt eine griechische Vorlage, die auf einem hebräischen Original beruht. Es ist eine Nacherzählung der biblischen Geschichte von Adam bis Saul, die viele Zusätze von legendarischem Material, H y m n e n , längeren Reden und homiletischen Stoffen enthält. Auferstehungsglaube, eine stark entwickelte Engellehre und die Betonung der Erwählung Israels kennzeichnen die theologische Haltung des Verfassers, die sich jedoch nicht mit einer bestimmten Richtung des Judentums identifizieren läßt.
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Bruchstücke griechisch schreibender jüdischer Schriftsteller, die sich mit den Gestalten der Vorgeschichte oder der Geschichte Israels befassen, sind fast ausschließlich durch Alexander Polyhistor erhalten, den Josephus, Clemens von Alexandrien und in größeren Auszügen Euseb zitieren. Er stammte aus Milet, kam im mithridatischen Krieg als Gefangener nach Rom und wirkte dort nach seiner Freilassung durch Sulla bis zu seinem Tode kurz vor der Mitte des 1.Jh.vChr. Seine Geschichtswerke, darunter ein Buch „Uber die Juden", bestehen im wesentlichen aus unkritischen Materialsammlungen und Exzerpten. Unter diesen Fragmenten finden sich (bei Josephus) Bruchstücke eines umfassenden jüdischen Geschichtswerkes „Uber die Könige in Judäa" eines gewissen Demetrios (aus Alexandrien?), das um 200vChr entstanden sein muß. Sie zeigen, daß der Verfasser dem AT in chronographischer Manier folgte. Bei anderen jüdischen Historikern, deren Fragmente Alexander Polyhistor aufbewahrt hat, kommt das apologetische Element stärker zum Ausdruck. Typisch für eine solche Neuinterpretation der jüdischen Uberlieferung ist der sogenannte Samaritanische Anonymus (auch als Ps.-Eupolemos bekannt; Fragmente bei Euseb). Daß es sich um einen Samaritaner handelte, schließt man aus seiner Identifizierung des heiligen Berges der Samaritaner, des Garizim, mit dem „Berg des Höchsten". Er schrieb nach 200vChr, aber noch vor dem Makkabäeraufstand, also vor dem eigentlichen samaritanischen Schisma (s.o.§5.2f). Sein Werk ist ein Versuch, die Ur- und Patriarchengeschichte neu zu schreiben. Dabei setzt er die biblischen Personen mit griechischen Göttern oder Helden gleich. H e noch ist Atlas; Noah ( = Nimrod) ist sowohl der babylonische Bei als auch der griechische Kronos. Abraham erscheint als Lehrer der Astrologie in Ägypten und wird zum Vermittler der Weisheit des Ostens an den Westen. So wird hier die israelitische Uberlieferung als Kulturmittler zwischen Babylon einerseits und Ägypten und Griechenland andrerseits angesehen. In der 2. Hälfte des 2.Jh.vChr schrieb Eupolemos in Palästina (Fragmente über Moses, David, Salomo, die Zerstörung des Tempels und chronographische Angaben bei Euseb und Clemens). Moses ist für ihn der „erste Weise", der Erfinder des Alphabets und Gründer der Wissenschaft. Salomo wird zum „Großkönig", der den Tempel in Jerusalem mit Unterstützung der ägyptischen und phönizischen Könige als Kulturzentrum eines Großreiches von internationaler Ausstrahlungskraft errichtet. Diese typisch hellenistischen apologetischen
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Motive stehen bei Eupolemos im Dienst der hasmonäischen Propaganda. Von Artapanus, der vor der Mitte des l . J h . v C h r schrieb, sind bei Euseb kleinere Fragmente über Abraham und Joseph und ein umfangreiches Stück über Moses erhalten. Moses wird als typisch hellenistischer „göttlicher Mensch" (Theios Aner) dargestellt, ein weiser ägyptischer Fürst, der Schiffe erfindet, sowie Maschinen zum Ackerbau und zur Bewässerung und der die Menschen über Philosophie und die rechte Ausübung der Religion belehrt. Die Darstellung der Geschichte ist hier zu einer Aretalogie geworden (s.o. § 3. 4ά). Auch Formen griechischer Dichtung sind von jüdischen Schriftstellern dazu benutzt worden, um das Vermächtnis der Geschichte Israels in einem neuen Gewände erstehen zu lassen. Aus dem Drama „ E x o d u s " des Tragödiendichters Ezechiel sind sechs Fragmente von insgesamt 269 Zeilen erhalten (bei Euseb). D e r Stoff der Handlung stammt aus der biblischen Darstellung des Auszugs aus Ägypten, aber legendarische Züge sind hinzugefügt. Dieses W e r k aus dem 2. (oder 3.) Jh. vChr entspricht völlig der Manier alexandrinischer Tragödiendichtung (s.o. § 3 . 4 b ; es ist die einzige Tragödie jener Zeit, die in umfangreicheren Fragmenten auf uns gekommen ist). Wahrscheinlich im gleichen Jahrhundert schrieb der Epiker Philon in Hexametern ein Epos über Jerusalem in vier (oder 14?) Büchern, von dem wenige Bruchstücke über Abraham, Joseph und die Wasserleitungen Jerusalems bei Euseb zitiert werden. W a h r scheinlich hat es noch sehr viel mehr Literatur dieser Art gegeben. Über ihre Wirkung und Verbreitung läßt sich jedoch kaum etwas sagen. Eine eigenartige Verwendung der Patriarchengeschichten bietet die Schrift Joseph und Asenath. Sie ist in 16 griechischen H a n d schriften überliefert, außerdem in einer Reihe von Übersetzungen (lateinisch, syrisch, armenisch, kirchenslawisch u.a.). Die Schrift ist wahrscheinlich schon im l . J h . v C h r entstanden, und zwar in Ägypten. Christliche Elemente lassen sich nicht nachweisen. Am besten sieht man Joseph und Asenath als einen allegorischen Roman (s.o.§3.4e), in dem das Liebesmotiv konstitutiv ist (das Reisemotiv fehlt). Die Hauptpersonen des Romans wollen allegorisch verstanden werden. Asenath erscheint als die Verkörperung der zum wahren Glauben bekehrten Gemeinde; dabei muß man nicht unbedingt an Proselyten denken, auch die Bekehrung zur wahren Gottesgemeinde (oder einer Mysteriengemeinschaft) innerhalb des Juden-
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turns könnte gemeint sein. Joseph ist die Verkörperung der himmlischen Botengestalt. Brot, Kelch und Salbung sind Symbole der Sakramente der wahren Gemeinde, in der die Speise als Himmelsbrot (Manna) verstanden wird. Von jüdischen Schriftstellern aus der Frühzeit des Hellenismus, die sich mit der jüngeren Vergangenheit befassen, ist fast nichts erhalten. Vielleicht kann man die unter dem Namen Hekataios bei Josephus (C. Αρ. 1. 183-204) erhaltenen Zitate hierher rechnen. Hekataios von Abdera war ein griechischer Literat der Zeit um 300vChr, der sich unter Ptolemaios I. in Ägypten aufhielt und unter anderem ein Buch „Aegyptiaca" schrieb, in dem sich ein längerer Exkurs über die Juden fand, aus dem Diodorus Siculus zitiert. Manche Forscher halten auch die Zitate bei Josephus aus einem Hekataios zugeschriebenen Buch „Uber die Juden" für echt. Es bestehen aber gute Gründe für die Bestreitung der Echtheit. Die Berichte über die Emigration von Juden nach Ägypten, die Größe des Landes und seiner Bevölkerung, Jerusalem und den Tempel, den Gesetzesgehorsam der Juden und schließlich die Anekdote von dem jüdischen Bogenschützen Mosollamus stammen eher von einem jüdischen apologetischen Historiographen aus den späteren Jahren der ägyptischen Herrschaft über Palästina, der unter dem Namen des Hekataios schrieb. Die Makkabäerzeit gab Anlaß zu einer Reihe von Geschichtswerken. Das Wichtigste war die Geschichte des Aufstandes von Jason von Kyrene, die leider verloren gegangen und nur in den durch das 2. Makkabäerbuch (s.u.) gebotenen Auszügen teilweise erhalten ist. Jason war ein hellenisierter Jude aus der Diaspora, besaß aber gute Ortskenntnis Palästinas und hatte Zugang zu verläßlichen Quellen. Dazu gehörten neben einer Biographie des Judas Makkabäus und einer Seleukiden-Chronologie auch Hohepriester-Jahrbücher für Onias, Menelaos und Jason, sowie Urkunden aus den Archiven Jerusalems. Jason schrieb seine Geschichte in 5 Büchern auf Griechisch kurz nach der Mitte des 2.Jh.vChr. Das sogenannte 2. Makkabäerbuch ist eine Epitome des Jasonschen Geschichtswerkes. Es ist wie jenes griechisch abgefaßt, und zwar um lOOvChr oder wenig später. Das Buch behandelt die Jahre von 175-161 vChr, gibt aber auch einen Bericht über die Ereignisse unter Seleukos IV. (187-175vChr), die den Hintergrund des Aufstandes bilden. Im Mittelpunkt der Geschichte des Aufstandes steht die Gestalt des Judas Makkabäus. Daneben ist aber auch viel legen-
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darisches Material benutzt wie die Erzählung vom Martyrium des greisen Schriftgelehrten Eleasar und der sieben Brüder und ihrer Mutter (6,18-31), die das 4. Makkabäerbuch benutzte (s.u. §5. Je), und vor allem die Berichte vom wunderbaren Eingreifen Gottes, meist durch Engel, zum Schutze des Tempels. Das Hauptinteresse des Verfassers liegt in der Verherrlichung des Tempels und in der Betonung der Gesetzesfrömmigkeit des jüdischen Volkes. Ein wichtiges Motiv ist die Darstellung der Ereignisse, in denen das Tempelweihfest (10,1-8, H a n u k a h ; jedoch sind die beiden Briefe in 2. Makk. 1,1-2,18 spätere Zusätze, die das Begehen des Festes einschärfen wollen) und das Erinnerungsfest des Sieges über N i k a n o r (15,36-37) begründet sind. Das 1. Makkabäerbuch behandelt zum Teil dieselben Ereignisse und benutzt im ganzen das gleiche Quellenmaterial, auf dem auch das Geschichtswerk Jasons von Kyrene beruhte. N u r reicht der behandelte Zeitraum hier von 175-134vChr, d.h. vom Regierungsantritt des Antiochos IV. bis zum T o d e des hasmonäischen Priesterfürsten Simon. Das ursprünglich hebräisch verfaßte, aber nur griechisch erhaltene Buch besitzt einen sehr hohen Quellenwert. Man darf aber auch seine offensichtliche Tendenz nicht übersehen. Es vertritt den Standpunkt jener Kreise, die mit den Hasmonäern zusammenarbeiteten. Daher tritt Judas Makkabäus zugunsten des Vaters und seiner Brüder etwas zurück. Die Ziele des Verfassers sind die eines offiziellen Hofchronisten im Interesse der hasmonäischen Dynastie. Im übrigen sind alle jüdischen Schriften, die sich mit Personen und Ereignissen seit der Zeit des Exils befassen, Legenden, die sich auf den Tempel oder religiöse Feste beziehen, oder Erzählungen, die mit dem hellenistischen Roman eng verwandt sind. Das Buch Esther, das in seiner ursprünglichen hebräischen Gestalt Bestandteil des jüdischen Kanons wurde, verwendet verschiedene Legenden und Märchenmotive: die Heldin (Esther), die durch ihre Schönheit und Klugheit als Frau des (persischen) Königs ihr Volk rettet; der Angehörige des unterdrückten Volkes (Mardochai), der zu einem hohen Regierungsamt aufsteigt; der Bösewicht (Haman), der seinen Machenschaften schließlich selbst zum O p f e r fällt. Man hat auch vermutet, daß sich in den N a m e n Mardochai und Esther die babylonischen Götter Marduk und Ischtar verbergen. Aber wahrscheinlich sind diese N a m e n lediglich ein Mittel, die Legende im Osten zu lokalisieren. Wird auch auf eine historische Situation angespielt, so handelt es sich hier, wie im hellenistischen Roman, le-
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diglich um ein Stilmittel. In der LXX-Übersetzung sind noch weitere legendäre Züge hinzugekommen (die sogenannten Zusätze zu Esther). Die Absicht des Buches ist die Propagierung des Purim-Festes, vielleicht die Einführung dieses ursprünglich in der Diaspora des Ostens gefeierten Festes in Palästina in der frühen Hasmonäerzeit. Daraus ergäbe sich auch das Datum für die Abfassung des Buches. Das Buch Judith ist eng mit Esther verwandt. Wie dieses ist es in der frühen Hasmonäerzeit auf Hebräisch verfaßt, jedoch nur in griechischer Ubersetzung in der LXX erhalten. Auch hier wird das Volk durch die Tat einer durch Schönheit ausgezeichneten Frau gerettet. Eine Grundlage in tatsächlichen historischen Gegebenheiten ist nicht vorhanden. Die religiöse Absicht erscheint in der allgemeinen Betonung der Gesetzestreue, besonders der Einhaltung der Reinheitsvorschriften auch unter den widrigsten Umständen. Beide Bücher sind der hasidischen Frömmigkeit verwandt und stehen dem 2. Makkabäerbuch nahe. Doch ist keines dieser Bücher einer bestimmten religiösen Richtung, sondern eher einer im jüdischen Volk nach dem Makkabäeraufstand weitverbreiteten Stimmung der Religiosität zuzuordnen, in der Tempel, rituelle Vorschriften und volkstümliche Feste wie Hanukah und Purim eine große Rolle spielten. In der nur griechisch erhaltenen Neubearbeitung der Bücher Esra und Nehemia, die als 3. Buch Esra (in der LXX 1. Esdras) überliefert ist und die zur selben Zeit wie Judith und Esther entstanden sein muß, kommt eine ähnliche Haltung dem Tempel gegenüber zum Ausdruck. Außerdem ist auch hier in der Erzählung vom Wettstreit der Pagen am H o f e des Darius ein aus einem Märchenmotiv entstandenes Stück eingefügt (3. Esra 3,1-4,63). Ein anderes Legendenmotiv von der wunderbaren Errettung des Gerechten aus großer Bedrängnis erscheint in den Zusätzen zu Daniel der LXX: die Erzählungen von Susanne und von Daniel, Bei und dem Drachen (ein schon früh verlorenes hebräisches Original mag beiden Erzählungen zugrunde liegen). Uberall überwiegt hier das erbauliche Interesse - eine kennzeichnende Erscheinung der hellenistischen Zeit. Die als 3. Makkabäerbuch griechisch verfaßte Legende hat damit manche Berührung, nimmt aber ihren historischen Bezug aus der hellenistischen Zeit. Sie erzählt von der wunderbaren Errettung der Juden Ägyptens vor der Verfolgung durch Ptolemaios IV. (221-204vChr). Entweder handelt es sich hier um eine
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reine Legende oder um eine legendarische Erzählung, die auf Berichten über Ereignisse unter Ptolemaios VIII. (nach 145vChr; s.o. § 5 . l e ) beruht. Geschrieben wurde dieses Buch vielleicht ca. 40nChr, eventuell auch schon am Ende des l.Jh.vChr, und zwar wohl im Zusammenhang mit dem Versuch der Juden Alexandriens, Bürgerrechte zu erhalten. 3. Makk. wendet sich gegen diesen Versuch und verweist statt dessen auf alte verbriefte Rechte, die der Judenschaft dieser Stadt schon längst zukommen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß sich in dieser Schrift eine Kultlegende eines uns sonst nicht bezeugten Festes der Juden Alexandriens verbirgt. Eine enge Beziehung zum hellenistischen Roman hat das Buch Tobit (Tobias), das um 200vChr entstanden ist. Es ist in der L X X griechisch überliefert. Aber ein hebräisches und drei aramäische Fragmente aus Höhle 4 von Qumran beweisen, daß der griechische Text auf einer semitischen (falls das Buch im Osten entstand, wohl aramäischen) Vorlage beruht. Die literarische Gattung dieser Schrift ist deshalb von großem Interesse, weil man sie mit gutem Recht entweder als hellenistischen Roman oder als orientalisch-jüdische Weisheitsnovelle oder als Märchen bestimmen kann. Alle drei Faktoren sind in gleichem Maße vorhanden. Wie im Roman spielt das Reisemotiv auf dem Hintergrund einer fiktiven historischen Situation (Ninive zur Zeit der assyrischen Herrscher Salmanassar V. und Sanherib) eine große Rolle. Der Weisheitsdichtung entspricht die didaktische Abzweckung. Aber das Märchenmotiv vom dankbaren Toten ist konstitutiv. e) Von der Weisheit zur philosophischen Apologetik Die Weisheit des Jesus Siracb (= Ecclesiasticus der LXX) ist das umfangreichste jüdische Weisheitsbuch aus der hellenistischen Zeit. Der Enkel des Verfassers übersetzte das Buch 130vChr in Ägypten ins Griechische, und so war diese Schrift nur in dieser Übersetzung und in Tochterübersetzungen bekannt. Ende des letzten Jahrhunderts fanden sich in der Kairo Geniza hebräische Fragmente für etwa zwei Drittel des Sirachbuches; kleinere Fragmente aus Qumran kamen in jüngerer Zeit hinzu, und neuerdings wurde in Massada eine vollständige hebräische Handschrift entdeckt. Die Abfassung des hebräischen Originals fällt wahrscheinlich in die ersten Jahrzehnte des 2.Jh.vChr; der in Sir. 50 gepriesene Simon läßt sich mit dem Hohenpriester Simon dem Gerechten identifizieren (um 200vChr). Die Schrift ist ein großes Sammelbuch von Weis-
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heitstraditionen und enthält neben o f t thematisch gruppierten traditionellen Sprüchen, Lehrgedichten, Weisheitshymnen, D a n k - und Klageliedern auch viele Stücke, die der Verfasser selbst geschaffen hat. D e r Verfasser erscheint dabei als ein Angehöriger der gebildeten Aristokratie Jerusalems, der Leiter einer Schule war und außerdem wie ein griechischer Philosoph sich als Ratgeber und Diplomat betätigte. Er ist im ganzen konservativ, übt gleichwohl heftige Kritik am Reichtum und dringt auf das Eintreten f ü r den armen Gerechten, betont die von den Vätern ererbte Weisheit und stellt sie mit dem Gesetz gleich. Skepsis hinsichtlich der Vollkommenheit der Welt wird zurückgewiesen; alles ist f ü r den Menschen sinn- und zweckvoll von Gott geordnet. H i e r trifft sich das Interesse an der Bewahrung der Tradition mit einer relativen O f f e n h e i t gegenüber der Welt, wie sie f ü r das von der Popularphilosophie beeinflußte Bürgertum charakteristisch war. Das Buch Qohelet (Der Prediger Salomo; Ecclesiastes der L X X ) , kurz vor der Zeit des Sirachbuches in Palästina (Jerusalem?) entstanden, wurde mit vielen Aramaismen in hebräischer Sprache verfaßt. Im Gegensatz zu Jesus Sirach ist es sogar in den hebräischen K a n o n aufgenommen worden, obgleich es eine sehr viel kritischere Einwirkung des hellenistischen Zeitgeistes auf die jüdische Weisheit bezeugt. V o n den beiden Epilogen, 12,9-11 und 12,12-14, muß man jedoch absehen; denn sie versuchen, ebenso wie die zahlreichen „rechtgläubigen" Interpolationen des letzten Herausgebers, die skeptische Einstellung des Buches zu entschärfen. D e r Verfasser redet einem radikalen Zweifel an der Gerechtigkeit des Weltablaufs das W o r t , indem er die Zwangsläufigkeit dieses Ablaufs und die Sinnlosigkeit des menschlischen Todesschicksals betont. D a m i t steht er im Einklang mit einer frühhellenistischen Denkweise, die auch bei Euripides, in der N e u e n Komödie und in griechischen Grabinschriften jener Zeit zu finden ist. Das Buch Qohelet scheint zu beweisen, daß solche Gedanken zur Ptolemäerzeit auch in die gebildete Aristokratie Israels eingedrungen waren. Aber in der Fortsetzung der palästinischen (und teilweise auch der alexandrinischen) Tradition der jüdischen Weisheit hat sich nicht die Skepsis des Qohelet, sondern die durch Jesus Sirach vertretene Bindung der Weisheit an das Gesetz durchgesetzt. Das beweist u.a. das Buch Baruch (1. Baruch der L X X ) , das den N a m e n des Schreibers des Propheten Jeremia als Pseudonym benutzt. Es
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ist nur in griechischer Übersetzung erhalten und in dieser Gestalt wohl gegen Ende der hasmonäischen Zeit zusammengestellt worden. Jedoch geht entweder das ganze Buch oder der eine oder andere Abschnitt auf hebräische Vorlagen zurück. Der erste und dritte Teil (1,15-2,10 und 4,5-5,9) enthält Gebete und Psalmen, der Mittelteil eine Weisheitsrede in poetischer Form, die Israel zur Rückkehr zur Weisheit, das heißt aber zum Gesetz, einlädt. Die Weisheit erscheint in der Form des Gesetzes als ausschließlicher Besitz Israels. Die original griechisch abgefaßten Weisheitsbücher setzen nicht einfach apodiktisch Weisheit und Gesetz gleich, sondern versuchen in apologetischer Manier, das biblische Gesetz als Quelle echter Philosophie zu erweisen. Der Aristeasbrief will die Autorität des biblischen Gesetzes in seiner griechischen Fassung untermauern, und zwar nicht so sehr im Blick auf das griechisch sprechende Judentum, sondern in erster Linie aus propagandistischem Interesse. Das Schreiben ist also an die Heiden gerichtet; bei den Juden Alexandriens war die griechische Ubersetzung des A T schon längst eingebürgert, als der Aristeasbrief im 2.Jh.vChr geschrieben wurde, der selbst bereits von der längst gebräuchlichen Sprache der L X X beeinflußt ist. Außerdem beweisen eine Reihe historischer U n gereimtheiten, daß der Brief nicht in die Periode des fiktiven D a tums (die Zeit des Ptolemaios II. Philadelphos, 284-247vChr) gehört. Der heidnischen Adresse entspricht das Pseudonym des Briefes: ein heidnischer H o f b e a m t e r des Philadelphos namens Aristeas. Zu dieser Absicht gehört die Beschreibung Jerusalems (c. 83-120), die philosophische Apologie f ü r das jüdische Gesetz (c. 121-171) und vor allem die in den Tischgesprächen (c. 172-300) dargebotene Weisheit der jüdischen Gelehrten. Hier ist weniges aus der jüdischen Weisheitsüberlieferung mit vielen, o f t recht trivialen griechischen Proverbien und Allgemeinplätzen und etlichen Anleihen aus der philosophischen Ethik gemischt, um so den Eindruck zu erwecken, daß jüdische „Weise" den an der königlichen Tafel speisenden Philosophen in nichts nachstehen. Auf einem etwas höheren Niveau steht das Lehrgedicht des Ps.-Phokylides, das irgendwann im 2. oder l . J h . v C h r von einem jüdischen Dichter unter dem Pseudonym des griechischen Spruchdichters Phokylides aus Milet (6. Jh.vChr) verfaßt wurde. Es enthält 230 Hexameter, in denen jüdische Spruchweisheit und Morallehren mit vielen biblischen Anklängen zusammen mit Material aus der griechischen Spruchdich-
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tung und Popularphilosophie dargeboten wird. Daß jüdische Weisheitslehrer und Schriftausleger auch als griechische Philosophen auftraten und schrieben, bedarf keines Beweises. Aber von den Schriften der Vorgänger des alexandrinischen Philosophen Philo (s.u.§5.3f) sind nur wenige Bruchstücke erhalten. Von dem jüdischen Philosophen Aristobulos finden sich ein paar Fragmente bei Euseb. Wahrscheinlich lebte er im 2.Jh.vChr in Alexandrien. In der Darstellung der Schöpfung benutzte er wie später Philo griechische Schöpfungsvorstellungen und Zahlenspekulationen. In seiner allegorischen Auslegung des Pentateuch lehnte er - auch darin ein Vorläufer Philos - ein wörtlich-anthropomorphistisches Verständnis der Aussagen über Gott ebenso ab wie eine mythologische Deutung. Moses ist Weisheitslehrer und Prophet zugleich und vereint so Philosophie und Frömmigkeit; Plato und Pythagoras wie Homer und Hesiod hätten daraus manches übernommen. Wesentliche Elemente der späteren christlichen Apologetik sind hier vorgeformt. Im 4. Makkabäerbuch bot ein jüdischer Philosoph der 1. Hälfte des l . J h . n C h r (aus Antiochien?) eine griechische Diatribe über die Macht der Vernunft, die zwar mit dem Gesetzesgehorsam gleichgesetzt, aber doch gaijz griechisch als Bewährung der Tugenden Gerechtigkeit, Besonnenheit, Güte und Tapferkeit verstanden wird. Wie diese Tugenden Leid, Schmerz und Tod überwinden können, zeigt der Verfasser am Beispiel der makkabäischen Märtyrer, des Eleazar, der sieben Brüder und ihrer Mutter (vgl. 2. Makk.; s.o. §5.3d). Weitere griechische Vorstellungen, die durch diese Märtyrergeschichte illustriert werden, sind der Gedanke der stellvertretenden Sühne für die Sünden des Volkes im Leiden und die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele. In Schriften wie dieser ist die jüdische Weisheit in der griechischen Popularphilosophie aufgegangen; nur die Beispiele aus der jüdischen Geschichte beweisen noch, daß es sich um ein Buch eines jüdischen Autoren handelt. Die Weisheit (Sapientia) Salomos, eine griechische Schrift des l.Jh.vChr, die in den Kanon der griechischen Bibel aufgenommen wurde (sie erscheint eigenartigerweise im ältesten Kanonsverzeichnis des Neuen Testaments, dem Muratorischen Kanon, zwischen den Johannesbriefen und der Johannesapokalypse), nimmt innerhalb der jüdischen Weisheitsliteratur eine Sonderstellung ein. Auf der einen Seite erscheint diese Weisheitsdichtung weniger helleni-
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siert als manche der oben angeführten Schriften, obgleich der Verfasser manches aus der griechischen Literatur kannte. Aber der erste Abschnitt führt im wesentlichen die Tradition der theologischen Weisheit Israels (c. 1-5) fort, die Auslegung der Geschichte Israels folgt nicht der für den Hellenismus so typischen allegorischen Methode (c. 10-12 und 16-19), in der Auseinandersetzung mit der Skepsis wendet sich der Verfasser direkt gegen das Buch des „Predigers". Typisch apologetisch ist die Auseinandersetzung mit dem heidnischen Götzendienst (c. 13-15), aber hier zeigt sich scharfe Ablehnung ohne Sympathie, allerdings auch ohne ein Eingehen auf den jüdischen Kult und das Ritualgesetz. Am stärksten philosophisch ist die Königsrede, die zur Weisheit einlädt (c. 6-9); jedoch ist der Autor des 4. Makkabäerbuches ein besserer Philosoph. Andererseits aber findet sich eine theologische Radikalisierung der Weisheitsidee, die der Grundtendenz hellenistischen Denkens sehr viel näher steht als irgendeine andere der bisher genannten Schriften. Die Weisheit Salomos spricht nicht über die Weisheit als Möglichkeit des Frommen in Israel, sondern als allgemeine menschliche Möglichkeit. Die Erfahrung Israels ist anonym geworden (Auslassung der Eigennamen), denn Weisheit als Existenzmöglichkeit ist aus der Geschichte gelöst und im göttlichen Ursprung begründet. Dadurch ist der Glaube an die Unsterblichkeit kein griechischer Fremdkörper in einer jüdischen Schrift. Ungerechtigkeit, Torheit und Heidentum werden nicht zugunsten einer jüdischen Vorstellung von der Gerechtigkeit bekämpft, sondern zugunsten einer universalen Vorstellung der Einheit von Gottheit und Gerechtigkeit, in der das eigentliche Sein des Gerechten (seine „Seele") verborgen ist. Damit scheint das Denken der jüdischen Weisheit unmittelbar in die Gnosis zu münden. f) Philo von Alexandrien Der gelehrteste und produktivste Schriftsteller des hellenistischen Judentums war der alexandrinische Philosoph Philo. Gleichzeitig sind seine Schriften für die Geschichte der antiken Philosophie von Bedeutung, da sie das erste umfangreiche Corpus philosophischer Schriften nach Aristoteles darstellen, das erhalten ist, und zwar in mittelalterlichen Handschriften, die auf die Bibliothek von Caesarea zurückgehen, dazu einige Papyri und zahlreiche Zitate bei den Kirchenvätern. Zwar gehört Philo bereits in den Beginn der römischen Kaiserzeit; aber in vielfacher Hinsicht steht er am
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Abschluß der hellenistischen Philosophie ebenso wie am Endpunkt der Entwicklung des hellenistischen Judentums. Die wenigen verstreuten Nachrichten über Philos Leben erlauben es, sich ein ungefähres Bild zu machen. Er muß ungefähr 20vChr in Alexandrien in einer hellenisierten jüdischen Familie geboren sein. Seine Erziehung folgte dem Modell griechischer Bildung und, da seine Eltern wohlhabend waren, bei den besten Lehrern. Philo besaß eine ausgezeichnete Kenntnis des Griechischen, war in der griechischen Geschichte und Philosophie wohl bewandert und konnte auch Dichter und Tragiker ohne Mühe zitieren. Über seine jüdische Erziehung kann man nur Vermutungen anstellen. Der hebräischen Sprache war er nicht mächtig (er kannte bestenfalls ein paar hebräische Wörter und Begriffe und hatte eine dürftige Kenntnis der Ethymologie einiger hebräischer Namen). Daß Philo irgendeine jüdische Ausbildung erhalten hatte, die sich mit der späteren rabbinischen Schulbildung vergleichen ließe, ist trotz gelegentlicher Parallelen seiner Schriften mit rabbinischen Auslegungen ausgeschlossen. Wohl aber muß man annehmen, daß er in der jüdischen Synagoge nicht nur mit dem Gemeindegottesdienst vertraut, sondern auch in die Tradition der jüdisch-hellenistischen Schriftauslegung und Apologetik eingeführt wurde. Wie weit man an einen regelrechten Schulbetrieb denken kann, sei dahingestellt. Jedenfalls ist vieles in den Schriften Philos nicht original, sondern Aufarbeitung älterer Traditionen und Vorlagen. Gemäß der Tradition seiner Familie, die römisches Bürgerrecht besaß, hat Philo leitende öffentliche Ämter innerhalb der Hunderttausend oder mehr zählenden jüdischen Gemeinde Alexandriens innegehabt. Philos Bruder Alexander, dem Josephus den Titel „Alabarch" (wahrscheinlich ein höherer Steuerbeamter) gibt, galt als einer der reichsten Männer jener Zeit. Einer der Söhne Alexanders, Alexander Tiberius, wurde von 46-48 römischer Prokurator Palästinas, war unter Nero Praefekt Ägyptens und spielte bei der Erhebung Vespasians zum Kaiser eine entscheidende Rolle. Ein anderer Sohn, Marcus, war mit der Tochter des jüdischen Königs Agrippa I. verheiratet. Philo selbst, als er bereits ein älterer Mann war, wurde im Jahre 40 nChr Führer einer Delegation, die nach Rom reiste, um dort die Belange der Juden Alexandriens vor dem Kaiser Gaius (Caligula) zu vertreten, da Flaccus, der römische Praefekt Ägyptens, die Juden Alexandriens der Volkswut preisgab, als sie sich weigerten, die Kultbilder des Gottkaisers zu verehren. Diese
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Ereignisse hat Philo in den Schriften Ad Flaccum und Legatio ad Gaium beschrieben, die zum Teil erhalten sind. Die beiden genannten Schriften Philos sind bezeichnend für eine der verschiedenen Gattungen, denen sein literarisches Werk zugerechnet werden muß: Sie sind Apologien - einzigartig insofern, als sie direkt aus einem historischen Anlaß erwuchsen, der auch eine literarische Verteidigung des jüdischen Standpunktes verlangte. Aber diese Apologetik kam keineswegs aus der Mentalität einer verachteten und von der Allgemeinheit ausgeschlossenen Minorität. Vielmehr konnte sie mit Recht damit rechnen, daß die große Mehrheit aller Gebildeten das Anliegen einer philosophischen Weltreligion gegenüber den gottlosen Forderungen eines offensichtlich irrsinnigen Kaisers unterstützen und gutheißen werde. Auch in den anderen apologetischen Schriften Philos ist dies die Grundstimmung, über deren Optimismus man heute nur noch staunen kann. Die wahrscheinlich recht umfangreiche Apologie Philos ist allerdings verloren. Aber zwei weitere Schriften Philos, die Teile dieser Apologie oder mit ihr eng verbunden waren, sind erhalten: De vita contemplativa und ein bei Euseb überliefertes Fragment über die Essener. Die Bedeutung dieser Abhandlungen liegt nicht nur in ihrem historischen Wert - bei den in der Schrift über das kontemplative Leben beschriebenen Therapeuten sowie bei den Essenern läßt sich die tatsächliche Existenz dieser Sekten nicht mehr bezweifeln - , sondern auch in der Anziehungskraft des hier propagierten Ideals. Die Idee eines gemeinsamen Lebens, das die Sinnlosigkeit der Existenz in der bestehenden Gesellschaft überwand, entspricht der Sehnsucht der Antike, die im „Sonnenstaat" des Jambulos (s.o. § 3. 4c) ebenso Ausdruck fand wie in den späteren neupythagoräischen Gemeinschaften, in den Mysterien und im Christentum. Eine zweite Kategorie philonischer Schriften zeigt seine enge Verbundenheit mit dem religiösen Leben der Judenschaft Alexandriens: die Quaestiones in Genesin und in Exodum. Leider ist davon nur eine Tochterübersetzung ins Armenische erhalten sowie ein paar griechische Fragmente. Weitere Fragmente zeigen, daß auch für die Bücher Levitikus und Numeri derartige Kommentare von Philo verfaßt worden waren. Die Schriften, die sowohl den wörtlichen, als auch in kurzen Expositionen den allegorischen Sinn der biblischen Schriften kurz umreißen, lassen sich gut als exegetischhomiletische Synagogenvorträge verstehen und deuten darauf hin,
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daß Philos Funktion im gottesdienstlichen Leben der jüdischen Gemeinde Alexandriens die eines Homileten war. Die Auslegung geht versweise voran und zeigt, wie eng Philo mit dem normalen Verständnis der Gemeindemitglieder verbunden war. In größerer Vollständigkeit erhalten sind Philos apologetische Bibelkommentare, keine systematisch-theologischen Abhandlungen, sondern Auslegungen des Gesetzes für den gebildeten heidnischen (oder auch jüdischen) Leser. Sie müssen der Propaganda-Literatur zugerechnet werden, sind aber zugleich eine groß angelegte Neufassung des Pentateuch für das hellenistische Judentum, die nicht zufällig dem alttestamentlichen Bundesformular folgt: 1. Vorgeschichte; hierher gehören die Bücher über die Schöpfung, die Patriarchen und Moses. 2. Grundsatzerklärung; das Buch über den Dekalog. 3. Die rechtlichen Bestimmungen in den Büchern über die Einzelgesetze. 4. Ruf zur Bekehrung im Buch über die Tugenden. 5. Segen und Fluch und eschatologischer Ausblick in den beiden Schriften in De praemiis et poeniis. Freilich fehlt die geschichtliche Ausrichtung, die nur im abschließenden eschatologischen Teil noch erscheint. An die Stelle des Volkes ist die Frage der Erlösung des Einzelnen getreten. An der Spitze des Werkes steht De opificio mundi, eine oft komplizierte philosophische Auslegung von Gen. 1 und 2. Sie schließt sich vielfach eng an Piatos Timaeus an, benutzt auch pythagoreische Zahlenspekulationen. Die erste Schöpfung ist nicht räumlich, sondern immateriell im Bereich der Vernunft, d.h. im Logos, vorgestellt; zu ihr gehört der erste Adam, das vernünftige Urbild des empirischen Menschen. Die zweite Schöpfung besteht in der Anwendung dieses Urbildes auf die Materie. Der Mensch wird daher ein Mischwesen aus Vernunft und Körper. Der Sündenfall entsteht durch das Weib, in der die materielle Seite des Menschen in der Begierde zum Ausdruck kommt. Die folgenden Schriften der Reihe beschäftigen sich mit Abraham, Isaak, Jakob und Joseph, von denen nur die erste und die letzte erhalten sind. De Abrahamo beschreibt die nach dem Fall noch vorhandene ideale Möglichkeit des erfolgreichen Strebens nach Erlösung. Sie besteht im rechten Gebrauch des Naturgesetzes, das mit dem Logos-Ich des Menschen identisch ist. Sarah symbolisiert Weisheit und Tugend, mit der Abraham sich vermählt, so daß er nicht mehr Mensch, sondern Freund Gottes ist. In De Josepho erscheint der ideale Herrscher, der immer der göttlichen Führung gehorcht und das Naturgesetz als universales Gesetz der Welt
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zur Verfassung des idealen Staates macht. Deutlich sind in dieser Schrift Ratschläge für die römische Verwaltung enthalten. Zugleich bildet sie eine wichtige Quelle für spätere Naturrechtslehren zur Verfassung und Gesetzgebung. Den Höhepunkt dieser biographischen Werke bilden die zwei Bücher Vita Mosis. Wie in der griechischen Biographie jener Zeit und in der Nachfolge früherer jüdischer Moses-Aretalogien (Artapanus, s.o. §5.3d), ist Moses nicht nur Prophet und Priester, sondern auch Wundertäter, Mystiker und Vermittler göttlicher Weisheit, also „göttlicher Mensch" schlechthin. Sein Werk gipfelt in der Gesetzgebung. Sie ist die faktische Übersetzung und Konkretisierung des Naturgesetzes, das durch Moses auf spezielle Situationen bezogen wird. Darin erfüllt sich die königliche Aufgabe dieses größten und göttlichsten Menschen aller Zeit. Die eigentliche Abhandlung über das Gesetz beginnt mit einer Darlegung der Grundprinzipien in De decalogo. Der Dekalog ist die zentrale, unmittelbar von Gott stammende Formulierung des Gesetzes. Die ersten fünf Gebote (bis zum Gebot der Elternliebe) enthalten die Pflichten gegen Gott, die nächsten fünf diejenigen gegenüber den Mitmenschen. Diese Zweiteilung wird bei Philo zum Prinzip der gesamten Gesetzesauslegung erhoben. In den 4 Büchern De specialibus legibus werden einzelne Gesetzesvorschriften besprochen. Im 1. Buch nach einer langatmigen Abhandlung über das 1. Gebot (hier wird erstmalig eine hygienische Begründung der Beschneidung gegeben) folgt eine Erklärung der Kult-, Tempel-, Priester- und Opfervorschriften (2. Gebot). Das 2. Buch behandelt zum 3. Gebot das Verbot des Eides, zum 4. Gebot (Sabbath-Heiligung) die Festvorschriften, wobei die Feste im sakramentalen Sinne erklärt werden. Buch 3 und 4 ordnen nach dem 6.-10. Gebot diejenigen Gesetzesvorschriften, die mit dem Zivil- und Strafrecht zusammenhängen, und erklären diese in großem Detail mit vielfachen Verweisen auf das griechische und römische Recht. De virtutibus ist eine Schrift zur Grundlegung der Ethik (im Unterschied zur Gesetzgebung). Sie behandelt nacheinander die vier philonischen Kardinaltugenden 1. Tapferkeit (άνδρεία), 2. sehr ausführlich die Menschenliebe (φιλανθρωπία), 3. die Bekehrung (μετάνοια), und 4. den Adel der Gesinnung (ευγένεια), d.h. den wahren Adel, der nicht auf der Geburt, sondern auf der Weisheit beruht. De praemiis et poeniis ist nicht vollständig erhalten, sondern umfaßt nur c. 1-78 des unter diesem Titel erhaltenen Traktats. Bei-
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spiele von Belohnung für echtes Streben nach Vollkommenheit (Henoch, Noah, Abraham usw.) stehen voran. Der Lohn ist die mystische Kontemplation, die Schau Gottes - nicht etwa die Unsterblichkeit. Hingegen ist die Strafe für die Unmoral beständige Furcht und Ausschluß vom freudvollen Leben und von der Gemeinschaft mit Gott. Nach Abhandlung der Beispiele Kains und der Korachiten bricht der Text ab. Was in c. 79-172 folgt, ist eine unabhängige Schrift De benedictionibus. Sie ist eine populäre Synagogenpredigt, die von den Segnungen für die Täter des Gesetzes spricht (Frieden oder Sieg im Kriege, Wohlstand, ein langes Leben und Gesundheit) und von den Flüchen für die Übertreter (Hungersnot, Sklaverei, Mißlingen der Unternehmungen, Krieg, Krankheit, usw.). Der Abschluß ist eschatologisch: Wenn das Volk sich bekehrt, wird ihm der Segen zuteil werden; seine Verfolger werden dem Fluch verfallen. Das tiefsinnigste und umfangreichste Werk Philos war sein allegorischer Kommentar zur Genesis. Er ist nur teilweise in 21 Büchern erhalten, die nicht immer vollständig sind. Mindestens neun weitere Bücher sind ganz verloren. Dies ist Philos Hauptwerk. Der Kommentar reicht vom 2. Kapitel bis zum Schluß des ersten Buches der Bibel. Eine klare Gliederung ist weder im ganzen, noch in den einzelnen Schriften erkennbar. Der Gedankengang bestimmt sich vielmehr aus Assoziationen, die teilweise aus allegorischen Deutungen biblischer Sätze und Wörter erwachsen sind, deren Wortsinn durchweg als unzureichend bezeichnet wird. Dabei kommen in buntem Wechsel und unter Heranziehung vieler anderer biblischer Stellen philosophische, ethische, politische, wissenschaftliche und theologische Fragen zur Sprache. In Bezug auf die literarische Gattung gleichen diese Schriften etwa den Stromateis des Clemens von Alexandrien oder den Enneaden Plotins und entsprechen damit hellenistischer Manier in der religionsphilosophischen Schriftstellerei jener Zeit. Philo wendet sich hier an die Eingeweihten, ob Juden oder Heiden - alle jene, die sich nach damaligen Maßstäben mit Recht Philosophen nannten. Freude am Reflektieren, Spekulieren und Philosophieren ist dabei ebenso am Werk wie das eigentliche Anliegen: Die Befreiung des Geistes in der Kontemplation, die zur mystischen Gottesschau führt. Wegen der ungeordneten Vielfalt des Inhalts können im Folgenden jeweils nur einzelne Anhaltspunkte für den Inhalt gegeben werden. Die allegorische Auslegung beginnt mit den drei
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Legum Allegoriarum. Das 1. Buch knüpft an Gen. 2,1-7 an. Es behandelt den Unterschied zwischen Vernunft und sinnlicher Wahrnehmung und zwischen dem himmlischen und irdischen Menschen. Der Garten, die Bäume und die Flüsse des Paradieses werden auf Tugenden gedeutet. Das 2. Buch legt Gen. 2,18-3,1 aus und kreist um die Deutung Evas als sinnliche Wahrnehmung und deren Gefahren. Dazu bringt es Allegorien über die „Schlange" und über die „Nacktheit" außerdem eine große Anzahl von Ausdeutungen einzelner Begriffe. Das 3. Buch spekuliert im Anschluß an Gen. 3,8-19 über den Menschen, der von Gott gerufen wird, und versteht den Fluch als Verurteilung verschiedener Formen der Genußsucht. Die folgenden Bücher haben Einzeltitel. De Cherubim (Gen. з,24 und 4,1) erwägt im 1. Teil die Deutung der Cherubim und des flammenden Schwertes auf die Planeten- oder die Astralsphären, versteht sie dann aber doch als göttliche Eigenschaften und Mächte. Der 2. Teil erklärt Adam als Vernunft, Eva als sinnliche Wahrnehmung und Kain als die böse Absicht, die beide gebären. De sacrificiis Abelis et Caini enthält unter anderem eine ausführliche Gegenüberstellung der geliebten Hure Laster und der verhaßten rechtmäßigen Frau Tugend; in diesem Zusammenhang steht der umfangreichste Lasterkatalog, der je verfaßt wurde (er enthält 146 Laster). Im letzten Teil wird ausführlich das Opfer der Erstlinge besprochen. Quod deterius potiori insidiari soleat (Gen. 4,2-4) versteht Kain und Abel als die gegensätzlichen Prinzipien der Selbstliebe und der Liebe. De posteritate Caini bietet eine symbolische Ausdeutung der in Gen. 4,16-25 genannten Namen der Nachkommen Kains. De gigantibus (Gen. 6,l-4a) ist ein kurzer, aber sehr wichtiger Traktat. In der Diskussion Gen. 6,2 über Engel, Dämonen und die menschliche Seele bringt Philo eine platonische Darstellung des Abstiegs der Seele in den menschlichen Körper (c. 12-15). Zu Gen. 6,4 behandelt er den Unterschied der drei verschiedenen Seelenklassen, der irdischen, der himmlischen und der aus Gott geborenen. Quod Deus immutabilis sit (Gen. 6,4b-12) enthält и. a. in c. 33-50 eine Abhandlung über die stoische Unterscheidung aller Dinge in der Natur nach έξις (unorganische Stoffe), φύσις (Pflanzen), ψ υ χ ή (Tiere) und νοϋς (Mensch). De agricultura und De plantatione benutzen Gen. 9,20 als Text. Der erste Traktat spricht über den Gärtner der Seele, die Hirtin über den Körper ist, und über das Verhältnis von Vernunft und Begierden; der zweite redet über Gott als Pflanzer der Welt, der Seele usw., enthält am Schluß
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eine moralphilosophische Abhandlung über das Weintrinken und die Trunkenheit. Daran knüpft De ebrietate an (Noah wurde trunken, Gen. 9,21) und bringt eine allegorische Ausdeutung der fünf bei Moses durch den Wein bezeichneten Dinge: Torheit, Verlust der Kontrolle über die Sinne, Völlerei, Freude und Nacktheit. N u r die Diskussion der drei ersten ist noch erhalten. De sobrietate deutet die Flüche Noahs über seine Nachkommen, die er nach dem Aufwachen aus der Trunkenheit aussprach (Gen. 9,24-27). Mit dem nächsten Traktat beginnt vielleicht ein neuer Abschnitt, so daß ein innerer Zusammenhang von hier bis De fuga et inventione besteht. De confusione linguarum enthält verschiedene grundsätzliche Auseinandersetzungen mit der wörtlichen und mythologischen Deutung von Gen. 11,1-9. De migratione Abrahami stellt in versweiser Auslegung von Gen. 12,1-4 und 6 Abraham als Urbild der Seele vor, die dem göttlichen Rufe folgt. Quis rerum divinarum heres legt in enger Anlehnung an den Text Gen. 15,2-18 aus. Es ist die umfangreichste Abhandlung des gesamten allegorischen Kommentars. Sie führt im wesentlichen den Gedanken fort, daß der wahre Weise auf dem Wege zum Lande der Weisheit ist. De congressu quaerendae eruditionis gratia behandelt Gen. 16,l-6a und versteht Hagar allegorisch als die enzyklopädische Wissenschaft, Sarah als die ihr überlegene wirkliche Weisheit. De fuga et inventione bringt zu Gen. 16,6b-9 und 11-12 zahlreiche Beispiele aus dem Pentateuch über die Flucht sowie über das Suchen und Finden. De mutatione nominum (Gen. 17,1-5 und 15-22) benutzt den Anlaß der Interpretation von Namenswechseln, um zu zeigen, daß ein wörtliches Verständnis unsinnig und deshalb eine allegorische Deutung nötig ist. Den Abschluß des allegorischen Kommentars bilden die beiden Bücher De Somniis. Ein vorausgehendes Buch über Träume ist verloren. Das 1. der erhaltenen Bücher behandelt Jakobs Träume von der Himmelsleiter (Gen. 28,12-15) und von den verschiedenen Markierungen seiner Herde (Gen. 31,11-13). Das 2. Buch ist sehr schlecht erhalten und unvollständig. Es befaßt sich mit den je zwei Träumen Josephs, des Hofbäckers und des Mundschenken Pharaos und des Pharao. Beide Bücher über die Träume sind oft unübersichtliche Sammlungen verschiedenster Allegorien und Expositionen. Die sonstigen Schriften Philos sind sämtlich philosophische Abhandlungen. De aeternitate mundi setzt sich mit der stoischen Lehre
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von der periodischen Weltzerstörung auseinander. Quod omnis probus liber sit ist ebenfalls gegen die Stoa gerichtet und argumentiert gegen den stoischen Determinismus für die Freiheit des Weisen. Als Beispiele erscheinen Moses, die Essener, der indische Gymnosophist Kaianus, sowie zahlreiche Gestalten aus der griechischen Überlieferung. De Providentia (2 Bücher) ist nur armenisch erhalten und bisher nur ins Lateinische übersetzt worden. Die Echtheit dieses Werkes ist gelegentlich bestritten worden. Es ist in jedem Falle für die Geschichte der nach-aristotelischen Philosophie von Bedeutung. Ebenfalls nur armenisch erhalten ist der Dialog Alexander, in dem Philo mit seinem Neffen Alexander über die Frage diskutiert, ob die Tiere Vernunft besitzen. Mit seiner umfangreichen schriftstellerischen Tätigkeit hat Philo das heilige Buch der jüdischen Kultgemeinde, den Pentateuch, zu einem griechischen Buch machen wollen. Durch die apologetische und allegorische Auslegungsmethode wurde nicht nur der mystische Sinn dieses Buches in der Sprache der hellenistischen Philosophie dem eigentlichen Ziel griechischer Erziehung zugeordnet, sondern auch der moralische und juristische Gehalt des Pentateuchs in griechische Kategorien übersetzt. Was die jüdische Weisheitstheologie wollte, war damit vollendet. Die Vorstellung von der gestalthaften himmlischen Weisheit mündete in die philosophisch-religiöse Idee des Logos, der zugleich Schöpfer der Welt und menschliche Vernunft ist. Die mosaische Gesetzgebung verband sich mit dem stoischen Gedanken der vernünftigen Weltordnung (λόγος φόσεως) zum göttlich autorisierten Naturgesetz, von dem sich sowohl der Entwurf einer universalen Gesetzgebung als auch ein verinnerlichter und mit psychologischen Mitteln dargestellter Moralbegriff ableiten ließ. Weltbürgerschaft und moralisches Streben nach innerlicher Vollendung in der mystischen Kontemplation schließen sich nicht gegenseitig aus. Freilich tauchte die negative Weltsicht der jüdischen Weisheit in neuer Form auch bei Philo wieder auf, der sie aber mit der philosophischen Kosmologie des mittleren Piatonismus verband. Daraus ergab sich eine eindeutige Überordnung der himmlischen Welt über die irdische, des Unsichtbaren über das Sichtbare, der Vernunft über die Materie und der Seele über den Leib. Erfüllte Moses aufs beste als königlicher Gesetzgeber die Rolle des „göttlichen Menschen", so wurde doch der eigentliche Moses bei Philo zum Mystagogen, zum Führer in die göttlichen Geheimnisse und zum Weisen, der der Seele den Weg
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weisen kann, der aus dem irdischen Gefängnis herausführt. Diese Gedanken Philos haben zwar keine unmittelbare Beziehung zu den allerersten Anfängen des Christentums. Aber schon in Schriften der zweiten Generation, wie ζ. B. im Hebräerbrief, begann sich der Einfluß dieser Gedanken deutlich zu zeigen. Durch die Fortführung seiner allegorischen Schriftauslegung und seiner jüdisch-hellenistischen Religionsphilosophie bei den großen alexandrinischen Theologen Clemens und Origenes wurde Philo zu einem der wichtigsten Faktoren in der christlichen Theologie und in der christlichen Weltsicht überhaupt.
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Die Entstehung und Geschichte des Christentums in der Römischen Kaiserzeit
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DAS RÖMISCHE REICH ALS ERBE DES HELLENISMUS
1. Die Entwicklung Roms zur Weltmacht Römische Geschichte: Einführung, Quellenkunde, Bibliographie, 1973 (bestes Hilfsmittel zum Einarbeiten in alle Einzelfragen). H . B E N G T S O N , Grundriß der römischen Geschichte mit Quellenkunde, Bd.I: Republik und Kaiserzeit bis 284n.Chr., H A W 1115,1, 2 1970 (gründlichste umfassende Darstellung). Zahlreiche Abhandlungen zu den meisten Themen dieses Abschnitts finden sich in dem seit einigen Jahren erscheinenden Werk: H I L D E G A R D T E M P O R I N I und W O L F G A N G H A A S E (Herausgeber), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt: Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. A. H E U S S , Römische Geschichte, 3 1971. Η . E . S T I E R , Roms Aufstieg zur Weltmacht und die griechische Welt, 1957. P. G R I M A L u. a., Der Hellenismus und der Aufstieg Roms, 1965. K.CHRIST,
Zue: W. S C H M I T T H E N N E R (Herausgeber), Augustus, WdF 1 2 8 , 1 9 6 9 . R . K L E I N (Herausgeber), Prinzipat und Freiheit, WdF 1 3 5 , 1 9 6 9 . V . G A R D T H A U S E N , Augustus und seine Zeit, Bd. 1 - 2 , 1 8 9 1 - 1 9 0 4 . A . H . M . J O N E S , A u g u s t u s , 1970.
The Augustan Principate, 2 1968. G. W. BOWERSOCK, Augustus and the Greek World, 1965. M.HAMMOND,
a) Das westliche Mittelmeer und seine Völker Etwa seit dem Jahre 1000 vChr waren in den westlichen Mittelmeerraum verschiedene Völker eingewandert, die dort größere Reiche aufgebaut hatten, längst bevor Rom ein selbständiger Stadtstaat wurde. Aus dem östlichen Mittelmeer kamen die Phönizier. Sie waren seit Anfang des zweiten Jahrtausends an der syrischen Küste ansässig, wohin sie mit der aramäischen Einwanderung gekommen waren. Mehrere mächtige, aber voneinander unabhängige Stadtstaaten (Tyros, Sidon, Ugarit, u.a.) waren dort als Handelszentren von den Phöniziern gegründet worden und hatten jahrhundertelang Bestand. Handelsinteressen waren es auch, die die
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Phönizier schon vor dem Jahre 1000 vChr in das westliche Mittelmeer gebracht hatten. Zu den ältesten phönizischen Handelsniederlassungen gehören Gades (heute Cädiz) und Tarschisch (Tartessos, die genaue Lage ist unbekannt) in Südspanien. Später kamen Niederlassungen auf Sardinien, Sizilien und in Nordafrika hinzu. Durch den Druck der Assyrer veranlaßt fanden auch Auswanderungen größerer Bevölkerungsteile statt. Die wichtigste hieraus resultierende Gründung wurde Karthago (etwa 850-800 vChr). Seit dem 5.Jh.vChr hatte Karthago die kaum bestrittene Handelsvorherrschaft im ganzen westlichen Mittelmeer, konnte die Süd- und Ostküste Spaniens sowie den westlichen Teil der afrikanischen Mittelmeerküste zu seinem festen Besitz rechnen und kontrollierte auch den Handel mit dem nordwestafrikanischen Inland. Die von den Phöniziern zum Teil beherrschten Völker im südlichen und östlichen Spanien waren ältere mittelmeerische Völker, die in einigen Städten im Austausch mit dem Orient und unter griechischem Einfluß eine recht hoch entwickelte eigene Kultur hervorgebracht hatten. Im Norden und Westen Spanien saßen keltische Völker. Außerdem hatten sich im Norden und in Südfrankreich die Baskonen (Basken) seit uralter Zeit gehalten und ihre eigene Sprache, die mit keiner bekannten Völkergruppe in Verbindung gebracht werden kann, bewahrt. An der Nordküste des westlichen Mittelmeeres und in Norditalien von den Pyrenäen bis in die Po-Ebene waren die Ligurer ansässig, ein altes indogermanisches Volk. Sie wurden um die Mitte des 1. Jahrtausends in zunehmendem Maße von keltischen Völkern verdrängt. An der Küste war um 600 vChr die griechisch-phokische Kolonie Massalia (heute Marseille) gegründet worden. Von hier aus suchten die Griechen, einen Teil des westlichen Mittelmeerhandels in die Hand zu bekommen, gründeten weitere Kolonien und erstreckten ihren Einfluß auch auf Gallien. Seit dem Jahre 1000 vChr waren indogermanische Stämme nach Italien eingewandert. Sie kamen aus dem Donauraum und aus Illyrien und siedelten sich vor allem im mittleren Teil Italiens an. Diese Stämme, zu denen auch die Vorfahren der Römer gehören, werden unter dem Namen Italiker zusammengefaßt. Ihnen folgten seit dem 9.Jh.vChr die Etrusker. Ihre Herkunft ist nicht bekannt; daß sie aus Kleinasien kamen, ist nicht unwahrscheinlich. Ihre Sprache, in hunderten von mit griechischen Buchstaben ge-
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schriebenen Inschriften bezeugt, ist bis heute noch nicht enträtselt worden. Die Etrusker beherrschten, in verschiedenen Stammes- und Städteverbänden organisiert, jahrhundertelang das mittlere Italien. Sie hatten eine hochentwickelte Kultur, in der zunächst orientalische, später griechische Einflüsse vorherrschten. Die Verbindung zum Griechischen blieb bei den Etruskern das entscheidende kulturelle Element, und viele griechische Einflüsse haben sie den Römern vermittelt. Seit dem 8.Jh.vChr kamen griechische Einwanderer nach Süditalien und Sizilien und gründeten Kolonien an den Küsten, von denen aus sich der griechische Einfluß in das Inland erstreckte. Die Korinther gründeten Syrakus, die Euböer Kyme und Neapel, die Spartaner Tarent, während die meisten anderen süditalienischen Städte (Sybaris, Kroton) achäische Kolonien waren. Süditalien und Sizilien wurde so zu einem völlig von der griechischen Kultur beherrschten Gebiet (Großgriechenland). Mit der griechischen Expansion kam es zu einer zunehmenden Rivalität zwischen Griechen und Etruskern, die in Italien zu dauernden kriegerischen Auseinandersetzungen führte, obgleich die enge Verbindung der Etrusker zu Griechenland selbst nie abriß. Die Etrusker wurden außerdem seit dem 5.Jh.vChr im Norden von keltischen Stämmen bedroht. Diese Situation gab der Stadt Rom, die am Südrande des etruskischen und am Nordrande des griechischen Einflußgebietes lag, die Möglichkeit, sich von der etruskischen Oberherrschaft zu befreien. b) Die römische Republik Die Anfänge Roms sind legendär. Die Römer waren ein lateinischer Stamm, der Völkerfamilie der Italiker zugehörig, der sich in der Nachbarschaft verwandter lateinischer Völker (Sabiner, Samniten u.a.) in Mittelitalien am Unterlauf des Tiber festgesetzt hatte. Die Stadt Rom war unter etruskischer Herrschaft gebaut und befestigt worden. Die überlieferte Vertreibung des letzten Königs, Tarquinius Superbus, etwa 510vChr, ist wahrscheinlich mit der Befreiung von etruskischer Oberherrschaft identisch. Die Ablehnung des Königtums sollte seit jener Zeit ein wichtiges Element im Empfinden des römischen Volkes bleiben. Im 5. und 4.Jh.vChr war Rom nach außen hin damit beschäftigt, seine Unabhängigkeit zu bewahren und sie durch einen langsamen Ausbau seines Gebietes zu festigen; im Inneren ging es in langen und zähen Ständekämpfen um die Herstellung des politischen
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Gleichgewichtes in einem halbdemokratischen Ständestaat. Seit dem Sturz der etruskischen Könige wurde der Staat von ein paar hundert patrizischen Familien (sie waren und blieben auch in Zukunft im wesentlichen Grundbesitzer) beherrscht. Die Häupter dieser Familien bildeten den Senat, der sämtliche Priesterstellen und fast alle öffentlichen Ämter besetzte und kontrollierte. Der Staat wurde von zwei vom Senat gewählten Konsuln geleitet, die jeweils ein Jahr amtierten. Den Patriziern standen die Plebejer gegenüber, die sich im Verlauf der Kämpfe eine eigene, religiös sanktionierte Organisation schufen und sich nach und nach, mehrfach durch Androhung des Auszugs sämtlicher Plebejer aus der Stadt, Zugang zu allen Staatsämtern erkämpften. Seit dem Jahre 367 vChr mußte in der Regel einer der beiden Konsuln Plebejer sein. Ebenso erhielten die Plebejer Zugang zum Amt des Prätors (Prätoren waren den Konsuln im Rang gleichgestellt, fungierten als Vertreter der Konsuln, als Statthalter und hatten Befugnisse in der Gerichtsbarkeit) und des Quästors (den Konsuln unterstellte Magistratsbeamte, die die verschiedenen Ressorts verwalteten; später in den Provinzen die obersten Finanzbeamten) und des Censors (die Censoren führten die Bürger- und Steuerlisten). Zwei Ädile waren von altersher von den Plebejern gewählt worden. Sie hatten die Tempelaufsicht und die Polizeiaufsicht auf allen Straßen und Plätzen, sowie in den öffentlichen Einrichtungen und Gebäuden. Später kamen zu diesen beiden Adilen noch zwei sogenannte kurulische Ädile, die von der Versammlung aller Stände (den Centuriatskomitien) gewählt und wechselweise von den Plebejern und von den Patriziern gestellt wurden. Die beiden Volkstribune waren von jeher plebejische Beamte, die von der Versammlung der Plebejer (den Tribunatskomitien) gewählt wurden. Hier lag ein wesentlicher Teil der plebejischen Macht verankert, denn die Volkstribune besaßen Immunität und sie konnten Gesetze einbringen, die durch Annahme in den Komitien sofort verbindlich wurden. Wesentlicher war aber wohl, daß die Bekleidung eines Amtes gleichzeitig Zugang zum Patriziat verschaffte. So wurde das Patriziat ständig durch das Hereinwachsen plebejischer Familien erneuert und es entwickelte sich eine Nobilität, die nicht mehr allein auf dem Geburtsrecht beruhte. Das labile Gleichgewicht dieses Ständestaates wurde seit dem 2.Jh.vChr noch insofern verändert, als der Ritterstand als besonderer Stand zwischen dem Senat und dem Volk eigene Rechte und Funktionen erhielt. Es war ein sehr
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breiter und wohlhabender Stand, der längst seine ursprünglichen militärischen Funktionen verloren hatte. Da den Senatoren die Teilnahme am Geschäftsleben verboten war (ihr Reichtum beruhte auf dem Grundbesitz), waren das Geschäftsleben und das Unternehmertum in der Hand der Ritter. Dem Ritterstand gehörte in zunehmendem Maße auch die Nobilität aus der Provinz an, die auf diese Weise Zugang zum römischen Unternehmertum und zum Staatsleben erhielt. Bei der Ausdehnung des römischen Reiches spielten die Ritter als Staatspächter eine Rolle und erhielten wesentliche Funktionen in der Gerichtsbarkeit. Seit dem 5.Jh. bestand für den Kampf gegen die Etrusker ein Bündnis zwischen Rom und den benachbarten Latinern. Kurz nach der Eroberung der mächtigen Etruskerstadt Veji, mit der Rom jahrelang im Kampf gestanden hatte, fielen 387 vChr die Kelten in Mittelitalien ein. Sie schlugen das römische Heer und verbrannten die Stadt, aus der sich die Römer auf das Kapitol zurückgezogen hatten. Nur durch eine riesige Geldsumme konnten sie sich den Abzug der Kelten erkaufen. Eine hundert Jahre dauernde Kriegszeit folgte. Zu den wiederholten Kriegen mit Etruskern und Kelten kamen die Samniterkriege (343-341, 327-304, 298-290 vChr), dazu ein Aufstand der latinischen Bundesgenossen, der Rom zu einer Änderung seiner Beziehungen zu den latinischen Städten zwang, die einem neuen Staatsentwurf gleichkam: einige Städte erhielten Bürgerrecht und Wahlrecht, andere nur das Bürgerrecht, wieder andere waren als Bundesgenossen von Rom abhängig. Nach dem endgültigen Sieg gegen die Etrusker (295), dem Sieg über die Samniten und einem letzten schweren Krieg gegen die Kelten (285-282) waren die Römer die Herren eines Bundesstaates, der ganz Mittelitalien umfaßte. Unmittelbar darauf wurden sie durch die ehrgeizigen Pläne des epirischen Königs Pyrrhos zum ersten Male in eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der griechischen Welt hineingezogen (s.o.§1.4e). Obwohl zweimal von Pyrrhos geschlagen ging Rom doch als Besitzer Unteritaliens aus diesem Kriege hervor. Bis dahin hatte es um seine Selbständigkeit und Sicherheit gekämpft und war dabei trotz schwerer Kämpfe und vieler Rückschläge erfolgreich geblieben. Jetzt sah sich Rom in einer ganz neuen Situation. Es beherrschte ein großes Gebiet mit mehreren Millionen Einwohnern, hatte einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und war in den Kriegen reich geworden (seit 270 vChr prägte es eine eigene Silbermünze). An die Stelle der lokalen
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Politik mußte eine neue weltpolitische Orientierung treten. Warum diese Weltpolitik bald zu einer Politik der Welteroberung wurde, hat man trotz Anführung vieler Gründe (Land- und Machthunger, Sendungsbewußtsein, wirtschaftliche Interessen) nie ganz erklären können. c) Die Eroberung des Weltreichs Im Kriege mit Pyrrhos hatte Rom bei Karthago Rückhalt gesucht und sich mit ihm verbündet. Nach dem Abzug des Pyrrhos war Rom die Schutzherrschaft über die griechischen Städte Süditaliens zugefallen. Durch das gräzisierte etruskische Erbe durchaus darauf vorbereitet, waren die Römer wohl schon vor der Wende zum 3.Jh.vChr in zunehmendem Maße von der griechischen Kultur beeindruckt worden. Auf der anderen Seite mußte Karthago den Römern mehr und mehr als ihr eigentlicher Hauptgegner im westlichen Mittelmeer erscheinen. Die Karthager besaßen die gesamte Süd- und Westküste des westlichen Mittelmeeres und waren keineswegs zimperlich bei der Wahl der Methoden, mit denen sie den Handel im westlichen Mittelmeer in ihrer Hand zu behalten suchten. So ist es nicht nur das Ergebnis einer anfangs recht ziellos erscheinenden Politik, daß sich Rom nach seinem keineswegs notwendigen Eingreifen in Messina auf Sizilien (übrigens hatte das Volk gegen den Willen der Senatsmehrheit auf dieses Eingreifen gedrungen) schließlich in einem Krieg fand, in dem Karthago sein Todfeind und das griechische Syrakus sein Verbündeter war. Dieser erste punische Krieg dauerte von 264-241 vChr. In ihm schuf sich Rom erstmals eine Flotte, die zum Ausbau des im Krieg Erreichten ein wichtiges Instrument blieb. Der Krieg endete mit einer Aufteilung des westlichen Mittelmeeres in eine römische und eine karthagische Hälfte. Sizilien, mit Ausnahme des Gebietes von Syrakus und weiterer verbündeter griechischer Städte, wurde zu einer römischen Provinz. Damit hatte Rom zum ersten Male im Verlauf seiner Machtausweitung ein Mittel imperialistischer Politik an die Stelle der bis dahin angewendeten Bündnispolitik gesetzt. In gleicher Weise verfuhr Rom beim weiteren Ausbau des gewonnenen Einflußgebietes. Mit der Einrichtung von Provinzen, die ein Resultat der neuen imperialistischen Politik war, begann die Ausbeutung der eroberten Gebiete. Die Verwaltung der Provinzen oblag einem einzelnen vom Senat ernannten Beamten (Prätor, später Prokonsul oder Pro-
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prätor), dem jeweils ein Quästor beigegeben war. Zwar blieb die Lokalverwaltung und die niedere Gerichtsbarkeit in den Händen der ansässigen Bevölkerung, aber die höhere Gerichtsbarkeit, das Steuer- und Abgabewesen und die Militärgewalt lagen in den Händen des römischen Statthalters, der das Recht hatte, bei seinem Amtsantritt in einem Edikt Grundzüge und Einzelheiten der Ausübung seiner Verwaltung festzulegen. Wenn ein Statthalter sich durch Ausbeutung und Erpressungen bereichern wollte, so hatte er weder den Einspruch eines Kollegen noch die Kontrolle durch irgendwelche örtlichen Instanzen zu fürchten. Noch schlimmer wurde es manchmal, wenn der Statthalter die Ausbeutung durch römische Geschäftsleute und Pächter einzudämmen suchte; dann mußte er damit rechnen, daß er sich in Rom mächtige Feinde schuf, seine Tage gezählt waren und die Provinz erst recht in schlechte Hände kam. Bis zum Beginn der Kaiserzeit konnten auch wohlgemeinte Gesetze und wiederholte Prozesse (De repetundis) dem Unwesen der Ausbeutung nicht steuern. Kurz nach dem 1. punischen Krieg erreichte Rom 238vChr, daß ihnen die Karthager Sardinien und Korsika abtraten, und richteten hier eine weitere Provinz ein. Zur Unterstützung der griechischen Städte an der Adria eroberte Rom einen Teil der illyrischen Küste, der zur Provinz Dyrrhachium wurde (heute Albanien; 229vChr). Zur Bannung der Keltengefahr wurde Norditalien erobert und die Provinz Gallia Cisalpina eingerichtet (222vChr). In einem zweiten illyrischen Krieg besetzte Rom die dalmatische Küste (Provinz Dalmatien 219vChr) und war so unbestrittener Herr über das adriatische Meer. Die Griechen belohnten diese auch in ihrem Interesse geführten römischen Kriege durch die Zulassung Roms zu den isthmischen Spielen. Während dieser Jahrzehnte hatte sich Karthago keineswegs in die im ersten Krieg mit Rom erlittene Niederlage geschickt. Der karthagische General Hamilkar mit dem Beinamen ,Barkas' (der Blitz) hatte nach dem Kriege den karthagischen Söldneraufstand erfolgreich bekämpft und daraufhin begonnen, Spanien, das dem karthagischen Einfluß während des Krieges entglitten war, zu erobern. Seine erfolgreichen Operationen erschlossen Karthago in Südspanien eine neue Basis der Macht und des Reichtums und brachten dadurch seine Partei (die „Barkiden"), die zu einer Wiederaufnahme der Feindseligkeiten mit Rom durchaus bereit schien, in Karthago ans Ruder. Nach Hamilkars Tod (229vChr)
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war zwar sein Schwiegersohn Hasdrubal durchaus willens, einen drohenden Konflikt mit Rom durch diplomatische Vereinbarungen abzuwenden. Er legte mit Rom vertraglich fest, daß der Ebro (vielleicht ein Fluß Mittelspaniens südlich von Sagunt, nicht der später als Ebro bekannte Fluß Nordspaniens) als Grenze der römischen und karthagischen Interessensphären gelten sollte (226vChr). Fünf Jahre später wurde er ermordet und sein Schwager Hannibal, der 25jährige Sohn Hamilkars, vom H e e r zum Oberbefehlshaber ausgerufen. Hannibal unternahm den Versuch, ganz Spanien zu erobern. Als er die nördlich des „ E b r o " gelegene griechisch-iberische Stadt Sagunt belagerte und diese sich an Rom um Hilfe wandte und als römische Vorstellungen in Karthago nichts fruchteten, begann der zweite panische Krieg, auf den ohnehin beide Seiten seit Jahren zusteuerten. Dieser Krieg wurde der langwierigste und gefährlichste Krieg der römischen Geschichte, zumal sich Rom in Hannibal wohl dem größten militärischen Genie gegenübersah, das die semitische Welt je hervorbrachte. Der berühmte Alpenübergang Hannibals nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten (218vChr) ist genugsam bekannt, ebenso der vergebliche Widerstand der Römer, der Abfall der Gallier im N o r den und schließlich sogar der italischen Bundesgenossen, nachdem Hannibal das römische H e e r in einer der berühmtesten Schlachten der Weltgeschichte, bei Cannae, vernichtend geschlagen hatte (216vChr). Auch Syrakus verbündete sich mit Hannibal, der ganz Großgriechenland zum Abfall brachte und ein Bündnis mit Philipp von Makedonien Schloß. Zwar schien die Zähigkeit der Römer, die im übrigen verzweifelt die eigenen und die etruskischen Götter befragten und ihnen Spiele versprachen, die sibyllinischen Bücher konsultierten und eine Gesandtschaft zum delphischen Apollo schickten, einige Erfolge zu zeitigen. Das zu Hannibal abgefallene Capua wurde zurückerobert und die Bevölkerung furchtbar bestraft, Syrakus nach langer Belagerung erobert; Archimedes, der mit seiner Erfindung vieler Kriegsmaschinen den Belagerten geholfen hatte, fand dabei den T o d . Aber im folgenden Jahre (211 vChr) wurden zwei römische Expeditionsheere, die in Spanien im Rükken Hannibals unter P. Cornelius Scipio und seinem Bruder Gnaeus Scipio erfolgreich operiert hatten, vernichtend von Hannibals Bruder Hasdrubal geschlagen; beide Scipionen wurden in diesen Kämpfen getötet. Der Lauf des Krieges begann sich zu wenden, als der erst 24jährige Cornelius Scipio (als Africanus maior be-
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kannt) sich 210vChr bereit erklärte, den scheinbar hoffnungslosen Posten der Führung des zerschlagenen spanischen Expeditionsheeres als Nachfolger seines Vaters zu übernehmen. Man hat Scipio Africanus maior den bedeutendsten römischen Strategen vor Caesar genannt. Aber nicht nur seine strategische Begabung und nicht nur Vertrauen, H o f f n u n g und Begeisterung, die er von Anfang an zu erwecken vermochte, erklären bereits seinen Erfolg. Ein alter römischer Glaube in neuem Gewände trat mit ihm zum ersten Male in die römische Geschichte ein: die „felicitas" des bedeutenden Führers und Retters in der Not. Felicitas war f ü r die Römer die fast übernatürliche Fähigkeit, ein Vorhaben mit Einsicht, Mut und Geschick auch zu einem glücklichen Ende zu führen. Die Römer sahen aber in Scipio noch mehr. Sie sahen diese felicitas als eine Manifestation göttlichen Eingreifens durch die Taten eines Einzelnen. Die schon zu Lebzeiten Scipios entstehende Scipio-Legende beweist, daß hier die römische Idee von der felicitas mit der griechischen Vorstellung vom göttlichen Menschen zusammenzufließen begann. D a ß diese Legende später zur Zeit Caesars aus propagandistischen Gründen ganz nach dem Vorbild der Alexanderlegende ausgestaltet wurde, war eine konsequente Fortführung dieser Anfänge. Der weitere Verlauf des Krieges seit 210vChr gab denen Recht, die in Scipios Ernennung mehr sahen als die Entsendung eines neuen Magistraten: 209vChr die legendär gewordene Eroberung des punischen Hauptquartiers in Spanien Karthago Nova (Cartagena); Sieg über Hasdrubal bei Baecula; Hasdrubal entkommt nach N o r d e n , um sich mit dem H e e r seines Bruders in Norditalien zu vereinen, wird aber von einem römischen H e e r dort geschlagen (207vChr); bis 206 Eroberung Spaniens; 205 Scipio in R o m zum Konsul gewählt; 204 trotz des Widerstandes des Senats Landung in Afrika; Erfolge mit Hilfe des Numiderfürsten Massinissa; Hannibal gezwungen, Italien zu verlassen und nach Spanien zurückzukehren; 202 schlägt Scipio den Hannibal bei Zama. Im Jahre 201 nahm Karthago die von Scipio diktierten Friedensbedingungen an, nach denen es sich mit dem Rang eines nordafrikanischen Kleinstaates begnügen mußte, der den Römern eigentlich nicht mehr gefährlich werden konnte. D e r 2. Punische Krieg war nicht nur eine Auseinandersetzung mit Karthago. Rom war gleichzeitig mit Pergamon und Rhodos verbündet, die ihrerseits das mit Karthago verbündete Makedonien bekämpften. Mit den Atolern, dem Erbfeind Makedoniens in Grie-
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chenland, pflegte Rom freundschaftliche Beziehungen. Aus dem weiteren Schicksal der griechischen Staaten konnte Rom sich nicht wieder lösen. Es hatte wohl auch nie die Absicht, dies zu tun, teils aus einem Gefühl der Macht heraus - Rom war nach dem Sieg über Karthago der einzige machtvolle Staat im Mittelmeerraum teils aus einem Gefühl der Furcht - die Pyrrhos-Siege waren in Rom nicht vergessen. So folgten in der römischen Geschichte auf den 2. Punischen Krieg eineinhalb Jahrhunderte der gerufenen und ungerufenen Einmischung Roms in die Belange der griechischen Staaten, die jeweils in der Eroberung und Annexion dieser Staaten durch Rom endete, soweit ein solcher Staat nicht durch testamentarische Verfügung ohnehin an die Römer fiel. Im Einzelnen ist darüber oben bereits gehandelt worden (s.o. §1.4a-d). Der Krieg mit Makedonien von 200-197 brachte den Römern keinen Gebietszuwachs. Sie beschränkten nur die Macht Philipps auf Makedonien, erklärten die Freiheit der griechischen Staaten und zogen sich dann aus Griechenland zurück. Als daraufhin der Seleukide Antiochos III. (der Große) in Griechenland landete, griffen die Römer wiederum ein, besiegten und vertrieben ihn und nahmen ihm alle kleinasiatischen Besitzungen weg. Wiederum verzichtete Rom auf eine Annexion und teilte das in Kleinasien eroberte Land an seine Bundesgenossen Pergamon und Rhodos auf (190vChr). Noch 167vChr, nach dem Sieg über den letzten makedonischen König Perseus in einem offensichtlich ohne Grund vom Zaum gebrochenen Krieg, zögerten die Römer, sich Makedonien einzuverleiben, teilten das Land vielmehr in 4 unabhängige Republiken auf. Ebenso hatte Rom 168vChr den siegreichen König Antiochos IV. Epiphanes in Ägypten durch ein Ultimatum zur Umkehr gezwungen, ohne sich selbst in Ägypten festzusetzen. Erst um die Jahrhundertmitte änderte sich diese Politik. Vielleicht glaubte man in Rom ernsthaft, daß sich die ständigen Unruheherde im Mittelmeerraum nicht anders beseitigen ließen. Für Griechenland mag diese Annahme berechtigt gewesen sein. Jedoch ist es schwer, die gleiche Erklärung auch auf Karthago anzuwenden. Alteingesessener H a ß und völlig irrationale Furcht führten dazu, daß Rom 149 den Karthagern, die bis zum letzten Augenblick um die Erhaltung des Friedens bemüht waren, wegen einer unbedeutenden Vertragsverletzung den Krieg erklärten, 146 die Stadt eroberten und das Land als Provinz organisierten. Als römische Provinz wurde „Afrika" zu einem wichtigen Träger der spätantiken lateinischen Kultur und
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zum eigentlichen Geburtsland des westlichen „römischen" Christentums. In den gleichen Jahren unterwarfen sich die Römer das unruhige und aufständische Griechenland und richteten 147 die Provinz Makedonien, 146 die Provinz Achäa ein. Im Jahre 133 fiel durch das Testament des letzten pergamenischen Königs dessen Reich an den römischen Senat, was zur Gründung der Provinz Asia führte. Damit war die Phase der Welteroberung zunächst abgeschlossen. Weitere Eroberungen stehen in engem Zusammenhang mit dem römischen Bürgerkrieg, der unmittelbar darauf ausbrach und über 100 Jahre wären sollte. d) Der Bürgerkrieg 133-30 vChr Die Gründe für den Ausbruch des hundertjährigen römischen Bürgerkrieges sind vielschichtig. N u r einiges kann hier kurz angedeutet werden. Einmal war Rom nicht imstande gewesen, sich den rasch wandelnden wirtschaftlichen Verhältnissen auch sozial anzupassen. Das galt vor allem von Italien, wo Wein- und Olivenkulturen den Getreideanbau zunehmend verdrängt hatten und wo immer größere Ländereien in die Hände der Oberschicht gekommen waren, der ein großes Heer besitzloser Bürger und eine ungeheure Zahl von Menschen, die durch die vielen Kriege in die Sklaverei gekommen waren, gegenüberstanden. Ein weiterer Faktor, der vor allem Rom selbst betraf, war die rasch voranschreitende Hellenisierung, der Rom nach der Eroberung Griechenlands offenbar schutzlos ausgeliefert war. Die alten moralischen und kulturellen Werte Roms waren nicht auf ein Weltbürgertum zugeschnitten; die neuen mehr universal ausgerichteten Wertbegriffe des Hellenismus wurden von den Vertretern des alten Rom hingegen in gewissem Maße als Bedrohung empfunden, so daß sie sich nur unter schweren Auseinandersetzungen durchzusetzen vermochten. Schließlich wurde sehr bald klar, daß der bestehende römische Verwaltungsapparat den Anforderungen der Administration eines Weltreiches nicht gewachsen war. Hatte Rom bereits die Eroberungskriege so geführt, daß sie sich auch „bezahlt" machten, so wurde die Ausbeutung der Provinzen unter der römischen Verwaltung, die ein notorisches Problem war, zu einem wirklichen Hindernis für die Errichtung des Friedens. Unzufriedenheit mit der römischen Verwaltung und häufige Unruhen waren an der Tagesordnung. Hinzu kamen ernsthafte Bedrohungen von außen (wie z.B. beim Germaneneinfall), die es Rom leicht machten, in jedem Fall
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durch den Einsatz der Armee bestehende Probleme zu lösen. Es hat lange gedauert, bis Rom begriff, daß sowohl eine neue Einstellung gegenüber den unterworfenen Völkern als auch eine grundsätzliche Neuordnung der Verwaltung nötig war, um den Frieden herzustellen. Bis dahin mußten die von Rom beherrschten Völker unsäglich leiden, da Rom seine eigenen Probleme auf ihre Kosten auskämpfte. N u r die Umrisse des Ablaufs und einige Momente, die auch soziale, kulturelle und religionsgeschichtliche Bedeutung haben, können in der folgenden Darstellung des Bürgerkrieges angedeutet werden. D a s Ereignis, das die sozialen Mißstände in Italien zum ersten Male in aller Schärfe sichtbar werden ließ, war die versuchte Bodenreform der Gracchen. Mehrere Sklavenaufstände in Italien und Griechenland waren dem Jahre 133vChr vorausgegangen, in dem Tiberius Sempronius Gracchus zum Volkstribun gewählt wurde. Er stammte aus dem römischen Hochadel; sein Vater war zweimal Konsul gewesen, seine Schwester mit Scipio Aemilianus, dem Sieger im 3. Punischen Krieg, verheiratet. Die Gedanken, die ihn zur Vorlage seiner Reformgesetze inspirierten, entstammten konservativen römischen Idealen, die sich mit Anregungen aus der stoischen Philosophie verbanden. An Stelle der von großen Sklavenheeren bearbeiteten Latifundien der römischen Notablen sollte wieder ein breiter bäuerlicher Mittelstand auf eigenem Grund und Boden im Lande fest verwurzelt sein. Die Reformgesetze bestimmten, daß kein Senator mehr als 125 Hektar des Staatslandes bearbeiten dürfe; hinzu kamen noch je die Hälfte dieser Landfläche für seine beiden ältesten Söhne. Alles übrige Staatsland sollte an bäuerliche Kleinsiedler verteilt werden. U m das Reformwerk zu zerstören setzte die Senatsmehrheit alle legalen und illegalen Mittel ein und schreckte schließlich nicht vor der Ermordung des Volkstribunen zurück. Tiberius' Bruder, Gaius Sempronius Gracchus, wurde 10 Jahre später zum Volkstribun gewählt und nahm das Reformwerk wieder auf. Es gelang ihm gleichzeitig, wenigstens Teile einer umfassenderen Gesetzgebung in der Volksversammlung durchzubringen: ein Getreidegesetz, nach dem jedes Familienoberhaupt jährlich eine begrenzte Menge verbilligten Getreides kaufen konnte; ein Gesetz, nach dem die Ritter die Gerichte besetzen sollten, denen die Kontrolle über unfähige und korrupte Statthalter oblag (dieses Gesetz blieb bestehen und hatte schlimme Folgen, da senatorische Statthalter nicht mehr gegen dem Ritterstand angehörige
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ausbeuterische Steuerpächter und Geschäftsleute in der Provinz vorzugehen wagten); ein Gesetz, daß den Latinern volles römisches Bürgerrecht und den italischen Bundesgenossen das latinische Recht geben sollte. Aber auch dieses Reformwerk scheiterte an der zynischen Selbstsucht, mit der die Senatsmehrheit ihre eigenen Interessen verteidigte. 3000 Anhänger des Gaius Gracchus wurden ermordet; er selbst ließ sich, als er keinen Ausweg mehr sah, von einem Sklaven töten (122vChr). Äußerlich hatte der Senat seine Herrschaft im Staat wiederhergestellt. Es hatte sich aber gezeigt, wie groß die Macht des Volkes sein konnte, sobald es einen Führer fand, der diese Macht organisieren und sich die Gunst des Volkes erhalten konnte. Faktisch war der Senat von denjenigen abhängig, die auf die Gunst des Volkes zählen konnten, mochten sie nun echte Führergestalten oder auch - oft vom Senat selbst ermutigte - Demagogen sein. Die folgenden Jahre sollten das sehr bald beweisen. Nach dem Sturz der Gracchen versuchte der Senat durch eine imperialistische Politik sich die Gunst des Volkes zu erhalten und gründete in dem schon teilweise hellenisierten Gebiet Südgalliens eine neue Provinz. Gerade in dieses Gebiet, sowie nach Norditalien fielen die germanischen Kimbern und Teutonen ein und vernichteten 113 und 105vChr die römischen Armeen, die ihnen dort entgegentraten. Gleichzeitig war Rom aber in einen langwierigen Krieg mit dem numidischen König Jugurtha in Nordafrika verwickelt. In dieser Situation zwang das Volk den Senat, den beliebten General Marius, einen Bauernsohn, der sich im Heer hochgedient hatte, als Retter in der Not zu akzeptieren. Marius wurde 107 zum Konsul gewählt (und, gegen alle Tradition, in den folgenden Jahren sechs mal wiedergewählt); er begann sofort mit dem Aufbau einer eigenen Armee: an die Stelle des aus den oberen Schichten einberufenen Heeres trat ein Berufsheer, das Marius aus den untersten Schichten rekrutierte und zu 16-20jährigem Dienst verpflichtete. In Zukunft wurden so die Soldaten „Klienten" ihres Generals und waren nicht länger „Bürger in Uniform". Marius besiegte Jugurtha, zog 104 im Triumph in Rom ein, wandte sich dann gegen die Kimbern und Teutonen, die er 102 und lOlvChr bei Aquae Sextiae und bei Vercellae besiegte. Da Marius sich in den folgenden Jahren im Zusammenhang der Landbeschaffung für seine Veteranen in politische Unruhen verstrickte, mußte er vorerst von der politischen Szene abtreten.
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D a ß der Versuch des Gaius Gracchus, eine bessere Rechtsstellung der italischen Bundesgenossen zu erreichen, gescheitert war, rächte sich in dem 91vChr ausbrechenden Bundesgenossenkrieg, der die Existenz Roms an der Wurzel bedrohte. Was der Senat nicht freiwillig geben wollte, mußte er nach schweren Kämpfen schließlich zugestehen. Der Krieg endete erst, nachdem man dazu überging, das ehemals römische Stadtbürgerrecht faktisch zum Staatsbürgerrecht großer Teile Italiens zu machen. Im Jahre 88vChr machte sich der pontische König Mithridates VI. Eupator, der offenbar die inneren Schwierigkeiten Roms überschätzte, daran, das westliche Kleinasien und Griechenland den Römern zu entreißen. Nach schnellen Siegen über eine römische Armee und das mit Rom verbündete Bithynien, setzte er nach Griechenland über und ließ sich dort als Befreier der Hellenen feiern (s.o.§ 1.4b). Sulla, einer der Konsuln jenes Jahres, ein fünfzigjähriger konservativer Patrizier, der sonst wenig hervorgetreten war, wurde mit der Führung des Krieges gegen Mithridates beauftragt. Als er in Capua weilte, um dort seine Truppen zusammenzuziehen, übertrugen seine Gegner in Rom durch Volksbeschluß den Oberbefehl auf Marius. Sulla marschierte daraufhin nach Rom, drang mit seinen Soldaten in die Stadt ein, setzte die Anullierung aller gegen ihn beschlossenen Maßnahmen durch und vertrieb seine Gegner aus der Stadt. Erst dann wandte er sich nach Griechenland, wo er binnen kurzem Mithridates besiegte. In Rom hatte sich aber inzwischen das Blatt gewendet. Marius war aus Afrika, wohin er geflohen war, zurückgekehrt und f ü r das Jahr 86 zum Konsul gewählt worden. So kam es, daß plötzlich zwei „rechtmäßige" römische H e e r e im Rücken Sullas in Griechenland auftauchten, die der zweite Konsul, Cinna, - Marius war unerwartet gestorben - gegen den nun geächteten Sulla entsandt hatte. Jedoch weigerten sich die Soldaten dieser H e e r e zum großen Teil, gegen Sulla zu kämpfen, und liefen zu ihm über. Sulla war auch in Kleinasien erfolgreich. Mithridates unterwarf sich ihm im Jahre 85vChr und mußte alle seine Eroberungen zurückgeben. Als Sieger kehrte Sulla nach Rom zurück, und es gelang ihm, binnen kurzem seine Gegner, die sogar noch einmal den Bundesgenossenkrieg aufleben ließen, zu schlagen und sich in den unbeschränkten Besitz aller Macht zu setzen. Er ließ sich zum „ D i k t a t o r zur Wiederherstellung des Staates" ernennen. Der Anfang war ein Schreckensregime: Seine politischen Gegner, 40 Senatoren und 1600 Ritter wurden auf die Proskrip-
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tionslisten gesetzt, d.h. geächtet und ihr Vermögen eingezogen. Es folgte eine Neuordnung des Senats (Erhöhung der Senatoren von 300 auf 600), der Verwaltung, des Gerichtswesens und viele andere Reformen. Das geschah in der Absicht, die Macht des Senats wiederherzustellen. In Wirklichkeit konnte alles nur noch funktionieren, solange ein starker Führer wie Sulla mit faktisch königlicher Gewalt herrschte. Als Sulla 79vChr freiwillig in den Ruhestand ging (ein Jahr später starb er), stellte sich heraus, daß keines der alten Probleme tatsächlich gelöst worden war. War Sulla schon im Osten wie ein göttlicher Mensch gefeiert worden (er ließ u.a. dort Münzen mit seinem Bildnis prägen), so stand es nach seinem Abtritt außer Zweifel, daß nur eine neue „göttliche" Führergestalt imstande sein konnte, die wirklichen Probleme tatkräftig anzupakken. Diese Gestalt erstand dem römischen Reich in Pompeius. Er stammte aus einer erst kürzlich aufgestiegenen Adelsfamilie. Unter Sulla hatte er sich als fähiger Heerführer ausgezeichnet. Seine Soldaten hatten ihm den Ehrennamen „Magnus" beigelegt. Sulla hatte ihm seine Stieftochter zur Frau gegeben. Drei vordringliche Aufgaben bestanden nach Sullas Tod, zu deren Lösung sich der Senat außerstande sah: In Spanien hielt sich immer noch Sertorius, ein Anhänger des Marius, der einen so gut wie unabhängigen romanisierten iberischen Staat geschaffen hatte; die Piraten machten das ganze Mittelmeer so unsicher, daß der Handel ernsthaft litt; im Osten drohte Mithridates mit neuen kriegerischen Verwicklungen. 77vChr gab der Senat, wenn auch nur zögernd, das Kommando in Spanien an Pompeius, dem es bis zum Jahre 71 gelang, Spanien zu unterwerfen. In der Neuorganisation der Provinz zeigte Pompeius, daß er einem neuen Leitbild folgte, welches dem Führer im römischen Weltreich ein Verhalten vorschrieb, das der Erwartung der unterworfenen Völker entsprach. An die Stelle von Grausamkeit in der Bestrafung der Feinde, Unterdrückung und Ausbeutung setzte er Milde und die Erweisung von Wohltaten. Er war der erste römische Feldherr, der diese Eigenschaften aus dem hellenistischen Bild vom göttlichen Herrscher in die T a t umzusetzen versuchte. Das zeigte sich auch bei seiner Unterwerfung der Piraten. Mit der Führung des Kampfes gegen die Piraten war Pompeius 67vChr beauftragt worden. Das Piratenunwesen war nicht neu; es hatte im östlichen Mittelmeer schon seit dem 3.Jh.vChr bestanden. Nach dem Zusammenbruch der Königreiche des Ostens hatte zunächst
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noch Rhodos mit einigem Erfolg versucht, dem Unwesen zu steuern. Seit die Länder des östlichen Mittelmeeres entweder von den Römern beherrscht wurden oder zur militärischen Bedeutungslosigkeit herabgesunken waren, gab es keine wirksame Kontrolle mehr. Der Sklavenhunger Roms war außerdem eine der stärksten ökonomischen Stützen der Piraten. Schließlich hatte der pontische König Mithridates ihre Organisation noch gefördert, um einen Bundesgenossen im Kampf gegen Rom zu haben. In ihren Felsennestern an den unzugänglichen Küsten Kilikiens und Kretas waren sie nur schwer anzugreifen. Pompeius jedoch organisierte eine Kriegsflotte, mit der es ihm gelang, die Piraten im westlichen Mittelmeer innerhalb von 40 Tagen und im östlichen Mittelmeer innerhalb von 49 Tagen zu besiegen. Er nahm ihnen über 1000 Schiffe weg, verfolgte sie bis in ihre Schlupfwinkel und machte an die 20 000 Gefangene. Aber wieder zeigte sich in der Milde des Pompeius das neue Bild des römischen Politikers. Statt die Piraten hart zu bestrafen und in die Sklaverei zu verkaufen, siedelte er sie an verschiedenen Orten Griechenlands, Kleinasiens und Italiens an. Der Krieg gegen Mithridates von Pontus brachte Pompeius auf die Höhe seines Ruhmes. Der letzte König Bithyniens hatte im Jahre 75vChr wie schon zuvor der letzte König des benachbarten Pergamon sein Reich testamentarisch den Römern hinterlassen. Diese Gelegenheit hatte Mithridates benutzt, in Bithynien einzufallen und seine Eroberungspläne von neuem zu verfolgen. Der gegen ihn entsandte römische General Lucullus hatte zwar Mithridates aus Bithynien und Pontus vertrieben und auch dem armenischen König Tigranes, zu dem Mithridates geflohen war, eine Niederlage beigebracht, beging jedoch einen „Fehler", als er der Provinz Asien einen Teil der Schulden erließ, um eine wirtschaftliche Gesundung zu ermöglichen. Dadurch machte er sich die römische Ritterschaft zu Feinden, deren kapitalistischen Interessen er zuwider gehandelt hatte. Als sich auch noch das Kriegsglück wendete, meuterten die Soldaten und zwangen Lucullus zum Rückzug. Der Senat übertrug das Kommando dem Pompeius, der sich von Kreta, wo er nach der Niederwerfung der Piraten weilte, sofort nach Kleinasien begab. Mithridates hatte inzwischen an der unteren Donau neuen Widerstand gegen Rom zu organisieren versucht, wurde aber von Pompeius geschlagen. Cicero hatte in seiner Rede, in der er für die Ernennung des Pompeius eingetreten war, gesagt: „Die Länder des Ostens sehen in Pompeius nicht einen Menschen,
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der von Rom geschickt ist, sondern einen Gott." Pompeius erfüllte diese Erwartungen. Er begnügte sich nicht mit der Niederwerfung des Mithridates und der Einsetzung von dessen Sohn als Bundesgenossen Roms; er machte sich daran, die gesamten Verhältnisse des Ostens neu zu ordnen. Zunächst zwang er Tigranes von Armenien, der sich nach dem Untergang des Seleukidenreiches auch Syrien und Palästina unterworfen hatte, zur Kapitulation, zog dann bis nach Kolchis (im Südosten des Schwarzen Meeres) und wandte sich darauf nach Syrien und Palästina - hier stritten sich die Brüder Aristobulos und Hyrkanos um die Herrschaft. Nach der Einnahme Jerusalems betrat Pompeius das Allerheiligste des Tempels. Während er Klientelfürsten bestätigte, darunter auch Hyrkanus als H o henpriester von Jerusalem, wurde er von den Völkern des Ostens als Wohltäter und Retter gefeiert. Auch Rom gewährte ihm nach seiner Rückkehr einen glänzenden Triumph, allerdings nur mit halben Herzen. Denn der eigentliche Retter des Vaterlandes war in dieser Stunde nicht Pompeius, sondern Cicero, der gerade die katilinarische Verschwörung aufgedeckt, vereitelt und dazu beigetragen hatte, daß der letzte verzweifelte Versuch Katilinas, die Macht an sich zu reißen, blutig niedergeschlagen wurde. Pompeius mußte sich nach neuen Bundesgenossen umsehen, um seine Ansprüche in Rom durchzusetzen. Das führte zum sogenannten ersten Triumvirat des Pompeius mit Crassus, dem reichsten Manne Roms, und Caesar, einem jüngeren Politiker, der zunehmend an Bedeutung gewonnen hatte. Als Konsul des Jahres 59vChr kümmerte sich Caesar um die Versorgung der Veteranen des Pompeius. Gaius Julius Caesar, geboren lOOvChr, entstammte einer alten römischen Patrizierfamilie. Nach Herkunft und Einstellung gehörte er den Populären an, d. h. jener politischen Richtung, die sich auf die Volksversammlung zu stützen suchte wie seinerzeit die Gracchen und wie Marius und Cinna zur Zeit Sullas. Marius war zudem mit Caesars Eltern verschwägert und Cinnas Tochter wurde Caesars Frau, von der er sich trotz der Drohungen Sullas zu trennen weigerte. Im Gegensatz zu dem etwas älteren Pompeius, der in seinem Aufstieg alle Amter übersprungen hatte, durchlief Caesar die normale Folge der verschiedenen Ämter, nachdem er als Offizier in der Armee gedient und dann drei Jahre bei dem berühmten Rhetor Molon von Rhodos studiert hatte. Im Jahre 63 war es dem noch jungen Politiker, dem man die Beteiligung an nicht immer ganz zweifelsfreien politischen Machenschaften nachsagte
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(u.a. an der katilinarischen Verschwörung) und dessen Lebenswandel als sittenlos galt, gelungen, zum Pontifex Maximus gewählt zu werden. Er hatte somit als Leiter der gesamten römischen Staatsreligion eines der angesehensten Amter auf Lebenszeit inne (alle späteren römischen Kaiser ließen sich mit diesem Amte bekleiden). Die Geheimabsprache zwischen Pompeius, Crassus und Caesar, das Triumvirat, beweist, daß diese drei Männer erkannt hatten, wie schwach die bestehenden Institutionen geworden waren. Sie versprachen sich von diesem Abkommen, daß jeder seine eigenen Ziele ungehindert verfolgen könne, solange sie ihre Interessen gegenseitig unterstützten und nichts unternahmen, was die Ziele der anderen durchkreuzen würde. Caesar zog zweifachen Nutzen aus dem Triumvirat: das Konsulat für das Jahr 59 und die Verwaltung der Gallia Cisalpina für die folgenden fünf Jahre, wozu noch das transalpinische Gallien hinzugefügt wurde. Caesars Konsulat war von fieberhafter Gesetzgebungstätigkeit erfüllt. Er ging daran, die beiden wichtigsten innenpolitischen Probleme in die Hand zu bekommen, die Frage der Landverteilung in Italien und die Ausbeutung der Provinzen durch die römische Verwaltung. Durch seine Siedlungsgesetze scheint es ihm gelungen zu sein, in den folgenden Jahren 40000 Veteranen und 100 000 Bürger auf eigenem Grund und Boden in Italien neu anzusiedeln. Er setzte sich dabei über den wachsenden Widerstand der Senatsmehrheit einfach hinweg und schreckte nicht vor dem Gebrauch ungesetzlicher Mittel zurück. So kam es, daß er in Rom anarchische Zustände hinterließ, als er 58vChr nach Gallien ging. Der Kampf zwischen den Populären, gestützt von zwielichtigen Demagogen wie Clodius, erst Volkstribun, dann Bandenführer (er handelte im Einvernehmen mit Caesar), und den konservativen Kreisen des Senats mit Wortführern wie die ehrenwerten Cicero und Cato, die ihrerseits eigene Banden beschäftigten, nahm immer chaotischere Formen an - was Caesar nur recht sein konnte, solange er von Rom abwesend war. Die Eroberung und Befriedung Galliens beschäftigte Caesar von 58-51 vChr. Noch im Jahre 52 mußte er einen Aufstand niederschlagen, den Vercingetorix anführte und zu dem sich viele gallische Stämme zusammengeschlossen hatten. Zwar waren die Absprachen des Triumvirats im Jahr 56 erneuert worden (Caesars Kommando in Gallien wurde um fünf Jahre verlängert, Pompeius erhielt Spanien, Crassus freie H a n d im Osten), aber die Lage veränderte sich schnell. Crassus fiel 53vChr im Kampf gegen die Par-
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ther, die sein Heer vernichtend schlugen. Caesars Tochter Julia, mit Pompeius verheiratet, war ein Jahr vorher im Kindbett gestorben, was die Entfremdung zwischen Caesar und Pompeius beschleunigte. Caesars Feinde betrieben in Rom offen seine Absetzung. Die rechtliche Frage spitzte sich darauf zu, ob Caesar unmittelbar nach seiner Statthalterschaft in den gallischen Provinzen das Konsulat antreten könne. Als der Senat schließlich den Staatsnotstand erklärte, um dies zu verhindern, entschloß sich Caesar, mit seinem Heer auf Rom zu marschieren (Überschreitung des Rubicon, des Grenzflusses zwischen der Provinz Gallia Cisalpina und Italien). Damit war der Bürgerkrieg zum offenen militärischen Konflikt zwischen den beiden mächtigsten Männern Roms geworden. Caesar besaß die bestgeschulte Armee; zudem konnte er der Sympathie breiter Volksschichten Italiens sicher sein. Pompeius, auf Seiten des Senats, hatte die Legalität für sich und verfügte über die unermeßlichen militärischen und wirtschaftlichen Hilfsquellen des Reiches. Doch Caesar war schneller und nahm durch sein rasches Vorgehen Pompeius die Möglichkeit, in Italien Widerstand zu leisten. Pompeius zog sich in den Osten zurück; hier war er früher Sieger gewesen, hier wurde er geachtet und geehrt. Aber trotz anfänglicher Mißerfolge gelang es Caesar nicht nur, den Westen (Spanien und Italien) ganz unter seine Kontrolle zu bringen - daß Pompeius die Getreidezufuhren aus dem Osten nach Italien blokkierte, erhöhte keineswegs seine Popularität - , sondern auch, Pompeius bei Pharsalos in Thessalien zur Schlacht zu zwingen und zu schlagen. Pompeius floh nach Ägypten, wo er bei seiner Ankunft erschlagen wurde. Als Caesar nach Ägypten kam und ihm der Kopf des Pompeius gezeigt wurde, weinte er - der Ausdruck eines ehrlichen Gefühls, der dem, der nun Herr der Welt geworden war, wohl anstand. Der Bürgerkrieg war damit freilich nicht zu Ende. Bis zum Anfang des Jahres 45 mußte Caesar sich mit inneren Feinden, den Anhängern des Pompeius, sowie mit Bedrohungen von außen, vor allem mit den Parthern und mit dem erneut gegen Rom aufgestandenen Königreich Pontos, auseinandersetzen. Erst nach Überwindung der Schwierigkeiten in Ägypten - Caesars Verbindung mit Kleopatra, die ihm einen Sohn gebar, ist genugsam bekannt - und der Neuordnung des Ostens (zu den Ereignissen in Palästina s.u. §6.6a) wandte Caesar sich nach dem Westen, wo sich die Pompeianer erst in Afrika und dann in Spanien zum letzten Widerstand
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gesammelt hatten. In der Art, wie er seine besiegten Feinde behandelte, machte Caesar die Ideale des hellenistischen Gottkönigs, denen erstmals Pompeius gefolgt war, zur Norm: Die Milde und die Vergebung, die er seinen besiegten Gegnern gewährte, waren ebenso in dieser Idee begründet wie in seiner Persönlichkeit. Echte Versöhnung und Friedensstiftung wurde allerdings dadurch nicht erreicht. Die traditionelle römische Gesellschaft war nicht bereit, die neuen Ideale zu akzeptieren, und hat vor allem in den wiederholten Ansätzen zu einer kultischen Verehrung des Herrschers (s.u. §6. .5b) einen Verrat an der Idee des römischen Staates gesehen, wenngleich die führenden Kreise des Senats bereit waren, Caesar zum Diktator auf Lebenszeit zu ernennen; besaß Caesar auch alle Macht, so blieb ihm doch versagt, sie als König und Gott zu besitzen. Das bedeutete gleichzeitig, daß sich der römische Staat nicht als idealer Weltstaat aller Völker neu konstituieren ließ, obgleich die Konzessionen, die Caesar vielen Völkern (u. a. auch den Juden) machte, darauf hindeuten, daß ihm diese Idee vorschwebte. In die gleiche Richtung wiesen seine Pläne eines großen Feldzugs in den Osten, durch den er das römische Reich mit den alten Zentren der Kultur in Mesopotamien, Persien und Indien verbinden wollte; den Rückzug plante er wahrscheinlich durch Südrußland und Germanien, so daß auch die slawischen und germanischen Völker mit in diese eine Welt aller Menschen einbegriffen würden. Wenn uns heute solche Pläne als zu phantastisch erscheinen, so muß man sich daran erinnern, daß sie seinerzeit für Caesars republikanische Gegner durchaus bedrohliche Dimensionen hatten. Sie wußten, daß Caesar nach einem solchen Sieg unüberwindlicher König und Gott sein werde. Caesars Ermordung an den Iden des März im Jahre 44vChr setzte nicht nur seinem Leben, sondern auch dem großartigen Traum von einer geeinten friedvollen Welt ein Ende. Was blieb, waren seine vielen Reformen. Neben der Neuordnung der Verwaltung, der Ansiedelung von Veteranen und mittellosen Bürgern, sowie der Linderung der Schulden war die nach ihm benannte „julianische" Kalenderreform von großer Bedeutung. Nicht nur setzte die Einführung eines Jahres von 365 Tagen mit der Einschaltung eines zusätzlichen Tages alle vier Jahre der Kalenderverwirrung ein Ende. Der neue Kalender gab auch der Astrologie einen nicht erwarteten Aufschwung, da die Ausrichtung nach dem Lauf der Gestirne hiermit „offiziell" geworden war
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(s.o. §4. 2c). Was außerdem blieb, war der Bürgerkrieg, den Brutus und Cassius als Anwälte der alten Republik mit der Ermordung Caesars neu entfacht hatten. e) Augustus Caesar hatte in seinem Testament seinen Neffen Octavius adoptiert und zu seinem Erben eingesetzt. Durch geschicktes Taktieren gelang es dem erst Neunzehnjährigen, sowohl beim Senat als auch bei den mächtigen Generälen Caesars, Marcus Antonius und Lepidus, sein Gewicht zur Geltung zu bringen. Der Erfolg war seine Ernennung zum Konsul für das Jahr 42 und der Abschluß des Triumvirats mit Marcus Antonius und Lepidus, d.h. alle drei Männer erhielten gemeinsam einen auf fünf Jahre begrenzten Auftrag zur Wiederherstellung der Republik (43vChr). Die Caesarmörder Brutus und Cassius hatten im Osten eine Armee zusammengebracht, wurden aber von Marcus Antonius 42vChr bei Philippi vernichtend geschlagen. Bei der mehrfach revidierten Verteilung der Machtbereiche fiel dem Marcus Antonius der gesamte Osten zu, während Octavius zunächst Italien, Spanien, Afrika und Sardinien erhielt, jedoch nach dem Sieg über Sextus Pompeius (dem jüngsten Sohn des Pompeius Magnus) und nach der Ausschaltung des Lepidus tatsächlich die gesamte westliche Reichshälfte beherrschte. Das Triumvirat war am Ende des Jahres 38 abgelaufen, wurde aber durch ein Übereinkommen der Triumvirn erneuert, zunächst ohne Legitimierung durch den Senat. Jedoch hat anscheinend Octavius, der sich jetzt Imperator Caesar divi filius nannte, eine nachträgliche Sanktionierung auch dieses Triumvirats für weitere fünf Jahre durchgesetzt. Marcus Antonius hielt sich vornehmlich im Osten auf. Im Jahre 41 hatte er zum ersten Male Kleopatra getroffen, die - zur Rechenschaft vorgeladen - vor ihm als Isis erschienen war. Die Beziehungen des Marcus Antonius zu Kleopatra führten in der Folgezeit nicht nur zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen ihm und Octavius' Schwester Octavia, mit der er seit 40vChr verheiratet war - und damit natürlich auch zur Verschärfung der persönlichen Gegensätze zu Octavius - , Marcus Antonius propagierte auch Herrschervorstellungen, die für Rom nicht erträglich waren. Schon bald nach seinem Sieg über die Caesarmörder bei Philippi war er in Ephesus als der „Neue Dionysos" an der Spitze eines Thiasos eingezogen. Später durchzog er zusammen mit Kleopatra
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die östlichen Provinzen des Reiches als der Neue Dionysos, der sich mit der Neuen Isis (oder Aphrodite) verbunden hatte. Das aus dieser Verbindung hervorgegangene Zwillingspärchen Alexander und Kleopatra wurde als Helios und Selene verehrt. Damit hatte sich Marcus Antonius ganz die hellenistische Vorstellung vom Herrscher als göttlichem Menschen oder als epiphane Gottheit angeeignet. Von einer Verbindung dieser hellenistischen Idee mit römischen Gedanken ist dabei nichts zu spüren. Zwar hatte wohl schon Caesar eine solche Vorstellung vom Gottkönig für die zukünftige Entwicklung im Sinn gehabt; aber für ihn wäre es die verbindende Idee einer neuen Welt gewesen, in der sich der Osten der Perser und Inder mit dem Westen der Römer und Griechen vereinen würde. Marcus Antonius hingegen hatte zwar Armenien annektieren können, war aber in seinen Feldzügen gegen die Parther nicht glücklich gewesen. So war dieser Anspruch auf Göttlichkeit nicht in der erfolgreichen und glücklichen Ausführung großer Taten begründet - wie schon beim älteren Scipio wäre es den Römern nicht schwer gefallen, den hellenistischen Gedanken vom göttlichen Menschen in Verbindung mit der römischen Vorstellung von der Felicitas zu akzeptieren - und daher wirkte die göttliche Verehrung dieses Herrscherpaares wie eine theatralische Geste. Freilich war man in Rom daran gewöhnt, daß römische Feldherrn im Osten göttliche Verehrung empfingen. Dies allein wäre dem Marcus Antonius nicht gefährlich geworden. Um gegen ihn vorgehen zu können, mußte Octavius beweisen, daß Marcus Antonius politische Pläne verfolgte, die einer Aufspaltung des Reiches gleichkamen. Das gelang im Jahre 32vChr, dem letzten Jahre des Triumvirats, als Antonius vom Senat die Bestätigung seiner Länderschenkungen an Kleopatra und seine Kinder zu erreichen suchte. Beide Konsuln jenes Jahres waren Parteigänger des Marcus Antonius. Als einer dieser beiden Konsuln, Sossius, zu Anfang des Jahres Octavius schwer angriff (wahrscheinlich auch seine Absetzung vorschlug), gab Octavius in einer dramatischen Senatssitzung bekannt, daß er in Kürze Beweise für den Verrat des Marcus Antonius vorlegen werde. Daraufhin flohen beide Konsuln mit einer substantiellen Minorität des Senats zu Marcus Antonius, ohne daß Octavius versuchte, sie daran zu hindern. Der verbliebene Teil des Senats, der Octavius ergeben war, entzog dem Antonius seine triumvirale Gewalt und das Konsulat, das ihm für das folgende Jahr bestimmt war, erklärte Kleopatra formell den Krieg und übertrug Oc-
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tavius das imperium zur Kriegsführung, das noch durch einen Eidschwur sowohl des römischen Volkes (Italien) als auch der westlichen Provinzen bestätigt wurde. Zwei Elemente waren im Vergleich zu Marcus Antonius von entscheidender Bedeutung: Octavius hatte zur Begründung seiner neuen Stellung Recht und Verfassung streng beachtet, und sie war von dem auf legalem Wege, wahrscheinlich durch eine Abstimmung, zum Ausdruck gekommenen Volkswillen getragen, und zwar nicht einfach vom römischen Plebs, sondern von allen Bewohnern Italiens, die römische Bürger waren, denen sich die westlichen Provinzen angeschlossen hatten. Offensichtlich hatte Octavius bei der Absetzung des Marcus Antonius als Triumvir auch seine eigene triumvirale Machtbefugnis niedergelegt, die letztlich auf der verdächtig gewordenen Institution des Diktators beruhte. Sein neues imperium, das in die Einrichtung des Prinzipats einmünden sollte und das den Frieden und das Recht nach einem hundertjährigen Bürgerkrieg wieder aufrichten würde, beruhte auf dem Recht und auf dem Willen des Volkes. Im Gegensatz dazu hatte sich Marcus Antonius darauf eingelassen, seinen Machtanspruch in den Formen des hellenistischen Gottkönigtums zum Ausdruck zu bringen, die er nicht mehr mit einem rechtmäßig übertragenen römischen imperium verbinden konnte. Zudem teilte er sein Gottkönigtum mit einer Fremden und hatte den Versuch unternommen, den Kindern, die Caesar und er mit dieser Ägypterin gezeugt hatten, die künftige Weltherrschaft zu sichern. Der Krieg des Octavius gegen Marcus Antonius war so zu einem nationalen Krieg geworden, und er verlief für Octavius glücklich. Die Macht des Gegners wurde durch den Seesieg bei Actium (31vChr), den Agrippa für Octavius errang, gebrochen. Als die Armeen des Siegers von Osten und Westen her nach Ägypten vorrückten, begingen Marcus Antonius und Kleopatra Selbstmord (30vChr). Octavius feierte im folgenden Jahre in Rom einen großartigen Triumph und gab nach Ordnung der Verhältnisse am Anfang des Jahres 27vChr sein imperium dem Senat zurück. Tatsächlich hatte er wohl nicht daran gedacht, die alte Republik einfach wiederherzustellen. Welches auch immer die Motive und Absichten des Octavius zu diesem Zeitpunkt gewesen sein mögen, in den folgenden Jahren entwickelten sich die Grundstrukturen der monarchischen Regierungsform des Prinzipats in Anknüpfung an ältere republikanische Institutionen sowie an besondere Ehrungen, die
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der Senat für Octavius beschloß. Zu den gleich am Anfang des Jahres 27vChr beschlossenen Ehrungen gehört der Titel Augustus, eine alte sakrale Bezeichnung, die nicht durch die Ereignisse des Bürgerkrieges kompromittiert worden war und die seine in göttlichem Recht begründete Stellung wie auch seine „felicitas" zum Ausdruck bringen sollte. Hinfort führte der siegreiche Erbe Caesars den Namen Imperator Caesar divi filius Augustus. Er bekleidete zunächst weiter jedes Jahr das Konsulat und erhielt die prokonsularische Gewalt über jene Provinzen, in denen die größten Teile des römischen Heeres standen (Ägypten, Syrien, Gallien und Spanien). Die eigentliche Neuordnung ergab sich aber erst aus den nach der Krise des Jahres 23vChr unternommenen Schritten. Während einer längeren und schweren Krankheit des Augustus war ein Komplott seines Mitkonsuls aufgedeckt worden. Nach seiner Genesung entschloß sich Augustus, seine Machtausübung nicht mehr mit der jährlichen Bekleidung der alten Institution des Konsulats zu verbinden, legte vielmehr das Amt des Konsuls noch im gleichen Jahre nieder, weitete aber die prokonsularische Gewalt auf das ganze Reichsgebiet und auf die Stadt Rom aus, so daß er auch innerhalb der Stadt eine Truppe unterhalten konnte (die Prätorianergarde). Dazu kam die tribunizische Gewalt, in der Vertretung des Volkes, Initiative zur Gesetzgebung und Unantastbarkeit eingeschlossen waren. Seit 12vChr bekleidete er auch das Amt des Pontifex maximus. So beruhte die eigentliche Macht des Princeps hinfort auf dem imperium proconsulare und auf dem imperium tribunicium; beide imperii waren aus den alten republikanischen Institutionen herausgelöst und zu monarchischen Institutionen geworden. Daneben begann Augustus mit dem Ausbau einer neben dem Senat und seinen Organen bestehenden Verwaltung, die schrittweise entstand, je nach den besonderen Aufgaben und Erfordernissen, die an ihn herantraten. Dazu gehörte die Aufsicht über die Getreideversorgung, die Aufsicht über die Straßen und die Einrichtung einer besonderen kaiserlichen Kasse, des fiscus ( = Korb), der neben der vom Senat verwalteten Staatskasse bestand und dem die Einnahmen aus den kaiserlichen Provinzen und Domänen zuflössen. Diese kaiserliche Verwaltung war keine eigentliche Regierung, sondern ein vom kaiserlichen Haus unmittelbar abhängiger Stab, der jedoch gleichzeitig dem Ritterstand eine neue Ämterlaufbahn bot und so diesem bisher einzig an eigener Bereicherung interessierten
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Stand neue staatliche Aufgabenbereiche erschloß (Weiteres zum Ausbau der Verwaltung s.u. §6. Ja). In der Grenzpolitik wandte sich Augustus von den weitreichenden Eroberungsplänen Caesars ab. Das entsprach der grundsätzlichen Zielsetzung des neuen Herrschers, dem in erster Linie an der Erhaltung des Friedens lag. Zwar wurden während der Regierung des Augustus fast ständig Kriege geführt, aber es ging dabei in der Tat um nichts anderes als um die Sicherung der Grenzen des Reiches. Im Norden wurde durch die Eroberung des Alpenvorlandes die Grenze bis an die Donau vorgeschoben, ebenso im Gebiet der Thraker und Illyrer auf dem Balkan. Der Versuch der Eroberung Germaniens zur Errichtung einer sicheren Grenze an der Elbe wurde nach der Niederlage des Varus (9 nChr) aufgegeben und die römischen Legionen im linksrheinischen Gebiet stationiert. In Kleinasien gründete Augustus neue Provinzen: Galatien, Lykaonien, Paphlagonien, Pontus. Davor legte er einen Kranz von Klientelstaaten im Osten, wozu auch das palästinische Reich Herodes des Großen gehörte, das später in eine Provinz umgewandelt wurde (dazu s.u. §6.6z und b). Ägypten kam unter direkte kaiserliche Verwaltung und wurde nach Süden abgesichert. Im Westen Afrikas wurde Juba II. ein zuverlässiger Vasall Roms. Innerhalb dieses so gesicherten Gebietes herrschte Frieden - den von nie endenwollenden Bürgerkriegen heimgesuchten Völkern dieses Bereiches mußte das als wahres Göttergeschenk erscheinen, und in zahllosen Inschriften wurde Augustus daher als Wohltäter geehrt, dessen Ankunft alle Hoffnungen übertraf und dessen Taten es für alle zukünftigen Wohltäter der Menschheit unmöglich machten, noch Größeres zu leisten. Die Nachfolge im Prinzipat war für Augustus, dem eine lange Regierungszeit beschieden war (27vChr-14nChr), ein ungewöhnlich schwieriges Problem. War der von ihm geschaffene Prinzipat ohnehin keine normale Monarchie, so war eine monarchische Nachfolgeregelung schon dadurch erschwert, daß Augustus keinen leiblichen Sohn hatte. Aus einer kurzen zweiten Ehe hatte er eine Tochter Julia. Seine dritte und letzte Ehe mit Livia Drusilla, die er im Jahre 38vChr geschlossen hatte (Livia mußte sich von ihrem Gatten Tiberius Claudius Nero scheiden lassen), blieb kinderlos. Aber Livia brachte zwei Kinder mit in die Ehe: Tiberius (den späteren Kaiser) und Drusus, der erst nach der Verheiratung mit Augustus geboren wurde. Augustus hatte zunächst seinen Neffen Marcel-
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Das Imperium bis zum Ende des „Goldenen Zeitalters"
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lus, den Sohn seiner Schwester Octavia, mit seiner T o c h t e r Julia verheiratet. Aber Marcellus starb als junger Mann. Daraufhin mußte der alte K a m p f g e n o s s e und treueste Freund des Augustus, Agrippa, Julia heiraten. D i e beiden Söhne aus dieser Ehe wurden von Augustus adoptiert, starben aber vor seinem T o d e . Daraufhin adoptierte Augustus schließlich den Sohn Livias aus erster Ehe, Tiberius, dem er die inzwischen durch den T o d Agrippas verwitwete Julia zur Frau gegeben hatte (Tiberius verließ Julia nach wenigen Jahren und Augustus mußte später seine eigene T o c h t e r wegen Unsittlichkeit aus R o m verbannen). Alle folgenden Kaiser bis zu N e r o gehören dem „julisch-claudischen" H a u s an, sind also entweder N a c h k o m m e n des Augustus (über seine T o c h t e r Julia) oder seiner Frau Livia und deren erstem Gatten Tiberius Claudius N e r o . Aber eine direkte T h r o n f o l g e vom V a t e r zum Sohn hat in keinem Falle bestanden. 2. Das römische Imperium bis zum Ende des „ Goldenen A.VON DOMASZEWSKI, G e s c h i c h t e d e r r ö m i s c h e n K a i s e r , Η . H . SCULLARD, F r o m t h e G r a c c h i t o N e r o ,
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Zeitalters"
1923.
1970.
Zu a: Ε . KORNEMANN, T i b e r i u s , 1 9 6 0 . R . SEAGER, T i b e r i u s , 1 9 7 2 .
E. MEISE, Untersuchungen zur Geschichte der julisch-claudischen Dynastie, Vestigia 10, 1969. J . P . V . D . BALSDON, T h e E m p e r o r G a i u s , 1 9 3 4 ( N e u d r u c k 1 9 6 6 ) . A.MOMIGLIANO, C l a u d i u s , 2 1 9 6 1 . M . GRANT, N e r o , 1 9 7 0 .
B.H. WARMINGTON, Nero: Reality and Legend, 1969. Zub: L.HOMO, Vespasian, l'empereur du bon sens, 1949. B.W.HENDERSON, Five Roman Emperors, 1927 (Neudruck 1968). Zuc: R.PARIBENI, O p t i m u s P r i n c e p s , B d . 1 - 2 , 1 9 2 6 - 2 7 .
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D a s R ö m i s c h e Reich als E r b e des H e l l e n i s m u s
§ 6
M. HAMMOND, The Antonine Monarchy, 1959. A.BIRLEY, Marcus Aurelius, 1966.
a) Die Kaiser des julisch-claudischen Hauses Die ersten vier auf Augustus folgenden Kaiser entstammen den Familien der Julier und Claudier, gehören also der römischen Nobilität an. Hatte Augustus es verstanden, mit Geschick die Spannungen zwischen der neuen Institution des Prinzipats und den älteren republikanischen Institutionen zu überspielen, so ergaben sich unter seinen Nachfolgern vielfach Reibungen. Der Prinzeps setzte sich jedoch immer auf Grund der von Augustus geschaffenen Machtposition durch. Es erwies sich, daß die neue Ordnung stabil war und die Hoffnung auf die Erhaltung von Frieden und Ordnung erfüllen konnte, obgleich die Kaiser dieses Hauses schwerlich große Persönlichkeiten gewesen sind. Tiberius (14-37 nChr), Sohn der Livia und Stiefsohn des Augustus, war bei seinem Regierungsantritt 56 Jahre alt und hatte sich in vielfachen Aufgaben als erfolgreicher General und erfahrener Verwaltungsbeamter glänzend bewährt. Tiberius gab den Versuch der Eroberung Germaniens endgültig auf und sicherte im Osten durch Verträge mit Armenien und Parthien einen Frieden, der hundert Jahre lang wären sollte. Die Macht und Würde des Prinzeps hat er bewußt unterbetont und versucht, dem Senat mehr Aufgaben und größere Verantwortung zu geben - mit nur geringem Erfolg. Jedenfalls ließ er es nicht zu, daß ihm göttliche Ehrungen zuteil wurden und bestand auf der Unterordnung seiner Person unter das Amt des Prinzeps. Dennoch hat ihm die Geschichte kein gutes Zeugnis ausgestellt. Das lag einmal an den Prozessen wegen Majestätsbeleidigung (crimen laesae maiestatis), durch die viele tatsächliche und vermeintliche Gegner des Kaisers abgeurteilt worden sind. Zum anderen besaß Tiberius wenig Menschenkenntnis. Verantwortungsvolle und getreue Helfer, wie sie Augustus (z.B. in Agrippa) besessen hatte, vermochte er nicht an sich zu ziehen. Statt dessen gerieten die Geschäfte des Staates in die Hände machthungriger Schmeichler. Besonders verhängnisvoll wurde die dem ehrgeizigen Prätorianerpräfekten Seianus überlassene Macht. Seianus überredete den Kaiser zur Übersiedelung nach Capri, um in Rom umso eigenwilliger schalten zu können - selbst Mitglieder der kaiserlichen Familie wurden nicht verschont! Zwar stürzte Seianus und wurde hingerichtet (31 nChr), doch seinem Nachfolger, dem Präto-
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rianerpräfekten Macro, mangelte es höchstens an Ehrgeiz, nicht jedoch an Grausamkeit. Der Kaiser ließ sich überhaupt nicht mehr in Rom blicken, verkehrte mit der Außenwelt nur noch brieflich, und widmete sich auf der Insel Capri in Gesellschaft seines Astrologen Thrasyllos ganz seinen okkultistischen Studien. Der Tod des Tiberius wurde von allen als Erlösung empfunden. Das Problem der Nachfolge war schwierig. Tiberius' eigener Sohn Drusus war vergiftet worden (durch Seianus?). Von den fünf Kindern des Agrippa und der Augustus-Tochter Julia, mit der Tiberius in zweiter Ehe verheiratet gewesen war, hatte ihn keines überlebt. Zwei Großneffen waren ebenfalls den Nachstellungen des Seianus zum Opfer gefallen. Sein Neffe Claudius, ein kränklicher Gelehrter, war von allen Staatsämtern ferngehalten worden und kam als Nachfolger nicht in Frage. So blieb nur noch ein Großneffe, Gaius, Sohn des Germanicus und Urenkel des Augustus, dem die Soldaten im Feldlager seines Vaters den Kosenamen Caligula gegeben hatten. Er wurde vom Prätorianerpräfekten Macro zum Imperator ausgerufen und vom Senat anerkannt (36nChr). Nach den bedrückenden letzten Regierungsjahren des Tiberius knüpften sich große Hoffnungen an den jungen Kaiser. Jedoch entwickelte sich seine Regierung schnell zu einem Alptraum. Zwar war die Vergöttlichung des toten Kaisers, im Osten auch die Verehrung des lebenden Herrschers, zu einer anerkannten Stütze des Prinzipats geworden; aber daß ein Kaiser ernsthaft davon überzeugt war, zu seinen Lebzeiten bereits ein Gott zu sein, war eine Katastrophe. Caligula begann, in der Gestalt verschiedener Gottheiten aufzutreten, hielt sich für eine Inkarnation Jupiters und verlangte, daß man sein Standbild zum Zwecke der göttlichen Verehrung überall aufstelle - auch in den jüdischen Synagogen Alexandriens und im Tempel zu Jerusalem! Mit seiner Schwester Drusilla wollte er nach dem Vorbild der göttlichen Pharaonen eine Geschwisterehe führen. In seinem politischen Gebaren ahmte er orientalische Großkönige nach und setzte im Osten Vasallenkönige in römischen Provinzen ein, darunter auch den Herodesenkel Agrippal, in Palästina (s.u. §6.6d). Die Juden Alexandriens, die sich heftig und empört gegen den gotteslästerlichen Wahnsinn des Kaisers wehrten, wurden von fanatisierten Volksmassen verfolgt und hatten mit einer Delegation, die sie unter Führung des jüdischen Philosophen Philo nach Rom sandten, nicht viel Glück. Aber schließlich stellte sich nicht nur die maßgebende römische Gesellschaft, sondern auch die
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Armee gegen diesen Kaiser, der zwar vorgab, mit Jupiter privat zu sprechen, sich aber ängstlich verkroch, wenn es donnerte. Nach etlichen mißlungenen Attentatsversuchen erschlugen ihn im Jahre 41 nChr Offiziere der kaiserlichen Garde. Den nunmehr 49 Jahre alten kränklichen Onkel Caligulas, Claudius, Enkel von Augustus' Frau Livia, sollen die Prätorianer nach der Ermordung des Caligula zufällig im kaiserlichen Palast gefunden haben: er wurde zum Kaiser ausgerufen. Man hat ihm, der von 41-54 nChr regierte, Würdelosigkeit und Abhängigkeit von seinen Frauen und von seinen Freigelassenen vorgeworfen; doch scheint er, unterstützt von einem hochqualifizierten Beamtenstab, vorzüglich regiert zu haben. Claudius war ein gelehrter Historiker (er schrieb eine umfangreiche Geschichte des Augustus, eine Geschichte Karthagos und eine Geschichte der Etrusker), hatte sich eingehend mit juristischen Fragen beschäftigt und war ein ausgezeichneter Verwaltungsfachmann. Zur erfolgreichen D u r c h f ü h rung verschiedener Projekte nahm er eine Umgestaltung des „kaiserlichen Hauses" in eine Verwaltung mit verschiedenen Ressorts vor: eine Kanzlei für politische und militärische Fragen, eine Finanzabteilung, eine Archiwerwaltung und ein Ressort f ü r Bittschriften. Zu Vorstehern dieser Ressorts machte er kaiserliche Freigelassene, die meist griechischer oder orientalischer H e r k u n f t waren. So erhielt das römische Reich zum ersten Mal in seiner Geschichte eine „Regierung", die auch in der Folgezeit bestehen blieb. Zudem führte Claudius verschiedene Reformen durch: N e u o r d n u n g des Finanzwesens, Erweiterung des Bürgerrechts, Aufnahme von Adligen aus der Provinz in den Senat, sowie religiöse Reformen, die sich sowohl auf alte römische Kulte bezogen als auch auf neu eingeführte Religionen, z.B. den Attiskult. In seiner Bautätigkeit konzentrierte Claudius den Einsatz kaiserlicher Mittel auf Nutzbauten: Ausbau von Ostia zum römischen Importhafen, neue Aquädukte, Regulierung des Tiber, Straßenbau (z.B. eine neue Straße von der Adria über die Etsch zur Donau). U n t e r den von ihm neugegründeten Kolonien ist Colonia Agrippina (Köln) zu erwähnen, die der Kaiser nach seiner letzten Frau, der Mutter Neros, benannte. Außenpolitisch setzte er das von Augustus bestimmte Ziel der Grenzsicherung durch und ging in der Eroberung eines Teiles der britischen Insel darüber hinaus. Provinzen, in denen Caligula Vasallenkönige eingesetzt hatte, nahm Claudius wieder unter direkte römische Verwaltung (so auch Palästina; s.u. § 1. 6d und e).
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In Erinnerung geblieben sind freilich auch die Skandale. Claudius war mit Messalina verheiratet, einer Urenkelin der Augustusschwester Octavia. Mit kaiserlicher Erlaubnis soll Messalina öffentlich Hurerei getrieben haben. Als sie sich während einer Abwesenheit des Claudius mit dem Konsul designatus des Jahres verheiratete, wurde sie auf Veranlassung des kaiserlichen Kanzleivorstehers Narzissus beseitigt. Daß Claudius daraufhin auf Anraten seines Finanzsekretärs Pallas entgegen aller Sitte seine Nichte Agrippina (Schwester des Caligula) heiratete, machte die Sache nicht besser. Agrippina war ehrgeizig und machthungrig. Einst von Tiberius verfolgt, mißhandelt und verbannt, war sie entschlossen, nicht nochmals zu den staatsgefährdenden Mitgliedern des kaiserlichen Hauses zu gehören. Claudius mußte ihren Sohn, Tiberius Claudius Nero, adoptieren und mit seiner Tochter Octavia verloben. So sicherte sie Nero den Vorrang in der Nachfolge vor dem 4 Jahre jüngeren Sohn des Claudius, Britannicus. Um unerwarteten Wendungen des Schicksals vorzubeugen, scheint Agrippina mit Hilfe ihres Leibarztes den offensichtlich langlebigen Kaiser vergiftet zu haben. Mit Begeisterung wurde der neue Kaiser Nero (54-68 nChr) begrüßt. Er hielt die Begräbnisrede auf seinen Stiefvater (sein Erzieher, der Philosoph Seneca, hatte die Rede verfaßt), der Senat erklärte Claudius zum Gott und ernannte Agrippina zu seiner Priesterin. Mit großem Glanz begann so die Regierungszeit desjenigen Kaisers, der den Christen ihre erste Verfolgung und den Juden den katastrophalsten Krieg ihrer Geschichte bringen sollte. Das Amt des Prinzeps war von Augustus in der Erkenntnis geschaffen worden, daß das riesige römische Reich nur dann bestehen konnte, wenn die militärische Führung und die Aufsicht über die Verwaltung in ein und derselben Hand lagen. Der Kaiser mußte sich also als Heerführer und als Verwaltungsfachmann bewähren. Tiberius und Claudius waren diesen Aufgaben durchaus gewachsen. Nero jedoch besaß keinerlei Neigung, sein Charisma in diesen Aufgaben zu bewähren. Die Folgen dieses Versagens wurden zunächst noch nicht sichtbar; denn Nero überließ die Regierungsgeschäfte seinen Beratern Burrus und Seneca. Der Gallier Burrus, Prätorianerpräfekt seit 51nChr, war ein vorzüglicher Finanzfachmann; ihm ist das gute Funktionieren der Regierung während der ersten Jahre Neros zu verdanken. Der Dichter und Philosoph Seneca (s.u. §6.4f), aus dem römischen Adel Spaniens stammend, ungeheuer reich aber als Stoiker persönlich bedürfnislos, war von Agrip-
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pina aus der Verbannung zurückberufen worden (Ursache der Verbannung war wohl eine persönliche Intrige Messalinas) und hatte die rhetorische Erziehung Neros übernommen. Als Nero Kaiser wurde, verfaßte er eine Abhandlung über die Milde, die zugleich als Regierungsprogramm für den jungen Kaiser gedacht war. Ein Ideal schien sich zu verwirklichen: der bedeutendste Philosoph seiner Zeit hatte als Lenker eines jungen Kaisers die Möglichkeit, die Geschicke eines Weltreiches zu bestimmen, in dem die Milde und Großmut des Herrschers den inneren und äußeren Frieden der Welt bewahrten. Nero, solchen Idealen gegenüber durchaus aufgeschlossen, dachte nicht daran, seine persönlichen Neigungen den Forderungen der Moral und der Pflichterfüllung unterzuordnen. Der Sittenverfall der römischen Adelsgesellschaft hatte in Nero den Kaiser selbst erreicht. N e r o war überzeugt, daß der Erfüllung normaler sowie perverser sexueller Triebe weder Hemmungen noch moralische Bedenken im Wege stehen dürften, und er fühlte sich vollkommen gerechtfertigt, wenn er selbst engste Familienmitglieder ermordete, sobald er nur den leisesten Verdacht hatte, daß sie ihm gefährlich werden könnten. Seinen Stiefbruder, Claudius' Sohn Britannicus, ließ er bereits im zweiten Jahr seiner Regierung vergiften. Seine Mutter Agrippina, die noch im ersten Regierungsjahr mit dem Kaiser zusammen auf Münzbildern erschienen war, wurde bald gezwungen, sich aus dem politischen Leben zurückzuziehen, und im Jahre 59 beschloß Nero, auch sie zu ermorden; wahrscheinlich bangte er um seine Sicherheit, solange sie noch am Leben war. Als Burrus im Jahre 62 starb, mußte auch Seneca von der politischen Bühne abtreten. N e r o verstieß seine Frau, Claudius' Tochter Octavia, ließ sie umbringen und heiratete Poppaea, die Frau seines Freundes Otho, der nach Neros Tod für kurze Zeit Kaiser werden sollte. Als Poppaea zum zweiten Male schwanger war, tötete Nero sie (im T r u n k oder versehentlich?) durch einen Fußtritt vor den Bauch. Im Jahre 65 wurde eine Verschwörung aufgedeckt, in deren Mittelpunkt ein Senator namens Piso stand. Das gab Nero Anlaß, alle noch lebenden Mitglieder der kaiserlichen Familie umzubringen und mehrere seiner alten Freunde und Berater zum Selbstmord zu zwingen: Seneca, den die Verschwörer vielleicht als neuen Kaiser im Sinne hatten; den Schriftsteller Petronius, der jahrelang Neros engster Berater bei seinen makabren Lustbarkeiten war; und den Dichter Lukan, der einst Nero geschmeichelt hatte,
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nun aber mit dem T o d e dafür bezahlen mußte, daß er auf einer öffentlichen Toilette eine Zeile aus einem Gedicht Neros in unziemlichem Zusammenhang zitiert hatte. In seinem öffentlichen Auftreten bot N e r o freilich keineswegs das Bild eines finsteren Tyrannen. Seine Schwärmerei für alles Griechische verband sich auf seltsame Weise mit seinem Ehrgeiz, Anerkennung zu finden. Seit dem Jahre 59 trat er zunächst privat, dann bald auch öffentlich als Dichter, Sänger und Wettkämpfer auf. U m seine Beliebtheit beim Volke zu steigern, veranstaltete er die großartigsten, raffiniertesten und ausgefallensten Spiele. Inmitten dieser Aktivitäten ereilte ihn im Jahre 64 jedoch beinahe die Katastrophe. Ein Brand wütete in Rom über eine Woche lang und zerstörte den größten Teil der alten Stadt. D a das Gerücht nicht verstummen wollte, der Kaiser habe den Brand selbst angelegt, suchte N e r o einen Sündenbock und verfiel dabei auf die Christen. Sie wurden zusammengetrieben und auf die ausgesuchteste Weise gemartert; einige wurden mit Pech bestrichen und brannten nachts als Fackeln im kaiserlichen Garten. Wenn es einen Unwillen über solche Grausamkeiten gab, so sorgte ein gut funktionierendes Spitzelsystem dafür, daß er nicht laut wurde. Für die Öffentlichkeit verlief Neros Regierung weiterhin glanzvoll, wenngleich die Staatsfinanzen völlig zerrüttet wurden. Im Jahre 66 erschien der von den Parthern eingesetzte armenische König Tiridates in R o m , um mit großem Gepränge aus der Hand des römischen Kaisers seine Krone zu empfangen. N e r o gab große Summen aus, um dieses angeblich bedeutendste Ereignis seiner Friedenspolitik gebührend zu feiern. Auch bei den Wiederaufbauarbeiten Roms wurde nicht gespart - es war Nero, der dem „Ewigen R o m " sein architektonisches Gepräge gab. Ein ebenso kostspieliges Unternehmen wurde eine lange Griechenland-Tournee. D a der Kaiser an allen Spielen und Wettkämpfen persönlich teilnehmen wollte, wurden sie auf den Zeitraum eines Jahres zusammengelegt. Dem bewunderten Griechenland schenkte der hellenophile Kaiser die Freiheit und erließ ihm die Zahlung von Steuern. Mit tausendhundertundacht Siegeskränzen kehrte er zu einem großartigen Friedenstriumph nach Rom zurück. Gleichzeitig begann er, Truppen zusammenzuziehen, die er persönlich zu einem Kriegszug bis an den Kaukasus führen wollte. Dagegen erhoben sich jedoch die Statthalter der westlichen Provinzen. N e r o , dieser politischen Krise gegenüber völlig ratlos, verlor die Nerven. Als sich auch die beiden Prätorianer-
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präfekten von ihm abwandten, floh er aus der Stadt und beging in einer Villa vor Rom unter den unwürdigsten Umständen Selbstmord. Unter den N a c h k o m m e n des Augustus gab es keinen geeigneten Nachfolger mehr. D e r Senat hatte zwar N e r o noch am T a g vor seinem Selbstmord abgesetzt, konnte aber die Nachfolge nicht aus eigener Kraft regeln; die eigentliche Macht lag bei den Truppen. An der Spitze der Rebellion gegen N e r o stand Galba, der Statthalter Spaniens. Ihn ernannte der Senat zum Kaiser. Galba, 72 Jahre alt, stammte aus dem alten Hochadel Roms, war gerecht und streng, jedoch nicht geschickt genug, die Schwierigkeiten zu meistern. Schon nach einem halben Jahr (Anfang 69 nChr) erhob sich die Rheinarmee und rief Vitellius zum Kaiser aus. In Rom wurde Galba von Otho und seinen Leuten erschlagen, und der Senat erkannte O t h o , den Freund Neros und ersten Gatten der Poppaea, der beim Volk beliebt war, als Kaiser an. Vitellius jedoch fiel mit seiner Armee in Italien ein; zum ersten Male nach hundertjährigem Frieden kam es zu einer Schlacht auf italischem Boden; O t h o unterlag und beging Selbstmord. Doch verspielte Vitellius seine Autorität schnell, da er als Lebemann viel zu bequem war, irgendwelche Probleme anzupacken. Es gab aber noch eine römische Armee, die bisher in die Nachfolgestreitigkeiten nicht eingegriffen hatte: Die Armee Vespasians, die in Palästina mit der Niederwerfung des 6 6 n C h r ausgebrochenen jüdischen Aufstandes beschäftigt war. Am 1. Juli 69 rief der römische Präfekt Ägyptens, Tiberius Alexander (ein N e f f e des jüdischen Philosophen Philo, s.o.§5.3f)> Vespasian zum Kaiser aus. Zwei Tage später folgte der syrische Legat Mucianus. b) Die flavischen Kaiser T. Flavius Vespasianus, damals fast 60 Jahre alt, entstammte einer erst kürzlich aus dem Ritterstande aufgestiegenen Senatorenfamilie; sein Vater war Zollbeamter in Kleinasien gewesen. Als H e e r f ü h r e r hatte sich Vespasian in Germanien und Britannien verdient gemacht und war als Verwalter im Prokonsulat Afrikas bewährt. Er war klug genug, sich aus den Kämpfen um die N a c h folge Neros zunächst herauszuhalten. N u r zögernd entschloß er sich, die Kaiserwürde anzunehmen, plante aber dann seinen Einzug in Rom sorgfältig und mit Bedacht. Vorerst begab er sich nach Ägypten, übertrug den Krieg gegen die Juden seinem Sohn Ti-
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tus, sperrte die römische Getreidezufuhr, verhandelte in Syrien mit den Parthern, um sich die nötige Rückendeckung zu schaffen, und überließ seinen Freunden die Organisation von Flotte und Heer sowie den Feldzug in Italien, die Eroberung Roms und die Niederwerfung des Vitellius. Erst im Laufe des folgenden Jahres (70nChr) ging Vespasian selbst nach Rom, um dann allerdings die auf ihn wartenden Aufgaben energisch in Angriff zu nehmen. Durch die Mißwirtschaft der letzten Jahre Neros und die Nachfolgekämpfe waren die staatlichen Finanzen zerrüttet, Italien hatte im Bürgerkrieg Verwüstungen erlitten, in der Stadt Rom waren die Zerstörungen erheblich, das Kapitol in Trümmern und das Staatsarchiv vernichtet. Am Niederrhein und in Gallien mußten Aufstände niedergeworfen werden, und der jüdische Krieg kam erst in diesem Jahre durch die Eroberung Jerusalems zum Abschluß (die Festung Masada wurde erst drei Jahre später erobert). Vespasians Sohn Titus feierte 71 nChr einen glänzenden Triumph, der auf dem noch erhaltenen Titusbogen in Rom dargestellt ist. Der Wiederaufbau Roms wurde vom Kaiser persönlich geleitet, die Tiberregulierung zum Abschluß gebracht. Große Sparsamkeit, verschärfte Steuerpolitik und Nüchternheit in der Handhabung der Verwaltung zeichnen die Regierungsjahre Vespasians aus. An der Reorganisation des Patrizierstandes und der Stärkung des Senates war ihm mehr gelegen als an persönlichen Ehrungen. Derselbe Vespasian, von dem erzählt wird, daß er bei seinem Aufenthalt in Alexandrien wie ein „göttlicher Mensch" Wunder gewirkt habe, scherzte angesichts seines herannahenden Todes - dem verstorbenen Kaiser wurden ja göttliche Ehren zuteil - : „Ich glaube, ich werde ein Gott". Auf Vespasian folgte Titus, der aber nur zwei Jahre regierte (79-81). Er führte das Werk seines Vaters fort, jedoch ereigneten sich während seiner Regierungszeit mehrere Katastrophen. Im Jahre 79 brach der Vesuv aus und begrub die Städte Pompeji und Herculanaeum; ein Jahr später suchte ein größerer Brand die Stadt Rom heim; schließlich breitete sich eine Seuche unter der Bevölkerung der Hauptstadt aus. Titus' persönlichen Einsatz, dazu seine Lauterkeit und Milde ( „ d e m e n t i a Titi") hat die Nachwelt nicht vergessen. Er blieb als vorbildlicher Herrscher in Erinnerung. Ganz im Gegensatz dazu steht das Urteil der Nachwelt über Domitian, der von seinem Bruder Titus bereits zum Mitregenten ernannt worden war. Die Regierungsjahre Domitians (81-96) mögen man-
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ches Gute hervorgebracht haben. Der Wiederaufbau Roms nach dem Brand des Jahres 80 wurde fortgesetzt, die Verwaltung des Reiches durch die Stärkung des kaiserlichen Beamtentums gefestigt, die Herrschaft in Germanien konsolidiert (Ober- und Niedergermanien wurden als Provinzen organisiert, der Bau des germanischen Limes begonnen) und die Eroberung Britanniens abgeschlossen. Doch rief die Anmaßung des Kaisers, der sich als „Herr und Gott" anreden ließ, die Opposition des Senates hervor. Sein Verfolgungswahn führte zu einer großen Zahl von Todesurteilen über wirkliche und vermeintliche Gegner; selbst vor der eigenen Familie schreckte er nicht zurück (Hinrichtung seines Vetters Flavius Clemens). Die „Philosophen" wurden aus Rom vertrieben. Dabei hat es sich vor allem um Stoiker und Astrologen gehandelt. Ob auch eine Verfolgung von Christen stattgefunden hat, wird von manchen Historikern bezweifelt. Aber es steht außer Frage, daß Christen unter diesem Kaiser, der sich schon zu Lebzeiten Tempel zu seiner göttlichen Verehrung bauen ließ, das Martyrium erleiden mußten, daß sich die apokalyptische Stimmung verstärkte, Christen von der Ankunft des Antichristen redeten (s.u. zur Offenbarung Johannis, 12.1c) und die römische Christengemeinde Verfolgungen erduldete (s.u. zum 1. Clemensbrief, §12. 2d). Die letzten Regierungsjahre Domitians waren für alle zu einer Schreckenszeit geworden und seine Ermordung durch Freunde und Freigelassene wurde weithin als Erlösung empfunden. Das beweist die nach seinem Tode gründlich durchgeführte „damnatio memoriae": sein Name wurde auf allen seinen Inschriften ausgelöscht, seine Statuen entfernt. So endete die Zeit der flavischen Kaiser in einer weite Kreise ergreifenden pessimistischen Stimmung, die durch wirtschaftliche Probleme der letzten Jahre Domitians noch verstärkt wurde. Diese Stimmung fand sich nicht nur unter den Christen; sie ist auch in den Niederschriften der Lehrvorträge Epiktets greifbar sowie in dem Werk des Historikers Tacitus (s.u. 6.4ά). Tatsächlich hat aber die Zeit der Flavier einschließlich der Regierung Domitians die Grundlagen für das kommende „Goldene Zeitalter" der Adoptivkaiser gelegt. Der wirtschaftliche Aufschwung unter Vespasian und Titus hatte bewiesen, daß die bestehende ökonomische Ordnung lebensfähig und revolutionäre Eingriffe überflüssig waren. Der Niedergang unter Domitian war nicht so katastrophal wie es manchen Zeitgenossen erschienen sein mochte. Der Friede, besonders mit den Parthern im Osten, war erhalten geblie-
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ben. Zwar war der „Herr und Gott" Domitian ein unerträglicher Tyrann, aber ein glaubwürdiger Vertreter des göttlichen Kaisertums hatte durchaus die Möglichkeit, weiten Kreisen des römischen Imperiums Frieden und Wohlstand zu bringen. c) Das „Goldene Zeitalter" Die auf den Tod Domitians folgenden Jahrzehnte - auch als die Zeit der Adoptivkaiser bekannt, da jeweils der regierende Kaiser noch vor seinem Tode seinen Nachfolger durch Adoption bestimmte - waren für weite Kreise der Bevölkerung des römischen Reiches eine Zeit des Wohlstands und des Friedens. Die Städte wurden von den Kaisern nachhaltig gefördert, die Bautätigkeit angeregt und großzügig unterstützt, die Staatsfinanzen und das Rechtswesen neu geordnet; Wissenschaft, Rhetorik und Philosophie erfreuten sich der kaiserlichen Gunst. Nicht zufällig war diese Periode für das Christentum eine Zeit der Konsolidierung, die in der Ausbildung einer kirchlichen Organisation, in der Verbürgerlichung der christlichen Ethik und in den Anfängen eines philosophisch-theologischen Schulbetriebes sichtbar wird. Die nach der Ermordung des Tyrannen Domitian zunächst herrschende Ratlosigkeit kommt in der Wahl seines Nachfolgers zum Ausdruck: Nerva (96-98 nChr) war ein angesehener sechzigjähriger Senator ohne politischen Anhang. Er bemühte sich, den Schaden der letzten Regierungsjahre Domitians wieder gutzumachen. Die Verbannten wurden zurückberufen, das Gedächtnis an Domitian ausgelöscht. Nerva begann mit dem Neuaufbau der Staatsfinanzen, Landverteilung an die Armen, Getreideeinkäufe für die römische Bevölkerung. Er versuchte, das Bauwesen zu fördern und die Städte zu stützen. Aber seine politische Stellung blieb unsicher. Um sie zu festigen, adoptierte er den Statthalter von Obergermanien, M.Ulpius Traianus, und machte ihn zum Mitregenten. Als Nerva wenig später starb, wurde dieser sein Nachfolger. Trajan (98-117nChr) stammte aus einer römischen Ritterfamilie Südspaniens. Mit ihm kam erstmals ein Römer aus einer Provinz auf den Kaiserthron. Trajan war seit zwei Jahrzehnten als Legionslegat und Heerführer bewährt und hatte sich in Kämpfen in Syrien, Spanien und Germanien ausgezeichnet. Umsichtig und erfahren in der Verwaltung kümmerte sich Trajan persönlich um die vielfältigsten Probleme (der erhaltene Briefwechsel mit dem jüngeren Plinius gibt einen guten Einblick). Seine Bautätigkeit in Rom und
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in den Provinzen förderte den unter Nerva angebahnten wirtschaftlichen Aufschwung. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern und Nachfolgern versuchte Trajan jedoch, nochmals zu einer territorialen Eroberungspolitik zurückzukehren. Sein erstes Angriffsziel war das reiche Dakien nördlich der unteren Donau, der römischen Provinz Moesien benachbart. In zwei Kriegen (101-102 und 105-106) wurden die Daker unterworfen, Dakien zur römischen Provinz und ungewöhnlich schnell romanisiert (die heutige Sprache Rumäniens gehört der romanischen Sprachgruppe an). Im Falle Dakiens war die Expansionspolitik Trajans erfolgreich. Das Gold Dakiens und die neuerschlossenen wirtschaftlichen Möglichkeiten kamen dem gesamten Reich zugute. Nicht so eindeutig dagegen ist das Ergebnis der Expansionspolitik im Osten. Trajan unterwarf zunächst das im Osten und Süden des Toten Meeres seit Jahrhunderten unabhängig gebliebene Reich der Nabatäer, gründete die römische Provinz Arabia Felix mit den Städten Bostra und Petra und dehnte die römische Herrschaft bis an den Golf von Akkaba aus. Eine römische Flotte wurde im Golf von Akkaba stationiert; Rom konnte so den gesamten vom persischen Golf nach Ägypten laufenden Ost-West Handel kontrollieren. Gleichzeitig befestigte Trajan damit seine Basis für einen Angriffskrieg gegen das parthische Reich. Seit der Zeit des Augustus hatte an der parteiischen Front Friede geherrscht; Armenien war ein römischer Klientelstaat, Kommagene (im Südosten Kappadokiens), zunächst unter einem König aus parthisch-seleukidischem Haus, war seit 72nChr teil der römischen Provinz Syrien; seitdem war auch der nördliche Teil Armeniens (Armenia minor) mit der Provinz Kappadokien verbunden. Inzwischen geriet aber der südliche Teil, Großarmenien mit der Hauptstadt Tigranokerta, unter parthischen Einfluß. Dies war für Trajan der unmittelbare Anlaß zum Kriege gegen das von den Parthern beherrschte persische Reich (115-117). Trajans Armee eroberte Armenien, zog dann nach Mesopotamien. Die Osrhoene mit Edessa und Nisibis wurde römisch; Babylon, Seleukia am Tigris und die parthische Winterresidenz Ktesiphon fielen in römische Hände. Mit einem Vorstoß zum persischen Golf und der Eroberung Adiabenes östlich des Tigris erreichte Rom seine größte territoriale Ausdehnung im Osten. Doch ehe Trajan die neuen Reichsgrenzen sichern konnte, starb er an einer Krankheit. Das hatte zur Folge, daß Armenien, die Osrhoene und Mesopotamien jahrhundertelang umstrittene Gebiete blieben, die wiederholt von
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Kriegen zwischen Rom und seinen östlichen Widersachern (zunächst den Parthern, später den Sassaniden) heimgesucht wurden. Die Entwicklung des Christentums in diesen Gebieten ist davon nicht unberührt geblieben. Vielleicht verursachte die trajanische Eroberungspolitik im Osten auch den jüdischen Diasporaaufstand, der noch während des parthischen Feldzuges ausbrach. Er begann in der Cyrenaika, griff schnell auf Ägypten und Cypern über, wurde jedoch blutig niedergeschlagen. Die längst begonnene Loslösung des Christentums vom Judentum mag durch diesen Aufstand beschleunigt worden sein (s.u.§6.6f). Hadrian (117-138 nChr), Trajans Mündel, entfernter Verwandter und Adoptivsohn, ebenfalls aus Spanien stammend, war bereits im dakischen und im parthischen Feldzug mit wichtigen militärischen Aufgaben betraut worden. Doch setzte er die Eroberungspolitik seines Vorgängers nicht fort. Mesopotamien wurde als römische Provinz aufgegeben, Armenien wieder zum Klientelstaat, weitere Konflikte mit den Parthern durch Verhandlungen friedlich beigelegt. Auch im Norden suchte Hadrian die römischen Grenzen zu stabilisieren; davon legt die Hadriansmauer Zeugnis ab, die Britannien vor den Einfällen der Picten und Scoten schützen sollte. Im Inneren des Reiches knüpfte er an Trajans Aufbaupolitik an. Die kaiserliche Verwaltung wurde im Sinne des Beamtentums weiter entwickelt; an die Stelle der kaiserlichen Freigelassenen traten Männer aus dem Ritterstande, die die wichtigsten Amter verwalteten. Durch eine von dem Afrikaner Salvius Julianus ausgearbeitete Rechtsreform ordnete Hadrian das Rechtswesen neu und unterstellte es deutlicher der kaiserlichen Gewalt. Wie Trajan achtete Hadrian den Senat und suchte, ein gutes Verhältnis zu ihm herzustellen, konnte aber die Feindschaft des Senats nie ganz überwinden. Hadrian war ein eifriger Freund des Griechentums und brachte den größten Teil seiner Regierungszeit auf Reisen zu (121-127 und 128-134), die ihn vor allem in den östlichen Teil des Reiches führten. Seine Aufmerksamkeit galt dabei nicht nur der Neuorganisation der griechischen Städte, die er freigebig und großzügig förderte, sondern auch dem Ausbau von Wissenschaft und Bildung. Hadrian war selbst in der griechischen Literatur gut bewandert, völlig in der griechischen Sprache zu Hause und von wissenschaftlichem und religiösem Wissensdurst beseelt. In Athen erneuerte er die Universität, baute eine großangelegte Bibliothek und vollendete den seit Jahrhunderten nur zaghaft vorangetriebenen
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Bau des Tempels des olympischen Zeus; es wurde der gewaltigste griechische Tempel, der je auf europäischem Boden erbaut worden ist. Inschriften bezeugen, daß Hadrian selbst als „Olympier" dort verehrt worden ist. In Eleusis ließ sich Hadrian in die Mysterien einweihen. Hadrians wichtigste Stadtgründung ist Hadrianopolis (das heutige Edirne in der europäischen Türkei). Bei einer Reise auf dem Nil ertrank Hadrians Liebling, der zwanzigjährige Bithynier Antinoos, dessen Statue vielfach erhalten ist. Hadrian ließ ihm an dieser Stelle eine Stadt erbauen, Antinoopolis, in deren Tempel Antinoos als Gott verehrt wurde. Pläne für die Errichtung eines Tempels für den kapitolinischen Jupiter an der Stelle des zerstörten Jahweh-Tempels in Jerusalem und der Neugründung Jerusalems als Aelia Capitolina verursachten den messianischen Aufstand des BarKochba, der auch auf andere Provinzen übergriff. Erst nach einem mit fürchterlicher Grausamkeit auf beiden Seiten geführten Krieg (132-135) gelang die Niederwerfung dieses letzten jüdischen Aufstandes, die zur faktischen Vernichtung des palästinischen Judentums führte. Hadrian starb wenige Jahre später einsam und ungeliebt in seiner Villa bei Rom (138). Der von ihm adoptierte und als Nachfolger designierte L.Aelius war noch vor seinem Tode gestorben. Daraufhin adoptierte Hadrian den Beamten und Richter Antoninus unter der Bedingung, daß dieser wiederum den Sohn des verstorbenen L.Aelius (den späteren Kaiser Verus) und den Neffen seiner Frau, Marcus Annius Verus (den späteren Kaiser Mark Aurel), adoptierte. Der Senat wollte Hadrian die Konsekrierung verweigern; doch sein Nachfolger setzte sie durch und vollendete das begonnene Mausoleum (Hadrianeum in Rom). Antoninus Pius (138-161 nChr) kam aus einer römischen Familie Südgalliens. Seine Regierungszeit ist der Nachwelt als ununterbrochene Zeit des Friedens und des Wohlstands in Erinnerung geblieben. Tatsächlich sind an den Grenzen des Reiches auch während dieser Jahre eine Reihe von Kriegen geführt worden, so gegen die Briganten in Britannien (Bau der Antoninsmauer), gegen die Daker und gegen die Parther. Schon in seinem ersten Regierungsjahr nahm Antoninus den Beinamen „Pius" an. Zum Senat unterhielt er ein gutes Verhältnis; Kulte und Religion wurden von ihm gefördert. Er kümmerte sich persönlich um die Verwaltung des Reiches und sorgte für einen reibungslosen Ablauf, festigte auch das Finanz- und Rechtswesen. Große Sparsamkeit ging Hand in Hand mit großzügiger Unterstützung der Städte (so erhielt das
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vom Erdbeben zerstörte Ephesus finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau). Prinzipat und Nachfolgebestimmung durch Adoption (anstelle der Wahl durch den Senat oder der Erhebung durch die Armee) schienen gefestigte Institutionen geworden zu sein und die Pax Augusta für das Imperium verwirklicht. Jedoch änderte sich unter seinem Nachfolger die Situation schnell. Marcus Aurelius (161-180 nChr), der Philosoph auf dem Kaiserthron (von Antoninus Pius auf Weisung Hadrians adoptiert), besaß eine umfassende Bildung, hatte neben Grammatik und Malerei vor allem Rhetorik studiert (Fronto war sein Lehrer in der lateinischen, Herodes Auicus sein Lehrer in der griechischen Rhetorik), wandte sich seit 146 aber der Philosophie zu, und zwar der Stoa, die noch zwei Generationen zuvor unter kaiserlicher Mißgunst zu leiden hatte. Mark Aurels philosophische Gedanken sind in seinen „Selbstbetrachtungen" erhalten geblieben. Mit der jüngeren Faustina, der Tochter des Antoninus Pius, war Marcus Aurelius seit 145 verheiratet und war seit 146 faktisch Mitregent seines Schwiegervaters. Nach dessen Tod erhob er sofort seinen Adoptivbruder L.Verus zum Mitkaiser (Verus erwies sich aber als unfähig; er starb 169). Noch im ersten Jahre der Regierung Mark Aurels brach der Krieg aus. Die Kaledonier erhoben sich in Britannien, die Chatten fielen in Rätien ein. Ein Jahr später begann der parthische König Vologaeses III. eine größere Offensive. Mit der Führung des parthischen Feldzugs wurde Avidius Cassius beauftragt, Legat von Syrien und selbst syrischer Herkunft. Ihm gelang die Einnahme von Seleukia und Ktesiphon und nach einem Feldzug nach Medien wurde 166 Friede geschlossen; wenigstens Armenien und die Osrhoene blieben in römischer Hand. Aber die vom parthischen Feldzug zurückkehrenden Soldaten schleppten die Pest ein, die jahrelang unter der Bevölkerung des römischen Reiches wütete. Seit 165 waren die Markomannen, die in der heutigen Tscheche! ein starkes germanisches Reich gegründet hatten, wiederholt in das Gebiet des römischen Imperiums eingefallen. Nach anfänglichen römischen Erfolgen weitete sich der Krieg aus, so daß zeitweise germanische und keltische Stämme von Illyrien bis Gallien beteiligt waren. Die Germanen überrannten Mösien und Dakien und drangen bis nach Griechenland vor (Zerstörung von Eleusis). Die Zurückwerfung dieser Invasion nahm den Kaiser jahrelang in Anspruch. Im Jahre 175, kurz vor einem siegreichen Abschluß der Kämpfe, erhob sich in Syrien Avidius Cassius, dem Marcus Aurelius den Oberbefehl über
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den gesamten Osten übertragen hatte, und ließ sich zum Kaiser ausrufen. Marcus Aurelius begab sich selbst nach Syrien; doch wurde Avidius Cassius noch vor seinem Eintreffen in Antiochien von eigenen Parteigängern ermordet. Ein erneuter Einfall der Markomannen zwang Marcus Aurelius wiederum an die germanische Front, wo er 180 in Vindobona (Wien) an der Pest starb. Mit dem T o d e des Marcus Aurelius geht das Goldene Zeitalter Roms endgültig dahin. Die langen Kriege hatten viel Geld gekostet. Die Pest forderte unzählige Menschenleben und beschleunigte den wirtschaftlichen Niedergang. M a r k Aurels Sohn Commodus, Mitregent und Nachfolger, erwies sich als unwürdig und unfähig. Was man über ihn erfährt, hat von jeher den Abscheu antiker und moderner Historiker hervorgerufen. Commodus war außerstande, auch nur einen der vielen Grenzkriege seiner Zeit zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen, wurde von Gardepräfekten und Kammerdienern beherrscht, gab unsinnige Mengen Geldes f ü r Spiele und Wettkämpfe aus, in denen er mit Vorliebe selbst auftrat, ließ seine Gegner hinrichten (selbst die Kaiserin wegen Ehebruchs), förderte die orientalischen Kulte und wurde gegen Ende seines Lebens als Herkules göttlich verehrt. 192nChr ließen Verschwörer ihn durch einen Athleten im Bade erwürgen. Die folgenden 120 Jahre, in die die große Auseinandersetzung des Christentums mit dem römischen Staat fällt, stellen einen neuen Abschnitt der römischen Geschichte dar. Die herkömmliche Geschichtsschreibung sieht in ihm die Zeit des Niedergangs Roms. Jedenfalls wandelte sich das Gesicht des römischen Kaisertums ebenso wie die wirtschaftlichen Verhältnisse. Der pessimistischen Welterfahrung, die sich seit der Zeit Mark Aurels erneut ausbreitete und das folgende Jahrhundert beherrschte, entsprechen die Erneuerung der Apokalyptik (Montanismus), die Ausbreitung der gnostischen Bewegung und die Anfänge der spekulativen philosophischen T h e o l o gie ebenso wie die Schaffung des neutestamentlichen Schriftkanons, die Kodifizierung der rabbinischen Tradition in der Mischna und der Abschluß der antiken Philosophie im Neuplatonismus.
3. Verwaltung und Wirtschaft M. ROSTOVTZEFF, Gesellschaft und Wirtschaft in der römischen Kaiserzeit, 1929. 3 E . M E Y E R , Römischer Staat und Staatsgedanke, 1964.
Verwaltung und Wirtschaft
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a) Regierung und Verwaltung Aus dem durch Augustus geschaffenen Prinzipat, durch das dem Kaiser ein großer Teil der tatsächlichen Macht im Reich zufiel, waren die Strukturen der Regierung und Verwaltung entstanden, die im wesentlichen f ü r die ersten beiden Jahrhunderte der christlichen Zeit maßgeblich blieben. Man mißversteht diese Regierungsform, wenn man sie einfach als Monarchie bezeichnet. D i e republikanischen Institutionen blieben nicht nur weiter bestehen, sie behielten auch eine beschränkte Machtbefugnis und hatten ein nicht zu unterschätzendes symbolisches Gewicht: sie - und nicht der Kaiser - repräsentierten den Staat, dessen Souverän rechtlich das römische V o l k (populus R o m a n u s ) war. Willkürherrschaften einzelner Kaiser waren während dieser Jahrhunderte selten und jeweils von verhältnismäßig kurzer Dauer. Nicht nur im H e e r , sondern auch in den verschiedenen zivilen Bereichen waren die Vertreter aller Stände des römischen Volkes in einem solchen Maße an der tatsächlichen Ausübung der Macht beteiligt, daß ein Kaiser nur z u m eigenen Schaden den Willen des Volkes und seiner Repräsentanten mißachtete. In der T a t hatte es auch mehr als nur symbolische Bedeutung, daß die meisten Kaiser trotz ihrer monarchisch anmutenden Machtbefugnisse großen Werte darauf legten, ihr eigenes „ A m t " als vom V o l k übertragen zu verstehen. D e r Prinzipat als Institution des Friedens und des Rechtes war von einem anderen Geist getragen als die früheren orientalischen und hellenistischen Monarchien.
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Eine wesentliche Voraussetzung zur Neuordnung der Verwaltung war die Reorganisation der Stände, aus denen sich die Beamten rekrutierten. Durch die dauernde Übernahme der Censur, der Aufsicht über die Listen des Senatoren- und Ritterstandes, durch das Recht, geeignete Mitglieder in den Senat aufzunehmen, und durch die Ehegesetzgebung (Verpflichtung der Senatoren zu heiraten und Vorzugsstellung derer, die mindestens drei Kinder hatten) versuchten die Kaiser, diese Stände lebensfähig zu erhalten. Durch die Ernennung von Adligen aus den Provinzen (vor allem aus dem Westen, später auch aus Griechenland und aus dem Osten) kamen in zunehmenden Maße Römer (und später Nichtrömer) aus anderen Teilen des Reiches in den Senat. Die Reorganisation des Heeres und die Einbeziehung des Heeres in die normale Beamtenlaufbahn vermied auf der einen Seite die Bildung eines Berufsoffiziersstandes, machte auf der anderen Seite das Heer zur Schule der künftigen Zivilbeamten. Außerdem war es wichtig, daß die meisten Legionen in den Grenzprovinzen stationiert waren; die Verwaltung dieser Provinzen durch den Kaiser wurde mit seiner militärischen Funktion aufs engste verbunden. Das Heer bestand aus 25, später 30 Legionen von je 6000 Mann, die sich aus römischen Bürgern rekrutierten. Dazu gab es die aus den Provinzen rekrutierten Hilfstruppen und die Flotte; die hier dienenden Soldaten erhielten nach ehrenvoller Entlassung das römische Bürgerrecht. Jede Legion hatte 10 Kohorten, jede Kohorte wiederum 6 Centurien. An der Spitze der Legion stand ein aus dem Senatorenstand stammender kaiserlicher Legat, unter ihm 6 Militärtribunen, von denen einer senatorischen Standes war. Die anderen, ebenso wie die Befehlshaber der Hilfstruppen kamen aus dem Ritterstand. Diese Offiziere dienten nur für begrenzte Zeit im Heer (nur die aus dem Ritterstande stammenden blieben vielfach länger, manchmal auf Lebenszeit). Die ständigen Offiziere des Heeres waren die Centurionen, die immer aus dem Volke kamen und in der Regel zeitlebens beim Heer blieben. Außer diesen regulären Legionen gab es noch die kaiserliche Garde, die Prätorianer, die sich aus der Leibgarde des Kaisers zur Kern- und Spezialtruppe entwickelte und gleichzeitig als eine Art Kriegsschule diente; denn die rangälteren Centurionen rekrutierten sich teilweise aus der Garde. In der senatorischen Amterlaufbahn bekleideten die jüngeren Angehörigen senatorischer Familien zunächst niedere Amter, fan-
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den dann für ein oder mehrere Jahre als Militärtribune Verwendung, kehrten in den Zivildienst zurück und konnten über die Ämter des Quästors und des Prätors zum Konsul aufsteigen. D a das Konsulat Voraussetzung für die höheren kaiserlichen und senatorischen Amter war, gab es nicht nur jährlich die beiden regulären Konsuln (ordinarii), sondern auch noch nachgewählte Konsuln (suffecti), die das Amt in den späteren Monaten des jeweiligen Jahres bekleideten. Die wichtigsten Amter in der ritterlichen Beamtenlaufbahn waren die des Militärtribunen, in denen die Ritter meist länger dienten als die senatorischen Tribunen, und die der Präfekten und Prokuratoren, die von der Finanzverwaltung bis zur selbständigen Leitung einer Provinz reichten. Im Gegensatz zu den senatorischen Beamten blieben die ritterlichen in der Regel viele Jahre in ein und demselben Amt und waren daher oft ältere, gründlich mit der Sache vertraute Männer. Die Verwaltung der Provinzen war so aufgeteilt, daß die befriedeten Provinzen, in denen nur wenig Militär stand, dem Senat unterstellt waren. An ihrer Spitze stand ein ehemaliger Konsul als „Prokonsul" (άνθύπατος), der jeweils nur ein Jahr amtierte. Zu diesen Provinzen gehörten u. a. Afrika, Griechenland, Asien, Bithynien und Cypern. Hingegen unterstanden die Grenzprovinzen, in denen die Stationierung mehrerer Legionen notwendig war, direkt dem Kaiser, der sie durch einen „ L e g a t e n " (ήγεμών) verwaltete. Außerdem gab es Distrikte, die vom Kaiser durch einen „Prokurat o r " (griechisch ebenfalls ηγεμών) verwaltet wurden; dazu gehörte auch Judäa. Schließlich hatte Ägypten eine Sonderstellung; wegen seiner Bedeutung, vor allem für die Kornversorgung Roms, war den Senatoren das Betreten Ägyptens untersagt. Das Land wurde vom Kaiser durch einen Präfekten verwaltet, der ebenso wie die Prokuratoren dem Ritterstande angehörte. Um der Ausbeutung der Provinzen ein für alle Mal ein Ende zu setzen, erhielten die kaiserlichen Beamten feste Gehälter. Auch die Finanzverwaltung wurde neu geordnet. An der Spitze der Finanzverwaltung der Provinzen stand jeweils ein direkt dem Kaiser verantwortlicher Prokurator. Grundsteuern und Personalsteuern wurden von ihm durch seine Angestellten unter Mitarbeit der Gemeinden direkt erhoben. Hingegen wurden die indirekten Steuern weiterhin an Steuerpächter vergeben (dieses System wurde erst im Laufe des 2.Jh.nChr abgeschafft). Im Gerichtswesen setzte sich eine wichtige Neuerung durch, in-
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sofern als die Rechtsprechung durch den Kaiser und durch von ihm ernannte Beamte neben die älteren Geschworenengerichte trat und die letzteren weithin verdrängte. Jedes Gerichtsverfahren konnte an den Kaiser gewiesen werden, oder der Kaiser konnte eine Strafsache an sich ziehen, bevor sie vor den Geschworenengerichten anhängig gemacht wurde. Außerdem konnte man gegen den Spruch eines Statthaltergerichtes an den Kaiser appellieren. In Strafprozessen war dies bei den Repetundenverfahren (Anklagen gegen Beamte wegen Erpressung und unrechtmäßiger Bereicherung) und bei den Majestätsverfahren wichtig. Unter den letzteren verstand man die Verfolgung eines jeden Verstoßes gegen das Interesse und Ansehen des römischen Volkes (crimen laesae maiestatis populi Romani), in die der Kaiser und seine Familie miteinbezogen wurden. Hierher gehörten nicht nur Hochverrat, Verschwörung, Kriegshetze gegen Rom, sondern auch Beleidigung der kaiserlichen Person und Verweigerung des Opfers im Kaiserkult. Entstand hieraus während des Prinzipats auch nur selten eine Willkürherrschaft der kaiserlichen Justiz, so ergaben sich doch aus dieser Rechtslage die Gründe für die späteren Christenverfolgungen. Religionsdelikte wurden hingegen selten und meist erst in zweiter Linie gegen Christen geltend gemacht; denn nur Zauberei und Sakrileg (Tempeldiebstahl usw.) galten als Religionsdelikt, während die Ablehnung des Kaiserkultes und die Verweigerung der Teilnahme am heidnischen Kult nicht dazu zählten. Das Vorgehen gegen die Christen hing jeweils sehr stark von der Einstellung des betreffenden Kaisers ab, da die Kaiser auf allen Gebieten des Strafrechts (und auch oft in zivilrechtlichen Angelegenheiten) durch Edikte und Gutachten auf die Rechtsprechung Einfluß nahmen. b) Wirtschaft und Verkehr D a s Wirtschaftsgebiet des Mittelmeeres und der angrenzenden Länder (s.o.§2.1-7) wurde durch die römische Herrschaft zu einer politischen Einheit. Die Grundstrukturen der Wirtschaft und des Handels veränderten sich gegenüber der hellenistischen Zeit nur wenig ( s . o . § 2 . 2 a - e und §2. 7a-b), jedoch verlagerten sich die Schwerpunkte. Der Westen rückte stärker in den Vordergrund und Rom wurde zum neuen Zentrum des Mittelmeerhandels. D a s lag in erster Linie am enormen Ansteigen des römischen Bedarfs an Massenverbrauchsgütern und Luxusartikeln. Die Landwirtschaft Roms und großer Teile Italiens hatte sich allmählich auf die Pro-
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duktion von Wein und Öl umgestellt, deren Erzeugung in den riesigen Latifundien mit ihren Heeren von Landarbeitersklaven vorherrschte. Dadurch war Italien, und vor allem die Stadt Rom selbst, auf ständige Getreideimporte von Ubersee angewiesen. Die Hauptlieferanten waren Sizilien, Nordafrika, die Länder am Schwarzen Meer und schließlich Ägypten, die eigentliche Kornkammer Roms. Mißernten in diesen Gebieten führten mehrfach (so z.B. in der Zeit des Claudius und Neros; vgl. Apg. 11, 28) zu Versorgungskrisen, sowie zu Hungersnöten in anderen Teilen des Reiches, die - wie Griechenland - ebenfalls auf Importe aus diesen Hauptproduktionsgebieten angewiesen waren. Der Bedarf an Luxusgütern erfuhr in der römischen Kaiserzeit eine große Steigerung, und auch hier ging ein großer Teil der Importe nach Rom selbst. Die Folge war ein Anwachsen des Fernhandels mit entlegenen Gebieten wie Skandinavien, Afrika und China. Importiert wurden Parfüme, Salben, Edelsteine, Schmuck, Weihrauch, Gewürze und Seiden. Exotische Tiere kamen aus dem Inneren Afrikas und aus Indien, Bernstein aus den Baltischen Ländern. Dieser Handel wurde über unabhängige Zwischenhändler abgewickelt, während der Handel mit den notwendigen Massenverbrauchsgütern so unrentabel wurde, daß die Kaiser durch staatliche Stützung und Lenkung eingreifen mußten. Die Lebensmittelversorgung Roms war auch finanziell ein Problem. Rom und Italien litten unter einem chronischen Exportdefizit, daß durch den großen Bedarf an Luxusgütern noch gesteigert wurde und unter Kaisern wie Nero, der für den Bedarf des Hofes und der öffentlichen Spiele Luxusgüter (exotische Tiere, Parfüme) in großen Mengen importieren ließ, ins Unermeßliche wuchs. Aus der kaiserlichen Kasse mußte aber auch der Bedarf des Heeres in Rom und in den verschiedenen Provinzen finanziert werden. Eine weitere Belastung des Fiskus waren die festen Beamtengehälter, die seit Beginn der Kaiserzeit gezahlt wurden. Die italischen Exporte konnten bei weitem nicht genug Geld nach Italien bringen, um einen Ausgleich zu schaffen. Wurden anfangs noch etliche Industrieerzeugnisse (Töpferei- und Glaswaren) aus Italien in die Provinzen exportiert, so war mit dem raschen wirtschaftlichen Aufschwung auch die Eigenproduktion der unterentwickelten Provinzen in den meisten Fällen bald imstande, den Eigenbedarf an solchen Artikeln zu decken. Die Hauptquellen der kaiserlichen Einnahmen waren natürlich die Steuern, die vor allem aus den Provin-
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zen kamen; denn römische Bürger - also ein großer Teil der Bevölkerung Italiens - brauchten keine direkten Steuern zu zahlen. Außerdem konnte der Kaiser die Einnahmen der kaiserlichen Güter - alle Güter des julisch-claudischen Hauses gingen nach dessen Ende in Staatsbesitz über - in Italien und in den Provinzen mit heranziehen. Da diese Quellen aber nicht immer ausreichten, wurde verschiedentlich vom Mittel der Münzverschlechterung und der Konfiskation Gebrauch gemacht, um die Ausgaben des kaiserlichen Fiskus decken zu können (zum römischen Münzwesen s.o.§ 2.7c). Aus der Verlagerung der wirtschaftlichen Schwergewichte ergaben sich auch Veränderungen in den Handelszentren und Verkehrswegen. Von den großen Handelszentren des Ostens verloren Delos und Rhodos ihre Bedeutung. Hingegen blieben neben vielen anderen Ephesus, Antiochien und Alexandrien wichtige Umschlagplätze, da sie am Endpunkt wichtiger Handelsstraßen aus dem Inland lagen. Korinth, das Caesar neu gegründet und wieder aufgebaut hatte, eroberte sich einen entscheidenden Platz im Handel zwischen dem östlichen und dem westlichen Mittelmeer, da viele Kaufleute ihre Waren hier umschlagen ließen, um die immer noch gefährliche Umschiffung des Peloponnes zu vermeiden (der von Nero begonnene Durchstich eines Kanals durch die korinthische Landenge blieb in den Anfängen stecken). Im westlichen Mittelmeer war die Bedeutung Karthagos seit den punischen Kriegen zurückgegangen. Rom war hier das wichtigste Handelszentrum, das zunächst durch seinen Neapel benachbarten Hafen Puteoli mit dem Neapel konkurrierte - später durch den Hafen von Ostia an der Tibermündung mit dem Meer verbunden war. Neben dem Ausbau der wichtigen Häfen verwandten die Kaiser große Mühe und große Geldsummen auf den Straßenbau. Die römischen Straßen, durch die auch die entlegensten Außenposten des Reiches zugänglich gemacht wurden, gehören zu den großartigsten Leistungen des Altertums. Sie waren gepflastert und wurden möglichst gerade angelegt. Auch unwegsames Gelände wurde durch Felsräumung im Gebirge, kühne Viadukte über tief eingeschnittene Täler und feste Dämme durch Sumpflandschaften überwunden. Poststationen, Gasthäuser und Militärposten wurden in regelmäßigen Abständen angelegt (freilich gelang es nicht, das Straßenräuberunwesen gänzlich auszurotten). Es gab Itinerarien und Karten, auf denen die Entfernungen, Gasthäuser und Sehenswürdigkeiten an-
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gegeben waren. Als Verkehrsmittel benutzte man Wagen, die sehr komfortabel eingerichtet sein konnten; manche dieser Wagen waren auch zum Schlafen geeignet. An vielen Stellen standen Mietwagen zur Verfügung. S o dienten diese Straßen nicht nur militärischen Bedürfnissen, sondern auch dem Transport von Handelsgütern und dem Tourismus. Die Nachrichtenübermittlung wurde durch dieses Straßensystem erheblich verschnellert. Man schätzt die Schnelligkeit der römischen Staatspost auf 75 km pro T a g ; berittene Boten konnten unter Benutzung der Relaisstationen mehr als 100 km am T a g e zurücklegen. V o n den römischen Soldaten wurde eine Marschgeschwindigkeit von 30 km am T a g erwartet. Wenn auch dem normalen Bürger die Staatspost nicht zur Verfügung stand, so wurden doch Reisen und Nachrichtenübermittlung in einem Maße möglich gemacht, für das es im Altertum bis dahin keine Beispiele gegeben hatte. Für die Ausbreitung des Christentums war das von großer Bedeutung. c) Soziale Probleme Man hat gesagt, das römische Kaiserreich sei schließlich daran zugrunde gegangen, daß es sich als unfähig erwies, seine sozialen Probleme zu lösen. Diese Probleme waren zum Teil ein Erbe sozialer Mißstände der hellenistischen Zeit (s.o. § 2 . J a - e ) , zum Teil Folgen der oft schrankenlosen Ausbeutungs- und Bereicherungspolitik während der Eroberungsperiode in Roms spätrepublikanischer Zeit. Es rächte sich jetzt nicht nur, daß die neuen römischen Provinzen darunter unsäglich gelitten hatten, sondern auch, daß nur ein kleiner Teil der römischen Bevölkerung von dieser Ausbeutung profitiert hatte. S o sah sich R o m am Anfang der Kaiserzeit gezwungen, den einst wohlhabenden Provinzen des Ostens eine Chance zum Neuaufbau zu geben und zugleich die ständig anwachsende Großstadtbevölkerung Roms zu versorgen. Die erste Aufgabe wurde verhältnismäßig schnell gelöst: Die Abschaffung der Ausbeutung durch eine Neuorganisation der Verwaltung, Steuervergünstigungen, Anreize zur Bautätigkeit (Tempel, Verwaltungsbauten, Straßen und Häfen) und Sicherung des Handels zur See und zu Lande ließen viele Länder des Ostens neu aufblühen, allen voran den volkreichen und kulturell weit entwickelten Westen der kleinasiatischen Halbinsel. Die zweite Aufgabe ist nie vollständig gelöst worden. Die Ausdehnung der Latifundien in Italien hatte viele Kleinbauern von ihren Ländereien verdrängt. Zusammen mit T a u -
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senden von Freigelassenen und aus anderen Provinzen zugewanderten Angehörigen der unteren Bevölkerungsschichten bildeten sie den Plebs der Stadt Rom. Caesar, Augustus, Claudius und andere Kaiser haben mit einigem Erfolg die Ansiedelung von verdrängten Kleinbauern und Veteranen auf dem Staatsland Italiens und in-römischen Kolonien der westlichen Provinzen durchgeführt. Daraus ergab sich in manchen Gegenden ein langsamer Übergang vom Latifundien- zum Parzellensystem, in dem Kleinbauern und Kleinpächter das Land bebauten. Aber einen großen Teil des Großgrundbesitzes Italiens wagten auch tatkräftige Kaiser nicht anzutasten; die damit verbundenen sozialen Mißstände haben sich in Süditalien bis heute erhalten. T r o t z solcher Siedlungsprogramme schien sich die arme Bevölkerung Roms aus unkontrollierbaren Quellen ständig zu erneuern. Die kostenlose Getreideversorgung dieser verarmten Massen blieb während der ganzen Kaiserzeit eine Belastung des Fiskus und gab Anlaß zu wiederholten Unruhen. Andere Großstädte des Reiches hatten ähnliche Probleme, jedoch erreichten sie nicht die gleichen Ausmaße. Eines der größten aus der späten Republik ererbten Übel war die Sklaverei (s.o.§2.3c). Durch die vielen Eroberungskriege Roms im 2. und 1. Jh. vChr waren Hunderttausende von Sklaven nach Italien importiert worden. Wenn die Kriege nicht genug Sklaven herbeischafften, war f ü r die Seeräuber der Menschenraub und Sklavenhandel eine willkommene und von Rom halb geduldete Erwerbsquelle. So erreichte die Sklaverei in der Zeit der späten Republik ihren H ö h e p u n k t . Die meisten Sklaven waren in den Latifundien, in der Industrie und in den Bergwerken beschäftigt. Die schlimme Lage der Latifundiensklaven war der Anlaß f ü r die Sklavenaufstände (s.o. §2. 2c). Daß es den Sklaven nicht schwer fiel, f ü r solche Aufstände geeignete Führer zu finden, lag auch daran, daß der Bildungsstand vieler Sklaven recht hoch war. Überhaupt war die durch die Sklaverei erzwungene Verpflanzung größerer Bevölkerungsteile aus Griechenland, Kleinasien und Syrien nach Italien und andere westliche Provinzen ein wichtiger Faktor in der Ausbreitung griechischer Kultur in der westlichen Reichshälfte. D a gerade gebildete und fachlich qualifizierte Sklaven oft freigelassen wurden - Sklaven römischer Bürger erhielten bei der Freilassung das römische Bürgerrecht - , trugen sie dazu bei, daß sich in Rom und Italien die griechisch gebildete Bürgerschicht verbreiterte. Nach Überwindung der Seeräuberplage und nach dem Ende der
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Eroberungskriege hörte der Nachschub von neuen Sklaven auf. Die vielen Freilassungen führten d a z u , daß die Zahl der Sklaven seit dem Beginn der Kaiserzeit ständig abnahm, bis sie in der frühen byzantinischen Zeit so gut wie bedeutungslos wurde. Tatsächlich sah schon Augustus in dem Überhandnehmen der Freilassungen eine ernste G e f a h r und suchte sie durch verschiedene Maßnahmen einzuschränken. Die wichtigsten Sklavenhalter waren die Kaiser selbst, die f ü r ihre landwirtschaftlichen und industriellen Großbetriebe auch weiterhin große H e e r e von Sklaven beschäftigten, obwohl sich im übrigen die Wirtschaftsformen zugunsten des Kleinbetriebs und der Parzellenwirtschaft verlagerten. Die Kaiser verwendeten auch Sklaven f ü r die Arbeit in vielen Zweigen der Staatsverwaltung, w o sich nach der Freilassung gute Aufstiegsmöglichkeiten zu verantwortlichen Beamtenstellen boten. Für eine staatliche Wohlfahrt gibt es in der Kaiserzeit außer der Getreideversorgung nur Ansätze. T r a j a n schuf ζ. B. eine K a s s e , aus der Waisen und Kinder armer Eltern Alimente zur Erziehung und Ausbildung erhalten konnten. Im ganzen blieb die Wohlfahrt den Gemeinden überlassen und war dort oft von der Privatinitiative reicher Wohltäter abhängig - nicht immer zu ihrem Schaden. Zur G e sundheitsversorgung waren in vielen Städten Arzte angestellt, aber eine ständige ärztliche Betreuung konnten sich nur Mitglieder der Oberschicht leisten. D e r Kaiser und die reichsten Leute hatten eigene Leibärzte. D a s V o l k wandte sich zur Krankenheilung an oft recht fragwürdige Wanderärzte, Wundertäter, Magier und Astrologen, auf die freilich auch Angehörige der Oberschicht und sogar die Kaiser selbst hereinfielen. Öffentliche Krankenhäuser gab es nicht. Die zahlreichen Asklepiosheiligtümer, die in der frühen Kaiserzeit eine neue Blüte erlebten, übten zwar als Privatheilstätten und Polikliniken eine wichtige Funktion aus, können aber nicht regulären Krankenhäusern gleichgestellt werden. N u r für das H e e r und gelegentlich f ü r größere Sklavenbetriebe gab es Lazarette. Die Altersversorgung war den Familien überlassen. Ansätze zu einer Altersversorgung finden sich in christlichen Kirchen im Witwen-Institut, nach dem ältere Witwen, die nicht wieder heiraten konnten, von der Gemeinde versorgt wurden. D i e Einrichtung von Armen-, Waisen- und Krankenhäusern geht auf die ersten christlichen Kaiser zurück und entspringt unmittelbar christlichem Einfluß.
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a) Die Hellenisierung der römischen Kultur Die Kultur der späten Republik und der Kaiserzeit befand sich in einem so tiefgreifenden Hellenisierungsprozeß, daß eigenständige römische Elemente der Kultur entweder verschwanden oder so verwandelt wurden, daß sie nur innerhalb einer fortdauernden Spannung zum griechischen Gegenüber behauptet werden konnten. Ohne das griechische Element läßt sich die Kultur der Kaiserzeit gerade in ihrer Hochblüte gar nicht verstehen. Griechische Einflüsse kamen auf verschiedenen Wegen nach Rom: 1. aus Großgriechenland, d. h. aus den hellenisierten Städten und griechischen Kolonien Siziliens und Unteritaliens, mit denen schon in frühen Jahrhunderten der römischen Republik mannigfaltige Beziehungen bestanden; 2. durch das unmittelbare Eindringen griechischer Bildung in die römische Oberschicht zur Zeit der Eroberung Griechenlands - dem entsprach eine deutlich sichtbare Begeisterung vieler Griechen für das römische Staatswesen; 3. durch die Mobilität der gesamten Bevölkerung der hellenisierten Provinzen des Ostens - zahlreiche Einwanderer kamen durch die Sklaverei, durch den Handel und durch den Dienst im römischen Heer in den römischen Westen. In der Sprache machte sich der Einfluß des Griechischen besonders stark bemerkbar. Alle gebildeten Römer waren schon zur Zeit
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der späten Republik zweisprachig und beherrschten das Griechische ebenso wie das Lateinische. Im 2.Jh. nChr scheint sich der griechische Einfluß nochmals verstärkt zu haben: der aus Spanien stammende römische Kaiser Markus Aurelius schrieb seine „Selbstbetrachtungen" auf Griechisch. Ohne Zweifel konnten sich während der Kaiserzeit Kaufleute und Soldaten aus den westlichen Provinzen ebenso wie die aus dem Osten auf Griechisch verständigen. D a die Römer nicht nur in der Philosophie, sondern auch auf vielen Gebieten der Wissenschaft und Technik von den Griechen lernten, wurde der Wortschatz der lateinischen Sprache in allen fachlichen Sprachbereichen stark vom Griechischen beeinflußt. Abhandlungen über Kriegsmaschinen las man ebenso wie philosophische Schriften auf Griechisch. Römische Dichtung, Geschichtsschreibung, Philosophie und Rhetorik sind ohne die griechischen Vorbilder gar nicht denkbar. Aus dem Griechischen stammten nicht nur die Formen und die Methode, sondern vielfach auch die Themen und Gegenstände. Dabei handelt es sich nicht einfach um eine einmalige Übernahme griechischer Vorbilder, an die sich dann eine eigenständige römische Entwicklung anschloß. Vielmehr entstand eine kulturelle Zweipoligkeit. Griechische Literatur und Philosophie blieben ja weiter bestehen, wurden vielfach auch noch besonders gefördert, so daß sich ihr Einfluß wiederholt erneuerte. Auch spätere römische Schriftsteller und Philosophen konnten ohne weiteres auf ältere griechische Vorbilder unmittelbar zurückgreifen, die ihnen oft wichtiger waren als die inzwischen im lateinischen Sprachbereich bereits vorhandenen Vorbilder. In der bildenden Kunst bedeutete die augusteische Renaissance zugleich eine Erneuerung des griechischen Einflusses. In der Architektur herrschte seit dieser Zeit die Nachahmung griechischer V o r bilder vor. Rom selbst wurde in seinen öffentlichen Bauten zu einer hellenistischen Stadt. Freilich ist im Bauverfahren und in der Zweckbestimmung viel Römisches sichtbar. Die römischen Baumeister ersetzten die massiven Natursteinkonstruktionen der Griechen durch Wände aus Bruchsteinen oder Backsteinen mit Mörtel, die mit Marmor oder Putz verkleidet wurden. Die wichtigste römische Erneuerung ist die Einführung des Gewölbebogens, der es ermöglichte, auch große Innenräume ohne tragende Zwischensäulen zu überdachen. Gewölbe findet man vor allem bei einer Baulichkeit, die ihrer Zweckbestimmung nach typisch römisch ist, nämlich beim Bad, daß sich mit seinen großen überwölbten Hallen auch im
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Osten des Reiches durchsetzte. Ebenso ist das römische Amphitheater ohne den gewölbten Unterbau für die sich hoch erhebenden Sitzreihen nicht denkbar. In der byzantinischen Zeit hat dann das Christentum beim Kirchenbau (Basilika) in der Konstruktion der Decken und Kuppeln das Gewölbe übernommen und weiter entwikkelt. Die Kunst des gewölbten Bogens ist auch die Grundlage der für das römische Reich so typischen und oft noch erhaltenen Viadukte, Brücken und Aquädukte. In vielen Fällen baute man jedoch in Material und Konstruktion einfach ältere griechische Vorbilder nach. Die oft mit kaiserlichen Mitteln neu errichteten griechischen Tempel und Heiligtümer sind nach klassischen Vorbildern mit behauenen Quadersteinen und flachen Decken ausgeführt. Im Städtebau zeigt sich der römische Einfluß am deutlichsten in der Umwandlung der zur Stadt hin geöffneten griechischen Agora zu einem abgeschlossenen Platz, dem römischen Forum. Vor allem in den von den Römern gegründeten Städten laufen die Straßen nicht mehr auf einen zentral gelegenen Platz zu. Die Anlage folgt vielmehr dem Schema des römischen Heerlagers (castrum), in dem die Straßen in streng axialem System einer zentralen Hauptstraße zugeordnet sind, die auch die Anlage der wichtigsten öffentlichen Gebäude bestimmt. In der Bildhauerei und Malerei folgten die Römer den viel bewunderten griechischen Vorbildern. Berühmte klassische Bildwerke wurden immer wieder kopiert. Aber die schon im Hellenismus spürbare Tendenz zum Realismus verstärkte sich in der römischen Kaiserzeit und führte oft fast bis ins Groteske. Nur gelegentlich finden sich, etwa bei Darstellungen der Kaiser auf Münzbildern, idealisierende Züge. Die römische Malerei ist voll von Motiven aus der griechischen Mythologie, die auch für die beliebten Fußbodenmosaike ständig verwendet wurden. Im Vergleich mit griechischen Vorbildern fällt die größere Künstlichkeit in den Ornamenten und Dekorationen auf. Landschaftsbilder waren ebenso beliebt wie Architekturmalereien. Bemerkenswert ist das häufige Auftauchen des Scheinfensters, das den Blick aus einem Fenster vortäuschen soll. Während in der Zeit des Augustus noch eine klassizistische Strenge der Formen vorherrscht, steht am Ende der julisch-claudischen Periode eine spielerische Auflösung, die dann wiederum einer erneuerten Besinnung auf die griechischen Vorbilder Platz macht.
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b) Die Dichtung Die Anfänge der lateinischen Literatur sind jeweils mit der entsprechenden griechischen Literatur verbunden. Auf dem Gebiet der Dichtung hat sich schon sehr früh die lateinische Sprache durchgesetzt, während die Gegenstände und Formen weitgehend aus dem Griechischen entlehnt wurden. Griechische Tragödien und Komödien wurden zunächst in lateinischen Übersetzungen dargeboten und verbreitet (s.o. § 3 . 4 b ) . Unter ihrem Einfluß schrieb Ennius (239-169 vChr), der aus Süditalien stammte und nach seiner Übersiedelung nach Rom dem Kreise des gebildeten Scipio Aemilianus (s.o. § 6.1c) angehörte, zahlreiche Tragödien und Komödien; die Hälfte seiner Tragödien lehnt sich an Euripides an (s.o.§3.4b). In Hexametern verfaßte er ein Epos über die römische Geschichte, für das er sich aus Homers Epen die Vorbilder nahm. Schon zuvor hatte Plautus (gestorben 184vChr) über hundert K o mödien in lateinischer Sprache geschrieben, die sich eng an W e r k e der Neuen Komödie Griechenlands anschlossen, sowohl in der Form als auch in der Thematik, wenngleich sie auch bodenständige römische Züge enthalten. Der aus Lybien stammende Freigelassene Terentius verfaßte seine zwischen 166 und 160vChr entstandenen Komödien als lateinische Nachdichtungen der berühmten K o m ö dien Menanders (s.o. § 3.4b). Die Situation unmittelbar vor dem Beginn der großen Blüte der lateinischen Dichtung zur Zeit des Augustus illustriert das sechs Bücher umfassende große Lehrgedicht des Lucretius (97-55 vChr) „ Ü b e r die N a t u r " , das fast vollständig erhalten ist. In diesem W e r k sind nicht nur die Formen griechischer Dichtkunst ganz in der lateinischen Sprache heimisch geworden, auch die Gedanken der epikureischen Philosophie (s.o. §4.7c), deren Anhänger Lucretius war, sind hier in das römische Denken eingedrungen. Die Entdeckung eines neuen Lebenshorizontes, der f ü r die Erweckung des augusteischen Zeitalters charakteristisch wurde, begann in der Dichtung mit den „ M o d e r n e n " (den Neotikern) noch vor dem Ende der Republik. Die meisten Werke dieses Kreises sind verloren; aber viele Gedichte Catulls (ca. 84-47vChr), der zu diesen „ M o d e r n e n " gehörte, sind erhalten. In der Form lehnen sie sich an die alexandrinische Dichtung des 3.Jh.vChr an (s.o. §3.4b), im Gehalt gehen sie weit über diese griechischen Vorbilder hinaus. Es geht ihnen nicht mehr um die kunstvolle Wiedergabe beliebiger
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Bereiche menschlichen Wissens in poetischer F o r m , sondern um den Ausdruck der menschlichen Sehnsucht und Verzweiflung in den widrigen Erfahrungen der Gegenwart. Freundschaft und H a ß , Liebe und Obszönität sind dabei so stark empfunden, daß die B o t schaft unüberhörbar ist: eine neue W e l t wird gefordert, in der E r l ö sung und menschliche Erfüllung Wirklichkeit werden können. Erst H o r a z und Vergil suchten in ihrem dichterischen W e r k die H o r i zonte dieser neuen W e l t auch positiv zu erfassen und ihr W e r d e n , das sich in den Ereignissen der frühen J a h r e des Augustus abzuzeichnen begann, darzustellen. Horaz
( 6 5 - 8 vChr) war der S o h n
eines Freigelassenen, hatte zunächst auf der Seite der C a e s a r m ö r der gekämpft und bekehrte sich erst nach seiner Aufnahme in den Kreis des Augustus-Freundes Maecenas von einem empörten Kritiker der Verhältnisse zu einem V e r k ü n d e r eines neuen Zeitalters. Vielfältige theologische, mythologische und
kulturgeschichtliche
B e z ü g e verwendet er in seinen Satiren, O d e n , lyrischen Gedichten und Kunstbriefen dazu, die Legitimation der neuen Zeit und ihres Herrschers sowie die Möglichkeiten moralischen Handelns und künstlerischen Schaffens auszumessen. M a n hat ihm vorgeworfen, daß er sich in die Propaganda des Augustus einspannen ließ; aber man wird ihm eher gerecht, wenn man in seinem W e r k den V e r such anerkennt, die Dimensionen aufzuzeigen, in denen die Ereignisse der G e g e n w a r t als Beginn einer Zeit der Gerechtigkeit und des Friedens verstanden werden können. Am tiefsinnigsten Vergil
(70-19vChr)
hat
den eschatologischen C h a r a k t e r des politi-
schen Geschehens zum Ausdruck gebracht. Vergil w a r der S o h n einfacher, aber wohlhabender Landleute aus dem Norden Italiens, hatte eine gründliche rhetorische und philosophische Bildung erfahren, war jedoch nie in die politische Ämterlaufbahn eingetreten. D i e Gunst des Maecenas und des Augustus ermöglichten es ihm, sich in M u ß e ganz seinem dichterischen W e r k zu widmen. In den „ B u c o l i c a " ( E k l o g e n ) greift Vergil die Gattung des hellenistischen Hirtengedichtes auf (s.o. § 3 . 4 b ) und verbindet sie mit mythischen Motiven, unter denen das eschatologische U r z e i t - E n d z e i t S c h e m a stark hervortritt. Diese schon um 4 0 v C h r entstandenen Gedichte sind von einer prophetisch überhöhten Sicht der Gegenwart getragen, in der sich die H o f f n u n g eindeutig auf eine kommende E r lösergestalt richtet. D i e Christen haben sf>äter die Vision von der Geburt des Kindes in der berühmten 4. E k l o g e auf die Geburt Jesu bezogen. Vergils „ G e o r g i c a " entsprechen der Gattung des helleni-
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stischen Lehrgedichts: in dichterischer Darstellung erscheinen die verschiedenen Disziplinen der Landwirtschaft; das Material stammt aus der landwirtschaftlichen Fachliteratur. Gleichzeitig rückt Vergil aber die landwirtschaftliche Praxis in den größeren Rahmen einer Gesamtsicht der Welt, der N a t u r und ihres U r sprungs. In diesem W e r k , das Vergil nach mehrjähriger Arbeit im Jahre 29vChr abschloß und aus dem er im gleichen Jahre einzelne Teile Augustus persönlich vortrug, kommt seine Sicht von der göttlichen Sendung des Herrschers schon deutlicher zum Ausdruck. Vergils großes Spätwerk ist die „Aeneis", das Meisterwerk der lateinischen Epik. Hier wird die Zerstörung Trojas als negative Folie mit der sich erfüllenden eschatologischen Heilszeit des Augustus verbunden. Vergil k n ü p f t in der „Aeneis" an die ältere griechische Homer-Allegorese an, setzt diese allerdings nicht unmittelbar fort, sondern schafft den epischen Stoff neu, so daß in der Darstellung der vorgeschichtlichen Ereignisse die Bedeutung der Geschichte Roms und der heilvollen Gegenwart einsichtig wird. Hier wird in der epischen Wiederholung der Vorzeit die Gegenwart der Heilszeit verkündigt. Die auf H o r a z und Vergil folgenden Dichter dieser Zeit gehören bereits einer neuen Generation an. Die eschatologische Spannung ist erloschen; der Preis der neuen O r d n u n g wird zu einer mehr oder weniger gern erfüllten Pflicht. Properz (ca. 50-15vChr) und der fast gleichaltrige Tibull sind Elegiker, die sich hauptsächlich mit dem T h e m a der Liebe befassen, wobei sich persönliches Erleben gelegentlich mit Ausblicken auf die Gegenwart verbindet. Ovid ( 4 3 v C h r - 1 7 n C h r ) hatte eine begonnene politische Laufbahn bald abgebrochen und zu Anfang seines dichterischen Schaffens ebenfalls Liebeselegien verfaßt. Aber in seiner späteren „Ars amatoria" schuf er ein Lehrgedicht das die Liebe als Gegenstand der Elegie objektiviert und zu einer lehrbaren Kunst macht. In seinen „ M e tamorphosen" rückt die Frage des Zusammenhangs allgemein menschlichen Erlebens mit einer Gesamtschau von Vergangenheit und Gegenwart ins Zentrum. Die Weltgeschichte erscheint in einzelnen chronologisch geordneten Bildern, in denen er eine große Vielfalt traditionellen griechischen und lateinischen Materials heranzieht. Am Ende dieser Schau steht zwar die Zeit des Augustus, aber Ovid hat bewußt auf eine heroische oder mythologische Orientierung verzichtet und damit der Gegenwart die eschatologische Perspektive genommen. Nach seiner Verbannung im Jahre
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8 n C h r (die Gründe d a f ü r sind nicht klar) schrieb Ovid Verbannungsgedichte, in denen nicht nur der Schmerz über die T r e n n u n g von Rom, sondern auch eine Sicht der göttlichen Sendung des Kaisers hervortritt, die oft wie die Wiedergabe eines traditionellen Hofzeremoniells wirkt. Hellenistische Formulierungen der Kaiserverehrung halten hier erstmals ihren Einzug in die römische Literatur, obgleich Ovid selbst in Augustus immer noch einen Menschen und nicht einen Gott sah. Z u r Zeit Neros erlebte die lateinische Dichtung eine Nachblüte, in der sich jedoch zeigte, daß keine inneren Bande zur Welt des politischen Gegenwartsgeschehens mehr bestanden. Der bedeutendste Dichter dieser Zeit ist Lukan, ein N e f f e Senecas; er wurde schon im Alter von 26 Jahren von N e r o hingerichtet (s.o.§6. 2a). Erhalten ist von ihm nur ein unvollständiges Epos über den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius, die „Pharsalia". D e m republikanisch eingestellten Dichter werden die beiden Hauptfiguren seines Epos zu Anti-Helden, so daß man sein W e r k als ein im bewußten Gegensatz zu Vergils „Aeneis" geschriebenes Anti-Epos ansehen kann. Eine ganz ähnliche Grundhaltung findet sich bei dem etwas älteren Zeitgenossen Petronius, dem von N e r o geschätzten Berater seiner Lustbarkeiten. Petronius stammte wie Lukan aus dem römischen Adel, auch er mußte schließlich auf Neros Geheiß sich den Freitod geben (66nChr). Petronius' nur fragmentisch erhaltenes „Satiricon" ist eine Parodie des Liebesromans. Die Vorbilder stammen aus dem griechischen Roman (s.o. § 3 . 4 c ) , aber sie werden ins Vulgäre und Perverse verkehrt, das damit an die Stelle des Erhabenen tritt. Die satirische Ausrichtung der Dichtung, zeitkritisch und moralisierend in ihrer Absicht, tritt auch bei den späteren Dichtern der Kaiserzeit hervor. Martial (ca. 40-103 nChr) schrieb ausschließlich Epigramme (sein längstes Gedicht hat 51 Zeilen), in denen er Geburtstage mit festlichen Worten bedenkt, Tote beweint, seine Zeitgenossen mit Witz und Geist angreift (durchweg verwendet er Pseudonyme) und seiner Zeit bei allen möglichen Anlässen den Spiegel kritischer Betrachtung vorhält. Juvenal (ca. 70-150) ist der letzte der großen Satirendichter Roms. Schärfer als seine Vorgänger wendet er sich gegen die Heuchelei und den Sittenverfall vor allem der römischen Oberschicht. Seine scharfe Beobachtungsgabe machen die erhaltenen Satiren zu einer wichtigen Quelle des Studiums der Gesellschaft seiner Zeit.
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c) Cicero und Varro Die beiden bedeutendsten Gestalten, die das Wesen der Verschmelzung griechischer und römischer Tradition und Kultur bestimmen sollten, waren Cicero und Varro. Beide gehören noch der Zeit der ausgehenden Republik an, beide haben wichtige Rollen als Politiker gespielt und durch ihre umfangreiche Schriftstellerei für viele Gebiete des kulturellen Lebens die in der Kaiserzeit und darüber hinaus gültigen Vorbilder geschaffen. Cicero (106-43 vChr) hatte zunächst in Rom, dann auch in Athen, Smyrna und Rhodos ausführlich die griechische Rhetorik und Philosophie studiert, war dann als Jurist und Prozeßredner tätig und bekleidete verschiedene Staatsämter. Er konnte seine gründliche Bildung in der griechischen philosophischen Tradition so mit seiner Kenntnis der römischen Senatspolitik, Rechtssprechung und Verwaltung verbinden. Seine Teilnahme an den Ereignissen der Spätzeit der Republik als aktiver Politiker gab ihm Gelegenheit, seine rhetorische und schriftstellerische Tätigkeit in unmittelbarem Kontakt mit den Geschehnissen jener kritischen Zeit zur Vollendung zu bringen. Die öffentliche Rede war für Cicero das wichtigste Mittel politischer Einflußnahme, ein Vorrecht des zur Lenkung des Staates bestimmten Adels, von dem die Führer der Republik schon immer Gebrauch gemacht hatten. Zur Zeit Ciceros war die Ausbildung in der Rhetorik die wichtigste Vorbereitung auf ein öffentliches Amt. Griechische Lehrer der Rhetorik wirkten schon seit langem in Rom; wohlhabendere Familien schickten ihre Söhne zum Studium der Rhetorik nach Griechenland. War auf diese Weise manches Griechische in die römische Rhetorik eingedrungen, so hat Cicero doch die Mängel dieses Ausbildungsbetriebes klar gesehen: man borgte sich von der griechischen Tradition all das aus, was sich in der Praxis verwenden ließ und Erfolg versprach. Halbbildung und Effekthascherei machten sich breit. Cicero verlangte dagegen vom Redner eine gründliche Allgemeinbildung, vor allem in der Philosophie. Er selbst hatte die Philosophen, Schriftsteller und Redner der klassischen Zeit (Plato, Aristoteles, Xenophon, Demosthenes) intensiv studiert. Seine außergewöhnliche Sprachbegabung ermöglichte es ihm, das aus der griechischen Literatur Erlernte meisterhaft in der lateinischen Sprache wiederzugeben und dadurch das Lateinische zu einer Sprache der Literatur und Philosophie umzuformen. Gleichzeitig erscheint in seinen Wer-
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ken ein neuer Ernst, der sich von der Künstlichkeit der späthellenistischen Rhetorik wohltuend abhebt und seinem Charakter nach durch und durch römisch ist. Cicero stellte echte Sachkenntnis an die Stelle des Prahlens mit spitzfindigem Spezialwissen, verzichtete auf rhetorische Kunstgriffe und wollte lieber durch die Klarheit der Darstellung überzeugen; er wollte nicht blenden, sondern die Wahrheit aufdecken. Dieses Ideal hat er in seinen Reden zu verwirklichen gesucht, und seine publizierten Reden blieben für spätere Generationen Maßstab und Beispiel. Als Philosoph ist Cicero von der Entwicklung der philosophischen Schulen in der späthellenistischen Zeit abhängig, in der die Skepsis zu einer Nivellierung der Unterschiede der Schulmeinungen geführt und die Ansicht vertieft hatte, daß die Glückseligkeit nur in der Loslösung von der bestehenden Wirklichkeit und ihrer Deutung zu finden sei (s.o. §4. 7a-d). Sowohl die wissenschaftliche als auch die dogmatische Erkenntnis waren fragwürdig geworden und die auf Wahrscheinlichkeit gegründete Annahme schien als Grundlage des Handelns völlig ausreichend. Das führte zum Eklektizismus, nämlich zu dem Zugeständnis, daß der Einzelne keineswegs genötigt ist, ein ganzes System zu durchdenken und sich ihm zu verpflichten. Vielmehr genügt es, nach eigenem Urteil und entsprechend der Erfahrung und Brauchbarkeit überlieferte Ansichten und Erkenntnisse der philosophischen Schulen zu akzeptieren oder zu verwerfen. Auf dieser Grundlage hat Cicero nicht nur die gültige lateinische Philosophiesprache geschaffen, sondern auch der römischen Welt die Legitimation zur Aneignung der griechischen Philosophie gegeben und ihr den Weg dazu gewiesen. Seiner eigenen Überzeugung nach vertrat Cicero den Skeptizismus, den er von den Vertretern der späteren Akademie gelernt hatte (sein Lehrer war der einflußreiche Akademiker Antiochus von Askalon). Die sich aus der Prüfung der Alternativen ergebende Wahrscheinlichkeit reicht für ihn aus, im rechten und sittlichen Handeln seiner selbst sicher zu sein. Der Maßstab für ein solches Vergleichen und Auswählen ist letztlich das eigene Bewußtsein, dem von Natur die ethischen Normen und das Rechtsempfinden eingegeben sind. In jedem Falle hat das Handeln einen höheren Wert als das Wissen. Daher ist die Ethik der Hauptgegenstand der Philosophie Ciceros. Auf dem Gebiet der Ethik verwirft er eindeutig nur die Epikureer und neigt selbst der Stoa zu, aber mehr einer popularphilosophischen, praktisch anwendbaren stoischen Ethik. Ein naturgemäßes
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Leben ist für ihn nicht am streng philosophisch definierten Naturbegriff der Stoa ausgerichtet, sondern an dem, was im allgemeinen Verständnis als „natürlich" gelten kann. Naturgesetz ist für ihn das, was der göttlichen Ordnung der Welt, einer vernünftigen Gesetzgebung und dem gesunden moralischen Empfinden entspricht. Letzte Instanz der Entscheidung über ein naturgemäßes Leben ist also wiederum das Urteilsvermögen, das der menschlichen Seele eingegeben ist, an deren göttlicher Herkunft Cicero nicht zweifelt. Ebenso wichtig ist als Kriterium aber auch die politische Brauchbarkeit. Daß die Konsequenzen einer strengen stoischen Ethik zur Abwendung vom politischen Leben führen können, läßt Cicero das ganze ethische System der Stoiker verdächtig erscheinen. Der Eklektizismus, durch den Ciceros philosophisches Denken charakterisiert ist, macht deutlich, daß er selbst kein philosophisches System schaffen wollte. Aber gerade deshalb ist es ihm auf Grund seines reichen Wissens, seiner umfassenden Studien und seiner umfangreichen Schriftstellerei gelungen, der römischen Welt die intensive Beschäftigung mit der Philosophie der Griechen als nützlich und brauchbar hinzustellen und so den Weg zu einer Interpretatio Romana zu weisen. Hatte Cicero in der Rhetorik und der Philosophie kommenden Generationen einen Maßstab für die Romanisierung des griechischen Erbes gegeben, so hat sein etwas älterer Zeitgenosse Varro (116-27 vChr) im gleichen Sinne auf dem Gebiet der Kulturgeschichte und der enzyklopädischen Wissenschaften gewirkt. Philosophisch steht Varro dem Cicero nahe. Auch er vertritt einen Eklektizismus, durch den die verschiedenen philosophischen Schulmeinungen nivelliert werden, und betont den Vorrang der Tugend vor allen anderen Gütern. Das Hauptverdienst Varros besteht jedoch darin, daß er eine Reihe von wissenschaftlichen Fachgebieten glänzend beherrschte und so imstande war, dem gesamten überkommenen Wissenserbe der griechischen Welt seine römische Gestalt zu geben. Unter seinen Werken, die mehr als fünfzig Titel umfassen (nur ein geringer Bruchteil ist davon erhalten), finden sich Abhandlungen zur Sprachwissenschaft und Grammatik (25 Bücher zur lateinischen Sprachforschung), zur Literaturforschung, Landwirtschaftslehre, Zahlentheorie, Unterrichtswesen, Rhetorik, Zivilrecht, Philosophie, Geschichte und Biographie. Sein enzyklopädisches Hauptwerk ist eine Gesamtdarstellung der Kultur-, Religions· und Verfassungsgeschichte des römischen Volkes in 41 Bü-
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ehern mit einer Epitome in 9 Büchern, „Antiquitates rerum humanarum et divinarum". Für die ganze römische Welt wurde dieses Werk die grundlegende kulturgeschichtliche und theologische Enzyklopädie, die noch auf Augustin nachhaltig wirkte. Varros Universalität verpflichtete die römische Welt, auf alle Gebiete der menschlichen Erfahrung die von den Griechen übernommenen Maßstäbe der wissenschaftlichen und philosophischen Durchdringung anzuwenden. d) Die Geschichtsschreibung Die älteste römische Geschichtsschreibung hatte sich noch der griechischen Sprache bedient und war weiter nichts als eine Nachahmung der zu jener Zeit meist chronistischen griechischen Historiographie, die sich ja auch gern mit der römischen Geschichte befaßte (s.o. §3.4c). Es war der ältere Cato (234-149vChr), der zum erstenmal in lateinischer Sprache die Geschichte Roms von seinen Anfängen an darstellte. Cato war Politiker, und sein Interesse an der Geschichte war dadurch geprägt. Uber ein Jahrhundert später war es wiederum ein Politiker, der für die Blüte der römischen Geschichtsschreibung im augusteischen Zeitalter in Anknüpfung an klassische griechische Vorgänger das Vorbild schuf: Caesar. Seine Kommentare zum gallischen Krieg und zum Bürgerkrieg sind Geschichtswerke, die auf jegliches Beiwerk verzichten und in meisterhafter Beherrschung der lateinischen Prosasprache geschrieben sind. Sie verraten eine rhetorische Schulung, für die Knappheit und Prägnanz die wichtigsten Mittel der Uberzeugungskraft sind denn überzeugen will Caesar ja durchaus mit diesen Werken; darin besteht gerade ihre Wirkung, daß sie nicht chronistische Geschichtsschreibung sind, sondern die objektive Darstellung als Mittel politischer Propaganda verwenden. Neben Caesar steht als Historiker sein Zeitgenosse und Parteigänger Sallust (86-34vChr). Außer monographischen Geschichtswerken (zum jugurthinischen Krieg und zum catilinarischen Krieg) verfaßte er eine Darstellung der Geschichte der ersten Hälfte seines Jahrhunderts, die in ihren einzelnen Abschnitten jeweils eine überragende Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellte. Diese Darstellungsweise ist ein wichtiges Stilmittel: es geht Sallust nicht nur um die Mitteilung der Geschehnisse in der Vergangenheit des Staates und des Volkes, sondern um ein Urteil über Erfolg und Versagen, Recht und Unrecht geschichtlichen Handelns. In den Werken Caesars und Sallusts wird die
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chronistische Historiographie überwunden und an ihre Stelle eine Geschichtsbetrachtung gesetzt, die aus dem politischen Engagement heraus die Gegenwart im Lichte der vergangenen Geschichte zu verstehen sucht und sich nicht davor scheut, Zeitgeschichte zu betreiben. Das einzige größere W e r k der lateinischen Geschichtsschreibung aus der Zeit der augusteischen Renaissance, das wenigstens teilweise erhalten ist, ist die römische Geschichte „Ab urbe condit a " des Livius ( 5 9 v C h r - 1 7 n C h r ) . Wie viele Dichter seiner Zeit (Vergil) stammte er aus Norditalien. Daß Livius nicht gleichzeitig Politiker war, ist ein neues Phänomen in der lateinischen Geschichtsschreibung. Livius' W e r k umfaßte ursprünglich 142 Bücher, von denen etwa ein Viertel erhalten ist, dazu Epitomen und Inhaltsangaben der nicht erhaltenen Bücher. N u r etwa die Hälfte seines Werkes befaßte sich mit der Zeit von der Gründung der Stadt Rom bis zum zweiten Jahrhundert; die zweite Hälfte ist dem römischen Bürgerkrieg von der Zeit der Gracchen bis zu Augustus gewidmet. In der Anlage stellt es eine Erneuerung der Tradition der älteren römischen Annalisten dar, aber in Sprache und Stil knüpfte Livius an Cicero an und erreichte ein hohes Niveau der historischen Erzählungskunst. Livius' Ziel war es, die alte Geschichte Roms als Vorbild f ü r die Erneuerung unter Augustus nach dem Niedergang des Bürgerkrieges darzustellen. Insoweit zeigt sich auch hier das politische Interesse, und Livius stand damit ganz im Einklang mit Augustus, der ihn förderte. Sonst ist aus der vielfältigen historischen Schriftstellerei dieser Zeit nichts erhalten (über die nicht-römischen Historiker s.o. §3.4c). Auch die Universalgeschichte des Pompeius Trogus, eines aus Gallien stammenden Zeitgenossen des Livius, ist verloren. Aus den erhaltenen Inhaltsangaben ergibt sich, daß in der Geschichte anderer Völker alle Linien so gezeichnet sind, daß sie auf die Verwirklichung der römischen Herrschaft zulaufen. Die auf Augustus folgenden Jahrzehnte haben keine bedeutenden Historiker hervorgebracht. Vielleicht kann man die Alexandergeschichte des Curtius Rufus in das Ende der Zeit des julisch-claudischen Hauses setzen. In diesem W e r k wird deutlich, wie stark die Bezugnahme auf Alexander den Großen im Verständnis der eigenen Zeit fortlebte. Erst gegen Ende des l . J h . n C h r zeichnet sich eine Erneuerung der Geschichtsschreibung ab. Jedoch sind daran nicht-römische Autoren ebenso beteiligt wie lateinische Schriftsteller. Griechische
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und römische Historiographie gehören jetzt ein und demselben Kulturbereich an. Wiederum erwuchs diese Neubelebung dem politischen Engagement und dem apologetischen Interesse. Unter den vielen Nichtgriechen, die in der hellenistischen und römischen Zeit historisches und ethnographisches Material ihrer eigenen Kultur in griechischer Sprache veröffentlichten (Berossos, Manetho, Fabius Pictor, u.a.), kommt dem jüdischen Historiker Flavius Josephus (geboren 37/38 nChr) ein besonderer Rang zu. Josephus stammte aus dem priesterlichen Hochadel Jerusalems. Er konnte sich im Blick auf die politische Rolle, die er gespielt hatte, zwar nicht mit Männern wie Polybius oder Caesar messen, hatte aber doch in den wichtigen Ereignissen seiner Zeit und seines Volkes eine nicht gerade subalterne Rolle gespielt. Bereits 6 4 n C h r hielt er sich zu politischen Verhandlungen in Rom auf. Nach seiner Rückkehr in die Heimat wurde er 6 6 - 6 7 nChr einer der Generale des aufständischen jüdischen Heeres, dann Gefangener der Römer. Freigelassen, als Vespasian, dem er die Kaiserkrone prophezeit hatte, Kaiser geworden war, blieb er als Freund und Berater des Titus im römischen Lager, bis der Krieg zu Ende war. Später lebte er in Rom, wo er kurz nach der Jahrhundertwende starb. In seinem W e r k über den „Jüdischen Krieg" bemüht er sich, die Hintergründe und Ursachen des Krieges aufzuzeigen: das W e r k beginnt mit der Darstellung des Konfliktes der Juden mit dem syrischen König Antiochus IV. Epiphanes und beschäftigt sich eingehend mit den Schwierigkeiten, die das Verhalten der verschiedenen römischen Prokuratoren bis zum Ausbruch des Krieges verursachte. Der größte Teil des „Jüdischen Krieges" schildert die Ereignisse, an denen Josephus selber teilgenommen hatte und die in seine eigene Lebenszeit fallen. Das zweite große Geschichtswerk des Josephus sind seine „Jüdischen Altertümer", eine Art Universalgeschichte des jüdischen Volkes von den Anfängen bis zur Gegenwart. In diesem Werk zeigt sich die Schwäche seiner Geschichtsschreibung, die er im übrigen mit anderen Historikern seiner Zeit teilt: eine unkritische Quellenbenutzung (was nicht allzusehr verwundern sollte, denn für die Frühzeit war seine ausschließliche Quelle das Alte Testament), wodurch neben guten und wertvollen Auszügen aus zuverlässigen Quellen und Urkunden auch viel Wunderbares und Paradoxographisches in seine Geschichtsdarstellung hineingeriet. Politische und kulturpolitische Apologetik waren der Anlaß für die geschichtlichen Darstellungen des Josephus. Damit spiegelt er die Einstellung
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seiner Zeit wider. Das Versagen des Prinzipats des l . J h . n C h r wird mit der Größe und Würde der älteren Geschichte verglichen, wobei gerade auch die Anziehungskraft der Sittlichkeit eines barbarischen Volkes eine große Rolle spielt. In dieser Beziehung ist die Nähe des Josephus zu seinem etwas jüngeren Zeitgenossen Tacitus (geboren ca. 55nChr) bemerkenswert. Tacitus, der letzte der großen lateinischen Historiker der Kaiserzeit, römischer Senator, Konsul und Prokonsul, gehört zur Elite der politisch erfahrenen römischen Nobilität und mit seinem geschliffenen lateinischen Prosastil kann sich das Griechische des Josephus nicht messen. Aber die Einsicht in das Versagen der Institutionen der imperialen Verfassung des römischen Weltreiches sowie das Zugeständnis seiner Notwendigkeit teilt er mit Josephus. Aber während Josephus Fehler und Mißwirtschaft der römischen Verwaltung Palästinas in den Mittelpunkt seiner Kritik stellt, geißelt Tacitus die gesamte Kaisergeschichte des 1. Jahrhunderts, die in dem Unglück der tyrannischen Herrschaft Domitians gipfelt. Dieser Zeit sind die beiden großen Hauptwerke gewidmet (beide nur unvollständig erhalten), die „Historien" und die „Annalen". Was Tacitus schafft, ist Zeitgeschichte, aus politischem Engagement und sittlicher Entrüstung heraus geschrieben. Doch greift diese Geschichtsschreibung in das Geschehen der Gegenwart nicht mehr unmittelbar ein, ist also mehr Apologetik als Propaganda. Entsprechend bezieht sie ihre Ideale und Maßstäbe aus der Vergangenheit, nämlich aus den Vorstellungen des senatorischen Adels der Republik. Der Widerspruch dieser Ideale der Vergangenheit zu den Geschehnissen und Erfahrungen der Zeit des Imperiums gibt der geschichtlichen Darstellung des Tacitus ihr charakteristisch pessimistisches Gepräge. Über Zweck und Absicht eines kleineren Werkes, der „Germania", besteht keine Klarheit. Vielleicht ist diese Darstellung eines fremden Volkes eine Parallele zur Kritik der jüngsten Geschichte in den Hauptwerken: dort wird Kritik auf Grund der Ideale der Vergangenheit geführt; in der „Germania" werden diese Ideale in der Beschreibung eines barbarischen Volkes dargestellt. Im 2. und 3.Jh. nChr erlebte die griechische Geschichtsschreibung noch eine Nachblüte in den Werken der beiden Bithynier Arrian und Dio Cassius. Arrian (ca. 90-170 nChr), Schüler Epiktets, der auch die Nachschrift der Lehrvorträge Epiktets veröffentlichte, stammte aus Nikomedien in Bithynien und war Politiker und Ver-
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waltungsbeamter im römischen Dienst unter Hadrian ( 1 3 0 n C h r Suffektkonsul). E r verfaßte Monographien und ethnographische Darstellungen, darunter auch solche, in denen er seine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen verwenden konnte. Berühmt wurde Arrian als Alexanderhistoriker. Im Widerspruch zu dem damals vorherrschenden Alexanderbild des Alexanderromans beschränkte sich Arrian auf die W e r k e des Ptolemaios und des Aristobulos, der ältesten Alexanderhistoriker, die beide an den Feldzügen Alexanders teilgenommen hatten. Diese Quellen mußten Arrian, der selbst Feldherr und Staatsmann war, als besonders vertrauenswürdig erscheinen; sein kritisches Urteil sowie sein an X e n o p h o n geschulter Stil der Darstellung haben ihm bis zum heutigen T a g den R u f gesichert, das zuverlässigste Material über Alexander den Großen aufbewahrt zu haben. Cassius Dio (2. Hälfte des 2 . J h . bis Anfang des 3. J h . nChr) aus Nicea in Bithynien bekleidete eine Reihe von höheren Staatsämtern und war 2 2 9 n C h r als Consul Ordinarius Kollege des Kaisers. Seine römische Geschichte in 80 Büchern, die von den Anfängen bis in seine eigene Zeit reichte (vollständig erhalten sind nur die Bücher über die frühe Kaiserzeit), ist auf Grund langjähriger Quellen- und Materialsammlungen verfaßt. Es wurde die maßgebliche Darstellung der römischen Geschichte für die griechisch sprechende Welt der folgenden Jahrhunderte. W e r t und Zuverlässigkeit dieses Werkes, das zum großen Teil von lateinischen Annalisten abhängig ist und, von vielen langen Reden durchsetzt, erst bei der Behandlung der eigenen Zeit ein größeres Maß an selbständigem Urteil zeigt, ist umstritten. Doch beweist Cassius D i o , daß auch noch in der späteren Kaiserzeit ein politisch engagierter Historiker in einem großangelegten Geschichtswerk die konzeptionslose Wiedergabe von Nachrichten und Quellen, die bei den meisten seiner Vorgänger vorherrscht, überwinden konnte. e) Rhetorik und Zweite Sophistik Im lateinischen Sprachbereich blieb Cicero (s.o. § 6 . 4 c ) für die Rhetorik Meister und Vorbild. Aber Ciceros Ideal, daß die Beredsamkeit die Kunst des Staatsmannes ist, verlor in der Kaiserzeit an Geltung. Nach dem Ende der Republik blieb für diese Funktion der Rhetorik wenig Raum. Statt dessen wurde die Lehre von der Beredsamkeit Hauptfach eines staatlich geförderten Schul- und Bildungsbetriebes. D e r bedeutendste römische Rhetoriker nach Cicero ist kein Politiker sondern ein Lehrer: Quintilian
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(35-100 nChr). Er wurde, von Vespasian und Domitian gefördert, der erste staatlich bezahlte Lehrer der römischen Rhetorikschule. Schon zu seinen Lebzeiten berühmt und weithin anerkannt (zu seinen Schülern gehörte u.a. der jüngere Plinius), verfaßte er das letzte große Lehrbuch der Rhetorik, das die Antike hervorgebracht hat und das vollständig erhalten ist. In dieser „Institutio oratoria" k n ü p f t er an das ciceronische Ideal des allseitig, vor allem philosophisch gebildeten Meisters der Beredsamkeit an. Cicero wird ständig von Quintilian zitiert und herangezogen. Wie Cicero will er die Einheit des Weisen und des Staatsmannes wiederherstellen. Mit dieser Erneuerung des alten sophistischen Ideals gehört Quintilian zu den Wegbereitern der Zweiten Sophistik. Er betont, daß die Beredsamkeit dem, der sie ernsthaft und gründlich studiert, die Möglichkeit gibt, nicht nur dem Staat vielfältig als Politiker, Jurist und Beamter zu dienen, sondern auch als Historiker und Schriftsteller erfolgreich zu sein und in jedem Falle zu Ruhm und Wohlstand zu kommen. V o n hier aus versteht sich Quintilians verächtliche Ablehnung der Philosophen, denen es nur um theoretische Erkenntnis und moralische Bildung als Selbstzweck gehe und die sich deshalb aus der Öffentlichkeit in die Gymnasien und Schulen zurückgezogen hätten. Damals hatten sich unter dem Eindruck der neronischen Tyrannei, deren O p f e r Seneca geworden war, viele junge Leute aus der römischen Oberschicht von der normalen staatlichen Amterlaufbahn und somit auch von der rhetorischen Ausbildung abgewandt und waren statt dessen zu den stoischen Philosophen in die Schule gegangen. Quintilian warf ihnen vor, daß sie sich einbildeten, die Tugend werde ihnen durch Selbstbesinnung von alleine zufallen, und daß sie die harte Arbeit einer rhetorischen Ausbildung scheuten. N u r innerhalb dieser Ausbildung könne die philosophische Uberlieferung eine Funktion haben, Bildung nur dadurch gerechtfertigt werden, daß sie öffentlichen Nutzen bringt. Diese Begründung f ü r die Aneignung der griechischen Bildung entsprach der allgemeinen Haltung der römischen Oberschicht bis in die Zeit des Antoninus Pius. Erst Marcus Aurelius wandte sich bewußt von der Rhetorik zur Philosophie. Die Zweite Sophistik ist aus dieser Haltung der Rhetorik heraus entstanden. Quintilian wurde allerdings nicht mehr beachtet, weil die Zweite Sophistik sich nicht an Cicero, sondern an älteren griechischen Idealen orientierte. Im 2 . J h . n C h r war Fronto (ca. 100-175) aus Numidien der berühmteste Lehrer der lateinischen Rhetorik. N u r Briefe sind von
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ihm erhalten, seine Reden verloren. Er war schon zur Zeit H a drians politisch sehr einflußreich und wurde von Antoninus Pius zum Erzieher der künftigen Kaiser Marcus Aurelius und Verus ernannt. Doch obgleich Fronto die Philosophie, vor allem die Stoa, ablehnte, mußte er erleben, wie sein Schüler Marcus Aurelius sich schon als junger Mann der stoischen Philosophie des ehemaligen Sklaven Epiktet verschrieb. Zur gleichen Zeit erfuhr die griechische Rhetorik eine Erneuerung in der Zweiten Sophistik. Sie entsprang der Rückbesinnung auf das Ideal des politisch tätigen Weisen aus der alten Sophistik und aus dem in beiden vorhergehenden Jahrhunderten gewachsenen Interesse am klassischen Griechisch Athens (s.o. §3.2b). Hauptanwalt dieser an den klassischen Vorbildern orientierten Sprache war Herodes Atticus (101-177nChr) aus Marathon bei Athen. Er war unermeßlich reich - diesen Reichtum verwendete er großzügig zu vielfachen Stiftungen, vor allem zu Bauten in Griechenland und auch politisch tätig. Dazu half ihm die Tatsache, daß seine Frau Regilla mit Faustina, der Frau des Kaisers Antoninus Pius verwandt war. Als glänzendster Redner seiner Zeit wurde er der Lehrer des Marcus Aurelius in der griechischen Rhetorik. Seine rhetorischen Ideale wurden von seinen Schülern fortgeführt, u. a. von H a drianos aus Tyros (113-193). Ein Zeitgenosse, Lollianus aus Ephesus, ebenfalls Rhetor und Politiker, vertrat die Ideale des Attizismus als Inhaber des Lehrstuhls für Rhetorik in Athen. In der folgenden Generation zeigt sich bei Hermogenes (160-225), daß nun auch die Rhetorik sich anschickte, das Ideal des politischen Engagements preiszugeben und sich auf den Schulbetrieb zurückzuziehen - ohne sich deshalb mit der Philosophie auszusöhnen. f) Die Stoiker der Kaiserzeit Für alle alten philosophischen Schulen richteten die Kaiser im 2.Jh.nChr staatlich dotierte Lehrstühle ein. Aber einen geistigen Beitrag haben die Römer nur in der stoischen Philosophie geleistet, die in der Konzentration auf die Ethik zur typisch römischen Philosophie wurde. Das ist bereits bei Seneca (4vChr-65nChr; s.o. §6.2a), dem ersten großen Stoiker der Kaiserzeit, deutlich. Sein Gottesbegriff steht ganz im Dienste der Sittlichkeit. Als Vorsehung, höchste Vernunft und Vater der Menschen ist die Gottheit in ihrem Willen mit dem Sittengesetz identisch. In der Erfüllung dieses Gesetzes und in der Ausrottung der Affekte wird der Mensch
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der Gottheit gleich. Damit verbindet sich bei Seneca eine platonisch anmutende Anthropologie. Eigentlich menschlich und somit der Gottgleichheit fähig ist nur die menschliche Seele. Für sie ist der Leib ein Gefängnis, leibliche Erfahrungen eine Qual und Verpflichtungen des politischen Lebens eine unliebsame Notwendigkeit. Die Philosophie will die Seele von diesen Fesseln befreien; denn auch zum Mitmenschen gehen die Bande der Zusammengehörigkeit nicht über den Dienst an den politischen Institutionen, sondern über die sittlichen Werte, die der Seele zu eigen sind. Freundschaft, Treue und allgemeine Menschenliebe schließen auch den Sklaven ein und durchbrechen die gesellschaftlichen Konventionen. Die stoische Normalphilosophie jener Zeit repräsentiert MHSOnius Rufus (ca. 30-100 nChr), Lehrer Epiktets und Dions von Prusa (s.u. §6.4h). Er vertrat die Loslösung von den politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Umständen und die Konzentration auf die innere Freiheit. Die dieser Freiheit verpflichtete Ethik regelt alle Bezüge des Lebens und tritt damit an die Stelle der nur als äußerlich angesehenen politischen und gesellschaftlichen Normen des Verhaltens. Epiktet (ca. 55-135), der einzige Nichtrömer unter den bedeutenden Stoikern der Kaiserzeit, hat an diese Gedanken seines Lehrers angeknüpft. Er stammte aus dem phrygischen Hierapolis, war einst Sklave gewesen und befand sich zur Zeit der Flavier in Rom. Von Domitian vertrieben, gründete er eine Schule in der großen westgriechischen Stadt Nikopolis. Epiktets Schüler, der Historiker Arrian (s.o. §6.4d), hat die Lehrvorträge seines Lehrers nachgeschrieben und veröffentlicht („Dissertationen"). Diese Aufzeichnungen zeigen die Vollendung der stoischen Philosophie in der Konzentration auf die Ethik. Logik, Dialektik - von der Rhetorik gar nicht zu reden - sind nur Hilfsmittel. Die klassischen Ansichten der älteren stoischen Dogmatik setzt Epiktet in den Grundzügen voraus, untersucht sie aber nicht weiter. Nachdrücklich betont er den Universalismus der Gottheit, deren Künder der Philosoph ist. Seine Botschaft lautet: der menschliche Geist ist göttlich; wer dies erkennt wird selbst zum Gott. Solche Erkenntnis ist aber nur in der praktischen Ausrichtung des Lebens realisierbar. Sie erfordert die Verwirklichung der Freiheit als Loslösung von allen äußeren Erfahrungen, Ergebung in das Schicksal und die Preisgabe eines jeden Versuchs, die persönliche Situation, in der man sich befindet, und die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. Denn weder die niedrigste Sklavenarbeit, noch das ehren-
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vollste politische Amt haben für die Würde und Göttlichkeit des menschlichen Geistes irgendeine Bedeutung. Es gibt für Epiktet nur eine einzige Verpflichtung; die allgemeine Menschenliebe. Alle Menschen sind Brüder und müssen mit Liebe und Rücksicht behandelt werden. Marcus Aurelius (geboren 121nChr, Kaiser 161-180; s.o.§6.2c) hatte die vorzüglichste rhetorische Ausbildung erhalten (s.o.§6.4e), die ihn auf das höchste Amt des römischen Weltreiches vorbereiten sollte. Doch schon im Alter von 25 Jahren wandte er sich endgültig der Philosophie zu. Seine philosophischen „Selbstbetrachtungen" stammen aus seinen späteren Jahren, in denen sein Leben durch wechselnde Kriegsnöte, sich ständig verschlechternde politische und wirtschaftliche Verhältnisse und persönliches Mißgeschick in seiner Familie gezeichnet war. Unter allen römischen Kaisern war niemand so gebildet und keiner so der Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit verpflichtet wie Marcus Aurelius, dessen philosophischer Leitstern der ehemalige phrygische Sklave Epiktet war. Wie Epiktet betont er die Beherrschung der ganzen Welt von der göttlichen Vorsehung, sieht aber noch radikaler die Wandelbarkeit, Unbeständigkeit und Vergänglichkeit aller Dinge. Dem ständig sich verändernden Weltablauf gegenüber bleibt dem Menschen nur die Ergebung in den göttlichen Willen, auch wenn dieser scheinbar Böses und Unglück hervorbringt. Im Rückzug auf sich selbst erkennt der Mensch seine Verwandtschaft mit Gott und wird dadurch frei, allen Menschen gegenüber Liebe, Nachsicht und Wohlwollen zu zeigen. Diese sittliche Aufgabe sieht Marcus Aurelius nun freilich anders als Epiktet; für den Kaiser bedeutet sie ein der Welt zugewandtes Tun, das sich auch durch Unglück und Mißerfolg nicht entmutigen läßt. Die griechisch geschriebenen Selbstbetrachtungen dieses römischen Kaisers, die den Weg weisen, Treue zu sich selbst mit Pflichterfüllung und Fügung in das göttliche Schicksal zu einer Einheit zu verbinden, sind später auch bei den von ihm so verachteten Christen zu Ehren gekommen und haben manche bedrängte Seele getröstet - nicht zuletzt auch im Heerlager, in dem der Kaiser viele seiner Aphorismen niederschrieb. g) Der philosophische Markt In der Schulphilosophie bemühte man sich in der römischen Kaiserzeit, vor allem im 2. Jh. nChr, um die Wiedergewinnung der klassischen Denker. Die Peripatetiker schrieben Aristoteles-Kommen-
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tare, die Stoiker verfaßten Auslegungen von Chrysipp, und der Platoniker Albinus arbeitete an einem Abriß der Philosophie Piatos. Aber das eigentliche Leben der „Philosophie" spielte sich auf den Märkten der großen Städte ab. Die Philosophie war auf die Straße gegangen. „Philosophen" nannten sie sich alle, und wie sollte man schon wissen, ob der Mann, der auf dem Markt seine Weisheit anbot ein Gott, ein Zauberer, ein Missionar einer neuen Religion oder ein echter Philosoph war. In der Kaiserzeit war das Heer der wandernden Missionare und Philosophen zur Legion geworden. Alle standen sie im Wettbewerb miteinander, warben um Zuhörer und Schüler, überboten sich gegenseitig in Demonstrationen ihres Könnens und waren durchaus nicht abgeneigt, den Leuten das Geld aus der Tasche zu locken. Daß solche Missionare selbst innerhalb der gleichen religiösen oder philosophischen Bewegung miteinander rivalisierten, zeigt sich schon sehr früh in der christlichen Mission. Wohin Paulus auch kam, bald sah er sich mit anderen christlichen Predigern konfrontiert, die ihm den Rang abzulaufen versuchten. Wir wissen von diesen „Philosophen" durch die Polemiken der gebildeten Gegner; denn die Philosophen des Marktes wirkten durch das gesprochene Wort, nicht durch Schriften. Ebenso haben die christlichen Missionare und Wanderprediger nichts geschrieben und sich allein der Wirkung des gesprochenen Wortes anvertraut. Daß uns dennoch schriftliche Äußerungen wie die Briefe des Paulus erhalten sind, verdanken wir allerdings nicht nur dem Zufall. Paulus' Briefe sind zwar aus der besonderen Situation heraus entstanden, in der die Umstände das Wirken durch das gesprochene Wort nicht zuließen. Aber daß Paulus in dieser Situation zum Mittel des Briefes griff, zeigt ein neues Element, das sich vom normalen Betrieb des philosophischen Marktes unterscheidet: es ging ihm um die Organisation und den bleibenden Zusammenhalt der neu gegründeten Gemeinden. Mit den Anlässen zur Abfassung von Schriften innerhalb der Schulphilosophie hatte das nichts zu tun. Paulus' Briefe sind keine Lehrschriften, sondern ein Mittel der Propaganda und der Gemeindeleitung. Heidnische, christliche und jüdische Philosophen dieser Art wandten sich nicht an die gelehrte Welt, sondern an das Volk, an jedermann, der ihnen auf der Straße begegnete. Der gebildete Platoniker Kelsus hat es den christlichen Predigern zum Vorwurf gemacht, daß sie ihre Predigt an die untersten Schichten der Bevölkerung richteten; Origenes konnte darauf antworten, daß es die Kyni-
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ker ja genauso taten. Lukian, der grimmige Kritiker all dieser Propagandisten und Missionare, schildert Peregrinus Proteus als einen kynischen Philosophen, der dann Christ wurde und später wieder als Kyniker Anhänger um sich sammelte. Lukians Darstellungen, ebenso wie die des Martial, des Juvenal (s.o. § 6 . 4 b ) und der Apostelgeschichte des Lukas zeigen auch, daß man in der Wahl der Propagandamittel keineswegs zimperlich war. Dies trifft gleichermaßen auf Juden, Heiden und Christen zu. Im Vordergrund stand die Kunst und Gewandtheit der Rede. Mochten die Überzeugungen dieser Prediger und Philosophen noch so verschieden sein, einig waren sie sich alle in der kritischen Sicht der Verhältnisse, im Angriff auf die Hohlheit, Nichtigkeit und Verderbtheit des großstädtisch-bürgerlichen Lebens und im moralischen Appell. Zur Rede, bei der man alle Register zog, trat die Demonstration des Besitzes außerordentlicher und übernatürlicher Macht. Wunder vollbrachten nicht nur die christlichen Missionare, wie sie die Apostelgeschichte schildert und wie sie Paulus in den Gegnern des 2 . K o r i n therbriefes entgegentreten, sondern auch jüdische Prediger, neupythagoreische Philosophen und viele andere Lehrer, Ärzte und Magier. V o m Zaubertrick bis zur Vorhersage der Zukunft, vom H o roskop bis zur Heilung von Krankheiten und Gebrechen, ja T o tenerweckungen, wurde die ganze Skala wunderbarer Krafttaten in Anspruch genommen. Die Macht der Rede und die Größe des Wunders wirkten in den Kreisen, an die sich diese Philosophen wandten, stärker als die Tiefe und Würde ihrer moralischen, rationalen und religiösen Einsicht. Nicht mehr die alten und die neuen Einsichten der Philosophen und Denker waren hier gefragt, sondern nur das, was den Menschen mit ihren alltäglichen Problemen die Welt und ihre Kräfte verständlich machen konnte. Sternmächte traten an die Stelle der alten Götter, neue Gottheiten empfahlen sich statt kritisch geprüfter philosophischer Lehren, dämonische Machtwirkungen verdrängten die wissenschaftliche Einsicht in das Weltgeschehen; mit einfachen moralischen Lebensregeln war man besser beraten als mit psychologischer Erkenntnis menschlicher Motivation; die Meisterung der nächstliegenden persönlichen Probleme, sei es auch durch Magie und Zauber, sprachen unmittelbarer als die Forderung notwendiger sozialer Reformen. Dem Christentum, das in seiner Predigt auf diesem Markt konkurrenzfähig bleiben wollte, blieb es nicht erspart, sich mit den Gesetzen des Marktes kritisch
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auseinanderzusetzen. Das bezeugt bereits Paulus in der im 2.Korintherbrief erhaltenen Korrespondenz (s.u. §9.3d). Es wird auch deutlich, wie schwer es sein mußte, die Grenzen zwischen einer ernsthaften religiösen Propaganda und dem Goeten zu ziehen. Denn worauf es ankam und woraufhin die Menschen sich am leichtesten ansprechen ließen, waren okkultistische Phänomene, Visionen, Ekstasen, Geister- und Dämonenbeschwörungen, Wunder und Zauber. Die Zauberpapyri (die meist aus Ägypten stammen) berichten die vielfältigsten Praktiken, die verwendet wurden, um aus dem Licht, dem Wasser, durch das Beschwören von Toten, Dämonen und Göttern und durch die Manipulation von Medien Vorhersagen, Offenbarungen, und „Macht" zu erhalten. Sich dagegen zu wenden, konnte gefährlich werden: Lukas berichtet, daß Paulus und Silas ins Gefängnis kamen, weil sie einer besessenen Magd den Geist austrieben, der eben diese beiden Missionare als „Knechte des höchsten Gottes" öffentlich bekannt gemacht hatte (Apg. 16, 16ff). Wie grotesk die Problemstellung sein konnte, hat wiederum Lukas in Apg. 14, 8ff gut beschrieben: Paulus und Barnabas fällt es gar nicht schwer, durch ein Wunder die Bedeutung ihrer Predigt zu bekräftigen; aber sie haben die größte Mühe, das Volk davon abzuhalten, ihnen als Zeus und Hermes zu opfern. Daß ein Missionar sagte: „Wir sind nur Menschen wie ihr", mußte ihn vollends unglaubwürdig machen. In Korinth hatten die Gegner des Paulus viel weniger Skrupel als Paulus selbst, sich rücksichtslos aller zur Verfügung stehenden Propagandamittel zu bedienen (Wunder, Visionen, Ekstasen, rhetorische Kniffe, Empfehlungsschreiben). Daß okkultistische und spiritualistische Praktiken auch in die Schulphilosophie eindringen konnten, zeigt wenig später der Neuplatonismus. Von Jamblichos wird berichtet, daß er beim Gebet über dem Boden in der Luft schwebte, und Proklos sei bei seinen Vorlesungen von einem Lichtglanz umgeben gewesen. Eine Philosophie wie der Neuplatonismus, die großen Wert auf Askese legte, mystische Gebete schätzte, sich der Zauberräder bediente, um mit den Göttern zu reden, und magische Riten zum Regenmachen kannte, rückt ohne Zweifel in die Nähe der Theosophie und Theurgie. Der Unterschied zwischen Philosophen und „Philosophen" ist hier gänzlich verwischt.
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h) Dion von Prusa, Plutarch, Lukian Vertreter der Popularphilosophie sind auch mehrere Männer der Kaiserzeit, die keiner philosophischen Schule angehörten, sich aber von den Philosophen des Marktes durch ihre umfangreiche Bildung und Gelehrtheit sowie durch ihre literarische Tätigkeit unterscheiden. Es ist bezeichnend, daß sie alle Anwälte des griechischen Bildungserbes waren, sich im N a m e n der Philosophie f ü r Sittlichkeit und Moral einsetzten und vor allem auf die verhältnismäßig breite Schicht des damaligen Bürgertums wirken wollten. Am deutlichsten sichtbar sind die Züge des populär-philosophischen Wanderredners bei Dion Cocceianus aus Prusa in Bithynien mit dem Beinamen Chrysostomos (ca. 40-112 nChr). Nach rhetorischer Ausbildung bekehrte er sich zur Philosophie, wurde von D o mitian aus Rom verbannt, zog mehrere Jahre lang als kynischer Wanderprediger durch die Lande, bis er von T r a j a n nach Rom zurückgerufen wurde und wieder zu Ehren kam; die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in seiner Heimatstadt. Seine Reden, von denen viele erhalten sind, gehören zu den besten und instruktivsten Zeugnissen f ü r das kynisch-stoische Lebensideal. Seine Darstellung der Autarkie des Philosophen berührt sich auf das engste mit den paulinischen W o r t e n : „Ich habe gelernt, in der Situation, in der ich mich befinde, unabhängig zu sein; ich kann Entbehrungen erleiden, ich kann im Uberfluß leben; in alles und jedes bin ich eingeweiht: satt sein und hungern, reich sein und darben" (Phil. 4,11-12). Nach Dion stehen die Leidenschaften, Begierden und Laster der Menschen dem Erreichen der Sittlichkeit und Unabhängigkeit im Wege. Aufgabe des Philosophen ist es aber nicht nur, moralische Besserung zu predigen, sondern auch als Seelsorger und Berater den Menschen in moralischen und praktischen Fragen hilfreich zur Seite zu stehen. Mit seiner moralischen Predigt verbindet Dion eine positive Religionskritik. Der Philosoph soll den Menschen helfen, den wahren Sinn der Götterverehrung zu entdecken, die sich nicht im äußerlichen Anbeten von Götterbildern erschöpfen darf - obgleich auch hierin ein echter D r a n g der menschlichen Seele zum Ausdruck kommt. Die Kritik an den gesellschaftlichen und religiösen Konventionen ist zugleich ein Aufruf, in der sittlichen Freiheit und in der wahren Frömmigkeit das echte Menschsein zu gewinnen. Die gleiche sittliche und religiöse Grundhaltung findet sich bei
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dem jedoch weitaus gelehrteren Zeitgenossen Plutarch aus dem böotischen Chaironeia (ca. 4 6 / 4 8 - 1 2 0 / 1 2 5 nChr). Plutarch stammte aus einer vornehmen Familie, hatte gründlich studiert, war unglaublich belesen und hatte mehrere größere Reisen unternommen. Seine späteren Jahre verbrachte er als Priester des Apollon in Delphi. Eine auch nur annähernd hinreichende Charakterisierung des umfangreichen Werkes dieses einflußreichen Schriftstellers ist hier nicht möglich. N u r etwa die Hälfte seines Werkes ist auf uns gekommen und füllt noch in einer modernen Ausgabe über 6000 Seiten. Es umfaßt wissenschaftliche, philosophische, moralische, erbauliche, pädagogische und religiöse Schriften (heute unter dem N a m e n „Moralia" zusammengefaßt) wie auch die berühmten Parallelbiographien, die von Theseus/Romulus bis in die Zeit des l . J h . v C h r reichen (22 dieser Biographien sind erhalten). Die Absicht der Schriftstellerei Plutarchs ist moralisch-erzieherisch. Er will nicht durch abstrakte Belehrung wirken, sondern als Freund, Seelsorger und Arzt. Das trifft auch auf seine Biographien zu, die er nicht als Vorbilder politischer Wirksamkeit schrieb, sondern als Beispiele einer Lebenshaltung, die echter Tugend und wahrer Religiosität entspricht (auch abschreckende Beispiele finden sich). In seiner philosophischen Haltung ist Plutarch Platoniker, obgleich er vieles aus Stoa und Peripatos aufgenommen hat. Aber nur Plato gilt seine rückhaltlose Bewunderung, vor allem auch deshalb, weil er bei Plato die rechte religiöse Einstellung und die wahre Erkenntnis der Gottheit findet. Mehr als andere Philosophen und Schriftsteller seiner Zeit ist Plutarch Theologe und beschäftigt sich immer wieder mit der Frage der richtigen Deutung der Religion und der religiösen Überlieferung. Wie viele seiner Zeitgenossen kritisiert er die Ansicht, daß die Gottheit sich in materiellen Abbildern und in den Mythen der Dichter finden lasse. Erst allegorische Ausdeutung kann auf das wahre geistige Wesen der Gottheit führen. Solche Erkenntnis ist notwendig, um die Dinge der Welt beurteilen zu können, von den sittlichen Kräften zu wissen, die dem Menschen helfen, und von den bösen Mächten, die ihn bedrohen. Gott hat die ganze Welt geschaffen und ordnet und durchwaltet sie. Aber dennoch ist diese Welt nicht einheitlich. Im Bereich zwischen Gott und der Materie gibt es zwei Weltseelen, eine gute und eine ihr untergeordnete böse. Von der letzteren wird die unvollkommene Welt unter dem Monde bestimmt, die deshalb dem Wechsel und steten Veränderungen unterworfen ist. Der Raum zwischen
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der göttlichen Welt und den Menschen wird von Dämonen eingenommen, die teils göttliche Macht besitzen, teils an der sinnlichen und veränderlichen Welt teilhaben. Die Hierarchie der Dämonenwelt ist eine Art Stufenleiter von den Menschen zu den Göttern. In solchen Anschauungen ist nicht notwendigerweise ein direkter Einfluß der älteren Akademie zu suchen, wenngleich die Ansicht von der doppelten Weltseele und die Dämonenlehre letztlich auf Piatos Schüler Xenokrates zurückgehen (s.o. § 4 . 7 a ) . Plutarch stellt hier die überhaupt zu seiner Zeit weit verbreitete platonische Weltsicht dar. Es ist ein gemilderter Dualismus in der Anthropologie und der Kosmologie, wozu astrologische Vorstellungen treten sowie der Dämonenglaube, den damals die meisten Menschen teilten. Aber obgleich Plutarch von der Herrschaft des Bösen in der sublunaren Welt überzeugt ist, wendet er sich nicht, wie die christliche Gnosis jener Zeit, von der Welt und ihren gesellschaftlichen und religiösen Einrichtungen ab, sondern findet gerade in der Meisterung der sittlichen Anforderungen in Ehe, Familie und Kindererziehung wie auch in der treuen Ausübung der ererbten Religion das wahre innere Glück des menschlichen Lebens. Die griechischen Väter der alten Kirche haben seit Clemens von Alexandrien in Plutarch einen Geistesverwandten gesehen und ihn gern gelesen. Der dritte der hier zu nennenden Schriftsteller, der Syrer Lukian aus Samosata in Kommagene (ca. 120 bis nach 180nChr) repräsentiert die allgemeine Bildung ebenso wie die zunehmende Desillusionierung mit den seinerzeit so hochgepriesenen Werten des klassischen griechischen Erbes. In vieler Beziehung ist er das genaue Gegenstück zu Plutarch. Er zeigt beißende Ironie, wo jener vertraut, Satire, wo Plutarch erziehen will, und er macht die alten Götter lächerlich, wo der delphische Priester sie tiefsinnig ausdeutet. Lukian hatte eine rhetorische Erziehung genossen und begann damit, daß er als Redner durch die Lande zog: Ionien, Griechenland - in Italien wurde er berühmt, in Gallien wohlhabend. Aber für ihn war die Betätigung in der Rhetorik keine politische oder moralische Aufgabe; er wollte durch seine Kritik an den Zeitverhältnissen andere unterhalten und durch seine satirischen Reden die Zuhörer belustigen. Jedoch wandte er sich dann von der Rhetorik ab und dem Dialog zu, den er zu seinem schriftstellerischen Genre machte. W a r aber der Dialog in seiner klassischen Form das rechte Mittel der philosophischen Literatur gewesen, so wurde er in den Händen Lukians zum Mittel der Darstellung der Ungereimt-
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heiten von Philosophie und Rhetorik, Religion und Moral: statt philosophischer Erwägungen bietet Lukians Dialog witzige und geistreiche Komödie. Ein echter Jünger der Philosophie ist Lukian trotz seiner Abwendung von der Rhetorik nie geworden. Am nächsten steht er noch den Kynikern; den Stil der Diatribe beherrscht er meisterhaft und Diogenes zitiert er mit Vorliebe. Er teilt mit den Kynikern die scharfe Kritik von Habgier, Wohlleben, Schwelgerei und Ausschweifung, aber er vertritt selbst kein sittliches Ideal. Scharf greift Lukian die Scharlatanerie des religiösen Propagandabetriebes an (vgl. besonders seine Schriften über den falschen Propheten Alexander, der als angeblicher Sohn des Asklepios ein Orakelheiligtum gründete, und über den Kyniker Peregrinus Proteus, der eine Zeitlang christlicher Missionar war und sich nach seiner Abwendung vom Christentum in Olympia öffentlich verbrennen ließ). Über die Religion seiner Zeit hat Lukian, der seine gebildeten und ebenso seine ungebildeten Zeitgenossen gut kannte und scharf beobachtet hatte, viele wertvolle Nachrichten hinterlassen: über die alten Kulte, die Syrische Göttin, die Vorstellungen vom Totengericht und von der Unterwelt, vom Strafort der Übeltäter und vom Lohn für die Guten, vom Konflikt zwischen Schicksals- und Vorsehungsglauben, sowie von Astrologie, Seelenwanderung und Wunderglauben. Wird dabei auch nicht viel Schmeichelhaftes gesagt, weder über die Menschen, noch über die Götter, noch über die Religion überhaupt, so sind doch die über siebzig erhaltenen Schriften Lukians, in klassischem Griechisch meisterhaft verfaßt (die Spitzfindigkeiten der Attizisten machte Lukian nicht mit), nur sehr selten ermüdend, niemals erbaulich, immer unterhaltend, und als Spiegel der Zeit unersetzlich.
5. Die religiöse Welt Roms K.LATTE. Römische Religionsgeschichte, H A W V 4 , 1960. C.KOCH, Religio: Studien zu Kult und Glauben der Römer, herausg. v o n O.SEEL, 1960. J. FERGUSON, The Religions of the Roman Empire, 1970. F.CUMONT, Die orientalischen Religionen im römischen H e i d e n t u m , 5 1 9 6 9 .
Zub: A. WLOSOK (Herausgeber), Römischer Kaiserkult, W d F 3 7 2 , 1978. F.TAEGER, C H A R I S M A : Studien z u r Geschichte des antiken Herrscherkults, Bd. 2, 1960.
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L.Ross TAYLOR, The Divinity of the Roman Emperor, 1931 (Neudruck 1975). J. DEININGER, Die Provinziallandtage der römischen Kaiserzeit von Augustus bis zum Ende des 3.Jahrhunderts n.Chr., 1965. vgl. auch die Literatur zu § 1.5. Zuc: F. CUMONT, D i e M y s t e r i e n des M i t h r a , 3 1 9 2 3 . M.J.VERMASEREN, M i t h r a s : G e s c h i c h t e eines K u l t e s , U B 3 3 , 1965.
Ders., Corpus Inscriptionum et Monumentarum Religionis Mithraicae, Bd. 1 - 2 , 1956-60. L. A. CAMPBELL, M i t h r a i c I c o n o g r a p h y a n d I d e o l o g y , E P R O 11, 1968. R . DUTHOY, T h e T a u r o b o l i u m , 1969. Zue:
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vgl. auch die Literatur zu 5 4.2c. Zuf:
K.RUDOLPH, Die Gnosis: Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion, 1977 (beste Gesamtdarstellung auf dem neuesten Stand der Forschung). Ders. (Herausgeber), Gnosis und Gnostizismus, WdF262, 1975. Die folgenden Werke sind klassische Darstellungen der Gnosis: W . BOUSSET, H a u p t p r o b l e m e d e r G n o s i s , F R L A N T 1 0 , 1907.
R. REITZENSTEIN, Poimandres: Studien zur griechisch-ägyptischen und frühchristlichen Literatur, 1904. H.JONAS, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. 1, 3 1964; Bd.2, 2 1966. Ders., The Gnostic Religion, 2 1963. A.J.FESTUGIFERE, La revelation d'Hermfes Trismegiste, Bd. 1-4, 1950-54. A. D. NOCK, The Milieu of Gnosticism, Essays on Religion and the Ancient World 1, 1972, 444-51. Ders., Gnosticism, ibidem 2, 940-59. Zur neueren Diskussion und den neuen Texten vgl.: J.M.ROBINSON, T h e
Coptic Gnostic Library T o d a y ,
N T S 14,
1967/68,
356-401. E.HAENCHEN, G o t t u n d M e n s c h , 1965, 2 6 5 - 3 7 7 .
G. MACRAE, The Jewish Background of the Gnostic Sophia Myth, NovT 12, 1970, 86-101. K. BEYSCHLAG, Simon Magus und die christliche Gnosis, WUNT16, 1974. K.W.TRÖGER, Mysterienglaube und Gnosis in Corpus HermeticumXIII, TU110, 1971. G.SCHOLEM. D i e j ü d i s c h e M y s t i k in i h r e n H a u p t s t r ö m u n g e n , 1967, 4 3 - 8 6 .
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§6
a) Die römische Religion und die fremden Kulte Die alte römische Religion ist in ihrem Gehalt nur schwer rekonstruierbar. Erhalten sind Nachrichten über die Verehrung verschiedener Götter und Mächte, Riten, Festkalender usw. Diese göttlichen Mächte stellten sich die Römer meist abstrakt und nicht anthropomorph vor. Zunächst unter etruskischem und später unter griechischem Einfluß wurden die Göttervorstellungen wenigstens teilweise personalisiert und Götterbilder eingeführt. Bereits in den ältesten literarischen Quellen sind die Deutungen von griechischen Anschauungen beeinflußt. Aber religio blieb für die Römer die genaue Beachtung der Riten im Interesse der Gemeinschaft. N u r so konnte man sich der Fruchtbarkeit der Felder, des Friedens oder des erfolgreichen Krieges, des Wohlstandes und des Erfolgs versichern; denn all dies hing von der Gunst der jenseitigen Mächte ab. Frömmigkeit (pietas) - die Römer hielten sich für das frömmste Volk der Erde - hatte mit persönlicher Religiosität nichts zu tun. Der Mystik standen die Römer immer kritisch gegenüber. Frömmigkeit bestand vielmehr in der getreuen Erfüllung der rituellen Pflichten; denn das Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft war in allen seinen Bezügen von diesen göttlichen Mächten durchdrungen, ob es sich nun um Geburt, Hochzeit und Tod oder um den Jahresablauf, Volksversammlungen oder Kriege handelte. Das wichtigste Mittel, die Gunst der Götter zu erhalten und ihren Fluch abzuwenden, war das Gebet. Ebenso entscheidend war die Beobachtung der Zeichen, aus denen sich die Einstellung der Götter ablesen ließ. Die Auguren, das Priesterkollegium, das diese Zeichen einzuholen hatte (aus dem Vogelflug, dem Appetit der heiligen Hühner und aus Blitz und Donner), standen daher in hohem Ansehen. Hingegen lehnten die Römer den Zauber und das, was sie „Aberglauben" (superstitio) nannten, ab. Das letztere Wort umschloß alles, was der römischen Religion nicht entsprach, und wurde daher häufig für fremde Kulte verwendet, deren Praktiken man als merkwürdig und würdelos empfand. Grundsätzlich war die römische Religion fremden Kulten gegenüber durchaus aufgeschlossen. Es lag ganz im Sinne der römischen Anschauung, daß man fremde Kulte und bisher unbekannte religiöse Mächte in die staatliche Religion einbezog oder ihnen wenigstens einen Platz in der Stadt gab, um sich so ihrer Gunst zu versichern. Daher ist die römische Religion bereits in ihren ältesten
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greifbaren Formen synkretistisch. Etruskische Elemente waren schon früh aufgenommen worden; in der Dreiheit Jupiter-Juno-Minerva ist die letztere vielleicht etruskisch (vgl. auch die etruskischen Haruspices, die aus der Leber von Opfertieren die Z u k u n f t voraussagten, die allerdings erst spät in Rom offiziell anerkannt wurden). Von griechischen Göttern wurde Apollo schon im 5.Jh.vChr verehrt. Asklepios (Aesculapius) wurde 293vChr zur Bekämpfung einer Seuche eingeführt. Der erste orientalische Kult kam 204vChr mit der Magna Mater (Kybele) in einem kritischen Moment des punischen Krieges nach Rom (allerdings war die Teilnahme an ihrem orgiastischen Kult Römern verboten). Einen bedeutsamen und folgenschweren Einschnitt brachte 186vChr der Bacchanalienskandal. Die Erinnerung an die Ereignisse dieses Jahres verlieh der römischen Haltung fremden Kulten gegenüber hinfort ein kritisches Element. Ein Bericht des Livius ebenso wie der betreffende Senatsbeschluß sind erhalten. Dennoch ist nicht ganz deutlich, was eigentlich geschehen war. Sicher handelte es sich um eine schnelle Ausbreitung des Dionysoskultes (s.o.§4.3f) in Etrurien und im Gebiet der Stadt Rom. Und zwar suchte die Dionysosverehrung nicht in der Form eines offiziellen Kultes in Rom Eingang, sondern als Mysterienreligion, die unabhängig von offizieller Anerkennung Mission betrieb. Sie hatte bereits zahlreiche Anhänger gewonnen und „ T e m p e l " in Rom und in der Umgebung eingerichtet, wobei es sich um Hausheiligtümer gehandelt haben muß. Initiationsfeiern wurden nachts abgehalten, an denen sowohl Frauen als auch Männer teilnahmen. Durch einen Zufall kam die ganze Sache an die Öffentlichkeit. Der Senat witterte Unmoral und Verschwörung und schritt ein; alle neu eingerichteten „ T e m pel" wurden zerstört, die Anhänger verfolgt und viele hingerichtet. Allerdings wurde der Kult nicht ganz verboten, sondern eingeschränkt und der Kontrolle des Senats unterstellt (Genehmigung zur Einrichtung eines Tempels; Verbot einer Gemeinschaftskasse; nicht mehr als fünf Personen durften an einer Gottesdienstfeier teilnehmen). Seitdem bestand in Rom ein Verdacht gegenüber fremden Kulten, die Mysteriencharakter hatten. Man fürchtete Magie und Zauber, geheime Versammlungen und alles das, was den Römern als Aberglaube erschien. Dennoch blieben die Mysterien des Bacchus/Dionysos in Italien recht populär und breiteten sich seit dem Ausgang der Republik wieder stark aus, gerade auch in den oberen Klassen der Bevölkerung. Außerdem gelang es anderen My-
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sterienkulten, wenn auch unter Schwierigkeiten, in Rom Fuß zu fassen. Der Isiskult (s.o.§4.4a) war im l.Jh.vChr durch eingewanderte Ägypter nach Rom gebracht worden. Doch schritt der Senat mehrfach ein; in den Jahren 59, 58, 53, 50 und 48vChr wurden die Isisaltäre oder -tempel auf Senatsbeschluß hin zerstört. Augustus verbot 28vChr private Hausheiligtümer der Isis, und 19nChr ließ Tiberius den römischen Isistempel nochmals zerstören und das Kultbild in den Tiber werfen. Unter Caligula wurde der Isiskult endgültig offiziell anerkannt und ein Doppeltempel für Isis und Sarapis gebaut, allerdings auf dem Marsfelde, außerhalb des Pomeriums (dieser alte Bezirk der Stadt unterlag ohnehin besonderen Regeln und Gesetzen). Verhielt sich also auch noch in der Kaiserzeit das offizielle Rom kritisch in Bezug auf die Einführung neuer Kulte in die Stadt selbst, so standen der Ausbreitung dieser Religionen im übrigen römischen Reich keine grundsätzlichen Hindernisse im Weg. Freilich bedurfte es für die Einrichtung eines Tempels der behördlichen Genehmigung, die aber meist den örtlichen Autoritäten überlassen und - wie ζ. B. bei den vielen Isis- und Sarapistempeln der Kaiserzeit - gern gewährt wurde. O f t handelte es sich einfach um die Erneuerung älterer Privilegien. In einer ganz anderen Lage hingegen befanden sich Religionen, die sich nicht darauf berufen konnten, daß sie schon von jeher Privilegien besaßen oder immer schon zum Bestand der religiösen Tradition eines der vielen Völker des römischen Reiches gehörten. Daß solche Religionen oft Propaganda trieben, machte sie zudem noch verdächtig. Geheime und private Versammlungen, die nicht der örtlichen behördlichen Aufsicht oder städtisch anerkannten Priestern unterstanden, waren ohnehin unerwünscht. Daß man in den Tempeln der Isis, und in zunehmenden Maße auch in Tempeln anderer Götter geheime Einweihungsriten feierte, also „Mysterien", erregte kaum Verdacht; denn diese Tempel waren ja öffentlich anerkannt, wenn auch die Mysterien nicht jedermann zugänglich waren. Aber das sich schnell ausbreitende Christentum paßte nicht in das römische Bild legitimer Religionsausübung. Mit der jüdischen Religion hatte man sich abgefunden. Den Begriff der „religio licita", der erlaubten Religion, gab es allerdings nicht (das ist eine moderne Hypothese, die sich nicht beweisen läßt). Aber die Juden hatten oft alte, wenn auch nicht unangefochtene Privilegien und sie waren ein Volk, das sich auf eine lange Tradition berufen konnte, wiewohl man gern glaubte, daß
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im Jerusalemer Tempel ein Eselskopf angebetet wurde, und die Beschneidung als Barbarei ansah. Waren die Juden schon verdächtig, weil sie am Kaiserkult nicht teilnahmen, so war für die Christen diese Verweigerung doppelt gefährlich. Das römische Imperium war freilich kein Polizeistaat und hatte kein weltweites Spitzelsystem (so etwas gab es nur gelegentlich in der Stadt Rom unter solchen Kaisern wie Nero). Christliche Missionare konnten ebenso wie andere Wanderprediger und Philosophen der Straße ungehindert wirken, und ihre Anhängerschaft blieb meist unbehelligt. Schwierigkeiten entstanden, wenn lokale Behörden den Verdacht hatten, daß die Christen Unruhe stifteten, und wenn sie von Konkurrenten oder auch von Unbeteiligten, die ihnen übel wollten, denunziert wurden. Dann brachte man die Anführer vor Gericht (oft nach längerer Gefängnishaft), verurteilte sie zu Prügelstrafen und verwies sie aus der Stadt. Die Paulusbriefe legen davon deutlich Zeugnis ab; in der Apostelgeschichte ist das zu einem festen Schema missionarischer Erfahrung stilisiert. Todesstrafen wurden aus solchen Anlässen selten verhängt; Paulus wäre sonst kaum über Antiochien hinausgekommen. Wenn Paulus schließlich doch zum Tode verurteilt wurde - das ist jedenfalls anzunehmen - , so geschah das wahrscheinlich deshalb, weil man ihm vorwarf, die geheiligten Rechte des Jerusalemer Tempels verletzt zu haben (s.u.§9.4c). Verstreute Nachrichten über christliche Apostel und Missionare der ersten beiden christlichen Generationen lassen vermuten, daß viele von ihnen, aus welchem Grunde auch immer, das Martyrium erlitten. Nicht alle diese Martyrien können dem Todesurteil eines römischen Gerichtes zur Last gelegt werden (vgl. z.B. Apg. 12, 1 - 2 ; s.u.§8.3b). Die neronische Christenverfolgung in Rom (s.o. §6. 2a) ist ein Einzelfall und kann nicht als typisch für die Haltung des römischen Staates gegenüber dem Christentum gelten. Die beginnende christliche Apologetik versuchte zunächst klarzumachen, daß die Christen keine neue religiöse Sekte, sondern die legitimen Erben der uralten Religion Israels seien (s.u.§12.3a). Aber das war für einen römischen Beamten nicht ohne weiteres evident. Außerdem bekannten sich keineswegs alle Christen auf diese Weise zum Alten Testament. Ein ungelöstes Problem mußte auf jeden Fall der Kaiserkult bleiben (s.u.; über die weitere Entwicklung des Verhältnisses des Christentums zum römischen Staat s.u. § 12. lc; § 12. 3a und d-f).
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b) Der Kaiserkult Der römische Kaiserkult war kein einheitliches Phänomen, sondern eine spannungsgeladene Verbindung von Elementen des bereits voll ausgebildeten hellenistischen Herrscherkultes (s.o.§l. 5ad) mit zum Teil ganz andersartigen römischen Vorstellungen. Sah man im griechischen Osten in der Person des Herrschers die Epiphanie eines Gottes, so verehrten die Römer transzendente Mächte, die unter besonderen Umständen in überragenden Persönlichkeiten wirksam werden konnten. Während im Osten schon zur Zeit der römischen Republik den siegreichen römischen Feldherren, die an die Stelle der hellenistischen Herrscher traten, göttliche Ehren zuteil wurden (ζ. B. Sulla und Pompeius), vermied man es in Rom sorgfältig, die Führer des Staates wie Götter zu behandeln. Die Vorstellung von der Göttlichkeit des lebenden Herrschers setzte sich deshalb in Rom nur langsam und nur unter Protest durch. Die Stellung Caesars zum Herrscherkult ist nicht klar. In den letzten Jahren seines Lebens sind eine Reihe von Ehrungen vom Senat beschlossen worden - zum Teil auf Caesars Veranlassung hin - , die an göttliche Ehrungen anklingen. Trotz der Übernahme hellenistischer Elemente zeigt sich das Bestreben, an ältere römische Vorstellungen anzuknüpfen. Caesar selbst war zwar durchdrungen vom Bewußtsein seiner Sendung, und Alexander der Große schwebte ihm als das Vorbild eines Herrschers vor. Auf der anderen Seite hatte er aber kein Verhältnis zu den mythischen Göttervorstellungen, in denen die Verehrung des Herrschers als epiphane Gottheit ihren Ursprung hat. Er glaubte in ganz römischer Weise an den schicksalhaften Besitz seiner eigenen „felicitas", d. h. an eine nicht als Person vorgestellte Macht, die sich in seinen Taten dokumentierte. Immerhin glaubten in Rom damals viele, Caesar plane, sich nicht nur zum König, sondern auch zum Gott erklären zu lassen. Caesars Ermordung sollte diesen Plan zunichte machen, erreichte aber nur seine Divinisierung, die spontan vom Volke vollzogen und nachträglich vom Senat legitimiert wurde, der Caesar offiziell unter die Staatsgötter erhob und ihm einen Altar, später einen Tempel in Rom errichten ließ. Der volkstümliche Glaube, der sich bald um die Person Caesars rankte, knüpfte dabei auch an hellenistische Vorstellungen vom göttlichen Herrscher und von seinem Charisma an.
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Marcus Antonius teilte Caesars Vorsicht und Zurückhaltung nicht: sobald er in den Osten gegangen war, ließ er sich als Gottkönig verehren und identifizierte sich in typisch hellenistischer Weise mit einer bestimmten Gottheit (Dionysos). Die negative Reaktion Roms auf diesen Schritt nutzte sein Gegenspieler Octavius (Augustus) geschickt aus und suchte für sich selbst von vornherein einen anderen Weg, der römischer Sitte ebenso wie seinen eigenen Neigungen besser entsprach. Wenn er sich als „Sohn des vergöttlichten Caesar" (Divi filius) bezeichnete, so betonte er nicht im griechischen Sinne seine Gottessohnschaft, sondern ganz unmythologisch die legitime Fortführung des Erbes und der schicksalhaften Sendung seines Adoptivvaters. Ebenso knüpft der Titel Imperator Caesar, den er ständig trug, an den römischen Gedanken an, daß dem Amt des Imperators eine numinose Qualität zukomme; neu war nur der ständige Gebrauch des Titels. Die Verleihung des Namens „Augustus", „der Verehrungswürdige" (eine archaische römische Bezeichnung) im Jahre 27vChr hob seinen Träger deutlich über die menschliche Sphäre hinaus; sie machte ihn aber nicht zu einem Gott, sondern betonte die übermenschlichen Dimensionen seiner felicitas. Dementsprechend war der offizielle römische Kaiserkult, der sich an diese Würdigung des Herrschers anschloß, kein Kult der göttlichen Person des Kaisers. Im Vordergrund dieses Kultes stand vielmehr die Verehrung der Roma (d.h. der Stadt Rom als Symbol der göttlich sanktionierten Weltherrschaft) und des Divus Julius (d.h. Caesars). Auf die Person des lebenden Kaisers bezog sich der Kaiserkult nur insofern, als sein „genius", d.h. seine persönliche Schutzgottheit, und die „Lares Augusti", die Schutzgötter des kaiserlichen Hauses, verehrt wurden; beides knüpfte wieder an ältere römische Vorstellungen an. Das trifft ebenso auf die Verehrung der Mächte zu, die durch die Person des Kaisers wirkten, wie Pax und Victoria, und die man sich im römischen Sinne nicht als Götter, sondern als personifizierte Kräfte vorstellte. W a r so durch Augustus der Kaiserkult nicht nur aus politischer Vorsicht, sondern auch in richtiger Einschätzung des römischen Empfindens deutlich von der hellenistischen Verehrung eines Gottmenschen oder epiphanen Gottes unterschieden, so wurde diese Unterscheidung in den östlichen Provinzen nirgends wirklich verstanden, und auch im Westen setzten sich die hellenistischen Vorstellungen bald durch. Neben der Roma, und oft diese überschattend, war es die
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göttliche Person des Kaisers selbst, die man im Mittelpunkt des Kaiserkultes sah. Altäre und Tempel, die man Augustus weihte, und Inschriften, die ihn ehrten, unterschieden sich in nichts von denen der großen Götter. Nach seinem Tode und durch den Senatsbeschluß seiner Divinisierung wurde Augustus schlechthin der „Theos Sebastos", der Gott Augustus. Man begann, ihn mit anderen Göttern, vor allem mit Zeus, zu identifizieren, und man ließ auch den Angehörigen des kaiserlichen Hauses göttliche Ehren zuteil werden - ein typisches Zeichen des hellenistischen Herrscherkultes. Im Osten scheint Kleinasien das Zentrum dieser Entwicklung gewesen zu sein, während es in den westlichen Provinzen nicht immer klar ist, ob der Kult dem genius des Augustus oder ihm selbst als Gott gilt. Unter Augustus' Nachfolger Tiberius wurde der Kult des lebenden Herrschers bewußt zurückgedrängt. Tiberius hat göttliche Ehrungen für seine Person aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt, wie er ja auch versucht hatte, den alten Staatsorganen der Republik wieder eine stärkere Position zu geben. Caligula jedoch wandte sich dem entgegengesetzten Extrem zu. Bald nach seinem Regierungsantritt verlangte er, als Gott betrachtet und verehrt zu werden. Trotz des Protestes in Rom veranlaßte dieses Verlangen eine Überschwemmung mit Ideen aus dem hellenistischen Herrscherkult. Gleichzeitig wurden aber auch die ersten Konflikte des Herrscherkultes mit anderen Religionen heraufbeschworen. Denn Caligula identifizierte sich nicht nur gern mit bestimmten Göttern und ließ sich in Rom offiziell unter die Staatsgötter aufnehmen, er verlangte auch, daß man im ganzen Reich sein eigenes Kultbild in den Tempeln anderer Götter aufstellen solle, unter anderem auch im Tempel zu Jerusalem und in den jüdischen Synagogen (durch das weise Zögern des syrischen Legaten kam dieser wahnwitzige Plan in Jerusalem nie zur Ausführung). Nach Caligulas Ermordung kehrte Claudius zur Politik des Augustus zurück. Weder Claudius noch Nero wurden zu ihren Lebzeiten unter die Staatsgötter erhoben. Doch hatten die aus dem Hellenismus inzwischen übernommenen Formen der Verehrung des lebenden Kaisers selbst in der römischen Oberschicht so festen Fuß gefaßt, daß sogar der Philosoph Seneca in einem Bittschreiben aus der Verbannung den Kaiser Claudius mit Ausdrücken anredete, die keinen Zweifel darüber ließen, daß er an einen Gott schrieb. Gewiß war manches bereits abgegriffene Formel. Man benutzte solche Ausdrücke auch
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Nero gegenüber, der sich das nicht ungern gefallen ließ. Erst Vespasian schaffte Klarheit und kehrte eindeutig zu der Form des Kaiserkultes zurück, die Augustus geschaffen hatte: N u r der ausdrücklich divinisierte tote Kaiser gehörte zu den Staatsgöttern. Diese Form des Kaiserkultes blieb für die folgenden hundert Jahre maßgebend und alle Kaiser bis zu Marcus Aurelius haben sich daran gehalten - mit einer Ausnahme: Domitian. Als er sich als „ H e r r und G o t t " anreden ließ, rief er nicht nur die Opposition des Senats auf den Plan, er machte sich auch bei den Christen zum verhaßten „Tier" der Apokalyptik. Die Verfolgung, die über die römische Christengemeinde kam (im Jahre 95 nChr), ist im ersten Clemensbrief erwähnt, der kurz danach geschrieben wurde (ob allerdings der Konsul jenes Jahres, T.Flavius Clemens, und seine Frau Flavia Domitilla wegen ihrer Zugehörigkeit zum Christentum hingerichtet wurden, ist nicht sicher). Aber waren auch die Kaiser des 2. Jh. nChr offiziell keine unter den Menschen wandelnden Götter, so hinderte das doch niemanden daran, dem Kaiser göttliche Verehrung öffentlich zukommen zu lassen. Der Statthalter Plinius stellte die Statue des Kaisers Trajan neben die Götterbilder, damit abtrünnige Christen ihm opfern konnten, und als Hadrian den Tempel des olympischen Zeus in Athen vollendet hatte, stellten Athenbesucher dort Inschriften auf, die den „Olympier" Hadrian als Wohltäter priesen. Eine neue Religion oder ein Religionsersatz ist der Kaiserkult dennoch während der ersten beiden Jahrhunderte niemals gewesen. Das wußten alle, die Befürworter des Kaiserkultes ebenso wie seine Gegner. Vielmehr war dieser Kult eine Ergänzung und Überhöhung der öffentlichen Religion, die der Erhaltung des römischen Staates diente. Niemandem wurde der Kaiserkult als Ersatz seiner eigenen Religion aufgedrängt. Im Gegenteil, die Römer förderten die eifrige Verehrung aller Götter bei den Städten und Völkern, bei denen sie heimisch waren, und sie rechneten damit, daß ihnen so auch die Unterstützung dieser Götter zuteil werden würde. Wenn Kaiserinschriften vom Kaiser als „Heiland" redeten, seine „Ankunft" (Epiphanie) als „Freudenbotschaft" verkündeten und ihn als Wohltäter und Friedensbringer für die ganze Menschheit priesen, so läßt sich der religiöse Gehalt dieser Begriffe nicht ohne weiteres mit dem Gehalt der gleichen Begrifflichkeit im christlichen Sprachgebrauch vergleichen. Denn im offiziellen Sprachgebrauch war solche Terminologie schon recht abgegriffene Münze.
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Gewiß war man dankbar für die Aufrichtung und Erhaltung des Friedens durch den Kaiser, und ebenso hoffte man, daß die Gunst der Götter oder der Schicksalsmächte es den Kaisern weiterhin ermöglichen werde, Frieden und Wohlstand zu sichern. Aber daß dieses römische Reich die Erfüllung der religiösen Sehnsucht der Menschen war, dieser Gedanke war nur für kurze Zeit am Anfang der Regierung des Augustus aufgeblitzt, etwa in den Dichtungen Vergib. Inzwischen war jedermann seines Weges gegangen - manchmal noch zu den alten Göttern, öfter zu den neuen Religionen, zu den Missionspredigern des Marktes, zu den Philosophen, und nicht selten zu den Sterndeutern und Zauberern. Daß die Christen dennoch gerade mit dem Kaiserkult in Konflikt gerieten, haben die römischen Behörden zunächst weder begriffen noch gewollt. Von Anfang an verlangte die christliche Verkündigung eine ausschließliche Loyalität. Sie bezog sich nicht nur auf den einen Gott, den allein anzubeten eine unumstößliche Verpflichtung war, sondern war zugleich mit dem politischen Weltverständnis des römischen Staates unvereinbar. Die christliche Botschaft entsprang einem enthusiastisch erfahrenen Glauben an eine neue Welt. Zwar erhielt sich die Spannkraft dieses Glaubens nicht immer, und die Naherwartung der Parusie Christi konnte sogar ganz aufgegeben werden. Aber die Zugehörigkeit zu einer anderen Welt und die Verpflichtung auf ihren Herrscher Christus blieb ein konstituierender Bestandteil der christlichen Überzeugung. Darin waren sich auch noch in einer in sich zerstrittenen Christenheit Gnostiker, Montanisten, Marcioniten und Apologeten einig. War schon der Glaube an andere Götter für die Christen unerträglich, so mußte die Aufnahme des Kaisers unter die Staatsgötter, die der Erhaltung der Welt und ihrer Institutionen dienen sollten, nicht nur Hybris und Blasphemie sein, sondern Christus und seinem Herrschaftsanspruch direkt widersprechen. Kompromisse zu schließen - dazu waren die Christen durchaus bereit. Sie beteten für den Kaiser, und die Apologeten empfahlen die christliche Sittenstrenge als staatserhaltende Tugend. Aber daß ein echter Christ niemals den Göttern und dem Kaiser opfern würde, hat bereits Plinius in seinem Brief an Trajan (s.u. § 12. 3d) ausdrücklich festgestellt. So wurde der Kaiserkult zum Prüfstein, an dem sich die Treue zu Christus erweisen mußte.
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c) Mithras Unter den Propagandareligionen, die sich während der römischen Kaiserzeit über das Mittelmeergebiet ausbreiteten, nahm der Kult des Mithras eine Sonderstellung ein. Obgleich Mithras der orientalischste unter allen neuen Göttern war, und obgleich sein Kult sich auf eine exklusive Mysterienfeier konzentrierte - es war im echten Sinne eine „Mysterienreligion" - , wurde Mithras von den Römern ohne Widerspruch akzeptiert und am Ende des 3. Jh. nChr sogar zum Staatsgott gemacht. Mithras war ursprünglich ein indo-iranischer Gott, dessen Name „Vertrag" bedeutet. Durch die Ausbreitung des zoroastrischen Glaubens in Persien scheint Mithras dort zurückgedrängt worden sein. Aber die Achaemeniden haben auch Mithras verehrt, jedoch die für ihn typischen Stieropfer verboten. In der hellenistischen Zeit weisen die Namen von Angehörigen der parthischen Fürstenhäuser in Persien, sowie auch der Könige von Pontus (die iranischer Herkunft sind) auf die Verehrung des Mithras hin („Mithradates"). Mithrasheiligtümer gab es während dieser Zeit an vielen Orten des Ostens, u. a. auch in Ägypten. Die Mager, eine medische Priesterkaste, waren die Träger des Kultes; doch verwendeten die Griechen diese Bezeichnung auch für babylonische Priester und verbanden ihn mit der Astralreligion. Daher kann man beim Auftauchen der Bezeichnung Mager nicht immer ein Zeugnis für die Mithrasreligion vermuten. Nichts deutet jedoch darauf hin, daß es sich bei diesem Mithraskult der hellenistischen Zeit um einen Mysterienkult gehandelt hat und daß iranische Elemente den wesentlichen Anstoß zur Entwicklung der Mithrasmysterien gegeben haben. Es ist durchaus möglich, daß der Mithraskult erst bei seiner Wanderung nach dem Westen am Anfang der römischen Kaiserzeit die Züge einer Mysterienreligion annahm (s. dazu oben §4. Je und §4.4ά). Wie und unter welchen Umständen das geschah, entzieht sich unserer Kenntnis. Jedenfalls gab es seit dem Beginn der römischen Kaiserzeit Mithrasmysterien in vielen Teilen des Reiches. Nach Plutarch sollen die kilikischen Seeräuber, die Pompeius im Westen ansiedelte, die Religion des Mithras im Westen verbreitet haben. Zeugnisse für eine weitere Verbreitung finden sich allerdings erst seit dem Ende des l.Jh.nChr, und es kann kaum bezweifelt werden, daß die Verehrung des Mithras bis ins 4. Jh. nChr die bedeutendste Mysterienreligion der heidnischen Welt war. Mithrasheiligtümer („Mithräen")
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sind fast überall gefunden worden, besonders in den Grenzprovinzen des römischen Reiches vom germanischen Limes bis zum mesopotamischen Dura-Europos, aber auch in den inneren Provinzen, wenngleich sie dort seltener sind. Immerhin gab es an die hundert Mithräen in der Stadt Rom und sechzehn in der Hafenstadt Ostia an der Tibermündung. N u r Männer wurden in die Mysterien eingeweiht: so wurde die Mithrasreligion zum Mysterienkult der Soldaten, Seeleute und Kaufleute. Aber die Mitgliedschaft beschränkte sich keineswegs auf die unteren Bevölkerungsschichten. N u r in Gegenden, wo die Mobilität der Bevölkerung gering war und wo sich die alten Familienstrukturen erhalten hatten, konnte Mithras schwer Zugang finden. Die Kultlegende ist nur teilweise bekannt, nämlich insoweit als sie sich aus den zahlreichen bildlichen Darstellungen rekonstruieren läßt. Am 25.Dezember wird Mithras aus einem Fels geboren; Hirten bringen ihm Gaben dar. Auf der Jagd begegnet Mithras dem Stier, bezwingt ihn und trägt ihn in eine Höhle; dort tötet er den Stier mit einem kurzen Schwert; aus seinem Blut und aus seinem Samen wächst neues Leben; eine Schlange versucht das Blut des Stieres zu trinken und ein Skorpion vergiftet seinen Samen. Die Sonne, der Mond und die Planeten sowie die vier Winde sind Zeugen bei dem Opfer; Mithras trifft sich mit der Sonne ( = der Gott Helios/Sol); beide essen und trinken von dem Fleisch und Blut des Stieres und schließen einen Bund: Sol kniet vor Mithras und empfängt den Ritterschlag; beide reichen sich die Hand. In welcher Weise die Szenen dieser Kultlegende mit den Mysterienhandlungen verbunden waren, ist nicht bekannt. Die Einweihung in die Mysterien umfaßte sieben Stufen, die wahrscheinlich den sieben Planeten entsprachen. Der Eingeweihte wird als „wiedergeboren" bezeichnet; ein Eid machte ihn zum Soldaten des Mithras. Die höchste Stufe war die Identifizierung mit der Sonne (Sol). Innerhalb des Mysterienvereins wurde eine strenge Ordnung und eine hierarchische Gliederung gewahrt, die den sieben Initiationsstufen entsprach. Militärische Disziplin und Unterordnung spiegeln sich in der Disziplin des Mysterienvereins wider. Gleichzeitig zeigt die Initiationsordnung auch eine Verbindung zur Astralreligion. Kosmische Bezüge spiegeln sich außerdem darin, daß es neben den sieben Einweihungsstufen noch besondere Einweihungen in die Elemente (Feuer, Wasser, Luft) gab. Die Geschichte des Mithraskultes zeigt, daß sich das offizielle
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R o m durchaus mit der weiten Verbreitung eines aus dem Osten stammenden Mysterienkultes abfinden konnte. D i e G r ü n d e d a f ü r , daß der Mithraskult akzeptiert, ja zunehmend gefördert wurde, während man die Christen verfolgte, lassen sich juristisch nicht fassen. Wahrscheinlich spielte die einfache Tatsache eine Rolle, daß sich größere Teile der einflußreichen Bevölkerung - und dazu gehörten in zunehmenden Maße die Soldaten - in die Mithrasmysterien einweihen ließen. In einer Zeit, in der die Armee einen immer stärker werdenden Einfluß auf die Geschicke des Weltreiches ausübte, fand die herrschende römische Oberschicht ihre gesellschaftlichen Ideale eher bei Mithras als in der christlichen Religion. d) D e r Neupythagoreismus In späthellenistischer und römischer Zeit trat erneut die pythagoreische Bewegung in Erscheinung. Sie berief sich auf den Philosophen, Mathematiker und Ordensgründer Pythagoras aus S a m o s , der dort ca. 5 7 0 / 5 6 0 geboren war. N a c h d e m er Reisen nach Babylonien und Ägypten unternommen hatte, wirkte er seit 5 3 0 / 5 2 5 in K r o t o n in Unteritalien. Hier gründete er einen philosophischen O r den, dessen Mitglieder unter strengen, teils asketischen Regeln lebten. Man vermutet, daß Pythagoras mit dieser Ordensgründung nicht nur esoterisch-religiöse Ziele verfolgte, sondern auch ein Instrument politischer Einflußnahme schaffen wollte. D e m entsprach die Gliederung des Ordens in „ P o l i t i k e r " und „ T h e o r e t i k e r " (die wohl mit der späteren Gliederung in „ A k u s m a t i k e r " und „ M a t h e m a t i k e r " identisch ist). Die Ersteren waren nicht zur Einhaltung aller Ordensregeln verpflichtet. N a c h anfänglichen Erfolgen in einer Reihe unteritalischer Städte, w o die Pythagoreer zur H a u p t stütze der herrschenden Aristokratie geworden waren, erlebte der Orden in den demokratischen Revolutionen des 5 . J h . v C h r eine K a tastrophe. Zwar scheint er sich wieder etwas erholt zu haben; aber er blieb forthin ohne Bedeutung, und in den ersten beiden Jahrhunderten der hellenistischen E p o c h e gab es offenbar überhaupt keine Pythagoreer mehr. D a ß der spätere Neupythagoreismus an eine noch bestehende Organisation der alten Pythagoreer anknüpfen konnte, ist unwahrscheinlich. Es gibt zwar pseudo-pythagoreische Schriften der hellenistischen Zeit. D o c h sind dies Machwerke, die keiner bestimmten Schule angehören, und ein unmittelbarer Zusammenhang dieser Schriften mit den Neupythagoreern läßt sich schwerlich erweisen.
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Tatsächlich gab es bei den Neupythagoreern auch keinen fest organisierten Schulbetrieb und ihre Lehren waren nur zu einem geringen Teil spezifisch pythagoreisch. Orphische Anschauungen (s.o. §4.2d) sind vielfach übernommen worden. Was man als spezifisch pythagoreisches Erbe vorweisen konnte, ließ sich ohne Schwierigkeiten aus Aristoteles entnehmen; denn Aristoteles (oder einer seiner Schüler) hatte die sogenannten „Akusmata" des Pythagoras gesammelt (der alte Pythagoreismus hatte die Lehren des Meisters nie schriftlich fixiert, sondern nur mündlich überliefert). Danach gab es 1. wissenschaftliche Definitionen, 2. Weisheitssprüche und 3. Lebensregeln. Die letzteren bestanden einmal aus Speisegesetzen, die insbesondere wegen der Lehre von der Seelenwanderung auf einen starken, wenn auch nicht ausschließlichen Vegetarismus hinzielten; zum andern aus Regeln f ü r die rituelle Reinheit (weiße Gewänder und keine Schuhe beim Betreten eines T e m pels, Verbot der Verbrennung Verstorbener). Soweit solche Regeln wieder aufgenommen wurden, knüpften die neuen Pythagoreer an die alten an und führten damit die pythagoreische Tradition fort. Ebenso war die von den Neupythagoreern entwickelte Zahlensymbolik, die f ü r sie so charakteristisch war, ein Erbe des mathematischen Interesses der alten Schule. In ihrer keineswegs einheitlichen philosophischen Orientierung waren die Neupythagoreer eklektizistisch, im wesentlichen aber Platoniker. Mit einem platonischen Dualismus verbanden sie die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und einen sehr konkreten Dämonenglauben. Aber damit unterschieden sich die Neupythagoreer ja keineswegs von anderen religiösen Philosophen ihrer Zeit. Der delphische Priester Plutarch, der jüdische Bibelgelehrte Philo und der christliche Apologet Justin waren mit ihnen in solchen Uberzeugungen ganz einig, und Philo und Plutarch teilten außerdem noch das Interesse an der Zahlensymbolik. Was die Neupythagoreer von anderen Philosophen unterschied, war die Aufnahme gewisser religiöser Unterströmungen. Dazu gehören vor allem Vorstellungen, die aus dem O r phizismus kommen (s.o. §4.2d), so daß sich Orphisches und N e u pythagoreisches oft nicht voneinander trennen läßt (vgl. z.B. die Vorstellungen vom Schicksal der Seele nach dem Tode). All dies verbanden die Neupythagoreer zu einem eigenartigen Lebensideal, in dem sich die Macht und Überlegenheit des menschlichen Ichs schon in diesem Leben sichtbar darstellen konnte. Dadurch daß diese Philosophen o f t als missionierende Wanderprediger durchs
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Land zogen, haben sie viel zur Verbreitung eines popularisierten Orphizismus und Piatonismus beigetragen. Ein Beispiel dafür ist in Philostratus' Biographie des wandernden Magiers, Asketen und Philosophen Apollonim von Tyana ( l . J h . n C h r ) erhalten. Das hier gezeichnete Bild ist sicher idealisiert; Philostratus verwendete zwar älteres Material, aber er wollte vor allem das Beispiel des vollkommenen pythagoreischen Philosophen zeichnen. Alle Züge einer den pythagoreischen Grundsätzen entsprechenden Lebensführung spiegeln sich daher im Leben des Apollonius wider. Weitaus angemessener als in der theoretischen Darstellung der pythagoreischen Philosophie konnte die Biographie das Lebensideal der Pythagoreer zum Ausdruck bringen: Gegenüber Freunden und für das Gemeinwesen muß man Wohltätigkeit üben, immer anderen gut zu raten wissen, die Götter in der rechten Weise ehren - nicht durch Opfer und Feste, sondern durch Abkehr von der Sinnenwelt - , die Dämonen soll man erkennen und sie vertreiben; täglich soll man sich von allen seinen Taten Rechenschaft ablegen, von der Gerechtigkeit nie abweichen und sich der Führung seines „Daimonion" anvertrauen. Als Verkörperung dieses Ideals erscheint Apollonius in Philostratus' Biographie: im leinenen Priesterkleid zieht er durch die Lande, bleibt stets seinem Amt als Diener der Gottheit und Wohltäter der Menschen treu, ißt kein Fleisch, um nichts Lebendes zu zerstören, badet sich nie, fastet oft, treibt Dämonen aus, heilt Kranke, weissagt die Zukunft und gibt seinen Rat gefragt und ungefragt (was ihm nicht nur Freunde einbringt). In vielerlei Beziehung erfüllte dieses Ideal die Erwartungen jener Zeit auf das Beste. Man war nur zu gern bereit, an die Gegenwart göttlicher Kraft zu glauben und sich von dem geheimen Wissen um das Wirken jenseitiger Mächte beeindrucken zu lassen. Das Asketentum und die rigorose Moralität des pythagoreischen Philosophen verkörperte eine menschliche Größe, die die Grenzen des alltäglichen Tuns überschritt und einen Blick in eine Daseinsmöglichkeit erschloß, die gerechter und konsequenter war als das Handeln der Vielen in einer Welt voller Ungerechtigkeit. Gerade weil die Biographie des Apollonius (ebenso wie die zahlreichen Biographien des Pythagoras) religiöse Heiligenlegende war, konnte sie diese Erwartungen befriedigen. Im Unterschied zu Plutarchs Parallelbiographien geht es hier nicht nur um Beispiele sittlicher Entscheidungen, sondern um Einsichten in die tieferen Zusammenhänge des menschlichen Seins mit göttlichen Mächten und un-
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sichtbaren dämonischen Kräften. Was die Pythagoreer verkündeten war keine Philosophie, sondern eine Religion.
e) Astrologie und Magie Nach dem Bekanntwerden der babylonischen Sternkunde in der griechisch sprechenden Welt zum Beginn der hellenistischen Zeit hatte die Astrologie den sich ausbreitenden Schicksalsglauben verstärkt (s.o. § 4.2c), aber die von der Astrologie angebotene Alternative eines neuen religiösen Weltbildes erreichte erst im Späthellenismus und in der römischen Kaiserzeit weitere Kreise. Zu Anfang war die Astrologie eine Religion der Gebildeten. Horoskope waren teuer; denn sie erforderten umfangreiche, wissenschaftliche Untersuchungen. Erst die Einführung des julianischen Kalenders öffnete die Tore für eine allgemeine Verbreitung astrologischer Vorstellungen. Was der Astrologie zum Sieg verhalf, war die Möglichkeit, die Gesetze und Mächte der Welt vermittels eines wissenschaftlich legitimierten Systems begreifen zu können. Hatte sich ohnehin der politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Horizont der menschlichen Erfahrung ungeheuer geweitet, so ist es verständlich, daß auch das alte Bild des Kosmos mit der von Menschen bewohnten Erdscheibe und dem erdennahen gewölbten Himmel der Götter darüber und der Unterwelt darunter einer Revision bedurfte. Astronomie und Astrologie im Verein miteinander machten dies möglich: Die Erde, rund wie eine Kugel, war der Mittelpunkt des sich stets wandelnden sublunaren Raumes. Der Ort der Toten und der Seelen wurde in Anknüpfung an ältere orientalische Vorstellungen in die oberen Bereiche der Luft oder auf den Mond verlegt. Darüber befand sich jenseits der Planetensphären in unendlichen Fernen der Raum der Sonne und der Sterne, der Götter und des Lichts, des Feuers und des Geistes. Mochte der Mensch auch den Mächten der irdischen Welt ausgeliefert sein, so durfte er sich doch den kosmischen Mächten verwandt fühlen. Seine Seele gehörte zur Welt der Sonne und der Sterne. Wenn er die Gesetze des Kosmos verstehen lernte, konnte er mit den widrigen Mächten der unteren Sphären des Himmels rechnen und konnte den Bannkreis der Planeten brechen, der ihm den Zugang zur erhabenen Welt des oberen Himmels wehren wollte, zu der er seinem Wesen nach gehörte. Schließlich mochte solches Wissen auch zur Meisterung mancher Situationen des irdischen Lebens recht nützlich sein.
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All das ist nicht als pseudo-religiöse Quacksalberei in die hellenistische und römische Welt getreten, sondern als wissenschaftlich ausgewiesene Einsicht in das Wesen der Dinge im gesamten Kosmos, von den führenden Forschern der hellenistischen Zeit legitimiert und von den gelehrtesten Philosophen systematisiert. Hinzu kam, daß die Neuordnung der Welt des griechischen Ostens und die Wiederherstellung des Friedens nach den langen Wirren des Bürgerkrieges durch Augustus Hand in Hand ging mit der Einführung des von Caesar auf wissenschaftlicher Grundlage geschaffenen Sonnenkalenders, des sogenannten julianischen Kalenders, der bis heute im wesentlichen unser gültiger Kalender geblieben ist. Daß es sich hier aber um streng astronomische Berechnungen handelte und nicht um Astrologie, wird dem durchschnittlichen Bürger nicht immer bewußt gewesen sein. In der T a t wurde durch den neuen Kalender der Glaube an die Sonne ebenso gefördert wie die Benennung der Wochentage nach den Planeten, welche jeweils die erste Stunde des Tages regierten. Die Verbreitung des Neujahrsfestes zeigt ebenfalls astrologische Elemente. Am Anfang des l . J h . n C h r war die Astrologie jedermann vertraut und der Unterschied zwischen Astronomie und Astrologie weithin unbekannt. Astrologische Symbole wurden überall im täglichen Leben sichtbar. Popularisierte astrologische Schriften wurden verbreitet, durch die es möglich wurde, ohne komplizierte Berechnungen Auskunft über günstige und ungünstige Tage und Stunden zu erhalten. V o n diesen astrologischen Schriften ist manches erhalten geblieben, so daß man sich noch heute ein gutes Bild von ihrem Inhalt machen kann. Sie enthielten z.B. nach den Auf- und Untergangszeiten der Sterne festgelegte Voraussagen für die betreffenden Tage, Voraussagen an Hand des Standes von Sonne und Mond im Tierkreis, Mondkalender mit Angaben für jeden T a g des Mondmonats, Erklärungen für den Fall eines Erdbebens oder eines Gewitters, und schließlich Charakterbilder und Verhaltensmuster für einzelne Menschen, je nachdem wie die Planeten ihrer Geburts- oder Konzeptionsstunde für sie bestimmend waren. Aber auch ohne die Lektüre solcher Schriften konnten sich die Menschen damals kaum dem Einfluß astrologischer Symbole entziehen. Planetenbahnen oder Tierkreiszeichen, Darstellungen von Monaten und Jahreszeiten sah man häufig an den Wänden und Türpfosten der Häuser und auf Mosaiken in privaten und öffentlichen Bauten. Augustus prägte Münzen mit Zeichen des Steinbocks, unter dem er geboren
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worden war. Die Legionen erhielten Feldzeichen mit dem Tierkreiszeichen des Geburtsmonats des Kaisers. Es konnte nicht ausbleiben, daß auch das Bild der Götter, der alten wie der neuen, nach den sich schnell ausbreitenden astrologischen Vorstellungen umgeformt wurde. Eine Kopie der Artemis der Epheser aus römischer Zeit, die heute im Museum von Sel^uk in der Nähe des alten Ephesus steht, zeigt die Göttin mit einer Halskette aus den zwölf Zeichen des Tierkreises. Götter wurden oft mit dem Strahlenkranz der Sonne dargestellt. Zu diesen neu im astrologischen Sinne verstandenen Göttern traten Personifizierungen kosmischer Mächte - denn ganz mechanistisch stellte man sich die Mächte in diesem neuen Weltbild eben doch nicht vor. Außer den Göttern der neuen Religionen (Isis, Sarapis, s.o. §4.4a; Mithras s.o. §6. 5c) spielte insbesondere - vielleicht nach orientalischen Vorbildern - der Gott Aiön eine Rolle als Personifizierung der Ewigkeit und Unendlichkeit und als Herrscher der Weltzeit. Neben der höchsten jenseitigen Gottheit ist er ein zweiter Gott, in dem sich die ständige Bewegung des Alls, der Kreislauf der Gestirne, Werden und Vergehen, Geburt, Tod und Wiedergeburt verkörpern. Daher sind seine Symbole die sich stets verjüngende Schlange und der aus seiner Asche zu neuem Leben erstehende Phönix. H a t es auch gelegentlich Kultstätten des Aiön gegeben, so kann man doch von einem Aiön-Kult im Sinne einer selbständigen Religion nicht reden. Dieser Gott gehört vielmehr zum Weltbild der Zeit, sei es daß er hier und dort mit anderen Göttern verbunden war, sei es daß er in Theogonien und Kosmogonien als Weltschöpfer eine Rolle spielte, daß er in den hermetischen Schriften als erstes Abbild und als Kraft des höchsten Gottes erschien, oder daß man ihn im Zauber als Ursprung alles Wirkens anrief. Die weite Verbreitung astrologischer Vorstellungen beweisen auch jüdische und christliche Schriften jener Zeit. Die Gemeinde von Qumran am Toten Meer folgte einem Sonnenkalender. Apokalyptische Schriften sind voll von Zahlen, Symbolen und kosmologischen Bildern, die aus der Astrologie stammen. Wenn in der Offenbarung des Johannes (12, Iff) die Vision einer Frau beschrieben wird, die als Gewand die Sonne angezogen hat, auf der Mondsichel steht und mit den zwölf Zeichen des Tierkreises bekrönt ist, so zeigt sich, daß auch das Christentum sich nicht den Einflüssen astrologischer Göttervorstellungen entziehen konnte. Mit der Astrologie kam aber auch die Zauberei, die Magie. Frei-
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lieh hatte es Magie schon immer gegeben, unterschwellig neben den offiziellen Kulten und ihren Riten, verachtet und doch oft gesucht. Denn das ist charakteristisch für die Magie, daß sie im Winkel bleibt und nicht die gleiche Offentlichkeitsbasis hat wie die Religion, mögen auch die magischen Handlungen den religiösen Riten noch so ähnlich sein. Der Magier ist nicht ein von der Gemeinschaft bestallter Priester und Theologe, er ist „Techniker". Seine Macht beruht nicht auf der gesellschaftlichen Institution und auf sanktionierter Tradition, sondern auf den beim Meister erlernten und in der Erfahrung erprobten handwerklichen Regeln seiner Kunst. Die Religion ist allen jenen Lebenserfahrungen zugewandt, die für die politische und soziale Gemeinschaft, also für die Polis oder den Staat, von Bedeutung sind; sie hat es daher mit Krieg und Frieden, Schuld und Sühne, Saat und Ernte, Familie und Ehe zu tun. Dem Magier hingegen geht es um die Beherrschung der außerhalb dieses Bereiches liegenden Naturkräfte und kosmischen Mächte, der guten und bösen Dämonen, und um die Kontrolle über die Grenzbereiche des menschlichen Lebens: Empfängnis und Geburt, T o d und Unterwelt, aber auch solche Grenzerfahrungen wie Krankheit, persönliches Unglück, Liebesabenteuer und Reisen in fremde Länder. Die Entwicklungen der späthellenistischen Zeit hatten dazu geführt, daß für viele Menschen die Magie wichtiger und verlockender wurde als die althergebrachte Religion. Zweierlei hat der Magie den Weg geebnet. Einmal hatte die Philosophie sich von der Bindung an den Staat und die politische Aufgabe des Menschen losgesagt und sich der Natur, dem Kosmos, der Seele und dem Leben nach dem Tode zugewandt. Zum anderen trat die Astrologie ihren Siegeszug an mit dem Anspruch, über das Verhältnis des menschlichen Schicksals zu den Sternenmächten des Kosmos Aufschluß geben zu können. So wurden Magie und Astrologie Bundesgenossen. Denn die Magie verstand ihr Handwerk schon immer als ein Eingreifen in das geheimnisvolle Netzwerk der Kräfte der Natur und des Kosmos. Himmlisches und Irdisches, die Sterne und der Mensch, Geist und Körper, Pneuma und Materie, Worte und Sachen, Namen und Götter - sie alle gehörten der gleichen „wissenschaftlichen" Gesetzmäßigkeit des gesamten Kosmos an. Kannte man die Gesetze der Sterne, ihre Kräfte und ihre Namen, und wußte man, was im irdischen Bereich damit in engem Zusammenhang stand, so konnte man die Kraft der Sterne beeinflussen,
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indem man im dem Menschen zugänglichen Bereich irgendwo in das Kräftespiel des K o s m o s in der richtigen Weise eingriff. S o gab die Astrologie der Magie die Möglichkeit, mit einem neuen Universalitätsanspruch aufzutreten. L a g das Schicksal des Menschen in den Sternen und war er ständig guten und bösen dämonischen Kräften ausgesetzt, so machte die Magie das Angebot, die D ä m o nen in den Dienst der Menschen zu stellen und das Schicksal zu überlisten. Die Zauberpapyri aus der römischen Zeit sowie viele verstreute Nachrichten aus anderen Quellen beweisen, daß die Magie dabei alles in Anspruch nahm, dessen sie habhaft werden konnte. Was hier vor sich ging, war Synkretismus auf inoffizieller Ebene, der keine Grenzen kannte. Hatte eine bestimmte kosmische K r a f t bei den verschiedenen Religionen jeweils andere Namen, so mußte man sie eben alle aussprechen, um diese Kraft zu beschwören. Neben den Namen griechischer Götter finden sich ägyptische, jüdische (z.B. Iao = Jahweh; Sabaoth) und andere, sowie geheimnisvolle Kunstworte. Zu den altbewährten Mitteln des Handwerks (allein ihre Aufzählung würde mehrere Seiten füllen) traten neue, die man aus allen möglichen religiösen Traditionen bezog: Umschriften von hebräischen Sätzen ins Griechische (die man dann von links nach rechts, also rückwärts, las), liturgische Stücke aus Mysterienreligionen des Ostens oder Ägyptens, Rezitation von K o s m o g o nien, Manipulationen, zu denen man die Anregungen bedenkenlos aus medizinischen und naturwissenschaftlichen Handbüchern entnahm und sie mit alten Zauberpraktiken oder religiösen Handlungen verband. D a der synkretistische Prozeß in der Magie nicht an die Sanktionierung durch eine bestimmte religiöse Gemeinschaft oder Institution gebunden war, konnte hier orientalisches Gut viel ungehinderter eindringen. Auffallend ist in den griechischen Zauberpapyri der Anteil des Jüdischen, was sicher mit der erfolgreichen Tätigkeit jüdischer Magier und der Verbreitung jüdischer Zauberbücher (oft unter der Autorität Salomos) im Zusammenhang steht. Ausbreitung und Erfolg der Magie während der römischen Kaiserzeit kann man schwer zu hoch einschätzen. N o c h im l . J h . v C h r waren mehrfach Versuche unternommen worden, die „ C h a l d ä e r " und „ G o e t e n " aus R o m zu vertreiben. Aber sie kamen wieder und waren überall zu finden, ob sie nun als Prediger am Markt ihre Künste anpriesen oder ob ihr Ruf sich im Geheimen von Mund zu
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Mund ausbreitete. Einen zauberkundigen „Philosophen" oder die Priesterin eines Winkelkultes oder eine Zauberschrift ausfindig zu machen, scheint niemandem schwer gefallen zu sein. Wie sollte man es anders schaffen, sich eine bewunderte Geliebte gefügig zu machen, einen politischen Gegner zu beseitigen, eine erfolglose von den Ärzten behandelte Krankheit loszuwerden oder trotz ungünstiger Vorzeichen eine wichtige Geschäftsreise zu unternehmen? Man brauchte die Magier, wollte man nicht vor der Drohung des Schicksals resignieren. Die Magie eroberte sich schnell alle Bevölkerungsschichten. Die Philosophie und die Religion waren gegen sie ebensowenig gefeit wie gegen den Einfluß der Astrologie. Wenn in den Johannesakten der Apostel die Wanzen durch Zauber aus der Herberge vertreibt, und wenn in der Apostelgeschichte des Petrus sich der Apostel und der Magier Simon gegenseitig in Zauberkunststücken überbieten, so fragt man sich, wie oft im Wettbewerb der Religionen der Vorwurf der Zauberei zu Recht besteht. Denn das hatten Astrologie und Magie die Missionsreligionen gelehrt, daß sie nur dann Erfolg haben konnten, wenn sie einen Weg zur Freiheit vom Schicksalszwang der Sterne und zur Bewältigung der dämonischen Mächte weisen konnten. Das Christentum ebenso wie die jüdische Missionspropaganda, die ägyptische Religion und der Mithraskult haben das wohl verstanden. Aber nur die Hermetik und die Gnosis haben die Antwort auf diese Herausforderung zu ihrem Programm gemacht. f) Die Gnosis und die Hermetik Die Magie konnte den Zwang der Mächte überspielen, ihn aber nicht überwinden. Seit der Zeit des Augustus bot das römische Imperium ein Programm an, das den inneren Frieden des Reiches garantieren sollte und dies auch weithin erreichte. Ein lange anhaltender wirtschaftlicher Aufschwung folgte. Die bestehenden Religionen wurden gefördert und konnten sich festigen. Die politische Propaganda für den Kaiserkult war allgegenwärtig; Tempelbauten, Statuen, Inschriften, Münzen - Zeugnisse, die niemand übersehen konnte. Dennoch waren Konflikte mit den alten Religionen selten. N u r wenige verstanden den Kaiserkult als Heilsbotschaft. Vermochte er es auch, dem römischen Politiker die Sendung Roms zu verdeutlichen, so konnte er dem ernsthaft fragenden Bewohner des Reiches nicht sagen, was das denn eigentlich für eine Welt war, in der man lebte. Die Philosophie hatte sich bereits entschlossen,
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diese Frage auszuklammern. Metaphysik war nicht gefragt. Die Römer hatten die politische Brauchbarkeit der philosophischen Ethik längst in den Mittelpunkt rücken lassen. Gewiß konnte man sich von dieser Welt und von ihrem Betrieb abwenden, ihren Pomp, ihre Betriebsamkeit und ihre Genußsucht geißeln, sich in skeptische Distanz begeben oder sich in kynischer Genügsamkeit unabhängig machen. Oder man konnte sich einer der neuen Missionsreligionen anschließen, die wenigstens Antworten auf persönliche Fragen und Probleme anboten. N u r eine einzige religiöse Bewegung erhob den Anspruch, alle Fragen mit nur einer Botschaft zu beantworten: die Gnosis. Denn die Gnosis wußte die Antwort auf die eine zentrale Frage: Was hat es mit der Welt auf sich, in der die Menschen leben? Die Welt ist ein tragisches Produkt einer Verstrickung oder eines Kampfes in der Gottheit selbst - der Mensch aber, der in seinem eigentlichen Wesen der jenseitigen Gottheit angehört, ist in dieser Verstrickung gefangen, ein Fremder in der Welt, die ihn eigentlich nichts angeht. Das Problem der Welt ist, daß es sie überhaupt gibt; Erlösung ist, daß sie wieder zum Nichts wird und der Mensch in Freiheit zu seinem göttlichen Ursprung zurückkehrt. Die Welt verliert aber ihre Macht und ihren Anspruch, wenn der Mensch sein eigentliches Sein erkennt. Das ist „Gnosis", Erkenntnis, Wissen um sich selbst und um Gott, was im Grunde dasselbe ist. Da der Mensch in der Welt gefangen, bestrickt, betört und blind ist, da er schläft oder trunken ist von der Welt, bedarf es des Rufes von außerhalb, der den Menschen weckt und ihn zur wahren Erkenntnis seiner selbst kommen läßt. Diesen Ruf in der Welt ergehen zu lassen, ist die Aufgabe des Offenbarers. Der einzige Inhalt des Rufs ist diese eine Botschaft, daß der Mensch zu Gott gehört und in der Welt ein Fremdling ist. Wer diese Gottgleichheit in sich trägt, kann den Ruf hören und sich in dem Ruf selbst erkennen, und mit dieser Erkenntnis ist er befreit. Was sonst noch in der Gnosis gesagt wird, dient lediglich dazu, sich zurechtzufinden - nicht in der Welt; denn sie ist ja nur eine tragische Mißgeburt, ein böses Machwerk. Zurechtfinden muß man sich in Bezug auf die Frage: Woher kam ich, warum bin ich hier und wie gelange ich wieder zurück? Daher spricht die Gnosis vom göttlichen Uranfang, von der tragischen Verstrickung - berichtet also Theogonie und Kosmogonie - und vom „ W e g " in die göttliche Wirklichkeit des Ursprungs. Für den Religionshistoriker ist das freilich eine wenig befriedi-
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gende Darstellung; denn die Religionsgeschichte will Entwicklungen darstellen, Abhängigkeiten verstehen und Neues so darstellen, daß man sehen kann, wie es mit dem Alten zusammenhängt. Die neue religiöse Einsicht der Gnosis ist aber schlechterdings nicht ableitbar. Insofern ist es müßig zu fragen, ob die Gnosis aus dem Judentum oder aus dem Christentum oder aus dem Piatonismus entstanden sei. Auch das „Wie" der Entstehung wird sich nicht als Darstellung spezieller historischer Gegebenheiten beantworten lassen. Dafür ist die Einsicht der Gnosis zu grundsätzlich. Eine allgemeine Antwort ist allerdings geboten. Denn wir wissen, daß die Gnosis in einer Zeit entstanden ist, in der für den einzelnen Menschen der Ort seiner politischen und sozialen Identität fragwürdig geworden war, und zwar gerade auch insofern, als gesellschaftliche Institutionen wie etwa die Polis oder ein bestimmtes Volk ursprünglich religiös sanktioniert und daher sinnvoll gewesen waren. Jetzt aber sahen sich die Menschen einer Welt gegenüber, die ihnen fremd war und die sich innerhalb der Perspektiven der ererbten Religionen nicht mehr begreifen ließ. Antworten auf dieses Problem waren gewiß gegeben worden. Die Stoa hatte gesagt, daß man sich als Bürger der Welt verstehen lernen müsse. Neue Religionen verkündeten Götter als Herrscher der ganzen Welt; aber die Herrschaftsansprüche dieser Götter deckten sich nicht mit den politischen Mächten, denen die Menschen im römischen Reich unterworfen waren. Richtete man seinen Blick zum Himmel und in die siderische Welt, so wußte man, daß die Luft von Dämonen bevölkert war, die den Menschen keineswegs wohlgesonnen sein mußten, daß die Planeten mehr böse als gute Tage brachten und daß die Gestirne des Tierkreises ein ehernes Gesetz verkündeten, dem sich sogar die Götter zu beugen hatten. Diese Welterfahrung ist die Voraussetzung der gnostischen Religion und ihrer Botschaft, die selbst von nichts anderem abgeleitet werden kann als von der Erfahrung der Welt als Fremde und von der befreienden Botschaft eines göttlichen Rufes, in welchem der Mensch sich und sein wahres Sein wiedererkannte. Uber die Sprache der Botschaft der Gnosis läßt sich freilich Genaueres sagen. Denn eigentlich nur darum geht es in der Debatte um die Herkunft der Gnosis, in welcher Sprache der bekannten antiken Religionsgeschichte uns die gnostische Botschaft zum ersten Mal entgegentritt. Daß es gnostische Schriften von Autoren gegeben hat, die sich selbst dem Christentum zurechneten und für die
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meist, wenn auch nicht immer, Jesus der Bringer der gnostischen Botschaft war, wußte man spätestens seit dem 2 . J h . n C h r . W o h l w a r hier manchmal gnostischer Glaube so eng mit christlichen Uberlieferungen und christlicher Sprache verwoben, daß es bis heute schwer fällt, das U n k r a u t zu jäten, ohne den Weizen zu verderben. D o c h findet sich auch in christlich-gnostischen Schriften vieles, was nicht so o h n e weiteres aus der christlichen Sprache und ihren Vorstellungen abgeleitet werden kann. Auffallend sind die theogonische und kosmogonische Mythologie, der metaphysisch begründete Dualismus und die mythische Beschreibung der O f f e n barergestalt. D e r altkatholische Kirchenvater Hippolyt (3. Jh.) hat den gnostischen Häretikern vorgeworfen, daß ihre Abhängigkeit von verwerflichen Lehren der griechischen Philosophie sie zu häretischen Anschauungen verleitet habe. In Bezug auf den gnostischen Dualismus hatte Hippolyt insofern recht, als die spätere christliche Gnosis in der T a t ihre entsprechenden Lehren in ein philosophisches Gewand gekleidet hatte. Aber gerade in einer Reihe der älteren gnostischen Schriften überwiegen mythologische Sprache und Spekulation in einem solchen Maße, daß jeder Versuch einer philosophischen Ableitung z u m Scheitern verurteilt ist. D a ß die mythologischen Vorstellungen der Gnosis letztlich aus dem alten Mythengut des Orients stammen, wird niemand bestreiten wollen. N u r entzieht sich Entwicklung und Bestand dieser Mythen in der hellenistischen und römischen Zeit fast ganz unserer Kenntnis. Z ü g e des gnostischen Dualismus mögen persischer H e r k u n f t sein, aber unsere Kenntnis der persischen Religion jener Zeit ist so lückenhaft, daß die A n n a h m e eines iranischen Erlösungsmysteriums als V o r l ä u fer der gnostischen Religion eine unbegründete V e r m u t u n g bleiben muß. Wahrscheinlicher ist die V e r w e n d u n g kanaanäischer Schöpfungsmythen bei der Ausbildung gnostischer Kosmogonien. Direkt ist dieses Abhängigkeitsverhältnis allerdings auch kaum n a c h p r ü f bar. Jedoch ist das J u d e n t u m bis in die hellenistische und f r ü h e römische Kaiserzeit hinein Zeuge einer A u f n a h m e und kritischen Verarbeitung kanaanäischer und anderer orientalischer Mythologie. Man m u ß sich daher fragen, ob die ersten Zeugnisse f ü r die Entwicklung der Sprache der f r ü h e n Gnosis etwa in die N ä h e des synkretistischen J u d e n t u m s jener Zeit gehören. Das scheint mir nun in der T a t der Fall zu sein. Weitere Klärung kann erst von der E r f o r s c h u n g der n e u g e f u n d e n e n Texte von N a g H a m m a d i erwartet w e r d e n (s.u. § 10. 7b; § 10. 5b; § 11.2a).
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In Umrissen läßt sich jedoch jetzt schon ein Bild der Entwicklung der gnostischen Sprache entwerfen. W e n n dabei die jüdische Komponente betont wird, so muß nochmals daran erinnert werden, daß es nicht um eine „Ableitung" der Gnosis aus dem Judentum geht. Die Annahme des gnostischen Bekenntnisses mußte immer und zu jeder Zeit f ü r einen Juden radikaler Bruch mit dem Gott bedeuten, der Schöpfer der Welt und zugleich H e r r der Geschichte Israels ist. Ableitung in diesem Sinne kann es hier ebensowenig geben wie im Falle des Christentums - allerdings ist im letzteren Falle der Bekenner in einer weitaus schwierigeren Lage; denn es blieb den Vätern der alten Kirche vorbehalten zu sagen, was denn eigentlich legitimes Christentum sei. Im 1. und 2. christlichen Jahrhundert mußte es viel schwieriger gewesen sein, sich durch das Labyrinth der christlichen Alternativen hindurchzufinden. Aber war ein gläubiger Jude jener Zeit wirklich in einer günstigeren Position? Die damals entstandene Schrift, die unter dem Namen „ Weisheit Salomos" überliefert ist, beweist das Gegenteil; denn dieses Buch ist gnostische Theologie im jüdischen Gewände. Zwar ist der Schritt noch nicht getan, die sichtbare Schöpfung als böse zu verwerfen, aber der Weise ist fremd und verachtet in einer Welt, der er nicht angehört, und erkennt in der Stimme der Weisheit sich selbst und seinen wahren göttlichen Ursprung (s.o.§5.3e). Andere sind allerdings weiter gegangen. O b es Juden waren, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls hat bei der Ausarbeitung der Bankrotterklärung der gesamten Schöpfung und insbesondere der Erschaffung des Menschen das erste Buch der Bibel Pate gestanden. Elemente jüdischer Exegese der hellenistischen Zeit sind deutlich im Spiel. Philo von Alexandrien zeigt, daß man gelernt hatte zwischen der eigentlichen Schöpfung des Menschen in der göttlichen Sphäre (platonisch: in der Welt der Ideen) und der Erschaffung des irdischen Menschen, der nur eine Nachbildung ist, zu unterscheiden. Bei ihm finden sich auch Zeugnisse f ü r das Bemühen, die Entfaltung der göttlichen Welt selbst, die dem Entstehen der irdischen Welt vorausgegangen sein muß, verstehen zu lernen (s.o. §5.3f). Verbot Philo sich selbst die Anwendung von mythischen und astrologischen Spekulationen in dieser Sache, so legte er sich als Jude und als Philosoph damit eine Beschränkung auf, die in einem Zeitalter des wiedererwachenden Mythos sicher nicht bindend f ü r andere war. Auch hütet sich Philo, zwischen dem höchsten Gott und einem Weltschöpfer niederen Ranges zu unterscheiden, obgleich
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er von einem Schöpfungsmittler spricht, Aber Piatos Dialog Timäus, in dem die Gestalt eines untergeordneten Weltschöpfers, des Demiurgen, eine wesentliche Rolle spielt, war längst philosophisches Schulbuch geworden. Schließlich hatte gerade auch das Judentum der nachexilischen Zeit gelernt, den Lauf der Welt und das Wesen des Menschen in Kategorien eines dualistischen Denkens zu begreifen. Dabei handelt es sich nicht nur um einen popularisierten platonischen Dualismus, der ohnehin die bestimmende VulgärPhilosophie geworden war, sondern um einen mythologischen Dualismus, der vom Kampf zwischen Gott und Beliar redete, von einem Engel des Lichts und einem Engel der Finsternis, von der Macht des Bösen in der Geschichte und der jenseitigen Macht Gottes, die sich erst in der Z u k u n f t offenbaren sollte (s.o. § 5.2b—c). Mythische Weisheitsvorstellungen, Kosmogonie und Astrologie, Dualismus und Genesis-Auslegung, Gesetz und Apokalyptik, Gott, Demiurg, Engel, Dämonen und Satan - man konnte sich beliebig und eklektisch damit auseinandersetzen und mit mehr oder weniger Erfolg dabei gesetzestreuer Israelit oder Platoniker oder messianischer Fanatiker sein. Alles zu einer neuen Schau der Welt und der Erlösung zu verschmelzen, dazu bedurfte es eines Katalysators. Diese Rolle ist der Botschaft der Gnosis zugefallen. Es scheint, daß unter den Schriften von N a g H a m m a d i mehrere Bücher erhalten sind, die aus der Frühzeit der mythologischen Gnosis stammen und bei denen das christliche Element ganz fehlt oder erst nachträglich, und zwar sehr oberflächlich eingetragen ist (s.u. § 10. 5b). In diesen Werken, z.B. in dem Apokryphon des Johannes, kann man noch den schier unersättlichen Appetit spüren, der von der neuen Entdeckung ausgeht. Die neue Formel macht es möglich, sich alles einzuverleiben und vor nichts Halt zu machen. Man wird schwindlig, wenn man das liest. W ö r t e r und Begriffe in der Prädikation des Vater-Gottes, die jeder vernünftige Theologe oder Philosoph erst einzeln auf die Goldwaage legen sollte, ehe er sie ausspricht, werden aneinandergereiht in atemberaubendem T e m p o : „... der Vollkommene ist majestätisch, rein, unmeßbare Größe, ein äonenschaffender Aon, lebenspendendes Leben, segenspendender Gesegneter, erkenntnisgebende Erkenntnis, gutesgebende Güte, Gnade und Versöhnung gebende Gnade (...) sein Aon ist unzerstörbar, in Ruhe und in der Stille, vor allem anderen da, das H a u p t aller Äonen, der Stärke durch seine Güte gibt ( . . . ) usw." (Apokr. Joh. C G II 4, Iff). Aber das ist nur ein ganz kleiner
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Ausschnitt. Dann folgt die Darstellung der unfaßbaren Bewegung, in die Gott und seine Äonen hineingeraten, mit griechischen Begriffen (Ennoia, Pronoia, Autogenes) verbundene orientalische Götter· und Engelsnamen: Barbelo, Armozel, Oriel, Daveithai, Pigeraadamas. Dann die Mißgeburt der Sophia: Jaldabaoth, der Demiurg, der seine mindere Welt nach dem Vorbild der göttlichen Äonen schafft. Hier hat der Verfasser den ersten Vers der Bibel erreicht. Aber es folgt keine sorgfältig ausgewogene Exegese, sondern nochmals komplexe Aktivität des Demiurgen in der Erschaffung des Menschen mit seinen Helfern; eine ausführliche anatomische Liste findet Verwendung und jedem einzelnen Körperteil des Menschen ist nochmals ein Engel zugeordnet, jeweils mit N a men, die bisher in keinem religionsgeschichtlichen Handbuch zu finden sind. Sätze aus Gen. 2-3, über die Philo jeweils ein ganzes Buch geschrieben hätte, werden mit sicherer Hand kurz apostrophiert, wobei genau das gesagt wird, was ein rechtschaffener jüdischer Exeget auf keinen Fall sagen darf (z.B. daß die oberste Macht der mißgeborenen Welt mit Eva den Elohim und den Jahweh zeugt). Das ist entweder alles Unfug, oder es ist eine unglaublich geniale Umwertung der Uberlieferung, durch die unzweideutig klar wird, daß diese Welt des irdischen Daseins eine monströse und gefährliche Fehlschöpfung ist. Das muß man wissen, um die Botschaft hören zu können, die am Schluß des Buches steht: „ W e r hört, soll vom tiefen Schlaf aufstehen (...) daß der T o d keine Macht mehr über ihn hat." Das ist freilich nur eine der vielen Möglichkeiten gnostischer Sprache, allerdings eine Variante, die der Sprache, in der die Gnosis zuerst ihren Ausdruck fand, sehr nahe steht. Denn das Thema „Gnosis als mythologische Auslegung der Genesis" wird in gnostischen Schriften in immer neuen Varianten durchgespielt. Es gibt aber viele andere Sprachformen der Gnosis, gerade auch solche, die überlieferte Traditionen von Religion und Philosophie nicht auf so unglaubliche Weise beleidigen, wie das vielfach in der mythologischen Gnosis geschieht. Die gnostische Botschaft ließ sich in einem erstaunlichen Maße „übersetzen". Aber immer steht im Hintergrund das Angebot der Anarchie und die Verwerfung einer wie auch immer formulierten Sinngebung irdischen Lebens. In der Produktion von Hymnen und Liedern hat sich die Gnosis als besonders fruchtbar erwiesen (s.u. § 10.5c). Hier wird die Darstellung des tragischen Unglücksfalls der Schöpfung meist übersprungen.
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Als Ausdruck der Frömmigkeit liegt dem Hymnus an der Beziehung der menschlichen Seele zum Offenbarer, in dem sie sich selbst wiedergefunden hat. Aber auch hier ist die gnostische V o r aussetzung meist angedeutet: der Offenbarer kommt aus einer anderen Welt, die mit der irdischen nichts gemein hat; diese irdische Welt wird in der Erlösung der Seele besiegt. Die Sprüche Jesu sind sehr f r ü h im gnostischen Sinne als Rufe des Offenbarers verstanden worden. Apokalyptische Sprüche dienen dabei zur Bezeichnung der Vergänglichkeit alles Irdischen. In der weiteren Auslegung der Sprüche treten auch Aussagen über die Schöpfung und über den W e g in die himmlische Heimat hinzu (s.u. zum Thomasevangelium und zum Dialog des Erlösers, § 1 0 . / b ) . Im Judenchristentum hat die Gnosis sich der Sprache und Tradition der Auslegung des Gesetzes bemächtigt, beschäftigt sich mit der Frage der kosmologischen Dimension des jüdischen Gesetzes und der Unterscheidung von wahren (auf den himmlischen Offenbarer, der in der Gestalt des Moses erschien, zurückgehenden) und falschen Perikopen (s.u.§ 10.4c). In den uns zugänglichen Zeugnissen wird auch wiederholt ein Ausgleich versucht mit entsprechenden christlichen Uberlieferungen. Darüber wird noch zu reden sein. Es gibt auch einen meist griechisch erhaltenen Kreis von Schriften, die sich um einen Ausgleich zwischen Gnosis und Philosophie bemühen, das Corpus Hermeticum. Es enthält über zwei Dutzend Schriften, in denen der griechische Gott Hermes als Sprecher auftritt. Hermes ist aber nicht der göttliche Bote, er ist Offenbarer, V a ter, personifizierte göttliche V e r n u n f t (Nous) und vor allem Mystagoge, Hermes der dreimal Große (Trismegistos). Die meisten dieser Schriften (Traktate) stammen wahrscheinlich aus dem 2.Jh. nChr. Verschiedene Autoren müssen angenommen werden, deren religiöse und philosophische Stellung nicht immer die gleiche ist. Aber allen Traktaten gemeinsam ist, daß sie eine synkretistische heidnische Religionsphilosophie vertreten, die als lehrbare O f f e n b a r u n g angeboten wird. Charakteristisch ist die Propagierung einer philosophischen Gnosis in mehreren Traktaten (vor allem I: Poimandres; und X X I I I : Kore Kosmou; auch unter den Schriften von N a g Hammadi sind zwei hermetische Traktate: C G VI 6 und 8) oder die Auseinandersetzung mit der Gnosis zugunsten einer eklektischen philosophischen Religiosität, die einen gemilderten Dualismus oder eine pantheistische Weltsicht vertritt. Mythologische Aussagen über die Entstehung der Welt durch
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einen Akt der Schöpfung, als physischei Prozeß oder als Emanationsprodukt spielen eine große Rolle. Astrologische Spekulationen werden fast immer und oft ausführlich herangezogen. Viele religiöse Vorstellungen sind aus den verschiedensten Bereichen der griechischen Religionen gekommen. Aber auch jüdische Elemente sind erkennbar (z.B. im Schöpfungsbericht des Poimandres) ebenso wie ägyptische Einflüsse (Hermes wird mit dem ägyptischen Gott T o t identifiziert). Es scheint mir sicher zu sein, daß das Corpus Hermeticum eine heidnische Gnosis voraussetzt, und zwar nicht in der Form einer philosophischen Lehrmeinung, sondern als Erlösungsbotschaft von religiösen Gruppen, die als Mysterienvereine organisiert waren. Denn in diesen Schriften wird nicht einfach philosophisch argumentiert, wie man das von der Schrift einer philosophischen Schule erwarten würde, noch ist die Form des Dialogs bloßes schriftstellerisches Stilmittel. Vielmehr spiegelt der Dialog Belehrungen wider, in denen der Mystagoge in die Geheimnisse des Mysteriums einführt und der Einzuweihende fragt und antwortet. Aus diesem ursprünglichen Sitz im Leben stammen die vielen Hymnen, Doxologien, Gebete und fest formulierten O f f e n barungskerygmen dieser Schriften. Was als philosophische Betrachtung erscheint, ist oft Exegese von religiösen Traditionen. In ihrer gegenwärtigen Form wollen diese Schriften allerdings keine liturgischen Handbücher sein, sondern eher „Lese-Mysterien", die durchaus auch die Absicht haben, in die philosophische Diskussion einzugreifen. Gab es also wirklich eine vom Christentum unabhängige heidnisch-gnostische Mysterienreligion? Die traditionelle Forschung hat sich bei der Untersuchung der Hermetica meist gegen diese Schlußfolgerung gewehrt. Im Zusammenhang mit der Erforschung der neugefundenen gnostischen Texte wird es notwendig sein, eine positive Antwort auf diese Frage erneut zu prüfen.
6. Palästina und das Judentum in der Kaiserzeit Jerusalem zur Zeit Jesu: Kulturgeschichtliche Untersuchungen zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 3 1962. Ε.M.SMALLWOOD, Jews under Roman Rule: From Pompey to Diocletian, 1976. F . M . A B E L , Histoire de la Palestine depuis la conquete d'Alexandre jusqu'ä Pinvasion arabe, Bd. 1, 1952. S.W. B A R O N , ASocial and Religious History of the Jews, Bd.2, 2 1966.
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Das Römische Reich als Erbe des Hellenismus
S.SANDMEL, The First Christian Century in Judaism and Christianity: Certainties and Uncertainties, 1969. Vgl. auch die Literatur zu § 5. Zun: W . OTTO, H e r o d e s , 1913.
A.SCHAUT, König Herodes: Der Mann und sein Werk, 1969. Zub: H.W.HOEHNER, Herod Antipas, 1972. A. H.M.JONES, The Herods of Judaea, 1938. Zue: D.M.RHOADS, Israel in Revolution, 6-74 C.E., 1976. M.HENGEL, Die Zeloten: Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., AGSU1, 2 1976. Zuf: G.F.MOORE, Judaism in the First Centuries of the Christian Era: The Age of the Tannaim, Bd. 1-3, 1927-30 (Neudruck 1966-67; dies ist die klassische und bis heute nicht überholte Gesamtdarstellung des frühen rabbinischen Judentums). J. MAIER, Geschichte der jüdischen Religion, 1972, 92-211. J.NEUSNER, The Life of Rabban Yohanan ben Zakkai: Ca. 1-80 C.E., Studia Post-Biblica6, 1962 (beste kritische Darstellung der Anfänge des rabbinischen Judentums). H.MANTEL, Studies in the History of the Sanhedrin, Harvard Semitic Series 17, 1965. S. LIEBERMANN, Hellenism in Jewish Palestine, 1950. W.HARNISCH, Verhängnis und Verheißung der Geschichte: Untersuchungen zum Zeit- und Geschichtsverständnis im 4. Buch Esra und in der syrischen Baruchapokalypse, FRLANT97,1969. Zur Literatur des rabbinischen Judentums: H. STRACK, Einleitung in Talmud und Midrasch, ' 1 9 7 6 . Ch. ALBECK, Einführung in die Mischna, SJ6, 1971. H . STRACK - P. BILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 1-6, 1922-1960. a) H e r o d e s der Große Im Jahre 63 vChr w a r Pompeius an einem Sabbath nach dreimonatiger Belagerung in den T e m p e l eingedrungen (s.o. §5. 7d). H y r kanus war als Hoherpriester in seine Rechte wieder eingesetzt w o r den, blieb aber den Römern für seine Amtsführung verantwortlich. Sein Bruder Aristobulus, dessen Ansprüche Pompeius nicht anerkannt hatte, wurde im T r i u m p h z u g des Pompeius in R o m ö f f e n t -
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lieh mitgeführt. Zwar gelang es ihm später, nach Judäa zu entfliehen; man fing ihn aber bald wieder ein und die Pompeianer vergifteten ihn 49vChr, weil er als Parteigänger Caesars galt; sein Sohn Alexander wurde enthauptet (er war der Vater Mariamnes, der späteren Frau des Herodes). N u r sein Sohn Antigonus entkam. Als Caesar nach der Schlacht bei Pharsalus Pompeius nach Ägypten verfolgte, fielen viele Städte und Länder des Ostens, die bis dahin Pompeius unterstützt hatten von ihm ab. Unter denen, die zur Unterstützung Caesars nach Ägypten eilten - Caesar war dort nach der Ermordung des Pompeius in ernsthafte Schwierigkeiten geraten - war auch Hyrkanus. Sein gewandter idumäischer Minister Antipater schickte Truppen nach Ägypten, die Caesar wertvolle Dienste leisteten. Hyrkanus wirkte auf die mächtige jüdische Gemeinde Alexandriens ein und bewog sie zur Unterstützung des neuen Herrschers. Zwar erschien im folgenden Jahre auch der überlebende Sohn des Aristobulus, Antigonus, in Syrien vor Caesar, um seine Ansprüche auf die Herrschaft in Palästina und auf das Amt des Hohenpriesters in Jerusalem geltend zu machen. Aber Caesar schien ihm nicht zu trauen, sondern verließ sich lieber auf Antipater, der ihm in Ägypten so wertvolle Dienste geleistet hatte. Er machte ihn zum römischen Bürger und gab ihm den Rang eines römischen Prokurators in Judäa. Hyrkanus wurde als Hoherpriester bestätigt und zum Ethnarchen ernannt. Das Gebiet Judäas wurde vergrößert, zu einem verbündeten Staat erklärt und von bestimmten Steuern befreit. Jerusalems Mauern durften wieder aufgebaut werden. Antipater reorganisierte die Verwaltung des Landes und ernannte seinen Sohn Phasael zum „Strategen" von Judäa und Peräa, seinen Sohn Herodes zum „Strategen" von Galiläa. Das Jahr der Ermordung Caesars stellte die politische Geschicklichkeit des Antipater auf eine neue Probe. Die Caesarmörder Brutus und Cassius, die im Osten eine neue Streitmacht aufzubauen suchten, verlangten seine Unterstützung, die sie bereitwillig empfingen. Aber die Ausbeutung des Landes, um Geld für die Armee des Cassius zusammenzubringen, steigerte die Unzufriedenheit im Lande. In einer Verschwörung wurde Antipater vergiftet. Als Antigonus daraufhin in Galiläa einfiel, wurde er von Antipaters Sohn Herodes geschlagen. Doch ging auch das Schicksal der Caesarmörder 42vChr seiner Stunde entgegen und Herodes mußte sich mit dem neuen Herrn des Ostens, Marcus Antonius, arrangieren, was ihm trotz des Widerstandes der Jerusalemer Gemeinde gelang. Sobald
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jedoch Marcus Antonius Syrien verlassen hatte und in Ägypten weilte, fielen die Parther in Syrien ein und Antigonus gelang es, mit ihrer Hilfe Palästina zu erobern. Hyrkanus und Phasael fielen einem Betrug der Parther zum Opfer. Phasael tötete sich selbst, als die Parther ihn dem Antigonus überantworteten. Dem Hohenpriester, seinem Onkel Hyrkanus, ließ Antigonus die Ohren abschneiden, um ihn für das Amt des Hohenpriesters zu disqualifizieren. Herodes hatte zwar den Anschlag der Parther durchschaut und war ihm entgangen; er mußte jedoch fliehen, nachdem er seine Familie auf der Festung Masada am Toten Meer in Sicherheit gebracht hatte. Antigonus erneuerte die makkabäisch-hasmonäische Herrschaft in Palästina und ließ Münzen prägen, die ihn auf Hebräisch als „Hohenpriester Mattathias" und auf Griechisch als „König Antigonos" proklamieren. Es konnte jedoch nicht lange dauern, bis die Römer gegen die parthische Herrschaft in Syrien vorgingen. Herodes hatte sich nach Rom begeben und es war ihm dort gelungen, die Unterstützung der Triumvirn zu erlangen. Der Senat ernannte ihn daraufhin zum König von Judäa. Er konnte die Herrschaft in Israel antreten, als die Römer die Parther aus Syrien vertrieben hatten. Jerusalem wurde erobert, Antigonus getötet. Herodes war Herr des Landes. Jedoch gefährdete der Konflikt zwischen Octavius und Marcus Antonius wiederum die Stellung des Herodes, denn Herodes war der Günstling des Marcus Antonius gewesen, der nach der Schlacht bei Actium nach Ägypten geflohen war und sich dort den T o d gab. In einem klugen und eindrucksvollen politischen Schachzug begab sich Herodes nach Rhodos, wo Octavius sich aufhielt, und legte seine Königskrone dem Sieger zu Füßen. Octavius akzeptierte die Geste und setzte Herodes wieder in seine Rechte als König Judäas ein, fügte ein Jahr später (30vChr) auch noch den palästinischen Küstenstreifen, Samaria und Jericho seinem Reiche hinzu. Dazu erhielt Herodes bei einer späteren Gelegenheit die Gebiete im Norden und Osten des galiläischen Meeres. Uber dieses Land blieb er bis zu seinem Tode im Jahre 4vChr unbeschränkter Herrscher und bestimmte als treuer Vasall des Augustus die Geschicke des Landes. Das zeigte sich vor allem in der Innenpolitik des Herodes, der nicht, wie kurz zuvor Antigonus, zu den alten Idealen der Hasmonäerherrschaft zurückkehrte. Vielmehr ahmte er die Ziele der Friedenspoltik des Augustus nach. Im Osten förderte Rom die griechi-
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sehen Städte, gründete sie neu und gab ihnen vielfache Privilegien. Herodes tat dasselbe in seinem kleinen Königreich. An der Stelle der alten Hauptstadt des Nordens, Samaria, die von Alexander neugegründet, aber von den Hasmonäern zerstört worden war, gründete Herodes eine glanzvolle Stadt, die jetzt erst ihre größte Blüte erlebte, und die er zu Ehren des Augustus „ S e b a s t e " nannte. An der palästinischen Küste entstand eine ganz neue Stadt, die völlig im hellenistischen Stil erbaut wurde und zu einer bedeutenden H a fenstadt aufstieg, später zum Sitz des römischen Statthalters; auch sie wurde nach Augustus benannt: Caesarea. Daneben wurden eine Reihe weiterer Städte neugegründet oder renoviert. In zweiter Linie lenkte sich seine Bautätigkeit auf den Ausbau von Festungen an der Ostgrenze des Landes, darunter auch die Festung Masada am Toten Meer. Und schließlich verwandte Herodes große Summen auf Bauten in Jerusalem. Hier steht der Neubau des Tempels an erster Stelle. Seine Fundamente wurden erweitert (die heute noch berühmte Klagemauer gehört zu diesen herodianischen Tempelfundamenten) und der Tempel ganz neu errichtet. Daneben richtete Herodes seine Aufmerksamkeit auch auf andere heilige Stätten Israels, wie den Abraham-Schrein in Mamre, aber förderte ebenso die heidnische Kulte in seinem Lande (ein Tempel für den Kaiserkult wurde einem Heiligtum des Pan an den Jordanquellen hinzugefügt). Diese ausgedehnte Bautätigkeit beweist nicht nur, daß Herodes imstande war, große Summen Geldes aus dem Lande zu pressen, sondern auch, daß während seiner Herrschaft ein ungewöhnlicher Wohlstand und eine große wirtschaftliche Blüte erreicht worden waren. Nach vielen Jahren des Krieges und der Unruhe herrschte Frieden im Lande und alle seine Einwohner konnten sich der Segnungen des neuen Zeitalters erfreuen. Dennoch ist es Herodes nie gelungen, sich mit dem jüdischen Volk auszusöhnen. Glanz und Grausamkeit seiner Herrschaft ließen ihn als Despoten erscheinen. Obgleich er die Institutionen der jüdischen Religion tatkräftig förderte, vergaß man nie, daß er Idumäer war (die Idumäer waren von den Hasmonäern zwangsweise zum Judentum bekehrt worden) und daß sein Königtum auf der Gunst der Römer beruhte, deren Fremdherrschaft dem jüdischen Volk verhaßt blieb. Weder die Pharisäer noch die Sadduzäer scheinen ihn unterstützt zu haben, wenngleich sie sich fügen mußten. Die Tragödie der Familiengeschichte des Herodes mag noch zu seinem schlechten Ruf beige-
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tragen haben. Seine zweite Frau, die Hasmonäerin Mariamne, ließ er hinrichten, weil sie unter dem Verdacht stand, an einem Komplott gegen ihn teilgenommen zu haben. Dazu wurde noch der frühere Hohepriester Hyrkanus, der letzte Hasmonäer, im Alter von 80 Jahren von Herodes ermordet. Am Ende seiner Regierung ließ er auch noch die Söhne Alexander und Aristobulus aus seiner Ehe mit Mariamne hinrichten (7vChr) und kurz vor seinem Tode seinen ältesten Sohn Antipater (4vChr). So ist es nicht verwunderlich, daß er als der Kindermörder von Bethlehem (Mt. 2, 16-18) in die Erinnerung der Nachwelt einging. Bei seinem Tode brachen zum ersten Male seit Jahrzehnten wieder Unruhen in Palästina aus, als die verschiedenen Parteien in Rom über die Nachfolge verhandelten. Varus, der seinerzeit Legat von Syrien war, mußte mit seiner Armee nach Palästina ziehen, um den Aufstand niederzuwerfen. Eine Reihe von Städten wurden zerstört und mehr als zweitausend Anführer getötet. b) Palästina unter den Söhnen des Herodes Herodes der Große hatte bei seinem Tode das Land testamentarisch seinen Söhnen Archelaus, Antipas und Philippus vermacht. Zwar versuchte eine Delegation der Juden, Augustus zu überreden, die verhaßte Dynastie des Herodes nicht zu erneuern; aber Augustus entschloß sich, das Testament seines langjährigen Freundes und getreuen Vasallen anzuerkennen. Archelaus erhielt Judäa, Samaria und Idumäa, also etwa die Hälfte des Landes, über das sein Vater geherrscht hatte. Zunächst wurde ihm der Titel „Ethnarch" verliehen, mit dem Versprechen, ihn zum König zu machen, wenn seine Regierung positiv verliefe. Dies war aber nicht der Fall, und Archelaus wurde 6 n C h r abgesetzt und nach Vienne in Gallien verbannt. Archelaus war der König, vor dem sich Joseph fürchtete, als er aus Ägypten zurückkehrte, und dessentwegen er nach Nazareth in Galiläa zog (Mt. 2, 22), wo allerdings ebenfalls ein Herodessohn regierte. Antipas wurde zum „Tetrarchen" von Galiläa und Peräa ernannt, über das er von 4vChr bis 39nChr regierte. Er war der getreue Sohn seines Vaters, verschlagen und grausam, aber auch prachtliebend, doch ohne wirliche Größe. Die Bautätigkeit seines Vaters setzte er fort. In Galiläa baute er zunächst seine Hauptstadt Sepphoris - nur wenige Kilometer von Nazareth entfernt - weiter aus, gründete dann etwa 20nChr eine neue Hauptstadt am Ufer
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des galiläischen Meeres, die er nach dem Kaiser „Tiberias" nannte. Die Stadt hatte eine großenteils heidnische Bevölkerung, und es scheint, daß Jesus sie nie betreten hat. Doch wurde im 2 . J h . n C h r Tiberias die Metropole des rabbinischen Judentums. Antipas ist der „ H e r o d e s " , den Lk. 3, 1 als Tetrarchen von Galiläa erwähnt und den Jesus „dieser Fuchs" genannt hat (Lk. 13, 1-3). Er erscheint außerdem Lk.23, 6 - 1 6 als der Landesherr Jesu, zu dem Jesus von Pilatus zum Verhör geschickt wird. Schließlich ist Antipas durch die Evangelien und durch Josephus (Ant. 18, 116-119) der Nachwelt als der Mörder Johannes des Täufers in Erinnerung geblieben. Antipas war zunächst mit einer nabatäischen Prinzessin verheiratet gewesen, die sich jedoch von ihm trennte, als sie erfuhr, daß Antipas die Absicht habe, seine Nichte Herodias zu heiraten (die Schwester des späteren Königs AgrippaL, eine Enkelin Herodes des Großen und Mariamnes), die bis dahin die Frau seines Bruders Herodes war (Mk.6, 14-19 bezeichnet sie als die Frau seines Bruders Philippus, des Tetrarchen von Trachonitis; spätere Evangelienhandschriften versuchten, diesen Irrtum richtigzustellen). Johannes der T ä u f e r hatte den Tetrarchen deshalb öffentlich angegriffen, was ihm den Kopf kostete. Nach dem Bericht des Josephus brachte es aber auch den Antipas um sein Königreich; denn dieses Ereignis verschlechterte die ohnehin gespannten Beziehungen zu dem benachbarten Reich der Nabatäer. In einem der wiederholt wegen Grenzstreitigkeiten ausbrechenden Kriege wurde Antipas von dem Nabatäerkönig Aretas (derselbe, vor dem Paulus aus Damaskus entfloh; 1. Kor. 11, 32) so vernichtend geschlagen, daß der syrische Statthalter Vitellius eingreifen mußte. Antipas' Verhältnis zu Rom scheint sich dadurch so verschlechtert zu haben, daß er 3 9 n C h r von Caligula nach Lyonne in Gallien verbannt wurde, als er in Rom um die Verleihung des Königstitels einkam. Es ist wahrscheinlich, daß sein N e f f e Agrippa an den Anklagen, die man gegen Antipas erhob, nicht ganz unschuldig war. Jedenfalls wurde Agrippa das Gebiet der Tetrarchie seines Onkels zugesprochen (s.u. § 6.6d). Der dritte der Herodesnachfolger, Philippus, wurde Tetrarch der Gebiete im Osten und Norden des galiläischen Meeres (Trachonitis, Gaulanitis und Auranitis). Er erbaute sich am Fuße des H e r mongebirges eine Residenz, die er zu Ehren des Augustus „Caesar e a " nannte und die, im Unterschied zu Caesarea Maritima am Mittelmeer, als Caesarea Philippi bekannt wurde (vgl. Mk. 8, 27ff, das sogenannte Petrusbekenntnis bei Caesarea Philippi). Auch das
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große Dorf Bethsaida am nördlichen Einfluß des Jordans in das galiläische Meer, das mehrfach in den Evangelien erwähnt wird, baute Philippus zur Stadt aus und nannte es nach der Tochter des Augustus „Julia". Über Philippus' Regierung ist nicht viel bekannt; er scheint ein rechtschaffener und vernünftiger Klientelfürst gewesen zu sein. Seine Frau war seine Großnichte Salome, Tochter der Herodias, die einst am H o f e des Antipas den Kopf Johannes des Täufers gefordert haben soll. Philippus starb 34nChr kinderlos. c) Judäa unter römischen Prokuratoren Nachdem Archelaos aus seinem Amte entfernt worden war, unterstellte Augustus die Verwaltung der Bezirke Judäa, Samaria und Idumäa einem Prokurator (s.o. §6.3a), der ihm direkt verantwortlich, aber in militärischen Fragen vom Legaten Syriens abhängig war. Der syrische Legat blieb außerdem der oberste römische Verwaltungsbeamte für den Küstenstreifen Palästinas von Jamnia bis Gaza und für die Dekapolis. Als neuer Legat Syriens wurde Quirinius ( = Kyrenius; Lk.2, 2) ernannt, als Prokurator von Judäa Coponius. Da Judäa zum ersten Male der römischen Verwaltung direkt unterstellt wurde, führten die Behörden einen „Census" (griech. άπογραφή) durch, d.h. eine Aufstellung von Steuerlisten; Lukas verwendete diese Nachricht dazu, ein Motiv für die Reise der Eltern Jesu nach Bethlehem in Judäa zu finden - eine ganz unwahrscheinliche Kombination; denn Nazareth in Galiläa gehörte nicht zur Jurisdiktion der direkten römischen Verwaltung. Dieser Census führte zu Aufständen, die eine radikale jüdische Gruppe instigierte. Die Identität dieser Widerstandsbewegung steht nicht fest. Daß es sich um „die Zeloten" gehandelt hat, läßt sich nicht beweisen; denn Josephus verwendet diesen Begriff nur für die Terroristen unter Führung des Johannes von Gischala beim Ausbruch des jüdischen Krieges. Der Regierungssitz des neuen Prokurators wurde Caesarea. N u r an den hohen Festtagen hielt er sich in Jerusalem auf, weil dann große Volksmassen hier zusammenströmten. Um die Ruhe in Jerusalem zu garantieren, wurde eine starke ständige Garnison in die dem Tempel benachbarte Festung Antonia gelegt. Auch die anderen Festungen im Lande gingen in die Hände der Römer über. Das ganze Land wurde in 11 Toparchien eingeteilt, denen jeweils ein lokales jüdisches Synedrium vorstand, das Gerichtsbarkeit für alle Bagatellfälle besaß. Alle wichtigeren Fälle mußten vor das jüdische Synedrium in Jerusalem gebracht werden,
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dessen Gerichtsbefugnis jedoch ebenfalls beschränkt war. Anklagen auf Todesstrafe kamen immer vor den Gerichtshof des Prokurators. Der Prokurator war auch für die Einziehung der Steuern verantwortlich und erledigte diese Aufgabe durch besoldete Beamte in Zusammenarbeit mit den lokalen Synedrien. Indirekte Steuern und Zölle wurden, wie damals üblich, an private Steuerpächter vergeben. Diese Einrichtung gab wiederholt Anlaß zu Klagen und Unruhen. Die Steuerpächter, die freiwillig mit den Römern zusammenarbeiteten und dabei nicht selten reich wurden, standen hier wie andernorts in keinem guten Ruf - es sind die verachteten Zöllner der Evangelien. Der Hohepriester wurde vom Prokurator ernannt, der aber im übrigen den Tempelkult, öffentliche Gottesdienste und die Eigenheiten jüdischer Gesetzesbeobachtung respektierte und eine Einmischung nach Möglichkeit vermied. Die römischen Soldaten waren außerdem angewiesen, ihre Feldzeichen nicht mit nach Jerusalem zu nehmen, um unnötigen Anstoß zu vermeiden. Die ersten beiden Jahrzehnte unter römischer Verwaltung scheinen dann auch reibungslos verlaufen zu sein, und bis zum Jahre 26nChr sind keine größeren Unruhen im Lande entstanden. Als fünfter Prokurator Judäas wurde im Jahre 26 Pontius Pilatus ernannt. Unter seiner Verwaltung häuften sich Schwierigkeiten und Zwischenfälle. Er brachte die römischen Feldzeichen nach Jerusalem, mußte sie aber wegen des öffentlichen Protestes wieder zurückziehen. Unruhen brachen aus, als er mit dem Bau eines großen Viaduktes zur Wasserversorgung Jerusalems begann. Hier ist Pilatus rücksichtslos gegen die Unruhestifter vorgegangen. Daß er nicht davor zurückschreckte, Hinrichtungen von seinen Soldaten an Ort und Stelle vollziehen zu lassen, geht aus dem Lk. 13, 1 berichteten Zwischenfall hervor. Auch im Falle Jesu hat Pilatus nicht gezögert, einen potentiellen Unruhestifter schnellstens abzuurteilen und hinzurichten. Als Pilatus 36nChr zu rücksichtslos und brutal gegen eine fanatische religiöse Bewegung in Samarien einschritt, veranlaßte der syrische Legat Vitellius seine Abberufung. Er mußte in Rom über seine Amtsführung Rechenschaft ablegen und wurde wahrscheinlich gezwungen, Selbstmord zu begehen. d) Agrippa I. und Agrippa II. Als Caligula im Jahre 37nChr Kaiser geworden war, bestand eine seiner ersten Amtshandlungen in der Einsetzung seines Freundes Agrippa, eines Enkels des Herodes und der Mariamne, in die
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Tetrarchie von Abilene (ein kleines Land nördlich der Jordanquellen) und in die Herrschaft des Tetrarchen Philipp, die drei Jahre zuvor vakant geworden war. Zwei Jahre später wurde Antipas aus seiner Tetrarchie entfernt und Agrippa, der daran nicht unbeteiligt war, zu seinem Nachfolger ernannt. Im gleichen Jahre hatte Caligula die Anordnung gegeben, daß sein Standbild im Tempel von Jerusalem aufgestellt werden solle. 40/41 nChr begab sich der syrische Legat Petronius nach Palästina um dieser Anordnung des Kaisers Nachdruck zu verleihen, zog sich aber wieder zurück, nachdem er gesehen hatte, daß die Durchführung dieser Anordnung zu einer Revolution führen würde. Bevor Petronius und Agrippa gemeinsam versuchen konnten, den Kaiser zur Zurücknahme dieser wahnwitzigen Anordnung zu bewegen, wurde dieser ermordet (s.o. §6. 2a). Agrippa spielte eine wichtige Rolle bei der Thronerhebung des Claudius, der seine Dankbarkeit dadurch bewies, daß er den bisherigen Tetrarchen von Galiläa zum König über das gesamte frühere Reich seines Großvaters Herodes des Großen machte. Von 41-44nChr war Agrippal. Herrscher von Roms Gnaden über das ganze Gebiet des alten Israel. Im Gegensatz zu Herodes und seinen Söhnen erfreute er sich der Gunst der führenden Kreise des Volkes, vielleicht auch deshalb, weil er über seine Großmutter Mariamne ein legitimer Nachfahre des alten hasmonäischen Hauses war. In Jerusalem gab sich der König die größte Mühe, als frommer und gesetzestreuer Jude aufzutreten, förderte die jüdische Religion nach Kräften und ging gegen ihre Feinde nach dem Willen der religiösen Führer Jerusalems vor. Daß der Apostel Jakobus, der Sohn des Zebedäus, von ihm hingerichtet wurde, erfahren wir aus Apg. 12, Iff. In seiner politischen Hauptstadt Caesarea freilich spielte Agrippa den orientalischen Kleinkönig. Ein Treffen mit anderen römischen Vasallenkönigen Syriens wurde vom syrischen Legaten gesprengt, weil es nach Verschwörung aussah. Ebenso verhinderte der syrische Legat den Versuch des Agrippa, Jerusalem mit einer dritten Stadtmauer zu versehen. Was für Pläne Agrippa tatsächlich gehabt hat, wissen wir nicht; denn im Jahre 44nChr starb er unerwartet an einer Krankheit. Agrippa hinterließ einen unmündigen Sohn gleichen Namens, den man aber nach seiner Mündigkeitserklärung nicht in die Rechte seines Vaters einsetzte. Vielmehr erhielt er 50nChr Chalkis, ein kleines Fürstentum im Norden des Tales zwischen Libanon
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und Antilibanon. 53 durfte er Chalkis mit der ehemaligen Tetrarchie des Philippus und dazu mit Abilene vertauschen, erhielt später auch noch Teile Galiläas mit Tiberias hinzu. Außerdem wurde ihm die Aufsicht über den Tempel in Jerusalem übertragen. Dieser zweite Agrippa blieb bis zum Jahre 100 in seiner Herrschaft. Am jüdischen Krieg nahm er nicht teil, sondern verhielt sich den Römern gegenüber loyal. Eine politische Rolle hat Agrippall. nicht gespielt. Dem Verfasser der Apostelgeschichte ist er in Erinnerung geblieben als der König Agrippa, der den römischen Prokurator Festus besuchte, als dieser Paulus vor Gericht verhörte, und der Paulus gestand, daß er ihn fast zu einem Christen gemacht habe (Apg.25 und 26, vgl. 26, 28). Agrippa befand sich damals in Begleitung seiner Schwester Berenike, die vorher die Frau seines Onkels gewesen war, der man blutschänderische Beziehungen zu ihrem Bruder nachsagte, und die später die Mätresse des nachmaligen Kaisers Titus wurde.
e) Palästina bis zum Untergang Jerusalems Nach dem Tode des Königs Agrippal, reorganisierten die Römer ganz Palästina als eine römische Provinz und versuchten, dieses unruhige Land in ihre Hand zu bekommen. Wieweit ihnen das gelungen ist, läßt sich deshalb so schwer sagen, weil unsere Hauptquellen für die Ereignisse dieser Zeit die Schriften des jüdischen Historikers Josephus sind, der zu beweisen versucht, daß die Mißgriffe einer unfähigen römischen Verwaltung zum Untergang seines Volkes führten. Über diejenigen Verwaltungsperioden, in denen Ruhe herrschte, erfahren wir deshalb wenig. Für die Jahre, die dem Ausbruch des Krieges unmittelbar vorausgingen, scheint allerdings die Behauptung des Josephus zu Recht zu bestehen. Der erste Prokurator war Fadus (44-46 nChr), der mit Hilfe des syrischen Legaten Cassius Longinus am Beginn seiner Amtsperiode kleinere Rebellionen unterdrückte und die Juden dazu zwang, die Gewänder des Hohenpriesters herauszugeben, die während der Regierung des Agrippal, in jüdischen Händen waren (später wurden sie Agrippall. zur Aufsicht übergeben). In die Zeit des Fadus gehört wahrscheinlich auch der Aufstand des Theudas, den die Apostelgeschichte fälschlich in die Zeit vor den Aufstand des Galiläers Judas (6nChr) ansetzt (Apg. 5, 36). Theudas, Führer einer prophetisch-messianischen Bewegung, wurde hingerichtet. Auf Fadus
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folgte 46-48 Tibenus Alexander, der Sproß einer reichen jüdischen Familie Alexandriens und N e f f e Philons (er wurde später Prätor Ägyptens, s.o.§5.3f). Nach ihm wurde Cumanus P r o k u r a t o r (48 nChr). Im Jahre 51 wurde ein Jerusalempilger, der es wagte, durch Samarien zu ziehen, von den Samaritanern ermordet. Die jüdischen Führer in Jerusalem verlangten vom Prokurator Cumanus eine strenge Bestrafung der Schuldigen. Als Cumanus nicht entsprechend vorging, unternahmen die Juden selbst eine Strafexpedition nach Samarien, verbrannten mehrere Dörfer und machten die Einwohner nieder. Daraufhin wurde Cumanus aktiv, ging aber nun gegen die neuen Unruhestifter vor. Doch das veranlaßte das Einschreiten des syrischen Legaten Quadratus, der Sorge hatte, der Konflikt könnte sich ausweiten. Er schickte alle Beteiligten kurzerhand nach Rom, damit sie sich dort verantworten und ihren Streit beilegen sollten: Cumanus, die Führer der Juden und die Führer der Samaritaner. Die entsprechenden Verhandlungen müssen während des Sommers und des Herbstes des Jahres 52 in Rom stattgefunden haben. Im Ergebnis kamen der Hohepriester Jonathan und der mächtige kaiserliche Verwaltungsbeamte Pallas überein, daß die Juden straflos ausgehen sollten, wenn sie den Kaiser bitten würden, Felix, den Bruder des Pallas, einen Freigelassenen, als Prokurator nach Palästina zu schicken. Dies sollte ein verhängnisvoller Schritt werden. N u r durch die Gunst des Pallas und durch seine Machtstellung konnte es geschehen, daß ein unfähiger ehemaliger Sklave mit dem den Rittern vorbehaltenen Amt eines Prokurators betraut wurde, und nur solange Pallas seine Stellung im Hause des Kaisers halten konnte, war die Stellung des Statthalters ebenfalls gesichert. D a Felix wahrscheinlich erst im Herbst ernannt worden war, trat er sein Amt kaum vor dem Frühjahr 5 3 n C h r an. Wohl nicht ganz ohne sein Verschulden wurden die Jahre seiner Verwaltung von Unruhen angefüllt. W ä h r e n d dieser Jahre tauchten zum ersten Male die Sicarii auf, Aufrührer, die Dolche unter dem Gewand trugen und jede mögliche Gelegenheit ergriffen, Leute zu ermorden, die der Kollaboration mit Rom verdächtig waren. Eine religiöse Erhebung einer Volksmenge, die in die Wüste zog, um dort die Ankunft des Messias zu erwarten, und die Erhebung unter einem „Ägyptischen P r o p h e t e n " wurden von Felix grausam unterdrückt. Unter den vielen Unruhen, bei deren Bekämpfung die jüdischen Be-
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hörden mit dem Prokurator zusammenarbeiteten, war auch ein Aufruhr im Tempel Jerusalems, den Paulus verursacht hatte, als er im Tempel erkannt wurde und man ihm vorwarf, er habe einen Nichtjuden mit in den Tempel genommen. Auch hier griff der Prokurator ein und ließ Paulus verhaften (s.u. §9.4b und c). Die Datierung des Endes der Prokuratur des Felix ist problematisch. Damit bleibt auch ein wichtiges Datum für die Chronologie des Paulus unsicher. Die Apostelgeschichte (Apg. 24, 27) spricht von einer zweijährigen Periode, nach deren Ende Felix durch Festus abgelöst wurde und versteht diese von einer zweijährigen Gefangenschaft des Paulus in Cäsarea. Entsprechend kann man die Gefangenschaft des Paulus auf die letzten Jahre des 6.Jahrzehnts, etwa 58-60 nChr datieren. Daß scheint dadurch bestätigt zu werden, daß Josephus so gut wie nichts von der Amtsperiode des Festus zu berichten weiß, der im Jahre 62nChr als Prokurator starb; er wäre also wohl nur wenige Jahre im Amt gewesen. Verschiedene Forscher haben die zweijährige Periode von Apg. 24, 27 auch auf die Amtszeit des Felix beziehen wollen; in der Quelle des Lukas habe diese Angabe nichts mit Paulus zu tun gehabt. Dazu kann man weiter auf den Bericht des Josephus verweisen, daß die jüdischen Behörden Felix vor Nero angeklagt hätten, dieser sei aber durch die Intervention seines Bruders Pallas, der damals bei Nero in hohen Ehren stand, gerettet worden (Ant.20. 182). Verbindet man dies mit einer Angabe des Tacitus (Ann. 13. 15), aus der sich ergibt, daß Pallas kurz vor der Ermordung des Britannicus im Dezember 55nChr in Ungnade fiel, so wird man das Eintreten des Pallas für seinen Bruder Felix und damit auch die Abberufung des Felix spätestens in den Herbst dieses Jahres ansetzen. Felix wäre also von 53-55 nChr Prokurator gewesen und Paulus bereits im Sommer des Jahres 55 unter Felix gefangen genommen und bald darauf von dessen Nachfolger Festus zur Weiterverhandlung seines Falles nach Rom geschickt worden. So ansprechend diese Frühdatierung der Gefangennahme des Paulus ist, so groß sind doch die Schwierigkeiten, die sich daraus für die Chronologie des Paulus ergeben (s.u. § 9. 1 c, § 9. 3b-c und 9. 4b-c). Der reiche Pallas verlor wohl auch nach seinem Sturz nicht jeglichen Einfluß, so daß ein Eintreten für seinen Bruder zu einem späteren Zeitpunkt durchaus möglich ist. Er wurde erst im Jahre 62 von Nero getötet. Ergibt sich, wie sich unten zeigen wird, aus der inneren Chronologie der paulinischen Mission ein etwas späteres Datum für die Gefangen-
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nähme des Paulus in Jerusalem, so darf man jedenfalls die Statthalterschaft des Festus nicht zu kurz berechnen. Am besten setzt man sie auf die Jahre 58-62 an. Burrus hatte Ende des 6.Jahrzehnts in Rom noch seine einflußreiche Stellung inne und die Ernennung eines fähigen Statthalters für die unruhige Provinz Palästina kann für jene Jahre der Regierungszeit Neros nicht als unwahrscheinlich gelten. So wird die Tatsache, daß Festus ein erfolgreicher und umsichtiger Verwaltungsbeamter war, der Grund dafür gewesen sein, daß Josephus über die Jahre seiner Statthalterschaft so gut wie nichts zu berichten weiß. Da Festus im Jahre 62 während seiner Amtszeit gestorben sein muß, entstand eine Vakanz, die von den Führern der jüdischen Gemeinde dazu benutzt wurde, unbequeme Leute aus dem Wege zu schaffen. Das Recht der Todesstrafe stand dem jüdischen Synedrium nicht zu. Todesstrafen sind, soweit wir wissen, auch nicht vom Synedrium verhängt worden, auch nicht im Falle Jesus' von Nazareth, der von römischen Behörden abgeurteilt wurde. Eine Ausnahme stellt offenbar das Martyrium des Stephanus dar (s.u.§8.3b); aber hier scheint es sich eher um eine Lynchjustiz gehandelt zu haben, nicht um eine ordnungsgemäße Verurteilung durch die jüdischen Behörden. Der zweite Fall ist die Hinrichtung des Herrenbruders Jakobus, die jedoch in die Zeit der Vakanz nach dem Tode des Prokurators Festus fiel. Vielleicht war es dieses Ereignis, das die christliche Gemeinde Jerusalems dazu bestimmte, nach Pella auszuwandern: Pella war eine Stadt der unter unmittelbarer Verwaltung des syrischen Legaten stehenden Dekapolis; der übrige Teil des nördlichen Ostjordanlandes stand unter der Jurisdiktion Agrippas' II. Der von Rom als Nachfolger des Festus ernannte Prokurator Albinus war von 62-64 im Amt. Nach dem Bericht des Josephus war er unglaublich korrupt. Sein Nachfolger Gessius Florus scheint noch schlimmer gewesen zu sein (64-66). Seine Unfähigkeit schuf eine Situation, die den antirömischen Elementen hinreichend Gelegenheit gab, die Unruhe weiter zu schüren und bewußt auf den Krieg zuzusteuern. Die Auseinandersetzungen zwischen der jüdischen und der griechischen Bevölkerung Caesareas eröffneten im Jahre 66 den Jüdischen Krieg. O b der Prokurator nicht eingreifen wollte, oder ob er einfach nicht wußte, was zu tun sei? An sich handelte es sich um einen Konflikt, den etwas guter Wille ohne weiteres beilegen konnte: Durch die Bebauung eines Grundstücks neben
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einer Synagoge war ein Teil des Zugangs zu dieser Synagoge versperrt worden. Warum Gessius Florus angesichts der ohnehin gespannten Lage kurz darauf nach Jerusalem z o g und sich am T e m pelschatz vergriff, ist völlig unverständlich. Als die Jerusalemer Bevölkerung protestierte, gab er seinen Soldaten die Erlaubnis, die Stadt zu plündern. Aber er mußte vor der Wut des Volkes weichen und sich nach Caesarea zurückziehen. Die offene Rebellion schien damit perfekt, und Josephus stellt diese Ereignisse so dar, daß der Leser überzeugt sein muß: Einzig und allein die unglaubliche T o r heit und Brutalität des römischen Prokurators trug die Schuld am Ausbruch der Feindseligkeiten. Man wird kaum daran zweifeln können, daß Josephus einen wesentlichen Faktor, der zur Entstehung des Krieges führte, damit aufgezeigt hat. In den letzten Jahren Neros war in der T a t der einst so gut funktionierende Verwaltungsapparat Roms ziemlich angeschlagen. Unfähige und unwürdige Kreaturen hatten verantwortliche Positionen erhalten, und die Aufsicht und Kontrolle durch den Kaiser und seine engsten Mitarbeiter hatte aufgehört zu existieren. Insoweit ist das Verhalten des Prokurators Gessius Florus ein typisches Produkt der spätneronischen Zeit. Dennoch ist es notwendig, sich auch auf andere Gründe für den Ausbruch des Krieges zu besinnen, die auf jüdischer Seite liegen. Die vielfachen messianisch geprägten Unruhen, zu denen auch das Wirken Jesu gehört, beweisen, daß die eschatologischen Hoffnungen keineswegs tot waren, sondern großen Einfluß auf weite Kreise der Bevölkerung ausübten. Mögen es in manchen dieser Bewegungen in erster Linie die unteren Schichten der Bevölkerung gewesen sein, die am schnellsten dazu bereit waren, dem Ruf eines messianischen Propheten zu folgen, so scheint am Beginn des jüdischen Krieges ein radikales politisch-eschatologisches Denken auch die jüngere Generation der Oberschicht ergriffen zu haben. Der Führer der Rebellen, die Gessius Florus aus Jerusalem hinauswarfen, war der Sohn des Hohenpriesters. Josephus, der aus der Oberschicht stammte, versucht zwar in seiner Darstellung seine Weisheit und Einsicht herauszustellen, kann aber doch nicht leugnen, daß er im Alter von noch nicht dreißig Jahren zu den adligen Anführern der Rebellion gehörte: Bei der Organisation des militärischen Widerstandes wurde er der Oberbefehlshaber von Galiläa. Der ganze Sommer des Jahres 66 war, ohne daß die Römer irgendetwas taten, damit ausgefüllt, daß die Ältesten des Volkes
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unter Führung des Hohenpriesters, unterstützt von Agrippa II., mit den Rebellen verhandelten und sie zu bewegen suchten, doch einzulenken. Als aber auch die 3000 berittenen Soldaten, mit deren Hilfe Agrippa seinem Standpunkt und dem des Hohenpriesters Nachdruck verleihen wollte, aus Jerusalem vertrieben wurden, entschloß sich der syrische Legat Cestius Gallus im Herbst des Jahres 66 zum Eingreifen. Er erschien vor Jerusalem; aber die Rebellen waren bereits im Vollbesitze der Macht und beherrschten die Stadt. Offenbar war Cestius Gallus auf so starken Widerstand nicht vorbereitet, sah sich außerstande, Jerusalem einzunehmen, und zog wieder ab. Auf dem Rückzug wurde sein Heer von den Rebellen überfallen und erlitt schwere Verluste. Der Legat konnte sich selbst nur mit Mühe retten. Diese Ereignisse zeigen, daß den Römern nicht einfach der Unwille des Volkes über die Unfähigkeit eines römischen Prokurators gegenüberstand, sondern eine aus revolutionären messianischen Ideen gespeiste Bewegung, die mehr als nur eine Schicht des Volkes ergriffen hatte. Charakteristisch für die politische Messianologie der Rebellion war auch das Auftreten einer Gruppe, die Josephus als „Zeloten" bezeichnet. Sie lassen sich zwar mit keiner der früheren messianischen Bewegungen in Verbindung bringen, aber verschiedene Bemerkungen des Josephus lassen darauf schließen, daß diese Zeloten des jüdischen Krieges eine radikale religiöse Ideologie vertraten weit radikaler als die der adligen jungen Führer des ersten Aufstandsjahres. Josephus mußte sich bald mit einem der Zeloten-Anführer auseinandersetzen, als er im Winter 66-67 als Oberbefehlshaber in Galiläa den jüdischen Widerstand militärisch zu organisieren suchte: Johannes von Gischala durchkreuzte mehrfach seine Pläne und bemühte sich in Jerusalem darum, seine Absetzung zu erreichen. Inzwischen hatte jedoch Nero, der gerade bei den Spielen in Griechenland einen Wettkampf nach dem anderen „gewann", den verdienten General Vespasian mit der Niederwerfung des jüdischen Aufstandes betraut. Nachdem Vespasian im Winter drei Legionen und verschiedene Hilfstruppen zusammengezogen hatte, begann er im Frühjahr 67 mit seinem Feldzug und wandte sich zunächst gegen Galiläa. Nach mehrwöchiger Belagerung mußte Josephus sich in die Eroberung seiner Hauptfestung Jotapata fügen. Er ergab sich den Römern und wurde von Vespasian, dem er prophezeite, daß er einst Kaiser werden würde, als wertvoller Gefangener und Ratgeber in seinem Feldlager mitgeführt. Der Zeloten-Anfüh-
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rer Johannes von Gischala entkam jedoch nach Jerusalem, und es gelang ihm, dort die Oberhand zu gewinnen. Während hinfort in Jerusalem teils blutige Auseinandersetzungen zwischen den radikalen und gemäßigten Kräften stattfanden, konnte Vespasian bis zum Frühjahr 68 den größten Teil des Landes erobern - auch Qumran, der Sitz der essenischen Sekte, die sich ebenfalls den Aufständischen angeschlossen hatte, fiel in seine Hände. Jedoch scheinen das Ende Neros im Sommer 68 und die Kämpfe um seine Nachfolge (s.o. §6.2a) den weiteren Fortschritt des Krieges verzögert zu haben. Einer radikalen Zeloten-Gruppe unter Simon bar Giora gelang es, in Jerusalem einzudringen, und Johannes von Gischala mußte sich hinfort mit ihnen in die Herrschaft teilen. Erst im Frühjahr 69 begann Vespasian mit der Belagerung der Hauptstadt. Doch verursachten die Auseinandersetzungen um die Nachfolge Neros erneut eine Unterbrechung der römischen Kriegsanstrengungen und gaben den Aufständischen eine weitere Atempause, die sie jedoch wiederum mit inneren Parteienkämpfen verbrauchten. Vespasian wurde im Sommer 69 zum Kaiser ausgerufen und überließ seinem Sohn Titus den Oberbefehl über die Operation in Judäa. Da Titus jetzt über vier gut ausgebildete und bewährte Legionen verfügte, konnte der Ausgang nicht zweifelhaft sein. Im Frühjahr des Jahres 70 begann die eigentliche Belagerung. Nacheinander wurden bis zum September jenes Jahres die einzelnen Teile der Stadt erobert. Obwohl die Eroberer dies nicht beabsichtigten, ging der Tempel in Flammen auf - die Schätze des Tempels wurden gerettet und im Triumphzug des Titus mitgeführt, wie es auf dem in Rom errichteten Titusbogen abgebildet wurde. Die letzte Festung Masada fiel erst im Jahre 73. Als die Verteidiger Masadas angesichts ihrer hoffnungslosen Lage Selbstmord begingen, wurde der Traum des politischen Messianismus vorerst zu Grabe getragen. Jerusalem durfte nicht mehr von Juden betreten werden und wurde zur römischen Stadt Aelia Capitolina, die Hauptstadt der Samaritaner, Sichern, wurde durch die Stadt Neapolis (Nablus) ersetzt. Diejenigen unter den Pharisäern, die sich nicht durch den jüdischen Krieg kompromittiert hatten, versuchten, in der Küstenstadt Jamnia ohne den Tempel und ohne die Priester eine neue Form des Judentums aufzubauen, das als rabbinisches Judentum die kommenden Jahrtausende überdauern sollte.
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f) Das Judentum nach der Zerstörung Jerusalems Für die Geschichte des Judentums im ausgehenden 1. und im 2. Jh. sind so gut wie keine direkten Quellen erhalten. Die ältesten Schriften des rabbinischen Judentums (Mischna und ältere Midraschim; s.u.) wurden erst um das Jahr 2 0 0 n C h r abgefaßt, und die in ihnen erhaltenen Traditionen sind immer von späteren Schuldiskussionen und von legendarischem Material überlagert. Zudem haben sie kein Interesse am historischen Bezug der Uberlieferungen, sondern lediglich an ihrem juristischen Gewicht. In welcher Beziehung die späteren jüdischen Apokalypsen zum rabbinischen Judentum stehen (4.Esra und 2.Baruch aus dem Ende des 1 .Jh.; ferner die äthiopisch erhaltene Henochapokalypse, die aus älteren Stücken im 2 . J h . n C h r zusammengestellt wurde), ist unsicher. Die wenigen Angaben der Historiker sind alles andere als unparteiisch (das gilt auch f ü r die „Jüdischen Altertümer" des Josephus mit ihrer deutlich pro-pharisäischen Tendenz). Interessante Einsichten ergeben sich aus den vielfach erst in jüngster Zeit ausgegrabenen Synagogen, vor allem in Galiläa, aber auch andernorts (großes Aufsehen erregte vor einem halben Jh. die Ausgrabung der Synagoge von Dura Europos in Mesopotamien; wichtig ist u.a. die jüngst gefundene Synagoge in Sardes). Aber nur selten läßt sich eine dieser Synagogen mit Sicherheit ins l . J h . n C h r datieren, die meisten stammen aus dem 2. bis 5.Jh.nChr. Auch in Bezug auf die Vorläufer des sich nach 7 0 n C h r entwikkelnden rabbinischen Judentums bestehen viele Probleme. Zwar steht es außer Frage, daß das rabbinische Judentum aus der Bewegung der Pharisäer hervorgegangen ist (s.o. §5.2d). Aber damit sind seine Vorläufer sowohl zu eng als auch zu ungenau beschrieben. Insofern erklärt auch die Annahme einer Sukzession von fünf Paaren von Gelehrten, die von Simon, dem Gerechten (Hoherpriester um 200vChr; s.o.§5. /b), bis zu Hillel und Schammai reichen sollen, recht wenig - ganz zu schweigen von der Fiktion der seit Esras Zeiten bestehenden „ G r o ß e n Synagoge". Es muß vielmehr an zwei Tatsachen erinnert werden, die im Judentum der hellenistischen Zeit große Bedeutung gewannen: die zentrale Stellung der Bibel (d.h. vor allem der 5 Bücher Moses) und die Demokratisierung des Lernens. D a ß im idealen, in die Geschichte zurückprojizierten Synedrium (hebr. Sanhedrin) Simons des Gerechten alle Klassen des Volkes vertreten sind, symbolisiert diesen Prozeß, an
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dem weite Kreise, vor allem in der Diaspora, Anteil hatten. Abseits standen nur die Sadduzäer, die mit ihrem Literalismus der Interpretation der Bibel Wächter der alten religiösen Institutionen (Tempel, Opferkult) waren (s.o. §5.2a), aber während der römischen Herrschaft durch die Kontrolle des Jerusalemer Synedriums - des obersten Gerichtshofes, in dem der Hohepriester den Vorsitz hatte, - auch politisch die Verantwortung trugen. Außerhalb Jerusalems, vor allem aber in der Diaspora außerhalb Palästinas, hatte man längst gelernt, sich mit den neuen Verhältnissen abzufinden, indem man durch die Anwendung neuer Methoden der biblischen Interpretation moralische, juristische und rituelle Fragen auf Grund der alten Texte löste. So entwickelte sich eine neue Tradition der Auslegung, deren Pflege nicht mehr in den Händen der Priester lag. Bestimmte Traditionen der Auslegung waren im 1 .Jh. n. Chr. bereits fixiert. Aber Einheitlichkeit gab es nicht, auch nicht innerhalb der Sekte der Pharisäer (zu der ja Paulus ebenso gehörte wie Hillel und Schammai). Das Jerusalemer Synedrium konnte als Institution an der Schaffung Einheitlichkeit der Auslegungstraditionen kein Interesse haben. Es war ebenso wie die in den römischen Distrikten Palästinas eingerichteten lokalen Synedrien mit der unmittelbaren juristischen und fiskalischen Verwaltung befaßt, für die es den römischen Behörden verantwortlich war, und wird in seiner von den Sadduzäern bestimmten Bindung an das Tempelritual für Experimente mit neuen Alternativen der Schriftauslegung nur wenig O f fenheit gezeigt haben. Es ist eine vieldiskutierte Frage, ob es daneben noch eine private religiöse Institution eines pharisäischen Synedriums gegeben hat, die im aramäischen Sprachraum weithin Anerkennung genoß. Eine solche Institution könnte auf die Organisation der Hassidim der makkabäischen Zeit zurückgehen. In diesem Falle wäre der rabbinische Sanhedrin von Jamnia eine Fortsetzung dieser pharisäischen Institution und nicht des offiziellen Jerusalemer Synedriums; man benutzte in Jamnia auch nicht den Namen „Sanhedrin", sondern sprach vom „Gerichtshof" (Be't Din), an dessen Spitze ein Präsident (Nasi) und ein Vizepräsident (Ab Bet Din) standen. Aber diese Hypothese ist mit zu vielen Schwierigkeiten belastet; denn einmal waren die maßgebenden Jerusalemer Pharisäer Mitglieder des offiziellen Synedriums; zum anderen unterschätzt diese Hypothese die schöpferische Kraft der jüdischen Synagoge, die Vereinszentrum und Schule, Basis der religiösen Propaganda
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und Gottesdiensthaus zugleich war (s.o. §5. / e ) . Weltweite Einheitlichkeit konnte die Synagoge freilich nicht schaffen - aber dahin war es auch nach der Gründung des Bet Din in Jamnia noch ein langer Weg. Zunächst hatte der Alexandrinische Philosoph Philo in der Synagoge ebenso seinen Platz wie der aus Babylonien stammende Hillel, aber auch Jesus, Paulus und viele Christen der ersten Generation. In einer Hinsicht bestand jedoch Einheitlichkeit in den Synagogen: die Frage nach dem Tempelritual war in der Auslegung der Bibel sekundär. Hingegen stand die Frage nach dem Wandel - und dazu gehörte das Problem der rituellen Reinheit - im Vordergrund. Die oft komplizierten juristischen Diskussionen der Frage des Wandels in der biblischen Exegese (Halacha) haben sich also schon vor der Zerstörung des Tempels ausgebildet. Daneben wurde aber auch die Predigt (Haggada), die mystische Auslegung und die Apokalyptik weiter entwickelt. Was dem späteren rabbinischen Judentum sein besonderes Gepräge geben sollte, war die juristische Auslegungspraxis der babylonischen Synagoge. Hillel (lebte bis etwa 20 nChr), aus Babylonien stammend, mag zwar selbst in Jerusalem studiert haben, aber seine exegetischen Prinzipien, die ebenso wie seine Humanität für das rabbinische Judentum bestimmend wurden, verraten die Situation der Diaspora, für die mit dem Tempel und mit dem Wohnen in einem überwiegend jüdischen Lande verbundene Gesetzgebung nur mehr akademisches Interesse hatte. Dies, ebenso wie seine Fähigkeit als Lehrer, ließ ihn zum Vater des rabbinischen Judentums werden - mehr noch als seine berühmten exegetischen Regeln, zu denen der Schluß a minore ad maius und der Analogieschluß gehören. Hingegen repräsentiert sein oft zitierter Gegner Schammai das dem Tempel nahestehende palästinische Pharisäertum: er ist aristokratisch, strikt und nationalistisch. In Hilleis Nachfolger als Haupt seiner Schule, Gamaliel I. (wahrscheinlich ein Sohn Hilleis), der ein wegen seiner Weisheit berühmtes Mitglied des Jerusalemer Synedriums war - als solcher erscheint er auch im N T Apg. 5, 34-39 - muß man jedoch einen Mann sehen, der zur Jerusalemer Aristokratie gehörte, wenn er sich auch von der herrschenden Stimmung bisweilen distanziert haben mag (das deutet u. a. der Bericht der Apostelgeschichte an). Jedoch wurde Gamaliels Sohn Simeon der Anführer der Kriegspartei der Pharisäer, beteiligte sich auch an der ersten Regierung der Aufständischen, die freilich dann noch radikaleren Kräften weichen mußte. Man kann diese Kriegspartei
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wahrscheinlich im wesentlichen mit den Schammaiten identifizieren, mit denen Simeon, Hillels Enkelsohn, in den Wirren des Krieges unterging. Den Neuanfang verdankt das Judentum einem Manne, der nach der Tradition Simeon ben Gamaliels Kollege in der Leitung der Jerusalemer Schule war und selbst noch als Schüler Hillels galt: Jochanan ben Zakkai. Er hatte sich schon längst von der Kriegspartei distanziert; jedenfalls gibt es Zeugnisse dafür, daß er sich schon vor Ausbruch des Krieges gegen Gewalttätigkeit im Namen der nationalen Befreiung gewandt hatte. Jochanan verließ Jerusalem noch vor dem Ende des Krieges (68nChr), begab sich unter Lebensgefahr in das Lager Vespasians und erhielt von diesem die Erlaubnis, sich in Jamnia (Jabneh) an der Küste Palästinas niederzulassen und dort eine Schule zu gründen. Daß dies mit ausdrücklicher Unterstützung der Römer geschah, ist durchaus glaubwürdig; denn Vespasian mußte daran liegen, angesichts der sich in Rom um die Nachfolge Neros zuspitzenden Lage (s.o.§6.2a-b) gemäßigte neue Führer der Juden im Lande zu wissen. Andere jüdische Lehrer, vor allem aus der Schule Hillels, die sich nicht mit dem nationalen Aufstand identifiziert hatten, kamen noch vor dem Ende des Krieges oder bald danach zu Jochanan in Jamnia - andere Juden waren in diesem Gebiet von den Römern zwangsweise angesiedelt worden - , so daß unter der Führung von Jochanan ben Zakkai eine Neuorganisation des jüdischen Lebens nach der Katastrophe Jerusalems möglich wurde. Alle waren sich in diesem Moment darin einig, daß die Katastrophe die Strafe für die Sünden Israels war; das war die Meinung der Christen, der Apokalyptiker (4.Esra, 2.Baruch), aber auch die Ansicht Jochanans und seiner Kollegen. Jochanans Antwort: Nur die ernste Erfüllung der Gebote kann Heilung bringen; denn ihre Mißachtung brachte unsägliches Unheil. Problematisch mußte das Wie der Gesetzeserfüllung sein angesichts des Fehlens einer kultischen und rechtsbestimmenden Institution; denn es gab keinen Tempel mehr und kein Synedrium. Für die Beantwortung dieser Frage hatten Hillels Auslegungsprinzipien und seine letztlich aus der Diaspora stammenden und dem Tempelkult nicht verpflichteten Grundsätze der Halacha entscheidende Bedeutung. Jochanan ben Zakkai brachte sie zur Geltung. Es ist anzunehmen, daß die wichtigsten Entscheidungen der Neuordnung bereits unter Jochanan ben Zakkai getroffen wurden.
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Die Entscheidungen betrafen sowohl liturgische als auch rechtliche Fragen. D e r sich in Jamnia neu bildende Gerichtshof beanspruchte damit f ü r sich auch das Recht, dort zu entscheiden, w o bisher die Priester gewaltet hatten. Hierher gehörte vor allem die N e u o r d nung des Kalenders - man behielt den alten Jerusalemer Mondkalender bei, der etwa alle drei Jahre die Einfügung eines 13. Monats erforderte, - und die Festlegung der Feste. Die wichtige Problematik von „Rein und U n r e i n " wurde vollends vom Opferkult des Tempels losgelöst - das war nur noch von akademischem Interesse - und damit der Jurisdiktion der Priester entzogen; hinfort galt hier nur noch das W o r t des gelehrten Gerichtshofes, der die Bewahrung der „Reinheit" zu einer Verpflichtung des Lebenswandels f ü r alle Angehörigen des jüdischen Volkes zu machen suchte. Die V o r stellung vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen ist hier ebenso lebendig wie im Neuen Testament (vgl. l . P t . 2 , 5). Die Gesetzesauslegung der Sadduzäer und ihre Ablehnung des Auferstehungsglaubens wurden verworfen. W a r der Streit der beiden pharisäischen Schulen auch zunächst zugunsten der Schule Hilleis ausgegangen, so war die Auseinandersetzung mit den Schammaiten, die vor der Zerstörung Jerusalems ohnehin zahlreicher waren als die Hilleliten, ebensowenig zu Ende wie die Kontroverse mit den Resten der pharisäischen Kriegspartei. Gamaliel II., Sohn des einstigen Führers der Kriegspartei Simeon ben Gamaliel (I.), war einer der wenigen Angehörigen dieser Partei, die dem römischen Gemetzel nach der Eroberung Jerusalems entgangen waren. Er kam etwa um 8 0 n C h r nach Jamnia und wurde noch vor dem T o d e des greisen Jochanan ben Zakkai zum Nasi des Bet Din gewählt. Das Prestige der Familie Hillels, deren Stammbaum man auch bald bis auf David zurückführte (vgl. Mt. 1, 2-16), mag dazu beigetragen haben, daß Gamaliel diese Stellung erhielt und, wenn auch nicht unumstritten, bis zum Jahre 135nChr beibehalten konnte. Die Führung des Gerichtshofes blieb auch f ü r derhin bei den N a c h k o m m e n Hillels. Gamaliels Nachfolger wurde sein Sohn Simeon (ca. 135-175 nChr) und an seine Stelle trat dessen Sohn Judah, genannt „der P r i n z " ( H a N a s i ; ca. l / 5 - 2 2 0 n C h r ) . Man nennt diesen Zeitabschnitt vom T o d e Hillels bis zur endgültigen Redaktion der Mischna durch den Patriarchen Judah die Zeit der „Tannaiten", d.h. „Uberlieferer" oder „ L e h r e r " (abgeleitet vom aramäischen Verb tena „wiederholen", „überliefern", das dem hebräischen schanah entspricht, von dem das W o r t „Mischna"
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abgeleitet ist). Die beiden bedeutendsten Lehrer dieser Zeit waren R.Akiba ben Joseph und R. Ismael ben Elisa. Akiba systematisierte die Uberlieferung der Halacha in 6 Hauptabschnitten mit vielfachen Unterabteilungen, die in der späteren schriftlichen Redaktion der Mischna erhalten sind. Er band die Halacha stärker an die Schrift: die überlieferten Entscheidungen mußten schriftgemäß sein. Dabei wurde das Inspirationsprinzip verschärft: Jede Kleinigkeit in der heiligen Schrift bis hin zu einzelnen Buchstaben hatte Bedeutung. Dem entspricht in der Entwicklung der griechischen Bibel die Neubearbeitung Aquilas, dessen Übersetzung sich möglichst eng an den Wortlaut des hebräischen Textes anschloß (s.o. § 5 . 3 b ) ; Aquila war nicht nur Akibas Zeitgenosse, sondern vielleicht auch sein Schüler. Ismael verwarf den Literalismus Akibas in der Schriftauslegung, sah in der Bibel auch den Gebrauch der allgemeinen menschlichen Umgangssprache und warnte davor, Einzelheiten bei der Auslegung zu stark zu betonen. Ismael wird der weitere Ausbau der 7 Auslegungsregeln Hilleis zugeschrieben. Er modifizierte sie und teilte sie in 13 Regeln, die f ü r das rabbinische Judentum maßgebend wurden. Die römische Verwaltung überließ nach dem Jahre 70 nChr den N e u a u f b a u des Judentums sich selbst, kannte keine religiöse Verfolgung des Judentums und störte auch nicht die Organisation des Gerichtshofes von Jamnia, der durch Sendboten an andere Gemeinden seinen Einfluß zu verbreitern und seinen juristischen und liturgischen Entscheidungen allgemeine Anerkennung zu verschaffen suchte. Wie schnell und in welchem U m f a n g das gelang, ist eine offene Frage. Archäologische Funde und Ausgrabungen scheinen anzudeuten, daß auch im 2. bis 4.Jh. der Einfluß des rabbinischen Gerichtshofes nur beschränkt war, vor allem dort, wo man Griechisch und nicht Aramäisch sprach und wo sich das Hebräische auch als liturgische Sprache vorerst nicht durchsetzen konnte. Natürlich muß man die notorische Schwierigkeit der Interpretation archäologischer Funde in Rechnung stellen. Aber auch Funde jüdischer Inschriften z.B. aus Kleinasien bleiben noch jahrhundertelang fast rein griechisch; eine T r e n n u n g zwischen Männern und Frauen hat es in der Synagoge in Sardis offenbar nicht gegeben; und die W a n d malereien der Synagoge von Dura-Europos aus dem frühen 3 . J h . n C h r entsprechen dem rabbinischen Prinzip der Bildlosigkeit ebensowenig wie die astrologischen Symbole in den Fußbodenmosaiken galiläischer Synagogen. Nichts ist bekannt über das Verhält-
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nis von Jamnia zu jenen gesetzestreuen Gemeinden, die sich zu Christus bekannten (s.u.§ 10.4a-c). Auch über das Verhältnis zur Gnosis, deren Anfänge sicher in den syrisch-palästinischen Raum gehören, wissen wir zu wenig. Die Ausbildung der gnostischen Genesis-Auslegung in Syrien ist ohne die Annahme einer Berührung mit den Anfängen rabbinischer Exegese kaum denkbar (s.o.§.6.5f; s.u. §10.5b). Daß Mystik, Apokalyptik und Gnosis in Jamnia nicht unbekannt waren, ergibt sich auch aus dem wenigen, das in späteren rabbinischen Quellen darüber enthalten ist (die Arbeiten Gerschom Scholems haben hier neue Einsichten gebracht). Das traditionelle Bild eines ausschließlich mit juristisch-halachischen Fragen beschäftigten Gerichtshofes ist sicher zu einseitig. Die Neubearbeitung des Materials aus der ersten Periode der Tannaiten, die in der 2. Hälfte des 2. Jh stattfand, hat hier manches ausgemerzt, das man sich nach den katastrophalen Erfahrungen der jüdischen Aufstände von 116-118 und 132-135nChr nicht mehr leisten konnte. Trotz der pazifistischen Einstellung vieler ihrer Führer und trotz des Grundsatzes, daß das Studium der Tora im Wert höher zu veranschlagen sei als die nationale Freiheit des jüdischen Volkes, hat sich das Bet Din von Jamnia niemals ganz von der H o f f nung auf die realistische und politische Erfüllung messianischer Erwartungen losgesagt. In dem Wunsch, wieder nach Jerusalem zurückkehren zu können und den Tempel wieder aufzubauen, waren die gemäßigten Führer in Jamnia mit den Nationalisten einig. Im 2. Jahrzehnt des 2. Jh. schienen die Römer willens, diesen Wunsch zu erfüllen. Als Trajan aber den Wiederaufbau des Tempels nach langen Verhandlungen schließlich doch verbot, organisierte sich der militante Nationalismus aufs neue. Der Aufstand brach in der Cyrenaika und in Ägypten aus und griff auch auf Palästina über. Seine blutige Niederwerfung hatte auch Folgen für den Gerichtshof in Jamnia. Er wurde gezwungen, nach Ludd (Lydda) überzusiedeln und wichtige Funktionen wurden ihm entzogen, u.a. das Recht, den jüdischen Kalender zu bestimmen. In der Folgezeit scheinen die radikalen Kräfte hier die Oberhand gewonnen zu haben, während Pazifisten wie Akiba an Einfluß verloren. Der letzte Aufstand wurde entfesselt, als Hadrian seinen Plan bekannt machte, an der Stelle des jüdischen Tempels in Jerusalem im Zuge des Neuaufbaus der Stadt einen Tempel für den kapitolinischen Jupiter zu errichten. In drei Jahren (132-135 nChr) brachen die Römer auch den letzten Rest des Widerstandes der messianischen Bewe-
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gung, dessen Führer von Akiba am Beginn des Krieges als „Stern aus J a k o b " bezeichnet worden war und der daher als Bar Kochba in Erinnerung geblieben ist. Die Folgen waren katastrophal. Hadrian kannte die religiösen Motive, die zum Aufstand geführt hatten. Anders als nach dem jüdischen Krieg von 6 6 - 7 0 wurden dieses Mal Maßnahmen ergriffen, die sich gegen die Ausübung der jüdischen Religion richteten. Es wurde Juden nicht nur verboten, nach Jerusalem zu gehen oder sich Jerusalem auch nur zu nähern, das Verbot betraf auch die Ausübung der Beschneidung, die Beobachtung des Sabbats und der jüdischen Feste sowie die Unterrichtung in der T o r a . D e r hochbetagte Akiba, über 90 Jahre alt, der sich diesem Verbot nicht beugen wollte, erlitt das Martyrium. Ein Bet Din konnte es nicht mehr geben. Die jüdische Bevölkerung, vor allem Judäas, war zum Teil ausgerottet, zum Teil vertrieben. Erst Antoninus Pius hat die gegen die Ausübung der jüdischen Religion gerichtete Gesetzgebung gemildert. Als es möglich wurde, den jüdischen Gerichtshof wieder herzustellen, ging die Reorganisation von Galiläa aus, wo sich das Bet Din nach mehrfacher Verlegung schließlich in Tiberias niederließ. Es waren die Schüler Akibas, die hier die Tradition der ersten Periode der Tannaiten fortführten und weiter ausbauten, vor allem R. Meir, der sowohl unter Ismael als auch unter Akiba studiert hatte und dem die Gestalt der Mischna zu verdanken ist, die um 200 vom Patriarchen Judah redigiert und schriftlich fixiert wurde. Aus dieser letzten Periode der Tannaim stammen die Entscheidungen, die das rabbinische Judentum bestimmen sollten. Aus dieser Zeit stammt auch die älteste Literatur des rabbinischen Judentums, die erhalten ist, nämlich die Mischna, die tannaitischen Midraschim und die Tosefta. Darüber ist noch kurz zu handeln. Die Mischna. Diskussionen über die Auslegung wichtiger G e setze wurden zunächst mündlich tradiert. Sie beginnen oft mit den Ansichten Hilleis (und Schammais), Ansichten späterer Lehrer werden angefügt. Im wesentlichen wurde der Grundstock zu diesen Diskussionen während der Zeit der Rekonstruktion nach 7 0 n C h r in Jamnia geschaffen. Während des 2 . J h . n C h r hat es wohl auch Niederschriften dieser Diskussionen gegeben, d.h. Handbücher, die für den Privatgebrauch der Lehrer und als Grundlage für Gerichtsentscheidungen benutzt wurden. V o n Akiba stammt die Einteilung dieses Materials in die 6 Hauptabschnitte: Zera'im
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( „ S a m e n " - Landwirtschaft und Feldfrüchte); Mo'ed („Feste"); Naschim ( „ F r a u e n " - enthält daneben auch die Gesetzgebung über den Eid); Nezikin („Schäden" - Straf- und Zivilrecht); Kodaschim („Geheiligte D i n g e " - O p f e r und Ritus); T o h a r o t h („Reinheitsvorschriften"). Diese Einteilung ist nicht rein systematisch, sondern verrät auch noch das Interesse an der Erhaltung von Gedächtnisstützen. V o n Meir neu gefaßt, wurde die Mischna von dem Patriarchen Judah schriftlich redigiert und herausgegeben. Sie wurde nicht nur in Palästina, sondern auch in Babylon als die maßgebende Sammlung der Tannaitischen Rechtsdiskussionen und Entscheidungen akzeptiert und wurde so die Grundlage sowohl des babylonischen als auch des palästinischen Talmud. Midraschim. Rechtsentscheidungen wurden nicht nur nach systematischen Gesichtspunkten geordnet überliefert, sondern man begann auch spätestens am Anfang des 2. Jh. nChr, juristische Kommentare zu den einzelnen Büchern der Bibel zu verfassen, und zwar zunächst zu den Büchern Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium. Das T h e m a und das entsprechende Material dieser Kommentare ist in der Frühzeit halachisch, also juristisch; Predigt und Erzählung (Haggada) spielen in den ältesten Kommentaren nur eine geringe Rolle. Der N a m e f ü r einen solchen Kommentar ist Midrasch („Untersuchung"). Die ältesten erhaltenen tannaitischen Midraschim heißen Mechilta, Sifra und Sifre. Mechilta ist ein Kommentar zum Buche Exodus, und zwar zu Exod. 12-23 und 31, 12-17; 35, 1-3. Man hat daher vermutet, daß der Kommentar nicht vollständig erhalten ist. In diesem Kommentar werden auch Meinungen der späteren Tannaiten zitiert, aber seine Basis ist wahrscheinlich ein Midrasch R. Ismaels oder seiner Schule. Sifra, eigentlich Sifra de-Be Rab „Buch der Schule", ist ein fortlaufender Kommentar des Buches Leviticus, in dem fast jeder Satz einzeln ausgelegt wird. Er stammt aus der Schule Akibas, aber seine abschließende Redaktion fällt in die Zeit nach der Redaktion der Mischna. Sifre (Sifre de-Be Rab, „Bücher der Schule") bezeichnet zwei verschiedene Werke, nämlich einen Midrasch zu Numeri und einen Midrasch zu Deuteronomium. Der erstere kann auf die Schule Ismaels zurückgeführt werden; in Sifre zu Deuteronium stammt der Kommentar zu Dtn. 12-26 aus der Schule Akibas. In beiden Fällen enthalten die Manuskripte nicht den vollen U m f a n g der ursprünglichen Kommentare. Tosefta. Unter diesem N a m e n ist neben der Mischna noch eine
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zweite Sammlung halachischer Traditionen der Tannaiten erhalten. Das Zustandekommen dieser Sammlung ist umstritten. In der Einteilung des Materials folgt dieses Werk der Mischna und oft sind die halachischen Regeln dieselben wie die der Mischna. In manchen Abschnitten ist die Tosefta nichts weiter als eine Darbietung zusätzlichen Materials (Tosefata heißt „Zusätze"), oft enthält sie aber auch unabhängige Parallelüberlieferungen, die um so wertvoller sind, als die Tosefta nicht den gleichen kanonischen Status hatte wie die Mischna und deshalb nicht so stark der redaktionellen Tätigkeit der rabbinischen Herausgeber unterlag. Auf die weitere Entwicklung des rabbinischen Judentums und seiner Literatur kann hier nicht eingegangen werden. Dafür, ebenso wie für eine Erklärung der entsprechenden Fachtermini sei auf die angegebene Literatur verwiesen.
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DIE QUELLEN FÜR DIE GESCHICHTE DES FRÜHEN CHRISTENTUMS
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A.JÜLICHER
-
E.FASCHER,
7
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Neutestamentliche
Apokryphen, 3. und 4.Auflage von (sämtlich in deutscher Übersetzung mit ausführlichen Einleitungen und Literaturangaben).
W.SCHNEEMELCHER, I 1 9 5 9 ( " 1 9 6 8 ) ; I I 1 9 6 4
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1. Bestand und Überlieferung a) Die Entstehung der ältesten christlichen Schriften Die Bibel der frühen Christenheit war das Alte Testament, genauer gesagt „das Gesetz und die Propheten". Das war immer gemeint, wenn man schlechthin von der „Schrift" redete oder die Zitationsformel „es steht geschrieben" benutzte. Daneben stand von Anfang an eine mündliche Uberlieferung, die unter der Autorität Jesu oder des „ H e r r n " weitergegeben wurde. Sie umfaßte Aussprüche Jesu („Herrenworte") ebenso wie auch kurze Erzählungen über Jesus. Worte des „ H e r r n " waren nicht auf Aussprüche des irdischen Jesus beschränkt, sondern schlossen Worte des Erhöhten ein (s.u.§7.4a-c). Neben die mündliche Überlieferung trat schon früh der Gebrauch des Schriftlichen als Medium der Mitteilung und Uberlieferung. Zwar waren die wesentlichen Tätigkeiten der frühen Christengemeinden an die mündliche Form der Kommunikation gebunden, da Predigt, Unterricht und gemeinsame Feiern im Vordergrund standen. Aber man darf sich die ersten christlichen Missionare und Gemeindeleiter auf gar keinen Fall als ungebildete, des Schreibens und Lesens unkundige Leute vorstellen. Die Kultur der hellenistischen und frühen römischen Zeit war in hohem Maße eine literarische Kultur. Für das Judentum jener Zeit, aus dem das frühe Christentum hervorging, gilt diese Feststellung erst recht. Das Erlernen der Schrift und des Lesens war für die männlichen Mitglieder der jüdischen Religionsgemeinde selbstverständlich. Entsprechend scheint man auch in den frühen Christengemeinden schon bald mündliche Traditionen für den kirchlichen Gebrauch aufgezeichnet zu haben, waren das nun zu Katechismen zusammengestellte Sprüche Jesu, Gemeindeordnungen oder Sammlungen von Gleichnissen und Wundergeschichten. Manches davon ist als Teil späterer Schriften erhalten geblieben, so z.B. die in Mk. 4 wiedergegebene ältere Sammlung von Gleichnissen, die zunächst in aramäischer Sprache aufgezeichnet worden war, und die schriftlich fixierten frühen Gemeindeordnungen, die der Verfasser der Didache in seinem Buch benutzte (s.u.§ 10. lc). Die ältesten direkt erhaltenen schriftlichen Dokumente der Christenheit sind die Bnefe des Apostels Paulus, die in den fünfziger Jahren des l.Jh. entstanden sind. Es sind weder Gelegenheitsschriften, noch lassen sie sich in die „Literatur" jener Zeit einordnen. Vielmehr handelt es sich um kirchenpolitische Instrumente, die zu
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den politischen und propagandistischen Medien des mündlichen Mitteilungsbereiches hinzutraten, weil die Organisation eines größeren Kreises von Gemeinden dies notwendig machte. Die literarische Form des Briefes, die Paulus dabei verwendete, knüpfte zwar an ältere griechische und jüdische Vorbilder an, ergab sich aber im wesentlichen aus den Erfordernissen der paulinischen Missionssituation und hatte daher ihr eigenes Gepräge. Seit den letzten Jahrzehnten des 1 .Jh. trat der Gebrauch schriftlicher Überlieferungs- und Kommunikationsmittel stärker hervor, ohne daß damit die mündliche Tradition aufgehört hätte. Noch um 130nChr schätzte Papias von Hierapolis die von den Aposteln über ihre Nachfolger weitergegebene mündliche Überlieferung höher ein als die schriftlichen Evangelien. Aber auf der einen Seite wirkte das von Paulus geschaffene Instrument der Kirchenpolitik sehr stark auf die folgende Zeit, so daß der Brief als Mittel der Propaganda und Organisation sich großer Beliebtheit erfreute. Zum anderen schienen in vielen Fällen die schriftlichen Fassungen der Jesusüberlieferungen als Grundlagen der Gemeindeordnung sowie als Mittel der Ausbreitung der christlichen Botschaft geeigneter zu sein als die mündliche Weitergabe - und zwar keineswegs wegen der größeren Zuverlässigkeit der schriftlichen Fassungen; denn die mündliche Uberlieferung konnte, wie die rabbinischen Parallelen zeigen, einen hohen Grad der Zuverlässigkeit erreichen, während Schriftsteller sehr viel freier mit ihrem Stoff umgingen. Vielmehr war der Gebrauch schriftlicher Medien in der Kultur, in der sich das Christentum entwickelte, selbstverständlich. Das Modell des paulinischen Briefes wurde zunächst in den Kreisen der Paulusschüler aufgenommen und weiterentwickelt. Dem verdanken wir die sogenannten deuteropaulinischen Briefe: 2.Thess., Kol., Eph., die Pastoralbriefe (1., 2. Tim., Tit.), Laodicenerbrief und 3.Korintherbrief. Es sind sämtlich Briefe, die nicht nur nach dem Vorbild der paulinischen Briefe verfaßt wurden, sondern auch unter seiner Autorität die paulinische Tradition fortführen wollen. Bald begannen auch andere Autoren unter ihrem eigenen Namen oder unter dem Namen eines anderen Apostels zu schreiben und machten sich dafür in Form und Inhalt das Vorbild der paulinischen Briefe zu eigen. Der 1. Clemensbrief, in Rom geschrieben, will wie Paulus durch einen Brief an die korinthische Gemeinde erreichen, daß dort Streitigkeiten beigelegt werden. Der Bischof Ignatius von Antiochien hat auf seiner Romreise durch eine
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ganze Serie von Briefen in die Probleme kleinasiatischer Gemeinden klärend einzugreifen versucht. Auch unter dem N a m e n anderer Apostel sind Briefe erhalten, die wie Paulus und in N a c h a h mung seines Vorbildes kirchenpolitisch wirken wollen. Hierher gehören die beiden Petrusbriefe des N T , wohl auch die drei Johannesbriefe, die sich den paulinischen Pastoralbriefen zur Seite stellen lassen. Durch sieben Sendschreiben, die der Prophet Johannes seiner O f f e n b a r u n g voranstellte, wollte er seinen Einfluß auf bedrängte Gemeinden Kleinasiens geltend machen. In der zweiten Hälfte des 2.Jh. schrieb Bischof Dionysios von Korinth an eine Reihe von Gemeinden in Kleinasien und auf Kreta, um vor häretischen Formen des Askese zu warnen, nicht ohne zu klagen, daß man seine Briefe verfälsche - wie der 2. Petrusbrief vor einem Mißverständnis der paulinischen Briefe warnt. Von der reichen brieflichen Schriftstellerei der folgenden Zeit sind leider nur einige Proben erhalten (Clemens von Alexandrien, Irenäus und andere). In großer Vollständigkeit ist erst der Briefwechsel Cyprians aus der Mitte des 3.Jh. auf uns gekommen. Aber im ganzen stellen die Briefe des frühen Christentums - seien sie nun „ e c h t " oder „pseudepigraphisch" - eine wichtige Quelle f ü r die frühchristliche Geschichte dar. Neben die Briefe traten bald jene Sammlungen und Kompilationen von verschiedenartigstem Material, in deren Mittelpunkt Jesus stand und die seit der Mitte des 2. Jh. Evangelien genannt wurden. Zunächst handelt es sich dabei um verhältnismäßig einfache schriftliche Fassungen von Jesusüberlieferungen, die den theologischen Grundinteressen der jeweiligen Gemeinde entsprachen. Bereits vorhandene literarische Modelle aus der Welt des Hellenismus haben von vornherein Gestalt und Inhalt dieser ältesten Evangelienschriften geprägt. Sammlungen von Wundergeschichten Jesu sind eng mit der hellenistischen Aretalogie verwandt (s.o. §3.4d) und weisen gleichzeitig auf eine Christologie, die Jesus als Vorbild f ü r den Wunderheiler und Exorzisten hinstellt. Sammlungen von Sprüchen Jesu stehen unter dem Einfluß der jüdischen Weisheitsliteratur und entsprechen einer christologischen Orientierung an Jesus als Weisheitslehrer oder als die irdische Erscheinung der Weisheit. Aus dieser Literaturgattung ist ein Beispiel erhalten: das in N a g Hammadi gefundene Thomasevangelium. Eine umfangreiche Literatur ist außerdem auf uns gekommen, in der Jesus als der himmlische O f fenbarer in Erscheinung tritt. Die älteste Schrift dieser Gattung ist
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die O f f e n b a r u n g des Johannes. Unter dem Einfluß der jüdischen apokalyptischen Literatur entstanden eine Reihe von christlichen Apokalypsen (Petrusapokalypse, Hirte des Hermas, Zusätze zu jüdischen Apokalypsen wie 5. und 6.Esra), außerdem eine reiche christlich-gnostische Offenbarungsliteratur, die erst jetzt durch die Funde von N a g H a m m a d i deutlich in Erscheinung getreten ist (s.u. § 10.5b). In denjenigen christlichen Gemeinden, aus denen sich später die rechtgläubige Kirche entwickelte, wurde die teils schriftlich und teils mündlich vorhandene Überlieferung von Jesus in Schriften zusammengefaßt, die sich am christologischen Kerygma von Kreuz und Auferstehung orientieren. Gleichzeitig wirkte das literarische Modell der Biographie auf die Entstehung dieser Gattung ein (s.o. § 3 . 4 d ) . Zu den urchristlichen Schriften dieser Gattung gehören die vier Evangelien des neutestamentlichen Kanons, außerdem mehrere außerkanonische Evangelien, die nur in Fragmenten erhalten sind (Petrusevangelium, die judenchristlichen Evangelien). Macht sich schon hier die W i r k u n g einer seinerzeit sehr populären hellenistischen Literaturgattung bemerkbar, so ist das in noch stärkerem Maße in Bezug auf die Entstehung der Apostelgeschichten der Fall. Bei der kanonischen Apostelgeschichte spielt neben dem aretalogischen Interesse und einzelnen Elementen des griechischen Romans (Reisebericht und Schiffbruchsgeschichte) auch die Absicht eine Rolle, Geschichte zu schreiben. Bei den apokryphen Apostelgeschichten steht das Vorbild des Romans noch stärker im Vordergrund (s.o. § 3 . 4 t ) . Schriften, die in erster Linie theologische Traktate sein wollen, haben sich erst allmählich durchgesetzt. Der paulinische Römerbrief ist kaum hierher zu rechnen, da trotz eines spürbaren Einflusses der apologetischen Schriftstellern der Brief als kirchenpolitisches Instrument das Hauptmotiv bleibt. Aber im Hebräerbrief erscheint erstmals ein theologischer Traktat, der sich mit seiner allegorischen Auslegung alttestamentlicher Stellen mit den Traktaten Philos von Alexandrien vergleichen läßt (s.o. § 5.3f). V o n den nichtkanonischen Schriften muß der Barnabasbrief hierher gestellt werden. Die weitere Abfassung von theologischen Abhandlungen steht im engsten Zusammenhang mit der Entwicklung der christlichen apologetischen Literatur, die an die jüdische Apologetik (s.o. §5. Je) und an den philosophischen Protreptikos anknüpft. Ein neues Element sind die christlichen Glaubensbekenntnisse, die den christlichen apologetischen Schriften vielfach ihre Grundstruktur gaben.
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Das geschah so, daß man nacheinander f ü r die einzelnen Aussagen des Bekenntnisses den apologetischen Schriftbeweis führte. Die Behandlung einer Einzelaussage des Bekenntnisses konnte dann auch zu einem unabhängigen T r a k t a t über ein bestimmtes T h e m a ausgebaut werden. Aus dem 2. Jh. gibt es jedoch dafür kaum Beispiele. Erst im 3.Jh. wurden eine größere Anzahl solcher Traktate geschrieben (z.B. die Schrift „ D e principiis" des Origenes und viele der Abhandlungen Tertullians). Die apologetischen Schriftsteller des 2.Jh. haben aber das am Glaubensbekenntnis orientierte Schema der apologetischen Schriften auch in polemischen Schriften gegen Häretiker und gegen die Junden verwendet (vgl. Justins Dialog mit dem Juden T r y p h o und Irenäus' Adversus Haereses). Aus dem unmittelbaren Leben der christlichen Gemeinden ist nur wenig in schriftlicher Fassung erhalten. Einige Schriften sind vielleicht veröffentlichte Predigten. Hierher wäre womöglich der 2. Clemensbrief zu rechnen sowie die in N a g Hammadi unter dem Titel „Evangelium der W a h r h e i t " erhaltene Schrift. Aus dem Ende des 2. Jh. stammt die Passah-Homilie des Bischofs Melito von Sardes. Zur Vorlesung in den christlichen Gemeinden bestimmt waren auch die als Rundschreiben veröffentlichten Martyrienberichte, von denen mehrere im 2. Jh. entstanden sind (Martyrium des Polykarp, Martyrium des Justin und seiner Genossen, Bericht über die Martyrien von Lyonne, Acta der scillitanischen Märtyrer). Schließlich sind hier noch die Kirchenordnungen zu erwähnen, obgleich sich nur die „Lehre der Zwölf Apostel" mit Sicherheit in die Frühzeit des Christentums datieren läßt, während die (syrische) Didaskalia, die Kirchenordnung Hippolyts und die Apostolische Kirchenordnung erst nach 200 nChr geschrieben wurden.
b) D e r neutestamentliche Kanon Während der ersten Jahrzehnte der Ausbreitung des Christentums gab es außer dem „Herrn" keine Personen, die als Autorität f ü r die Gültigkeit der christlichen Predigt und f ü r die Zuverlässigkeit der christlichen Tradition Geltung hatten. In Streitfragen berief man sich in erster Linie auf das, „was Jesus geboten hatte", oder man befragte einen Propheten nach dem, was ihm „der H e r r " offenbarte. Daneben konnten andere Autoritäten angeführt werden, wie ζ. B. „das Gesetz und die Propheten", der Besitz des heiligen Geistes, die „ N a t u r " , die allgemeine Sitte und das vernünftige
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Urteil. Erst in der nachapostolischen Zeit begann man, sich auf die Autorität bestimmter Apostel zu berufen. Der erste Beweis dafür sind Zeugnisse aus der Tradition der paulinischen Gemeinden, in denen bald Briefe des Paulus gesammelt und verbreitet wurden und wo man gleichzeitig neue Briefe im Namen des Apostels verfaßte, die zu Bestandteilen des Corpus Paulinum wurden. Es ist vermutet worden, daß der Epheserbrief mit der ersten Sammlung paulinischer Briefe im Zusammenhang stand und als Begleitschreiben für diese Sammlung geschrieben wurde. Wie es damit auch sein mag, wir besitzen in jedem Falle hier klare Zeugnisse dafür, daß die Autorität eines bestimmten Apostels für Schriften verwendet wurde, die aus Gemeinden seines ehemaligen Wirkungskreises stammen. Leider gibt es aber sonst keine Quellen, die ebenso unmittelbar in die Tätigkeit und den Wirkungsbereich eines anderen Apostels einen Einblick geben, wie das bei Paulus der Fall ist. Es ist aber auffallend, daß sich in mehreren geographisch begrenzten Bereichen spätere Überlieferungen und Schriften um die Namen bestimmter Apostel gruppieren und deren Autorität für sich in Anspruch nehmen. Aus dem westlichen Syrien sind eine Reihe von Schriften erhalten, die von Petrus verfaßt sein wollen: das Petrusevangelium, die Apokalypse des Petrus, das Kerygma des Petrus (falls von dieser Schrift zu unterscheiden, noch eine Doctrina Petri), sowie eine Grundschrift des Pseudoklementinen, die sogenannten Kerygmata Petrou. Immerhin berichtet der paulinische Galaterbrief, daß Petrus sich in der T a t in Antiochien aufgehalten hat (Gal.2,11 ff). Also ist es schon denkbar, daß die späteren Petrusschriften aus Syrien auf eine Petrustradition zurückgehen, die an die tatsächliche missionarische Wirksamkeit dieses Apostels anknüpfen konnte. Das scheint das ebenfalls aus Syrien stammende Matthäusevangelium zu bestätigen, das in dem berühmten Jesuswort an Petrus diesen als den Fels bezeichnet, auf den Jesus seine Kirche gründen will (Mt. 16,18 ff). Ähnlich mag es mit der Tfromtfitradition des östlichen Syrien stehen, obwohl sich nicht beweisen läßt, daß die Legende von der Mission des Thomas im Osten bis nach Indien auf historischer Grundlage beruht. Ganz sicher ist nur die ostsyrische Herkunft der im frühen 3.Jh. nChr entstandenen Thomasakten. Aber wahrscheinlich muß man zwei weitere Schriften unter der Autorität dieses Apostels hierher stellen, die in der Bücherei von Nag Hammadi zum Vorschein gekommen sind: das Thomasevan-
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gelium und das Buch von Thomas dem Athleten. Die erstere Schrift ist spätestens am Anfang des 2.Jh.nChr entstanden, die zweite schwerer datierbar. Stammen alle diese Schriften tatsächlich aus dem östlichen Syrien (Edessa?), so hätten wir es hier mit einer Tradition unter der Autorität des Thomas zu tun, die auf die missionarische Tätigkeit dieses Apostels zurückgehen könnte. Schließlich ist noch die Tradition unter dem Namen des Johannes zu erwähnen. Der Ort, an dem sie entstanden ist, läßt sich nur schwer mit Sicherheit bestimmen. Viele Forscher denken mit gutem Grund ebenfalls an Syrien, und zwar an irgendeines der Randgebiete Coelesyriens oder Palästinas, nicht an Antiochien oder Edessa; andere vertreten eine kleinasiatische Herkunft dieser Tradition - jedenfalls hat man später geglaubt, das Grab des Johannes in Ephesus zu besitzen. Unter dem Namen des Johannes sind neben dem vierten Evangelium des N T drei Briefe und mehrere apokryphe Schriften erhalten (Johannesakten, Apokryphon des Johannes); Evangelium und Briefe stehen in engem Zusammenhang miteinander. Das Evangelium selbst ist komplex und enthält mehrere Überlieferungs- und Quellenschichten. Der N a m e Johannes war vielleicht schon mit der ältesten Schicht verbunden. Neben diese Autoritätsbildung unter dem Namen eines bestimmten Apostels trat die Autorität der Zwölf Apostel. Paulus kannte nur die „ Z w ö l f " , die er von „allen Aposteln" unterschied ( l . K o r . 15,5 und 7). Allgemeine Berufungen auf die „ A p o s t e l " ohne Nennung einer Zahl finden sich auch noch im Epheserbrief, bei Ignatius von Antiochien, im 1. Clemensbrief, bei Polykarp von Smyrna und im 2. Petrusbrief. Hier handelt es sich um eine weitverbreitete Berufung, die keiner bestimmten Tradition zugewiesen werden kann. Die „Zwölf Apostel" als genauer umschriebene Größe erscheinen zum ersten Male in der „Lehre der Zwölf Apostel" (Didache), wo sie die Autorität für die Ordnung der Kirche sind. Ein großer Teil der späteren Kirchenordnungen läuft ebenso unter dem Namen der (zwölf) Apostel (Apostolische Konstitutionen, Apostolische Kirchenordnung, usw.). In der Apostelgeschichte des Lukas sind sie die Garanten der Tradition und das Urbild eines gesamtkirchlichen Presbyteriums. Schließlich haben gnostische Sekten und Schulen einen ausgiebigen Gebrauch von den Namen einzelner Apostel als Lehrautoritäten gemacht. Nicht nur laufen eine Reihe von Offenbarungsschriften unter dem Namen einzelner Apostel, die jeweils die Empfänger
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der wiedergegebenen himmlischen O f f e n b a r u n g e n sind (ζ. B. A p o kryphem des J o h a n n e s ) ; auch theologische Lehrschriften erscheinen unter dem N a m e n eines Apostels (wie im sogenannten Philippsevangelium). D a sich die Ausbildung des Begriffs der Apostolizität in der Kirche zur Grundlegung des K a n o n s in Auseinandersetzung mit den gnostischen Sekten vollzog, wird man annehmen müssen, daß gerade die Berufung der Gnostiker auf apostolische Autorität die kirchlichen Schriftsteller dazu veranlaßt hat, ihrerseits die A p o stolizität der rechtgläubigen Schriften zu betonen, obgleich - wie noch zu zeigen ist - die tatsächliche theologische Grundlage der Kanonsbildung damit nicht g a n z übereinstimmt. D e n Anstoß zur Kanonsbildung, d.h. zur Aussonderung einer begrenzten Anzahl von überlieferten Schriften christlicher Autoren als autoritative Heilige Schrift, gab ein radikaler T h e o l o g e aus der Tradition der paulinischen Gemeinden und ihrer Uberlieferung: Marcion (über sein Leben und seine Lehre s.u. § 12.3c). Er war kurz nach dem J a h r e 140 aus der römischen Gemeinde ausgeschlossen worden und gründete daraufhin seine eigene Kirche, die sich schnell ausbreitete. D a s auffallendste Merkmal seiner Lehre war die V e r w e r f u n g des Alten Testamentes aus theologischen Gründen. Für die Kirche war bis dahin das A T die überall akzeptierte Heilige Schrift gewesen. D a s trifft auch f ü r fast alle Gnostiker zu, die Schwierigkeiten leicht mit Hilfe der allegorischen Auslegung überwinden konnten; Marcion lehnte jedoch diese Methode der Interpretation ab. Für ihn war das A T eine historische Urkunde, die vom Wirken des gerechten Gottes zeugte, der über diese Welt regiert. Erlösung kam aber durch Jesus von einem g a n z anderen „ f r e m d e n " Gott. W a r die Autorität des A T damit außer K r a f t gesetzt, so stellte sich die Frage nach einer autoritativen schriftlichen Grundlage für die durch den fremden Gott erlöste Christengemeinde. Marcion, dem angesichts der großen Rolle, die G e s e t z und Propheten als Heilige Schrift in der damaligen Christenheit spielten, dieses Problem durchaus bewußt war, schuf eine neue Heilige Schrift, die für seine Gemeinden verbindlich wurde. Sie bestand aus dem Lukasevangelium und den paulinischen Briefen, und z w a r alle aus dem K a n o n des N T bekannten Paulusbriefe ohne die Pastoralbriefe. J e d o c h war Marcion zu der Ü b e r z e u g u n g g e k o m m e n , daß diese Schriften nicht in ihrer ursprünglichen Form und Gestalt erhalten waren. D a h e r nahm er eine kritische Edition vor, um diese Bücher seines neutestamentlichen Schriftkanons von allen späteren
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Zusätzen zu befreien. Will man Marcion wegen seiner kritischen Reinigung der Paulusbriefe einen Vorwurf machen, so darf man nicht übersehen, daß auch Marcions Gegner das in den echten Briefen überlieferte Paulusbild zu korrigieren suchten, nicht zuletzt dadurch, daß dem paulinischen Corpus die Pastoralbriefe beigegeben wurden, die Marcion anscheinend noch nicht kannte. Marcions Neuausgabe des Lukasevangeliums folgte im übrigen dem seinerzeit üblichen Brauch: war doch das Lukasevangelium selbst (wie auch das Matthäusevangelium) bereits eine Neuausgabe des älteren Markusevangeliums. Marcions Einstellung den frühchristlichen Schriften gegenüber entsprach also durchaus der Haltung jener Zeit. Das Neue war die Erhebung neubearbeiteter Schriften zum Status der Heiligen Schrift und die gleichzeitige Verwerfung des A T , womit Marcion nur die Linien weiter auszog, die ihm durch die paulinische Theologie vorgezeichnet zu sein schienen. Die unmittelbare Reaktion jener Kreise, die auf Marcions Ausschließung aus der Kirche bestanden hatten und die gleichzeitig begannen, sich von den gnostischen Sekten abzugrenzen, ist nur teilweise bekannt. Unser Hauptzeuge ist Justin der Märtyrer, der zur Zeit Marcions in Rom wirkte und die erste bekannte (aber nicht erhaltene) Schrift gegen Marcion verfaßte. Justin verwendete das Matthäus- und das Lukasevangelium (vielleicht auch das Markusevangelium), ist sich jedoch kaum bewußt, daß seine eigene harmonistische Bearbeitung dieser Evangelien ebenso verdächtig sein könnte wie Marcions Lukasbearbeitung. Die Paulusbriefe, die eine so wesentliche Rolle in Marcions Kanon spielten, hat Justin überhaupt nie zitiert. Hat er sie bewußt vermieden? Zum Johannesevangelium finden sich bei Justin ein paar Parallelen, aber sie gehen auf eine dem Johannes verwandte Tradition zurück, nicht auf dieses Evangelium selbst. Es ist möglich, daß Justin das Johannesevangelium verwarf, weil es sich bei seinen gnostischen Gegnern großer Beliebtheit erfreute. Auffallend ist die Stellung und Autorität der Evangelien in Justins Schriften. Sie sind die maßgebenden „Erinnerungen der Apostel", die er auch gelegentlich mit der sonst nur für das A T üblichen Zitationsformel „es steht geschrieben" anführt. Er rückt also, was vielleicht bereits den Einfluß Marcions dokumentiert, die Evangelien als schriftliche Autoritäten sehr nahe an die für ihn maßgebliche Heilige Schrift, das AT, heran. Justin offenbart eine Situation, in der zwar deutlich wird, daß Marcions Schritt der Schaffung eines christlichen Kanons der Heili-
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gen Schrift sozusagen „reif" geworden ist, in der aber die Ignorierung der paulinischen Briefe und die unbedachte Fortführung der Bearbeitung der schriftlichen Evangelien eher Ratlosigkeit verrät. Eine konstruktive Alternative zu Marcions Lösung wird nicht sichtbar, die Betonung der Autorität der alttestamentlichen Schriften und die Verwendung neuer Septuaginta-Rezensionen (s.o. §5.3b) befestigt nur weiter, was vor Marcion bereits weithin Gültigkeit hatte. Erst Irenäus führte eine Generation später aus dieser Ratlosigkeit heraus. Er war Bischof von Lyonne in Gallien, war aber als Theologe in der Tradition der paulinischen Gemeinden Kleinasiens aufgewachsen, wo sich außerdem die Tradition der johanneischen Schriften in Ephesus mit dem Propheten Johannes, dem Verfasser der Offenbarung, verbunden hatte. Irenäus rühmte sich, noch zu Füßen des heiligen Polykarp von Smyrna gesessen zu haben. Mag er seinerzeit auch noch ein Kind gewesen sein, als griechisch schreibender Bischof einer Gemeinde des Westens verkörperte er in weit höherem Maß als die Gemeinde Roms eine kirchliche Tradition, in der die von Marcion (und von manchen Gnostikern) so hochgeschätzten paulinischen Briefe dennoch ein selbstverständliches apostolisches Erbe waren, weil diese Briefe in Kleinasien trotz der Warnungen des 2. Petrusbriefes (vgl. 2.Pt. 3,15 f) gelesen wurden. Gleichzeitig konnte sich Irenäus auf die inzwischen ebenfalls in Kleinasien heimisch gewordenen johanneischen Schriften berufen. Der neutestamentliche Kanon der Heiligen Schrift, den Irenäus schuf und den er dem Alten Testament zur Seite stellte, umfaßte alle paulinischen Briefe sowie einige „katholische", d.h. an alle Gemeinden gerichteten Briefe, hatte also eine breitere apostolische Basis als die exklusiv an Paulus orientierte Auswahl Marcions. War der „Apostel" zunächst nur Paulus, so weitete Irenäus diesen Begriff aus, so daß er sich dem der „Zwölf Apostel" annäherte. Auch bei den Evangelien ging er nicht exklusiv vor, sondern akzeptierte die vier „getrennten" Evangelien (also nicht harmonisiert) des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Die Vierheit suchte er durch den Verweis auf kosmologische Spekulationen zu erhärten: sie entspräche den vier Enden der E r a t - er mußte sich also gegen die verbreitete Vorstellung wenden, daß es eigentlich nur ein einziges Evangelium gibt. Wichtig ist die auch hier in Erscheinung tretende Inklusivität der Konzeption des Irenäus. Alles das wurde eingeschlossen, was nach der Uberlieferung von Anfang an in den Gemeinden in Gebrauch gewesen war. So wur-
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den auf der einen Seite Schriften aus der Frühzeit des Christentums eingeschlossen, auch wenn man wußte, daß sie nicht von einem „Apostel" verfaßt worden waren (das Markusevangelium und die lukanischen Schriften); auf Paulus paßte ja ohnehin die strenge Definition eines Apostels als Jünger Jesu nicht. Auf der anderen Seite wurden anerkannte und im Gebrauch stehende Schriften nicht eingeschlossen, wenn bekannt war, daß sie erst vor kurzer Zeit geschrieben worden waren. Die Frage der Inspiration spielte bei der Kanonisierung überhaupt keine Rolle. D e r Anspruch auf den Geistbesitz war so allgemein, daß der Gebrauch dieses Kriteriums nur Verwirrung gestiftet hätte. D e r Begriff des Apostolischen erscheint in abgewandelter Form: die Verfasser der zum Kanon zusammengefaßten Schriften waren zwar Apostel oder Apostelschüler, wobei Paulus als Apostel galt; aber sie brachten eigentlich nur das zum Ausdruck, was in Wirklichkeit der Maßstab des Kanons war, nämlich die Lehre der Kirche der Urchristenheit und was aus ihren Schriften tatsächlich in Gebrauch gewesen war. D a ß in diesem Gebrauch die Kirchen Kleinasiens und Griechenlands mit Irenaus übereinstimmten, und daß Antiochien, Karthago und später Rom diesen Gebrauch bestätigten, war die kirchenpolitische Basis des am Ende des 2 . J h . n C h r geschaffenen Kanons. Das älteste Kanonsverzeichnis, das uns erhalten ist, stammt etwa aus dem Jahre 2 0 0 : der Muratorische Kanon. Er zählt die vier Evangelien und die Apostelgeschichte, dreizehn Paulusbriefe (ohne den Hebräerbrief), die Offenbarung des Johannes und des Petrus, den Judasbrief, zwei Johannesbriefe, einen Petrusbrief und die Weisheit als kanonische Schriften auf. Dagegen wird der erst kürzlich entstandene Hirte des Hermas nur empfohlen, aber nicht dem Kanon zugerechnet. Ausdrücklich verworfen werden ein Laodicener- und ein Alexandrinerbrief des Paulus und die Schriften der Häretiker (Valentin, Marcion u.a.). Dieses Kanonsverzeichnis enthält also bereits fast alle Hauptschriften des N T , zeigt aber eine noch fließende Grenze bei den katholischen Briefen und den Offenbarungsschriften. Diese Situation hat sich in den beiden folgenden Jahrhunderten hinsichtlich der Abgrenzung des Kanons kaum verändert. Einzelne Handschriften des N T schlossen noch im 4. und 5.Jh. Schriften der Apostolischen Väter mit ein (Barnabasbrief, Hirte des Hermas, Clemensbriefe). Das Kanonsverzeichnis des Codex Claromontanus zählt außer den bekannten Schriften des N T (nur der Hebräerbrief scheint zu fehlen) noch den Barnabas-
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brief, den Hirten des Hermas, die Paulusakten und die Offenbarung des Petrus zum Kanon. Im Westen herrschte noch längere Zeit Unsicherheit hinsichtlich des 4. Evangeliums, während im Osten die Offenbarung des Johannes manchem verdächtig war. Origenes hat erstmalig den Hebräerbrief als kanonische Schrift verteidigt, obwohl er wußte, daß die Verfasserschaft des Paulus für diese Schrift nicht gesichert war. Eusebius von Caesarea äußerte noch am Anfang des 4.Jh. Bedenken hinsichtlich der Offenbarung des Johannes und erkannte den Jakobusbrief, den Judasbrief, den 2. Petrusbrief und die beiden kleinen Johannesbriefe nur zögernd als kanonische Schriften an. Eine eindeutige Entscheidung über den genauen Umfang beider Teile der Bibel, des Alten und des Neuen Testamentes, hat es in der christlichen Kirche nie gegeben. Wohl aber wurde ein Konsensus über die 27 Schriften des N T vor allen Dingen durch die neutestamentlichen Handschriften erreicht, die auf der Grundlage einer byzantinischen Rezension (Reichstext, s.u.§7.2a-d) überall verbreitet wurden, um die vielfach in der letzten großen Christenverfolgung vernichteten Texte zu ersetzen. Im Westen setzte sich entsprechend seit dem 5.Jh. die von Hieronymus herausgegebene und als Vulgata bekannte neue lateinische Bibel allgemein durch, die im N T die gleichen 27 Schriften enthielt. c) Nichtkanonische Schriften des frühen Christentums Neben den kanonischen Schriften des N T sind in alter und neuer Zeit noch weitere Sammlungen frühchristlicher Schriften entstanden, die zum Teil auch im Altertum von kirchlichen Schriftstellern anerkannte Schriften umfassen, zum Teil allerdings auch solche Literatur enthalten, die in der alten Kirche als häretisch verworfen worden war. Die wichtigste Sammlung dieser Art ist die der Apostolischen Väter. Sie wurde erst im 17. Jh. zusammengestellt. Mit dem Titel Apostolische Väter (Patres Apostolici) wollte man ein Buch bezeichnen, das alle jene Schriften enthielt, die von Vätern stammten, die noch in der apostolischen Zeit geschrieben hatten und Schüler der Apostel waren. Faßt man freilich die „apostolische Zeit" genauer als die Zeit bis zum jüdischen Krieg (also etwa 30-70 nChr), so läßt sich der Anspruch einer Abfassung in apostolischer Zeit für keine Schrift dieser Sammlung halten. In der Tat sind ja auch von den Schriften des neutestamentlichen Kanons nur die echten paulinischen Briefe wirklich in der apostolischen Zeit
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verfaßt worden. Die Apostolischen Väter enthalten jedoch eine Anzahl von Schriften, die sich mit Sicherheit in die letzten Jahrzehnte des l.Jh. und die ersten Jahrzehnte des 2.Jh. datieren lassen. Hierher gehören der 1. Clemensbrief, die Didache (die seit ihrer Entdeckung im Jahre 1883 den Ausgaben der Apostolischen Väter hinzugefügt wurde), die Briefe des Ignatius von Antiochien, die Papiasfragmente und vielleicht der Barnabasbrief, während der 2. Clemensbrief, der größere Teil des Polykarpbriefes und das Polykarpmartyrium erst um die Mitte des 2. Jh. abgefaßt wurden. Der in den Sammlungen der Apostolischen Väter außerdem noch enthaltene Diognetbrief ist eine apologetische Schrift, die erst um 2 0 0 n C h r entstanden ist. Im Gegensatz zu den Schriften des N T , die in einer fast nicht mehr übersehbaren Anzahl von Handschriften und Ubersetzungen erhalten sind, besitzen wir f ü r die Apostolischen Väter jeweils nur wenige, in einigen Fällen nur eine einzige Handschrift (die einzige vorhandene Handschrift des Diognetbriefes ist 1870 bei der Beschießung Straßburgs in der dortigen Stadtbibliothek verbrannt). Im Altertum haben christliche Sekten natürlich ihre eigenen Literaturen gesammelt. Am besten bekannt ist dies von den Manichäern, die eine hohe Buchkultur entwickelten und größere Sammlungen von Schriften veranstalteten, in die sie auch in den ersten beiden Jahrhunderten entstandene kanonische und apokryphe Schriften einschlossen. Von solchen manichäischen Buchsammlungen sind in Zentralasien zahlreiche Fragmente in türkischer, iranischer und chinesischer Sprache entdeckt worden; außerdem fand sich in Oberägypten eine manichäische Bibliothek in koptischer Sprache. Einflußreich ist von den manichäischen Sammlungen nur die Sammlung der apokryphen Apostelgeschichten geworden, die im Westen in lateinischer Übersetzung im Umlauf war. Aber auch diese ist nicht als solche erhalten. Eine gnostische Schriftensammlung, die fast vollständig erhalten ist, wurde 1945 bei Nag Hammadi in Ägypten entdeckt. Es handelt sich um eine Bibliothek von dreizehn Bänden. Die Bücher, sämtlich in koptischer Sprache geschrieben, sind weitgehend Übersetzungen von griechischen Schriften, darunter viele, die dem 2 . J h . n C h r angehören. Im übrigen ist das gesamte Corpus der Neutestamentlicben Apokryphen eine erst in moderner Zeit entstandene Sammlung von frühchristlichen Schriften, die auf den verschiedensten Wegen und oft nur in fragmentarischer Gestalt auf uns gekommen sind. Man-
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ches hat sich hier und dort bis ins späte Mittelalter hinein erhalten und wurde in der Zeit der Renaissance veröffentlicht; die eine oder andere Schrift wurde von einem Kirchenvater wenigstens auszugsweise zitiert und ist so zum Teil zugänglich. Aber das meiste stammt aus Handschriftenfunden, die erst in den jüngst vergangenen hundert Jahren gemacht wurden. Dabei ist in zahlreichen Fällen der griechische Urtext nicht erhalten und wir sind auf lateinische, koptische, syrische, armenische, georgische und arabische Übersetzungen und Tochterübersetzungen angewiesen. Nicht selten ist es notwendig, mühsam die ursprüngliche Gestalt einer solchen Schrift aus verschiedenen Quellen zu rekonstruieren. Es versteht sich von selbst, daß deshalb auch die Fragen der Datierung, der Verfasserschaft und der ursprünglichen Textgestalt ungleich schwerer zu entscheiden sind als bei den kanonischen Texten. Zwar ist es recht unwahrscheinlich, daß irgendeiner der apokryphen Texte aus der apostolischen Zeit stammt; die frühesten apokryphen Schriften kann man aber doch wenigstens am Ende des 1. Jh. ansetzen, und für das 2. Jh. steht umfangreiches Material zur Verfügung. Daher sind die neutestamentlichen Apokryphen eine wichtige und den kanonischen Schriften gleichwertige Quelle für die Geschichte des frühen Christentums. Sie enthalten Uberlieferungen, die bis in die Entstehungszeit des Christentums zurückgehen, sie geben uns ein viel weiteres Spektrum als jenes, das die Schriften des Kanons gewähren, und sie erlauben einen Einblick in die Vielfältigkeit christlicher Frömmigkeit und Theologie der Frühzeit, während die polemische Ausrichtung des Kanons des N T diese Sicht of bewußt zu versperren sucht.
d) Außerchristliche Zeugnisse Leider sind die nichtchristlichen Zeugnisse für die Anfänge des Christentums recht unergiebig. Uber Jesus gibt es einen Bericht bei dem jüdischen Historiker Josephus (Ant. 18,63), der aber nicht in seiner ursprünglichen Gestalt, sondern nur in christlicher Überarbeitung erhalten ist. Rekonstruktionen des ursprünglichen Josephustextes sind versucht worden, bleiben jedoch unsicher. Josephus (Ant. 20.9) berichtet außerdem kurz über den Tod des Jakobus, des Bruders Jesu. Die ersten römischen Zeugnisse stammen aus Suetonius und Tacitus. Bei Suetonius (Vita Claudii 25.4) steht eine kurze Notiz über die Vertreibung der Juden aus Rom, die
Id
Bestand und Überlieferung
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während der Regierungszeit des Claudius ständig Unruhen verursachten, „angestachelt durch Christus". Ob sich das auf die Christen bezieht, ist nicht sicher. In der Vita Neronis (16.2) berichtet Suetonius, daß die Christen, die einem neuen und üblen (maleficus) Aberglauben (superstitio) folgten, von N e r o aus Rom vertrieben wurden. In größerem Detail berichtet Tacitus davon, daß die Christen, die ihren Namen von dem unter Pontius Pilatus gekreuzigten Christus herleiteten, von Nero auf die grausamste Weise hingerichtet wurden; sie seien nicht so sehr wegen Brandstiftung, sondern vielmehr wegen ihres Hasses gegen die Menschheit verurteilt worden (Annales 15.44.2-8). Schließlich spricht Dio Cassius (Epitome 67,14) von der Hinrichtung des Konsuls Flavius Clemens und der Verbannung seiner Frau, unter der Anklage des Atheismus, zusammen mit anderen, die wegen ihrer Hinneigung zum jüdischen Glauben zugrunde gingen. Das könnte sich auf die im 1. Clemensbrief berichtete Christenverfolgung unter Domitian beziehen. Der erste ausführliche Bericht über die Christen von heidnischer Seite stammt von dem jüngeren Plinius, der 112nChr Statthalter von Bithynien in Kleinasien war und in einem erhaltenen Briefe den Kaiser Trajan um Rat fragte, wie er die Christen behandeln und gegen sie verfahren sollte. Aus diesem Briefe erfahren wir, daß die Christen sich an einem bestimmten Tage frühmorgens zusammenfanden, Christus als Gott verehrten, sich durch Eide banden, keine Verbrechen zu begehen, und sich dann wieder zu einem gemeinsamen Mahl trafen. Uber diesen Briefwechsel mit Trajan sowie über ein Reskript des Hadrian an den asiatischen Statthalter Minucius Fundanus wird später noch zu reden sein (s.u. § 12.3d). Erst seit der Mitte des 2.Jh. beginnen die Nachrichten nichtchristlicher Schriftsteller über die Christen reichlicher zu fließen. Lukian von Samosata berichtet ausführlich über den Tod des kynischen Philosophen Peregrinus Proteus, der einst ein Christ gewesen war. In seinem Buch über den Pseudopropheten Alexander stellt er die Christen mit den Atheisten und mit den Epikureern zusammen. Der Kaiser Marcus Aurelius äußerte sich in seinen „Selbstbetrachtungen" abfällig über die Christen. Der römische Rhetor Fronto veröffentlichte eine Rede gegen die Christen, die leider verloren ist. Die umfangreichsten Äußerungen über die Christen sind aus einer Schrift des Platonikers Kelsus erhalten, die Origenes in Auszügen in seiner Widerlegung von Kelsus' Schrift zitiert. Allerdings trägt dieses Material zur Geschichte der christlichen Anfänge
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Die Quellen für die Geschichte des frühen Christentums
nichts bei, sondern hat nur für die im 2. Jh. beginnende Auseinandersetzung des Heidentums mit dem Christentum Bedeutung.
2. Der Text des Neuen
Testamentes
K.ALAND, Studien zur Überlieferung des Neuen Testaments und seines Textes, A N T T 2 , 1967. J . K . E L L I O T (Herausgeber), Studies in New Testament Language and Text (Essays in Honour of G.D. Kilpatrick), 1976. E. J. EPP, The Twentieth Century Interlude in New Testament Textual Criticism J B L 9 3 , 1974,386-414. F.G.KENYON, The Text of the Greek Bible, 3 1975 (umfassende Gesamtdarstellung). Η. LIETZMANN, Textgeschichte und Textkritik, Kleine Schriften II, T U 68, 15-250. Β. M. METZGER, Chapters in the History of New Testament Textual Criticism, NTTS 4, 1963. H.J.VOGELS, Handbuch der neutestamentlichen Textkritik, 1923. Zub bis d: K. ALAND, Kurzgefaßte Liste der griechischen Handschriften des Neuen Testaments 1: Gesamtübersicht, A N T T 1 , 1963. Zue: (Herausgeber), Die alten Ubersetzungen des Neuen Testaments, die Kirchenväterzitate und Lektionare, A N T T 5 , 1972.
K.ALAND
Zug: K.ALAND, Glosse, Interpolation, Redaktion und Komposition in der Sicht der neutestamentlichen Textkritik, Apophoreta (Festschrift für E. Haenchen), 1964, 7-31. E. C. COLWELL, Studies in Methodology in Textual Criticism of the New Testament, NTTS 10, 1969. E.J. EPP. The Eclectic Method in New Testament Textual Criticism: Solution or Symptom? HThR69, 1976, 211-257. G.ZUNTZ, The Text of the Epistles: A Disquisition of the Corpus Paulinum, 1953. a) Probleme der neutestamentlichen Textüberlieferung V o n den Autographen neutestamentlicher Texte ist uns kein einziges erhalten. Sie sind sämtlich zugrunde gegangen. D i e ältesten erhaltenen Abschriften wurden um 200 nChr angefertigt (nur v o m Johannesevangelium ist ein winziges Fragment aus der 1. Hälfte des 2. Jh. gefunden worden). Es sind durchweg Papyrushandschrif-
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Der Text des Neuen Testamentes
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ten - wie wahrscheinlich auch die Autographen selbst auf Papyrus geschrieben waren sie sind meist fragmentarisch und stammen alle aus Ägypten, w o der trockene Wüstensand den im feuchten Klima schneller einsetzenden Verfall des Schreibmaterials verzögerte. Es ist nicht anzunehmen, daß irgendeine dieser ältesten erhaltenen Abschriften unmittelbar auf eines der entsprechenden Autographen zurückgeht, zumal wohl keine einzige Schrift des N T tatsächlich in Ägypten verfaßt wurde. Die älteste vollständig erhaltene Handschrift des N T stammt aus dem 4 . J h . n C h r (Kodex Sinaiticus). Bei ihr wie bei den anderen sogenannten „Großhandschrift e n " handelt es sich um Pergamentkodices; der Kodex hatte sich gegenüber der Schriftrolle wahrscheinlich schon im Laufe des 2 . J h . n C h r bei den Papyrushandschriften des N T durchgesetzt. „Großhandschriften" schrieb man bis zum Ende des 1. Jahrtausends, d.h. Handschriften, in denen nur Großbuchstaben verwendet und die in der Regel in kontinuierlicher Schrift ohne Wortabtrennung und meist auch ohne Akzente geschrieben wurden; man nennt sie auch Majuskeln oder Unziale. Sie sind die wichtigste Grundlage der neutestamentlichen Textüberlieferung. Zu ihnen traten später die Minuskeln; sie sind in Kleinbuchstaben geschrieben, wobei mehrere Buchstaben zu Silbengruppen verbunden werden und Spiritus und Akzente mitgeschrieben sind (zur Frage des Schreibmaterials s.o. § 2.6ά). In manchen Punkten entsprechen die Probleme der neutestamentlichen Textüberlieferung denen der Uberlieferung anderer Autoren aus der Antike. Die Fehlerquellen in den Abschriften sind hier wie dort dieselben: Umstellung von Buchstaben; Auslassung eines Buchstabens, so daß ein neues W o r t entsteht; Haplographie (Auslassung gleicher Buchstaben oder Buchstabengruppen); Dittographie, d.h. Doppelschreibung eines Buchstabens oder einer Buchstabengruppe; Verwechslung von ähnlichen Buchstaben; H o m o i o teleuton, d.h. Auslassen einer Buchstaben- oder Wortgruppe, da sie mit den gleichen Buchstaben endet wie die vorausgehende Gruppe - ein sehr häufiger Fehler; auf gleiche Weise werden manchmal ganze Zeilen ausgelassen. Auch bewußte Korrekturen an neutestamentlichen Texten kommen vor; solche Korrekturen sind, seit die neutestamentlichen Texte kanonische Geltung erlangt hatten, oft durch Vergleichung mit anderen Handschriften vorgenommen worden; alttestamentliche Zitate im N T wurden ebenfalls durch Vergleich mit alttestamentlichen Handschriften korrigiert;
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Die Quellen für die Geschichte des frühen Christentums
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Paralleltexte der synoptischen Evangelien suchte man einander anzugleichen; auch der Einfluß des literarischen griechischen Stils (Attizismus) macht sich bemerkbar. Aber auch aus dogmatischen Gründen hat man den Text verändert, wo er anstößig erschien, z.B. bei der Angabe von Mk.6,5, daß Jesus in Nazareth keine Wunder tun konnte. Schließlich gibt es eine Reihe von Zusätzen: In die Evangelien ist noch nach dem 2.Jh. aus anderen Uberlieferungen manches Material eingefügt worden, wie ζ. B. die Perikope vom Arbeiter am Sabbat in Lk. 6,5 (Codex D) und die in einer großen Anzahl späterer Handschriften nach Joh.7,52 erscheinende Perikope von der Ehebrecherin. Dazu kommen dogmatische Zusätze, von denen die Einführung der Trinität in den Text von l.Joh.5,7f (das Komma Johanneum) der bekannteste ist. In anderen Beziehungen sind die Probleme neutestamentlicher Textkritik aber anders gelagert als im Falle der klassischen Schwesterdisziplin. Klassische Autoren sind oft nur durch eine einzige Handschrift vertreten; sind ein halbes Dutzend Handschriften vorhanden, so gilt das als außerordentlich günstige Grundlage zur textkritischen Arbeit. Hingegen gibt es vom Neuen Testament nahezu 5000 Handschriften in griechischer Sprache, außerdem zahlreiche Übersetzungen, die aus dem Frühstadium der Textüberlieferung stammen, und schließlich vom 2. Jh. an eine unübersehbare Zahl von Zitaten aus den Schriften der Kirchenväter. Wenn man die Tatsache hinzunimmt, daß die handschriftliche Uberlieferung bis in den Ausgang des 2.Jh.nChr zurückreicht - also nur durch etwa 100 Jahre von der Zeit der Autographen getrennt ist - , während bei klassischen Autoren vielfach die einzigen erhaltenen Handschriften aus dem späten Mittelalter stammen, so scheint die neutestamentliche Textkritik eine ungleich günstigere Basis zu haben als die der meisten klassischen Texte. Man darf aber die Vorteile, die diese reiche Textüberlieferung bietet, nicht überschätzen; denn einmal ergeben sich besondere Schwierigkeiten aus der Reichhaltigkeit der handschriftlichen Überlieferung selbst, zum andern hängen die Probleme der Rekonstruktion des ursprünglichen Textes bis zu einem gewissen Grade nicht von der Anzahl der erhaltenen Handschriften ab. Das Hauptproblem der Reichhaltigkeit der Überlieferung liegt darin, daß sich eben aus diesem Grunde kein Stammbaum aller neutestamentlichen Handschriften herstellen läßt. Hingegen ist in der klassischen Textkritik die Erarbeitung eines Stammbaums die wichtigste
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Der Text des Neuen Testamentes
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Grundlage des Verfahrens. Sobald man sich über die Abhängigkeitsverhältnisse der einzelnen Manuskripte im klaren ist, kann man leicht die erst später entstandenen Lesarten ausscheiden. Im Falle des N T ist es aber nur gelegentlich möglich, in einzelnen Fällen Abhängigkeiten zu erkennen. Im übrigen haben sich schon in früher Zeit die verschiedenen Überlieferungszweige so vielfach durchkreuzt und miteinander vermischt, daß der Stammbaum sich bis zur Sinnlosigkeit komplizieren würde. Das gilt auch für die in zahlreichen Handschriften bezeugten Ubersetzungen des N T , wie ζ. B. für die lateinische Vulgata. An die Stelle der Aufstellung eines Stammbaums tritt daher in der neutestamentlichen Textkritik die Zusammenfassung einzelner Handschriften zu Familien. Aber auch das ist nur teilweise befriedigend; viele Handschriften enthalten „Mischtexte", d.h. ihre Lesarten zeigen manchmal Verwandtschaft mit der einen, manchmal jedoch mit einer anderen Familie. Außerdem sind die Familien oft so groß und enthalten so verschiedenartige Texte, daß die Aufstellung von Unterfamilien notwendig ist, was wiederum als komplizierender Faktor wirkt. Ein weiteres Problem der Reichhaltigkeit besteht darin, daß ein fast unübersehbares Material durchgearbeitet werden muß, wenn man auch aus den späteren Handschriften unter einer riesigen Anzahl von Schreibfehlern und wertlosen Lesarten Zeugen für wichtige alte Lesarten finden will. Noch schwieriger ist das bei den für die neutestamentliche Textkritik so wichtigen Zitaten der Kirchenväter, deren Zeugnis insbesondere für die geographische Lokalisierung der Handschriften entscheidend ist. Eine Auswertung dieser Zitate ist bis jetzt nur teilweise vorgenommen worden; die Schwierigkeiten werden noch dadurch erhöht, daß die entsprechenden Texte der Kirchenväter manchmal in mittelalterlichen Handschriften vorliegen, in denen Abschreiber die biblischen Zitate nach den ihnen bekannten und geläufigen Texten des N T korrigiert haben; in vielen Fällen fehlen überhaupt zuverlässige kritische Ausgaben. Bei den zahlreichen, zum Teil aus dem ältesten Stadium der griechischen Textüberlieferung stammenden Übersetzungen - auch sie sind für die Lokalisierung der Überlieferung natürlich sehr wichtig - fehlen ebenfalls oft kritische Gesamtausgaben. So stellt im ganzen gesehen die Reichhaltigkeit der Überlieferung vor umfangreiche und nur teilweise lösbare Aufgaben. Aber wenn es auch gelingen sollte, wirklich nahezu alle verfügbare Information von einigem Wert für die textkritische Arbeit
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Die Quellen für die Geschichte des frühen Christentums
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fruchtbar zu machen, so darf das nicht darüber hinwegtäuschen, daß entscheidende Probleme damit nicht oder nur teilweise gelöst sind. Sicherlich ist der weitaus größte Teil des Textes des N T bereits auf Grund der bereits geleisteten Arbeit so gut wie gesichert. Dennoch bleibt eine große Anzahl textkritischer Probleme übrig. Sie entstehen daraus, daß die Handschriftenüberlieferung ungleichmäßig ist, und vor allem aus der Tatsache, daß sie für die entscheidenden ersten hundert Jahre der Textüberlieferung ganz fehlt. Vollständige Handschriften des N T gibt es überhaupt nur etwa 4 Dutzend, und nur ein kleinerer Teil dieser Handschriften sind Unzialen aus dem 4.-10. Jh. nChr, die übrigen sind mittelalterliche Minuskeln. Alle anderen Handschriften enthalten nur einen Teil des N T und unter ihnen bringt die Mehrzahl nur den Text der Evangelien, während die paulinischen Briefe weniger oft vertreten sind und die Uberlieferung der katholischen Briefe - von der Johannesoffenbarung gar nicht erst zu reden - weitaus schlechter ist. Immerhin ist es möglich, mit großer Sicherheit die wichtigsten Texttypen zu rekonstruieren, die in der ersten Hälfte des 4. Jh. vorhanden waren und auf die alle anderen Handschriften im großen und ganzen zurückgehen. Jedoch bedeutet der Anfang des 4. Jh. einen wichtigen Einschnitt; denn in der großen Christenverfolgung von 303-311 nChr sind unzählige Bibelhandschriften zugrunde gegangen. Hier helfen erst die aus dem 2. und 3. Jh. stammenden Papyri sowie die älteren Ubersetzungen ins Lateinische (die Itala oder Vetus Latina), Syrische und Koptische weiter. Übersetzungen sind jedoch notorisch schwierig, weil sich aus ihnen nur eine relative Sicherheit hinsichtlich ihrer griechischen Vorlage ergibt. Was die griechischen Papyri aus dieser Frühzeit anbetrifft, so ist zu bemerken, daß sie sämtlich fragmentarisch sind. Immerhin kann man wenigstens auf diese Weise einige der Texttypen rekonstruieren, die den im 4.Jh. neu entstehenden Grundtypen entsprechen. Aber das Hauptproblem ist damit noch nicht angesprochen. Auch die Papyri reichen nicht über das Ende des 2. Jh. zurück; sie sagen also nichts aus über die Textgeschichte, die vor der Zeit liegt, in der die neutestamentlichen Schriften zum Kanon zusammengestellt wurden (s.o. §7. /b). Ohne Frage hat man erst seit der Entstehung des Kanons besondere Mühe auf die Erhaltung des überlieferten Textes dieser Schriften verwandt. Dadurch wird ein Problem noch verschärft, das auch für die Textkritik klassischer Texte besteht: Entscheidende Verderbnisse, Veränderungen und Bearbeitungen alter
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Texte sind in der Regel in den ersten Jahrzehnten der Überlieferung entstanden, nämlich während jener Zeit, in der die Bedeutung eines Textes oder eines Autoren noch gar nicht ins Bewußtsein getreten, oder in der sie umstritten war. Wir besitzen hinreichend Beispiele für solche in der Frühzeit entstandenen Veränderungen und Korruptionen der Autographen neutestamentlicher Schriften, die sich z.T. nicht mehr mit textkritischen, sondern nur mit literarkritischen Mitteln lösen lassen (s.u.§7.3a-d). Die Ausgabe des Markusevangeliums, die Matthäus und Lukas benutzen, unterschied sich wesentlich von dem uns überlieferten Markusevangelium. In das Johannesevangelium hat ein Redaktor eine Reihe von Interpolationen eingefügt (die bedeutsamste ist Joh. 6,52-59). Bei der Ausgabe der Schrift, die uns als 2.Korintherbrief überliefert ist, hat der Herausgeber eine Reihe von kleineren Briefen des Paulus an die Korinther zu einem größeren Brief vereinigt; ähnlich verhält es sich wahrscheinlich mit dem Philipperbrief. Wie stark solche Neuausgaben in den überlieferten Text eingreifen konnten, zeigt Marcions Bearbeitung der paulinischen Briefe, die sicher in der Absicht geschah, den ursprünglichen Paulustext wieder herzustellen. Instruktiv ist auch das Beispiel des aus dem 2. Jh. stammenden 2. Petrusbriefes, der den gesamten Judasbrief sich in einer Neubearbeitung einverleibt hat (2.Pt. 2). Unmittelbarer in den Bereich der Textkritik gehören die Fälle, wo entweder der Text einer einzelnen Stelle durch Verderbnis so korrupt geworden ist, daß der Abschreiber darauf angewiesen war, das was einst dastand hypothetisch zu rekonstruieren, oder in denen Einzelheiten bewußt korrigiert wurden, um sie der jeweiligen theologischen Sicht besser anzupassen. Auch Randbemerkungen (Marginalien) sind hier und dort unversehens in den Text eingedrungen. Ein Rätsel bleibt der im Kodex D aufbewahrte Text der Apostelgeschichte, der von dem Text der übrigen Handschriften so stark abweicht, daß man sogar eine Neuausgabe des Verfassers als Grundlage dieses Textes vermutet hat. In allen diesen Fällen bleibt dem Textkritiker nur die hypothetische Rekonstruktion (Konjektur), für die er sich bestenfalls auf Unsicherheiten in der handschriftlichen Überlieferung, aber nicht auf überlieferte Lesarten selbst berufen kann. Hier liegen die wichtigsten Aufgaben der Textkritik, die nur im Zusammenhang der Gesamtinterpretation der entsprechenden Schriften gelöst werden können.
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Die Quellen für die Geschichte des frühen Christentums
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b) Die Papyri Unter den neutestamentlichen Handschriften nehmen die Papyri einen wichtigen Platz ein, weil nur sie als unmittelbare Zeugen für den griechischen Text des 2. und 3. Jh. auf uns gekommen sind. Die ersten neutestamentlichen Papyri wurden in den letzten Jahrzehnten des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. gefunden und veröffentlicht. Es handelt sich dabei durchweg um kleinere Fragmente, die oft nur wenige Quadratzentimeter groß sind. Lediglich der 1900 veröffentlichte Oxyrhynchos-Papyrus IV, 657 ( φ 13) aus dem 3. oder 4.Jh.nChr bot größere Abschnitte aus Hebr. 2-5 und 10-12. Erst seit der Entdeckung (1930) und Veröffentlichung (1933/34) der Chester-Beatty-Papyri ( φ 45 und 46) aus dem 3. Jh. ist eine ständig wachsende Zahl umfangreicherer Papyrusfragmente gefunden worden, darunter eine ganze Reihe, die nach paläographischem Urteil in das 3. oder sogar 2.Jh. nChr datiert werden müssen. So haben die Papyri für die neutestamentliche Textkritik erst in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. In den textkritischen Apparaten der Ausgaben des N T werden Papyri durch eine Nummer mit vorgesetztem FrakturP bezeichnet. Die wichtigsten Papyri werden im Blick auf ihre Bedeutung für die Textkritik im Folgenden kurz beschrieben (für die genauen Angaben über den gegenwärtigen Aufbewahrungsort und über die Veröffentlichung der einzelnen Papyri sei auf die Bibliographie verwiesen). 13 (Oxyrhynchos-Papyrus IV, 657) enthält Hebr.2,14-5,5; 10,8-22; 10,29-12,17. Er wurde spätestens am Anfang des 4. Jh. geschrieben und enthält einen Text der Kodex Β nahe verwandt ist (s.u.). Da jener jedoch mit Hebr.9,14 abbricht, ist 13 ein wichtiger Zeuge für den Text von Hebr. 10-12. φ 32 (Rylands-Papyrus 5) enthält zwar nur wenige Verse aus dem Titusbrief (Tit. 1,11-15; 2,3-8), gehört aber zu den ältesten erhaltenen Papyri des N T (ca. 200 nChr) und gibt einen Text wieder, der mit dem berühmten Kodex Sinaiticus (X, s.u.) aus dem 4.Jh. übereinstimmt. 32 bezeugt also, daß der Text des Sinaiticus bereits um 200 nChr umlief. φ 45 (Chester-Beatty-Papyrus I) bietet 30 von ursprünglich etwa 220 Blättern eines Papyrusbuches der Evangelien und der Apostelgeschichte aus dem 3.Jh. Auf den erhaltenen Blättern finden sich größere Abschnitte aus Mt. 20; 21; 25; 26; Mk. 4 - 9 ;
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Der T e x t des Neuen Testamentes
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1 1 - 1 2 ; Lk. 4 - 7 ; 9 - 1 4 ; J o h . 1 0 - 1 1 ; Apg. 4 - 1 7 . Nur die Stücke aus Mk., Lk. und Apg. sind recht gut erhalten. Dieser Fund ist von großem Interesse für die Textkritik der Evangelien und der Apostelgeschichte, weil sein T e x t keineswegs mit dem sonst in Ägypten vorherrschenden „alexandrinischen" Text-Typus übereinstimmt, jedoch auch nur teilweise die Lesarten des „caesareanischen" Textes und in geringerem Umfange die des „westlichen" Textes bietet. Er bezeugt also einen sehr frühen „Mischtext". ψ 46 (Chester-Beatty-Papyrus II) ist ein nahezu vollständig erhaltenes Papyrusbuch der paulinischen Briefe aus dem Anfang des 3 . J h . : 86 von ursprünglich 104 Blättern sind in nur wenig beschädigtem Zustand gefunden worden. Teile des Römerbriefes fehlen am Anfang, Teile des l.Thessalonicherbriefes und der 2.Thessalonicherbrief fehlen am Schluß. D e r T e x t ist mit dem alexandrinischen Text-Typus eng verwandt, aber 100 Jahre älter als die bisher bekannten Zeugen für diesen Typus. $ ) 4 6 enthält eine Reihe von Eigenheiten, die für die frühe Geschichte der paulinischen Briefsammlung von großer Bedeutung sind: D e r Hebräerbrief erscheint unmittelbar nach dem Römerbrief, galt also unbestritten als paulinischer Brief und war seinem Umfang entsprechend an die zweite Stelle der Sammlung gerückt; die Pastoralbriefe fehlen völlig (sie können auch auf den fehlenden Seiten am Schluß nicht gestanden haben), waren also hier noch nicht zum Bestandteil des Corpus Paulinum geworden; schließlich bringt φ 4 6 die Schlußdoxologie des Römerbriefes nicht nach c. 16, sondern schon nach c. 15, scheint also zu bestätigen, daß Rom. 16 ursprünglich ein unabhängiger Brief war, den Paulus an eine andere Gemeinde (Ephesus?) gerichtet haben könnte. $>47 (Chester-Beatty-Papyrus III) ist der mittlere Teil (10 Blätter) eines Papyrusbuches der Offenbarung Johannis (ursprünglich 32 Blätter). Erhalten ist mit nur wenigen Lücken der T e x t von 9, 1 0 - 1 7 , 2 . Die Lesarten stimmen oft, aber keineswegs durchweg, mit dem Kodex Sinaiticus zusammen, bezeugen also dessen T e x t bereits für das 3. Jh., um dessen Mitte φ 47 geschrieben wurde. φ 48 enthält Apg. 2 3 , 1 1 - 1 7 . 2 3 - 2 9 . Er ist bedeutsam, weil er die Existenz des sogenannten „westlichen" Textes in Ägypten für das 3. J h . bezeugt. 52 (Rylands-Papyrus 457), ein winziges Fragment mit wenigen Versen aus dem Johannesevangelium (Joh. 1 8 , 3 1 - 3 4 . 3 7 f ) , hat großes Aufsehen erregt, obgleich er textkritisch fast bedeutungslos
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Die Quellen für die Geschichte des frühen Christentums
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ist. Der Schrifttyp wird von Paläographen mit einiger Sicherheit in die 1. Hälfte des 2. Jh. datiert. So wäre dies das älteste erhaltene Fragment einer neutestamentlichen Schrift, nur durch einen Zeitraum von 50 Jahren oder weniger vom Autographen getrennt. $>53 (Michigan-Papyrus 6652), aus dem 3.Jh., enthält einen Mischtext von Mt. 26,29-40 und Apg. 9,33-10,1. $>64, geschrieben um 200nChr enthält mehrere Verse aus Mt. 26. Zur gleichen Zeit oder nur wenig später geschrieben wurde $>67 (Mt.3,9-15; 5,20-22. 25-28) und $>70 (Mt. l l , 2 6 f ; 12,4f) sämtlich Zeugen für die Verbreitung des Mattäusevangeliums in Ägypten, s. auch oben φ 45. Einige Verse aus dem Lukasevangelium erscheinen noch in dem gleichaltrigen $>69 (Lk. 22, 41.45-48.58-61). $>69 und 70 sind die Oxyrhynchos-Papyri X X I V , 2383 und 2384. $565 aus dem 3.Jh. enthält l.Thess. 1,2-2,1 und 2,6-13 in der alexandrinischen Textform. 66 (Bodmer-Papyrus II) ist der erste einer Reihe neutestamentlicher Papyri, die aus der Sammlung des Genfer Bibliophilen Martin Bodmer stammen und die zu den wichtigsten Papyri des N T seit der Entdeckung der Chester-Beatty-Papyri gehören. Dieser Papyrus ist ungefähr 200 nChr geschrieben worden. 104 Seiten und einige Fragmente des Kodex sind erhalten mit dem Text von Joh. 1,1-4,11 und 6,35-14,15; außerdem einige kleine Stücke aus Joh. 14-21. $> 66 ist der wichtigste frühe Zeuge für den Text des Johannesevangeliums. Seine Lesarten gehören teilweise dem alexandrinischen Text, teilweise dem „westlichen" Text an. Bemerkenswert ist, daß der Schreiber den „westlichen" Text mehrfach zwischen den Zeilen und am Rande so korrigiert hat, daß er mit dem alexandrinischen Text übereinstimmt - ein Beweis dafür, daß sowohl der letztere als auch ein Mischtext zur gleichen Zeit in Alexandrien bekannt waren. An einer Stelle enthält $>66 eine Lesart, die in keiner anderen Handschrift bezeugt war, die aber viele Gelehrte als ursprünglichen Text postuliert hatten: In Joh.7,52 hat $> 66 den definitiven Artikel vor dem Wort „Prophet". $>72 (Bodmer-Papyrus X). Dies ist ein Kodex aus dem 3.Jh., der eine Reihe verschiedener Schriften enthält, darunter die apokryphe Korrespondenz des Paulus mit den Korinthern, die PassahHomilie des Melito von Sardes und aus dem N T den Judasbrief und die beiden Petrusbriefe. $>72 ist somit der älteste Zeuge für den Text dieser Briefe.
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φ 7 5 (Bodmer-Papyrus X I V - X V ) wird von den Herausgebern auf die Zeit von 1 7 5 - 2 2 5 n C h r datiert. V o n den ursprünglich 144 Seiten des Buches sind 102 g a n z oder teilweise erhalten mit dem T e x t von Luk. 3 - 2 4 und J o h . 1 - 1 5 (mit Lücken). Sicher der bisher älteste Zeuge für den T e x t des Lukasevangeliums und einer der ältesten für den T e x t des 4. Evangeliums, ist φ 75 eine der wichtigsten neutestamentlichen Handschriften überhaupt. Sein T e x t ist mit dem des K o d e x Vaticanus ( B , s. u.) aufs engste verwandt. c) D i e Unzialen Fast alle oben angeführten Papyri gehören in die Zeit vor dem Beginn des 4 . J h . Man hat aber auch noch in späterer Zeit, vor allem in Ägypten, Papyrus für neutestamentliche Handschriften benutzt. J e d o c h kam seit der offiziellen Anerkennung des Christentums das Pergament als Schreibmaterial für biblische Handschriften stärker in Gebrauch. Z w a r wissen wir heute, daß Pergament gegenüber dem Papyrus viele Vorteile besitzt, vor allem haltbarer ist. Aber es kann sein, daß die schnelle Durchsetzung des PergamentK o d e x seit dem 4. J h . vor allem darauf beruht, daß der Kaiser K o n stantin - wie Euseb berichtet - die Anfertigung von 50 Handschriften der Bibel „ a u f P e r g a m e n t " für neue Kirchen in Konstantinopel anforderte (331 n C h r ) , wodurch dieses Schreibmaterial sozusagen zum offiziellen Material für Bibelhandschriften gemacht wurde. D i e ältesten vollständigen Handschriften
des N T ,
manche von
ihnen gleichzeitig Handschriften der ganzen griechischen
Bibel,
sind solche P e r g a m e n t - K o d i z e s aus dem 4. und den folgenden J a h r hunderten. D a z u kommen eine große Anzahl von Pergamentbüchern, die nur einen Teil des N T enthalten (meist die Evangelien). W e g e n der Benutzung von Großbuchstaben haben sich für diese Handschriften auch die N a m e n Majuskel oder Unziale durchgesetzt. Als Sigla für diese Handschriften verwendet man lateinische Großbuchstaben. D a diese bald nicht mehr ausreichten, nahm man griechische Großbuchstaben hinzu, für den K o d e x Sinaiticus (s.u.) den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets ( 8 , jetzt aber meist „ S " ) . D e r deutsch-amerikanische Textkritiker Caspar R e n e G r e g o r y (er fiel als deutscher O f f i z i e r im 1. Weltkrieg) hatte zwar ein System vorgeschlagen, das dieser recht willkürlichen Siglierung ein E n d e gesetzt hätte: alle Unzialen sollten eine N u m m e r mit vorgesetzter „ 0 " erhalten, alle Minuskeln eine N u m m e r ohne
„0";
doch hat sich dieses System trotz seiner offensichtlichen Vorteile
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Die Quellen für die Geschichte des frühen Christentums
§7
nicht durchgesetzt. N u r dort, wo die Großbuchstaben des lateinischen und griechischen Alphabets nicht ausreichen, werden die von Gregory vorgeschlagenen Nummern benutzt. Insgesamt sind bis jetzt über 250 Unzialhandschriften bekannt, von denen nur einige der häufiger in den textkritischen Apparaten verwendeten im Folgenden beschrieben werden. Die berühmteste Handschrift des N T (sie enthält zugleich den Text des AT) ist der von C.Tischendorf 1844/53 entdeckte Kodex Sinaiticus (Ν = S = 01). Er stammt aus dem St. Katharinenkloster am Sinai. Seine Entdeckungsgeschichte, vielfach erzählt, braucht hier nicht wiederholt zu werden. Der Kodex war zunächst dem russischen Zar geschenkt worden, kam nach dem 1. Weltkrieg durch Kauf aus St. Petersburg in das Britische Museum in London. 147 von den 346 erhaltenen Blättern fallen auf das fast vollständig wiedergegebene N T . Außerdem enthält der Kodex neben dem größeren Teil des A T auch noch den Barnabasbrief und den Hirten den Hermas. Zusammen mit dem Kodex Vaticanus (B, s.u.) gehört der Sinaiticus zu den beiden ältesten vollständigen Handschriften des N T . Teils vereint mit dem Vaticanus, teils allein, hat diese Handschrift des 4.Jh.nChr gelegentlich als „neutraler" (d.h. keiner Textfamilie angehörender) Text, manchmal auch als dem alexandrinischen Text verwandter Text oder als Mischtext, einen großen Einfluß auf die Entscheidungen der Textkritiker ausgeübt. Heute ist man überzeugt, daß Tischendorf und einige seiner Nachfolger diesen Kodex in seiner Bedeutung überschätzt haben. Dennoch bleibt der Sinaiticus eine der wertvollsten Handschriften des N T , die im ganzen einen alexandrinischen Text bietet, mit starken Einflüssen vom „westlichen" Text. In den später eingefügten Korrekturen zeigt sich das Gewicht des in Caesarea seinerzeit akzeptierten Textes. Kodex Alexandrinus (A = 02) stammt ebenfalls aus Ägypten und kam über Konstantinopel 1628, wie später der Sinaiticus, ins Britische Museum in London. Er wird in das 5. Jh. datiert. Neben dem N T (mit größeren Lücken) enthält er das AT und außerdem die beiden Clemensbriefe. In den Evangelien bietet dieser Kodex den byzantinischen Text, gehört aber im übrigen N T zu den wichtigsten Zeugen des alexandrinischen Textes und stimmt meist mit dem Sinaiticus und Vaticanus überein. Kodex Vaticanus (B = 03) rivalisiert mit dem Sinaiticus um den Rang der wertvollsten alten Unzialhandschrift der Bibel. Wie jener
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wurde er um die Mitte des 4. Jh. geschrieben und befand sich schon seit Jahrhunderten in der Vatikanischen Bibliothek, wo er erstmals 1475 katalogisiert wurde. Jedoch wurde der erst im letzten Jahrhundert entdeckte Sinaiticus der gelehrten Welt eher bekannt als der Vaticanus, da die verantwortlichen Beamten des Vatikans diesen Schatz nur zögernd den Forschern preisgaben. So entstand eine vollständige Faksimile-Ausgabe erst gegen Ende des letzten Jahrhunderts. Im neutestamentlichen Teil dieses Kodex fehlt der Schluß: Hebr.9,14 bis zum Ende des Briefes, die Pastoralbriefe, Philemon und die Apokalypse. Das wird besonders bedauert, da dieser Kodex als wichtigster Vertreter eines sogenannten „neutralen" Textes beurteilt worden ist, das heißt eines Textes, der von den verschiedenen aus Rezensionen entstandenen Texttypen kaum berührt wurde. Eher wird man Β als verhältnismäßig reinen und mit wenigen Fehlern geschriebenen Vertreter einer alexandrinischen Textausgabe ansehen, die auf einer guten alten Grundlage beruht. Kodex Ephraemi rescriptus (C = 04) ist ein „Palimpsest". Ursprünglich enthielt er den Text der griechischen Bibel in einer Handschrift aus dem 5. Jh. Im 13. Jh. wurde dieser Text abgeschabt und die Seiten mit asketischen Schriften und Predigten des syrischen Kirchenvaters Ephrem (4.Jh.) neu beschrieben. Ungefähr 5/8 der Seiten, die den Text des N T enthielten, sind erhalten, darunter Teile aller Schriften des N T (mit Ausnahme von 2.Thess., und 2.Joh.). Durch Verwendung chemischer Mittel und in mühsamer Kleinarbeit gelang es Tischendorf, den zugrunde liegenden Text des N T zu entziffern. Wahrscheinlich stammt auch dieser Kodex ursprünglich aus Ägypten. Jedoch finden sich in ihm Lesarten verschiedener Texttypen, einschließlich des später verbreiteten byzantinischen Textes. Kodex Bezae (oder Cantabrigienses, D = 05) ist einer der interessantesten Texte des NT. Er wurde im 5. oder 6.Jh. geschrieben, kam im 16. Jh. - wie, wissen wir nicht genau - in den Besitz von Calvins Nachfolger Beza, der ihn 1581 der Universität Cambridge schenkte, und ist seitdem mehrfach herausgegeben worden. Kodex D enthält den Text der vier Evangelien und der Apostelgeschichte und nach dem Markusevangelium aus bisher nicht befriedigend erklärten Gründen ein Blatt mit dem Text von 3.Joh. 11-15. Die Besonderheit dieses Kodex liegt darin, daß er sowohl den griechischen als auch den lateinischen Text links und rechts auf den sich
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jeweils gegenüberliegenden Seiten bringt. Der Text selbst ist bemerkenswert. Der lateinische Text gehört zur altlateinischen Ubersetzung, die der Vulgata vorausging (s.u. §7.2e). Der griechische Text ist für die Evangelien und die Apostelgeschichte der Kronzeuge des sogenannten „westlichen" Textes, der in den Evangelien eine große Anzahl von Zusätzen enthält (auch einige charakteristische Auslassungen) und in der Apostelgeschichte so stark von dem sonst überlieferten Text abweicht, daß man als seine Grundlage eine Neuausgabe des Verfassers der Apostelgeschichte vermutet hat. Ob man diesen Text als sekundäre Verwilderung des ursprünglichen Textes oder wenigstens in manchen Lesarten als wertvollen alten Text ansehen muß, ist eine umstrittene Frage. Tatsache ist jedoch, daß sowohl die alte syrische Evangelienübersetzung als auch viele Zitate der Kirchenväter aus den ersten Jahrhunderten enge Verwandtschaft mit dem Text des Kodex Bezae zeigen. Kodex Claromontanus (D = 06; von dem eben genannten Evangelienkodex D zu unterscheiden) enthält nur die paulinischen Briefe. Er stammt aus dem 6. Jh. und ist, wie der Kodex Bezae, eine Bilingue, die den griechischen und lateinischen Text nebeneinander bringt. Auch der Claromontanus ist ein Zeuge des „westlichen" Textes; jedoch sind in den Briefen des N T die westlichen Lesarten nicht so auffallend von den anderen Texten verschieden wie in den Evangelien und der Apostelgeschichte. Kodex Laudianus (E = 08): Unter dem Siglum „ E " laufen noch zwei andere Kodizes, nämlich der aus dem 8.Jh. stammende Evangelienkodex Basiliensis und der im 9.Jh. geschriebene Sangermanensis; der letztere ist eine Abschrift des Claromontanus und daher textkritisch wertlos. Der Laudianus, wiederum eine griechisch-lateinische Bilingue mit dem Text der Apostelgeschichte aus dem 6. Jh., enthält viele „westliche" Lesarten neben solchen, die dem byzantinischen Texttypus angehören. Kodex Augiensis (F = 010) ist ebenfalls eine griechisch-lateinische Bilingue der Paulusbriefe; ein anderer Kodex F ( = 09) enthält den nur fragmentarisch erhaltenen Text der Evangelien. Der Augiensis ist wahrscheinlich im 9. Jh. in einem allemannischen Kloster geschrieben worden und befand sich lange auf der Reichenau im Bodensee ( = Augia Dives); heute ist er im Trinity-College in Cambridge. Kodex Boernerianus (G = 012; G = 011 ist ein sehr fragmentarischer Evangelienkodex), eine Bilingue aus dem 9.Jh. wie der
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Augiensis, ist mit diesem eng verwandt. Viele Fehler tauchen in beiden Handschriften auf; beide Texte gehören dem „westlichen" Typus an. Entweder ist G eine Abschrift von F, oder beide gehen auf die gleiche Vorlage zurück. Eigenartig ist, daß auf der letzten Seite des Kodex der Brief des Paulus an die Laodicener eingeführt wird, ohne daß der Text dieses apokryphen Briefes auch erscheint. Kodex Coislinianus ( H = 015; mit „ H " bezeichnet man auch zwei weniger bedeutsame Kodizes der Evangelien und der Apostelgeschichte) ist ein bedeutsamer Kodex der paulinischen Briefe, der leider nur sehr fragmentarisch erhalten ist. Er wurde im 6. Jh. geschrieben, kam später nach dem Athos, wo im 11. Jh. seine Blätter als Verstärkung von Bucheinbänden verwendet wurden. Insgesamt 43 Blätter sind erhalten, sind aber über verschiedene Bibliotheken der Welt verstreut. Der Coislinianus enthält einen alexandrinischen Text, dazu am Schluß des Titus die Notiz, daß der Text mit einem Exemplar aus der Bibliothek des Pamphilus in Caesarea verglichen worden sei. Kodex Regius (L = 019), eine fast vollständig erhaltene Evangelienhandschrift aus dem 8.Jh. Ihr Text zeigt enge Verwandtschaft mit den Zitaten bei Origenes und stimmt weitgehend mit dem Vaticanus zusammen. V o r dem häufig in späteren Handschriften gebrachten „längeren Markusschluß" (Mk. 16, 9-20) findet sich ein kürzerer Schluß, der sonst nur noch bei wenigen Zeugen am Rande erscheint. Kodex Purpurem Petropolitanus (N = 022) ist eine der Luxushandschriften der Evangelien aus dem 6.Jh., wahrscheinlich in Konstantinopel geschrieben. Die Schrift ist mit silberner Tinte auf Purpurpergament aufgetragen, die Namen Gottes und Jesu mit Gold. Fast die H ä l f t e von ursprünglich 462 Blättern sind erhalten, jedoch im Besitz verschiedener Bibliotheken. Wahrscheinlich wurde der Kodex von Kreuzrittern auseinandergebrochen und an verschiedene O r t e Europas verbracht. Eng mit diesem Kodex verwandt sind die beiden Purpurhandschriften Ο und Σ. Der Text dieser prachtvoll ausgestatteten Manuskripte ist weniger wertvoll, da er dem byzantinischen Typus angehört. Kodex Porphyrianus (P = 025) ist eine der ganz wenigen Unzialhandschriften, die - neben den paulinischen und katholischen Briefen - auch den Text der O f f e n b a r u n g Johannis enthält. Ρ ist wie C ein Palimpsest: Der im 9.Jh. geschriebene Text des N T wurde im Jahre 1301 mit einem Kommentarwerk des Euthalius überschrie-
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ben. In der Wiedergabe der Offenbarung enthält der Porphyrianus eine Reihe wichtiger alter Lesarten. Kodex Borgianus (T = 029) gehört zu den griechisch-koptischen Bilinguen. Leider sind bei diesem ältesten Repräsentanten dieser Gattung nur 20 Blätter mit dem Text von Luk. 22-23 und Joh.6-8 erhalten. Im 5. oder 6.Jh. geschrieben, mit dem sahidischen Text in der linken und dem griechischen in der rechten Kolumne, bietet der Borgianus Lesarten, die mit dem Vaticanus übereinstimmen. Kodex Freerianus (W = 032) - auch „Washingtonianus" genannt - stammt aus dem Schenute-Kloster Atripe bei Achmim in Oberägypten und gehört zu den wichtigsten Textfunden des 20. Jh. der Evangelienkodex wurde im 4. oder spätestens am Anfang des 5. Jh. geschrieben und bietet eine derartige Mischung verschiedenster Texttypen (alexandrinisch, westlich, byzantinisch), daß dadurch die Theorien über alte Textfamilien in Frage gestellt zu sein scheinen. Innerhalb des (unechten) längeren Markusschlusses bringt der Freerianus eine höchst interessante Erweiterung (nach Mk. 16,14 - das sogenannte Freer-Logion). Kodex Koridethi (Θ = 038) ist in einem Kloster des Kaukasus im 9.Jh. oder früher geschrieben worden. Der Kodex, vielleicht von einem der griechischen Sprache unkundigen Schreiber geschrieben, bezeugt auch für den Osten (Armenien) die Existenz verschiedener Texttypen: Zahlreiche Korrekturen sind zusammen mit den Korrigenda in den Text aufgenommen, und neben dem byzantinischen Text (Mt., Luk., Joh.) findet sich auch der „westliche" Text (Mk.) in dieser Evangelienhandschrift. Kodex Zacynthius (H = 040) ist wiederum ein Palimpsest mit Bruchstücken des Textes des Lukasevangeliums aus dem 8.Jh. Er ist zugleich die älteste Handschrift eines biblischen Buches, die zugleich einen Kommentar bietet: Eine Katene aus Zitaten der Kirchenväter umgibt den in einer Kolumne geschriebenen Text auf drei Seiten. Der Text selbst ist mit dem Vaticanus eng verwandt.
d) Die Minuskeln Minuskeln, also kursiv geschriebene Handschriften des N T , gibt es mehrere tausend. Die meisten gehören dem späteren Mittelalter an und bei dem größten Prozentsatz von ihnen handelt es sich um Evangelienhandschriften. Als Schreibmaterial verwendete man
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neben dem Pergament in zunehmenden Maße das in China erfundene Papier, das seit dem 10.Jh. in Europa bekannt, seit dem 12. Jh. auch hier produziert und seit dem 13. Jh. allgemein verwendet wurde; jedoch hielt sich der Gebrauch des haltbareren Pergaments bei den Bibelhandschriften länger als bei Schriften anderen Inhalts. Es gibt auch Handschriften, die Pergament und Papier nebeneinander im gleichen Kodex verwenden. Die Minuskeln werden mit arabischen Ziffern bezeichnet. Sie sind heute so gut wie alle katalogisiert, aber nur ein Teil hat bisher eine gründliche kritische Sichtung erfahren. Die weitaus größte Zahl der Minuskeln bietet den für die Textkritik weniger bedeutsamen byzantinischen Text. Daneben hat eine sorgfältige Prüfung einer Reihe von Minuskeln gezeigt, daß auch sehr späte Handschriften dieser Art wertvolle alte Lesarten enthalten können. Ihr Zeugnis ist also keineswegs wertlos und eine Vernachlässigung der Minuskeln zugunsten der meist älteren Unzialhandschriften ist methodisch nicht gerechtfertigt. Im Folgenden werden einige der bisher bekannten Minuskeln und Minuskel-Familien, zu denen sich verschiedene Minuskeln oft zusammenfassen lassen, genannt. 1 ist eine im 12. Jh. geschriebene Minuskel, die das ganze N T außer der Offenbarung enthält und bereits von Erasmus für die erste Druckausgabe des N T benutzt wurde. Für die Offenbarung verließ sich Erasmus auf eine jetzt wiedergefundene Papierhandschrift, die ebenfalls mit der Nummer 1 bezeichnet wird und in der das Stück O f f b . 2 2 , 1 6 - 2 1 fehlte: Diese Verse übersetzte Erasmus daher in Ermangelung einer anderen vollständigen Handschrift für seine Erstausgabe selbst aus dem lateinischen Text der Vulgata ins Griechische. Die erstgenannte Minuskel 1 bildet nach den Forschungen von Kirsopp Lake mit den Minuskeln 118, 131 und 209 eine Familie, mit der noch eine Reihe anderer Minuskeln Verwandtschaft zeigen. Der Text dieser Familie enthält Elemente, die sich sonst nur in den altsyrischen und altlateinischen Übersetzungen finden. 13 bezeichnet eine im 12. Jh. in Süditalien geschriebene Minuskel, die eine als Ferrar-Gruppe bekannte Handschriften-Familie anführt. Zu dieser Gruppe gehören 69, 124, 346 und ein halbes Dutzend weiterer Minuskeln. Ihr bester Zeuge scheint die erst im 15.Jh. geschriebene Handschrift 69 zu sein. Der Archetyp dieser Gruppe ist sicher vor dem Jahre 1000 geschrieben worden. Charakteristisch ist für diese Zeugen, daß die Perikope von der Ehebre-
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cherin nicht nach Joh. 7,52 sondern nach Luk. 21,39 gebracht wird. Der Text dieser Handschriften zeigt bemerkenswerte Beziehungen zu den altsyrischen Übersetzungen und zu Tatians Diatessaron. 33, eine der ältesten Minuskeln, im 9. Jh. geschrieben, ist als „Königin unter den kursiv geschriebenen" bekannt. Sie enthält die Propheten des A T und das ganze N T , jedoch ohne die O f f e n b a rung. Ihr Text ist eng mit dem des Kodex Β verwandt. 81, eine im Jahre 1044 geschriebene Minuskel, die nur die Apostelgeschichte enthält, gehört zu den wertvollsten Textzeugen f ü r dieses Buch des N T . 157 ist ein im 12. Jh. geschriebener Evangelienkodex. Seine Lesarten stimmen o f t mit denen von Kodex D überein, zeigen außerdem Verwandtschaft mit Tatians Diatessaron und mit Marcions Evangelientext. Am Ende eines jeden Evangeliums findet sich ein Kolophon, das auch in einem Dutzend anderer Handschriften auftaucht: „(abgeschrieben) von den alten Handschriften Jerusalems". 565 stammt aus dem Pontus und wurde im 9. oder 10. Jh. geschrieben. Diese Minuskel enthält ebenfalls das oben erwähnte „Jerusalem-Kolophon". Die Lesarten dieses Evangelien-Codex zeigen enge Verwandtschaft mit dem sogenannten „westlichen" Text, stammen also aus einer Textform, die seit alter Zeit im Westen wie im Osten geläufig war. 700 ist eine sehr eigenartige Evangelienhandschrift aus dem 12.Jh. Sie weicht 2724 mal vom „Textus receptus" ab und bietet außerdem 270 Lesarten, die sich nur in dieser Handschrift und sonst nirgends finden. D a ß diese eigenartigen Lesarten auf eine sehr alte Vorlage zurückgehen, zeigt sich in der Form der 2. Bitte des Herrengebets in Luk. 11,2 in dieser Minuskel: „Dein Heiliger Geist komme auf uns und reinige uns". Diese Form der 2. Bitte geht auf Marcion zurück, ist auch von dem Kirchenvater Gregor von Nyssa bezeugt, findet sich aber sonst in keiner neutestamentlichen Handschrift. 1424 ist der Hauptvertreter einer nach ihm von B . H . Streeter benannten Familie, zu der über zwei Dutzend weitere Minuskeln gehören. Der Kodex enthält das ganze N T , und alle Schriften außer der O f f e n b a r u n g sind mit einem an den Rand geschriebenen Kommentar versehen. 2053 enthält lediglich den Text der O f f e n b a r u n g Johannis zusammen mit dem Kommentar des Oekumenius zu diesem Buche
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aus dem 6. Jh. Obgleich diese Minuskel erst im 13. Jh. in Messina geschrieben wurde, gehört sie doch zu den besten Textzeugen dieses neutestamentlichen Buches, die oft noch einen besseren Text wiederzugeben scheint als der Chester-Beatty-Papyrus ( φ 47) aus dem 3. Jh. und der Kodex Sinaiticus. e) Die alten Ubersetzungen Einiges wurde über die Ubersetzungen bereits oben gesagt (§7. 2a). Ihr Wert ist ganz unterschiedlich, zumal die drei wichtigsten älteren Ubersetzungen, die syrische, lateinische und koptische, jeweils eine komplizierte eigene Geschichte gehabt haben, die mehrere Rezensionen einschließt, auf die in jedem Fall ein inzwischen auch weiter entwickelter und neu edierter griechischer Text einwirkte. Die ältesten Stufen dieser Ubersetzungen gehören in das 2.Jh.nChr (bei den koptischen Ubersetzungen muß wenigstens mit dem frühen 3. Jh. gerechnet werden) und sind Zeugen einer Entwicklung des neutestamentlichen Textes, die uns durch griechische Handschriften nicht immer unmittelbar zugänglich ist. Auch Tochterübersetzungen haben eine gewisse Bedeutung, zumal dann, wenn uns die als Vorlage benutzte Übersetzung nicht oder nur teilweise erhalten ist. Natürlich wird in diesen Fällen die Rekonstruktion des ursprünglichen griechischen Textes noch schwieriger als bei den unmittelbaren Übersetzungen. Zur allgemeinen Orientierung werden im Folgenden die wichtigsten Übersetzungen kurz genannt und beschrieben. Auf die Probleme einzugehen, die bei der Auswertung für die textkritische Arbeit bestehen, erlaubt der Rahmen dieses Buches nicht. Die syrischen Übersetzungen. In der 2. Hälfte des 2.Jh. verfaßte Tatian eine Evangelienharmonie, die er als Diatessaron bezeichnete (der Name, der auf die Vierzahl der benutzten Quellen zu deuten scheint, ist einfach als „Harmonie" zu übersetzen). Tatian benutzte als Grundlage die vier kanonischen Evangelien. Ob er außerdem noch das jetzt erst wiedergefundene Thomasevangelium berücksichtigte, ist nicht sicher. Wir wissen ebenfalls nicht genau, ob das Original griechisch oder syrisch verfaßt worden ist. Jedenfalls war es in syrischer Sprache im Osten mehrere Jahrhunderte lang die maßgebende und überall verwendete Fassung der Evangelien. Vom griechischen Diatessaron ist eine einzige Seite in den Ruinen der römischen Euphratfestung Dura-Europos gefunden worden, die von den Persern 256/57 zerstört wurde. Von der syrischen Fas-
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sung ist keine Handschrift erhalten. Die beste Quelle dafür war bislang der nur in armenischer Ubersetzung erhaltene Kommentar zum Diatessaron, den der syrische Kirchenvater Ephrem im 4. Jh. schrieb; erst kürzlich sind etwa 2 / 3 dieses Kommentars in syrischer Sprache entdeckt und publiziert worden. Außerdem zeigen verschiedene Evangelienharmonien in anderen Sprachen (Arabisch, Persisch, Lateinisch, Mittelniederländisch, Altitalienisch) einen mehr oder weniger starken Einfluß des von Tatian geschaffenen Werkes. Sollte es gelingen, den ursprünglichen syrischen (oder griechischen) Text des Diatessarons zu rekonstruieren, so wäre damit ein bedeutendes Zeugnis für den Evangelientext des 2.Jh. gewonnen. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge ist das Diatessaron insbesondere deshalb bemerkenswert, weil es in Ost und West auf viele Handschriften auch der getrennten Evangelien eingewirkt hat. Etwa gleichzeitig mit dem Diatessaron entstand in Syrien eine Ubersetzung der getrennten vier Evangelien, wahrscheinlich auch des übrigen N T , die altsyrische Übersetzung. N u r die erstere ist in zwei fragmentarischen Handschriften erhalten, dem Kodex Syrus Curetonianus (sy^ und dem Syrus Sinaiticus (sy5) aus dem 5. bzw. 4. Jh., die jedoch auf eine wesentlich ältere gemeinsame Vorlage zurückgehen. Umstritten ist nur, ob die Grundlage eine von TatianEinflüssen freie syrische Ubersetzung des 2. Jh. war, in die zunehmend Lesarten aus Tatians Diatessaron eingedrungen sind, oder ob solche Lesarten von Anfang an vorhanden waren und bei den späteren Abschriften zurückgedrängt wurden. Abgesehen von dieser Verwandtschaft mit Tatian zeigen die beiden Handschriften sehr enge Beziehungen zu „westlichen" Lesarten, wie sie in einer Reihe altlateinischer Handschriften (s.u.) und in den zur Ferrargruppe zusammengefaßten Minuskeln (s.o. §7.2d) auftreten. Ein solches Zusammentreffen von Zeugen, die geographisch weit voneinander entfernt an der Peripherie der Textüberlieferung liegen, beweist, daß sie auf einen griechischen Text zurückgehen, der im 2. Jh. weit verbreitet war und der bei der Rekonstruktion des Urtextes ebenso ernst genommen werden muß wie die Papyri und die Unzialhandschriften des 4. und 5. Jh. Die durch mehrere hundert Handschriften, einige von ihnen aus dem 5. und 6. Jh., bekannte spätere syrische Übersetzung heißt Peschittha (sy?). Sie ist nach und nach durch Rezensionen der altsyrischen Ubersetzungen entstanden, jeweils in Vergleichung mit
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griechischen Texten. Das älteste greifbare Stadium ihrer Entstehung ist die von dem Bischof Rabbula von Edessa (gest. 435) vorgenommene Ausgabe. Im Jahre 508 beauftragte der Bischof Philoxenus von Mabbug am Euphrat seinen Chorbischof Polykarp mit einer „Übersetzung" des N T ins Syrische. Diese Rezension ist uns durch zahlreiche Handschriften in einer weiteren Überarbeitung erhalten, die T h o m a s von Heraklea im Jahre 616 vornahm, die sogenannte „Heraclensis'Xsy 11 ). Die ältere Peschittha, in der wie in anderen älteren Übersetzungen der 2. Petrus-, 2. und 3. Johannes- und Judasbrief und die Offenbarung fehlt, enthält z . T . Lesarten, die dem Text des Kodex Vaticanus oder auch dem byzantinischen Text nahestehen. In der „Philoxenia" des Bischofs Philoxenus von Mabbug wurden wahrscheinlich die fehlenden katholischen Briefe hinzugefügt sowie die Offenbarung. Die „Heraklensis" ist eine „textkritische" Ausgabe, die in ihren Randlesarten (sy1™) eine Reihe wertvoller alter Varianten aufbewahrt hat, vor allem in der Apostelgeschichte, wodurch sie zum wichtigsten Zeugen des „westlichen" Textes nach dem Kodex Bezae wurde. Ganz unabhängig davon ist die Übersetzung in den west-aramäischen palästinischen Dialekt (sy pal ), die teilweise durch mittelalterliche Lektionare rekonstruierbar ist. Obgleich dieser Dialekt der Sprache Jesu näher steht als die „syrischen" Übersetzungen, hat diese erst im 5. Jh. entstandene Übersetzung nur geringen textkritischen Wert. Die lateinischen Übersetzungen. Daß es bereits am Ende des 2.Jh. in Nordafrika lateinische Übersetzungen des N T gab, ist durch die Akten der scillitanischen Märtyrer und durch Tertullian bezeugt. Diese in Afrika entstandene und später auch in rezensierter Form in Italien und anderen Ländern des Westens gebrauchte Übersetzung heißt Vetus Latina (auch „Itala" genannt und in den textkritischen Apparaten mit „it" bezeichnet). Die etwa 32 erhaltenen Handschriften der Vetus Latina - keine einzige vollständige Handschrift des ganzen N T ist auf uns gekommen - werden mit kleinen lateinischen Buchstaben bezeichnet. Diese Handschriften datieren vom 5. bis zum 13.Jh. - ein Beweis d a f ü r , daß die altlateinische Übersetzung noch bis ins hohe Mittelalter hinein in Gebrauch war und erst seit dem späten Mittelalter von der durch Hieronymus geschaffenen Vulgata vollständig verdrängt wurde. Ein alter Zeuge f ü r den afrikanischen Text der Vetus Latina ist der Kodex Palatinus (e) aus dem 5.Jh., eine Evangelienhandschrift,
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deren Lesarten eng mit den Zitaten Cyprians und Augustins verwandt sind; noch älter, aber nur fragmentarisch erhalten ist Kodex Bobbiensis (k), der um 400 geschrieben wurde und Teile der beiden ersten Evangelien enthält. Erst bei den europäischen H a n d schriften der Vetus Latina ist die Uberlieferung reichhaltiger, aber sowohl der Texttypus als auch die Handschriften sind späteren D a tums. Kodex Vercellensis (a) aus dem 5. oder 6.Jh. ist die älteste europäische Evangelienhandschrift. Der Veronensis (b) vertritt einen Text, der von Hieronymus zur Herstellung der Vulgata benutzt wurde. Die lateinische Spalte des Kodex Bezae (D), die entsprechend mit dem kleinen Buchstaben „ d " bezeichnet wird, gehört ebenfalls hierher; denn sie repräsentiert eine unabhängige lateinische Texttradition und ist nicht einfach eine Ubersetzung des griechischen Textes von D. Den altlateinischen Text der Apostelgeschichte und der O f f e n b a r u n g bezeugt der im 13. Jh. in Böhmen geschriebene Kodex Gigas (gig), eine Handschrift der ganzen Bibel, die zu den größten Handschriften gehört, die jemals geschrieben wurden: Die Seiten sind ungefähr einen halben Meter breit und nahezu ein Meter lang. Obwohl die altlateinischen Handschriften nicht einheitlich sind - eine umfassende Ausgabe der gesamten altlateinischen Bibel wird vom Kloster Beuron publiziert - so ist doch unbestritten, daß ihre Lesarten dem „westlichen" Text angehören und so ein gewichtiges Zeugnis f ü r diesen eigenartigen frühen Text des N T darstellen. Die Uneinheitlichkeit der umlaufenden lateinischen Übersetzungen war ein wesentlicher Grund f ü r die Aufforderung, die im Jahre 382 von Bischof Damasus von Rom an Hieronymus erging, eine neue Revision der lateinischen Bibel zu schaffen. Hieronymus erstellte zunächst eine Ausgabe der Evangelien, bei denen die K o n f u sion am größten war, und legte darüber in einem 384 an Damasus geschriebenen Brief Rechenschaft ab. Diese f ü r die Evangelien sehr sorgfältig und f ü r das übrige N T z . T . nur oberflächlich vorgenommene Neuausgabe ist keine neue Übersetzung gewesen, sondern eine Revision unter Vergleichung der zu jener Zeit umlaufenden griechischen Texte. Dies ist die Grundlage der sogenannten „Vulgata", die sich durchaus nicht sofort durchsetzte und die bis in die Neuzeit hinein weiteren Revisionen unterworfen wurde (in den textkritischen Apparaten bezeichnet man die Vulgata mit „vg", die Rezension der Sixtina von 1590 mit „vg s ", die der Clementina von 1592 mit ,,vg cl "; Lesarten, die von einem Teil der V u l g a t a - H a n d -
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Schriften sowie von einigen Vetus-Latina Manuskripten bezeugt sind, durch „lat", Lesarten der gesamten lateinischen Uberlieferung mit „lau"). Es gibt heute mehr als 8000 Vulgata-Manuskripte, die hier noch nicht einmal in Beispielen erwähnt werden können und in denen die Vielfalt der zur Zeit des Hieronymus bestehenden Textformen der lateinischen Ubersetzungen keineswegs überwunden zu sein scheint. Die koptischen Übersetzungen. In frühchristlicher Zeit wurden in Ägypten eine Reihe von koptischen Dialekten gesprochen, die sich aus der altägyptischen Sprache entwickelt hatten. Die beiden wichtigsten Dialekte, in die das N T übersetzt wurde, waren das Bohairische Unterägyptens und das Sahidische Oberägyptens. Von Übersetzungen des N T in einen der Dialekte Mittelägyptens (Memphitisch, Fajjumisch, Achmimisch und Subachmimisch) ist nur sehr wenig erhalten; jedoch gewinnen diese Dialekte durch neuere Funde christlicher Schriften zunehmend an Bedeutung. Die sahidische Übersetzung (sa) ist die älteste der ägyptischen Ubersetzungen, wahrscheinlich am Anfang des 3. Jh. entstanden. Von ihr sind eine ganze Reihe, z.T. recht alter Handschriften erhalten; manche wurden erst in jüngster Zeit entdeckt. Möglicherweise bestanden bei den Evangelien mehrere voneinander unabhängige Ubersetzungen. Der Text der sahidischen Ubersetzung ist mit dem alexandrinischen Text verwandt, enthält aber viele „westliche" Lesarten. Die bohairische Übersetzung (bo) ist später als die sahidische entstanden, wird jedoch durch zahlreiche, meist späte Handschriften vertreten; denn das Bohairische ist die offizielle Kirchensprache der koptischen Christenheit. Die älteste, erst kürzlich herausgegebene Handschrift enthält den größten Teil des Johannesevangeliums und stammt aus dem 4. Jh. Auch hier steht der Text dem alexandrinischen Typus nahe. Von der fajjumischen Übersetzung sind nur einige Fragmente erhalten, darunter ein Stück mit mehreren Kapiteln des Johannesevangeliums. Der Text steht der sahidischen Übersetzung näher als der bohairischen. Die älteste Übersetzung des N T in eine germanische Sprache, zugleich das älteste schriftliche Dokument der germanischen Sprachen überhaupt, ist die gothische Übersetzung (got). Sie wurde um die Mitte des 4.Jh. als Übersetzung der gesamten Bibel von dem Kappadozier Wulfila (oder Ulfilas) - er war wohl mit seiner Familie von den Gothen verschleppt worden - für die damals in Mösien an der unteren Donau ansässigen Gothen angefertigt. Der Evange-
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lientext dieser Übersetzung ist - leider nicht vollständig - in dem berühmten Kodex Argenteus erhalten, der auf Purpurpergament mit Silber- und Goldschrift im 5. oder 6. Jahrhundert in Oberitalien geschrieben wurde und jetzt in Uppsala aufbewahrt wird. Fast alle anderen gothischen Bibelhandschriften sind Palimpseste; doch sind auf diese Weise Teile so gut wie aller neutestamentlichen Bücher erhalten. Die griechische Grundlage der gothischen Übersetzung war der byzantinische Text. Ob die häufig vertretenen „westlichen" Lesarten schon ein Teil dieses Textes waren oder erst später während des Aufenthaltes der Gothen in Italien in die Abschriften eingedrungen sind, ist nicht sicher; doch ist das letztere wahrscheinlich. Die armenische Ubersetzung (arm) ist um 400 entstanden. Über 1000 Handschriften sind katalogisiert, die älteste stammt aus dem Jahre 887, jedoch gibt es keine gute kritische Ausgabe. Es ist nicht klar, ob die armenische Übersetzung direkt aus dem Griechischen stammt, oder auf eine syrische Übersetzung zurückgeht, die im 8. Jh. mit griechischen Textexemplaren verglichen wurde. Der Texttypus scheint dem von Caesarea näher zu stehen als dem byzantinischen Text. Weniger gut bekannt ist die georgische Übersetzung (geo). Das Christentum kam im 5.Jh. zu den am Kaukasus lebenden Georgiern. Die ältesten Handschriften dieser Übersetzung datieren vom Ende des 9.Jh. Es handelt sich hier wohl um eine Tochterübersetzung, deren Text mit dem caesareanischen Typus eng verwandt ist. Recht rätselhaft ist die Entstehung der äthiopischen Ubersetzung (aeth). Sie mag im 6.-7. Jh., vielleicht aber schon im 4. Jh. entstanden sein; doch stammt die älteste Handschrift aus dem 13.Jh. Die Grundlage dieser Übersetzung war vielleicht nicht ein griechischer, sondern ein syrischer Text. Im ganzen ist der Texttypus byzantinisch, zeigt aber an vielen Stellen der paulinischen Briefe eine enge Übereinstimmung mit φ 47 und Kodex B, und zwar in solchen Fällen, in denen das Zeugnis dieser Handschriften von keinen anderen Zeugen unterstützt wird. Es gibt noch eine Reihe weiterer älterer Übersetzungen, die jedoch für die Textkritik entweder einen geringen Wert haben oder sich nur schwer dafür auswerten lassen. Hierher gehören die alte angelsächsische, die nubische und die sogdische, sowie die arabische und die persische Übersetzung. Bis auf einen Teil der arabi-
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sehen Übersetzungen gehen sie sämtlich auf andere Übersetzungen und nicht auf das Griechische zurück.
f) Die gedruckten Ausgaben des griechischen N T Das erste vollständige Buch, das nach der Erfindung der Buchdruckerkunst gedruckt wurde, war die Bibel im lateinischen Vulgata-Text (1456). Es sollte über ein halbes Jahrhundert dauern, bis auch der griechische Text der Bibel im Druck erschien. Der spanische Kardinal Ximenes begann 1502 mit den Vorbereitungen für eine große Ausgabe der Bibel in hebräischer, aramäischer, griechischer und lateinischer Sprache. Von dieser Polyglotte wurde der 5. Band mit dem Text des N T im Jahre 1514 gedruckt, die anderen Bände folgten innerhalb der nächsten drei Jahre. Jedoch wurde das Plazet des Papstes erst 1520 gegeben und die endgültige Publikation noch aus nicht genau bekannten Gründen bis 1522 verzögert. So blieb der „Complutensischen Polyglotte", wie sie nach dem lateinischen Namen ihres Erscheinungsortes Alcalä genannt wird, der Ruhm vorenthalten, die erste Druckausgabe des griechischen N T zu sein. Diesen Ruhm errang sich der berühmte Humanist Erasmus von Rotterdam. Im Frühjahr 1515 schlug ihm der Baseler Buchdrucker Froben vor, eine Ausgabe des griechischen N T zu besorgen. Im Juli des gleichen Jahres begann Erasmus in Basel mit den Vorarbeiten, am 2. Oktober begann man mit dem Druck und bereits am l . M ä r z 1516 erschien das ganze N T im griechischen Text mit der lateinischen Übersetzung des Erasmus. Wurde diese Publikation zunächst auch nur mit geteilten Gefühlen aufgenommen, ihr Erfolg ist unbestreitbar. Schon in den ersten beiden Auflagen wurden 3300 Exemplare gedruckt und abgesetzt. Mit nur geringfügigen Veränderungen blieb dieser Text die maßgebende Form des griechischen N T bis ins Ende des 19.Jh. Er liegt Luthers Übersetzung ebenso zugrunde wie der maßgebenden Englischen „King-JamesBible" und allen anderen abendländischen Bibelübersetzungen, die sich auf den griechischen Text stützen. Wie bei der Eile, mit der Erasmus seine Ausgabe vorbereitete, kaum anders zu erwarten, ist dieser Text des gedruckten N T denkbar schlecht. Erasmus benutzte nur ganz wenige späte Minuskeln - die einzige ältere Minuskel (Kodex 1 aus dem 10. Jh.), die einen besseren Text bietet und ihm zur Verfügung stand, wagte er kaum heranzuziehen, weil die-
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ser Text so stark von den anderen Handschriften abwich! Für die O f f e n b a r u n g Johannis besaß er nur eine einzige Handschrift, die an vielen Stellen unleserlich war und von der das letzte Blatt fehlte: Diese Mängel behob Erasmus durch Rückübersetzung der betreffenden Stellen aus dem Lateinischen, wobei er auch griechische Ausdrücke schuf, die es sonst gar nicht gibt. In späteren Auflagen wurden zwar hunderte von Druckfehlern der so hastig erstellten Erstauflage verbessert, doch setzte Erasmus auch das in allen griechischen Handschriften fehlende „ K o m m a J o h a n n e u m " (die Erwähnung der Trinität in l . J o h . 5,7f) später in seinen griechischen Text ein, nachdem ihm eine eigens f ü r diesen Zweck nach der Vulgata angefertigte griechische Handschrift in die H ä n d e gespielt wurde, die dieses K o m m a enthielt. Schon im 16. Jh. begannen verschiedene Gelehrte in ihre Druckausgaben kritische Apparate einzufügen, in denen abweichende Lesarten notiert wurden, f ü r die man zunächst griechische H a n d schriften, sehr bald aber auch Kirchenväterzitate und Ubersetzungen heranzog. D e r Pariser Verleger Robert Estienne ( = Stephanus) brachte mehrere solche Ausgaben heraus, nach ihm Beza, der Nachfolger Calvins, der zwei alte Unzialhandschriften besaß (die Kodizes „ B e z a e " und „Claromontanus", s.o. §7.2c), diese jedoch nur wenig f ü r seine Ausgabe heranzog. Beide druckten als Text einen Mischtext aus der Ausgabe des Erasmus und der Complutenser Polyglotte. 1624 publizierten die holländischen Verleger Elzevir eine leicht zu handhabende Ausgabe des griechischen Textes, der im wesentlichen wiederum den mit der Complutenser Polyglotte verglichenen Text des Erasmus wiedergibt, und propagierten diese Ausgabe als „den Text der von allen jetzt akzeptiert wird". Hieraus entstand die Bezeichnung „Textus receptus". Der Kritik und Überwindung dieses Textus receptus galt seitdem die kritische Arbeit am Text des N T bis ins 20. Jh. hinein. Bis ins 18.Jh. haben viele Gelehrte daran gearbeitet, durch die Kollation bekannter und neuer Handschriften das Material f ü r die Arbeit am neutestamentlichen Text erheblich zu vermehren. Bemerkenswert ist die Ausgabe von John Mill (1707), die erste große kritische Ausgabe, in der 30000 Varianten aus 100 Handschriften, alten Übersetzungen und Kirchenväterzitaten zusammengetragen sind. Jedoch ist es ebenso charakteristisch, daß Mill den Textus receptus selbst nicht antastete, sondern unverändert abdruckte. Edward Wells veröffentlichte kurz darauf eine Ausgabe, die in 210
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Fällen vom Textus receptus abwich (1709/19); ihm folgte 1729 die Ausgabe von Daniel Mace. Aber der erjstere wurde ignoriert, der letztere heftig angegriffen und bald vergessen - so stark verwurzelt war der Glaube an den Textus receptus als inspirierte Urgestalt des N T . Einen großen Fortschritt in der Methode brachte 1734 die Textausgabe von Johann Albrecht Bengel. Zwar druckte er nur dann einen vom Textus receptus abweichenden Text, wenn die betreffende Lesart schon einmal in einer früheren Ausgabe erschienen war; aber er kennzeichnete dem Textus receptus überlegene Lesarten - seine Einsichten hatte er durch die Herausarbeitung von Handschriftenfamilien gewonnen - ausdrücklich in seinem textkritischen Apparat: auch ihm blieben feindliche Angriffe seitens der Kirche und der theologischen Wissenschaft nicht erspart. Johann Jakob Wetstein gab in seiner monumentalen Ausgabe des N T (1751/52) ebenfalls den Textus receptus wieder und verwies wie Bengel die von ihm als besser betrachteten Lesarten in den Apparat, in dem er erstmals die noch heute üblichen Großbuchstaben für die Unzialhandschriften und arabische Ziffern für die Minuskeln verwendete. Eine neue Periode der Textausgaben, in der man sich vor allem um Abdruck eines besseren griechischen Textes bemühte, eröffnete Johann Jakob Griesbach, ein Schüler Johann Salomo Semlers. Auf der Grundlage der von Bengel und Semler gewonnenen Einsichten (Einteilung der Handschriften in Familien, Ausbau und umsichtige Anwendung der seinerzeit gültigen Grundsätze der Textkritik) gestaltete er seine bahnbrechende Ausgabe des N T , die 1774/75 erschien und in den folgenden Jahrzehnten mehrfach im In- und Ausland nachgedruckt wurde (Hauptausgabe 1796 und 1806 in Halle und London). Die Folgezeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sah verschiedene Neuausgaben auf der Grundlage eines sich ständig vermehrenden Materials; auch katholische Gelehrte beteiligten sich daran. Ein selbständiger neuer Ansatz wurde nur in der Ausgabe des N T durch den Philologen Carl Lachmann sichtbar (1831 und 1842/50). Lachmann wollte mit objektiven Methoden, die er selbst in Ausgaben klassischer lateinischer und mittelhochdeutscher Literatur angewendet hatte, endgültig die Herrschaft des Textus receptus brechen, der noch immer als Grundlage der Textkritik diente. An seine Stelle setzte er den seiner Meinung nach ältesten im Osten gebrauchten Text; jedoch war die Basis der willkürlich ausgewählten Handschriften zu schmal und das angewandte Schema
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zu starr, um einen entscheidenden Durchbruch zu erreichen. Die notwendige Verbreiterung der handschriftlichen Basis verdankt die textkritische Forschung Constantin von Tischendorf, der in seiner Arbeit an Lachmann anknüpfte. Seit 1864 veröffentlichte Tischendorf eine ganze Reihe von Ausgaben des N T , in denen er den T e x t mehrfach an zahlreichen Stellen zu verbessern suchte, wobei die von ihm entdeckten und kollationierten Handschriften, vor allem der berühmte Kodex Sinaiticus ( X ) , einen entscheidenden Einfluß auf die Textgestalt dieser Ausgaben ausübten. Tischendorfs Hauptverdienst bleibt die unermüdliche Sammlung von Lesarten; seine Textausgaben bieten seit seiner Editio octava critica maior von 1 8 6 9 - 7 2 einen bis zum heutigen T a g e an Reichhaltigkeit unübertroffenen und noch immer unentbehrlichen kritischen Apparat. Dem W e r k Tischendorfs gleich an Rang und wissenschaftlicher Qualität ist die Ausgabe des N T von B.F. Westcott und F.f. Hort. Sie erschien 1881 als Frucht einer langjährigen Zusammenarbeit der beiden Herausgeber. Im Gegensatz zu Tischendorf waren Westcott und H o r t keine Sammler, sondern Gelehrte, denen an der Herstellung eines Textes auf der Grundlage wohlausgewogener textgeschichtlicher Rekonstruktion lag. Ihre umfangreichen Arbeiten zur Herstellung der Stammbäume der einzelnen Handschriften und Ubersetzungen führten zur Annahme von vier Handschriften-Familien, die sie als „syrisch" ( = byzantinisch), „westlich", „alexandrinisch" und „neutral" bezeichneten. Die Lesarten dieser Familien wurden jeweils gegeneinander abgewogen, jedoch dann dem „neutralen" T e x t (seine Hauptvertreter waren die Unzialen Β und N) fast durchweg den Vorzug gegeben. Eine gewisse Bedeutung kommt noch zwei weiteren Ausgaben zu, die kurz vor und nach der Jahrhundertwende erschienen. Die erste veröffentlichte Bernhard Weiß ( 1 8 9 4 - 1 9 0 0 ) , der zur Herstellung seines Textes nicht textgeschichtlich vorging, sondern seine Entscheidung bei jedem einzelnen Textproblem auf sachkritische und exegetische Gesichtspunkte gründete. Dabei kam Weiß, wie vor ihm Westcott und Hort, zu dem Ergebnis, daß die Unziale Β dem Urtext am nächsten stehen müsse, obgleich er von einem ganz anderen Ansatz ausging. Auf Weiß folgte wiederum ein großangelegter textgeschichtlicher Versuch: 1902 begann Hermann von Soden mit der Veröffentlichung der textkritischen Vorarbeiten, 1913 folgte der T e x t des N T mit kritischem Apparat - die bisher größte Textausgabe dieses Jahrhunderts mit umfangreichen Samm-
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lungen von Zeugen und einer neuen Rekonstruktion der H a n d schriftenfamilien. Doch hat sich dieses eigenwillige und nicht immer zuverlässige Werk, das außerdem durch die Verwendung eines ganz neuen Systems von Sigla f ü r die Textzeugen (zwar systematisch-konsequent, aber kompliziert und nur schwer zugänglich) belastet ist, nicht durchsetzen können. Der größte Erfolg und weitreichendste Einfluß sollte der erstmals 1898 erschienenen Handausgabe von Eberhard Nestle beschieden sein: sie ist seither in über 20 Neuauflagen erschienen. Besser und brauchbarer als andere konkurrierende Ausgaben der neueren Zeit (Merk, Bover, Souter) mit einem reichhaltigen Apparat auf kleinstem Raum, ist sie dennoch keine wissenschaftliche, sondern nach rein mechanischen Gesichtspunkten hergestellte Textausgabe. Sie ist nach dem erst in späteren Auflagen gelegentlich durchbrochenen Prinzip hergestellt, daß jeweils das Mehrheitsurteil der Ausgaben von Tischendorf, Westcott-Hort und Weiß über den abgedruckten Text entscheidet. D a aber alle diese Herausgeber den Kodex Β oder die eng verwandte Handschrift Ν bevorzugen, reflektiert die Ausgabe Nestles im wesentlichen die V o r z ü g e und V o r u r teile der Textkritiker der zweiten Hälfte des 19. Jh. Sie ist der verlängerte Arm jener Forscher geworden, ein neuer „Textus receptus" des 20. Jh., mag dieser auch dem alten Textus receptus und seinen in der Neuzeit nicht ganz ausgestorbenen Vertretern weit überlegen sein. W a r schon in den letzten Ausgaben des Nestle-Textes das Mehrheitsprinzip der Gestaltung des Textes nach den Ausgaben von Tischendorf, W e s t c o t t - H o r t und B. Weiß mehrfach durchbrochen worden, so bietet die von Kurt Aland besorgte Fortsetzung der Ausgabe von Nestle einen auf den gegenwärtigen Stand der textkritischen Arbeit gebrachten Text, der versucht, so nahe wie möglich an den Archetypus der Handschriften- und Textfamilien, der kurz vor dem Ende des 2. Jh. bestanden haben muß, heranzukommen. Damit ist wenigstens vorläufig ein neuer Schritt in der textkritischen Arbeit getan. Aus den gleichen Bemühungen heraus ist auch der von den internationalen Bibelgesellschaften verbreitete Text entstanden, der allerdings nur so wenige abweichende Lesarten bietet (wenn auch mit ausführlicher Anführung der Textzeugen), daß er dem an der Geschichte des neutestamentlichen Textes Interessierten kaum etwas zu bieten vermag.
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g) Prinzipien der neutestamentlichen Textkritik In ihrer geschichtlichen Entwicklung stellt die neutestamentliche textkritische Methode jeweils eine wechselnde Kombination verschiedener Faktoren dar. Diese Faktoren waren: Verfügbarkeit des handschriftlichen Materials, dogmatische Urteile, schrittweise Entwicklung von grundsätzlichen Kanons der Kritik - wobei biblische und klassische Textkritik sich gegenseitig beeinflußten statistische und mechanische Verfahren, Rekonstruktion von Handschriftenfamilien, Sachkritik, die gelegentlich zur Konjekturalkritik führte. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung bemüht man sich um eine möglichst umfassende Berücksichtigung der verschiedensten Faktoren, ohne daß Einigkeit darüber besteht, wie ein entscheidender Durchbruch zu einer Lösung der Probleme erzielt werden kann. Natürlich sind eine Reihe von technischen Kriterien allgemein anerkannt. Alle Lesearten, die durch Fehler beim Abschreiben entstanden sein müssen, lassen sich leicht erkennen (s.o. §7. 2a). Die Versionen enthalten eine Reihe von Fehlern, die bei der Ubersetzung entstanden sind: falsche Lesung eines griechischen Wortes, Verwechslung ähnlicher griechischer Wörter sowie auch Fehlübersetzungen. Bewußte Abschreiberkorrekturen sind ebenfalls häufig beobachtet worden. In allen diesen Fällen hat sich das Prinzip durchgesetzt, daß der schwierigeren Lesart der Vorzug zu geben ist (lectio difficilior placet). Freilich sind derartige Entscheidungen nicht immer rein mechanischer Art und es ist nicht zu vermeiden, daß auch Sachurteile eine Rolle spielen. Das ist vor allem bei solchen bewußten Abschreiberkorrekturen der Fall, die man als Zusätze von Komplementärausdrücken, historische und geographische Korrekturen und dogmatische Änderungen ansehen muß. Natürlich sind Urteile auf Grund von Einsichten in die neutestamentliche Textgeschichte notwendig und in der Praxis spielen sie meist eine erhebliche Rolle. Jedoch ist der Wert solcher Urteile beschränkt, und zwar einmal wegen der Menge der bekannten neutestamentlichen Handschriften, zum anderen angesichts der Komplexität der Überlieferung. Die Aufstellung von Handschriftenfamilien hat nicht zu einem konsequent verwendbaren Stammbaum der Handschriften führen können, da sich die Stränge der handschriftlichen Uberlieferung vielfach überkreuzen. Hatten noch Westcott und H o r t geglaubt, man könne mehrere voneinander deutlich un-
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terscheidbare Texttypen als die ältesten Repräsentanten neutestamentlicher Textformen herausarbeiten, so hat die Entdeckung der Papyri bewiesen, daß noch ältere Zeugen als Mischtexte angesehen werden müssen, wenn man sie an den Texten solcher rekonstruierter Textfamilien mißt. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß die ältesten uns erreichbaren Archetypen aller bekannten Handschriften und Übersetzungen - sollte es gelingen, solche Archetypen mit Sicherheit zu rekonstruieren - bereits „Mischtexte" waren, die mehrere Überlieferungsstränge in verschiedener Weise verbunden hatten. Die Grenzen, die einer rein textgeschichtlichen Beurteilung in der Überlieferung klassischer griechischer und lateinischer Texte gesetzt sind, können auch bei der neutestamentlichen Textkritik nicht ignoriert werden. Die Rekonstruktion von Stammbäumen führt zurück zu Archetypen oder zu Erstausgaben, aber nicht notwendigerweise zum Urtext. Selbst die erfolgreichste Rekonstruktion von Archetypen neutestamentlicher Texte kann uns im besten Falle über die am Ende des 2. Jh. nChr vorhandenen Textformen Auskunft geben. Ebenso wie der klassische Philologe muß auch der neutestamentliche Textkritiker sich daran erinnern, daß Textkorruptionen in den ersten Jahrzehnten der Überlieferung - also in den Jahren zwischen der Urschrift und der Erstausgabe - weitaus häufiger sein können als in den folgenden Jahrhunderten, mögen unsere ältesten Zeugen nun aus dem Mittelalter oder aus dem 3. Jh. stammen. Im Falle des N T mahnt diese Einsicht um so mehr zur Vorsicht, als man damit rechnen muß, daß neutestamentliche Schriften schon in diesen ersten Jahrzehnten vielfach abgeschrieben wurden. Soviele Handschriften aus der Zeit seit dem Ende des 2.Jh.nChr auch auf uns gekommen sein mögen, keine einzige dieser Handschriften gibt uns eine unmittelbare Einsicht in die Textgeschichte der ersten 50 bis 100 Jahre nach Abfassung der Autographen. Zwei weitere Faktoren erschweren das textkritische Urteil bei der Wiederherstellung der neutestamentlichen Texte. Einmal wurden bei der großen Christenverfolgung am Anfang des 4. Jh. systematisch Handschriften des N T konfisziert und verbrannt, so daß die Basis der im 4.Jh. erfolgten Neuausgaben verhältnismäßig schmal gewesen sein muß; wertvolle alte Lesarten mögen sich in den nicht von der Christenverfolgung berührten, aber in der Textüberlieferung weniger gut bezeugten Randgebieten erhalten ha-
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ben. Zum anderen darf man nicht vergessen, daß sämtliche Handschriften des N T , die aus der Zeit vor Beginn des 4. Jh. erhalten sind, aus Ägypten stammen, also nur die Textüberlieferung eines beschränkten geographischen Raumes darstellen, in dem überdies die Überlieferung der orthodoxen Kirche erst seit dem Ende des 2. Jh. Fuß zu fassen begann. Die Einsichten aus der notwendigen und unerläßlichen Rekonstruktion der ältesten Handschriftenfamilien müssen daher durch die folgenden Grundsätze modifiziert werden: 1. Selbst die beste, wenn auch nie vollständig erreichbare Rekonstruktion der ältesten Archetypen aller erhaltenen Handschriften und alten Übersetzungen führt lediglich bis in die 2. Hälfte des 2. Jh. zurück, gibt aber keine Auskunft über die Textgeschichte der ersten 50 bis 100 Jahre nach der Abfassung der Autographen. 2. Die am besten bezeugten Lesarten können in einzelnen Fällen durchaus sekundäre Wiederherstellungen korrupter Textstellen gewesen sein; denn es ist damit zu rechnen, daß Korruptionen in der den Archetypen vorausliegenden Zeit entstanden sind. 3. Die ältesten Archetypen der wichtigsten Textfamilien gehören in einen geographisch verhältnismäßig beschränkten Raum, während sich bei der Herstellung der Archetypen geographisch entlegener Zeugen (z.B. der alten Übersetzungen!) ein größerer Unsicherheitsfaktor ergibt. 4. Man muß damit rechnen, daß auch Handschriften und Übersetzungen aus den Außengebieten wertvolle alte Lesarten aufbewahrt haben. 5. Auch eine späte Handschrift kann wertvolle alte Lesarten enthalten. Ebenso erscheinen auch in den besten alten Handschriften textkritisch wertlose Varianten. Das Urteil über den Gesamtcharakter einer Handschrift ist nicht immer gleichzeitig ein Urteil über alle in einer solchen Handschrift enthaltenen Lesarten. 6. Die Übereinstimmung von Zeugen, die aus geographisch weit voneinander entfernten Gebieten stammen, also ζ. B. der syrischen, der lateinischen und der sahidischen Übersetzung, hat immer Anspruch darauf, ernsthaft gehört zu werden, selbst dann, wenn eine solche Lesart dem Übergewicht aller anderen Zeugen entgegensteht. 7. Kirchenväterzitate sind zusammen mit den alten Übersetzungen sichere Führer zur Gestalt der tatsächlich in den ersten Jahrhunderten umlaufenden und verwendeten Texte und zu ihrer geographischen Lokalisierung. Sie sind auch dann wertvoll, wenn nur wenige Handschriftenzeugen ihre Lesarten stützen, zumal uns ja nur aus Ägypten unmittelbare Zeugen handschriftlicher Art für die in der Früh-
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zeit verwendeten Textformen zur Verfügung stehen. 8. Größere Unsicherheiten und eine große Variationsbreite in den bezeugten Lesarten einer Textstelle lassen oft auf sehr alte Korruptionen schließen, die vor der Zeit unserer ältesten Zeugen entstanden sein müssen; in diesen Fällen ist es möglich, daß keine einzige Handschrift oder Ubersetzung den ursprünglichen Text erhalten hat. 9. Wenn sich mit Hilfe der uns erhaltenen Zeugen keine sinnvolle und befriedigende Textgestalt rekonstruieren läßt, so darf eine hypothetische Rekonstruktion des ursprünglichen Textes (Konjektur) nicht ausgeschlossen werden. Ein solches Verfahren setzt aber nicht nur eine sichere Handhabung aller textkritischen Methoden voraus, sondern auch eine genaue Kenntnis der Sprache, Begriffswelt und Theologie des betreffenden Autoren. Textkritik und Sachkritik gehören hier eng zusammen. 10. Keine einzige Methode, sei sie nun an mechanischen oder an sachlichen Kriterien orientiert, ist imstande, die Vielzahl aller Probleme des neutestamentlichen Textes zu lösen. Wie mit einer Vielzahl von Fehlerquellen bei der Uberlieferung der neutestamentlichen Texte gerechnet werden muß, so ist es auch notwendig, eine Vielzahl von Methoden bei der Lösung der Textprobleme in Anwendung zu bringen. Scheinen danach die textlichen Fragen des N T noch keineswegs gelöst, noch ohne weiteres lösbar zu sein, so muß gleichzeitig betont werden, daß nur ein sehr kleiner Teil des neutestamentlichen Textes überhaupt fraglich ist. O f t ist auch die Frage des Urtextes zwar schwierig, aber dennoch nicht sachlich entscheidend. Wie umstritten die Lösung textkritischer Fragen für eine Reihe von Stellen des N T also auch sein mag, aufs ganze gesehen besteht ein hoher Grad von Sicherheit bei der Feststellung der ursprünglichen Textform. Als wichtige Disziplin neutestamentlicher Forschung muß die Textkritik aber auch dort weitergetrieben werden, wo eine Lösung bereits erreicht zu sein scheint; denn die Geschichte des neutestamentlichen Textes ist gleichzeitig eine Geschichte der Auslegung und damit der Problematik der sachlichen Inhalte der urchristlichen Botschaft. Abweichende Lesarten zeigen in vielen Fällen an, wie die Texte in früher Zeit verstanden wurden, oder wo man Probleme beim Verständnis dieser Texte sah. Damit reiht sich die Textkritik in jene Disziplinen ein, die zur sachlichen Auslegung unmittelbar beitragen wollen.
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3. Literarkritiscbe
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Fragen
Zub: A. H U C K - H . L I E T Z M A N N , Synopse der drei ersten Evangelien, '1936. K . A L A N D , Synopsis quattuorevangeliorum, 1 0 1 9 7 8 . H.-J.HOLTZMANN, Die synoptischen Evangelien: Ihr Ursprung und ihr geschichtlicher Charakter, 1863 (die grundlegende Monographie zur Zwei-Quellen-Theorie). 2 J . W E L L H A U S E N , Einleitung in die drei ersten Evangelien, 1911. Β . H . STREETER, The Four Gospels: Α Study in Origin, 1 9 2 4 , Β 1 9 5 3 . W . R . F A R M E R , The Synoptic Problem, 1 9 7 6 (bestreitet die Zwei-QuellenTheorie). M . L E H M A N N , Synoptische Quellenanalyse und die Frage nach dem historischen Jesus, BZNW38, 1970. Zuc: Zur Frage nach den Quellen der Apostelgeschichte, Exegetica, 1967,412-423. H. J. CADBURY, The Making of Luke-Acts, 1961. E . H A E N C H E N , Apostelgeschichte, K E K , 7 1 9 7 7 , 9 2 - 1 0 1 (Literatur!). Ders., Tradition und Komposition in der Apostelgeschichte, ZThK52, 1955, 205-225. R . BULTMANN,
Zud: W. S C H M I T H A L S , Die Korintherbriefe als Briefsammlung,
ZNW64,
1973,
263-288.
Die Gegner des Paulus im 2.Korintherbrief, W M A N T l l , 1964, 25-29. H . D . B E T Z , 2 Cor 6 : 1 4 - 7 : 1 : An Anti-Pauline Fragment? JBL92, 1973, D.GEORGI,
88-108. J . A . FITZMYER,
CBQ23,
Qumran and the Interpolated Paragraph in 2 Cor.
6:14-7:1,
1961,271-280.
Zur Frage der literarischen Einheit des Philipperbriefes, WZ(J) 7, 1957/58, GS 4, 591 ff. G. BORNKAMM, Der Philipperbrief als paulinische Briefsammlung, Geschichte und Glaubell, 1971, 195-205.
J . MÜLLER-BARDORFF,
Zue: W. G R U N D M A N N , Der Brief des Judas und der zweite Brief des Petrus, T h H K X V , 1974, 102-107. Zuf: Μ. P. B R O W N , The Authentic Writings of Ignatius: Α Study in Linguistic Criteria, 1963. Th. ZAHN, Ignatius von Antiochien, 1873 (bis heute nicht ernsthaft in Frage gestellte Lösung des Problems).
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a) Allgemeines Nur ein kleiner Teil der neutestamentlichen und anderer urchristlicher Schriften kann als in einem Zug entstandenes Produkt der literarischen Tätigkeit eines einzelnen Autoren angesehen werden. Alle diese Schriften hatten literarische Vorbilder, die ihre G e stalt beeinfluß haben; die meisten benutzten Quellen, durch die ihr Inhalt und ihre Form weitgehend bestimmt wurden; viele sind uns überhaupt nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten, sondern nur in späteren Bearbeitungen oder Kompilationen. Damit stellt sich eine Vielzahl literarkritischer Fragen, die sich vielfach überschneiden und die für jede einzelne Schrift oder Schriftengruppe unterschiedlich angesetzt werden müssen. In dem Zusammenhang dieses Buches ist es nicht möglich, das urchristliche Schrifttum in dem großen Rahmen einer urchristlichen Literaturgeschichte zu behandeln. Daher werden im Folgenden nur einzelne zentrale und charakteristische Probleme am Beispiel ihrer jeweiligen Hauptvertreter kurz umrissen. Im übrigen verweise ich auf die in der gleichen Reihe der de Gruyter Lehrbücher erschienene Geschichte der urchristlichen Literatur von Ph. Vielhauer. b) Die synoptische Frage und die Quellen der Evangelien Unter den „synoptischen Evangelien" versteht man die drei ersten Evangelien des neutestamentliche Kanons, Matthäus, Markus und Lukas. Es ist schon seit langem aufgefallen, daß diese Evangelien weitgehend paralleles Material im gleichen Rahmen und oft in der gleichen Abfolge der Perikopen wiedergeben. Zudem bestehen sehr enge Verbindungen zwischen je zwei oder auch allen drei Evangelien im Wortlaut der betreffenden Parallelperikopen. V e r gleicht man damit das Johannesevangelium, so sieht man zwar gewisse Ähnlichkeiten im äußeren Rahmen, aber - abgesehen von der Passionsgeschichte - nur vereinzelte Berührungen im Inhalt und Wortlaut individueller Perikopen; zudem hat ein großer Teil des im 4. Evangelium dargebotenen Materials (insbesondere die großen Offenbarungsreden Jesu) überhaupt keine Parallelen bei den „Synoptikern". Daher ist es verhältnismäßig einfach, die drei Synoptiker in der Abfolge ihrer meist parallelen Perikopen nebeneinander abzudrucken, während die Einordnung des Johannesevangeliums in eine solche „ S y n o p s e " größere Schwierigkeiten bereitet. der
Die enge Verwandschaft dieser synoptischen Evangelien hat in Geschichte der neutestamentlichen Wissenschaft zu einer
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Reihe von Hypothesen über die literarischen Beziehungen dieser Evangelien zueinander geführt. Eine alte und weitverbreitete kirchliche Tradition begünstigte die Annahme der Priorität des Matthäusevangeliums. Baut man darauf auf, so wird man Markus als einen Auszug aus dem Matthäusevangelium ansehen müssen, Lukas als eine spätere Kompostition auf der Grundlage von Markus und Matthäus. Eine zweite Hypothese, die erstmals Schleiermacher vorgeschlagen hat, ist als Fragmentenhypothese bekannt. Danach hat es zunächst einzelne Kompositionsstücke älteren Materials gegeben, die von den einzelnen Evangelisten in unterschiedlicher, aber doch ähnlicher Weise zu Evangelienschriften zusammengestellt wurden. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit bietet die Urevangeliumshypothese: Ähnlichkeit und Verschiedenheit der ersten drei (oder auch aller vier) Evangelien beruhen dann darauf, daß die Evangelisten aus einem uns verlorenen Urevangelium für ihre Schriften eine je verschiedene Auswahl getroffen haben. Alle diese Hypothesen sind mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten verbunden, die hier nicht weiter dargelegt werden können. Durch die 1835 und 1838 veröffentlichten, unabhängig voneinander entstandenen Arbeiten von Lachmann, Wilke und Weiße hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß man das Markusevangelium als das älteste Evangelium und Matthäus und Lukas als spätere Bearbeitungen desselben anzusehen habe. Weizsäcker und H . J . Holtzmann haben diese Hypothese dahingehend weiter ausgebaut, daß Matthäus und Lukas eine zweite gemeinsame Quelle benutzt haben müssen, die sogenannte Spruchquelle (abgekürzt „ Q " ) · Während Markus den Rahmen und das meiste Material über den Ablauf des Lebens Jesu hergab, hat die Spruchquelle im wesentlichen den beiden späteren Evangelisten die Sprüche und Reden Jesu übermittelt. Diese Annahme, als Zweiquellentheone bekannt, hat sich in der Forschung des 20. Jh., von einigen Ausnahmen abgesehen, weithin durchgesetzt, ist allerdings auch in jüngster Zeit nicht unbestritten geblieben. Die Argumente zur Begründung der Zweiquellentheorie haben sich im Verlaufe der Forschungsgeschichte verschoben. Eines der stärksten Argumente ist das schon von Lachmann für die Priorität des Markus angeführte Argument geblieben, das sich auf die Reihenfolge der parallelen Perikopen bezieht: Es gibt eine Ubereinstimmung der Reihenfolge in Matthäus und Lukas nur dann, wenn sich die gleiche Reihenfolge auch bei Markus findet. Jedoch hat
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man im 19. Jh. dieses Argument oft mit der Vermutung verknüpft, daß Markus in der Reihenfolge der Perikopen den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse des Lebens Jesu besser wiedergäbe als die beiden anderen Synoptiker, also darum auch den beiden Seitenreferenten zugrunde liegen müsse. Hier hat kurz nach der Jahrhundertwende William Wrede der Forschung eine neue Richtung gewiesen, die bis heute bestimmend geblieben ist. Auf der einen Seite zeigte Wrede, daß die Anordnung des Stoffes im Markusevangelium mit dem Ablauf der Ereignisse im Leben Jesu wenig zu tun hat, vielmehr das Ergebnis einer durch theologische Motive bestimmten Kompositionsarbeit des Evangelisten sein muß. Auf der anderen Seite konnte er nachweisen, daß der bei Markus deutlich sichtbare Entwurf einer theologischen Komposition und Interpretation des überlieferten Materials bei Matthäus und Lukas in abgewandelter und gebrochener Gestalt vorliegt. Die literarkritische Begründung für die Priorität des Markus muß sich daher vor allem auf die vergleichende Analyse der Redaktions- und Kompositionsarbeit der Evangelisten stützen. Hier zeigt sich deutlich, daß Matthäus und Lukas im ganzen wie in vielen Einzelheiten die Arbeit des „Autoren" des Markusevangeliums voraussetzen und je verschieden weiterführen. Weitaus schwieriger ist die Rekonstruktion der zweiten von Matthäus und Lukas benutzten Spruchquelle „Q". In einem Teil des Matthäus und Lukas gemeinsamen Spruchgutes finden sich nicht nur dieselben Zusammenstellungen von Einzelsprüchen (ζ. B. in den parallelen Partien der Bergpredigt Mt. 5-7 und der Feldrede Lk.6), sondern auch enge Berührungen bis in Einzelheiten des Wortlauts hinein. Bei einem anderen Teil der Sprüche beider Evangelien erscheinen jedoch auffallende Verschiedenheiten. Daher wird man zwar mit einer schriftlichen Quelle „ Q " rechnen müssen, aber annehmen, daß diese Schrift Matthäus und Lukas in jeweils unterschiedlichen Bearbeitungen vorlag. Das durch die Spruchquelle überlieferte Material zeigt außerdem viele Züge einer Übersetzung aus dem Aramäischen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß wir es hier mit einer früh entstandenen schriftlichen Sammlung der Sprüche Jesu in aramäischer Sprache zu tun haben, die entweder als Ganze oder im Zuge der Zusammenstellung mehrerer Einzelsammlungen aus dem Aramäischen ins Griechische übersetzt wurde. Mit der Annahme von zwei schriftlichen Quellen für Matthäus und Lukas ist allerdings noch nicht das gesamte Quellenproblem
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für die synoptischen Evangelien gelöst. Außer dem aus Markus und Q stammenden Material enthalten das 1. und 3. Evangelium noch eine Reihe von Stücken, die man als Sondergut bezeichnet. Hierher gehören die beiden Vorgeschichten, die von der Geburt (des Täufers und) Jesu berichten, bei Matthäus eine Reihe von Gleichnissen (Mt. 13) und neben vielen Einzelstücken ein Teil der synoptischen Apokalypse (Mt. 24-25), bei Lukas vor allem das im lukanischen Reisebericht (Lk. 9,51-18,14) enthaltene Material. Diese Beobachtung hat zu dem Versuch geführt, noch eine Quelle „ M " für das Sondergut des Matthäus und eine Quelle „ L " für das Sondergut des Lukas nachzuweisen. Bei Lukas wird man in der Tat ohne die Annahme einer weiteren schriftlichen Quelle kaum auskommen, deren genauer Umfang freilich nur schwer zu bestimmen ist (enthielt die Quelle das gesamte Sondergut des Lukas? oder etwa auch noch einen Teil des auch durch Markus überlieferten Materials?). Aber die Detaillierung und Komplizierung der Quellentheorien führt gleichzeitig auch an die Grenzen dessen, was die literarkritische Arbeit leisten kann. Weder am Anfang der Uberlieferung noch auch in ihrem späteren Fortgang kann man mit der Annahme von ausschließlich schriftlichen Quellen alle Beobachtungen am Text der erhaltenen Evangelien erklären. Vielmehr steht am Anfang der Überlieferung die mündliche Tradition, die sich noch bis ins 2. Jh. hinein und darüber hinaus fortsetzt (s.u. §7. 4a). Entscheidend ist dabei nicht etwa die Frage, ob eine bestimmte Überlieferung bereits in schriftlicher Form vorgelegen hat. Denn auch die noch nicht in „Literatur" gefaßte Überlieferung kann durchaus gelegentlich schriftlich weitergegeben worden sein. Maßgebend wird vielmehr sein müssen, ob wir bei der Annahme einer schriftlichen Quelle auch den literarischen Charakter und die Gattung einer solchen Vorlage bestimmen können. Das scheint in einigen Fällen in der Tat möglich zu sein. Die von Matthäus und Lukas benutzte Spruchquelle „ Q " muß in ihrer Gattung den Spruchbüchern der jüdischen Weisheitsliteratur zugerechnet werden; sie vertritt also eine Literaturgattung, die man „Logoi Sophon", Worte der Weisen, genannt hat (James M. Robinson). Auch das Sondergut des Lukas könnte einer schriftlichen Quelle ähnlichen Charakters entstammen, da es sich hier zum großen Teil um Sprüche und Gleichnisse Jesu handelt. Ein weiterer Zeuge dieser Gattung und ihrer Verwendung im Urchristentum ist das kürzlich entdeckte (koptische) Thomasevangelium, das mit seinen Weisheitssprüchen
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und Gleichnissen ein Beispiel dafür gibt, wie die synoptische Spruchquelle in einem frühen Stadium ihrer Entwicklung ausgesehen haben mag. Auch der Charakter einer weiteren Frühform der schriftlichen Evangelienüberlieferung läßt sich annähernd bestimmen, nämlich der Sammlungen von Wundergeschichten Jesu, die dem Markusund dem Johannesevangelium zugrunde liegen. Es handelt sich hier um Literatur, die die großen Taten eines berühmten Mannes aufzählen will und die in der griechischen Welt ihre Analogie in der Aufzählung der Taten von Göttern und göttlichen Menschen hat: die Aretalogie. Inhalt und Abfolge einer Reihe von Wundergeschichten Jesu bei Markus und Johannes entsprechen sich so weitgehend, daß man auf die Benutzung gemeinsamen Quellenmaterials schließen muß. In dieser Quelle, die man für das Johannesevangelium als die „Semeia-" oder Zeichenquelle bezeichnet hat, erscheint Jesus als mit übernatürlicher Kraft ausgerüsteter Wunderheiler, der auch über die Natur gebietet (vgl. die Erzählungen vom Wandel auf dem Meer und von der Speisung der Fünftausend). So liegen also den kanonischen Evangelien im wesentlichen zwei sich deutlich abzeichnende schriftliche Quellensammlungen zugrunde, aus denen ein wesentlicher Teil des in ihnen gebotenen Materials stammt: Spruchsammlungen und Sammlungen von Wundergeschichten; in den ersteren erscheint Jesus als Weisheitslehrer oder als Weisheit, in den letzteren als „göttlicher Mensch". Außer dem aus solchen Quellen stammenden Material der Evangelien finden sich größere zusammenhängende Stücke ganz anderer Art, die den Evangelisten ebenfalls aus schriftlichen Quellen zugeflossen sein müssen. Zu nennen ist hier einmal die als prophetische Zukunftsrede erscheinende Sammlung von apokalyptischen Sprüchen, die in der sogenannten synoptischen Apokalypse (Mk. 13 u. Par.) erscheint. Derartige Stücke sind auch sonst im Urchristentum in schriftlicher Form umgelaufen; eine ähnliche kleine Apokalypse hat die „Lehre der Zwölf Apostel" (c. 16) benutzt. Es handelt sich um eine Literaturgattung, die den jüdischen Apokalypsen jener Zeit verwandt ist (vgl. das Buch Daniel; s.o. §5. Je) und die auch christlichen Apokalypsen (Offenbarung Johannis u. a.) als Vorbild gedient hat. Jesus muß in solchen Schriften durchaus nicht immer der Sprecher sein (in der mit Mk. 13 eng verwandten Apokalypse Did. 16 erscheint dieses Material als Schrift der Apostel), jedoch ist in alten urchristlichen Prophetensprüchen (vgl. l.Thess.4,15ff)
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ebenso wie in den späteren gnostischen Offenbarungsschriften der erhöhte Christus oft als Urheber solcher Offenbarungsreden genannt. Sicher hat sehr früh eine schriftliche Fassung der Passionsgeschichte bestanden, die in verschiedenen Versionen umlief, von denen Markus und Johannes jeweils Gebrauch gemacht haben. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß das apokryphe Petrusevangelium eine ähnliche Quelle benutzt hat. So ließen sich die Ubereinstimmungen dieser zwei, bzw. drei Evangelien im Ablauf der Ereignisse der Leidensgeschichte Jesu, in der Verwendung alttestamentlicher Zitate und in vielen Einzelheiten am besten erklären. Literarische Abhängigkeit dieser Evangelien voneinander wäre also nicht anzunehmen, während Matthäus und Lukas ihre Passionsgeschichten aus Markus geschöpft haben. c) Die Apostelgeschichte Je mehr sich die Ansicht durchsetzte, das der „Lukas" genannte Verfasser der Apostelgeschichte, der auch das 3. Evangelium des N T schrieb, kein Mitarbeiter und Reisebegleiter des Paulus gewesen sein kann, sondern einer späteren Generation angehörte (s.u. § 12.3a), um so mehr hat man sich auch darum bemüht, die Quellen zu bestimmen, aus denen dieses erste Geschichtswerk des Christentums schöpfte. Mag auch in diesem Buche des N T manche erfundene Apostelrede stehen und sich manche literarische Kombination mit älteren Nachrichten mischen, ohne die Annahme einer Benutzung schriftlicher Quellen kann man seine Entstehung nicht erklären. In der Geschichte der Forschung hat die Hypothese einer antiochenischen Quelle für das historisch wertvolle Material in Apg.6-12 und 15 und einer „Wir-Quelle" für einen Teil der Reiseberichte in Apg. 16-28 die meisten Anhänger gefunden. Beide Quellentheorien sind jedoch mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten belastet. Daß die Apg. über die Hellenisten in Jerusalem und das Martyrium des Stephanus, über die Anfänge der hellenistischen Gemeinden und insbesondere über die Gemeinde in Antiochien wertvolle Nachrichten erhalten hat, wird von niemandem bestritten. Die genaue Abgrenzung und die Art des betreffenden Quellenmaterials ist jedoch schwierig. Hat dem Verfasser ein zusammenhängender Bericht über die Anfänge der Hellenistenmission und über die antiochenische Gemeinde vorgelegen? Oder hat er erst selbst teils le-
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gendarische Überlieferungen, teils urkundliches Material zu einem fortlaufenden Bericht gestaltet? Auf der einen Seite läßt sich das historisch wertvolle Material des ersten Teils der Apg. nicht auf eine einzige Quelle zurückführen; auf der anderen Seite muß man annehmen, daß sich manches Legendarische bereits in den Quellen des Lukas befand. Zudem ist der Stil des Verfassers in allen Teilen so deutlich sichtbar, daß sich aus stilistischen Gründen keine Quellenscheidung vornehmen läßt. Daher bleibt die Annahme einer antiochenischen Quelle unsicher, wiewohl man für viele Stücke, vor allem in Apg. 6 - 8 ; 11 und 15, die Verwendung von Quellen und Überlieferungen mit Sicherheit annehmen kann. Etwas anders verhält es sich mit der Wir-Quelle. Das in der Apg. in den Reiseberichten des Paulus oft unvermittelt auftretende „wir" läßt darauf schließen, daß der Verfasser der Apg. ein Itinerar oder einen Reisebericht benutzte, den einer der Begleiter des Paulus angefertigt haben mochte. In diesen Wir-Stücken ist wertvolles älteres Material enthalten; jedoch ist die Abgrenzung nicht mit Sicherheit möglich, da der Verfasser der Apg. die erste Person Plural auch als eigenes Stilmittel verwendet hat, und zwar trifft dies ganz sicher auf die romanhaft ausgestaltete Geschichte des Schiffbruchs (Apg. 27-28) zu. Ein weiteres literarisches Problem ergibt sich daraus, daß die Apg. in zwei verschiedenen, oft stark voneinander abweichenden Rezensionen überliefert ist. Der in den kritischen Ausgaben des N T abgedruckte Text stammt aus den ägyptischen Unzialen des 4. Jh. ( N B etc.), deren Lesarten sich mit denen der alexandrinischen Kirchenväter weithin decken. Daneben erscheint aber bei den Vertretern des sogenannten Westlichen Textes (D, Altlateiner, Vetus Syra), zu denen auch die lanteinischen Kirchenväter zu zählen sind, eine Textform mit vielen Sonderlesarten und „Zusätzen" (berühmt ist die erweiterte Fassung des Aposteldekrets, Apg. 15,29). Papyrusfunde und Väterzitate beweisen, daß beide Rezensionen schon im 2. Jh. bestanden haben müssen. Auch der Westliche Text ist also alt, und man hat vermutet, daß er die vom Verfasser des Buches hergestellte Erstausgabe bezeugt, da sich hier manche glaubwürdige Nachricht findet, die im alexandrinischen Text fehlt (z.B. die Ortsangaben in Apg. 12, 10; 20,15, und die Zeitangaben in 19,9; 27,5). Doch erscheint vieles andere im Westlichen Text als sekundär (Ausgleich von Widersprüchen, antijudaistische Tendenzen). Daher ist es wahrscheinlicher, daß wir es mit einer im 2. Jh.
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entstandenen Bearbeitung des ursprünglichen Textes zu tun haben, also mit einer Neuausgabe, nicht etwa mit einer Verwilderung. Mit der Quellenfrage stellt sich auch die Frage nach der literarischen Eigenart des Buches. Ohne Zweifel war es die Absicht des Verfassers, ein Geschichtswerk zu schaffen. Dem entspricht der Gesamtentwurf einer von Jerusalem ausgehenden und bis nach Rom reichenden Bewegung und die Einfügung von Quellen und Uberlieferungen in diesen Rahmen. Hierher gehört auch die Komposition von Reden an entscheidenden Punkten der Entwicklung; das fügt sich ganz in den Stil griechischer Geschichtsschreibung; daß diesen Reden Quellen zugrunde liegen, ist nicht anzunehmen. Dem Geschichtsentwurf zuwider läuft jedoch ein Teil des dem Verfasser zugänglichen Quellenmaterials. N u r solche Nachrichten wie die über die Entstehung der antiochenischen Gemeinde (Apg. 11,19 ff) passen eigentlich zur Absicht der Geschichtsschreibung. Die Verarbeitung von zahlreichen Wundergeschichten und legendären Stoffen zeigt, daß der Verfasser eine unkritische Haltung mit anderen Historikern seiner Zeit teilt, hat aber zur Folge, daß sein Werk auf weite Strecken hin eher einem Apostelroman als einem Geschichtswerk gleicht. Dieser Eindruck wird noch durch die für den Roman so typische Schiffbruchsgeschichte des Paulus (Apg. 27-28) verstärkt. Schließlich trägt die Verwendung des zwar an historischen Nachrichten reichen Itinerars für die Darstellung der Mission des Paulus dazu bei, daß der Reisebericht (ein Element des Romans) im Vordergrund steht, während die eigentliche Missionstätigkeit und der Aufbau der neugegründeten Gemeinden ganz zurück tritt. Literarisch gesehen muß man also die lukanische Apg. in die Nachbarschaft der apokryphen Apostelakten rücken, unter denen die ältesten (Act. Joh., Act. Petri, Act. Pauli) nicht lange nach der Veröffentlichung des lukanischen Werkes entstanden sind. Denn auch diese apokryphen Apostelgeschichten stellen das Reisemotiv in den Vordergrund, verwenden unkritisch eine reichlich fließende Überlieferung von wunderbaren Taten und Ereignissen, fügen häufig Reden der Apostel ein (Zeugnisse für die damalige Missionspredigt), enthalten aber doch gelegentlich wertvolle historische Nachrichten und Daten. Wie bei der Apg. des Lukas gestaltet sich auch hier die Quellenscheidung und die Feststellung der ursprünglichen Fassung als schwierig. Hinzu kommt, daß bei den apokryphen Werken die Textüberlieferung durchweg fragmentarisch ist (von den Act. Joh. gibt es nicht eine einzige voll-
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ständige Handschrift!). Aber daß es auch bei ihnen verschiedene Ausgaben und Rezensionen gegeben hat, stellt sie wiederum der kanonischen Apostelgeschichte zur Seite. d) Literarische Probleme der Paulusbriefe Es sollen hier nur die sicher echten Paulusbriefe besprochen werden (zu den einzelnen unechten Paulusbriefen s.u. §12.7a; 12.2a, b und g). Als sicher echt sind im allgemeinen folgende sieben kanonischen Briefe angenommen: Römerbrief, 1. und 2. Korintherbrief, Galaterbrief, Philipperbrief, 1. Thessalonicherbrief und Philemonbrief. Ihre Integrität ist aber wiederholt, teils zu Recht und teils zu Unrecht, bestritten worden. Für den 1. Korinther- und den 1. Thessalonicherbrief sind die gegen die Einheitlichkeit vorgebrachten Argumente zwar beachtlich, aber nicht durchschlagend. Jedoch kann man mit großer Sicherheit annehmen, daß Römer-, 2. Korinther- und Philipperbrief aus verschiedenen Schreiben des Paulus zusammengesetzte Dokumente sind. Im Römerbrief ist das 16. Kapitel problematisch. Rom. 15,33 enthält einen abschließenden Friedenswunsch. Unvermittelt setzt Rom. 16,1 mit einer Empfehlung für Phöbe ein. Es folgt eine lange Grußliste. Nicht nur ist es unwahrscheinlich, daß Paulus eine so große Anzahl von Christen in Rom persönlich gekannt hat, die Liste enthält auch Namen, die nicht nach Rom, sondern nach Kleinasien gehören (Priska und Aquila, Epainetus, Andronikus). Zudem ist die Unsicherheit in den Handschriften bemerkenswert: Eine Anzahl von Handschriften setzt die Doxologie von Rom. 16,25-27 (sicher nicht paulinisch, s.u.) zwar bereits an das Ende von Kapitel 14, aber Papyrus46 bringt diese Doxologie nach Rom. 15,33. Man wird am besten annehmen, daß Rom. 16 ein ursprünglich von Korinth nach Ephesus gerichtetes Empfehlungs- und Grußschreiben des Paulus war, das erst später an den Römerbrief angehängt wurde. O b man daraus schließen kann, daß der Römerbrief schon von Paulus mit besonderen Grußschreiben auch an andere Gemeinden gesandt worden ist, muß fraglich bleiben. Der 2.Korintherbrief ist in höchstem Maße uneinheitlich. Sind auch die einzelnen Teile thematisch eng miteinander verwandt, so lassen sich die verschiedenen Brüche im Zusammenhang doch nicht einfach als Gedankensprünge erklären. 2. Kor. 2,13 bricht den Bericht von der Situation, in der sich Paulus befand, abrupt ab, um erst mit 7,5 das gleiche Thema wieder aufzunehmen. Kapitel 8
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und 9 setzen jeweils neu ein, haben zwar das gleiche Thema, aber doch verschiedene Adressaten. Vollends überrascht der letzte Teil des Briefes, Kapitel 10-13, mit seinem scharfen polemischen Ton, nachdem bereits Kapitel 7 versöhnlichere Töne angeschlagen hatte. Unter den vorgeschlagenen, z.T. parallelen Lösungen ist die folgende die überzeugendste: Der gegenwärtig als 2.Korintherbrief überlieferte Paulusbrief ist in Wirklichkeit eine Sammlung von fünf Briefen des Paulus, die erst nach der ersten Edition der Paulusbriefe herausgegeben wurde (Zitate aus diesem Brief fehlen im 1. Clemensbrief und bei Ignatius von Antiochien). Von den meisten dieser Briefe ist nur das Corpus erhalten, während die Präskripte und Schlußgrüße bei der Edition ausgelassen wurden - bis auf diejenigen, die den Rahmen für den gegenwärtig überlieferten Brief abgeben. Der erste dieser fünf Briefe ist in 2. Kor. 2,14-6,13; 7,2-4 erhalten. Er ist die erste briefliche Reaktion des Paulus, die er verfaßte, als ihn in Ephesus die Nachricht vom Eindringen der fremden Apostel in Korinth erreichte. Der zweite Brief, 2. Kor. 10-13, setzt voraus, daß Paulus inzwischen einen persönlichen, jedoch erfolglosen Besuch in Korinth gemacht hat. Erst durch das Eingreifen eines Mitarbeiters, des Titus, gelang es wenig später, ein Einvernehmen mit der Gemeinde in Korinth wieder herzustellen. Nachdem Paulus davon Nachricht von Titus erhalten hatte, schrieb er, bereits auf der Reise nach Korinth begriffen, den in 1,1-2,13 und 7,5-16 erhaltenen Brief. Mit diesem Brief sandte er zwei weitere Schreiben; beide betrafen die Kollekte für Jerusalem. Das eine an die Korinther gerichtete Kollektenschreiben ist in 2 Kor. 8 erhalten; das zweite, an die Gemeinden Achaias adressiert, erscheint in 2. Kor. 9. Der Philipperbrief ist ebenfalls als eine Briefsammlung anzusehen, wenngleich die genauen historischen Zusammenhänge der Briefsituationen unklarer bleiben als im Falle des 2. Korintherbriefes. Der erste dieser Briefe umfaßt Phil. 4,10-20: ein Dankschreiben, das Paulus nach Philippi sandte, nachdem ihm Epaphroditus eine Spende der Gemeinde überbracht hatte. Der zweite Brief, Phil. 1,1-3,1, ist etwas später geschrieben: Paulus ist im Gefängnis, und Epaphroditus ist schwer krank gewesen, geht aber jetzt als Überbringer dieses Briefes zurück nach Philippi; 4,21-23 ist wahrscheinlich der Schluß dieses zweiten Briefes. Der dritte Brief, 3,2-4,1, gehört in die Reihe der Auseinandersetzungen des Paulus mit rivalisierenden judenchristlichen Missionaren; von diesem Brief ist im Zusammenhang des jetzigen Philipperbriefes nur ein Frag-
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ment erhalten. Die Zuteilung der Stücke 4,2-3. 4 - 7 und 8 - 9 zu diesen einzelnen Briefen ist unsicher. Alle drei Briefe wurden wahrscheinlich von Ephesus nach Philippi gerichtet (über die Ephesinische Gefangenschaft des Paulus s.u. § 9.3c). Sind die Paulusbriefe nicht als unmittelbare Abschriften der ursprünglichen Autographen, sondern in der Form von späteren Editionen erhalten, so ist es nicht verwunderlich, daß sie auch eine Reihe von Zusätzen enthalten. Charakteristisch ist das Auftreten von Zusätzen an den Nahtstellen der zusammengesetzten Briefe. Ein solcher Zusatz ist 2.Kor. 6,14-7,1, der nach Inhalt und W o r t schatz deutlich als solcher zu erkennen ist. Ein anderer Zusatz erscheint Rom. 16,25-27; er gehört seinem theologischen Vokabular zufolge in die N ä h e der Pastoralbriefe und wurde vom Herausgeber angefügt, um dem „Römerbrief" des Paulus einen angemesseneren Abschluß zu geben. Ebenfalls den Pastoralbriefen verwandt ist der Zusatz l . K o r . 14, 33b-35, der den Frauen das Reden in der Gemeinde verbietet (vgl. l . K o r . 11 im Gegensatz zu l T i m . 2 , 9 f f ) . Kleinere Zusätze sind meist nicht sicher zu bestimmen, können aber nicht von vornherein ausgeschlossen werden. So wird man z.B. annehmen müssen, daß Rom.2,16, das wie Rom. 16,25 und 2.Tim. 2,8 die Wendung „nach meinem Evangelium" enthält, erst von einem späteren Herausgeber eingefügt wurde. Darüber hinaus sind auch andere Abschnitte der ursprünglichen Paulusbriefe als womöglich unecht angesehen worden, so der Abschnitt über den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, Rom. 13,1-7, der ganz der politischen Paränese des hellenistischen Judentums entspricht, sowie die antijudaistischen Verse l.Thess. 2,14-16. Überblickt man die erhaltenen Briefe des Paulus insgesamt, so ist nach dem oben Gesagten deutlich, daß eine weit größere Zahl von Briefen erhalten ist, als die gegenwärtigen Ausgaben vermuten lassen - nicht weniger als 14 Briefe - und daß darunter nur zwei umfangreichere Schreiben sind: der Römerbrief und der l . K o r i n therbrief. Das ist für die Beurteilung von Form und Gattung des paulinischen Briefes nicht unwichtig. Die überwiegende Anzahl der Briefe gehört nicht in die Kategorie der umfangreichen Lehrschreiben, sondern zu den Gelegenheitsschreiben, die aus einem unmittelbaren Anlaß entstanden sind. Solche Briefe sind aus der Antike auch sonst vielfach erhalten, ζ. B. in den Oxyrhynchos-Briefen oder auch in der Korrespondenz des Plinius. Durchweg ist bei den paulinischen Briefen das kirchenpolitische Interesse erstrangig: es
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geht um die Organisation und Erhaltung seiner Gemeinden und um die Lösung von Problemen, die ihre Existenz bedrohen. Diesem Zwecke dienen die Empfehlungsschreiben (Rom. 16, Philemon), Beglaubigungsschreiben (2. Kor. 8 und 9), Dankschreiben (Phil. 4,10-20), aber ebenso auch die polemischen Briefe (Galaterbrief, Phil.3; 2.Kor.2,14-6,13; 10-13). Da die Person des Paulus selbst sowohl in den kirchenpolitischen Fragen als auch in den polemischen Situationen eine große Rolle spielt, sind zwei Elemente in diesen Briefen von großer Bedeutung: die persönliche Apologie (cf. besonders Gal. 1 - 2 ; 2. Kor. 10-13; Phil. 3) und die Reisepläne (cf. 1. Kor. 16; 2.Kor. 1,1-2,13 und 7,5-16). Alle diese Faktoren bestimmen schließlich auch die größeren Briefe des Apostels. Im Römerbrief steht die Absicht der Reise in den Westen im Vordergrund, und Paulus sieht sich wegen dieser Pläne genötigt, eine Apologie seiner Botschaft an die Gemeinde in Rom zu richten, die zu einer grundsätzlichen Darlegung seiner Theologie wurde. Im l . K o rintherbrief geht es hingegen vornehmlich um die Organisation der korinthischen Gemeinde und um Fragen ihres christlichen Lebensverständnisses; so wurde dieser Brief zu einer Kirchenordnung, in der verschiedene Fragen, die an Paulus herangetragen worden waren, nacheinander ihre Beantwortung finden. Formell sind die Paulusbriefe nach einem Schema aufgebaut, das dem Formular des jüdischen Briefes entspricht, aber auch typische Elemente des griechischen Briefes verwendet. Im Präskript erscheinen der Name des Absenders, der Adressaten und die Grüße nach dem jüdischen Formular in zwei Sätzen; aus diesem stammt auch der Friedenswunsch, so daß der Gruß immer „Gnade und Friede" lautet statt des griechischen „zum Gruß". Auf das Präskript folgt ein sogenanntes Proömium, das meist eine ausführliche Danksagung enthält, innerhalb derer vom Stand der Gemeinde, von ihrem Verhältnis zum Apostel, aber auch von Paulus' persönlichem Ergehen und von seinen Reiseplänen geredet wird. Ein solches Proömium kann, wie im Falle des l.Thessalonicherbriefes, den größeren Teil des Briefes einnehmen (l.Thess. 1,2-3,13), oder auch zu einem polemischen Ausbruch ärgerlicher Verwunderung abgewandelt sein (Gal. 1,6 ff). Als eigentliches Corpus der paulinischen Briefform wird man die Paränese ansehen müssen (l.Thess. 4,1-12; Rom. 12-15; l . K o r . 5-14), auf die oft ein eschatologischer Abschnitt folgt (l.Thess. 4,12-5,11; l.Kor. 15). Am Schluß stehen Grüße, bei denen einzelne Personen besonders genannt werden.
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Die vielfachen auffallenden Eigentümlichkeiten in der Form der paulinischen Briefe lassen sich alle als Abwandlungen dieses G r u n d schemas erklären. So sind die vor der Paränese erscheinenden theologischen A u s f ü h r u n g e n Rom. 1,18-11,36 eine Darlegung der am Schluß des Proömiums aufgestellten These. Die Diskussion der Reisepläne wird gelegentlich innerhalb der Schlußgrüße wieder aufgen o m m e n (Rom. 15, 14-33; 1.Kor. 16). V o n vielen Briefen ist freilich nur ein Teil erhalten, so von dem Empfehlungsschreiben Rom. 16 nur das Corpus, die eigentliche Empfehlung (16,1-2), und die Schlußgrüße (16,3-23), von dem Dankschreiben Phil. 4,10-20 ebenfalls nur das Corpus. Das gleiche trifft f ü r die Kollektenschreiben 2 Kor. 8 und 9 zu. Bei den deuteropaulinischen Briefen ist das gleiche G r u n d schema in der Regel erhalten. D e r Kolosserbrief bringt nach dem Präskript (1,1-2) ein ausführliches P r o ö m i u m , in dem eingehend vom Schicksal des Apostels geredet wird (1,3-2,5); darauf folgt eine mit Polemik durchsetzte Paränese (2,6-4,6), und G r ü ß e schließen den Brief ab (4,7-18). Schon hier, wie auch im Epheserbrief, erscheint innerhalb der Paränese Material, das den C h a r a k t e r der Kirchenordnung hat (Kol.3,18-4,1; Eph. 5,22-6,9). In den späteren Pastoralbriefen überwiegt die Kirchenordnung vollends. e) 2. Petrus- und Judasbrief D e r deutlichste Fall literarischer Abhängigkeit innerhalb der neutestamentlichen Briefliteratur wird vom 2. Petrusbrief in seinem Verhältnis zum Judasbrief geboten. In seinem zweiten Kapitel reproduziert 2.Pt., wenn auch mit vielfachen Abwandlungen, fast den gesamten Judasbrief. Jud. ist wohl noch im l . J h . n C h r in starker und auch explizit zugegebener Anlehnung an die jüdische Apokalyptik verfaßt w o r d e n (cf. Jud. 14). V o n dieser Position aus wendet er sich gegen (gnostische?) Häretiker, die mit ihrem Anspruch, die wahren Pneumatiker zu sein (Jud. 19), f ü r die Gemeinden, denen sie angehören und an deren Agapenfeiern sie teilnehmen (Jud. 12), eine G e f a h r darstellen. Für den 2. Pt., der etwa ein halbes J a h r h u n d e r t später geschrieben sein mag, hat sich die Situation grundsätzlich gewandelt. Die H ä r e t i k e r sind aus den Gemeinden ausgeschieden und nur auf privater Ebene bestehen noch Beziehungen (vgl. 2.Pt. 2,13 mit Jud. 12). Die A n f ü h r u n g apokryphen jüdischen Materials erscheint dem Verfasser als suspekt; so werden alle entsprechenden Stellen
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des Jud. ausgemerzt oder verändert. Aber im übrigen sind der Gesamtaufriß sowie viele Einzelheiten des Jud. in 2.Pt. 2,1-3,2 deutlich wiedergegeben; außerdem finden sich an weiteren Stellen des 2.Pt. Entlehungen aus Jud. (vgl. z.B. 2.Pt. 1,5 mit Jud.3); s.u. § 12.7b und 2f. f) Die Ignatiusbriefe Die Ignatiusbriefe, am Anfang des 2. Jh. nChr geschrieben, wurden zwar in der Kirche gelesen, sind aber nicht so reichhaltig überliefert wie die Schriften des N T . Sie stellen ein recht eigenartiges und interessantes literarkritisches Problem und zeigen, wie dünn unter Umständen der Überlieferungsstrang sein kann, in dem sich die ursprüngliche Fassung erhalten hat. In seiner Kirchengeschichte erwähnt Euseb von Caesarea (3. 36.2-11), daß der antiochenische Bischof Ignatius als Gefangener auf seiner Uberführung nach Rom sieben Briefe verfaßt habe, und zwar an die Epheser, Magnesier, Trallianer, Römer, Philadelphier, Smyrnäer und an Polykarp, den Bischof von Smyrna. Die im Mittelalter umlaufende Ausgabe der Ignatius-Briefe bietet jedoch in der griechischen Fassung 13, in der lateinischen Fassung 12 Briefe, und zwar außer den an die von Eusebius genannten Adressaten noch einen Brief einer Maria von Kassobola an Ignatius, einen Brief des Ignatius an diese Maria, Briefe an die Gemeinden von Tarsus, Philippi und Antiochien und an den Diakon H e r o von Antiochien (der Brief der Maria fehlt in der lateinischen Fassung). Die Echtheit dieser Ignatianischen Briefsammlung, die heute als „Längere Rezension" bezeichnet wird, ist bereits in der Zeit der Renaissance angezweifelt worden. Neben dieser Sammlung gibt es eine zweite, in einem griechischen Manuskript erhalten (dem Codex Mediceo Laurentianus aus Florenz, s.u.), die ebenfalls im Mittelalter bekannt war, denn sie wurde ins Lateinische, Englische und Armenische übersetzt. Von der „Längeren Rezension" unterscheidet sie sich dadurch, daß sie zwar Briefe an die gleichen Adressaten enthält, jedoch die Briefe an die von Eusebius genannten Adressaten in einer Fassung erscheinen, die kürzer ist als die entsprechende Fassung der längeren Rezension. Man nennt diese Sammlung die „Mittlere Rezension". Sie wurde im 17. Jh. wiederentdeckt, seither mehrfach gedruckt, und die Meinung begann sich durchzusetzen, daß es sich bei den sieben Briefen dieser Rezension, die an die von Eusebius genannten Adressaten gerichtet sind, um die ursprüngli-
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chen Briefe des Ignatius handelt. Im Jahre 1845 publizierte der englische Gelehrte Cureton eine bis dahin unbekannte Rezension, die in syrischer Übersetzung erhalten ist, in der nur drei Briefe des Ignatius erscheinen, und zwar an die Epheser, Römer und an Polykarp. Der Text dieser drei Briefe ist in dieser „ K u r z e n Rezension" noch kürzer als der Text der entsprechenden Briefe in der „Mittleren Rezension", und manche Gelehrte akzeptierten nur diese drei kurzen Briefe als die ursprünglichen Schreiben des Ignatius. Schließlich gibt es noch eine nur in lateinischer Sprache überlieferte Sammlung von drei Igantiusbriefen an bisher nicht genannte Adressaten: ein Brief des Ignatius an den Apostel Johannes, ein Brief an Maria, die Mutter Jesu, und ein Brief der Maria an Ignatius. S o enthalten die verschiedenen Rezensionen und Sammlungen insgesamt 14 Briefe des Ignatius und zwei Briefe anderer an Ignatius. V o n den Schreiben an die von Eusebius genannten Adressaten erscheinen vier in einer längeren und in einer kürzeren Fassung, drei in einer längeren, einer kürzeren und einer ganz kurzen Fassung. Erst der Neutestamentier Theodor Zahn hat 1873 mit seiner Untersuchung „Ignatius von Antiochien" endgültig zu beweisen vermocht, daß die sieben Briefe der mittleren Fassung an die von Eusebius genannten Adressaten die ursprünglichen Ignatiusbriefe sind. Die längeren Fassungen dieser Briefe ebenso wie auch die der kurzen Fassung des syrischen Textes sind sekundär, und zwar gehen die letzteren nicht auf die ursprünglichen Briefe des Ignatius zurück, sondern auf die „Längere Rezension". Alle anderen Briefe sind z . T . erst im Mittelalter entstandene Pseudepigraphen. Die Entstehungszeit der „Mittleren" und der „Längeren Rezension" ist umstritten. Vielleicht ist die erstere bereits im 3. Jh. angefertigt worden, die letztere sicher nicht vor dem 4.Jh. Bemerkenswert ist, daß so der ursprüngliche griechische Text der echten Briefe nur im Zusammenhang von Sammlungen erhalten ist, die gleichzeitig unechte Schriften enthalten, und zwar die meisten nur in einer einzigen griechischen Handschrift: im schon genannten Codex Mediceo Laurentianus aus dem 11.Jh., und der hier fehlende Römerbrief in mehreren frühmittelalterlichen Handschriften, die außerdem noch das Martyrium des Ignatius enthalten. Darüber hinaus ist die Textkritik auf die Rezensionen und Übersetzungen angewiesen. Für einen Teil des Smyrnäerbriefes gibt es jetzt noch einen griechischen Papyrus. Die Geschichte der Ignatiusbriefe zeigt deut-
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lieh, welches Schicksal solchen Sammlungen von urchristlichen Schriften beschert sein konnte, die nicht durch die Kanonisierung geschützt waren. D a ß auch mit den jetzt im Kanon des N T enthaltenen Schriften ähnliches geschah, bevor der Kanon geschaffen wurde, ist nicht unwahrscheinlich.
4. Form- und traditionsgeschichtliche A.JOLLES,
Fragen
Einfache Formen, 21958.
G. BORNKAMM, Formen und Gattungen, RGG 3 II, 999-1005. G.LOHFINK, Jetzt verstehe ich die Bibel: Ein Sachbuch zur Formkritik, 2 1974. E . N O R D E N , Agnostos Theos: Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, 4 1956. Ph. V I E L H A U E R , Geschichte der urchristlichen Literatur, 1975, 9-57. E. L O H S E , Die Entstehung des Neuen Testamentes, 1972, 18-27. A. SEEBERG, Die Didache des Judentums und der Urchristenheit, 1908. Ders., Der Katechismus der Urchristenheit, ThB26, 2 1966. Zita: R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT29, 8 1970. Ders., Die Erforschung der synoptischen Evangelien, 5 1966. M . D I B E L I U S , Die Formgeschichte des Evangeliums, 3 1 9 5 9 . K . L . S C H M I D T , Der Rahmen der Geschichte Jesu, 1 9 1 9 ( 1 9 6 4 ) . Zub: W. BAUER, Der Wortgottesdienst der ältesten Christen, Aufsätze und kleine Schriften, 1967, 155-209. M . D I B E L I U S , Zur Formgeschichte des Neuen Testaments (außerhalb der Evangelien), T h R N F 3 , 1931, 207-242. E. KÄSEMANN, Sätze heiligen Rechts im Neuen Testament, Exegetische Versuche und Besinnungen II, 1964, 69-82. J . M . R O B I N S O N , Die Hodajot-Formel im Gebet und Hymnus des Frühchristentums, Apophoreta (Festschrift für E. Haenchen), 1964, 194-235. a) D i e synoptische Uberlieferung Johann Gottfried Herder ist der eigentliche Vater der Formgeschichte, wie er ja auch auf vielen anderen Gebieten der modernen Geistesgeschichte als Anreger gewirkt hat. Herder ist die Einsicht zu verdanken, daß Lied, Gedicht und Märchen ihren eigentlichen Sitz im Leben des Volkes haben. Aber es sollte über hundert Jahre
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dauern, bis diese Erkenntnis durch Hermann Gunkel erstmals für die biblische Wissenschaft fruchtbar gemacht wurde, und zwar in erster Linie für die Erzählungen des Buches Genesis und für die Psalmen des Alten Testamentes. In Anlehnung an Gunkel haben dann Rudolf Bultmann und Martin Dibelius in ihren fast gleichzeitig kurz nach dem Ersten Weltkrieg erschienenen Werken die synoptischen Evangelien nach formgeschichtlichen Methoden untersucht und damit die gesamte Evangelienforschung auf eine völlig neue Basis gestellt. Unumstößlich ist die Einsicht der formgeschichtlichen Arbeiten, daß die Sprüche und Reden Jesu und die Erzählungen über ihn zunächst nicht schriftlich, sondern mündlich überliefert wurden. Und zwar geschah das nicht etwa deshalb, weil das Medium der schriftlichen Mitteilung der frühen Christenheit nicht zugänglich gewesen wäre - wie die paulinischen Briefe zeigen, war das ja keineswegs der Fall - , noch auch auf Grund einer dogmatischen Bevorzugung des mündlichen Mediums der Weitergabe (wie im rabbinischen Judentum), sondern aus den Interessen und Notwendigkeiten des christlichen Gemeindelebens heraus. Die Uberlieferung von Jesus lebte in der Mission und Predigt, Praxis und Liturgie, Lehre und Polemik der christlichen Gemeinden. In diesen Zusammenhängen wurden die Sprüche Jesu weitergesagt und die Geschichten über ihn weitererzählt. Form und Inhalt der Uberlieferung wurden dabei durch den soziologischen und theologischen Kontext, der das Leben der frühen Christen bestimmte, geprägt. Das trifft natürlich schon für Jesus selbst zu. Sprüche, Gleichnisse und Beispielerzählungen entsprechen auch in ihrer Form dem theologischen Gesamtzusammenhang der Predigt Jesu und der kulturellen Situation des Judentums seiner Zeit. In vielen Fällen läßt sich deutlich zeigen, wie die unterschiedliche theologische Situation der Urgemeinde nach dem Tode Jesu und der neue kulturelle Horizont des die Grenzen des Judentums ja bald sprengenden frühen Christentums die Uberlieferung neu geformt und umgeprägt haben. Die spezifische theologische und soziologische Situation, in welche die verschiedenen Formen der Überlieferung jeweils gehören, nennt man den „Sitz im Leben". So ist z.B. der Sitz im Leben für die Uberlieferung und Prägung des Herrengebetes die Gebetspraxis der Gemeinde. Beispielerzählungen und Gleichnisse haben ihren Sitz im Leben in der erbaulichen Predigt der Gemeinde; sie
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erfuhren hier manche Veränderung (z.B. allegorische Ausdeutungen), auch wenn sie letztlich auf Jesus zurückgehen. Spruchsammlungen haben ihren Sitz im Leben in der Paränese und im T a u f u n terricht; Wundererzählungen in der Propaganda der urchristlichen Missionare. Der Begriff „Sitz im Leben" bezieht sich also zunächst immer auf die christliche Gemeinde. Die Überlieferung ist zwar hier nicht entsprungen, aber doch hier geformt und vermehrt worden. Will man bei solchen Überlieferungsstücken, die mit Wahrscheinlichkeit auf Jesus selbst zurückgehen, vom „Sitz im Leben Jesu" sprechen, so muß man darunter die Gesamtheit seiner Botschaft, Sendung und Taten verstehen, nicht etwa die speziellen Lebensumstände, in denen solche Überlieferungen entstanden sind. Über die ursprüngliche Situation im Leben Jesu läßt sich ohnehin nur sehr wenig ausmachen, da der biographische Rahmen, in dem die Einzelüberlieferungen in den Evangelien miteinander verbunden sind, eine literarische Schöpfung und damit gegenüber den verwendeten Überlieferungsstücken sekundär ist. In der Bestimmung der einzelnen Formen der Überlieferung unterscheidet man zwischen dem Redenstoff und dem Erzählungsstoff. Zwar schöpfen die Evangelisten für beide Stoffkreise aus Überlieferungen, die ihnen durch die Praxis der Gemeinde zugänglich waren; jedoch hat sich im Redenstoff vieles erhalten, was letztlich auf Jesus selbst zurückgeht, während im Erzählungsstoff die Formen der Überlieferung ausschließlich von der Gemeinde geschaffen wurden. Unter den Sprüchen stehen die prophetischen Worte und Weisheitssprüche voran. In der Form haben sie Analogien in den prophetischen Büchern und in den Spruchbüchern des AT. Parallelismus membrorum findet sich häufig, und viele dieser Sprüche sind Bildworte, Metaphern und Hyperbeln. Ein Teil der prophetischen und Weisheitssprüche mag auf Jesus selbst zurückgehen, sie wurden aber in der Regel in der Gemeinde zu katechismusartigen Spruchsammlungen zusammengestellt. Daneben hat sich die Verkündigung Jesu von der Gottesherrschaft vor allem in den Gleichnissen erhalten. Unter ihnen finden sich echte Gleichnisse, Parabeln und Beispielerzählungen. Der Anschluß an die Gleichnisse der alttestamentlichen Propheten fällt auf, während im Judentum jener Zeit allegorisierende Gleichnisse bevorzugt wurden. In der Überlieferung der Gemeinde haben die Gleichnisse Jesu, der Auslegungsmethode der damaligen Welt entsprechend, oft allegorisierende Ausdeutungen erfahren. Gemeinderegeln und Gesetzeswor-
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te, die sich mit der Ordnung des christlichen Lebens befassen, sind wahrscheinlich durchweg Gemeindebildungen, soweit sich in ihnen nicht eine prophetisch-kritische Auslegung des Gesetzes zu Worte meldet. Ein Teil der Gesetzesworte ebenso wie manche Weisheitsworte mögen von der Gemeinde aus dem Judentum übernommen worden sein. Analogiebildungen zu überlieferten Worten Jesu und zu jüdischen Sprüchen sind nicht selten. Ein charakteristisches Merkmal der synoptischen Überlieferung ist die Produktion von sogenannten Apopbthegmata (Bultmann; Dibelius spricht von Paradigmata). Es handelt sich hier um kurze Szenen, in denen eine Frage gestellt oder ein Problem beschrieben wird, worauf ein Jesuswort die Antwort gibt. Als Fragesteller können die Jünger, die Gegner Jesu, Jesus selbst oder sonst irgendeine Einzelperson genannt werden. Fragen der Gegner oder der Jünger werden öfters durch eine Handlung Jesu, z.B. eine Dämonenaustreibung, provoziert. Bei der Mehrzahl der Apophthegmata handelt es sich um Streitgespräche. Daneben stehen Schul- und Lehrgespräche. In beiden Fällen waren die polemischen Motive und die Lehr- und Lebensinteressen der Gemeinde der Anlaß zur Bildung der Apophthegmata. Außerdem gibt es biographische Apophthegmata, die aus dem Interesse am Leben und Wirken Jesu entstanden sind und dies in kurzen Einzelszenen darstellen. Bei allen Apophthegmata muß man unterscheiden zwischen denjenigen, die zu einem älteren überlieferten Jesuswort als Rahmen komponiert wurden, und jenen, bei denen Szene und Jesuswort eine einheitliche Bildung sind. Nur in dem ersteren Falle kann man damit rechnen, daß ein eventuell echtes Jesuswort in dem betreffenden Apophthegma aufbewahrt worden ist. Typisch für das Wachstum der Apopthegmen-Tradition ist die Anfügung weiterer verwandter Sprüche und sekundärer Analogiebildungen, so daß eine am Anfang des Apophthegmas gestellte Frage mehrere konkurrierende Antworten erhalten kann. Im Erzählungsstoff herrschen die Wundergeschichten vor. Charakteristisch sind die Exorzismen. Sie sind nach einem streng durchgehaltenen Schema erzählt: Begegnung des Besessenen mit Jesus Der Dämon wittert und erkennt die Macht des Exorzisten - Bedrohung und Austreibung des Dämonen (oft unter Demonstration) Darstellung des Erfolgs - Anerkennung durch die Anwesenden. Bei den Heilungswundern folgt auf die Begegnung des Kranken mit Jesus meist eine Bemerkung über die Schwere der Krankheit; die Heilung erfolgt entweder durch ein Wort Jesu (aramäische Hei-
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lungsformeln sind dabei gelegentlich aufbewahrt) oder durch eine Manipulation oder durch beides; am Schluß steht die Demonstration der erfolgten Heilung und der Beifall der Anwesenden. Naturwunder sind in der synoptischen Uberlieferung verhältnismäßig selten (vgl. die Stillung des Sturmes, das Wandeln auf dem Meer). Wie bei den Exorzismen und Heilungswundern fällt auch hier die große Kürze im Erzählungsstil auf. Zu allen Arten von synoptischen Wundergeschichten gibt es in jüdischen und heidnischen Uberlieferungen sowie in den christlichen Apostelgeschichten zahlreiche Parallelen, die in ihrem Aufbau in der Regel die gleichen Schemata verraten. Jedoch sind hier sekundäre Ausschmückungen und Erweiterungen, novellistische Züge und umständliche Darstellung des Heilungsvorganges (gelegentlich mit komplizierten Manipulationen) die Regel, während sie in der synoptischen Tradition fast ganz fehlen. Neben den Wundergeschichten finden sich im synoptischen Erzählungsstoff häufig Legenden, d.h. Geschichten, die unter Verwendung wunderbarer Züge einzelne Ereignisse darstellen. Die Einsetzung des Herrenmahls ist die einzige Kultlegende; alle anderen sind biographische Legenden (vgl. die Vorgeschichten, Täuferlegende, Versuchung, Einzug in Jerusalem). Auch die Passionsgeschichte, der ein vom Kerygma geprägter alter Bericht zugrunde liegt, hat vielfache legendarische Ausmalungen erfahren. Charakteristisch für die Legenden der synoptischen Uberlieferung ist, daß sie meist nur ein einziges Moment darstellen wollen und ausmalendes Beiwerk nur sparsam verwenden. Novellistische Züge sind selten (vgl. etwa die Emmausgeschichte). Zu den Epiphaniegeschichten muß man die Taufgeschichte, die Verklärung und die Auferstehungsberichte rechnen (die letzteren haben in der Berufungsgeschichte des Paulus, Apg.9,1 ff, ihre Parallele). Sie haben mit den Epiphaniegeschichten des A T und der jüdischen Apokalyptik manches gemein: Besondere Ortlichkeit (Wüste, Berg), Beschreibung der Situation, ungewöhnliche Erscheinung (Taube, Licht, der Auferstandene), Himmelsstimme oder Selbstoffenbarung des Erscheinenden, Beschreibung des Eindrucks, Befehl oder Sendung. Es ist bemerkenswert, daß eine Sendung in den T a u f - und Verklärungsgeschichten fehlt; zu Berufungsgeschichten Jesu sind die Epiphaniegeschichten also nicht ausgestaltet, vielmehr liegt der Nachdruck immer auf dem Wort, das an die Jünger ergeht.
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Die Frage nach dem historischen Kern der Geschichten des synoptischen Erzählungsstoffes ist schwierig und durchweg unsachgemäß, weil alle diese Geschichten der Mission, der Erbauung, dem Kult, sowie theologischen Interessen der Christologie dienstbar sind und das Problem historisch zuverlässiger Überlieferung nicht kennen. Gerade diejenigen Elemente, die anschaulich zum Höhepunkt der Erzählung führen, stammen nicht aus den möglichen historischen Ereignissen, sondern gehören zum Stil und zur Form der entsprechenden Erzählungsgattung. Genaue Namens- und Ortsangaben sind fast immer sekundär und oft erst im literarischen Stadium den Erzählungen hinzugefügt worden. Ungewöhnliche Züge sind schon am ehesten als historisch zuverlässig anzusehen, so z.B. die Nachricht, daß Jesus von Johannes, dem Haupt einer mit den Christen konkurrierenden Sekte, getauft worden sei. Wohl aber lassen sich aus der Gesamtheit der verschiedenen Arten der Erzählungen Rückschlüsse auf die Geschichte ziehen. Das Hervortreten der Exorzismen deutet darauf hin, daß Jesus in der T a t als Exorzist gewirkt hat. Die verschiedenen Auferstehungsberichte, in denen es sich durchweg um Erscheinungen des Auferstandenen handelt (die einzige Ausnahme ist die Geschichte vom leeren Grab), gehen darauf zurück, daß derartige Erscheinungen durchaus stattgefunden haben, die dann von denen, die sie erfuhren, weiterberichtet wurden. Den Unterschied zwischen den ursprünglichen Berichten und den späteren Epiphaniegeschichten mag man vom Vergleich von Gal. 1 , 1 2 - 1 7 (Paulus' eigener Bericht) mit A p g . 9 , l f f (Bericht des Lukas) ablesen - beide Berichte lehnen sich übrigens stilgerecht an alttestamentliche Vorbilder an, Paulus selbst an die Berufung des Jeremia, Lukas an die Berufung des Ezechiel. In diesen Zusammenhängen sind auch die Namensangaben historisch: Petrus, die Frauen (oder wenigstens Maria von Magdala), Jakobus (vgl. l . K o r . 15,7; die Erzählung selbst ist nur in einem apokryphen Evangelium überliefert). b) Die älteren Traditionen in den Briefen In den neutestamentlichen Briefen ist reiches und verschiedenartiges Überlieferungsmaterial enthalten, das nicht von den Autoren geschaffen, sondern aus ihrer Gemeindetradition übernommen ist. Nur selten ist solches Material ausdrücklich zitiert oder als Tradition identifiziert, und auch dann bleibt die Frage des genauen W o r t lauts und der Abgrenzung gegenüber dem Kontext oft problema-
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tisch. In den meisten Fällen ist die Forschung auf andere Kriterien zur Identifizierung solcher Traditionen angewiesen. Dazu gehören auffallendes Vokabular, das aus dem sonstigen Sprachgebrauch des Verfassers herausfällt, das Auftauchen gebundener Sprache innerhalb der Briefprosa, stereotype Satz- und Wortfolgen und der Vergleich mit parallelen Formulierungen in anderen Schriften, zu denen keine Beziehungen literarischer Abhängigkeit bestehen. O f t kann man auch Widersprüche oder Unausgeglichenheiten zwischen dem Zitierten und der Aussage des Verfassers feststellen. Weit verbreitet sind Zitate kerygmatischer Formeln, die vom Leiden, T o d / K r e u z und Auferweckung/Auferstehung Jesu reden (vgl. l . K o r . 15,3ff). Dieses kerygmatische Grundschema hat schon früh charakteristische Erweiterungen erfahren. Dazu gehört die Eintragung des Sühnopferverständnisses des Todes Jesu (vgl. Rom. 4,25 und die häufig auftauchende Formel „ f ü r uns"), die sich oft in solchen traditionellen Bekenntnissen findet (Rom. 3,25 f; Gal. l , 4 f ; l.Pt.2,21-25). Auch die Erwartung der Parusie ist mit diesem Bekenntnis verbunden worden (l.Thess. 1,10). Ein etwas anderer theologischer Grundansatz erscheint in den kerygmatischen Formeln, die von Leiden/Sterben und Erhöhung/Inthronisation reden (Hebr. l,2b-3; l . P t . 3,18-19 und 4,1). Die späteren christlichen Bekenntnisse verbinden die Auferstehungs- und Erhöhungsaussagen (Eph. l,20-21a.22b). Neben den kerygmatischen Formeln finden sich vielfach cbristologische Hymnen. In der Form sind sie durch die Aufreihung von Relativ- und Partizipialsätzen erkenntlich, deren Subjekt durchweg Christus ist. Inhaltlich steht im Zentrum der Hymnen die mythologische Rede von der Herabkunft des Erlösers, seinem Werk unter den Menschen und seiner Einsetzung zum Weltherrscher. Schon der älteste dieser Hymnen, Phil. 2,6-11, lehnt sich in diesen Aussagen an den jüdischen Weisheitsmythos an. Aus diesem stammt die Rede von Christus als Schöpfungsmittler, mit dem viele christologische Hymnen beginnen (Kol. 1,15-20; Joh. 1,1-5. 9-12. 14. 16). In den meisten Fällen sind nur Fragmente solcher Hymnen zitiert (Eph. 2,14ff; l.Tim. 3,16; 2.Kor. 8,9; vgl. 2. Kor. 5,19). Wie die Hymnen stammen auch die Doxologien aus der liturgischen Tradition. Sie finden sich manchmal an Briefschlüssen (Rom. 16,27), aber auch im Corpus der Briefe (Rom. 11,36; l.Kor. 8,6). In den Segenswünschen der Briefschlüsse mögen liturgische Formeln aufbewahrt sein (vgl. vor allem 2. Kor. 13,13). Aus der Litur-
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gie der Gemeinde stammt die Zitation der Einsetzungsworte ( l . K o r . 11,23-27) und der Ruf „Unser Herr, komm!" ( l . K o r . 16,22; vgl. Offb. 22,20). Aus der Taufliturgie mag sich ebenfalls manches erhalten haben; doch ist die Zuordnung traditionellen Materials hier unsicherer. Das kurze Bekenntnis „Jesus ist H e r r " ( l . K o r . 12,3) gehört wohl hierher, ebenso der Ruf „Stehe auf, der du schläfst!" (Eph. 5,14). Man hat auch versucht, paränetische Abschnitte der Briefe der Taufliturgie zuzuordnen. Doch haben Paränesen traditionellen Charakters ihren Sitz im Leben nicht ausschließlich im Katechumenenunterricht gehabt. In zwei verschiedenen Formen sind Paränesen überliefert worden, einmal als Tugend- und Lasterkataloge, zum andern in der Form von Spruchgruppen. Später treten Paränesen nach dem Haustafelschema hinzu. Spruchparänesen waren charakteristisch für die jüdische Überlieferung der hellenistischen Zeit. Ein ganzer neutestamentlicher Brief ist im wesentlichen weiter nichts als eine solche Sammlung paränetischer Sprüche: der Jakobusbrief. Im übrigen tauchen überlieferte Spruchparänesen im Schlußteil vieler Briefe auf (vgl. Rom. 12,9-21; Gal. 6,2-10; l.Tess. 5,14-22; Hebr. 13,2ff). Tugend- und Lasterkataloge-waren aus der hellenistischen Philosophie bereits in das Judentum eingedrungen und werden im frühen Christentum häufig verwendet. Sie erscheinen im paränetischen Zusammenhang entweder als einfache Listen (l.Kor. 6,9-10; Gal. 5,19-21; Kol. 3,5-8; ferner Gal. 6,22-23; Kol. 3,12) oder als Grundgerüst einer ausführlichen Paränese (l.Thess. 4,3-7; Eph. 4,17-5,6; häufig in den Pastoralbriefen). Aus der stoischen Diatribe stammen die Haustafeln, die von den Pflichten der Mitglieder eines Haushalts (Mann und Frau, Eltern und Kinder, Herren und Sklaven) und von den Pflichten gegenüber Freunden, Fremden, Obrigkeit usw. reden. Im Christentum tauchen sie erstmals in den frühen deuteropaulinischen Briefen auf (Kol. 3,18-4,1; Eph. 5,22-6,9; vgl. l.Pt. 2,13-3,7; Did. 4). In den Pastoralbriefen wird dieses Schema zur Gemeindeordnung erweitert, so daß nicht nur Pflichten der Alten und Jungen, sondern auch die Qualifikationen für christiliche Gemeindeämter (Bischöfe, Presbyter, Witwen) eingeschlossen werden (l.Tim. 2,13,13; 5,1-21; 6,1-2; Tit. 1,7-9; 2,1-10). Worte Jesu werden ebenfalls innerhalb der Paränese verwendet ( l . K o r . 7,10-11; vgl. l.Tim. 1,15). Daneben finden sich apokalyptische Worte gelegentlich als Worte des Herrn. Es handelt sich
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dabei um urchristliche Prophetensprüche, die Ereignisse der Zukunft offenbarten, und zwar im Namen des Herrn, der ihnen dies kundgetan hatte. Paulus zitiert ein solches Wort einmal als „ H e r renwort" (l.Thess. 4,15-17), ein andermal als „Mysterium" ( l . K o r . 15,51). Zu solchen Mysterienüberlieferungen, d.h. Offenbarungen über die Zukunft, die nur den Eingeweihten zugänglich sind, gehören die Traditionen, auf die sich Paulus Rom. 11,25 ff und l.Kor. 2,6ff (2,1?) bezieht. Hier, wie l.Kor. 13,2; 14,2, handelt es sich bei den Mysterien noch um Sprüche, die auf die inspirierten Aussagen christlicher Propheten zurückgehen (vgl. auch 2.Thess.2,7; Offb. 1,20 etc.). Später wird das Christuskerygma selbst, das „Evangelium", auch als Mysterium bezeichnet (Eph. 3,1 ff; Kol. 1,26ff; Rom. 16, 25ff; l.Tim. 3,16). Noch eine andere Tätigkeit der Gemeindepropheten hat sich in traditionellen Sätzen manifestiert: die Formulierung von Sätzen heiligen Rechts. Es sind Sätze, in denen das ius talionis für den sakralen und religiösen Bereich zum Ausdruck kommt. An mehreren Stellen zitiert Paulus solche Sätze (vgl. l.Kor. 3,17; 14,38; 16,22; Rom. 10,11. 13). Solche Prophetensprüche haben offenbar die Bildung von Herrenworten beeinflußt, die in die Evangelien Aufnahme fanden (vgl. Mk. 8,38 mit 2.Tim. 2,11-13). Die Verwendung traditionellen Materials ist schließlich in den Anführungen und Auslegungen alttestamentlicher Stellen sichtbar. Es gibt eine Anzahl von alttestamentlichen Zitaten, in denen die betreffenden Stellen schon in der Tradition zu Testimoniensammlungen zusammengestellt waren (z.B. Rom. 10,18-21; Hebr. 1,5-13). Ebenso werden überlieferte Auslegungen verwendet ( l . K o r . 10,1-10; der Hebräerbrief verwendet in hohem Maße solches Material) oder von den Gegnern geschaffene Auslegungen kritisch interpoliert (das ist sicher in 2. Kor. 3,7-18 der Fall). c) Erhaltene Traditionen bei den Apostolischen Vätern, den Apokryphen und den Apologeten Älteres überliefertes Material ist in diesen Schriften vielfach verwendet. Jedoch sind alle nichtkanonischen Schriften bisher weniger gründlich als das N T untersucht; daher besteht hier größere Unsicherheit, und manche älteren Traditionen sind noch nicht deutlich erkannt. Im Folgenden führe ich nur wenige Beispiele an und beschränke mich auf das, was für die früheste Geschichte des Christentums von Bedeutung ist.
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Der synoptischen Überlieferung vergleichbare Überlieferungen über Jesus und von Worten Jesu erscheinen sowohl in besonderen Schriften als auch in der Form von Zitaten in anderer Literatur. In vielen Fällen besteht keine literarische Abhängigkeit von den kanonischen Evangelien. Vielmehr ist die Quelle solcher Traditionen die teils mündliche, teils schriftliche freie Überlieferung. Im 1. Clemensbrief finden sich zwei kleinere Spruchsammlungen (l.Clem. 13.2; 46.8); eine ähnliche Zusammenstellung von Sprüchen Jesu ist in das erste Kapitel der Didache eingefügt und auch der 2. Clemensbrief hat eine Sammlung von Jesusworten benutzt. Jedoch scheint diese letztere von den kanonischen Evangelien abhängig gewesen zu sein. Unabhängige Spruchüberlieferung hat sich im neu gefundenen (koptischen) Thomasevangelium erhalten; zumeist sind es prophetische Worte, Weisheitsworte und Gleichnisse. Im Fragment des „Unbekannten Evangeliums" (Pap. Ox. 840) und in dem Evangelien-Fragment Pap. Egerton 2 handelt es sich um Sprüche, die zu längeren apophthegmatischen Szenen gestaltet sind. Der Bischof Papias von Hierapolis sammelte am Anfang des 2.Jh.nChr Herrenworte aus der mündlichen Überlieferung; darunter apokalyptische Offenbarungen und Legenden. Schließlich finden sich noch bis in spätere Jahrhunderte hinein sogenannte Agrapha, d.h. Jesusworte, die von Vätern zitiert werden, aber nicht aus einem der kanonischen Evangelien stammen. Mag es sich bei fast allen diesen Agrapha auch nicht um echte Jesusworte handeln, so sind sie doch wichtige Zeugnisse für die Entwicklung der frühen christlichen Gemeinden und ihrer Traditionen über Jesus. Wundergeschichten Jesu scheinen in der nichtkanonischen Überlieferung etwas zurückzutreten (dafür sind Wundergeschichten der Apostel sehr zahlreich). Eine Ausnahme bilden nur die Erzählungen, die sich mit der Geburt und Kindheit Jesu beschäftigen. Aus ihrer Fixierung und Bearbeitung sind das Protevangelium Jakobi und das Kindheitsevangelium des Thomas entstanden. Dagegen gibt es eine ganze Reihe von nichtkanonischen Epiphaniegeschichten, die sich mit den Erscheinungen des Auferstandenen beschäftigen. In dem erhaltenen Fragment des Petrusevangeliums wird die Geschichte vom leeren Grab in der Form einer Epiphaniegeschichte vorgetragen - die Urform dieser Erzählung mag der kanonischen Geschichte vom leeren Grab zugrunde liegen (Mk. 16, 1-8 parr.) und weitere Bruchstücke haben sich vielleicht bei Matthäus erhalten (Mt. 27,51b—53; 28,2-4). Ignatius von Antiochien (Sm. 3.2-3) hat
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einen Bericht der Erscheinung Jesu vor den Jüngern aufbewahrt, der mit Luk. 24,36-43 verwandt ist, aber ursprünglichere Züge hat. Das sogenannte Hebräerevangelium enthielt eine Geschichte von der Erscheinung Jesu vor Jakobus, seinem Bruder; an dem Alter dieser Erzählung braucht man nicht zu zweifeln. O b dagegen die vielfach in gnostischen Offenbarungsschriften vorkommenden Epiphaniegeschichten, durch die Belehrungen nach der Auferstehung eingeleitet werden, auf ältere Tradition zurückgehen, muß im ganzen gesehen bezweifelt werden, wenn es auch f ü r Einzelfälle nicht ausgeschlossen werden kann. Kerygmatische und Bekenntnisformeln werden häufig zitiert. Die verschiedenen Anführungen zeigen, daß es auch im 2. Jh. noch keine allgemeingültige Formulierung des Glaubensbekenntnisses gegeben hat und daß man überlieferte Formeln ohne weiteres variieren konnte. Die Vorstufen der späteren kirchlichen Symbole sind jedoch deutlich erkennbar. Besonders reiches Material bietet Ignatius von Antiochien. Die antidoketische T e n d e n z seiner Formeln führt zum Einschluß der Geburt Jesu durch Maria - um die Menschheit Jesu zu betonen! (Eph. 18,2 und öfter). Es finden sich Formeln, die im antithetischen Stil Gottheit und Menschheit gegenüberstellen und durch vielfache Wiederholungen fast hymnischen Charakter erhalten (Eph. 7,2), aber auch solche, die von der Geburt Jesu bis zur Auferstehung chronologisch die Heilsereignisse aufzählen (Sm. 1,1-2). Ähnliche Formeln zitiert Justinus Martyr (Apol. 1.31,7; Dial. 85.2; 132.1). Himmelfahrt und Wiederkunft zum Gericht sind hier feste Bestandteile des Bekenntnisses. Außerdem bahnt sich eine Dreiteilung an in das Bekenntnis zu Gott, dem Vater, zum Retter Jesus Christus und zum Heiligen Geist. D a ß dies seinen Sitz im Leben in der Taufliturgie hatte, zeigt Just. Apol. 61: Sobald die alte T a u f f o r m e l „im Namen Jesu" durch die trinitarische Formel ersetzt wurde (Mt. 28,19; Did. 7,1), erweiterte man auch die Bekenntnisse entsprechend. Hymnen sind vor allem in Schriften aus gnostischen Kreisen überliefert. In den Johannesakten wird ein umfangreiches Gemeindelied als „Lied Christi" mit den entsprechenden Responsorien überliefert (Act. Joh. 94-96). Die Thomasakten zitieren ein „ H o c h zeitslied" (6-7), das allegorisch von der heiligen Hochzeit der Gemeinde mit dem himmlischen Bräutigam redet, sowie das berühmte „Lied von der Perle" (108-113), gnostische Verkündigung in der Form eines mythologischen Gedichtes. Beide Lieder sind sicher
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älter als die erst im 3.Jh. verfaßten Thomasakten. Ein ursprünglich wohl heidnisches Lied auf Gott und die Seele, das in oberflächlicher Christianisierung bei den gnostischen Naassenern in Gebrauch war, hat Hippolyt überliefert. In den Oden Salomos ist ein ganzes christliches Hymnenbuch (mit stark gnostischem Einschlag) überliefert; manche Forscher datieren diese Hymnen - insgesamt sind es 42 - bereits in das 1 .Jh. nChr. Liturgisches Material ist reich überliefert. In der Didache findet sich eine Anweisung zur Taufliturgie mit (dem vielleicht ältesten) Zitat der trinitarischen Taufformel, das Zitat einer Form des Vater-Unser, das mit der von Mt. 6 eng verwandt ist, EucharistieGebete und Stücke aus der eucharistischen Liturgie (Did. 7-10). Justin zitiert eine erweiterte trinitarische Taufformel im Zusammenhang eines Berichtes über die Taufpraxis (Apol. 1.61.3) und eine gegenüber der neutestamentlichen Form verkürzte Fassung der Einsetzungsworte (Apol. 1.66). Zahlreiche Doxologien und Epiklesen finden sich in den apokryphen Apostelgeschichten, vor allem in den Thomasakten (vgl. z.B. 27; 50). Paränetische Uberlieferungen sind natürlich so häufig, daß eine Aufzählung ins Uferlose führen würde. Haustafeln und Lasterkataloge sind auch in der nichtkanonischen Literatur wichtige Stücke solcher Traditionen (vgl. Did. 4.9-11; 5.1-2; l.Clem. 1.3; Barn. 20). Auffallend ist das starke Hervortreten von Material aus der jüdischen Zwei-Wege-Lehre, in der sich bei der Beschreibung des T o desweges meist Lasterkataloge finden; aber im übrigen wird traditionelles jüdisches und christliches Spruchmaterial mit Verboten verbunden, die sich an den Dekalog und an Tugend- und Lasterkataloge anschließen (vgl. Did. 1 - 4 ; Barn. 19; sowie die Mandata des Hermashirten).
§8 V O N JOHANNES DEM TÄUFER ZUR URGEMEINDE
1. Jobannes der Täufer C. H . K R A E L I N G , John the Baptist, 1951 (Grundlegende Anhandlung). R. S C H Ü T Z , Johannes der Täufer, A T h A N T 50, 1967 (Literatur!). W . W I N K , John the Baptist in the Gospel Tradition, M S S N T S 7 , 1968.
a) Leben und Botschaft Unsere Hauptquelle für das Leben und Wirken des Täufers sind die kanonischen Evangelien. Jedoch sind die Geburtsgeschichten Legenden, die von den Christen aus der Täufersekte übernommen wurden. Vielleicht kann man aus ihnen entnehmen, daß Johannes, der etwas älter als Jesus gewesen sein muß, aus einer priesterlichen Familie stammte. In der Darstellung seines Wirkens (Mk. 1,2-8; Mt. 3,1-12; Luk.3, 1-18; Joh. 1, 19ff) sind christliche Züge eingetragen, ζ. B. die Zeichnung des Johannes als Elia, sein Wirken in der Wüste und seine Standespredigt (Luk. 3,10-14). Es ist aber wohl historisch, daß Johannes als eschatologischer Prophet auftrat und nicht nur in Judäa, sondern auch in anderen Teilen Palästinas wirkte (Herodes Antipas, der ihn gefangen setzte und enthaupten ließ, war der Landesherr von Galiläa und Peräa). Seine Botschaft spricht von dem herannahenden Gottesgericht (der Stärkere, der nach ihm kommen soll, ist ursprünglich Gott und erst von den Christen auf Jesus gedeutet) und bietet aus prophetischer Vollmacht eine einmalige Gelegenheit zu Buße und Bekehrung. Die Wassertaufe ist eschatologisches Siegel für die Bekehrten, die kommende „Taufe mit Feuer und Geist" (Mt. 3,11) das göttliche Gericht, dem niemand entgehen wird (vgl. Mt. 3,12). Die Taufe des Johannes schafft also das erwählte Gottesvolk, das im Strafgericht bestehen wird. Johannes wurde von Antipas gefangen gesetzt und zur Zeit des Wirkens Jesu hingerichtet (nach Mk. 6,17-29 wegen seiner Kritik an Antipas' Verehelichung mit Herodias). Der Bericht des Josephus über Johannes (Ant. 18.116-119) bestätigt im wesentlichen dieses Bild, unterdrückt aber das eschatologische Moment der Pre-
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Johannes der Täufer
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digt des Johannes. D o c h gibt er als G r u n d f ü r die Hinrichtung die Angst des Antipas vor einem V o l k s a u f r u h r (s.o. § 6.6b).
b) D e r religionsgeschichtliche H i n t e r g r u n d Es ist kaum möglich, hier über die allgemeine Feststellung hinauszukommen, daß Johannes zu der religiösen Bewegung gehörte, die als jüdische Apokalyptik bezeichnet wird, und aus der zu jener Zeit eine Reihe von messianischen Predigern und eschatologischen Propheten hervorgingen. Josephus berichtet über einige dieser P r o pheten: Judas der Galiläer (Ant. 18.23 ff), T h e u d a s (Ant. 20.97f), der ägyptische P r o p h e t (Ant. 20.169 f) und andere. Er reiht auch J o hannes und Jesus ein, wie es ebenso der „Gamaliel" der Apostelgeschichte tut (Apg. 5,36ff). Aber darüber hinaus ist eine genauere religionsgeschichtliche Z u o r d n u n g schwierig, wie übrigens auch f ü r Jesus. Die meisten Parallelen halten nicht Stich. Mit der Proselytentaufe des Judentums hat die Johannestaufe nichts zu tun, da in dieser ohnehin erst spät bezeugten Parallele das eschatologische Element fehlt. Die rituellen Waschungen der Essener von Q u m r a n sind ebenfalls anderer Art, denn es sind wiederholbare priesterliche Riten, die kultische Reinheit bezwecken, allerdings unter eschatologischem Aspekt. Auffallend ist bei Johannes dem T ä u f e r , daß - soweit unsere Quellen überhaupt Auskunft geben - sowohl eine auf Erden erscheinende Messiasgestalt als auch ein Hinweis auf eine politische Rolle des Volkes oder der Erwählten fehlt. Man darf ihn deshalb, ebensowenig wie übrigens Jesus, nicht in den politischen Messianismus einordnen, der letztlich zum jüdischen Krieg führte. Johannes redet nur vom k o m m e n d e n Gottesgericht - wie Jesus nur von der k o m m e n d e n Gottesherrschaft spricht (s.u.§8.2c). Erklären läßt sich das nur als Rückgriff auf die vorexilische Prophetie Israels, die noch keine messianischen Gestalten und keine messianische Rolle des Volkes Israel kannte. H a t das T h e m a der Erneuerung Israels in der Wüste in solcher Prophetie eine Rolle gespielt, so ist die J o h a n nestaufe ebenfalls aus der Exodus-Typologie zu verstehen ( D u r c h z u g durchs Meer). O b Johannes im Z u s a m m e n h a n g mit anderen T ä u f e r b e w e g u n g e n seiner Zeit stand, läßt sich nicht ausmachen, weil unsere Kenntnis solcher Bewegungen dazu nicht ausreicht.
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Von Johannes dem Täufer zur Urgemeinde
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c) Die W i r k u n g Johannes des Täufers Es kann kein Zweifel sein, daß Johannes der T ä u f e r eine religiöse Bewegung ins Leben gerufen hatte, die seinen T o d überdauerte. Mk. 2,18-19 beleuchtet dies, indem es die Jünger des Johannes, die Jünger der Pharisäer und die Jünger Jesu nebeneinanderstellt. Die in Apg. 19,1-7 berichtete Episode beweist allerdings nicht die fortdauernde Existenz einer Täufersekte, da sie ganz der lukanischen Konstruktion der Vermittlung des Heiligen Geistes entspricht (doch vgl. Joh. 1,35-37). Über das weitere Schicksal der Sekte ist nichts bekannt. Es ist möglich, daß die noch bis heute in Mesopotamien existierende Sekte der Mandäer, die ursprünglich aus dem Land des Jordans stammt, auf die Johannes-Sekte zurückgeht; doch ist das umstritten. Am folgenreichsten war die Wirkung, die Johannes auf Jesus und seine Jünger ausübte. D a ß Jesus von Johannes getauft wurde - an diesem Bericht ist nicht zu zweifeln - , bedeutet, daß Jesus ein Jünger des Johannes war. W a r u m er sich von Johannes und von seiner Bewegung trennte, wissen wir nicht. Einen Gegensatz braucht man daraus nicht zu rekonstruieren. Ist die Joh. 3,22-23 (vgl. Joh. 4,1) erhaltene Nachricht zuverlässig, dann hätten Jesus und Johannes gleichzeitig gewirkt und getauft (was Joh. 4,2 wenigstens teilweise zu korrigieren sucht). In der T a t war die Botschaft Jesu als Bußruf und als Verkündigung vom Kommen Gottes und seiner Herrschaft der Botschaft des Johannes analog. Ein wichtiges Zeugnis Jesu über Johannes ist Mt. 11,7-11 aufbewahrt. Danach hat Jesus den T ä u f e r als „größer denn ein P r o p h e t " und als „den Größten unter allen Weibgeborenen (d.h. unter allen Menschen)" bezeichnet (Mt. 11,10 und I I b sind spätere einschränkende Zusätze der christlichen Gemeinde). 2. Jesus von A.SCHWEITZER, Geschichte
Nazareth
der Leben-Jesu-Forschung,
'1972
(erstmals
1906 publiziert; unentbehrlich für das Verständnis der Frage nach dem historischen Jesus). R . BULTMANN, J e s u s , 1 9 2 6 .
E.KÄSEMANN, Exegetische Versuche und BesinnungenI, 1964, 187-214; II, 1968,31-68. E.FUCHS, Das Problem des historischen Jesus, Gesammelte Aufsätze II, 2 1965. J.M.ROBINSON, Kerygma und historischer Jesus, 2 1967 (wie Käsemann und Fuchs bezeichnend für die neu eröffnete Frage nach dem historischen Jesus)
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Jesus von Nazareth
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R. B U L T M A N N , Das Verhältnis der urchristlichen Botschaft zum historischen Jesus, S H A W . P H 1962 (Bultmanns Antwort auf die Wiedereröffnung der Frage nach dem historischen Jesus). G. B O R N K A M M , Jesus von Nazareth, U B , 1975. H. C O N Z E L M A N N , Jesus Christus, RGG 3 III, 619-651. N . P E R R I N , Was lehrte Jesus wirklich? Rekonstruktion und Deutung, 1 9 7 2 . Zuc: C.H.DOOD, The Parables of the Kingdom, 1935, 2 1961. 8 J . J E R E M I A S , Die Gleichnisse Jesu, 1970.
a) Außere Lebensdaten Jesus stammte aus dem galiläischen Nazareth, also aus dem mit hellenistischen Städten durchsetzten Norden Palästinas (die Geburt in Bethlehem ist eine spätere theologische Fiktion). Seine Familie war jüdisch. Das geht deutlich aus dem Namen seiner Eltern (Joseph und Maria) und seiner Geschwister (Jakobus, Joses, Judas, Simon) hervor. Sein Vater (Mt. 13,55; vielleicht auch er selbst, Mk. 6,3) war ein Bauhandwerker oder Zimmermann (der nach Justin, Dial. 88, Pflüge und Joche herstellt). Die Muttersprache Jesu war galiläisches Aramäisch oder vielleicht sogar ein hebräischer Dialekt, der sich in Galiläa erhalten hatte. Man muß auch annehmen, daß Jesus Griechisch sprechen konnte. Doch gehen viele der im N T griechisch überlieferten Sprüche und Reden Jesu auf aramäische Originale zurück. Also war Aramäisch die Sprache seiner Verkündigung. Uber Jesu Bildung und Erziehung ist nichts überliefert, das als zuverlässig angesehen werden kann. Doch darf man sich Jesus keinesfalls als ungebildet und des Lesens und Schreibens unkundig vorstellen. Irgendwann nach seinem Beitritt zur Sekte der Johannesjünger hat sich Jesus von Johannes getrennt und seine eigene Tätigkeit begonnen. Die Orte seines Wirkens sind nicht sicher bekannt, da viele der in den Evangelien angegebenen Orte erst später eingefügt worden sind. Es ist aber auffallend, wie stark Galiläa als O r t der Wirksamkeit hervortritt, und ebenso, daß die wichtigen hellenistischen Städte in den Angaben ganz fehlen (Cäsarea, Sepphoris, Tiberias). Jedoch wird das im wesentlichen nichtjüdische Gebiet im Norden (Cäsarea-Philippi) und im Osten Galiläas (Gadara östlich des Galiläischen Meeres) gelegentlich erwähnt. Daß Jesus also auch heidnisches Land besucht hat, kann man nicht von vornherein ausschließen. Wie oft Jesus in Jerusalem gewesen ist, muß unsicher
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bleiben; nach den synoptischen Evangelien während seiner öffentlichen Wirksamkeit nur einmal, nach dem Johannesevangelium häufiger (mindestens dreimal). Sicher hat Jesus Judäa nicht von seiner Wirksamkeit ausgeschlossen. Uber die Dauer der Wirksamkeit Jesu läßt sich gar nichts sagen. Berechnungen von einem Jahr oder von drei Jahren nach den verschiedenen Evangelienberichten lassen keine Schlüsse zu, da sich solche Berechnungen ausschließlich auf redaktionelle Angaben der Evangelisten stützen können. Altere Traditionen gibt es nicht. Sicher ist jedoch, daß Jesus, wahrscheinlich im Jahre 30 anläßlich eines Festbesuches in Jerusalem, verhaftet und hingerichtet wurde. Im Zusammenhang der Passionsberichte sind darüber eine Reihe von zuverlässigen Angaben erhalten worden. Widersprüche bestehen hinsichtlich der genauen Datierung und hinsichtlich der für die Verurteilung Jesu Hauptverantwortlichen. Nach der johanneischen Passionsgeschichte war das letzte Mahl Jesu kein Passahmahl, fand vielmehr am Abend vorher statt; denn auf das erst am Abend nach der Kreuzigung stattfindende Passahmahl wird Joh. 18,28 ausdrücklich hingewiesen. Die Datierung der Synoptiker ist nicht eindeutig. Nach Mk. 14,1-2 erwartet man, daß die Hinrichtung noch vor dem Passahfest stattfinden wird und der Bericht vom letzten Mahl Jesu enthält als solcher keine Hinweise auf das Passah (Mk. 14, 17ff). Erst durch die später eingefügte Legende über die Auffindung des Raumes für das Mahl (Mk. 14, 12-16) und vollends durch den Bericht des Lukas (22,15) wird der Eindruck eines Passahmahles geschaffen. Der johanneischen Datierung ist daher der Vorzug zu geben, zumal die Quelle des Markus damit übereinzustimmen scheint. Auch einem Manne vom Schlage des Pilatus wird man es kaum zutrauen dürfen, daß er an einem so hohen Festtage der Juden eine Hinrichtung ausführen ließ. In bezug auf die Hauptverantwortlichen für die Hinrichtung ist wenigstens eine deutliche Tendenz der Uberlieferung festzustellen: sie versucht, die Schuld mehr und mehr den jüdischen Behörden zuzuschieben. Bei Matthäus wäscht sich Pilatus gar seine Hände in Unschuld (Mt. 26,24) und später will man wissen, daß Pilatus in seinem Herzen selbst an Jesus geglaubt habe, jedoch hätten ihn die Juden gezwungen, die Hinrichtung dennoch auszuführen (vgl. den apokryphen Pilatusbrief). Aber einmal stand den jüdischen Behörden die Blutgerichtsbarkeit gar nicht zu. Sie war dem römischen
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Prokurator vorbehalten. Die einzigen Ausnahmen, die uns bekannt sind, wären die Hinrichtung Jesu, die Steinigung des Stephanus aber hier handelte es sich offenbar um einen Fall von Lynchjustiz (s.u. § 8. Λ ) - und die Ermordung des Jakobus, des Bruders Jesu (jedoch fand diese statt, als eine Vakanz in der Statthalterschaft bestand). Also sind diese Fälle nicht beweiskräftig. Die jüdischen Behörden durften in der Tat niemand töten (vgl. Joh. 18,31). Sie konnten es schon gar nicht während der Anwesenheit des römischen Statthalters in Jerusalem, der regelmäßig während der hohen Feste zur Vermeidung von Unruhen von Cäsarea nach Jerusalem kam. Außerdem ist der Grund für die Hinrichtung Jesu nicht die von den jüdischen Behörden in den Evangelienberichten angeführte Gotteslästerung gewesen (Mk. 14,64). Die einmütig von allen Evangelisten überlieferte Kreuzesinschrift „Jesus von Nazareth, König der Juden" (Mk. 15, 26; Joh. 19,19) beweist, daß ein römischer Grund für die Verurteilung nur zu deutlich auf der Hand lag. Was auch immer Jesu Anspruch gewesen sein mag, in den Augen des Pilatus war er ein tatsächlicher oder wenigstens potentieller politischer Aufrührer - und nicht der erste, mit dem Pilatus kurzen Prozeß machte (s.o. §6. 6c). Zwar ist anzunehmen, daß die maßgebenden jüdischen Kreise in Jerusalem darauf bedacht waren, mit dem Prokurator zu kooperieren und ihm in die Hand zu spielen; und sie mögen das auch im Falle des Prozesses Jesu getan haben. Aber Pilatus war auch so zur Ausübung seiner Gerichtsbarkeit bereit, so sehr ihm solche Mitarbeit gelegen gewesen sein mag. Durch die fürchterlich grausame Methode der Kreuzigung starb Jesus einen leidvollen Tod. b) Jesus als Prophet, Weisheitslehrer und Exorzist Es ist schwierig, die richtigen und passenden Kategorien zu finden, nach denen die Wirksamkeit Jesu beurteilt werden kann. Einmal fehlen über die Art seines Wirkens Nachrichten, die ein anschauliches Bild vermitteln können; wir sind hier ganz auf Rückschlüsse aus Form und Inhalt des überlieferten Spruchmaterials angewiesen. Zum andern scheint sich das, was sich auf diese Weise erschließen läßt, nur teilweise in die bekannten Kategorien religiösen Berufsverständnisses jener Zeit einzufügen. Die folgenden Möglichkeiten können jedoch von vornherein ausgeschlossen werden: Von messianischen oder christologischen Titeln darf man keinesfalls ausgehen, denn keiner dieser Titel (Messias/Christus, Davidssohn,
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Menschensohn, Gottessohn, Herr) ist in der Tradition hinreichend verankert, um ein Berufs- oder Selbstverständnis Jesu daraus ableiten zu können. Von nicht-messianischen religiösen Sendungen oder Berufen kommen die des Priesters, des Philosophen und des Apokalyptikers ebenfalls nicht in Frage. „Priester/Hoherpriester" wird Jesus erst in einigen Kreisen der nachösterlichen Gemeinde, und hierbei wird noch nicht einmal der Versuch unternommen, eine levitische Herkunft Jesu herzustellen (vgl. Hebr. 7,1 I f f ) , obgleich die Erwartung des priesterlichen Messias aus Levi damals bei den Essenern eine große Rolle spielte (s.o. §5. 2c). Philosophische Einflüsse machen sich in Palästina schon zur hellenistischen Zeit bemerkbar und haben das rabbinische Judentum mitgeprägt. Philo von Alexandrien zeigt, wie sich das Ideal des echten Philosophen mit dem des jüdischen Weisheitslehrers verbinden konnte. Jedoch ist Jesus weder als philosophischer Wanderprediger, noch als Schulphilosoph aufgetreten, und erst die christlichen Apologeten haben Jesu Lehre den philosophischen Einsichten an die Seite gestellt. Ein Apokalyptiker ist Jesus schließlich auch nicht gewesen. Visionen der Zukunft und Himmelsreisen werden von ihm nicht berichtet (die Offenbarung Johannis und die gnostischen Offenbarungsevangelien versuchen, diese Lücke zu füllen). Uberhaupt fehlt das schriftliche Medium der Mitteilung, das für die Apokalyptik so charakteristisch ist. Handelt es sich beim Philosophen und beim Apokalyptiker um moderne, zeitgemäße religiöse Berufe, so entsprechen die überlieferten Worte Jesu den mehr archaischen Idealen des Propheten und des Weisheitslehrers. In Jesu prophetischen Worten fehlt jede Spekulation über den Zeitablauf der zukünftigen Ereignisse. Seine Interpretation des Gesetzes kennt keine Kasuistik, aber auch keine spiritualisierende Uberspringung des Wortsinnes; sie ist vielmehr eine eindeutige und undiskutierbare Verkündigung des Gotteswillens und entspricht damit ganz der prophetischen Tora des Alten Testamentes. In der Weisheitslehre bevorzugt Jesus die einfachen Weisheitssprüche, Proverbien und kurze Metaphern, ganz entsprechend der alten Spruchweisheit Israels; die Weisheitsspekulationen der späteren Weisheitsliteratur des Judentums fehlen in den ältesten Schichten der synoptischen Uberlieferung. Wie wahrscheinlich schon bei Johannes dem Täufer (s.o. §8. 7a), läßt sich das auch bei Jesus nur als bewußter Rückgriff auf die alte prophetische Tradition Israels erklären. Dabei fehlt diesem Rückgriff die Künstlich-
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keit archaisierender Tendenzen; vielmehr erscheint er als echte und unmittelbare Erneuerung. Gleichzeitig fehlen aber in der Verkündigung Jesu typische Kennzeichen der prophetischen Sendung. Es sind uns keine Traditionen überliefert, die von einer Berufung Jesu sprechen, noch von irgendwelchen Visionen, Auditionen oder dem Empfang besonderer Aufträge berichten. Auch leitet Jesus seine Worte nicht mit Formeln wie „So spricht der H e r r " ein. Ebenso ist nichts darüber gesagt, daß Jesus etwa in seinem äußeren Gebaren und in seiner Kleidung seinen prophetischen Anspruch zum Ausdruck brachte (so wie es von Johannes dem Täufer berichtet wird; vgl. Mk. 1,6). Schließlich fehlt auch der Weisheitsverkündigung Jesu die Berufung auf Alter und Uberlieferung der Sprüche; auch hören wir nichts von einer Unterrichtung der Jünger in der Weisheit - von einer Schulgründung nicht erst zu reden (es ist hier auch deutlich, daß Parallelen zum Rabbinat überhaupt nicht bestehen). So bleibt die sichtbare Dokumentation der Autorität Jesu ein Rätsel und man ist zur Beurteilung dieser Autorität ganz auf seine Worte angewiesen und auf das, was sie sagen und ankündigen. Wahrscheinlich kann man aber noch einen Schritt weitergehen. Vieles spricht dafür, daß die vielfachen synoptischen Berichte über Dämonenaustreibungen ihre Wurzeln in Jesu Tätigkeit als Exorzist hatten. Diese Beobachtung darf nun allerdings nicht dazu verführen, daß Besondere der Autorität Jesu in seinen außerordentlichen psychischen Fähigkeiten oder in seinen wunderbaren übernatürlichen Kräften zu suchen. Vielmehr muß man fragen, was nach den Worten Jesu die Bedeutung und Funktion dieser Dämonenaustreibungen ist. Die Worte über den Dämonenbann, unter denen sich wahrscheinlich mehrere echte Jesusworte finden (Mk. 3,23-25. 26. 27; vor allem Mt. 12,28; vgl. auch Luk. 10, 18) machen deutlich, daß Jesus in den Dämonenaustreibungen den Sieg über Satan und den Anbruch der Gottesherrschaft sichtbar dokumentiert sah. Dann ist aber auch klar, daß Jesus sich selbst als entscheidenden und handelnden Vermittler der Ankunft der Herrschaft Gottes verstand. c) Die Verkündigung der Gottesherrschaft Daß Jesus die eschatologische Botschaft des Täufers fortsetzte, wurde schon gesagt (s.o.§8./c). Wie der Täufer, so kennt auch Jesus keine besondere messianische Gestalt neben Gott, die bei den
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kommenden Ereignissen eine Rolle spielen wird (auch die Echtheit der Worte, die vom zukünftigen Menschensohn reden, wird man preisgeben müssen). Im Unterschied zum Täufer betont Jesus aber nicht so sehr das kommende Gottesgericht, sondern vielmehr die anbrechende Gottesherrschaft, an der diejenigen, die sein Wort hören, schon jetzt teilnehmen können. Das Verhalten der Jünger wird also nicht durch die Drohung des Gerichtes bestimmt, sondern durch die Einladung zur Teilnahme. Charakteristisch für den Unterschied zwischen Jesus und Johannes ist das in der Fastenfrage aufgeworfene Problem, daß die Jünger des Johannes fasten, während die Jünger Jesu dazu keine Veranlassung sehen. Im Zentrum der Verkündigung der Gottesherrschaft stehen die Gleichnisse Jesu. Jeglicher allegorischer Tendenzen bar wollen diese Gleichnisse jeweils einen für die anbrechende Gegenwart der Gottesherrschaft entscheidenden Sachverhalt ansagen. Die Gleichnisse sind keine Illustrationen der Verkündigung Jesu; sie sind Aussagen, durch welche die Sache der Gottesherrschaft selbst zu Wort kommt. Wer diese Sache hören will, versteht, worum es in den Gleichnissen geht. Das Kommen der Gottesherrschaft ist Gottes souveräne T a t (Mk. 4,26-29). Menschliches Tun und Sorgen hat auf ihr wunderbares Werden keinen Einfluß (Mk. 4, 3-8). Gottes Handeln widerspricht menschlichen Maßstäben moralischer (Luk. 16, 1-8) und religiöser Werte (Luk. 18, 9-14). Auch mit gerechter Belohnung hat es nichts zu tun (Mt. 20, 1-16); denn die Liebe kann sich nicht nach Erwartungen richten, die an sie gestellt werden (Luk. 15,11-32). Durchweg kommt es in den Gleichnissen darauf an, das Überraschungsmoment herauszuhören; es dokumentiert sich häufig gerade in denjenigen Zügen, die den normalen Lebenserfahrungen nicht entsprechen: wo gibt es schon einen Landmann, der während der ganzen Zeit des Wachstums nichts tut oder das Unkraut mitwachsen läßt? oder wo läuft schon ein würdiger Vater seinem mißratenen Sohn entgegen und läßt für ihn auch noch das Mastkalb schlachten? oder wann hat schon einmal ein reicher Mann nach Absage seiner vornehmen Gäste die Lumpen von der Gasse eingeladen? Wunder, Geheimnis und Unberechenbarkeit der Gottesherrschaft - davon reden die Gleichnisse. In den prophetisch-eschatologischen Sprüchen Jesu wird vor allem die Gegenwart des Anbruchs betont. Den Armen, Weinenden und Hungernden wird schon jetzt im Worte Jesu der Segen zugesprochen (vgl. die Seligpreisungen Mt. 5,3 ff). Was von Jesaja ge-
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weissagt war (Jes. 35, 5-6; 61,1), geschieht schon jetzt (Luk. 7,22: Jesu Antwort an den Täufer). Wenn die Dämonen schon jetzt ausgetrieben werden, dann ist die Gottesherrschaft bereits da (Luk. 11,20). Nach irgendwelchen Zeichen für die Gottesherrschaft und ihr zukünftiges Kommen zu suchen oder gar die Zeiten zu berechnen, wäre für die Jünger ein eitles Beginnen, denn die Gottesherrschaft ist schon unter ihnen (Luk. 17, 20-21). Der Anspruch, der in dieser Verkündigung zum Ausdruck kommt, läßt sich freilich nicht übersehen: wenn man sich auf die Gottesherrschaft einlassen will, so kann man an der Person Jesu nicht vorbei. Werden diejenigen selig gepriesen, die sehen, was er tut (Luk. 10, 23-24), so ist Bedingung für die Annahme, daß man sich nicht an seiner Person ärgert (Luk. 7,23). Jesus als den Verkündiger annehmen, heißt nun allerdings nicht, daß man ihm eine besondere Würde zuschreibt, sondern vielmehr, daß man dem ungewöhnlichen Anspruch seiner Verkündigung in seinem T u n folgt (Luk. 6,46). Ist so auf der einen Seite das Kommen der Gottesherrschaft ganz allein die T a t Gottes, so hängt paradoxerweise ihre Wirklichkeit ganz davon ab, ob der Mensch sich mit seinem T u n der eschatologischen Forderung der Predigt Jesu stellt. d) Die neue Situation des Menschen Hier ist von der sogenannten ethischen Verkündigung Jesu zu reden. Sie ist in verschiedener Weise beschrieben worden: als eschatologische Ethik, als Ethik für die Zwischenzeit bis zum Kommen Gottes, als idealistische Formulierung einer nur theoretisch erreichbaren Moralität, als Maßstab für die Erkenntnis unentrinnbarer Sündhaftigkeit des Menschen, und schließlich als „evangelischer R a t " für eine höhere Moralität einer auserwählten Gruppe. Alle diese Deutungen setzen voraus, daß die moralischen Forderungen Jesu grundsätzlich oder normalerweise unerfüllbar sind und schränken so ihre Gültigkeit ein. Nirgends ist in der Verkündigung Jesu eine Einschränkung der Radikalität seiner ethischen Forderung angedeutet. Keine Frage, es handelt sich um „eschatologische Ethik", aber nicht im Sinne einer Interims-Ethik; denn die Situation des Menschen unter der anbrechenden Gottesherrschaft hat nicht den Charakter der Vorläufigkeit. Im Gegenteil, es ist eine bleibende Wirklichkeit, durch die alles Vorläufige sein Ende findet. Gerade das ist ja mit dem Begriff „eschatologisch" gemeint. In der eschatologischen Situation fordert Gott den ganzen Menschen und läßt
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ihm keinen Ausweg und keine Entschuldigung. Freilich ist solche Forderung nun nicht mehr, wie im Falle der Forderung des Gesetzes, identisch mit einem Maßstab, der Gehorsam und Erfüllung verlangt. Vielmehr geht es in der ethischen Predigt Jesu um die Beschreibung einer neuen Situation, die es zu ergreifen gilt, und eines neuen Lebenshorizonts, in den man das, was früher galt („was zu den Alten gesagt war"), nicht mehr hinüberretten kann. Darum geht es in den „Antithesen" der Bergpredigt (Mt. 5, 21-48). Jesu radikale Forderung ist kein neues Gesetz, sondern zeichenhaftes Verhalten in einem Raum der Freiheit, in dem Liebe möglich und notwendig ist. Wie schon das Verhalten mancher Personen in den Gleichnissen Jesu aus dem Rahmen konventioneller Formen und überlieferter moralischer Maßstäbe herausfällt, so lassen sich auch die Wegweiser für das Verhalten angesichts der kommenden Gottesherrschaft nicht organisch mit der überlieferten ethischen Tradition verbinden, sondern nur im Kontrast, in der radikalen Verschärfung, in der Hyperbel und Paradoxie und schließlich im Gleichnis oder in der Beispielerzählung darstellen. Die Erzählung vom barmherzigen Samariter ist charakteristisch (Luk. 10, 29-37). Die Personen sind sorgfältig ausgewählt: der Priester, der Levit, und ausgerechnet ein verhaßter Samariter. Die ersten beiden gehen vorbei. Warum, wird nicht gesagt. Ein moralisches Urteil wird bewußt vermieden. Aber der Hörer soll sich wundern und vielleicht auch ärgern. Ebenso fehlt eine Herausstellung der moralischen Größe der Tat des Samariters. Er tut nicht mehr als das, was in jener Situation nötig war; und er tut es von Herzen und mit Umsicht. Ohne Rücksicht auf die Grenzen, auf die religiöse Zugehörigkeit und politische Zweckmäßigkeit das Rechte gründlich zu tun - nur darauf kommt es an. Das ist jedoch keine Situationsethik ohne grundsätzliche Prinzipien und Einsichten. N u r sind die entsprechenden Prinzipien keine moralischen Grundsätze, sondern Einsichten in die Situation des Menschen angesichts der verkündigten, kommenden und schon einbrechenden Gottesherrschaft, nicht etwa in die Situation des Menschen als solche. Vielmehr ist es die Situation, in der die Menschen als Geschöpfe und als Kinder Gottes Gott als ihren Schöpfer erkennen und ihn als Vater anrufen. So beginnt das eschatologische Gebet um das Kommen der Gottesherrschaft, das als Gebet des Herrn überliefert ist, mit der Anrede „Unser Vater" (Mt. 6, 9-13).
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Von dieser Situation der Gottesherrschaft aus wird das Gesetz des Alten Testamentes kritisiert, insofern es nicht dem ursprünglichen Schöpfungswillen Gottes entspricht. Moses Gesetz der Ehescheidung wurde nur wegen der Herzenshärtigkeit gegeben (Mt. 10,5), aber von Anbeginn der Schöpfung an war es nicht so (Mt. 10,6). In der gleichen Weise verwerfen die Antithesen der Bergpredigt alle gesetzlichen Vorschriften und Möglichkeiten, die dem ursprünglichen Gotteswillen zuwider sind. Nicht nur müssen solche Gesetzesregeln als ein Vorhang erscheinen, hinter dem sich der Mensch vor Gottes Forderung verbergen kann. Sie erlauben es den Menschen auch, sich eine Scheinwelt der Sicherheit aufzubauen, in der sie sich ihrer religiösen Rechtschaffenheit bewußt sein können. Dagegen wenden sich die in der Rede gegen die Pharisäer gesammelten Worte Jesu (vgl. besonders Mt. 23, 13. 16-19. 23.25.29). Echte Gerechtigkeit und Barmherzigkeit kommt dabei zu kurz, denn Gesetzesgerechtigkeit errichtet Mauern zwischen den Menschen, statt sie niederzureißen. Gott aber ist der Schöpfer und Vater aller Menschen, der über Gerechte und Ungerechte regnen und die Sonne scheinen läßt (Mt. 5, 45) und in dessen Reich Leute aus allen Nationen und Völkern am Festmahl teilnehmen werden (Mt. 8, 11-12). Das schon für das damalige Judentum zentrale Gebot der Nächstenliebe (Lev. 19,18) wird zwar auch von Jesus in den Mittelpunkt gestellt (Mk. 12,31), aber die Nächstenliebe als soziale Verhaltensregel wird ausdrücklich verworfen (Mt. 5, 46-47). An seine Stelle tritt das Gebot der Feindesliebe (Mt. 5, 44). Die Würde des Menschen, die solche T a t der Liebe verlangt, läßt sich also nicht aus der Zugehörigkeit zu einer Klasse oder zu einer religiösen Gruppe (erwähltes Volk) oder zu einer politischen Einheit und Interessengemeinschaft herleiten. Hinsichtlich der Konsequenzen solchen Verhaltens hat Jesus weder sich selbst noch seinen Nachfolgern utopische Erwartungen vorgespiegelt. Sein Ruf in die Nachfolge verspricht nicht das Paradies auf Erden als Resultat der Erfüllung des Liebesgebotes. Wer ihm folgen will, muß bereit sein zu leiden (Mk. 8, 34). Mit dem Einsatz des Lebens muß der Jünger rechnen (Mk. 8, 35). Nachfolge ist Preisgabe der bisherigen Sicherheit (Luk. 9,62; 14,26). Das schließt kluges und umsichtiges Verhalten nicht aus. Die vielen Weisheitsworte der synoptischen Tradition, die wenigstens zum Teil auf Jesus zurückgehen, beweisen, daß Klugheit ohne Falschheit zur Nachfolge Jesu hinzugehört. Aber der Gebrauch der Macht, der
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Gewalt und des Zwanges ist ausgeschlossen, weil ja die Gottesherrschaft gerade dadurch Wirklichkeit wird, daß Liebe und Barmherzigkeit geübt wird. Im Ruf zur Nachfolge im Leiden, d.h. zum Ernstnehmen der Konsequenzen, die sich aus dem Leben in der neuen Situation des Menschen ergeben, kommt paradoxerweise die persönliche Autorität Jesu am stärksten zum Ausdruck. Hier ist er der Meister der Jünger, die ihm auf seinem Wege nachfolgen. Hier ist er wirkliches Vorbild - während erst die spätere Kirche ihn auch zum Vorbild der christlichen Tugendausübung machte. Ob Jesus mit seinem Tod rechnete und welche Wirkung er sich davon versprach, läßt sich auf Grund der zuverlässigen Uberlieferungen nicht sagen. Wohl aber ist deutlich, daß die spätere Gemeinde, als sie mit verschiedenen christologischen Titeln seine Autorität zu formulieren suchte, sich dabei gerade und besonders mit dem Problem seines Leidens und Sterbens auseinandersetzen mußte. e) Kreuz und Auferstehung N u r indirekt hat die Verkündigung Jesu zur Begründung christlicher Gemeinden geführt. Jesus hatte wohl einen Kreis von Jüngern um sich gesammelt, aber er hat keine Kirche gegründet. Es gibt aus der Zeit der Wirksamkeit Jesu keine Anzeichen dafür, daß er diesem Kreis von Jüngern und Anhängern irgendeine Organisation oder Verfassung gegeben hat. In extremen Fällen, wie z.B. im paulinischen Christentum, haben sich christliche Gemeinden in keiner Weise in ihrem Selbstverständnis auf die überlieferten Worte und Taten Jesu bezogen. Aber auch dort, wo man sich ausdrücklich auf Jesu Worte und Taten berief, erscheinen diese in der nachösterlichen Situation in einem neuen Licht und in einer Perspektive, die sich nicht als direktes Ergebnis von Jesu Wirksamkeit erklären läßt. Wie stand es mit den Anhängern und Jüngern Jesu, als Jesus am Kreuz starb? Soviele Spekulationen sich auch an diese Frage geknüpft haben, so wenig wissen wir tatsächlich darüber. Bestenfalls kann man etwas über die Zusammensetzung dieses Kreises sagen. Es waren Männer und Frauen verschiedener und manchmal etwas fragwürdiger Herkunft. Daß Jesus mit den Zöllnern und Sündern aß, hatte man ihm schon zu seinen Lebzeiten vorgeworfen (die Echtheit von Stellen wie Mk. 2,16 und Mt. 11,19 ist allerdings umstritten). Einige Namen sind überliefert: Petrus, die Zebedaidensöhne Johannes und Jakobus, Maria von Magdala. Ob Jesus selbst
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bereits zwölf Jünger als besonderen Kreis ausgewählt hatte (als Vertreter des eschatologischen Israel?), ist nicht ganz sicher. Viele waren offenbar Galiläer. Ein letztes Mahl hatte Jesus mit ihnen vor seiner Gefangennahme gehalten. Aber was bei diesem Mahle gesagt wurde, entzieht sich ebenfalls unserer Kenntnis. Alles was in den überlieferten Texten steht, ist erst aus Interessen des christlichen Kultes und im Blick auf die spätere Interpretation des Kreuzestodes Jesu eingetragen worden. Man kann nur vermuten, daß es sich hier um ein eschatologisches Mahl („messianisches Mahl" wäre der treffende Begriff, wenn wir annehmen dürften, daß die Erwartung des Messias dabei eine Rolle spielte) handelte, d.h. um eine Vorwegnahme der Mahlgemeinschaft im Gottesreich (vgl. auch Mk. 14,25). Aber ob Jesus sich eine baldige sichtbare Dokumentation der Herrschaft Gottes von seinem Weg zum Kreuz versprach, ob einige Jünger (speziell Judas?) versuchten, dieses Ereignis zu forcieren, und ob Jesus selbst glaubte, daß die Stunde entscheidenden Handelns gekommen sei (ist der Einzug nach Jerusalem ein historisches Ereignis?) - all das und viele andere Fragen sind reine Spekulationen, auf die weder der Historiker noch der Theologe eine Antwort geben sollte. Nur der Kreuzestod Jesu, für den die römische Behörde verantwortlich war, ist sicher. Im übrigen bewegen wir uns auf sehr viel sichererem Boden hinsichtlich der Erscheinungen des Auferstandenen und hinsichtlich der Wirkung dieser Erscheinungen. Es handelt sich hier nicht darum, ob diese Erscheinungen „objektiv" oder „subjektiv" waren, oder wie man sie psychologisch und religionsphänomenologisch erklären kann. Was die letztere Fragestellung anbetrifft, so gibt es genug Analogien. In Bezug auf die psychologische Frage ist nur sicher, daß das Erfahrene nicht ohne Beziehung zu dem war, was man direkt oder indirekt von Jesus wußte. Im übrigen sind wir ganz auf die Worte der Zeugen angewiesen. Paradoxerweise kommt das unmittelbarste Zeugnis über die Erscheinungen des Auferstandenen von einem Manne, der Jesus selbst nicht gekannt hat, nämlich von Paulus. Aber daß Jesus auch anderen erschienen ist (Petrus, Maria Magdalena, Jakobus), daran wird nicht zu zweifeln sein. Inhalt und Wirkung der Erscheinungen sind entscheidend. Bei Paulus ist es klar, daß es sich um eine Berufungsvision handelt, und auch Berichte der kanonischen Evangelien schließen dieses Mo-
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ment ein. Natürlich ist dabei vorausgesetzt, daß Jesus von N a z a reth, der am Kreuz starb, lebt. Aber das ist kein Faktum, das für Jesus und für sein Schicksal irgendeine Bedeutung hat. N o c h ergibt sich daraus eine eindeutige und einhellige Aussage darüber, wer denn dieser Jesus gewesen sei. D i e Vielzahl der christologischen Würdetitel beweist das Gegenteil. Man sieht die Auferstehung am besten als einen Katalysator, durch den Reaktionen ausgelöst wurden, die zur Mission und zu Gemeindegründungen führten, durch den die Kristallisierung der Tradition über Jesus ermöglicht wurde und durch den Leid und Trauer oder auch H a ß und Ablehnung in Gewißheit und Glauben verwandelt wurden. Einen neuen Inhalt brachte die Auferstehung nicht, aber sie machte für diese ersten Christen alles neu. 3. Die ersten christlichen
Gemeinden
Zum geschichtlichen Ablauf: H. CONZELMANN, Geschichte des Urchristentums, N T D Erg.Rh. 5, 1969, 21-74. H.KÖSTER, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, 1971, 1 1 2 - 1 1 8 u n d 1 9 7 - 2 0 1 ( z u § 8. 3 c : 2 0 8 - 2 1 4 ) .
R. SCROGGS, The Earliest Hellenistic Christianity, Religions in Antiquity (Essays in Memory of E.R. Goodenough), 1968, 176-206. Zur Theologie: R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, 7 1977, 34-186.
H. CONZELMANN, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, 1967, 45-112. F.HAHN, C h r i s t o l o g i s c h e H o h e i t s t i t e l , 3 1 9 6 6 , 6 7 - 1 1 2 u n d 1 7 9 - 2 2 5 .
E. KÄSEMANN, Die Anfänge christlicher Theologie, und: Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, Exegetische Versuche und Besinnungen II, 1964, 82-130. W. KRAMER, Christos Kyrios Gottessohn: Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden, AThANT44, 1963. W.G.KÜMMEL, Kirchenbegriff und Geschichtsbewußtsein in der Urgemeinde und bei Jesus, 21968. K. STENDAHL, Kirche II: Im Urchristentum, RGG'III, 1297-13Ü4. S. SCHULZ, Maranatha und Kyrios Jesus, Ζ N W 53, 1962, 125-144. Ph. VIELHAUER, Aufsätze zum Neuen Testament, ThB31, 1965, 92-198. Zua: F . J . FOAKES JACKSON -
1920, 265-418.
KIRSOPP LAKE, T h e B e g i n n i n g s of C h r i s t i a n i t y I,
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Die ersten christlichen Gemeinden
E.HAENCHEN,
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Apostelgeschichte, KEK, 7 1977, 222-231 (Literatur!).
Zub: Apostelgeschichte, K E K , 7 1 9 7 7 , 262-290 (Literatur!). St. Stephen and the Hellenists in the Primitive Church (The Haskell Lectures), 1958.
E.HAENCHEN,
MARCEL SIMON,
Zuc: Apostelgeschichte, K E K , 7 1977, 350-365 (Literatur!). E . S C H W E I Z E R , Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgern, A T h A N T 2 8 , 2 1 9 6 2 .
E.HAENCHEN,
Zud: Samarien und die Anfänge der christlichen Mission, Vorträge und Aufsätze, 1966, 232-240.
O.CULLMANN,
a) Die älteste Gemeinde in Jerusalem Obgleich das, was in den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte über die Urgemeinde in Jerusalem berichtet ist, zum großen Teil legendarische und idealisierende Züge trägt (vgl. auch o.§7.3c), so sind doch direkt in den paulinischen Briefen und indirekt innerhalb der synoptischen Uberlieferung eine ganze Reihe von Nachrichten erhalten, die sich zu einem ungefähren Bilde zusammenfügen lassen. Vieles bleibt allerdings unsicher, zumal die Jerusalemer Gemeinde in den ersten Jahren nach Jesu Tod weder eine einheitliche Theologie noch eine fest gefügte Organisation gehabt zu haben scheint. Die sich deutlich vom paulinischen Heidenchristentum unterscheidende judenchristliche Gemeinde Jerusalems ist erst von Jakobus in den folgenden Jahrzehnten geschaffen worden. Zur Zeit der paulinischen Mission in Arabien und Antiochien (ca. 35-50 nChr; s.u. §9. lc) waren Petrus (den Paulus meist Kephas nennt), Johannes und der Herrenbruder Jakobus die Führer der Jerusalemer Gemeinde und als die „Säulen" (Gal. 2,9) bekannt. Petrus muß aber Jerusalem bald nach dem Apostelkonzil verlassen haben (s.u. § 9 . 1 d) und Johannes scheint andernorts als Missionar tätig gewesen zu sein; denn die Gemeinden, die sich später auf ihn beriefen, hatten mit Jerusalem keine unmittelbare Verbindung (s.u.§ 10. Ja). Als Paulus Mitte oder Ende der fünfziger Jahre wieder nach Jerusalem kam, war Jakobus der unumstrittene Führer der Gemeinde. Er erlitt im Jahre 62 nChr das Martyrium. Kurz darauf, unmittelbar vor Ausbruch des jüdischen Krieges (s.o. § 6 . 6 t ) , ist die Jerusalemer Gemeinde ausgewandert, wahrscheinlich nach Pella am Jordan.
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Vieles spricht dafür, daß sich die Christen in Jerusalem zunächst als Sondergruppe innerhalb des jüdischen Kultverbandes verstanden. Sie nahmen am Tempelkult teil, übten die Beschneidung und hielten sich an die jüdischen Speisegebote. Sie unterschieden sich aber radikal von den übrigen Juden Jerusalems durch ihr enthusiastisches Bewußtsein des Geistbesitzes, d.h. des Gottesgeistes, der am Ende der Zeiten ausgegossen werden sollte, in Zungen reden ließ, die Gabe der Prophetie brachte, Wunder wirkte und die Glieder der Gemeinde gewiß machte, daß sie zu den Erwählten des Gottesreiches gehörten. Die Pfingsgeschichte (Apg. 2,1 ff) stammt in ihrer ursprünglichen Form aus der Gemeinde Jerusalems und ist das wichtigste Zeugnis ihres Selbstbewußtseins. Das überwältigende Erlebnis der Geistausgießung und seine Auslegung als eschatologisches Ereignis muß diese ersten Christen dazu geführt haben, sich vorläufige („vorläufig" angesichts des erwarteten Kommens der Gottesherrschaft!) Strukturen zu geben, die der eschatologischen Erfahrung entsprachen. Dafür gibt es eine Reihe von Zeugnissen. Die Jünger, soweit sie geflohen waren, kehrten nach Jerusalem zurück und ein Zwölferkreis wurde gebildet, und zwar waren diese Zwölf nicht Apostel oder Gemeindeleiter, sondern die Repräsentanten der zwölf Stämme des endzeitlichen Israels (erst später, vor allem bei Lukas, wurden die „Zwölf Apostel" zu einer Art Ober-Presbyterium der gesamten Kirche gemacht). Die von Johannes dem Täufer her bekannte Praxis der eschatologischen Taufe Jesus selbst hat offenbar die Taufe nicht geübt - wurde sehr bald aufgenommen. Durch die Taufe „im Namen Jesu" wurde man als Eigentum des kommenden Herrn versiegelt und erhielt als Unterpfand den Geist. Das gemeinsame Mahl, das Jesu schon während seines Erdenlebens mit den Seinen gefeiert hatte, wurde als eschatologisches Gemeindemahl weiter geübt. Hier vergewisserte sich die Gemeinde der kommenden Gemeinschaft mit dem wiederkehrenden Jesus im Reiche Gottes. So wurde dieses Mahl, das natürlich eine volle Mahlzeit war, ganz ähnlich wie zuvor schon bei den Essenern am Toten Meer, ein messianisches Mahl. Von den verschiedenen Elementen, die in der Uberlieferung vom Herrenmahl erhalten sind, wird man die folgenden vielleicht der Jerusalemer Urgemeinde zuweisen können: die eschatologischen Worte aus dem Einsetzungsbericht (Mk. 14,25); Mahlgebete, die jüdischen Vorbildern folgten, aber eschatologisch ausgedeutet wurden, also etwa denen von Did. 9-10 ähnlich waren (s.u.§ 10.1c): beim Wein und beim
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Brot (in dieser Reihenfolge!) blickte man aus auf die Versammlung aller Auserwählten im Reiche Gottes; der Wein ist das Symbol des Messias, der heilige Weinstock Davids (Did. 9); das Brot symbolisiert die Gemeinschaft aller, die daran teilhaben (ebenda; vgl. auch l . K o r . 10,16-17); die Betonung von Jubel und Festfreude als äußere Zeichen der Mahlfeier (Apg.2,46); der liturgische Ruf „ H e r r , k o m m ! " (Bei Paulus l . K o r . 16,22 und in der Didache 10,6 noch auf Aramäisch überliefert: „ M a r a n atha!" vgl. O f f b . 22,10). In dieser Gemeinde haben auch die ältesten christologischen Titel ihren Ursprung. Mit dem Titel „ H e r r " und wahrscheinlich auch mit dem Titel „Messias/Christus" wird Jesus als der kommende Erlöser bezeichnet. „ H e r r " ist in seiner aramäischen Form „ M a r a n " in der ältesten greifbaren Liturgie des Gemeinschaftsmahles verankert und als solcher Titel des erwarteten Erlösers. „Messias" ist in seiner griechischen Übersetzung in den erhaltenen urchristlichen Schriften fast überall schon zum Eigennamen geworden, so daß man auf einen sehr f r ü h e n Gebrauch dieses Titels schließen kann. Außerdem findet sich der Titel in einer Reihe sehr alter Bekenntnisformeln (z.B. l . K o r . 15,3; vgl. l . K o r . 5,7 u.a.). Diese stammen aber, wenigstens sofern sie sich mit der D e u t u n g des T o d e s Jesu beschäftigen, eher aus der ebenfalls zweisprachigen antiochienischen Gemeinde. In die früheste Zeit gehört vielleicht der Titel „ S o h n Davids" (vgl. die alten Formeln Rom. 1,3 f; 2 Tim. 2,8; ferner „ . . . f ü r den heiligen Weinstock deines Knechtes D a vid" und „ H o s i a n n a dem G o t t Davids" in der eucharistischen Liturgie der Didache). Hingegen kann die Erwartung Jesu als himmlischer „ M e n s c h e n s o h n " nicht ohne weiteres der ältesten Jerusalemer Gemeinde zugeschrieben werden, obgleich auch sie aus dem aramäischen Sprachraum stammt und in den älteren Schichten der synoptischen Spruchüberlieferung bezeugt ist (s.u. § 1 0 . 7 a zur Spruchquelle). Diese Menschensohnerwartung deckt sich nicht mit der H o f f n u n g auf das K o m m e n Jesu als Messias und H e r r ; denn der Menschensohn wird anfänglich als eine Gestalt des himmlischen Hofstaates gesehen, die eigenartig von Jesus unterschieden ist, so daß manche Menschensohnworte im M u n d e Jesu von dem Menschensohn in der dritten Person reden (vgl. Luk. 17,24; Mk. 8,38). Es handelt sich hier um Prophetensprüche, die z w a r eine Verbindung zwischen Jesus und dem himmlischen Menschensohn z u m Ausdruck brachten, aber beide nicht einfach identifizierten. G e h ö r t die Messiaserwartung in die Jerusalemer Gemeinde, so
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wird die Menschensohnerwartung in anderen Gemeinden aramäischer Sprache in Palästina oder Syrien entstanden sein. Vom Leiden, Sterben und Auferstehen des Menschensohnes reden erst die von Markus geschaffenen Leidensankündigungen (Mk. 8,31; 9,31; 10,33; s.u.§ 10.2b). O b sich die theologische Interpretation des Todes Jesu bereits in der Jerusalemer Gemeinde ausgebildet hat, läßt sich nicht mehr feststellen. Jedenfalls hat Paulus aus der antiochenischen Gemeinde eine Reihe von Traditionen übernommen, die eine solche Entwicklung bereits voraussetzen (s.u.§8.3c). Bei dem Versuch, den Sinn des Todes Jesu zu verstehen, sind verschiedene jüdische Opfervorstellungen zur Geltung gekommen. Es findet sich die Anschauung vom Tode Jesu als Versöhnungsopfer, das der häufigen Formel „ f ü r uns" zugrundeliegt und sich auch mit dem Verständnis des Herrenmahles verbunden hat. Daneben steht der Gedanke des Bundesopfers (vgl. l.Kor. 11,25; Hebr. 13,20). Auch als Passah ist der Tod Jesu verstanden worden (l.Kor. 5,7). Schreibt man diese christologischen Entwicklungen wie überhaupt die Ausbildung des Kerygmas von Jesu Tod und Auferstehung der antiochenischen Gemeinde zu, so soll das nicht bedeuten, daß die Jerusalemer Gemeinde davon nichts wußte. Angesichts der vielfachen Verbindungen Jerusalems mit Antiochien sowie mit anderen christlichen Gemeinden Palästinas muß man mit einem regen theologischen Austausch rechnen. Gerade während der ersten beiden Jahrzehnte nach dem Tode Jesu bis etwa zur Zeit des Apostelkonzils muß es in Jerusalem mannigfache Bewegungen und Gruppierungen gegeben haben. Spannungen und Auseinandersetzungen haben nicht gefehlt. Das ist aus den paulinischen Briefen ebenso wie aus den in der Apostelgeschichte verarbeiteten Traditionen deutlich ersichtlich. b) Die Hellenisten und Stephanus Jerusalem war eine Weltstadt. Das ergab sich von selbst aus der Tatsache der jüdischen Diaspora, für die Jerusalem auch in der frühen römischen Kaiserzeit das eigentliche Kultzentrum blieb. Die meisten Diasporajuden hatten sich aber der Sprache und Kultur ihrer Wohnsitze außerhalb Palästinas, an denen sie seit Jahrhunderten lebten, angepaßt (s.o. §5. le). Das hatte sich auch auf Jerusalem selbst ausgewirkt, wo die griechische Sprache unter den Juden ebenso zu Hause war wie das Aramäische. „Hellenisten", d. h. grie-
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chisch sprechende Juden, sind in Jerusalem keine außergewöhnliche Erscheinung gewesen. Der erste bekannte Konflikt innerhalb der christlichen Gemeinde in Jerusalem entstand aus dem Gegensatz zwischen den zumeist aus Galiläa stammenden Anhängern Jesu und „Hellenisten", die Christen geworden waren. Lukas hat in Apg. 6,1-8,3 darüber ältere Überlieferungen erhalten, die er allerdings stark überarbeitete; Widersprüche zwischen dem überlieferten Material und der harmonisierenden Tendenz des Lukas sind deutlich sichtbar. Die „Zwölf" erscheinen als Repräsentanten der ganzen Christengemeinde. Sie sind aber wohl nur die Führer des aramäisch sprechenden Teiles gewesen. Denn ihnen stehen andere Gemeindeführer gegenüber, die den Titel „Diakon" für sich beanspruchen, die jedoch von Lukas als Leute eingeführt werden, denen der tägliche „Dienst" oblag. Wir wissen aber aus 2. Kor. 3,6 und 11,23, daß der Titel „Diakon" für das Amt des Missionars und Predigers gebraucht wurde. Warum ausgerechnet die „Hellenisten" die täglichen Dienstleistungen versehen sollten, ist ohnehin nicht einzusehen. In Apg. 6,5 wird also eine überlieferte Liste geistbegabter hellenistischer Missionare vorliegen, die unter den griechisch sprechenden Juden Jerusalems wirkten. In der Tat wird dann ja auch in Apg. 6,8 f eine solche Wirksamkeit von einem der hellenistischen Diakone, nämlich von Stephanus, berichtet. Die Stephanusrede, Apg. 7,2-53, ist eine lukanische Komposition und kann nicht zur Rekonstruktion der Ansichten des Stephanus und seiner Parteigänger benutzt werden. Aber vielleicht hat die von Lukas benutzte Uberlieferung doch wenigstens den Grund angegeben für den Ausbruch der Verfolgung, die zum Martyrium des Stephanus führte. Eine solche Notiz könnte Apg. 6,11 erhalten sein: Kritik des Moses, also des Gesetzes, und Gotteslästerung (hingegen sieht Lukas Apg. 6,13-14 sowie in der Stephanusrede die Tempelkritik als eigentlichen Grund der Anklage). Die Auseinandersetzung drehte sich dann ursprünglich um die Frage, ob das Gesetz des Mose weiterhin seine Gültigkeit für die Christen haben sollte - eine Frage, die angesichts der Predigt Jesu (vgl. Mt. 5,3 ff) keineswegs unmotiviert war. Bestätigt wird diese Beurteilung der durch Lukas bearbeiteten Uberlieferung durch die Ereignisse nach der Verfolgung. Die Anfänge des gesetzesfreien Christentums gehören also in die Jerusalemer Christengemeinde, haben sich aber dort nicht halten können. Nach der Darstellung des Lukas wurde Stephanus zu einem ordentlichen Prozeß vor das Synhedrium ge-
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bracht, wo ihm sogar die Gelegenheit zu einer ausführlichen Missionspredigt gegeben wurde. Was jedoch aus älterer Uberlieferung bei Lukas noch erhalten ist, spricht eher für einen Akt der Lynchjustiz (vgl. Apg. 7,54.57.58a.59). Den jüdischen Behörden stand zu jener Zeit die Blutgerichtsbarkeit ohnehin nicht zu. Daß Saulus/ Paulus an dieser Verfolgung einen Anteil hatte, muß füglich bezweifelt werden, obgleich Lukas davon berichtet (Apg. 7,58b); denn Paulus hat zwar die Christen verfolgt, sagt aber, daß er der Gemeinde in Judäa vor seiner Berufung und noch mehrere Jahre danach persönlich unbekannt gewesen sei (Gal. 1,22). Doch hat diese Verfolgung noch vor dem Zeitpunkt der Bekehrung des Paulus stattgefunden, f ü r den man bereits Gemeinden in Damaskus und Antiochien - von den verfolgten „Hellenisten" gegründet voraussetzen muß. Es war die im Zusammenhang mit dem Martyrium des Stephanus stattfindende Verfolgung, durch die diese Hellenisten aus Jerusalem vertrieben wurden und an anderen Orten christliche Gemeinden gründeten. Uber die Rolle des Petrus, Jakobus und Johannes und der „Zwölf" bei der Verfolgung des Stephanus wird nichts gesagt. Es scheint, daß sie nicht von dieser Verfolgung betroffen waren. N u r von den Hellenisten wird berichtet, sie seien vertrieben worden. Philippus ging nach Samarien (Apg. 8,1 ff), andere nach Antiochien, zu denen sich auch Barnabas gesellte (Apg. 11,19 ff), der als ein Diasporajude aus Cypern bereits Mitglied der Gemeinde Jerusalems war (Apg. 4,36). c) Die Gemeinde Antiochiens War die Gesetzesfreiheit bereits von hellenistischen Judenchristen in Jerusalem gefordert worden, so bot eine nicht von den jüdischen Tempelbehörden beherrschte Stadt wie Antiochien, eine der Metropolen des Ostens, die Gelegenheit zum Aufbau einer gesetzesfreien Christengemeinde und eröffnete damit den Weg zur Heidenmission. Für die heidenchristlichen Gemeinden, die aus der Tätigkeit des Barnabas, des Paulus und anderer Missionare hervorgingen, wurde Antiochien und seine Christengemeinde zum Wegbereiter und Vorort. Apg. 11,19 ff hat darüber eine ältere Überlieferung erhalten, in Apg. 13,1 f findet sich eine Liste der antiochenischen Propheten und Lehrer, und schließlich hat Paulus selbst eine Notiz hinterlassen, die besagt, daß er von Antiochien aus mehr als ein Jahrzehnt in Cilicien und Syrien gewirkt hat (Gal. 1,21). Da das
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Apostelkonzil 14 oder sogar erst 16-17 Jahre nach der Berufung des Paulus stattfand (das ergibt sich aus der Berechnung der Daten aus Gal. 1 und 2; s.u. §9. lh und c) und da die Gemeinde in Antiochien noch vor der Berufung des Paulus gegründet wurde, ergibt sich als spätestes Gründungsjahr 35 nChr, da man das Apostelkonzil in das Jahr 49 oder 50 nChr datieren muß. Zwischen dem Tode Jesu und dem Beginn der gesetzesfreien Heidenmission liegen also nur wenige Jahre. Zur Rekonstruktion von Lehre und Praxis der antiochenischen Gemeinde sind die paulinischen Briefe von hervorragender Bedeutung, da anzunehmen ist, daß die von Paulus zitierten und verwendeten Uberlieferungen im wesentlichen auf diese Gemeinde zurückgehen, in der er so lange gewirkt hatte. Wenn man also vom Kerygma der hellenistischen Gemeinde vor Paulus redet, dann ist in erster Linie Antiochien gemeint. Im Mittelpunkt des Kerygmas dieser Gemeinde stand die Verkündigung Jesu als des Gekreuzigten und von Gott Auferweckten. Lukas' Bericht Apg. 11,26, daß die Jünger erstmals in Antiochien „Christen" genannt wurden, ist zwar anachronistisch, da Paulus diese Bezeichnung noch nicht kennt. Aber man darf mit großer Sicherheit die Bezeichnung der Botschaft als „Evangelium" auf die Gemeinde in Antiochien zurückführen. Dieser Begriff hat seinen Ursprung weder in der Botschaft Jesu, noch in der aramäisch sprechenden Gemeinde. Er stammte aus einer griechisch sprechenden Umwelt und bedeutete hier im allgemeinen Sprachgebrauch einfach „Botschaft", „Nachricht". Ein technischer Gebrauch ist außerhalb der christlichen Gemeinden nicht nachzuweisen. Der Begriff erscheint seit jener Zeit gelegentlich in Kaiserinschriften (erstmals 9 vChr in Priene: „Der Geburtstag des Gottes war der Anfang der ,Evangelien' von ihm ... "), aber auch hier können irgendwelche Botschaften gemeint sein. Doch ist es nicht ausgeschlossen, daß die Christen ihren eigenen technischen Gebrauch des Wortes in Analogie oder im Gegensatz zum Kaiserkult gebildet haben. Bald hat man aber auch eine Verbindung zum Vorkommen des Verbs „verkündigen" im griechischen Text des Deutero-Jesaja hergestellt (vgl. das Zitat von Jes. 52,7 in Rom. 10,15). Die Ausbildung der ältesten Evangelienformeln - Paulus zitiert eine solche Formel als „Evangelium" in l.Kor. 15,1 ff - fällt in die Frühzeit der Gemeinde Antiochiens; denn Paulus hat dieses „Evangelium" bereits als Tradition empfangen. Im Zentrum steht nicht
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mehr das für die Zukunft erwartete Kommen Jesu, sondern das bereits geschehene Ereignis von Kreuz und Auferstehung wird als Wendepunkt der Zeiten verkündigt. Entsprechend ist auch das H e r renmahl konsequent als Vergegenwärtigung dieses eschatologischen Heilsereignisses verstanden. Die Teilnahme an dem „einen Brot" läßt nicht allein auf die künftige Sammlung aller Glaubenden im Reiche Gottes ausblicken, sie ist auch Teilhabe an dem einen Leib des Gekreuzigten in der Gegenwart. Ebenso wird der Kelch Zeichen der gegenwärtigen Teilnahme am neuen Bund, den Jesus durch sein Blut gestiftet hat. Die Ausbildung der „Einsetzungsworte" in der l . K o r . 11,24-25 zitierten Form beruht auf diesem Verständnis des Herrenmahles. Ebenso ist schon in Antiochien weiter über die Bedeutung des Todes Jesu reflektiert worden. Traditionen wie die in Rom. 3,25 f; 4,25; Gal. 1,4 zitierten geben dafür Zeugnis. Uber die Organisation der antiochenischen Gemeinde wissen wir aus Apg. 13,1-2, daß es dort Propheten und Lehrer gab, sicherlich auch das Amt des Apostels (in der aus Syrien stammenden alten Kirchenordnung Did. 11-13 erscheinen Apostel, Propheten und Lehrer nebeneinander). Paulus hat sich auch schon in seiner antiochenischen Zeit als Apostel verstanden. Gegenüber Jerusalem war die Gemeinde ohne Zweifel selbständig. Es hat mehr als ein Jahrzehnt gedauert, bis Paulus und Barnabas nach Jerusalem gingen, um in der kontroversen Gesetzesfrage eine Ubereinkunft zu finden (s.u.§9./d). Die Haupttätigkeit dieser aus Juden und Heiden bestehenden Gemeinde war die Heidenmission, und zwar nicht nur in Antiochien selbst, sondern auch an anderen Orten Syriens und Ciliciens. Zwar ist Apg. 13-14 eine idealisierende Darstellung einer Missionsreise des Barnabas und Paulus; sie entspricht aber doch den tatsächlichen missionarischen Anstrengungen dieser Gemeinde. Dabei ist typisch, daß die Mission so organisiert war, daß sie von einer der wirtschaftlichen und politischen Metropolen ausging. Dieses Modell wurde für die paulinische Mission in Kleinasien und Griechenland vorbildlich. d) Andere christliche Gemeinden in Ost und West Zur Zeit der Gründung der antiochenischen Gemeinde müssen noch andere christliche Gemeinden entstanden sein. Zum Teil mag das auf die Tätigkeit der aus Jerusalem vertriebenen Hellenisten zurückgehen, so im Falle Samariens (Apg. 8,5). Beruht der Bericht
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Apg. 9,32-41 auf älterer Tradition, so ergibt sich, daß Petrus unter den Juden anderer Städte Palästinas Mission getrieben hat, in dieser Geschichte in Joppe (heute ein Teil Tel-Avivs). Der Bericht vom Beginn der Heidenmission durch Petrus in Cäsarea ist jedoch legendär. Mk. 16,7 könnte darauf hinweisen, daß es auch in Galiläa schon seit der Frühzeit christliche Gemeinden gegeben hat, die sich auf die Erscheinung des Auferstandenen beriefen. Luk. 6,17 spricht von Leuten, die aus der Paralios, dem Küstenstreifen von Tyros und Sidon, zu Jesus kamen; weist das darauf hin, daß es dort Gemeinden gab, die für ihre Gründungsüberlieferung an die Wirksamkeit Jesu anknüpften? Eine Gemeinde in Damaskus bestand schon vor der Berufung des Paulus (vgl. Apg. 9,1 ff; auch 2.Kor. 11,32), und Paulus hat von hier aus seine Wirksamkeit in Arabien begonnen (Gal. 1,17). Wann die christliche Mission über die Grenzen des westsyrischpalästinischen Raumes hinausgegangen ist, läßt sich nur in Bezug auf die paulinische Mission und ihre Konkurrenten hinsichtlich Kleinasiens, Makedoniens und Griechenlands sagen. Diese Ausbreitung fällt in das 6.Jahrzehnt des 1 .Jh. Uber die Gründung der römischen Gemeinde wissen wir nichts, aber sie muß schon vor dieser Zeit entstanden sein (vgl. den paulinischen Römerbrief, der die Existenz einer einflußreichen christlichen Gemeinde in Rom bereits voraussetzt). Höchstwahrscheinlich geht diese Gemeinde auf die weltweiten Verbindungen von Diasporajuden zurück, die Christen geworden waren. Ähnlich muß man sich auch die Verhältnisse denken, aus denen die Gemeinden in der Kyrenaika, auf Cypern (vgl. Apg. 11,20, wo Prediger erwähnt werden, die von dort stammten) und wohl auch in Alexandrien entstanden sind, obgleich Nachrichten von diesen Gemeinden erst aus späterer Zeit erhalten sind. Auch über den Osten Syriens ist aus der Frühzeit nichts unmittelbar überliefert. Aber die späteren Nachrichten und die dort verwendeten Überlieferungen lassen vermuten, daß auch hier schon in der frühesten Zeit des Christentums Missionare gewirkt haben. In den später in Ostsyrien entstandenen Schriften (vgl. das koptische Thomasevangelium, die Oden Salomos, aber auch die irgendwo in Syrien entstandene Spruchquelle) zeigt sich keinerlei Abhängigkeit von der antiochenisch-paulinischen Tradition. Ebenfalls waren die Kreise, aus denen das Johannesevangelium hervorgegangen ist, irgendwo im syrischen Raum zu Hause (s.u. §10.3a), aber in ihren Anfängen nicht von Antiochien abhängig.
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So fragmentarisch das Gesamtbild auch bleibt, es ist doch deutlich, daß eine sehr mannigfaltige und keineswegs einheitliche Ausbreitung des Christentums in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach dem Tode Jesu stattfand. Die paulinische Mission, die einzige, über die wir nähere Informationen besitzen, ist dann nur ein kleiner Ausschnitt aus dieser Expansion, so wichtig und folgenreich sie auch für die spätere Zeit gewesen sein mag. In der folgenden Darstellung wird aber auch versucht werden, den von dieser Mission zunächst unabhängigen Entwicklungen christlicher Gemeinden und Gruppen jeweils nachzugehen.
§9 PAULUS
F.C.BAUR, Paulus, der Apostel Jesu Christi, 1866-67, Neudruck 1968. A.SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus, 1930 (dazu W.G.KÜMMEL, Albert Schweitzer als Paulusforscher, in: Gerechtigkeit, Festschrift für E. Käsemann zum 70. Geburtstag, 1976, 169-289). U.LUCK und Κ. H. RENGSTORF (Herausgeber), Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, WdF24, 2 1969. B. RIGAUX, Paulus und seine Briefe, BiH2, 1964. G. BORNKAMM, Paulus, UB, 1969 (gut lesbare Gesamtdarstellung). Zur paulinischen Theologie: Vgl. die Darstellungen in den Theologien des Neuen Testaments von R . BULTMANN, H.CONZELMANN u n d J.JEREMIAS. E . KÄSEMANN, D e r R u f d e r F r e i h e i t ,
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1972.
Zur Einführung in ausgewählte Einzelfragen: Die Begründung kirchlicher Entscheidungen beim Apostel Paulus, Aus der Frühzeit des Christentums, 1963, 30-80. W.D.DAVIES, Paul and Rabbinic Judaism: Some Rabbinic Elements in Pauline Theology, 1965. E. R. GOODENOUGH - Th.A. KRAABEL, Paul and the Hellenization of Christianity, Religions in Antiquity (Essays in Memory of E.R. Goodenough), 1968,23-68. E.BRANDENBURGER, Fleisch und Geist: Paulus und die dualistische Weisheit, WMANT29, 1968. H . V O N CAMPENHAUSEN,
1. Paulus bis zum
Apostelkonzil
Zua: U.WILCKENS, Die Bekehrung des Paulus als religionsgeschichtliches Problem, ZThK56, 1959, 273-93. Zuc: E.HAENCHEN, Apostelgeschichte, ΚΕΚ, 7 1977, 73-84. D.GEORGI, Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, ThF38, 1965,91-96. K. LAKE, The Chronology of Acts, The Beginnings of Christianity (hg. von F.J.FOAKES JACKSON und K.LAKE) V, 1932, 445-474. R. JEWETT, A Chronology of Paul's Life, 1979 (Literatur!).
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Paulus
§9
Zud: D.GEORGI, Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, ThF 38, 1965, 13-30. E. HAENCHEN, Apostelgeschichte, K E K , 71977, 4 2 3 - 4 5 6 . G. KLEIN, Galater 2,6-9 und die Geschichte der Jerusalemer Gemeinde, Rekonstruktion und Interpretation, 1969, 99-128.
a) Herkunft und Erziehung An mehreren Stellen, jedesmal durch seine Gegner dazu veranlaßt, nimmt Paulus auf seine Herkunft und vorchristliche Lebenszeit Bezug, am ausführlichsten Phil. 3, 5-6 (vgl. 2. Kor. 11,22; Rom. 11,1; Gal. 1,14; 2,15). Danach stammte Paulus aus einer jüdischen Familie aus dem Stamme Benjamin, war am achten Tage beschnitten worden, streng jüdisch erzogen und hatte sich der Sekte der Pharisäer angeschlossen. Ohne Zweifel Schloß das eine formelle Ausbildung in der Auslegung des Gesetzes wie des Alten Testamentes überhaupt ein. Darüber hinaus ergibt sich aus den paulinischen Briefen, daß Paulus hellenistischer Jude war, der in einer Umwelt aufgewachsen sein muß, in der das Griechische die normale Umgangssprache war. Die paulinischen Briefe zeigen außerdem einen Grad der Beherrschung des Griechischen und eine Kenntnis popularphilosophischer Anschauungen und rhetorischen Könnens, die auf eine griechische Schulbildung schließen lassen, und zwar in der Tradition der damals weit verbreiteten kynischstoischen Diatribe (vgl. oben §4.2a). Diese Nachrichten und Rückschlüsse aus den Briefen sind wertvoll, aber dürftig. So ist es verständlich, daß man aus der Apostelgeschichte weiteres Material in dieses Bild einzutragen gewohnt ist. Jedoch muß man hierbei mit größter Vorsicht verfahren. Daß der jüdische Name des Paulus „Saul" gewesen sei, wie Apg. 7,58; 8,1 u.ö. berichtet wird, ist nicht unwahrscheinlich, da Diasporajuden oft einen griechischen oder römischen Namen wählten, der im Klange ihrem jüdischen Namen verwandt war. Aber Paulus selbst nennt sich in den Briefen immer nur mit dem römischen Namen Paulus. Hat Paulus tatsächlich auch einen jüdischen Namen gehabt, so darf man den Namenswechsel keinesfalls mit seiner Bekehrung in Verbindung bringen. Die Apostelgeschichte will auch wissen, daß Paulus aus der cilicischen Stadt Tarsus stammte, einer wichtigen Handelsstadt an der Durchgangsstraße von Anatolien nach Syrien, die auch ein gewisses kulturelles Niveau hatte (Apg.
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9,11; 21,39; 22,3). An sich ist das denkbar; man fragt sich aber, warum Paulus, der als Handwerker ja einen weltlichen Beruf ausübte, sich bei seiner Berufung in Damaskus aufhielt und zunächst auch mehrere Jahre nach seiner Berufung dort blieb. Manche Züge seiner Theologie, wie ζ. B. die stark ausgeprägte apokalyptische Erwartung - sicherlich ein jüdisches Erbe, das er nicht erst von den Christen übernahm - , fügen sich besser in ein Milieu, das nicht so ausgeprägt hellenistisch war, wie man das von Tarsus annehmen muß. Daß Paulus das römische Bürgertum von seinem Vater ererbt hatte (Apg.22,25-29), ist kaum glaublich; denn den vielfachen Bestrafungen, die er nach eigener Aussage (vgl. 2. Korr. 11,24 f) erlitten hatte, hätte sich ein römischer Bürger wohl entziehen können, wie es der Paulus der Apostelgeschichte (22,25 ff) tatsächlich tut. Daß Paulus nach seiner Gefangennahme vor Festus an den Kaiser appelliert (Apg. 25,10-12), beweist nichts für seinen Besitz des römischen Bürgerrechts; denn an den Kaiser appellieren konnte jeder freie Einwohner des römischen Reiches. Übrigens ist zu bedenken, daß in den ersten Jahrzehnten der römischen Kaiserzeit das Bürgerrecht noch nicht so häufig verliehen wurde wie später. Schließlich gibt die Apostelgeschichte noch an, daß Paulus in Jerusalem aufgewachsen sei und dort unter dem berühmten Gamaliel I. studiert habe (Apg. 22,3). Die erstere Nachricht ist unglaubwürdig; so wird man der zweiten auch nur geringes Vertrauen entgegenbringen. Es ist freilich nicht auszuschließen, daß Paulus vor seiner Berufung in Jerusalem war und sich auch länger dort aufhielt (Gal. 1,22 spricht nicht unbedingt dagegen), und es muß offen bleiben, ob und wo Paulus außerhalb Jerusalems eine formelle pharisäische Ausbildung erhalten konnte. So trägt die Apostelgeschichte zum Bild von der Herkunft und Erziehung des Paulus wenig bei. Die Angaben der Briefe lassen deutlich genug einen Mann in Erscheinung treten, der als hellenistischer Diaspora-Juda eine gute griechische Bildung besaß, den jedoch als Pharisäer ein tiefer religiöser und sittlicher Ernst beseelte, für den strenge Gesetzesbefolgung und persönlicher Einsatz für die Bewahrung der Traditionen der Väter eine Selbstverständlichkeit war. b) Die Berufung Der Eifer um das jüdische Gesetz hat Paulus zum Verfolger der Christen gemacht. Paulus sagt das wiederholt (Gal. 1,13.23; l.Kor.
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15,9; Phil. 3,6). Wie sich seine Tätigkeit als Christenverfolger abspielte, läßt sich nur vermuten; auch hier sagt die Apostelgeschichte mehr, als glaubwürdig ist. Paulus' Anwesenheit bei der Steinigung des Stephanus ist wegen Gal. 1,22 ausgeschlossen (Apg.7,58). Apg. 8,3 ist aus dem gleichen Grunde unhistorisch, folglich auch Apg. 26,10 f. Die Christenverfolgung des Paulus muß sich also auf eine Situation außerhalb Jerusalems, und wohl überhaupt außerhalb Palästinas beziehen. Es ist auch undenkbar, daß Paulus mit entsprechenden Briefen des Hohenpriesters ausgerüstet Christen aus Orten außerhalb Palästinas zur Bestrafung nach Jerusalem bringen konnte. Eine solche Jurisdiktionsgewalt stand weder dem Hohenpriester, noch dem Jerusalemer Synedrion zu. So muß man annehmen, daß Paulus die Christen an dem Ort verfolgte, an dem er ansässig war, und daß sich solche Verfolgung so vollzog, daß Mitglieder jüdischer Synagogen, die Christen geworden waren und vielleicht auch innerhalb der Synagogengemeinschaft für die christliche Botschaft warben, den üblichen Synagogenstrafen unterzogen und aus der Synagoge ausgeschlossen wurden. Das mag auch soziale und wirtschaftliche Konsequenzen gehabt haben; vielleicht schwärzte man sie auch bei den örtlichen und den römischen Behörden an. Paulus hat seine Berufungsvision bei Damaskus erlebt (Apg.9,3ff; bestätigt durch Gal. 1,17; 2.Kor. 11,32f). Da man sich Paulus schwerlich als umherziehenden hauptamtlichen Christenverfolger vorstellen kann, war er demnach zu jener Zeit in oder bei Damaskus ansässig (ob er etwa auch aus Damaskus stammte, wurde im vorigen Abschnitt erwogen). Dort wird er auch mit den Christen und mit der christlichen Botschaft bekannt geworden sein, und zwar mit dem gesetzesfreien Christentum der Hellenisten (s.o.§8.3b und d). Nur so erklärt sich für den gesetzestreuen Paulus der Anlaß für seine Verfolgung der Christen. Ebenso ist mit der Frage der Gültigkeit des Gesetzes der sachliche Inhalt der Berufung des Paulus aufs engste verbunden. Wenn man von „Bekehrung" redet, läuft man Gefahr, den für Paulus entscheidenden Vorgang zu verdunkeln. Denn Paulus hat das, was er hier erfuhr, nicht als Bekehrung, sondern als Berufung verstanden. Das kommt auch noch in dem späteren, im Stil einer Berufungslegende abgefaßten Bericht des Lukas (Apg. 9,3 ff; 22,3 ff; 26,9 ff) zum Ausdruck, nur daß hier der eigentliche Sendungsauftrag nicht unmittelbar an Paulus ergeht, sondern durch
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Hananias übermittelt wird (Apg.9,15). Dadurch soll klar gemacht werden, daß der Auftrag zur Mission durch die Gemeinde legitimiert war und daß Paulus zunächst einmal zu einem ordnungsgemäß getauften Christen gemacht wurde (Apg. 9,19). In der Tat ist Paulus sicher auch getauft worden; er schließt sich selbst immer in die Gemeinde der Getauften ein. Doch hatte die Taufe für ihn nicht die Bedeutung eines persönlichen Bekehrungserlebnisses, sondern ihr Inhalt war die Hereinnahme in die Gemeinschaft der Erwählten, die die Gabe des Geistes empfangen hatten und deren Schicksal von Tod und Auferstehung Christi bestimmt wurde (vgl. 1.Kor. 12, 12-13; R o m . 6 , I f f ) . Das entscheidende Ereignis blieb für Paulus, daß Christus sich ihm offenbart hatte und zum Apostel der Heiden bestimmte. Diese Erscheinung Christi, die ihn zum Apostel machte (1. Kor. 9,1), stellte er den Auferstehungserscheinungen gleich (1.Kor. 15, 5-8) und charakterisierte sie ausdrücklich als Offenbarung (Gal. 1,15-16), beschrieb sie also als eschatologisches Ereignis, das zum Heilsgeschehen hinzugehört. Der Inhalt dieses eschatologischen Ereignisses, Paulus' Berufung zur Heidenmission, bestimmte auch die Wende in der persönlichen Stellung des bisher gesetzestreuen Juden zum Gesetz. War mit der Auferstehung Jesu die Heilszeit angebrochen und war er, Paulus, vom Auferstandenen berufen, diese Botschaft allen Völkern zu bringen, so war das Gesetz in seiner Gültigkeit zu Ende gekommen. Von nun an mußte das von Gott seinem Volke einst auferlegte Werk der Erfüllung des Gesetzes als Widerstand gegen den Willen Gottes erscheinen. Unter diesem Gesichtspunkt spricht Paulus auch einmal von der Bedeutung dieser Berufung für seine eigene persönliche religiöse Erfahrung (Phil.3,5ff). Dabei wird klar, daß er auf seine Vergangenheit unter dem Gesetz keineswegs als Zeit persönlichen und allgemein menschlichen Unvermögens, die Forderungen des Gesetzes zu erfüllen, zurückblickt. Im Gegenteil, er weiß von sich zu sagen, daß er in Bezug auf die Erfüllung des Gesetzes untadelig gewesen sei! Die Existenz unter dem (durchaus erfüllbaren) Gesetz verfällt vielmehr deshalb dem Urteil „Dreck", weil ein neuer Anspruch an seine Stelle getreten ist, der den ganzen Menschen fordert: „in Christus" zu sein. Die Implikationen dieses Seins „in Christus" sind aber solcher Art, daß sie nicht nur theologisch, sondern auch im Blick auf moralische, soziale und kulturelle Fragen der Ausrichtung des Lebens durch das Gesetz widersprechen. Damit ist auch das, was die Berufung per-
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sönlich für Paulus bedeutet hat, zu einer grundsätzlichen Einsicht in die durch das Heilsereignis gestiftete neue Existenz des Menschen geworden. c) Erste Periode der Mission; Chronologie des Paulus Aus der ersten Periode der Mission des Paulus sind keine unmittelbaren Zeugnisse erhalten. Nicht ein einziger der paulinischen Briefe läßt sich mit Wahrscheinlichkeit in die Zeit der paulinischen Mission vor dem Apostelkonzil datieren. Manche Gelehrte haben angenommen, daß die galatische Mission zu einer von Antiochien ausgehenden Missionsreise gehört und daß der Galaterbrief entsprechend zu einem früheren Zeitpunkt geschrieben sein könnte. Diese Annahme hat jedoch Schwierigkeiten (s. u. zur sogenannten südgalatischen Hypothese, §9.3b). Ebenso ist der Bericht der Apostelgeschichte über die Missionstätigkeit des Paulus vor dem Apostelkonzil legendarisch (Apg. 13-14). Wir sind also ganz auf die spärlichen Informationen von Gal. 1,17-2,1 angewiesen. Danach hat Paulus zunächst drei Jahre in „Arabien" Mission getrieben, d.h. in Damaskus und seiner Umgebung und in den südlich angrenzenden Gegenden. Dann ist er zu einem persönlichen Besuch bei Petrus nach Jerusalem gegangen, wo er zwei Wochen blieb und auch Jakobus kennenlernte. Das war der einzige Besuch in Jerusalem vor dem Apostelkonzil. Die Apg. 11,27-30 berichtete Sendung des Barnabas und Paulus „zu den Brüdern in Judäa" zur Zeit einer Hungersnot unter Claudius ist also legendär; denn mit einer Reise zum Apostelkonzil kann man ihn nicht harmonisieren. Das nächste Stadium war nach Gal. 1,21 eine Missionsperiode in Syrien und Cilicien. Daß Paulus während dieser Zeit sein Hauptquartier in Antiochien hatte, muß als wahrscheinlich gelten; denn nach Gal. 2,1 ging er mit Barnabas nach Jerusalem zum Apostelkonzil, und nach Gal. 2,11 war er in Antiochien, als sich der Zwischenfall mit Petrus ereignete. Aber ob Barnabas den Paulus aus Tarsus dorthin geholt hatte (Apg. 11,25 f) und ob Paulus als Begleiter des Barnabas mit diesem Missionsreisen unternahm, wie Apg. 13-14 es darstellt, muß dahingestellt bleiben. Zuverlässig ist die Apg. 13,1 überlieferte Liste der Propheten und Lehrer Antiochiens, unter denen sowohl Barnabas als auch Paulus genannt werden. Paulus gibt diese Zeit mit „14 Jahren" an (Gal.2,1). Fraglich ist dabei, ob das von der Berufung an gerechnet werden muß, also die Tätigkeit in Arabien einschließt, oder ob es sich an diese anschließt. Eine wei-
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tere Unsicherheit entsteht dadurch, daß nach damaligem Brauch bei Zeitangaben angefangene Jahre mitgerechnet wurden. „Drei J a h r e " mögen also nur wenig über zwei Jahre gewesen sein, „14 J a h r e " nur wenig über 12 Jahre. Je nachdem, ob man die drei Jahre in die 14 Jahre einrechnet oder sie zu diesen hinzuzählt, haben wir es mit einem Zeitraum von mindestens 12 und höchstens 17 Jahren zu tun. Am Ende dieses Zeitraums steht das Apostelkonzil und nach ihm beginnt die Periode der unabhängigen Mission des Paulus, aus der die von ihm überlieferten Briefe stammen. Eine Diskussion der paulinischen Chronologie ist an diesem Punkte unerläßlich. Einige Fragen der folgenden Abschnitte müssen dabei vorweggenommen werden. Außerdem ist zu bemerken, daß zwar die Apostelgeschichte die Tätigkeit des Paulus in der Form von Missionsreisen beschreibt - ganz unhistorisch, da Paulus seine Mission offenbar von bestimmten Stadtzentren aus betrieb - , daß man aber dennoch auf die in solchen Zusammenhängen angegebenen Daten der Apg. zur Feststellung der Chronologie nicht ganz verzichten kann. Gehen wenigstens einige Daten auf eine zuverlässige Quelle der Apg., den ,,Wir-Bericht", zurück (s.o. §7.3c), so hat die folgende Rekonstruktion einige Wahrscheinlichkeit. Entscheidend f ü r die paulinische Chronologie ist die Datierung der Tätigkeit des Paulus in Korinth. Nach Apg. 18,12-18 wurde Paulus durch den Statthalter (Prokonsul) Gallio nach l/2jährigem Aufenthalt in Korinth gezwungen, die Stadt zu verlassen. Durch einen glücklichen Zufall ist eine Inschrift aus Delphi erhalten, nach der sich die Statthalterschaft des Gallio auf die Zeit vom Frühjahr 51 nChr bis zum Frühjahr 52 datieren läßt (Prokonsuln wurden jeweils f ü r den Zeitraum eines Jahres ernannt, s.o. §6. 2a). Also ergibt sich als frühestes Datum f ü r die Vertreibung aus Korinth das Frühjahr oder der Sommer des Jahres 51 nChr, als spätestes Datum das Frühjahr 52. Aus im nächsten Abschnitt zu besprechenden Gründen wird man das zweite Datum bevorzugen. Ein zweiter chronologischer Anhaltspunkt ergibt sich vielleicht daraus, daß nach Apg. 24,1 ff, während der Statthalterschaft des Felix, Paulus in Jerusalem gefangen genommen wurde. Nachdem Felix zur Verantwortung nach Rom gerufen und durch Festus ersetzt worden war - Apg. 24,27 spricht hier von einem Zeitraum von zwei Jahren - , appellierte Paulus an den Kaiser und wurde von Festus als Gefangener zur Aburteilung nach Rom geschickt. Könnte
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man die Abberufung des Felix auf einen Termin kurz vor dem Sturz seines Bruders Pallas und der Ermordung des Britannicus im Dezember 55nChr datieren, dann hätte man damit ein Datum für die Uberbringung der Kollekte durch Paulus und seine Gefangennahme in Jerusalem. Die größte Schwierigkeit liegt darin, daß sich die Angaben sowohl der paulinischen Briefe als auch der Apostelgeschichte über die Mission in Kleinasien und Griechenland nicht mit einem so frühen Datum der Gefangennahme in Jerusalem vereinbaren lassen. Man wird daher besser auf dieses ohnehin unsichere Datum verzichten und die Chronologie des Paulus vom Datum der Gallio-Inschrift aus nach vorwärts und nach rückwärts berechnen. Unsicherheitsfaktoren lassen sich dabei nicht ausschließen und einzelne Zeitansätze bleiben kontrovers. Verwirft man jedoch eine Frühdatierung des Apostelkonzils (s.u. §9. 7d), die recht unglaubliche Konstruktionen der paulinischen Chronologie nötig macht, so kann die folgende Zeittafel in den Grundzügen als gut gesichert gelten: 35: 3 5 - 3 8: 38: 38-48: 48: 48/49: 49: 50: 50 50 52
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Bekehrung des Paulus. Missionstätigkeit in Arabien (Gal. 1,17 f). Besuch bei Petrus in Jerusalem (Gal. 1,18). Tätigkeit in Cilicien und Syrien (Gal. 1,21). Apostelkonzil in Jerusalem (Gal. 2,1 ff; Apg. 15). Zwischenfall in Antiochien (Gal.2,11 ff). Mission in Galatien (gegen Apg. 16,6). Mission in Philippi, Thessalonike und Beröa (Apg. 16,1117,14). Herbst: über Athen nach Korinth (Apg. 17,15; 18,1); Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes. Herbst bis 52 Frühjahr: Mission in Korinth (Apg. 18,11). Sommer: Reise nach Antiochien, dann durch Kleinasien nach Ephesus; dabei zweiter Besuch in Galatien (Apg. 18,18-23; vgl. Gal. 4,13). Herbst bis 55 Frühjahr: Mission in Ephesus (Apg. 19,1 ff.8-10.22); Abfassung des Galaterbriefes, des l.Korintherbriefes, außerdem des 2.Kor.2,14-6,13; 7,2-4 erhaltenen Briefes. Zwischenbesuch in Korinth (vorausgesetzt in 2.Kor. 13,1 etc.) Winter: Ephesinische Gefangenschaft; Abfassung der Kor-
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respondenz mit Philippi, des Philemonbriefes und des 2. Kor. 1 0 - 1 3 erhaltenen Briefes. Sommer: Reise durch Makedonien nach Korinth; Abfassung von 2 . K o r . 1 , 1 - 2 , 1 3 und 7 , 5 - 1 6 sowie der Kollektenschreiben 2. Kor. 8 und 9. Winter: Aufenthalt in Korinth; Abfassung des Römerbriefes. Reise nach Jerusalem (Apg.20); Vorbereitungen zur Übergabe der Kollekte ( A p g . 2 1 , 1 5 f f ) ; Gefangennahme des Paulus.
5 6 - 5 8 : Gefangenschaft in Cäsarea. 58: Amtswechsel Felix-Festus; Entsendung des Paulus nach Rom. 58-60: 60:
Römische Gefangenschaft (Apg. 28,30). Martyrium des Paulus.
d) Das Apostelkonzil Als zuverlässige Quelle für das Apostelkonzil, das wahrscheinlich im Jahre 4 8 n C h r stattfand, kommt nur G a l . 2 , 1 - 1 0 in Frage. Die Tradition, die Lukas Apg. 15 benutzte, ist so stark überarbeitet, daß man nur wenig mehr als die Tatsache des Konzils selbst aus ihr entnehmen kann. Die Angaben von Apg. 1 1 , 2 7 - 3 0 beruhen vielleicht auf einer am falschen O r t eingefügten Tradition über die Überbringung der paulinischen Kollekte und sind als Quelle für das Apostelkonzil nicht brauchbar. Zum Verständnis des Apostelkonzils ist es wichtig, sich die Lage der Ausbreitung des Christentums zu jenem Zeitpunkt klarzumachen. Offenbar bestanden damals zwei Zentren christlicher Gemeindebildung, Antiochien und Jerusalem, die jeweils ganz verschieden ausgerichtet waren. Jerusalems Christengemeinde war nach der Vertreibung der Hellenisten ( s . o . § 8 . 3 b ) eine gesetzestreue Gruppe aramäisch sprechender Christen. Sie trieb bis zum Zeitpunkt des Konzils keine Heidenmission (wenn Apg. 10 eine alte Überlieferung wiedergibt, so gehört diese in eine spätere Zeit), erwartete an dem von Gott bestimmten O r t (Jerusalem/Zion) die Ankunft des Herrn und brachte ihr eschatologisches Selbstbewußtsein auch darin zum Ausdruck, daß sie sich als Gemeinde der „ A r m e n " konstituierte (s.o. § 8 . 3 a ) . Hingegen bestand die Gemeinde in Antiochien zum großen Teil aus unbeschnittenen Hei-
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denchristen, d.h. das Gesetz war für sie nicht mehr verbindlich. Griechisch war die Sprache dieser Gemeinde und ihrer weit über Antiochien hinausreichenden Mission. Verband sie mit den Christen Jerusalems die eschatologische Erwartung, so bedeutete das keineswegs, daß man ein eschatologisches Armutsideal übernehmen müsse (s.o.§8.3c). Der Gegensatz in der Frage der Verbindlichkeit des Gesetzes war sicher der Grund für das Zustandekommen des Apostelkonzils. Doch kann man nicht annehmen, daß die Jerusalemer Autoritäten die Konferenz einberufen hätten, um diese Frage zu klären. Denn eine solche Jurisdiktionsgewalt haben die Apostel in Jerusalem niemals besessen. G a l . 2 , l f macht auch klar, daß die Initiative von Antiochien ausging. Die Antiochener wünschten eine Klärung, und sie hatten dafür einen bestimmten Anlaß. Dieser Anlaß ist wohl in den Machenschaften der Gal. 2,4 genannten „falschen Brüder" zu sehen, d.h. in der Aktivität von Judenchristen (nicht „Juden"), die gegen die Gesetzesfreiheit der Heidenchristen Agitation betrieben und dadurch der antiochenischen Mission ernsthafte Schwierigkeiten bereiteten (eine ähnliche judaistische Propaganda sollte etwas später die paulinische Mission in Galatien in Frage stellen, s.u. §9.3b). Paulus und Barnabas wollten als Abgesandte der antiochenischen Christengemeinde die Gemeinsamkeit mit den Jerusalemern herstellen. Es sollte eine kirchliche Einheit geschaffen werden, die trotz der Gegensätze in der Frage des Gesetzes Judenchristen und Heidenchristen verband und den judaistischen Agitatoren das Recht nahm, sich auf die Gesetzestreue der Jerusalemer Judenchristen zu berufen. Der Prüfstein für dieses Abkommen war die Frage, ob der Heidenchrist Titus, den Paulus mitgebracht hatte, als christlicher Bruder anerkannt wurde, ohne daß man darauf bestand, daß er zuvor beschnitten werden müsse. Trotz der Opposition der „falschen Brüder" erkannten die Führer der Jerusalemer Gemeinde, der Herrenbruder Jakobus, Kephas und Johannes die Selbständigkeit und das kirchenbildende Recht der gesetzesfreien Heidenmission an. Auf der anderen Seite sicherten Paulus und Barnabas den Jerusalemern zu, daß sie der besonderen eschatologischen Rolle der „Armen" in Jerusalem eingedenk sein würden, was die Verpflichtung zur Fürbitte und für eine Geldsammlung einschloß. Die sorgfältigen Formulierungen in Gal. 2,1-10 verdeutlichen, daß es sich hier um ein Abkommen gleichberechtigter Part-
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ner handelte. V o n einer Anerkennung der Jerusalemer Autoritäten als einer Art Kirchenregierung kann keine Rede sein. Das Recht, missionarisch zu wirken, wurde dem Petrus ausdrücklich eingeräumt (Gal.2,7f), aber nur unter den Juden. W e m an der Bildung gesetzestreuer Christengemeinden lag - ihr Recht wurde von Paulus nicht bestritten - der sollte mit der Heidenmission nichts zu tun haben. Daß hier Konfliktstoffe f ü r die Z u k u n f t lagen, sollte sich in Antiochien sehr bald zeigen (s.u. §9.2a). Die Verpflichtung zur Geldsammlung f ü r Jerusalem wurde zu einem wesentlichen Bestandteil der paulinischen Mission (s.u.§9.3f).
2. Von Antiochien bis Ephesus lud: The Form Critical Study of Paul's Letters: l.Thessalonians as a Case Study, N T S 2 2 , 1975/76, 140-158. W . G . K C M M E L , Das literarische und geschichtliche Problem des l.Thessalonicherbriefes, Heilsgeschehen und Geschichte, 1965, 406-416. B . A . P E A R S O N , 1 Thessalonians 2:13-16: Α Deutero-Pauline Interpolation, H.BOERS,
HTHR64,
1971,79-94.
a) Der Konflikt in Antiochien Bald nach dem Apostelkonzil in Jerusalem hat Paulus sich von Barnabas und von der antiochenischen Gemeinde getrennt und eine selbständige Missionsarbeit begonnen. Apg. 15,37-39 sieht als Anlaß dieser T r e n n u n g ein Zerwürfnis zwischen Paulus und Barnabas wegen der Mitarbeit des Johannes Markus bei der geplanten gemeinsamen Missionsreise. Lukas erwähnt dabei aber nicht den Konflikt, von dem Paulus in Gal. 2,11-15 berichtet. Wahrscheinlich spielt Paulus hier auf den eigentlichen Grund f ü r seinen Bruch mit Antiochien an. Petrus, der der Heidenmission grundsätzlich positiv gegenüberstand, hatte bald nach dem Apostelkonzil die Gemeinde Antiochiens besucht, vielleicht im Zusammenhang mit dem Beginn seiner eigenen Missionstätigkeit in Palästina und Syrien, f ü r die uns auch sonst Zeugnisse erhalten sind (s.u. § 10.2a). Bei seinem Besuch in Antiochien hatte Petrus zunächst an der Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen teilgenommen (Gal. 2,12), eine deutliche Geste seiner Offenheit und seiner liberalen Haltung gegenüber dem Ritualgesetz. Als aber Abgesandte des Jakobus aus Jerusalem
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nach Antiochien gekommen waren, zog Petrus sich von dieser Tischgemeinschaft zurück. Da die Jakobusleute offenbar Wert auf die Einhaltung der jüdischen Speisevorschriften legten, wollte Petrus diese Gäste nicht in Verlegenheit bringen. Andere judenchristliche Mitglieder der Gemeinde und sogar Barnabas selbst gaben ebenfalls die Tischgemeinschaft mit den heidenchristlichen Gemeindegliedern auf und sonderten sich mit Rücksicht auf die Gäste ab ein Zeichen ihrer Liberalität: wenn die Befolgung des Ritualgesetzes nicht heilsnotwendig ist, dann ist auch nichts dagegen einzuwenden, wenn man sich diesem Gesetz aus Opportunitätsgründen unterwirft. Für Paulus war dies allerdings eine Rückkehr unter das Gesetz, die den Heidenchristen die Gemeinschaft versagte, es sei denn, sie unterwarfen sich selbst dem Gesetz, während diejenigen, die sie dazu zwangen, ja keineswegs konsequent in ihrer Gesetzesbefolgung waren (Gal.2,14). Daher hatte Paulus den Petrus öffentlich angegriffen und zur Rede gestellt. Was den anderen als liberale Geste erscheinen mochte, war für Paulus Heuchelei, die der Furcht entsprang (Gal.2,12). Aus dieser Konfrontation in Antiochien ergaben sich weitreichende Konsequenzen. Es scheint, daß Paulus in dieser von ihm selbst heraufbeschworenen Auseinandersetzung unterlag; sonst hätte er wohl in Gal. 2 auch von dem Ergebnis berichtet. Ist diese Annahme richtig, dann wird hier der Grund dafür liegen, daß Paulus sich von Barnabas trennte und Antiochien verließ, um andernorts seine eigene Missionsarbeit zu beginnen. Außerdem scheint dieser Zwischenfall Paulus auch dazu gebracht haben, die Frage der Gesetzeserfüllung schärfer zu fassen. Hatte das Jerusalemer Ubereinkommen den Judenchristen noch zugestanden, daß es ihr gutes Recht sei, die Gesetzeserfüllung ernst zu nehmen, so formuliert Paulus in der Folge des antiochenischen Zwischenfalls diese Frage anders: Gerade für den Juden kommt es darauf an zu erkennen, daß niemand aus Werken des Gesetzes gerechtfertigt wird (Gal. 2,15-21). Aus der Auseinandersetzung mit Petrus war klar geworden, daß liberale Duldung einer religiösen Konvention, wie des jüdischen Ritualgesetzes, die Einheit der Gemeinde gefährden kann. Für Paulus galt hinfort, daß die Konstituierung der Gemeinde „in Christus" alle hergebrachten religiösen, kulturellen und sozialen Besonderheiten und die sich darauf gründenden Ansprüche aufhebt (Gal. 3,26-28). Gerade darin erweist sich die Gemeinde als eschatologische Gemeinde. Mit dieser Einsicht hängt es
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auch zusammen, daß Paulus Jerusalem und der dortigen gesetzestreuen Christengemeinde keinerlei eschatologische Vorrangstellung mehr zugesteht (vgl. G a l . 4 , 2 4 f ) . b) Mission in Anatolien und Makedonien Nach der oben ( § 9 . 1 c ) vorgeschlagenen Chronologie hat Paulus im Jahre 49 Antiochien verlassen. Die nächsten sicheren Nachrichten beziehen sich auf die Mission in Makedonien (vgl. den l.Thessalonicherbrief). Die Nachrichten der Apostelgeschichte Reise durch Derbe und Lystra in Lykaonien, Beschneidung des Timotheus, Reise durch Phrygien und Galatien (in dieser Reihenfolge!) nach Mysien (Apg. 16,1-8) - sind ganz unglaubwürdig. Nach l.Thess. 1,1 ist es sicher, daß Paulus auf dieser Reise von seinen Mitarbeitern Silvanus (Silas) und Timotheus begleitet wurde. Das umstrittene Problem der Gründung der galatischen Gemeinden löst man am besten mit der Annahme eines längeren missionarischen Aufenthaltes in Galatien auf dieser Reise. Gemeint ist dabei die Landschaft Galatien im zentralen Hochland Kleinasiens mit den Städten Ankyra, Pessinus und Gordion. Diese Annahme, meist als „nordgalatische Hypothese" bezeichnet, ist der These vorzuziehen, daß die galatischen Gemeinden im Süden der römischen Provinz Galatien lagen, also mit den Städten Ikonium, Lystra und Derbe identisch seien. Zwar wird es richtig sein, daß in diesen Orten sich eine Tradition paulinischer Missionstätigkeit erhalten hatte (darauf beruht der Bericht von Apg. 14,6 ff und wohl auch die Ortsangaben der apokryphen Paulusakten), doch handelt es sich hier um eine Tätigkeit, die vom Missionszentrum Antiochien ausging (s.o. §9. lc). Diese Städte gelten auch in der Regel nicht als zu Galatien gehörig, sondern als Orte der Landschaft Lykaonien (so auch in Apg. 14,6). Paulus wird sich wenigstens mehrere Monate in Galatien aufgehalten haben; Gal.4,13f spielt auf einen längeren Zeitraum und deutlich auch auf eine Krankheit während dieses Aufenthaltes an. Auch wegen der in Gal. 1,2 ausdrücklich erwähnten Mehrzahl der seinerzeit gegründeten galatischen Gemeinden darf man den Aufenthalt nicht zu kurz ansetzen. Die Abreise von Galatien fällt dann in die letzten Monate des Jahres 49 oder vielleicht erst in das Frühjahr 50. Apg. 16,9 f berichtet von der bekannten Vision, die Paulus in Troas erlebte, in der ein Mann aus Makedonien ihn einlud, dort das
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Evangelium zu predigen. Unmittelbar darauf beginnt das erste Stück, des sogenannten „Wir-Berichtes" der Apostelgeschichte (Apg. 16,10). Es ist zwar fraglich, ob die im Wir-Stil erzählten Abschnitte auf eine ältere Quelle (Tagebuch oder Itinerar, s.o. 7. Je) zurückgehen, doch scheinen einige dieser Abschnitte etwas zuverlässigere Informationen zu enthalten als andere Berichte der Apostelgeschichte. Troas, eigentlich Alexandria in der Landschaft T r o as, war in der römischen Zeit eine wichtige Verkehrs- und Handelsstadt und natürlicher Ausgangspunkt f ü r eine Schiffsreise nach Makedonien. Paulus berichtet selber, daß er einige Jahre später auf dem gleichen Wege nach Makedonien reiste (2. Kor. 2,12f) und von einer letzten Reise auf dieser Route in umgekehrter Richtung weiß Apg.20,6. Die Schiffsreise ging bis Neapolis (heute: Kavalla), von dort in das landeinwärts gelegene Philippi, eine bedeutende römische Kolonie an einer strategischen Stelle der Via Egnatia, der römischen Straße, die von Byzantium bis nach Dyrrhachium am Adriatischen Meer führte. Einzelheiten über die Mission in Philippi (Apg. 16,13-40) bleiben im Bereich der Legende. D a ß Paulus N a c h stellungen erleiden mußte und gezwungen wurde, Philippi nach verhältnismäßig kurzem Aufenthalt zu verlassen, wird durch l.Thess. 2,2 bestätigt. Dennoch ist Paulus hier erfolgreich gewesen, und die Gemeinde in Philippi hat mit ihm während der folgenden Jahre in enger und herzlicher Verbindung gestanden (s.u. §9. Je). Thessalonike war die größte und wichtigste Stadt Makedoniens, Hafenstadt und Handelszentrum, in dem die Verkehrsverbindungen aus dem N o r d e n auf die Via Egnatia stießen und das Agäische Meer erreichten. Es ist charakteristisch, daß Paulus in den wichtigsten Handels- und Industriezentren Gemeinden zu gründen versuchte. Wie Korinth, dem O r t der folgenden Missionstätigkeit, war Thessalonike Sitz des römischen Prokonsuls. Wiederum bleiben die Einzelheiten der Tätigkeit des Paulus im Bereich der Legende (Apg. 17,1-10). Zu kurz darf man auch hier den Aufenthalt nicht bemessen; denn es blieb Paulus immerhin genug Zeit, zu seinem eigenen Unterhalt seinem H a n d w e r k nachzugehen (l.Thess.2,9). V o n einer Verfolgung durch die Juden weiß der l.Thessalonicherbrief (vgl. 1,14) nichts. Die Apostelgeschichte (17,10-14) berichtet noch von einer sich an die Vertreibung aus Thessalonike anschließenden Mission in Beröa; in den paulinischen Briefen gibt es d a f ü r keine Bestätigung.
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c) Von Thessalonike nach Korinth Paulus wandte sich zunächst nach Athen. Von dort sandte er Timotheus nach Thessalonike, damit er das begonnene, aber durch widrige Umstände vorzeitig abgebrochene Werk der Gründung und Festigung der Gemeinde vollende (l.Thess.3,1 f). Wahrscheinlich hielt sich Paulus nicht lange in Athen auf; denn es ist anzunehmen, daß er noch im Herbst des Jahres 50 in Korinth eintraf. Von dem Athener Aufenthalt berichtet Lukas die berühmt gewordene „Areopagrede" des Paulus (Apg. 17,22-31), die jedoch, wie andere Reden der Apostelgeschichte, als lukanische Komposition angesehen werden muß. In der von Lukas verwendeten Tradition waren die Namen von zwei in Athen bekehrten Christen enthalten, des Areopagiten Dionysios und einer Frau namens Damaris (Apg. 17,34) - ein Zeichen dafür, daß es hier zu einer Gemeindegründung kam. Korinth, 146vChr von den Römern zerstört und von Cäsar ein Jahrhundert später als römische Kolonie neu gegründet, war zu jener Zeit die größte Stadt Griechenlands, durch seine Lage am Isthmus zwischen dem Saronischen und Korinthischen Golf die wichtigste Handelsstadt des griechischen Raumes, sowie eine der größten Industriestädte der damaligen Welt (Töpferei, Metallverarbeitung und Teppichweberei). Seine stark gemischte Bevölkerung brachte eine Vielfalt von Kulten (Pausanias berichtet, daß es allein vom ägyptischen Kult vier Tempel gab; die Existenz einer jüdischen Gemeinde ist auch archäologisch nachgewiesen). Die Sittenlosigkeit Korinths war in der Antike sprichwörtlich, wird sich aber kaum von der anderer großer Handels- und Hafenstädte unterschieden haben. Über den Aufenthalt des Paulus in Korinth scheint Lukas mehr zuverlässiges Material vorgelegen zu haben als sonst. Die Nachrichten aus Apg. 18,Iff lassen sich teilweise aus den paulinischen Briefen bestätigen. Der aus Pontus stammende Aquila und seine Frau Priscilla nahmen Paulus auf. Sie waren „Juden", d.h. wohl Judenchristen, die durch das Edikt des Claudius aus Rom vertrieben worden waren. Da Paulus Aquila und Priscilla nicht unter den Erstbekehrten Korinths erwähnt, waren sie wohl schon in Rom Christen geworden; dann hätte es bereits zu jener Zeit eine römische Christengemeinde gegeben. Nach 1. Kor. 16,19 (und wohl auch Rom. 16,3) waren Aquila und Priscilla später in Ephesus. Als Gastfreund des Aquila, der wie Paulus selbst Zeltmacher war, konnte
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Paulus zunächst seinem H a n d w e r k nachgehen; später scheint er aus Makedonien Unterstützung erhalten zu haben, um sich ganz der Missionsarbeit widmen zu können (2. Kor. 11,9). Der von Paulus bekehrte Crispus wird auch 1.Kor. 1,14 genannt; Lukas will außerdem wissen, daß er Synagogenvorsteher gewesen sei (Apg. 18,8). Nach 1. Kor. 16,15 (vgl. 1,16) war Stephanas der Erstbekehrte Achaias. Die Missionstätigkeit in Korinth erstreckte sich über IV2 Jahre (Apg. 18,11), also vom Herbst 50 bis zum Frühjahr 52 (s.o.§9. lc). Paulus' Mitarbeiter waren Timotheus und Silvanus, die auch als Mitverfasser des aus Korinth geschriebenen l.Thessalonicherbriefes genannt werden. Bald sind neue Mitarbeiter hinzugetreten, wie aus der Erwähnung des Stephanas in 1. Kor. 16,15 zu ersehen ist. Apollos, ein alexandrinischer Judenchrist (Apg. 18,24), ist ebenfalls zu den leitenden Mitarbeitern des Paulus in Korinth zu rechnen ( l . K o r . 3 , 4 - 6 ; er befindet sich später bei Paulus in Ephesus, I . K o r . 16,12 - gegen Apg. 18,25-28). Die Mission des Paulus und seiner Mitarbeiter beschränkte sich während dieser Zeit nicht auf Korinth, sondern erstreckte sich auch auf andere Städte Griechenlands. Das ergibt sich aus der wiederholten Erwähnung Achaias in den paulinischen Briefen (l.Thess. 1,7-8; l . K o r . 16,15; 2.Kor. 1,1; I I , 1 0 ; Rom. 15,26; 2 . K o r . 9 ist wahrscheinlich ein an die Gemeinden Achaias gerichtetes Rundschreiben, s.u. § 9.3d u. f). Einzelheiten darüber sind freilich nicht bekannt, mit einer Ausnahme: Rom. 16,1-2 ist eine Empfehlung für die Leiterin der Gemeinde in Kenchraea, Phoebe (s.u. §9.4a). Es ergibt sich daraus ein f ü r die paulinische Missionsmethode bezeichnendes Bild: Paulus ließ sich mit bereits bewährten Mitarbeitern in der Hauptstadt einer Provinz nieder, sammelte dort etwa schon vorhandene Christen, erweiterte seinen Mitarbeiterstab und gründete mit ihnen Gemeinden an anderen Orten, mit denen er von der Metropole aus Kontakte aufrechterhielt; durch Abgesandte und Briefe suchte er während seiner Abwesenheit den weiteren Aufbau und die Entwicklung zu beeinflussen. Es handelt sich also nicht etwa um die bescheidenen Anstrengungen eines einzelnen Missionars, sondern um eine wohl durchdachte Organisation größeren Ausmaßes, zu der die Briefe als wichtiges kirchenpolitisches Instrument gehörten. N u r so läßt sich auch der Anspruch des Paulus erklären, daß er in wenigen Jahren von Jerusalem bis nach Illyrien hin, also in Syrien, Kleinasien, Makedonien und Griechenland, die Predigt des Evangeliums voll-
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endet habe (Rom. 15,19). In der korinthischen Tätigkeit scheint Paulus zum ersten Male, vielleicht nach dem Modell der antiochenischen Mission, dieses Missionsprogramm im großen Stil in Angriff genommen zu haben. Der Bericht Apg. 18,12-18, von Lukas stark stilisiert, da er hier die korrekte Haltung der römischen Behörden gegenüber dem Christentum paradigmatisch darstellen will, dürfte die verläßliche Nachricht enthalten, daß Paulus in der Tat vom Prokurator Gallio gezwungen wurde, im Frühjahr (nicht später!) des Jahres 52 Korinth zu verlassen (zur Datierung der Prokuratur des Gallio s.o. §9. lc). Die Probleme der korinthischen Gemeinde haben Paulus noch jahrelang beschäftigt und zu einer Reihe von Briefen sowie zu weiteren Besuchen Anlaß gegeben (s. u.). d) Der erste Thessalonicherbrief Diesen Brief schrieb Paulus nur wenige Monate nach seinem Aufenthalt in Thessalonike. Timotheus, den Paulus von Athen aus nach Thessalonike gesandt hatte (l.Thess.3,1 f), kam erst wieder zu Paulus zurück, als dieser bereits in Korinth war (Apg. 18,5). Da Timotheus als Mitverfasser genannt wird (l.Thess. 1,1), muß der Brief von Korinth aus geschrieben worden sein, und zwar wahrscheinlich noch im Jahre 50. Damit ist dieser Brief der erste erhaltene paulinische Brief und somit die älteste Schrift des Neuen Testamentes überhaupt. Ob Paulus schon früher Briefe geschrieben hat, wissen wir nicht. Vielleicht wurde er erst jetzt, nach dem Beginn seiner recht weit gespannten unabhängigen Missionsarbeit, dazu gezwungen, den Brief als kirchenpolitisches Mittel einzusetzen. Seit er sich vom Missionszentrum Antiochien getrennt hatte, trug er die alleinige Verantwortung für das Fortbestehen der von ihm gegründeten Gemeinden. Der erste Thessalonicherbrief spiegelt durchweg die Probleme wider, die sich in einer jungen Gemeinde ergeben konnten, die zwar ihrer Sache sicher war, der aber die Darstellung und Verteidigung des neuen Glaubens schon nach wenigen Wochen oder Monaten Schwierigkeiten bereiten mußte. Hierher gehören Fragen wie die Glaubwürdigkeit des Apostels, Anfeindungen, Konsequenzen für die Lebensführung, Gültigkeit der eschatologischen H o f f nung, Bedeutung des Heils für die Gegenwart. Daß Paulus auf diese Fragen einging, bezeugt nicht nur seine Einsicht in die problematische Situation einer neu gegründeten Gemeinde, sondern auch
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die Fähigkeit seines Mitarbeiters Timotheus, der als sein Abgesandter die Situation erfaßt und Paulus dargestellt hatte. Da die Frage der Gültigkeit des Evangeliums von der Frage der Glaubwürdigkeit des Apostels nicht zu trennen ist, muß Paulus gerade auch wegen seines nur kurzen Aufenthaltes in Thessalonike - sich vom kynischen Wanderprediger abgrenzen. Darum betont er nicht nur, daß seine Predigt nicht um des persönlichen Gewinns willen geschah, sondern sucht überhaupt darzustellen, inwiefern sich das Verhältnis des Predigers zu den Zuhörern und der Hörer zur Sache grundsätzlich von der seinerzeit weit verbreiteten philosophischen und religiösen Propaganda unterscheidet (l.Thess.2,112). Entscheidend sind Bindung der Gemeinde an das Evangelium, nicht an den Prediger; Verpflichtung der Gemeindeglieder untereinander (l.Thess.3,11-13), von einem Frömmigkeitsideal für den Einzelnen wird nicht geredet; Einschluß des Apostels in die Verpflichtung zur gegenseitigen Liebe und Fürsorge - der Apostel wird mit der sorgenden Mutter und mit dem ermunternden Vater verglichen (l.Thess.2,7.12). Die Gemeinde ist kein für sich allein stehender lokaler Verein, sondern teilt in ihrer Erfahrung das Schicksal anderer Gemeinden, vor allem insofern sie Verfolgung erleidet (l.Thess. 1,6ff; der Abschnitt 2,13-16 mit seiner krassen anti-jüdischen Einstellung ist mit Recht als späterer Einschub angesehen worden, der eine jüdische Tradition aufnimmt, die von den offiziellen Führern der Juden als Prophetenmördern sprach und den T o d Jesu sowie die eigenen Erfahrungen in den Zusammenhang dieser Tradition stellt). Die ersten drei Kapitel des Briefes, in denen diese Fragen erörtert werden, sind ein im Stil der Danksagung gehaltenes Proömium, in das auch die Darstellung der persönlichen Situation des Paulus miteingeschlossen ist (l.Thess.2,17-3,10). Alle Aspekte der Erfahrungen der Gemeinde und der Arbeit des Apostels sowie ihre gegenseitigen Beziehungen werden in die Danksagung und den Lobpreis eingeschlossen; sie gehören zu dem sich vor Gott vollziehenden Heilsgeschehen. Deutlich davon abgesetzt sind die Belehrungen und Ermahnungen in l.Thess.4 und 5, zunächst eine Paränese mit Auslegungen eines traditionellen Lasterkatalogs (4,1-8) und christlicher Tugenden (4,9-12). Die folgenden eschatologischen Belehrungen stützen sich ebenfalls auf überliefertes Material, nämlich auf ein Herrenwort über die Reihenfolge der Ereignisse bei der Parusie (4, 12-18) und auf das Wort vom Tag des Herrn, der
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wie ein Dieb in der N a c h t kommt ( 5 , 1 - 1 1 ; vgl. Apok. 3,3). Mit dem viel diskutierten Problem der Parusieverzögerung haben diese Ausführungen nichts zu tun - bei einer erst wenige Monate bestehenden Gemeinde wäre eine solche Annahme ohnehin absurd. Vielmehr will Paulus grundsätzlich zeigen, daß es für das zukünftige Leben „ m i t dem H e r r n " keine Rolle spielt, „ o b wir leben oder sterb e n " ( l . T h e s s . 5 , 1 0 ) . Es ist bemerkenswert, daß zur „ K i r c h e n o r d n u n g " gehörendes Material in diesem an eine junge Gemeinde gerichteten Brief nur einen g a n z geringen R a u m einnimmt (5,12-22). D a s trifft auch für die anderen echten paulinischen Briefe zu, im G e g e n s a t z zu den Pastoralbriefen. Auf das Fehlen einer kirchlichen Organisation darf man daraus nicht schließen. Vielmehr wird aus den hier und auch sonst gelegentlich auftauchenden Titeln (vor allem Phil. 1,2) sowie aus 1. K o r . 12 klar, daß es durchaus Ämter mit deutlich bestimmten Aufgabenbereichen gegeben hat. J e d o c h sind die Autoritäten nicht in einer hierarchischen Struktur festgelegt. G e r a d e l . T h e s s . 5 , 1 2 - 2 2 zeigt, daß Paulus auf das durch den Geist gewirkte demokratische Zusammenspiel vertraut, das Rücksichtnahme und Anerkennung ebenso wie kritisches Urteil einschließt. 3. Der Aufenthalt
in Ephesus
G.S.DUNCAN, St.Paul's Ephesian Ministry: A Reconstruction with Special Reference to the Ephesian Origin of the Imprisonment Epistles, 1929 (vgl. Ders., in N T S 3 , 1956/57, 211-218; 5, 1958/59, 43-45). T.W.MANSON, St.Paul in Ephesus: The Date of the Epistle to the Philippians, B J R 2 3 ,
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Zu c: G. BORNKAMM, Herrenmahl und Kirche bei Paulus, Studien zu Antike und Christentum, '1969,138-176. H . C O N Z E L M A N N , 1. Korintherbrief, K E K , 1 9 6 9 W . S C H M I T H A L S , Die Gnosis in Korinth: Eine Untersuchung zu den Korintherbriefen, F R L A N T N F 4 8 , 3 1969 (dazu D . G E O R G I , V F 1958/59, 1960, 90 ff). W . SCHRÄGE, Die Frontstellung der paulinischen Ehebewertung in 1. Kor. 7,1-7, Z N W 6 7 , 1976,214-234. H . V O N S O D E N , Sakrament und Ethik bei Paulus, MThSt 1, 1931. G . T H E I S S E N , Soziale Schichtung in der korinthischen Gemeinde, Z N W 6 5 , 1974, 232-272. U . W I L C K E N S , Weisheit und Torheit: Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Untersuchung zu l . K o r l und 2, B h T h 2 6 , 1 9 5 9 . Zud: H . D . B E T Z , D e r Apostel Paulus und die sokratische Tradition: Eine exegetische Untersuchung zu seiner "Apologie" 2. Kor. 10-13, BhTh45, 1972. Ders., Jesus as Divine Man, Jesus and the Historian (Festschrift f ü r E.C. Colwell), 1968, 114-133. G. BORNKAMM, Die Vorgeschichte des sogenannten Zweiten Korintherbriefes, Geschichte und G l a u b e l l , 1971, 162-194. R . BULTMANN, Exegetische Probleme des zweiten Korintherbriefes, Exegetica, 1967, 298-322. D. G E O R G I , Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, W M A N T 11,1964. E . K Ä S E M A N N , Die Legitimität des Apostels, Z N W 4 1 , 1 9 4 2 , 3 3 - 7 1 . Zue: Z u m Philipperbrief: D . G E O R G I , Der vorpaulinische Hymnus P h i l . 2 , 6 - 1 1 , Zeit und Geschichte (Dankesgabe an Rudolf Bultmann zum 80. Geburtstag), 1964, 262-293. E. K Ä S E M A N N , Kritische Analyse von Phil. 2,5-11, Exegetische Versuche und Besinnungen I, 1960, 51-95. H . K Ö S T E R , T h e Purpose of the Polemic of a Pauline Fragment (PhilIII), N T S 8, 1961/62,317-332. W. S C H M I T H A L S , Die Irrlehrer des Philipperbriefes, Paulus und die Gnostiker, T h F 35,
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Zuf: D.GEORGI, Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, ThF38, 1965.
a) Mission in Ephesus Es besteht kein Zweifel darüber, daß sich an die Mission in Korinth eine längere Periode der paulinischen Wirksamkeit in Ephesus anschloß. Umstritten sind die Angaben der Apg. 18,18-23 über die Reise des Paulus, die unmittelbar an den Aufenthalt in Korinth anschloß: Ephesus - Cäsarea - (Jerusalem? - ) Antiochien - Galatien - Phrygien - Ephesus. Ist Paulus in der Tat damals nach Antiochien gereist, so ist damit auch gegeben, daß sich die Beziehungen zu Antiochien wieder gebessert hauen oder daß er die Reise machte, um bessere Beziehungen herzustellen. In der Tat sind seine späteren Äußerungen über Barnabas und Petrus ( l . K o r . 9 , 6 ; 1,12; 3,22; 9,5) nicht negativ oder feindselig. Auch könnte ein zweiter Besuch in Galatien, auf den man aus Gal.4,13f geschlossen hat, während dieser Reise stattgefunden haben. Doch bleibt die Unsicherheit über diese ganze Reise bestehen, da die entsprechenden Angaben der Apostelgeschichte wenig Zutrauen erwecken. Jedenfalls muß Paulus noch im Laufe des Jahres 52 nach Ephesus gekommen sein. Über den Aufenthalt in Ephesus finden sich in Apg. 19,1-20,1 nur sehr dürftige Angaben. Das meiste ist legendarisch: Die Bloßstellung der jüdischen Exorzisten und Verbrennung der Zauberbücher (Apg. 19,13-20) beruht vielleicht auf einer älteren heidnischen oder christlichen Anekdote; die Geschichte vom Aufruhr wegen der Artemis der Epheser entspricht mehr der Zeit des Lukas als des Paulus; denn es ist bekannt, daß durch das Wachstum der christlichen Gemeinden in der Tat der Tempelbesuch und damit auch der Andenkenhandel erhebliche Einbußen erlitt (Apg. 19,23-40). Falls hinter dem Bericht von der Begegnung mit den nur auf die Taufe des Johannes getauften Jüngern (Apg. 19,17) eine ältere Tradition zu suchen ist, so gehört diese eher nach Syrien als nach Kleinasien. An brauchbaren Angaben bleiben die Angaben über die Dauer (drei Monate und zwei Jahre; Apg. 19,8.10) und den Ort der paulinischen Tätigkeit (Hörsaal des Tyrannus; Apg. 19,9). Darüber hinaus, daß Paulus in Ephesus, ebenso wie schon vorher in Korinth, ein Missionszentrum für die ganze Provinz Asien aufbaute, von dem aus er selbst und seine Mitarbeiter Gemeinden auch in anderen Städten der Asia gründeten, erfährt
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man aus der Apostelgeschichte ebensowenig wie über die ausgedehnte Korrespondenz des Paulus während dieser Jahre (der größere Teil der erhaltenen paulinischen Briefe ist in Ephesus entstanden) und über eine längere Gefangenschaft gegen Ende seines Aufenthaltes. Erst die kritische Analyse der paulinischen Briefe mit ihren zahlreichen Angaben über Reiseabsichten, Pläne und widrige Umstände ergibt ein etwas besseres Bild von dieser wichtigsten Periode der paulinischen Mission. Anhaltspunkte für eine Rekonstruktion der Chronologie der verschiedenen Briefe und Brieffragmente ergeben sich einmal aus den Nachrichten über den Fortschritt der Kollekte, zum andern aus den verschiedenen Stadien der Auseinandersetzung mit der korinthischen Gemeinde. Da der Galaterbrief die Kollekte nur erwähnt (Gal.2,10) aber nicht aktiv betreibt, stellt man diesen Brief am besten an den Anfang. Der 1. Korintherbrief gehört in eine etwas spätere Zeit, da Paulus hier die Kollektenpläne wieder ernsthaft aufgenommen hat ( l . K o r . 16,1 ff). Nach der Abfassung von 2. Kor. 2,14-7,4 muß Paulus zu einem kurzen Zwischenbesuch in Korinth gewesen sein; denn dieser Besuch ist in dem späteren Brief 2. Kor. 10-13 (vgl. 13,1) vorausgesetzt. Die übrigen im 2. Korintherbrief enthaltenen Fragmente sind erst nach der Abreise von Ephesus abgefaßt; sie setzen aber voraus, daß Paulus am Ende seines Aufenthaltes in ernsthafter Lebensgefahr war (2.Kor. l , 8 f ) ; ist dies eine Anspielung auf die ephesinische Gefangenschaft, dann gehört sie, wie auch die aus dem Gefängnis geschriebenen Briefe (Philipperbrief und Philemonbrief), in die letzten Monate des Aufenthaltes in Ephesus. b) Die judaistische Propaganda und der Galaterbrief Die Auseinandersetzung des Paulus mit den Gegnern in Galatien, die im Galaterbrief erhalten ist, wirft die grundsätzliche Frage nach Charakter und Ursprung der vielfachen Gegner auf, die Paulus auch in anderen Gemeinden zu bekämpfen hatte (Korinth, Philippi) und mit denen sich wenig später die Schüler und Nachfolger des Paulus auseinandersetzen mußten (Kolosser- und Epheserbrief, Ignatiusbriefe; vgl. auch die Briefe der Apokalypse). Da Nachrichten über die Gegner nur indirekt erhalten sind und da Rückschlüsse aus dem etwas reichlicher fließenden Material über die Häretiker der folgenden Jahrhunderte methodischen Bedenken unterliegen, gehört die Frage der paulinischen Gegner zu den
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schwierigsten Problemen der neutestamentlichen Wissenschaft. Freilich ist es auch eine der interessantesten Fragen, und ohne eine Rekonstruktion der gegnerischen Anschauungen bleiben viele Abschnitte der paulinischen Briefe unverständlich. Handelte es sich bei den Gegnern des Paulus um eine fest umrissene Gruppe mit einer klar formulierten Lehre und Botschaft? Oder um zwei solche Gruppen (Judaisten und Gnostiker)? Oder muß man mit mehreren verschiedenen, wenn auch teilweise verwandten Bewegungen rechnen? - Zur Beantwortung solcher Fragen muß man sich zuerst einmal klarmachen, daß für die gesamte Missionsbewegung des Urchristentums überhaupt keine fest formulierten Lehren und keine einheitliche Organisation vorausgesetzt werden können. Ein fester Lehrbestand (Bekenntnis und Kanon) und eine verbindliche Organisation (Episkopat) wurden erst in den folgenden Generationen in der Auseinandersetzung mit den Häretikern geschaffen. Auch im Judentum gab es seinerzeit dafür noch keine Entsprechungen; erst durch das rabbinische Judentum entstand hier eine bindende Tradition während des Jahrhunderts nach der Zerstörung Jerusalems. Die religiöse Propaganda jener Zeit arbeitete mit ganz anderen Mitteln und unter Voraussetzungen, die der Ausbildung einer einheitlichen Lehre nicht unbedingt günstig waren. Der Markt der religiösen Propaganda begünstigte den freien Wettbewerb. Erfolgversprechende Mittel des Wettbewerbs standen daher im Vordergrund. Hierzu gehörten rhetorische Kunstfertigkeit, Demonstration des Besitzes übernatürlicher Macht (Wunder, Magie), Berufung auf altehrwürdige Traditionen und Nachweis des Erfolgs religiöser Praktiken. Die ersten christlichen Missionare waren sämtlich jüdischer Herkunft, also Judenchristen, und das Alte Testament spielte offenbar durchweg eine Rolle in ihrer missionarischen Tätigkeit. Umstritten war nicht etwa die Gültigkeit dieser schriftlichen Autorität - erst Marcion stellte sie in der Mitte des 2. Jh. in Frage - , sondern ihre Auslegung. Die unterschiedlichen Positionen der verschiedenen judenchristlichen Missionare stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Unterschieden in den Prinzipien und Methoden der Auslegung des AT, und zwar in einer Auslegung, die auf propagandistische Wirkung im religiösen Wettbewerb großen Wert legen mußte. So konnte das AT als Buch ritueller Vorschriften (Beschneidung, Speisegebote, Beachtung des Sabbats und des Festkalenders) erscheinen, deren Befolgung dem wahren Gottesvolk den Schutz der kosmischen
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Mächte garantierte (Gegner der Briefe an die Galater und Kolosser); oder als Anweisung zu einem Leben der Vollkommenheit, durch das man schon in der Gegenwart in den vollen Besitz des jenseitigen Heiles gelangte (Gegner des Philipperbriefes); oder als Schrift verborgener Wahrheit, deren Aufschlüsselung durch pneumatische Exegese die Göttlichkeit des religiösen Menschen dem Hörer ansichtig werden ließ (Gegner des 2.Korintherbriefes); oder schließlich als Buch uralter Verheißungen, die durch Christus, durch die Predigt des Evangeliums und durch den Glauben der Gemeinde zur Wirklichkeit geworden waren (Paulus). Der Vielfalt des Erscheinungen entspricht auch die Tatsache, daß nach dem Apostelkonzil die christliche Missionsbewegung in ein neues Stadium eintrat. Die christliche Botschaft wurde jetzt über den syrisch-palästinischen Raum und die angrenzenden Gebiete (Cilicien, Arabien) hinausgetragen. Paulus war vielleicht der erste Missionar, der nach Kleinasien und Griechenland ging, aber sicher nicht der einzige. Andere folgten. Nur von wenigen sind uns Zeugnisse erhalten geblieben. Daß zu jener Zeit das Evangelium auch nach Ostsyrien und nach Ägypten getragen wurde, ist wahrscheinlich. Auch hier zeigen die aus späterer Zeit erhaltenen Zeugnisse, daß eine erstaunliche Mannigfaltigkeit für die Anfänge kennzeichnend war. Die galatischen Gegner, die erste greifbare Erscheinung der wandernden Apostel, die in die paulinischen Gemeinden eindrangen, werden als Judaisten bezeichnet. Damit sind judenchristliche Missionare gemeint, die von den bekehrten Heidenchristen die Beschneidung und die Einhaltung des jüdischen Ritualgesetzes verlangten. Sie waren aber nicht einfach Bewahrer jüdischer Observanz im konservativen Sinne, sondern Pneumatiker, die von der geistigen Macht und der kosmischen Bedeutung der Erfüllung des Gesetzes überzeugt waren. Mit den in Gal.2,4 genannten Falschbrüdern, die in Jerusalem gegen Paulus und Barnabas intrigierten (s.o.§9. 7d), waren sie nicht notwendigerweise identisch; doch ist anzunehmen, daß sie mit ihnen in Verbindung standen und sich auf sie als die echten Bewahrer des Jerusalemer Abkommens beriefen. Daß Paulus in Gal. 1 und 2 so ausführlich von seinen Beziehungen mit Jerusalem redet und so nachdrücklich seine Selbständigkeit betont, könnte darauf hinweisen, daß die Gegner in Galatien ihm vorgeworfen hatten, er habe das, was ihm in Jerusalem auferlegt war, nicht eingehalten.
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Der Brief, den Paulus in Abwehr dieser Gegner an die galatischen Gemeinden sandte, ist eine Verteidigung seines Evangeliums, die von scharfer Polemik durchsetzt ist. Die Polemik erscheint bereits im Präskript und im Proömium: Der Aposteltitel ist erweitert durch „nicht von Menschen und nicht durch Menschen"; die übliche Danksagung („Ich danke Gott ständig euretwegen...") ist ersetzt durch „Ich bin erstaunt, daß ihr so schnell abgefallen seid... " (Gal. 1,1; 1,6). Polemische Hyperbeln erscheinen wiederholt (e.g. Gal. 3,1; 5,12). W o man sonst im Proömium eine Darstellung der Erfahrungen des Apostels und seiner Pläne für die Zukunft in Bezug auf die betreffende Gemeinde erwarten kann (vgl. l.Thess.2-3; 2.Kor. 1,3ff), bringt Paulus einen ausführlichen Bericht seiner Berufung und seiner Beziehungen zu Jerusalem, sowie des antiochenischen Zwischenfalls (Gal. 1,10-2,14). Dieser Bericht weist nach, daß die Gegner kein Recht zur Berufung auf Jerusalem haben; die kühne Allegorie in Gal.4,2Iff fügt hinzu, daß Jerusalem/Zion überhaupt nicht den Anspruch erheben kann, symbolischer Vorort des Christentums zu sein. Dem gegnerischen Standpunkt, daß der Alte Bund durch Christus erneuert wurde, hält Paulus entgegen, daß im Gegenteil der Alte Bund zu Ende gekommen, sein Fluch vollstreckt sei und daß somit die vor dem Gesetz ergangene Verheißung an Abraham gültig geworden ist (Gal. 3,6-18). Das Gesetz ist kein Garant der Zugehörigkeit zum erwählten Volk des Bundes, sondern lediglich Gefängniswärter und Sklavenhalter bis zur Ankunft der Freiheit der Sohnschaft, in die alle, Juden und Griechen, Sklave und Freie, Männer und Frauen einbegriffen sind - das Gesetz, das sie trennte, ist aufgehoben (Gal. 3,19-29). Dem Anspruch, daß das Gesetz als kosmische Macht mit den Elementen und Mächten der Welt versöhnt, hält Paulus entgegen, daß dies nur eine neue Abhängigkeit von den Elementen bedeuten würde; die Galater werden verhöhnt: ihr Gesetzesgehorsam sei nichts anderes als eine Rückkehr zu den alten Göttern (Gal.4,1-11). Der von Polemik durchsetzte paränetische Abschnitt (Gal. 5,1-6,10) ist eine grundsätzliche Gegenüberstellung des Wandels im Geist (Freiheit und Liebe) und der Werke des „Fleisches", die dem Gesetzesgehorsam gleichgestellt werden. Die Schlußgrüße geraten zu einem letzten Appell, sich von den Gegnern abzuwenden, die nochmals der Unlauterkeit geziehen werden (Gal. 6,11-18). Kein Zweifel, Paulus war überzeugt, daß die Tätigkeit der judaistischen Missionare sein gesamtes missionarisches Werk in den gala-
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tischen Gemeinden in Frage stellte. Aber der in dieser verzweifelten Situation geschriebene Brief hat offenbar Erfolg gehabt. Denn etwa ein Jahr später kann er der korinthischen Gemeinde berichten, daß die Kollekte in Galatien in Gang gekommen sei ( l . K o r . 16,1) - von einer Kollekte ist aber im Galaterbrief nicht die Rede. Also muß Paulus inzwischen durch weitere Korrespondenz oder durch persönliche Abgesandte wieder Kontakt mit den galatischen Gemeinden gehabt und sich auch davon überzeugt haben, daß sein Unternehmen, eine Geldsammlung für die Judenchristen in Jerusalem zu veranstalten, nicht falsch ausgelegt werden konnte. c) Die korinthischen Pneumatiker und der 1. Korintherbrief Ehe Paulus den uns erhaltenen 1. Korintherbrief schrieb, hatte er schon einmal von Ephesus aus ein Schreiben an die Gemeinde in Korinth gerichtet (l.Kor.5,9), das verlorengegangen ist (man hat diesen Brief in dem Abschnitt 2. Kor. 6,14-7,1 wiederentdecken wollen; doch handelt es sich hier um ein von einem Judenchristen verfaßtes Stück, das in die paulinische Briefsammlung hineingeraten ist). Anlaß zum 1. Korintherbrief war ein Bericht, den Paulus mündlich durch die Leute der Chloe über die Zustände in der korinthischen Gemeinde erhalten hatte. Zur Zeit der Abfassung des Briefes muß Paulus also schon geraume Zeit in Ephesus gewesen sein; auch die galatische Korrespondenz ist bereits abgewickelt. Paulus macht schon Pläne, Ephesus wieder zu verlassen ( l . K o r . 16,5ff), will aber noch bis Pfingsten bleiben; weitere Missionsgelegenheiten sowie auch Anfeindungen und Auseinandersetzungen zwingen ihn dazu ( l . K o r . 16,7ff). Danach wäre der Brief in den Wintermonaten 53/54 geschrieben - im Herbst 52 war Paulus nach Ephesus gekommen. Daß Paulus noch viel länger in Ephesus bleiben würde und seine Pläne mehrfach ändern mußte - das hat man ihm in Korinth später zum Vorwurf gemacht (2. Kor. 1,15 ff) - , konnte er seinerzeit nicht voraussehen. Im 1. Korintherbrief hat Paulus es nicht mit von außen eingedrungenen Gegnern zu tun. Zwar hatte Apollos inzwischen in Korinth gewirkt. Aber Paulus beklagt sich weder über ihn noch über andere Missionare. Vielmehr werden durchweg die Korinther selbst angegriffen. Also müssen sich die Probleme aus den Konsequenzen ergeben haben, die einige Leute in Korinth aus der paulinischen Predigt und aus dem von Apollos Gelernten zogen, sowie aus ihren eigenen, schon in ihr Christsein mitgebrachten religiösen
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Voraussetzungen. Zwei Vorwürfe sind in der Polemik des Paulus besonders deutlich: die Bildung von Parteien ( l . K o r . 1,11 ff) und das Verhalten der sogenannten „Starken" (l.Kor.6,12 und 10,23 zitiert ihr Schlagwort: „Alles steht mir frei"). Da Paulus sich aber nicht mit verschiedenen Gruppen und ihren unterschiedlichen Anschauungen auseinandersetzt, sondern seine Angriffe alle an die gleiche Adresse richtet, muß man annehmen, daß die Parteien und das Verhalten der Starken in unmittelbarem Zusammenhang miteinander stehen. Der Versuch, die vier genannten Parteien mit vier verschiedenen Lehrmeinungen (Paulus, Apollos, Petrus, Christus) zu identifizieren, geht aus diesem Grunde fehl. Die Frage ist für Paulus überhaupt nicht, ob eine bestimmte Lehrmeinung, derer man sich rühmt, richtig oder falsch ist, sondern ob man sich überhaupt solchen Besitzes rühmen kann. Paulus hat es dabei auch mit einer bestimmten Anschauung zu tun - mit der Uberzeugung und dem Bewußtsein religiösen Besitzes und besonderer Rechte - , aber er wirft den Gegnern nicht vor, daß sie ein anderes Evangelium predigen. Sein Brief ist daher nicht, wie etwa der Galaterbrief, eine polemische theologische Abhandlung; vielmehr gleicht er darin dem l.Thessalonicherbrief, daß Paränese, Gemeindeordnung und eschatologische Belehrung vorherrschen. Freilich ist dies mit grundsätzlichen Erörterungen durchsetzt und auch in den ersten Kapiteln durch eine grundlegende Auseinandersetzung eingeleitet. Es ist nicht falsch, die Gegner in Korinth (die „Starken" unter den Gemeindemitgliedern) als Gnostiker oder als Proto-Gnostiker zu bezeichnen, wenn man damit ihr Selbstbewußtsein beschreiben will. Eine gnostische Lehre, wie sie uns in den Systemen des 2.Jh. entgegentritt, darf man jedoch hinter ihren Anschauungen nicht suchen. Diese Korinther wußten sich im Besitz einer besonderen göttlichen Weisheit, deren Übermittlung sie mit Aposteln verbanden, durch die sie in der Taufe in das Christentum eingeweiht worden waren (l.Kor. 1,13-17; vgl. auch die Betonung der Allgemeingültigkeit der Taufe für alle Glieder der Gemeinde in l.Kor. 12,13); vielleicht beriefen sie sich auch auf Weisheitsworte Jesu - Jesusworte werden in diesem Brief häufiger zitiert als sonst bei Paulus (1.Kor.7,10f; 9,14; 11,23ff; wahrscheinlich ist auch l.Kor.2,9 ein Jesuswort, vgl. Ev. Thom. 17). Die Missionare - in der Tat auch Jesus selbst - sind für sie also Mystagogen, die Taufe ein Mysterienritus. Paulus bestreitet dagegen die Möglichkeit besonderer weisheitlicher Einsicht, es sei denn sie richte sich auf das Heilsgesche-
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hen selbst ( l . K o r . 2 , 1 2 ; vgl. 2,8f), will mit der Tauftätigkeit möglichst wenig zu tun haben (1. Kor. 1,14-17) und betont ausdrücklich, daß er selbst und Apollos nichts weiter sind als Diener, durch die der Glaube möglich wurde (1. Kor. 3,5). W e n n die Korinther wirklich Christus angenommen haben, dann kann dies nicht besagen, daß sie sich nun im Besitz übernatürlicher Weisheit und außerordentlicher Rechte befinden; denn der gekreuzigte Christus ist ja gerade Torheit und Ärgernis ( l . K o r . l , 1 8 f f ; 2,1 ff). Dementsprechend sind die Apostel keine religiösen Übermenschen, sondern lächerliche, verfolgte, verachtete und überarbeitete Narren - die Korinther werden verhöhnt: in geistlicher Hinsicht seien sie bereits satte und reiche Teilhaber der Herrschaft Gottes ( l . K o r . 4 , 6 - 1 3 ; vielleicht steht auch h i i t e r l . K o r . 3 , 8 ein Herrenwort, vgl. Ev. Thom.2). Nach dieser grundlegenden Auseinandersetzung in I. Kor. 1,10-4,21, die sich unmittelbar an Präskript und Proömium anschließt ( l . K o r . 1,1-3 und 1,4-9), folgt Paulus in der Anlage des Briefes dem traditionellen Schema von Paränese (Auslegung eines Lasterkatalogs: Unzucht, Ehebruch, Götzendienst; l . K o r . 5 , 1 I I , 1 ) , Gemeindeordnung (Verhalten der Frauen im Gottesdienst, Herrenmahl, Geistesgaben und Amter, Gottesdienstordnung (11,2-14,40) und eschatologische Ermahnung (15,1-52). Das eigentliche Thema, das immer wieder zum Vorschein kommt, ist jedoch die Auseinandersetzung mit dem Verhalten der Starken und ihrem die Gemeinde zerstörenden Ausleben ihres gnostischen Selbstbewußtseins. l . K o r . 5 , 1 - 6 , 1 1 befassen sich noch mit Mißständen, die nicht unbedingt mit dem Verhalten der Starken im Zusammenhang stehen müssen: Empfehlung des Gemeindeausschlusses eines Christen, der mit der Frau seines Vaters in wilder Ehe zusammenlebte, und Anweisung, Streitigkeiten unter Gemeindegliedern nicht vor weltlichen Gerichten auszutragen. Aber von l . K o r . 6 , 1 2 an - hier zitiert Paulus zum ersten Male das Schlagwort „Alles steht mir frei" - richtet sich die Paränese deutlich an die Starken. Die Kritik der Konsequenzen, die sie f ü r ihr sexuelles und eheliches Verhalten aus ihrem Selbstbewußtsein zogen, gibt Paulus Gelegenheit, gleichzeitig allgemeine Anweisungen zur Frage von Ehe und Ehescheidung zu geben. Der erste Abschnitt (6,12-20) läßt keinen Zweifel daran, daß die Starken das Recht zu haben glaubten, mit Prostituierten zu verkehren. Was f ü r ein Verhalten in 7,1-40 angegriffen wird, ist dagegen weniger deutlich und in der wissen-
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schaftlichen Diskussion umstritten. Wahrscheinlich handelt es sich um asketische, ehefeindliche Praktiken - nicht notwendigerweise unvereinbar mit dem Umgang mit Prostituierten! Zu diesen Praktiken könnten gehören Verweigerung des Geschlechtsverkehrs in der Ehe, Ablehnung der Heirat und der Wiederverheiratung Geschiedener und Verwitweter und Zusammenleben in einer geistigen Ehe (Syneisaktentum). Da „realisierte Eschatologie" (vgl. Luk. 20,34-36) auch sonst bei den Gegnern in Erscheinung tritt (s.u.), kann man annehmen, daß sie sich auch in Bezug auf Geschlecht und Ehe aller weltlichen Bindungen ledig machen wollten. Dem stellt Paulus entgegen, daß Enthaltsamkeit deshalb empfehlenswert ist, weil das Ende noch nicht eingetroffen ist (1. Kor. 7,29 ff). Im übrigen zeichnet sich die Paränese des Paulus dadurch aus, daß sie nüchterne und vernünftige Ratschläge gibt und enthusiastisch-religiöse Begründungen nicht gelten läßt. Paulus unterscheidet sich damit deutlich von seinen jüdischen (Philo) und heidnischen philosophischen Zeitgenossen (Musonius), vor allem auch darin, daß er kompromißlos die Frau dem Manne gleichstellt (z.B. 7,3-4). Dem entspricht in l . K o r . 7 die Relativierung des Verhältnisses von Beschnittenen und Unbeschnittenen und von Sklaven und Herren (vgl. Gal.3,28). Noch deutlicher als der vorhergehende Abschnitt ist die Diskussion der Teilnahme am Götzenopferdienst (l.Kor.8,1-11,1) eine Polemik gegen das Verhalten der Starken. Wurde die These ihrer Vollmacht zunächst in Bezug auf die Frage kritisiert, ob sie in der T a t die persönliche Freiheit garantiert, so geht es jetzt um das Problem, ob dieses Verhalten die Gemeinde aufbaut ( l . K o r . 10,23). Freiheit und Vollmacht, wie sie sich aus der „Gnosis" ergeben, werden voll zugestanden (8,1-13) und auch an der Frage des Rechts des Apostels exemplifiziert (9,1 ff). Christliches Verhalten zeigt sich aber erst im Rechtsverzicht, der das schwache Gewissen der anderen Gemeindeglieder zum Maßstab für das eigene Handeln macht (8,9-13) - ja selbst das Gewissen eines heidnischen Beobachters (10,28f). Als Beispiel stellt Paulus seinen eigenen Rechtsverzicht um des Evangeliums willen dar (9,19-27). Die Analogie des Herrenmahls zu den „Sakramenten" Israels (typologische Auslegung von Stellen aus dem Exodus-Bericht) soll zeigen, daß es darauf ankommt, ob die Gemeinde als ganze sich als der Leib Christi versteht, während das Experimentieren mit der Kraft der Erkenntnis des Einzelnen sowohl den Einzelnen als auch die Gemeinde zer-
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stört (10,1-22). Paulus macht also keinen Versuch, die Frage des Götzenopfers durch den Hinweis auf ein Minimum gesetzlicher Vorschriften zu lösen, die das moralische Verhalten des Einzelnen regeln sollen. Vielmehr ordnet er die nicht bestrittene Freiheit des Christen der Rücksichtnahme auf das schwache Gewissen und der Auferbauung der Gemeinde unter. In der Diskussion der Gemeindeordnung wendet sich Paulus durchweg gegen ein Verhalten, das die besonders fortgeschrittene Erkenntnis und den Besitz religiöser Qualitäten demonstrieren und veranschaulichen soll. Ob Frauen in der Gemeinde ohne Kopfbedeckung beten und predigen sollen, ist nicht eine Frage ihrer Emanzipation, sondern eine Frage der gesamtkirchlichen Sitte (11,2-16). Das Herrenmahl ist keine Mysterienmahlzeit, kein heiliges Mahl für die Vollkommenen, sondern ein eschatologisches Mahl der Gemeinde, bei dem sich zeigen muß, ob man wirklich versteht was der „Leib Christi" ist, nämlich die Gemeinschaft aller Christen, die aufeinander achten und aufeinander warten können (11,17-34). Bei den Geistesgaben gibt es keine Rangordnung, und die Gabe des Geistes ist keineswegs auf diejenigen beschränkt, die mit Zungenreden, Prophetie, Wunderwirken und „Erkenntnis" zu außergewöhnlichen Demonstrationen ihres religiösen Standes befähigt zu sein scheinen. Der Geistbesitz dokumentiert sich vielmehr im Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn, das allen Christen gemeinsam ist; denn alle haben in der Taufe den Geist empfangen, alle sind Glieder des einen Leibes, was Paulus hier mit einem politischen, nicht mit einem religiösen Bild veranschaulicht (12,1-31). Keinerlei besondere Charismata können das Vorhandensein göttlichen Wesens beweisen; veranschaulichen läßt es sich nur in der Liebe; das wird in einem Lehrgedicht dargelegt (13,1-13). In gleicher Weise wenden sich die Anweisungen für den Gottesdienst gegen das Vorherrschen von Demonstrationen des Geistbesitzes, wie etwa des Zungenredens, die weder die Gemeinde aufbauen, noch verständlich sind, schon gar nicht für den Laien oder Ungläubigen (14,1—33a. 37-40; die eingeschalteten Verse 33b-36 widersprechen der bei Paulus vielfach bezeugten Praxis der vollen Teilnahme von Frauen an den Gemeindeämtern und am gottesdienstlichen Leben; sie sprengen den Zusammenhang und müssen als spätere Interpolation angesehen werden). Die Frage, wer denn die in dem eschatologischen Teil des l . K o rintherbriefes (15,1-58) bekämpften Auferstehungsleugner eigent-
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lieh waren, ist eines der umstrittensten Probleme der neutestamentlichen Exegese. Sicher ist, daß es sich nicht einfach um Gemeindeglieder handelte, die noch im heidnischen Unglauben befangen waren und deshalb die Auferstehung leugneten. Vielmehr müssen hier die gleichen religiösen Enthusiasten gemeint sein, die auch sonst in diesem Brief angegriffen werden. Aber ob sie statt des Glaubens an die Auferstehung eine Lehre von der Unsterblichkeit der Seele vertreten haben, oder ob sie annahmen, daß schon vor der Parusie die volle Teilnahme am Heil mit Christus in Erfüllung gegangen sei, läßt sich nicht sagen. Jedenfalls glaubten sie nicht etwa, daß mit dem T o d e alles aus sei; denn sonst würden sie wohl kaum die Vikariatstaufe für schon Verstorbene geübt haben (1. Kor. 15,29). Das Selbstbewußtsein der Korinther kommt auch hier darin zum Ausdruck, daß sie sich schon jetzt im vollen Besitz aller verheißenen Heilsgüter wissen. D a z u paßt, daß Paulus in 1. Kor. 15,44-49 ein Erlösungsverständnis angreift, das von der schon in der Gegenwart erreichbaren Rückkehr zum ersten, göttlichen Menschen redete. Paulus hält dem ein geschichtliches Verständnis der Erlösung entgegen, das mit einer noch nicht erfüllten Zukunft rechnet. Entsprechend sieht Paulus die Auferstehung Christi, von der das „Evangelium" redet (15,1 ff), als ein in der vergangenen Geschichte verankertes Ereignis, für das es geschichtliche Zeugen gibt. Es ist keine zeitlose Wahrheit, die man sich jederzeit aneignen kann. Unter Berufung auf ein apokalyptisches Geheimwort (15,51 f) und auf traditionelle apokalyptische Schemata (15,23 ff) versucht Paulus zu zeigen, daß erst die Parusie der gegenwärtigen irdischen Existenz ein Ende machen wird und daß erst dann die endgültige Vereinigung mit dem himmlischen Menschen erreicht werden kann. Im Schlußkapitel (1.Kor. 16) erörtert Paulus seine Pläne (s.o.). Bemerkenswert ist, daß hier zum ersten Male wieder von der Kollekte „ f ü r die Heiligen" (d.h. in Jerusalem) geredet wird, die Paulus weder im Galaterbrief noch im 1. Thessalonicherbrief aktiv betrieben hatte. Auch erwähnt Paulus die Möglichkeit, daß er selber mit anderen Abgesandten zusammen nach Jerusalem gehen könnte (16,4). Seinen Mitarbeiter Timotheus hatte Paulus bereits vor der Abfassung des Briefes nach Korinth gesandt ( 1 . K o r . 4 , 1 7 ; 16,1 Of). Er erwartete jetzt seine Rückkehr zusammen mit einer Delegation der korinthischen Gemeinde (16,11). Die Aufnahme des 1. Korintherbriefes in Korinth läßt sich unge-
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fähr abschätzen. Sie muß positiv gewesen sein. Denn wie aus 2. Kor. 12,18 (vgl. 9,2) hervorgeht, muß Paulus bald darauf den Titus und einen weiteren Bruder nach Korinth und Achaia geschickt haben, um dort die Sammlung der Kollekte zu organisieren. Sie taten das mit Erfolg, und die Korinther erkannten das auch an. Auf Grund der Berichte des Timotheus oder des Titus entschloß sich Paulus auch, seine Reiseabsichten zu ändern. Nicht über Makedonien wollte er zu einem Aufenthalt nach Korinth kommen, sondern direkt nach Korinth reisen, von dort aus einen Besuch bei den makedonischen Gemeinden machen und sich danach nochmals länger in Korinth aufhalten (2. Kor. 1,15 f). Daß dieser neue Reiseplan den Wünschen der Korinther entsprach, ergibt sich deutlich aus den Vorwürfen, die ihm die Korinther machten, als er diesen zweiten Plan nicht einhielt (2. Kor. 1,12 ff). d) Erneute Opposition in Korinth; der 2.Korintherbrief D a ß Paulus seinen zweiten Reiseplan nicht ausführte, war zum Teil dadurch verursacht, daß sich inzwischen die Situation in Korinth wieder verändert hatte. Wie aus den im 2. Korintherbrief zusammengestellten Brieffragmenten hervorgeht (s.o. §7.3d), war erneut eine Opposition entstanden, die diesmal durch von außen eingedrungene fremde Missionare veranlaßt wurde. Im Gegensatz zum 1. Korintherbrief werden gegen Paulus agierende Apostel ausdrücklich erwähnt. Auch sind die zentralen Fragen der Auseinandersetzung andere als zuvor; was im ersten Brief diskutiert worden war, wird nur noch am Rande erwähnt, ja Paulus scheint im Blick auf diese früheren Kontroversen jetzt eine versöhnlichere Position einzunehmen (vgl. z.B. 2 . K o r . 5 , I f f mit 1.Kor. 15). Daher geht es nicht an, die Gegner der im 2. Korintherbrief zusammengefaßten Korrespondenz mit denen des 1. Korintherbriefes zu identifizieren. Bei den Gegnern handelte es sich um judenchristliche Missionare, die sich mit Stolz darauf beriefen, daß sie „ H e b r ä e r , Israeliten und Abrahams Same" seien (2. Kor. 11,22). Da aber Gesetz und Beschneidung niemals erwähnt werden, kann es sich nicht um die J u daisten handeln, die in die galatischen Gemeinden eingedrungen waren (s.o. §9.3b). Doch spielte die jüdische Tradition und eine Theologie des Neuen Bundes bei diesen Gegnern eine erhebliche Rolle (vgl. 2. Kor. 3), so daß man schließen muß, daß f ü r sie die christliche Botschaft die Erneuerung der wahren jüdischen Religion war - ein deutlicher Unterschied zu den Korinthern, mit
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denen sich Paulus im 1.Korintherbrief auseinandersetzte! Die Methoden der Agitation dieser neuen Gegner entstammten der hellenistisch-jüdischen Propaganda und Apologetik. Ihre Tätigkeit richtete sich auf die konkrete Darstellung der vom Geist gewirkten Erneuerung der jüdischen Religion. Das geschah durch das Vollbringen von Krafttaten und Wundern (vgl. 2. Kor. 12,11 f), durch Prahlen mit mystischen Erlebnissen und Gebetserhörungen (vgl. 2.Kor. 12,1-9) und durch pneumatische Auslegung des A T (2.Kor 3,4-18). Solche Demonstrationen zielten darauf, den Besitz göttlicher Macht, der in Moses oder in Jesus in Erscheinung tritt, wiederholbar zu machen und so selbst zum „göttlichen Menschen" zu werden (Paulus hielt dem entgegen, daß die Herrlichkeit auf dem Angesicht des Moses wieder verging, 2. Kor. 3,13; daß der so propagierte Christus ein „Christus nach dem Fleisch" sei, 2.Kor.5,16; und daß diese Apostel nur sich selbst predigten, 2.Kor.4,5). Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Predigt dieser Apostel von Jesus im wesentlichen Machttaten Jesu berichtete, wie sie etwa in den Quellen des Markusevangeliums und in der Semeia-Quelle des Johannesevangeliums in Erscheinung treten (s.o. §7.3b). Entsprechend werden die Empfehlungsbriefe, die sie vorweisen konnten (2. Kor. 3,1 ff), Bestätigungen ihrer Machttaten und ihres missionarischen Erfolges enthalten haben. Die Korinther waren beeindruckt. Warum hatte Paulus nicht entsprechendes unter ihnen vollbracht, oder wenigstens von seinen eigenen religiösen Erlebnissen berichtet? Hatte Paulus ihnen nicht eine wichtige Dimension religiöses Erfahrung einfach vorenthalten? Noch nicht einmal von seinem apostolischen Recht, sich für seine missionarische Arbeit entlohnen zu lassen, hatte er Gebrauch gemacht (2.Kor. 12,11 ff; vgl. 11,7ff). Als derartige Fragen, die seine Autorität als Apostel grundsätzlich bezweifelten, Paulus hinterbracht wurden, antwortete er zunächst mit einem Brief, der im wesentlichen in 2. Kor. 2,14-6,13 und 7,2-4 erhalten ist. Als Zeit der Abfassung dieses Briefes ebenso wie eines kurz darauf erfolgten Besuches in Korinth (sogenannter Zwischenbesuch) und eines weiteren unmittelbar danach geschriebenen Briefes (2. Kor. 10-13) muß man den Sommer des Jahres 54 annehmen. Das erhaltene Fragment des ersten Briefes, 2. Kor. 2,14-6,13; 7,2-4, ist eine Darstellung der Rolle des Apostels als Teil eines eschatologischen Geschehens, in das auch die Gemeinde einbegriffen ist. Paulus will der Gemeinde zeigen, daß eine anschauliche De-
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monstration göttlicher Macht und Herrlichkeit in der Person des Missionars unvereinbar damit ist, daß es sich hier um das endzeitliche Schaffen Gottes handelt, in dem nichts weniger als die Schöpfung selbst neu vollzogen wird. Das wird gleich in der einleitenden Danksagung thematisch in einem kühnen Bilde gesagt: Als Gefangener im Triumphzug Gottes richtet der Apostel seine Leben und Tod bringende Botschaft aus (2,14ff). Der Gebrauch von effektvollen Mitteln, durch die man das Evangelium möglichst erfolgreich am Markt der Religionen verhökern will (2,17; vgl. 4,2), ist diesem Geschehen ebenso unangemessen wie Empfehlungsbriefe für den erfolgreichen Missionar (3,1 ff). Ein weiteres auffallendes Bild: Die Gemeinde ist der durch den Apostel bestellte Himmelsbrief. Die Gegenüberstellung dieses auf Tafeln des Herzens mit dem Geist Gottes geschriebenen Briefes und dessen, was auf steinernen Tafeln niedergeschrieben wurde (3,3), leitet zur Kritik der Bundestheologie der Gegner über. Auch Auslegung des Alten Bundes kann die Herrlichkeit Gottes nicht veranschaulichen; vielmehr ist sie dort verdeckt bis zum heutigen Tag. Das legt Paulus in einem kritischen Kommentar zu einer Exodusauslegung seiner Gegner dar (3,4-18). Der Anspruch der Gegner, daß sich göttliche Macht unzweideutig darstellen läßt, zwingt Paulus zu einer gnostisch klingenden Rede von der Gegenwart des eschatologischen Geschehens. Gewiß geht es um nichts weniger als um das Aufleuchten des Schöpfungslichtes in der Wirksamkeit des Apostels (4,5). Aber es kommt aus dem „ H e r z e n " des Apostels, es ist ein Schatz in irdenen Gefäßen (4,7). Paradoxerweise ist es in der Trübsal anschaulich, die der Apostel erleidet; denn sein Los ist die Erfahrung des Sterbens Jesu, damit sich das Leben an der Gemeinde verwirklicht (4,8 ff). Nur der innere Mensch wird erneuert; der äußere vergeht wie alles Sichtbare (4,16ff). Gnostisch klingen auch die Ausführungen über die Auflösung des irdischen Zeltes (5,1 ff). Zwar ist alles Tun der Menschen letztlich vor dem Richtstuhl Gottes offenbar (5,10), aber im irdischen Bereich kann sich die Wahrheit der Predigt nur vor dem Gewissen oder dem Herzen offenbaren (4,2; 5,11 f; 6,12; 7,3), nicht öffentlich. Die Neuschöpfung ist gegenwärtige Wirklichkeit und alles Alte ist dahin (5,17). Doch Paulus, als ein mit dem Amt dieser eschatologischen Versöhnung betrauter Apostel (5,18-6,2), kann die Korinther nur auf eine recht paradoxe Dokumentation dieses Geschehens in seinen eigenen Erfahrungen und in seinem eigenen Wirken verweisen: „ . . . in Bedräng-
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nissen, Schlägen, Gefängnissen,... als Sterbende, und siehe wir leb e n . . . " (6,3-10). Aus den folgenden Ereignissen ergibt sich, daß dieser Brief die Zweifel der Korinther nicht beseitigte und wohl nur das Hohngelächter der Gegner erntete. Von der Wirkung seines Briefes unterrichtet, muß sich Paulus entschlossen haben, kurzerhand selbst nach Korinth zu reisen, um durch sein persönliches Eingreifen die Gemeinde wieder auf seine Seite zu bringen. Dieser Besuch ist offensichtlich eine Katastrophe gewesen. Nicht nur gaben die Korinther keinerlei Anzeichen, daß sie willens waren, sich Paulus zu unterwerfen; irgendjemand beleidigte Paulus sogar so schwer (2.Kor.7,12), daß die persönlichen Beziehungen dadurch ernsthaft in Frage gestellt wurden. Paulus entschloß sich, unverrichteter Sache nach Ephesus zurückzukehren und nochmals an die Korinther zu schreiben. Dieser zweite Brief gegen die in Korinth eingedrungenen Apostel ist zum Teil in 2. Kor. 10-13 aufbewahrt - vielleicht der nach 2.Kor.2,4 so genannte Tränenbrief (?). Der Brief ist eine Apologie des paulinischen Apostolats, in der Paulus in der Wahl seiner literarischen und rhetorischen Mittel bis an die äußerste Grenze des Erträglichen ging. Eine seiner wichtigsten Gemeinden stand auf dem Spiele. Satire und Ironie werden ebenso eingesetzt wie Verachtung und Drohung. Paulus hatte inzwischen seine Gegner persönlich kennengelernt und er wußte genau, was die Korinther von ihm erwarteten, wenn er sich mit den Gegnern nach deren Maßstäben erfolgreich vergleichen wollte. Aber gerade darauf konnte er sich nicht einlassen; denn das „sich messen", „abschätzen" und „vergleichen" der Gegner beruhte auf ihrem Auftreten in einer Gemeinde, die sie nicht selbst gegründet hatten, und zielte nicht auf die Auferbauung dieser Gemeinde hin, sondern nur auf die Aufrichtung ihres eigenen Ruhmes. Paulus verlangte von den Korinthern, daß sie ihn nicht mit den Maßstäben der Gegner maßen, sondern sowohl seine Briefe als auch sein persönliches Auftreten mit dem Maßstab der Sache beurteilten, um die es ging, nämlich der Verkündigung des Evangeliums (10,1-18). Daß Paulus freilich von dem Recht, das ihm gerade als Verkündiger des Evangeliums zustand, sich von der Gemeinde unterhalten zu lassen, keinen Gebrauch gemacht hatte, war ein schwerwiegender Vorwurf, zumal in diesem Zusammenhang offenbar noch der Verdacht geäußert worden war, daß die Sammlung der Kollekte unlauteren Motiven entsprang (11,7-10; 12,11-18). Konnte dieser Rechtsverzicht
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des Paulus, der die Liebe zur Gemeinde zum Ausdruck brachte, so mißverstanden werden, dann mußte er daraus schließen, daß seine ganze Arbeit umsonst war. Dann wäre die Gemeinde, die er, wie ein ehrlicher Heiratsmakler, als reine Braut Christus zuführen wollte, die sich aber von den „Uberaposteln", die nichts als verkappte Sendlinge Satans sind, alles gefallen ließ, tatsächlich verloren (11,1 ff; l l , 1 2 f f ; vgl. 12,19ff). In dieser Situation entschloß sich Paulus nun doch, sich mit den Gegnern nach deren Maßstäben zu vergleichen - allerdings in einer „Narrenrede". Dieser Abschnitt des Briefes (11,16-12,10) ist eine bis in Einzelheiten sorgfältig ausgearbeitete Persiflage der religiösen Errungenschaften, deren sich die gegnerischen Apostel rühmten, eine Satire der Aretalogie. Paulus beginnt mit einem Vergleich der Würdetitel (11,22 f); aber an die Stelle der sich daran anschließenden Aufzählung der Erfolge im missionarischen Wirken setzt er einen Peristasenkatalog, der alle Gefahren, Widrigkeiten und Unbillen aneinanderreiht, die er in seiner Tätigkeit als Apostel erfahren hat (11,23 ff). Mit einer ironischen Darstellung seiner Flucht aus Damaskus schließt der Katalog ab (11,32 f). 12,1 ff beschäftigt sich mit den Errungenschaften seiner persönlichen Frömmigkeit, was beweist, daß die Gegner sich auch mit ihren Visionen und erfolgreichen Gebetserhörungen brüsteten. Paulus hingegen verrät Unsicherheit in Bezug auf die Identität der Person, die in den dritten Himmel entrückt wurde und bemerkt, daß ohnehin nichts Mitteilbares bei der ganzen Sache herausgekommen sei; und was Gebetserhörung anbetrifft, so habe er nur einen abschlägigen Bescheid erhalten. Paulus macht so deutlich, daß die Gemeinde aus der Beurteilung des Apostels im Vergleich mit den Gegnern gar nichts lernen kann. Sie muß sich vielmehr selbst beurteilen, ob sie im Glauben steht und ob Christus in ihr ist. Ist das der Fall, dann hat auch der Apostel die Prüfung bestanden. Andernfalls muß er seine Vollmacht dazu gebrauchen, die Gemeinde aufzulösen (13,1 ff). Zwischen der Abfassung dieses Briefes und der endgültigen Lösung des Konfliktes mit der korinthischen Gemeinde muß eine geraume Zeit vergangen sein. Ganz unmöglich ist die Annahme, 2.Kor. 10-13 sei ein Teil jenes letzten Briefes nach Korinth, den Paulus von Makedonien aus schrieb, nachdem Titus ihm die Nachricht überbracht hatte, daß die Gemeinde sich mit ihm versöhnt habe (2. Kor. 7,6 f)· Daß Paulus erst nach dem Eintreffen dieser erfreulichen Nachricht zum entscheidenden Schlag auf die Gegner
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ausholte, ist unvorstellbar. Gerade der Ton von 2. Kor. 10-13, die Heftigkeit des Angriffs und die Ausschöpfung aller rhetorischen Mittel macht es notwendig, die Teilungshypothese zu akzeptieren und 2.Kor. 1,1-2,13; 7,5-16 ebenso wie die beiden Kollektenbriefe 2. Kor. 8 und 9 einem späteren Stadium der Beziehungen des Paulus zur korinthischen Gemeinde zuzuschreiben. Aber nicht nur die Notwendigkeit, erst noch Titus zur Herstellung der Versöhnung mit der Gemeinde nach Korinth zu senden, sondern auch unvorhergesehene Ereignisse in Ephesus haben den geplanten letzten Besuch in Korinth verzögert und zu einer nochmaligen Änderung der Reisepläne Anlaß gegeben. e) Ephesinische Gefangenschaft, Briefe an die Philipper und an Philemon Daß Paulus wiederholt im Gefängnis gewesen ist, geht aus Angaben wie 2.Kor.6,5 und 11,23 hervor, spiegelt sich auch in verschiedenen Berichten der Apg. wieder. 2. Kor. 1,8 ff, kurz nach der Abreise von Ephesus in Makedonien geschrieben, berichtet jedoch von einer Bedrängnis, in der Paulus fest mit dem Todesurteil rechnete. Dieser Bericht erklärt sich am besten mit der Annahme einer längeren ephesinischen Gefangenschaft. Dazu würden die Angaben von Phil. 1,12-26 sowie des Philemonbriefes gut passen. Also wären auch diese Briefe während der Gefangenschaft in Ephesus, die dann auf den Winter 54/55 anzusetzen ist, geschrieben. Die traditionelle Ansicht ist allerdings, daß diese beiden Briefe ebenso wie die (unechten) Briefe an die Kolosser und Epheser während der Gefangenschaft des Paulus in Rom geschrieben sein wollen. Eine Lösung der Frage, ob die Philipper- und Philemonbriefe in Ephesus oder in Rom geschrieben wurden, ist deshalb so schwierig, weil außerhalb der paulinischen Briefe keine zuverlässigen Angaben überliefert sind, weder über die Gefangenschaft in Ephesus, noch über diejenige in Rom (aus Apg. 28,30 f läßt sich bestenfalls auf die Tatsache der römischen Gefangenschaft schließen). Interne Angaben dieser beiden Briefe müssen also den Ausschlag geben. Folgt man diesen Angaben, so ergibt sich allerdings ein klares Ubergewicht für die Annahme ihrer Abfassung während einer ephesinischen Gefangenschaft. Paulus hat im Gefängnis aus Philippi eine Geldspende erhalten (Phil. 4,10-20); Epaphroditus ist (als Überbringer der Spende oder kurz danach) aus Philippi zu Paulus gekommen (Phil. 2,25; 4,18) und die Philipper hatten inzwischen
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schon gehört, daß er dort krank geworden war (Phil. 2,26). Paulus will den Timotheus möglichst bald nach Philippi senden (Phil. 2,19) und, falls sein Prozeß gut ausgehen sollte, baldmöglichst selbst nach Philippi kommen (Phil. 1,26; 2,24). Ein solcher schneller Austausch von Nachrichten und Boten läßt sich viel besser erklären, wenn Paulus in Ephesus im Gefängnis war. Zudem läßt sich die Absicht des Paulus, bald nach Philippi zu kommen überhaupt nicht damit vereinbaren, daß er nach Rom. 15, 24-28 über Rom nach Spanien reisen wollte. Hingegen paßt es genau zu den aus den Korintherbriefen bekannten Plänen einer Makedonienreise (s.o.), die Paulus dann nach der Abreise von Ephesus auch tatsächlich ausführte. Ebenso passen die Angaben des Philemonbriefes weitaus besser nach Ephesus. D e r aus dem Hause des Philemon entlaufene Sklave Onesimus konnte leicht von Kolossae nach Ephesus gekommen sein, und es w a r f ü r Paulus nicht schwierig, ihn von dort wieder nach Kolossae zurückzusenden; zu einer römischen Gefangenschaft des Paulus will das alles nicht recht passen, schon gar nicht die Ankündigung eines womöglichen Besuches (Phlm.22; vgl. Rom. 15,24 ff). Da die einzelnen Teile des Philipperbriefes ganz verschiedene Situationen und Stimmungen widerspiegeln, wird man einer Teilungshypothese folgen müssen (s.o.§7.4d). Der erste dieser Briefe, Phil.4,10-23, ist ein nach Philippi gerichtetes Dankschreiben, das den Empfang einer Geldspende aus Philippi quittiert (4,18 verwendet eine reguläre Quittungsformel). Es betont die Unabhängigkeit und Autarkie des Paulus (4,11-13), der diese Gabe nicht als Erfüllung einer Verpflichtung verstanden wissen will, sondern als ein D a n k o p f e r für Gott (4,18). Dadurch steht die Gemeinde nicht nur in einem Verhältnis des gegenseitigen Gebens und Nehmens mit dem Apostel, sondern ist auch in die Fürsorge Gottes eingeschlossen (4,19). D e r zweite Brief, Phil. 1,1-3,1 (und vielleicht noch 4,4-7), spiegelt durchweg die Situation der Gefangenschaft wider. Im Proömium (1,3-26) behandelt Paulus ausführlich die Frage, was diese Gefangenschaft und die Aussicht auf seinen bevorstehenden T o d f ü r die Gemeinde, f ü r die Verkündigung des Evangeliums und f ü r ihn selbst bedeutet. Im Blick auf die Gemeinde ist Paulus davon überzeugt, daß die Teilhabe am Evangelium und das ihn mit ihr verbindende Band der Liebe ihr weiteres Wachsen in Erkenntnis und Urteilskraft garantiert (1,3-11). Was die Predigt des Evangeliums
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anbetrifft, so hat sie gerade durch die Gefangenschaft des Paulus profitiert; gleichzeitig betont Paulus ihre Unabhängigkeit von seinem Schicksal und von der Stellung zu seiner Person (1,12-18). Was mit ihm selbst geschieht, ist letztlich gleichgültig, da durch Leben oder Tod Christus gleicherweise verherrlicht wird; wäre es zwar für ihn persönlich Gewinn, zu sterben und mit Christus zu sein, so würde er doch das Leben und den weiteren Dienst an der Gemeinde wählen (1,19-26). Da Paulus in diesem Abschnitt mit einem unmittelbaren Eingehen in das „Mit-Christus-Sein" nach dem Tode rechnet - keine Parusie-Erwartung! - , hat man gemeint, einen Fortschritt seiner eschatologischen Anschauungen gegenüber 1.Kor. 15,51 f zu beobachten; tatsächlich unterscheidet sich das Phil. 1,21 ff Gesagte aber in keiner Weise von dem, was schon der älteste Paulusbrief zum Ausdruck brachte (vgl. l.Thess.5,10). Die Paränese dieses Briefes (Phil. 1,27-2,18) ist ebenfalls eng auf das Leiden des Apostels bezogen (vgl. l , 2 9 f ; 2,17). Aber diese Beziehung begründet kein Abhängigkeitsverhältnis. Im Gegenteil, Paulus selbst ist nur ein Opfer, das im Dienst an dem Glauben der Gemeinde ausgegossen wird, während die Erlösung der Gemeinde unmittelbar an Gott und Christus gebunden ist. So steht im Mittelpunkt nicht das Beispiel des Paulus sondern die Grundlegung der neuen Existenz durch Christus, die Paulus in einem Zitat eines Christushymnus darstellt (2,6-11). Dieser Hymnus, ein wichtiger Beweis für die Übernahme und Modifizierung einer mythischen Weisheitstheologie im Christentum, wendet sich in der von Paulus zitierten Form gegen ein individualistisches Erlösungsverständnis und bindet die Gemeinde an Einigkeit, gegenseitige Rücksichtnahme und Verzicht auf eigene Geltung als die der kosmischen Herrschaft des Gekreuzigten entsprechende Grundhaltung. Den Abschluß des Briefes bilden Empfehlungen für Timotheus, der einst als Mitarbeiter des Paulus bei der Missionierung Philippis selbstlos im Dienst der Gemeinde aufging, und für den aus Philippi zu Paulus gesandten Epaphroditus, der wegen einer längeren Krankheit erst verspätet nach Philippi zurückkehren konnte (2,19-30). Gerade dieser Brief, der wie kein anderer sich mit der Gefangenschaft des Paulus und seinem bevorstehenden Tod beschäftigt, wird von stets wiederholten Aufforderungen zur Freude durchzogen (1,4.18.25; 2,2.17f.28f; 3,1; 4,4). Erst recht im Angesicht des Todes muß sich in der eschatologischen Festfreude der Gemeinde zeigen, was der christliche Glaube wert ist.
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Ein völlig anderer T o n herrscht in Phil. 3,2-4,3 vor. Paulus muß inzwischen von der Gefahr Nachricht erhalten haben, die der Gemeinde von anderen Missionaren drohte, die in die Gemeinde eingedrungen waren. Was in Phil. 3,2-21 (vielleicht auch 4,1-3.8 f) von dem daraufhin von Paulus verfaßten Schreiben erhalten ist, entspricht der literarischen Form des „Testaments". Nach jüdischen Vorbildern (vgl. die Testamente der 12 Patriarchen, s.o. § 5 . 3 c ) gehörte dazu eine biographische Vorgeschichte, eine ethische Ermahnung und eine eschatologische Belehrung, die Fluch und Segen darstellt (in diesem Zusammenhang erscheint die W a r n u n g vor falschen Lehren). Diese literarische Form ist auch sonst im Christentum verwendet worden, am deutlichsten in dem deutero-paulinischen 2.Timotheusbrief (s.u.§ 12. 2g). O b es sich bei den Irrlehrern hier um jüdische, judaistische oder gnostische Missionare handelt, ist umstritten. Von den Gegnern des 2. Korintherbriefes unterscheidet sie, daß sie Gesetzesgehorsam predigten und die Beschneidung verlangten (vgl. vor allem Phil. 3,3.5f). Darin stimmen sie mit den Judaisten in Galatien überein. Sie unterscheiden sich von ihnen aber darin, daß sie eine durch Gesetzeserfüllung schon in der Gegenwart erreichbare Vollkommenheit proklamieren, die bereits den vollen Besitz der himmlischen Güter garantiert (vgl. 3,12.15.19). Darin verrät sich ein gnostisierendes Erlösungsbewußtsein. Die Invektiven in 3,2.18 f können also nicht als Angriffe auf Libertinisten verstanden werden, sondern sind Umkehrungen der perfektionistischen Schlagworte der Gegner. Die biographische Einleitung (3,5-11) ist ein wichtiges Zeugnis dafür, wie Paulus seine eigene Bekehrung verstand (s.o. 9. 7b). Paulus stellt die von den Gegnern angepriesene Vollkommenheit als seinen eigenen einstigen Besitz dar, den er preisgegeben hat, um die Gerechtigkeit durch den Glauben an Christus zu gewinnen. Weil das neue Sein durch Leiden und T o d Christi bestimmt ist und die Vollendung in der Auferstehung im strengsten Sinne der Z u k u n f t zugehört, kann die ethische Ermahnung (3,12-16) sich nicht auf ein Handeln im Interesse eines Vollkommenheitsideals richten. Vielmehr hat das ethische Handeln dem Rechnung zu tragen, daß die christliche Existenz eine offene Bewegung ist, die auf ein eschatologisches Ziel hin ausgerichtet sein muß. Die eschatologische Erfüllung läßt sich eben nicht vorwegnehmen. Denen, die das versuchen, droht der Fluch (3,18 f). Das Ziel, dem die Christen entgegengehen, ist jenseitig und setzt die Verwandlung der irdischen Existenz voraus
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(3,20f). Paulus argumentiert gegen die Vollkommenheitsapostel in Philippi ebenso wie gegen die Enthusiasten in Korinth ( l . K o r . 15). In beiden Fällen hat er es mit gnostisierenden Gegnern zu tun. Etwa zur gleichen Zeit muß der Philemonbrief geschrieben worden sein. Er ist das einzige persönliche Schreiben des Paulus, das uns erhalten ist. Daher ist auch beim Absender der Titel (Apostel oder „Knecht") nicht genannt. Paulus bezeichnet sich als „ G e f a n gener Christi Jesu" (Phlm. 1) und richtet seine Bitte an Philemon auch nicht als Apostel, der Gehorsam verlangen kann, sondern als „Gefangener und älterer M a n n " (Phlm. 9). Der Adressat, Philemon, ist wahrscheinlich in Kolossae zu suchen; denn sowohl Onesimus, um dessentwillen der Brief geschrieben wurde, als auch der in Phlm. 2 genannte Archippus gehören der kolossischen Gemeinde an (vgl. Kol.4,9.17). D a Philemon auch als Mitarbeiter bezeichnet wird und die Gemeinde in seinem Hause gegrüßt wird, kann man schließen, daß in Kolossae eine christliche Gemeinde bestand, die vielleicht von Philemon gegründet worden war, den Paulus dann in Ephesus bekehrt hätte. Der Brief setzt voraus, daß Onesimus, ein Sklave des Philemon, im Zusammenhang mit einem Diebstahl (?vgl. Phlm. 18) entlaufen war, nach Ephesus gelangte und sich dort in den Schutz des gefangenen Paulus begab, von dem er wohl im Hause seines H e r r n gehört haben mußte. Er hatte dem gefangenen Apostel nützliche Dienste geleistet, und Paulus hatte ihn persönlich liebgewonnen, konnte ihn aber nicht bei sich behalten - sowohl aus rechtlichen als auch aus praktischen Gründen. So schickte er ihn mit einem Schreiben an seinen H e r r n zurück. O b dieses Schreiben dem Philemon befahl, seinen Sklaven, der ihm entlaufen war, freizulassen, ist viel diskutiert worden. Zu beachten ist, daß Paulus in diesem Briefe überhaupt keine Anweisungen gibt - seine apostolische Autorität wird ausdrücklich nicht f ü r diesen Fall eingesetzt sondern dem Philemon die Entscheidung überläßt. Aber die Empfehlung, den entlaufenen Sklaven als Bruder „sowohl im Fleisch als auch im H e r r n " wieder aufzunehmen, kann man schwerlich anders als eine Empfehlung zur Freilassung interpretieren; denn „Bruder im H e r r n " ist Onesimus ja auch als Sklave (Phlm. 16). Statt eines entsprechenden Befehles gibt Paulus aber eine schriftliche, rechtlich einklagbare Garantie (Phlm. 18 f): er will, wenn nötig, f ü r alle Kosten aufkommen. Auch das beweist, daß dieser Brief geschrieben wurde, um die Freilassung des Onesimus zu erreichen. Der Philemonbrief unterscheidet sich auffallend von einem Brief
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des jüngeren Plinius, der in einer ganz ähnlichen Situation verfaßt wurde. In diesem Brief appelliert Plinius an die Großmut seines Freundes, die ihn dazu bereit machen sollte, dem Entlaufenen zu vergeben. Hingegen redet der Philemonbrief überhaupt nicht von Vergebung und vermeidet es ganz bewußt, den Onesimus in eine Situation zu bringen, in der er fürderhin in Dankbarkeit an die Großmut seines Herrn gebunden und ihr verpflichtet wäre. Im Gegenteil, für Paulus verlangt das Gebot der Liebe die Freiheit unter der Bedingung rechtlicher und geschäftsmäßiger Garantien, die er selbst zu geben durchaus bereit ist. f) Die Kollekte; letzte Korinthreise Bei dem während des Apostelkonzils geschlossenen Abkommen hatte Paulus versprochen, der „Armen" in Jerusalem zu gedenken (Gal.2,10; s.o.§9. Id). Im l.Thessalonicherbrief und im Galaterbrief wird jedoch kein Versuch gemacht, dieses Versprechen durch eine entsprechende Geldsammlung zu verwirklichen. Man wird daher annehmen müssen, daß Paulus dieses Vorhaben zunächst zurückstellte. Die gespannte Situation in Galatien war ohnehin einem solchen Unternehmen nicht sehr günstig. 1. Kor. 16,1 ff jedoch zeigt, daß Paulus den Plan einer Kollekte für Jerusalem wieder ernsthaft betrieb. Dieser Text enthält detaillierte Anweisungen, wie die Korinther die Sammlung des Geldes handhaben sollen, teilt mit, daß Paulus die Absicht habe, beglaubigte Sendboten der Gemeinde mit dem eingesammelten Geld nach Jerusalem zu schicken, und berichtet auch von entsprechenden Instruktionen für die Sammlung der Kollekte in den galatischen Gemeinden. Daraus geht eindeutig hervor, daß es sich um einen mehrere Gemeinden umfassenden Plan einer Geldsammlung handelte. Titus und ein anderer Bruder wurden bald darauf von Ephesus nach Korinth gesandt, um in Griechenland die Kollekte weiter zu fördern (2.Kor. 12,18). Dann aber hatte die Auseinandersetzung mit den in Korinth eingedrungenen „Überaposteln" nicht nur die Kollektenpläne unterbrochen; vielmehr waren im Verlaufe dieser Auseinandersetzung auch Vorwürfe aufgetaucht, die die Lauterkeit der Ziele des Paulus hinsichtlich der Geldsammlung in Frage stellten (2.Kor. 12,13-18). Die Gefangenschaft des Paulus in Ephesus und die Befürchtung, daß er zum Tode verurteilt werden könnte, machten vorerst allen weiteren Kollektenplänen ein Ende. Nachdem Paulus Anfang des Jahres 55 aus dem Gefängnis ent-
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lassen worden war, mußte seine erste Sorge die Versöhnung mit der korinthischen Gemeinde sein. Wahrscheinlich änderte Paulus seinen zuletzt gefaßten Plan, von Ephesus direkt nach Korinth zu reisen und von dort aus einen Besuch in Makedonien zu machen (2. Kor. 1,15 f), aus eben diesem Grunde. Die Angaben 2. Kor. 1,23 ff zeigen deutlich Paulus' Absicht: die Katastrophe des letzten Besuches in Korinth (des „Zwischenbesuches", s.o. §9.3d) sollte sich nicht wiederholen. Daher schickte Paulus zunächst noch einmal Titus nach Korinth, der für die Gemeinde ja kein Unbekannter war und auf dessen anerkannte Lauterkeit sich Paulus bereits 2. Kor. 12,18 berufen hatte. Er selbst wollte erst dann nach Korinth kommen, wenn Titus die erhoffte Versöhnung erreicht hatte. Mit Timotheus zog Paulus von Ephesus nach Troas, von wo er schon fünf Jahre zuvor bei seinem ersten Besuch in Makedonien abgereist war. Als Titus nicht, wie erwartet, dort eintraf, fuhr Paulus trotz vielversprechender Missionsarbeit in Troas nach Makedonien weiter, wahrscheinlich zunächst nach Philippi (2.Kor. 2,12). Dort traf er endlich den sehnlichst erwarteten Titus, der ihm die Nachricht aus Korinth brachte, daß die Gemeinde zur Versöhnung bereit sei. In dieser Situation ist der Brief entstanden, von dem in 2. Kor. 1,1-2,13 und 7,5-16 wohl das meiste erhalten ist. Timotheus ist als Mitverfasser genannt, wie schon in dem ältesten erhaltenen Paulusbrief (l.Thess. 1,1; vgl. Phil. 1,1; Phlm. 1). Er begleitete Paulus auch auf dieser letzten Reise (vgl. auch Rom. 16,21). Im Proömium spricht Paulus zunächst allgemein von der erlittenen Trübsal und dem erfahrenen Trost Gottes (2. Kor. 1,3-7). Beides wird dann im folgenden Corpus des Briefes konkretisiert. Es ist charakteristisch, daß die Erfahrung der Trübsal nicht als isoliertes Ereignis des persönlichen Schicksals des Apostels aufgefaßt wird angesichts des drohenden Todesurteils während der Gefangenschaft in Ephesus wäre dies Grund genug gewesen, von der Trübsal zu reden (2. Kor. 1,8-10) - , sondern als Widerfahrnis, in das die Gemeinde vielfach miteinbegriffen ist. Die Fürbitte der Gemeinde hat ebenso zur Errettung beigetragen (1,11). Daher muß die Gemeinde auch erkennen, daß die mehrfachen Änderungen der Reisepläne nicht aus dem Schwanken des Apostels erwachsen sind. Vielmehr entspringt alles aus der gleichbleibenden Verpflichtung gegenüber dem in Korinth verkündeten Evangelium (1,12-22). Unter Anspielung auf den Zwischenbesuch und den daraufhin verfaßten Brief ( = 2. Kor. 10-13; s.o. 5 9.3d) macht Paulus klar, daß auch die
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in Korinth erfahrene Kränkung - das T h e m a „ T r ü b s a l " wird hier fortgesetzt - alle betraf, nicht nur ihn, und daß daher die Gemeinde helfen muß, den Urheber der Kränkung zu versöhnen, so wie Paulus seine Reisepläne ändern mußte, um die Gemeinde zu schonen und weiterer Betrübnis zu wehren (1,23-2,11). Die T r ü b sal des Paulus hörte deshalb nicht damit auf, daß er der Todesgefahr entrann, noch auch durch neue Möglichkeiten der Missionsarbeit (2,12f; 7,5). Erst die Nachricht von der Versöhnung mit der Gemeinde setzt ihr ein Ende (7,6-16). Dieser letzte Abschnitt des Briefes macht auch deutlich, daß Titus sich nicht nur den D a n k des Apostels, sondern auch der Gemeinde verdient hat; denn er brachte etwas fertig, w o z u Paulus außerstande w a r : die Trübsal in Trost, Freude und Erquickung f ü r alle zu verwandeln. An diesen Ausführungen wird vollends klar, daß es sich bei der paulinischen Mission nicht um das W e r k eines einzelnen Apostels handelt, sondern um die erfolgreiche Zusammenarbeit von judenchrisdichen und heidenchristlichen Missionaren, die es trotz großer Schwierigkeiten und trotz gefährlicher Konkurrenz erreichten, daß die neu gegründeten Gemeinden gefestigt wurden und so weitere Stürme überdauern konnten. Die beiden gesondert nach Korinth und an die Gemeinden Achaias gesandten Kollektenbriefe (2.Kor. 8 und 2.Kor. 9) zeigen, daß Paulus jetzt mit den wieder mit ihm versöhnten Gemeinden auch das große W e r k der Kollekte f ü r Jerusalem zum Abschluß bringen kann. Die kurzen Schreiben ermuntern nicht nur zum großzügigen Geben. Sie messen gleichzeitig den eschatologischen H o r i z o n t des Handelns dieser Gemeinden aus: Durch ihre Gabe f ü r Jerusalem unterstützen sie nicht nur die Armen; vielmehr ist solches T u n Teilnahme am Lobpreis Gottes f ü r seine Gnade, die gerade im Geben erst voll erfahren wird. In solcher Erfahrung sind die Heidenchristen vorrangig Empfänger der endzeitlichen O f f e n b a r u n g der Gerechtigkeit Gottes.
4. Korinth - Jerusalem - Rom Zua: Zum Ganzen des Römerbriefes: F. C. BAUR, Uber Zweck und Veranlassung des Römerbriefes und der damit zusammenhängenden Verhältnisse der römischen Gemeinde, Tübinger Zeitschrift für Theologie, 1836, 59-118. G. BORNKAMM, Der Römerbrief als Testament des Paulus, Geschichte und Glaubell, 1971, 120-139.
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E.KÄSEMANN, An die Römer, H N T 8 a , 3 1974 (Literatur!). Zum Aufbau des Römerbriefes: A. DESCAMPS, La structure de R o m 1-11, Studiorum Paulinum Congressusl, AnBib 17, 1963, 3 ff. J.DUPONT, Le probldme de la structure litteraire de l'Epitre aux Romains, RB62, 1955,365-397. U . L u z , Zum Aufbau von Röm. 1-8, T h Z 2 5 , 1969, 161-181. Einzelfragen: G. BORNKAMM, Das Ende des Gesetzes, 1952, 9-92. E. KÄSEMANN, Exegetische Versuche und Besinnungen II, 1964, und 204-222.
181-191
G. KLEIN, Rekonstruktion und Interpretation, 1969, 129-189. E. FUCHS, Die Freiheit des Glaubens: Röm. 5-8 ausgelegt, 1949. R. BULTMANN, Römer 7 und die Anthropologie des Paulus, Exegetica, 1967, 198-209.
W.G.KÜMMEL, R ö m e r 7 und das Bild des Menschen im N e u e n Testament, T h B 5 3 , 1974. W . SCHMITHALS, Die Irrlehrer von Röm. 16, 17-20, Paulus und die Gnostiker, T h F 3 5 , 1965, 159-173.
Zub undc: H.J. CADBURY, Roman Law and the Trial of Paul, T h e Beginnings of Christianity (hg. von F . J . FOAKES JACKSON and K. LAKE) V, 1932, 297-338. E. HAENCHEN,
Apostelgeschichte,
KEK,71977,
608-664.
a) Der letzte Aufenthalt in Korinth; Römerbrief und „Epheserbrief" Der korinthische Aufenthalt im Winter des Jahres 55/56 markiert den Abschluß der paulinischen Missionstätigkeit im ägäischen Raum. Festigung der neugegründeten Gemeinden, Vorbereitung der Reise in den Westen und der Überbringung der Kollekte nach Jerusalem mußten Paulus während dieser Zeit beschäftigt haben. Vom ersteren gibt Röm. 16,1-23 Zeugnis. Es ist ein Brieffragment, daß aus dieser Zeit stammt und vielleicht mit einer Abschrift des Römerbriefes (Röm. 1-15) nach Ephesus gesandt wurde. So erklärte sich auch, warum dieser kurze „Epheserbrief" als Teil des Römerbriefes in die spätere Sammlung der paulinischen Briefe hineingeraten konnte. Daß der uns erhaltene Römerbrief in dieser Form erst von einem Herausgeber geschaffen wurde, ergibt sich außerdem aus der am Schluß angehängten Doxologie, die sicher nicht von Paulus stammt (Röm. 16,25-27); eine Reihe von Hand-
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Schriften bringen diese Doxologie am Schluß des 14. oder des 15.Kapitels des Römerbriefes: ein Hinweis darauf, daß dieser Brief einst in verschiedenen Fassungen umlief (die von Marcion verwendete Fassung endete mit Rom. 14!). Der kurze Brief gibt einen guten Einblick in die kirchenpolitische Tätigkeit des Paulus: keine Organisation durch Kirchenordnung, sondern Regelung von Einzelfragen innerhalb der Festigung persönlicher Beziehungen. Am Anfang steht das älteste erhaltene Empfehlungsschreiben f ü r einen christlichen Amtsträger, für die „Missionarin" und „Gemeindeleiterin" Phoebe aus Kenchraea (Rom. 16,1-2; die üblichen Übersetzungen ihrer Titel „Diakonisse" und „ H e l f e r " lassen sich sprachlich nicht rechtfertigen). In der langen Grußliste wird eine Frau unter den Aposteln genannt (Junia, Rom. 16,7; man darf nicht statt dessen den männlichen Vornamen , J u n i a s " lesen, denn dieser ist sonst nirgends bezeugt). Die meisten der Genannten sind nicht einfach dem Paulus persönlich bekannte und verbundene Gemeindeglieder in Ephesus, sondern Mitarbeiter; dafür spricht, daß vielfach auf besondere Funktionen und Tätigkeiten hingewiesen wird. Daß eine so große Zahl von Frauen in dieser Liste erscheint, beweist eindeutig die uneingeschränkte Beteiligung von Frauen an den Gemeindeämtern in den paulinischen Gemeinden. Die Erwähnung von Hauskirchen und Einzelgruppen (Rom. 16,5.15) deutet auf das Bestehen von mehreren „Gemeinden" innerhalb der Gesamtkirche in Ephesus. Den Abschluß des Briefes bildet eine kurze Warnung vor Irrlehrern, die u.a. an Phil. 3 anklingt. Die Abfassung des Briefes an die Gemeinde in Rom sowie die Absicht, die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde persönlich zu überbringen, zeigt, daß für Paulus mehr auf dem Spiele stand als nur die Eröffnung eines neuen Missionsgebietes im Westen nach der getanen Arbeit im Osten. Beide, der Römerbrief und die Kollekte, zielen auf die Schaffung eines neuen Verhältnisses zwischen Heidenchristentum und Judenchristentum (und damit auch zwischen Heidenchristentum und Judentum). Die Autorität des Gesetzes wird ebenso bestritten wie die eschatologische Vorrangstellung Jerusalems. Paulus besteht auf der Gleichstellung aller, geeint nicht durch Gesetz, Tradition oder Organisation, sondern einmal durch die gegenseitige Fürsorge, zum anderen durch die göttliche Verheißung. Die gegenseitige Fürsorge wird in der Kollekte der Heidenchristen für Jerusalem dokumentiert; sie ist Dienst und Dankopfer für Gott. Die Verheißung ist universal und inklusiv; sie rechnet
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mit dem Einschluß der Vollzahl aller Heiden und Völker, bleibt aber auch als Verheißung an Israel bestehen. In dieser Situation ist der Römerbrief geschrieben. Der Römerbrief ist weder, wie die meisten anderen Briefe des Paulus, eine polemische Auseinandersetzung, noch eine theoretische theologische Abhandlung. Es ist ein Empfehlungsschreiben des Paulus für sich selbst. Paulus tritt in diesem Briefe aber nicht ausdrücklich in seiner apostolischen Autorität auf (vgl. Rom. 1,1 mit Gal. 1,1); seine Person ist nur insofern im Blick, als er Träger des Evangeliums ist, das universale Geltung beansprucht und den Verkünder zum Missionsdienst im gesamten bewohnten Erdkreis verpflichtet. Das Thema des Briefes ist daher eben dieses Evangelium und nicht die Person des Apostels. Dargelegt wird dieses Thema in Auseinandersetzung mit dem Judentum und mit dem Gesetz. Durch die Annahme, daß es in Rom viele Juden und Judenchristen gab, ist das nur sehr oberflächlich erklärt. Die grundsätzliche Darlegung des Evangeliums für die Völker mußte sich aus sachlichen Gründen mit der Gesetzesfreiheit befassen; denn im Gesetz sah Paulus die einzige Alternative zur Freiheit des Evangeliums, nicht nur für die Juden sondern auch für die Heiden. Auf der einen Seite wird damit der Gesetzesbegriff zu universaler Bedeutung erhoben (in Anknüpfung an die Tradition der jüdischen Apologetik; s.o. §5.3e), auf der anderen Seite wird aber auch die Behandlung „Israels" und seines besonderen Anspruchs auf Gesetz und Verheißung notwendig. Durchweg spiegelt der Römerbrief die Einsichten wider, die Paulus aus den früheren polemischen Auseinandersetzungen gewonnen hat: zur Abrahamverheißung Röm.4 vgl. Gal.3,16-18; zum Thema Adam und Christus Röm.5,12ff vgl. 1.Kor. 15,45-49; zur Problematik der Taufe Röm.6 vgl. 1. Kor. 1,12 ff; 15,29; über die Charismata Rom. 12 vgl. 1. Kor. 12; über das Verhältnis der Starken zu den Schwachen Rom. 14—15 vgl. 1. Kor. 6-11; zur Rechtfertigungslehre überhaupt vgl. Phil. 4 und den Galaterbrief. Die Form des Römerbriefes hat jedoch mit den anderen paulinischen Briefen wenig gemein; sie stammt aus der Tradition der jüdischen Apologetik. Das apologetische Schema ist besonders deutlich greifbar in Rom. 1,18-3,31. Es ist aber entscheidend abgewandelt. Paulus räumt den Heiden nicht etwa, wie üblich, eine teilweise Gottes- und Gesetzeserkenntnis ein, um dann die Möglichkeit der im alttestamentlichen Gesetz gegebenen vollkommenen Er-
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kenntnis anzupreisen. Er setzt vielmehr die Darlegung der vollkommenen Gottes- und Gesetzeserkenntnis für Juden und Heiden an den Anfang. Das den Heiden zugängliche Naturgesetz (Rom. 2,12-16) wird somit dem alttestamentlichen Gesetz gleichgestellt. All dies gilt nun freilich nicht der Verherrlichung des Gesetzes, sondern dem Nachweis des durch das Gesetz geschaffenen Verhängnisses: es schafft die Möglichkeit zum Selbstruhm und besiegelt damit erst recht die Verfallenheit aller unter die Macht der Sünde. Dem protreptischen Interesse der Apologetik entsprechend müßte nun nach der Darlegung der eigenen Botschaft (Rom. 3,21 ff) eine Ausführung über das rechte Tun im Rahmen dieser Botschaft folgen und der bessere Weg aufgezeigt werden, auf dem der Strebende zum Ziel gelangen kann. Aber das Handeln als Weg zur Erreichung des Zieles hatte Paulus durch seine Kritik des Gesetzes ja grundsätzlich in Frage gestellt. Das Ziel, die Rechtfertigung, kann durch menschliches Handeln nicht erreicht werden, sondern ist durch Gottes Handeln schon für alle gegenwärtig. Darauf richtet sich der Glaube; das wird am Beispiel Abrahams gezeigt (Rom. 4). Die Gegenwart der Freiheit von Sünde und Tod, die durch die Rechtfertigung geschenkt wird, legen die folgenden Kapitel dar (Rom. 5-8). Daß diese Freiheit durch den „eschatologischen Vorbehalt" qualifiziert ist - das Auferstehungsleben läßt sich nicht vorwegnehmen und das Element der H o f f n u n g bleibt für den Glauben konstitutiv schränkt sie nicht ein, sondern bindet sie an das bleibende Wirken der Liebe Gottes, die in Christus erschienen ist (Röm.8,31-39). Ist die Gegenwart des Zieles für den Glaubenden paradox (vgl. vor allem Röm. 7,7-8,30), so ist sie für „Israel nach dem Fleisch" ganz uneinsichtig, weil hier Predigt und Glaube nicht wirksam sind. Das führt Paulus in den Darlegungen von Röm. 9-11 zu einer Verschärfung des Erwählungsgedankens; die universale Gültigkeit der Verheißung kann nicht in Frage gestellt werden - auch nicht durch die Erfahrung, daß Gottes Offenbarungshandeln durch das Evangelium an Israel versagt hat. Obgleich Paulus in diesen Kapiteln zum ersten Male die Frage des jüdischen Volkes zum Thema der christlichen Apologetik macht unterscheidet er sich vom ideologischen Interesse der Apologetik dadurch, daß er keinen Versuch unternimmt, Israel zu bekehren. Die Verheißung bleibt in jedem Fall gültig und kann Israel nicht abgemarktet werden, weil sie in Gottes Rat beschlossen ist. Auf der anderen Seite denkt Paulus nicht einmal im Traum daran, Israel zu-
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liebe die Predigt von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben an den Nagel zu hängen; denn das würde Gottes Heilshandeln in Christus zunichte machen und nur wieder die eigene Gerechtigkeit des Menschen aufrichten. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Heiden (Rom. 10,1-12). Der Schlußteil des Briefes (Rom. 12-14) ist keine Ethik im Sinne der Protreptik, sondern steht unter dem Thema der Selbstpreisgabe. Das ethische Handeln hat nicht die eigene Vervollkommnung zum Ziel, sondern das Wohl des Nächsten und die Auferbauung der Gemeinde. Daher wird eine „vernünftige" (weder ideologische, noch charismatische) Einsicht in die eigenen Fähigkeiten im Dienst am Nächsten verlangt: Verwerfung der Vergeltung (es gibt keine „Sache Gottes" zu verfechten), Verwerfung des politischen Widerstandes (falls Rom. 13,1-7 in der Tat paulinisch ist und nicht ein eingeschobenes Stück hellenistisch-jüdischer Paränese), Verwerfung der Verwirklichung eines eigenen Vollkommenheitsideals - die Auferbauung der Schwachen in der Gemeinde geht vor. Erst im letzten Kapitel kehrt Paulus zum Anlaß des Schreibens zurück: zu seinem Plan, nach Rom zu kommen, um von dort nach Spanien weiterzureisen. Durch den ganzen Brief sollte der römischen Gemeinde klar gemacht werden, daß es sich nicht um einen persönlichen Wunsch des Apostels handelt, wofür ein persönliches Empfehlungsschreiben vonnöten gewesen wäre. Vielmehr ging es darum, daß auch die Christen Roms an dem universalen Geschehen des Evangeliums teilhaben, das von der Uberbringung der Kollekte nach Jerusalem bis zur Mission im fernen Westen reicht (beide werden hier ausdrücklich genannt und miteinander zu einer Einheit verbunden). b) Reise nach Jerusalem und Schicksal der Kollekte Am Schluß des Römerbriefes kündigt Paulus seine bevorstehende Ankunft in Rom an (Rom. 15,22-24). Er unterbricht aber diese Ankündigung mit der Mitteilung, daß er zunächst wegen der Kollekte für die Heiligen nach Jerusalem gehen müsse und erst von dort aus über Rom nach Spanien reisen werde (Rom. 15,25-28). Besondere Umstände müssen Paulus dazu bewogen haben, selbst die Uberbringung der Kollekte zu leiten; denn 1. Kor. 16,3-4 hatte er noch davon geredet, daß von den Gemeinden gewählte und von ihm selbst durch Briefe beglaubigte Delegierte die Kollekte überbringen sollten, er selber aber nur im Notfalle mitreisen werde. Als
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Grund für seinen Entschluß führt Paulus die Feindschaft der Ungläubigen in Judäa an; die willkommene Annahme der Kollekte in der Jerusalemer Christengemeinde scheint durch diese Feindschaft gefährdet (Rom. 15,31). Dies ist die letzte Nachricht, die uns in den paulinischen Briefen über das Leben und die Tätigkeit des Paulus erhalten ist. Von hier an steht uns als Quelle für den weiteren Verlauf der Dinge nur die Apostelgeschichte zur Verfügung, die zwar gelegentlich gutes Quellenmaterial verwendet, aber doch die ganze Darstellung nach eigener Tendenz gestaltet und vor allem die Kollekte nur in einer Nebenbemerkung erwähnt (Apg.24,17). Es kann aber nicht bezweifelt werden, daß es sich bei der Apg. 20-21 beschriebenen Reise tatsächlich um die Reise zur Uberbringung der Kollekte handelt. Dem lukanischen Bericht zufolge hat Paulus nicht den direkten Seeweg von Korinth nach dem östlichen Mittelmeer genommen, sondern ist wegen eines auf dem vorgesehenen Schiff geplanten Anschlags von Juden, die nach Syrien reisen wollten, auf dem Landwege zunächst nach Makedonien gegangen (Apg. 20,3), begleitet von den Delegierten der Gemeinden, die sich an der Kollekte beteiligt hatten (Apg. 20,4 gibt eine teilweise Liste dieser Delegierten). Die Uberbringung der Kollekte durch eine solche Delegation, deren Reisekosten ja auch bezahlt werden mußten, zeigt nicht nur, welche Bedeutung Paulus der Kollekte beimaß, sondern beweist auch, daß es sich um eine recht erhebliche Geldsumme gehandelt haben muß. Die Stationen der Seereise, Philippi, Troas (Apg. 20,6), Assos, Mitylene, Chios, Samos, Milet (Apg. 20,14-15), Kos, Rhodos, Patara, an Cypern vorbei nach Tyros in Syrien (Apg. 21,1-3), Ptolemais, Caesarea (Apg. 21,7-8) sind nach einem der damals verbreiteten Itinerare angegeben, können aber durchaus der tatsächlichen Reise entsprechen. Während die in dieses Itinerar eingestreuten Berichte zumindest teilweise legendarisch sind, scheint Lukas in Apg. 21,15 ff wieder einem zuverlässigen Quellenbericht zu folgen. Beim Empfang in Jerusalem ist Jakobus, der Bruder Jesu, der verantwortliche Gemeindeleiter (Petrus hatte Jerusalem längst verlassen, und von Johannes ist nicht mehr die Rede). Die judenchristliche Gemeinde in Jerusalem wird als streng gesetzestreu dargestellt, während Paulus in dem Ruf steht, in der Diaspora lebende Juden der Beschneidung und den jüdischen Sitten abspenstig zu machen. Wegen solcher weithin bekannten Gerüchte überredet Jakobus den Paulus, seine
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Gesetzestreue unter Beweis zu stellen; er solle vier Männer, die ein Nasiräatsgelübde abgelegt hatten, auslösen und die mit der Auslösung und dem dazu erforderlichen O p f e r verbundenen Kosten bezahlen, um durch diese Demonstration einer f r o m m e n und gesetzestreuen H a n d l u n g allem bösen Gerede ein Ende zu bereiten. Es ist mit Recht vermutet w o r d e n , daß sich hinter diesem Bericht die Schwierigkeiten verbergen, die sich f ü r die gesetzestreue judenchristliche Gemeinde in Jerusalem durch die Überbringung der Kollekte der heidenchristlichen Gemeinden ergaben. Paulus hatte Schwierigkeiten erwartet (das beweist Rom. 15,31). Er mußte damit rechnen, daß das Angebot einer finanziell nicht unerheblichen Hilfeleistung der Heidenchristen f ü r die Jerusalemer Gemeinde eine kaum zumutbare Belastung ihres Verhältnisses zum J u dentum darstellen würde. H a t t e Paulus dennoch auf der D u r c h f ü h r u n g der Kollekte bestanden und ihr bei seiner Missionstätigkeit viel Zeit und K r a f t gewidmet, sich sogar selber entschlossen, die Kollekte persönlich zu überbringen, obgleich ihm alles daran liegen mußte, die Reise in den Westen möglichst umgehend anzutreten, so zeigt dies, welche hohen R a n g Paulus dieser Demonstration kirchlicher Einheit zumaß. Allerdings ist das auch der deutlichste Beweis d a f ü r , daß ihm an der D o k u m e n t a t i o n der Einheit der christlichen Gemeinden durch einheitliche Lehren und Anschauungen gar nichts lag. Vielmehr wird die Einheit f ü r ihn in der Fürsorge der Liebe und Hilfeleistung gegenwärtig. Gerade dies bereitete nicht nur den Jerusalemer Judenchristen Schwierigkeiten, es w u r d e letztlich auch Paulus selbst zum Verhängnis. W e g e n der zur Auslösung der Nasiräer erforderlichen Reinigung im Tempel - nur unter dieser Bedingung w a r die Jerusalemer Gemeinde o f f e n b a r bereit, die Kollekte anzunehmen - mußte Paulus mehrfach rituellen H a n d l u n g e n im Tempel beiwohnen, wurde dabei erkannt, zu unrecht (?) angeklagt, er habe einen Nichtjuden in den Tempel gebracht, und in dem sich daraus ergebenden T u m u l t von der römischen Tempelwache verhaftet. Die konsequente V e r f o l g u n g des einen und wichtigsten Zieles der paulinischen Mission, nämlich der D o k u m e n t a t i o n der Universalität des Evangeliums und der grundsätzlichen Einheit der Kirche aus Juden und Heiden, f ü h r t e so zur letzten und wohl sein Martyrium besiegelnden V e r h a f t u n g des Paulus.
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Paulus c) Prozeß des Paulus und Romreise
Obgleich die Apostelgeschichte dem Prozeß und der Romreise des Paulus insgesamt 7 Kapitel widmet (Apg. 22-28), sind die historisch zuverlässigen Nachrichten über diese letzten Jahre des Paulus spärlich. Die Rede des Paulus vor dem Volk nach seiner Verhaftung (Apg. 22, 1-21), seine Vorführung vor den Hohen Rat (22,30-23,11), Verhandlungen vor Felix, Agrippall. und Festus in Cäsarea mit mehreren längeren Reden des Paulus (24-26), sowie alle Einzelheiten der Reise nach Rom mit dem ausführlich geschilderten Schiffbruch (27,1-28,16) sind Produkte der apologetischen und novellistischen Schriftstellerei des Lukas. Das in Apg. 27-28 verwendete „wir" des Berichtes darf nicht als das „wir" eines Augenzeugen erklärt werden, entspricht vielmehr ganz dem auch sonst in romanhaften und legendarischen Darstellungen verwendeten Stil (s.u. § 12.3a). An zuverlässigen Nachrichten bleiben somit nur die Überführung des Paulus nach Cäsarea (Apg. 23,31-35), seine zweijährige Gefangenschaft in Cäsarea bis zum Statthalterwechsel (Apg. 24,27), die Appellation an den Kaiser und der Beschluß der Überführung nach Rom (Apg.25,11-12; cf. 26,32). Demnach hat man Paulus, der zunächst nur in Schutzhaft genommen war, in Cäsarea vor Gericht gestellt, und zwar unter dem auch sonst nicht gut beleumdeten Statthalter Felix (vgl. Josephus, Ant. 20.137-181; Bell. 2.247-270), der den Prozeß verschleppte. Als Felix von dem tatkräftigen Festus abgelöst wurde (vgl. Josephus, Ant. 20.182; Bell. 2.271-272), gab der neuernannte Statthalter der Appellation statt. Der Statthalterwechsel Felix-Festus läßt sich nicht mit Sicherheit datieren, wird aber am besten auf das Jahr 58 gelegt. Über das Ende des Paulus schweigt die Apostelgeschichte ganz. Das letzte, was wir erfahren, ist, daß Paulus noch zwei Jahre lang - offenbar in leichter H a f t festgehalten - in Rom wirken konnte (Apg. 28,30-31). Die nächste Information kommt aus dem 1. Clemensbrief (96 nChr; s.u. § 12. 2e): ,,.. . erwies Paulus den Preis der Geduld, siebenmal trug er Ketten, wurde vertrieben, gesteinigt, wurde Verkünder im Osten wie im Westen und erhielt den echten Glaubensruhm; nachdem er der ganzen Welt Gerechtigkeit gelehrt hatte und bis an die Grenzen des Westens gekommen war und vor den Machthabern Zeugnis abgelegt hatte, wurde er von der Welt befreit und ging an den heiligen O r t - das größte Beispiel der Ge-
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duld" (1. Clem. 5.5-7). Das Martyrium des Paulus ist hier natürlich vorausgesetzt, aber weder Ort noch Zeit seines Todes werden in dieser Lobrede näher bezeichnet. Mag man immerhin annehmen, daß Paulus in Rom zum Märtyrer wurde (das ist in der späteren Paulus-Legende ausdrücklich gesagt; vgl. auch die Parallele zum Märtyrertod des Petrus in l.Clem.5.4), so muß eine andere Auskunft des 1. Clemensbriefes ganz unsicher bleiben: Paulus sei bis an die Grenzen des Westens gelangt. Da dies durch keinerlei sonstige Zeugnisse bestätigt wird, ist es sehr fraglich, ob Paulus vor seinem schließlichen Märtyrertod nochmals in Rom freigelassen wurde und seinen ursprünglichen Plan einer Mission in Spanien (Rom. 15,28) noch ausführen konnte. Nirgends finden sich Spuren einer Wirksamkeit des Paulus im Westen. Die christlichen Gemeinden, die sich in den folgenden Jahrzehnten auf Paulus berufen, lagen im Osten, vor allem in Kleinasien und Griechenland.
§10
PALÄSTINA UND SYRIEN
Zu §10 bis §12: C.ANDRESEN, Die Kirchen der alten Christenheit, 1971, 17-117. W.BAUER, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, B h T h l O , 2 1964 (dieses Buch ist richtungsweisend für die hier gebotene Darstellung). H. KÖSTER - J. M. ROBINSON, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, 1971. Klassische Darstellungen der Frühzeit des Christentums: C.WEIZSÄCKER, Das Apostolische Zeitalter der christlichen Kirche, 1902. J . WEISS, Das Urchristentum, 1917.
H. LIETZMANN, Geschichte
der Alten Kirche,
I, 1932, 132-317; II 1-171.
Der wichtigste Text, auf den sich die folgende Darstellung wiederholt beziehen wird, ist:
EUSEB VON CAESAREA, Die Kirchengeschichte, GCS 9 I-III, 1903-1909; kleine Ausgabe des griechischen Textes 5 1952; deutsche Übersetzung von PH.HAEUSER, BKVII 1,2, 1932.
1. Die Tradition
der Botschaft
Jesu
Zua: D.LÜHRMANN, Die Redaktion der Logienquelle, W M A N T 3 3 , 1969. S.SCHULZ, Die Spruchquelle der Evangelisten, 1972. H. E.TÖDT, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, 1958. Lars HARTMANN, Prophecy Interpreted: The Formation of some Jewish Apocalyptic Texts and of the Eschatological Discourse Mark 13 Par, 1966. W . MARXSEN, Der Evangelist Markus, 2 1959, 101-140.
Zub: A.GUILLAUMONT - H.-CH. PUECH - G.QUISPEL - W.TILL - YASSAH ABD AL MASIH, Das Evangelium nach Thomas, 1959 (Erstausgabe). J.LEIPOLDT, Das Evangelium nach Thomas koptisch und deutsch. 1967. J . A . FITZMYER, T h e Oxyrhynchus Logoi of Jesus and the Coptic Gospel Ac-
Die Tradition der Botschaft Jesu
la
583
cording to Thomas, TS 20, 1959, 505-560 (Rekonstruktion der griechischen Fragmente). W.SCHNEEMELCHER - J.JEREMIAS, N T A p o l ,
+
1968, 61-72 (Übersetzung der
griechischen Fragmente). K.ALAND, Synopsis quattuor evangeliorum, '1976, 517-530 (deutsche, lateinische und engliche Übersetzung). W.FOERSTER, Die Gnosis II, 1971, 136-148 (deutsche Übersetzung). O.CULLMANN, Das Thomasevangelium und die Frage nach dem Alter der in ihm enthaltenen Traditionen, Vorträge und Aufsätze 1952-1962, 1966, 566-588.
E.HAENCHEN, Die Botschaft des Thomasevangeliums, 1961 (mit deutscher Übersetzung). H. KÖSTER, Ein Jesus und vier ursprüngliche Evangeliengattungen, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, 1971, 155-173. J.M.ROBINSON, LOGOI S O P H O N : Zur Gattung der SpruchquelleQ, ebenda, 67-106. PH. VIELHAUER, Α Ν Α Π Α Υ Σ Ι Σ : Z u m g n o s t i s c h e n H i n t e r g r u n d d e s T h o -
masevangeliums, Aufsätze zum Neuen Testament, ThB31, 215-234. R.McL. WILSON, Studies in the Gospel of Thomas, 1960.
1965,
Zum Dialog des Erlösers s. die Literatur zu § 10. Ja. Zuc: F.X.FUNK -
K.BIHLMEYER, D i e A p o s t o l i s c h e n V ä t e r , S Q S I I
1,1,
2
1956,
xii-xx; 1-9 (griechischer Text der Didache). F.ZELLER, Die Apostolischen Väter, BKV35, 1918 (deutsche Übersetzung) J.P. AUDET, La Didachfe: Instruction des Apötres, EtB, 1958. J.M. CREED, The Didache, JThS 39, 1938, 370-87. M.DIBELIUS, Die Mahlgebete der Didache, Botschaft und Geschichte II, 1956, 1 1 7 - 1 2 7 .
M. DIBELIUS - H. GREEVEN, Der Brief des Jakobus, KEK15, 1 1 1964, 1 -73 (Literatur!). a) Eschatologische Auslegung Die eschatologische Ausrichtung der frühesten Gemeinden Palästinas wurde bereits angedeutet (s.o. § 8 . 3 a - d ) . Sie ist in der Überlieferung und Weiterbildung der Botschaft Jesu in zweifacher Weise sichtbar. Einmal wurden ältere Sprüche Jesu so umgeformt und ausgelegt, daß sie eindeutig von Jesus als dem kommenden Heilsbringer und Erlöser redeten. Zum anderen setzte sich die prophetische Verkündigung Jesu in der Tätigkeit christlicher Propheten fort, die im N a m e n Jesu und in seiner Vollmacht Offenbarungssprüche über die Gegenwart und die Zukunft formulierten. In beiden Fäl-
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len richtete sich diese Fortbildung der Überlieferung von Jesusworten auch auf die Organisation der christlichen Gemeinden, die so als eschatologische Sekten konsolidiert wurden. Zeugnisse für diese Entwicklung sind in der synoptischen Uberlieferung in reichem Maße vorhanden. Abgesehen von Jerusalem und Antiochien (s.o.§8. J a und c) lassen sich die Gemeinden, die Träger dieser Uberlieferung waren, aber nicht genau lokalisieren. Daß sie jedoch im palästinisch-syrischen Raum zu suchen sind, ergibt sich nicht nur daraus, daß diese Uberlieferung eine unmittelbare Nähe zum Judentum und eine direkte Auseinandersetzung mit der jüdischen Umwelt verrät, sondern erhellt auch aus der Tatsache, daß ein großer Teil dieser Sprüche zunächst in aramäischer Sprache formuliert, gesammelt und aufgezeichnet wurde. Gerade bei den aus dieser Tradition stammenden Stücken der synoptischen Evangelien finden sich deutlich Spuren einer Übersetzung aus dem Aramäischen oder Formulierungen, die eine aramäische Muttersprache und Umwelt verraten. Das wichtigste Zeugnis für die eschatologische Theologie ist die synoptische Spruchquelle „Q" (s.o. §7.3b). Sicher hat es Vorstufen von Q gegeben, gelegentliche Sammlungen von Jesussprüchen zu katechetischen, polemischen und homiletischen Zwecken. Aber in ihrer endgültigen Redaktion wollte die Spruchquelle ein kirchliches Handbuch sein, das die angesprochenen Gemeinden auf eine ganz bestimmte eschatologische Erwartung und ein ihr gemäßes Verhalten verpflichten sollte. Im Vordergrund dieser Erwartung steht die Ausrichtung auf das Kommen Jesu als himmlischer Menschensohn (Luk. 17,22-37). Diese Erwartung, die in der ältesten Schicht der Überlieferung von Jesusworten noch zu fehlen scheint, ist aus jüdischen apokalyptischen Anschauungen geflossen (vgl. Dan. 7,13-14) und in der Spruchquelle zur christologischen Schlüsselvorstellung gemacht worden, die es ermöglichte, Jesus als den Heilbringer der Zukunft zu begreifen. Demgegenüber tritt die ältere Erwartung des Kommens der Gottesherrschaft zurück. Der Ausblick auf Jesu Kommen als Menschensohn auf den Wolken des Himmels bestimmt in der Spruchquelle das Verhalten der Gemeindeglieder. Die Parusie des Menschensohns kann nicht im voraus berechnet werden und hat mit den Ereignissen und Erfahrungen der Welt nichts zu tun. Die Jünger werden so zu beständiger Wachsamkeit aufgerufen (Luk. 12,35-46). Nachfolge Jesu bedeutet Entsagung von der Welt und von ihren sozialen Bindungen
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(Mt. 10,37-38 par; 8,19-22 par). Die aus Q stammenden Stücke der synoptischen Aussendungsreden (Mt.9,35-10,16; Luk. 10,116) verlangen vom Missionar Heimatlosigkeit und Verzicht auf allen Besitz. In der Forderung der Feindesliebe und der Gewaltlosigkeit unterscheidet sich die christliche Gemeinde von der Welt, aber auch von solchen apokalyptischen Bewegungen, die die Erfüllung der messianischen H o f f n u n g herbeizwingen wollten. Angesichts der Verlockung eines messianischen Krieges gegen die römische Herrschaft, der sich auch jüdische Sekten wie die Essener und Pharisäer nicht verschließen mochten, ist damit in den Gemeinden der Spruchquelle eine politische Entscheidung gefallen, die für die Loslösung des Christentums vom Judentum innerhalb des jüdischen Kulturbereichs in Palästina nicht ohne Bedeutung sein konnte. Die Übernahme der ursprünglich jüdischen Polemik gegen die Führer des Volkes als Prophetenmörder (Luk. 11,49-51 par) und gegen Jerusalem (Mt. 23,37-39) ist charakteristisch für die Haltung der Spruchquelle gegenüber dem Judentum (vgl. auch die Seligpreisung derer, die um des Menschensohnes willen gehaßt werden: Luk. 6,22-23). Mit solcher Polemik hat die Spruchquelle aber die Verbindung zur jüdischen Tradition keineswegs zerschnitten, obgleich die Frage des Gesetzes keine Rolle zu spielen scheint. Aber Beziehungen auf alttestamentliche Beispiele finden sich (z.B. Luk. 17,26-30), ebenso wie gelegentliche Zitate (vgl. die aus Q stammende Versuchungsgeschichte Jesu, Mt. 4,1-11), und die Verbindung zu Johannes dem Täufer als Vorläufer Jesu wird ausdrücklich bejaht (Mt. 11,2-19 par, in dieser Form erst von der Spruchquelle so zusammengestellt). Ein weiteres wichtiges Zeugnis für die Entwicklung prophetischer Worte Jesu im Christentum Palästinas ist die sogenannte „Synoptische Apokalypse" Mk. 13, die man zeitlich noch näher an die Ereignisse des jüdischen Krieges heranrücken muß als die Spruchquelle. Wie dort so dominiert auch hier die Erwartung des kommenden Menschensohns (Mk 13,26) in Worten, die ebenfalls Dan. 7,13-14 widerspiegeln (vgl. auch die Anspielung auf Dan.9,27; 12,11 in Mk. 13,14). Die Verbindung eschatologischer Erwartung mit Zeitereignissen wird betont abgelehnt (Mk. 13,7-8). Die Gemeinde ist bedrängt von falschen Propheten (Mk. 13,21-23) und wird von den jüdischen Behörden verfolgt (Mk. 13,9). Auffallend ist in der Spruchquelle und in den in Mk. 13 aufbewahrten prophetischen Worten, daß Reflexionen über Kreuz und
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Auferstehung Jesu in dieser eschatologischen Menschensohnerwartung fehlen (es gibt keine Anzeichen dafür, daß die Spruchquelle eine Leidensgeschichte enthielt). Das gleiche gilt auch von einer dritten Sammlung von Jesusworten, die aus dem aramäischen Sprachraum stammt, nämlich von der Sammlung der Gleichnisse Jesu unter eschatologischen Gesichtspunkten, die z . T . in Mk. 4 erhalten ist. Den Kreisen der Spruchquelle kann man diese Sammlung nicht zuweisen, denn Jesus ist hier nicht der kommende Menschensohn, sondern der Verkünder der Herrschaft Gottes. Das Geheimnis der Gottesherrschaft ist aber nicht auf Jesus bezogen, sondern besteht im geduldigen Warten auf Gottes eschatologisches Handeln, der schließlich sein Reich ohne menschliches Zutun wunderbar aufrichten wird. Auffallend ist, daß dieses Wissen um Gottes Handeln als „Mysterium" bezeichnet wird, das nur den Jüngern Jesu zugänglich ist. Das läßt darauf schließen, daß sich die Christen, die T r ä g e r dieser Tradition waren, als Sekte verstanden, die weitabgewandt auf die Erfüllung der Verheißung wartete. Die dem Gleichnis vom Säemann angefügte allegorische Auslegung (Mk. 4,13-20) betont dementsprechend auch ausdrücklich, daß alles, was sich außerhalb der Gemeinde der Getreuen abspielt, letztlich ohne Bedeutung sein wird. Das religiöse Bewußtsein dieser Christen ist also mit der Spruchquelle und mit Mk. 13 verwandt, denn auch dort tritt die Theologie einer eschatologischen Sekte in Erscheinung. b) Jesus als Weisheitslehrer Ebenfalls aus dem palästinisch-syrischem Gebiet stammt eine Auslegungstradition der Worte Jesu, die sich von der an der Zuk u n f t orientierten Eschatologie losgesagt hat. Sie ist durch W o r t e charakterisiert, in denen Jesus als Lehrer der Weisheit oder mit einer Autorität, die der himmlischen Weisheit entspricht, den Besitz des Heils denen zuspricht, die imstande und bereit sind, seine Worte zu hören und zu verstehen. Entsprechende W o r t e Jesu sind innerhalb der Überlieferung der Spruchquelle aufbewahrt (Matth. 11,25-30 par; vgl. Luk 11,49-51 u.a.), treten hier aber vor der dominierenden Menschensohnerwartung zurück. Erst durch die Funde von N a g H a m m a d i läßt sich die bis in die Frühzeit zurückreichende Auslegung der Worte Jesu im Sinne der Weisheit deutlicher greifen; denn das in koptischer Übersetzung hier erhaltene Thomasevangelium (CG II, 2), von dem bisher nur einige grie-
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chische Fragmente aus den Funden von Oxyrhynchos in Ägypten bekannt waren, ist wahrscheinlich im l . J h . n C h r in Palästina oder Syrien entstanden. Dafür spricht, daß sich in diesem Evangelium kaum Spuren einer Einwirkung der kanonischen Evangelien finden und daß die Tradition des Apostels Thomas in den syrischen Raum gehört (vgl. die ebenfalls aus Syrien stammenden Thomasakten). Im Gegensatz zu anderen Schriften aus Nag Hammadi fehlen im Thomasevangelium Anzeichen einer Einwirkung des Kerygmas von Jesu Kreuz und Auferstehung. Das verbindet dieses Evangelium mit der synoptischen Spruchquelle. Aber im Gebrauch christologischer Titel ist es noch sparsamer als Q : selbst der dort so häufige Titel Menschensohn fehlt. Während jedoch für Q kein sicheres Zeugnis für eine apostolische Verfasserschaft vorhanden ist (vgl. aber u. zu Matthäus, § 10. 2c), nennt das Thomasevangelium Didymus Judas Thomas als den Apostel, zu dem die hier aufgezeichneten Worte Jesu gesprochen wurden. Judas ist ohne Zweifel der Name dieses Apostels, „Thomas" die griechische Transkription des aramäischen Wortes für „Zwilling" und „Didymus" dessen griechische Ubersetzung. In der kanonischen Tradition hat diese Namensverbindung keinen Anhaltspunkt; sie ist in der syrischen Uberlieferung zu Hause (findet sich auch in den Thomasakten und in der syrischen Übersetzung des Johannesevangeliums, Joh. 14,22). Der in Spruch 12 und 13 zum Ausdruck kommende Gegensatz zwischen Thomas und dem Herrenbruder Jakobus läßt vermuten, daß der Verfasser dieses Evangeliums in Kreisen zu suchen ist, die den Anspruch der Thomastradition gegenüber der kirchlichen Autorität des Jakobus festigen wollten, wobei die Geltung des letzteren aber durchaus anerkannt wird. Darin scheint sich eher die kirchenpolitische Situation Palästina-Syriens des 1. Jahrhunderts widerzuspiegeln als eine Kontroverse späterer Zeit. Das Thomasevangelium enthält Weisheitsworte und prophetische Worte Jesu, die in der charakteristischen Weise eines Weisheitsbuches zusammengestellt sind: unverbundene Sprüche stehen nebeneinander, nur wenige werden durch eine Frage der Jünger eingeleitet. Die Weisheitsworte sind meist als allgemeine Wahrheiten formuliert (z.B. Spruch 31-35, 47, 67, 94). Ermahnungen, sich selbst zu erkennen, erscheinen wiederholt (Spruch 2, 29, 49, 50, 67, 111). Gleichnisse, viele von ihnen mit Parallelen in den synoptischen Evangelien, drücken die Bedeutung der Entdeckung der eigenen religiösen Bestimmung aus (vgl. z.B. Spruch 8 mit
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Matth. 13,47-48). In den prophetischen Sprüchen überwiegt die Ankündigung der Gegenwart der Herrschaft des Vaters in der Person Jesu sowie im eigenen Selbst (vgl. Spruch 3, 18, 22, 51, 111). Eschatologische Sprüche über zukünftige Ereignisse fehlen, und im Ich-Stil formulierte Worte Jesu reden niemals von seiner zukünftigen Rolle als Erlöser, sondern nur von der Gegenwart des Heils in Jesus und seinen Worten, in denen er mit der selbstoffenbarenden Stimme der Weisheit zu den Jüngern redet (Spruch 23, 28, 90). Im Unterschied zur synoptischen Spruchquelle wird hier eine Auslegung der Worte Jesu vorgetragen, die keine eschatologischen Züge trägt, sondern die Gegenwart der göttlichen Weisheit als Wahrheit der eigentlichen Bestimmung des Menschen verkündet. Mit dieser Botschaft ist das Thomasevangelium grundsätzlich esoterisch und richtet sich an eine begrenzte Gruppe von Auserwählten. Typisch dafür ist der Satz „Wer Ohren hat zu hören, der höre!" der häufig an die Gleichnisse angehängt ist (Spruch 7, 21, 63, 65, 96; vgl. denselben Satz am Schluß des Gleichnisses vom Säemann, Mk.4,9). Ursprünglich eschatologische Worte werden so ausgelegt, daß sie auf die Gegenwart der Offenbarung in der Selbsterkenntnis (Spruch 3a, 113) und in der Gestalt Jesu (Spruch 91) hinweisen. Eschatologischer Umbruch bedeutet nichts anderes als Einsicht in die Göttlichkeit des Ichs (Spruch 10, 16, 82). Weisheitsworte, die einst die allgemein menschliche Erfahrung beschrieben und zu angemessenem Verhalten aufforderten, werden zu Trägern der gleichen verinnerlichten Botschaft (Spruch 6a, 26, 32-35, 39b, 45, 47, 62b, 82, 86, 93, 95, 103). Absage an die Welt wird ebenso wie in der Spruchquelle gepredigt (Spruch 21c, 56), darüber hinaus aber auch die Befreiung der Seele vom Leibe (Spruch 29, 87, 112). War diese Auslegung der Worte Jesu vielleicht bereits in der vom Verfasser des Thomasevangeliums benutzten Überlieferung enthalten, so erscheint die Theologie des Verfassers besonders in Anknüpfung an den letztgenannten Gedanken. Die Sätze „und die zwei werden eins sein", „sie werden den Tod nicht schmecken" und „sie werden Ruhe finden" sind mehrfach an überlieferte Sprüche angehängt (Spruch 4, 18, 19, 86; vgl. 22, 30, 106). In solchen mystisch-spiritualisierenden Vorstellungen geht der Verfasser über die traditionellen Ermahnungen der Weisheitstheologie, sich selbst zu erkennen, hinaus. Die Auserwählten und „Einzelnen" kennen ihren Ursprung und wissen um ihre Bestimmung: sie kommen aus
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dem Reich des Vaters und kehren dorthin zurück, wo sie Ruhe finden werden (Spruch 49, 50). Dies entspricht dem Thema, das der Verfasser dem Evangelium vorangestellt hat ( „ W e r die Auslegung dieser Worte findet, wird den T o d nicht schmecken", Spruch 1) und ist weiter radikalisiert in asketischen Sprüchen, die den Leib und die Welt verwerfen (Spruch 37, 42, 56, 60, 70, 111). Ein „Einzelner" zu sein, bedeutet Teilnahme an der Einheit aller, die mit ihrem göttlichen Ursprung eins sind (Spruch 16, 23); nur dieser „Einzelne" wird in das Brautgemach eintreten (Spruch 75). Das Vorbild dafür ist Jesus, der „vom Ungeteilten" herkommt (Spruch 61), in dessen Erfahrung als Offenbarer sich die Fremdheit in der Welt darstellt (Spruch 28) und in dem die Ruhe und die neue Welt bereits gegenwärtig sind (Spruch 51). Finden sich in diesem Zusammenhang oft Neubildungen von Jesusworten, so fügt sich doch der Großteil der überlieferten W o r t e ohne weiteres in die Theologie des Verfassers ein und ist vielfach in einer Form aufbewahrt, die älter ist als die der synoptischen Evangelien. Das gilt vor allem für die Gleichnisse, aber auch f ü r Sprüche, in denen der Anspruch der jüdischen Frömmigkeit verworfen (Spruch 6, 14, 27, 104) und die Pharisäer als ihre Verwalter kritisiert werden (Spruch 39, 102). N u r sehr wenige Sprüche des Thomasevangeliums verraten den Einfluß von Spekulationen über die biblische Schöpfungsgeschichte (Erlösung ist Wiederentdeckung der himmlischen Urbilder, die dem irdischen Adam überlegen sind, Spruch 83-85). Solche Sprüche wirken fast wie spätere Interpolationen in das D o kument einer Gemeinde, die zwar Jesu Worte im Sinne einer zur Gnosis tendierenden Weisheitstheologie auslegte, aber kirchliche Autorität keineswegs ganz verwarf (Spruch 12). Eine gnostisierende Auslegung der Worte Jesu, die in diesen Worten göttliche Weisheit, Erkenntnis des göttlichen Selbst und Unsterblichkeit suchte, erscheint noch in einem weiteren D o k u ment aus der Bücherei von N a g Hammadi, nämlich im Dialog des Erlösers (CG 111,5), dessen ursprüngliche Form oder Hauptquelle ebenfalls im l . J h . n C h r entstanden sein muß. Wegen der Beziehungen zum Thomasevangelium und zum Johannesevangelium ist syrischer Ursprung wahrscheinlich. In seiner erhaltenen Form zeigt der Dialog des Erlösers allerdings deutlich Züge einer sekundären Kompilation: Die gnostische Predigt, Gebet und Unterweisung am Anfang (120,2-124,24) enthalten Anklänge an die deutero-paulinischen Briefe, die katholischen Briefe und den Hebräerbrief. Wei-
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tere sekundär in den älteren Dialog eingeschaltete Stücke sind Fragmente einer Genesisauslegung (127,19-131,15) und eine kosmologische Liste (133,16-134,24), ferner ein gnostisch interpretiertes Stück einer apokalyptischen Vision (134,24-137,3). Aber die übrigen Stücke, etwa 6 0 % des erhaltenen Textes (124,23-127,18; 131,19-132,15; 137,3-147,22), sind Teile einer Grundschrift, die sich durch die Form eines Dialogs zwischen Jesus, Judas, Matthäus und Maria von den vor- und eingeschalteten Redestücken unterscheidet. Dieser Dialog hat mit der literarischen Gattung des Dialogs jedoch nichts gemein. Er ist vielmehr eine erweiterte Spruchsammlung: Sprüche werden durch Jüngerfragen eingeleitet, und weitere Fragen führen zur Anfügung von Auslegungen, in denen oft zusätzliche Sprüche angeführt werden. Die zugrundeliegenden Jesussprüche haben Parallelen im Matthäusevangelium, Johannesevangelium und vor allem im Thomasevangelium. Die Absicht des Dialogs scheint dem ersten Spruch des Thomasevangeliums zu entsprechen, nämlich die Auslegung der Worte Jesu zu finden, um so den T o d zu überwinden. Die Thematik folgt dem zweiten Spruch aus diesem Evangelium: Suchen-Finden-Staunen-Herrschen-Ruhen. Die Jünger sollen erkennen, daß sie jetzt noch nicht Herrschaft und Ruhe erreicht haben, sondern die Bürde irdischer Mühe tragen, an der Jesus selbst teilhat (139,6-13). Gattungsgeschichtlich' gesehen ist dieser Dialog ein wichtiges Dokument; denn er zeigt die Weiterentwicklung der Spruchüberlieferung Jesu in eine neue Gattung, die dann im Johannesevangelium (und in späteren gnostischen Schriften) als Offenbarungsrede oder Offenbarungsdialog in Erscheinung tritt. Auch in der theologischen Problematik ist er ein Vorläufer der johanneischen Theologie; denn im Vordergrund steht die Frage der Gegenwart realisierter Eschatologie für die Gemeinde. Dabei bleibt Jesus in dieser Auslegungstradition seiner Worte der Weisheitslehrer und lebendige Offenbarer, der den Jünger auffordert, in sich selbst zu entdecken, ob und wieweit die Offenbarung zur Wirklichkeit der Existenz geworden ist. N u r in der Selbsterkenntnis wird die Offenbarung wirksam, weil hier der Glaubende Jesus gleich wird, insofern er um seinen Ursprung und um seine Bestimmung weiß. Hier liegen die Wurzeln gnostischer Theologie. Mit ihr sowie mit dieser Tradition der Auslegung von Jesu Worten mußte sich das Johannesevangelium, das aus der gleichen Tradition stammt, auseinandersetzen.
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c) Lebensordnung und Gemeindeorganisation Uber die Regeln und moralischen Grundsätze dieser syrischen Christen, in denen die Uberlieferung der Worte Jesu gepflegt wurde, kann man sich auf Grund des vorhandenen Materials nur eine annähernde Vorstellung machen. Sicher gab es wandernde Apostel, die, dem Ideal der Armut und Bedürfnislosigkeit verpflichtet, von Ort zu Ort zogen, predigten, Kranke heilten - und weiterzogen. Das ergibt sich aus den entsprechenden Stücken der Spruchquelle (s.o.). Man darf hier keine regelrechten Gemeindegründungen nach der Art der paulinischen Mission eintragen. Paulus haue sich auch mit wandernden Missionaren auseinanderzusetzen, die keineswegs die Gründung von neuen Gemeinden im Sinn hatten. Im Thomasevangelium scheint das Ideal des heimatlosen Jüngers zum Prinzip der christlichen Existenz geworden zu sein (vgl. Spruch 42). Diese Christen waren wandernde Asketen, die die Ehe verwarfen, auch Frauen in ihre Gruppen aufnahmen (vgl. Spruch 61, 114), der Welt entsagten und traditionelle Frömmigkeitsübung (Fasten, Almosen) ablehnten. Gemeindeorganisation scheint es zuerst in Jerusalem und dann in Antiochien gegeben zu haben. In Jerusalem standen an der Spitze dieser Organisation zunächst die „Säulenapostel" (Jakobus, Petrus, Johannes), dann Jakobus allein. An den Namen des Herrenbruders Jakobus knüpft sich die Autorität der späteren judenchristlichen Gemeinden. Sie ist auch im Thomasevangelium sichtbar (Spruch 12). Darin tritt eine übergemeindliche Autorität in Erscheinung, die fester organisierte Gemeinden voraussetzt. Vermutlich wurden diese Gemeinden nicht nur durch gelegentliche Sendboten zusammengehalten, sondern auch durch Sendschreiben, in denen die Lebensordnung der Gemeinden festgelegt wurde. Unter der Autorität des Jakobus ist ein solches Schreiben im neutestamentlichen Kanon erhalten, der Jakobusbnef. Daß die hier angerufene Autorität der Herrenbruder Jakobus ist, der in Jak. 1,1 ebenso wie in einem Hegesipp-Fragment bei Eusebius (Hist. eccl. 2. 23.7) die Ehrenbezeichnung „Knecht Gottes" trägt, kann nicht bezweifelt werden. Denn kein anderer Träger dieses Namens hat eine vergleichbare Autoritätsstellung innegehabt. Allerdings darf man nicht den Herrenbruder Jakobus selbst als Verfasser ansehen. Dagegen spricht nicht nur der flüssige griechische Stil des Schreibens, sondern auch die Polemik gegen die paulinische Rechtferti-
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gungslehre Jak. 2,14-26, die in dieser Form erst die Verhältnisse nach dem Tode des Herrenbruders im Jahre 62nChr widerspiegelt. Aber für das Weiterleben der judenchristlichen Tradition der Jerusalemer Gemeinde im griechisch sprechenden Raum ist der Jakobusbrief ein wichtiges Zeugnis. Mit den Jerusalemer Judenchristen hat der Brief vieles gemein: Den Nachdruck auf die Gültigkeit des Gesetzes (Jak. 2,8-13), wenngleich dieses Gesetz mit Begriffen beschrieben wird, die sich im hellenistischen Judentum herausgebildet haben (vgl. 1,25: „das vollkommene Gesetz der Freiheit"); die Betonung des Ideals der Armut (2,1-7; vgl die Polemik gegen die Reichen, 5,1-6); und die eschatologische Orientierung (5,7-11). Die Adresse, „An die zwölf Stämme in der Diaspora", deutet ebenfalls auf ein sich in der griechischen Welt formierendes Judenchristentum. Ein echter Brief ist der Jakobusbrief jedoch nicht, sondern vielmehr ein allgemeines Sendschreiben in der Form einer Paränese. Traditionelle Mahnworte, Instruktionen und Lebensregeln sind meist lose aneinandergefügt; thematische Gliederungen fassen jeweils überlieferte Spruchgruppen zusammen. Das Material stammt überwiegend aus der Paränese des hellenistischen Judentums, und speziell christliche Züge lassen sich nur schwer entdecken, obgleich anzunehmen ist, daß mit dem „guten Namen, der über euch genannt ist" (2,7) der Christenname gemeint und bei der „Parusie des H e r r n " (5,7) an das Kommen Jesu gedacht ist. Am Schluß des Schreibens findet sich eine kurze Gemeindeordnung (5,13-20), aus der sich immerhin entnehmen läßt, daß die angeredeten Gemeinden fest organisierte Gruppen von Christen waren, denen Presbyter vorstanden (5,14). Zwar ist der Jakobusbrief ein judenchristliches Dokument, aber er stellt kein Bindeglied zwischen der Jerusalemer Gemeinde und den späteren judenchristlichen Sekten dar, obgleich er die Jerusalemer Tradition der Autorität des Jakobus ebenso fortsetzt wie das spätere Judenchristentum (s.u.§ 10.4a-c). Vielmehr versucht der Jakobusbrief, die judenchristliche Gesetzestreue und paränetische Uberlieferung, jedoch ohne Betonung des Ritualgesetzes und der Beschneidung, in das Werden der weltweiten Kirche einzubringen. Paulus wird kritisiert, aber nicht wegen seiner Ablehnung des Gesetzes, sondern wegen der Gefahr der Verwerfung von Werken, die sich aus der These von der Rechtfertigung aus dem Glauben allein ergeben könnte. Daß solche Konsequenzen gezogen wurden, ist vielleicht in der eigenartigen Ablehnung der falschen Weisheit (Jak. 4,13-18) ersichtlich, die sich
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gegen den Anspruch des Besitzes himmlischer Weisheit richtet, wie er in gnostischen Kreisen zu Hause war. D e r Jakobusbrief vertritt dagegen die Geltung des Erbes der jüdischen Ethik, durch die sich das christliche Leben fromm, klug und verantwortungsvoll in der Welt einrichten läßt. D e r deutlichste Beweis dafür, daß sich aus jüdischen Kreisen stammende Christen mit der Übernahme der jüdischen Morallehre gegen den sich ausbreitenden Enthusiasmus wehrten, ist die Verchristlichung der jüdischen Zwei-Wege-Lehre. Sie bildet einen Hauptbestandteil der gegen Ende des 1. Jahrhunderts in Syrien entstandenen ältesten christlichen Kirchenordnung, der Lehre der Zwölf Apostel (Didache). Obwohl dem Namen nach bekannt und in späteren Kirchenordnungen vielfach verwendet, ist diese Schrift erst vor hundert Jahren entdeckt und erstmals 1883 veröffentlicht worden. Die Lehre von den beiden Wegen, vom Weg des Lebens und vom Weg des Todes, bildet die ersten 6 Kapitel der Didache. Sie ist in einer lateinischen Ubersetzung auch unabhängig überliefert und in den um das Jahr 100 geschriebenen Barnabasbrief aufgenommen worden (Barn. 18-20). Was als Beschreibung des Lebensweges erscheint, ist eine sich an den Dekalog anlehnende Paränese (Did. 2), zu Mahnungen ausgestaltete Laster- und Tugendkataloge (3.1-10), Gemeinderegeln (4.1-4, 12-14), Regeln über Geben und Empfang von Almosen (4.5-8; 1.5-6) und eine Haustafel (4.9-11). Der W e g des Todes ist weiter nichts als ein umfangreicher Lasterkatalog (Did. 5.1-2). Alles hier enthaltene Material ist traditionell, hat vielfach Parallelen in der jüdischen Literatur (Paulus ist ebenfalls mit Stücken dieser jüdischen Morallehre vertraut), und vieles davon ist auch sonst von christlichen Autoren übernommen worden (die engste Verwandtschaft zeigen der Jakobusbrief und die Mandata des Hermashirten). D e r Verfasser der Didache hat diese Zwei-Wege-Lehre aber nun in einen größeren Zusammenhang gestellt. Er leitet sie mit einem Zitat des Doppelgebotes der Liebe und der goldenen Regel ein (Did. 1.2), Zitate von Jesusworten folgen (Gebot der Feindesliebe, Did. 1.3-4). Damit ist ein wichtiger Schritt getan: die Auslegung der überlieferten Worte Jesu wird an den werdenden christlichen Katechismus gebunden und damit dem eschatologischen und gnostischen Enthusiasmus das Recht auf diese Überlieferung bestritten. Den Schluß (Did. 6.2) ändert der Verfasser so, daß die gegebenen Gebote nicht als Sonderlehre f ü r die Vollkommenen ver-
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standen werden können, sondern als allgemeine Morallehre bezeichnet sind, die jedermann so gut wie möglich befolgen soll. Diese allgemeine Ausrichtung der Zwei-Wege-Lehre wird vollends deutlich durch ihre Verbindung mit einer Kirchenordnung (Did. 7 15). Sie enthält Anweisungen für die Taufe (Did. 7; hier erscheint erstmalig die trinitarische Taufformel), Fasten (Did. 8.1), Gebet (8.2-3, mit Zitat des Vater-Unser) und Eucharistiefeier (9-10). In diesem Zusammenhang finden sich die ältesten überlieferten Eucharistiegebete der Christenheit. Wie die vorausgehende Morallehre, so stammen auch diese Gebete aus dem hellenistischen Judentum. Sie scheinen bereits spiritualisierende Deutungen (Wein und Brot als Zeichen der Erkenntnis und des Lebens) enthalten zu haben, ehe sie vom Christentum übernommen wurden. Das Verhältnis des hier beschriebenen Sättigungsmahles (Did. 10.1) zum formellen christlichen Herrenmahl ist viel diskutiert worden. Man hat sich gefragt, ob etwa der Beschluß (10.4-6) das auf das Sättigungsmahl folgende sakramentale Mahl einleiten sollte, dessen Liturgie (Einsetzungsworte) jedoch aus Gründen der Arkandisziplin nicht zitiert werde. Jedoch ist diese Annahme nicht gerechtfertigt. Es besteht kein Grund, die bei Paulus (1. Kor. 11,23-26) und später in den synoptischen Evangelien (Mk. 14,22-24 parr.) bezeugte H e r renmahlsliturgie auch für die Didache vorauszusetzen. Das in der Didache bezeugte feierliche Sättigungsmahl muß vielmehr das einzige formelle Gemeinschaftsmahl dieser syrischen Gemeinden gewesen sein. Durch Ausschluß der nicht Getauften (Did. 9.5) ist es von den übrigen Versammlungen der Gemeinde deutlich unterschieden. Die Reihenfolge Kelch-Brot ist eigenartig, könnte aber ebenso wie die eschatologische Ausrichtung der Mahlfeier auf die ältesten judenchristlichen Gemeinden zurückgehen. Die zweite Hälfte der Kirchenordnung beschäftigt sich mit den kirchlichen Amtern (Did. 10.7-15.4). Es ist im wesentlichen eine Zusammenstellung älterer Gemeinderegeln über Apostel, Propheten und Lehrer. Regeln über die Rechte der wandernden charismatischen Amtsträger werden im ganzen akzeptiert, aber mit Bestimmtheit eingeschränkt. Die Kritik richtet sich nicht nur gegen die üblichen Auswüchse des wandernden Goetentums, sondern versucht die Abhängigkeit der Gemeinden von den nicht ortsansässigen Charismatikern überhaupt zu überwinden. Daher schließt diese Amterordnung mit der Empfehlung, aus den Gemeinden Bischöfe und Diakonen zu wählen, die die Funktionen der wandern-
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den Propheten und Lehrer übernehmen und so die Gemeinden von den letzteren unabhängig machen sollen. Die am Schluß der Didache stehende kleine Apokalypse hat viel Material mit der Synoptischen Apokalypse gemein (Did. 16; vgl. o.$10. /a) und beweist die Herkunft der Didache aus den gleichen Traditionen. Jedoch ist das Material hier älter als bei den Synoptikern, steht jüdischen apokalyptischen Anschauungen noch näher und ist nicht von der Erwartung des Menschensohnes beeinflußt. Auf der anderen Seite finden sich aber keine Anzeichen einer Naherwartung; vom Kommen des Herrn wird distanziert geredet: andere Ereignisse müssen erst vorausgehen. Das paßt zu dem gesamten Bild der Didache, die dem unkontrollierten Enthusiasmus wehren und das Ideal eines geregelten christlichen Lebens in fest organisierten Gemeinden durchsetzen will. Wiewohl die verwendeten Traditionen durchweg aus einem jüdischen Milieu stammen, redet der Verfasser doch nicht einer bestimmten Tradition allein das Wort, vermeidet auch die Berufung auf eine einzelne apostolische Tradition (wie z.B. Thomas oder Jakobus), sondern stellt seine Schrift unter die allgemeine Autorität der Zwölf Apostel. Das blieb für spätere christliche Kirchenordnungen (z.B. Didaskalia, Apostolische Konstitutionen) die Regel. Verrät die Didache den Prozeß einer Konsolidierung, so fehlt doch jegliches Anzeichen einer Auseinandersetzung mit christlichen Überlieferungen, die sich unabhängig von der Ausbildung der Tradition der Jesusworte und ihrer Auslegung gebildet hatten. Die Didache weiß nichts vom Kerygma von Kreuz und Auferstehung Jesu, das erstmals in Antiochien voll ausgebildet wurde, Grundlage der paulinischen Mission war und in der weiteren Entwicklung des Christentums in Westsyrien sich an Traditionen unter der Autorität des Petrus knüpfte.
2. Vom Auferstehungskerygma
zu den kirchlichen
Evangelien
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Petrou,
NTApoII,
3
1964,
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5%
Palästina und Syrien
§10
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a) Petrustraditionen D e r Ausgangspunkt der Predigt von Jesu Auferstehung war das syrische Antiochien (s.o. §8. Je). Hier hatte sich unter bekehrten hellenistischen Juden die erste Christengemeinde gebildet, die auch unbeschnittene Heiden aufnahm und mit ihnen Tischgemeinschaft pflegte. D a ß dies nicht ohne Konflikte abging, war oben bereits
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dargelegt worden (s.o. §9. 2a). Jakobus und seine Anhänger in Jerusalem scheinen dieser Entwicklung reserviert gegenüber gestanden zu haben. Aber aus dem Kreise der ersten Führer der Jerusalemer Gemeinde hat Petrus sich aufgeschlossener gezeigt. Als Paulus drei Jahre nach seiner Bekehrung Jerusalem besuchte, tat er das vor allem, um Petrus zu sehen und mit ihm zu reden (Jakobus wird Gal. 2,18-19 nur am Rande genannt). Zwar war Petrus mehr als zehn Jahre später beim sogenannten Apostelkonzil noch eine der „Säulen" in Jerusalem, aber es ist möglich, daß er schon vor dieser Zeit als Missionar außerhalb Jerusalems gewirkt hat (s.o. § 8.3d). Jedenfalls hielt sich Petrus nach dem Apostelkonzil in der aus Juden und Heiden bestehenden Gemeinde Antiochiens auf und hatte bei dem Zwischenfall in Antiochien dort eine stärkere Stellung als Paulus (s.o. §9.2a). Bei Paulus' letztem Besuch in Jerusalem war Petrus nicht mehr dort; nur Jakobus wird als Führer der Gemeinde genannt. Freilich gibt es keine sicheren Nachrichten über Petrus' Tätigkeit aus dieser Zeit. Die Petruspartei in Korinth zeigt, daß sein Einfluß über Syrien hinausging. Nach kirchlicher Tradition ist Petrus schließlich nach Rom gekommen und hat dort Anfang der sechziger Jahre das Martyrium erlitten. Für eine Biographie des Petrus ist das zu wenig. Aber die Verankerung der Autorität dieses Jüngers und Apostels in der Tradition der Christenheit, die sich auf das Zeugnis von Jesu Auferstehung berief, gehört zu den sichersten Daten der urchristlichen Uberlieferung. Es ist ebenso unbestreitbar, daß diese Petrustraditionen in Syrien beheimatet waren. In der aus der antiochenischen Gemeinde stammenden Formel l.Kor. 15,3-7 wird Petrus als erster Zeuge der Auferstehung genannt. Reichhaltige Zeugnisse kommen aus den kanonischen Evangelien. Am Schluß der Emmausgeschichte steht der wie ein Stück einer Formel anmutende Satz ,,er ist wahrhaftig auferstanden und dem Simon erschienen" (Luk. 24,34). Zu der folgenden Erzählung von Jesu Erscheinung vor den elf Jüngern (Luk. 24,36-43) findet sich bei Ignatius von Antiochien eine ältere Variante, die diese Erscheinung vor „Petrus und denen, die bei ihm waren", stattfinden läßt (Ign.Sm. 3). In den Evangelien gehören Petrus die ersten Bekenntnisse zu Jesus als Messias (Mk. 8,29; Joh. 6,69; Johannes verwendet die gleiche Tradition, wandelt aber den Titel zu „der Heilige Gottes"). Die Berufungs- und Sendungsgeschichte des Petrus mit dem alten Wort vom „Menschenfischer" ist in der Legende vom Fischzug des Petrus erhalten (Luk. 5,1-11;
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vgl. Joh.21,1-14 wo dieselbe Geschichte wiedergegeben, aber die Autorität des Petrus zurückgedrängt wird). Schließlich ist noch auf die Verklärungsgeschichte hinzuweisen (Mk. 9,2-8), die ebenso wie die Legende vom Fischzug eine alte Auferstehungsgeschichte ist und in der ursprünglich nur der Name des Petrus genannt wurde (Jakobus und Johannes sind redaktionell). Mit dieser Tradition verband sich auch eine formelle Autoritätsstellung des Petrus. Sie ist in der Überlieferung von Petrus als dem Felsen, auf den Jesus seine Kirche gründen will und dem die Schlüssel des Himmelreiches gegeben sind, deutlich greifbar. Mit seiner aramäischen Anrede „Simon Barjona" und dem griechischen Terminus „Ekklesia" weist dieses Stück auf eine zweisprachige Gemeinde des syrischen Raumes. Matthäus hat diese Überlieferung an die Wiedergabe des Petrusbekenntnisses angefügt (Mt. 16,17-19), erkennt die Autorität des Petrus also an. Im Nachtrag des Johannesevangeliums (Joh.21,15-23) ist dieselbe Tradition verarbeitet (vgl. die Anrede „Simon Sohn des Johannes"), die Autorität des Petrus nicht grundsätzlich bestritten, aber durch die Stellung des Jüngers, „den Jesus lieb hatte" (Johannes?), in ähnlicher Weise überboten, wie im Thomasevangelium die Autorität des Jakobus durch die des Thomas in den Schatten gestellt wird (s.o.§ 10. 7b). Es handelt sich natürlich nicht um persönliche Rivalitäten von Aposteln, sondern um eine Zeit nach dem Tode dieser Apostel, in der verschiedene christliche Gemeinden mit ihren unterschiedlichen apostolischen Traditionen miteinander rivalisierten. O f t mögen auch mündliche oder schriftliche Überlieferungen unter den Namen verschiedener Apostel innerhalb derselben Großgemeinde (vielleicht in einer Großstadt wie Antiochien) konkurriert haben. Hat es bestimmte mündliche und schriftliche Jesusüberlieferungen gegeben, die speziell mit dem Namen des Petrus verbunden waren? Obgleich nicht zu bestreiten ist, daß Petrus ein persönlicher Jünger Jesu war, so ist doch nirgends die Überlieferung der Worte Jesu mit seinem Namen verbunden. Für die kirchliche Tradition war seit Papias von Hierapolis das Markuseevangelium eine Niederschrift der Lehrvorträge des Petrus (s.u. § 10. 2b). Die älteste Schrift unter der Autorität des Petrus ist aber das Petrusevangelium. Die Bezeugung weist wiederum auf Westsyrien. Nach Eusebius (Hist. eccl. 6.12.2-6) war Bischof Serapion von Antiochien (um 200nChr) auf ein Evangelium des Petrus aufmerksam gemacht worden, das Christen in der Gemeinde von Rhossos benutzten. Zu-
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nächst hatte Serapion nichts gegen den Gebrauch dieser Schrift einzuwenden, studierte sie aber später selbst und stellte fest, daß zwar das meiste mit der Lehre des Erlösers übereinstimme, aber einige spätere Zusätze, offenbar doketischer Art, zu finden seien. Weder Serapion noch einer der Kirchenväter, die von dem Evangelium nach Petrus wußten, haben aus ihm zitiert, so daß sein Inhalt unbekannt war, bis im Jahre 1886 in Akhmin in Oberägypten ein Fragment eines Petrusevangeliums in einer aus dem 8. Jahrhundert stammenden Handschrift gefunden wurde. Es wird allgemein angenommen, daß es sich um dasselbe Evangelium handelt, das Serapion von Antiochien einst gelesen hatte. Das Fragment enthält den größten Teil der Passionsgeschichte sowie die Geschichte des leeren Grabes; mit der Einleitung zur Geschichte vom nachösterlichen Fischzug der Jünger (vgl. Joh.21) bricht es ab. Die Grabesgeschichte ist mit legendären Zügen ausgestattet, die weit über das hinausgehen, was sich in den kanonischen Evangelien findet. Das darf aber nicht zu der Ansicht verleiten, wir hätten es hier mit einem legendär ausgestalteten Flickwerk aus Stücken der kanonischen Passions- und Ostergeschichten zu tun. Denn in einer Reihe von Fällen bietet das Petrusevangelium Züge und Nachrichten, die einem Entwicklungsstadium der Passions- und Grabesgeschichten angehören, das älter ist als die kanonischen Evangelien. Die aus dem Alten Testament abgeleiteten Züge der Passionsgeschichte zeigen noch deutlicher ihre Herkunft aus der Schriftauslegung (z.B. Ev. Petr. 16: „Gebt ihm Galle und Essig zu trinken"; dieser Zug stammt aus Ps.68,22; Matthäus hat Galle in 27,34, Essig in 27,48). Der Tag der Kreuzigung ist mit dem Johannesevangelium historisch richtig als Tag vor dem Fest angegeben. Bei der Legende vom leeren Grab ist nur Maria Magdalena namentlich genannt - höchstwahrscheinlich der einzige Name, der ursprünglich mit dieser Legende verbunden war (Mt., Mk. und Luk. fügen Namen weiterer Frauen hinzu). Züge der alten Grabeslegende, die Mt.28,2-4 sekundär in seine Vorlage einfügte, finden sich im Petrusevangelium als natürliche Bestandteile einer Auferstehungsgeschichte, dessen Zeugen die bewachenden Soldaten sind. Mögen also auch viele Einzelheiten des Petrusevangeliums erst später hinzugefügt sein, zugrunde liegt ein älteres, von den kanonischen Evangelien unabhängiges Evangelium unter der Autorität des Petrus. War Petrus der erste und wichtigste Zeuge der Auferstehung in der ältesten Tradition Westsyriens, so kann auch die alte Überlieferung der Pas-
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sions- und Auferstehungsgeschichte unter seiner Autorität gestanden haben. Bestätigt wird dies durch die Passionsgeschichte der synoptischen Evangelien, in denen wiederum Petrus der einzige namentlich genannte Jünger Jesu ist (Geschichte von der Verleugnung des Petrus). Ein weiteres Dokument, das um das Jahr lOOnChr entstanden sein wird und sich ebenfalls mit der Deutung des Todes Jesu beschäftigt, stand ebenso unter der Autorität des Petrus: Das Kerygma des Petrus (zu unterscheiden von den „Kerygmata Petrou", einer Quellenschrift der Pseudo-Clementinen). Auch diese Schrift ist nur in wenigen Fragmenten erhalten (Clemens von Alexandrien, Strom. 6.5.39-41, 43, 48; 6.15.128). Danach zu urteilen, handelte es sich um eine Schrift apologetischen Charakters. Sie beginnt mit dem Bekenntnis des einen unsichtbaren Gottes und mit einer Polemik gegen den heidnischen Götzendienst und den jüdischen Engeldienst. Die Christen werden von Griechen und Juden unter Hinweis auf die Jeremia-Weissagung als Volk des neuen Bundes und drittes Geschlecht unterschieden. Als auserwählte Apostel sind die zwölf Jünger zunächst an Israel gesandt, dann zu den Völkern. Das apologetische Prinzip der Deutung des Todes Jesu ist voll entwickelt. Die Jünger haben erkannt, daß in den Büchern der Propheten Jesus Christus teils in Gleichnissen, teils wortwörtlich erwähnt wird, und daß dort über „sein Kommen, den Tod, das Kreuz und alle anderen Qualen die ihm die Juden angetan hatten, die Auferweckung und die Aufnahme in den Himmel vor dem Gericht über Jerusalem... alles geschrieben stand". Ferner: „Wir erkannten, daß Gott alles wirklich so angeordnet hat, und wir sagen nichts ohne (das Zeugnis der) Schrift". Die Anwendung dieses Prinzips ist im oben angeführten Petrusevangelium ebenso sichtbar wie in den Passionsgeschichten der Evangelien des N T . Das Kerygma des Petrus beweist, daß gerade diese unter der Autorität des Petrus entwickelte Tradition voll und ganz in den Dienst der Heidenmission genommen worden war. Eine Reihe weiterer Schriften unter dem Namen des Petrus stehen im Rahmen der gesamtkirchlichen Entwicklung und des Frühkatholizismus. Paulinische Einflüsse sind vielfach sichtbar. Hierher gehören die beiden Petrusbriefe des neutestamentlichen Kanons (s.u. §12.2f) und die Petrusapokalypse. Wie auf der einen Seite die syrische Petrustradition im Heidenchristentum aufgegangen ist, so hat sich auf der anderen Seite bei den judenchristlichen Sekten des
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f o l g e n d e n Jahrhunderts der Anspruch erhalten, die w a h r e Lehre des Petrus bewahrt zu haben (s.u.§ 1 0 . 4 c ) . Petrus rückt dort in die N ä h e der Autorität des J a k o b u s und tritt mit diesem f ü r die T r e u e z u m G e s e t z ein; Paulus erscheint als der E r z f e i n d des wahren Christentums. Es ist durchaus möglich, daß zwischen dem frühen petrinischen Christentum Syriens und dem späteren anti-paulinischen Judenchristentum direkte Verbindungslinien bestanden haben. In diesem Falle ließe sich die kirchliche Literatur, die die V e r f a s s e r schaft des Petrus in Anspruch nimmt, als polemische Antwort auf entsprechende judenchristliche B e r u f u n g e n auf Petrus verstehen. b) D a s älteste kirchliche Evangelium Verschiedene und z u m Teil voneinander unabhängige Entwicklungen hatten in Syrien in der frühen nachapostolischen Zeit zur schriftlichen Fixierung g a n z unterschiedlicher Uberlieferungen geführt. In allen Fällen handelte es sich um die Niederschrift von T r a ditionen, die Frömmigkeit, T h e o l o g i e und Praxis einzelner Gemeinden oder Gemeindekreise bestimmten. D i e schriftliche P a s s i o n s g e schichte entstand in G e m e i n d e n , in denen das K e r y g m a von K r e u z und Auferstehung im Zentrum der theologischen Orientierung stand und in denen man sich bemühte, J e s u Schicksal durch die Interpretation alttestamentlicher Stellen v o m leidenden Gerechten besser verstehen zu lernen. Eine g a n z andere Frömmigkeit verraten jene G e m e i n d e n , in denen die Spruchüberlieferung J e s u als Ruf der himmlischen Weisheit verstanden wurde. Wieder anders orientiert w a r die A n k n ü p f u n g an die S p r ü c h e J e s u im Sinne einer a p o kalyptischen Prophetie, in der das baldige K o m m e n J e s u als Menschensohn in apokalyptischen P r o p a g a n d a s c h r i f t e n oder prophetischen E r b a u u n g s b ü c h e r n verkündet wurde. Eine weitere Ausbild u n g solcher T r a d i t i o n e n und Schriften vermehrte z w a r das entsprechende Material, implizierte aber auch eine V e r e n g u n g der Perspektive und eine sektenhafte A b g r e n z u n g der betreffenden G e meinden. Auf der anderen Seite mußte die A u f n a h m e hellenistischjüdischer Morallehren und die Ausarbeitung von Kirchenordnungen d a z u beitragen, die kirchliche Praxis im ökumenischen Sinne zu vereinheitlichen. D o c h finden sich in diesen Zeugnissen der frühen Christenheit Syriens und Palästinas zunächst k a u m Anzeichen f ü r eine theologische Auseinandersetzung zwischen diesen verschiedenen Grundpositionen. S e h r früh muß auch im syrischen R a u m noch eine weitere und
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ganz anders ausgerichtete christliche Botschaft in Erscheinung getreten sein, die ihre eigene Tradition der Jesusüberlieferung pflegte: die Propaganda judenchristlicher Missionare, die einen Neuen Bund verkündeten und ihre Predigt durch Krafttaten und Wunder unterstrichen. Als Handbücher solcher missionarischen Tätigkeit müssen die ersten Sammlungen der Wundergeschichten Jesu entstanden sein, in denen Jesus der göttliche Mensch schlechthin war, so daß der Nachweis übernatürlicher Macht den Charakter einer verpflichtenden Botschaft hatte. Eine Auseinandersetzung mit diesen Missionaren und ihrer Botschaft war uns bereits im 2.Korintherbrief des Paulus begegnet (s.o. §9. 3d). Unter Berufung auf das Kerygma von Kreuz und Auferstehung hatte Paulus der Predigt von Jesus als dem mächtigsten aller göttlichen Menschen entgegengehalten, daß Jesus der am Kreuz Gescheiterte war, dessen Auferstehung Macht für die Schwachen und Freiheit für die Verachteten verkündigte. Den Empfehlungsbriefen (Aretalogien) der Gegner stellte Paulus seine paradoxe Apologie der Schwachheit in der Erfahrung der eigenen missionarischen Wirksamkeit gegenüber. Aber die Kontroverse der aretalogischen Jesustradition mit der inzwischen in der Passionsgeschichte schriftlich fixierten Verkündigung des Gekreuzigten blieb als Aufgabe, die die nach-paulinische und die nach-petrinische Christenheit zu lösen hatte. Dieser Aufgabe hat sich das Markusevangelium gestellt und dabei noch andere theologische Traditionen und ihre Schriften in seinen neuen theologischen Entwurf eingearbeitet. Wo das Markusevangelium entstanden ist, wissen wir nicht - wahrscheinlich aber nicht in Rom, wohin man es gerne wegen seiner Latinismen und seiner Verbindung mit Petrus setzen möchte. Eher in einer Weltstadt des Ostens, wo viele Richtungen sich kreuzten und im Widerstreit standen und wo die entsprechenden Überlieferungen voll ausgebildet waren. Antiochien oder eine andere Stadt der syrischen Westküste erfüllen alle Voraussetzungen. Falls die Katastrophe des jüdischen Krieges als Katalysator wirkte, wäre der syrisch-palästinische Raum ohnehin vorzuziehen. Petrus gehört jedenfalls nach Syrien, und Einflüsse lateinischer Sprache gab es überall, wo römische Garnisonen standen und römische Gerichtsbarkeit geübt wurde. Die äußere Bezeugung der Verbindung von Markus mit Petrus stammt von dem phrygischen Bischof Papias von Hierapolis (ca. 100-150nChr). Er schreibt, daß sein Gewährsmann, den er einen „Presbyter" nennt, ihm gesagt habe, Markus sei Dolmet-
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scher des Petrus gewesen und habe, soweit er sich erinnern konnte, die Worte und Taten des Herrn genau aufgezeichnet, jedoch nicht in (der richtigen) Ordnung. Es folgt eine weitere Bemerkung darüber, daß man Markus nicht deswegen tadeln könne, da er ja nicht selbst den Herrn gehört habe oder ihm nachgefolgt sei, sondern von den je nach Bedürfnis zusammengestellten Lehrvorträgen des Petrus abhängig war. Der Wert dieser Papias-Überlieferung darf nicht überschätzt werden. Die Vertrauenswürdigkeit der mündlichen Uberlieferung beruhte für Papias auf der Erinnerung der Apostelschüler (Presbyter) an das, was die Apostel von Jesus weitergegeben hatten. So wendete er dieses Schema auch auf die schriftlichen Evangelien an. Aber schon für das Markusevangelium will das nicht passen; denn Markus schrieb auf Grund schriftlicher Quellen und mündlicher Uberlieferungen, die von der Predigt und vom Leben der christlichen Gemeinden geprägt waren. Jedoch will die von Papias behauptete Verbindung des Markusevangeliums mit der Autorität des Petrus beachtet werden. Die Rolle des Petrus im Markusevangelium beweist, daß Markus Material verwendet hat, in dem die Autorität des Petrus zum Ausdruck kam. Die wichtigste im Markusevangelium verwendete Quelle ist die Passionsgeschichte, die in einer zusammenhängenden Erzählung die Ereignisse vom Einzug Jesu in Jerusalem (Mk. 11,1-10) bis zur Auffindung des leeren Grabes (Mk. 16,1-8) berichtete. Der Passionsbericht des Johannesevangeliums geht auf die gleiche Quelle zurück. Daneben stand eine Sammlung von Wundergeschichten, die mit der von Johannes verwendeten „Zeichenquelle" (s.u. §10.3a) manches gemeinsam hat. Aus dieser Sammlung stammen sicher die Geschichten von der Speisung der Fünftausend (Mk.6,32-44; Joh.6,1-13), vom Wandeln auf dem See (Mk. 6,45-52; Joh.6,15-21) und von der Heilung eines Blinden (Mk. 8,22-26; Joh. 9,1-7), aber wohl noch andere Wundererzählungen; eine genaue Abgrenzung ist nicht möglich. Vielleicht fand Markus auch die für sein Evangelium so charakteristischen Dämonenaustreibungen (Mk. 1,21-28; 5,1-20; 9,14-29) in einer schriftlichen Sammlung vor. Die Worte Jesu nehmen bei Markus einen geringeren Raum ein. Für einige Sprüche finden sich Dubletten in der von Matthäus und Lukas benutzten Spruchquelle (vgl. Mk.8,34-37 mit Mt. 10,33.38-39 und Luk.12,9; 14,27; 17,33; bei dem letzteren handelt es sich um einen der für die Spruchquelle kennzeichnenden Sprüche vom kommenden Menschensohn). Aber
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auf eine Bekanntschaft des Markus mit der Spruchquelle kann man daraus nicht schließen. Solche Sprüche mögen ihm ebenso wie die Streitgespräche Jesu (Mk.2,23-28; 3,1-6.22-30; 11,27-33; 12,13-37) aus der freien Überlieferung oder aus kleineren schriftlichen Sammlungen zugeflossen sein. N u r in zwei Fällen kann man mit Gewißheit auf das Vorliegen einer schriftlichen Quelle schließen: bei den Gleichnissen Mk.4 und bei der synoptischen Apokalypse Mk. 13 (s.o. §10. 7a). G a n z abwegig sind Versuche, als Quelle des Markusevangeliums einen Urmarkus anzunehmen, der etwa dem Leben Jesu näher stand als das erhaltene Evangelium. O b allerdings das in den neutestamentlichen Handschriften überlieferte Markusevangelium mit dem ursprünglichen W e r k des Markus identisch ist, bleibt eine offene Frage. In einigen Fällen stimmen die Texte von Matthäus und Lukas bei der Wiedergabe von Markusmaterial überein, während Markus einen anderen Text bietet. Haben hier Matthäus und Lukas das erhalten, was ursprünglich bei Markus stand ? Einen größeren Abschnitt des Markusevangeliums (Mk. 6,45-8,26) gibt Lukas überhaupt nicht wider. Aber gerade in diesem Abschnitt finden sich bei Markus eine Reihe von Dubletten (Mk. 8,1-10 berichtet die Speisung der Viertausend, während Mk. 6,30-34 bereits die Speisung der Fünftausend erzählt hatte). H a t dieser Abschnitt im ursprünglichen Evangelium gefehlt? Weiter kompliziert wird die Frage nach der ursprünglichen Gestalt des Markusevangeliums noch durch die Auffindung eines bisher unbekannten, aber wahrscheinlich echten Briefes von Clemens von Alexandrien, in dem Stücke eines Geheimen Markusevangeliums zitiert werden. Im ganzen scheint dieses bei den Christen Alexandriens gebrauchte geheime Evangelium mit dem uns bekannten Text von Markus übereinzustimmen, enthielt aber noch weiteres Material, darunter unmittelbar vor der Erzählung vom Einzug in Jerusalem (Mk. 11,1 ff) die Geschichte von der Auferweckung eines jungen Mannes. Bemerkungen über die Einweihung dieses vom T o d e Erweckten mögen späterer Zuwachs sein, aber die Geschichte selbst ist eine Variante der in Joh. 11 erzählten Auferweckung des Lazarus, und zwar erscheint sie in einer Form, die redaktionsgeschichtlich gesehen älter ist als die Parallele bei Johannes. Haben wir es hier mit einem Zeugnis d a f ü r zu tun, daß in einer alten Edition des Markus auch diese Auferweckungsgeschichte stand, die aus der gleichen (mit der johanneischen Zeichenquelle eng verwandten) Sammlung
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von Wundergeschichten stammte, aus der Markus auch andere Erzählungen entnommen hatte? Offenbar ist nicht damit zu rechnen, daß der Text eines relativ alten Evangeliums von Redaktionen, Bearbeitungen und Neufassungen verschont geblieben ist. Im Gegenteil, gerade die erfolgreiche Abfassung und Verbreitung dieser ersten umfassenden Evangelienschrift mußte zu dem Versuch herausfordern, diese neue Literatur weiterzuführen. So haben Matthäus und Lukas eigentlich nichts weiter getan als gründliche Umarbeitungen des Markusevangeliums vorzulegen, und Johannes hat ihm eine analoge Schrift zur Seite gestellt. Das Markusevangelium ist in der Tat nicht einfach eine Fortführung schriftlich niedergelegter Überlieferungen. Markus hat vielmehr sehr verschiedenartiges Uberlieferungsmaterial einer neuen Einsicht dienstbar gemacht und so mit dem Evangelium eine neue Gattung der Literatur geschaffen. Diese Einsicht ist mit dem Hinweis auf das Kerygma von Jesu Kreuz und Auferstehung (bei Paulus l.Kor. 15,1 ff als „Evangelium" bezeichnet) noch nicht voll erfaßt. Insofern als die Passionsgeschichte bei Markus einen verhältnismäßig großen Raum einnimmt und das vor die Passionsgeschichte gesetzte Material eng auf sie bezogen wird, hat er zwar seine Berechtigung. Aber es muß auch gesehen werden, daß das dahinterstehende Kerygma nicht mehr wie im Anfang der Auferstehungsverkündigung und bei Paulus ein entscheidender eschatologischer Augenblick ist, sondern den Höhepunkt eines Dramas darstellt, das sich im Wirken und Leiden eines dem irdischen Bereich preisgegebenen menschlichen Lebens vorbereitet. Diese Einsicht macht es Markus möglich, eine biographische Einleitung zur Passionsgeschichte zu schreiben. An diesem Punkt beginnt die Biographie Jesu, die freilich mit dem tatsächlichen Ablauf des Lebens Jesu nichts zu tun hat. Der biographische Rahmen ist durch und durch theologisch konzipiert. Er dient lediglich dazu, daß in ganz anderen Zusammenhängen überlieferte Material über Jesu Taten und Worte biographisch zu verankern und theologisch mit der Passionsgeschichte zu verknüpfen. Die Gattung der hellenistischen Biographie hat dabei Pate gestanden. Auch hier wird traditionelles Material zur Darstellung von Amt, Sendung oder Lehre innerhalb eines meist sekundären biographischen Rahmens verarbeitet. Markus hat durch seine redaktionellen Zusätze zu überlieferten Stücken sein Quellenmaterial von vornherein auf die Leidensgeschichte bezogen. Bereits am Abschluß der ersten Phase der Wirk-
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samkeit Jesu läßt er die Herodianer und Pharisäer auftreten, die beratschlagen, wie sie Jesus vernichten können (Mk. 3,6), und bringt die Schriftgelehrten aus Jerusalem nach Galiläa, um Jesus anzuklagen, er sei von Beelzebul besessen (Mk. 3,22.30). Vor allem mußte Markus aber seiner eigenen theologischen Konzeption entgegenstehende Tendenzen des verwendeten Materials kritisch interpretieren. Die aufgenommenen Sammlungen von Wundergeschichten hatten die Absicht, die in Jesus gegenwärtige göttliche Macht zu demonstrieren, waren also Aretalogien. Ihrem Anspruch, daß die Messianität Jesu in den Taten seiner irdischen Wirksamkeit gegenwärtig ist, stellt Markus die Theorie des Messiasgeheimnisses gegenüber. Sie ist im Evangelium in dreifacher Weise ausgedrückt: in den Verboten an die Dämonen, Jesu Würde nicht öffentlich kundzumachen (Mk. 1,34; 3,12 u.ö.); im Unverständnis der Jünger (Mk.6,52; 8,16-21); und in der Ansicht, daß die Verkündigung in Gleichnissen nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sei (Mk. 4,10-12.33-34; dieses letztere Element hat aber vielleicht andere Hintergründe). Auf diese Weise stehen die Machttaten Jesu in einem eigenartigen Zwielicht und es wird deutlich, daß sie nicht der Schlüssel zum Verständnis der wirklichen Sendung Jesu sein können. In der Gesamtkomposition des Evangeliums hat Markus das Petrusbekenntnis von Cäsarea Philippi zum theologischen Wendepunkt gemacht. Nicht nur folgt ein Schweigegebot auf das Bekenntnis Jesu als Messias (Mk. 8,29-30), Markus schließt die erste Ankündigung des Leidens unmittelbar an (8,31) und weist Petrus' Protest scharf zurück. Zwei weitere Leidensankündigungen folgen (Mk. 9,30-32; 10,32-34), so daß der auf das Petrusbekenntnis folgende Abschnitt bis zum Einzug in Jerusalem von der Ausschau auf Leiden, T o d und Auferstehung Jesu bestimmt ist. Erst jetzt lernen die Jünger das Geheimnis der Messianität Jesu verstehen. Spruchmaterial, das Markus hier eingearbeitet hat, ist auf die Nachfolge im Leiden ausgerichtet (vgl. Mk.8,34-38; 10,35-45). Daß die Jesus nachfolgenden Jünger die Kirche repräsentieren, geht daraus hervor, das sich in diesen Kapiteln Material findet, das zur Kategorie der Kirchenordnung gehört (Mk. 9,33-50; 10,1-31). Eigenartigerweise verwendet Markus in den Leidensankündigungen nicht mehr den Messiastitel, sondern nimmt den Menschensohntitel auf, der eigentlich in die eschatologische Erwartung des auf den Wolken des Himmels kommenden Erlösers gehört. Zwar bestreitet Markus die traditionelle Zukunftserwartung der Spruchüberlieferung nicht, er verbin-
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det sie aber mit dem Kerygma von Tod und Auferstehung (vgl. Mk.9,9), ja selbst mit der Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer (Mk. 10,43; erst Markus hat in dieses Wort den Titel Menschensohn eingetragen). Dadurch wird auch die Christologie der Spruchüberlieferung der theologischen Gesamtkonzeption des Markus dienstbar gemacht. Von der zentralen Stellung von Leiden, Kreuz und Auferstehung her gesehen kann die Frage nicht mehr gestellt werden, ob Jesu Wundertaten seine Messianität beweisen. Bei Markus provozieren sie den Tod Jesu, und die ganz unangemessene Frage des Hohenpriesters, ob Jesus der Messias sei, wird konsequent mit dem Ausblick auf das Kommen des Menschensohnes in Macht und Herrlichkeit beantwortet (Mk. 14,61-62). Natürlich kann auch die Auferstehung Jesu nicht als bestätigendes Wunder erzählt werden. O b der Schluß des Evangeliums (Mk. 16,7) auf die Erscheinung des Auferstandenen hinweist oder auf die Parusie, bleibt offen. Markus hat die verschiedenen christologischen Traditionen auf diese Weise so zusammengefügt, daß man weder die Macht des irdischen Jesus bestreiten, noch die Wirklichkeit der Auferstehung anfechten, noch die Parusie anzweifeln kann. Aber die Darstellung der Biographie Jesu ermöglicht der Gemeinde, sich in der Leidensnachfolge an Jesus zu orientieren, ohne daß sie verpflichtet wäre die Wunder Jesu nachzuahmen (die Jünger scheitern bei ihrem Versuch des Exorzismus kläglich, Mk. 9,14-29), und ohne daß sie auf einen verschärften apokalyptischen Radikalismus hören müßte (die Zeit weiß noch nicht einmal der Sohn, Mk. 13,31-32). Sie wird von wundertuenden Aposteln ebenso unabhängig wie von eschatologischen Propheten. Der Weg zum Frühkatholizismus ist damit gewiesen. Sein weiterer Ausbau geht Hand in Hand mit der Erweiterung der Biographie Jesu, die seit Markus Anweisung zur Nachfolge, d.h. für das Leben und für die Erfahrung des Leidens geworden war. c) Jesu Lehren und Wirken als Kanon der Kirche W a r das Markusevangelium ein Werk der krichlichen Einigung, so hat das Matthäusevangelium dieses Vermächtnis fortgeführt. Markus hat die Form des Evangeliums geschaffen und dabei widerstreitende Traditionen der in sich zersplitterten Christenheit Syriens zu einem Ganzen zu einigen gesucht. Matthäus hat noch ökumenischer gedacht und die in der literarischen Gattung der Bio-
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graphie liegenden Möglichkeiten kirchlicher Einigung voll ausgeschöpft: Jesu Leben, Lehren, Wirken und Leiden sollte zum Kanon der alle umfassenden katholischen Kirche werden. Wer Matthäus war, wissen wir nicht. Man hat ihn als den Zöllner Levi gesehen (Mk.2,14), der bei Mt. 9,9 mit dem Namen „Matthäus" vorgestellt wird. Aber es ist nicht sicher, daß der Verfasser sich selbst in dieser Perikope nennen will. Papias von Hierapolis, dem wir die Nachricht von Markus als Dolmetscher des Petrus verdanken, sagt über Matthäus, „er habe die Sprüche Jesu in hebräischer Sprache zusammengestellt und jederman übersetzte sie so gut er konnte". Diese Bemerkung ist der Anfang einer kirchlichen Uberlieferung, daß das Matthäusevangelium zunächst auf Hebräisch (oder Aramäisch) verfaßt worden und später ins Griechische übersetzt worden sei. Davon kann aber keine Rede sein. Das Matthäusevangelium des neutestamentlichen Kanons ist auf Grund griechischer Quellen (Markus!) von vornherein in griechischer Sprache geschrieben worden. H a t Papias wirklich von einem hebräischen Dokument unter der Autorität des Matthäus etwas gewußt, so kann es sich nicht um unser kanonisches Evangelium gehandelt haben. Eher könnte man an die synoptische Spruchquelle denken, die in der Tat zunächst in aramäischer Sprache existiert haben kann. Daß Papias von den „Sprüchen (Logia) Jesu" redet, würde gut auf die Spruchquelle passen, und daß es verschiedene voneinander unabhängige Übersetzungen von Sprüchen Jesu gegeben hat, entspricht wohl den Tatsachen. Ist das bei Papias gemeint, so ergäbe sich, daß die Spruchquelle die Autorität des Apostels Matthäus f ü r sich beanspruchte, und daß der Verfasser des Matthäusevangeliums, der ja die Spruchquelle dem Markusrahmen einfügte, diese Autorität übernahm. Matthäus und Thomas wären die frühesten Autoritäten für die Spruchüberlieferung; es ist also kein Zufall, daß sie auch in einigen Apostellisten nebeneinander erscheinen (Mk.3,18; Mt. 10,3; Luk.6,15). Die Verwendung der Spruchquelle, ebenso wie die Fortführung der Petrustradition lassen auf einen syrischen Verfasser schließen. Die Auseinandersetzung mit dem sich nach der Katastrophe des jüdischen Krieges neu formierenden rabbinischen Judentum verlangt eine Datierung der Abfassung in den letzten beiden Jahrzehnten des l.Jh. Matthäus hat zwar den von Markus geschaffenen Rahmen übernommen, aber die Anlage seines Evangeliums unterscheidet sich grundsätzlich von Markus. Die Passionsgeschichte bestimmt nicht
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mehr den Gesamtaufriß und das Wirken Jesu wird nicht mehr als das Vorspiel zur Passion gesehen. Durch die Voransetzung der Geburtsgeschichte einschließlich des Stammbaums Jesu (Mt. 1-2) ist ein neuer Rahmen geschaffen: Geburt und Tod als Anfang und Ende des Lebens. In diesem Rahmen steht das Lehren und Wirken Jesu. Nicht mehr Jesu Tod, sondern seine Wirksamkeit gründet die Kirche. Dabei liegt der Nachdruck eindeutig auf den Reden, also auf dem Lehren Jesu, nicht auf den Wundertaten. Hier kommt das im wesentlichen aus der Spruchquelle, aber auch aus Markus und aus Sonderüberlieferungen geschöpfte Spruchmaterial zur Geltung. Matthäus hat es in fünf große Reden Jesu zusammengefaßt: Die Bergpredigt (Mt.5-7), die Aussendungsrede (Mt.9,35-11,1), die Gleichnisrede (Mt. 13,1-53), die Gemeinderede (Mt. 18,1-19,1) und die eschatologische Rede (Mt. 24,1-26,1). Jede dieser Reden schließt mit den Worten: „und es geschah, als Jesus diese Rede beendet hatte... " Bei der letzten Rede heißt es: „und es geschah, als Jesus alle diese Reden beendet hatte... " Unmittelbar darauf folgt der Bericht vom Todesbeschluß der Hierarchen (Mt. 26,1-5). Hier endet also die kirchengründende Lehrtätigkeit Jesu. Diese fünf großen Reden sind Kompositionen des Evangelisten. Er verwendete dafür allerdings nicht einfach unverbundene Einzelsprüche, sondern legte schon vorhandene Spruchsammlungen seiner Quellen zugrunde. Etwa 30% der Bergpredigt waren bereits in der Spruchquelle als Rede Jesu zusammengestellt; bei Lukas hat sich diese Rede als „Feldpredigt" (Luk. 6,20-49) erhalten. Die Aussendungsrede verbindet Stücke der kurzen Aussendungsrede des Markus (Mk.6,7-11) mit Material aus der Spruchquelle ( = Luk. 10,112; 12,2-9.51-53; 14,26-27) und Sondergut (Mt. 10,17-25). In der Gleichnisrede folgt Matthäus seiner Markusvorlage (Mk.4) fügt aber weitere Gleichnisse hinzu. Die Gemeinderede nimmt Mk. 9,33-48 auf, ist aber im wesentlichen eine Komposition des Matthäus. In der eschatologischen Rede wird Mk. 13 fast ganz wiedergegeben aber um weiteres Material, vor allem eschatologische Gleichnisse, vermehrt. Neben diesen fünf großen Reden stehen kleinere Redenkomplexe, die Matthäus in der Regel mit nur wenig Veränderungen aus seinen Quellen wiedergibt: Die Rede über Johannes den Täufer aus der Spruchquelle (Mt. 11,2-19 = Luk. 7,18-35), die Reden über Rein und Unrein und über die Leidensnachfolge aus Markus (Mt. 15,1-20; 16,21-24 = Mk.7,1-23; 8,34-9,1), die Pharisäerrede im großen und ganzen wieder aus der Spruchquelle (Mt. 23,1-36 = Luk. 11,37-52).
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Im übrigen entspricht der Ablauf der Wirksamkeit Jesu fast ganz dem Markusevangelium und die meisten der redaktionellen Verknüpfungen, mit denen Markus das ursprünglich isoliert überlieferte Material verbunden hatte, darunter die meisten Orts- und Zeitangaben, erscheinen bei Matthäus wieder. Dennoch ist auch hier das Bild der Wirksamkeit ein ganz anderes als bei Markus. Das hat Matthäus vor allem dadurch erreicht, daß er die meisten Wundergeschichten aus ihrem Markus-Zusammenhang herausgelöst und in einem besonderen Abschnitt (Mt. 8-9) zusammengestellt hat (darunter auch eine Wundererzählung aus der Spruchquelle, Mt. 8,5-13). Nur wenige Stücke sind in ihrem ursprünglichen Kontext verblieben: die Heilung der verdorrten H a n d (Mk. 3,1-6 = Mt. 12,9-14), schon bei Markus ein Apophthegma, das bei Matthäus vollends zu einem Schulgespräch geworden ist; die Kanaanitin (Mk. 7,24-30 = Mt. 15,21-28) und der epileptische Knabe (Mk. 9,14-29 = Mt. 17,14-21) - beide zu Beispielerzählungen über den Glauben umgestaltet; und die Heilung zweier Blinder unmittelbar vor dem Einzug nach Jerusalem (Mk. 10,46-52 = Mt. 20,29-34). Jesus ist kein umherziehender Wundermann mehr, der durch seine Taten göttliche Macht demonstriert. Vielmehr ist er der Herr und Erlöser, in dem das Erbarmen Gottes Gegenwart wird, so daß sich die Prophezeiung Jesaias erfüllt: ,,Er nahm unsere Schwachheit auf sich und trug unsere Gebrechen" (Jes. 53,4 = Mt. 8,17). Die Wundererzählungen selbst hat Matthäus kräftig umgestaltet. Sie sind in der Regel stark verkürzt (die Heilung des gerasenischen Besessenen nimmt bei Markus 20 Verse in Anspruch, bei Matthäus nur noch 7!) und konzentrieren sich auf das Wesentliche. Die Begegnungen der Kranken mit Jesus sind hingegen manchmal erweitert: die Kranken beten Jesus an und reden ihn mit den Titeln seiner messianischen Würde, „ H e r r " oder „Sohn Davids", an. N u r dieser einzigartigen und unwiederholbaren Sendung Jesu werden also die Wunder zugeschrieben. Dem wundertuenden Nachfolger Jesu wird hingegen bescheinigt, daß solches Tun nicht ohne weiteres dem Willen Gottes entspricht (Mt. 7,21-23). Bereits Markus hatte durch seine Erhebung der Passionsgeschichte zum hermeneutischen Prinzip erreicht, daß Jesu Wirksamkeit als Wundertäter nicht mehr mit den Maßstäben hellenistischer Propaganda gemessen werden konnte. Zwar blieb Jesus der „göttliche Mensch", aber dieses Prädikat mußte angesichts des Leidens dessen, der als Menschensohn einst vom Himmel her erscheinen
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sollte, zur Paradoxic werden. Matthäus versucht, das gesamte Leben, Lehren und Handeln Jesu den Kategorien des göttlichen Menschen und auch des eschatologischen Propheten zu entziehen, bedient sich aber dazu nicht mehr des Mittels der Passionsgeschichte, sondern überhöht die Person Jesu konsequent innerhalb der biographischen Darstellung. Mit menschlichen Maßstäben, und seien es auch Kriterien wie göttliche Begabung, Inspiration und Macht, kann man Jesus nicht mehr messen. Am Rahmen der Biographie hält Matthäus freilich fest, baut ihn, wie gesagt, noch weiter aus. So sichert er dem geschilderten Offenbarungsgeschehen, daß es sich innerhalb der geschichtlichen, menschlichen Welt vollzieht. Aber in dem was Jesus sagt, tut und leidet, ist es doch Gott selbst, der handelt. Das hermeneutische Prinzip, auf Grund dessen Matthäus diese Aussage möglich wird, stammt aus der Apologetik: die Göttlichkeit des Geschehens erweist sich aus seiner Übereinstimmung mit der im göttlichen Wort längst ergangenen Vorhersage. So fügt Matthäus nicht nur gelegentlich Hinweise auf das Alte Testament in das überlieferte Material ein oder erweitert Worte Jesu durch die Anfügung alttestamentlicher Sätze (so z.B. Mt.9,13; 12,5-7; 12,40; 21,16 u.ö.). Er weist auch wiederholt ausdrücklich darauf hin, daß das, was hier geschieht, Erfüllung göttlicher Vorhersage ist: „Dies geschah, damit erfüllt würde, was gesagt war durch den Propheten... " (Mt. 1,22; 2,15; 2,17; 2,23; 4,14-16; 8,17; 12,18-21; 13,14-15; 13,35; 21,5). Die mit dieser Formel angeführten alttestamentlichen Zitate verraten schriftgelehrte Arbeit am Text des AT und an seiner griechischen Übersetzung im Interesse des Schriftbeweises. In der christlichen Apologetik des 2. Jahrhunderts wird diese Arbeit systematisch fortgeführt. Insofern als Matthäus in diesem Bemühen nicht isoliert dasteht, kann man von einer „Schule des Matthäus" sprechen. Zwar spielt diese schriftgelehrte Arbeit auch in der Auseinandersetzung mit dem Judentum eine Rolle und hat von daher entscheidende Impulse empfangen. Aber sie richtet sich in erster Linie an die heidnische Welt. Ihr gegenüber wird die Offenbarung als ein Ereignis vorgestellt, das in einen umfassenden weltgeschichtlich-eschatologischen Plan hineingehört. Gerade durch diesen Schriftbeweis wird das Evangelium zum Offenbarungsbuch einer Weltreligion. Die Nähe des Matthäus zum Judentum hat positiv zu dieser Entwicklung beigetragen. Das setzt allerdings voraus, daß sich Matthäus darum bemüht, das Christentum dort mit dem Judentum zu vergleichen, wo dessen
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Anspruch, eine Weltreligion zu sein, seine eigentliche Wurzel hat, nämlich in der Frage der Geltung des Gesetzes. Das geschieht im Matthäusevangelium in seiner Interpretation der Spruchüberlieferung, insbesondere in der Bergpredigt (Mt.5-7). Mt. 5,17-19 zitiert ein Jesuswort, das eine Bildung des konservativen Judenchristentums gegen die gesetzesfreie hellenistische Gemeinde war; das Wort betont, daß Jesus nicht gekommen sei, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen, und daß kein „Jota oder Tüttel" des Gesetzes vergehen werde, ehe Himmel und Erde vergehen. Damit, daß er dieses Wort zum Thema der christlichen Gesetzesauslegung macht, beansprucht Matthäus das Gesetz des A T voll und ganz für das Christentum. Aber das Prinzip der Auslegung des Gesetzes hat Matthäus ebenfalls formuliert: Es muß eine Gerechtigkeit sein, die besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt. 5,20). Zwar erschöpft sich für Matthäus der Begriff der Gerechtigkeit nicht in der Ethik, aber die unmittelbare Anwendung dieses Auslegungsprinzips ist zunächst in den Antithesen der Bergpredigt (Mt.5,21-48) gegeben: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist... Ich aber sage euch... ". Älteres Spruchmaterial findet sich noch nicht in solch antithetischer Formulierung; also hat Matthäus selbst diese Antithesen gebildet, um Jesus als den neuen Gesetzgeber der besseren Gerechtigkeit darzustellen (nicht als „neuen Moses"; dieser Begriff ist bewußt vermieden). Durchweg handelt es sich um Verschärfung und Vertiefung der Gesetzesforderung: nicht nur Mord ist untersagt, sondern schon H a ß und böse Worte; nicht erst der Ehebruch ist Sünde, sondern schon der Plan; und schließlich: Feindesliebe als Verschärfung des Gebotes der Nächstenliebe. Eine Reihe alter und wohl echter Jesusworte sind in diesem Zusammenhang aufgenommen worden. Aber Matthäus hat sich gehütet, sie im Sinne einer weltfremden Sektenethik zu interpretieren. Die neue Gerechtigkeit rechnet durchaus mit den Realitäten des Lebens: Scheidung ist im Falle des Ehebruchs erlaubt (vgl. Mt.5,32 mit Mk. 10,11). Die Bergpredigt bietet keine eschatologische Verkündigung, sondern einen Gemeindekatechismus. Fasten, Beten und Almosen werden als Übungen der Frömmigkeit gefordert (vgl. ihre Ablehnung im Thomasevangelium), sollen sich freilich von der Praxis der Heiden und der Juden in ihrem Ernst unterscheiden (Mt. 6,1-18). Die Ethik der „besseren Gerechtigkeit" ist die Ordnung einer neuen und vollkommeneren Gemeinde. Diese Vollkommenheit (Mt. 5,48; nur Matthäus verwendet die-
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sen Begriff, der bei den anderen Synoptikern fehlt) ist das Ziel des Verhaltens aller Christen. Nichts deutet auf eine Sonderethik für Fortgeschrittene. Die Bergpredigt, ebenso wie die übrigen Reden des Matthäusevangeliums, sind „Didache", Kirchenordnung; die Parallelen zur Lehre der Zwölf Apostel sind offensichtlich. Zweimal verweist Matthäus auf Gebote mit der Bemerkung, daß sie das ganze Gesetz und die Propheten umfassen; im ersten Falle handelt es sich um die Goldene Regel (Mt. 7,12), beim zweiten Mal um das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mt. 22,37-40): beide Gebote stehen zusammen am Anfang des Lebensweges in der Lehre der Zwölf Apostel (Did. 1.2). Die Instruktionen an die ausgesandten Apostel hat Matthäus durch allgemeine Instruktionen an alle Gemeindeglieder im Falle der Verfolgung und Ermahnungen zum Bekenntnis erweitert (Mt. 10,17-42). Die Gemeindeinstruktion (Mt. 18) betont die Erwählung des Schwachen und die Pflicht, dem, der sich verfehlt, zu vergeben (unterstrichen durch die Anfügung des Gleichnisses vom Schalksknecht, Mt. 18,23-35). Ethische Vervollkommnung des Einzelnen ist ausgeschlossen (vgl. den Zusatz zur Diskussion über den Rang in der Gemeinde, Mt. 18,4); Exkommunikation wird gefordert, wenn jemand den „Kleinen" in der Gemeinde ein Ärgernis bereitet (Mt. 18,6-9). Die Pharisäerrede ist daher nicht einfach eine Polemik gegen das Judentum und seine Frommen, sondern richtet sich gegen die Vorspiegelung individueller Gesetzeserfüllung überhaupt. Es ist wahrscheinlich, daß sich in dieser Rede auch eine Kritik christlicher Amtsträger verbirgt. Was Mt. 23,2-3 und 8-10 sagt, ist an die christliche Gemeinde gerichtet. Diese Kritik macht gleichzeitig einen Unterschied zur Didache deutlich: Matthäus verzichtet auf eine Instruktion für den Aufbau der christlichen Gemeindeämter. Die „Jünger" sind immer die ganze Gemeinde, niemals ihre Amtsträger. Wird auch die Autorität des Petrus unterstrichen (Mt. 16,17-19), so gibt es doch keine Sukzessionslehre. Die Verantwortung zur Erfüllung der neuen Gerechtigkeit liegt ohne Einschränkung bei der ganzen Gemeinde. Die Gemeinde tritt damit in ein besonderes Verhältnis zu Jesus. Er ist kein neuer Moses, dem sie Gehorsam schuldet. Jesus ist vielmehr die „Weisheit", die dazu einlädt, ihre leichte Last auf sich zu nehmen (Mt. 11,28-30). Die Gemeinde, die die neue Gerechtigkeit erfüllt, ist daher nicht mit einem Gesetzeslehrer verbunden, sondern mit einem Offenbarer (Mt. 11,25-27), der selbst als Weiser
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und Gerechter das Schicksal des Gerechten erleidet. Matthäus hat hier Weisheitstradition aufgenommen und auch den Tod Jesu als Schicksal des leidenden Gerechten beschrieben. Unter den entsprechenden Veränderungen der aus dem Markusevangelium entnommenen Passionsgeschichte findet sich in diesem Zusammenhang auch, was man als verhängnisvolle Polemik gegen die Juden bezeichnet hat (vgl. Mt. 27,24-25). Gegen „die Juden" wendet sich Matthäus allerdings nicht. Er setzt lediglich die aus der jüdischen Weisheitstradition stammende Polemik gegen die Führer und das von ihnen verführte Volk fort. Hierher gehört auch die Polemik gegen die Prophetenmörder (Mt. 23,34-36), die ebenfalls der Weisheitstradition entstammt (vgl. Luk. 11,49). Wie in der Sekte vom Toten Meer, ist „Jerusalem" das Symbol für den Mord an den Gesandten Gottes (Mt. 23,37-39), und Matthäus sah im Untergang Jerusalems im jüdischen Krieg die Quittung für diese Haltung der offiziellen Vertretung des Volkes (vgl. seine Interpretation des Gleichnisses vom Hochzeitsmahl, Mt. 22,6-7). Erlitt Jesus auch das gleiche Schicksal wie viele Gerechte vor ihm, so hat doch sein T o d diesem Verhängnis ein Ende gesetzt: die toten Heiligen standen wieder auf (Mt. 27,51-53) und Jesu Auferstehung wird den Frauen am Grabe durch eine Epiphanie vor Augen geführt (Mt. 28,2-4). Galiläa (Mt. 28,10.16), nicht Jerusalem, ist der Anfang einer neuen Epoche: die Sendung der Jünger an alle Völker - und Matthäus wird wohl gewußt haben, daß Galiläa auch der Ausgangspunkt der Neuorganisation des rabbinischen Judentums war. Aber die Christen haben für sich voraus, daß Jesus als der Herr bis an der Welt Ende bei ihnen sein wird. Wie Jesus gegenwärtig sein wird, sagt das Gleichnis vom Weltgericht (Mt. 25,31-46). Damit ist das Thema der „besseren Gerechtigkeit" endgültig zusammengefaßt: „Was ihr einem von meinen geringsten Brüdern getan habt... ".
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a) D i e Entwicklung der johanneischen Sonderüberlieferung Das Johannesevangelium ist aus einer Sonderüberlieferung entstanden, die zwar ebenfalls nach Syrien gehört aber eine anfänglich unabhängige Entwicklung von Gemeinden und Traditionen voraussetzt. Berührungen mit der übrigen (petrinischen) Christenheit Syriens machen sich im Verlaufe des Ausbaus dieser Tradition spürbar, vor allem in der Übernahme der Wundererzählungen und der Passionsgeschichte. Eine Abhängigkeit von den synoptischen Evangelien tritt frühestens im letzten Stadium der Redaktion des Johannesevangeliums in Erscheinung. Kennzeichnend für die typisch johanneischen Entwicklungen ist das in den Reden und Dialogen enthaltene Material. Hier liegen die Voraussetzungen und Anfänge von Christologie und Soteriologie des johanneischen Kreises verborgen. Eine genaue Bestimmung der in den Reden verwende-
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ten Traditionen und ihrer Entwicklung ist das Rätsel des Johannesevangeliums, das bis heute noch nicht zufriedenstellend gelöst ist. Im Gegensatz zu den großen Reden des Matthäusevangeliums, bei denen sich durch formkritische Analyse die älteren Einheiten der mündlichen Überlieferung recht genau bestimmen lassen, hat der johanneische Redenstoff sich bislang dem Versuch, seine Vorgeschichte zu rekonstruieren, erfolgreich widersetzt. Rudolf Bultmanns Hypothese einer gnostischen Redenquelle hat wenig Zustimmung gefunden, würde auch das Problem nur verschieben; denn die Fragen des Zustandekommens einer solchen Quelle und der H e r k u n f t ihres gnostischen Erlösungsverständnisses gäben nur neue Rätsel auf. "Wahrscheinlich kann aber die jetzt erst recht beginnende kritische Arbeit an den seit 1945 entdeckten und 1977 vollständig in englischer Übersetzung und im Faksimile veröffentlichten Texten von N a g H a m m a d i neue Wege weisen. Denn in diesen Schriften findet sich reichliches Material an Offenbarungsreden und Dialogen, die in mancher Beziehung Analogien zu den johanneischen Reden darstellen. Die älteren Stücke, die dem Dialog des Erlösers (s.o. § 1 0 . / b ) zugrundeliegen, zeigen ζ. B., wie aus dem Bemühen um die Auslegung älterer Jesusworte Dialoge entstanden sind. Die Komposition von längeren Reden, die wenig oder gar nicht von Fragen der Jünger unterbrochen werden, muß man sich ähnlich vorstellen. Die verarbeiteten Jesusworte lassen sich nicht immer ohne weiteres isolieren, weil es sich oft um W o r t e handelt, die keine Parallelen in den synoptischen Evangelien haben, und weil die dialogische Verarbeitung dazu führt, daß traditionelle Sprüche bereits bei ihrer ersten Anführung verändert werden. Außerdem sind Jesusworte mit anderem traditionellem Material kombiniert, wie kerygmatische Formeln, Bekenntnissätze und allgemeine theologische Maximen. D a f ü r bietet J o h . 3 ein gutes Beispiel. J o h . 3 , 3 zitiert einen Satz über die Wiedergeburt, der bei Justin im Zusammenhang seiner Darstellung der Taufliturgie angeführt ist (Apol. 1.61.4-5). Aus der Taufliturgie übernahm also der Verfasser des Nikodemus-Dialogs diesen Satz, ersetzte aber „wieder geboren werden" durch „von neuem = von oben geboren werden" und veränderte „in die Gottesherrschaft eingehen" zu „sehen" (die Wiederholung des Zitats in Joh. 3,5 hat hier die U r f o r m noch erhalten) Das folgende W o r t vom Geist/Wind, den man wohl hört, aber über dessen H e r k u n f t man nichts weiß (Joh. 3,8), ist eine allgemeine theologische Maxi-
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me, die auch Ignatius von Antiochien gekannt hat (Ign. Phld.7.1), und der vielleicht aus dem gleichen liturgischen Zusammenhang wie das Wort von der Wiedergeburt stammt. Joh. 3,11 führt dann ein Bekenntniswort der Gemeinde an; das ergibt sich deutlich aus dem Stilbruch: Jesus redet hier von sich selbst in der 1. Person Plural. Darauf folgt in Joh. 3,14 ein traditionelles Stück allegorischer Schriftauslegung (Erhöhung der Schlange durch Moses - Erhöhungjesu). Vor allem waren es ältere Sprüche Jesu, die am Anfang der Entwicklung der Reden und Dialoge standen. In den johanneischen Reden finden sich wiederholt Sätze, die sich in den neuen Texten von Nag Hammadi als ursprünglich isolierte Sprüche Jesu nachweisen lassen. Nur einige Beispiele dafür können hier angeführt werden. Jesu Selbstaussage, daß man ihn suchen, aber nicht finden werde (Joh. 7,33-34) begegnet im Thomasevangelium (Spruch 38) unter den Sprüchen Jesu. Eine weitere Parallele aus einem unbekannten Weisheitsbuch des „Baruch" bei Cyprian (Testimonia 3.29) zeigt überdies, daß dieses Wort ursprünglich eine Selbstaussage der himmlischen Weisheit war, die nur für kurze Zeit unter den Menschen erscheint und dann wieder an ihren Ort zurückkehrt (vgl. auch Joh. 16,16ff). Joh. 8,52 „Wer mein Wort hält, wird den Tod nicht schmecken" ist durch die Variante im Thomasevangelium (Spruch 1) und im Dialog des Erlösers (147,18-20) als traditionelles Jesuswort ausgewiesen. Joh. 16,24 (Bitten, Finden, Freude Haben) ist als Jesuswort wiederum im Dialog des Erlösers belegt (129,14-16). Wie aus solchen Jesusworten durch Einschaltung von Frage und Antwort im Prozeß der Auslegung Dialoge wurden, läßt sich ebenfalls am Dialog des Erlösers zeigen. Dort steht 132,3-9 ein kurzer Dialog aus Jesusworten über den (himmlischen) O r t des Lebens, das „Sehen" und die Selbsterkenntnis, der in Form und Inhalt wie eine Vorstufe des Dialogs Joh. 14,2-12 anmutet. Schließlich zeigt das Thomasevangelium, daß auch Selbstaussagen Jesu, wie sie in den johanneischen Reden häufig sind (vgl. die „Ich bin"Worte), aber bei den Synoptikern seltener vorkommen, schon verhältnismäßig früh zum Bestand der Sammlungen von Jesusworten gehört haben müssen, freilich in einem Zweig der Spruchüberlieferung, der sich anders entwickelt hat als die synoptische Spruchquelle. Ganz im „johanneischen" Stil sagt Jesus im Thomasevangelium (Spruch 77) „Ich bin das Licht, das über allen ist". Zu Spruch 108, „Wer von meinem Munde trinkt... ", läßt sich Joh.7,38 verglei-
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chen. Dem Johannesevangelium analog ist Spruch 28, in dem der Erlöser über sein Kommen und seine Sendung in der Welt spricht, und zwar ganz im Sinne der jüdischen Weisheitsliteratur. Auf die Selbstvorstellung der Weisheit folgt eine Einladung, Aufforderung zur Bekehrung oder zum Glauben und eine Verheißung; vgl. Joh.6,35: „Ich bin das Brot des Lebens. W e r zu mir kommt, der wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, der wird nimmermehr dürsten." Wie das Thomasevangelium zeigt, sind solche kerygmatischen Selbstaussagen Jesu ursprünglich isoliert als Jesusworte umgelaufen. Auch etwa Joh. 11,25-26, „Ich bin die Auferstehung und das L e b e n . . . ", könnte die Wiedergabe eines traditionellen Jesuswortes sein. Haben wir in diesen Überlieferungen in der T a t die älteste Schicht der Tradition der johanneischen Gemeinden vor uns, so läßt sich auch genaueres über ihre Christologie und Soteriologie sagen. Wie im Thomasevangelium handelt es sich um ein Frühstadium einer gnostischen Christologie. Auch das W o r t des irdischen Jesus ist nichts als die Stimme eines himmlischen Erlösers, der die Menschen in ein neues, vom Geist bestimmtes Dasein ruft. Die T a u f e ist Wiedergeburt zu dieser himmlischen Existenz durch den Geist; von einem eschatologischen Bezug der T a u f e ist nichts zu spüren (Joh. 3,2 ff). Interpretieren die W o r t e vom Brot des Lebens und vom wahren Weinstock tatsächlich die Eucharistiefeier (Joh. 6,26 ff; 15,1 ff), so werden Brot und Wein als Symbole f ü r die Teilhabe an der himmlischen Botschaft Jesu verstanden. Brot und Wein sind nicht (wie bei Paulus und in den synoptischen Einsetzungsworten) auf Jesu zukünftiges Kommen oder auf sein Leidensschicksal bezogen, sondern repräsentieren seine Worte, die Leben schaffen. Vielleicht gibt das Johannesevangelium auch noch an, w o diese frühe christlich-gnostische Gemeinde zu suchen ist. Zwar sind auch bei Johannes die meisten Angaben über die Orte des Wirkens Jesu redaktionell, aber innerhalb der Dialoge finden sich einige Hinweise. Jesus ist als „Galiläer" bekannt und gegen ihn wird eingewandt, daß ein Prophet nicht aus Galiläa kommen kann (Joh. 7,52). Mag dies zwar allgemeines Wissen um Jesu tatsächliche H e r k u n f t sein, so ist die Anklage, Jesus sei ein Samaritaner (Joh. 8,48) auffallend. Dazu stimmt, daß die Erzählung von Jesus und der Samariterin von Anfang an die Angabe über Samaria enthalten haben muß (Joh. 4,4 ff). Außerdem ist das Land „jenseits des J o r d a n s " als O r t der Tätigkeit des Johannes als auch des Aufenthai-
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tes Jesu mehrfach erwähnt (vgl. Joh. 1,28; 3,26; 10,40-41). Läßt es sich auch nicht immer entscheiden, ob diese Angaben auf eine Tradition zurückgehen, so kann man doch vermuten, daß die frühe Tradition der johanneischen Gemeinde sich im Umkreis des palästinischen Judentums, aber außerhalb der vom Jerusalemer Synedrium kontrollierten Gebiete entwickelt hat, also etwa in Samarien, für das Apg. 8,5 eine frühe Mission (durch Philippus) bezeugt. Ob der Zebedaide Johannes, einst eine der „Säulen" in Jerusalem, der aber ebenso wie Petrus Jerusalem später verlassen haben muß, mit der Bildung der frühen „johanneischen" Gemeinden etwas zu tun hat, läßt sich nicht mehr sagen, weil es kein frühes Zeugnis für den Namen „Johannes" in dieser Tradition gibt. In dieser Situation muß auch die Auseinandersetzung mit dem Judentum stattgefunden haben, die im Johannesevangelium dazu geführt hat, daß „die Juden" schlechthin als Feinde Jesu gelten (s.u. zur Passionsgeschichte). Daß diese Auseinandersetzung auch zur Bildung von Überlieferungen geführt hat, die der Evangelist dann für sein Evangelium verwendete, ist sicher. Schriftauslegung, die sich mit der Frage der Autorität des Abraham und des Mose beschäftigte muß dabei eine Rolle gespielt haben. In diesem Zusammenhang hat ein Fragment eines bisher unbekannten Evangeliums, das 1935 veröffentlicht wurde, zu wenig Beachtung gefunden: der Papyrus Egerton 2. Die Handschrift dieses Fragments gehört in den Anfang des 2.Jh.nChr, ist also, von einer Ausnahme abgesehen, ein gut Teil älter als die ältesten Handschriften der kanonischen Evangelien (s.o. §7.2b). Erhalten sind neben der Erzählung von der Heilung eines Aussätzigen, einem Streitgespräch über die Zahlung des Zensus und einem Wunder Jesu am Jordan (der Text bricht in dieser Erzählung ab) zwei Stücke, die mit Stellen aus dem Johannesevangelium eng verwandt sind. Zunächst finden sich in einem Streitgespräch Jesu mit den „Obersten des Volkes" Sätze, die fast wörtlich Joh.6,39 („Suchet in der Schrift... "), 6,45 ( „ . . . Es ist einer da, der euch verklagt, Moses... ") und 9,29 („Wir wissen, daß Gott zu Moses gesprochen h a t . . . ") wieder erscheinen. Doch bestehen bezeichnende Unterschiede: Die Sprache ist „johanneisch", aber charakteristische Ausdrücke des Evangelisten fehlen (Pap. Eg.2 sagt z.B. „Leben" statt „Ewiges Leben"); die beiden ersten Sätze finden sich in Joh. 6 im Zusammenhang einer längeren ausgeführten Rede, im Pap. Eg. aber in einem kürzeren Dialog, der in Bezug auf seine Form traditionsgeschichtlich älter ist. In einem
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zweiten Fragment steht ein kurzer Bericht einer versuchten Steinigung und Verhaftung Jesu, den der Evangelist auseinandergerissen zu haben scheint, um den Eindruck wiederholter Anfeindungen zu erwecken (Joh.7,30; 10,31.39). Angesichts des frühen Datums der Handschrift dieses Fragmentes und in Anbetracht des Verhältnisses beider Texte zueinander ist es nicht möglich, im Pap. Eg. 2 einen späteren Auszug aus dem Johannesevangelium zu sehen; denn man kann nicht annehmen, daß der Verfasser sich seinen Text aus einem halben Dutzend Stellen des Johannesevangeliums (auch zu Joh.3,2 findet sich noch eine Parallele) und aus allen drei synoptischen Evangelien zusammengesucht hätte. Vielmehr muß es sich um einen Text handeln der älter ist als das 4. Evangelium und mit seiner Sprache, die eine größere Nähe zu den Synoptikern zeigt, einem Uberlieferungsstadium angehört, daß älter ist als die kanonischen Evangelien. Das würde beweisen, daß man in der Gemeinde der johanneischen Tradition Glaubensaussagen über Jesus, die von seiner göttlichen Herkunft reden (vgl. „Wir wissen, daß du von Gott gekommen bist", Pap. Eg. 2, Zeile 45) oder im Munde der Gegner diesen Anspruch in Zweifel ziehen („Von dir wissen wir nicht, wo du herkommst", ebd. Zeile 16 f; vgl. Joh.7,27), in der Auseinandersetzung mit jüdischen Gegnern fixiert hat. Aus einer solchen Quelle stammen dann wahrscheinlich auch andere Diskussionen der gleichen Art über die Autorität des Moses (Joh. 7,19.22f; vgl. 3,14) oder um die Frage der Abrahamskindschaft (Joh. 8,33 ff). Der Papyrus Egerton ist somit ein wichtiges Zeugnis für die Formation des später in die johanneischen Reden aufgenommenen Diskussionsmaterials und gibt uns einen Anhaltspunkt für die Loslösung dieser Gemeinden vom Judentum. Im Verlaufe ihrer weiteren Geschichte haben sich die johanneischen Gemeinden aber auch mit der übrigen syrischen Christenheit auseinandergesetzt und sind von ihr nachhaltig beeinflußt worden. Am handgreiflichsten ist das in der Passionsüberlieferung. Die von der Gemeinde des Johannes übernommene Passionsgeschichte stimmt im Aufriß und in vielen Einzelheiten mit der Vorlage des Markusevangeliums überein. Hier wie dort beginnt die Erzählung mit dem Einzug in Jerusalem (bzw. mit der Salbung in Bethanien; die beiden Erzählungen erscheinen Joh. 12 in umgekehrter Reihenfolge) und endet mit der Auffindung des leeren Grabes (Joh. 20,118). Petrus ist in dieser Erzählung noch deutlicher verankert als bei Markus: er erscheint auch in der Grabesgeschichte bei der Entdek-
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kung des Grabes, wird nicht erst wie Mk. 16,7 im Nachsatz erwähnt. Wir haben es also mit derselben Passionsgeschichte zu tun, die in Kreisen des petrinischen Christentums entstanden sein muß und im Petrusevangelium ebenso wie bei Markus und seinen beiden Seitenreferenten Matthäus und Lukas benutzt worden ist. Dabei haben sich ursprüngliche Züge bei Johannes erhalten, vor allem die Datierung des Todes Jesu auf den Tag vor dem Passahmahl (Joh. 18,28; so findet sich bei Johannes auch kein Hinweis auf die sekundäre Interpretation des letzten Mahles Jesu als Passahmahl, vgl. Mk. 14, 12-16; Luk.22,15). Anderes ist vom johanneischen Redaktor eingetragen: Ein zweiter Jünger erscheint in der Passionsgeschichte („der andere Jünger" Joh. 18,15f; „der Jünger, den Jesus lieb hatte" Joh. 19,26 f), der als erster Zeuge des leeren Grabes Petrus buchstäblich den Rang abläuft (Joh. 20,3-10). Sekundär ist auch die stärkere martyrologische Ausprägung des Leidensberichts und die Absicht, die Schuld am Tode Jesu den Juden zuzuschreiben und Pilatus zu entlasten. Hier tritt eine antijüdische Tendenz klar zutage, die bereits in traditionellen Redestücken des johanneischen Uberlieferungskreises sichtbar war (s.o.). Den Grund dafür wird man in den Erfahrungen der ersten Verfolgungen seitens der Juden zu suchen haben; vgl. die Erwähnung des Ausschlusses aus der Synagoge auf Grund des Christusbekenntnisses (Joh. 9,22; 16,2). Eng verwandt mit den Quellen des Markusevangeliums ist auch die Tradition der Wundergeschichten, die im Johannesevangelium in der Semeia- oder Zeichenquelle in Erscheinung tritt. Aus dieser Quelle stammen Joh. 2,1-11; 4,43-5,9; 6,1-21; 9,1-7 und 11,1-44; ihr Schluß wird in 20,30-31 erhalten sein. Es ist eine Sammlung von Stücken „hellenistischer" Propaganda, die Jesus als „göttlichen Menschen" verkündigen. Es scheint aber, daß die Sprache dieser Uberlieferungen auf ein aramäisches Milieu verweist. Sie stammen also aus der Mission unter aramäisch sprechenden Juden und Heiden und wurden in einer Gemeinde gesammelt, die zweisprachig war. Daß sich unter diesen Erzählungen ein Wunder Jesu mit aus dem Dionysos-Kult entlehnten Zügen findet (das Weinwunder zu Kana, Joh.2,1-11), ist kennzeichnend für den Synkretismus auch gerade des nicht griechisch sprechenden syrisch-palästinischen Raumes. Die Macht Jesu wird in diesen Erzählungen noch mehr ins Wunderbare gesteigert als in den entsprechenden Stücken des Markusevangeliums. Sie predigen Jesus als den Gott, der auf
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der Erde wandelt; statt von Gott zu sprechen, der Jesus von den Toten erweckt hat, verkünden sie einen Jesus, der göttliche Macht besitzt, Tote aus dem Grabe wieder ins Leben zu rufen (Joh. 11). Typisch „johanneisch" ist diese Uberlieferung nicht; der Verfasser des vierten Evangeliums steht ihr sehr kritisch gegenüber. Es ist denkbar, daß sie schon in einem älteren Uberlieferungsstadium mit Sprüchen oder Redestücken verbunden war, die von Jesu göttlicher Weisheit redeten. Dann könnte auch der Grundstock der Geschichte von Jesu Begegnung mit der Samariterin (Joh. 4,4 ff) aus dieser Tradition stammen, denn hier erscheint Jesus als der mit wunderbarem Wissen begabte Prophet (4,16-19). Auch die eschatologische Verkündigung von Jesus als dem kommenden Messias oder Menschensohn ist dem johanneischen Kreis nicht fremd geblieben, ist aber von ihm nur kritisch aufgenommen und verarbeitet worden. Eindeutige Voraussagen von der zukünftigen Parusie Jesu unter Hinweis auf die bekannten apokalyptischen Endereignisse fehlen in der Tradition dieser Gemeinden (Joh. 5,28-29 und 6,39b.40b.44b sind spätere redaktionelle Eintragungen in das Evangelium). Die Wiederkunft Jesu deuten die Abschiedsreden auf das Kommen des Heiligen Geistes. Auch die Eucharistiefeier, die es sicher in den johanneischen Gemeinden gegeben hat (vgl. Joh.6,26 ff; 15,1 ff; unsicher ist der Bezug von Joh. 13,1 ff auf die Eucharistie), enthielt keine eschatologische Komponente. Die Taufe ist nicht Versiegelung für die Endzeit, sondern gegenwärtige Wiedergeburt durch den Geist (Joh.3,Iff). Die christologischen Titel Menschensohn und Messias/Christus sind aufgenommen, der erstere ist sogar besonders hervorgehoben (Joh. 1,51), aber die für die synoptische Spruchquelle so charakteristischen Worte vom Kommen des Menschensohns auf den Wolken des Himmels fehlen. Eschatologische Begriffe wie Gericht und Ewiges Leben sind durchaus geläufig, werden aber stets als Gaben oder Ereignisse der gegenwärtig sich vollziehenden Erlösung verstanden. Aufs ganze gesehen muß man schließen, daß Wortschatz und Vorstellungen der eschatologischen Zukunftserwartung in der johanneischen Tradition geläufig waren, aber durchweg im Sinne einer Frömmigkeit und Theologie interpretiert wurden, die christologisch und soteriologisch von ganz anderen Voraussetzungen ausging. Erst der Verfasser des Johannesevangeliums hat versucht, die teils frühgnostischen Anschauungen der johanneischen Überlieferung mit dem Kerygma von Kreuz und Auferstehung zu einer
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neuen und ganz eigenständigen theologischen Sicht zu verschmelzen. b) Erhöhung am Kreuz als Evangelium Eine Verschmelzung der johanneischen Sonderüberlieferung mit den Traditionen der übrigen syrischen Christenheit hat der Verfasser des Johannesevangeliums versucht. Daß diese Schrift nicht verhältnismäßig spät entstanden ist, wie früher o f t angenommen wurde, sondern noch in das l.Jh. gehört, wurde durch den Fund des Papyrus Ryland 457 ( = $)52) bewiesen. Es ist ein kleines Fragment, das Verse aus Joh. 18 enthält. Die Handschrift läßt sich auf die Zeit um 125nChr datieren. Also war das Johannesevangelium bereits zu Anfang des 2.Jh. in Ägypten bekannt. Den Verfasser wird man jedoch aus den im letzten Abschnitt dargelegten Gründen in Syrien zu suchen haben. Fraglich ist allerdings, ob der erhaltene Text des Evangeliums, der im großen und ganzen bereits durch mehrere Papyrushandschriften aus dem 3. Jh. ($>66, $)75) bezeugt ist, die ursprüngliche Gestalt des Evangeliums wiedergibt. Ganz sicher ist die Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin, Joh. 7,53-8,11, erst später eingefügt worden; denn sie fehlt in den Papyri und in den meisten älteren Unzialhandschriften und erscheint in der Ferrargruppe der Minuskeln hinter Luk.21,38. Umstritten ist das letzte Kapitel (Joh. 21,1-25), obgleich es von allen Handschriften geboten wird. Joh. 20,30-31 ist der eigentliche Abschluß des Evangeliums, der Joh. 21,25 in einer übertreibenden Formulierung wiederholt wird. Mit der Erscheinung des Auferstandenen vor T h o m a s (Joh. 20,2429), dem hier ausgesprochenen V o r r a n g des Glaubens vor dem Sehen und dem endgültigen Bekenntnis zu Jesus als „ H e r r und G o t t " hat der Evangelist offensichtlich das Ziel seiner Darstellung erreicht. Die Joh. 21,1-14 berichtete Erscheinung Jesu beim „Fischzug des Petrus" (vgl. Luk. 5,1-11) ist ganz unmotiviert und dient wie die folgende Diskussion der Rangstellung des Petrus im Vergleich zu der des „Jüngers, den Jesus lieb hatte," dem Ausgleich kirchlicher Autoritätsansprüche. Hier hat ein Nachfolger des Evangelisten dessen W e r k dadurch ergänzt, daß er den im Evangelium angestrebten Ausgleich der petrinischen und der johanneischen Tradition kirchenpolitisch formulierte: Petrus und seine Tradition wird in der Rolle der organisatorischen Führung der christlichen Gemeinden bestätigt („Weide meine Schafe!" Joh.21,15.16.17);
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die Autorität des „Jüngers, den Jesus lieb hatte," wird dagegen mit dem rätselhaften Wort beschrieben, ,,daß er bleibe, bis ich komme" (Joh. 21,22). Was immer damit gemeint sein mag, der Verfasser des Nachtragskapitels will die Autorität des Evangeliums als Bericht eines Augenzeugen unterstreichen und der Autorität des Petrus gleichstellen (Joh. 21,24). Hat derselbe Herausgeber auch sonst in den Text des Evangeliums eingegriffen? Das ist durchaus möglich. Die Unterstreichung der Wahrheit des Zeugenberichtes Joh. 19,35 erinnert an Joh. 21,24. Eine Reihe von offensichtlich eingeschobenen Bemerkungen über die zukünftige Auferstehung der Toten (Joh. 5,28-29; 6,39b.40b.44b) und das zukünftige Gericht (Joh. 12,48b) stehen unausgeglichen neben der johanneischen Rede über Gegenwart von Gericht und Auferstehung (vgl. Joh.5,24-26; 11,25-26). Schließlich ist in die Rede Jesu vom Brot des Lebens ein Abschnitt eingeschaltet, der das physische Essen und Trinken von Jesu Fleisch und Blut betont (Joh.6,52b-59), während es sonst heißt, daß Jesus als Lebensbrot in seinem Wort gegenwärtig ist (Joh. 6,63.68). Hier kommt ein Redaktor zu Wort, dem an einer realistisch-sakramentalen Auslegung der Eucharistie lag, so wie sie um die Jahrhundertwende Ignatius von Antiochien vertreten hat (s.u.§ 12. 2d). Man hat auch angenommen, daß einige Sätze des Johannesevangeliums, die sich eng mit den synoptischen Evangelien berühren (z.B. Joh. 1,27; 12,8), Interpolationen sind. Jedoch kann es sich hier um die Benutzung des gleichen Quellenmaterials handeln. Ein eigenartiges und bis heute ungelöstes Problem des johanneischen Textes ergibt sich aus der Beobachtung, daß die in allen Handschriften aufbewahrte Reihenfolge der einzelnen Textabschnitte nicht immer sinnvoll ist. Joh. 3,31-36 paßt nicht in den Mund des Täufers und sollte sich besser als Rede Jesu an Joh. 3,21 anschließen. Joh. 6,1 findet man Jesus unvermittelt in Galiläa, während er sich nach Joh. 5,1 ff in Jerusalem aufhielt: sollte Joh.6,1-71 ursprünglich auf Joh. 4,43-54 gefolgt sein? denn dort ist der galiläische Aufenthalt vorausgesetzt, zu dem Joh. 6 gehört. Ganz unverständlich ist, daß Joh. 14,31 mit „Auf, laßt uns gehen!" direkt zur Szene der Gefangennahme Jesu hinleitet (Joh. 18,1 ff), während Joh. 15,1-17,26 noch zur Fortsetzung der Abschiedsreden gehört. Hier sollte es keinen Zweifel geben: der Abschnitt Joh. 15,1-17,26 stand ursprünglich an einer anderen Stelle, etwa zwischen 13,38 und 14,1. Diese Umstellung ließe sich auch mit der Erklärung be-
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gründen, daß in einer frühen Abschrift des Evangeliums einige Blätter versehentlich vertauscht worden sind. Diese Erklärung scheitert freilich, wenn man durch Umstellungen auch sehr kleiner Stücke von nur wenigen Versen die ursprüngliche Ordnung des Evangeliums wieder herstellen will. So muß es mit der Feststellung sein Bewenden haben, daß die Frage einer sinnvollen Ordnung mancher Abschnitte rätselhaft bleibt und daß vielleicht dieses Evangelium vom Verfasser nicht vollendet worden ist. Dahin führt auch die Beobachtung, daß Joh. 4,43-54 eine Wundergeschichte erzählt, die auf eine längere Ausführung über Glaube und Wunder hinzielt und sie vorbereitet (vgl. Joh.4,48); doch bleibt uns der Verfasser, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, diese Ausführung schuldig. Auch die zum Teil nicht miteinander verbundenen Rede- und Diskussionsfragmente in Joh. 7 und 8 lassen darauf schließen, daß das Evangelium des Johannes Abschnitte enthält, denen die letzte redaktionelle Ausarbeitung des Verfassers fehlt. Dennoch läßt sich, aufs ganze gesehen, die Anlage des Johannesevangeliums leicht erkennen. Im ersten Teil (Joh. 2-11) liegt eine Sammlung von Wundergeschichten zugrunde, die SemeiaQuelle (s.o. § 10.3a). Längere Reden, vom Evangelisten unter Benutzung überlieferten Spruch- und Dialog-Materials verfaßt, folgen jeweils auf die Erzählung der einzelnen Wunder oder sind in diese eingeschaltet (wie in Joh. 11). Der Rahmen für den zweiten Teil (Joh. 12,1-20,10) entstammt der traditionellen Passionsgeschichte (s.o. § 10. 2a). Sie beginnt mit der Salbung in Bethanien und dem Einzug in Jerusalem (Joh. 12,1 ff), wird aber beim Bericht vom letzten Mahl Jesu durch längere Offenbarungsreden und Dialoge unterbrochen (Joh. 13,31-17,26) und erst mit der Erzählung von der Gefangennahme Jesu (Joh. 18,Iff) wieder aufgenommen. Den äußeren Rahmen für das ganze Evangelium bilden eine dreiteilige Einleitung (Prolog, Zeugnis des Täufers, Berufung der Jünger, Joh. 1,1-51) und ein Schlußabschnitt, der von Erscheinungen des Auferstandenen vor Maria (Magdalena), den Jüngern und den Zwölfen mit Thomas berichtet (Joh. 20,11-29). Der hymnische Prolog am Anfang des Evangeliums (Joh. 1,118) stammt aus der Tradition der johanneischen Gemeinde. Der Evangelist hat diesen Hymnus durch Zusätze mit dem Evangelium verbunden (Joh. 1,6-8.15; vgl. 1,19-34; Joh. 1,17; vgl. 5,39-47; 9,28-29; 19,7). Ob es sich um einen ursprünglich vorchristlichen Hymnus handelt, läßt sich nicht sagen. In der vorliegenden Form
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ist er ein Produkt der christlichen Gemeinde. Seine Verwandtschaft mit der jüdischen Weisheitstheologie ist freilich nicht zu bestreiten (s.o.§5.3e); nur hat der Begriff „Logos" den älteren Terminus „Sophia" verdrängt, wie das auch bei Philo von Alexandrien unter griechischem Einfluß geschehen ist. Wie die Weisheit ist der Logos präexistent bei Gott, der durch ihn die Welt schafft; er erscheint in der Welt als offenbarendes Licht, wird nicht verstanden, gibt aber denen, die ihn annehmen, das Recht der Gotteskindschaft. Soweit ist hier nichts gesagt, das über die Weisheitstheologie hinausgeht. Ein typisch christliches Bekenntnis erscheint erst in dem Satz von der Fleischwerdung des Logos (Joh. 1,14) und in dem Lobpreis der Mensch gewordenen Herrlichkeit Gottes (1,14b.16). Waren diese Aussagen bereits ein Bestandteil des Hymnus, so ist deutlich, daß die Gemeinde des Verfassers zwar die Vorstellungen des Weisheitsmythos übernommen hatte, aber sich zur Menschwerdung des Offenbarers im irdischen Jesus bekannte und sich gegen ein gnostisches Verständnis des Offenbarungsgeschehens wandte, für das gerade die radikale Abkehr von der irdischmenschlichen Welt Kriterium der Erlösung war. Die im Hymnus programmatisch formulierte antignostische Stellung ist für das Johannesevangelium bestimmend, obwohl der Verfasser wiederholt auf eine mythische Sprache zurückgreift, die dem Denken der Gnosis entspricht. O b die Darstellung der Tätigkeit Johannes des Täufers im zweiten Abschnitt der Einleitung (Joh. 1,19 ff) eine Polemik gegen Täuferkreise verrät, ist umstritten (vgl. auch Joh.3,22-30; 4,1). Die vom Evangelisten benutzte Tradition wußte wohl von einem solchen Gegensatz und berichtete auch, daß einige der Jünger Jesu aus den Kreisen des Täufers kamen. Das Evangelium verfolgt jedoch ein anderes Interesse: es will die in den christlichen Gemeinden benutzten Würdetitel Jesu aufarbeiten (Prophet, Messias/Christus, Sohn Gottes, König Israels; vgl. Joh. 1,20ff.34.41.49) und den Titel einführen, der wenigstens vorläufig neben der Bezeichnung „ S o h n " angemessen Jesu Würde bezeichnen soll, nämlich „Menschensohn" (Joh. 1,51). Im Vordergrund des Ersten Hauptteils des Evangeliums (Joh. 2-11) steht die Auseinandersetzung mit den traditionellen religiösen Maßstäben für die Offenbarung, die in der Reaktion auf Jesu Wunder und in der Kritik der Juden zur Sprache kommen. Kritik am Wunderglauben und Polemik gegen „die Juden" sind zwar
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durch die benutzte Tradition vorgegebene Themen, doch geht es dem Evangelisten um eine grundsätzliche Frage. Gewiß ist Jesus auch für ihn der mit übernatürlicher Kraft begabte göttliche Mensch, der Gottessohn, der auf der Erde wandelt. Aber der Glaube, der sich an der sichtbaren Dokumentation der Göttlichkeit orientiert, ist nur ein Beispiel für die allgemeine menschliche Haltung, die die Offenbarung nur deshalb akzeptiert, weil sie religiöse Vorurteile und Ansprüche bestätigt. Ebenso repräsentieren die Juden jene Einstellung, die vorgefaßte theologische Kriterien schnell bereit hat, um den Anspruch der Offenbarung zurückzuweisen. Beides ist für den Evangelisten nichts anderes als das Urteil der „Welt", die auf das Wort des Offenbarers nicht hören will oder nicht hören kann. Was mit diesem „ W o r t " der Offenbarung gemeint ist, und warum es in so schroffem Gegensatz zum Urteil der „Welt" steht, läßt sich aus der gnostischen Vorstellung von der O f fenbarung verstehen, die der Verfasser mit dem von ihm verwendeten Spruch- und Dialog-Material übernommen hat (s.o.§10. 7b und §10.3a). Danach ist das Wort der Offenbarung grundsätzlich anderer Art als alles Reden der Welt und kann nur von denen verstanden werden, die „aus Gott" (Joh. 8,47) oder „aus der Wahrheit" sind (Joh. 18,37). Der sich dabei anmeldende gnostische Determinismus ist insofern gemildert, als das von Jesus vollbrachte Wunder als Antwort auf echte menschliche Not zugestanden wird. Ebenso ist die wiederholt bei Johannes auftauchende „Ich bin"Formel (z.B. „Ich bin die Auferstehung und das Leben" Joh. 11,25; vgl. 6,33 u.ö.) keine Selbstvorstellung eines göttlichen Wesens, die nur von denen gehört werden kann, die gleichfalls göttlichen Ursprungs sind, sondern eine Rekognitionsformel, in der die Hörer die Erfüllung echter menschlicher H o f f n u n g erkennen können. Das Wort des Offenbarers bezieht sich auf Sehnsucht und Erwartung, die aus dem Bereich menschlicher Erfahrung stammen. Zu diesem Bereich gehört auch das rechte Verständnis der überlieferten Religion; Moses ist in der Tat ein Zeuge der Offenbarung, die in Jesus Gegenwart wurde (Joh. 5,46-47; vgl. 8,56). Ist schon damit das gnostische Offenbarungsschema durchbrochen, so geschieht das vollends in der Einbeziehung des Offenbarers in die Spähre menschlichen Leidens und Sterbens. Hier hat der Verfasser die kirchliche Verkündigung von Jesu Leiden und Tod als Heilsereignis übernommen und mit ihr die beiden Teile seines Evangeliums literarisch und theologisch verklammert. Bereits Joh. 2,18-20 wird
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auf Jesu Tod und Auferstehung als Schlüssel zum Verständnis seiner Verkündigung verwiesen. Erhöhung des Offenbarers bedeutet nicht, wie in der Gnosis, von der Welt unberührte Rückkehr zu Gott sondern Erhöhung im Kreuzestod (Joh.3,14; 8,28; 12,32-34). Aber nicht nur gegen die Gnosis richtet sich die johanneische Theologie des Kreuzes, sondern auch gegen die Christologie, die in Jesus den göttlichen Wundertäter sieht. Gerade das letzte und größte Wunder Jesu, die Auferweckung des Lazarus, führt zum Beschluß des Synhedriums, Jesus zu töten (Joh. 11,4752). Endet die Offenbarung Jesu so in seinem Tode, dann erhöht sich noch die Paradoxie seiner Verkündigung, daß in ihr Gericht und Ewiges Leben für den Glaubenden bereits Gegenwart sind. Die damit gegebene Aufhebung der eschatologischen Zukunftserwartung, die der Evangelist mit der gnostischen Interpretation der Sprüche Jesu übernommen hatte, mußte umso schärfer mit der kirchlichen Eschatologie in Konflikt geraten, je mehr sich das Johannesevangelium um eine Interpretation des Todes Jesu bemühte. Mit dieser Frage beschäftigen sich die in die Passionsgeschichte eingeschobenen Abschiedsreden im zweiten Teil des Evangeliums. In der Wiedergabe der Passionsgeschichte entspricht der johanneische Bericht im großen und ganzen der Erzählung, die den synoptischen Evangelien zugrundeliegt, allerdings mit einer Reihe von bedeutsamen Abweichungen. Mehrere Stücke der Synoptiker, bei denen es sich um spätere Erweiterungen des älteren Berichts handelt, fehlen bei Johannes. Dazu gehören: die Auffindung des Esels in der Einzugsgeschichte (Mk. 1 l , l b - 6 ) , die Zurüstung zum Passahmahl (Mk. 14,12-17), der Verrat des Judas (Mk. 14,10-11; ebenso Mt.27,3-10), Jesus in Gethsemane (Mk. 14,32-42; ob Joh. 12,27 eine Erinnerung daran erhalten hat, ist fraglich), Jesus vor Herodes (Luk.23,6-12), die beiden Schächer (Mk. 15,32; Luk. 23,39-43) und die Wächter am Grabe (Mt. 27,62-66). Erweist sich schon darin die johanneische Passionsgeschichte im Vergleich mit der synoptischen als ursprünglicher, so wird dies vollends bestätigt durch die bei Johannes (18,28) aufbewahrte Datierung des Todes Jesu auf den Tag vor dem jüdischen Passah. Daß entsprechend bei Johannes auch das letzte Mahl Jesu vor dem Passah stattfindet (Joh. 13,1 ff), verdient ebenfalls den Vorzug vor den synoptischen Angaben über Jesu letztes Mahl als Passah-Mahlzeit. Merkwürdig ist allerdings, daß Johannes nichts von einer Einsetzung des eucharistischen Mahles durch Jesus weiß oder diese Nachricht un-
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terdrückt und durch die Szene der Fußwaschung ersetzt (Joh. 13,4 ff). Daß Johannes das Herrenmahl nicht gekannt hat, ist unwahrscheinlich; denn Anspielungen darauf finden sich mehrfach im 4. Evangelium (vgl. Joh. 15,1 ff; auch Joh. 6, selbst wenn man die fragwürdigen Verse 51b-59 ausscheidet); die Terminologie gehört in die Nähe der Eucharistiegebete der Didache (s.o.§ 10. l c ) . Eher möchte man annehmen, daß der Evangelist den Sakramentsrealismus, wie ihn etwa sein etwas jüngerer Zeitgenosse Ignatius von Antiochien (s.u.§ 12.2d) vertrat, nicht teilte und deshalb eine Verankerung des Herrenmahls (wie auch der T a u f e ! ) im Leben Jesu vermied; es ging ihm in erster Linie um „das Brot, das bleibt zum ewigen Leben, das der Menschensohn gibt" (Joh. 6,27), nämlich um Jesu Wort (Joh. 6,63). Hier, beim Herrenmahl, hat der Evangelist also am deutlichsten in seine Quelle eingegriffen. Im übrigen hat er die ihm vorliegende Passionsgeschichte zwar redigiert, aber nicht grundsätzlich verändert. Die einzige Ausnahme ist das Verhör Jesu vor Pilatus (Joh. 18,29-19,15), das bis auf wenige Verse (18,33.39-40; 19,1-3.13-14) eine Komposition des Evangelisten ist. Sie dient nicht nur dazu, Pilatus von der Schuld am Tode Jesu freizusprechen - die Tendenz, die römische Obrigkeit zu entlasten und die Schuld dem jüdischen Synedrium zuzuschieben, fand der Evangelist sicher schon in seiner Quelle - , sondern will vor allem Jesus als Offenbarung der göttlichen Wahrheit ein letztes Mal mit der „ W e l t " konfrontieren. Jesus bleibt der Offenbarer auch angesichts des Todes; denn der Tod am Kreuz ist seine Erhöhung. Damit erübrigt sich der Ausblick auf sein Kommen als Menschensohn, der bei den Synoptikern in der Darstellung des Prozesses Jesu eine entscheidende Rolle spielt (Mk. 14,62). Die Abschiedsreden geben die eigentliche Begründung dafür, daß Jesu Offenbarungswerk mit der Erhöhung am Kreuz seine Vollendung findet, weil durch seinen Fortgang zum Vater und durch seine Wiederkunft als „ P a r a k l e t " die bleibende Gegenwart der Offenbarung in der Gemeinde garantiert wird. Der Verfasser hat diese Abschiedsreden wiederum auf Grund einzelner gnostischer Spruchauslegungen und Dialogstücke abgefaßt und zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der kirchlichen Eschatologie sowie der gnostischen Erlösungslehre umgearbeitet. Gnostische Theologumena tauchen häufig auf, wie ζ. B. die Betonung, daß die Jünger wie Jesus „nicht von der W e l t " sind (Joh. 17,14), die Definition des ewigen Lebens als „Erkenntnis des wahren Gottes und sei-
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nes Gesandten" (Joh. 17,3), die Deutung des Glaubens als „ W e g " zum Haus des Vaters (Joh. 14,1 ff) und vor allem die Charakterisierung Jesu als Offenbarer, der vom Vater kam und aus der Welt wieder zum Vater zurückkehrt (Joh. 16,28 u.ö.). Daneben stehen jedoch deutliche Abgrenzungen von der gnostischen Erlösungshoffnung. Die Aufgabe der Jünger ist der Welt zugewandt, in der Welt müssen sie wirken (Joh. 17,15.18). Nachfolge Jesu schließt die Erfahrung der Trauer, des Leidens und der Feindschaft der Welt ein und kann nicht als Nachfolge in die himmlischen Bereiche verstanden werden (Joh. 13,36-38; 15,18-25; 16,20-24.32-33). Die Forderung der Gottesschau als Erlösungsziel wird verworfen (Joh. 14,8 ff); an ihre Stelle tritt das Halten der Gebote Jesu, insbesondere des Liebesgebots (Joh. 14,12.15; 15,7ff). Gleichzeitig wehrt sich der Verfasser gegen die naheliegende Alternative, eine auf die Zukunft gerichtete apokalyptische Erlösungshoffnung der realisierten Eschatologie der Gnosis gegenüberzustellen. Er hält vielmehr selbst an einer radikal realisierten, und somit auch entmythologisierten Eschatologie fest. Die Parusie Jesu nach seiner Erhöhung am Kreuz ist kein apokalyptisches Ereignis, sondern wird ekklesiologisch als Kommen des Geistes zu den Jüngern verstanden Qoh. 14,15-17.25-26; 15,26; 16,7-15); der „Paraklet", d.h. der „Anwalt" oder „Verteidiger" (nicht: „Tröster"), auch „Geist der Wahrheit" genannt, ist eine Gestalt, zu der es in den Qumrantexten Parallelen gibt und die hier mit dem wiederkehrenden Jesus identifiziert wird. Jesu Taten nach seiner Erhöhung werden aber nicht als apokalyptischer Sieg über das Böse beschrieben, sondern als Antwort auf das Gebet der Gemeinde, die in ihrem Tun Jesu irdisches Werk fortsetzt (Joh. 14,12-14); denn Jesus hat bereits die Welt überwunden Qoh. 16,32). Seine Himmelfahrt ist nichts anderes als die Versicherung des Friedens für die Gemeinde, nicht etwa die Einleitung der apokalyptischen Wehen (Joh. 14,27-31). Wenn die Jünger jetzt Trübsal haben, so weist dies voraus auf die Klarheit des Verstehens, die nach Jesu Fortgang den Jüngern zuteil werden wird (Joh. 16,16 ff). Jesus selbst wird als Erhöhter der Welt zwar erscheinen, aber nur insofern als im Gehorsam gegen seine Gebote die Gemeinde der Welt zeigt, wer Jesus ist (Joh. 14,21-24). Dementsprechend fehlt in der Rede von der Eucharistie - das scheint in der Tat das Thema von Joh. 15 zu sein - jeglicher apokalyptischer Bezug; dafür wird das Element der eschatologischen Freude und die gegenseitige Liebe als Band der Einheit stark be-
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tont (Joh. 15, 9 ff). Bezeichnend ist, daß gerade hier Jesu Wort (nicht etwa die sakramentale Handlung) die Reinheit der Gemeinde garantiert. So sind in diesen Abschiedsreden fast alle wichtigen Themen der Apokalyptik zur Sprache gekommen und jeweils auf die gegenwärtige Erfahrung der Gemeinde bezogen. Die Auferstehungserscheinungen, von denen der Schluß des Evangeliums berichtet (Joh. 20,11-29) weisen daher nicht in eine apokalyptisch verstandene Zukunft oder auf die Parusie. Sie sprechen von Jesu Erhöhung, von der Gabe des Geistes und vom rechten Glauben, der das „Sehen" nicht mehr braucht. Ostern, Pfingsten und Parusie sind eine Einheit und im Grunde nichts anderes als verschiedene Aspekte der Erhöhung Jesu am Kreuz. Wieweit sich diese radikale und geniale Neuinterpretatoin der kirchlichen Tradition in den Kategorien der gnostischen Sprache durchsetzen oder halten konnte, ist eine Frage, die an die weitere Entwicklung der johanneischen Tradition gestellt werden muß. c) Die Verkirchlichung der johanneischen Tradition Daß die Abfassung des Johannesevangelium in der Geschichte der johanneischen Sondergemeinden Syriens einen entscheidenden Einschnitt bedeutete, ergibt sich aus der weiteren Entwicklung. Schon das Evangelium selbst muß bald nach seiner Abfassung einer Redaktion unterzogen worden sein, die es noch näher an die Theologie der übrigen syrischen Christenheit heranrückte, nämlich durch die ausdrückliche Anerkennung der Autorität des Petrus (Joh. 21) und durch die Eintragung einer auch sonst in syrischen Gemeinden vertretenen Eschatologie und Sakramentslehre. Darüber wurde oben bereits gesprochen. Ein wichtiges Zeugnis für diese Entwicklung ist im 1.Johannesbrief aufbewahrt, dessen theologische Stellung dem Redaktor des Evangeliums eng verwandt ist. Man hat sogar angenommen, daß der Verfasser dieses Werkes mit dem Redaktor des Evangeliums identisch war. Der 1. Johannesbrief ist gut überliefert und wahrscheinlich noch früher zitiert als das Evangelium (bei Papias von Hierapolis). Allerdings ist der trinitarische Abschnitt in 1. Joh. 5,78 ein späterer Zusatz. Er erscheint erstmals in späteren Ausgaben der Vulgata und in einigen spätmittelalterlichen griechischen Handschriften, und ist über die 3. Auflage des Textes des Erasmus auch in viele moderne Ubersetzungen geraten. Außerdem wirkt 1.Joh. 5,14-21 wie ein dem Schlußwort (1.Joh.5,13) angefügter
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Nachtrag. Ist dies der Fall, so muß man wegen Sprache und Inhalt diesen Nachtrag doch dem Verfasser selbst zuschreiben. Der 1. Johannesbrief ist kein Brief - Präskript und Briefschluß fehlen - , sondern eine Streitschrift, die in die Auseinandersetzung um die Interpretation der johanneischen Tradition und des Johannesevangeliums eingreifen will. Der Verfasser des Evangeliums hatte sich zwar von der Gnosis abgegrenzt, aber nicht kirchenpolitisch gegen sie Stellung bezogen. Diese Stellungnahme hat sich der 1. Johannesbrief zur Aufgabe gemacht. Er identifiziert die Gegner und polemisiert gegen sie unter ausdrücklicher Anführung ihrer Ansichten. Aus dem, was er über die Gegner sagt, wird deutlich, daß man sie innerhalb der johanneischen Sondergemeinden suchen muß (die Suche nach einem den späteren Ketzerbestreitern bekannten Häretiker, wie z.B. Kerinth, hilft nicht weiter). Sie hatten das Johannesevangelium gelesen und beriefen sich darauf. Es scheint, daß sich diese Gegner mit dem gnostisch verstandenen Jesus des Johannesevangeliums identifiziert haben. Sie rühmten sich der Erkenntnis Gottes (l.Joh.2,4; 4,8), der Liebe zu Gott (4,20), der Sündlosigkeit (1,8-10) und des Wandels im Licht (2,9); wie Jesus beanspruchten sie, „von Gott" zu sein und mit der Stimme des Geistes Gottes zu reden (4,2-6). Aber sie leugneten, daß Jesus im Fleisch gekommen sei (4,2) und bestritten die Identität des (himmlischen) Christus mit dem irdischen Jesus (2,22). Der 1.Johannesbrief polemisiert gegen diese gnostische Verkürzung des johanneischen Evangeliums, auf das er sich selbst mit gutem Recht beruft. Er gehört selbst in diese Tradition, spricht die gleiche Sprache wie der Evangelist, und verweist im Prolog seiner Schrift ausdrücklich darauf, daß seine eigene Stellungnahme der des Evangeliums entspricht (l.Joh. 1,1-4; vgl. Joh. 1,1 ff). Im Sinne des Evangeliums führt er aus, daß Gottesliebe ohne Bruderliebe unmöglich ist (1.Joh.4,16f.20; der spezielle Hinweis auf Almosen, l.Joh.3,10, zeigt eine pastorale Motivation); gerade in der Liebe der Gemeindeglieder untereinander erwächst die Gewißheit der Überwindung des Todes und des Eingegangenseins in das Leben als gegenwärtiger Besitz (3,14). Dokumentiert sich die Erlösung innerhalb des Bereichs der Erfahrung der Gemeinde, so muß man auch auf der Identität des Sohnes Gottes mit dem irdischen Jesus bestehen, der „im Wasser" und „im Blut" kam, d.h. von der Taufe bis zum Tode die irdische Existenz teilte (5,5-8). Mit der Bekenntnisformulierung, daß Jesus Christus „im Fleisch" gekommen ist, trifft der Verfasser
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dieses Briefes freilich nicht ganz den Satz des Evangeliums, daß „der Logos Fleisch wurde" (vgl. l.Joh.4,2 mit Joh. 1,14). Der 1. Johannesbrief geht aber über diese Verteidigung des Evangeliums gegen seine gnostischen Interpreten hinaus und baut die johanneische Theologie weiter aus durch die Aufnahme von Anschauungen, die seinerzeit in der syrischen Christenheit wie auch in den von Paulus abhängigen Gemeinden weit verbreitet waren. Hierher gehört die Parusie- und Gerichtserwartung im apokalyptischen Sinne (4,17; 3,2). Zum apokalyptischen Schema der Interpretation der Gegenwart zählt auch die Antichrist-Erwartung, die 1. Joh. 2,18.22; 4,3 auf die gnostischen Gegner anwendet. Das Verständnis von Jesu Tod als Sühnetod (1. Joh. 2,2; 4,10) und die Reinigung von Sünden durch Jesu Blut (1,7) entspricht ebenfalls eher dem frühkatholischen Vulgärchristentum als der Theologie des Evangelisten. Wenn der 1. Johannesbrief schließlich nicht nur die Notwendigkeit wiederholter Sündenvergebung betont (1,8-10), sondern auch Anweisungen zur Sündenvergebung im Sinne einer Kirchenordnung gibt (5,16-19) und vor den Verführungen der Welt warnt (2,15-17), so ist vollends deutlich, daß es hier einem späteren Kirchenpolitiker des johanneischen Kreises um die praktische Fortführung des johanneischen Erbes geht. Dieses Erbe verteidigt er gegen die Gnostiker und bemüht sich gleichzeitig um eine Annäherung an andere Gemeinden Syriens und Kleinasiens. In Kleinasien finden sich die frühesten Zeugnisse für eine Übernahme der johanneischen Sondertradition durch andere Christen. Zum johanneischen Kreis gehören auch die als 2. und 3. Johannesbrief im N T überlieferten Schreiben. Sprache und Theologie dieser beiden kurzen Briefe beweisen das eindeutig. Beide wollen von dem „Alten" geschrieben sein. Aber nur der 3.Johannesbrief scheint ein echter Brief zu sein. Freilich läßt er sich in keine bestimmte Situation einordnen, weil uns über die Umstände, die zu der Abfassung des Schreibens führten, nichts weiter bekannt ist. Wir wissen nicht, wer der „Alte" ist, noch ist über Gaius, an den er schreibt, und über Diotrephes, über den er sich beschwert, irgendetwas bekannt. Da der Alte den Diotrephes wegen seiner Herrschsucht und wegen seines mangelnden Willens zur Zusammenarbeit anklagt, ihm aber keine theologischen Vorwürfe macht (3. Joh. 9 10), wird man wohl an einen Konflikt in Gemeindeorganisation und Missionsarbeit zu denken haben. Der Alte steht offenbar in Verbindung mit wandernden Missionaren, während Diotrephes
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Kontrolle in seiner eigenen Gemeinde ausüben will und solche, die sich ihm nicht unterordnen wollen, einfach hinauswirft. W a r Diotrephes ein Bischof, dem die Anhänger der johanneischen Tradition wegen ihrer N ä h e zu wandernden gnostischen Missionaren suspekt waren? Vielleicht stammt der Brief aus einer Zeit, in der sich die Gemeinde des Johannes noch nicht von gnostischen Vertretern dieser Tradition getrennt hatte. Der 2. Johannesbrief ist hingegen kein echter Brief, sondern eine nicht sehr tiefsinnige Propagierung von johanneischen Sätzen in der Form eines „katholischen" Briefes (die „auserwählte H e r r i n " , 2.Joh. 1, ist die Kirche). D e r 1. u. 3.Johannesbrief sind vorausgesetzt. Aus dem letzteren ist der Titel des Verfassers „der Alte" geborgt. Aus dem ersteren stammt das Bekenntnis, daß Jesus Christus im Fleisch gekommen ist (2.Joh.7), das als Maßstab der rechten Lehre (Didache, 2 . J o h . 9 f ) angeboten wird. Das Schreiben ist bedeutsam, weil es zeigt, wie sich in der Nachfolge des 1. Johannesbriefes ein verkirchlichtes johanneisches Christentum zum Anwalt des Kampfes gegen die Gnostiker macht. d) Das gnostische Erbe des Johannes Für die gnostische Fortführung der johanneischen Tradition, gegen die sich der 1. und 3.Johannesbrief am Anfang des 2.Jahrhunderts wenden, gibt es in der T a t deutliche Zeugnisse, wenn auch diese von der Kirche als häretisch verworfenen Schriften zum Teil nur fragmentarisch und in späten Bearbeitungen erhalten sind. Am wichtigsten sind die Johannesakten, eine romanhafte Geschichte des Apostels Johannes, von der in mehreren griechischen Handschriften und Ubersetzungen jeweils einige Teile erhalten sind. Die Rekonstruktion des noch im 2. Jh. entstandenen ursprünglichen Textes der Akten ist mit Schwierigkeiten belastet und beim gegenwärtigen Stand der Forschung kaum möglich. Aber einige Abschnitte lassen sich den ursprünglichen Akten zuweisen oder als Stücke der vom Verfasser benutzten Quellen identifizieren. Hierher gehört insbesondere die Evangeliumsverkündigung des Johannes (Act. Joh. 87-105). Das älteste Stück dieses Abschnitts ist ein H y m nus (Act. Joh. 94-96). Er muß vor der Einfügung in die Evangeliumsverkündigung als liturgisches Lied (vgl. die Responsorien) in den johanneischen Gemeinden in Gebrauch gewesen sein. Seine Terminologie berührt sich auf das engste mit der des Johannesevangeliums, vor allem des Prologs. Hier wie dort finden sich die Be-
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griffe Vater, Logos, Gnade, Geist (94.1-2; vgl. die trinitarische Formel Vater-Logos-Geist am Schluß des Hymnus, 96.51), das Gegensatzpaar Licht-Finsternis (94.3) und eine Reihe von Themen, die für die johanneischen Reden bezeichnend sind: Haus, Stätte, Weg (95.21 f,27; vgl. J o h . l 4 , l f f ) , T ü r (95.26; vgl. Joh. 10,9). Der Satz „Wer ich bin, wirst du erkennen, wenn ich fortgehe" (96.38) ist eine treffende Zusammenfassung des Themas der johanneischen Abschiedsreden. O b dieser Hymnus vom Johannesevangelium abhängig ist oder aus jenen Kreisen kommt, denen der Verfasser des Evangeliums den als Prolog verwendeten Hymnus verdankt, mag dahingestellt bleiben. Deutlich ist die gnostische Grundhaltung des Hymnus, obgleich jegliche Anzeichen einer ausgeführten Mythologie fehlen. Der Glaubende erkennt sich selbst im Offenbarer („Wenn du aber Folge leistest meinem Reigen, sieh dich selbst in mir, dem Redenden" 96,28 f), und der Offenbarer ist nicht der, der er zu sein scheint (96,39). Der hier ausgesprochene Doketismus ist in der Evangeliumspredigt der Acta Johannis weiter ausgeführt. Diese Predigt ist ein von Johannes im Ich-Stil erzähltes Evangelium (vielleicht hat erst der Verfasser der Akten diesen Ich-Stil in die Erzählung eingeführt; vgl. aber den Ich-Stil des Petrusevangeliums, s.o. §10.2a), das sicher vom Johannesevangelium abhängig ist. Die Titel des himmlischen Jesus sind vorwiegend johanneisch: voran steht Logos, es folgen u.a. Tür, Weg, Auferstehung, Leben, Wahrheit (Act. Joh.98). Die Leidensgeschichte verweist auf Joh. 19,34 (Act. Joh. 97 und 101). Gleichzeitig sind andere Evangelien herangezogen. Für die Berufung von Johannes, Jakobus, Petrus und Andreas ist Mk. 1,16-20 benutzt, für die Verklärung Mk.9,2ff, für die Erzählung eines Mahles Luk.7,36. Der Verfasser beruft sich, analog dem 1. Johannesbrief, auf Traditionen, die in Kreisen der frühkatholischen Kirche Syriens und Kleinasiens geläufig sind. Er übernimmt auch die kleinasiatische Tradition, daß es sich bei Johannes um den Zebedaiden, den Bruder des Jakobus, handelt, und die Act. Joh. verlegen, parallel zur kirchlichen Tradition, den Schauplatz der T ä tigkeit des Johannes in das westliche Kleinasien. Die gnostische wie die kirchliche Johannestradition ist hier also über den Bereich einer in Syrien beheimateten Sondergemeinde hinausgetreten. Das Hauptanliegen der Evangeliumsverkündigung ist es, gegen die kirchlichen Angriffe auf die doketische Christologie der Gnosis den Doketismus in der Erzählung von der irdischen Erscheinung
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Jesu nachzuweisen. Jesus erscheint in immer wechselnden Gestalten, bald als Knäblein, bald als schöner M a n n ; dann sieht ihn J o h a n nes als K a h l k o p f mit langem Bart, J a k o b u s aber als flaumbärtigen J ü n g l i n g ; einmal ist sein K ö r p e r weich oder immateriell, ein anderes Mal fest oder felsenhart - und Jesus hinterläßt beim G e h e n keine Fußspur. D i e Leidensgeschichte betont den Unterschied zwischen dem himmlischen H e r r n , der auf dem das Diesseits und das Jenseits scheidenden Lichtkreuz mit der Stimme des O f f e n b a r e r s redet, und dem irdischen Scheinbild, das von den Menschen am hölzernen K r e u z aufgehängt wird. Solch krasser Doketismus scheint aber nur eine spätere Entwicklung einer älteren dem Johannesevangelium nahestehenden Logos-Christologie zu sein, die noch in dem am Schluß zitierten formelartigen S t ü c k durchklingt:
„Erkenne
mich als die Q u a l (?) des Logos, das D u r c h b o h r e n des Logos, das Blut des Logos, die Verwundung des Logos, das Aufhängen des L o gos, das Leiden des Logos, das Anheften des L o g o s , den T o d des Logos. . . . Als ersten also erkenne den Logos, dann wirst du den H e r r n erkennen, an dritter Stelle aber den Menschen und was er gelitten h a t " (Act. J o h . 101). In Kleinasien, dem Heimatland der Johannesakten, hat die frühkatholische Tradition am Anfang des 2. Jahrhunderts das J o h a n n e s evangelium anerkannt, sich auch die Überlieferung von dem Jesusjünger J o h a n n e s zu eigen gemacht und ihm in Angleichung an die synoptischen Evangelien als dem Zebedaiden J o h a n n e s in Ephesus eine neue H e i m a t gegeben. Aber im Westen ( R o m ) haben sich Briefe und Evangelium des J o h a n n e s nur langsam durchgesetzt. Im Gegensatz dazu hat die ägyptische Christenheit das Johannesevangelium sehr früh akzeptiert. J e d o c h muß man damit rechnen, daß es gnostische Christen waren, die das Evangelium dorthin gebracht haben. D e n n bei den gnostischen Schulen Ägyptens im Z.Jahrhundert ist das Johannesevangelium zu Hause. Gnostisch ist auch die in einem Fragment erhaltene Auslegung des johanneischen Prologs und der von dem Valentinianer H e r a k l e o n geschriebene K o m m e n tar über dieses Evangelium.
4. Das
Judenchristentum
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auch manche von ihnen aus der jüdischen Diaspora kamen (Barnabas, Paulus u.a.). Das Alte Testament galt allen als Heilige Schrift. Die Theologie des Judentums lieferte die Kategorien, Begriffe und Vorstellungen für die Ausbildung der christlichen Theologie. Der im Judentum ausgebildete Kodex für moralisches und frommes Verhalten (vgl. die Zwei-Wege-Lehre, s.o.§10.1c) wurde auch für die Christen verbindlich und die Gesetzgebung des AT als die Grundlage einer allgemeingültigen Ethik verstanden. Will man das Judenchristentum im engeren Sinne beschreiben, so muß man Maßstäbe anlegen, die ganz spezifische Kennzeichen des Festhaltens an der Überlieferung des Judentums beschreiben. Dafür, daß solche spezifischen Maßstäbe der Treue zum Gesetz zur Identifizierung bestimmter Gruppen als „judenchristlich" führen konnten, gibt es aus der frühesten Geschichte des Christentums ein Beispiel, nämlich die Auseinandersetzung des Paulus mit Jerusalem wegen der Frage der Beschneidung und der sich daran anschließende Kampf gegen die „Judaisten" in Galatien (s.o. §9. Id und s.o. §9.3b). Spezifisch judenchristlich wäre also das Festhalten an der Beschneidung sowie an anderen Vorschriften des jüdischen Ritualgesetzes. Christen, die darauf bestanden, hat es schon früh auch außerhalb Jerusalems gegeben. Das zeigt der Galaterbrief (vgl. auch Phil. 3). Von entsprechenden judenchristlichen Gemeindebildungen wissen wir allerdings so gut wie nichts. Für die Darstellung einer Entwicklung des Judenchristentums muß man sich deshalb zunächst mit der Gemeinde Jerusalems befassen, von der bekannt ist, daß sie sich wenigstens zur Zeit des Paulus verpflichtet sah, am jüdischen Ritualgesetz festzuhalten. Noch als Paulus mit der Kollekte der Heidenchristen nach Jerusalem kam, scheint die dortige Gemeinde sich zu einem gesetzestreuen Judentum bekannt zu haben. Schwierigkeiten bei der Übergabe der Kollekte hatten in dieser Haltung der Jerusalemer ihren Grund (s.o. §9.4b). Man darf auch annehmen, daß der Herrenbruder Jakobus der Anwalt der Gesetzestreue dieser Gemeinde war. Alles mußte zu jener Zeit darauf hindeuten, daß für die zukünftige Entwicklung des Judenchristentums der an Beschneidung und Ritualgesetz festhaltenden Jerusalemer Gemeinde eine entscheidende Rolle zufallen würde, zumal diese Gemeinde innerhalb des jüdischen Kultverbandes geblieben war. Doch sollte der Fortgang der Geschichte dieser Erwartung ein Ende bereiten. Jakobus wurde während einer Vakanz in der römischen Statthalterschaft im Jahre
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6 2 n C h r ermordet, und die Jerusalemer Christengemeinde verließ die Stadt noch vor Ausbruch des jüdischen Krieges (s.o.§8. Ja). Euseb berichtet, daß eine Weissagung sie dazu veranlaßt hatte, nach Pella im Ostjordanland (Peräa) auszuwandern (Hist. eccl. 3.5.3). Es gibt noch einige Nachrichten, die zwar darauf hindeuten, daß die Gemeinde weiterbestand, es aber nicht erlauben, sich ein Bild von ihr zu machen oder über ihre Bedeutung etwas zu sagen. Als Nachfolger des Jakobus sei Simeon, Sohn des Klopas, ein Vetter Jesu gewählt worden (Euseb, Hist. eccl. 3.11.1). Dessen Nachfolger Justus, ein bekehrter Jude, wird dann aber als Bischof von Jerusalem genannt - war die Gemeinde aus Pella wieder nach Jerusalem zurückgekehrt? - und bis zur Zeit Hadrians 15 weitere Bischöfe Jerusalems aufgezählt (Hist. eccl. 4.5). Mit den Nachrichten über diese Gemeinde scheint auch eine Tradition über Verwandte Jesu verbunden gewesen zu sein. Euseb weiß von einer Suche nach N a c h k o m m e n des Hauses David durch Vespasian (Hist. eccl. 3.12.1) und gibt einen Hegesippus-Bericht wieder, demzufolge Domitian zwei Großneffen Jesu, Enkel seines Bruders Judas, wegen ihrer H e r k u n f t aus dem Hause David verhaften ließ, sie aber freiließ, als sich herausstellte, daß sie zwar Christen, aber ansonsten arme Bauern waren (Hist. eccl. 3.19 und 3.20.1-7). All das kann zu der Vermutung führen, daß auch nach dem T o d e des Jakobus Angehörige der Familie Jesu eine Rolle in der ehemals in Jerusalem beheimateten judenchristlichen Gemeinde spielten. Aber von dieser Gemeinde führt kein sichtbares Verbindungsglied zur weiteren Geschichte des Judenchristentums. Der einzige Anhaltspunkt erscheint in dem N a m e n späterer judenchristlicher Sekten: Ebjonäer = „die Armen". Eine oder mehrere Sekten dieses Namens sind f ü r das 2. Jahrhundert bezeugt. Die Kirchenväter wußten allerdings mit diesem N a m e n nichts anzufangen. Paulus kennt aber die Bezeichnung „die A r m e n " (Gal.2,10), und es ist nicht ausgeschlossen, daß es sich um eine Selbstbezeichnung der Jerusalemer Gemeinde handelte, die sich damit als das erwählte Gottesvolk der Armen identifizierte, denen die Verheißungen der messianischen Zeit galten. Es ist also möglich, daß sich in der Bezeichnung „ E b j o n ä e r " bei judenchristlichen Gruppen eine Erinnerung an eine H e r k u n f t aus der Jerusalemer Urgemeinde erhalten hat. Im übrigen deutet freilich nichts darauf hin, daß diese judenchristlichen Sekten Überlieferungen besaßen, die ursprünglicher und älter sind als die Traditionen und Schriften der sonstigen christlichen Kirchen.
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b) Judenchristentum als Zweig der großkirchlichen Entwicklung Zu den wichtigsten Zeugnissen für das Judenchristentum gehören die sogenannten judenchristlichen Evangelien. Seit der Zeit der alten Kirche hat die Ansicht bestanden, daß bei den judenchristlichen Gemeinden noch die anamäische Urschrift des Matthäusevangeliums in Gebrauch war. Anlaß dazu hat unter anderem die durch Eusebius von Papias überlieferte Bemerkung gegeben, Matthäus habe die Sprüche Jesu in hebräischer Sprache zusammengestellt (Hist. eccl. 3.29.16; s.o.§10. 2c). Hieronymus hat daraus und aus anderen Nachrichten die These entwickelt, es habe nur ein judenchristliches Evangelium gegeben, und hat diesem alle ihm bekannten Zitate zugewiesen. Dieses „Hebräerevangelium" sei, so meinte Hiernoymus, mit dem aramäischen Ur-Matthäus identisch. Diese These hat sich bis in die neuere Forschung erhalten, ist aber mit Recht in einer Reihe von kritischen Arbeiten bestritten worden. Es ist fraglich, ob Hieronymus jemals ein Exemplar des von ihm als Ur-Matthäus bezeichneten Evangeliums gesehen hat. Ganz sicher hat er es nie ins Griechische (und Lateinische) übersetzt, wie er mehrfach behauptet. Eine Reihe von Zitaten aus judenchristlichen Evangelien bei anderen Kirchenvätern, die Hieronymus seinem „Hebräerevangelium" zuschreibt, haben nachweislich niemals in einer semitischen Sprache existiert, und es ist unmöglich, alle entsprechenden Zitate ein und demselben Evangelium zuzuweisen. Man muß vielmehr mit mindestens zwei, wahrscheinlich aber drei verschiedenen judenchristlichen Evangelien rechnen, von denen nur eines wirklich in einer semitischen Sprache in Gebrauch war. In aramäischer oder syrischer Sprache war seit dem 2. Jahrhundert ein Evangelium bei Judenchristen Syriens in Gebrauch, die sich Nazaräer nannten. Man bezeichnet dieses Evangelium am besten als Nazaräerevangelium; seinen ursprünglichen Namen kennen wir nicht. Bereits Hegesipp (ca. 180nChr; bei Euseb, Hist, eccl. 4.22.8) berichtet von diesem Evangelium. Bezeugt ist es außerdem von Euseb und Epiphanius, auch von Hieronymus; denn dies ist sicherlich das einzige judenchristliche Evangelium, mit dem er selbst in Berührung gekommen war. Schließlich haben sich Lesarten dieses Evangeliums in einer Reihe von Marginalien mittelalterlicher Handschriften des Matthäusevangeliums erhalten, die sämtlich auf eine vor 500nChr in Jerusalem geschriebene Evangelienausgabe zurückgehen. Dazu kommen eine Reihe von Zitaten aus
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Schriften des Mittelalters. Untersucht man die ca. 36 Stellen, die aus diesem Evangelium angeführt werden, so ergibt sich, daß es eine aramäische Übersetzung des griechischen Matthäusevangeliums war. Das Nazaräerevangelium verändert dabei wiederholt den Text des Matthäus, erweitert, kommentiert, illustriert und fügt gelegentlich neues Material ein. In allen Fällen kommt dem griechischen Matthäus die Priorität zu. Häretische Veränderungen finden sich nicht; auch scheint das Nazaräerevangelium Matthäus in vollem Umfange wiedergegeben zu haben, einschließlich der Geburtsgeschichte. Davon daß diese Judenchristen die Jungfrauengeburt leugneten, kann keine Rede sein. Vielmehr waren sie mit der T h e o logie der sich ausbildenden frühkatholischen Kirche durchaus einig und von ihr abhängig. O b sie freilich außer diesem aramäischen Matthäusevangelium noch andere neutestamentliche Schriften kannten und benutzten, wissen wir nicht. Auf der anderen Seite deutet nichts darauf hin, daß sie judenchristliche Sonderlehren vertraten. G a n z anders steht es mit dem zweiten dieser judenchristlichen Evangelien, das durch Zitate bei Epiphanius bekannt ist, von dem aber auch Irenäus wußte: das Ebjonäerevangelium - so genannt, weil es bei der Sekte der Ebjonäer in Gebrauch war. Auch hier ist der eigentliche N a m e nicht bekannt (vielleicht hieß es „Evangelium der Zwölf"). Bei diesen Ebjonäern handelt es sich um griechisch sprechende Judenchristen, und ihr Evangelium war in dieser Sprache abgefaßt; es ist sicher von Matthäus und Lukas, wohl auch von Markus abhängig. Gelegentlich zeigt es eine gewisse Verwandtschaft mit der bei Justin dem Märtyrer Mitte des 2. Jh. benutzten Evangelienharmonie. Soweit die wenigen erhaltenen Zitate überhaupt ein Urteil zulassen, zeigt es keine Spuren einer unabhängigen älteren Sonderüberlieferung. Das ist umso auffallender, als es sich bei diesen Ebjonäern nun tatsächlich um eine häretische Gruppe handelt. Sie verwarfen die Jungfrauengeburt - die synoptische Vorgeschichte ist in ihrem Evangelium ausgelassen - und nahmen an, daß der himmlische Geist bei der T a u f e in den irdischen Jesus eingegangen sei. Das ist eine an die Gnosis erinnernde Vorstellung. Sie verwarfen außerdem den Opferkult (Jesus sagt: „Ich bin gekommen, die O p f e r abzuschaffen, und wenn ihr nicht abiaßt zu opfern, wird der Zorn von euch nicht ablassen") und waren Vegetarier. Judenchristlich ist außer dem N a m e n Ebjonäer auch die Stellung der zwölf Apostel, die von Jesus „als Zeugnis f ü r
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Israel", also als Repräsentanten der zwölf Stämme ausgewählt werden. Mehr läßt sich aus den Fragmenten dieses Evangeliums nicht entnehmen, und es ist nicht sicher, ob diese Ebjonäer in irgendeinem Zusammenhang mit anderen häretischen Judenchristen standen. Während die beiden genannten judenchristlichen Evangelien im syrisch-palästinischen Raum zu Hause waren, gehört das dritte dieser Evangelien nach Ägypten: das sogenannte „Hebräerevangelium". Es besteht jedoch zwischen ihm und den vorher genannten keinerlei Verbindung. Daher wird auf dieses Evangelium bei der Behandlung der frühen Christenheit Ägyptens zurückzukommen sein (s.u. §11.1c). c) Der Kampf gegen Paulus Die vorhergehenden Abschnitte haben gezeigt, wie schwer es ist, für die Frühzeit des Christentums eine eigenständige und unabhängige judenchristliche Tradition nachzuweisen. Es scheint nun in der Tat so gewesen zu sein, daß die Ausbildung des eigentlichen Judenchristentums keiner Sondertradition zu verdanken ist sondern der ständigen Auseinandersetzung mit dem gesetzesfreien Heidenchristentum. Das ist bereits in den paulinischen Briefen deutlich. Die hier bezeugten Auseinandersetzungen haben wahrscheinlich sehr viel stärker zur Ausbildung des Judenchristentums beigetragen als die Bewahrung alter Traditionen judenchristlichen Gepräges in syrisch-palästinischen Sondergemeinden. Gewiß hat es solche Gemeinden gegeben, aber die Entwicklung ist über sie hinweggegangen, wie offenbar auch über die Reste der Jerusalemer Urgemeinde. Zu einer theologischen Bemühung, das jüdische Gesetz zu bewahren und die Geltung des Ritualgesetzes, besonders der Beschneidung, zu verteidigen, kam es wegen der Verwerfung des Gesetzes durch Paulus. Es galt jetzt, dem Paulus um des Gesetzes willen in der Heidenmission Konkurrenz zu machen. Was Paulus und die Autoritäten in Jerusalem seinerzeit betraf, als man zum Apostelkonzil zusammenkam, so mochte ihnen ein Ubereinkommen, in dem man sich die Missionsgebiete teilte, als allerseits zufriedenstellend erschienen sein. Angesichts der von allen geteilten Hoffnung, daß das Ende der Zeiten nicht mehr lange auf sich warten lassen werde, mag sich niemand Gedanken darüber gemacht haben, daß Jerusalem in der Beschränkung auf die Führung in der Judenmission bald von der Zeit überholt werden könnte. Andere Teil-
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nehmer der Jerusalemer Konferenz, die Paulus als „falsche Brüder" bezeichnet (Gal.2,4), scheinen einen besseren Blick für die Zukunft gehabt zu haben. War das eigentliche Problem wirklich die Frage der Gültigkeit des Gesetzes für die Heidenchristen, so konnte man sich nicht damit zufriedengeben, daß nur Judenchristen weiterhin dem Gesetz treu bleiben sollten. Denn es ging ja letztlich um die Gültigkeit und zentrale Stellung des Gesetzes innerhalb einer Missionsbewegung, die sich anschickte, zur Weltreligion zu werden. Judenchristen, die dies erkannt hatten, begannen so Mission in der heidnischen Welt, von der schon wenige Jahre nach der Jerusalemer Konferenz mehrere paulinische Briefe ein beredtes, wenngleich keineswegs freundliches Zeugnis ablegen. Bei den Gegnern des Galater- und des Philipperbriefes geht es nicht nur um das Gesetz im allgemeinen, sondern um das Einhalten des Ritualgesetzes. Daher steht in der paulinischen Antwort die Polemik gegen die Beschneidung voran (s.o. § 9.3b und e). Paulus' Abwehr der judenchristlichen Konkurrenz hat diese Bewegung nicht aus der Welt geschafft. Im Kolosserbrief wehrt sich ein Paulusschüler gegen eine judenchristliche Propaganda, die synkretistische Züge trägt: Beachtung der jüdischen Feste und Speisegebote wird als Einweihung in die kosmischen Wirklichkeiten verstanden (s.u. § 12.2a). Auch Ignatius von Antiochien kämpft gegen Judaisten, die vielleicht mit der Zielscheibe seiner antignostischen Polemik eng verwandt oder identisch sind (s.u.5 12.2d). Wenn Ignatius bezeugt, daß sich die Gegner auf das AT beriefen, dem er selbst nur eingeschränkte Autorität zugestehen will (Ign. Phld. 8), so erkennt er damit an, daß die Gegner sich eines Argumentes bedienten, das bei den meisten christlichen Gruppen mehr wirken könnte als sein eigener Paulinismus, der dem A T fern steht. Um das Jahr 100 wirkte in Kleinasien Kerinth, der offensichtlich eine gnostische Lehre vertrat, von dem aber auch berichtet wird, daß er Judenchrist war und die Beschneidung verlangte. So unsicher die Nachrichten über Kerinth sind, angesichts der synkretistischen Entwicklung des antipaulinischen Judenchristentums ist diese Charakterisierung nicht unwahrscheinlich. Zur Erscheinung dieses judenchristlichen Synkretismus gehören schließlich auch die Gegner der Sendschreiben in der Offenbarung Johannis (s.u. § 12. 7c). Der Exkurs in das Gebiet der paulinischen Mission war notwendig, weil für das 1. JH. nur hier Quellen vorhanden sind, aus denen sich Hinweise auf die antipaulinische Stellung des Judenchristen-
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turns e n t n e h m e n lassen. Die eigentliche H e i m a t dieser judenchristlic h e n G r u p p e n m u ß jedoch Syrien gewesen sein. D o r t h a b e n sie sich bis in die byzantinische Zeit gehalten. Aus Syrien s t a m m t auch eines der wichtigsten Zeugnisse f ü r die E n t s t e h u n g judenchristlicher S e k t e n : D a s Buch des Elchasai. Elchasai trat im J a h r e 101 (nach seiner eigenen A n g a b e im 3 . J a h r e T r a j a n s ) als P r o p h e t auf u n d hat sein Buch in den darauf f o l g e n d e n J a h r e n verfaßt. Die von ihm g e g r ü n d e t e Sekte ist z w a r m e h r f a c h n o c h im 3.Jh. b e z e u g t , m a n hat ihr aber w e n i g B e a c h t u n g geschenkt bis z u m B e k a n n t w e r den einer A u t o b i o g r a p h i e Manis in jüngster Zeit. Aus ihr g e h t hervor, d a ß Manis Eltern Eichasaiten w a r e n und d a ß er selbst in dieser Sekte seine ersten religiösen E i n d r ü c k e e m p f a n g e n hat. D a d u r c h k o m m t den Eichasaiten insbesondere und dem syrischen J u d e n c h r i stentum im allgemeinen eine e r h ö h t e B e d e u t u n g zu. Die Fragm e n t e des Buches des Elchasai zeigen eine E r n e u e r u n g apokalyptischer P r o p h e t i e ; d e r A u s b r u c h eines K a m p f e s gottloser Engelm ä c h t e wird f ü r das dritte J a h r nach dem E n d e von T r a j a n s parthischem Feldzug vorausgesagt. Mit dieser prophetischen Botschaft verbindet sich wie im H i r t e n des H e r m a s (s.u.§ 12. / d ) die Ansage einer zweiten Buße und die G e w ä h r u n g einer zweiten T a u f e z u r S ü n d e n v e r g e b u n g . D a s H a u p t a n l i e g e n des Buches w a r die Bewahr u n g kultischer Reinheit mit V o r s c h r i f t e n , die sich an das A T anlehnten und die N o t w e n d i g k e i t w i e d e r h o l t e r R e i n i g u n g s b ä d e r bet o n t e n . Dabei ist die „ A n r u f u n g der sieben Z e u g e n " ( H i m m e l , W a s s e r , heilige Geister, Gebetsengel, O l , Salz und Erde) synkretistisch und verrät, ebenso wie die W a r n u n g vor bösen Gestirnen u n d vor dem M o n d , Spekulationen über kosmische M ä c h t e . Die F o r d e r u n g , beim G e b e t das Antlitz nach Jerusalem zu richten, zeigt jüdischen Einfluß. Mit den E b j o n ä e r n verbindet die Eichasaiten ihre V e r w e r f u n g des O p f e r k u l t e s (s.o.). Charakteristisch f ü r die E n t w i c k l u n g des hier b e z e u g t e n häretischen J u d e n c h r i s t e n t u m s ist die U n t e r s c h e i d u n g von richtigen und „ f a l s c h e n " alttestamentlichen P e r i k o p e n , die B e n u t z u n g der k a n o n i s c h e n Evangelien und die A b l e h n u n g der paulinischen Briefe (von O r i g e n e s bei Euseb, Hist. eccl. 6.38, f ü r die späteren Eichasaiten bezeugt). Die gleichen K e n n z e i c h e n häretischer judenchristlicher T h e o l o g i e finden sich n u n auch in dem wichtigsten Zeugnis aus Syrien, in den von den P s e u d o k l e m e n t i n e n b e n u t z t e n judenchristlichen Quellen. Bei den Pseudoklementinen handelt es sich um einen R o m a n , in dessen M i t t e l p u n k t Clemens von R o m steht. D e r R o m a n berichtet
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von seinem religiösen Werdegang, vor allem von seinen Erfahrungen als Jünger des Petrus, den er auf dessen Missionsreisen begleitet. Erhalten ist dieser Roman in zwei Rezensionen, den griechischen „Homilien" und den lateinischen „Rekognitionen", die beide im 4.Jh.nChr abgefaßt wurden. Die benutzte Grundschrift ist verloren, muß aber Anfang des 3. Jh. entstanden sein. Daß die Grundschrift wiederum umfangreiches Quellenmaterial verwendet hat, ist unbestritten. Jedoch besteht über Umfang und Charakter dieser Quellen in der wissenschaftlichen Diskussion keine Einigkeit. Immerhin kommt jener Annahme eine große Wahrscheinlichkeit zu, die mit einer judenchristlichen Quellenschrift rechnet, den „Kerygmata Petrou", die im 2. Jh. in Syrien entstand. Das ist die einleuchtendste Erklärung für das Vorhandensein umfangreicher Abschnitte der Pseudoklementinen, deren judenchristliche Tendenz nur allzu deutlich ist. Zu den „Kerygmata Petrou" gehören der Brief des Petrus an Jakobus, die Contestatio (Jakobus' Zeugnis über die Empfänger des Briefes) und Lehrpredigten und Diskussionen des Petrus. Diese Quellenschrift ist ohne Zweifel von der großkirchlichen Überlieferung abhängig. Vor allem das Matthäusevangelium ist benutzt (manche Zitate scheinen aus einer Evangelienharmonie zu stammen, die mit der Justins verwandt ist). Die Schrift will die Autorität des Petrus für das gesetzestreue Judenchristentum in Anspruch nehmen und denjenigen entwinden, die ihn als Nachfolger des Paulus in der gesetzesfreien Heidenmission ansehen (s.u. § 12. 2f). Petrus - obgleich anerkannt wird, daß er dem Paulus in der Heidenmission gefolgt ist! - wird daher als Vertreter einer gesetzlichen Verkündigung herausgestellt, der sich ausdrücklich gegen die Verleumdung wehrt, er habe die Auflösung des Gesetzes gelehrt. Die wahre Lehre des Petrus, die in den Predigten aufgezeichnet ist, wird im Brief des Petrus und in der Contestatio dem Jakobus vorgelegt und formell anvertraut. Jakobus ist also als zweifelsfreie Autorität für ein gesetzestreues Judenchristentum angerufen. Der Vorgang der Anrufung stellt sich als Akt einer kirchenrechtlichen Sanktionierung dar, ist nicht einfach ein romanhaftes Motiv. Es scheint, daß in den Predigten und Diskussionen des Petrus der Apostel Paulus dort angegriffen wird, wo gegen Simon Magus polemisiert wird. Die gegen Paulus vorgetragene Gesetzeslehre ist jüdisch, auch die Betonung der Reinheitsvorschriften stammt aus dem Judentum. Moses und Christus sind so miteinander verbunden, daß beide als Offenbarungen des wahren Prophe-
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ten angesehen werden. Die durch Jesus vermittelte Gnosis ist mit dem Gesetz des Moses identisch. Falsche Perikopen seien allerdings in das Alte Testament eingedrungen, da Moses nichts selbst geschrieben habe und die Juden sich in der Uberlieferung nicht als zuverlässig erwiesen hätten. Vom in Jesus erschienen wahren Propheten lernt man, die echten Perikopen des Gesetzes zu verstehen. Ist schon die Vorstellung von dem in wiederholten Verkörperungen erscheinenden wahren Propheten mit gnostischen Lehren verwandt, so zeigt sich gnostischer Einfluß noch deutlicher in der Syzygienlehre der Kerygmata Petrou. Die Erschaffung der Welt und der Menschen vollzieht sich in Syzygien, wobei das erste Glied das stärkere ist (Himmel und Erde, Adam und Eva). Auch die Geschichte wird so verstanden, nur steht hier das schwächere Glied voran (Kain und Abel, usw., schließlich auch Simon = Paulus und Petrus). In dieser Welt- und Geschichtserklärung tritt der universalistische Anspruch des Judenchristentums der Kerygmata Petrou deutlich hervor. Das Gesetz ist zum Prinzip geworden, aus dem sich Offenbarung und Welt für Juden und Heiden besser begreifen lassen als aus der Predigt des Paulus, die sich weder auf das Gesetz noch auf die Worte Jesu berufen kann.
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der christlichen
Gnosis
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a) Zusammenfassung bisheriger Beobachtungen Bei der Behandlung der Entwicklung des frühen Christentums in Syrien hat es sich ständig als notwendig erwiesen, auf die Gnosis zu verweisen. Gnostische Vorstellungen, Begrifflichkeiten, Mythen, Hymnen und Spruchüberlieferungen mußten wiederholt herangezogen werden. Wer darauf verzichtet, macht die Geschichte des syrischen Christentums und seiner Literatur zu einem unauflöslichen Rätsel. Auf der anderen Seite ist der Versuch, die Geschichte der syrischen Gnosis zusammenhängend darzustellen, mit großen Schwierigkeiten verbunden. Das liegt nicht nur an der Lükkenhaftigkeit der Quellen. Noch läßt es sich daraus erklären, daß die Annahme eines syrischen Ursprungs für gnostische Schriften, die in Ägypten gefunden wurden, selten schlüssig begründet werden kann (s.u. § 10. 5b). Gewiß spielen diese Faktoren eine Rolle. Gründe anderer Art sind jedoch schwerwiegender. Die Geschichte der Gnosis in der Frühzeit des Christentums läßt sich nicht mit der Geschichte einer soziologisch greifbaren Größe identifizieren.
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„Gnostische Kirchen" mit klar von der katholischen Kirche und der judenchristlichen Kirche abgegrenzter Mitgliedschaft hat es nicht gegeben. Die Autorität ortsansässiger Amtsträger hat sich, vor allem in Syrien, erst später durchgesetzt (s.o. §10. 7c). W o sich einigermaßen feste Formen der Uberlieferung in einzelnen Gemeinden oder in Gruppen von Gemeinden herausbildeten, müssen diese immer wieder durch herumziehende Apostel und Propheten in Frage gestellt und verändert worden sein. Eine gewisse Kontinuität war mit der Weitergabe von Traditionen verbunden, die unter der Autorität eines bestimmten Apostels standen. Dabei geht es aber um Aufarbeitung und Neuinterpretation bestimmter Überlieferungen und Schriften; eine Kontinuität der theologischen Einstellung ist damit keineswegs garantiert. Das hatte sich bereits in der Geschichte der Uberlieferungen gezeigt, die den Namen des „Johannes" für sich in Anspruch nahmen (s.o.§ 10.3a-d). Die Geschichte der Gnosis kann deshalb nur als die Geschichte bestimmter Tendenzen und Ziele beschrieben werden, die in der Interpretation überlieferten Materials in Erscheinung treten. Gnosis erweist sich in der Exegese. In der Uberlieferung der Sprüche Jesu macht sich die Gnosis in der Betonung und im Vorrang der Weisheitssprüche bemerkbar, sowie in der spiritualisierenden Auslegung der eschatologischen Sprüche Jesu. Mit dem Thomasevangelium wird diese Auslegung programmatisch als apostolische Tradition deklariert, die offenbar auch unter dem Namen dieses Apostels in syrischen Gemeinden fortgelebt hat. Im 2. Jahrhundert folgt in dieser Tradition das Buch von Thomas dem Athleten (Nag Hammadi Schriften 11,7), und im 3. Jahrhundert die Apostelgeschichte des Thomas, in der auch die aretalogische Tradition, die Uberlieferung von Wundertaten der Apostel, in den gnostischen Auslegungsprozeß einbezogen wurde. Einzelne Wundergeschichten sind zu Darstellungen der Begegnung der himmlischen Welt und ihres Gesandten mit der unteren Welt der Dämonen und der Vergänglichkeit geworden. Im Bereich der johanneischen Gemeinden hatte sich die gnostische Auslegung ebenfalls der Sprüche Jesu bemächtigt. Die Exegese der gnostischen Interpreten entwickelte daraus das Dialog-Material, das Jesus von der Gegenwart des eschatologischen Heils reden läßt und ihn als den Offenbarer aus der himmlischen Welt des Vaters vorstellt, aus der auch diejenigen stammen, die seine Stimme hören. Die Vorlage für den Hymnus, den der Verfasser des Johannes-
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evangeliums als Prolog benutzt, zeigt die unmittelbare Verbindung zwischen Weisheitsmythus und gnostischem Verständnis der christlichen Offenbarung. Aber erst bei den Gegnern des 1. Johannesbriefes und in den Johannesakten hat sich die gnostische Christologie voll ausgebildet, und zwar in direkter Auseinandersetzung mit dem johanneischen Versuch, das Bild vom gnostischen Offenbarer mit dem Kerygma von Kreuz und Auferstehung des irdischen Jesus zu verbinden. Wie stark die Gnosis eine innerhalb der christlichen Überlieferung auftauchende Möglichkeit der Interpretation ist, zeigt die Geschichte des Judenchristentums. Bei den Gegnern des Paulus in Galatien mag man mit gutem Recht daran zweifeln, daß sie gnostische Thesen vertreten haben. Bei den Gegnern des Philipperbriefes kann man angesichts ihrer Betonung der bereits in der Gegenwart erreichbaren Vollendung schon eher von einer gnostischen Tendenz reden. Gerade in der Christologie hat das Judenchristentum zu mythologischen Konstruktionen gegriffen, die eindeutig gnostisch sind. Das ist im Ebjonäerevangelium der Fall, wenn es vom Herabkommen des personhaft vorgestellten himmlischen Geistes und seiner Vereinigung mit Jesus bei der Taufe redet. Die Kerygmata Petrou haben sich einer gnostischen Vorstellung bedient, nämlich der wiederholten Manifestation des wahren Propheten, um damit die bleibende Gültigkeit des Gesetzes zu verteidigen. Im Zusammenhang mit dem Auftauchen gnostischer Vorstellungen im Bereich des Judenchristentums hat man sich bereits die Frage gestellt, ob die Wurzeln gnostischen Denkens nicht überhaupt im häretischen Judentum zu suchen sind. Der syrisch-palästinische Raum könnte für die Entwicklung einer jüdischen Gnosis das geeignete Milieu geboten haben. Vielleicht kann weitere Arbeit an den Texten von Nag Hammadi diese Vermutung bestätigen. Es läßt sich aber jetzt schon sagen, daß eine Reihe dieser Texte in Syrien entstanden sein müssen und Zeugen einer christlichen Gnosis sind, die jüdischem Einfluß viel zu verdanken hat. b) Die Texte von Nag Hammadi und die syrische Gnosis Die spekulative Interpretation der ersten Kapitel des Buches Genesis hat in der Ausbildung der gnostischen Kosmogonien eine entscheidende Rolle gespielt. Anspielungen auf die Schöpfungsgeschichte des A T finden sich sogar in der heidnischen Gnosis der Hermetik (s.o.§6. 5f). Ein direkter Zusammenhang mit der jüdi-
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sehen Apokalyptik sowie mit der Exegese des rabbinischen Judentums ist sicher, jedoch bedürfen die einzelnen Verbindungslinien noch weiterer Klärung. Neben diesem Interesse am biblischen Schöpfungsbericht steht die Beschäftigung mit den Personen der biblischen Urgeschichte. Das rückt die Gnosis wiederum in die nächste N ä h e zur jüdischen Apokalptik wie sie bis zum Ende des l . J h . n C h r vor allem in Palästina zu Hause war (s.o.§5.3c und §6.6f). Ganz offensichtlich haben mehrere der N a g - H a m m a d i Schriften einen Teil ihres entsprechenden Materials aus diesen palästinisch-jüdischen Quellen bezogen, darunter auch solche Schriften, die nur gelegentlich christliche Elemente enthalten. Christliche Züge scheinen völlig zu fehlen in der Apokalypse Adams (CG V,5), deren Grundlage eine apokalyptische Interpretation der Geschichte Adams, Seths und N o a h s ist. Seth empfängt die O f f e n b a r u n g und das Vorherwissen der Z u k u n f t von seinem Vater Adam in der Form eines Testaments vor dessen Abscheiden. Diese Apokalypse ist gnostisch überarbeitet worden, so daß sie von der wiederholten Errettung der Söhne des wahren, jenseitigen Gottes oder vom Kommen des „Erleuchters der W a h r h e i t " redet, der nur von der Generation, die ohne König ist, erkannt wird. D e r Ers u c h t e r ist eine typisch gnostische Erlösergestalt. Durch ihn kommen die Erlösten in den Besitz „der Worte der Unvergänglichkeit und W a h r h e i t " (85,13-14). O f f e n b a r übte die Gemeinde, aus der diese Schrift hervorging, eine Wassertaufe, die als Wiedergeburt durch das W o r t verstanden wurde (85,24ff). D a es in dieser Schrift keinerlei Hinweise auf spezifisch christliche Namen, Themen und Überlieferungen gibt, kann man sie einer jüdisch-gnostischen Täufersekte zuweisen. D a ß Seth als der Offenbarungsempfänger erscheint, gibt zu der Vermutung Anlaß, daß wir es hier mit einem Zeugnis f ü r den jüdischen Ursprung der sethianischen Gnosis zu tun haben. Hierher gehört auch die Hypostasis der Archonten (CG 11,4); denn in ihr findet sich ebenfalls ein Hinweis auf sethianische G n o sis. In der gegenwärtigen Form gehört die Schrift allerdings in die ägyptische Gnosis des späten 2. oder 3.Jh. In der Einleitung wird „der große Apostel" zitiert (Kol. 1,13; Eph.6,12), und der Schluß spielt deutlich auf christlich-gnostische Vorstellungen des Erlösers an. Aber der zugrundeliegenden Schrift fehlen christliche Elemente völlig. D e r erste Teil (87,11-93,2) enthält eine gnostische Exegese von Gen. 1-6, die den alttestamentlichen Text oft wörtlich
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zitiert und zeigen will, daß Adam und Eva eigentlich der himmlischen Welt angehören, während nur ihre irdische Erscheinungsform der Macht der Archonten untersteht. Diese irdischen Menschen werden von ihnen durch die Austreibung aus dem Paradies und durch die Flut gequält. Aber in Seth und in seiner Schwester Norea, „dem Menschen, der aus Gott geboren ist," und „der Jungfrau, die die Mächte nicht befleckten," treten die Verkörperungen des wahren himmlischen Menschen und Vorbilder der Erlösung auf. Damit bricht die Genesis-Auslegung ab. Der zweite Teil ist eine nachträglich angefügte Rede des Engels Eleleth an N o r e a (93,19-96,35), die den gnostischen Mythos vom Fall der Sophia erzählt. Sollte dieser Teil christlich sein, so stammt er doch aus einem semitischen Sprachmilieu. Darauf weisen u.a. die N a m e n des bösen Weltschöpfers: Samael (Gott der Blinden), Sakla (Narr) und Jaldabaoth (nicht sicher erklärbar, aber semitischen Ursprungs). Alttestamentlich ist natürlich der N a m e seines Sohnes „Sabaoth", dem übrigens eine eigenartig positive Rolle zugeteilt wird. Ganz sicher deutet der N a m e „ N o r e a " , gebildet aus dem hebräischen N a m e n „ N a ' a m a " (Gen. 4,22) und dem griechischen „ ö r e i a " (schön), auf eine direkte Verbindung zu jüdischer Genesis-Auslegung. In einigen Fällen sind gnostische Schriften unter dem N a m e n eines bestimmten Apostels überliefert und es ist nicht unwahrscheinlich, daß damit an bestimmte Traditionen angeknüpft werden soll. Das ist beim Apokrypbon des Johannes der Fall. Diese Schrift, dem Irenäus bekannt und daher spätestens um die Mitte des 2. Jh. entstanden, ist in zwei kürzeren (CG 111,1; BG 8502,2) und zwei längeren Versionen (CG 11,1; IV, 1) überliefert. Die Einleitung berichtet von der Erscheinung Jesu vor Johannes, bei der Jesus einmal wie ein junger Mann und dann wieder wie ein alter Greis aussieht. Das erinnert an die Johannesakten (s.o.§ 10. 3d), ist allerdings in gnostischer Literatur nicht singulär. D e r Inhalt dieser Schrift ist eine zusammenhängende Darstellung des Falls der Sophia, der Schöpfung der unteren Welt durch Jaldabaoth sowie der Erschaff u n g des Menschen und der Erlösung durch Christus, der durch seinen Abstieg bis in den Hades die Errettung durch seinen Ruf bringt. Bei der Darstellung ist reichhaltiges Material aus der jüdischen Apokalyptik und Angelologie übernommen worden, zahlreiche N a m e n (oft entstellt und nicht mehr verstanden), dazu kosmologische und astrologische Listen, die ebenfalls auf dem U m -
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wege über das Judentum in den gnostischen Mythos gelangt sind. Die Anführung und Interpretation der ersten Kapitel des Buches Genesis spielt wiederum eine wichtige Rolle. Nichts deutet auf eine Fortführung der johanneischen Gemeindetradition. Doch könnte „Johannes" f ü r den sekundären Rahmen herangezogen worden sein, weil aus Syrien stammende Gnostiker das in dieser Schrift enthaltene Material ebenso wie das Johannesevangelium selbst nach Ägypten gebracht hatten (s.u. § 1 1 . 1 b). An die judenchristliche Gnosis Syriens knüpfen zwei Schriften der Bücherei von N a g Hammadi an: die 1. und die I.Apokalypse des Jakobus. Das erste dieser beiden Bücher (CG V,3) führt den H e r renbruder Jakobus als Empfänger einer O f f e n b a r u n g des „ H e r r n " (von Jakobus als „Rabbi" angeredet) ein, in der die Frage des Leidens und der Aufstieg der Seele im Mittelpunkt stehen. Auch sein Martyrium wird dem Jakobus vorhergesagt. Auf judenchristliche H e r k u n f t deuten auch eine Reihe von Zügen in der Schrift selbst. D e r Gottesname „ E r Der Ist" stammt aus Exod. 3,14. Die Rede von einem schwächeren weiblichen Prinzip beruht auf der Syzygienlehre, die sich in den Kerygmata Petrou der Pseudoklementinen findet; an sie erinnert auch die Feststellung, daß das Alte Testament nur teilweise Wahrheit enthält und daß es der O f f e n b a r u n g durch Jesus zum vollen Verständnis bedarf (s.o. § 10.4c). Die Bezeichnung der Sophia als „ A c h a m o t h " kommt aus dem Aramäischen. Syrische H e r k u n f t erweist sich in der Erwähnung von Addai, der später als Apostel Edessas genannt wird, dem Jakobus diese Lehren übergeben soll. Im übrigen ist die Theologie eindeutig gnostisch. Das gilt auch von einigen eingefügten Uberlieferungsstücken, dem H y m n u s an den Offenbarer (28,7-26) und dem Katechismus der Antworten auf die Fragen der kosmischen Wächter (33,11-34,20; vgl. dazu Ev. T h o m . 50). Die 2. Apokalypse des Jakobus (CG V,4) enthält einen Bericht vom Martyrium des Jakobus, der im wesentlichen dem bei Euseb aufbewahrten Hegesippusbericht entspricht (Hist. eccl. 2.23.4 ff). Eine Reihe von gnostischen H y m n e n sind in den Bericht eingeschaltet. Am Schluß steht als Bittgebet des Jakobus angesichts des Todes ein Psalm, der ganz der Form des alttestamentlichen Klageliedes entspricht. Die in diesen beiden Schriften aufbewahrten Lieder bezeugen eine Gattung der Uberlieferung, der sich gerade die syrische Gnosis vielfach als Ausdrucksmittel bedient hat.
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c) Gnostische H y m n e n und Lieder Aus Syrien sind eine ganze Reihe von christlichen Hymnen und Liedern erhalten, die gnostischer H e r k u n f t oder gnostisch gefärbt sind. Die genaue Entstehungszeit dieser Dichtungen läßt sich nicht bestimmen, aber f ü r einen großen Teil läßt sich vermuten, daß sie in der Zeit von etwa 50 bis 150 nChr abgefaßt wurden. Durchweg handelt es sich um semitische Dichtung, die sich an Vorbilder wie die alttestamentlichen Psalmen, die Psalmen Salomos und die H o dajot der Schriften vom Toten Meer anlehnt. Es ist f ü r diese Lieder und H y m n e n charakteristisch, daß spezielle mythologische Spekulationen fehlen oder nur gelegentlich anklingen. Wie das heutige Kirchenlied, so stehen auch diese altchristlichen Lieder der Frömmigkeit der Gemeinden näher als der spekulativen Theologie und Exegese. Aber zentrale christologische Aussagen und theologische Begriffe sind klar erkennbar, wenn sie auch oft in die dichterische Bildersprache übersetzt werden. In der Form herrscht die 1. Person Singular vor, in der entweder der Offenbarer oder der Glaubende spricht; oft fließen beide zusammen zur Stimme des erlösten Erlösers. Daneben findet sich auch die Anrede an den Erlöser in der 2. Person oder die Darstellung seines Weges und seiner Taten in der 3. Person. Gelegentlich tritt das „ w i r " der bekennenden Gemeinde als Sprecher auf. Auf einige dieser Hymnen wurde bereits hingewiesen. Der im Prolog des Johannesevangeliums verwendete H y m n u s spricht in der 3. Person vom Kommen des Logos, schließt aber im Wir-Stil mit dem Bekenntnis der Gemeinde. Theologische Grundbegriffe erscheinen in großer Zahl: Licht, Finsternis, Vater, eingeborener Sohn, Herrlichkeit, Gnade, Wahrheit. Die Darstellung der H a n d lung tritt demgegenüber zurück. Im Wir-Stil beginnt auch der Tanzhymnus aus den Johannesakten („Wir preisen dich, Vater"). Doch dann redet der Offenbarer im Ich-Stil von sich selbst. Aber in dem, was er sagt spiegelt sich die Erlösungshoffnung des Glaubenden („Gerettet werden will ich"). Kosmologische Aussagen sind hier mit aufgenommen: „ D i e Achtheit lobsingt,... die zwölfte Zahl (der Tierkreis) tanzt ganz oben." Für die Gnosis charakteristische Metaphern beherrschen die Sprache (der Offenbarer ist Licht, Spiegel, T ü r und Weg). In die Schilderung des Leidens ist wieder der Glaubende mit einbegriffen. Das ist besonders deutlich in der Aufforderung zur Erkenntnis des Offenbarers, die nichts anderes als
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Syrien als Ursprungsland der christlichen Gnosis
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Selbsterkenntnis ist. Im Hymnus der 1. Apokalypse des Jakobus (28,7-27) richtet sich der Dichter an den Offenbarer, der in der 2.Person angeredet wird: „ D u bist mit der Erkenntnis gekommen, damit du gegen ihr Vergessen kämpfst,... mit Erinnerung... gegen ihr Nichtwissen." Am Schluß steht das Bekenntnis des Glaubenden in der 1. Person; er wird also vom Offenbarer deutlich unterschieden: „In mir ist Vergessen, aber ich erinnere m i c h . . . " In den Hymnen der I.Apokalypse des Jakobus (55,15-56,14 und 58,2-24) finden sich doxologische Prädikationen des Offenbarers, die nur gelegentlich gnostische Begrifflichkeit verraten. Im ersten Hymnus ist der Offenbarer der Erleuchter, Erlöser, bewundert wegen seiner Machttaten, gesegnet von den Himmeln, genannt der Herr. Erst im zweiten Teil spricht der Sänger in gnostischer Sprache von denen, die erlöst werden sollen: Sie werden die Botschaft erhalten, Ruhe finden, herrschen, Könige sein. Der zweite Hymnus ist eine Doxologie, die in der 3.Person von Gott redet: Er ist Leben, Licht, der der sein wird, der Vollender und Anfänger des Neuen, der Heilige Geist, der Unsichtbare, der Jungfräuliche. Am Schluß steht ein typisch gnostischer Zusatz: „Ich sah, daß er nackt war und daß keine Kleidung ihn kleidete." Ganz eindeutig gnostisch ausgerichtet sind die Lieder der Apostelgeschichte des Thomas. Diese Schrift entstand zwar erst am Anfang des 3. Jh., aber die Lieder stammen aus einer älteren Zeit. Das Lied in Act. Thom. 6 - 7 ist ein Brautlied, daß sich an weltliche Vorbilder anlehnt. Schon die Darstellung der Schönheit der Braut wird durch allegorische Sätze durchbrochen (z.B. „Wahrheit ruht auf ihrem Haupte"), obgleich freilich „die zweiunddreißig, die sie preisen", von nichts anderem als ihren Zähnen spricht. Die zweite Strophe beweist eindeutig, daß hier die Himmelskönigin geschildert wird. Die sieben Brautführer sind die Planeten, die zwölf Diener, die Zeichen des Tierkreises. Der Bräutigam ist die Verkörperung der Erlösten, die zum himmlischen Hochzeitsmahl erscheinen. Das zweite Lied der Thomasakten, das Lied von der Perle (Act. Thom. 108-113) steht dem Gemeindelied noch ferner als das Brautlied. Es ist ein allegorisches Gedicht, dem ein Märchen zugrundeliegt von einem Königssohn, der in ein fernes Land auszog, um eine kostbare Perle einem Drachen zu entreißen, w o f ü r er zur Belohnung die Mitregentschaft erhalten sollte. Dieses Märchen hat der Verfasser zur Vorlage genommen, um damit die Reise der Seele aus der himmlischen Heimat in die Fremde und die Errettung
656
Palästina und Syrien
§10
durch die himmlische Botschaft darzustellen. Züge, die dem ursprünglichen Märchen fremd sind, lassen sich leicht erkennen: Der Königssohn läßt sein Strahlenkleid zurück in seiner persischen Heimat, er kleidet sich mit den schmutzigen Gewändern Ägyptens, fällt in Schlaf und Vergessen (im Märchen wurde offenbar erzählt, daß er dem ägyptischen König diente); ein Brief (hier erscheint das gnostische Motiv vom Himmelsbrief) weckt ihn auf und er erkennt in dem Brief das, was in seinem H e r z e n geschrieben steht; das ihm entgegengesandte Strahlenkleid ist der Spiegel seines eigenen "Wesens, es ist er selbst. Eine Sammlung von Gemeindeliedern ist in den Oden Salomos erhalten. Sie waren zunächst nur durch alte Kanonsverzeichnisse und durch ein Zitat bei Laktanz bekannt. 1909 und 1912 wurde die ursprünglich griechisch abgefaßte Sammlung in zwei syrischen Handschriften entdeckt, die O d e 3-42 bzw. O d e 17.7-42 enthalten. O d e l , 5, 6, 22 und 25 fanden sich in koptischer Ubersetzung in der gnostischen Schrift Pistis Sophia, und O d e 11 ist im griechischen Urtext erhalten (Pap. Bodmer XI). Die Suche nach einem bestimmten Verfasser dieser Lieder ist ebenso vergeblich wie die Bestimmung eines genaueren Datums ihrer Entstehung. Sie könnten zur gleichen Zeit wie der Prolog des Johannesevangeliums verfaßt worden sein, passen aber ebensogut in das frühe 2. Jh. Auch besteht kein Grund, f ü r alle Lieder den gleichen Verfasser oder die gleiche Entstehungszeit anzunehmen. Viele Lieder lehnen sich eng an die Vorbilder des alttestamentlichen Psalters an und setzen die jüdische Psalmendichtung unmittelbar fort. O d e 5 ist ein Danklied f ü r den Schutz vor Verfolgern, O d e 14 ein Vertrauenspsalm, O d e 22 und 25 sind Preislieder anläßlich des Sieges Gottes über die Feinde, vor allem über Hölle und T o d , O d e 29 preist Christus f ü r sein W o r t , durch das der Glaubende den Sieg davonträgt. Die Bildersprache der O d e n ist sehr reich, und hier finden sich gelegentlich Bilder, die auch sonst in gnostischen Texten verwendet werden. D a ß der H e r r ein Kranz der Wahrheit auf dem H a u p t e des Glaubenden ist, muß allerdings nicht unbedingt im gnostischen Sinne verstanden werden ( O d e l ) , noch auch das Bild der Gemeinde als Pflanzung im Paradies (Ode 11.18 ff) oder der Vergleich der Gabe Gottes mit der Milch aus den Brüsten des Vaters, der vom Heiligen Geist gemolken wird, mag man auch die Fortsetzung, daß aus dieser Milch die Jungfrau in ihrem Schöße empfing, f ü r geschmacklos halten (Ode 19). Deutlicher gnostisch sind die Bil-
5c
Syrien als Ursprungsland der christlichen Gnosis
657
der von dem Herrn als Spiegel (Ode 13) und von der Gnosis als mächtiger Wasserstrom (Ode6; vgl. 11.6-7; 30). In den christologischen Aussagen findet sich vieles, das man als christliches Allgemeingut bezeichnen kann. Der Preis der Erscheinung des Herrn in faßbarer menschlicher Gestalt (Ode 7) ist keineswegs typisch gnostisch, noch auch das Loblied auf den apokalyptischen Sieg Christi über die untere Welt (Ode 24), die Aufzählung der Werke des Herrn mit der Aufforderung, sie zu hören und daran festzuhalten (Ode 8; vgl. 9) und die hellenistische Missionspredigt in Ode 33. Eigenartig ist allerdings in den oft im Ich-Stil formulierten Oden, daß die Gestalt des Offenbarers häufig mit dem Glaubenden in eine Person zusammenfließt, so daß von beiden ζ. B. der Besitz der Unsterblichkeit und die Wirksamkeit in der Welt in gleicher Weise ausgesagt werden kann (Ode 10) und daß man nicht mehr unterscheiden kann, wer eigentlich die Erlösung bewirkt und wer sie empfängt (Ode 17). In der Wiedergeburt wird der Erlöste dem Erlöser gleich (Ode 36), er ist mit dem leidenden Christus in seinem eigenen Leiden identisch (Ode 28; vgl. 31) und wird sogar selbst zum Erlöser, der mit Christus in die Hölle hinabfährt (Ode42). Schließlich finden sich eine Anzahl von Psalmteilen oder Versen, die gnostische Frömmigkeit widerspiegeln. Manchmal sind es nur einzelne Sätze, die in einem sonst nicht gnostisch anmutenden Zusammenhang erscheinen und so verraten, daß der ganze Psalm gnostisch ausgerichtet ist, z.B. in dem Preislied Ode26,12: „Es genügt ,Gnosis' zu haben und Ruhe zu finden." Das Ausziehen des irdischen und Anziehen des himmlischen Lichtgewandes (Ode 11.10 f; vgl. 15.8) ist ebenso gnostisch wie die Darstellung der Himmelfahrt der Seele (Ode 35), die Beschreibung der unteren Welt als Scheinwelt (Ode 34), die Wahrheit als Wegführer bei der Himmelfahrt (Ode 3 8) und Christus als Führer über den Abgrund der feindlichen Wasser (Ode 39). O b man darum die Oden Salomos als gnostisch bezeichnen muß? Obgleich an dem gnostischen Charakter dieser Vorstellungen nicht zu zweifeln ist, kann man sich doch gut denken, daß gerade in Bezug auf die Zukunfts- und Auferstehungshoffnung gnostische Bilder und Begriffe weit über die der Gnosis verpflichteten Kreise hinaus verbreitet waren. Immerhin legt diese Liedsammlung - das älteste christliche Gesangbuch, das wir besitzen - Zeugnis dafür ab, daß die Gnosis einen sehr nachhaltigen Einfluß auf die Sprache der Gemeindefrömmigkeit Syriens gehabt hat.
Sil
ÄGYPTEN
1. Die Anfänge des Christentums in Ägypten W.
BAUER, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, BhTh 10, 2 1964, 49-64.
Zub: siehe die Literatur zu § 10. Ja und § 10. ib. Clement of Alexandria and the Secret Gospel of Mark, 1973.
M O R T O N SMITH,
Zuc: siehe die Literatur zu § 10.4o Ph. VIELHAUER, Das Hebräerevangelium, NTApo 1 , 4 1 9 6 8 , 1 0 4 - 1 0 8 . H.-M. SCHENKE, Der Jakobusbrief aus dem Codex Jung, OLZ 6 6 , 1 1 7 - 1 3 0 (deutsche Übersetzung des Apokryphon des Jakobus).
1971,
a) Das Problem der Quellen und Zeugnisse Uber die Anfänge des Christentums in Ägypten gibt es keine Zeugnisse. Die Verlegenheit des Historikers, von dem erwartet wird, daß er darüber irgendetwas wissen müsse, zeigt sich bereits bei dem Kirchenhistoriker Euseb; w o dieser so gut wie nichts zu berichten weiß, ist der moderne Historiker nicht viel besser dran. Wie die spätere kirchliche Tradition, so sagt schon Euseb, daß Markus der erste Prediger des Evangeliums in Ägypten war, die Gemeinde Alexandriens begründete und ihr erster Bischof wurde. Um dieser Nachricht etwas Fleisch und Blut zu geben, borgt Euseb von dem jüdischen Philosophen Philo dessen Darstellung der jüdischen Sekte der Therapeuten (De vita contemplativa; s.o. § 5 . 3 f ) und schließt daraus, völlig konsequent, daß es sich bei den ersten Christen Ägyptens um eine Gruppe von asketischen Philosophen gehandelt habe (Hist. eccl. 2.16.2). Ist schon diese Auskunft völlig wertlos, so ergibt sich nicht mehr aus der Erwähnung der angeblich auf Markus folgenden Bischöfe Alexandriens und der Dauer ihrer Amtszeit: Annianus 22 Jahre, Abilius 13 Jahre, Kerdo 11 Jahre (?), Primus 12 Jahre - und hier befindet sich der Leser bereits im
1a
Die Anfänge des Christentums in Ägypten
659
3.Jahre Hadrians (120nChr). Erstaunlicherweise wird nach diesem Datum auch die Bischofsliste für die folgenden 70 Jahre nur noch fragmentarisch angeführt (Justus, Agrippinus, Julian) bis dann mit Demetrius (Bischof seit 189) die erste wirklich greifbare Gestalt in der Bischofsliste Alexandriens erscheint. Nun ist es in der Tat nicht denkbar, daß die christliche Mission Ägypten und Alexandrien jahrzehntelang übersah. Christliche Gemeinden muß es dort schon vor dem Ende des l.Jh. gegeben haben. Begreiflicherweise hat man sich darum bemüht, diese Informationslücke auszufüllen. Apg. 18,24 berichtet immerhin, daß Apollos, der Mitarbeiter des Paulus, ein alexandrinischer Jude gewesen sei. Von den Schriften der sogenannten Apostolischen Väter hat man den Barnabasbrief wegen seiner „alexandrinischen" Exegese (s.u. §12.2b) und den 2. Clemensbrief wegen der Verwandtschaft eines Evangelienzitats mit dem Ägypterevangelium (s.u. §11.2b) nach Ägypten verwiesen. Obgleich solche Urteile nicht ganz abwegig sind, im Falle des 2. Clemensbriefes sogar recht wahrscheinlich (s.u. § 11. Ja), ist damit noch nicht erklärt, warum Nachrichten über die Frühzeit des Christentums in Ägypten so spärlich sind, während doch aus Syrien und aus Kleinasien und Griechenland die Überlieferung zwar nicht lückenlos, aber doch so reichhaltig ist, daß es Mühe macht, sie in einen einigermaßen übersichtlichen historischen Zusammenhang zu bringen. Die Antwort auf diese Frage hat Walter Bauer in seinem 1934 erschienenen Buche „Rechtgläubigkeit und Ketzerei" gegeben: Die Anfänge des Christentums in Ägypten waren vom Standpunkt der frühkatholischen Kirche aus gesehen „häretisch" und aus diesem Grunde wurden die dort in der Frühzeit entstandenen christlichen Schriften nicht weiter überliefert und sonstige Informationen entweder unterdrückt oder überhaupt nicht in den Uberlieferungsschatz der Kirche aufgenommen. Euseb zeigt nur zu deutlich, daß die ihm zur Verfügung stehende Uberlieferung eine Decke des Schweigens über Ägypten gebreitet hatte. Hier ist der moderne Historiker doch im Vorteil. Einmal findet sich bei einigen älteren Kirchenschriftstellern mehr, als Euseb bereit war in seine geschichtliche Darstellung aufzunehmen, vor allem bei Clemens von Alexandrien und bei Origenes. Zum anderen haben Handschriftenfunde für Ägypten sehr viel neues Material ans Licht gebracht. Vieles davon, das muß zugegeben werden, hätte Euseb freilich, auch wenn er es gekannt hätte, nicht in seiner Kirchengeschichte berück-
660
Ägypten
sichtigt. Neben einer großen Anzahl griechischer und koptischer Papyri aus Ägypten (s.o.§7.2b) ist die wichtigste Entdeckung die 13bändige koptisch-gnostische Bücherei von Nag Hammadi (s.o. § 1 0 . 1 b und §10. 5b). Das führt jedoch unmittelbar in die Frage der syrischen Herkunft des frühen ägyptischen Christentums. b) Das Eindringen syrischer Uberlieferungen Das Christentum muß von Missionaren aus Syrien oder Palästina nach Ägypten gebracht worden sein, deren Namen wir zwar nicht mehr kennen, von deren Predigt und Lehre man sich aber doch eine gewisse Vorstellung machen kann. Die beiden ältesten Handschriftenfunde christlicher Bücher aus Ägypten weisen auf das Johannesevangelium. Die Fragmente des Johannesevangeliums (5>52) und des Papyrus Egerton2 sind beide vor 150nChr, womöglich kurz nach dem Jahre 100 geschrieben worden. Eine der Quellen des Johannesevangeliums und dieses Evangelium selbst waren also früh in Ägypten bekannt (s.o. §10. J a und b). Spätere Zeugnisse beweisen, daß sich das Johannesevangelium bei den Gnostikern Ägyptens besonderer Beliebtheit erfreute. Es waren also wohl Christen, die man etwas später als Gnostiker bezeichnet hätte, die in Ägypten als die ersten christlichen Prediger auftraten. Dafür gibt es noch weitere Zeugnisse. In Ägypten sind drei Fragmente der griechischen Vorlage des koptischen Thomasevangeliums gefunden worden (s.o. § 10./b), die aus drei verschiedenen Handschriften stammen (Pap. Oxyrh. 1; 654; 655), von denen mindestens eine noch vor dem Jahre 200 geschrieben wurde, die anderen wenig später. Nur vom Johannesevangelium gibt es ebenfalls drei Papyri aus dem gleichen Zeitraum ( φ 52, 66, 75). Obwohl man mit der Zufälligkeit der Funde rechnen muß, läßt sich doch sagen, daß diese beiden Evangelien für das zweite Jahrhundert Ägyptens besser bezeugt sind als irgendeine andere christliche Schrift. Von Matthäus und Lukas gibt es erst Handschriften aus dem Anfang des 3.Jh., wiewohl durch Clemens von Alexandria bekannt ist, daß beide Evangelien vor Ende des 2. Jh. in Alexandria gelesen wurden. Eigenartig ist die Nachricht über das geheime Markusevangelium in dem kürzlich veröffentlichten Brief des Clemens von Alexandrien (s.o.§ 10.2b). Gegen Ende des 2. Jh. war es nicht nur bei den vollkommenen Christen der Gemeinde Alexandriens in Gebrauch; Clemens bezeugt auch, daß die gnostische Sekte der Karpokratia-
lc
Die Anfänge des Christentums in Ägypten
661
n e r dieses E v a n g e l i u m b e n u t z t e , u n d z w a r in e i n e r e t w a s a b w e i c h e n d e n V e r s i o n . M ö g l i c h e r w e i s e ist also diese a p o k r y p h e
Va-
riante des M a r k u s e v a n g e l i u m s f r ü h e r nach Ä g y p t e n g e b r a c h t w o r d e n als d a s M a r k u s e v a n g e l i u m , d a s s p ä t e r in d e n K a n o n d e s N T a u f g e n o m m e n w u r d e . D e r im g e h e i m e n E v a n g e l i u m
angedeutete
Initiationsritus - Jesus bringt mit dem auferweckten Jüngling, nur mit einem weißen G e w a n d bekleidet, mehrere N ä c h t e zu und lehrt i h n die G e h e i m n i s s e d e r G o t t e s h e r r s c h a f t - f ü g t sich g u t ein in d a s a u c h s o n s t b e z e u g t e Bild v o n g e h e i m e n E i n w e i h u n g s r i t e n bei d e n g n o s t i s c h e n S e k t e n Ä g y p t e n s . W a h r s c h e i n l i c h sind a u c h e i n i g e d e r in d e n S c h r i f t e n v o n N a g H a m m a d i a u f b e w a h r t e n B ü c h e r als G e heimschriften von Syrien nach Ägypten gebracht w o r d e n .
Denn
S c h u t z f o r m e l n , die G e h e i m h a l t u n g g a r a n t i e r e n sollen, f i n d e n sich g e l e g e n t l i c h (vgl. d e n S c h l u ß d e s A p o k r y p h o n des J o h a n n e s ) . c) Ä g y p t i s c h e s J u d e n c h r i s t e n t u m Mehrere
Fragmente
der
judenchristlichen
Evangelien
(s.o. § 1 0 . 4b) sind e i n e m E v a n g e l i u m z u z u w e i s e n , d a s in A l e x a n d r i e n b e n u t z t w u r d e u n d als Hebräerevangeliutn
bekannt war. W ä h -
r e n d die b e r e i t s b e s p r o c h e n e n j u d e n c h r i s t l i c h e n E v a n g e l i e n ,
das
N a z a r ä e r - u n d d a s E b j o n ä e r e v a n g e l i u m , sich e n g a n d a s M a t t h ä u s evangelium anschlossen, scheint das Hebräerevangelium, nach den w e n i g e n F r a g m e n t e n z u u r t e i l e n , a n d e r e r A r t g e w e s e n z u sein. Es f i n d e n sich w o h l E l e m e n t e , die m a n als j u d e n c h r i s t l i c h b e z e i c h n e n k ö n n t e , o b g l e i c h d a s E v a n g e l i u m v o n v o r n e h e r e i n in g r i e c h i s c h e r S p r a c h e a b g e f a ß t w u r d e . D e r H e i l i g e G e i s t w i r d als die M u t t e r J e s u b e z e i c h n e t ; in s e m i t i s c h e n S p r a c h e n ist „ G e i s t " ein F e m i n i m u m . M a r i a w i r d als die H e r a b k u n f t e i n e r h i m m l i s c h e n K r a f t ( M i c h a e l ) e i n g e f ü h r t . In d e r T a u f e k o m m t die „ Q u e l l e d e s h e i l i g e n G e i s t e s " auf J e s u s h e r a b u n d r u h t auf i h m : „ M e i n S o h n , in allen P r o p h e t e n e r w a r t e t e ich d i c h , d a ß d u k ä m e s t u n d ich in dir r u h t e . D e n n d u bist m e i n e R u h e ; d u bist m e i n e r s t g e b o r e n e r S o h n , d e r d u h e r r s c h e s t in E w i g k e i t . " D i e s e V o r s t e l l u n g s t a m m t a u s d e m j ü d i s c h e n W e i s h e i t s m y t h u s ; d e n n d e r heilige G e i s t r e d e t h i e r w i e die W e i s h e i t , die w i e d e r h o l t in d e r W e l t (in P r o p h e t e n u n d G o t t e s m ä n n e r n ) e r s c h e i n t u n d i h r e R u h e s u c h t (vgl. S a p . S a l . 7 , 2 7 ; S i r . 2 4 , 7 ) . E i n a u s d e r j ü d i s c h e n T h e o l o g i e s t a m m e n d e s M o t i v ist h i e r a u f g e n o m m e n , a b e r es b e s t e h t k e i n e b e s o n d e r e V e r w a n d t s c h a f t mit d e r judenchristlichen Theologie der Kerygmata Petrou. Die Autorität des J a k o b u s
ist a l l e r d i n g s
auch
im H e b r ä e r e v a n g e l i u m
betont;
662
Ägypten
§11
denn es enthielt eine Auferstehungsgeschichte, in der Jesus seinem Bruder Jakobus erscheint und ihm das Brot bricht. Aus dieser Erzählung läßt sich auch entnehmen, daß nach dem Hebräerevangelium Jakobus am letzten Mahle Jesu teilgenommen haben soll; denn Jakobus hatte geschworen, von jener Stunde an, in der er den Kelch des Herrn getrunken hatte, kein Brot mehr zu essen. Was sonst noch in diesem Evangelium gestanden hat, entzieht sich fast ganz unserer Kenntnis. Nach der Stichometrie des Nikephoros ist es nur wenig kürzer gewesen als das Matthäusevangelium! Der aus dem Hebräerevangelium überlieferte Spruch, „Und niemals sollt ihr fröhlich sein, wenn ihr nicht auf euren Bruder in Liebe blickt," läßt vermuten, daß die Sprüche den gleichen Charakter hatten wie die synoptischen Evangeliensprüche. Clemens von Alexandrien weist den zweiten Spruch des Thomasevangeliums dem Hebräerevangelium zu (Strom 2.9.45 und 5.14.96). Dieser gnostische Kettenspruch (Suchen-Finden-Staunen-Herrschen-Ruhen) kann natürlich frei umgelaufen sein. Da es aber wahrscheinlich ist, daß das Thomasevangelium schon früh nach Ägypten gekommen war, möchte man annehmen, daß der Spruch aus dieser Quelle geflossen ist. Auch bei Berührungen des Thomasevangeliums mit anderen Schriften Ägyptens (s.u. § 11. 2b) muß man ihm die Priorität zusprechen. Dem Judenchristentum Ägyptens können vielleicht weitere Schriften unter der Autorität des Jakobus zugewiesen werden. Vor allem ist hier an die beiden Jakobusapokalypsen von Nag Hammadi zu denken (s.o. § 10. .5b); denn beide sind aus Jakobustraditionen Syriens hervorgegangen. Freilich sind es gnostische Schriften. Aber das Hebräerevangelium steht der Gnosis nicht fern. Seine Leser werden kaum Einwände gegen die Theologie der beiden Jakobusapokalypsen gemacht haben. Anderer Art ist das Apokryphem des Jakobus (CG 1,2), obwohl sich dieses Buch bewußt auf die judenchristliche Tradition beruft; denn es gibt sich als geheimes Buch, vom Herrn Jakobus und Petrus offenbart, das der erstere in hebräischer Schrift aufgeschrieben haben will (1,8-18). Seinem Inhalt nach ist es eine Abschiedsrede Jesu, die auf Sprüchen aufgebaut ist, zu denen sich Parallelen im Johannesevangelium, im Thomasevangelium und bei den Synoptikern finden. Eine literarische Abhängigkeit läßt sich nicht ohne weiteres nachweisen; die Abfassungszeit ist deshalb schwer zu bestimmen. In der Gattung der Schrift ist die Analogie zum Dialog des Erlösers (s.o.§10. lb
Die Gnosis in Ägypten
2a
663
und 3a) evident. Gnostische Lehre soll hier als die legitime Interpretation der älteren Traditionen einschließlich der judenchristlichen hingestellt werden.
2. Die Gnosis in Ägypten Zu a: siehe die Literatur zu §6. 5f und 5 10. 5b. M . K R A U S E , Die Paraphrase des Seem, Christentum am Roten Meer I I , 1973, 2-105 (koptischer Text und deutsche Ubersetzung). D . M . P A R R O T , Eugnostos the Blessed and The Sophia Jesu Christi, The Nag Hammadi Library in English (hg. von J . M . R O B I N S O N ) 1 9 7 7 , 1 0 6 - 2 2 8 (Englische Übersetzung beider Schriften in parallelen Spalten). W . F O E R S T E R , Die Gnosis I I , 1 9 7 1 , 3 2 - 4 5 (deutsche Ubersetzung des Eugnostosbriefes). A. B Ö H L I G , Das Ägypterevangelium von Nag Hammadi (Das Heilige Buch des großen unsichtbaren Geistes): ... ins Deutsche übersetzt ... , GOF IV1, 1974. A . B Ö H L I G - F . W I S S E , Zum Hellenismus in den Schriften von Nag Hammadi, 1975. M . K R A U S E , Das literarische Verhältnis des Eugnostosbriefes zur Sophia Jesu Christi, Mullus (Festschrift für Th. Klauser), JAC.E1, 1964, 215-223. H.-M. S C H E N K E , Das Ägypterevangelium aus Nag-Hammadi-CodexIII, NTS 16, 1969/70, 196-208. F. W I S S E , The Redeemer Figure in the Paraphrase of Shem, NovT 1 2 , 1 9 7 0 . Zub: Ägypterevangelium, NTApol, 4 1968, 109-117 (Übersetzung der Fragmente mit Einleitung und Literatur).
W.SCHNEEMELCHER,
Zuc: Die Gnosis I I , 1 9 7 1 , 6 7 - 8 4 (deutsche Übersetzung des Evangeliums der Wahrheit). E.DE FAYE, Les Gnostiques et le Gnosticisme: Ltudes critiques des doctrines du Gnosticisme Chretien aux He et Ille siecles, 21925. W . F O E R S T E R , Das System des Basilides, NTS9, 1962/63, 133-255. Ders., Von Valentin zu Herakleon, BZNW7, 1928. E . M Ü H L E N B E R G , Wirklichkeitserfahrung und Theologie bei dem Gnostiker Basilides, KuD18, 1972, 161-175. G . Q U I S P E L , La conception de l'homme dans la gnose Valentinienne, Erjb 15, 1948, 249-286. F . M . M . S A G N A R D , La gnose Valentinienne et le Temoignage de Saint Irenee, EPhM36, 1947. W.FOERSTER,
664
Ägypten
§Π
G. C. STEAD, The Valetinian Myth of Sophia, JThS 20, 1969, 75-104. Η . A. WOLFSON, Negative Attributes in the Church Fathers and the Gnostic Basilides, HThR.50, 1957, 145-156.
a) Zeugnis der Texte von Nag Hammadi Zwar wurden die Kodizes von Nag Hammadi kurz nach der Mitte des 4. Jh. in koptischer Sprache in Ägypten geschrieben. Das besagt aber noch nicht allzuviel über den Ort, an dem die zugrunde liegenden griechischen Originale verfaßt worden sind. Große Unsicherheit besteht zur Zeit auch noch hinsichtlich der Entstehungsdaten der einzelnen Schriften. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen können daher alle Aussagen über Zeit und Ort der Entstehung irgendeiner dieser Schriften beim gegenwärtigen Stande der Forschung noch nicht den Anspruch erheben, in der wissenschaftlichen Diskussion erhärtete Hypothesen zu sein. Dennoch soll versucht werden, auf einige Schriften des Nag Hammadi Corpus hinzuweisen, die für die Entwicklung und Ausbildung der Gnosis Ägyptens bis zur Mitte des 2. Jh. bezeichnend zu sein scheinen. Von den ursprünglich aus Syrien stammenden Schriften dieses Corpus war sicher das Thomasevangelium in dieser Zeit in Ägypten bekannt. Die Hypostasis der Archonten und das Apokryphon des Johannes zeigen so enge Berührungen mit dem Sophia-Mythos der späteren valentianischen Schule, daß man sie vielleicht als die Quelle der letzteren ansehen kann. Die sethianische Gnosis hat auch in Ägypten ihre Ausbildung erfahren. Ein Vorläufer mag die aus Syrien nach Ägypten gebrachte Apokalypse des Adam gewesen sein. Kurzum, wenn man annimmt, daß spezifische Formen gnostischen Christentums in Syrien entstanden sind, dann muß man damit rechnen, daß entsprechende Schriften spätestens am Anfang des 2. Jh. in Ägypten bekannt waren. Daneben gibt es mehrere gnostische Schriften aus Ägypten, die weder syrischen noch überhaupt christlichen Einfluß verraten. Also ging auch in Ägypten der christlichen eine nichtchristliche Gnosis voraus oder entwickelte sich parallel zu ihr. Auf die in Ägypten beheimateten Schriften des Corpus Hermeticum wurde bereits hingewiesen (s.o.§6. if). Auch in das Corpus der Nag Hammadi Schriften sind zwei hermetische Traktate aufgenommen worden, die gnostisch sind, aber keine christlichen Elemente enthalten (CG VI, 6: Über die Achtheit und die Neunheit; CG VI, 8: Asklepius 21-29). Ebenfalls ohne sichtbare
2a
Die Gnosis in Ägypten
665
christliche Einflüsse ist die Paraphrase des Sem (CG VII, 1). Der hier vorgetragene Schöpfungsmythos, den Derdekeas, der Sohn des vollkommenen Lichtes, dem Sem, der „aus einer unvermischten Kraft stammt", vorträgt, unterscheidet sich deutlich von denen des syrisch-christlichen Typs. Er rechnet mit drei Prinzipien, Licht, Finsternis und dem zwischen ihnen stehenden Geist; zur Entstehung der „ N a t u r " bedarf es eines wiederholten Eingreifens durch Derdekeas, den Sohn des Lichtes. Es finden sich wohl Anklänge an den Schöpfungsbericht der Genesis, aber keine ausführlichen Exegesen; Genesis 2 - 3 ist nicht verwendet. Offenbar hat es eine spätere christliche Bearbeitung dieses Buches gegeben; denn Hippolyt kennt eine christliche „Paraphrase des Seth", die der Paraphrase des Sem aus CG VII ähnlich ist. I m Falle d e s Eugnostosbriefes
u n d d e r Sophia Jesu Christi
h a t die
Nag Hammadi-Bücherei selbst sowohl die ursprüngliche philosophisch-gnostische Abhandlung als auch ihre christliche Bearbeitung aufbewahrt. Der Eugnostosbrief (CG 111,3 und V, 1) beschreibt in der Form eines Briefes von „Eugnostos, dem Gesegneten, an die Seinen" Entstehung und Strukturen der jenseitigen göttlichen Welt. Einsicht in die hier vorgetragene Sicht, die Bekenntnis des Gottes der Wahrheit ist und Unsterblichkeit verleiht, steht in ausdrücklichem Gegensatz zu den drei irrtümlichen philosophischen Ansichten, denen zufolge die Welt aus sich selbst oder nach dem Plane einer Vorsehung oder durch das Schicksal entstanden ist. Bei der Darstellung der durch Emanation voneinander abgeleiteten Hauptgestalten der göttlichen Sphäre verwendet Eugnostos eine theologische Terminologie, die in den folgenden Jahrhunderten bei der christlichen Rede von Gott, dem Vater und dem Sohn, bedeutsam werden sollte. Die christliche Schrift Sophia Jesu Christi (CG III 4 und BG 8502,3) ist nach ihrer Rahmenerzählung eine Offenbarungsrede des Erlösers an die zwölf Jünger und sieben Frauen nach seiner Auferstehung. Für die Offenbarungsrede selbst und die Antworten auf die Fragen der Jünger hat der Verfasser fast vollständig die Schrift des Eugnostos übernommen. Gelegentlich werden dabei zusätzliche Erklärungen eingeschoben, die aber meist dem Gedankengang der Vorlage entsprechen. N u r gegen Ende und am Schluß sind zwei längere Abschnitte eingeschoben, die den Mythos vom Fall der Sophia einführen und von der Gefangenschaft der Lichttropfen unter dem allmächtigen Herrscher des Chaos, Jaldabaoth, und von der Rolle des Erlösers als ihrem Be-
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Ägypten
freier reden. Hier ist also eine religionsphilosophische gnostische Schrift nachträglich nicht nur christianisiert, sondern auch mythologisiert worden. Das mythologische Äquivalent zum Brief des Eugnostos ist Das Heilige Buch des Großen Unsichtbaren Geistes, auch Evangelium der Ägypter genannt (CG III, 2 und IV, 2; mit dem apokryphen Ägypterevangelium hat es nichts zu tun; s.u. §11. 2b). Es ist das wichtigste Werk der sethianischen Gnosis. Die erste Hälfte der Schrift schildert ausführlich den komplizierten Prozeß des Zustandekommens der göttlichen Welt durch Emanation aus dem Ur-Vater, dessen Name unaussprechlich ist. Im Gegensatz zum Eugnostosbrief werden hier viele mythologische Namen verwendet (Barbelo, Ainon, Esephech, usw.) und man findet eine Vielzahl von Ogdoaden, Dreiheiten und anderen Gruppierungen sowie einen Prozeß der nicht durch Ruhe und Kontemplation, sondern durch Aktivität charakterisiert ist. Am Ende steht die Geburt des Großen Seth, Sohn des Adamas und Vater des unvergänglichen Samens. Erst hier findet sich die erste Anspielung auf Genesis mit der Erwähnung von Sodom und Gomorrah. Der zweite Teil reicht von der Einsetzung des Herrschers über das Chaos, Saklas, seiner Arroganz und der Schaffung seiner eigenen Äonen und Dämonen, dem Säen des Samens des Großen Seth in diese Welt und der Einsetzung der Schutzengel, die diesen Samen behüten sollen, bis zur Erlösung: Seth erscheint in der Gestalt Jesu und bringt die Wiedergeburt durch die Taufe. Die Schrift schließt mit einem Hymnus und mit einer ausführlichen Charakterisierung des Buches als von Seth selbst geschriebenes Geheimbuch. Auffallend ist auch hier der Mangel an ausdrücklichen Beziehungen auf christliche Überlieferungen. Gegenüber den ganz wenigen christlichen Elementen überwiegt bei weitem die zum Teil aus der syrischen Gnosis übernommene Mythologie (einige mythische Namen aus dem Apokryphon des Johannes tauchen hier wieder auf). Erst in späterer Zeit, wahrscheinlich vom Ende des 2.Jahrhunderts an, hat die sethianische Gnosis den Versuch unternommen, ihre Lehre in kritischer Auseinandersetzung mit dem katholischen Christentum zu modifizieren und zu verteidigen (vgl. den Zweiten Traktat des Großen Seth, CG VII, 2) oder dem Neuplatonismus anzugleichen (Die Drei Säulen des Seth, CGVII, 5).
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b) Gnostisches Gemeindechristentum In den meisten der bisher angeführten Schriften haben wir es mit esoterischen Büchern zu tun, die eher in christlichen Mysterienvereinen zu Hause waren als in solchen christlichen Gemeinden, wie sie für Antiochien und für das paulinische Missionsgebiet vorausgesetzt werden müssen. Es ist natürlich nicht zu beweisen, daß es in der Frühzeit des ägyptischen Christentums überhaupt so etwas wie Gemeinden gegeben hat. Uberliefert ist darüber nichts und über Gemeindeorganisation und Amter läßt sich keinerlei Vermutung begründen. Die T a u f e , wo überhaupt davon geredet wird (z.B. im sogenannten Evangelium der Ägypter, C G III 2 und IV 2), ist als Mysterienritus verstanden. Sofern ägyptisches Christentum deutlicher in Erscheinung tritt, handelt es sich um Gruppen, die nach dem Modell von philosophischen Schulen oder Vereinen aufgebaut sind (s.u. §11.2c). Man kann natürlich vermuten, daß in christlichen Gemeinden Schriften wie das Evangelium des Papyrus Egerton 2, das Johannesevangelium und das Thomasevangelium gelesen wurden - Gemeinden aus der Nachbarschaft der Gnosis. Das wird durch eine weitere Schrift bestätigt, die in die gleiche Richtung weist: das Ägypterevangelium (von der gleichnamigen Schrift aus C G III, 2 zu unterscheiden; s.o. § 11. 2a). N u r ganz wenige Fragmente sind erhalten, und Clemens von Alexandrien ist unser einziger zuverlässiger Zeuge. Dem Namen nach zu urteilen, müßte es eine Zeit gegeben haben, in der dieses Evangelium bei „den Ägyptern" - vielleicht im Unterschied zu den Judenchristen, die das H e bräerevangelium lasen, wie Walter Bauer vermutet hat - das einzige gebräuchliche Evangelium war. Die sicheren Zitate aus dieser Schrift drehen sich um zwei eng miteinander verwandte Stellen. In der ersten antwortet Jesus auf die Frage der Salome, wie lange die Menschen sterben werden: „ S o l a n g e die Weiber gebären." Auf Salomes weitere Frage, ob sie gut daran getan habe nicht zu gebären, erhält sie die Antwort: „Iß jede Pflanze, die aber, die Bitterkeit hat, iß nicht." Im zweiten Fragment ist Salome wieder die Fragende und will wissen, wann sie erkennen werde, wonach sie gefragt habe; Jesu Antwort: „Wenn ihr das Gewand der Scham mit Füßen treten werdet und wenn die zwei eins werden und das Männliche mit dem Weiblichen weder männlich noch weiblich sein wird." Beide Worte sind eindeutig enkratitisch, d.h. sie verlangen sexuelle Askese, damit so der Kreislauf der Geburt durchbrochen
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und der geschlechtliche Unterschied von Mann und Frau irrelevant wird. Das paßt zu anderen gnostischen Schriften Ägyptens, bei denen fast immer sexuelle Askese mit auf dem Programm steht. Das letzte dieser beiden Jesusworte steht übrigens auch im Thomasevangelium (Spruch 22) und in der gleichen Schrift tritt Salome auch einmal als Fragende auf (Spruch 61). Daß bei diesen ganz wenigen Fragmenten gleich zwei Berührungen mit dem Thomasevangelium vorliegen, macht es wahrscheinlich, daß das Ägypterevangelium von ihm abhängig war. Mehr läßt sich über diese Schrift allerdings nicht sagen, da man bei sonstigem Material, das manchmal diesem Evangelium zugewiesen wird, nicht über bloße Vermutungen hinauskommt (über die Beziehung des 2. Clemensbriefes zum Ägypterevangelium s.u.§ 11.3a). Immerhin zeigt sich hier, daß ein frühes ägyptisches Gemeindechristentum sich wohl mehr an Worten Jesu orientierte als an den kosmogonischen und soteriologischen Spekulationen der gnostischen Geheimschriften. c) Die Ausbildung gnostischer Schulen Die bisher erwähnten gnostischen Schriften Ägyptens lassen sich keiner bestimmten gnostischen „Schule" zuweisen. Viele gehören zu gnostischen Gruppen oder Vereinen, die man vorläufig mit dem Sammelnamen „sethianische Gnosis" bezeichnen kann. Daneben gab es die philosophisch orientierten Kreise der hermetischen Schriften und des Eugnostosbriefes und auch noch andere gnostische Gruppen, von denen die bekannteste die der Naassener oder Ophiten ist, über die Irenaus und spätere Kirchenväter berichten. Über die Zeit ihrer Entstehung lassen sich keine genauen Angaben machen, da sichere Zeugnisse aus der Zeit vor 150nChr fehlen. Diese Gnostiker beriefen sich auf die Schlange von Gen. 2 (hebr. Na'as; griech. Ophis) als ersten Offenbarer der Gnosis. Sie orientierten sich also wie die frühe mythologische Gnosis Syriens an der Auslegung der ersten Kapitel der Bibel. Der Bericht Hippolyts über die Naassener läßt vermuten, daß sie synkretistisch ausgerichtet waren und auch bei hellenistischen Religionen Anleihen machten. So übernahmen sie eine auf Grund eines Hymnus an Attis verfaßte heidnische Propagandarede (die eigenartigerweise bereits jüdische Elemente enthielt), die sogenannte Naassenerpredigt. Außerdem ist von ihnen ein Kultlied überliefert, der Naassenerpsalm; es ist ein heidnischer gnostischer Psalm über den Geist, der die Seele aus dem Chaos erlöst, der im gebräuchlichen Versmaß
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der römischen Zeit (Anapäst) verfaßt und durch die E i n f ü g u n g des Jesusnamens christianisiert worden ist. Die erste gnostische Gruppe, die unter dem N a m e n ihres G r ü n ders bekannt geworden ist, sind die Karpokratianer. V o n K a r p o k r a tes' Sohn Epiphanes sind auch Fragmente einer Schrift über die Gerechtigkeit überliefert, in der kommunistische Ideale verkündet werden (Gütergemeinschaft und gemeinsamer Besitz der Frauen). Abhängigkeit dieser Schrift von Paulus läßt jedoch auf ein D a t u m nach 1 5 0 n C h r schließen. D a ß die Karpokratianer das geheime Markusevangelium benutzten, w u r d e bereits gesagt (s.o. § 11. /b). U m eine gnostische „ S c h u l e " handelte es sich bei dieser G r u p p e nicht. Als ersten gnostischen Schulgründer und Lehrer wird man Basilides zu nennen haben. Er wirkte in den ersten Jahrzehnten des 2.Jh.; Berichte über sein gnostisches System sind erhalten. Danach nahm er drei Prinzipien an. Ziel der Erlösung w a r es, alle Mächte wieder an ihren eigenen O r t zur Ruhe zu bringen. Anhänger seiner Schule, Basilidianer gab es noch im 3. Jh. Die wichtigste gnostische Schule ist die des Valentinus, der einige Zeit in Ägypten gewirkt haben muß, ehe er um 140nChr nach Rom kam. In der 2. H ä l f t e des 2. Jh. gab es einen östlichen und einen westlichen Zweig der valentianischen Schule, und erst zu dieser Zeit ist das eigentliche valentinianische System von den Schülern (Ptolemäus, H e r a k l e o n , Theodotus) in deutlich sichtbarer Auseinandersetzung mit der werdenden katholischen Kirche und in Abhängigkeit von den Evangelien und den Paulusbriefen des N T ausgearbeitet worden. Darauf kann aber hier nicht eingegangen werden, und selbst eine zusammenfassende Darstellung der G r u n d z ü g e valentinianischer Systeme mit ihrer theologischen Auslegung des Sophia-Mythos und ihrer A n n a h m e von drei Menschenklassen, den Pneumatikern, Psychikern ( = die Kirchenchristen) und Hylikern, w ü r d e zu weit führen. Valentinus selbst ist eine eigenartige Gestalt, die nicht so recht greifbar wird. Die wenigen von ihm selbst stammenden Fragmente zeigen eher einen Visionär und Dichter als einen theologischen Systematiker. Man hat sich in jüngster Zeit auch gefragt, ob nicht irgendwelche der in N a g H a m madi gefundenen Schriften auf Valentinus zurückgehen. In Frage käme das Evangelium der Wahrheit ( C G I , 3 und X I I , 2 ) , die tiefsinnigste und zugleich schönste Schrift des gesamten Corpus, die einen viel belesenen und begabten Theologen und f r o m m e n Mann zum Autor gehabt haben muß. Zwar wird in dieser Schrift nie aus-
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drücklich zitiert; aber der Verfasser kannte das Alte Testament, die neutestamentlichen Evangelien und die paulinischen Briefe. Es mag das Verdienst des Valentinus gewesen sein, daß er die Exegese dieser christlichen Bücher zum Gegenstand der Auslegungsarbeit der Gnosis machte. Dann wäre es kein Zufall, daß der älteste Kommentar zu einer neutestamentlichen Schrift, den wir kennen, der Johanneskommentar Herakleons, einem Schüler des Valentinus zu verdanken ist. Doch läßt sich damit weder die Abfassung des Evangeliums der Wahrheit durch Valentinus, noch überhaupt ein so frühes Datum für diese Schrift erweisen. Man sollte aber nicht versäumen, sie zu lesen, und sich weder durch eine mögliche spätere Abfassungszeit noch durch vermutete Abfassung durch einen Erzketzer der christlichen Kirche davon abhalten lassen. Es lohnt sich zur Erholung nach dem mühsamen Studium der Schriften der mythologischen Gnosis!
3. Die Anfänge des Katholizismus Zua: F.X.FUNK
-
K.BIHLMEYER,
Die Apostolischen Väter, S Q S I I 1 , 1 ,
2
1956,
xxix-xxxi; 71-81 (griechischer Text). F.ZELLER, Die apostolischen Väter, BKV35, 1918, 194-305 (deutsche Übersetzung). H.WINDISCH, Das Christentum des 2. Clemensbriefes, Harnack-Ehrung 1921, 122-134. H.KÖSTER, Synoptische Überlieferung bei den Apostolischen Vätern, T U 6 5 , 1957, 62-111.
Z»b: C.SCHMIDT, Gespräche Jesu mit seinen Jüngern nach der Auferstehung, T U 4 3 , 1919 (Erstausgabe der Epistula Apostolorum). H.DUENSING, Epistula Apostolorum, KIT 152, 1925. Ders., Epistula Apostolorum, N T A p o l , "1968, 126-155. M. HORNSCHUH, Studien zu Epistula Apostolorum, P T S 5 , 1965.
a) Katholisches Vulgärchristentum Uber die Anfänge des nichtgnostischen Christentums in Ägypten, das mit der werdenden katholischen Kirche in anderen Provinzen im Einklang stand, könnte uns der 2. Clemensbrief Auskunft geben, wenn er wirklich in Ägypten entstanden ist. Das ist keineswegs sicher und wird nur von wenigen Gelehrten angenommen. Es
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gibt jedoch gewichtige G r ü n d e f ü r diese Annahme. In der Überlief e r u n g ist dieses Schreiben später eng mit dem 1. Clemensbrief verbunden (s.u.§ 12. 2e); denn es ist in den Handschriften immer z u sammen mit dem letzteren abgeschrieben w o r d e n . Mit dem 1. Clemensbrief steht der 2. Clemensbrief in zwei griechischen H a n d schriften des N T , dem Kodex Alexandrinus aus dem 5. Jh. und dem Kodex Hierosolymitanus aus dem Jahre 1056 (dem wir auch die Didache verdanken; s.o.§ 10.1c; nur hier ist der griechische T e x t vollständig erhalten); auch in einer syrischen Ubersetzung des N T stehen beide Clemensbriefe zusammen. D a der 1. Clemensbrief von Rom nach Korinth geschrieben wurde, hat man angenommen, daß der 2. Clemensbrief entweder in Rom oder in Korinth entstand. Allerdings ist es schwer in einer diese beiden Gemeinden und in ihren Beziehungen zueinander eine Situation zu finden, in die das Schreiben paßt. H a r n a c k ' s These, der römische Bischof Soter (165-174 nChr) sei der Verfasser gewesen, ist abwegig, nimmt auch ein zu spätes D a t u m f ü r die Abfassung an. Es ist im übrigen ganz unwahrscheinlich, daß die Verbindung der beiden Schreiben alt ist. Eusebius sagt ausdrücklich, daß er nichts von einer Anerkennung des 2. Briefes bei f r ü h e r e n Schriftstellern weiß (Hist. eccl. 3.28.4), während er den 1.Brief gut bezeugt g e f u n d e n hat und d a f ü r auch Belege a n f ü h r t (4.23.11; 5.6.3). Das beweist, daß die beiden Schreiben in der Zeit vor Eusebius nichts miteinander zu tun hatten. D e r 2. Clemensbrief selbst sagt nichts über seinen Verfasser; der Titel erscheint lediglich in den späteren Uber- und U n t e r schriften der Handschriften. Eine Adresse und einen G r u ß gibt es nicht, da es sich nicht um einen Brief, sondern um eine Predigt oder predigtartige Programmschrift handelt. Also fehlen äußere Hinweise auf den Entstehungsort des 2. Clemensbriefes. W i r sind d a f ü r allein auf seinen Inhalt angewiesen. Die Annahme der ägyptischen H e r k u n f t des 2. Clemensbriefes w ü r d e manche Rätsel seines Inhaltes lösen. Es ist nämlich auffallend, daß dieses Schreiben auf der einen Seite eine sehr einfache praktische Frömmigkeit vertritt. H a n s Windischs Urteil darüber ist o f t wiederholt w o r d e n : „Somit ist die theologische Grundlage des 2.Clem. kurz gesagt als spätjüdisch verstandenes und spätjüdisch verflachtes synoptisches Christentum zu verstehen." Im Mittelp u n k t steht der Ruf zur Buße und die A u f f o r d e r u n g zu guten W e r ken angesichts des k o m m e n d e n Gerichts. Jesus ist in erster Linie Lehrer; nichts weist auf eine entwickelte Christologie hin. Aber auf
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der anderen Seite stehen deutliche Beweise dafür, daß der 2. Clemensbrief nicht in der frühesten Zeit des Christentums entstanden sein kann. Die zitierten Jesusworte setzen das Matthäus- und Lukasevangelium voraus, vielleicht eine auf Grund dieser beiden Evangelien verfaßte Harmonie von Herrenworten. 2.Clem.8.5 verweist auf das schriftliche „Evangelium" als eine feste Größe (allerdings muß bei dem Hinweis auf „die Apostel" 2.Clem. 14.2 noch nicht an Schriften unter der Autorität der Apostel gedacht werden). Zu der sonst recht einfachen Vorstellung von Jesus Christus will auch nicht passen, daß 2.Clem. 14.2 der Satz aus Gen. 1,27, „Gott schuf den Menschen einen Mann und eine Frau," ausgelegt wird als Rede von Christus und der Kirche, die wiederum als Leib Christi bezeichnet ist. Das setzt den deutero-paulinischen Epheserbrief voraus oder parallele Spekulationen über die himmlischen Wesenheiten von Kirche und Christus im Anschluß an Gen. 1,27. Bei einem Datum in der 1. Hälfte des 2. Jh. würde das - bei der im besten Falle sonst nur sehr gelegentlichen Benutzung der Paulusbriefe, die doch wenigstens in Korinth zu dieser Zeit gut bekannt waren - zu einer ägyptischen Herkunft gut passen. Was wie „spätjüdisch verstandenes... synoptisches Christentum" aussieht, ist ein Gemeindechristentum, das sich auf die Grundprinzipien praktischer und aktiver Frömmigkeit beruft, um sich so gegen die vorherrschende gnostische Richtung behaupten zu können. Daß der Verfasser sich im Kampfe mit den Gnostikern befindet, ist ganz eindeutig. „Gnosis" ist für ihn mit dem Bekenntnis dessen, der uns erlöst hat, identisch: „Und wie bekennen wir ihn? Indem wir tuen, was er sagt, und gegen seine Gebote nicht ungehorsam sind" (2. Clem. 3.2). Auch das gnostische Heilsgut der himmlischen Ruhe wird kritisch interpretiert: Man findet sie, wenn man Christi Willen tut (6.7). Besonders betont wird, daß dieses unser Fleisch der Tempel Gottes ist, und es wird ausdrücklich verboten zu sagen, das Fleisch werde weder gerichtet werden noch auferstehen (9.1-3). In diesem Sinne gibt der Verfasser auch der gnostischen Spekulation über Gen. 1,27 betreffs der himmlischen Äonen Christus und Kirche eine neue Auslegung: Christus ist im Fleisch erschienen und hat in ihm die Kirche offenbart, um so zu zeigen, daß der, der sie im Fleisch bewahrt, sie auch im heiligen Geiste wiederempfangen werde (14.2-3). In diesem Zusammenhang finden sich die scharf antignostisch formulierten Sätze: „Das Fleisch ist das Abbild des Geistes", und „Bewahrt das Fleisch, damit ihr den Geist empfangt"
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(14,3). S o g a r die Auslegung eines Stückes aus einem gnostischen Evangelium wird versucht. 2 . C l e m . 12.2 zitiert „ W e n n die zwei eins sind, u n d das A u ß e r e wie das Innere, u n d das M ä n n l i c h e mit dem Weiblichen w e d e r männlich n o c h weiblich." Das S t ü c k findet sich im Thomasevangelium und im Ägypterevangelium (s.o.§ 11. 2b). D e r erste Satz heißt, daß m a n e i n a n d e r die W a h r h e i t sagt und so in zwei Leibern eine Seele w o h n t ; der zweite Satz spricht davon, d a ß die Seele o f f e n b a r wird in den W e r k e n , die der Leib vollbringt; d e r dritte S a t z spricht von B r ü d e r n u n d Schwestern, die anders als in sexuellen K a t e g o r i e n ü b e r e i n a n d e r d e n k e n (12.3-5). In dieser D e u t u n g will der V e r f a s s e r der offensichtlich gnostischen Intention dieses Jesuswortes die Spitze abbrechen. Die Beziehung z u r ägyptischen Gnosis liegt auf der H a n d ! Ist die ägyptische H e r k u n f t des 2. Clemensbriefes w a h r s c h e i n lich, so hätten wir hier den ersten Beweis vor uns, d a ß es ein C h r i stentum, das nicht gnostisch w a r , spätestens k u r z vor der Mitte des 2. J h . in Ägypten gegeben hat. W i e es d o r t h i n kam und w e r es heimisch machte, bleibt freilich im D u n k e l der Geschichte. Aber d a ß T r a d i t i o n e n der f r ü h k a t h o l i s c h e n Kirche u m diese Zeit in Ägypten heimisch w u r d e n , m u ß schon deshalb a n g e n o m m e n w e r d e n , weil wenigstens in Alexandrien in den letzten J a h r z e h n t e n des 2.Jh. eine kirchliche O r g a n i s a t i o n in E r s c h e i n u n g tritt, an d e r e n Spitze ein Bischof steht. b) A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit der Gnosis D a ß u m die Mitte des 2. J h . der f r ü h k a t h o l i s c h e n Kirche n a h e stehende Kreise Ägyptens z u m o f f e n e n Angriff auf die Gnosis übergingen, beweist die Epistula Apostolorum. Diese bis z u m J a h r e 1895 g a n z u n b e k a n n t e Schrift, von d e r seitdem eine vollständige äthiopische und eine die meisten Abschnitte e n t h a l t e n d e koptische U b e r s e t z u n g veröffentlicht w o r d e n sind, m u ß u m diese Zeit in Ägypten e n t s t a n d e n sein. O b w o h l die Schrift sonst nirgends b e z e u g t u n d deshalb die D a t i e r u n g unsicher ist, läßt sich dieses D a t u m aus der Stellung zu den später in das N T a u f g e n o m m e n e n Schriften erschließen. Die Evangelien des N T sind frei h e r a n g e z o g e n , o h n e als k a n o n i s c h e A u t o r i t ä t g e w e r t e t zu w e r d e n ; Paulus ist b e k a n n t , vor allem das Paulusbild d e r Apostelgeschichte; A n k l ä n g e an die paulinischen Briefe f i n d e n sich des ö f t e r e n , d o c h w e r d e n sie nie als m a ß g e b e n d e s W o r t des Apostels zitiert. Diese A n l e h n u n g an S p r a c h e und Schriften der paulinischen Kreise läßt darauf schließen, daß
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der Verfasser der Epistula Apostolorum von den Christen Kleinasiens oder Griechenlands abhängig war (s.u.§ 12. 2a-g). Die Frontstellung gegen die Gnosis Ägyptens ist aus Form und Inhalt der Schrift klar ersichtlich. Die Epistula Apostolorum übernimmt die literarische Form der gnostischen Offenbarungsrede, in der der Auferstandene den Jüngern himmlische Weisheit und Lehre vermittelt. Gegen den Anspruch der unter dem Namen einzelner Apostel umlaufenden Schriften stellt der Verfasser die Autorität aller Apostel: Johannes, Thomas, Petrus, Andreas, Jakobus, Philippus, Bartholomäus, Matthäus, Nathanael, Judas und Kephas (!), die sich mit dieser Schrift in der Form eines Briefes an die gesamte Kirche wenden. Der Erscheinung des Auferstandenen ist ein Abschnitt vorangestellt, der dem Glaubensbekenntnis der Kirche entsprechend zunächst von Gott dem Schöpfer und Erhalter der Welt redet, danach die irdische Erscheinung Jesu darstellt (hier ist Material aus den neutestamentlichen Evangelien und aus dem Kindheitsevangelium des Thomas verwendet). Bei der Auferstehung wird die Leiblichkeit der Erscheinung Jesu nachdrücklich betont (Epist. Apost. 1-12). Den zweiten Teil des Werkes könnte man als eine antignostische „Dogmatik" bezeichnen, die die wichtigsten Punkte des christlichen Glaubens systematisch behandelt. Voran stehen Fragen der Christologie: Durchgang Jesu durch die Himmel bei seinem Kommen, Inkarnation, Passah als Gedächtnis des Todes, Wiederkunft (13-19). Fragen der Eschatologie schließen sich an: Auferstehung des Fleisches zusammen mit Geist und Seele, Jüngstes Gericht (21-29; ein Exkurs über den Abstieg in die Unterwelt zur Predigt und Taufe für Abraham, Isaak und Jakob ist eingeschaltet: 27), Predigt an Israel und an die Heiden (30). Dies führt zu einem Exkurs über den Völkerapostel Paulus (31-33), der angesichts der Inanspruchnahme des Paulus durch die Gnostiker und seiner Ablehnung durch die Judenchristen seine Zuordnung zu den Aposteln der rechtgläubigen Kirche verteidigt. Den Beschluß bilden Ausführungen über die Bedrängnisse der Endzeit, das Schicksal der Sünder und der Gerechten und ihr Verhältnis zueinander (34-40). Die letzten Kapitel der Epistula Apostolorum stehen der Kirchenordnung gattungsmäßig nahe. Zunächst werden die Gemeindeämter „Vater" ( = Prediger der Offenbarung), Diener ( = Diakonos, mit der Taufe betraut) und Lehrer eingeführt (41-42). Die Lehre der christlichen Tugenden ist in einer ausführlichen Auslegung des Gleichnisses von den zehn Jungfrauen begründet
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(43-45). Die antignostische Spitze erscheint in der Bezeichnung der törichten J u n g f r a u e n als „Einsicht, Erkenntnis, Gehorsam, Geduld und Barmherzigkeit" (die letzteren vielleicht auch gegen das Judenchristentum gesagt), während die klugen J u n g f r a u e n „Glaube, Liebe, Gnade, Friede und H o f f n u n g " genannt sind. Anweisungen über Ansehen der Person, Vergebung und Ermahnungspflicht, Gemeindezucht und Exkommunikation folgen (46-49). Am Schluß des Buches steht eine W a r n u n g vor Irrlehrern (50) und eine kurze Beschreibung der H i m m e l f a h r t Jesu. Damit ist der Verfasser zu seinem Rahmen zurückgekehrt. Die Bedeutung dieser Schrift liegt darin, daß sie sich dem Anspruch der Gnostiker voll und ganz gestellt hat. Im gnostischen Christentum Ägyptens war O f f e n b a r u n g gleichbedeutend geworden mit der Vermittlung von Mysterienbüchern, in denen durch Christus oder einen anderen himmlischen O f f e n b a r e r die Wirklichkeit der jenseitigen Welt Gottes enthüllt wird und so dem geistigen Menschen seine eigentliche H e r k u n f t und Bestimmung erscheint. Die Epistula Apostolorum akzeptiert die Form der gnostischen Literatur. D e r Hauptinhalt ist in der T a t O f f e n b a r u n g s r e d e . Aber es ist ein offenes Buch, „ f ü r alle Welt aufgeschrieben" (1). Was Jesus sagt, ist die O f f e n b a r u n g s r e d e des himmlischen Gesandten, jedoch ist dieser Gesandte der Fleischgewordene, dessen menschliches Leben dargestellt werden kann. Die Gnostiker berufen sich auf Jesu W o r t e ; die Epistula Apostolorum beruft sich auf den Erzählungsstoff der Evangelienüberlieferung. W a s den Glaubenden über ihre wahre Existenz in der O f f e n b a r u n g s r e d e gesagt wird, betrifft nicht ihre himmlische Existenz sondern ihr weltliches Dasein, dessen Wirklichkeit als irdische E r f a h r u n g in einen eschatologischen Rahmen eingespannt ist, der es ermöglicht, über das Wesen des Glaubens in der Form der Tugendlehre und Kirchenordnung zu sprechen. Das Glaubensbekenntnis der frühkatholischen Kirche ebenso wie die ihm entsprechenden Evangelien, die später den neutestamentlichen K a n o n bilden sollten, haben das Material geliefert, durch das die O f f e n b a r u n g s r e d e Jesu zur kirchlichen W a f f e gegen die Gnosis werden konnte. Die spätere rechtgläubige Kirche hat diesen W e g aber nicht weiter beschritten, sondern dem Wachstum der als Rede Jesu vermittelten O f f e n b a r u n g durch die Kanonisier u n g der neutestamentlichen Evangelien ein Ende gesetzt. So geriet die Epistula Apostolorum bald in Vergessenheit.
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c) Die D u r c h s e t z u n g der kirchlichen O r g a n i s a t i o n Die E i n f ü h r u n g d e r kirchlichen O r g a n i s a t i o n , die endlich die Christenheit Ägyptens in den W e r d e g a n g der f r ü h k a t h o l i s c h e n E n t w i c k l u n g Syriens, Kleinasiens, G r i e c h e n l a n d s u n d R o m s einbezog, g e h ö r t eigentlich nicht m e h r in den R a h m e n dieses Buches; d e n n diese Frage f ü h r t in die zweite H ä l f t e des 2.Jh. Z w a r geben d e r 2. Clemensbrief und die Epistula A p o s t o l o r u m Zeugnis von d e r Festigung nichtgnostischer christlicher G e m e i n d e n in Ägypten. Sie beweisen, d a ß sich neben dem J o h a n n e s e v a n g e l i u m a u c h a n d e r e n e u testamentliche Schriften wie das M a t t h ä u s e v a n g e l i u m u n d die lukanischen Schriften d o r t heimisch m a c h t e n und d a ß m a n b e g a n n , die paulinischen Briefe zu lesen. D a r i n allein unterschieden sie sich freilich nicht von der ägyptischen Gnosis j e n e r Z e i t ; d e n n die Valentinianer b e a n s p r u c h t e n Paulus ebenso f ü r sich wie sie Evangelien der syrischen und kleinasiatischen Kirche ( M a t t h ä u s u n d Lukas) zu ben u t z e n lernten. Soweit w a r hier n o c h alles im Fluß, u n d m a n k o n n t e sich bestenfalls u m die Auslegung dieser Schriften streiten. Entschieden w u r d e der Streit erst g e g e n E n d e des 2. Jh., als die G e meinde Alexandriens die inzwischen ausgebildeten A u t o r i t ä t e n des neutestamentlichen K a n o n s und des kirchlichen Bischofsamts ü b e r n a h m . D e m e t r i u s , Bischof von Alexandrien seit 1 8 9 n C h r , w a r der erste K i r c h e n f ü h r e r Ägyptens, der d a m i t b e g a n n , die bischöfliche A u t o r i t ä t d u r c h z u s e t z e n . D a ß er u n d seine nächsten N a c h f o l g e r gegen die G n o s t i k e r sehr erfolgreich w a r e n , läßt sich bezweifeln. D e m e t r i u s ' Zeitgenosse, Clemens von Alexandrien, ein z u g e w a n d e r t e r christlicher P h i l o s o p h , b e k ä m p f t e z w a r die G n o s t i k e r , hielt aber an dem Ideal des Christen als w a h r e r G n o s t i k e r fest und k ü m m e r t e sich um bischöfliche A u t o r i t ä t wenig. A m A n f a n g des 3.Jh. m u ß t e O r i g e n e s , als Exeget und T h e o l o g e den G n o s t i k e r n weit überlegen, seinem rechtgläubigen Bischof weichen u n d sich im palästinischen C ä s a r e a eine neue Schule a u f b a u e n . N o c h h u n d e r t J a h r e später haben die M ö n c h e des P a c h o m i u s , des B e g r ü n d e r s des z ö n o bitischen M ö n c h t u m s , zu ihrer eigenen E r b a u u n g die gnostischen Schriften gelesen und abgeschrieben. Dieser T a t s a c h e v e r d a n k e n wir den H a n d s c h r i f t e n f u n d von N a g H a m m a d i : M ö n c h e des P a chomius-Klosters versteckten o f f e n b a r die k o s t b a r e n Schriften, u m sie v o r den staatlich sanktionierten K e t z e r b e k ä m p f e r n z u schützen. Rechtgläubigkeit und Ketzerei müssen also in Ägypten n o c h lange n e b e n e i n a n d e r und miteinander existiert haben.
§12
KLEINASIEN, GRIECHENLAND, ROM
1. Die Erneuerung
PH.
VIELHAUER,
Apokalyptik
des
der
Apokalyptik
Urchristentums,
N TApoll,
3
1964,
428-454. Zua: Zur nichtpaulinischen Herkunft des zweiten Thessalonicherbriefes, Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, 3 1971, 105-209.
H.BRAUN,
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M.WHITTAKER,
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a) Apokalyptik in den paulinischen Gemeinden Die Christenheit Kleinasiens und Griechenlands hat sich in der Zeit nach Paulus ganz anders entwickelt als die Gemeinden in Syrien und Ägypten. Rom ist bald in diese Entwicklung einbezogen worden, ebenso Antiochien, das von Anfang an mit dem Kreis der paulinischen Gemeinden in Verbindung stand. Die Besonderheit des Werdens dieser Gemeinden läßt sich nicht einfach durch den Hinweis auf die paulinische Mission erklären, obgleich wichtige Impulse von ihr ausgegangen sein müssen. Die paulinischen Briefe bezeugen, daß Paulus und seine Mitarbeiter der Festigung dieser Gemeinden besondere Aufmerksamkeit widmeten, um ihren Fortbestand zu sichern. Man muß aber auch in Betracht ziehen, daß die soziale und wirtschaftliche Struktur des paulinischen Missionsgebietes sich grundsätzlich von der Ägyptens und des syrischen Hinterlandes unterschied. Der Charakter Griechenlands und des westlichen Teils Kleinasiens wurde durch eine große Zahl von Städten bestimmt, die gerade in dieser Periode eine Zeit großen Wohlstands erlebten. Entsprechende Stadtkulturen gab es in Syrien lediglich in einigen Küstenstädten, allen voran Antiochien, und in Ägypten hatte es außer Alexandrien keine nennenswerten Städtegründungen gegeben (s.o. §2.4a). Zur Stadtkultur gehörten höherer Wohlstand, Zugang zur Bildung, größere persönliche Freiheit, Freizügigkeit und Mobilität der Bevölkerung, große Vielfalt des Angebots am religiösen Markt; ebenso aber auch Sklavenarbeit in Haus und Gewerbe (diese Sklaven waren gebildeter und hatten mehr Freiheit als die Sklaven auf dem Lande!), ein unstetes und entwurzeltes Proletariat, eine verunsicherte bürgerliche Moral, Tempel für den Kaiserkult und römische Soldaten und Verwaltungsbeamte. Die Stadt Rom, die von alledem übergenug hatte, war schon zu Zeiten des Paulus in den Gesichtskreis der christlichen Gemeinden Kleinasiens und Griechenlands getreten und nahm während der folgenden Jahrzehnte an ihrer Entwicklung teil, wobei die Füh-
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rungsrolle auf lange Zeit bei den G e m e i n d e n des griechischen O s t e n s blieb. U n t e r den vielfachen religiösen E r s c h e i n u n g e n der nachpaulinischen Zeit fällt in den J a h r z e h n t e n bis z u r W e n d e des 1 .Jh. die E r n e u e r u n g d e r apokalyptischen E r w a r t u n g auf. Paulus selbst hatte an d e r E r w a r t u n g des baldigen K o m m e n s Jesu festgehalten, o h n e sich auf S p e k u l a t i o n e n über den Z e i t p u n k t einzulassen. D a ß sich das P r o b l e m der V e r z ö g e r u n g der Parusie bei Paulus geltend m a c h te, läßt sich nicht nachweisen (auch nicht im l . T h e s s a l o n i c h e r brief; s.o.§9. 2d). Polemisch hatte sich Paulus gegen eine V e r k ü r z u n g der apokalyptischen E r w a r t u n g zu einer realisierten E s c h a t o logie g e w a n d t (s.o.§9. Je z u m 1 . K o r i n t h e r b r i e f ) . D a ß die E r w a r t u n g d e r Parusie n a c h dem T o d e des Paulus in seinen G e m e i n d e n fortlebte, k a n n als sicher a n g e n o m m e n w e r d e n . D a m i t w a r aber auch das P r o b l e m gestellt: E n t w e d e r b e d u r f t e die eschatologische E r w a r t u n g einer E r n e u e r u n g , o d e r die V e r z ö g e r u n g der Parusie verlangte nach einer E r k l ä r u n g . D a s P r o b l e m meldete sich in der T a t in dieser F o r m an. Das beweist der 2 . T h e s s a l o n i c h e r b r i e f . D e r 2. Tbessalonicherbrief wird von vielen G e l e h r t e n als echter Paulusbrief angesehen. M a n m ü ß t e den Brief d a n n in unmittelbare N a c h b a r s c h a f t des l . T h e s s a l o n i c h e r b r i e f e s setzen u n d a n n e h m e n , d a ß Paulus wenige W o c h e n nach d e m ersten Briefe w e g e n einer plötzlich v e r ä n d e r t e n Sachlage nochmals, und z w a r im Sinne einer dem ersten Briefe w i d e r s p r e c h e n d e n eschatologischen E r w a r t u n g , an die G e m e i n d e geschrieben hätte. G a n z eindeutig g e k e n n z e i c h net ist die Situation d u r c h den H i n w e i s auf G e g n e r , die v e r k ü n d e ten, d a ß d e r T a g des H e r r n da sei. D a b e i beriefen sich diese G e g n e r auf prophetische Inspiration sowie auf einen Brief des Paulus (2. Thess. 2 , 1 - 2 ) . Eine solche Situation w ä r e f ü r einen Z e i t p u n k t unmittelbar nach der A b f a s s u n g des l . T h e s s a l o n i c h e r b r i e f e s k a u m d e n k b a r . Sie p a ß t viel besser in eine Zeit nach dem T o d e des P a u lus, als die Briefe als V e r m ä c h t n i s des toten Apostels neu an Bedeut u n g g e w a n n e n . Diese A n n a h m e w ü r d e auch viele Schwierigkeiten u n d P r o b l e m e des 2.Thessalonicherbriefes erklären. Eigenartig ist die u n g e w ö h n l i c h h ä u f i g e B e z u g n a h m e auf den 1.Thess.; ein Drittel des 2.Thess. besteht aus Sätzen und W e n d u n g e n , die dem 1. Thess. e n t n o m m e n sind. J e d o c h finden sich g e r a d e d a n n W ö r t e r u n d Begriffe, die Paulus sonst nie g e b r a u c h t o d e r in a n d e r e m Sinne verwendet. Typisch paulinische G e d a n k e n w e r d e n t r o t z teilweise wörtlicher A n l e h n u n g an 1. Thess. in eine sonst nicht bei P a u -
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lus nachweisbare Richtung abgewandelt: l.Thess. 1,4-10 ist die Erfahrung von Trübsal eine Bestätigung der Gewißheit der Erwählung; 2.Thess. 1,4-10 beweist sie, daß Gott gerechterweise Verfolgern und Verfolgten die entsprechende Vergeltung zukommen lassen wird. l.Thess. 3,8 spricht vom festen Stehen der Gemeinde ,,im H e r r n " ; 2.Thess.2,15 definiert das Feststehen als Festhalten an den Überlieferungen, die in Wort und Brief des Apostels gelehrt werden. l.Thess. 1,5-7 bezieht sich der Gedanke der Nachahmung (des Paulus und des Herrn) auf die Annahme der Verkündigung in viel Trübsal, wodurch die Gemeinde wiederum zum Vorbild für die Annahme des Wortes andernorts geworden ist; daß Paulus Tag und Nacht mit seinen Händen gearbeitet hat, war kein nachahmenswertes Beispiel, sondern Ausdruck seiner Liebe (l.Thess.2,89); 2.Thess.3,7-10 sagt „Paulus", er habe Tag und Nacht im Schweiße seines Angesichts gearbeitet, damit die Gemeinde an ihm ein Vorbild habe, das sie fleißig schaffend nachahmen kann: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen!" Daß die aufopfernde Tätigkeit des Völkerapostels nicht mehr als Dienst am Evangelium, sondern als Warnung vor der Faulheit verstanden wird, sollte keinen Zweifel daran lassen, daß wir es hier mit einer grundsätzlich neuen Situation zu tun haben. Die Ankündigung der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft des Herrn ist zur Bedrohung für eine Gemeinde geworden, deren verantwortliches Handeln in der Welt verlangt, daß die Parusie in eine kalkulierbare Distanz gerückt wird. Das ist das Hauptthema dieses Briefes. Was für Vorstellungen die Gegner mit der Ankündigung der Ankunft des Tages des Herrn verbanden, läßt sich nicht mehr erkennen. Waren es Gnostiker, die unter Berufung auf l.Thess.5,5 die ständige Gegenwart der endgültigen Erlösung für die Glaubenden behaupteten? Das ist nicht wahrscheinlich. Denn dann hätte es zu ihrer Widerlegung nicht der Darstellung eines bestimmten, wenn auch geheimnisvollen eschatologischen Zeitplanes bedurft. Der Verfasser scheint sich mit den Gegnern darin einig zu sein, daß die Parusie als eschatologisches Ereignis dem Lauf der Welt ein Ende setzen wird. Er bekämpft ihre Zeitansage; würde die Gemeinde sie ernst nehmen, dann könnte die auf die paulinische Missionsarbeit zurückgehende Lebensordnung der Gemeinde ins Wanken geraten. So wichtig dem Verfasser die Eschatologie ist, die Gegenwart darf nicht unter eschatologischen Vorzeichen verstanden werden. Die gegenwärtige Erfahrung der Trübsal ist also kein Zei-
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chen d e r unmittelbar b e v o r s t e h e n d e n Parusie. Deshalb nimmt der V e r f a s s e r die R e d e von d e r T r ü b s a l aus dem R a h m e n unmittelbarer eschatologischer E r f a h r u n g heraus u n d stellt sie u n a b h ä n g i g davon in eine B e z i e h u n g zu W i e d e r k u n f t und Gericht (2.Thess. 1,4-10). Erst d a n n zitiert er die Botschaft d e r G e g n e r ( 2 . T h e s s . 2 , l - 2 ) u n d setzt zu ihrer W i d e r l e g u n g seinen eigenen eschatologischen Zeitplan auseinander (2,3-12). D a n a c h ist gültiges V o r z e i c h e n der Parusie die E r s c h e i n u n g des Antichristen. Als „ M e n s c h der U n g e s e t z l i c h k e i t " und „ S o h n des V e r d e r b e n s " wird er mit traditionellen Begriffen der jüdischen A p o k a l y p t i k beschrieb e n : er wird sich Göttlichkeit a n m a ß e n und sich in den T e m p e l G o t t e s setzen (hier w e r d e n U b e r l i e f e r u n g e n der A p o k a l y p t i k zitiert; d a h e r m u ß m a n nicht an den T e m p e l in Jerusalem d e n k e n ) . D a r ü b e r hinaus bietet 2.Thess. 2 , 8 - 1 2 eine G e g e n ü b e r s t e l l u n g von Antichrist u n d Jesus, in der d u r c h die V e r w e n d u n g antithetischer F o r m u l i e r u n g e n und d u r c h Alliterationen z u m ersten Mal in der christlichen Literatur eine „ A n t i - C h r i s t o l o g i e " vorgelegt w i r d , die g e n a u e E n t s p r e c h u n g e n z u r Christologie aufweist. Ein wichtiges A r g u m e n t in d e r D a r l e g u n g des eschatologischen Zeitplanes ist der H i n w e i s auf das, „ w a s ( o d e r : den, der) den Antichristen j e t z t noch z u r ü c k h ä l t " (2,6-7). N a t ü r l i c h m ö c h t e der Leser gern wissen, was ( o d e r : wer) diese geheimnisvolle M a c h t ist. M a n hat vorgeschlagen, dabei an den römischen Staat zu d e n k e n als die O r d n u n g s m a c h t , die das C h a o s der E r s c h e i n u n g des Antichristen a b w e h r t . W a h r s c h e i n l i c h e r ist die A n n a h m e , daß es sich um eine m y t h o l o gische Gestalt der A p o k a l y p t i k handelt. Das nächstliegende Beispiel w ä r e d e r Engel, d e r den Satan auf tausend J a h r e bindet ( O f f b . 2 0 , 1 - 3 ) . M a n m u ß aber auch die Intention dieser apokalyptischen S p r a c h e in R e c h n u n g stellen. D e r V e r f a s s e r m a c h t keinerlei A n d e u t u n g e n über die Identität dieser geheimnisvollen M a c h t o d e r Gestalt. W a r u m nicht? Weil er keineswegs im Sinne hat, das Rätsel f ü r den Leser zu lösen! D a s Geheimnis soll geheimnisvoll bleiben. Im gleichen Sinne hat M k . 13,14 auf „ d e n G r e u e l der V e r w ü s t u n g , der d o r t steht, w o er nicht soll," verwiesen. M a t t h ä u s (24,15) w u ß t e freilich, d a ß es sich dabei um ein Z i t a t aus Daniel h a n d e l t e er w a r eben Schriftgelehrter. A b e r der Leser von 2. Thess. 2 , 6 - 7 soll g a r nicht wissen, w o r u m es sich handelt. D u r c h diesen geheimnisvollen H i n w e i s wird n u r verdeutlicht, d a ß die Z u k u n f t noch nicht b e g o n n e n hat. N u r darauf k o m m t es an. D e r V e r f a s s e r des Briefes d e n k t nicht einmal im T r a u m d a r a n , seinen Lesern Hilfestel-
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lung für eine genaue Vorausberechnung der Parusie zu geben. Es genügt, daß die radikalisierte Eschatologie der Gegner zurückgewiesen wird. Der rechtgläubige Christ wird auf die Gegenwart gewiesen, für deren Verständnis die eschatologische Spekulation gar nichts austrägt. Die Zukunft ist nicht kontrollierbar; das ist seither gute Theologie. Es kommt einzig darauf an, daß die durch Paulus begründete Verantwortlichkeit der Gemeinde in der Welt bestätigt wird. Dem dienen die folgenden Ermahnungen, mag man sie nun „moralisierend" nennen oder nicht. Ein entscheidender Schritt ist hiermit getan. Durch die Übernahme apokalyptischen Materials ist die Eschatologie aus der Deutung der Gegenwart ausgegrenzt. Nur durch die Erwartung des kommenden Gerichts bestimmt sie noch das Verhalten in der Gegenwart. Gleichzeitig wird Paulus, der deutlich genug als Ursprung kirchlicher Uberlieferung bezeichnet wird (2.Thess.2,15), von dem Verdacht befreit, Vertreter einer radikalen eschatologischen Sicht zu sein. Während bei Paulus apokalyptische Traditionen noch so interpretiert wurden, daß sie unmittelbar die Dimensionen des Heilsereignisses verdeutlichten (zu dem die Gemeinde hinzugehört), macht die hier in Erscheinung tretende Erneuerung der Apokalyptik eschatologische Erwartungen zu Lehren über zukünftige Ereignisse. Das christliche Verhalten kann sich an ihnen nicht länger orientieren, ist vielmehr angewiesen, sich auf eine Moral einzustellen, die in der bürgerlich-städtischen Umwelt bestehen kann (2.Thess. 3,6ff; unter ausdrücklicher Berufung auf Paulus!). b) Apokalyptik und Gnosis Es ist zu erwarten, daß diese erneuerte Übernahme apokalyptischer Traditionen nicht nur im Kampf gegen den eschatologischen Enthusiasmus, sondern auch in der Auseinandersetzung mit der Gnosis eine Rolle spielen würde. Ein Zeugnis dafür ist der Judasbrief. Zwar läßt sich Alter und Herkunft dieses kurzen Schreibens nicht mehr genau bestimmen. Aber die Frontstellung der erneuerten Apokalyptik gegen die Gnosis ist so eindeutig, daß der Judasbrief am besten in diesem Zusammenhang behandelt wird. Die Existenz des Judasbriefes wird zum ersten Mal durch den 2. Petrusbrief bezeugt, dessen 2. Kapitel den Judasbrief neu bearbeitet wiedergibt (s.o.§7.3e). In seiner unreflektierten Übernahme apokalyptischer Tradition ist der Judasbrief aber wesentlich älter als der 2. Petrusbrief; er mag also bereits in den letzten Jahrzehnten des
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l . J h . entstanden sein. D a f ü r spricht auch, das der als Verfasser beanspruchte Judas, Bruder des Jakobus, also o h n e Zweifel ein Bruder Jesu (vgl.Mk.6,3; Mt. 13,55), zu dieser Zeit noch bekannt gewesen sein d ü r f t e (vgl. Hegesipp bei Euseb, Hist. eccl. 3.19-20). In einer späteren Zeit hätte die Inanspruchnahme dieses Pseudonyms kaum Sinn gehabt. Sie bleibt auch so merkwürdig genug. In Anbetracht des antignostischen Charakters dieser Schrift kann man noch eine andere Erklärung des Namens „ J u d a s " erwägen. Judas der Zwilling ( = T h o m a s ) w a r in gnostischen Kreisen als Autorität anerkannt, auch später als Bruder Jesu bezeichnet (s.o.§ 10. / b ) . Ist „ J u d a s " als Verfasser f ü r einen antignostischen Brief aus diesem G r u n d e herangezogen, und wird aus polemischen G r ü n d e n „Bruder des J a k o b u s " (anstelle von Bruder Jesu) gesagt? W ä r e das der Fall, dann gehörte dieses Schreiben allerdings nach Syrien. U m einen echten Brief handelt es sich beim Judasbrief nicht. Es ist eine Streitschrift, die sich nicht an besonders gekennzeichnete Adressaten richtet. Sie beruft sich allgemein auf den Glauben, der den Heiligen überliefert ist, und auf die Autorität „ d e r Apostel unseres H e r r n Jesu Christi" (Jud. 3 und 17). Beide sind bereits feste G r ö ß e n , die einfach vorausgesetzt werden. Ebensowenig werden die Gegner genauer charakterisiert. D a ß Gnostiker gemeint sind, ergibt sich aus der polemischen U m k e h r u n g des gnostischen Anspruchs: „diese Psychiker, die kein Pneuma besitzen" (Jud. 19). Viele der biblischen Beispiele, die der Verfasser heranzieht, gehören zur typischen Ausrüstung gnostischer Spekulation: Sodom und G o m o r r a (7), Kain (11), ebenso die gefallenen Engel (6). Darin erschöpft sich das angeführte polemische Material jedoch keineswegs, und es kann kein Zweifel bestehen, daß alle diese in gutem Griechisch, aber in einem maßlosen Stil geschriebenen Verteufelungen der Gegner auf jüdisch-apokalyptischem Material beruhen. U n d zwar handelt es sich um schriftliche Quellen, von denen sich die H i m m e l f a h r t des Moses (Jud. 9) und die Henoch-Apokalypse ( A t h i o p . H e n o c h ; Jud. 14f) noch identifizieren lassen. Es geht dabei immer um die A n d r o h u n g des eschatologischen Gerichts und Verderbens, mehrfach unterbrochen durch abfällige Charakterisierungen der Gegner, an denen kein ganzes H a a r gelassen wird. Erklären läßt sich das nur aus einer apokalyptischen Sicht der vergangenen Geschichte und der Gegenwart, f ü r die kompromißlos die ganze Menschheit in zwei G r u p p e n zerfällt, die Auserwählten G o t tes und die Gottlosen. Damit stehen wir vor einem der stärksten
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Anstöße, die in den werdenden christlichen Gemeinden zu einer T r e n n u n g von Rechtgläubigen und Ketzern führte. Die im Judasbrief in Erscheinung tretende apokalyptische Grundüberzeugung verlangt diese Scheidung, die in der Situation, die dieser Brief voraussetzt, noch nicht eingetreten ist; denn die angegriffenen Gnostiker nehmen an den gemeinsamen Zusammenkünften und Mahlzeiten teil (Jud. 12). Der Judasbrief zeigt, daß die Erneuerung des apokalyptischen Denkens sich der friedlichen Koexistenz der miteinander konkurrierenden christlichen Anschauungen entgegenstellen mußte. Der Kampf um die Reinheit der Gemeinde setzt sich auch in anderen Zeugnissen der erneuerten christlichen Apokalyptik fort. c) Kritik an der apokalyptischen Erwartung Mag es sich beim 2.Thessalonicherbrief zunächst um eine singulare Erscheinung im Bereich der paulinischen Gemeinden handeln, und muß auch H e r k u n f t und Zeit des Judasbriefes unsicher bleiben, so beweist die Offenbarung des Johannes eindeutig, daß die Erneuerung der Apokalyptik gegen Ende des l.Jh. im Umkreis der paulinischen Gemeinden Kleinasiens festen Fuß gefaßt hatte. Die O f f e n b a r u n g Johannis darf nicht als Propagierung apokalyptischer Vorstellungen verstanden werden; sie ist vielmehr eine kritische Auseinandersetzung mit bereits bestehenden apokalyptischen Anschauungen und Spekulationen. So sehr apokalyptische Vorstellungen und Traditionen in dieser Schrift Verwendung gefunden haben, so wenig paßt die Bezeichnung „Apokalypse" auf dieses christliche Buch, das so ganz gegen seine ursprüngliche Absicht immer wieder in der Geschichte des Christentums bis in die Gegenwart Quelle und Inspiration apokalyptischer und chiliastischer Bewegungen gewesen ist. Die O f f e n b a r u n g Johannis ist im Unterschied zu anderen Apokalypsen, die unter N a m e n von biblischen Autoritäten wie H e noch, Esra, Daniel, usw. verfaßt worden sind, nicht pseudepigraph, noch sind die empfangenen Visionen an einem fiktiven O r t lokalisiert. Es besteht kein Grund zu bezweifeln, daß dieses Buch wirklich von Johannes geschrieben wurde (Offb. 1,1.9) und daß die Insel Patmos tatsächlich der O r t der Abfassung war (1,9). N u r wissen wir nicht, wer dieser Johannes war. Mit dem Verfasser des Johannesevangeliums kann er nicht gleichgesetzt werden. Das verbieten die Unterschiede in Sprache und Begrifflichkeit und die völlig
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verschiedene Art des theologischen Denkens und Argumentierens. D e r Verfasser kennt die Verhältnisse der kleinasiatischen Gemeinden, an die er schreibt, ziemlich genau, gehört also selbst zum Kreis dieser Gemeinden, und man wird dort genau gewußt haben, wer dieser Johannes war. Ephesus, wohin das erste der sieben Sendschreiben gerichtet ist ( 2 , 1 - 7 ) , mag seine Heimatgemeinde gewesen sein. Man kann vermuten, daß die Herkunft dieses Johannes aus Ephesus mit dazu beigetragen hat, daß sich dort eine Uberlieferung von „ J o h a n n e s " bildete, der dann mit dem Zebedaiden gleichgesetzt wurde und die mit dem Johannesevangelium und den Briefen verbundene Johannesüberlieferung später nach Ephesus zog. D e r Verfasser der Offenbarung hat diese Schriften nicht gekannt. In der Offenbarung Johannis finden sich auch keinerlei fiktive Angaben über die Situation des Verfassers und der Gemeinden, an die er sich richtet. Daß Johannes sich „wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses J e s u " (1,9) auf Patmos aufhielt, läßt darauf schließen, daß er wegen seiner Tätigkeit als christlicher Missionar und Gemeindeleiter verbannt war oder hatte fliehen müssen. Es handelt sich also um eine Zeit der Verfolgung, und zwar einer die ganze Christenheit bedrohenden Verfolgung, deren erste Anfänge bereits sichtbar sind ( v g l . z . B . 2 , 1 3 ; vor allem aber die Andeutungen einer generellen Verfolgung 3 , 1 0 ; 6 , 9 f f u . ö . ) . Läßt sich genaueres über diese Situation und damit auch über die Zeit der Abfassung des Buches sagen? Nach Offb. 13 und 17 wird die große Verfolgung von seilen des römischen Staates erwartet; das Tier aus dem Abgrund ist der römische Kaiser, Babylon die Stadt Rom. Aus der Zeit bis zur Mitte des 2. Jh. gibt es nur zwei Perioden, in denen der römische Kaiser für die Christen (und für viele andere) glaubwürdig als Zerstörer der Rechtsordnung des Staates und als Lästerer Gottes dargestellt werden konnte, nämlich die zweite Hälfte der Regierungszeit Neros ( 5 4 - 6 8 ) und die letzten Jahre Domitians ( 8 1 - 9 6 ) . Jedoch handelte es sich bei der Christenverfolgung Neros nur um auf die Stadt Rom beschränkte Exzesse, und N e r o hat zwar ein krankhaftes Interesse gehabt, seine eigene Person in der Öffentlichkeit feiern zu lassen, er hat aber die göttliche Verehrung des Kaisers nicht systematisch gefördert (s.o. §6. 2a). Daher paßt die domitianische Religionspolitik und seine grausam durchgesetzte Forderung, zu seinen Lebzeiten als „ H e r r und G o t t " verehrt zu werden (s.o. § 6 . 2b und § 6 . 5b), besser auf die Situation, die für die Entstehung der Offenbarung des Johannes vorausgesetzt wer-
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den muß. Eine weltweite Christenverfolgung hat freilich auch D o mitian nicht angeordnet. Die Stadt Rom, aus der die „Philosophen" vertrieben wurden, wo die Christen in Bedrängnis gerieten (s.u. zum 1. Clemensbrief, §12.2e), und wo sogar Mitglieder des kaiserlichen Hauses (wegen ihrer Zuneigung zum Christentum?) hingerichtet wurden, hatte mehr unter diesem Gott auf dem Kaiserthron zu leiden als andere Teile des Reiches. Kleinasien jedoch, das mehr und mehr zur Hochburg des Kaiserkultes wurde, war unmittelbar betroffen. In Ephesus ordnete Domitian den Bau eines großen Tempels an, der seiner göttlichen Verehrung dienen sollte. Die großen gewölbten Fundamente dieses Bauwerks sind noch erhalten, und im Museum kann man Kopf und Arm der überlebensgroßen Statue des Gottes Domitian bewundern. Gleichzeitig scheint Kleinasien ganz besonders unter den zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Regierungszeit Domitians gelitten zu haben. Darauf wird vielleicht mit Bemerkungen wie Offb. 6,6 angespielt. D a s westliche Kleinasien mit seinen rasch wachsenden Christengemeinden bot zur Zeit Domitians die besten Voraussetzungen für eine Entwicklung, in der sich die bisher ohnehin unsichere politische Situation des Christentums zu einer direkten Konfrontation mit dem römischen Staat zuspitzen konnte. Hier geht es zum erstenmal bewußt um die Auseinandersetzung zwischen Christus und Cäsar. Den Christen blieb es nicht erspart zu sagen, wie es eigentlich mit dem Herrschaftsanspruch Christi in Bezug auf eine konkrete politische Situation bestellt sei. D a z u hatte sie der Göttlichkeitsanspruch Domitians gezwungen. Die aus dem Diasporajudentum übernommene und von Paulus Rom. 13,1 ff angeführte Formel von der Obrigkeit, „die von Gott ist", wurde ernsthaft in Frage gestellt. N u r aus der gnostischen Perspektive ließ sich das so gestellte Problem überspielen, indem man das gesamte sichtbare Weltgeschehen, und damit auch die Weltgeschichte, als das Schattenspiel einer Scheinwelt ansah - wie grausig es auch immer sein mochte; es ist eben die Welt des Irrtums, des Weltschöpfers und seiner Engel und Dämonen, - keineswegs sympathisch, aber ohne wirkliches Sein. Aus der Sicht einer von Gott gelenkten Geschichte, die auf ein von Gott verheißenes Ziel zuging, mußte jedoch eine Antwort gefunden werden, die den geschichtlichen Erfahrungen der bedrängten Christenheit einen Sinn gab. Diese Antwort zu geben, hat sich der Verfasser der Offenbarung Johannis zur Aufgabe gemacht.
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Dem heutigen Verständnis ergeben sich allerdings Schwierigkeiten wegen der durchgehenden Verwendung apokalyptischer Sprache, Bilder und Vorstellungen, wodurch f ü r uns die politischen Aussagen und geschichtlichen Bezüge oft verdeckt werden. W a r u m das Buch sich in einem solchen Maße auf die Sprache der Apokalyptik einläßt, kann nicht einfach durch den allgemeinen Hinweis auf das mythologische Weltbild jener Zeit beantwortet werden. Es gab Alternativen. Josephus bediente sich zur gleichen Zeit des Mittels der apologetischen Geschichtsschreibung. Aber die Apokalyptik bot Möglichkeiten der Aussage, die in jenen Jahrzehnten von christlichen Gemeinden in zunehmenden Maße ausgenutzt wurden. Die Apokalyptik hatte sich bereits im Judentum als Mittel einer distanzierten Welterklärung und Zukunftsdeutung durchgesetzt, aus der die Gemeinde der Auserwählten H o f f n u n g und Gewißheit schöpfen konnte, ohne sich von den Verwirrungen der Gegenwart beunruhigen zu lassen. In diesem Sinne verwendete, wie wir sahen, der Verfasser des 2.Thessalonicherbriefes das apokalyptische Schema (s.o.§ 12. 7a), ebenso die nach der Zerstörung Jerusalems entstandenen Apokalypsen des Esra (4.Esra) und des Baruch (Syr.Baruch; s.o.$6. 6f). Auf der anderen Seite waren apokalyptische Vorstellungen in der religiösen und politischen Propaganda heimisch geworden. Der jüdische Krieg und der Untergang Jerusalems geben einen schauerlichen Beweis ihrer Wirkung. D e r J o h a n nes des Buches der Offenbarung, selbst jüdischer H e r k u n f t , kommt aus der Tradition der apokalyptischen Auslegung der Geschichte. Es gab f ü r ihn deshalb keine andere Möglichkeit, als die Konsequenzen der apokalyptischen Sprache und ihres Weltbildes auszuloten, um sich so in den Gemeinden Gehör zu verschaffen. Die Konfrontation des Christuskultes mit dem Kaiserkult hatte die apokalyptische Welterklärung herausgefordert, die sich im Christentum Kleinasiens und Griechenlands einer wachsenden Beliebtheit erfreute. Die O f f e n b a r u n g , nächst den Evangelien und der Apostelgeschichte die längste Schrift des N T , hat in großer Ausführlichkeit umfangreiches Material an religiösen Traditionen jüdischer, christlicher und heidnischer H e r k u n f t verarbeitet, das der Verfasser im wesentlichen aus der jüdischen oder jüdisch-christlichen Apokalyptik bezog. Das Alte Testament spielt eine große Rolle, wird häufig angeführt, aber nie zitiert. Alttestamentliche Sätze stehen oft dem hebräischen Text näher als die entsprechenden Stellen in der Ubersetzung der Septuaginta. Die Sprache des Buches
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will sich den Gesetzen griechischer Prosa nur schlecht fügen, und die poetischen Stücke (Hymnen, Doxologien, Gebete) spiegeln den Stil semitischer Dichtung wider. Die Annahme der Benutzung von schriftlichen Quellen, die aus dem Hebräischen oder Aramäischen übersetzt wurden, ist aber deshalb ebensowenig erforderlich wie die Hypothese der Überarbeitung einer älteren jüdischen oder judenchristlichen Schrift. Die Versuchung, auf solche Theorien zurückzugreifen, liegt freilich auch wegen der Beobachtung nahe, daß sich das Buch nicht als Darstellung zeitlich aufeinanderfolgender Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in apokalyptischer Sicht begreifen läßt. N u r muß man stärker die Eigenheiten der apokalyptischen Sprache sowie der Methoden der Interpretation innerhalb überlieferter Traditionskomplexe in Rechnung stellen. Apokalyptische Sprache zieht Assoziationen in der Bilderfolge der logischen Progression vor, läßt Einzelzüge und Metaphern unverbunden nebeneinander stehen statt sie zu einem Gesamtgemälde zu verschmelzen, wiederholt traditionelles Material kommentarlos, um dann durch auffallende Auslassungen oder Zusätze die Richtung der Neu-Interpretation anzuzeigen. Die Anschauung des Verfassers kommt nicht im Bildgehalt der geschauten Visionen sondern vielmehr in ihrer Anordnung, Reihenfolge und Zählung zum Ausdruck, in kommentierenden Zusätzen und Unterbrechungen des Zusammenhangs, sowie durch hymnische, liturgische und paränetische Einfügungen. Als Hauptmittel der Gliederung hat der Verfasser die Anordnung von je sieben Stücken in den einzelnen Abschnitten des Buches verwendet. Nach einer Einleitung (Offb. 1.1-20) folgen sieben Sendschreiben an die kleinasiatischen Gemeinden in Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodicea (2,1-3,22). Dadurch wird die Offenbarung zu einem an die Gemeinden gerichteten Sendschreiben. Mögen die angeredeten Gemeinden auch repräsentativ sein, so nimmt der Verfasser doch auf tatsächliche Mißstände in den Gemeinden Bezug; die Paränese ist jeweils spezifisch. Die sieben Briefe sind alle nach dem gleichen Schema aufgebaut, das dem im Judentum abgewandelten alttestamentlichen Bundesformular entlehnt ist: Grundsatzerklärung, in der sich Christus als Sprecher in der Macht seines Heilshandelns vorstellt, Erzählung der Geschichte der betreffenden Gemeinde, Aufruf zur Buße und Umkehr, Ankündigung von Fluch und Segen (in dieser Reihenfolge). Mehrfach wird auf Irrlehrer in den Ge-
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meinden Bezug genommen (2,6;2,9;2,14f;2,20—24; 3,9), die je verschieden als Nikolaften, „ J u d e n " , Anhänger der Lehre Bileams, Nachfolger der Prophetin Isabel oder Synagoge Satans bezeichnet werden. Daß zweimal gesagt wird, „sie behaupten Juden zu sein," und daß einmal vom „Erkennen der Tiefen Satans" gesprochen wird, läßt vermuten, daß es sich um judenchristliche Gnostiker handelte; aber sichere Angaben sind nicht möglich. Apokalyptische Mahnung wird hier, wie im Judasbrief, zum Aufruf der T r e n n u n g von den Unwürdigen. Die Zyklen der Visionen werden durch eine Thronvision eröffnet, die von Material aus Jes. 6, Ez. 1 und anderen alttestamentlichen Stellen abhängig ist (4,1-11). Die Einführung einer siebenfach versiegelten Schriftrolle (5,1-2) weist im Sinne der traditionellen Vision auf eine folgende Offenbarungsszene, die die Ö f f n u n g der Rolle, Bekanntgabe ihres Inhalts und Auftrag an den Propheten oder Seher schildern müßte. H i e r hat jedoch der Verfasser in sein überliefertes Material eingegriffen und ihm eine dem apokalyptischen Offenbarungsbuch widersprechende Richtung gegeben. Er läßt statt dessen eine neue Gestalt erscheinen, den Löwen aus Juda, das Lamm, das „wie geschlachtet" aussieht (5,5-6). Erst durch die folgenden Hymnen und Akklamationen wird klar, um wen es sich handelt: der Erlöser („der mit seinem Blut Menschen aus allen Völkern erkauft hat", 5,9), dem nun aber nicht die Aufgabe zufällt, den Inhalt der Rolle zu offenbaren, sondern dem die Macht der Herrschaft übertragen wird, die der gesamte himmlische Hofstaat anerkennt. Alles, was nun folgt ist nicht O f f e n b a r u n g im apokalyptischen Sinne, sondern Beschreibung der Ausübung der Weltherrschaft durch Christus im geschichtlichen Sinne. Die folgenden Visionszyklen zeigen wiederholt ein entsprechendes Verfahren des Verfassers mit dem überlieferten Material. Die Sieben-Siegel-Visionen (6,1-8,1) sind keine systematische Enthüllung des Weltlaufs bis zum Ende, sondern umschließen ganz verschiedenes Material (4 Reiter, Versiegelung der Auserwählten). Der Rahmen ist aber theologisch wichtig. Das Erbrechen der Siegel ist nicht mehr Enthüllungsakt, sondern Herrschaftserweis Christi. N u r scheinbar läuft die Folge der Ereignisse - Krieg, Hungersnot, T o d , kosmische Katastrophe - auf einen H ö h e p u n k t zu, den das siebente Siegel bringen müßte, dessen Schilderung aber unterbleibt: was auf die gewichtige Einleitung 8,1-2 folgt - man hält den Atem an - ist deutlich antiklimaktisch (8,3-5); lediglich eine
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neue Reihe von sieben Visionen wird eingeleitet: die sieben Posaunen (8,6-11,15). "Was der Leser bisher lernen sollte ist etwas ganz anderes, nämlich daß auch in dem fürchterlichen Geschehen der Vergangenheit und Gegenwart Christus die Herrschaft ausübt, und daß die Märtyrer und die Erwählten in seiner Hand sind (6,9-11 ;7,1-17). Ahnlich geht es aber nun auch mit den Visionen der sieben Posaunen, nur wird die Furchtbarkeit des Geschehens noch gesteigert (8,6-9,21). Mit der sechsten Posaune bricht die Schilderung wiederum ab, ohne den Höhepunkt erreicht zu haben. Die 11,15-19 nachgetragene siebente Posaune eröffnet lediglich einen Ausblick auf den himmlischen Tempel. Dazwischen steht der Auftrag an den Propheten (10,1-11), auf den zum ersten Mal direkte Anspielungen auf die jüngst vergangene christliche Geschichte folgen (Untergang Jerusalems und Mord der zwei Zeugen, von denen wir allerdings nicht wissen, wer sie sind, 11,1-14). Das heißt aber, daß bis dahin überhaupt nicht von der Gegenwart und der Zukunft geredet wurde, sondern nur von der Vergangenheit und von der göttlichen Lenkung des Weltgeschehens. Vom üblichen apokalyptischen Verfahren, bei dem ja auch vergangene Geschichte rekapituliert wird, unterscheidet sich die Darstellung insofern, als Anspielungen auf bestimmte bekannte Ereignisse bewußt unterdrückt worden sind. Die Visionen des zweiten Teils gliedern sich ebenfalls nach dem Siebener-Schema, nur wird hier, von 16,1-21 abgesehen, nicht mehr bewußt gezählt. Es finden sich drei Zyklen. Der erste reicht von der Vision der Frau, die mit der Sonne bekleidet ist (12,1 ff), bis zur Vision des gläsernen Meeres (15,2-8); der zweite berichtet die Visionen der sieben Zornesschalen (16,1-21); der dritte Zyklus setzt mit der Vision des inthronisierten Logos ein (19,11 ff) und endet mit der Schau des neuen Himmels und der neuen Erde (21,1 ff). Dazwischen steht der große Abschnitt über Babylon = Rom (17,1-19,10). Im Unterschied zum ersten Teil des Buches beginnen diese Zyklen mit der jüngsten Vergangenheit, bzw. mit der Zukunft (so 19,1 I f f ) . Sie stellen also den weltgeschichtlichen Aspekt des gegenwärtigen Geschehens dar. Der Leser soll lernen, daß die sich in der Gegenwart anbahnende Auseinandersetzung der Herrschaft Christi mit dem römischen Staat der Höhepunkt des geschichtlichen Handelns Gottes ist. Offb. 12,1-15,8 umfaßt die Zeit von der Geburt des Messias und der Entstehung der christlichen Gemeinde (12,1-18; hier ist auch heidnisches mythologi-
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sches Material verwendet) bis zur Wiederkunft (14,14-20) und eschatologischen Anbetung (15,2-4). Im Zentrum steht die Erscheinung des Widersachers Gottes, nämlich des römischen Staates (13,1-10) und seines Herrschers, der als der Antichrist schlechthin gezeichnet ist (14,11-18). In diesem Zyklus wird erstmals das Schreckliche in der Welt auf eine widergöttliche Macht zurückgeführt; jedoch geht es dabei zentral um die Anbetung des Antichristen, durch die das gesamte Leben aller Völker pervertiert und zerstört wird (vgl. 13,6-10.15-17), und zu der Treue zu Christus die einzige Alternative darstellt (14,1-5). Übel im eschatologischen Sinne ist auf die Anbetung der satanischen Macht reduziert, die sich im Kaiserkult dokumentiert. Die Frage Roms steht also im Mittelpunkt. Sie wird 17,1-19,10 ausführlich dargestellt, eingeleitet durch die Vision der sieben Zornesschalen (15,1.5-8; 16,1-21). Auffallend ist die ausführliche Auslegung der Tiervisionen von Offb. 13 und der Vision der H u r e Babylon (17,1-18). Geschichtliche Einzelbezüge finden sich vielfach, sind für uns allerdings nur teilweise noch deutlich. Aber es ist wahrscheinlich, daß die Zahl 666 (13,18) ebenso wie die Zahl 8 (17,11; 1+2-1-3... + 8 = 3 6 ; l + 2 + 3 . . . + 3 6 = 666) und die Deutung des Tieres (13,3; 17,10-12) sich auf die Erwartung der Wiederkehr Neros beziehen. In dem, was über Rom gesagt wird, ist die Kritik an der weltbeherrschenden Macht der römischen Wirtschaft und seines Handels entscheidend. Der Verfasser sieht im Kaiserkult das widergöttliche Mittel, den wirtschaftlichen Machtanspruch Roms (vgl. 18,11-19) durchzusetzen. Der letzte Zyklus (19,11-22,5) erst hier wird nur noch von der echatologischen Zukunft gesprochen - knüpft an das Gesagte an mit Visionen von der Inthronisation des Logos (19,11-16) und dem militärischen Untergang Roms (19,17-21). Die abschließende Vision des himmlischen Jerusalems (21,9-22,5) ist das eigentliche Gegenstück zur Vision Babylons. Apokalyptisches Material ist in diesen letzten Kapiteln vom Verfasser seelsorgerlich ausgerichtet worden. Das gilt vor allem von der Vision der tausendjährigen Bindung des Satans und dem tausendjährigen Reich (20,1-6), durch die die Zukunftserwartung der Märtyrer und der treu gebliebenen Christen von der Erwartung des allgemeinen Weltgerichts (20,11-15) ausdrücklich losgelöst wird. Schon in der Anordnung des Buches wird deutlich, daß es sich hier nicht um eine Apokalypse im üblichen Sinn handelt. Johannes will nicht nur die Zukunft offenbaren, sondern das Wissen um die
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Bedeutung des gegenwärtigen Geschehens in einer Sicht der Weltgeschichte verankern, die vom Glauben an die Souveränität Gottes getragen ist. Es werden keine Geheimnisse offenbart (die Versiegelung des Buches als apokalyptische Geheimschrift wird ausdrücklich verboten, 22,10). Was über die Geschehnisse im Himmel gesagt wird, richtet sich nicht an den Weisen, der durch sein Wissen Einsicht in die himmlische Wirklichkeit erhalten soll, sondern an die ganze christliche Gemeinde. Denn der Schlüssel zur Teilnahme am himmlischen Geschehen ist nicht die Aufforderung zur Einsicht, sondern die Anführung der Hymnen und Lieder der Gemeinde, die vom Verfasser an entscheidenden Stellen eingeschaltet werden. Schon die erste Anerkennung des Lammes als Weltherrscher wird ausdrücklich als Darbringung der „Gebete der Heiligen", also der Gemeinde, bezeichnet (6,8). In der Tat sind die entscheidenden Aussagen über die Herrschaft und den Sieg Gottes und Christi fast immer als Lieder der Märtyrer und treuen Christen dargestellt (vgl. 15,2-4; vor allem die Aufforderung zum Lobpreis Gottes, die an „alle seine Knechte, die ihn fürchten, die Kleinen und die Großen", ergeht, 19,5). Es ist dabei gleichgültig, ob es sich um tatsächliche Zitate von Gemeindeliedern handelt - was nicht ausgeschlossen ist. Entscheidend ist die Funktion der Hymnen in der Gesamtkomposition der Schrift. Durch sie wird der Sieg Christi untrennbar mit dem Bekenntnis und Loblied der Gemeinde zu einer Einheit verbunden. Obwohl die Offenbarung Johannis unmittelbar zu den Problemen ihrer Zeit Stellung nimmt und nur aus dieser Situation heraus verstanden werden kann, hat Ablehnung und Annahme dieses Buches in der christlichen Kirche sich fast durchweg darauf gegründet, daß man in ihm ein lediglich auf die Zukunft und auf die himmlische Wirklichkeit gerichtetes Offenbarungsbuch sah. Zwar haben im 2. Jh. Papias, Justin, Irenäus und Melito von Sardes positiv von der Offenbarung Johannis gesprochen. Aber im 3.Jh. begann im griechisch sprechenden Osten eine zunehmende Kritik an dieser Schrift (Dionysius von Alexandrien, Eusebius), die dazu führte, daß sie in manchen Kanonsverzeichnissen und in vielen griechischen Handschriften fehlt. Im Westen fing die Kritik erst mit der Reformationszeit an (Luther bestritt die Apostolizität), setzte sich im Rationalismus fort, und reicht bis in die jüngste Zeit. Auf der anderen Seite haben sich christliche Sekten schon im Altertum auf die Verkündigung eines tausendjährigen Reiches Christi berufen; die-
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ser Erwartung sowie überhaupt einem Christentum, das an den baldigen Weltuntergang und an das Bevorstehen der Parusie Christi glaubte, hat die O f f e n b a r u n g Johannis bis heute Inspiration und Argumente gegeben. Erst eine weitere kritische Interpretation dieses Buches, die genau auf das Verhältnis von Tradition und Redaktion achtet und die Funktion der einzelnen Stücke in Bezug auf die Gesamtkomposition und die geschichtliche Situation ernst nimmt, wird imstande sein, den Aussagen dieser frühchristlichen Schrift wieder G e h ö r zu verschaffen. G e r a d e für die Frage des Verhältnisses des Christentums zum Staat und zur Gesellschaft ist dieses frühchristliche Offenbarungsbuch ein wichtiges Zeugnis. d) Apokalyptische Lebensordnung Im Zentrum der Sendschreiben der O f f e n b a r u n g des Johannes stand der Bußruf, begründet durch den Hinweis auf das baldige K o m m e n J e s u . J e d o c h fehlte die Ausarbeitung einer moralischen Lebensordnung unter den Vorzeichen dieser Erwartung; die prophetische Interpretation der Gegenwart mußte eine moralisierende Darstellung des christlichen Lebens zurückdrängen. W o aber der apokalyptisch motivierte Bußruf erneuert wurde, ohne daß dabei die Dringlichkeit der prophetischen Gegenwartsinterpretation eine Rolle spielte, ergab sich die Möglichkeit, sich in größerer Breite mit den Problemen einer christlichen Lebensordnung zu befassen. Ließ sich schon innerhalb der Überlieferung der Worte J e s u angesichts dieser Frage ein Einströmen jüdischer Morallehren beobachten (s.o. § 10. 7c), so scheint das im Z u s a m m e n h a n g mit der Erneuerung des apokalyptischen Bußrufs erst recht der Fall gewesen zu sein. Die unter dem Titel Hirte des Hermas überlieferte Schrift zeigt dies deutlich. Im Gegensatz zur O f f e n b a r u n g Johannis gibt der Hirte des H e r m a s so gut wie keine Anhaltspunkte über die Zeit und Situation seiner Entstehung. Z w a r ist R o m als Wohnort des Verfassers angegeben (Vis. 1.1.1) und Orte der U m g e b u n g R o m s werden genannt (Vis. 1.1.3; 2.1.1; 4.1.3); jedoch wird eine spätere Vision in Arkadien lokalisiert (Sim. 9.1.4). Angaben über typisch römische Verhältnisse fehlen. D a aber auch der muratorische K a n o n römische H e r k u n f t der Schrift annimmt und Vis. 2.4.3 auf einen gewissen Clemens (s.u. zum 1.Clemensbrief, § 1 2 . 2 e ) hinweist, läßt sich gegen die traditionelle Lokalisierung wenig einwenden. Auch die handschriftliche Uberlieferung spricht dafür. Vollständig ist
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der Text nur in zwei lateinischen Übersetzungen erhalten. Der griechische Text wurde erst seit 1855 bekannt, und zwar durch eine Athos-Handschrift des 15. Jh. in der jedoch der Schluß von Sim. 9 und Sim. 10 fehlen. Hinzu kam der von Tischendorf entdeckte Kodex Sinaiticus (s.o. §7.2c), wo am Schluß des N T der Hermashirte steht; allerdings reicht diese Handschrift nur bis Vis. 4.3.6. Hier ist der Hirte des Hermas also zu den biblischen Büchern gezählt. Daß er schon früh auch in Ägypten bekannt war, beweist ein Papyrusfragment aus dem Ende des 2.Jh. (Pap. Michigan 130), mehrere Zitate bei Clemens von Alexandrien, sowie ein umfangreicher Papyrus aus dem 3.Jh. (Pap. Michigan 129; er enthält Sim. 2.9-9.5.1). Diese Bezeugung der Schrift beweist, daß sie spätestens um die Mitte des 2. Jh. entstanden sein muß. Eine genauere Datierung ist schwierig; denn andere frühchristliche Schriften werden nirgends angeführt oder zitiert. Das heißt nicht, daß der Verfasser sie nicht gekannt hat; denn er zitiert auch das AT nirgends, obgleich er es zweifellos kannte (nur einmal zitiert er ausdrücklich, und zwar die verlorene pseudepigraphe Schrift Eldad und Modad, Vis. 2.3.4). Parallelen zu den Gleichnissen der synoptischen Evangelien (vor allem beim Gleichnis vom guten Sklaven, Sim. 5.2 und 5.4-7) lassen sich besser durch Kenntnis entsprechender Jesusgleichnisse aus der mündlichen Uberlieferung erklären. An christlichen Ämtern nennt der Hermashirte Apostel, Bischöfe, Lehrer und Diakonen (Vis. 3.5.1), auch Propheten werden erwähnt (ζ. B. Mand. 11); Sim. 9.16.5 redet von der Hadesfahrt der Apostel und Lehrer zur Predigt und Taufe für die schon früher Verstorbenen. Für eine Datierung ist das alles nicht beweiskräftig genug, spricht aber eher für ein früheres als ein späteres Datum innerhalb des Zeitraums von 60-160nChr. Ist mit der Nennung des Clemens in Vis. 2.4.3 der römische Gemeindeschreiber Clemens gemeint, dem wir den 1. Clemensbrief verdanken, dann käme die Zeit um das Jahr lOOnChr in Frage. Erschwert wird die Datierung durch die Tatsache, daß die Verwendung von umfangreichen Quellenstücken und Traditionen für die Komposition der vorliegenden Schrift vorausgesetzt werden muß. Der erste Teil des Buches, die fünf Visionen, ist von einem christlichen Autor verfaßt, der allerdings den Namen Jesus Christus niemals nennt! Die Gestalt der „Kirche", die in den ersten drei Visionen als alte und dann jeweils jünger aussehende Frau erscheint, geht auf die jüdische Gestalt der Weisheit zurück. Sie ist
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nach Vis.2.4.1 das erste Geschöpf Gottes; durch sie ist die Welt erschaffen. Die Turmbauvision (Vis. 3) handelte ursprünglich von der Erschaffung der Welt; denn die Engel, die den T u r m bauen, sind die ersterschaffenen Engel Gottes, „denen er seine ganze Schöpfung übergeben hat, sie zu mehren, aufzubauen und zu verwalten" (Vis.3.4.1); die Deutung des Turmbaus auf die Kirche ist sekundär. Ebenso fehlt der Tiervision (Vis. 4) ursprünglich jede christliche Komponente. Das Tier selbst symbolisiert die kommende Trübsal, seine vier Farben diesen Aon, seinen Untergang, die Errettung der Erwählten und den kommenden Aon. Der „ H i r t e " schließlich, der dem Hermas erscheint, um ihm die Gebote zu offenbaren (Vis. 5), wird nicht etwa von Christus gesandt sondern von dem „verehrungswürdigsten Engel", und nur ein sehr aufmerksamer Leser des ganzen Buches kann erkennen, daß dieser Engel dem „Sohn Gottes" gleichzusetzen ist. Die christliche Deutung, die dieser jüdische Grundstock erhalten hat, ist aufs engste mit dem Auftrag verbunden, eine letzte Möglichkeit der Buße zu predigen, ehe der T u r m (die Kirche) vollendet ist, vgl. den Auftrag zur Bußpredigt Vis. 2.2, die Deutung der Steine zum Turmbau auf verschiedene Kategorien von Christen Vis. 3.5-7, die Darstellung der christlichen Tugenden Vis. 3.8, und die Erklärung der drei Gestalten der Kirche Vis. 3.10-13. Aus traditionellem jüdischen Material besteht auch der zweite Teil der Schrift, die Mandata. In den Mandaten 2-10 und 12 werden eine Reihe von Tugenden und Lastern, meist in entsprechenden Gegenüberstellungen (Aufrichtigkeit - Verleumdung; W a h r heit - Lüge; usw.), abgehandelt. Das Material, stammt aus der Zwei-Wege-Lehre und ist Didache 1 - 6 und dem Jakobusbrief eng verwandt (s.o.§ 10. 7c). N u r spricht Hermas nicht von den „Zwei W e g e n " , sondern von den „Zwei Geistern", die im menschlichen H e r z e n W o h n u n g suchen, dem heiligen Geist und dem bösen Geist. Eingeleitet wird die Morallehre durch das Hauptgebot, an den einen Gott zu glauben, der alles erschaffen hat und erhält (Mand. 1). Aus dem Glauben kommt Gottesfurcht, aus ihr Enthaltsamkeit, die zur Tugend der Gerechtigkeit führt (Mand. 1.2). Diese Begrifflichkeit weist auf die hellenisierte jüdische Morallehre. Spezifisch christliche Anliegen finden sich nur selten. In Mand. 4.2-3 ist dem Hauptinteresse des Verfassers entsprechend ein Exkurs über die Buße eingeschaltet, die durch die Botschaft dieses Buches den schon früher Getauften als einmalige und nicht wiederholbare
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Gelegenheit angeboten wird. Christlicher Einschub ist ebenfalls die Belehrung über die Unterscheidung von wahren und falschen Propheten, Mand. 11. Dem dritten Teil des Hermashirten liegt eine Sammlung von Parabeln (Similitudines) zugrunde, die sicher jüdischer Herkunft ist. Die Parabel von dem Mann, der in der fremden Stadt wohnt (Sim. 1), behandelt das Thema des Menschen, der in der Welt ein Fremder ist, das z.B. bei Philo von Alexandrien häufig berührt wird. Die Parabel von der Ulme und dem Weinstock, den sie stützt, illustriert das Verhältnis von Armen und Reichen in der Gemeinde (Sim. 2); sie könnte auch heidnischen Ursprungs sein, macht aber ein besonderes Interesse des Verfassers deutlich. Die trockenen Bäume (Sim. 3) und die trockenen und knospenden Bäume (Sim. 4) veranschaulichen, was es mit den Gerechten und Ungerechten dieses Äons auf sich hat und wie die dem kommenden Aon angehörenden Gerechten einst Frucht tragen sollen. Erst bei der Erzählung des Gleichnisses vom guten Knecht (Sim. 5.2) hat der Verfasser eine ausführliche christologische Interpretation angefügt (Sim. 5.4-7; die Abschnitte über das Fasten, Sim. 5.1 und 3, wirken wie nachträgliche Einschübe und gehören nicht in diesen Zusammenhang): Der Sohn Gottes, der den Herrn bei der Anlage des Weinbergs mit den Engeln unterstützt (dem Volk das Gesetz gibt), ist der Heilige Geist; der gute Knecht, der den Weinberg bearbeitet, ist „ein Fleisch", in dem der Heilige Geist wohnt und der so zum Sohn Gottes und Miterben gemacht wird. Die Christologie ist also an dieser einzigen Stelle des Buches, wo überhaupt auf den irdischen Jesus angespielt wird, adoptianistisch. Wieder hat der Verfasser einen Hinweis auf das Thema der Buße eingebaut: Der Herr des Weinbergs verzögert seine Rückkehr, um Möglichkeit zur Buße zu geben. Das gleiche Thema hat er im Anschluß an die Vision vom schlechten Hirten (Sim. 6) zum Ausdruck gebracht durch die Rede vom Strafengel (Sim. 6.3-4) und durch eine an das Haus des Hermas gerichtete Bußmahnung (Sim. 7). Das Gleichnis vom Weidenbaum (Sim.8) zeigt eindeutig die jüdische Grundlage: der Engel, der die Zweige abschlägt und an das Volk verteilt, ist Michael, der das Gesetz dem Volk ins Herz gibt; der Baum selbst das Gesetz, das allen Völkern der Erde verkündet wird (Sim. 8.3.2-3). Es handelte sich demnach um ein echatologisches Gleichnis, das von der allgemeinen Gültigkeit des Gesetzes für Israel und für alle Völker in der kommenden Gottesherrschaft redete. Die sekundäre
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christliche Erklärung deutet das Gleichnis auf die Möglichkeit der Buße und Bekehrung (Sim. 8.4-11). Das letzte Gleichnis (Sim.9; hingegen ist Sim. 10 nur eine Schlußmahnung des Hirten) hat der Verfasser zu einer umfangreichen Allegorie gestaltet, die fast ein Viertel des ganzen Buches ausmacht. Altes Gut ist wahrscheinlich die Vision der zwölf Berge (Sim. 9.1), mit denen ursprünglich die zwölf Stämme Israels gemeint waren (Sim.9.17.1), die der Verfasser dann in einer umständlichen Ausdeutung auf die „zwölf Stämme, die in der ganzen Welt wohnen, denen der Sohn Gottes durch die Apostel verkündet ist," bezieht (Sim.9.17-31). Eingeschaltet ist eine Vision des Turmbaus der Kirche (Sim. 9.3-4), die an die Turmbauvision von Vis. 3 erinnert, aber in manchen Einzelzügen von ihr abweicht. Diese Parabel ist das Kernstück des Buches. Allegorische Interpretationen überkreuzen sich vielfach. So ist z.B. sowohl der Fels, auf dem die Kirche erbaut ist, als auch das Tor, durch das die Gläubigen in das Reich Gottes eingehen, sowie schließlich der H e r r des Baus als der Sohn Gottes bezeichnet (Sim.9.12). In jedem Falle wird die Gestalt so sehr ins Kosmische überhöht, daß von einer unmittelbaren Erlöserfunktion Christi nicht gesprochen werden kann, selbst eine Beziehung zwischen dem Sohn Gottes und dem mit der Predigt der Buße beauftragten Propheten wird ausdrücklich vermieden. Dafür treten Mittlergestalten ein. Vom höchsten Engel ist der Hirtenengel gesandt, der den Propheten betreffs seiner Bußpredigt instruiert. Zur Einübung in die Tugend dienen die zwölf himmlischen Jungfrauen, mit denen Hermas eine Liebesnacht verbringt, „wie ein Bruder, und nicht wie ein Mann" (Sim. 9.11). Wegen der Ferne, in die Christus so in seiner Zeit und Welt überragenden Machtfülle gerückt ist, wird gerade durch die Dringlichkeit der Bußbotschaft die christliche Existenz vollständig moralisiert. Zwar betont der Verfasser in ganz paulinisch klingenden Wendungen die Einheit der Kirche - sie ist „ein Geist, ein Leib" (Sim. 9.13.5) - , aber die Einheit beruht darauf, daß alle Christen den gleichen Tugenden verpflichtet sind. Die Lebensordnung der Gemeinde orientiert sich an dem apokalyptischen Ideal, dem Turmbau der Kirche, dessen überkosmische Dimension den Gedanken an eine Verantwortung der Gemeinde für die Geschichte gar nicht erst aufkommen läßt. Konsequente Apokalyptik führt so - im Gegensatz zur Offenbarung des Johannes - zur Absage an die geschichtliche Verwantwortung der christlichen Gemeinde zugunsten einer Moral persönlicher Heiligung.
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W . GRUNDMANN,
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Zug und h: M.DIBELIUS -
H . CONZELMANN, D i e P a s t o r a l b r i e f e , H N T 1 3 ,
4
1966
(Kom-
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M.TESTUZ, Papyrus BodmerX-XII, 1959 (griechischer Text des 3.Korintherbriefes). W. SCHNEEMELCHER, Paulusakten, N TApoll, '1964, 258-261 (deutsche Ubersetzung des 3.Korintherbriefes). H.VON CAMPENHAUSEN, Die Christen und das bürgerliche Leben, Tradition und Leben, 1960, 180-202. Ders., Polykarp von Smyrna und die Pastoralbriefe, Aus der Frühzeit des Christentums, 1963, 197-252. M. DIBELIUS, Επίγνωσις άληθείας, Botschaft und Geschichte II, 1956, 1-13. P.N.HARRISON, Polycarp's Two Epistles to the Philippians, 1936. O.MICHEL, Grundfragen der Pastoralbriefe, Auf dem Grunde der Apostel und Propheten (Festschrift für Th. Wurm), 1948, 83-99. a) D e r K a m p f gegen den Synkretismus In der radikalen Apokalyptik, wie sie im Hermashirten bezeugt ist, dokumentieren sich die theologischen Grundprobleme am deutlichsten in der Christologie. D i e Steigerung der Göttlichkeit des Gottessohnes zur Gestalt des eschatologischen Weltherrschers entspringt der apokalyptischen Mythologie. In der O f f e n b a r u n g J o hannis wurde diese T e n d e n z durch den R ü c k b e z u g auf Leiden, T o d und Auferstehung Jesu abgewehrt. Verzichtete man darauf, dann waren der kosmologischen Spekulation in der Christologie keine G r e n z e n mehr gesetzt. Darin sind sich Apokalyptik und G n o sis einig. Glaube an den kosmischen Christus in seiner gnostischen Gestalt zeigt sich ebenfalls früh in den paulinischen Gemeinden. Dabei konnte man sich durchaus auf Paulus berufen, der Christus ja sowohl als apokalyptischen Weltherrscher (vgl. 1. K o r . 1 5 , 2 5 ) als auch als ursprünglich gottgleiches W e s e n (Phil. 2,5 f) dargestellt hatte, jeweils im Anschluß an apokalyptische oder gnostische T r a d i tionen.
In der Auseinandersetzung
mit solchen
Anschauungen
mußte es also um die rechtmäßige Auslegung des Paulus gehen, vor allem um die Frage, ob in der kosmologischen Fortbildung paulinischer Christologie noch das für Paulus entscheidende Kriterium des Kreuzestodes Jesu die zentrale R o l l e spielte.
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Der Brief an die Kolosser und der sogenannte Brief an die Epheser gehören in diese Situation der paulinischen Gemeinden. Allerdings wird von manchen angenommen, daß es sich bei beiden Briefen um echte Paulusbriefe handelt. Andere halten zwar den Epheserbrief für unecht, sprechen jedoch den Kolosserbrief dem Paulus zu. Das hat seinen guten Grund; denn es läßt sich kaum bestreiten, daß der erstere vom letzteren literarisch abhängig ist. Die zahlreichen, z.T. wörtlichen Berührungen zwischen den beiden Briefen lassen sich so besser erklären als durch die Annahme einer gemeinsamen Quelle (Abhängigkeit des Kolosserbriefes vom Epheserbrief ist ausgeschlossen, da der letztere das entsprechende Material meist kommentiert, erweitert und korrigiert). Für die Frage der Echtheit des Kolosserbriefes ist der sprachliche Befund wichtig, aber nicht letztlich entscheidend. Die Zahl der sonst nicht bei Paulus vorkommenden Wörter ist recht hoch (48, davon 33 Hapaxlegomena, also Wörter, die im N T nur hier vorkommen); der Stil ist überladen, liebt lange Genetiwerbindungen („das Reich des Sohnes seiner Liebe" 1,13; „das Wort der Wahrheit des Evangeliums, das bei euch ist" 1,9; „im Ablegen des Leibes des Fleisches" 2,11) und Zusammenstellungen von parallelen Begriffen („das Frucht bringt und wächst" 1,6.10; „beten und bitten" 1,9; „in aller Weisheit und geistlichen Einsicht" 1,9; „zu aller Geduld und Langmut" 1,11; usw.) und konstruiert lange und schwer überschaubare Satzperioden (der Abschnitt 1,9-20 ist ein einziger Satz!). Bei Paulus findet sich so etwas nur selten. Wichtiger für die Echtheitsfrage ist die theologische Intention der Aussagen des Briefes an solchen Stellen, an denen sich die Begrifflichkeit eng mit den echten paulinischen Briefen berührt. Kol. 1,13 sagt, daß Gott „euch in das Reich seines Sohnes versetzt hat"; für Paulus, der immer vom Reich Gottes redet (nicht vom Reich des Sohnes), liegt das Reich und die Teilhabe an ihm in der Zukunft (vgl. u. a. 1. Kor. 15,50). Nach Kol. 1,18; 2,19 ist Christus das Haupt der Kirche, die sein Leib ist; bei Paulus fehlt die Vorstellung von Christus als Haupt; als ein Leib ist Christus mit der Kirche identisch (1.Kor.12,12; vgl. 10,16; Rom. 12,4-5). In der Interpretation der Taufe sagt Kol.2,12 und 3,1, daß die Christen bereits mit Christus gestorben und auferstanden sind; Paulus hingegen wehrt sich ganz entschieden gegen diese Auslegung der Taufe und vermeidet es bewußt, vom Auferstehen mit Christus als bereits vergangenes Geschehen zu reden (vgl.Rom.6,1 ff; l.Thess.4,14ff). - Soweit nur einige der auffal-
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lendsten Differenzen. Analoge Beobachtungen kann man in der Einzelauslegung an vielen anderen Stellen des Kolosserbriefes machen. Auf jeden Fall ist es das beste anzunehmen, daß ein Schüler des Paulus den Brief in seinem N a m e n geschrieben hat, und zwar um eine Gefahr in der auf Paulus zurückgehenden Gemeinde in Kolossae abzuwehren. Aus den Andeutungen des Kolosserbriefes über die Lehren der Gegner kann man sich noch ein recht gutes Bild über sie machen. Sie traten mit dem Anspruch auf, eine „Philosophie" zu verkünden (Kol. 2,8), die sich auf Uberlieferungen berief (ebd.). Nach dem Folgenden kann es sich nur um jüdische Uberlieferungen handeln; denn die Gegner empfahlen die Beachtung von jüdischen Speisegeboten und Festen (Neumondfest, Sabbat; 2,16) und auch der Beschneidung (daher die polemische Formulierung 2,11; zu den Reinheitsgeboten vgl. noch 2,21). Das erinnert an die Gegner des Galaterbriefes und des Philipperbriefes (s.o.§9.3b u. e). Jedoch sind im Falle des Kolosserbriefes die kosmischen Dimensionen dieser Gesetzesbeachtung noch deutlicher greifbar. Der Verfasser hat wohl von den Gegnern die Vorstellung von Christus als H a u p t übernommen; nur redeten die Gegner von Christus als H a u p t der kosmischen Hierarchien (Mächte und Gewalten, 2,10; vgl. 1,16). Um mit Christus verbunden zu sein, bedurfte es daher für sie der Vermittlung durch Engelsmächte zur Einstimmung in die kosmische Wirklichkeit des wahren Leibes Christi ( „ D e m u t " und Engelsdienst, 1,18). Eigenartigerweise wird hier ein Terminus gebraucht, der als Bezeichnung der Einweihung in ein Mysterium belegt ist: „was er bei der Einweihung gesehen h a t " (1,18). Das läßt vermuten, daß die Gegner mysterienartige Riten praktizierten, die in einer „ S c h a u " kosmischer Mächte gipfelten. D a ß wir deshalb von judenchristlicher Gnosis sprechen sollen, scheint mir fraglich. Gewiß redete die Gnosis von kosmischen Mächten und Engeln. Aber im Falle der Gegner des Kolosserbriefes geht es mehr um eine positive Verbindung vom Menschen über die Mächte zu Christus; von der Uberwindung feindlicher Mächte ist nicht die Rede. Aber daß es kosmische Mächte gibt und daß der Mensch, und zwar gerade der religiöse Mensch, mit ihnen zu rechnen hat, das ist eine allgemein verbreitete Ansicht jener Zeit. Es ist also ein judenchristlicher Synkretismus, der durch die Neuinterpretation jüdischer Riten und Reinheitsvorschriften auf dieses religiöse Denken eingeht und Christus so in die Weltanschauung des Hellenismus einbezieht.
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In seiner Widerlegung der Gegner steht der Verfasser des Kolosserbriefes in mancher Hinsicht der Gnosis nahe. Er übernimmt zwar den Hymnus, der von der Erschaffung der Mächte durch Christus redet (Kol. 1,15-20), läßt auch den Satz gelten, daß Christus das Haupt der Mächte und Herrschaften ist (2,10), behauptet aber, daß der Kreuzestod Christi die Entmachtung der Mächte und ihre öffentliche Zurschaustellung war (2,15). Für ihn gehören die Mächte zum unteren Bereich der kosmischen Regionen; Christen sollen das suchen „was droben ist, wo auch Christus ist, der zur Rechten Gottes sitzt" (3,1). Die Erlösung ist für die Christen bereits vollendet. Daher redet der Verfasser des Kolosserbriefes wie ein Gnostiker davon, daß die Christen bereits auferstanden sind (s.o.). Gleichzeitig gelingt es ihm so, die Gültigkeit des Gesetzes, „die Handschrift, die durch die Satzungen gegen uns stand" (2,14), abzustreiten, da Christus ihm am Kreuze ein Ende gemacht hat. Für den durch Christus Erlösten kann das nichts als Menschensatzung sein, die nur mit dem fleischlichen Leibe zu tun hat (2,22-23). Durch Christi Tod am Kreuz ist die Gemeinde bereits heilig und ohne Tadel (1,22) und bedarf nicht mehr der Reinigung durch irgendein Ritual. Denn es ist diese Gemeinde, die der „Leib" ist (1,17; „der Kirche" ist ein Zusatz des Verfassers zum übernommenen Hymnus) - ohne Mittlermächte unmittelbar mit dem Haupt, Christus, verbunden (2,19). Bei dieser realisierten Sicht der Erlösung bleibt natürlich die Frage des Verhaltens der Christen in der Welt noch offen. Aber durch seine Kritik an den Mächten hat der Verfasser die Welt entdämonisiert. Das Verhalten der Christen in der Welt braucht nicht mit den Mächten zu rechnen und kann sich den Anforderungen einer säkularisierten Ethik stellen. Das Vermeiden der Laster und die Verpflichtung zur Tugend wird zwar theologisch als „Anziehen des neuen Menschen" (3,10) begründet, aber es fehlt ein Bezug auf das Wirken guter und böser Geister im Herzen des Menschen (s.o. § 12./e). Die aus der stoischen Popularethik übernommene Haustafel (Kol. 3,18-4,1) ist und bleibt eine Verhaltensanweisung innerhalb der normalen gesellschaftlichen Bezüge, die lediglich mit dem Zusatz „wie sich's im Herrn gebührt" versehen wird. Die Gegenseitigkeit der Verpflichtungen wird stärker betont als in der philosophischen Ethik (auch Männer haben Pflichten gegenüber ihren Frauen, auch die Herren sind ihren Sklaven verpflichtet). Aber die gesellschaftliche Ordnung wird nicht aus theolo-
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gischen Gründen in Frage gestellt, ja sogar verteidigt; denn in der paulinischen Formel „ . . . weder Grieche noch Jude, ... weder Sklave noch Freier" (Gal.3,28) ist in Kol. 3,11 „weder Mann noch Weib" ausgelassen. Einer Emanzipation wird keineswegs das Wort geredet - vielleicht gab es entsprechende Tendenzen bei den Gegnern. Im Unterschied zu der Lehre der Gegner und ihrer ritualistischen und wahrscheinlich asketischen Ethik (vgl. 2,21-22) setzt sich der Kolosserbrief für eine Ethik ein, die den bestehenden Ordnungen der Welt zugewandt ist, freilich aber als Ethik einer Gemeinde, deren wahres „Leben mit Christus in Gott verborgen ist" (3,3). Die Probleme weltlicher Existenz, einschließlich ihrer politischen und sozialen Komponenten, sind nicht theologisch aufgearbeitet. Im Unterschied zu Paulus fehlt die eschatologische Sicht (vgl. l.Kor.7). Wie es hier bei weiterem Verzicht auf die eschatologische Erwartung weitergehen soll, hat erst der Epheserbrief in kritischer Auseinandersetzung mit dem Kolosserbrief durch eine Neufassung paulinischer Theologie zu sagen versucht. Die Abfassungszeit des Kolosserbriefes muß man ziemlich nah an die Zeit der Wirksamkeit des Paulus rücken. Der Brief setzt den paulinischen Kampf um ein gesetzesfreies Heidenchristentum fort und wehrt einen judenchristlichen Synkretismus ab, der an der Gültigkeit des Ritualgesetzes festhält. Die Behauptung der in der Taufe bereits vollzogenen Auferstehung mit Christus erfordert nicht die Annahme eines größeren zeitlichen Abstands zu Paulus; denn ähnlich könnten schon die Pneumatiker des 1. Korintherbriefes geredet haben, und Rom. 6,1 ff zeigt, daß Paulus diese Tauflehre kannte. Nirgends zeigt sich im Kolosserbrief das Bewußtsein eines Abstandes zur paulinischen Zeit. Im Gegenteil, vom Leiden des Apostels wird so geredet, als ob es noch gegenwärtig sei (Kol. l,24f), obgleich der Gedanke, daß er durch sein Leiden das erfüllt, was der Kirche an den Leiden Christi noch fehlt, dem Paulus nicht zugetraut werden kann. Wie nahe die am Schluß des Briefes in der Grußliste erwähnten Nahmen der historischen Wirklichkeit stehen, läßt sich schwer sagen. Von den zehn hier genannten Namen stehen sieben auch im Philemonbrief; sie könnten aus diesem ebenfalls nach Kolossae gerichteten Brief entliehen sein. Tychikus (Kol. 4,7) steht sonst nur in der wohl alten Liste der Kollektendelegation Apg. 20,4. Da der Kolosserbrief nicht von dieser Stelle abhängig sein kann, dürften die Namen von Kol. 4,7-17 auf einer persönlichen Kenntnis paulinischer Mitarbeiter beruhen. Im gan-
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zen schöpft der Verfasser eher aus einer unmittelbaren V e r t r a u t heit mit der paulinischen Predigt und Missionsarbeit als aus den paulinischen Briefen.
b) D e r Kampf gegen die Gnosis G a n z anders verhält es sich mit dem Epheserbrief. D e r zeitliche Abstand zum Leben des Paulus ist nicht zu übersehen. D e r Verfasser kennt die bereits gesammelten Paulusbriefe (einschließlich des Kolosserb riefes; nur der 2.Thessalonicherbrief wird nie angeführt) und verwendet sie ausgiebig. Auch blickt er auf die vergangene Zeit der „heiligen Apostel" z u r ü c k (Eph.3,5; vgl.4,11). Die dem Apostel übertragene Predigt an die H e i d e n ist ein Teil des in der Vergangenheit liegenden Heilsgeschehens, auf das sich die Kirche gründet (3,1-13). Schon von hier aus gesehen ist an paulinische Verfasserschaft nicht zu denken. Das ist vollends ausgeschlossen durch die Abhängigkeit des Epheserbriefes vom Kolosserbrief (einschließlich eines nur aus literarischer Abhängigkeit erklärbaren wörtlichen Zitats über die Sendung des Tychikus, Eph.6,21 = Kol. 4,7) und den weiteren Ausbau der schon im Kolosserbrief anklingenden theologischen Sprache der nachpaulinischen Zeit. D e r Stil des Epheserbriefes ist noch umständlicher und überladener als der des Kolosserbriefes. N o c h häufiger als dort finden sich lange Reihen von Substantiven, die durch Präpositionen oder G e n e t i w e r bindung aufeinander bezogen sind (ζ. B. „ z u r Sohnschaft durch Jesus Christus zu ihm nach dem Wohlgefallen seines Willens zum Lob der Herrlichkeit seiner G n a d e , " 1,5-6), H ä u f u n g von Synonymen (z.B. „nach der W i r k k r a f t der Macht seiner S t ä r k e , " 1,19; „Miterben und Genossen und Teilhaber," 3,6) und endlose Satzperioden, die sich kaum übersetzen lassen (die folgenden Abschnitte bestehen jeweils aus einem einzigen Satz: 1,3-10; 1,15-21; 3 , 1 - 7 ; 3 , 8 - 1 3 ; 3,14-19; 4,11-16. D e r erste enthält 130 Wörter!). Aber nicht nur der Stil, sondern auch die theologische Begrifflichkeit ist trotz vieler Entlehnungen aus den paulinischen Briefen grundsätzlich anderen Charakters. Sie zeigt auf der einen Seite Berührungen mit der Sprache der Qumranschriften (s.o. § 5. 3c), enthält auf der anderen Seite Parallelen zu den Apostolischen Vätern, also zur christlichen Literatur um das J a h r lOOnChr (1. Clemensbrief und Ignatiusbriefe; s.u.§12. 2d u. e). Daraus ergibt sich auch ein ungef ä h r e r Zeitansatz f ü r den Epheserbrief. D a Ignatius von Antio-
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chien den Epheserbrief offenbar benutzt, darf man ihn nicht später als 100 n C h r ansetzen. Im Unterschied zum Kolosserbrief, mit dem der Epheserbrief so eng verbunden ist, handelt es sich bei ihm nicht um einen Brief an eine bestimmte Gemeinde. Niemals wird auf irgendeine spezifische Situation angespielt oder auf ein besonderes Problem einer Gemeinde oder eines Gemeindekreises Bezug genommen. Vollends fehlt dem Schreiben eine genaue Angabe der Adressaten. Die Wörter „in Ephesus" fehlen in Eph. 1,1 bei den besten und ältesten Textzeugen. Zwar war nach Marcion der Brief an die Laodicener gerichtet, aber nichts spricht dafür, daß ursprünglich in Eph. 1,1 „in Laodicea" gestanden hat. Vielmehr lautete der ursprüngliche Text „an die Heiligen, die auch Gläubige in Christus Jesus sind". W o r u m handelt sich aber dann bei diesem Schreiben? Eine Reihe von Lösungen sind vorgeschlagen w o r d e n : Ein Brief, der zur Versendung an viele Gemeinden geschrieben wurde? aber dann müßte sich doch in den Abschriften eine Spur der nachträglich eingesetzten Adressen erhalten haben. Ein Begleitschreiben zur ersten Sammlung der paulinischen Briefe? aber einmal setzt der Epheserbrief eine solche Sammlung bereits voraus, wie übrigens auch der gleichzeitig entstandene 1. Clemensbrief, zum andern fallen solche Begleitschreiben meist etwas weniger anspruchsvoll aus (vgl. dazu den von Polykarp verfaßten Begleitbrief für eine Sammlung der Briefe des Ignatius, Pol.Phil. 13-14, s.u.§12.2h). Handelt es sich etwa um eine im Anschluß an die Taufliturgie gehaltene T a u f p r e digt? Das könnte dem wirklichen Sachverhalt schon näher kommen. N u r wissen wir zu wenig über die Taufliturgie jener Zeit und in einem solchen schwülstigen Stil hat man hoffentlich auch im Urchristentum nicht gepredigt. U m die Absicht des Epheserbriefes zu klären, muß man die Frage beantworten: was will der Verfasser theologisch erreichen? Er will nicht zu den Problemen einer bestimmten Gemeinde, noch überhaupt einem Einzelproblem Stellung nehmen; auch geht es ihm nicht um eine spezifische kirchliche Situation, wie etwa die der Taufe. Es geht ihm vielmehr um eine Stellungnahme zur gesamtkirchlichen Situation in der nachpaulinischen Zeit im Blick auf Gemeinden, die der paulinischen Mission verpflichtet sind und die Briefe des Paulus kennen und benutzen. Die theologische T h e m a tik ist in dieser Situation identisch mit dem Universalitätsanspruch der aus der Mission des Paulus entstandenen heidenchristlichen
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Kirche - oder, wie es der Verfasser des Epheserbriefes aus dem Römerbrief des Paulus gelernt hat, mit der Frage der Juden und der Heiden. Der Verfasser des Kolosserbriefes hatte dieses Problem noch im paulinischen Stil gelöst: Aufruf zum Widerstand gegen die kosmologische Auslegung des jüdischen Ritualgesetzes. Der Epheserbrief sah, daß es so nicht ging. Nicht etwa deshalb, weil man anders mit der judenchristlichen Propaganda nicht fertig werden konnte oder weil zuviele nach der Zerstörung des Klosters in Qumran am Toten Meer geflohene Essener sich den christlichen Gemeinden anschlossen - das kann in der Tat der Fall gewesen sein - , sondern aus einem viel tiefer liegenden Grunde: die christlichen Gemeinden, die im Umkreis der paulinischen Mission entstanden waren, hatten inzwischen viel von der kosmologischen Auslegung des Alten Testamentes, von der jüdischen Apokalyptik als Botschaft der Entweltlichung und von der mit beiden theologischen Ausgangspunkten eng verbundenen synkretistischen Gnosis gelernt. Der Epheserbrief setzt voraus, daß verschiedene Dinge, bei denen sich Paulus die Haare gesträubt hätten, selbstverständlich geworden waren. Hierher gehören das Verständnis des Todes und der Auferstehung Christi sowie des Evangeliums als Botschaft von diesem Geschehen als „Mysterium" (Eph.3,3f); die Interpretation der Taufe als Vollzug der Auferstehung mit Christus, so daß die Christen bereits jetzt Auferstandene sind, in die himmlischen Bereiche versetzt (2,5 f); die Vorstellung von Christus als himmlischer „Anthropos", dem als himmlischer Syzygos die „Kirche" zugeordnet ist (2,14 ff; 5,25-32); und schließlich die Übertragung der eschatologischen Erwartung der Parusie in eine persönliche Jenseitshoffnung (6,10 ff). Der Kolosserb rief war auf diesem Wege vorausgegangen (s.o). Die vielfach im Epheserbrief herangezogene Vorstellung von Christus als Haupt des Leibes, der Kirche (Eph. 5,29), war vom Kolosserb rief als Korrektiv der gegnerischen Ansicht vom kosmologischen Leib Christi geschaffen worden. Als paulinischer Theologe macht sich der Verfasser zum Anwalt einer neuen universalistischen Sicht des Christentums. „Universalismus" heißt dabei, daß sowohl die Perspektive kosmologischen Denkens als auch die Frage des Verhältnisses von Juden und Heiden einbegriffen ist. Beide Dimensionen gehören zusammen und bilden eine Einheit, und auch die Frage des Gesetzes wird in diesen Horizont gerückt. Für Paulus war das Gesetz zu einem Ende gekommen, weil durch die eschatologische Heilstat Gottes
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seine Zeit abgelaufen war und damit den Heiden ohne Gesetz der Zugang zu den Verheißungen offen stand. Diesen Gedanken greift der Verfasser des Epheserbriefes auf, wandelt ihn aber so um, daß das Gesetz einmal trennende Wand zwischen Juden und Heiden, zum andern aber auch Trennmauer zwischen dem himmlischen Bereich und der menschlichen Welt ist. Dadurch daß Christus in seinem Fleisch am Kreuz diese Trennung zerstört, schafft er den einen neuen Menschen aus Juden und Heiden, der Zugang zu Gott hat (Eph. 2,11-22). Für Paulus war die Teilnahme der Juden an den Verheißungen Teil seiner eschatologischen H o f f n u n g (Rom. 11); für den Epheserbrief, dessen Verfasser ein zum Christentum bekehrter Jude war (vgl. das „ihr" in 2,11 und 17), läuft die entsprechende Aussage umgekehrt: die Heiden werden in das Geschehen miteinbegriffen, das sich auf dem Grunde der Propheten und Apostel aufbaut (2,19-20). All dies ist aber nicht mehr Gegenstand eschatologischer Erwartung, sondern gegenwärtige Wirklichkeit - allerdings Wirklichkeit im gnostischen Sinne. Es gibt im Epheserbrief keine soziologische oder kirchenpolitische Definition der einen Kirche aus Juden und Heiden. Bei Paulus war das anders; er hatte versucht, die Einheit der Kirche durch die Geldsammlung der Heidenchristen für Jerusalem zu dokumentieren (s.o.§9.3f). Im Epheserbrief ist diese Einheit ein Zeit und Raum übergreifendes göttliches Geschehen. Dazu sind Apostel, Propheten, Prediger, Hirten und Lehrer eingesetzt, damit die Glaubenden hineinwachsen in diese Einheit, und zwar durch „Erkenntnis" (4,11-13). Damit wird die Gemeinde auch vor falschen Lehren geschützt; denn Wahrheit kann nicht in solchen Lehren liegen, sondern nur im Zunehmen der Liebe, die das Band des Leibes Christi ist (4,14-16). Von hier aus versteht man die überschwengliche und plerophorische Beschreibung des kosmischen Heilsgeschehens; denn Glauben ist letzten Endes nichts anderes als Erkenntnis, Weisheit und Einsicht in die göttlichen Geheimnisse (vgl. 1,8-9; 1,17-18; 3,3-5; 3,18-19; usw.). Gnostischer Universalismus führt hier die paulinische Theologie fort. Allerdings gibt es im Epheserbrief ein Korrektiv zur Gnosis. Das ist der Moralismus. Erlösung ist Gnade für den, der im Leben der Sünde „ t o t " war, und zwar gerade in diesem Sinne „Lebendigmachung mit Christus" (2,3-5) - „durch Gnade erlöst durch den Glauben, es ist Gottes Geschenk, nicht aus Werken" (2,8 f) - soweit klingt das ganz paulinisch. Aber es folgt: „erschaffen zu guten
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W e r k e n , die G o t t bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen" (2,10). D u r c h solchen W a n d e l erweist sich der Glaubende des himmlischen Rufes würdig (4,1); damit beweist er, daß er nicht der Finsternis, sondern dem Licht angehört (5,8 ff). Beschrieben wird dieser W a n d e l einmal in ausführlichen kommentierten Laster- und T u g e n d k a t a l o g e n , die der vom Christentum übernommenen ZweiW e g e - L e h r e entstammen (4,17-5,20), zum andern in der aus dem Kolosserbrief e n t n o m m e n e n Haustafel (Eph. 5,22-6,9). In der Auslegung der Haustafel hat der Verfasser versucht, die Pflichten der Ehepartner als Abbild himmlischer Wirklichkeit zu verstehen. Das Verhältnis von Mann und Frau entspricht dem Verhältnis der himmlischen Gestalten Christus und Kirche. Diese A u s f ü h r u n g e n sind gezielt antignostisch; denn die Gnosis sah in der Regel in der Ablehnung der ehelichen Gemeinschaft eine D o k u m e n t a t i o n der Zugehörigkeit z u r himmlischen Welt. Mit dieser gegen die Gnosis gerichteten Interpretation hat der Epheserbrief allerdings auch eine metaphysische Begründung f ü r soziale Institutionen wie Ehe, Familie und Sklaverei geliefert, die in der Z u k u n f t zu einer Belastung der christlichen Ethik werden sollte. Theologisch wollte und konnte der Epheserbrief sich nicht mit der Gnosis auseinandersetzen; denn aus ihr bezog er ja die theologischen Konzeptionen, die seinen Universalismus ermöglichten. Die Verlagerung der Abgrenzung gegenüber der Gnosis auf das Gebiet der Ethik w u r d e aber f ü r die paulinischen Gemeinden in ihrer Entwicklung z u r frühkatholischen Kirche zu einem folgenschweren Schritt. Er legte die Kirche auf eine traditionelle Moral fest und empfahl als Kampfmittel gegen die H ä r e t i k e r die moralische Diffamierung. So sollte bald das, was der Epheserbrief noch über die heidnische Existenz aussagt (4,17-19), in Kampfschriften gegen die Gnostiker als Charakterisierung der Gegener wiedererscheinen (s.u. § 12.2g). Für die paulinische Theologie w a r der Verzicht auf eine theologische Kontroverse eine Belastung. D e n n d i e späteren Gnostiker verstanden wohl, die paulinischen Briefe im Sinne des Epheserbriefes auszulegen, ja sie waren dazu durch diesen Brief geradezu legitimiert. Für die frühkatholische Kirche geriet Paulus in den V e r d a c h t der Gnosis; man berief sich z w a r auf ihn, aber nicht auf seine T h e o logie, und es sollte lange dauern, bis Paulus theologisch wiederentdeckt wurde. Z u r Zeit des Epheserbriefes gingen freilich die theologischen Bemühungen um eine zeitgemäße Neuinterpretation des Paulus noch weiter. Das zeigen der Hebräerbrief und die Ignatiusbriefe.
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c) Apokalyptische Gnosis als Pauluserbe Ein Zeuge für das Ringen um die Entwicklung des paulinischen Erbes aus den letzten Jahrzehnten des 1.Jh. ist der Hebräerbrief. Daß er noch vor dem Ende des Jahrhunderts verfaßt wurde, ist durch die Anführung von zwei Stellen aus diesem Schreiben im 1.Clemensbrief (36.2-5; 17.1) erwiesen. In Ägypten ist der Hebräerbrief seit dem Ende des 2. Jh. als Paulusbrief bezeugt, und in den Kirchen des Ostens erscheint er von Anfang an als Bestandteil des neutestamentlichen Kanons. Im Westen war der Brief zwar bekannt, wurde aber von Irenäus, Tertullian und Hippolyt nicht als Paulusbrief anerkannt; erst seit dem Ende des 4. Jh. hat er sich im Kanon der Kirchen des Westens durchgesetzt. Die Herkunft des später hinzugefügten Titels - „Gegen die Juden" - ist unbekannt. Mit der ursprünglichen Bestimmung des Briefes hat er nichts zu tun. Die alte Theorie, daß es sich um einen in hebräischer Sprache ,,Αη die Hebräer" gerichteten Paulusbrief handelte, der dann ins Griechische übersetzt wurde, ist abwegig. Sprache und Stil des Schreibens beweisen, daß es auf Griechisch verfaßt wurde, und zwar in einem gepflegten attizistischen Griechisch, das Vertrautheit mit der Schulrhetorik zeigt (während Paulus von der Rhetorik der Diatribe beeinflußt war). In der Auslegung der Schrift folgt der Hebräerbrief der alexandrinischen Allegorie, wie sie sich bei Philo von Alexandrien findet (s.o. §5.3f; Paulus ist zwar auch mit dieser Methode vertraut, vgl. l.Kor. 10,1-13, verwendet sie aber nur gelegentlich). Der allegorischen Methode entspricht das platonische Weltbild: der himmlischen Wirklichkeit steht die irdische Vergänglichkeit als ihr Schatten und Abbild gegenüber. Der Hebräerbrief beansprucht auch gar nicht, von Paulus verfaßt worden zu sein. Es fehlt ihm ein Briefpräskript und damit eine Angabe des Absenders und der Adressaten. Eigenartig ist freilich, daß sich dennoch ein Briefschluß findet, in dem der Verfasser von sich selbst spricht, der H o f f n u n g Ausdruck gibt, daß er den Angeredeten bald wiedergegeben werde (13,19), und anzeigt, daß er mit dem Bruder Timotheus, der wieder frei sei, einen Besuch plane (13,23). Das sieht allerdings nach einer pseudepigraphen Einkleidung aus, die auf den Paulusmitarbeiter Timotheus hinweist und auf die römische Gefangenschaft (vgl. die Grüße der Brüder „aus Italien") des Paulus anspielt. Für die Frage nach dem Verfasser sind diese Angaben wertlos. Aber sie zeigen, daß der Hebräerbrief zu den Schriften gehört, die an die paulinische Tradition anknüpfen.
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Inhaltlich steht im Hebräerbrief in der T a t die F o r t f ü h r u n g der Theologie in den paulinischen Gemeinden zur Debatte. D e n n der Verfasser bezieht sich wiederholt auf die theologischen G r u n d a n schauungen, die in den aus der paulinischen Mission hervorgegangenen Gemeinden zu H a u s e gewesen sein müssen. D a ß sich Christsein auf den Glauben gründet, ist f ü r den Verfasser selbstverständlich; das f ü r Paulus entscheidende Zitat aus H a b . 2 , 4 (Rom. 1,17) steht auch im Hebräerbrief (10,38). Das Verständnis der Bekehr u n g als Sündenvergebung, das in den deuteropaulinischen Briefen so stark hervortritt (Eph.2,1 ff; Kol. 1,21 ff; vgl. Rom. 3,25), ist dem Hebräerbrief ebenso geläufig wie die Betonung des Sühnetodes Christi, und zwar gerade auch im Z u s a m m e n h a n g mit dem G e d a n ken des N e u e n Bundes (vgl.Hebr. 1,3; 8 - 1 0 ; f ü r Paulus vgl. 1. Kor. 11,24 f). Zu den Fundamenten des Glaubens gehört schließlich auch die Erwartung der Auferstehung der T o t e n und des Endgerichts ( H e b r . 6 , 1 - 2 ) . Aber wie der Epheserbrief wendet sich der Hebräerbrief nicht an eine spezifische Situation einer Gemeinde, um eine unmittelbare Bedrohung durch Irrlehrer abzuwenden, sondern bietet eine Stellungnahme z u r gesamttheologischen Situation nach Paulus an. D e r Verfasser läßt aber die briefliche Form (bis auf den angehängten Briefschluß) fallen. Die stattdessen gewählte literarische Form und ihr Zusammenhang mit der Absicht des Buches ist nicht ohne weiteres klar. Die Auskunft, es handele sich um eine Predigt, ist gattungsgeschichtlich zu vage. Auch der Begriff „Theologische A b h a n d l u n g " bedarf weiterer Präzisierung. Auffallend ist der enge Anschluß der Argumentation an die Schriftauslegung. Außerdem sagt der Verfasser ausdrücklich, daß es ihm d a r u m gehe, die Leser über die Anfangsgründe des Glaubens hina u s z u f ü h r e n zu einer tieferen Einsicht (5,1 I f f ) . Danach kann man das Schreiben in die N ä h e der esoterischen Schriften Philos setzen, in denen den Eingeweihten tiefere Einsicht in die Schrift vermittelt wird. Auslegung der Schrift ist jedenfalls der Schlüssel zum V e r ständnis des Hebräerbriefes, und sein Aufbau läßt sich als eine Folge von Schriftauslegungen unter thematischen Gesichtspunkten begreifen. Allerdings richtet sich der Verfasser nicht an einen ausgewählten Kreis von Eingeweihten, sondern an die ganze Christenheit (so m u ß jedenfalls der Leserkreis definiert w e r d e n ; daß das Schreiben sich speziell an Judenchristen richte, ist eine ganz abwegige Annahme). Die Frage, w a r u m dann die literarische Form der Schriftgnosis gewählt ist, läßt sich mit dem Hinweis auf die Gnosis
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beantworten; denn f ü r die theologische Weiterführung des paulinischen Erbes bot die Gnosis die überzeugendsten Alternativen an. Das hatte der Epheserbrief bereits gezeigt. Gnostische Elemente finden sich vielfach im Hebräerbrief und sind entscheidend für das Verständnis seiner Aussagen. Nicht nur wird die Präexistenz des Erlösers betont, allerdings in einer philosophischen Terminologie, die mit Philo verwandt ist (Hebr. 1,3), sondern auch vom Abstieg des Erlösers durch die himmlischen Welten gesprochen (9,11 ff. 24 f). Der gemeinsame Ursprung von Erlöser und Erlösten ist vorausgesetzt (2,11). Ebenso gnostisch ist die Vorstellung, daß die Glaubenden auf dem Weg in die himmlische Heimat sind (dieses Thema zieht sich durch das ganze Schreiben). Im Unterschied zum Epheserbrief tritt der Hebräerbrief aber in eine kritische Auseinandersetzung mit der Gnosis ein, bestreitet also theologisch das gnostische Verständnis des Erlösers und der Erlösung. Zwei wichtige Elemente, die zum Grundbestand der paulinischen Verkündigung gehörten, dienen dabei als kritische Maßstäbe: einmal die Neubesinnung auf das irdische Leiden des Erlösers, zum andern die apokalyptische Zukunftserwartung (vgl. 10,28) keine individualistische H o f f n u n g des Einzelnen (wie in Eph.5,10ff), sondern Zukunftshoffnung des ganzen Gottesvolkes. Mittel zur Darstellung dieser theologischen Kritik an der Gnosis ist die christologische und ekklesiologische Schriftauslegung. Die dabei herangezogenen Schriftkomplexe beschäftigen sich mit dem Exodus, der Wanderung des Gottesvolkes zum verheißenen Land, und mit dem Priestertum und Opferkult der Stiftshütte Israels. In beiden Bereichen kann der Verfasser auf eine lange Tradition der Auslegung zurückgreifen; die engsten Parallelen zur Aussage und Methodik seiner Auslegung finden sich bei dem jüdischen Philosophen Philo. Eine direkte Abhängigkeit von Philo kann aber nicht nachgewiesen werden. Die beiden Leitthemen sind christologisch: Christus als himmlischer Hoherprister, der sich selbst einmalig zum Opfer dargebracht hat, und ekklesiologisch: die Kirche als das wandernde Gottesvolk auf dem Wege zur himmlischen Ruhe. Die Einleitung (Hebr. 1,1-2,18) schließt an eine Sammlung von alttestamentlichen Stellen über die Engel an. Gegen eine Gleichstellung Christi mit den Engeln wird polemisiert. Offenbar will der Verfasser von vornherein eine Erlösungsvermittlung durch Engelsmächte ausschließen (vgl. dazu den Kolosserbrief und den Hirten des Hermas, s.o.§12./d und §12. 2a), weil die Bindung der Erlö-
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sung an den „ S o h n " deshalb wichtig ist, weil nur dieser sowohl einzigartig mit G o t t verbunden ist (1,3; 2,10) als auch durch sein T o desleiden unter die Engel erniedrigt w u r d e (2,8-10) und so am menschlichen Schicksal teilnahm. D e r erste größere Schriftbeweis steht unter dem T h e m a des wandernden Gottesvolkes (3,1-4,13) und schließt sich an Ps. 9 5 , 7 - 1 1 ; N u m . 14,21-23 und Gen. 2,2 an. Die verheißene himmlische Ruhe, ein wichtiges T h e m a gnostischer Theologie, ist nicht das Ziel der Himmelswanderung der Seele sondern einer geschichtlichen W a n d e r u n g des Volkes. Die Auslegung ist daher nicht allegorisch, sondern typologisch. Sie vergleicht das alte mit dem neuen Gottesvolk als geschichtliche Größen und kann daher von U n g e h o r s a m , VerStockung, H o f f n u n g und T r e u e reden. Gleichzeitig wird die geschichtliche Verheißung Israels der Teilnahme der Christen geöffnet. Im zweiten Beweisgang folgt die christologische G r u n d l e g u n g (4,14-7,28). Die Auslegung basiert auf Ps. 110 und Gen. 14,17-20, also auf den beiden Stellen, in denen im A T von Melchisedek geredet wird. Der Exkurs 5,11-6,20 ermahnt z u m Fortschritt in der theologischen Einsicht: Es geht um eine Neubesinnung in der Christologie. D e r Verfasser k n ü p f t dabei nicht an K r e u z und Auferstehung an, sondern an die der Gnosis näher stehenden Vorstellungen der Erniedrigung und E r h ö h u n g (von der Auferstehung Christi wird im ganzen Brief niemals geredet!). Entscheidend ist die völlige Gleichheit Christi mit den Menschen in der E r f a h r u n g von Versuchlichkeit (4,15), Leiden und T o d (5,7-8). Die Melchisedek-Typologie zeigt auf der anderen Seite nicht nur die vollkommene Gottheit des Erlösers (vgl. vor allem 7,2-3), sondern auch die Überlegenheit der Erlösungsordnung des Melchisedek über die O r d n u n g , die durch Abraham, Levi/Aaron und das Gesetz gekennzeichnet ist. So begründet der Hebräerbrief erneut die von Paulus behauptete Freiheit vom Gesetz, und zwar auf G r u n d der Christologie: Christus hat sich als Hoherpriester ein f ü r alle Mal selbst als O p f e r dargebracht (7,27). Dieser Überlegenheit ist der dritte Schriftbeweis gewidmet, der Vergleich der himmlischen Wirklichkeit mit dem irdischen Abbild, der die Gültigkeit des N e u e n Bundes begründet (8,1-10,18). Als Schriftstellen liegen z u g r u n d e Jer. 31,31-34 (die Verheißung des N e u e n Bundes), Ex. 2 5 - 2 6 (die Beschreibung der Stiftshütte) und Ps. 40,7-9. D e r kultischen Dimension des alttestamentlichen O p f e r handelns, das nur Abbild ist, stellt der Hebräerbrief sowohl die kosmologische als auch die anthropologische Dimension des Weges
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und des Opfers Christi gegenüber. Der Abschnitt ist aber gründlich mißverstanden, wenn man hier eine Kritik am jüdischen Kult sieht. Sicherlich wird die sachliche und zeitliche Grenze dieses Kultus gezeigt (9,9-10). Zentral ist aber der Nachweis, daß die himmlische Wirklichkeit des Weges, den der Erlöser gegangen ist, durch den T o d führte; nur so hat der N e u e Bund Bestand (9,15-17). Der Verfasser wendet sich also gegen die gnostische Leugnung der Heilsbedeutung des Todes Jesu. Nicht zufällig wird in diesem Zusammenhang auch die apokalyptische Erwartung des Gerichts betont (9,17f). Den letzten Abschnitt des Briefes (10,19-12,29) muß man entsprechend als eine Kritik an der gnostischen Vorstellung von der Himmelsreise der Seele verstehen. Mit „freier Z u g a n g " und „neuer und lebendiger W e g " (10,19-20) wird gleich am Anfang auf gnostische Kategorien angespielt. Aber wie hier schon von Fleisch und Blut Jesu geredet ist, also von seinem im T o d dargebrachten Opfer, so wird auch der „ W e g " der Christen als Glaubensweg irdischer Erfahrungen beschrieben. Dazu dienen die Beispiele des Glaubens (11,2-40), denen die bekannte Definition des Glaubens, Hebr. 11,1, vorangestellt ist. Sie ist ein berühmtes crux der Ausleger. Gesprochen wird hier vom Glauben als „gegenwärtige Wirklichkeit" (so muß der griechische Begriff „hypostasis" verstanden werden) dessen, was man hofft. Die Liste der Glaubenszeugen endet in der Beschreibung der verfolgten Zeugen (11,35 ff). In diesem Sinne ist Christus Vorläufer des Glaubens, da er das Kreuz der Schande erlitten hat (12,2). Der Schlußabschnitt (13,1-17) schärft nach einer kurzen Paränese (13,1-8) nochmals den Maßstab f ü r das christliche Seinsverständnis ein: Christus starb „außerhalb des Lagers", d.h. außerhalb des Bereichs der religiösen Sicherheit. Gerade weil Christen keine bleibende Stadt in dieser Welt haben (darin ist der Verfasser mit der Gnosis einig), ist ihr Platz in der Welt dort, wo Jesus gelitten hat - das ist eine Herausforderung an die Frommen aller Zeiten, die nur von einer himmlischen Erlösung reden. Für die allegorische Auslegung des A T im Sinne einer Schriftgnosis gibt es aus dem frühen Christentum noch ein weiteres Zeugnis: den Barnabasbrief. In der Methode der Auslegung ist er mit dem Hebräerbrief eng verwandt. Auch er bemüht sich um eine schriftgemäße Auslegung der Heilsbedeutung des Todes Jesu und hält gleichzeitig an der apokalyptischen Erwartung fest. Wie andere Schriften der Apostolischen Väter wird der Barnabasbrief in
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einigen Bibelhandschriften überliefert (vollständig im Kodex Sinaiticus), außerdem in einer alten lateinischen Ubersetzung. Zitiert wird er erstmals bei Clemens von Alexandrien. Daß nirgends Schriften des N T ausdrücklich oder stillschweigend benutzt werden, spricht für ein frühes Datum, vielleicht noch vor dem Ende des l.Jh. Man hat versucht Barn. 16,4 auf den Tempelbau unter H a drian in Jerusalem zu beziehen, der den Bar-Kochba-Aufstand auslöste (132-135 nChr); aber das ist ebenso unsicher wie die Verwendung von Barn. 4.4-5 für eine Datierung in der Regierung Vespasians (69-79 nChr). Die Anführung der Zwei-Wege-Lehre in Barn. 18-20 gibt keinen Anhaltspunkt, da sich eine Abhängigkeit von der Lehre der Zwölf Apostel (Didache, s.o. § 10. lc) nicht erweisen läßt; die Benutzung einer gemeinsamen Quelle ist wahrscheinlicher. Gar nichts läßt sich über den Verfasser und den Entstehungsort sagen. Der Name Barnabas wird in dem Schreiben selbst nicht genannt. Die Abfassung durch Barnabas, dessen Mitarbeiter Paulus in Antiochien war, ist nicht unmöglich, aber wegen der radikalen Ablehnung der Gültigkeit des Alten Bundes nicht gerade naheliegend. Die briefliche Einkleidung (Gruß an die Söhne und Töchter ohne Angabe der Adressaten und des Verfassers; Segenswunsch am Schluß) ist nur äußerlich. In Wirklichkeit ist der Barnabasbrief ein Stück Schriftgnosis wie der Hebräerbrief. Er gibt einen guten Einblick in die Technik und Resultate der Auslegung des AT, der sich gleichzeitige (das Matthäusevangelium) und spätere christliche Schriftsteller (ζ. B. Justin der Märtyrer) bedienten. Tiefere Erkenntnis (Gnosis) zu vermitteln, ist die Absicht des Schreibens (1.5). Der Verfasser hält zwar an dem Bezug der christlichen Grundgebote, Hoffnung, Gerechtigkeit und Liebe, auf das ewige Leben und das Gericht fest (1.6), aber wenn auch Furcht, Geduld, Langmut und Enthaltsamkeit die Helfer des Glaubens sind, so bedarf es doch ebenso der Weisheit, der Einsicht, des Verstehens und der Erkenntnis (2.3). Daß es um Erkenntnis des tieferen Schriftsinns geht, zeigen die mehrfachen Hinweise auf die „Gnosis" durch die der Verfasser seine Interpretation einleitet (6.9; 9.8). Grundlage der Auslegung ist eine ältere nach sachlichen Gesichtspunkten geordnete Sammlung von Schriftstellen, die vielleicht jüdischer Herkunft ist. In dieser älteren Sammlung ging es um ein vernünftiges und ins Geistige übertragenes Verständnis des jüdischen Ritualgesetzes (vgl. wieder Philo). Deutlich sichtbar ist diese Vorlage noch Barn.2.4-3.6 (Opfer und Fasten); 9.1-9 (Beschneidung);
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10.1-12 (Speise- und Reinheitsgebote); 15.1-8 (Sabbat); 16.1-10 (Tempel). Gelegentlich hat der Verfasser eingegriffen und christliche Interpretationen angefügt, so ζ. B. die Begründung der Sonntagsheiligung (15.9). Der eigentliche Beitrag des Verfassers liegt in der Durchführung des Schriftbeweises zum Kommen Jesu, zu seinem Leiden und seinem Kreuz (5.1-8.7; 11.1-12.9) und zur Frage des Neuen Bundes (13.1-14.9; vgl.4.6-8). An die Sammlung der Zitate zur Beschneidung ist eine allegorische Interpretation in Bezug auf das Kreuz Jesu angehängt (9.8-9; die 318 von Abraham beschnittenen Knechte weisen auf Jesu Kreuz, da die griechische Schreibung dieser Zahl IHT auf den Namen Jesu und das Symbol des Kreuzes zu deuten ist). In diesen Allegorien kommen also die Themen zur Sprache, die auch im Hebräerbrief eine zentrale Rolle spielen. Eine bestimmte Ordnung ist nicht zu erkennen. Vielmehr wirkt das ganze mehr wie eine Materialsammlung, wie sie etwa von den Gestaltern der Passionsgeschichte benutzt wurde. In der Tat findet sich hier Auslegungsmaterial, das auf die Ausarbeitung der Passionsgeschichte eingewirkt hat, z.B. daß Jesus Galle mit Essig trinken sollte (s.o. §10.2a zum Petrusevangelium). Daß der Barnabasbrief die Evangelien gekannt hat, ist nicht nachzuweisen. Im Gegenteil, was Barnabas bietet, ist Material aus der „Schule der Evangelisten". Natürlich hat er vom Leiden Jesu gewußt (auch anderes Evangelienmaterial ist ihm geläufig, vgl. 5.8-9 und die Kritik an den Titeln Davidsohn und Menschensohn, 12.10-11) und er beweist, wie man im frühen Christentum an der Leidensgeschichte gearbeitet hat, um mit Hilfe der Auslegung des AT den Sinn dieses Leidens zu begreifen. Erst später ist das hier in seinen Anfängen gebotene Material des Schriftbeweises für die Passionsgeschichte systematisch neu aufgearbeitet worden, nämlich bei Justin dem Märtyrer. Aber Justin kannte die synoptischen Evangelien, benutzte die inzwischen schriftlich fixierten Berichte und konnte so den Gang des Schriftbeweises in eine bestimmte Ordnung bringen. Sachlich gesehen steht das Material, das Barnabas bietet, am Anfang des Prozesses, der über das Petrusevangelium zum Matthäusevangelium weiterläuft und schließlich bei Justin seinen Abschluß findet. Ein weiteres Anliegen des Hebräerbriefes spielt neben dem Schriftbeweis für das Leiden Jesu und für den Neuen Bund eine wichtige Rolle im Barnabasbrief, nämlich die Apokalyptik. Dem ausführlichen Schriftbeweis für das Leiden geht im Barnabasbrief eine eschatologische Mahnung voraus (4.1-14), in der das Henoch-
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buch (89.61-64) und Daniel (7,24; 7,7-8) zitiert werden. Die Erwartung der Wiederkunft ist auch in die Allegorie des jüdischen Opferritus in Bezug auf den Tod Jesu eingearbeitet (Barn. 7.6-9). Ebenso steht die Schlußmahnung (21.1-3) unter dem Aspekt der Erwartung der Parusie. Mit diesem Ausblick auf die Parusie wird vom Verfasser die Zwei-Wege-Lehre verbunden (18-20; vgl. Did. 1-6, s.o. § 10. lc), die als „eine weitere Gnosis" eingeführt wird. Während in der Didache die beiden Wege als Weg des Lebens und des Todes bezeichnet sind, erscheinen sie bei Barnabas als Weg des Lichts und der Finsternis, denen die Engel Gottes und des Satans zugeordnet werden. Das entspricht der Quelle der Didache, auf die die lateinische Übersetzung von Did. 1-6 zurückgeht, wo sich die gleichen Bezeichnungen wie bei Barnabas erhalten haben. Überhaupt zeigen sich bei Barnabas viel weniger Spuren einer christlichen Bearbeitung dieses jüdischen Katechismus als in der Didache. Er steht also der jüdischen Vorlage näher. Mit der Anführung der Zwei-Wege-Lehre rundet sich für den Barnabasbrief das Bild eines typischen Repräsentanten der nachpaulinischen Gemeinden. Die gleichen Grundzüge fanden sich bereits in den bisher besprochenen Zeugnissen, wenn auch gelegentlich das eine oder andere Element zurücktrat. Schriftbeweise für den Tod Jesu, durch den Vergebung der Sünden erlangt wird, Regelung des christlichen Wandels im Sinne einer aus dem Judentum entlehnten Morallehre und Erwartung der Parusie und des Gerichts sind auch für den 1. Clemensbrief und den 1. Petrusbrief die wesentlichen Elemente des christlichen Glaubens. Daß dieser Glaube als rechte „Gnosis" empfohlen wird (vgl. den Schluß des Barnabasbriefes, 21.4), zeigt die antignostische Ausrichtung dieser Gemeindefrömmigkeit.
d) Ignatius von Antiochien Aus den Jahrzehnten, die auf den Tod der ersten Generation der christlichen Apostel folgen, also aus der Zeit von etwa 60-90 nChr, kennen wir keinen einzigen Namen. Die zweite christliche Generation bleibt vollkommen anonym. Alle christlichen Schriften dieser Zeit sind unter dem Pseudonym irgendeines Apostels der ersten Generation erschienen (wenn auch, wie im Falle des Hebräerbriefes, die Pseudonymität nur verdeckt behauptet wird). In der nächsten christlichen Generation ändert sich das. Hier treten uns neue Namen entgegen, allerdings nur im Raum der
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ehemaligen paulinischen Gemeinden, sowie in Rom und in Antiochien. Zwar gibt es auch hier, wie sich zeigen wird, noch eine Fortsetzung der pseudepigraphen Schriftstellerei, aber sie beherrscht nicht mehr ausschließlich das Feld. Hingegen dauert in Syrien (abgesehen von Antiochien) und in Ägypten die Pseudepigraphie unter dem N a m e n eines Apostels (oder auch einer Autorität des AT) noch ungebrochen fort. In Ägypten erscheinen erst eine Generation später mit den gnostischen Schulhäuptern die ersten N a m e n christlicher Schriftsteller; aus Syrien sind Tatian und Bar-Deisan aus der 2. Hälfte des 2. Jh. die ersten, die namentlich bekannt sind. Im ägäischen Raum (mit Rom und Antiochien) ist mit dem teilweisen Ende der pseudepigraphen Schriftstellerei noch eine andere Erscheinung verbunden, die eine neue geschichtliche Situation beleuchtet. Man richtet Schreiben an andere Gemeinden oder Gemeindegruppen mit der unverhüllten Absicht, kirchenpolitisch zu wirken. Clemens schreibt im Auftrag der römischen Gemeinde nach Korinth, um die dortigen Verhältnisse zu ordnen. Der Prophet Johannes schreibt aus der Verbannung auf Pathmos an mehrere kleinasiatische Gemeinden. Ignatius, Bischof von Antiochien, schreibt in Smyrna und T r o a s an andere dortige Gemeinden und nach Rom. Polykarp schickt die ignatianischen Briefe nach Philippi und sendet ein weiteres Schreiben dorthin, um den Fall eines Presbyters zu regeln, der einen Griff in die Gemeindekasse getan hatte. Aus der Mitte des 2. Jh. sind durch Euseb Nachrichten über die Briefe des Bischofs Dionysios von Korinth erhalten. Er schrieb an Ä e Spartaner, die Athener, an die Gemeinden in Gortyna und Knossos auf Kreta, Nikomedien in Bithynien, Amastris in Pontus und nach Rom. In dem letzteren Brief berichtet Dionysios auch, daß der Brief des Clemens von Rom an die Korinther noch immer regelmäßig in der Gemeinde verlesen wird (Euseb, Hist. eccl. 4.23). Z u m Abklingen der Pseudepigraphie und zum Gebrauch des Briefes als kirchenpolitisches Mittel tritt ein drittes Element: die f ü r die weitere geschichtliche Entwicklung der hier behandelten Gemeinden bedeutsame Sammlung der paulinischen Briefe. Sie wurde schnell verbreitet und vielfach benutzt. Zu dieser Sammlung gehören bereits die Briefe an die Kolosser und Epheser, offenbar auch der H e bräerbrief. Der 2.Thessalonicherbrief scheint zu fehlen, ebenso unter den echten Paulusbriefen der 2.Korintherbrief; denn von diesen beiden Briefen finden sich keine Spuren im 1. Clemensbrief und bei Ignatius. Entstanden ist diese Sammlung wohl in Kleinasien.
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Wichtig ist, daß sie bereits vor der Jahrhundertwende in Rom ebenso wie in Antiochien bekannt war. Paulus kann aus der weiteren Entwicklung der Gemeinden dieses Bereichs nicht mehr fortgedacht werden, wenngleich man seiner Theologie auch kritisch gegenüberstand. Wichtig ist, daß man die paulinischen Briefe als schriftliche Sammlung besaß und sie benutzte, ehe überhaupt jemand daran dachte, sich auf schriftliche Evangelien zu berufen. Die Behandlung der Briefe des Ignatius von Antiochien möchte ich hier an die erste Stelle setzen, obgleich der 1. Clemensbrief und der 1. Petrusbrief zeitlich etwas früher anzusetzen sind. Aber bei Ignatius zeigt sich noch einmal ein Versuch, sich theologisch mit Paulus zu beschäftigen. Insofern gehört er mit dem Epheserbrief und vor allem mit dem Hebräerbrief eng zusammen. Die Gemeinde Antiochiens, deren Bischof Ignatius war, wird man in der unmittelbar auf Paulus folgenden Zeit eher der petrinischen Christenheit Syriens als der paulinischen Christenheit zurechnen. Das Matthäusevangelium könnte dort entstanden sein (s.o.§ 10.2c). Für die Zeit nach der Mitte des 1.Jh., nachdem Paulus Antiochien verlassen hatte (s.o. §9. 2a), läßt sich zunächst nichts über weiter bestehende Einflüsse des Paulus sagen. Das Markus- und das Matthäusevangelium gehen zwar auf das Kerygma von Kreuz und Auferstehung zurück und stimmen mit den Grundsätzen dessen, was man „das paulinische Evangelium" nennen könnte, überein. Das heißt, daß die Gemeinde Antiochiens an der schon für den Aufenthalt des Paulus in Antiochien vorauszusetzenden Verkündigung von Jesu Kreuz und Auferstehung und an der Erwartung der Parusie festhielt (s.o. §8.3c). Mit Ignatius, dem Bischof von Antiochien, tritt uns jedoch um das Jahr lOOnChr ein Mann entgegen, der zutiefst durch die Briefe des Paulus beeinflußt ist. Der Angabe des Euseb (Hist, eccl. 3.22), Ignatius sei zur Zeit Trajans Bischof von Antiochien gewesen, kann man Vertrauen schenken, zumal der von Euseb unabhängige Martyriumsbericht (das Martyrium Colbertinum) diese Angabe bestätigt. Polykarp, Bischof von Smyrna, an den Ignatius einen seiner erhaltenen Briefe richtete, erlitt 167nChr (so nach Euseb, Hist.eccl. 4.14.10; 15.1) oder vielleicht schon 156nChr (errechnet aus den Angaben des Martyriumsberichts; s.u.§12.3f) im Alter von 86Jahren das Martyrium, wurde also entweder 69/70 oder 80/81 nChr geboren. Da er zur Zeit der Abfassung der ignatianischen Briefe bereits Bischof von Smyrna war, setzt man das Datum des Martyriums des Ignatius am besten in die letzten Regie-
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rungsjahre Trajans ( 1 1 0 - 1 1 7 n C h r ) ; ein früheres Datum ist aber nicht ausgeschlossen. Der Anlaß der Briefe des Ignatius ist aus den Briefen selbst klar ersichtlich. Ignatius war in Antiochien inhaftiert worden und wurde von einer Gruppe römischer Soldaten nach Rom gebracht, um dort in der Arena den wilden Tieren vorgeworfen zu werden. Auf dem Wege durch das westliche Kleinasien hatte er Gelegenheit, mit mehreren christlichen Kirchen Kontakt aufzunehmen, bzw. mit ihren Delegationen zu sprechen. Daraufhin schrieb er von Smyrna aus Briefe an die Gemeinden in Ephesus, Magnesia und Tralles, sandte auch einen Brief an die römische Gemeinde, in dem er sie dringend beschwor, nichts zu tun, das sein ersehntes Martyrium verhindern könnte. Nach seiner Abreise von Smyrna schrieb er vor der Uberfahrt nach Neapolis von Troas aus an die Gemeinden in Philadelphia und Smyrna sowie an Bischof Polykarp. Diese sieben Briefe sind erhalten (zur Uberlieferung und zu den verschiedenen Rezensionen s.o.§7.3f). Die Schreiben des Ignatius sind echte Briefe, jeweils mit Präskript (Absender, Adresse, Gruß) und Schlußgrüßen versehen. Die letzteren enthalten gelegentlich spezielle Grüße und, im Brief an Polykarp, besondere Instruktionen. Auf die Situation der angeredeten Gemeinden wird manchmal Bezug genommen, auch einzelne Personen erwähnt. Aber im ganzen gesehen sind die Briefe mehr allgemein gehalten - Ermahnung und Vermächtnis des zum T o d e Verurteilten. Grundsätzliche Aussagen über die Heilsbedeutung des Kreuzes Christi, die Stellung des Bischofs und das Verhalten der Gemeindeglieder werden in den einzelnen Briefen jeweils wiederholt. Auch die Warnungen vor Irrlehrern müssen nicht unbedingt auf die Gemeinde gemünzt sein, in deren Brief sie erscheinen. Der Brief an Polykarp ist trotz seiner persönlichen N o t e zu einem allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Bischofsspiegel gestaltet, und der Brief an die Römer offenbart zwar den persönlichen Martyriumseifer des Ignatius, ist aber eine grundsätzliche theologische Stellungnahme zur Frage des Rechts und der W ü r d e des Märtyrers. Man muß daher die sieben Briefe als eine Einheit ansehen. Sie sind alle innerhalb weniger Wochen geschrieben worden und beziehen sich auf die gleiche kirchliche und persönliche Situation. In seiner Paulusinterpretation steht Ignatius dem Epheserbrief, den er kannte und benutzte, sehr viel näher als jener nachpaulinischen Theologie, die sich mit der Auslegung des Alten Testamentes
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beschäftigte und an der Erwartung der Parusie festhielt. Bei Ignatius ist die eschatologische Erwartung auf den Gedanken des Martyriums reduziert, und das A T spielt bei ihm keine Rolle, wird kaum je angeführt (ausdrücklich zitiert werden nur zwei Stellen aus den Proverbien; vgl.Eph. 5.3; Mg. 13.1). Charakteristisch für Ignatius ist Phld. 8.2, wo er von einer Debatte mit Gegnern berichtet, die sich auf das AT beriefen, denen gegenüber aber Ignatius, nicht willens, sich auf eine Diskussion über Probleme der Auslegung einzulassen, einfach auf das Evangeliums von Jesu Kreuz und Auferstehung als maßgebliche Autorität verwies. Ignatius denkt überhaupt nicht in Kategorien der Zeit und der Geschichte, sondern in den der Gnosis näherstehenden Kategorien des Raumes und des Kosmos. Das verbindet ihn mit dem Johannesevangelium, mit dessen Sprache er sich vielfach berührt (doch läßt sich nicht nachweisen, daß er dieses Evangelium gekannt und benutzt hat). Aber nur gelegentlich finden sich bei Ignatius mythische Aussagen im Sinne eines kosmologischen Dramas. So beschreibt er z.B. einmal die Himmelfahrt des Erlösers als kosmischen Sieg über die Sternenmächte (Eph. 19). Meist jedoch faßt er die Rede von der himmlischen und der irdischen Welt in die statischen Kategorien von Geist und Fleisch. Sie dienen ihm zur Darstellung der Christologie ebenso wie zur Beschreibung des Sakramentes, der Kirche und der Existenz der Glaubenden. In diesem Sinne interpretiert er auch das überlieferte Kerygma vom Kommen des Erlösers in menschlicher Gestalt, von seinem T o d und von seiner Auferstehung. Sein Kronzeuge ist dabei Paulus, auf den er sich häufig bezieht und der für ihn der Theologe ist, der die in Christi Kreuz und Auferstehung verkündete Erlösung recht verstanden hat, obgleich gerade die Begriffe Geist und Fleisch bei Paulus ganz anders, nämlich als dynamisch-eschatologische Kategorien verwendet sind. Das Kerygma seiner Kirche, das Ignatius wiederholt zitiert und formuliert und das er Evangelium nennt, ist gegenüber dem paulinischen Evangelium (vgl. 1. Kor. 15,3-4) stark erweitert. Es beginnt mit der Geburt Jesu aus Maria, der Jungfrau (Eph. 18.2; Trail.9; und zwar dient diese Aussage der Unterstreichung der vollen Menschheit Jesu!), schließt einen Hinweis auf die Taufe Jesu ein (Eph. 18.2; Sm. 1.1) und fügt zum Leiden und Kreuz Jesu ausdrücklich den Namen Pontius Pilatus hinzu (Trail. 9; in Sm. 1.2 ist außerdem noch Herodes genannt). Es zeigt sich also eine Entwicklung des Kerygmas, die derjenigen der Evangelien parallel verlief; denn
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dort wurde ja zunächst die Passionsgeschichte mit einer Einleitung versehen, die mit der Taufe Jesu einsetzt (Markus), dann diesem Aufriß die Geburtsgeschichten vorangestellt (Matthäus und Lukas). Ignatius interpretiert dieses überlieferte Kerygma außerdem nach seinem dualistischen Schema von Geist und Fleisch; denn er sieht im Kommen, Sterben und Auferstehen Christi die Verwirklichung der Einheit der geistigen und göttlichen Welt mit der fleischlichen und irdischen Welt der Menschen. Christus ist „im Fleisch und im Geist ans Kreuz genagelt" (Sm.1.1), nach der Auferstehung berühren ihn die Jünger „im Fleisch und im Geist" (Sm.3.2). In Sm. 1 wird eine kerygmatische Formel durch Einfügungen aus dem paulinischen Römerbrief entsprechend erweitert: „aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, Sohn Gottes nach dem Willen und der Kraft Gottes" (Rom. 1,3-4). O f t dient Ignatius einfach die Einfügung des Wortes „wahrhaftig" zur Unterstreichung der in Christus zu einer Einheit verbundenen göttlichen und irdischen Wirklichkeiten: „wahrhaftig geboren, wahrhaftig verfolgt, wahrhaftig gekreuzigt und gestorben, wahrhaftig auferstanden von den T o t e n " (Trail.9.1-2). Oder er benutzt paradoxe Gegenüberstellungen von Gegensätzen zur Beschreibung der Gegenwart beider Sphären in Christus: „fleischlich und geistig, geboren und ungeboren, im Fleische Gott geworden, im Tode wahres Leben, aus Maria und aus Gott, erst leidensfähig und dann nicht fähig zu leiden" (Eph. 7.2). Damit ist die Christologie des Ignatius schon im wesentlichen beschrieben; denn an nichts anderem als an dieser Gegenwart Gottes im Menschen Christus hängt für ihn die Erlösung. Für die Gemeinde wird dieser Christus wirksam im Evangelium und in der Eucharistie. Wie es ein Fleisch Christi gibt, so gibt es ein Brot, einen Kelch, ein Evangelium (Eph. 20.2; Sm.7.2; Phld.4). Das Evangelium ist selbst die Ankunft des Erlösers, sein Leiden, seine Auferstehung (Phld.9.2). Ebenso ist das Brot der Eucharistie der gegenwärtige Christus, die Medizin der Unsterblichkeit (Eph. 20.2). An eine mechanistische Sakramentsauffassung darf man dabei nicht denken. Im Gegenteil, Ignatius betont wiederholt die Harmonie und gegenseitige Liebe der lebendigen Gemeinde, in der Evangelium und Eucharistie wirksam sind (Eph.4.1-5.2). Wie die Eucharistie nicht ohne den Fleisch gewordenen Christus denkbar ist, so ist sie auch nicht ohne christliche Gemeinde vorstellbar, freilich auch nicht die Gemeinde ohne das Sakrament. Der Gottes-
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dienst ist das Z e n t r u m der Gemeinde (Eph. 13.1), und w e r außerhalb des Altars ist, ist außerhalb des Brotes Gottes (Eph. 5.2; T r . 7.2). Die Gemeinde hat die gleiche religiöse Qualität wie Christus, das Evangelium und das Sakrament. Die Christen sind in diesem Sinne „in Christus" (Eph. 11.1; 20.1), „in G o t t " (Eph. 15.3), N a c h a h m e r Gottes oder Christi (Tr. 1.2; Phld.7.2), und alles was die Gemeinde „ n a c h dem Fleisch", also im Bereich des irdischen Lebens tut, ist „geistlich" (Eph. 8.2). In ihrem H a n d e l n stellt sich die Einheit von Fleisch und Geist dar (Mg. 13.2). Sie ist der „Bau G o t t e s " (Eph. 9.1; hier spricht Ignatius vom Kreuz als Baumaschine); aber der N a c h d r u c k liegt nicht, wie im Hermashirten (s.o. § 12.1 d) auf der individuellen Reinheit sondern auf der Gestaltung des Gemeindelebens in gegenseitiger Liebe (Eph. 14; Mg. 1; u.ö.). Paulinische Elemente sind hier bewußt a u f g e n o m m e n und an den Briefen des Paulus hat sich Ignatius, wie aus den vielfachen Anf ü h r u n g e n paulinischer Sätze ersichtlich ist, ständig orientiert. W e n n man ihm auch vorwerfen kann, daß manche Begriffe bei ihm eine andere Bedeutung haben als bei Paulus, so ist es ihm doch gelungen, die christliche Gemeinde aus dem Evangelium und der Eucharistie heraus zu verstehen und eine Moralisierung des christlichen Verhaltens zu vermeiden. Über Paulus hinaus geht freilich das Eintreten des Ignatius f ü r eine Gemeindeorganisation, die unter dem N a m e n des monarchischen Episkopats bekannt geworden ist. Ignatius bezeichnet sich selbst als der Bischof von Antiochien, und er setzt voraus, daß in allen Gemeinden, an die er schreibt, ein Bischof an der Spitze der Gemeinde steht. Damit ist Ignatius der erste Zeuge f ü r eine zu dieser Zeit neue Form der Gemeindeorganisation, in der ein einzelner Leiter der Gemeinde vorsteht, der jedenfalls nach dem von Ignatius entworfenen Bild mit erheblichen Machtbefugnissen ausgestattet ist. Wie weit sich dieses monarchische Episkopat bereits durchgesetzt hatte, wissen wir nicht. Altere Zeugnisse d a f ü r gibt es nicht; es ist eine spätere Fiktion, daß Bischöfe bereits von den Aposteln eingesetzt w o r d e n sind. Jedenfalls w u r d e diese Form der Gemeindeleitung in den nächsten J a h r z e h n t e n in den Ländern der Agäis und in Rom durchgesetzt, bald darauf auch sonst im westlichen Syrien, am Ende des Jahrhunderts in Ägypten und später auch im Osten Syriens. W o h e r sie stammt, ist umstritten und mag hier auf sich beruhen. Ignatius stattet das Amt des Bischofs mit erheblichen Befugnissen aus, versteht aber sich selbst als T r ä g e r dieses Amtes sowie
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auch das Amt des Bischofs überhaupt mehr im charismatischen als im institutionellen Sinn. Der Bischof vertritt, was Gott denkt (Eph. 3.2-4); er muß aufgenommen werden wie Gott (Eph. 6). Er garantiert die Gegenwart Christi bei der Taufe und beim Liebesmahl der Gemeinde, die deshalb nicht ohne ihn abgehalten werden sollen (Sm.8.2). Die Gemeinde soll nur im Einvernehmen mit dem Bischof handeln; Einheit mit dem Denken Gottes setzt voraus, daß man mit dem Bischof einig ist (Eph. 3.2; Phld. 3.2). Wer ohne den Bischof etwas tut, verstößt gegen das Christsein (Mg.4;7; Phld. 7.2; Sm.8; in Sm.9.1 wird sogar das Handeln ohne den Bischof als Werk des Teufels bezeichnet). Verständlich werden diese Aussagen auf dem Hintergrund dessen, was über die Gemeinde gesagt war, die in ihrem Tun Christus darstellt. Die Befugnisse des Bischofs sind daher nicht im Gedanken der Macht, sondern im Gedanken der Einheit Christi mit der Gemeinde verankert. Im übrigen steht der Bischof als Amtsträger keineswegs allein, sondern teilt mit den Presbytern und Diakonen die Verantwortung für die Gemeinde. Alle drei werden häufig zusammen genannt (Mg. 13.1; T r . 2 ; 3; 7; Phld.7.1; 10.2; Sm.8.1). Gehorsam dem Bischof gegenüber und Gehorsam gegen das Presbyterium stehen nebeneinander (Eph. 2.2; 20.2; Mg. 2 - 3 ; Tr. 2.1). Man soll die Diakone ansehen wie Christus, den Bischof wie den Vater und die Presbyter wie das Kabinett Gottes (Tr. 3.1). Schließlich zeigt der für den Bischof Polykarp geschriebene Bischofsspiegel, daß Ignatius nie an Ausübung der Macht denkt, wenn er von der Autorität des Bischofs redet, sondern an Fürsorge und Dienst. Der Bischof soll die Gebrechen aller tragen (Pol. 1.3), nicht den guten, sondern den schwierigen Jüngern seine Liebe zuwenden (Pol. 2.1), sich um die Witwen kümmern (Pol. 4.1), sich gegen Sklaven und Sklavinnen nicht überheblich gebärden (Pol. 4.2). Entscheidend ist die Frage der Zusammenarbeit (Pol. 6.1). Wichtig ist das Amt des Bischofs vor allem in Bezug auf die Frage der Irrlehre; in diesem Zusammenhang wird von Ignatius wiederholt auf das Bischofsamt hingewiesen (Tr.7; vgl.Pol. 3; u.ö.). Es ist schwer, sich über die Art der Irrlehrer auf Grund der wenigen Andeutungen ein klares Bild zu machen. Mehrfach taucht der Vorwurf des „Judaismus" auf (Mg. 8.1; Phld. 6.1), auch die Sabbatfeier und die Beschneidung werden genannt (Mg. 9; Phld. 6.1). Das Christusbekenntnis und „judaisieren" schließen sich für Ignatius gegenseitig aus (Mg. 9). Im Brief an die Philadelphier wird außerdem
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noch der bereits erwähnte Streit über die Schriftauslegung berichtet (Phld.8.2), und in unmittelbarem Anschluß daran stellt Ignatius, scheinbar unvermittelt, „ d e n Priestern und dem H o h e n p r i e ster" Christus und das Evangelium gegenüber (Phld.9). Boten die G e g n e r auf G r u n d ihrer Schriftinterpretation eine (christologische?) Lehre von priesterlicher Vermittlung des Heils an? W a r e n es dieselben Gegner, die auch von der Beschneidung redeten? Jedenfalls spielt Ignatius auf eine judenchristliche Lehre an, die sich auf das Alte Testament berief. Vielleicht muß man bei den Gegnern der Briefe an die S m y m ä e r und die Trallianer an eine andere Lehre denken. Doketismus wird mehrfach scharf zurückgewiesen; die Gegner leugnen die volle Menschheit Jesu Christi (Tr. 10; S m . 2 ; 4.2; 7.1). Also handelt es sich um Gnostiker. D a z u stimmt auch, daß in beiden Briefen Spekulationen über Engel und kosmische Mächte zurückgewiesen w e r d e n ; auch die Engel und Archonten werden gerichtet werden, wenn sie nicht an Christi Blut glauben, sagt Ignatius (Sm.6.1; vgl.Tr.5). Es ist aber möglich, daß sich alle Bemerkungen des Ignatius über Irrlehrer auf die gleiche G r u p p e beziehen, also auf judenchristliche Gnostiker. D a ß die Angaben über Irrlehrer bei Ignatius so unbestimmt sind, hat seinen guten G r u n d . Es geht ihm nicht d a r u m , der Gemeinde Argumente zu liefern, mit denen sie sich gegen Irrlehrer wehren kann. Er will vielmehr nur warnen und die Gemeinde z u m Zusammenschluß gegen die Irrlehrer unter der Leitung des Bischofs bringen. N u r so kann nach Ignatius das Problem der falschen Lehre gelöst und auch die Ortsgemeinde vor der Zersplitterung bewahrt werden. D a d u r c h wird in der Bekämpfung der Irrlehre ein neuer W e g beschritten. Die Festigung der Gemeinde als der einen Ortsgemeinde, durch einen G o t tesdienst zusammengehalten und in gegenseitiger Liebe und im Gehorsam gegenüber dem Bischof geeint, soll das Bollwerk gegen die G e f a h r der Irrlehre werden. Maßstab wird außerdem das fest formulierte „Evangelium". Gleichzeitig setzt Ignatius den Brief, wie einst Paulus, als kirchenpolitisches Mittel ein, allerdings nicht, um einzelnen Gemeinden H a n d r e i c h u n g und E r m a h n u n g f ü r ihre speziellen Probleme zu geben, sondern um die Gemeinden überall in der gleichen Weise zu festigen. W a r u m fühlte gerade Ignatius, der nichts weiter w a r als der Bischof von Antiochien, sich zu dieser Aufgabe berufen? Die Antw o r t auf diese Frage f ü h r t auf sein Märtyrerbewußtsein. Ignatius betont wiederholt, daß er nicht als Bischof spricht, sondern als einer,
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der auf dem Wege zum Märtyrertod ist. So sind seine Briefe sehr stark vom Gedanken des Testamentes bestimmt. Als Bischof wäre er nur eine Stimme Gottes, aber als Märtyrer ist er der göttliche Logos (Rom. 2.1); denn im Martyrium wird er Christus gleich, „erlangt G o t t " (Rom. 1.2; 4.2; 5.3; u.ö.). Das hängt auf das Engste mit seiner Sicht des Evangeliums und der Christologie zusammen; denn im Leiden und im T o d wird die Einheit von Gottheit und Menschheit vollendet. N u r im Martyrium nimmt man im vollen Sinne an Christi Kreuz und Auferstehung teil (Rom.6.1). Die ganze eschatologische Erwartung des Urchristentum scheint hier auf den Martyriumsgedanken konzentriert - freilich ohne daß den Gemeindechristen bestritten wird, daß sie im vollen Sinne Christen seien. Vielmehr tritt das Maryrium neben das Evangelium und das Sakrament als Vergegenwärtigung der Erlösung für die ganze Kirche; denn es bewirkt, worum es im Christsein eigentlich geht: hier wird man zum Jünger (Eph. 1.2; Rom. 5.3); es ist der Ruf zum Vater (Rom. 7.2), die Freiheit von der Sklaverei (Rom. 4.3), das Brot Gottes (Rom. 7.3). N u r auf dem Hintergrund der Erneuerung des Kerygmas von Kreuz und Auferstehung im paulinischen Sinne läßt sich die Sehnsucht des Ignatius begreifen, im eigenen T o d das Leben zu gewinnen, „von der Welt unterzugehen, um zu Gott hin aufzugehen" (Rom. 2.2), „das reine Licht zu ergreifen" (Rom. 6.2). So ist Paulus nicht zufällig f ü r Ignatius der gesegnete Märtyrer, dessen Nachfolge er antreten will - aber alle Christen sind die „Miteingeweihten des Paulus" (Eph. 12.2).
e) Paulus und Petrus als Autoritäten der kirchlichen Lebensordnung Zu den Kirchenführern, die in ihrem eigenen Namen, nicht gedeckt durch die Autorität eines Apostels der vergangenen Zeit, kirchenpolitisch durch Schreiben an andere Gemeinden wirkten, gehört Clemens von Rom, dem wir den 1. Clemensbrief verdanken. Dieser Brief war zunächst nur durch die Bibelhandschrift Kodex Alexandrinus bekannt (s.o. §7.2c), in dem er auf die Offenbarung Johannis folgt; jedoch fehlte hier ein Blatt, das l.Clem57.7-63.4 enthielt. Der vollständige griechische Text wurde erst im Kodex Hierosolymitanus entdeckt (s.o.§ 10.1c). Außerdem wurden seitdem noch eine lateinische, eine syrische und zwei koptische Ubersetzungen veröffentlicht. Hinzu kommen eine Reihe von Zitaten
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aus dem 1. Clemensbrief bei Clemens von Alexandrien. Benutzt hat diesen Brief bereits Polykarp von Smyrna, und eine Erwähnung findet sich um die Mitte des 2.Jh. bei Dionysios von Korinth. Das Schreiben des Clemens war also sehr bald weit verbreitet. Es ist ein echter Brief, der als Absender im Präskript die römische Gemeinde und als Empfänger die Gemeinde Korinths nennt. Nach guter alter Überlieferung hat Clemens diesen Brief im Auftrag der römischen Gemeinde verfaßt. Wahrscheinlich war dieser Clemens der Schreiber der Gemeinde Roms, und es ist möglich, daß sich die Bemerkung Herm.Vis.2.4.3 auf ihn bezieht. Bischof der römischen Gemeinde, wie die spätere Tradition behauptet, war er sicher nicht; denn der Brief enthält keine Hinweise auf ein monarchisches Bischofsamt, wie es uns zur gleichen Zeit oder nur wenig später bei Ignatius und Polykarp entgegentritt. l.Clem.42 redet von Bischöfen nur im Plural. Als Abfassungszeit nimmt man am besten 96/97 nChr, also die Jahre nach der domitianischen Verfolgung in Rom, an; denn der Brief bezieht sich auf Verfolgungen, die erst vor kurzer Zeit plötzlich über die Gemeinde hereingebrochen waren. Der Anlaß des Schreibens nach Korinth war, daß dort eine Gruppe von jüngeren Gemeindegliedern die Presbyter abgesetzt hatte (1. Clem. 47.6). Uber den Grund des Aufstands gegen die Presbyter erfahren wir so gut wie nichts. Clemens bezeichnet den Aufstand als befremdend und gottlos (l.Clem. 1.1) und läßt wiederholt erkennen, daß die Gemeinde in Korinth unter dem Konflikt schwer zu leiden hatte. Er geht aber nirgends auf die Beweggründe der Unruhestifter ein. Die Vermutung, daß es sich um eine in die Gemeinde eingedrungene Irrlehre handelte, liegt auf der Hand, und da wir durch die Offenbarung Johannis und durch die Ignatiusbriefe wissen, daß es zu jener Zeit in Kleinasien judaistische und gnostische Lehrer gab, kann man annehmen, daß auch in Korinth solche Leute auftraten und die Gemeinde zu spalten vermochten. In seiner Ermahnung betont Clemens die traditionelle jüdischchristliche Moral, die Schöpfung der Welt durch Gott, die Auferstehung Christi und die Erwartung der Auferstehung der Christen. All das könnte seinen guten Platz in einem gegen die Gnosis gerichteten Schreiben haben. Man darf aber nicht übersehen, daß eine Polemik gegen Irrlehrer in diesem Brief fehlt und daß der Verfasser an dieser Frage kein Interesse hat. Er wiederholt vielmehr in großer Ausführlichkeit, was für ihn die Grundlage christlichen Glaubens, Lehrens und Handelns ist, und erwartet, daß die Rückbesin-
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nung darauf auch die Einheit der korinthischen Gemeinde wieder herstellen wird. Für die geschichtliche Situation, aus der heraus Clemens schreibt, ist eine eigenartige Parallele zu Ignatius von Antiochien bezeichnend. Sowohl Ignatius als auch Clemens nennen Petrus und Paulus in einem Atemzug (l.Clem.5; Ign.Röm.4.3). In beiden Fällen werden Petrus und Paulus Apostel genannt, und an beiden Stellen wird auf sie als Märtyrer Bezug genommen. Daß beide Apostel zusammen genannt werden, ist keineswegs selbstverständlich. Man erinnere sich an den Konflikt zwischen Paulus und Petrus seinerzeit in Antiochien (s.o. §9. 2a) und an die selbständige Entwicklung der Petrustraditionen in Syrien (s.o. § 10.2a), wo sich im 2. Jh. sogar eine anti-paulinische Petrusüberlieferung herausbilden sollte (s.o. §10.4c). Daß diese beiden Apostel jetzt ausgesöhnt nebeneinander stehen, spiegelt eine bedeutsame kirchenpolitische Entwicklung wider. Christliche Gemeinden, die sich zunächst getrennt unter der jeweiligen Autorität eines einzelnen Apostels gebildet hatten, schlossen sich zusammen. Daß die Autorität des Petrus dabei aus der syrischen Tradition stammte, ist nicht zu bezweifeln. Petrus mag zwar selbst gegen Ende seines Lebens nach Rom gekommen sein und dort das Maryrium erlitten haben. Aber das läßt sich nicht sicher nachweisen, weil aus der Zeit von 60-90 nChr nichts über die römische Gemeinde bekannt ist. Bemerkenswert ist der Zusammenhang der Erwähnung der beiden Apostel in l.Clem.S.Clemens sagt, er wolle den bereits angeführten alttestamentlichen Beispielen auch solche aus der jüngsten Zeit an die Seite stellen. Zunächst verweist er allgemein auf die größten gerechtesten „Säulen" (der Kirche), die gelitten haben (5.2). Dann leitet die Bemerkung „Halten wir uns die guten Apostel vor Augen" (5.3) eine kurze Erwähnung des Martyriums des Petrus ein (5.4); darauf folgt eine längere Aufzählung der Leiden und des Martyriums des Paulus (5.5-7). Eine besondere Verbindung zur römischen Gemeinde wird weder in dem einen noch in dem anderen Falle hergestellt. Das ist angesichts von l.Clem.42 auffallend; denn dort sagt Clemens, daß die Apostel, nachdem sie das Evangelium in den verschiedenen Ländern und Städten verkündet hatten, überall die Erstbekehrten als Bischöfe und Diakonen einsetzten. Da auch hier keine speziellen Hinweise auf bestimmte Apostel in Bezug auf einzelne Kirchen gegeben werden, folgt, daß es Clemens nicht um eine spezifische Sukzessionslehre geht, sondern um eine allgemeine Fest-
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Stellung, durch welche die Beständigkeit der Amtsnachfolge gesichert werden soll. Petrus wird also nicht etwa als Begründer der Amtsautorität für Rom genannt, noch auch Paulus für Korinth. Vielmehr sind beide zusammen Vorbilder und Autoritäten für alle Kirchen. Seinem Charakter nach ist der 1. Clemensbrief Paränese. Das Material, mit dem Clemens arbeitet, ist deutlich erkennbar: ZweiWege-Lehre, vor allem Tugend- und Lasterkataloge, Haustafeln und Gemeinderegeln; das Alte Testament, aus dem manches ihm bereits in Beispielsammlungen vorlag; aus der christlichen Uberlieferung eine Sammlung von Herrenworten, aus der er zweimal zitiert (13.2; 46.8); eine Sammlung von Paulusbriefen; kerygmatische Formeln und liturgische Überlieferungen, zu denen ein ausgeführtes Fürbittengebet gehört (59.3-60.3). Aus der heidnischen Überlieferung hat Clemens eine Darstellung der Erhaltung und Regierung der Welt durch Gottes Weisheit übernommen, die ihm auf dem Wege über die jüdische Diaspora zugeflossen sein muß (20.1-11), außerdem populäres Illustrationsmaterial wie die Erzählung vom Vogel Phönix (25.1-5). Eine Gliederung dieser umfangreichen Schrift ist schwierig. Aber das schrifstellerische Verfahren ist erkennbar. Auf den eigentlichen Anlaß des Schreibens wird nur ganz kurz eingegangen (1.1), dann die früher berühmte Frömmigkeit der korinthischen Gemeinde an Hand eines Katalogs christlicher Tugenden und einer Haustafel dargestellt (1.2-2-8). Darauf folgt ein Lasterkatalog (3.2); das erstgenannte Laster (Eifersucht) wird durch Material aus dem A T (4.1-13), der christlichen Überlieferung (5.1-7) und aus dem Griechentum illustriert. In den folgenden Kapiteln verfährt der Verfasser ganz ähnlich mit einer Reihe von Tugenden: Buße (7-8), Gehorsam (9.2-10.6), Glaube und Gastfreundschaft (11-12), Demut (13-17). Fast alle Beispiele stammen aus dem AT, das ausführlich und oft im Wortlaut angeführt wird. Eine Reihe von alttestamentlichen Namen und Beispiele für ihr Verhalten tauchen mehrfach jeweils als Illustrationen anderer Tugenden auf; viele haben Parallelen in der Sammlung von Glaubensbeispielen in Hebr. 11. Das zeigt deutlich, daß bereits vorliegendes Illustrationsmaterial erst sekundär mit den betreffenden Tugenden oder Lastern verbunden wurde. Clemens streut gelegentlich Material anderer Herkunft ein. So führt er l.Clem. 13.2 einen kurzen Katechismus von Herrenworten an, der aber keinem schriftlichen Evangelium entnommen wurde, sondern im Wortlaut der
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synoptischen Spruchquelle nahe steht (das gilt auch für das Herrenwortzitat l.Clem.46.8). Nach einer Schlußbemerkung (17.1-19.1) folgt ein neuer Abschnitt, der sich am christlichen Kerygma orientiert, aber viele Abschweifungen enthält. 19.2-20.12 redet von der Schöpfung. Auf die Erwähnung des Herrn Jesus Christus, „dessen Blut für uns gegeben wurde," (21.6) folgt eine Haustafel (21.6-8), eine Mahnung Christi in Form eines Zitats von Ps.33, 12-18 (22.1-8) und eine Warnung vor Zweifel (23), die wiederum eine Diskussion über die Auferstehung einleitet (23.4-25.5). Hier stehen neben dem Gleichnis vom Phönix weitere Gleichnisse, die an Mt. 24, 32-33 und Mk. 4,3-9 anklingen. An eine Warnung vor dem kommenden Gericht (28.1) schließen Mahnungen zur Heiligung und guten Werken (29-34.6) und eine Erinnerung an die Verheißung an (34.7-35.12). „Dies ist der Weg, in dem wir unsere Rettung finden, Jesus Christus" (36.1) blickt auf das Gesagte zurück, das in der Tat zu einer umfassenden Darstellung christlicher Lehre, des „Weges", geraten ist. Erst hier setzt der Verfasser mit seinen speziellen Instruktionen ein: Über die Ordnung in der Kirche mit vielfachen Beispielen und Zitaten; wichtig die Darstellung der christlichen Ämter und ihrer Begründung (42; s.o.). Erst 44.1-6 bezieht sich auf die Situation in Korinth. Die Mahnung zur Wiederherstellung der Einheit, Gehorsam und Unterordnung (45-58) benutzt neben weiteren Hinweisen auf das A T jetzt auch viel spezifisch christliches paränetisches Material, das oft aus den paulinischen Briefen stammt. Das Fürbittengebet (59.3-61.3) ist mit Anklängen an alttestamentliche Stellen durchsetzt und von jüdischen Gebeten abhängig. Der 1. Clemensbrief gibt einen wichtigen Einblick in die christliche Gemeindefrömmigkeit jener Zeit. Was sich hier findet, wird auch Liturgie, Lehre und Predigt der Gemeinde beherrscht haben. Darauf soll nach Clemens die Einheit der einzelnen Gemeinde und der Gesamtkirche beruhen, nicht auf spezifischen Lehren, die mit der theologischen Stellung eines bestimmten Apostels verbunden sein könnten. Worum es im Streit zwischen Petrus und Paulus in Antiochien ging, hätte in dieser christlichen Religiosität niemand verstanden. Ebensowenig ist Clemens bereit, sich auf etwaige Streitfragen in Korinth einzulassen. Wenn sich die Gemeinde auf das, was hier als „ W e g " dargestellt ist, verpflichten kann, sollten alle anderen Kontroversen sich erübrigen und jedenfalls keinen Anlaß mehr zur Spaltung einer Gemeinde geben.
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f) Die Petrusbriefe und Paulus Unter dieser Voraussetzungen kann man sich allgemein auf die Autorität der verehrten Märtyrer Petrus und Paulus berufen. In diesem Sinne wurden auch die Paulusbriefe verstanden. N u r so kann man es erklären, daß etwa zur gleichen Zeit in Rom ein deuteropaulinischer Brief unter dem Namen des Petrus geschrieben wurde, der 1. Petrusbrief. Nichts weist in diesem Brief auf Petrus hin außer dem Namen Petrus im Absender ( l . P t . 1,1). Alles andere ist paulinisch oder allgemein christliches Gut. Die Form des Präskripts kopiert die Form der paulinischen Briefpräskripte. Der Eingang des Proömiums, „Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Christi," setzt die völlig gleichlautenden Briefeingänge von 2.Kor. 1,3 und Eph. 1,3 voraus. Silvanus, der in l.Pt.5,12 als Schreiber des Briefes genannt wird, ist aus l.Thess. 1,1 als Mitverfasser eines Paulusbriefes bekannt und wird auch sonst als Mitarbeiter des Paulus genannt (2.Kor. 1,19; Apg. 15,22ff). Markus, von dem Grüße übermittelt werden (l.Pt.5,13) steht in der Grußliste von Phlm. 24 und Kol. 4,10 (vgl. auch Apg. 13,5 u.ö., wo er Reisebegleiter des Paulus und des Barnabas ist). Daß sich der Verfasser „Zeuge der Leiden Christi" nennt (l.Pt.5,1) weist nicht auf einen Augenzeugen der Kreuzigung Jesu sondern einen Christen, der selbst Christi Leiden erfahren hat - vgl. das oben über den Märtyrer Petrus Gesagte! - und wie andere Christen „an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll" (5,1) teilnehmen wird. Der übrigens in sehr gutem Griechisch verfaßte Brief setzt also eine kirchengeschichtliche Situation voraus, die der bei Ignatius und im 1. Clemensbrief in Erscheinung tretenden Sicht der beiden Apostel Petrus und Paulus entspricht. Als Vorlage für einen Brief gab es nur die Sammlung der paulinischen Briefe. O b aber in so einem pseudepigraphen Brief Petrus oder Paulus als Verfasser genannt wurden, konnte aus dieser Sicht heraus keine Rolle spielen. Beide waren als Märtyrer in gleicher Weise Autoritäten der Kirche. Man kann vermuten, daß Petrus als Verfasser genannt wurde, weil der Brief in Rom entstand. Darauf weist die Nennung von „Babylon" im Schlußgruß (l.Pt.5,13); denn Babylon kann nur Deckname für Rom sein (vgl.Offb. 14,8u.ö.; s.o.II.7.1.3). Ist das der Fall, dann zeigt sich hier erstmals ein Anspruch der römischen Gemeinde auf Petrus als „ihren" Apostel - ein Anspruch der sich später in der Tradition von Petrus als dem ersten Bischof Roms durchsetzen soll-
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te. Damit erklärt sich auch, warum der Verfasser auf das Mittel der Pseudepigraphie zurückgriff. Der erste Petrusbrief scheint in eine bestimmte Situation hinein geschrieben worden zu sein. Die Adresse „an die erwählten Beisassen von Pontus, Galatien, Kappadozien, Asien und Bithynien" (1,1) muß nicht Fiktion sein. Sie besagt dann, daß der Brief zur Stärkung in einer Verfolgungssituation in der T a t an jene Gemeinden gerichtet war, und zwar als Rundschreiben. Hier zeigt sich wieder das gleiche kirchenpolitische Interesse, das schon die Schriftstellerei des Ignatius und des Clemens kennzeichnete: man versucht stärkend, weisend und mahnend auf andere Gemeinden einzuwirken, um so an dem Aufbau der Einheit der Christenheit mitzuarbeiten. Wie beim 1. Clemensbrief kann man auch hier an die domitianische Verfolgung denken; denn daß diese Verfolgung in Asien Auswirkungen hatte, ist durch die O f f e n b a r u n g Johannis bezeugt. O d e r der Verfasser hat die Situation vor Augen, die während der Statthalterschaft des Plinius in Bithynien (112nChr) entstanden war (s.u.§ 12.3d). Jedenfalls zeigt der Brief, daß die Situation der Verfolgung Anlaß zur Stärkung der gesamtkirchlichen Bande gab. Es gibt eine ganze Reihe von Hypothesen über die Gattung des 1. Petrusbriefes. Wegen der offensichtlichen Anspielungen auf die T a u f e l . P t . 1,22f; 2,1 ff (vgl. auch „wiedergeboren zu einer lebendigen H o f f n u n g durch die Auferstehung Jesu Christi von den T o t e n " 1,3) legt es sich nahe, an die Taufliturgie zu denken. Einige Gelehrte sind so weit gegangen, in dem ganzen Schreiben eine vollständige Taufliturgie mit nachträglicher brieflicher Einrahmung zu sehen. Problematisch ist außerdem der Einschnitt nach l . P t . 4 , 1 1 und der Neueinsatz in 4,12; dabei scheint erst 4,12ff vom Leiden als gegenwärtiger Wirklichkeit zu sprechen, während vorher n u r von der grundsätzlichen Möglichkeit des Leidens die Rede war. Ist 4,12 ff ein Nachtrag, der verrät, daß sich die Situation inzwischen verändert und die Verfolgung verschärft hat? - Auszugehen ist von der Beobachtung, daß der Verfasser in großem U m f a n g traditionelles Material verarbeitet hat, das sich zwar nicht immer rekonstruieren, aber trotz der Kommentare und Zusätze des Verfassers noch klar erkennen läßt. l . P t . 1,20 und 3,18-19.22 stammt aus kerygmatischen Formeln, die Christi Heilswerk beschreiben; 2,21-25 ist eine mehr hymnische Darstellung des Leidens Christi, die ihre Begrifflichkeit aus Jes.53 bezieht; 1,3-12 lehnt sich nach dem Vorbild
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von Kol. 1,3-6 und Eph. 1,3-14 in der grundsätzlichen Darstellung des Heils an liturgische Sätze an; 1,22-2,3 scheint eine bereits fest formulierte Mahnung an Neugetaufte zu sein. Neben diesen liturgischen Traditionen hat der Verfasser viel paränetisches Material verarbeitet. 2,13-3,6 wird eine Haustafel wiedergegeben, die nicht nur die üblichen Mahnungen an die Sklaven, Frauen und Männer enthielt, sondern auch durch eine Aufforderung, der Obrigkeit gehorsam zu sein, eingeleitet ist; 4,3-5 beruht auf einem Lasterkatalog, 4,7-11 auf einem Tugendkatalog, der unter dem Einfluß paulinischer Briefstellen bearbeitet wurde; eschatologische Mahnungen wie 1,13 (vgl. Lk. 12,35) zeigen, daß in den eschatologischen Stükken des Briefes (1,13 ff; 4,12 ff; 5,6 ff) traditionelle Sätze verarbeitet worden sind. Wie der 1. Clemensbrief schöpft auch der 1. Petrusbrief aus dem Schatz der kirchlichen Liturgie, Predigt und Paränese, verwendet wie jener das AT, meist jedoch ohne ausdrücklich zu zitieren. Die Sprache des Briefes ist „biblisch" oder geht auf eine „biblisch" beeinflußte und mit Zitaten aus dem AT durchsetzte liturgische Sprache zurück (vgl. 2,5-10). Die Absiebt des Briefes kann nicht zweifelhaft sein. Er will angesichts der Situation der Verfolgung die Wiederkunftserwartung erneuern und ruft deshalb zur Freude im Leiden auf (l,6f). Die Erfahrung des Leidens stärkt die Gewißheit des Kommens Christi, bringt allerdings eine erhöhte Gefahr des Abfalls mit sich (5,8-9). Gleichzeitig verschärft der Verfasser die Bestimmungen der christlichen Lebensordnung, die als solche nicht eschatologisch ist (Haustafeln!), aber in den Drangsalen der Verfolgung erst recht Beachtung verlangt. Die Christen werden ermahnt als rechtschaffene Menschen zu leiden (vgl. 3,13-17; 4,14-16). Eschatologisches Verhalten wird identisch mit der Befolgung der an Bibel und Evangelium geprüften und verschärften allgemeinen Moral. Ist der 1. Petrusbrief noch aus einer echt empfundenen eschatologischen Erwartung geschrieben, so läßt sich das von dem 2. Brief unter dem Namen des Petrus, der sich im N T findet, nicht mehr sagen. Zwar will auch dieser Brief die Parusieerwartung einschärfen, jedoch nicht als H o f f n u n g und Trost der Verfolgten, sondern als eine theologische Lehre, die er zu verteidigen sucht. Der 2. Petrusbrief ist vom 1. Petrusbrief abhängig und verweist ausdrücklich auf ihn (2.Pt. 3,1). Während im ersten Brief der pseudepigraphe Apparat fehlt, macht der zweite Brief ausführlich davon Gebrauch. Der Verfasser stellt sich umständlich als „Symeon Petrus, Knecht und
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Apostel Jesu Christi" vor, verweist darauf, daß Jesus ihm das bevorstehende Martyrium vorausgesagt habe (1,14), betont; daß er Zeuge der Verklärung Jesu gewesen sei (1,16-18), und läßt es sich nicht entgehen, von Paulus als seinem geliebten Bruder zu reden (3,15). Die Benutzung des Judasbriefes (s.o.§12.7b) in 2.Pt.2 kann vollends dem echten Petrus nicht zugetraut werden. Schließlich ist die Sprache dieses Schreibens ganz die der Christenheit des 2. Jh., eine durchweg hellenisierte Schriftsprache, in der Ausdrücke wie „Teilhaber an der göttlichen N a t u r " erscheinen (3,18), die dem Urchristentum völlig fremd sind, und griechische Sprichwörter wie „die Sau wälzt sich nach der Schwemme wieder im K o t " (2,22). Anleihen bei der attizistischen Rhetorik unterscheiden den 2. Petrusbrief deutlich von der griechischen Koine der meisten anderen frühchristlichen Schriften. Daß in einem von „Petrus" geschriebenen Brief Paulus ausdrücklich genannt und auf seine Briefe verwiesen wird, stellt den 2. Petrusbrief zu jenen frühchristlichen Schriften, für die Petrus und Paulus als Autoritäten der Kirche gelten. Die Situation ist aber nicht mehr die gleiche wie bei Clemens und Ignatius; denn 2.Pt.3,15-16 warnt der Verfasser seine Leser vor den Auslegungsschwierigkeiten der paulinischen Briefe und vor den Verdrehungen des Paulus durch Irrlehrer, die auch die übrigen Schriften verfälschten. Eine ganz ähnliche Bemerkung findet sich bei Dionysios von Korinth um die Mitte des 2.Jh.: „Die Apostel des Teufels haben meine Briefe mit Unkraut gefüllt, etliches ausgelassen, anderes hinzugefügt. So wundert es nicht, daß einige sich sogar daran gemacht haben, die Schriften des Herrn zu verfälschen" (Euseb, Hist. eccl. 4.23.12). Beide Aussagen setzen voraus, daß christliche Schriften, die bereits eine anerkannte Autorität besitzen, bearbeitet und ausgelegt werden. Wie 2. Pt. 2,2 „die Worte der heiligen Propheten und das Gebot unseres Herrn und Heilandes, das durch die Apostel gegeben ist" nebeneinanderstellt, läßt an bereits als Schrift vorliegende christliche Autoritäten denken. Aus solchen Schriften, d. h. aus schriftlichen Evangelien, hat der Verfasser die Nachricht über Petrus als Zeuge der Verklärung Jesu (1,16-18) und über die Voraussage seines Martyrium entnommen. Wer die Verfälscher dieser Schriften sind, kann auch nicht zweifelhaft sein. Schon der 2.Pt. 2 benutzte Judasbrief wandte sich gegen gnostische Lehrer. Der 2. Petrusbrief formuliert diese Polemik gegen die Gnostiker neu, so daß sie sich noch deutlicher gegen die gnostische Ausle-
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gung der Genesis wendet ( G e n . 6 , 1 - 4 ; N o a h als Verkünder der Gerechtigkeit; S o d o m und Gomorra und der gerechte Lot), vermeidet aber alle jene Stellen aus dem Judasbrief, die sich auf apokryphe Literatur beziehen. Mit den „künstlichen Mythen" (1,16) sind die Gnostiker angegriffen, und ihnen wird die skeptische Kritik an der Parusieerwartung in die Schuhe geschoben, die sich schon l . C l e m . 2 3 . 3 - 4 findet (vgl.2.Clem. 11.2) und die aus einer unbekannten (christlichen?) Schrift stammen muß: „ W o ist die Verheißung seiner Ankunft? Seit die Väter gestorben sind, bleibt alles so wie es vom Anbeginn der Schöpfung gewesen ist" (2.Pt. 3,4). Die erneuerte Lehre von der Parusie Christi, die der Verfasser den Gnostikern entgegenstellt, ist allerdings alles andere als eine Erneuerung der urchristlichen Erwartung. 2. Pt. 3,5-13 macht das Ende der irdischen Welt zu einer Lehre, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann; denn die Anschauung vom Weltenbrand (3,12) sollte auch für einen Stoiker die christliche Theorie vom Ende der Welt einleuchtend erscheinen lassen. Der Anschluß an die traditionelle christliche Erwartung wird nur mühsam durch ein Zitat aus l . T h e s s . 5 , 2 und Offb.21,1 erreicht (2.Pt.3,10.13). Die gnostische Paulusinterpretation hat schließlich dazu geführt, daß die Vereinigung der beiden Autoritäten Petrus und Paulus problematisch wurde. Während um das Jahr lOOnChr Paulus noch unangefochten zitiert und verwendet werden konnte, gehört eine Generation später der Verfasser des 2. Petrusbriefs zu jenen „rechtgläubigen" Christen, die zwar den Namen des Paulus nennen, aber im geheimen wünschen, daß der große Apostel besser keine Briefe geschrieben hätte - oder wenigstens keine Briefe, die der Auslegung so viele Schwierigkeiten bereiten, wenn man den rechten Glauben gegen die Irrlehrer verteidigen will. g) Kirchenordnung im Namen des Paulus Kolosser-, Epheser-, Hebräerbrief und Ignatius von Antiochien hatten sich theologisch auf Paulus und auf eine Fortführung der Theologie im Namen des Paulus eingelassen. Für den 1. Clemensbrief ist Paulus nur Lehrer und Mahner zu rechtem, der kirchlichen Einheit gemäßem Verhalten. Damit ist der Weg gewiesen zu einem „kirchlichen" Paulus. Die implizit vom 2. Petrusbrief geforderten Paulusbriefe, die sich nicht ohne weiteres von der Gnosis zu den ihren machen ließen, sind in der T a t in der 1. Hälfte des 2. Jh. geschaffen worden, nämlich die Briefe an Timotheus und Titus,
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meist als die Pastoralbriefe bezeichnet. Diese drei Briefe, die in Sprache, theologischer Vorstellungswelt und Absicht zusammengehören und vom gleichen Verfasser stammen, unterscheiden sich in vieler Hinsicht von den übrigen Schriften des Corpus Paulinum. Abgesehen vom Philemonbrief sind es die einzigen Schreiben in diesem Corpus, die an Einzelpersonen gerichtet sind, die außerdem nicht als Privatleute angeredet werden, sondern als mit der Aufsicht über christliche Gemeinden betraute Kirchenführer. Die Pastoralbriefe sind nicht so gut bezeugt wie die übrigen paulinischen Briefe. Sie fehlten im Kanon Marcions (s.u.§ 12.3c) und sind in der ältesten Handschrift der paulinischen Briefe ($) 46) nicht enthalten. Im Kanon Muratori sind sie jedoch aufgeführt und Irenäus und Tertullian bekannt. Zweifel an der Echtheit sind seit dem Anfang des 19. Jh. geäußert worden; die Argumente haben sich in der neueren Forschung so verdichtet, daß sich die Echtheit nur noch mit gewaltsamen Hypothesen und einer H ä u f u n g von historischen U n wahrscheinlichkeiten verteidigen läßt. Auf die wichtigsten Gründe sei deshalb nur kurz hingewiesen. Die Sprache der Pastoralbriefe weicht wesentlich stärker von Paulus ab als die sprachlichen Besonderheiten irgendeines anderen Briefes des paulinischen Corpus. Zudem handelt es sich dabei durchweg um Eigentümlichkeiten der christlichen Sprache des 2. Jh., f ü r die es zur Zeit des Paulus keine Belege gibt. Besonders auffallend ist dabei die Begrifflichkeit, mit der das christliche Heilsgeschehen beschrieben wird. Das Kommen Jesu wird als „Epiphanie des Retters (Soter)" bezeichnet (Tit. 2,13; vgl. 2. Tim. 1,10; Tit.3,4.6, wo diese Terminologie auch f ü r die irdische Erscheinung Jesu verwendet ist). Paulus sind diese Begriffe fremd (Soter steht bei ihm nur einmal f ü r die zukünftige Erscheinung Jesu, Phil. 3,20), aber im Hellenismus und im Kaiserkult gibt es f ü r sie zahlreiche Parallelen. D e r „Retter G o t t " (Tit. 3,10) f ü r Christus ist in der ganzen christlichen Literatur des l . J h . ohnegleichen. „ O f f e n barung der Milde und Menschenfreundlichkeit (philanthropia) unseres Retters, G o t t , " (Tit. 3,4) hat wiederum im Kaiserkult seine Entsprechungen. Rechtes christliches Verhalten heißt durchweg „Religion" (eusebeia, l . T i m . 2 , 2 ; 4,7; u.ö.), die christliche Botschaft ist „die gesunde Lehre" (1.Tim. 1,10; 2.Tim.4,3; u.ö.), der Terminus „ G l a u b e n " wird meist f ü r die christliche Glaubensregel gebraucht ( l . T i m . 3,9; 6,10; u.ö.). All das ist nicht nur völlig unpaulinisch, es ist gleichzeitig typisch f ü r die religiöse Sprache des Hei-
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dentums der römischen Zeit, die von den christlichen Gemeinden im 2. Jh. in zunehmenden Maße übernommen worden ist. Gelegentlich wird in den Pastoralbriefen der Versuch gemacht, paulinische Wendungen aufzunehmen. Aber gerade in solchen Fällen zeigt sich, daß Paulus nicht der Sprecher ist. Charakteristisch ist Tit. 3,5: „(gerettet) nicht wegen der Werke, die wir in der Gerechtigkeit getan hatten" (vgl. 2.Tim. 1,9). Auch der Versuch, Paulus von seiner Bekehrung reden zu lassen, verrät den nicht-paulinischen theologischen Ansatz des Verfassers: l.Tim. 1,13 sagt er „einst war ich ein Lästerer und Verfolger und Frevler, aber ich habe Erbarmung erfahren, weil ich das unwissentlich getan habe im Unglauben". Paulus selbst hingegen kann mit Stolz sagen, daß zwar seine Verfolgung ein Frevel, aber seine Gerechtigkeit unter dem Gesetz vollkommen gewesen sei (Phil. 3,4—6; vgl.Gal. 1,14). Wichtig ist schließlich die Frage der Situation im Leben des Paulus, in der die Pastoralbriefe entstanden sein könnten. Gerade die Anweisungen betreffs der persönlichen Mitarbeiter des Paulus, die so sehr den Eindruck der Echtheit erwecken, bereiten hier Schwierigkeiten (vgl. vor allem 2.Tim.4,9-21; aber auch Tit. 1,5; 3,12-14). In den durch die übrigen paulinischen Briefe und durch die Apostelgeschichte bekannten Situationen der paulinischen Mission lassen sie sich nicht unterbringen. Die Briefe an Timotheus und Titus können also zu keiner Zeit vor der römischen Gefangenschaft des Paulus geschrieben worden sein. Paulus könnte allerdings in Rom noch einmal frei gekommen sein; aber in diesem Falle weisen alle entsprechenden Andeutungen (z.B. l.Clem.5.7, Paulus habe das Evangelium bis zum äußersten Westen gebracht) darauf, daß er zumindest nach dieser ja auch beabsichtigten Reise nach Spanien (Rom. 15,28) in Rom das Martyrium erlitten hat. Für eine Rückkehr in den Osten, nach Griechenland und Kleinasien, die von den Verfechtern der Echtheit der Pastoralbriefe angenommen werden müßte, gibt es keine Zeugnisse. Sind die Pastoralbriefe nicht von Paulus verfaßt, so bleibt die Frage ihrer Abfassungszeit und ihres Ortes innerhalb der Geschichte des frühen Christentums. Mir scheint, daß diese Briefe genau das leisten, was für die Kirchen der paulinischen Tradition notwendig war, um die Autorität des Paulus - und damit auch die Überlieferung seiner bereits gesammelten Briefe - angesichts der aus der gnostischen Paulusinterpretation entstandenen Gefahr zu bewahren und sicherzustellen. Nun kann man sich natürlich ver-
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schiedene Möglichkeiten vorstellen, unter denen man wählen konnte, wenn es darauf ankam, Paulus in eigener Sache und als Verteidiger der Kirche gegen die Gnostiker reden zu lassen. Einen dieser möglichen Wege hat der Verfasser des 3. Korintherbriefes gewählt, der in den Paulusakten aufbewahrt ist. Es kann auf sich beruhen, ob der Brief ursprünglich selbständig umlief oder erst vom Verfasser der Akten f ü r seinen Erzählungszusammenhang komponiert wurde. In jedem Fall ist eine Situation gewählt, die an den Kampf des Paulus gegen die Irrlehrer in Korinth anknüpft, der durch die echten Korintherbriefe bezeugt ist. Eine Anfrage der korinthischen Presbyter ergeht zunächst an Paulus, in der die Irrlehren der G n o stiker dargestellt sind: man dürfe sich nicht auf die Propheten berufen, die Welt und die Menschen seien nicht durch Gott erschaffen, der H e r r sei nicht von Maria geboren und ins Fleisch gekommen, und es gebe keine Auferstehung des Fleisches. Paulus, vorübergehend Gefangener in Philippi, antwortet unter Berufung auf die Apostel mit einem Brief, eben dem 3.Korintherbrief, in dem er das kirchliche Bekenntnis von der Erschaffung der Welt durch Gott, der Geburt Jesu aus dem Samen Davids durch Maria, Erlösung durch den Leib Christi, Auferstehung des Fleisches und Bestrafung der Gottlosen wiederholt und bekräftigt. Zur Komposition dieses Briefes sind Stücke aus den paulinischen Briefen verwendet und alttestamentliche Beweise f ü r die Lehre von der Auferstehung des Fleisches angefügt. So ist in diesem etwa zur Zeit der Pastoralbriefe entstandenen Brief (sein Verfasser kennt die Pastoralbriefe nicht; verwendet sie jedenfalls nicht zur Komposition des Briefes) das Problem der gnostischen Interpretation des Paulus gelöst, indem Paulus die Gelegenheit gegeben wird, mitten aus seiner missionarischen Arbeit heraus und mit Worten, die weitgehend den von den Gnostikern beanspruchten Briefen entstammen, sich selbst ins rechte Licht rücken: er war und ist ein Verteidiger des Bekenntnisses der frühkatholischen Kirche. D e r Verfasser der Pastoralbriefe hat eine andere Möglichkeit gewählt. Er knüpft an die Tradition vom Märtyrer Paulus an (s.o. § 12.2e), führt damit aber nicht einfach die Tradition der „ G e fangenschaftsbriefe" fort - auch der 3. Korintherbrief ist ja aus einer Gefangenschaft des Paulus geschrieben - , sondern macht die Briefe selbst zum Testament des Paulus. Mit dem Rückgriff auf diese im Judentum entwickelte Gattung der Literatur (s.o. § 5 . 3 c ) sind Vorentscheidungen getroffen, die dieser Verteidigung des Pau-
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ius ihren besonderen Charakter verleihen. Wer in seinem Testament redet, bedarf keiner Verteidigung mehr; denn er ist bereits einer der „Alten" - in diesem Falle ein verehrter Märtyrer der Kirche dessen Autorität über jedem Zweifel steht. Das Testament erlaubt den Rückblick auf die Vergangenheit und erfordert den Ausblick auf die Zukunft, und zwar so, daß die vom Standpunkt der Gegenwart neu aufgearbeitete und zusammengefaßte Erfahrung der Vergangenheit richtungsweisend für die Zukunft werden kann. Für die Abfassung des 2. Timotheusbriefes ist die Form des Testamentes ganz bewußt gewählt und im einzelnen ausgeführt. 2.Tim. 1,3-18 wird auf die Vergangenheit des Angeredeten zurückgeblickt (daher werden Mutter und Großmutter des Timotheus namentlich genannt!) und von dort auf die Situation des Paulus verwiesen, der von allen verlassen im Gefängnis sitzt, aber weiß, daß sein „Vermächtnis" (paratheke, dieser Begriff erscheint im N T nur hier) bewahrt werden wird. 2.Tim. 2,1 leitet mit „Du aber mein Kind" die Mahnrede des Testamentes ein; diese Anrede ist typisch für den Stil des Testaments und findet sich nur hier in den Pastoralbriefen. Die Mahnrede enthält zunächst eine Grundsatzmahnung (2,1-13), in der zweimal traditionelle Glaubensformeln zitiert werden (2,8 und 2,11-13). Darauf folgt eine Mahnung für das Verhalten gegenüber Irrlehrern (2,14-21) und eine persönliche Mahnung über die rechte Lebensführung, in der ein Tugendund ein Lasterkatalog verwendet sind (2,22-26). Ganz stilgemäß steht an nächster Stelle eine Warnung über die „letzten T a g e " (3,1-17) in der das Kommen von Irrlehrern vorausgesagt (3,2-9), zur Standfestigkeit in Verfolgungen aufgerufen (3,10-12) und auf die heilige Schrift als Quelle der Stärkung hingewiesen wird (2,14-17). Durch einen Schwur (4,1 ff) findet die Mahnrede ihren Abschluß, unterstrichen durch einen nochmaligen Hinweis auf die Todessituation des Paulus (4,6-8). Der Schlußabschnitt (4,9 ff) zeigt, daß die Fürsorge des Paulus für seine Gemeinden noch bis in seine letzten Tage hineinreicht, daß er aber, von den meisten verlassen, nun nur noch „testamentarisch" sein Vermächtnis an Timotheus weitergeben kann. Im Gegensatz zu Tit. 3,12 macht Paulus hier keine Angaben über seine zukünftigen Pläne, sondern gibt nur der H o f f n u n g Ausdruck, daß „der Herr ihn retten werde in sein himmlisches Reich" (4,18). Man wird also erwägen müssen, ob nicht der 2. Timotheusbrief an den Schluß der Sammlung gehört. Die anderen beiden Briefe sind aber auf das engste mit dem
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2.Timotheusbrief verbunden, und was der Verfasser den Paulus zur Frage der Kirchenordnung, der christlichen Lebensordnung und zur Bekämpfung der Irrlehrersituation sagen lassen will, ist im wesentlichen im 1. Timotheus- und im Titusbrief niedergeschrieben. (Der 2.Timotheusbrief spricht von den Irrlehrern und vom christlichen Leben nur insofern, als das als Teil der zur Gattung des Testaments gehörenden eschatologischen Mahnung und Paränese erforderlich ist.) Grundlage des 1. Timotheusbriefs ist die Kirchenordnung. Das dazu verwendete Schema entstammt der traditionellen Haustafel. Sie ist hier weitgehend zu einem Schema der Ordnung in der Kirche umgewandelt und entsprechend erweitert. So findet sich am Anfang (1.Tim. 2,1-15) Verhalten gegenüber der Obrigkeit, dann Anweisungen über die Männer und die Frauen, jedoch so, daß in der Anwendung auf die Kirche vom Gebet für die Obrigkeit, vom Beten der Männer und vom Auftreten der Frauen in der Gemeindeversammlung gesprochen wird. Dadurch kann der Verfasser mit Anweisungen für die Inhaber von Gemeindeämtern fortfahren: Bischöfe (3,1-11), Diakonen (3,12-13; 4,6); 5,1-2 läßt noch erkennen, daß hier der Topos „Alte und junge Leute" an der Reihe war, der aber mit einer kurzen Mahnung übergangen wird, um die Anweisungen für die Amter zu Ende zu bringen: Witwen (5,3-16); Presbyter (5,17-20). Danach wird die ursprüngliche Haustafel fortgesetzt: Sklaven (6,1-2); Reiche (6,17-19). Der Verfasser hat dieses Schema gelegentlich unterbrochen, teils durch persönliche Nachrichten (3,14f), teils durch Hinweise auf die Irrlehrer (4,1-5) und durch persönliche Mahnungen „an Timotheus", die aber nichts weiter sind als allgemeine Instruktionen an christliche Amtsträger aller Kategorien (4,7-16; 6,3-16; alle drei Elemente finden sich zusammen in der Einleitung des Briefes, 1,3-20). Der Aufbau des Titusbriefes ist ähnlich. Auf die Anweisung für Presbyter (Tit. 1,5 ff) folgen Instruktionen für alte Männer, alte Frauen, junge Frauen, junge Männer und Sklaven (2,1-10), schließlich Gehorsam gegen die Regierung (3,1-2). Unterbrechungen enthalten wiederum Anweisungen betreffs der Irrlehrer (1,10-16; 3,9-11), persönliche Nachrichten (3,12-14) und Mahnungen „an Titus" (2,15). Außerdem hat der Verfasser an verschiedenen Stellen in allen drei Briefen kerygmatisches und hymnisches Material eingefügt (z.B. l.Tim.3,16; Tit.2,11; 3,4f). Im einzelnen verwenden die Pastoralbriefe Tugend- und Lasterkataloge, die gelegentlich ausgeführt und kommentiert werden. Be-
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merkenswert ist zweierlei: Dieselben Tugenden werden von den verschiedenen Amtsträgern verlangt, Bischöfe, Presbyter, Diakonen und Witwen, und erscheinen ebenso als allgemeine christliche Verhaltensweisen; es handelt sich dabei durchweg um Tugenden, die einem bei Christen, Juden und Heiden gleicherweise annehmbaren Verhalten entsprechen. Was also vom christlichen Verhalten verlangt wird, ist identisch mit den überhaupt in der damaligen Gesellschaft erwarteten rechtschaffenen bürgerlichen und sozialen Pflichten und Tugenden. In zusammenfassenden Formulierungen heißt das „züchtig, rechtschaffen und f r o m m " (Tit. 2,12). Im einzelnen ist dabei daran gedacht, daß man einem Ehepartner die Treue hält, sich um seine Kinder und seinen Haushalt kümmert, gastfreundlich ist, nicht streitsüchtig und zänkisch ist, für Schwache und Bedrängte sorgt, sich mit dem bescheidet, was man hat. Das ist gemeint, wenn von der christlichen Bürgerlichkeit als dem ethischen Ideal der Pastoralbriefe gesprochen wird. Eine spezifische eschatologische Begründung für dieses Verhalten fehlt. Es wird nur allgemein auf die christliche H o f f n u n g der zukünftigen Erscheinung Christi verwiesen (Tit. 2,13). Wenn auch gesagt werden kann, „daß wir nichts in die Welt gebracht haben, also auch nichts wieder mit hinausnehmen werden," so würde doch jeder heidnische Bürger jener Zeit zugestimmt haben, daß die Wurzel alles Übels die Geldsucht ist (1.Tim.6,7-10). Das ist also weder eschatologisch noch überhaupt spezifisch christlich begründet. Die Tugenden, die in den Pastoralbriefen von kirchlichen Amtsträgern verlangt werden, finden sich genauso auch in heidnischen Tugendkatalogen für Generäle und Schauspieler. Damit ist ein entscheidender Schritt getan, der die christliche Apologetik vorbereitet (s.u.§ 12. Je). Die Christenheit versteht sich nicht mehr als religiöse Sekte, die sich angesichts ihrer besonderen Berufung eine Sonderethik leisten und sich ihr verpflichten kann. Sie ist vielmehr der Welt und ihren gesellschaftlichen Normen gegenüber verantwortlich und muß versuchen diese Normen vorbildlich zu erfüllen. Das scheint für eine Gruppe von Briefen unter dem Namen des Paulus eine erstaunliche Wendung zu sein; denn Paulus hat seine Ethik eschatologisch begründet. In Wirklichkeit kommt jedoch ein wichtiges Moment paulinischer Ethik hier wieder zur Geltung. Denn Paulus hatte zwar eine eschatologische Sonderethik für legitim erklärt (vgl. z.B. 1.Kor.7,25-35), er hatte sich aber geweigert solches Verhalten zur Norm zu machen. Im Gegenteil, christliche Freiheit
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Schloß für ihn die Möglichkeit vernünftiger und sachgemäßer ethischer Entscheidung ein (vgl. 1.Kor.7,2-7; 7,36-38; Phil.4,8-9). Die Pastoralbriefe bringen dieses Element paulinischer Ethik wieder zur Geltung, und zwar im Kampf gegen christliche Gnostiker, die Paulus zum Kronzeugen einer Ethik gemacht hatten, für die Normen der Gesellschaft gleichgültig waren, weil die „Welt", zu der sie gehörten, keinen Anspruch darauf hatte, ernst genommen zu werden. Die Frage der in den Pastoralbriefen angegriffenen Irrlehrer stellt den Historiker vor ein Rätsel. Ganz klar ist nur, daß diese Briefe sich nicht theologisch mit den Irrlehrern auseinandersetzen und daß sie letztlich die Ethik zum Maßstab der Unterscheidung zwischen rechtem Christentum und Irrlehre machen. Stellt man die Aussagen über die Irrlehrer zusammen, so ergibt sich ein verwirrendes Bild. Auf der einen Seite scheint es sich um Juden oder Judenchristen zu handeln. Die Gegner wollen Gesetzeslehrer sein (1.Tim. 1,7); sie kommen „aus der Beschneidung" (Tit. 1,10) und predigen „jüdische Mythen und Menschensatzungen" (Tit. 1,14). Daß sie verlangen, man müsse sich bestimmter Speisen enthalten (1.Tim. 4,3), würde dazu passen, zumal hier wie Tit. l,14f die Reinheit alles von Gott Geschaffenen betont wird. Aber neben dem Speiseverbot steht 1.Tim. 4,3 das Verbot der Heirat, im gleichen Abschnitt (4,7) wird vor den „greulichen und altweibischen Mythen" gewarnt. Ahnlich klingen die Hinweise auf „Mythen und endlose Genealogien" (1.Tim. 1,4) oder einfach „Genealogien" (Tit.3,9). Damit könnten eher Gnostiker als Judaisten angesprochen sein. Daß der Verfasser wirklich die Gnosis im Blick hat, bestätigt die Aufforderung, die „Antithesen der fälschlich sogenannten Gnosis" zu meiden (1. Tim. 6,20), und das Zitat der typisch gnostischen Behauptung, die Auferstehung sei bereits geschehen (2.Tim. 2,18). Sonstige Charakterisierungen der Irrlehrer helfen nicht weiter, denn der Vorwurf, sie seien hinter dem Geld her (1.Tim.6,5.10; Tit. 1,11), wurde damals gegen jeden politischen, philosophischen und religiösen Gegner erhoben. Aber daß die Irrlehrer es besonders auf Frauen abgesehen hätten (2. Tim. 3,6-7), paßt zu den Emanzipationstendenzen einiger gnostischer Sekten, bei denen Frauen eine besondere Rolle spielten; indirekt bestätigt wird dies durch das Lehrverbot für Frauen (1.Tim. 2,12), das außerdem noch nachträglich in einen der echten Paulusbriefe eingetragen wurde ( l . K o r . 14,33b-36). Die Schwierigkeit der Deutung dieser verschie-
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denen Angaben über die Irrlehrer liegt darin, daß sich zwar jede einzelne Angabe durch andere Quellen verifizieren läßt, daß sich alle Angaben zusammengenommen aber nur mühsam zu einem einheitlichen Bild einer einzigen Gruppe von Irrlehrern zusammenreimen lassen. Bei den „Antithesen der fälschlich so genannten Gnosis" (1. Tim. 6,20) legt es sich nahe, an das Hauptwerk Marcions (s.u.§ 12.3c) zu denken, das den Titel „Antithesen" hatte. Aber mit Marcions scharfer Kritik am Alten Testament lassen sich die Hinweise auf die Gesetzeslehre der Gegner nicht gut vereinbaren. Beschneidung, Gesetzeslehre und Speisegebote passen zwar gut auf judenchristliche Propaganda. Aber darf man den gleichen Gegnern auch noch Eheverbot, Frauenemanzipation und gnostische Mythen und Genealogien zutrauen? Denkbar sind solche judenchristlichen Gnostiker durchaus. Gnostisierung des Judenchristentums war vor allem in Syrien zu beobachten. Ohne den entscheidenen Anteil alttestamentlichen und jüdischen Uberlieferungsgutes an der Entwicklung der Gnosis in Abrede zu stellen, kann eine bessere Erklärung für die Irrlehrerpolemik der Pastoralbriefe gefunden werden. Es geht nämlich hier gar nicht um Darstellung, sondern um stichwortartige Charakterisierungen, mit denen typische Erscheinungen von Irrlehre kurz umrissen werden. Das ist vor allem in den als Voraussagen der Zukunft durch Paulus (1.Tim.4,1 ff; 2.Tim.3,Iff) stilisierten Angaben über die Irrlehrer der Fall. Dem Kirchenführer werden Kriterien in die Hand gegeben, nach denen er beurteilen kann, ob es sich um eine Irrlehre handelt, und diese Kriterien sind aus Erfahrungen mit verschiedenen Irrlehrern gewonnen. Dann wird auch deutlich, warum die wichtigsten Kriterien gar nicht inhaltlich, sondern nur formal definiert sind: Disputationen und Streitgespräche sowie die Weigerung, sich den Forderungen einer „gesunden" christlichen Moral zu unterwerfen. In diesem Sinne wollen die Pastoralbriefe ein „Handbuch" sein, das die Kirche befähigen soll, Irrlehren gleich welcher Art erfolgreich zu bekämpfen. Das Festhalten am paulinischen Vermächtnis ist so dem unsicheren Bereich der Auslegung der paulinischen Briefe entzogen. Theologisch ist der Glaube in Begriffen neu formuliert, die der allgemeinen religiösen Sprache der Zeit angeglichen sind (s.o. über die Terminologie der Briefe). Das Hauptwerk des Paulus wird in der Organisation der Gemeinden gesehen - eine Aufgabe, der Paulus ja in der Tat einen zentralen Platz in seiner missionarischen Arbeit eingeräumt hatte! N u r sind jetzt die Ämter festgelegt: ein Bischof
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oder leitender Presbyter (der doppelte Bezahlung bekommen soll, l . T i m . 5,17); unter ihm Presbyter, Diakone und Witwen (die letzteren, die von der Gemeinde unterhalten werden, sollen genau geprüft werden, damit sie keine Belastung f ü r die Gemeinde darstellen, l . T i m . 5,3-16); die Ordination durch Handauflegung ist geregelt ( l . T i m . 5 , 2 2 ; vgl.4,14); das Charisma des Amtes wird so vermittelt (2. Tim. 1,6). D e r paulinische Gedanke, daß alle Gemeindeglieder aus ihrem Geistbesitz besondere „ G a b e n " empfangen, die sie zum Dienst an der Gemeinde qualifizieren, tritt zurück. D a f ü r werden von den Gemeindebeamten moralische Qualifikationen verlangt, und die Gemeindeglieder werden nicht an ihre christlichen Charismata, sondern an ihre bürgerlichen Pflichten erinnert. So kann die christliche Kirche innerhalb der Gesellschaft der römischen Welt einen Platz als legitime Religionsgemeinschaft beanspruchen, deren Mitglieder ihren bürgerlichen Pflichten Genüge tun. Über den Ort und die Zeit der Abfassung der Pastoralbriefe sollte kein Zweifel bestehen. Die Briefe selbst weisen durch ihre Ortsangaben auf den ägäischen Raum. Unter den genannten Orten finden sich Ephesus, Troas und Milet im westlichen Kleinasien, Korinth, Thessalonike und Nikopolis in Griechenland, außerdem Galatien, Dalmatien und Kreta. Timotheus, dem das Testament des Paulus anvertraut wird, befindet sich in Ephesus. Für die Abfassung kommt nur eine Zeit relativer Sicherheit vor Verfolgungen in Frage. Eine solche längere Zeitperiode hat es nur unter der Regierung Hadrians und Antoninus Pius' gegeben, also kommen die Jahre von ca. 120 bis 160nChr in Frage. Es muß ein einflußreicher und weitblickender Kirchenführer gewesen sein, der angesichts des Wachstums der christlichen Gemeinden und angesichts der von der weitabgewandten Gnosis her drohenden Gefahr der Kirche diesen W e g wies. Namentlich kennen wir aus der 1. Hälfte des 2. Jh. nur einen solchen Mann: Bischof Polykarp von Smyrna (s.o.§ 12.2c). Die Annahme, er sei der Verfasser der Pastoralbriefe gewesen, hat viel f ü r sich; freilich sind nur wenige Gelehrte dieser Hypothese H a n s von Campenhausens gefolgt. h) Polykarp von Smyrna Von Polykarp, der bereits zur Zeit des Ignatius Bischof von Smyrna war und unter Markus Aurelius das Martyrium erlitt (s.u.§ 12.3e), ist ein Schreiben erhalten, das an die Gemeinde in
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Philippi gerichtet wurde. Dieser Polykarpbrief ist nur sehr schlecht überliefert. Alle bekannten griechischen Handschriften gehen auf einen Archetypus zurück, in dem bereits der Text von Kapitel 1 ΟΙ 4 fehlte. Kapitel 13 findet sich fast vollständig bei Euseb (Hist. eccl. 3.36.14-15). Aber für Pol. Phil. 10-12 und 14 sind wir ganz auf eine nicht sehr gute lateinische Ubersetzung angewiesen. Wahrscheinlich ist der überlieferte Brief aus zwei verschiedenen Schreiben des Polykarp zusammengesetzt. 13-14 wäre danach ein Begleitschreiben zur Übersendung der Briefe des Ignatius, die von der Gemeinde in Philippi erbeten worden war. Es muß bald nach dem Besuch des Ignatius geschrieben worden sein; denn von einem Martyrium des antiochenischen Bischofs weiß Polykarp noch nichts, ist vielmehr bemüht, die von Ignatius kurz zuvor gegebenen Instruktionen auszuführen. Ganz anders redet 9.1 von Ignatius. Hier ist er einer der gepriesenen Märtyrer, an dessen Beispiel erinnert werden kann. Pol. Phil. 1-12 muß also einige Jahre oder Jahrzehnte später geschrieben worden sein. Das wird durch die Benutzung anderer frühchristlicher Schriften bestätigt. Dieser Brief kennt und benutzt nicht nur den 1. Clemensbrief, er verbessert sogar dessen Zitate von Herrenworten (l.Clem. 13.2) nach dem Text, der ihm aus dem Matthäus- und dem Lukasevangelium geläufig ist (Pol. Phil. 2.3), und verrät auch sonst eine Kenntnis der schriftlichen Evangelien (7.2). Der unmittelbare Anlaß dieses zweiten Briefes an die Philipper war eine Veruntreuung, die der Presbyter Valens aus Philippi begangen hatte. Dazu nimmt Pol. Phil. 11 Stellung. Sprache und Theologie des Polykarpbriefes sind mit den Pastoralbriefen auf das engste verwandt. Ermahnungen für die in der Haustafel genannten Stände, die einen großen Teil des Briefes einnehmen (4-6: Frauen, Witwen, Diakone, junge Leute, Presbyter) entsprechen ganz denen der Pastoralbriefe, ebenso die verwendeten Tugend- und Lasterkataloge (vgl.2.2; 4.3; 5.2; 12.2). Unter den Gebetsmahnungen am Schluß findet sich eine Mahnung, für die Obrigkeit zu beten (12.3), die an l . T i m . 2 , l f denken läßt. Vor der Geldgier wird mit den gleichen Worten gewarnt wie 1.Tim. 6,10. Solche Stellen, die wie Zitate aus den Pastoralbriefen aussehen, sind allerdings bei Polykarp selten. Viel häufiger drückt er dasselbe frei aus und verwendet dazu eine ähnliche Begrifflichkeit. Sätze und Wendungen aus den übrigen Paulusbriefen sind außerdem häufig. Dazu tritt noch der 1. Petrusbrief. Auf Petrus selbst weist Poly-
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karp jedoch nie hin, während er sich dreimal auf Paulus beruft (3.2; 9.2; 11.3). Paulus ist die apostolische Autorität schlechthin, und man sieht in diesem Schreiben, wie ein Bischof im Sinne des Paulus, d.h. aber im Sinne der Pastoralbriefe, an der Aufgabe der Lenkung und Ordnung der christlichen Gemeinden wirkt. Auch an der Bekämpfung der Irrlehrer ist Polykarp gelegen, und wie die Pastoralbriefe geht auch er nicht auf ihre Argumente ein. Hinweise auf jüdische Elemente bei den Irrlehrern fehlen. In den zur Beurteilung der Irrlehrer aufgestellten Kriterien stehen nur Sätze, die sich gegen die Gnosis richten. „ W e r nicht bekennt, daß Jesus Christus im Fleisch kam, ist ein Antichrist; wer das Zeugnis des Kreuzes nicht bekennt, ist vom Teufel; wer die Worte des Herrn zugunsten seiner eigenen Begierden verdreht und sagt es gäbe weder eine Auferstehung noch ein Gericht, ist der Erstgeborene S a t a n s " (7.1). Irenaus, der selbst aus Kleinasien stammte und den greisen Polykarp, wie er erzählt, gesehen hatte, als er noch ein Kind war, berichtet eine Anekdote über die Begegnung Polykarps mit Marcion (Iren.Adv. haer. 3.3.4). Marcion habe verlangt: „Erkenne mich a n ! " worauf Polykarp geantwortet habe: „Ich erkenne dich als den Erstgeborenen Satans." Irenäus kannte allerdings den Polykarpbrief; darum wird man dieser wie übrigens auch anderen Erzählungen des Irenäus über Polykarp nicht recht glauben wollen. Aber die Frage, ob der Brief des Polykarp ebenso wie die Pastoralbriefe bereits Marcion kannten und in ihre Irrlehrerpolemik einschlossen, sollte wenigstens als Möglichkeit offen bleiben. D a Marcions (s.u. § 1 2 . 3 c ) erstes Auftreten etwa in die Mitte von Polycarps Episkopat fällt, ist es nicht unwahrscheinlich, daß er in diesem zweiten Brief auf ihn Bezug nimmt, wenn er vom Verdrehen der Worte Jesu spricht; denn Marcion hat das Lukasevangelium, das Polykarp kannte, neu bearbeitet. Was die Pastoralbriefe anbetrifft, so ist es ja keineswegs erforderlich, daß alle Kennzeichnungen der Irrlehrer sich auf ein und dieselbe Gruppe beziehen. Mögen also andere Bemerkungen auf Judenchristen oder Gnostiker gemünzt sein, so könnte der Hinweis 1. Tim. 6,20 auf die „Antithesen der fälschlich so genannten G n o s i s " durch das Hauptwerk Marcions veranlaßt sein - ob nun Polykarp, die bedeutendste und alle anderen weit überragende Gestalt der Kirchengeschichte der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts, der Verfasser der Pastoralbriefe war oder nicht.
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mit der
Welt
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2
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748
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—
K.BIHLMEYER,
2 1956,xxxviii-xliv;
a) Evangelium und Geschichte als Sieg in der Welt So gut wie alle bisher erwähnten christlichen Schriften waren für den internen Gebrauch geschrieben worden. Apologetische Motive meldeten sich zwar gelegentlich zu Wort, ζ. B. in der Passionsgeschichte des Johannesevangeliums. Aber das Christentum konnte sich erst offen an die römische Welt wenden, nachdem es sich für die Welt entschieden hatte. Voraussetzungen dafür waren eine christliche Lebens- und Gemeindeordnung, die den allgemein anerkannten Prinzipien der bürgerlichen Moral entsprach, ein deutliches Zurücktreten der eschatologischen Erwartung und eine klare Absage an die Gnosis und ihre Weltentsagung. In den Pastoralbriefen sind alle diese Voraussetzungen beispielhaft dargestellt. Daher ist hier die Behandlung der ersten Schriften des Christentums, die sich aus einer apologetischen Grundhaltung heraus eindeutig an die heidnische Welt richten, nämlich der lukanischen Schriften des NT, zunächst zurückgestellt worden, auch wenn man sie vielleicht etwas früher datieren kann als die Pastoralbriefe. Das Evangelium und die Apostelgeschichte des Lukas wurden von demselben Verfasser geschrieben. Beide Schriften sind durch ihre Prologe als Teile eines Doppelwerkes charakterisiert (Lk. 1,1-4; Apg. 1,1-2). Sie sind in Sprache und literarischem Stil einheitlich; die Unterschiede beruhen auf der Benutzung ganz verschiedenartigen Quellenmaterials. Daß es sich ursprünglich um ein einziges Werk handelte, das später aufgespalten wurde, ist aller-
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D a s Christentum in der Auseinandersetzung mit der W e l t
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dings ausgeschlossen; denn das ist buchtechnisch unmöglich. Jede der beiden Schriften - es handelt sich um die beiden umfangreichsten Bücher des N T - entspricht etwa dem maximalen U m f a n g einer normalen Buchrolle. Keines der beiden Bücher gibt einen Verfasser an. Der N a m e Lukas ist seit dem Ende des 2. Jh. als der N a m e des Verfassers dieses Doppelwerkes bezeugt, und zwar wurde er mit dem Phlm. 24 genannten Mitarbeiter des Paulus identifiziert, von dem Kol. 4,14 wissen will, daß er ein Arzt war (vgl. auch 2.Tim. 4,11). Aber ein Mitarbeiter des Paulus ist als Verfasser der Apostelgeschichte nicht vorstellbar. Man kann einem Mann, der mit der Missionsarbeit des Paulus eng verbunden war, nicht zutrauen, daß er die paulinischen Briefe unterdrückt (oder etwa gar nichts von ihnen weiß) und ein Paulusbild zeichnet, das ganz dem von den Gegnern des Paulus im 2.Korintherbrief propagierten Ideal des Missionars entspricht. D a ß der Verfasser der Apostelgeschichte ein Arzt war, hat sich ohnehin nicht nachweisen lassen. Entweder hieß der Verfasser wirklich I ukas, war aber nicht mit dem Paulusmitarbeiter identisch, oder der N a m e ist später auf Grund von 2.Tim. 4,11 („nur noch Lukas ist bei mir") diesen Schriften hinzugefügt worden. Aber etwas mehr läßt sich über den Verfasser doch sagen. Er war Heidenchrist, und zwar recht gut gebildet; denn er schreibt ein gutes Griechisch. Seine Bekanntschaft mit der griechischen Bibel ist intensiv und seine Sprache zutiefst davon beeinflußt: sein Stil ist ein biblisches Griechisch. Also war er als Christ aufgewachsen. Die beiden großen Männer der frühen Christenheit sind f ü r ihn Petrus und Paulus. Das weist auf jene frühkatholische Kirche, die diese beiden Autoritäten vereinigte (s.o. § 12.2d), und auf irgendeinen O r t f ü r die Abfassung, der zum Bereich dieser Kirchen gehörte, Antiochien oder Ephesus oder Rom. Daß „ L u k a s " aber nicht zur zweiten, sondern zur dritten christlichen Generation gehört, ist ebenso deutlich. Für die zweite Generation war es nicht selbstverständlich, daß Petrus und Paulus zusammengehörten. Auf der anderen Seite haben aber Marcion und Justin von 150nChr und Polykarp vielleicht etwas früher das Lukasevangelium gekannt (Polykarp vielleicht auch die Apostelgeschichte, vgl. Pol. Phil. 1.2 mit Apg. 2,24). Die Abfassung des Evangeliums sollte daher nicht später angesetzt werden als ca. 125; die Apostelgeschichte könnte ein Jahrzehnt später geschrieben sein. Die Absicht des lukanischen Doppelwerkes läßt sich nicht ohne weiteres auf einen Nenner bringen. Zwar redet Lukas vor allem die
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heidnische Welt an. Aber er hat auch seine Mitchristen im Sinn. Das ist bei fast allen apologetischen Werken der Fall, weil sie bewußt die Christenheit als einen Teil der gesamten Welt verstehen, an die sie sich richten. Es geht Lukas um die Darstellung einer die ganze Geschichte umgreifenden Bewegung (das heißt nicht, daß er ein Historiker war!), die von U r a n f a n g her in Gottes Willen vorbereitet war, wie es das Alte Testament bezeugt und Johannes der T ä u f e r verkündete. Im Leben Jesu hatte diese Bewegung ihre G r ü n dungsgeschichte. V o n hier aus ging ihr W e g trotz aller Widerstände von Jerusalem nach Rom. Lukas will darstellen, wie das Evangelium, durch wunderbare Taten bezeugt, sich die Welt eroberte. Er will auch zeigen, daß dieses Christentum und nicht das Judentum der legitime Erbe der alttestamentlichen Verheißungen ist. D a z u kommt eine weitere apologetische These: das Christentum ist eine politisch ungefährliche Religion, die zu Unrecht verfolgt wird, wie Jesus schon zu Unrecht ans Kreuz geschlagen wurde. U n d schließlich geht es ihm - ebenso apologetisch wie erbaulich - um den Aufweis der Macht des göttlichen Geistes, der den Gang dieser Geschichte ständig leitete, ebenso wie Gott der Lenker der ganzen Geschichte bis zum Ende ist. Die beiden Teile des D o p pelwerkes haben je ihren eigenen Charakter. Das liegt zum Teil daran, daß Jesus und der Geschichte der Kirche jeweils ein anderer Platz in der gesamten Heilsgeschichte zukommt; es ist aber auch darin begründet, daß Lukas im Evangelium ein völlig anderes und sehr viel umfangreicheres Quellenmaterial zur Verfügung stand als f ü r die Apostelgeschichte. In der Komposition des Evangeliums hat Lukas den Aufriß des Markusevangeliums zugrunde gelegt und ihm das Material aus der Spruchquelle sowie Stücke aus einer Sonderüberlieferung eingefügt (zur synoptischen Frage s.o. §7.3b). Am Anfang steht ein Prolog, der f ü r beide Teile des Doppelwerkes gilt und den Apg. 1,1-2 wieder aufnimmt. Lukas macht darin klar, in welchem Verhältnis er zu den Überlieferungen und Schriften der früheren Zeit steht: „ D i e Augenzeugen von Anbeginn und Diener des Wortes w a r e n , " also die Männer der Generation der Apostel, haben alles überliefert; dann haben „viele" bereits versucht, entsprechende Berichte zu schreiben; nun will Lukas selbst, nachdem er allem vom Anfang an genau nachgegangen ist, seine Schrift f ü r Theophilus abfassen. Lukas macht also seinen Abstand zu den Ereignissen deutlich. Was er hier sagt, paßt gut zu einem Schriftsteller aus dem Anfang des
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2.Jh. Seiner Vorlage, dem Markusevangelium, folgt Lukas von Lk.3,1 bis 9,50 ( = Mk. 1,2-9,41), also vom Auftreten des Täufers bis etwa zur zweiten Leidensverkündigung Jesu. Lukas nimmt dabei nur wenige, aber charakteristische Umstellungen vor (s.u.); das Stück Mk.6,45-8,26 gibt Lk. nicht wieder, sei es, daß dieses Stück in seiner Markusvorlage fehlte, sei es, daß es wegen seiner Dubletten absichtlich ausgelassen wurde (s.o.§ 10.2b). Mit Lk.9,51 wird der Markusaufriß verlassen; hier beginnt der sogenannte lukanische Reisebericht. Erst Lk. 18,15 kehrt wieder zu Markus zurück (10,13) und Lukas verläßt ihn bis zur Geschichte des leeren Grabes (Lk. 24,12 = Mk. 16,8) nicht, wenngleich er mit seiner Vorlage auch oft frei umgeht. Neu ist bei Lukas neben der Einfügung des langen Reiseberichts die Vorgeschichte, die von der Ankündigung der Geburt des Täufers und der Geburt Jesu, den Geburtsgeschichten des Täufers und Jesu, der Beschneidung Jesu und dem zwölfjährigen Jesus im Tempel berichtet (1,5-2,51); ferner die Berichte von den Erscheinungen des Auferstandenen (Emmausjünger und Erscheinung vor den elf Jüngern) und der Himmelfahrt am Schluß des Evangeliums (24,13-53). Das Material aus der synoptischen Spruchquelle hat Lukas an verschiedenen Stellen des Evangeliums, meist in größeren Spruchgruppen, die ihm bereits vorlagen, eingefügt. Hierher gehört die „Feldrede" (6,20-49), die Rede über den Täufer (7,18-35), die Aussendungsrede (9,57-10,16), die Pharisäerrede (11,37-52) und Spruchmaterial, das im Reisebericht meist mit lukanischem Sondergut verbunden ist. Einen mit Matthäus vergleichbaren Versuch, die Sprüche in thematisch gegliederten großen Redekomplexen unterzubringen (s.o. § 10.2c), hat Lukas nicht unternommen. Im Lukasevangelium findet sich sehr viel Sondergut, das in den anderen synoptischen Evangelien keine Parallelen hat und aus einer oder mehreren Sonderquellen stammt. Es ist nicht wahrscheinlich, daß die Sonderquelle ein vollständiges Evangelium war. Der Charakter dieses Sondergutes ergibt sich aus der folgenden Ubersicht, in der die wichtigsten Stücke genannt sind (Sprüche nur in Auswahl): Wundergeschichten: Fischzug des Petrus 5,1-11 Auferweckung des Jünglings zu Nain 7,11-17 Heilung der verkrümmten Frau 13,10-17 Heilung des Wassersüchtigen 14,1-6
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Heilung der zehn Aussätzigen 17,11-19 Apophthegmata: Die Büßerin in Simons H a u s 7,36-50 Maria und Martha 10,38-42 vgl. Die dienenden Frauen 8,1-3 Seligpreisung der Mutter Jesu 11,24-26 Zakchäus 19,1-10 Sprüche: Standespredigt des Täufers 3,10-14 Weherufe der Feldrede 6,24-26 Eschatologische Sprüche 10,18; 12,49f; 17,20f Sprüche von der Zerstörung Jerusalems 10,39-44 Bußruf 13,1-5 Die zwei Schwerter 22,35-38 Gleichnisse und Parabeln, Beispielerzählungen (sämtlich innerhalb des lukanischen Reiseberichts): Barmherziger Samariter 10,29-37 Bittender Freund 11,5-8 Törichter Reicher 12,13-21 Strafe nach Verantwortung 12,47-48 Unfruchtbarer Feigenbaum 13,6-9 Hausbau und Kriegsführung 14,28-33 Verlorener Groschen 15,7-10 Verlorener Sohn 15,11-32 Ungerechter Haushalter 16,1-13 Reicher Mann und armer Lazarus 16,19-31 Knechtslohn 17,7-10 Gottloser Richter 18,1-8 Pharisäer und Zöllner 18,9-14 Einfügungen in die Passionsgeschichte: W o r t an Petrus 22,31-32 Jesus vor Herodes 23,6-16 Die Frauen Jerusalems 23,27-31 Die beiden Schächer 23,32.33b.39-43 Auffallend sind die vielen Gleichnisse, die Lukas aus guter Überlieferung geschöpft haben muß; mehrere Stücke, die sich mit der Frage von Arm und Reich beschäftigen; Frauen, die in den Apophthegmata erscheinen. Für Lukas ist die Zeit Jesu die Mitte der Zeit. Das hat er in der Komposition des Evangeliums zum Ausdruck gebracht. Die Zeit
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der Prophetie wird vor dem öffentlichen Auftreten Jesu rekapituliert und zu Ende geführt, nämlich in der Vorgeschichte und in Johannes dem Täufer. Die enge Verknüpfung der beiden Geburtsvorhersagen und Geburtsgeschichten in Lk. 1-2, die sorgfältige Formulierung der Vorhersagen der Funktion von Johannes und Jesus (Johannes erfüllt das prophetische Amt Israels, 1,15-17; Jesus entspricht als König auf dem Thron Davids über das Haus Jakob der Erwartung Israels, 1,32-33) und die Zusammenfassung der eschatologischen H o f f n u n g Israels in den beiden Psalmen (1,36-55. 67-79) zeigen, daß die Heilsgeschichte Israels hier ihren Höhepunkt findet und unmittelbar in die Geschichte Jesu einmündet. Die Engelsverkündigung bei der Geburt Jesu bleibt in diesem Rahmen (in der Stadt Davids) und sprengt ihn zugleich („Retter" ist ein hellenistischer Begriff, 2,11); das wird in den Erzählungen von der Darstellung im Tempel und vom zwölfjährigen Jesus nochmals betont. Das Ende der Heilsgeschichte Israels ist genau bezeichnet: Johannes der Täufer wird vor dem öffentlichen Auftreten Jesu gefangen gesetzt (3,19-20), die Erwähnung seines Namens bei der Taufe Jesu vermieden (3,21-22). Nach der Versuchung verläßt der Teufel Jesus „bis zu einer bestimmten Zeit" (4,13); dieser Zeitpunkt ist 22,2 mit der Rückkehr des Satans in den Verräter bezeichnet. Dadurch wird Jesu Wirken eine besondere Zeit, in der es keinen Satan gibt. Zur programmatischen Kennzeichnung dieser Mitte der Zeit dient Jesu Antrittspredigt in Nazareth (4,16-30; von Lukas auf Grund der umgestellten Erzählung von Jesu Verwerfung in Nazareth, Mk. 6,1-6, gestaltet). Wege und Orte Jesu haben in dieser besonderen Zeit eine theologische Bedeutung: Galiläa ist der O r t des Wirkens, Samaria und Judäa der Wanderung Jesu, Jerusalem der Ort des Leidens. Der Berg gehört zum Gebet (auch in der Verklärung, vgl. 9,28), der See zur geheimen Offenbarung an die Jünger; daher gibt es bei Lukas keine Bergpredigt und keine Gleichnispredigt am See. Palästina, von dem Lukas keine der Wirklichkeit entsprechende Vorstellung hat, ist das Heilige Land geworden. Während Markus das in seiner Tradition vorgegebene Motiv vom Wirken des göttlichen Menschen kritisch durch den Leidensgedanken interpretierte (s.o. § 10. 2b), bringt Lukas dieses Motiv erneut zur Geltung. Jesus ist in der Tat dieser göttliche Mensch, der vom Geist geleitet wunderbare Taten vollbringt und die Gottesherrschaft predigt. Erst mit dem Beginn der Wanderung Jesu (9,51) tritt Jesu Wirken in eine neue Phase ein. Während die Zwölf noch
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ausgesandt wurden, „die Gottesherrschaft zu predigen und Heilungswunder zu vollbringen" (9,2), schickt Jesus die Siebzig als Prediger der „ N ä h e " der Gottesherrschaft (10,9) „wie Schafe unter die W ö l f e " (10,3). Uberhaupt tritt das eschatologische Moment jetzt stärker in den Vordergrund. 12,2-59 und 17,20-37 sind eschatologische Reden, die jeweils einen Abschnitt der W a n d e r u n g Jesu abschließen. In der W a n d e r u n g Jesu, finden sich auch die Instruktionen an die Jünger und die Gleichnisse. Der letzte Abschnitt des Evangeliums, der sich wieder an Markus anschließt, handelt von Jesu Wirken im Tempel. Jesus zieht in den Tempel ein, nicht nach Jerusalem (vgl. Lk. 19,45 mit Mk. 11,11). Täglich lehrt Jesus im Tempel (Lk.20,8; 21,37-38), betritt aber nicht die Stadt, deren Untergang er beim Einzug in den Tempel voraussagt (19,41-44). Im Tempel finden nicht nur die Gespräche über den Zensus, die Auferstehung und die Davidsohnschaft statt (20,20-44), sondern auch die apokalyptische Rede (21,5-36). Lukas hat diese Rede aus Mk. 13 übernommen, aber stark bearbeitet, so daß sie im wesentlichen zu einer Voraussage des Untergangs Jerusalems geworden ist, in die sogar Einzelheiten aus der zur Zeit des Lukas ja längst Geschichte gewordenen Belagerung Jerusalems durch Titus eingetragen sind (21,20-24). Erst die an den Schluß der Rede gesetzten eschatologischen Mahnungen, die an die paulinischen Briefe erinnern (21,34-36), sprechen vom T a g des H e r r n , der über die ganze Erde kommen wird. Der Untergang Jerusalems ist demgegenüber nur ein vergangenes geschichtliches Ereignis. Heilsgeschichtlich ist er allerdings insofern bedeutsam, als damit Israels Rolle als T r ä g e r der Verheißung zu Ende gegangen ist. Vorerst ist Jerusalem nichts weiter als der O r t von Jesu Leiden, T o d und Auferstehung, mit dem die Mitte der Zeit zu Ende geht und die Zeit der Kirche beginnt. Zwar kehren die Jünger nach der Himmelfahrt in den T e m pel zurück (24,53; vgl.Apg.2,46; 3,1), aber der geographische H o rizont des nun anhebenden Geschehens ist nicht mehr an das Heilige Land gebunden. Im Evangelium konnte Lukas, auf reiches Quellenmaterial gestützt, unter Benutzung des Rahmens des Markusevangeliums sich auf die Schaffung der Biographie einer einzigen Gestalt konzentrieren. Bei der Abfassung der Apostelgeschichte stand er vor einer völlig anderen Aufgabe. Zwar stand ihm Quellenmaterial zur V e r f ü gung. Aber dieses Material war weder einheitlich, noch bot es einen Rahmen f ü r ein zusammenhängendes Geschichtsbild, und
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außerdem war es recht dürftig. Die Darstellung der Geschichte einer einzelnen Gestalt ließen weder die Quellen zu, noch vertrug es sich mit der Absicht, den Siegeszug des Evangeliums von Jerusalem nach Rom zu beschreiben. K a m also die Biographie als literarisches Vorbild nicht in Frage, so bot sich immerhin die Möglichkeit an, eine Geschichtsdarstellung zu versuchen, was auch dem apologetischen Interesse des Verfassers entgegen gekommen wäre. Doch dabei mußte ein neues Problem entstehen; denn Lukas wollte vom Wirken des heiligen Geistes berichten und konnte deshalb nur schwer der an den Historiker gestellten Anforderung nachkommen, den Ursachen geschichtlicher Entwicklungen kritisch nachzugehen. Daher war Lukas - mag er sich selbst auch als Historiker verstanden haben - immer wieder gezwungen, auf die Aretalogie als Darstellungsmittel zurückzugreifen, also auf eine Erzählungsform, durch die göttliche Macht im Handeln und Schicksal der Hauptpersonen nachgewiesen wird. D a der hellenistische Roman sich bereits des Mittels der Aretalogie zur Darstellung der göttlichen Führung seiner Helden bedient hatte (s.o.§3.4e), konnte Lukas sich an dieser literarischen Gattung orientieren. D a s ermöglichte auch, den Mangel an verwendbarem Material teilweise zu kompensieren und überlieferte Wundergeschichten aufzunehmen, ohne jedesmal dem Zweifel des Historikers an der Glaubwürdigkeit des Berichteten Ausdruck verleihen zu müssen. Reiseberichte und eine Geschichte vom Schiffbruch, die in einem Roman selten fehlt, fanden so ihren natürlichen Platz. Das heißt allerdings nicht, daß Lukas solche Erzählungen frei erfunden hat. Wundergeschichten, Visions- und Traumberichte der Apostelgeschichte entstammen vielmehr meist der Tradition. Hingegen war Lukas dort, wo er als Historiker schrieb, weitgehend auf seine Erfindungsgabe angewiesen. Das zeigt sich in den Sammelberichten und in den Reden. Die Sammelberichte (2,42-47; 4,32-37; 5,12-16; vgl.9,31) und damit auch die Nachrichten über den idealen Zustand der Jerusalemer Gemeinde sind lukanische Kompositionen. Die Technik hatte Lukas von Markus übernommen und bereits im Evangelium verwendet (vgl. Lk. 6,17-19 mit Mk. 3,7-12). Die Reden der Apg. stammen sämtlich aus der Feder des Verfassers, wenngleich überliefertes Material (christologische Formeln und fest fixierte Stücke des Schriftbeweises) verwendet wird. Theologische Unterschiede zwischen den Reden des Petrus, des Stephanus und des Paulus gibt es
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nicht. Schon das ist eine historische Unmöglichkeit. Der Inhalt der Paulusreden läßt sich auch nicht mit der Theologie des Paulus, wie sie aus seinen Briefen bekannt ist, harmonisieren. Man kann es Paulus nicht zutrauen, daß er, wie es in der Areopagrede geschieht (17,22-31), im stoischen Sinne allen Menschen göttliche H e r k u n f t zuschrieb (17,28 f; das reimt sich schlecht zu Rom. 1,18 ff), noch daß er in seinem Prozeß wiederholt beteuerte, er habe immer als guter Jude gelebt und in seiner Predigt von der Auferstehung der Toten nichts anderes verkündet als anerkannte pharisäische Lehren (vgl. Apg. 22,1 ff; 26,2 ff). Kurzum, in den Reden ist der Verfasser einer verbreiteten Praxis der Geschichtsschreibung gefolgt, an entscheidenden Stellen dem Leser die Bedeutung der Ereignisse durch Reden zu erklären, die von den Hauptpersonen der H a n d lung gehalten werden. Das schließt allerdings nicht aus, daß Lukas in den Erzählungen wertvolles Material verwendet hat, z.B. in einigen Einzelnachrichten wie die Angaben über Barnabas (4,36-37) und Stephanus (6,8-9; 7,54.57-58a), die Liste der hellenistischen Missionare (6,5) und der antiochenischen Propheten und Lehrer (13,1-2), die Zerstreuung der Hellenisten und Mission des Philippus in Samarien (8,1-2.5), die antiochenische Gemeinde (11,19 ff), das Martyrium des Zebedaiden des Jakobus (12,1-2) und das Aposteldekret (15,28-29). In Apg. 13-14 und 16-21 (auch 27-28?) scheint Lukas ein oder mehrere Reisetagebücher benutzt zu haben, die letztlich auf Mitarbeiter des Paulus zurückgehen. Art und U m fang dieser Quellen lassen sich nicht genau bestimmen, und die Frage, ob der Phlm.24 genannte Lukas ihr Verfasser war, mag man beantworten wie man will; zur Sache trägt das nicht bei (zu den Quellen der Apg. s.o. § 7.3c). Lukas hat das ihm zur V e r f ü g u n g stehende Material durchweg im Sinne seiner Gesamtkonzeption bearbeitet und dadurch Eindrücke des geschichtlichen Ablaufs geschaffen, die sich aus den verwendeten Quellen und Überlieferungen nicht ohne weiteres ergaben oder im Widerspruch zu ihnen standen. D a er den Siegeslauf des Evangeliums von Jerusalem bis Rom darstellen wollte, brauchte er einen Kreis von Männern, die die Zuverlässigkeit des Evangeliums garantieren konnten. Diesen Kreis hat er mit den Zwölf Aposteln geschaffen (1. Kor. 15,5-7 sind die „ Z w ö l f " nicht mit den Aposteln identisch). Er macht sie zu Augenzeugen des Geschehens der O f f e n b a r u n g in Jesus, „angefangen von der T a u f e des Johannes bis zum Tage, an dem er von uns genommen w u r d e " (1,22;
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vgl. 1,8; 1 0 , 3 7 - 4 1 ; 13,23-31). Weil J u d a s der V e r r ä t e r , einer von den Z w ö l f e n , diesem Kreis nicht m e h r a n g e h ö r t e , erzählt Lukas eine Geschichte von der N a c h w a h l des z w ö l f t e n Z e u g e n (1,15-26). Eine K o n s e q u e n z dieser Fiktion ist, d a ß der Titel „ A p o s t e l " geflissentlich vermieden wird, w e n n von Paulus die R e d e ist (die einzige A u s n a h m e ist 14,14, w o d e r Titel w o h l aus der Quelle stammt). D e n H o r i z o n t des G e s c h e h e n s verdeutlicht die Pfingstgescbichte. D a z u wird das in d e r T r a d i t i o n berichtete enthusiastische Ereignis des glossolalischen R e d e n s neu interpretiert: es w a r ein S p r a c h w u n der, das ebenso weltweite B e d e u t u n g hat wie einst die babylonische S p r a c h v e r w i r r u n g (Gen. 11,1-9). Es geht die g a n z e W e l t a n ; alle V ö l k e r sind vertreten (deshalb wird die Völkerliste 2 , 9 - 1 1 eingef ü g t ) . Auf der a n d e r e n Seite k n ü p f t Lukas an die ältere eschatologische Interpretation des Pfingstereignisses an. W a s hier geschieht, ist in der T a t ein Ereignis, in dem sich die W e i s s a g u n g von Joel 3 , 1 - 5 ( = A p g . 2 , 1 7 - 2 1 ) erfüllt. Die P e t r u s r e d e (2,14-36) richtet sich in Wirklichkeit an den Leser, d e r verstehen soll, d a ß alles, was im Folgenden berichtet w i r d , eschatologisches W i r k e n des göttlichen Geistes in d e r W e l t ist. D i e Zeit d e r Kirche ist die Zeit des W i r k e n s des Heiligen Geistes. Diese G e s a m t k o n z e p t i o n verflicht Lukas mit einer Reihe apologetischer Motive. V o r allem wird dargestellt, d a ß es sich beim W i r ken d e r christlichen Missionare u m Gottes T u n handelt. D a s zeigt beispielhaft die V e r h a n d l u n g des jüdischen Synedriums. D i e A p o stel müssen predigen, „weil m a n G o t t m e h r g e h o r c h e n m u ß als den M e n s c h e n " (5,29), und Gamaliel spricht aus, was Lukas seinen heidnischen Lesern deutlich m a c h e n will: W e n n diese Sache von G o t t ist, d a n n k a n n man sie nicht zunichte m a c h e n ; w e r sich ihr widersetzt, wird ein W i d e r s a c h e r Gottes (5,39). Sich d e r bewiesenen G e g e n w a r t G o t t e s in den W e g zu stellen - das w u ß t e jeder H e i d e und jeder R ö m e r - , ist nicht n u r gottloser Ü b e r m u t , s o n d e r n a u c h gefährliche T o r h e i t . D e r Beweis f ü r die G e g e n w a r t G o t t e s wird d u r c h die Berichte von den geistgewirkten T a t e n d e r Apostel und Missionare e r b r a c h t (3,2 f f ; 6,8 u.ö.); auch die E r z ä h l u n g von Ananias und Saphira g e h ö r t in diesen Z u s a m m e n h a n g ( 5 , 1 - 1 1 ) ein S u m m a r i u m ü b e r W u n d e r h e i l u n g e n schließt sich unmittelbar an ( 5 , 1 2 - 1 6 ) . Ein weiteres apologetisches Motiv erscheint in d e r vielfachen B e t o n u n g der Einheit und Einmütigkeit der christlichen G e m e i n d e ; das ist an d e r J e r u s a l e m e r G e m e i n d e exemplifiziert (vgl. 2,46; 4,32). D e n überlieferten Bericht vom K o n f l i k t zwischen
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den Aposteln und den Hellenisten muß Lukas deshalb zu einer Erzählung von der Wahl der Diakonen, die bei Tisch Dienste leisten sollen, umstilisieren (6,1-6). D a ß einer dieser Diakonen, Stephanus, kein Tischdiener sondern ein Prediger und Wunderheiler war, hat Lukas allerdings nicht aus seiner Quelle getilgt (6,8), weil er vom Martyrium des Stephanus berichten wollte; denn das gab ihm Gelegenheit darzulegen, warum Christen überhaupt mit einer etablierten Religionsgemeinschaft in Konflikt kommen konnten. Die Stephanusrede (7,1-53) führt in einer langen Schriftauslegung den Nachweis, daß die ganze Geschichte Israels von Abraham bis Salomo dem christlichen Standpunkt recht gibt: der allmächtige Gott wohnt nicht in Tempeln, die mit H ä n d e n gemacht sind (7,48-50). Hier findet sich also ein drittes apologetisches Motiv. Der christliche Gottesbegriff, an dem auch ein gebildeter Heide keinen Anstoß nehmen konnte, entspricht ganz der altehrwürdigen Tradition Israels. Die Christen sind also keine Verächter dieser Tradition, sondern ihre legitimen Erben. Verfolgung trifft sie nur durch jene, deren Väter bereits die Propheten verfolgt haben (7,51-52) und die das Gesetz, auf das sie sich berufen, selber nicht halten (7,53). Aus dieser Sicht heraus ist es verständlich, daß Lukas nur christliche Martyrien berichtet, die jüdische Behörden zu verantworten haben (vgl. noch 12,1-2). Er hütet sich wohl, den Römern entsprechende V o r w ü r f e zu machen, oder ihnen gar die Schuld am T o d e Jesu zuzuschieben. Diese Schuld liegt allein bei den jüdischen Behörden (vgl. z.B. 13,27-28; übrigens nicht bei ,,den Jud e n " schlechthin!). Bis zum Martyrium des Stephanus war in der Erzählung der Apg. Petrus die zentrale Gestalt. Jetzt tritt zum ersten Male Paulus auf, der zunächst noch Saulus heißt (7,58; 8,3). Dadurch, daß Lukas Petrus und Paulus in den Mittelpunkt seines Werkes gestellt hat, verrät er seine Abhängigkeit von der kirchlichen Tradition, in der, wie der 1. Clemensbrief und die Ignatiusbriefe zeigen, diese beiden Apostel und Märtyrer die Garanten der kirchlichen Uberlieferung waren. Jedoch ist die Art und Weise der Darstellung dieser beiden Männer in der Apg. merkwürdig. Petrus ist zwar immer Apostel, da er ja zum Kreis der Zwölf gehört. Aber in Apg. 15 wird er zum letzten Male genannt, und Lukas weiß nichts über seine Romreise und über sein Martyrium zu berichten. N o c h eigenariger ist die Darstellung des Paulus. Er ist weder Apostel noch Märtyrer und auch sonst hat das lukanische Paulusbild wenig mit dem Pau-
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lusbild der Briefe zu tun. Verlegenheitsauskünfte - Lukas habe die Briefe nicht gekannt und der ursprüngliche Schluß der Apg. mit dem Bericht vom Martyrium des Paulus sei verloren gegangen helfen hier nicht weiter. Sollte Lukas etwa auch nicht gewußt haben, daß Paulus „Apostel" war? D a ß er von den Briefen nichts wußte, ist f ü r einen Schriftsteller jener Gemeinden, die sich auf Petrus und Paulus beriefen, ausgeschlossen. Das Paulusbild des Lukas (ebenso wie übrigens sein Petrusbild!) läßt sich nur als bewußte Konstruktion im apologetischen Interesse erklären. Eine „paulinische" Christenheit konnte es f ü r Lukas ohnehin nicht mehr geben, sondern nur noch ein einiges Christentum - der N a m e „Christen" wird erstmals von Lukas gebraucht (11,26) - , das nur das eine, in seiner Gültigkeit bestätigte Evangelium hat. Die Fiktion der Zwölf Apostel als G a r a n t e n des Evangeliums hält Lukas auch nur solange aufrecht, bis deutlich geworden ist, daß die Hellenisten (6,1-7) und auch Paulus (9,26-28) von diesen ursprünglichen Zeugen abhängig sind; beim letzten Besuch des Paulus in Jerusalem gibt es dort keine Apostel mehr (21,17 ff) - weder waren sie in Lukas Quelle erwähnt, noch hatte Lukas ein weiteres Interesse an ihnen. Aber Apg. 9 wird die Berufung des Paulus, im Gegensatz zu G a l . l , 1 0 f f , so geschildert, daß die Abhängigkeit seines Auftrags von der Gemeinde (den Befehl zur Mission erhält er durch Ananias, 9,10-19) und von den Zwölf Aposteln außer Frage steht (nach „etlichen T a g e n " geht Paulus bereits nach Jerusalem, 9 , 2 3 - 3 0 ; vgl.Gal. 1,17, s.o.§9. 7c). Auch ist es nicht Paulus (oder Barnabas), der die Heidenmission eröffnet, sondern Petrus (10,1-11,18). Erst dann tritt der bereits bekehrte Paulus in die Missionsarbeit der antiochenischen Gemeinde ein (11,25-26). Das entw o r f e n e Bild der paulinischen Mission mußte sich dementsprechend der lukanischen Gesamtsicht f ü g e n ; denn Paulus sollte im weiteren Verlauf der Erzählung Repräsentant der Fortsetzung des siegreichen Weges des Evangeliums bis nach R o m werden. Für paulinische Briefe mit ihrer Betonung der Gegenwart des Sterbens Jesu im Schicksal des Apostels ergab sich dabei keine V e r w e n d u n g s m ö g lichkeit, noch hat Lukas etwas mit den Berichten von den vielfachen Kontroversen mit Gegnern etwas anfangen k ö n n e n ; denn es ging ihm ja um die Darstellung der Einigkeit des Christentums, die sich nicht durch den Gegensatz vom gesetzestreuen Judenchristentum und gesetzesfreien Heidenchristentum stören lassen konnte. Ein wirkliches Problem w a r das f ü r ihn ohnehin nicht mehr. Der
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Gesetzesgehorsam der Heidenchristen ist für Lukas vielmehr dadurch bewiesen, daß sie sich von Götzenopfer, Blut, Erstickten und Unzucht fernhalten. Dazu dient das sogenannte Aposteldekret (15,29), das im Zusammenhang der Anklage gegen Paulus, er lehre, daß man dem Gesetz nicht mehr gehorchen solle, nochmals zitiert wird (21,25). Im Zusammenhang damit verzichtet Lukas auch darauf, der Kollekte des Paulus einen gebührenden Raum in seiner Wirksamkeit einzuräumen (s.o.§9.3f), obgleich er sehr wohl davon gewußt hat. Denn in Apg.20,4 hat er offenbar aus seiner Quelle die Liste der Mitglieder der Delegation erhalten, durch die die Kollekte nach Jerusalem überbracht wurde. Statt dessen erledigt er diese ganze Angelegenheit durch die Einschaltung einer ganz unhistorischen Jerusalemsreise von Antiochien aus, bei der eine Geldspende überbracht wurde (11,27-30). So ist der Weg frei für eine Beschreibung der paulinischen Mission, die dem Zweck der lukanischen Darstellung entspricht. Paulus ist der große, mit göttlichem Geist begabte Wanderprediger, der wie schon Petrus vor ihm Zeichen und Wunder vollbringt und den Siegeszug des Evangeliums fortsetzt. Beispielhaft geschildert wird das in der Missionsreise von Paulus und Barnabas in Apg. 13Η . Wie Petrus, so knüpft auch Paulus in seiner Rede im pisidischen Antiochien (13,17-41) an die Tradition Israels an und stellt Jesus in eine Reihe mit den Heilserweisen, die Gott hat Israel zuteil werden lassen. Aber ebenso konnte Lukas den Paulus an die Tradition der griechischen Religion und Philosophie anknüpfen lassen, wie es in der Areopagrede geschieht (17,22-31). Daß der eine wie der andere Anknüpfungspunkt für heidnische Leser gleichermaßen überzeugend sein konnte, wußte Lukas aus der christlichen Missionspraxis. Daß Paulus von den bekehrten Heiden keine Beschneidung verlangte, wußte Lukas natürlich auch. Aber das ist für ihn kein Problem mehr und bedarf keiner theologischen Begründung. So kann Lukas bei seiner Darstellung des Apostelkonzils (15,1 ff), bei dem die Frage der Beschneidung zu Sprache kommt, darauf hinweisen, daß der heilige Geist bereits durch die Reinigung der Herzen der Heidenchristen das Problem gelöst hat (15,8-9). Die Zeichen, die Gott unter den Heiden durch Barnabas und Paulus gewirkt hat (15,12), bestätigen das. Lukas bleibt seiner Sicht getreu, daß die Zeit der Kirche als eschatologisches Ereignis vom Wirken des Geistes bestimmt wird. Unter diesem Gesichtspunkt verwandelt er die langjährige und mühsame Arbeit des Paulus, in der er seine
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Gemeinden aufbaute und stärkte, zu einem fast atemberaubenden Reiseunternehmen (15,40-21,14). Ein längerer Aufenthalt in einzelnen Städten wird zwar erwähnt - diese Angaben stammten aus Lukas' Quelle (18,11; 19,10) aber Reisen und Wundertätigkeit, unterbrochen von Anfeindungen und einem gelegentlichen Gefängnisaufenthalt, füllen die Seiten. Die romanhafte Ausgestaltung seiner Quelle, eines offenbar sehr dürftigen Reiseberichtes, zeugt von Lukas' schriftstellerischem Können, macht es aber dem Historiker schwer, zwischen zuverlässiger Überlieferung und Legende zu unterscheiden. Dieser Paulus, der größte christliche Missionar, sollte das Evangelium auch in die Hauptstadt der Welt tragen. Lukas' Quelle berichtete, daß Paulus bei seinem letzten Besuch in Jerusalem verhaftet wurde. Diese Nachricht ermöglicht es Lukas, die Stellung des Christentums den römischen Behörden gegenüber ausführlich zu behandeln. Einmal kann Paulus darauf hinweisen, daß seine gesamte Tätigkeit, nämlich die Gründung des weltweiten Heidenchristentums, unmittelbar auf göttliche Weisung zurückgeht. Darum erzählt Paulus für die Leser der Apg. noch zweimal die Geschichte seiner Berufung (22,3-21; 26,9-20). Zum andern wird aber auch kein Zweifel daran gelassen, daß dieses Christentum keine neue Erfindung ist, die den religiösen Frieden des römischen Reiches stören will. Lukas verteidigt das Christentum gegen den Vorwurf, es mißachte alte und ehrwürdige religiöse Überlieferungen. Paulus muß bei seiner Verteidigung mehrfach betonen, daß er Pharisäer sei, ein Jude also, der niemals etwas gegen die Religion seiner Väter getan hat (22,1 ff; 23,1.6; 24,14ff; 25,8; 26,2ff). Paulus appelliert bei Lukas nicht etwa in seinem persönlichen Interesse an den Kaiser (25,10), er appelliert überhaupt an die offizielle römische Religionspolitik; denn er ist der Repräsentant des frommen römischen Bürgers, der nicht „gegen das Gesetz (der Juden in seinem Falle), noch gegen das Heiligtum, noch gegen den Kaiser" gefrevelt hat (25,8). Es soll im Prozeß des Paulus klar werden, daß seine Verurteilung gegen die Prinzipien der römischen Religionspolitik verstoßen würde. Daraus erklärt sich, daß Lukas kein Interesse daran haben konnte, Verurteilung und Martyrium des Paulus oder des Petrus zu berichten, die beide wahrscheinlich unter Nero durch römischen Richtspruch hingerichtet worden waren. Vielmehr wird Paulus als römischer Bürger von römischen Beamten und Soldaten mit Respekt behandelt (22,24-29), ist auf seiner ereig-
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nisreichen Romreise im vollen Besitz seiner wunderbaren Kräfte, mehr Führer als Gefangener, und kann schließlich in Rom die Herrschaft Gottes und die Lehre des Herrn Jesus Christus frei verkündigen (28,30-31). b) Die wunderwirkenden Apostel im Konflikt mit der Welt Lukas hat nicht nur ein apologetisches, sondern gleichzeitig ein erbauliches christliches Buch schaffen wollen. Ob ihm das Letztere voll gelungen ist, muß man allerdings fragen. Denn es gibt aus der Mitte des 2.Jh. zwei christliche Bücher, die sich nicht damit zufrieden geben wollten, daß Petrus und Paulus für die Christenheit nur dem Evangelium verpflichtete Prediger und Wundertäter waren, und nicht auch Kämpfer gegen die Irrlehre und gepriesene und verehrte Märtyrer. Sowohl die Apostelgeschichte des Petrus als auch die des Paulus müssen bald nach der lukanischen Apostelgeschichte entstanden sein. Beide verwenden Traditionen, die auf eine frühere Zeit zurückgehen. Wie die lukanische Apostelgeschichte haben beide Schriften, allerdings noch in viel stärkerem Maße, sich die hellenistische Romanliteratur zum Vorbild genommen. Damit tritt das apologetische Element zurück, aber die von Lukas nur bedingt übernommenen aretalogischen Züge werden bestimmend. Die Überlieferung dieser beiden Apostelgeschichten ist dürftig und eine Rekonstruktion nur bis zu einem gewissen Grade möglich; es bleiben Lücken und Unsicherheiten. Was die Paulusakten anbetrifft, so gibt es nur zwei Handschriften, die das Gesamtwerk bezeugen, einen griechischen Papyruskodex (etwa 300nChr geschrieben) und einen koptischen Papyrus (aus dem 6.Jh.). Beide sind fragmentarisch, lassen aber Rückschlüsse auf die Gesamtkomposition zu. Dazu kommen noch ein paar griechische und koptische Fragmente. Drei Teile sind aus den Paulusakten herausgetrennt und gesondert überliefert worden und daher besser bezeugt: 1. Die Akten des Paulus und der Thekla, 2. Das Martyrium des Paulus, 3. Der Briefwechsel zwischen Paulus und den Korinthern (3.Korintherbrief). Von den ersten beiden Stücken gibt es jeweils mehrere griechische Handschriften sowie Übersetzungen. Der 3.Korintherbrief ist in die armenische Bibel aufgenommen worden, stand wahrscheinlich auch im Corpus Paulinum des ersten syrischen N T ; denn der syrische Kirchenvater Ephrem hat über diesen Brief einen Kommentar verfaßt. Im Papyrus BodmerX ist vor kurzem auch der ursprüngliche griechische Text des 3.Korintherbrie-
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fes bekannt geworden. Von den Petrusakten gibt es eine Handschrift aus Vercelli von einer lateinischen Ubersetzung des letzten Teiles dieses Buches, die Actus Vercellenses. Sie berichten von der Auseinandersetzung des Petrus mit dem Magier Simon in Rom und vom Martyrium des Petrus. Das Martyrium ist außerdem, wie das Martyrium des Paulus, unabhängig überliefert worden und in griechischen Handschriften sowie in zahlreichen Übersetzungen erhalten. Vom ersten Teil der Petrusakten gibt es nur zwei Fragmente: die Erzählung von der Tochter des Petrus aus einem koptischen Papyrus und eine Zusammenfassung der Erzählung von der Tochter eines Gärtners im apokryphen Titusbrief. So ist es schwer, sich über den ersten Teil eine rechte Vorstellung zu machen. Immerhin läßt sich aus Act.Verc. 5 entnehmen, daß Petrus sich 12 Jahre lang in Jerusalem aufhielt. Es scheint, daß die Paulusakten von den Petrusakten abhängig sind. Denn die berühmte Quo-Vadis-Episode aus dem Martyrium des Petrus wird in den Paulusakten benutzt, ohne dort aber einen rechten Sinn zu ergeben. In Act.Verc. 35 läßt sich Petrus dazu überreden, Rom zu verlassen, um so dem drohenden Martyrium zu entgehen; unterwegs begegnet ihm Jesus, der auf dem Wege nach Rom ist; auf die Frage des Petrus „Herr, wohin gehst du?" antwortet Jesus: ,,Ich gehe nach Rom hinein, um gekreuzigt zu werden." Act. PI. 10 erscheint Jesus dem Paulus, der auf der Schiffsreise nach Rom ist, und gibt ihm dieselbe Auskunft; doch ist Paulus gar nicht auf der Flucht vor dem Martyrium. Ist diese Abhängigkeit richtig gesehen, dann ergibt sich für beide Schriften ein Abfassungsdatum vor dem Ende des 2.Jh.; denn Tertullian kennt die Paulusakten (Debaptismo 17) und berichtet, sie seien von einem kleinasiatischen Presbyter „aus Liebe zu Paulus" verfaßt worden. Ein genaueres Datum für die Abfassung läßt sich nicht geben. Zwar werden Stellen aus den Evangelien gelegentlich angeführt, und wenigstens für die Paulusakten muß eine Kenntnis der paulinischen Briefe vorausgesetzt werden. Aber einen Kanon des N T kennen beide Schriften nicht. Ihr Verhältnis zur lukanischen Apostelgeschichte ist eigenartig. Falls sie in der Tat bekannt ist - das kann nicht ausgeschlossen werden - , so bemühen sich beide Schriften doch darum, aus dem Schatz der Petrus- und Pauluslegenden, aus dem ja auch Lukas geschöpft hat, ein ganz anderes Bild dieser beiden Apostel zu schaffen. Zwar gehören auch für die Verfasser dieser beiden Apostelgeschichten Petrus und Paulus zusammen. So berichten die
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Petrusakten, daß Paulus vor der Ankunft des Petrus in Rom gewirkt habe; und in den Paulusakten ist der Kapitän des Schiffes, das Paulus nach Italien bringt, ein von Petrus getaufter Christ (Act. Verc. 1; Act.PI. 10; vgl.Act.Verc.2). Aber die beiden Apostel stehen als Märtyrer nebeneinander. Es wird also hier auf die ältere, von Lukas beiseite geschobene Tradition von den Märtyrern Petrus und Paulus zurückgegriffen, die sich erstmals im 1. Clemensbrief und bei Ignatius fand (s.o. § 12. 2d-e). Auch für die Martyrienberichte der beiden Apostelgeschichten müssen ältere Erzählungen benutzt worden sein. Daß es solche Berichte früh in schriftlicher Form gab, beweist Lukas, der in Apg.6-7 eine Quelle verwendet, die vom Martyrium des Stephanus erzählte. Uberhaupt wird man sich hüten müssen, derartige Erzählungen vom Tod der Apostel sowie Legenden von apostolischen Wundertaten erst als Antwort auf das erbauliche Interesse einer späteren Zeit anzusehen. Im Gegenteil, ihre Entstehung erklärt sich am besten aus der unmittelbaren Reaktion auf den Märtyrertod. Das Martyrium des Polykarp wurde unmittelbar nach seinem Tode niedergeschrieben und es entbehrt keineswegs der wunderbaren Züge (s.u. § 12.3f). Man kann aber noch einen Schritt weitergehen. Solche Wundergeschichten sind nicht nur als Einzelerzählungen umgelaufen, sondern auch bald zu Legendenzyklen zusammengestellt worden. Die lukanische Apostelgeschichte setzt das bereits voraus; man kann dem Verfasser kaum zutrauen, daß erst er die von ihm benutzten Petrus- und Pauluslegenden sammelte. Die Existenz solcher Zyklen ist auch für die Akten des Petrus und des Paulus deutlich sichtbar. Das sind also ihre Quellen, nicht die Apostelgeschichte des Lukas. In den Petrusakten wurde ein Zyklus von Legenden über den Wettkampf zwischen Petrus und dem Magier Simon benutzt. In den Zusammenhang der Petrusakten will er nicht so recht passen; denn er endet mit dem Sieg des Petrus über Simon in einem Wettstreit auf dem Forum unter dem Vorsitz des römischen Stadtpräfekten, der allgemeinen Anerkennung des Petrus und dem fatalen Absturz des fliegenden Simon. So muß der Verfasser erst eine mühsam herangeholte Begründung dafür bringen, daß der Präfekt den Petrus bald darauf hinrichten ließ. Die Zaubergeschichten dieses Zyklus, die neben einem redenden H u n d , einem munter schwimmenden geräucherten Thunfisch und einem fliegenden Magier auch mit Blindenheilungen und Totenerweckungen nicht sparsam sind, können zum Teil volkstümliche Erzählungen und Schwänke
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gewesen sein, ehe sie bei der Zusammenstellung des Zyklus dem Magier Simon und dem Petrus zugeschrieben wurden. Gerade in Bezug auf Zaubergeschichten war der Schatz des frei umlaufenden Erzählungsgutes der römischen Zeit, aus dem auch die Romanliteratur schöpfte, besonders reich (vgl.z.B. den Eselsroman des Apuleius). In den Paulusakten hat der Verfasser einen älteren Zyklus von Theklalegenden verwendet. Er bemüht sich zwar, seinen Helden Paulus in die Theklaerzählungen einzufügen, aber das gelingt ihm nur teilweise. Auch die Erzählung vom Martyrium des Paulus muß schon vor der Abfassung der Paulusakten existiert haben; denn die vom Verfasser hinzugefügte Einleitung, in der in Anlehnung an die Petrusakten (s.o.) Jesus dem Paulus verkündete, er müsse von neuem gekreuzigt werden, paßt nicht zu der folgenden Erzählung von der Enthauptung des Paulus. So geben diese apokryphen Apostelgeschichten mancherlei Hinweise auf die schon früh einsetzende Legendenbildung, die sich nicht auf die Gestalten der Hauptapostel beschränkte. Schon deshalb kann man nicht annehmen, daß solche Legenden sich ausschließlich auf Grund entsprechender Angaben in der kanonischen Literatur entwickelt haben. Zwar berichtet Lukas Apg. 8,9-24 ebenfalls über den samaritanischen Magier Simon, aber dieser lukanische Bericht setzt bereits eine Simonlegende voraus, aus der die Petrusakten geschöpft haben. Die Begegnung mit Simon in Apg. 8,14ff findet zwischen Petrus, Johannes und Simon in Samarien statt, während Act.Verc. 8 von einer Begegnung des Magiers mit Petrus und Paulus in Jerusalem spricht. H a t das in der Quelle des Lukas gestanden, so ist verständlich, warum er Paulus durch Johannes ersetzt; denn die Bekehrung des Paulus wird ja erst Apg. 9,1 ff erzählt. Aber es geht nicht nur um die Legende und die Martyrien der Apostel, die durch die apokryphen Apostelakten voll zur Geltung gebracht werden sollen, während die lukanische Geschichte die Martyriumsberichte unterdrückte. Es liegt den Petrus- und Paulusakten auch an einer christlichen Lebenshaltung, die in den frühkatholischen Schriften nicht besonders betont oder abgelehnt wurde, aber im 2. Jh. sehr weit bei den christlichen Gemeinden verbreitet gewesen sein muß, nämlich die Enthaltsamkeit, vor allem auf sexuellem Gebiet. Lukas selbst steht dem freilich nicht sehr fern; denn in Jesu Antwort auf die Sadduzäerfrage hat er eine bedeutsame Änderung vorgenommen: Wer des kommenden Äons würdig ist, heiratet nicht (vgl. Lk. 20,34-36 mit Mk. 12,25). Doch führt Lukas das
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in der Apostelgeschichte nicht weiter aus. Die Pastoralbriefe (s.o. §12. 2g) wenden sich sogar ausdrücklich gegen Irrlehrer, die auf dem Verbot der Heirat bestehen. Hingegen wird in den keineswegs „häretischen" Petrus- und Paulusakten das Ideal der Jungfräulichkeit immer wieder betont. Von einer apologetisch motivierten Angleichung christlicher Moral an die bürgerliche Moral ihrer Zeit wollen sie nichts wissen. Sie stehen damit wahrscheinlich der Frömmigkeit ernster Christen jener Tage sehr viel näher als die Pastoralbriefe. Das darf man nicht übersehen, wenn man sie mit dem geläufigen Prädikat „enkratitisch" belegt. Denn es handelt sich nicht um häretische Sondergruppen, sondern um ein Gemeindechristentum, das die auch sonst geforderten Pflichten der gegenseitigen Fürsorge, der Armenpflege und der Betreuung der Witwen stark betont. Ebenso sind diese Schriften mit dem Frühkatholizismus in der Bekämpfung der Gnosis und in der Bewahrung des durch die Apostel überlieferten „Glaubens" vollkommen einig. Das zeigen vor allem die Paulusakten. Denn in ihnen wird über den gegen die Gnostiker gerichteten Briefwechsel des Paulus mit Korinth ausführlich berichtet (Act. PI. 8) und eine Stellung eingenommen, die mit den Pastoralbriefen übereinstimmt (s.o.§ 12. 2g). Vergleicht man im ganzen diese apokryphen Apostelgeschichten mit der kanonischen Schrift des Lukas, so ist das Urteil, daß sie stärker dem Drang nach Erbauung und Unterhaltung nachgegeben hätten und deshalb der hellenistischen Romanliteratur näher stünden, nicht gerechtfertigt. Um Erbauung geht es auch bei Lukas. Aber den apokryphen Petrus- und Paulusakten fehlt das apologetische Motiv. Sie sind nicht bereit, die urchristlichen Ideale eines ethischen Rigorismus der Apologetik zu opfern, und das große Vorbild der Märtyrerapostel ist für sie wichtiger als der Nachweis, daß es sich beim Christentum nicht um eine staatsfeindliche Religion handelt. Wenn darüber hinaus hier die Blüten frommer Phantasie stärker zum Ausdruck kommen - Lukas steht ihnen in dieser Beziehung allerdings kaum nach, wenn es auch bei ihm keine getauften Löwen und sprechenden Hunde gibt - , so verkörpern sie doch gerade darin eine christliche Hoffnung, die sich mit den Grenzen nicht zufrieden gibt, in denen eine vernünftige Gesellschaft und eine bürgerliche Moral lebt. „Selig sind, die um der Liebe Gottes willen das weltliche Wesen verlassen haben, denn sie werden Engel richten und zur Rechten des Vaters gesegnet werden" (Act. PI. 3.6). Damit wird in unmittelbarer Anknüpfung an die Selig-
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preisungen J e s u der von G o t t sanktionierte Protest gegen die bestehende O r d n u n g der Welt erneuert. c) D a s paulinische Evangelium als Weltentsagung Seit dem E n d e der domitianischen V e r f o l g u n g hatte sich aus dem Kern der einst von Paulus gegründeten Gemeinden ein Christentum herausgebildet, das seine Bereitschaft anzeigte, als rechtlich und moralisch gesinnte Religionsgemeinschaft sich nicht nur in der Welt einzurichten, sondern sich diese Welt durch ihr beispielhaftes Gemeinschaftsleben und ihre P r o p a g a n d a zu erobern. Gegründet war diese Christenheit auf das Alte Testament, und sie verstand sich als legitimer Erbe der Verheißungen Israels, die sich im K o m m e n J e s u , in seiner Auferstehung und in der geistgewirkten G r ü n d u n g der Kirche erfüllt hatten. Auf Paulus konnte man mit Stolz als einen der Gründer dieser Kirche zurückblicken, auch gelegentlich seine Briefe in der Paränese und zum weiteren Ausbau der Kirchenordnung heranziehen. Aber als theologische N o r m hatten sie keine Geltung mehr, ja, Lukas meinte sogar, g a n z auf die Briefe verzichten zu können. Zwar gab es Irrlehrer, aber nichts spricht dafür, daß irgendeine andere christliche Gruppe, war sie nun gnostisch oder judenchristlich, eine Organisation besessen hat, die der durch Briefe und persönliche Besuche aufrechterhaltenen Einheit der meist bischöflich geleiteten Gemeinden des Frühkatholizismus von Antiochien bis R o m gefährlich werden konnte. Während diese Irrlehrer mit theologischen Lehren auftraten, deren Annahme tiefere Einsicht versprach, lag die Stärke des Frühkatholizismus darin, daß für ihn Einheitlichkeit in der Theologie nicht konstitutiv war. Es gab also hier keinen ideologischen Z w a n g ; die Säulen des Glaubens waren vielmehr das Festhalten am Alten Testament und am Bekenntnis von J e s u K r e u z und Auferstehung sowie das Gebot, an der Gemeinde und ihrem Leben teilzunehmen, sich dem Bischof unterzuordnen, sich um die Armen, Witwen und Weisen zu kümmern und sich eines würdigen Lebenswandels in der Welt zu befleißigen. Dieser Zustand wurde durch das Auftreten eines dem Paulus zutiefst verpflichteten T h e o l o g e n grundsätzlich in Frage gestellt und die Kirche dadurch in eine Krise gestürzt, die sie zur theologischen Neubesinnung z w a n g und die sie erst durch die S c h a f f u n g einer neuen Heiligen Schrift, nämlich des Neuen Testamentes, überwinden konnte. V o n Marcion, der für die Kirche zum Erzketzer wer-
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den sollte, sind keine Schriften erhalten. Das früheste Zeugnis für sein Auftreten ist vielleicht die von Irenäus erzählte Anekdote von der Begegnung Marcions mit Polykarp (s.o. § 12.2h). Daß es bereits um das Jahr 150nChr eine weltweite marcionitische Kirche gab, beweisen die Nachrichten Justins (Apol. 1.26.5; 58.1-2), der schon zuvor eine Abhandlung gegen Marcion geschrieben hatte, die aber verloren ist. Spätere Zeugen sind Clemens von Alexandrien, Irenäus und Tertullian sowie eine große Zahl von Ketzerbestreitern aus den folgenden Jahrhunderten. Die kritische Sichtung aller diesbezüglichen Nachrichten und die Rekonstruktion des Wirkens und der Theologie Marcions ist erstmals Adolf von Harnack gelungen (1920). Alle weitere Forschung baut auf das Werk H a r nacks auf. Marcion muß einige Jahre vor lOOnChr geboren sein, und zwar in der nordkleinasiatischen Provinz Pontus. Er war also ein etwas jüngerer Zeitgenosse Polykarps von Smyrna, etwas älter als der Märtyrer Justin. Aufgewachsen und erzogen war Marcion in einem christlichen Hause. Er war ein wohlhabender Schiffseigentümer, besaß also eine Reederei. Diese Nachricht über Beruf und sozialen Stand eines namentlich bekannten Christen zeigt, daß es sich bei den Legenden über wohlhabende Männer und Frauen, die Christen wurden und der Kirche größere finanzielle Zuwendungen machten, keineswegs um Wunschträume handelte. Wahrscheinlich hat Marcion zuerst in Kleinasien gewirkt, und zwar selbstverständlich als Glied der Kirche (daß er wegen der Verführung einer reinen Jungfrau von seinem eigenen Vater aus der Kirche exkommuniziert worden sei, ist eine bösartige polemische Erfindung, deren symbolische Bedeutung man nicht überhören darf). Jedenfalls kam er zwischen 135 und 138nChr nach Rom, trat der dortigen Christengemeinde bei und vermachte ihr bei seinem Eintritt 200 000 Sesterzen (diese Summe, so berichtet Tertullian, sei ihm bei seiner Trennung von der römischen Gemeinde wieder zurückgegeben worden). Das Datum seines Austritts aus der Gemeinde ist als Gründungsdatum in der marcionitischen Kirche aufbewahrt worden; es war im Jahre 144nChr. Ob es sich um eine Exkommunikation oder um einen freiwilligen Austritt handelte, läßt sich nicht sicher sagen. Die beiden Hauptwerke Marcions müssen in Rom vor seinem Kirchenaustritt entstanden sein, also zwischen 138 und 144nChr. Sie bildeten die Grundlage der Organisation einer neuen Kirche, die sich schnell ausbreitete. Zur Zeit der Abfassung von Ju-
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stins Apologien (kurz nach 150nChr) gab es zahlreiche marcionitische Gemeinden in der östlichen ebenso wie in der westlichen H ä l f t e des Reiches. Gestorben ist Marcion wahrscheinlich ca. 1 6 0 n C h r ; seine Wirksamkeit fällt also ziemlich genau mit den f ü r die Christen friedensreichen Regierungsjahren der Kaiser H a d r i a n und Antoninus Pius zusammen. Marcions Ausgangspunkt w a r Paulus, und zwar der Paulus der paulinischen Briefe und hier wiederum die theologischen Aussagen dieser Briefe, vor allem des Galaterbriefes. H i e r entdeckte Marcion den von Paulus behaupteten unüberbrückbaren, radikalen Gegensatz von Gesetz und Evangelium. Also w a r Paulus der einzige w a h r e J ü n g e r Jesu; denn auch Jesus hatte ja das Gesetz gebrochen. Aber was hatte die Kirche mit diesem Paulus gemacht? Sie hatte ihn zum Lehrer einer bürgerlichen Moral verfälscht, zu einem Apologeten, der sich auf das Alte Testament berief, und zu einem Ausleger des Gesetzes und der Propheten, der durch allegorische Kunststücke zu beweisen suchte, daß kein Unterschied bestand zwischen dem H a n d e l n des alttestamentlichen Gottes und dem des Vaters Jesu Christi. Fanden sich solche Aussagen auch in den paulinischen Briefen, so w a r dadurch bewiesen, daß die Kirche die paulinischen Briefe nicht in ihrem ursprünglichen T e x t a u f b e w a h r t hatte. Bei den Gnostikern konnte Marcion sich da keinen Rat holen. Sicher kannte er gnostische Lehren. Seine eigene Ansicht, daß der G o t t der Liebe, der V a t e r Jesu Christi, nicht mit dem G o t t des Gesetzes, der diese Welt geschaffen hatte, identisch sein könne, läßt sich o h n e gnostische Einflüsse kaum erklären. Das macht Marcion allerdings noch nicht zu einem Gnostiker. D e n n er lehnte es ab, bei der spekulativen Auslegungsmethode der Gnosis Anleihen zu machen, und verwarf die gnostische Mythenbildung, die sich auf besondere O f f e n b a r u n g e n berief. Marcion wollte weder Prophet sein, der selbst eine neue O f f e n b a r u n g empfangen hatte und verkündete, noch kam es ihm in den Sinn, als pseudepigraphischer Schriftsteller seinen eigenen „ P a u l u s " sprechen zu lassen. Auch als Exeget im damaligen Sinne konnte er sich nicht verstehen; denn dann hätte er sich auf die allegorische und typologische Auslegung einlassen müssen, der er ohnehin die Schuld an der fatalen Verschleierung des fundamentalen Gegensatzes zwischen Gesetz und Evangelium zuschreiben mußte. Also blieb ihm nur ein W e g . Er mußte es sich zur Aufgabe machen, als Textkritiker, Philologe und Restaurator das Ursprüngliche wieder herzustellen. So entstand der neutestament-
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liehe Kanon Marcions und damit der erste christliche Schriftkanon überhaupt (s.o.§7.7b). „ N e u " ist dieser Kanon also nicht gegenüber einem kirchlichen Kanon neutestamentlicher Schriften nichts weist darauf hin, daß es so etwas damals schon gab - , sondern gegenüber dem allgemein als Kanon der Kirche anerkannten Alten Testament. Unter den vielen, teils unter apostolischen N a m e n umlaufenden christlichen Schriften mußte Marcion eine Auswahl treffen. D a ß die paulinischen Briefe dazugehörten, war selbstverständlich. Unter den Evangelien fiel die Wahl auf Lukas. Von den anderen Evangelien kannte Marcion noch Matthäus; der kam aber wegen seiner Stellung zum Gesetz ohnehin nicht in Frage. Das Johannesevangelium, das auch bei Polykarp von Smyrna niemals zitiert wird, scheint zu jener Zeit auch in Rom noch nicht bekannt gewesen zu sein (Justin zitiert es nie). In seiner Ausgabe der paulinischen Briefe stellte Marcion eine einzigartige, sonst nirgends bezeugte O r d n u n g her. D e r Galaterbrief steht am Anfang, es folgen 1. und 2. Kor., Rom., 1. und 2.Thess.> Eph. (bei Marcion als Laodicenerbrief bezeichnet), Kol., Phil., Phlm. Die Pastoralbriefe fehlen; offenbar hat Marcion sie nicht gekannt; denn eine entsprechende Bearbeitung hätte ihm keine Schwierigkeiten bereitet. Auch vom Hebräerbrief findet sich keine Spur; hat Marcion ihn gekannt, so ist verständlich, w a r u m er ihn nicht benutzte. Die Grundlage der marcionitischen Bearbeitung ist der sogenannte „Westliche T e x t " (s.o. §7.2f), also der weitverbreitete Yulgärtext des 2.Jh. Manche Besonderheiten des marcionitischen Textes gehen nicht auf seine kritische Bearbeitung, sondern auf Sonderlesarten dieses Textes zurück. Marcion ging bei seiner Arbeit philologisch vor. Er hat auch nicht behauptet, daß seine Ausgabe endgültig sein müsse. Die weitaus größte Zahl seiner Textänderungen sind Streichungen, die von der Ausmerzung einzelner Wörter bis zur Streichung ganzer Abschnitte reichen. Zusätze finden sich nur sehr selten, aber in einer Reihe von Fällen hat Marcion den ihm vorliegenden Text umgewandelt, um so das seiner Meinung nach ursprüngliche wieder herzustellen. Ausgemerzt wurden anstößige AT-Zitate, Sätze, die von einer positiven Beziehung Christi zum Gott des A T sprechen, und alles was ein positives Verhältnis Jesu oder der Christen zu der vom alttestamentlichen Schöpfergott geschaffenen Welt anzeigen könnte. In diesem Sinne wurde auch der Text des Lukasevangeliums stark reduziert; es fehlen z.B. die Geburtsgeschichten, die
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Taufe und der Stammbaum Jesu (Lk. 1,1-4,15) ebenso wie sämtliche alttestamentlichen Weissagungen, die Gleichnisse vom Feigenbaum (13,6-9) und vom Verlorenen Sohn (15,11-32) und der Einzug nach Jerusalem mit der Tempelreinigung (19,29-46). Das zweite Hauptwerk Marcions, die Antithesen, läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Tertullian, Irenaus, Origenes und Ephrem haben es gekannt. Aber außer Zitaten und polemischen Bemerkungen ist nichts erhalten. In diesem Werk fanden sich zwar auch eine Reihe von Antithesen über das grundsätzliche Verhältnis zwischen dem alttestamentlichen Schöpfergott und dem Vater Jesu Christi; sein Hauptinhalt war jedoch exegetisch, wurde also in der Form von Kommentaren zu einzelnen Stellen aus Lukas und Paulus geboten. Auch auf Stellen aus Matthäus wird u.a. angespielt, jedoch niemals auf apokryphe Schriften. Marcion bezieht sich regelmäßig kritisch auf Stellen aus dem AT und stellt ihnen Sätze aus dem Evangelium gegenüber, z.B. Exod.3,22 („Seid bereit, gürtet euch, zieht Schuhe an") und Lk.9,3 („Nehmt keine Schuhe, keinen Ranzen ... "); Exod.21,24 („Auge um Auge, Zahn um Zahn") und Lk.6,29 (,, ... haltet auch die andere Backe hin"). Der radikale Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium wird also in den Antithesen bis in Einzelheiten hinein demonstriert. Aus dem, was über die Antithesen bekannt ist, sowie aus einigen marcionitischen Textbearbeitungen läßt sich ein recht klares Bild der Theologie Marcions herstellen. Zentral ist die scharfe Gegenüberstellung des „fremden" Gottes mit dem Schöpfergott des Alten Testamentes. Marcions Botschaft ist mit Recht „das Evangelium vom fremden Gott" genannt worden. Der fremde Gott ist der höchste Gott und der Erlöser; mit der Weltschöpfung hat er nicht das geringste zu tun. Der fremde Gott ist seinem Wesen nach gut, er hat Liebe und Erbarmen; der Weltschöpfer ist nicht böse - das unterscheidet Marcion von der Gnosis - , aber er ist nur gerecht und straft Übertretungen. Die Erlösung besteht in der Auflösung der Macht des Schöpfergottes. Insofern als dieser seine Macht durch das Wort des Gesetzes und der Propheten ausübt, wird durch die Verwerfung des Alten Testamentes diese Macht für den Glaubenden schon jetzt gebrochen. Dazu ist Christus erschienen. Christus ist der Sohn des fremden Gottes, selbst Gott und vom Vater nur durch den Namen unterschieden. Daher konnte er den der minderwertigen Schöpfung entstammenden menschlichen Leib nur zum Schein annehmen; mit der materiellen Schöpfung des alt-
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testamentlichen Gottes konnte er sich nicht wirklich vereinigen. In der Fachsprache der Christologie heißt das: Marcion vertritt einen modalistischen Doketismus, hält also Jesus für ein vollkommen mit Gott selbst identisches Wesen, das nur zum Schein, aber nicht wirklich, menschliche Gestalt annimmt. Zum Schein trägt Jesus bei Marcion auch den aus dem Alten Testament stammenden Namen Christus, um so den Weltschöpfer zu täuschen. Seinen Modalismus teilt Marcion mit dem seinerzeit überall verbreiteten Gemeindeglauben, der in Christus, vor allem in seiner sakramentalen Gegenwart, voll und ganz Gott selbst sieht. Daran haben sich erst später Tertullian und andere Väter der Kirche gestoßen. Aber der Doketismus war von vornherein verdächtig und mußte Marcion in den Augen seiner Bestreiter als Gnostiker erscheinen lassen (s.o. zu Ignatius, § 12. 2d). Im übrigen Schloß sich Marcion aber an das kirchliche Kerygma an. Jesus predigte das Evangelium zur Erlösung der Sünder. Aus reiner und unerklärlicher Liebe brachte Gott seinen Sohn zum Opfer, um so den Preis an den Schöpfergott zu bezahlen, durch den er ihm die Menschen abkaufte. Marcion redet auch in Ubereinstimmung mit dem kirchlichen Kerygma von der Hadesfahrt Jesu, die allerdings nicht den alttestamentlichen Gerechten, sondern der Befreiung Kains und der Sodomiten gilt. In der Eschatologie mußten wieder Modifizierungen vorgenommen werden; denn der gute Gott richtet und straft nicht. Marcion nahm nur an, daß er diejenigen, die nicht geglaubt hatten, von seinem Angesicht entfernen werde. Mit der endgültigen Erlösung werde dann auch die Selbstvernichtung des Schöpfergottes und seiner Welt kommen. In der Gegenwart ist die Erlösung allerdings noch nicht verwirklicht, und Marcion scheint nicht daran gedacht zu haben, die eschatologische Naherwartung zu erneuern. Aber er betont im Gegensatz zum Frühkatholizismus und dessen „christlicher Bürgerlichkeit" die Spannung, die dadurch entsteht, daß die Glaubenden noch in der Welt leben, im Fleisch sind, leiden müssen und verfolgt werden. Auch darin schließt er sich eng an Paulus an, geht aber im Verbot der Ehe und des Geschlechtsverkehrs und im Gebot der Enthaltsamkeit vom Fleisch und Wein deutlich auf die enkratitiichen Tendenzen seiner eigenen Zeit ein (s.o. zu den Petrus- und Paulusakten, § 12.3b). Solche Lehren gab es freilich überall und ein entsprechendes Verhalten mußte nicht unbedingt der Kirche gefährlich werden. Marcion war aber nicht nur Theologe und Schriftsteller, er war auch ein begabter Organisator und schuf planmäßig
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eine fest g e g r ü n d e t e Kirche, die in der Welt die heilige N e u s c h ö p f u n g des fremden G o t t e s darstellen sollte. D a b e i hatte er von der frühkatholischen Kirche gelernt. Seine Kirche hatte Bischöfe, Presbyter und D i a k o n e n ; die Amter waren den Frauen z u g ä n g l i c h , denn in der neuen S c h ö p f u n g w a r die T r e n n u n g der Geschlechter ja immateriell g e w o r d e n . E s w u r d e eine Kirche, die viele A n h ä n g e r fand und im N a m e n des Paulus mit der christlichen Heiligung ernst machte. W e l t e n t s a g u n g und H e i l i g u n g hatten eine kirchliche O r g a n i s a t i o n s f o r m g e f u n d e n , und die Marcioniten hatten ein mächtiges Kampfmittel in der H a n d : sie hatten ein heiliges Buch, das eine christliche S c h ö p f u n g w a r , den ersten neutestamentlichen K a non, in dem d a s reine W o r t J e s u und die unverfälschte Lehre des Paulus enthalten waren. Z u m ersten M a l e in ihrer Geschichte war damit die Christenheit in zwei Kirchen gespalten. D i e marcionitische Kirche sollte mehrere Jahrhunderte bestehen, und es dauerte J a h r z e h n t e , bis sich die V e r f e c h t e r des frühkatholischen Christentums darauf besonnen hatten, wie sie dieser G e f a h r begegnen konnten. Vielleicht kann man die Pastoralbriefe als erste Antwort auf M a r c i o n verstehen (s.o. § 12. 2g). Aber eine gründliche Antwort konnten sie nicht sein; denn in ihnen w u r d e das Paulusverständnis unkritisch fortgesetzt, gegen das sich M a r c i o n gewandt hatte. Z u r Abwehr der marcionitischen G e f a h r w a r die katholische Kirche erst bereit, nachdem sie sich selbst einen K a n o n neutestamentlicher Schriften g e s c h a f f e n hatte und willens w a r , sich in der F r a g e des Verhältnisses von Christentum und Welt neu auf das paulinische E r b e zu besinnen. Aber das haben erst Irenäus und Tertullian begonnen. Inzwischen hatte die Christenheit Gelegenheit, sich mit den Marcioniten in der Bereitwilligkeit z u m Martyrium zu messen. d) D i e Stellung der römischen Behörden E s ist keine offizielle Stellungnahme der römischen Behörden zu den Christen aus dem 1 .Jh. bekannt, und man kann nicht annehmen, daß in dieser Zeit Christen wegen ihres christlichen Bekenntnisses verfolgt und verurteilt wurden. W e n n Verurteilungen stattfanden, so erfolgten sie o f f e n b a r wegen öffentlicher Unruhestiftung, wegen des V e r d a c h t s der Bildung unerlaubter G e n o s s e n s c h a f ten und wegen der V e r w e i g e r u n g des Kaiserkultes (auf das Letztere läßt die O f f e n b a r u n g des J o h a n n e s schließen, s.o. § 1 2 . lc\ zu der g a n z e n F r a g e s.o. § 6 . 5a und b). Die Apostelgeschichte des L u k a s läßt jedoch eine Situation erkennen, in der man sich auf der
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Seite des Staates d a f ü r zu interessieren begann, wer denn die Christen eigentlich seien. Dazu nimmt Lukas Stellung, vor allem in seiner Darstellung des Prozesses des Paulus (s.o. § 12.3a). Eben diese Situation zeigt sich in dem ersten Zeugnis eines römischen Beamten über die Christen, das wir besitzen. Es ist ein Brief des jüngeren Plinius an den Kaiser Trajan, der zusammen mit Trajans Antwort in dem veröffentlichten Briefwechsel des Plinius erhalten ist. Plinius war von T r a j a n in die schwierige Provinz Bithynien im nordwestlichen Kleinasien als Statthalter geschickt worden, um die dortigen Verhältnisse zu ordnen. Er traf im Jahre 111 in Bithynien ein und blieb bis zu seinem T o d e im Jahre 113nChr. Wie sein Briefwechsel mit T r a j a n zeigt und wie er selber betont, wandte er sich schriftlich in allen Zweifelsfällen an den Kaiser, um dessen Urteil einzuholen. In einem dieser Briefe (10.96) berichtet er über die Christen und über seine P r o z e ß f ü h r u n g bei Anklagen, die gegen Christen vorgebracht wurden. In der Provinz Bithynien war, wie Plinius schreibt, die Zahl der Christen sehr groß geworden, die „Seuche dieses Aberglaubens" (superstitio) hatte sich nicht nur in den Städten, sondern auch in den Dörfern ausgebreitet, und zwar unter Menschen aller Altersklassen und Stände, so daß bereits viele Tempel verödet, regelmäßige O p f e r ausgesetzt waren und Opferfleisch kaum noch Käufer fand. Als Statthalter war Plinius aber erst gegen die Christen eingeschritten, nachdem einzelne Leute bei ihm als Christen angezeigt wurden und schließlich noch eine anonyme Klageschrift mit einer großen Anzahl von N a m e n in seine H ä n d e kam. Plinius war sich nicht klar darüber, ob der „ N a m e " Christ als solcher strafwürdig sei oder nur „mit dem N a m e n verbundene Verbrechen". Jedenfalls hatte er in der Gerichtsverhandlung diejenigen, die hartnäckig darauf bestanden, daß sie Christen seien, zur Hinrichtung abführen lassen, da „halsstarriger und unbeugsamer Eigensinn ohnehin zu bestrafen sei". Es ist also keine Frage, daß dem Plinius das Christsein als solches als Verbrechen galt. Auf der anderen Seite ließ Plinius diejenigen, die leugneten, Christen zu sein, oder sagten, sie wären es früher gewesen, wieder frei, nachdem sie den Göttern und dem Kaiser (sein Standbild wurde zu diesem Zwecke hereingebracht) mit Weihrauch und Wein geopfert und Christus geflucht hatten. T r a j a n bestätigt in seiner Antwort das Verfahren des Plinius, bemerkt aber, daß sich keine festen Verfahrensnormen in dieser Sache festlegen ließen. Außerdem gibt er noch zwei außerordent-
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lieh wichtige Anweisungen: erstens solle man behördlicherseits nichts tun, um die Christen ausfindig zu machen, sondern ein Verfahren nur nach erfolgter Anzeige e r ö f f n e n ; zweitens dürften anonyme Anzeigen nicht berücksichtigt werden, denn das „passe nicht in unsere Z e i t " (nec nostri saeculi est). W i r wissen zwar nicht, wieweit diesen Anweisungen überall Folge geleistet wurde, können aber annehmen, daß T r a j a n Anfragen anderer Provinzstatthalter ähnlich beantwortet hat. Das heißt mit anderen W o r t e n , daß die Christen sicher waren, solange nicht irgendjemand, der ihnen übel wollte, sie z u r Anzeige brachte. Aus dieser Situation heraus versteht sich die Anweisung der Pastoralbriefe, ein untadeliges Leben zu f ü h r e n und auf die moralischen Qualitäten der Amtsträger zu sehen. Mit einem anständigen Lebenswandel einen römischen Statthalter zu überzeugen - davon allerdings waren die Christen weit entfernt. Das wird ebenfalls aus dem Brief des Plinius deutlich. Er erkennt durchaus an, daß die Christen sich bei ihren Z u s a m m e n k ü n f ten, wie ihm einige „ehemalige" Christen berichtet hatten, dazu verpflichteten, keinen Diebstahl, Raub oder Ehebruch zu begehen, nicht wortbrüchig zu werden und angemahnte Schulden nicht abzuleugnen. H i e r erscheint der Lasterkatalog der christlichen Briefe! Aber es blieb zu vieles, was dem R ö m e r Plinius verdächtig sein mußte: die Bildung privater Genossenschaften (hetaeria) hatte Plinius auf Anweisung T r a j a n s ohnehin verboten; Z u s a m m e n k ü n f t e bei N a c h t (vor Sonnenaufgang) waren immer verdächtig, mochten die H y m n e n , die dabei dem Christus wie einem Gott (Christo quasi deo) gesungen w u r d e n , noch so unschuldig und die gemeinsam genossene Speise noch so harmlos sein. Es bleibt f ü r ihn das Christentum eine Bewegung, der alle Elemente fehlen, die nach römischer Auffassung zu einer echten Frömmigkeit gehören. Das zeigt sich in der christlichen Weigerung, den Göttern und dem Kaiser zu opfern, und zwar nicht etwa deshalb, weil der Römer speziell den Kaiserkult dem Christenkult gegenüberstellte, sondern weil zu einer wirklich nützlichen Religion die Öffentlichkeit und die V e r e h r u n g der Götter des römischen Volkes selbstverständlich hinzugehörte. D a v o n wollten die Christen aber nichts wissen, sie waren also nicht „ f r o m m " . Das bestätigte sich dem Plinius bei seinem V e r h ö r von zwei M ä g d e n , die christliche Gemeindebeamte waren (die Anweisung von l . T i m . 2 , 1 1 - 1 2 w u r d e also in dieser Gemeinde nicht befolgt!). In ihren unter Folter gemachten Aussagen fand er nichts als
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„verkehrten und übertriebenen Irrglauben" (superstitio prava, immodica). So ging es beim Vorgehen gegen die Christen auch nicht um die Verfolgung von Verbrechern, sondern um die Bekehrung von Leuten, die in die Irre gegangen waren. Plinius will daher eine Besserung der Menschen erreichen und nicht strafen, sondern „der Reue eine Gelegenheit" geben (penitentiae locus), und T r a j a n bestätigt in seiner Antwort, daß es vor allem um „Verzeihung auf Grund der R e u e " gehe (venia ex paenitentia). Mit dem christlichen Bekennermut wußten die Römer wenig anzufangen, und deshalb schien es ihnen geraten, den Christen lieber aus dem Weg zu gehen, sie jedenfalls nicht aufzuspüren. Diese Politik wurde unter den Nachfolgern Trajans beibehalten. Von Hadrian (117-138 nChr) stammt ein Dokument zur Frage der Behandlung der Christen, dessen Echtheit man zu U n recht bezweifelt hat. Es war bei Justin (Apol. 1.68) im ursprünglichen lateinischen T e x t wiedergegeben (so jedenfalls nach den Angaben des Euseb; in den erhaltenen Handschriften Justins findet sich nur noch die von Euseb Hist. eccl. 4.9.1-3 angefertigte griechische Ubersetzung). Der Statthalter der Provinz Asien hatte an Hadrian geschrieben, wie er sich den Christen gegenüber verhalten solle (dieser Brief ist nicht erhalten). Hadrian antwortete in einem Schreiben an dessen Nachfolger Minucius Fundanus: N u r solche Anklagen sollen zugelassen werden, die offen vor Gericht vorgebracht werden können, und Strafen sollen verhängt werden, wenn die Christen etwas gegen das Gesetz getan haben. Hingegen sollen diejenigen, die Christen nur anklagen, um sie anzuschwärzen, ihnen aber keine Verbrechen nachweisen können, selbst einer Bestrafung verfallen. Zweifel an der Echtheit haben sich deshalb ergeben, weil in diesem Reskript Hadrians nichts davon gesagt wird, daß ein halsstarriges Festhalten am christlichen Bekenntnis strafwürdig ist. Denn das war die römische Einstellung, die im Briefwechsel des Plinius mit T r a j a n zum Ausdruck kam und die nach dem Zeugnis der späteren christlichen Martyrien (vgl. auch Tertullian) in den Christenprozessen seit der Zeit des Marcus Aurelius Grundlage der Verurteilung war. Jedoch bestätigt die Tatsache, daß Christen unter Hadrian und Antoninus Pius meist unbehelligt blieben, die Echtheit des Hadrianischen Reskripts. Die innen- und außenpolitische Situation des römischen Reiches während dieser Zeit gab keinen Anlaß zur Verfolgung einer religiösen Gruppe, die sich im übrigen an die öffentliche O r d n u n g und an die bürgerliche
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Ethik hielt. Darin hatten die Pastoralbriefe recht. Erst als nach der Mitte des 2. Jh. die Zeit des Friedens und des Wohlstandes zu Ende ging, wurden die römischen Behörden wiederholt zum Eingreifen gezwungen, weil die öffentliche Meinung den Christen die Schuld an den Unglücken und Katastrophen, die über das Reich kamen, in die Schuhe schob. U n t e r Marcus Aurelius begann die Zeit der M ä r tyrer. Aber der aus grundsätzlichen Erwägungen ausgefochtene Kampf zwischen Staat und Kirche gehört erst in das 3. und f r ü h e 4. Jh. e) Die ältesten Apologeten Die Zeit der Kaiser H a d r i a n und Antoninus Pius ist auch die Zeit der Entstehung der christlichen apologetischen Literatur. Eine apologetische Ausrichtung ließ sich bereits im lukanischen W e r k beobachten, das viele Gelehrte allerdings auf eine etwas f r ü h e r e Zeit verlegen (s.o. § 12. J a ) . Eine Apologie w a r auch das Kerygma des Petrus (s.o.§ 10.2a). In beiden Fällen erschien die A u s f ü h r u n g des Schriftbeweises als zentrales Element der apologetischen Argumentation, das in den in der Folgezeit entstehenden Apologien eine wesentliche Rolle spielen sollte. U m das Gewicht dieser Art von Apologetik zu verstehen, ist es notwendig, sich auf das Vorbild zu besinnen, das letztlich hinter der gesamten apologetischen Literatur jener Zeit steht. D e n n es geht nicht einfach um die Verteidigung des Christentums gegen V o r w ü r f e , die von Seiten der heidnischen Welt und des Staates gegen die Christen vorgebracht wurden, obgleich auch das eine wichtige Rolle spielt. Das wirkliche Vorbild der Apologetik ist der griechische Protreptikos, d. h. die Einladung zu einer philosophischen Lebenslehre, die an den gerichtet wird, der bereit ist, sich auf die Suche nach der richtigen Philosophie einzulassen, um sein Leben nach ihr auszurichten. Bestimmend f ü r diese Literatur w u r d e der Protreptikos des Aristoteles, der zwar verlorengegangen ist, aber auf dem W e g e über Ciceros ebenfalls verlorenen Dialog Hortensius noch auf Augustins Gottesstaat einen wichtigen Einfluß ausübte. In der frühchristlichen Apologetik bewegen wir uns freilich nicht ganz auf der Ebene dieser anspruchsvollen Literatur, und die christlichen Apologeten sind unmittelbar eher von der jüdischen Apologetik abhängig (s.o. §5. Je). Aber das Motiv der Einladung ist dennoch ganz im Sinne der protreptischen Literatur bestimmend. D a d u r c h werden die folgenden T h e m e n f ü r die Apologetik maßgebend: 1.Christentum ist Philoso-
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phie im Sinne einer Lebenslehre, die sich verständlich begründen läßt. 2. Diese Philosophie dient dem Aufbau nicht nur des individuellen Lebens, sondern der menschlichen Gemeinschaft, d.h. aber des Staates. 3. Als rechte Philosophie kann man die Wahrheit des Christentums durch die Berufung auf die Weisheit alter Tradition beweisen. 4. Die philosophische Lehre des Christentums zeigt sich anderen Philosophien gegenüber überlegen und unterscheidet sich vor allem vom Aberglauben der überlieferten Religionen und des Götterglaubens. Alle diese Themen spielen in je verschiedenem Maße eine wesentliche Rolle in der christlichen Apologetik. Leider sind die W e r k e der zwei ältesten christlichen Apologeten, Quadratus und Aristides, die beide eine Apologie an den Kaiser Hadrian richteten, nur sehr mangelhaft erhalten. V o n Quadratus 'Apologie kennen wir nur einen einzigen Satz, den Euseb zitiert (Hist. eccl. 4.3.2). Aus ihm läßt sich entnehmen, daß Quadratus von den Heilungs- und Auferstehungswundern Jesu und ihrer Bezeugung sprach. V o n der Apologie des Aristides, von der Euseb (Hist. eccl. 4.3.3) lediglich erwähnt, daß sie ebenfalls an Hadrian adressiert gewesen sei und noch von vielen gelesen werde, ist eine syrische Ubersetzung entdeckt worden (hier ist sie allerdings an Antoninus Pius gerichtet) sowie der griechische T e x t in einer Rede des mittelalterlichen Mönchsromans Barlaam und Josaphat. Die beiden T e x t e zeigen erhebliche Unterschiede. Daher bereitet die Rekonstruktion des Ursprünglichen im Einzelfall Schwierigkeiten. Aber im Ganzen des Buches lassen sich die apologetischen Argumente klar erkennen. D e r Verfasser beginnt mit einem in der Manier der Philosophie gehaltenen Gottesbeweis, der sich an Aristoteles anschließt: Gott ist der, der alles bewegt, der selbst keinen Anfang hat und der alles umfängt und von nichts umfangen wird. Durch eine Völkerliste wird die Widerlegung der einzelnen Göttervorstellung eingeleitet. Die Einteilung in die polytheistischen V ö l ker Chaldäer, Griechen und Ägypter, denen die Juden als M o n o theisten gegenüberstehen, ist traditionell und der jüdischen Apologetik entlehnt. Aristides hat diese Liste aber umgeformt. Nach ihm sind die drei Völker Juden, Christen und Polytheisten; die letzteren werden dann in drei polytheistische Völker aufgeteilt (Arist.2). Gegen die Chaldäer wird ausgeführt, daß die Elemente, Himmel, Erde, Wasser, Sonne, keine Götter seien; denn sie können als natürliche Phänomene erklärt werden. Also ist auch der Mensch kein Gott, da die Elemente ihn konstituieren (Arist. 3 - 7 ) . In diesen Kapi-
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teln stammen die Argumente aus der popularisierten Naturwissenschaft des Hellenismus. Im folgenden Abschnitt, der sich gegen die griechischen Götter richtet, hat Aristides die Argumente der Philosophen und Popularphilosophen gegen die traditionelle Religion übernommen (8-11). Gegen die Ägypter bedient er sich der weithin beliebten Argumente gegen die ägyptische Anbetung von Tieren als wären sie Götter (12). Soweit ist diese Apologie also nicht viel mehr als eine Sammlung von Argumenten gegen den Irrtum des Polytheismus, der jüdische und gebildete heidnische Leser ohne weiteres zustimmen konnten. Ganz anders ist die Polemik gegen die Juden, die Aristides selbstverständlich als ein Volk anerkennt, die von dem einen Gott wissen. Die Argumente gegen die Juden entstammen der christlichen Polemik gegen den judenchristlichen Synkretismus. Für Aristides (14) erweist sich die falsche Verehrung Gottes bei den Juden daran, daß sie im Halten des Sabbats und der Feste und mit der Beschneidung nur Engeldienst leisten (s.o. zum Kolosserbrief §12.2a). Die Lehre der Christen wird als rechte Verehrung des einen Gottes durch das christliche Bekenntnis beschrieben; es umfaßt das Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes, seine Herabkunft, die Geburt durch die Jungfrau, Kreuzigung (durch die Juden!), Tod, Begräbnis, Auferstehung am dritten Tage, Himmelfahrt und Predigt an die Völker. Aristides gibt also einfach den „Glauben" wieder, ohne weitere Erklärungen für nötig zu halten (15.1-2). Daran schließt sich Didache-Material an (15.3-9): Dekalog, Goldene Regel, Gebot der Feindesliebe, Liebe auch zu Sklaven (das ist aus der Haustafel entlehnt), Fürsorge für Witwen, Waisen und Arme. Am Schluß wird die Furchtlosigkeit der Christen und ihre Martyriumsbereitschaft betont. Im Schlußwort (16-17) findet sich die Feststellung, daß durch das Gebet der Christen der Bestand der Welt aufrecht erhalten werde. Hatte sich die Apologie des Aristides als eine übersichtliche Zusammenstellung traditionellen Materials und überlieferter Argumente erwiesen, so versucht der um die Mitte des 2. Jh. wirkende Justin durchweg, das Material der philosophischen und jüdischen Apologetik neu im Sinne einer christlichen Theologie aufzuarbeiten. Justin, der aus der östlichen Reichshälfte stammte und in Rom wirkte, wurde zwischen 163 und 167nChr zum Märtyrer. In dem sehr umfangreichen Corpus Justinum sind nur drei Schriften als echt zu erweisen: zwei Apologien und ein Dialog mit dem Juden Trypho. Die 1. Apologie ist an Antoninus Pius und seine beiden
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Adoptivsöhne Lucius Verus und Markus Aurelius gerichtet und muß demnach bald nach 150 verfaßt worden sein. Die 2. Apologie kann zur gleichen Zeit, der Dialog mit Trypho, Justins umfangreichste Schrift, bald darauf entstanden sein. Alle drei Schriften sind nur in zwei Handschriften aus den Jahren 1364 und 1541 erhalten (die spätere Handschrift ist eine Abschrift der älteren), jedoch ist ihr Text zwar verbesserungsbedürftig, aber vor allem in den biblischen Zitaten zuverlässiger, als man früher glaubte. 1. Apologie und Dialog sind nicht aus einem Guß, sondern schließen eine Reihe von Stücken ein, die schon vorher von Justin als unabhängige Traktate abgefaßt worden sind. Am deutlichsten ist das in dem Kommentar zu Psalm22 in Dial.98-106. Der Psalm wird hier im vollen Text angeführt und dann Satz für Satz ausgelegt, wobei die dem Psalm entsprechenden Stücke aus den Evangelien jeweils im Wortlaut zitiert werden. Der Einblick in den christlichen Schul- und Lehrbetrieb, den man wiederholt in den Werken Justins erhält, ist aufschlußreich. Dazu gehört nicht nur die detaillierte Einzelauslegung größerer Stücke aus dem AT, sondern auch die Arbeit am alttestamentlichen Text selbst. Es hat sich jetzt erwiesen, daß die zahlreichen Sonderlesarten des Septuaginta-Textes Justins zu einer aus dem Judentum stammenden Tradition der kritischen Bearbeitung des griechischen Textes gehören, in der dieser den Entwicklungen des hebräischen Textes angeglichen wurde. Justin ist damit ein unmittelbarer Vorläufer der großen textkritischen Arbeit am griechischen Text des AT, die Origenes in seiner Hexapla leistete, in der eine Reihe von griechischen Ubersetzungen Zeile für Zeile miteinander und mit dem hebräischen Text verglichen wurden. Hier wird bereits wissenschaftlich gearbeitet. Das trifft auch auf die Behandlung des Textes der Evangelien zu, von denen Justin sicher Matthäus und Lukas, vielleicht auch Markus (aber nicht Johannes) gekannt und benutzt hat. Justin nennt sie meist „Erinnerungen der Apostel", manchmal „Evangelien". Er war der erste christliche Schriftsteller, der die Evangelien als schriftliche Texte (aber noch nicht als heilige Schrift) kannte und bearbeitete. Sein Hauptbemühen lag auf der systematischen Herstellung eines harmonisierten Evangelientextes, der mit den alttestamentlichen Weissagungen so genau wie möglich übereinstimmte. Es ist kein Zufall, daß der etwas jüngere Apologet Tatian, der ein Schüler Justins war, später eine Harmonie der vier kanonischen Evangelien verfassen sollte, das Diatessaron, das weite Verbreitung fand und in viele Sprachen übersetzt wurde.
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Die systematische Schularbeit zeigt sich bei Justin auch in der grundsätzlichen Neubarbeitung der spezifisch apologetischen Schriftstellern. Philosophisch war Justin Piatonist und vertrat das, was man „mittleren Piatonismus" nennt (s.o. § 4 . 1 a). Er war ein bekehrter Heide, der schon vor seiner Bekehrung den Philosophenmantel trug. Allerdings ist die Darstellung seines philosophischen Werdegangs am Anfang des Dialogs, von den Stoikern über die Peripatetiker und Pythagoreer zu den Piatonikern, ganz nach einem philosophischen Schulschema gehalten und darf nicht als persönlicher Bericht mißverstanden werden. Der mittlere Piatonismus Justins tritt vor allem in seiner Logoslehre hervor. Christus ist als der göttliche Logos eine von Uranfang sich bei Gott befindende Kraft, die dann durch die Geburt durch Maria in Erscheinung tritt. Diese unter dem Einfluß platonischer Lehre jener Zeit stehende „dynamistische" Christologie, die auch andere christliche Apologeten teilten, unterscheidet sich deutlich vom Modalismus des Gemeindeglaubens (den auch Marcion teilte, s.o. §12. Je). Im traditionellen Argument gegen den heidnischen Götterglauben ist Justin einen entscheidenden Schritt weitergegangen. Der heidnische Götterglaube ist nicht töricht oder lächerlich, sondern bewußte und planmäßige Nachäffung der alttestamentlichen Weissagungen auf Christus, durch die bösen Dämonen inspiriert, um so die Menschen in die Irre zu führen (vgl.z. B. Apol. 1.21 ff). Der Beweis, den Justin dafür erbringt, zeigt, daß man in seiner Schule systematisch heidnische Berichte von Göttererscheinungen und religiösen Handlungen gesammelt und passenden Stellen aus dem AT gegenübergestellt hat. Wie kann dann aber die rechte Erfüllung der Weissagungen bewiesen und von den durch Dämonen vorgespiegelten Erfüllungen unterschieden werden? In der Beantwortung dieser Frage kommt Justin die bereits geleistete exegetische Arbeit zu Hilfe. Er legt seinem Nachweis das Prinzip des apologetischen Schriftbeweises zugrunde: „Es ist Gottes Werk, zu sprechen, ehe etwas geschieht, und so zu zeigen, daß es geschieht, wie es vorhergesagt wurde" (Apol. 1.12.6). Diesen Nachweis kann Justin antreten; denn er kennt nicht nur die legitimen Prinzipien der allegorischen Auslegung des A T - die übrigens exakt gehandhabt werden, indem streng zwischen „Typos", „Symbolon" und „Parabole" unterschieden wird er kann auch aus glaubwürdigen Texten, nämlich aus den „Erinnerungen der Apostel", bis in Einzelheiten hinein zeigen, wie die Erfüllung vor sich gegangen ist und daß sie dem, was vor-
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hergesagt wurde, genau entspricht. Bewiesen wird nicht etwa die Wahrheit der Evangelienbücher, sondern die Wahrheit des christlichen Bekenntnisses, der „Glaube". Nach einem Hinweis auf die Zuverlässigkeit und Inspiration der Ubersetzung des Alten Testamentes (Apol. 1.31.1-5), zitiert Justin diesen Glauben, den es zu beweisen gilt. Vorausgesagt in den Büchern der Propheten ist von unserm Herrn Jesus Christus seine Ankunft, seine Geburt durch die Jungfrau, sein Heranwachsen, Heilungen aller Krankheiten, T o tenerweckungen, seine Verspottung, Kreuzigung und Tod, Auferstehung und Himmelfahrt, daß er Sohn Gottes genannt werden würde, und die Predigt der Apostel an die Völker. Vergleicht man dieses Bekenntnis Justins mit dem oben angeführten Bekenntnis des Aristides, so zeigt sich eine Erweiterung im Mittelteil, die aus der Kenntnis der Geschichte Jesu der Evangelien geflossen ist. Im folgenden führt Justin den Einzelnachweis. Die Geburt sagte Jes.7,14 voraus; zur Erfüllung zitiert Justin Sätze aus Lk. 1,31-35; Mt. 1,21 und Protevangelium Jacobi 11. Der Ort der Geburt wurde durch Micha5,2 angezeigt (Bethlehem); die Erfüllung berichten Mt.2,1 und Lk.2,2 (Apol. 1.33-34). In dieser Weise argumentiert Justin für die meisten Aussagen des christlichen Bekenntnisses in den weiteren Ausführungen der Apologie und noch ausführlicher im Dialog - wobei sich zeigt, daß dieses apologetische Argument, einmal entwickelt, sich zum Kampf gegen das Heidentum ebenso eignet wie zur Auseinandersetzung mit dem Judentum. Man muß aber auch sehen, daß bei aller exegetischen Kunst dieser Argumentation nicht nur kunstvoll diskutiert wird. Vielmehr meldet sich ein zutiefst christlich begründetes Geschichtsbewußtsein zu Wort. Es gibt in der Tat ein Handeln Gottes in der Welt und ihrer Geschichte, eine Möglichkeit, dieses Handeln zu verstehen, und eine Notwendigkeit, im Glauben darauf zu antworten. Vor allem ist die Einbeziehung der griechischen Philosophie und Religion in diese heilsgeschichtliche Sicht zu beachten. Es mag merkwürdig erscheinen, daß Plato von Moses gelernt haben soll, aber dadurch wird die für die gesamte römische Welt so bedeutsame griechische Tradition in die Dimension der Geschichte Gottes einbezogen. Auch hier beginnt Justin kritisch zu unterscheiden zwischen der Möglichkeit echter Gotteserkenntnis und pseudo-religiöser Verfälschung (d.h. durch die Dämonen). Die Wirkung dieser eigentlich an die Außenwelt gerichteten Apologetik auf die christliche Kirche und ihre Theologie kann nicht unterschätzt werden. Sie trat damit aus dem
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Horizont der nur am AT und an der Geschichte Israels orientierten Heilsgeschichte heraus und begann einen erneuerten Prozeß der „Hellenisierung". Das Festhalten an der Offenbarung des AT eröffnete den Weg zur Aneignung der gesamten kulturellen Tradition der Alten Welt. Dabei wurden eigenartigerweise auch die Worte Jesu von Justin neu entdeckt. Aristides hatte die Anforderungen an das christliche Leben noch mit traditionellem Material aus der Didache charakterisiert (s.o.). Justin verzichtet darauf und setzt einen Katechismus aus Jesusworten an diese Stelle; denn Jesus erweist sich in seinen Worten als echter Lehrer eines philosophischen Wandels, da er kurz und prägnant - „er war kein Sophist" (Apol. 1.14.5) - sagte, wie man sich verhalten soll. Als philosophische Tugenden empfehlen Jesu Worte Enthaltsamkeit, Liebe zu allen Menschen, Fürsorge für andere, Dienst an allen Menschen, nicht zu schwören und gute Werke zu tun (Apol. 1.15-16). Die Bergpredigt ist so ein Teil des griechischen Protreptikos geworden, der Einladung zum philosophischen Leben. Freilich weiß Justin nicht nur solche Jesusworte anzufügen, die den Christen als guten Staatsbürger und Steuerzahler ausweisen (Apol. 1.17.1-2), sondern erinnert die Kaiser auch daran, daß Jesus den Christen geboten hat, bereit zu sein, für ihren Glauben zu leiden und zu sterben (Apol. 1.19.6-8). Justin selbst hat für seinen Bekennermut das Martyrium erlitten. Von den Antworten, die er im Verhör gab und die ihm den Tod brachten, erzählt der erhaltene Bericht vom Martyrium Justins und seiner Genossen. f) Märtyrer Das Ende des „Goldenden Zeitalters" kurz nach der Mitte des 2. Jh. zwang die Christen dazu, nicht nur ihren Glauben in der Öffentlichkeit zu verteidigen, sondern im Gedenken an das Martyrium vieler ihrer Führer und Schwestern und Brüder sich auf die Bestimmung des christlichen Lebens zu besinnen. Der älteste und berühmteste selbständige Bericht eines christlichen Martyriums ist ein Brief der Gemeinde Smyrnas, der vom Martyrium ihres Bischofs Polykarp berichtet. Dieser unmittelbar nach dem Tode Polykarps geschriebene Bericht ist auf der einen Seite ein ergreifendes Zeugnis christlichen Bekennermutes, stellt aber auf der anderen Seite auch viele Fragen, die sich auf die Wünsche und Vorstellungen derjenigen beziehen, die den Bericht in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten wiederholt bearbeitet haben. Erhalten ist der
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Kleinasien, Griechenland, Rom
§12
Bericht vom Martyrium Polykarps in 6 griechischen Handschriften, die alle auf das Corpus Polycarpianum zurückgehen, das Anfang des 5.Jh. verfaßt wurde. Daneben hat Euseb (Hist, eccl. 4.15.3-45) den gesamten ihm vorliegenden Text des Martyriums abgeschrieben. Auf diesen Text Eusebs gehen die Ubersetzungen zurück, die in zahlreichen Sprachen erhalten sind. Eusebs Text ist im ganzen zuverlässiger; vieles, was im Martyrium des Corpus Polycarpianum steht, fehlt bei ihm. Aber auch schon vor Euseb muß der Bericht bearbeitet worden sein. Das hat Hans von Campenhausen in einer überzeugenden Analyse des Textes gezeigt. Danach ergibt sich folgendes Bild für die Geschichte dieses ehrwürdigen Textes. Ursprünglich endete der Brief mit Pol. Mart. 20. Das Interesse am hagiographischen Kalender hat bald eine Angabe über das Datum hinzugefügt (21). Das zeigt, daß man begann, sich in einer besonderen Feier an dieses Ereignis zu erinnern. Aber auch Kritik an diesem neu erstehenden Märtyrerkult hat sich gemeldet: niemanden außer Christus soll man verehren (17.2). Dennoch haben hagiographische Neugier und Interesse an der Totengedächtnisfeier einzelne Namen eingefügt (17.2), Hinweise darauf, daß man den Leib und die Reliquien nicht erhalten konnte (17.1), und Angaben über die Gedächtnisfeier (18.3). Der Erhöhung des berühmten Märtyrers dienten auch Steigerungen seiner Heiligkeit in der Schilderung seines Verhaltens. In 9.1 ist nachträglich eine Himmelsstimme eingefügt, die Polykarp stärken soll, aber der Zusammenhang ist dadurch unnötig unterbrochen; und aus seiner tödlichen Wunde strömt nicht nur Blut, sondern fliegt auch noch eine Taube heraus (16.1) - Eusebs Text wußte noch nichts davon. Auch eine polemische Interpolation läßt sich erkennen. 5.1 schließt sich glatt an 3.2 an; dazwischen steht eine Bemerkung über einen Phrygier, womit sicher ein Montanist gemeint ist (die es zur Zeit Polykarps noch gar nicht gab!), der sich erst zum Martyrium drängt, aber dann kalte Füßte bekommt. Schließlich machte sich ein zunehmendes Interesse spürbar, Züge aus der Leidensgeschichte Jesu in die Darstellung einzutragen. Schon vor Euseb fügte ein Leser des Johannesevangeliums in 8.1 die Bemerkungen ein, daß „die Stunde gekommen war, hinauszugehen" (Joh. 17,1), daß man Polykarp „auf einen Esel setzte" (Joh. 12,14) und daß das alles an einem „Großen Sabbat" stattfand (Joh. 19,31). In 8.3 ist der Esel verschwunden und Polykarp geht zu Fuß. Vor allem hat dieses Motiv
3f
D a s Christentum in der Auseinandersetzung mit der W e l t
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in der Rezensionsarbeit nach Euseb eine große Rolle gespielt. Eusebs Text weiß nichts davon, daß Polykarps Martyrium „nach dem Evangelium geschah" (l.lb-2.1), daß Märtyrer nichts von den Qualen empfinden (2.2b-3), daß es Verräter im Hause Polykarps gab und der Eirenarch „denselben Namen Herodes" hatte (6.2-7.la). Ebenso fehlt bei Euseb der Nachahmungsgedanke von 19.1b—2. Auch der Verweis 22.1 auf das Evangelium gehört diesem Redaktor an. Der Brief, den die Smyrnäer einst schrieben, ist nicht weniger bewegend. Er beschrieb auch die Leiden anderer Märtyrer, die mit Polykarp starben (Hist, eccl.4.15.4). Nachdem Germanicus den wilden Tieren vorgeworfen worden war (Mart. Pol. 3.1), erscholl der Ruf nach dem Führer der Christen: „Fort mit den Atheisten. Man suche nach Polykarp!" (3.2). Polykarp war gegen seinen Willen überredet worden, die Stadt zu verlassen, und hielt sich in der Nähe der Stadt auf einem Landgut auf (5.1). Dort hatte er einen Traum gehabt, daß sein Kissen brannte, und sagt seinen Freunden, er müsse durchs Feuer sterben - sehr bemerkenswert; denn bisher hatte man die Christen nur den wilden Tieren vorgeworfen. Er will nicht weiter fliehen (7.1); so finden ihn die Häscher und bringen ihn ins Stadion. Polykarp weigert sich standhaft, trotz seines Alters, bei dem Genius des Kaisers zu schwören (9.2): „86 Jahre habe ich Christus gedient, und er hat mir nichts zuleide getan. Wie kann ich jetzt meinem König fluchen, der mich erlöst hat?" (9.3). Da das Verhör erfolglos bleibt und Polykarp standhaft bekennt, wird er zum Feuertod verdammt (10-11) und schließlich erstochen, da das Feuer ihn wunderbarerweise nicht berührt (16.1). Daß die Juden in Smyrna zusammen mit den Heiden schrien „Dies ist der Lehrer Asiens, der Vater der Christen, der Zerstörer unserer Götter!" haben die Christen, die diesen Bericht schrieben, nicht vergessen die Fortsetzung einer leidvollen Geschichte (12.2). Polykarp starb, weil er sich nicht von dem lossagen wollte, was der Statthalter des römischen Staates als Atheismus bezeichnete; und weil er im Blick auf die fanatisch seinen Tod fordernde Menge sagen konnte: „Fort mit den Atheisten!" (9.2).
REGISTER
Α. Verzeichnis der frühchristlichen Schriften Hier sind nur die Seitenzahlen angegeben, an denen die betref fenden Schriften eingehend besprochen werden. Für die sonstigen Nachweise siehe das Namen- und Sachregister. 1. Die Bücher des Neuen Testaments Matthäusevangelium 607ff Markusevangelium 602ff Lukasevangelium 750ff Johannesevangelium 624ff Apostelgeschichte des Lukas 482ff Römerbrief 485, 487, 573ff 1. Korintherbrief 554ff 2. Korintherbrief 485ff, 560ff, 570ff Galaterbrief 550ff Epheserbrief 705ff Philipperbrief 486f, 565ff Kolosserbrief 70 iff 1. Thessalonicherbrief 545ff 2. Thessalonicherbrief 679ff
Pastoralbriefe 735ff 1. Timotheusbrief 740 2. Timotheusbrief 739 Titusbrief 740 Philemonbrief 569f Hebräerbrief 71 Off Jakobusbrief 59 Iff 1. Petrusbrief 731f 2. Petrusbrief 489f, 733ff 1. Johannesbrief 632ff 2. Johannesbrief 635 3. Johannesbrief 634f Judasbrief 489f, 682ff O f f e n b a r u n g des Johannes
684ff
2. Im Neuen Testament verwendete Quellen Gleichnissammlung (Mk. 4) 586 Passionsgeschichte 599, 603ff, 62 lf Semeia-Quelle (Zeichenquelle) 622f
Spruchquelle ( „ Q " ) 584ff Synoptische Apokalypse 585f W i r - Q u e l l e der Apostelgeschichte 542
3. Apostolische Väter und Apologeten Aristides, Apologie 778f Barnabasbrief 714ff 1. Clemensbrief 726ff
2. Clemensbrief 670ff Hirte des H e r m a s 693ff Ignatiusbriefe 490ff, 719ff
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Register
Justin, 1. Apologie 779ff Justin, Dialog mit Trypho 779ff Lehre der Zwölf Apostel (Didache) 593ff
Polykarpbrief 745f Polykarpmartyrium 783ff Quadratus, Apologie 778
4. Neutestamentliche Apokryphen Ägypterevangelium 667f Apokalypse Adams (CG V, 5) 651 1. Apokalypse des Jakobus (CG V, 3) 653 2. Apokalypse des Jakobus (CG V, 4) 653 Apokryphon des Jakobus (CG I, 2) 662f Apokryphon des Johannes (CG II, 1 etc) 652f Dialog des Erlösers (CG III, 5) 589f Ebjonäerevangelium 642f Elchasai, Buch des E. 645 Epistula Apostolorum 673ff Eugnostosbrief (CG III, 3) 665f Evangelien, s.: Ägypterevangelium, Ebjonäerevangelium, Hebräerevangelium, Markus Geheimes Evangelium, Nazaräerevangelium, Papyrus Egerton 2, Petrusevangelium, Thomasevangelium Evangelium der Ägypter (CG III, 2) 666 Evangelium der Wahrheit (CG I, 3) 669f Evangeliumsverkündigung des Johannes 635ff Hebräerevangelium 66 lf Hypostasis der Archonten (CG II, 4) 65 lf Jakobus, s.: 1. und 2. Apokalypse des Jakobus, Apokryphon des Jakobus Johannes, s.: Apokryphon des Johannes, Evangeliumsverkündigung
Johannesakten 635ff Kerygma des Petrus 600 Kerygmata des Petrus 646f 3. Korintherbrief 738 Lied von der Perle 655f Marcions Antithesen 771 Marcions Kanon 770f Markus, Geheimes Evangelium 604f Naassenerpredigt und Psalm 668f Nazaräerevangelium 64 lf Oden Salomos 656f Papyrus Egerton 2 620f Paraphrase des Sem (CG VII, 1) 665 Paulusakten 762ff Paulusmartyrium 762, 765 Paulus- und Thekla-Akten, s.: Thekla-Akten Petrus, s.: Kerygma des Petrus, Kerygmata des Petrus Petrusakten 762ff Petrusevangelium 598ff Petrusmartyrium 763 Pseudoklementinen 645ff Seth, Die Drei Säulen des Seth (CG VII, 5) 666 Seth, Zweiter Traktat des Großen Seth (CG VII, 2) 666 Sophia Jesu Christi (CG III, 4) 665f Thekla-Akten 762f, 765 Thomasakten 649 Thomasbuch (CG II, 7) 649 Thomasevangelium (CG II, 1) 586ff
Register
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Β. Namen- und Sachregister Ägäis 43 Ägypten 7, 24ff, 35ff, 47f, 5Iff, 64, 68, 75ff, 228f, 658ff Ägypterevangelium 667f Adiabene 30, 228 Adonis 197 Afrika 305f Agathokles 30f Agora 73 Agrapha 501 Agrippa 321 Agrippa I. 407, 409f Agrippa II. 409ff, 580 Aion (Gott) 390 Akademie (s. auch Piatonismus) 145ff
Antiochia (Orontes) 70, 342, 524ff, 534, 537ff, 549, 596f Antiochos von Askalon 147, 355 Antiochos I. Soter 18, 26f Antiochos II. 27 Antiochos III. der Große 25, 28, 214f Antiochos IV. Epiphanes 29, 175, 215, 217ff Antiochos VII. Sidites 29, 224 Antipas (Herodes) 406f, 504 Antipater, Idumäer 226, 403 Antipater, Makedone 11 ff Antisemitismus, s.: Antijudaismus Antoninus Pius 334f, 425, 769, 777
Akiba, Rabbi 423ff Akropolis 72 Alexander der Große 8ff, 34f, 133f, 214 Alexander von Abunoteichos 179 Alexander Jannäus 224, 226, 249 Alexander Polyhistor 135, 275 Alexandra, Hasmonäerin 226, 250 Alexandrien 24, 47, 68f, 10 lf, 228f, 262f, 342, 658ff Allegorie 155, 389ff Almagest 124 Altes Testament 429, 436f, 515, 55Iff, 611, 639, 644, 647, 687, 713ff, 725, 729, 767, 769ff, 780 Ammon Re 34 Andronikus von Rhodos 149 Anthropologie 147f, 156f, 364 Antichrist 634, 681, 691 Antigonos Doson 19 Antigonos Gonatas 18f Antigonos Monophthalmos 13ff Antigonus, Hasmonäer 403f Antijudaismus 234f, 546, 614, 620 Antinoos 334
Apokalypse Adams 651,664 1. Apokalypse des Jakobus 653, 655 2. Apokalypse des Jakobus 653, 655 Apokalypsen 266ff, 432, 481f, 595 Apokalyptik 239ff, 246ff, 254, 256, 258f, 266ff, 505, 510, 634, 651, 678ff, 716f Apokryphen des N T 44lf, 500ff Apokryphon des Jakobus 662f Apokryphon des Johannes 398f, 652f, 664 Apollo 37, 170, 177f Apollonios Rhodios 132f Apollonius von Thyana 387f Apollos, christl. Lehrer 544, 554 Apologetik, Apologien 282ff, 286ff, 432f, 500ff, 575f, 600, 611, 750, 757f, 777ff Apophthegmata 495 Apostel 434ff, 438,520, 591,672, 674, 683, 705, 757 Apostel, Zwölf Apostel, Die Zwölf 435, 520, 523, 539, 756f Aposteldekret 760
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Register
Apostelgeschichte des Lukas 482ff, 578ff, 754ff, 773f Apostelgeschichten 143, 432, 484f Apostelkonzil 537ff, 760 Apostolische Väter 440f, 500ff Apuleius 144, 192ff Aquila, Judaeus 265f, 423 Aquila, Mitarbeiter des Paulus 543 Aramäisch 8, 261f, 584, 608 Aramaismen 114f Archelaos (Herodes) 406 Archimedes von Syrakus 120 Aretalogie 138ff, 180, 193, 288, 431, 481, 564, 602, 755 Aretas 407 Aristarchos von Samos 121 Aristarchos von Samothrake .122 Aristeasbrief 282 Aristides, Apologet 778f Aristobulos, jüd. Philosoph 283 Aristobulus, Hasmonäer 226, 312, 402f Aristonikos von Pergamon 60f Aristoteles 9, 119, 149 Aristoteliker, s.: Peripatos Aristoxenos 137 Arkesilaos 146 Arm und reich 5, 62ff, 246, 281, 306f, 696, 752 Armenien 30 Arrian 360f Arsinoe 25, 36 Artapanus 276 Artemis 170 Asia, Provinz 306 Asianismus 106 Askese 557, 589, 591, 667f, 765f, 772 Asklepios 175, 177, 179ff, 375 Assyrien 6 Astrologie 161ff, 388ff Astronomie 118, 120, 124, 161f Atargatis 198, 202 Atheismus 150, 159f
Athen 5, 43, 101, 174f, 333f, 543 Attaliden 21 Attalos I. Soter 21 Attalos II. Philadelphos 22 Attalos III. Philometor 22 Attis (s. auch Magna Mater) 668 Attisch, Attizismus 104, 106f Auferstehung der Toten (s. auch Leben nach dem Tode) 558f Auferstehung Jesu 517f, 533, 559, 632 Aufstände 53, 60, 63, 216ff, 328, 333f, 415ff, 424f Augustus 316ff, 351, 379f, 404, 406 Ausbeutung 30lf, 306f, 343 Babrius 127 Babylon 6, 227 Bacchanalienskandal 375 Bar-Kochba 334, 425 Barnabas 524, 526, 534, 538ff, 549, 715 Barnabasbrief 714ff Baruchbuch (1. Baruch) 281f 2. Baruch (Apokalypse) 418 Basilides 669 Baukunst 348f Bekenntnisformeln (s. auch: Kerygmatische Formeln) 521, 779, 782 Bergbau 78f Berossos 127, 161 Berufe 56f, 59 Bibelübersetzungen 46 Iff Bibliotheken 96 Biblizismen 115 Bildhauerei 349 Biographie 136ff, 287ff, 387, 432, 605ff, 611 Bion von Borysthenes 159 Bithynien 22, 45, 732, 774 Botanik 118 Briefformular 48 8f, 556, 720, 731
Register Buchproduktion 8Iff, 95f, 127f Bürgertum 5f, 741 Bundesformular 270, 287, 688 Bußpredigt 504, 693, 695 Caesar 312ff, 357, 378, 403 Caesarea Maritima 405, 527, 580 Caesarea Philippi 407 Caligula 323f, 380 Cassius Dio 361, 443 Cato 357 Catull 35 If Chariton 142 Christologie (s. auch: Menschensohnerwartung, Weisheit) 696, 700ff, 721f Christologische Titel 509f, 52If, 627 Chronikbücher 273 Chronologie des Paulus 535ff, 550 Chrysipp 152 Cicero 184, 31 lf, 154ff, 361 Claudius 324f, 380 Clemens von Alexandria 111, 676 Clemens Romanus 645f, 693f, 727 1. Clemensbrief 430f, 580f, 693f, 726ff 2. Clemensbrief 670ff Commodus 336 Cypern 48 Dämonen, Dämonologie (s. auch: Engel) 145f, 247f, 370f, 781 Damaskus 532, 534 Damaskusschrift 245, 270f Danielbuch 242f, 266f Daniel-Zusätze 279 Dareios III. 10 Delos 44, 342 Delphi 43, 177f Demeter 177, 182ff Demetrios I. Soter 221 Demetrios Poliorketes 15f Demetrios, Jüd. Historiker 275
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Demetrius, Bischof von Alexandrien 659, 676 Demokratisierung 241,418 Demosthenes 9 Determinismus 153, 246, 628 Deutero-Jesaja 240 Deuteronomium 239f Diadochen 12ff, 35 Diakon 523 Dialog des Erlösers 589f, 617 Diaspora 227ff, 420f, 527, 530f Diatessaron 461 Diatribe 158f, 372, 530 Dichtkunst 129ff, 350ff Diodorus Siculus 107, 133, 135f Diogenes von Sinope 158 Dion Chrysostomus 369 Dionysios von Halikarnassos 106, 136 Dionysios von Korinth 431 Dionysios Thrax 122f Dionysos 36, 177, 185ff, 316, 375, 622 Doketismus 636f, 725, 771f Domitian 329ff, 381, 685f Doxologien 498f, 688 Dualismus 147f, 157, 246f, 371, 398 Ebjonäer 640, 642f, 645 Ebjonäerevangelium 642f, 650 Elchasai, Buch des 645 Eichasaiten 645 Eleusis 182ff, 203 Engel (s. auch: Dämonologie) 247f, 695ff, 702, 712f Enkratismus, s.: Askese Ennius 350 Epheserbrief 489, 672, 705ff Ephesinische Gefangenschaft 565f Ephesus 44, 342, 542, 547ff, 554, 565ff, 570f, 685f, 720, 744 Epigramm 133 Epiktet 107, 364f
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Register
Epikur, Epikureer 149ff, 350 Epiphaniegeschichten 496, 50 lf Episkopat 723f Epistula Apostolorum 673ff Eratosthenes 122 Erzählung, volkstümliche 141f Eschatologie 51 iff, 546f, 558f, 56lf, 567, 584ff, 623, 631, 634, 680f Esra 173f, 213f 3. Esra (LXX) 279 4. Esra (Apokalypse) 418 Essener 223, 234ff, 707 Esther 278f Ethik 152, 288f, 355f, 363f, 513ff, 577, 593, 612, 695, 703f, 708f, 740ff Ethnographie 117f, 124 Etrusker 297ff Etymologie 123 Eucharistie, s.: Herrenmahl Eudämonie 150f, 154 Eudemos von Rhodos 120 Eudoxos von Knidos 118f Eugnostosbrief 665f Euhemerismus 159f Euklid 119 Eumenes von Kardia 13 Eumenes I. 21 Eumenes II. Soter 21f, 82f Eunus von Apamea 60 Eupolemos 275f Ps.-Eupolemos 275 Euripides 128f, 186 Evangelien 43lf, 437, 477ff, 493ff, 72lf, 780ff Evangelium 525f, 605, 672, 721f Evangelium der Ägypter (CG III, 2; s. auch: Ägypterevangelium) 666 Evangelium der Wahrheit 669f Evangeliumsverkündigung des Johannes 635ff Ezechiel 240 Ezechiel, jüd. Tragiker 276
felicitas 304, 317, 319, 378f Felix 412f, 535f, 580 Festus 413f, 535f, 580 Florilegium (4QFlor) 272 Formgeschichte 492ff Frau, Stellung der Frau 557f, 574, 703f, 742, 773 Fremdwörter 116f Freundschaft 150f Fronto 335, 362f, 443 Galater, Galatien (s. auch: Kelten) 47, 541, 549ff Galaterbrief 550ff, 639, 644 Galba 328 Galen 125 Galiläa 406f, 507, 527, 614, 619 Gallien 313 Gallioinschrift 535 Gamaliel I. 420 Gamaliel II. 422 Garizim 257ff Geist, Geistbesitz 520 Gemeindeämter 594f, 613, 694, 723f, 728ff, 740f, 743f Gemeindeordnung, s.: Kirchenordnung Gemeinderegeln 494f Gemeinschaftsregel (lQSa) 270 Genesis-Apokryphon (lQapGen) 274 Genesis-Auslegung 273ff, 286ff, 398, 590, 650f, 666, 668 Geographie 118, 121 f, 124 Gerichtswesen 339f Geschichtsschreibung 133ff, 273ff, 277ff, 357ff, 432, 484, 755f Gesetz (des AT) 237ff, 255f, 282, 288, 514, 530ff, 538, 552f, 575ff, 592, 612, 639, 643ff, 696f, 702f, 759ff, 769 Gessius Florus 414f Glas 81
Register Glaubensbekenntnis (s. auch: Bekenntnisformeln, Kerygmatische Formeln) 432f, 674, 778f, 782 Gleichnisse und Parabeln 494, 512, 586ff, 696f, 730, 752 Gleichnissammlung (Mk. 4) 586 Gnosis 393ff, 557, 562, 5 8 8 f f , 6 1 9 , 630f, 633f, 635ff, 647ff, 664ff, 672ff, 682ff, 702f, 705ff, 71 l f , 742f, 769 Gnostiker 555, 568, 689, 725, 734f, 738 Göttlicher Mensch, s.: Theios Aner Gottesherrschaft 511 ff Gracchen 307f Griechenland 4ff, 18ff, 42f, 62f, 230, 304ff, 327, 678ff Griechisch, Sprache 103ff, 262, 347f Gymnasien 74, 94f H a b a k u k - P e s c h e r (1 Q p H a b ) 271 H a d r i a n 33f, 381, 424f, 769, 776f H a g g a d a 420, 426 H a l a c h a 251f, 420ff, 426 H a n d e l 85ff Hannibal 22, 303f Hasidim 218, 242ff, 249 H a s m o n ä e r 222ff, 249f, 278, 402ff H a u s t a f e l n 499, 703f, 709, 729, 733, 740, 745 Hebräerbrief 110, 71 Off Hebräerevangelium 641, 643, 661 f Hebräisch 261 Hebraismen 114 Heerwesen Roms 338 Heidenmission 526 Heiliges Land 5, 753 H e i m a r m e n e 153, 163ff H e k a t a i o s von Abdera 160, 277 Ps.-Hekataios 277 H e l i o d o r o s von Emesa 143 Hellenismus, Hellenisierung 2f,
793
38f, 54, 99ff, 171f, 215, 224f, 230f, 234, 306, 347ff, 783 Hellenisten 522ff H e n o c h a p o k a l y p s e 267f, 683 Hermetische Schriften 400, 664 H e r o d e s der G r o ß e 402ff H e r o d e s Attikus 106f, 335, 363 H e r o d o t 118 H e r o e n k u l t 32, 34 H e r o n d a s 131 H e r r e n m a h l 517, 520f, 526, 557f, 594, 619, 625, 630, 722 H e r r s c h e r k u l t 11, 32ff, 315ff, 323f, 377ff, 686f, 691, 773ff Hexapla 266 H i e r o n II. 31 H i e r o n y m u s 464, 641 Hillel 227, 250f, 420ff H i m m e l f a h r t des Moses 268, 683 H i o b b u c h 240 H i p p a r c h o s von Nikaia 121 H i p p o d a m o s 72 H i p p o k r a t e s 118 Hirte des H e r m a s 693ff H o d a j o t h ( 1 Q H ) 248, 272 H o h e r p r i e s t e r (christologisch) 713f H o r a z 351 H y m n e n 193f, 498, 502f, 567, 626f, 635f, 653ff, 688, 692, 703, 732 Hypostasis der Archonten 6 5 l f , 664 Hypsistarier 201 H y r k a n u s , H a s m o n ä e r 226, 312, 402ff Ignatius von Antiochien 430f, 644, 717ff Ignatiusbriefe 430f, 490ff, 719ff Industrie, Industrialisierung 5 Irenäus 438 Isis (s. auch Sarapis) 36f, 190ff, 316f, 376
794 Ismael, Rabbi Isokrates 9
Register 423, 426
Jakobus, Herrenbruder 414, 519, 538ff, 578, 587, 591f, 639f, 646, 653, 66If Jakobus, Zebedaide 410 Jakobusbrief 59 Iff Jamblichos 143 Jambulos 126, 142 Jamnia Qabneh) 417ff, 423f Jason, Hoherpriester 217f Jason von Kyrene 277 Jenseitsvorstellungen (s. auch: Leben nach dem Tode) 167, 242 Jerusalem 37, 50, 173, 213ff, 232, 334, 417, 424f, 507f, 519ff, 534ff, 552ff, 574ff, 614, 638ff, 754 Jesaja-Apokalypse 240 Jesus von Nazareth 407, 414, 506ff Jesus Sirach 280f Jochanan ben Zakkai 42 lf Johanneische Literatur 435, 614ff, 649f Johannes, Apostel (Zebedaide) 435, 538, 620 Johannes von Gischala 416f Johannes Hyrkanus 224f, 249, 358 Johannes der Täufer 407, 504ff, 627 Johannesakten 393, 635ff, 650, 654 1. Johannesbrief 632ff, 650 2. Johannesbrief 635 3. Johannesbrief 634f Johannesbriefe 431, 632ff Johannesevangelium 113,481, 590, 616f, 624ff, 633, 649f, 654, 660, 684 Jonathan, Makkabäer 22Iff Joseph und Asenath 276f Josephus, jüd. Historiker 127, 359f, 415f, 418, 442
Jubiläen 273 Judäa 406, 408ff, 508 Judah, Rabbi (der Prinz) 422, 425 Judaisten, Judaismus 550ff, 568, 639, 724f Judas, Bruder Jesu (s. auch: Thomas) 683 Judas Makkabäus 220f Judasbrief 489f, 682ff Judenchristentum 560f, 574, 637ff, 650, 653, 661ff, 689 Judenchristliche Evangelien 64Iff Judentum 206, 212ff, 377ff, 401ff, 418ff, 551, 575ff, 585, 608, 611, 639 Judith 279 Jüdischer Krieg 414ff Justin der Märtyrer 146, 437, 779ff Juvenal
353
Kabiren 185 Kaiserkult, s.: Herrscherkult Kalender 245, 315f, 389, 422 Kallimachos 132 Kanon 263, 433ff, 773 Kappadokia 23f, 47 Karneades 146 Karpokratianer 660f, 669 Karthago 297, 30Iff Kassandros 16 Kelsus 443f Kelten (s. auch: Galater) 18, 300 Keramik 80f Kerinth 644 Kerygma des Petrus 600 Kerygmata Petrou 646f Kerygmatische Formeln 498, 502, 525f, 597, 729f, 732 Kirchenordnung 433, 547, 558, 591ff, 613, 674,735, 740 Klaros 178 Kleanthes 152
Register Kleinasien 7, 2 I f f , 44ff, 49, 64, 230, 541, 634, 637, 678ff Kleopatra VII. 26, 316ff Kleruchien 69f Kodex 83f Koine 103ff Kollekte des Paulus 539, 559, 570ff, 575ff, 760 Kolossae 566, 569, 702ff Kolosserbrief 489, 644, 7 0 I f f , 705f K o m m a g e n e 30 K o m m e n t a r e 2 7 I f , 286ff, 426 K o m ö d i e 130, 350 Korinth 20, 342, 353, 543ff, 570ff, 727 1. Korintherbrief 487, 554ff 2. Korintherbrief 485ff, 560ff, 570ff 3. Korintherbrief 738, 762 Kosmologie 153, 156ff, 388 Krateros 13 K r e u z und Auferstehung 516ff, 585ff, 595, 602, 719ff, 767 Kreuzestod Jesu 516ff, 522, 62 8f Kriegsregel (1QM) 246, 268 Kultreform 173f Kultvereine (s. auch: Vereinswesen) 67f Kunst 97f Kybele, s.: Magna Mater Kyniker, Kynismus 158f, 369, 372, 546 Landwirtschaft 75ff, 340f Leben nach dem T o d e 188, 195 Legenden 496 Lehre der Zwölf Apostel (Didache) 593ff, 613 Lehrer der Gerechtigkeit 245 Lehrgedicht 133, 352, 558 Lied von der Perle (Thomasakten) 655f Literarkritik 476ff
Liturgie 498f, 503, 729 Livia 320f Livius 358 Logos 152, 292, 627, 781 Longus 143 Lukan 326, 353 Lukas, lukanische Schriften 748ff
795
111,
Lukasevangelium 478ff, 750ff, 770f Lukian von Samosata 107, 127, 179, 371f, 443 Lukretius 151, 350 Lykurgos 174f Lysimachos 13, 15ff Märtyrer 220, 691f, 720ff, 725f, 728, 738, 762ff, 783ff Magie 390ff Magna Mater 187ff, 375 Magnesia 720 Makedonien 8f, 18f, 42f, 304ff, 54 Iff M a k k a b ä e r 29, 216ff 1. M a k k a b ä e r 220, 223, 278 2. M a k k a b ä e r 220, 277f 3. M a k k a b ä e r 229, 279f 4. M a k k a b ä e r 278, 283 Malerei 349 M a n e t h o 127, 234 Mani, Manichäer 441, 645 Marcion 436ff, 742, 746, 767ff Marcions Antithesen 742, 771 Marcions K a n o n 436f, 770f Marcus Antonius 316ff, 365, 379, 403f Marcus Aurelius 335f, 365, 443, 777 Mariamne 406 Marius 308f Markus Geheimes Evangelium 604f, 660f Markusevangelium 112f, 478ff, 602ff, 750f
796
Register
Martial 353 Martyrienberichte 283, 433, 523f, 758, 764, 783ff Materialismus 150, 153 Mathematik 119f, 124 Matthäusevangelium 113, 478ff, 607ff, 64If Mechilta 426 Medizin 122, 124f, 180f Meir, Rabbi 425f Melchisedek-Typologie 713 Men Tyrannos 170, 202 Menander 130 Menelaos, Hoherpriester 218 Menschensohnerwartung 267, 584ff, 606f, 623 Messianisches Mahl (s. auch: Herrenmahl) 246, 517, 520f Messianismus 247, 258f, 409, 41 If, 415, 505 Messias, Christus 247, 521 Midraschim 418, 426 Milesiaca 142 Milet 2, 44 Mimos 131 f Minuskeln 458ff Mischna 418, 422f, 425f Mithras 383ff Mithridates II. Ktistes 22 Mithridates VI. Eupator 23, 309f Mouseion 101 f Münzwesen 90ff Muratorischer Kanon 283, 439 Musonius Rufus 364 Mysterien, Mysterium 151, 165f, 179, 18 Iff, 187ff, 194ff, 198, 200ff, 247, 375f, 383ff, 401, 555f, 558, 586, 661, 702, 707 Mysteriensprüche 500, 586 Mysterienvereine (s. auch: Vereinswesen) 150f, 667 Mythologie, Mythische Vorstellungen 132, 240f, 256, 267f, 396ff, 721, 742
Naassener 199f, 668f Naasenerpredigt und Psalm 668f Nabatäer 29, 332, 407 Nachfolge 515f, 607, 631 N a g H a m m a d i 398, 441, 650ff, 664ff, 676 Nahum-Pescher (4QpNah) 271 Natur 152 Naturgesetz 292, 356, 576 Nazaräer 64 lf Nazaräerevangelium 64 lf Nehemia 213 Nero 325ff, 68 5f, 691 Nerva 331 Neue Komödie 130 Neupythagoreer 385ff Nikolaiten 689 Nikolaos von Damaskus 135 Nikomedes I. 22 Ninos und Semiramis 142 Oden Salomos 656f Offenbarung Johannes 431 f, 684ff Onesimus 566, 569 Onias III., Hoherpriester 217 Onias IV., Hoherpriester 228f Ophiten, s.: Naassener Orakel 177f Origenes 266, 676 Orphizismus 165ff, 386ff Osiris (s. auch: Isis, Sarapis) 190f Otho 328 Ovid 352f Octavian, Octavius, s.: Augustus Palästina 24, 49f, 583ff Panaitios von Rhodos 156 Pantomimen 130 Papias von Hierapolis 430, 602f, 608 Papyri 107f, 450ff Papyrus 8 Iff Papyrus Egerton 2: 620f Paränese 488, 499, 503, 546, 553, 556, 592, 729f, 733
Register
797
Paraphrase des Sem 665 Paraphrase des Seth 665 P a r t h e r 27ff, 332f, 403 Parusie 559, 623, 679ff, 719, 735 Passionsgeschichte 482, 599, 603,
Philadelphia 720 Philemonbrief 569f Philhetairos 21 Philipp II. von Makedonien Philipp V , 19f
605, 62 lf, 629f, 784 Pastoralbriefe 735ff, 745, 775, 777 Paulus 112, 196, 366f, 377, 413f, 434, 524, 529ff, 591f, 634ff, 674, 676, 678ff, 700ff, 710, 720f, 726, 728, 734, 737, 746, 749, 757ff, 767ff Paulusakten 726ff Paul usbriefe 429f, 434, 436f, 485ff, 678, 705, 718f, 729, 731, 734, 745, 749, 770 Paulusmartyrium 762, 765 Paulus- und Thekla-Akten, s.:
Philipperbrief 486f, 565ff, 644, 650 Philippi 542,566 Philippus (Herodes) 406ff Philo von Alexandrien 139f, 148,
Thekla-Akten Pell a 414 Pentateuch 237, 257f, 287, 292 Perdikkas 12f Perfektionismus 568 P e r g a m e n t 8 Iff P e r g a m o n 19, 45, 60f, 77, 82f, 102, 187 Peripatos 119f, 137, 149 Perser, Persien 3f, 6ff, 213 Perseus, M a k e d o n e 20 Petronius 144, 326, 353 Petrus 434, 538ff, 549, 596ff, 602f, 6 2 l f , 624, 646, 728f, 734, 749, 758 Petrusakten 393, 762ff 1. Petrusbrief 7 3 l f , 745 2. Petrusbrief 1 lOf, 489f, 682, 733ff Petrusbriefe 431, 73Iff Petrusevangelium 482, 598ff Petrusliteratur 434 Petrusmartyrium 763 Pfingstgeschichte 520, 757 Pharisäer 226, 248ff, 418ff, 530 Phasael 403
9f
284ff, 397f, 71 Off Ps.-Philo Biblische Altertümer 274 Philologie 122f Philon, Epiker 276 Philon von Larissa 147 Philosophie 145ff, 284ff, 354f, 363ff, 396, 400f, 510, 702, 777ff Philostratos 138, 140, 387 Philoxenos von Alexandrien 123 Phoebe 544, 574 Phönizier 49f, 296f Ps.-Phokylides 282f Phrygien 46f pietas 374 Piraten 310 Piatonismus 145ff, 292, 370, 386, 781 Plautus 350 Plinius d.J. 443, 569f, 732, 774ff Plutarch 140, 146, 370f Polybios 107, 133ff Polykarp von Smyrna 719, 744ff, 783ff Polykarpbrief 745f Polykarpmartyrium 783ff Pompeius 226f, 31 Off, 314, 402 Pontius Pilatus 409, 508f Pontos 22f, 46, 769 Poseidonios 121, 135, 147, 156f Prediger Salomo, s.: Qohelet Predigten 289, 433, 671 Priester (s. a u c h : Sadduzäer) 237ff, 243ff Prinzipat 318f, 337
798
Register
Priscilla, s.: Aquila Privatinschriften 108f Proletariat 5, 62f, 344, 678 Propaganda 366ff, 551f, 561 Properz 352 Prophet, Propheten 505, 51 Of, 583f, 647, 650, 697 Prophetensprüche 500, 583f Protreptikos 777, 783 Provinzverwaltung 339 Prusias II. 22 Psalm 37-Pescher (4QpPs 37) 271 Psalmen Salomos 272f Pseudepigraphie 717f Pseudoklementinen 645ff Psychologie 153 Ptolemäer 24ff, 35f, 40, 47f, 214f Ptolemaios, Geograph 124 Ptolemaios I. Soter 13, 24f, 35, 191f Ptolemaios II. Philadelphos 18, 24f, 36, 252 Ptolemaios III. Euergetes 25 Ptolemaios IV. Philopator 25, 36, 214 Ptolemaios V. Epiphanes 25, 214f Ptolemaios VIII. Euergetes III. 26, 138, 229 Ptolemaios XII. „Auletes" 26 Pyrrhos von Epirus 16, 18f, 31, 138, 300 Pythagoras 385ff Quadratus, Apologie 778 Qohelet 255, 281 Quintilian 36 If Quirinius 408 Qumran (s. auch: Essener) 267ff
243ff,
Rabbinisches Judentum 418ff Reden Jesu (s. auch: Spruchüberlieferung) 609, 161f, 630f
Reichtum, s.: Arm und reich Reinheitsvorschriften 245f, 420, 645, 702 religio 374 „religio licita" 233, 376 Rezensionen der Bibel 265f Rhetorik 95, 354f, 361ff, 710 Rhodos 19f, 43f, 102, 342 Römerbrief 485, 573ff Rom, Römisches Reich 18ff, 22f, 26, 28f, 60, 188, 223, 298ff, 685ff, 690f Rom, Stadt 230, 327, 340ff, 527, 575, 577, 58Of, 690, 693, 720, 726f, 731, 761, 7&8 Roman 140ff, 276, 278f, 353, 432, 484, 755, 766 Ruf us von Ephesos
125
Sabazios 187, 200f Sabbath 200f, 702 Sacharja-Apokalypse 240 Sadduzäer 237ff, 418 Sallust 357f Salome 667f Salomo 253 Samaria 213f, 156, 259, 405, 526, 619 Samaritaner 226, 256ff, 275, 412 Samaritanischer Anonymus 275 Samothrake 185, 203f Sarapis 172, 190ff Sardes 27, 230 Schammai 250, 420 Schicksalsglaube, s.: Heimarmene Schreibmaterial 8 Iff Schriftgnosis 71 Iff Schulen, Schulbetrieb 94ff, 251 ff, 611, 668ff, 716, 780f Scipio Africanus maior 303f Scipio d.J. 134 Seelenwanderung 166 Sektenregel (1QS) 245, 270 Seleukia (am Tigris) 71
Register
799
Seleukiden, Seleukidenreich 26ff, 37, 48ff, 54ff, 64f, 69f, 214ff Seleukos I. N i k a t o r 14ff Seleukos II. 27 Semeia-Quelle (Zeichenquelle)
Speisegesetze 201 Speusippos 145 Sprache des N T 11 Off Spruchquelle ( „ Q " ) 478ff, 584ff, 608f
481, 603ff, 622f Semitismen 113ff Seneca 325f, 363f Septuaginta 109, 262ff, 780 Serapion von Antiochien 598f Seth, Sethianische Gnosis 651, 664ff
Spruchüberlieferung 494f, 501, 583ff, 590, 612, 618f Stände, römische 338 Stadt 39ff, 44f, 49f, 54, 62, 68ff, 224f, 348f, 405, 679 Stephanus, Märtyrer 414, 522ff, 758
Seth, Die Drei Säulen des Seth 666 Seth, Paraphrase, s.: Paraphrase des Seth Seth, Zweiter T r a k t a t des G r o ß e n Seth 666 Sibylle, Sibyllinische Bücher 177f, 268f Sichern 257 Sidon 50 Sifra 426 Sifre 426 Silvanus (Silas) 541, 544, 731 Simon Magus 764f Simon, H a s m o n ä e r 2 2 I f f , 244 Sirach, s.: Jesus Sirach Sitz im Leben 493f Sizilien 30f
Steuern 51f, 339, 341f, 409 Stoa, Stoische Philosophie 152ff, 2 9 l f , 355f, 363ff Straßen 87ff, 342f Suetonius 442f Sulla 23, 309f superstitio 374, 774, 776 Symmachus 265f Synagoge 230ff, 418ff Synedrium 408f, 418ff Synkretismus 38ff, 168ff, 176, 200f, 259, 375, 392, 622, 644f, 668, 700ff Synoikismos 71
Skeptizismus, Skepsis 146f, 255f, 355 Sklaven, Sklaverei 57ff, 306f, 344f, 569f Smyrna 719, 783ff Sondergut der Evangelien 479f, 751 f Sonnenkult 161, 163, 384 Sophia, s.: Weisheitsmythos Sophia Jesu Christi 665f Sophistik, Zweite 362f Soranos von Ephesos 125 Sparta 5, 43, 223 Spartakus 60
Synoptische Apokalypse 481, 585f Synoptische Evangelien 477ff Syrakus 30f Syrien 6f, 65, 527, 582ff Tacitus 360, 443 Tannaiten 422f Tatian 461, 780 T a u f e 505, 520, 533, 555, 619, 651, 667, 704, 707, 732 T a u r o b o l i u m 199 Tempel, jüdischer 237f, 257f, 405, 424, 754 Terentius 350 Testament 269, 568, 726, 738f Testamente der Zwölf Patriarchen 269f Testimonia (4QTest) 272
800
Register
Text des N T 444ff Textausgaben des N T 467ff Textilien 79f Textkritik des N T 472ff T h e a t e r 73f, 96f T h e i o s A n e r 179, 561ff, 610f, 753, 755, 760 Thekla-Akten 762f, 765 T h e o d o t i o n 265 T h e o g o n i e n 165ff T h e o k r i t 132 Theologische T r a k t a t e 432f, 711 T h e o p h r a s t 119, 149 1. Thessalonicherbrief 545ff, 679f 2. Thessalonicherbrief 679ff Thessalonike 542f T h o m a s 434f, 587, 683 T h o m a s a k t e n 144, 649, 655f T h o m a s b u c h 649 Thomasevangelium 480f, 586ff, 618f, 649, 660, 664, 667f Thomasliteratur 434f, 649 Tiberias 407, 425 Tiberius 320ff, 380 Tiberius Alexander 285, 328, 412 Tibull 352 Tigranes I. 30, 312 T i m o t h e u s 541, 543ff, 559, 567, 571, 710 1. Timotheusbrief 740 2. Timotheusbrief 739 Tiridates I. 28 Titus, Apostel 538, 560, 564, 570ff Titus, röm. Kaiser 328f, 417 Titusbrief 740 T o b i a d e n 50f, 216 Tobitbuch 280 T o d Jesu, s.: Kreuzestod Jesu T o r e u t i k 79, 81 T o s e f t a 426f Tragödiendichtung 129f, 276, 350 T r a j a n 3 3 i f f , 424, 774f Tralles 720 Trophonios-Orakel 178f
T u g e n d - und Lasterkataloge 709, 729, 733, 740f, 745
499,
Überlieferung 429f, 492ff Übersetzungen des N T 46Iff Unsterblichkeit, s.: Leben nach dem Tode Unterweltsvorstellungen 167f Unziale 453ff U r m a r k u s 604 Valentinus, Valentinianer 669f V a r r o 354, 356f Vereine, Vereinswesen 55, 65ff, 231f, 775 Verfolgungen 219, 685, 732f, 773ff Vergil 35 If Vespasian 328f, 417 Vettius Valens 107 Vitellius 328 Weise, Ideal des Weisen 154,254 Weisheit 242, 253ff, 280ff, 555f, 586f, 613f, 619, 627 Weisheit Salomos (Sapientia) 255f, 283f, 397 Weisheitslehrer 510f, 586ff Weisheitsliteratur 280ff, 431, 48Of, 587f Weisheitsmythos 255f, 567, 588, 626f, 652, 661 Weisheitssprüche 494, 555, 587f W i r - Q u e l l e (Wir-Bericht) 483, 542 Wissenschaft 117ff, 356f W o h l f a h r t 345 Wundergeschichten 495f, 501, 602f, 610, 622f, 649, 755 X e n o k r a t e s 145f X e n o p h o n von Ephesos Z a d o k i d e n 223, 245 Z a u b e r , s.: Magie
143
Im Text genannte Autoren Zauberpapyri Zeichenquelle, Zeloten 408, Zeno 152 Zeus 35, 37, 191, 218f
108, 392 s.: Semeia-Quelle 416 153, 160, 162, 171,
801
Zeus-Ammon 10 Zoologie 119,124 Zweiquellentheorie 478ff Zwei-Wege-Lehre 503, 593, 695, 715, 717, 729 Zwölf Apostel, s.: Apostel, Zwölf
C. Im Text genannte moderne Autoren Aland, Kurt 471 Bauer, Walter 659, 667 Bengel, Johann Albrecht 469 Bultmann, Rudolf 493, 617 Campenhausen, Hans von 744, 784 Colwell, E. C. 113 Dibelius, Martin 493 Droysen, J. G. 38 Erasmus v. Rotterdam 467f Estienne, Robert 468 Griesbach, Johann Jakob 469 Gunkel, Hermann 493 Harnack, Adolf von 671, 768 Herder, Johann Gottfried 492 Lachmann, Carl 469f
Merkelbach, R. 143 Mill, John 468 Nestle, Eberhard 471 Reitzenstein, R. 202 Schechter, S. 270 Schleiermacher, Friedrich 478 Scholem, Gerschom 206, 424 Soden, Hermann von 470f Tischendorf, Constantin von 470 Weis, Bernhard 470 Westcott, B. F., und Hort, F. J. 470 Wetstein, Jakob 469 Windisch, Hans 671 Wrede, William 479 Ximenes 467
M I T T E L L Ä N D I S C H E S
ptolemais-A τ Jolapaia^l» Sepphof is γ^ izareth· V •Gadara »kythopolis •Peiia iamaria Sichern·
Anliochia (Gerasd)·
Moppe
KOLCHIS
• Askaion ARMENIA MINOR ARMENIA MAIOR
PA P H L A G O N I E Ν
PALÄSTINA G AL ΑΤΙΑ
MYSIA ?
Tigranokeria·
PHRVGIA XGaugamela
»Thyatlf KOMMAGENE OSRHOENE CILICIEN ^YKAONIEN PAMPHYLIA
Seleuki
LYKIA
Dura Europos·
Seleukit
Cyperrr
Byblosj i
CO .Cha ABILENE 'Damaskus
I lALILi SA MARIEN /JUDÄA'
Babylon,