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German Pages 366 [364] Year 2019
Peter Geiss | Dominik Geppert Julia Reuschenbach [Hrsg.]
Eine Werteordnung für die Welt? Universalismus in Geschichte und Gegenwart
Nomos
© Umschlagbild: ullstein bild – Roger-Viollet. Frédéric Sorrieu, La République universelle démocratique et sociale – Le Pacte. Kolorierte Lithographie, 1848, Aufbewahrungsort: Musée Carnavalet, Paris, ikonographische Angaben hier nach: Mathilde Larrère, L’utopisme républicain de 1848, online ersch. März 2016, zit. nach URL: https://www.histoire-image.org/de/etudes/utopisme-republicain-1848 [05.03.2019]. Im vorliegenden Band wird auf Angebote im Internet verwiesen. Die Herausgeber machen sich deren Inhalte nicht zu eigen und übernehmen keine Haftung für sie. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.d-nb.de ISBN
978-3-8487-5378-9 (Print) 978-3-8452-9517-6 (ePDF)
British Library Cataloguing-in-Publication Data A catalogue record for this book is available from the British Library. ISBN
978-3-8487-5378-9 (Print) 978-3-8452-9517-6 (ePDF)
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Geiss, Peter / Geppert, Dominik / Reuschenbach, Julia Eine Werteordnung für die Welt? Universalismus in Geschichte und Gegenwart Peter Geiss / Dominik Geppert / Julia Reuschenbach (eds.) 366 p. Includes bibliographic references. ISBN
978-3-8487-5378-9 (Print) 978-3-8452-9517-6 (ePDF)
1. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. This work is subject to copyright. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or any information storage or retrieval system, without prior permission in writing from the publishers. Under § 54 of the German Copyright Law where copies are made for other than private use a fee is payable to “Verwertungsgesellschaft Wort”, Munich. No responsibility for loss caused to any individual or organization acting on or refraining from action as a result of the material in this publication can be accepted by Nomos or the author(s)/editor(s).
Inhalt
Universalismen in transepochaler Perspektive Ein Problemaufriss
7
Peter Geiss / Dominik Geppert / Julia Reuschenbach Teil I: Konzepte und Strukturen
25
Universalismen – Partikularismen. Zur Kultursoziologie von Geltungsansprüchen
27
Clemens Albrecht Das atlantische Völkerrecht zwischen staatlicher Partikularität und universeller Rechtsgeltung
45
Udo Di Fabio Stabilität – ein (un)demokratisches Versprechen?
81
Grit Straßenberger / Eva Marlene Hausteiner Teil II: Historische Zugänge
113
Gab es in der Antike Heilige Kriege?
115
Konrad Vössing Universal in Scope, Pluralist in Outlook: Rashīd al-Dīn’s (d. 718/1318) Compendium of Histories and the Narrating of Difference in Mongol Eurasia
143
Judith Pfeiffer
5
Inhalt
Der universale Frieden als Leitvorstellung auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643-1649). Probleme und Perspektiven der Forschung
195
Michael Rohrschneider Universalismen in der Geschichte Russlands und der Sowjetunion
217
Martin Aust Der Aufstieg der AKP im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Partikularismus
237
Mahir Tokatlı Menschenrechte und die Gestaltung der internationalen Ordnung im 20. Jahrhundert
263
Jan Eckel An der Grenze des Universalismus. Staatsbürgerschaft in der Geschichte Europas im 20. und 21. Jahrhundert
289
Dieter Gosewinkel Tony Blair, der Irak-Krieg und das Erbe William Ewart Gladstones
309
Dominik Geppert Unterwegs zum „Ende der Geschichte“? Internationale Politik und Narrativität 1789-2016
331
Peter Geiss Autoren- und Herausgeberverzeichnis
6
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Universalismen in transepochaler Perspektive Ein Problemaufriss Peter Geiss / Dominik Geppert / Julia Reuschenbach
Ein Kernelement westlichen politischen Denkens ist die Überzeugung, dass es Normen gibt, die für alle Menschen gelten sollten: Demokratie und Menschenrechte, insbesondere das Recht auf Leben und die freie Entfaltung der Persönlichkeit, Volkssouveränität und Gewaltenteilung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der Volksvertretung, die Unabhängigkeit der Gerichte und das Mehrparteienprinzip, die Chancengleichheit aller demokratischen Parteien und das Recht auf Opposition im Rahmen der Verfassung. Diese Prinzipien und Rechte sollen nicht nur wenigen Glücklichen in den progressivsten Ländern vorbehalten sein, sondern nach Möglichkeit überall auf der Welt gefördert und allen Erdenbewohnern zugänglich gemacht werden. Insofern besitzen westliche Normen einen universalistischen und letztlich expansiven Wesenskern1, den der Westen – allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika als seine Vormacht – nicht ohne Pathos und Zuversicht vertritt – oder jedenfalls bis vor kurzem vertreten hat: „Freedom is indivisible, and when one man is enslaved all are not free“, wie es in der berühmten Berliner Rede des amerikanischen Präsidenten Kennedy vom 26. Juni 1963 hieß.2 Zuletzt präsentierte sich dieses Denken zwar nicht mehr ganz so siegesgewiss wie in Kennedys Rede aus dem Kalten Krieg oder – mehr noch – in Francis Fukuyamas vielzitiertem Werk End of History vom Anfang der 1990er Jahre. Aber es bestand doch lange kaum ein Zweifel daran, dass es der universalistische Wertekonsens westlichen Typs war, der am Ende das
1 Auf diese Dimension verweist vehement Immanuel Wallerstein, European Universalism. The Rhetoric of Power, New York u.a. 2006. 2 John F. Kennedy, Rede an die Berliner vor dem Schöneberger Rathaus, 26. Juni 1963, Text mit Kommentar von Michael Hochgeschwender, hier zit. nach URL: http://www.1000dokumente.de [29.4.2017]; dort angegebene und digital im Auszug eingestellte Edition: Department of State Bulletin, Bd. XLIX, Nr. 1256, 22. Juli 1963, S. 124-125, hier S. 125.
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Einleitung
Feld behaupten würde.3 Vielleicht würde der von Fukuyama zum Schlussakkord der Weltgeschichte erhobenen Demokratie liberaler Prägung kein globaler Sieg mehr gelingen, wohl aber eine Bestandswahrung innerhalb der Staaten, die ihr bis dahin zugeneigt waren, das heißt innerhalb des nach 1989 bis an die Grenzen Russlands herangewachsenen Westens. Schien die westliche Ordnung also noch vor wenigen Jahren allen Krisen und Anfechtungen zum Trotz nahezu unerschütterlich zu sein, so wirkt sie heute brüchig und bedroht. Von zwei Seiten wird sie herausgefordert. Zum einen formulieren politische Systeme außerhalb des Westens zunehmend selbstbewusst und siegessicher sowohl ideelle als auch praktische Gegenentwürfe. Anders als die Herausforderung im Kalten Krieg, die von einem konkurrierenden, ebenfalls in der westlichen Aufklärung wurzelnden Universalismus marxistisch-leninistischer Prägung ausging4, entstammen die gegenwärtigen Alternativen häufig nicht-westlichen Traditionen. Sie schöpfen aus anderen gedanklichen Quellen als der Aufklärung westlichen Typs. Dies gilt zum Beispiel für autoritäre Staats- und Gesellschaftskonzepte wie den „Primat des Kollektivs“5 in der Volksrepublik China, den Abbau von Rechtsstaatlichkeit in der Türkei sowie für die „gelenkte Demokratie“ im gegenwärtigen Russland, auch wenn hier die Abgrenzung gegenüber europäischen Traditionen wegen vielfältiger Interdependenzen
3 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York u.a. 2006 (EA 1992). Vgl. hierzu in rückblickender Distanz Ders., Why is democracy performing so poorly, in: Journal of Democracy 26,1 (2015), S. 11-20, hier S. 11, zit. nach URL: https://fukuyama.stanford.edu/sites/default/files/basic-page/jod_article_jan_15_0.p d f [30.7.2018]; zu potentiellen Schadenswirkungen des „Cold War Triumphalism“ vgl. Ellen Schrecker, Cold War Triumphalism and the Real Cold War, in: Dies. (Hg.), Cold War Triumphalism, New York 2004, S. 1–24; vgl. hierzu ausführlicher den Beitrag von Peter Geiss im vorliegenden Band. 4 Mit Jakob L. Talmon könnte man in marxistisch-leninistischen Diktaturen totalitäre Pendants der liberalen Demokratie sehen. Vgl. Jakob L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, hier zit. nach Klaus Stüwe / Gregor Weber (Hg.), Antike und moderne Demokratie. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004, S. 373-377, dazu auch die Einleitung der Herausgeber, S. 372; zur ‚heilsgeschichtlichen‘ Dimension des Marxismus vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 8. Aufl., Stuttgart 1990, S. 42-61. 5 Xuewu Gu, Chinas Aufstieg zur Großmacht und seine Herausforderung für den Westen, in: James Bindenagel / Matthias Herdegen / Karl Kaiser (Hg.), Internationale Sicherheit im 21. Jahrhundert. Deutschlands internationale Verantwortung, Göttingen 2016 (Internationale Beziehungen. Theorie und Geschichte, 13), S. 57-65, hier S. 62f.
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schwieriger ist. Udo Di Fabio spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer „Rebellion gegen den Westen und seine Leitwerte“.6 Zum anderen kommt die Herausforderung jedoch von innen, aus dem Herzen des Westens selbst. Die Skeptiker, Kritiker und Gegner universalistischer Welt- und Menschheitskonzepte sitzen heute in Parlamenten und Kabinetten, Pateizentralen und Think Tanks, Medienredaktionen und Hochschulen Europas und der USA. Der Westen als Staatengemeinschaft und Verteidigungsbündnis in Form der NATO wird von der Spitze seiner Führungsmacht als „obsolet“ bezeichnet. Die EU als europäischer Pfeiler des Westens befindet sich – institutionell, politisch, normativ – weiterhin in der schwersten Krise ihrer Geschichte, selbst wenn der Austritt Großbritanniens keine unmittelbaren Nachahmer gefunden hat. Das Gefühl vieler Menschen, inmitten einer Welt globaler Vernetzung und Interdependenz in ihrem gewohnten Leben bedroht zu sein, gebiert den Wunsch nach Wiederherstellung kleinräumiger Übersichtlichkeit und Kontrolle.7 Entsprechend bestimmen Begriffe wie „Heimat“ und „nationale Identität“ gegenwärtig die öffentlichen Diskurse östlich wie westlich des Atlantiks. Partikularismen haben Auftrieb. Die transnationale, mit universalem Geltungsanspruch auftretende Kategorie des Westens befindet sich demgegenüber in der Defensive – womöglich nicht zuletzt deshalb, weil der mit ihr verbundene globale Geltungsanspruch von vielen als wahlweise hypertroph oder heuchlerisch wahrgenommen wird.8 Der jüngst verstorbene Bonner Politikwissenschaftler Hans Peter Schwarz, ein kritischer Realist, hat noch kurz vor seinem Tod festgestellt, dass gegenwärtig „der Universalismus mit moralischem Anspruch und technokratischem Machbarkeitsglauben in der deutschen außenpolitischen Vorstellungswelt die Züge
6 Udo Di Fabio, Schwankender Westen. Wie ein Gesellschaftsmodell sich neu erfinden muss, München 2015, S. 7. 7 Dieses Bedrohungsgefühl scheint auch die Analyse Heinz Theisens zu durchziehen, die in vielen Punkten analytisch erhellend ist, aber einem problematischen Kulturalismus huldigt: Heinz Theisen, Nach der Überdehnung. Die Grenzen des Westens und die Koexistenz der Kulturen, 2. Aufl., Berlin 2013. 8 Vgl. diagnostisch treffend, aber mit problematischen politischen Schlussfolgerungen (multipolare Weltordnung, strukturiert durch Abgrenzung und Einflusssphären von Großmächten) Heinz Theisen, Es war überfällig, die Widersprüche einer ideologisierten Weltoffenheit zu thematisieren, Gastkommentar in: Neue Züricher Zeitung, 1.4.2017, zit. nach URL: https://www.nzz.ch/meinung/kommentare/trum p-und-die-neue-weltordnung-selbstbehauptung-durch-selbstbegrenzung-ld.154610 [26.7.2018].
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Einleitung
einer erstaunlich intoleranten Zivilreligion angenommen“ habe.9 Die Moderne westlichen Typs erscheint vielen Historikern heute weniger zur Idealisierung geeignet als früheren Forschergenerationen. Die Ambivalenzen der Moderne treten deutlicher zutage. Insofern ist Heinrich August Winklers historiographische Apotheose des Westens gegen den Trend der Forschung geschrieben und markiert vielleicht so etwas wie einen geschichtswissenschaftlichen Schwanengesang.10 Die doppelte Herausforderung des Universalismus westlichen Typs von außen und von innen umreißt den zeitgenössischen Kontext, in dem die in diesem Band versammelten Beiträge entstanden sind und auf den sie rekurrieren. Die 13 Autoren aus den Fächern Geschichts- und Politikwissenschaft, Jurisprudenz und Islamwissenschaft setzen dabei je nach den Forschungsausrichtungen ihrer Disziplin unterschiedliche Akzente. Auf diese Weise soll das Problem des Universalismus theoriegestützt, gegenwartsbezogen und zugleich in seiner zeitlichen Tiefe beleuchtet werden. Alle Beiträge basieren auf zwei Grundannahmen, die zugleich zwei zentrale Arbeitshypothesen des Bandes markieren: Zum einen werden Universalisten und ihre Kritiker nicht nur als Antipoden, sondern als aufeinander bezogene ‚feindliche Brüder‘ wahrgenommen.11 Universalismen und gegen sie gerichtete partikularistische Strömungen stehen zueinander in einem Verhältnis von actio und reactio, das freilich weniger berechenbar ist als in der klassischen Mechanik Issak Newtons.12 In diesem Sinne skizziert Clemens Albrecht im vorliegenden Band eine Kultursoziologie von Geltungsansprüchen, die unter anderem in den 9 Hans-Peter Schwarz, Von Adenauer zu Merkel. Lebenserinnerungen eines kritischen Zeitzeugen, München 2018, S. 566. 10 Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, 4 Bde., München 2009-2015. 11 Zur kausalen Dialektik zwischen Universalismus und aggressivem Partikularismus vgl. Wolfgang Knöbl, Und täglich grüßt der Populismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.6.2017, S. 6 (als Denkfigur bereits angelegt in: Heinz Theisen, Nach der Überdehnung). Ähnlich spricht Udo Di Fabio bezogen auf antiwestliche Strömungen, von einer „Dialektik westlicher Modernisierung“. Di Fabio, Schwankender Westen, S. 19. 12 Bezugspunkt ist das dritte Newtonsche Gesetz: „Actioni contrariam semper & æqualem esse reactionem […]“ Zit. nach Isaak Newton, Philosophiæ naturalis principia mathematica, London 1726, S. 14, zit. nach dem Digitalisat der SUB Göttingen unter PURL: http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN51226139 3 [27.7.2018]. Ein Beispiel der Übertragung dieses Prinzips aus der Physik in den Bereich des Politischen bietet Benjamin Constant, Des réactions politiques, in: Ders., Œuvres complètes. Série Œuvres, 1: Écrits de jeunesse (1774-1799). Volume dirigé par Lucia Omacini et Jaen-Daniel Candaux, texte établis et annotés par Mauro Barberis, Tübingen 1998, S. 455-506.
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Beiträgen von Mahir Tokatlı (über die türkische AKP), Martin Aust (über Russland und die Sowjetunion) oder Dominik Geppert (über Großbritannien) an konkreten historischen Beispielen entfaltet wird. Nichtliberale Demokratiekonzepte, die vor allem den Wert von Stabilität akzentuieren, werden im Beitrag von Grit Straßenberger und Eva Hausteiner analysiert. Zum anderen geht der Band von der Beobachtung aus, dass Universalismen und für universalistische Entwicklungen offene Konstellationen weder ein exklusives Phänomen der Moderne noch eines der ‚westlichen‘ Welt sind und dass ihre Erforschung daher epochen- und kulturübergreifend angelegt sein muss. Wenn der Siegeszug politischer Universalismen wie gemeinhin üblich mit der europäischen Aufklärung und den ‚Atlantischen‘ Revolutionen verbunden wird,13 so marginalisiert diese Fokussierung die vormoderne Geschichte des universalistischen Denkens und Handelns ebenso wie die Frage nach nichtokzidentalen und religiösen Erscheinungsformen. Daher wurden in diesen Band bewusst auch Beiträge zur europäischen Vormoderne (von Konrad Vössing mit der Frage nach einem denkmöglichen, aber letztlich nicht realisierten politischen Universalismus im spätantiken Imperium Romanum; von Michael Rohrschneider über die Idee eines universalen Friedens auf dem Westfälischen Friedenskongress) und zum Problem des Universalismus außerhalb der christich-okzidentalen Geschichte aufgenommen. Einen für die Schärfung des Universalismusbegriffs interessanten Grenzfall stellt das von Judith Pfeiffer analysierte Geschichtswerk des muslimischen Historikers Rashīd al-Dīn (hingerichtet 1318) aus dem mittelalterlichen Mongolenreich dar, mit dem der Okzident verlassen wird. Es handelt sich um eine unter islamischer Herrschaft entstandene Universalgeschichte, die keinen universalistischen Deutungsanspruch erhebt, sondern eine erstaunliche Pluralität der Interpretationen zulässt. Universalistisches Ordnungsdenken, so lautet die Ausgangsüberlegung, ist in seinen Geltungsansprüchen per definitionem nicht lokal oder sektoral einzuschränken; es stößt aber in der Welt des Historischen auf vielfältige faktische Grenzen wie auch Gegenkräfte und mündet fast unausweichlich in Situationen der Kräfteüberdehnung oder zumindest der mentalen Überforderung.14 Dies ruft sowohl im Umfeld eines universalistischen Gemeinwesens als auch in seinem Inneren Gegenströmungen auf den Plan,
13 Vgl. Heinrich August, Winkler, Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart (Bd. 4), München 2015, S. 17 und 585. 14 Soweit ist Heinz Theisen zuzustimmen. Vgl. Theisen, Nach der Überdehnung, S. 13.
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die entweder auf der Ebene partikularistischer Bewegungen verharren, oder sich aber zu neuen Universalismen weiterentwickeln können. Diese werden im Rückgriff auf das von Clemens Albrecht hier vorgeschlagene Modell als Gegenuniversalismen bezeichnet.15 In der Perspektive eines actio-reactio-Modells wären John F. Kennedys universalistisches Bekenntnis zur Verteidigung der Freiheit in Berlin und Donald Trumps Proklamation des Prinzips „America first“ nicht Botschaften aus verschiedenen Welten, sondern diskursive Ausdrucksformen, die ein und demselben dynamischen Gefüge entspringen.16 Der Fehdehandschuh, den Russland 2014 mit der Annexion der Krim und der anschließenden militärischen Destabilisierung der Ostukraine der EU und den USA vor die Füße geworfen hat, sowie dessen diskursive Begleitmusik,17 wären in dieser Perspektive nicht einfach als ein isoliertes Provokationsund Aggressionsverhalten zu begreifen, sondern auch als eine geopolitisch harte Reaktion auf das, was die russische Führung als universalistisch grundierte Expansion des Westens auf Kosten russischer Interessen versteht – als das Ausgreifen einer fremden Imperialität in den eigenen „imperialen Raum“.18 Hier wäre mit Udo di Fabio die Frage zu stellen, ob sich in der Gegenwart nicht ein Ende der Dominanz des atlantischen Völkerrechts abzeichnet und ob dieses nicht geopolitischen Ordnungsvorstellungen weicht, die an Konzepte des Großraumdenkens am Vorabend des Zweiten
15 Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Clemens Albrecht im vorliegenden Band. 16 Henry Kissinger betrachtet „westfälische“ und universalistische Orientierungen gleichermaßen als Konstituenten amerikanischer Außenpolitik. Vgl. Henry Kissinger, World Order, New York 2015, S. 8. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Peter Geiss im vorliegenden Band. 17 Vgl. hierzu mit einer Einordnung in weiter zurückreichende Traditionen russischer und sowjetischer Imperialität und (gegen-)universalistischen Denkens den Beitrag von Martin Aust im vorliegenden Band. 18 Zum Konzept des „imperialen Raums“ vgl. Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, 3. Aufl., Berlin 2005, insbes. S. 26-28; zum westlichen Problem der Nichtanerkennung von Einflusssphären vgl. Theisen, Nach der Überdehnung, S. 159. Wie vielfach betont, kommt es für die politische Wirksamkeit von Wahrnehmungen nicht darauf an, ob diese eine Realitätsgrundlage haben oder nicht. Vgl. Herfried Münkler im Interview mit Andrea Seibel und Alan Posener, Putin überkam die Angst vor Gesichtsverlust, in: Die Welt (online), 19.3.2014, zit. nach URL: http://www.welt.de/ kultur/article125943063/Putin-ueberkam-die-Angst-vor-Gesichtsverlust.html [27.7.2018]; zur Analyse russischer Befindlichkeiten vor der Ukrainekrise vgl. André Brie, Russland, die NATO und die Europäische Union, in: Peter Brandt (Hg.), Der große Nachbar im Osten. Beiträge zur Geschichte, zur Verfassung und zu den Außenbeziehungen Russlands, Berlin 2012, S. 161-174.
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Weltkriegs erinnern.19 Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Ordnungsvorstellungen manifestiert sich dabei nicht nur in außenpolitischen Strategien und Aktionen, sondern auch, wie Peter Geiss im vorliegenden Band ausführt, in narrativen Formen der Anspruchsbegründung und Konfliktaustragung. Das hier strikt analytisch verstandene actio-reactio-Modell entschuldigt nichts – schon gar keine gewaltsame Grenzveränderung in Europa – und es sucht auch nicht in moralisierender oder personalisierender Weise nach Fehlentscheidungen im universalistischen Lager, die für Abwege und Schieflagen in der aktuellen Weltpolitik verantwortlich zu machen wären. Vielmehr fokussiert der hier vertretene Ansatz strukturelle Zusammenhänge zwischen universalistischen, partikularistischen und gegenuniversalistischen Positionen. Insbesondere geht es dabei um folgende Fragen, für die das von Clemens Albrecht im vorliegenden Band entworfene Modell zentral ist: (1) Unter welchen Bedingungen entwickeln sich universalistische Geltungsansprüche? (2) Wie kleiden sich universalistische Geltungsansprüche in verschiedenen Kontexten diskursiv ein? (3) Welche Gegenkräfte rufen diese universalistischen Geltungsansprüche auf den Plan? Wann verharren diese Gegenkräfte im Bereich partikularistischer Denk- und Handlungsformen, wann schlagen sie in Gegenuniversalismen um? (4) Wie gehen universalistische Gemeinwesen mit ihrem (partiellen) Scheitern um? Es scheint im Sinne eines heuristischen Experiments sinnvoll, universalistische und partikularistische beziehungsweise gegenuniversalistische Strömungen einmal nicht (nur) als Gegensätze, sondern als miteinander interdependent verbundene Phänomene zu modellieren.20 In dieser Perspektive bleiben die in den Beiträgen des vorliegenden Bandes analysierten Universalismen auch dann gegenwartsrelevant, wenn sich das Pendel der Weltpolitik – wie es momentan den Anschein hat – von ihnen wegbewegt. Möglicherweise speist die Kraft der Universalismen die gegen sie gerichteten Bewegungen, sei es im Inneren von Staaten als nationalistisch-identitä-
19 Vgl. hierzu den Beitrag von Udo Di Fabio im vorliegenden Band. 20 Hier folgen wir Wegen, die im Bezug auf Wahrnehmungsmuster in der Psychologie der internationalen Beziehungen bereits geebnet wurden. Vgl. Robert Jervis, Perception and Misperception in International Politics. New Edition. With a New Preface by the Author, Princeton 2017 [EA 1978]; Glenn Snyder, The Security Dilemma in Alliance Politics, in: World Politics 36,4 (1984), S. 461-495, DOI: 10.2307/2010183, zit. nach URL: https://www.cambridge.org/core/services/aop-ca mbridge-core/content/view/681B1AF11D96E61995028026205CE783/S004388710 0006687a.pdf/security_dilemma_in_alliance_politics.pdf [22.6.2018 - Hochschulnetz der Universität Bonn].
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Einleitung
re Reaktion auf universalistische Einwanderungspolitik oder aber in Gestalt eines geopolitischen Revisionismus mit antiwestlicher Stoßrichtung.21 Auch umgekehrte Wirkungsrichtungen waren in der Geschichte beobachtbar: Wilsons Universalismus, der in der Völkerbundsidee seinen klassischen Ausdruck fand, war sicher nicht nur ein Kind des Ersten Weltkrieges und des Imperialismus, aber die Erfahrungen mit zerstörerischen Wirkungen nationalistischer, das heißt in hohem Maße partikularistischer Kräfte gehörte zweifellos zu seinen wesentlichen Energiequellen.22 Kaum einer weiteren Erläuterung bedarf schließlich der Zusammenhang zwischen der Gründung der Vereinten Nationen – der universalistischen Menschheitsorganisation schlechthin – und den schrecklichen Erfahrungen mit der totalitären und genozidalen Extremform eines völkischen Partikularismus, wie ihn der deutsche Nationalsozialismus darstellte.23 Universalismus ist, wie gesagt, nicht erst ein Kind der Aufklärung und der ‚Atlantischen Revolutionen‘. Der Beitrag des 18. Jahrhunderts zur Geschichte des Universalismus ist zwar kaum hoch genug zu veranschlagen, da unser Denken damals jene stark auf das Individuum, seine Rechte und seine Partizipation am Gemeinwesen gerichtete Orientierung erhielt, die für die universalistischen Entwicklungsstränge der westlichen Moderne maßgeblich waren und es auch weiterhin sind.24 Dies darf aber nicht vergessen machen, dass es in der Geschichte der Menschheit viel weiter zurückliegende Erscheinungsformen des Universalismus gab, in deren Zentrum keineswegs das Konzept universaler Menschenrechte stand.25 Hier ist an erster Stelle der in jüdischer Tradition stehende Universalismus des 21 Vgl. Udo Di Fabios Überlegungen zu einer „interdependenten Dynamik“ im vorliegenden Band, S. 51f. Hier sei im Sinne einer Metapher noch einmal Newtons drittes Gesetz zitiert: „Si equus lapidem funi aligatum trahit, retrahetur (ut ita dicam) enim & equus æqualiter in lapidem […]“. Newton, Philosophiæ naturalis principia mathematica, S. 14. In der Zeitversetzung der Wirkung und in der Unmöglichkeit, anders als bei physikalischen Kräften quantitative Entsprechungen festzustellen, liegen natürlich wesentliche Grenzen des Vergleichs. 22 Zu Wilsons Intentionen vgl. Trygve Throntveit, The Fable of the Fourteen Points: Woodrow Wilson and National Self-Determination, in: Diplomatic History 35,3 (2011), S. 445-481, https://scholar.harvard.edu/files/throntveit/files/fable_of_the_f ourteen_points_dh_35.3_june_2011.pdf [31.7.2018]. 23 Vgl. insbes. die Präambel der Charta der Vereinten Nationen, zit. nach d. dt. Übers. unter URL: https://www.unric.org/html/german/pdf/charta.pdf [27.7.2018]. 24 Vgl. Winkler, Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart (Bd. 4), S. 17. 25 Auch in der westlichen Moderne ist der universale Geltungsanspruch von Menschenrechten nicht unumstritten, was sich z.B. in Versuchen manifestiert, sie auf einen vermeintlich westlichen Charakter zu reduzieren. Vgl. zu dieser Diskussion
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Christentums26 zu nennen, das sein Heilsversprechen an alle Menschen unabhängig von deren Herkunft und Stand richtet, sie alle als Ebenbilder Gottes und deswegen mit unveräußerlicher Würde ausgestattet sieht, damit aber nicht die Idee universaler– und schon gar nicht einklagbarer – Rechte verknüpft.27 Seine emblematische Figur hat dieser Universalismus im Apostel Paulus gefunden, dessen historische Leistung Paul Badiou zufolge darin lag, „die Wahrheit dem Einfluss einer Gemeinschaft, sei es eines Volkes, einer Polis, eines Imperiums oder einer sozialen Klasse entzogen zu haben.“28 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass politische Erscheinungsformen des Universalismus über weite Strecken seiner Geschichte nicht menschenrechtsorientiert waren, so etwa die schwer auf einen konzeptuellen Nenner zu bringende Idee des Universalkaisertums im Mittelalter.29 Ein römisch und christlich inspiriertes Konzept universaler Kaiserherrschaft manifestierte sich zu Beginn der Neuzeit besonders prominent
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bereits Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, Bonn 1987 (Bundeszentrale für politische Bildung, Studien zur Geschichte und Politik, 256), S. 30. Eine neuere Zurückweisung der Eingrenzung von Menschenrechten auf westliche Traditionen bietet Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, München 2015. Zum performativen Widerspruch einer kulturrelativistischen Ablehnung des Universalismus, die ja selbst nur von einem universalistischen Standpunkt aus die Gleichrangigkeit unterschiedlicher kultureller Normensysteme feststellen könnte, vgl. Sibylle Tönnies, Der westliche Universalismus. Eine Verteidigung klassischer Positionen, Opladen 1995, S. 113. Vgl. Johann Figl / Udo Rüterswörden / Bernd Wander, Art. „Universalismus/Partikularismus“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG 4), zit. nach URL: http://dx.doi.org/10.1163/2405-8262_rgg4_COM_025237 [1.8.2018]. Vgl. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, S. 46f. Übers. P.G. nach Paul Badiou, Saint Paul, La fondation de l’universalisme, Paris 2014 (Editions Quadrige, EA 1997), S. 6f. Badiou geht es um die „Geste“, der Universalisierung, nicht um die Frage eines religiösen Wahrheitsgehalts. Vgl. ebd., S. 7. Auf das Problem, mittelalterliches Universalkaisertum konzeptuell zu greifen, wies bereits hin: Friedrich Kempf, Das mittelalterliche Kaisertum. Ein Deutungsversuch, in: Konstanzer Arbeitskreis. Vorträge und Forschungen 3 (1956), S. 225-242, hier S. 236 und 241 zit. nach URL: https://journals.ub.uni-heidelberg.d e/index.php/vuf/article/download/16339/10194 [31.8.2018]. Einflüsse des christlich-spätantiken Kaisertums auf Herrschaftskonzepte des frühen Islam sieht Almut Höfert, Kaisertum und Kalifat. Der imperiale Monotheismus im Früh- und Hochmittelalter, Frankfurt a. M. 2015 (Globalgeschichte, 21).
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in der auf Karl V. bezogenen Idee der Monarchia universalis.30 Gott, so führte es Großkanzler Gattinara in seiner berühmten Denkschrift an den Kaiser aus, habe Karl zur Monarchie geführt, „um die ganze Welt einem Hirten zu unterstellen“ („pour reduire l’universel monde soubz ung pasteur“).31 In dieser Monarchie sah Gattinara die Voraussetzung für einen universalen Frieden („paix universelle“).32 Insofern als der Kaiser im Rahmen dieser Konzeption als Friedenswahrer auftrat, ergibt sich eine konzeptuelle Verbindung zum Westfälischen Frieden von 1648, der ebenfalls das Ideal der Pax universalis beschwor.33 In seinem Rat an Karl V. bemühte Gattinara neben christlichen Werten die großen Traditionen des römischen Kaisertums, so etwa Justinian als Vorbild für die Gestaltung einer universalen Rechtsordnung, Caesar als Modell der Milde und Trajan als Beispiel für die Einhaltung der Goldenen Regel, die Kaiser und Untertanen wechselseitig binden solle.34 Man könnte vor diesem Hintergrund vermuten, dass bereits in der römischen Kaiserzeit ein imperialer Universalismus existierte, da ja offenbar in der Frühen Neuzeit – wie zuvor bereits im Mittelalter – auf eine solche (scheinbar antike) Herrschaftsideologie rekurriert werden konnte. Tatsächlich konstruiert dies jedoch eine falsche Kontinuität. Zwar lassen sich durchaus Potenziale für ein universalistisches Herrschaftsdesign antiker Kaiser identifizieren, legitimierend aber war, auch im christlichen Imperium der Spätantike, nicht die religiöse Qualität des Kaisers, sondern seine militärisch-politische Leistung.35 Die hier nur exemplarische Thematisierung ‚voraufklärerischer‘ Universalismen kann dazu beitragen, eine Verengung des Fokus auf Zusammen30 Franz Bosbach, Art. „Universalmonarchie“, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit Online (digital 2014), zit. nach URL: dx.doi.org/10.1163/2352-024 8_edn_a4452000 [21.9.2018]. 31 [Mercurino Arborio di Gattinara], Consigli del Gran Cancelliere all’Imperatore, in: Carlo Bornate (Hg.), Historia vite et gestorum per dominum magnum cancellarium (Mercurino Arborio di Gattinara), con note, agiunte e documenti, in: Miscellanea di Storia Italiana, Serie 3,16 (1915), S. 405-413, hier S. 406. Zur politischen und ideengeschichtlichen Eindornung des Textes vgl. Juan Carlos d’Amico, Gattinara et la « monarchie impériale » de Charles Quint. Entre millénarisme, translatio imperii et droits du Saint-Empire, in: Astérion 10/2012, zit. nach URL: http://journals.openedition.org/asterion/2250 [30.8.2018]. 32 [Mercurino Arborio di Gattinara], Consigli, S. 406; vgl. auch Bosbach, Art. „Monarchia universalis“. 33 Vgl. hierzu den Beitrag von Michael Rohrschneider im vorliegenden Band. 34 [Mercurio Arborio di Gattinara], Consigli, S. 408. 35 Vgl. hierzu den Beitrag von Konrad Vössing, dem wir auch die präzisierende Neuformulierung des voranstehenden Passus zum römischen Kaisertum und zu seiner universalistischen Fehlrezeption in Mittelalter und Neuzeit verdanken.
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hänge zwischen universalistischem Denken und Menschenrechten zu vermeiden. Letztere waren zweifellos seit dem 18. Jahrhundert ein wichtiges Feld der Universalismusgeschichte; im 20. Jahrhundert avancierten sie zu einem zentralen Bezugspunkt der internationalen Politik, wie Jan Eckel in diesem Band darlegt,36 auch wenn die konkrete Umsetzung ihres Anspruchs auf universale Geltung weiterhin der Machtmittel des (National-)Staats bedurfte und bedarf, wie Dieter Gosewinkel in seinem Beitrag konstatiert.37 Möglicherweise geht die primär menschenrechtsorientierte Periode in der Geschichte des Universalismus aber ihrem Ende entgegen, sodass ältere Formen universalistischen Denkens wieder an Relevanz gewinnen. Vor den ‚atlantischen‘ Universalismen gab es – wie oben skizziert – universalistische Herrschaftskonzepte, die nicht zentral auf die Rechte des Individuums abstellten, sondern die Wahrung von Frieden sowie die Durchsetzung von Gesetz und Ordnung propagierten.38 Angesichts der zunehmenden digitalen Vermessung, Taxierung und Überwachung des Menschen stellt sich die Frage, ob solche Vorstellungen nicht nur Geschichte, sondern auch Gegenwart und mögliche Zukunft sind.39 Die selbst als technischer Universalismus auftretende Digitalisierung stellt jedenfalls Möglichkeiten einer potenziell freiheitsgefährdenden Messung, Konditionierung und Vereinheitlichung von menschlichem Verhalten zur Verfügung, über die kein totalitäres Regime des 20. Jahrhunderts je verfügt hat.40
36 Vgl. hierzu den Beitrag von Jan Eckel im vorliegenden Band. 37 Vgl. hierzu den Beitrag von Dieter Gosewinkel im vorliegenden Band. 38 Hier ist es sicher zweckmäßig, mit Christophe Badel zwischen universalistischen Herrschaftsansprüchen zu unterscheiden, die ein bestimmtes Modell verwirklichen wollen (aus seiner Sicht in der Antike nur Rom) und solchen, deren Universalismus sich ausschließlich auf die Reichweite des Herrschaftsanspruchs bezieht (der weitaus häufigere Fall). Vgl. Christophe Badel, Introduction. Les modèles impériaux dans l’Antiquité, in: Dialogues d'histoire ancienne. Supplément n°5, 2011, S. 9-25, hier S. 17f., DOI: 10.3406/dha.2011.3491, zit. nach URL: http://www .persee.fr/doc/dha_2108-1433_2011_sup_5_1_3491 [31.7.2018]. 39 Ein Beispiel hierfür könnte das chinesische System der digital gestützten Verhaltensüberwachung sein. Vgl. Axel Dorloff, Sozialkredit-System. China auf dem Weg in die IT-Diktatur, Beitrag im Deutschlandfunk, 9.9.2017, nachzulesen unter URL: https://www.deutschlandfunk.de/sozialkredit-system-china-auf-dem-weg-indie-it-diktatur.724.de.html?dram:article_id=395440 [27.7.2018]; ferner Mark Siemons, Die automatisierte Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.8.2018, S. 11. 40 Vgl. zu diesem totalitären Überwachungspotenzial bereits Hannah Arendt: „Der moderne Traum der technisierten Polizei unter totalitären Bedingungen ist ungleich furchtbarer; sie träumt davon, mit einem Blick auf der Riesenkarte an der
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Eine im vorliegenden Band nicht erschöpfend zu leistende, aber insbesondere durch die Beiträge von Clemens Albrecht, Udo Di Fabio, Grit Straßenberger und Eva Hausteiner angebahnte Betrachtung hätte auch die Frage verdient, ob es einen Zusammenhang zwischen Großmachtbildung beziehungsweise Imperialität und Universalismus gab. Argumentieren nicht alle übermächtigen Gemeinwesen irgendwann universalistisch? Ein erster Denkanstoß zur Auseinandersetzung mit dieser Frage könnte von der berühmten Leichenrede des Perikles nach dem ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges (431/30 v. Chr.) ausgehen: Der Historiker Thukydides lässt darin den attischen Strategen überschwänglich die Vorzüge der Demokratie feiern, ohne dass damit ein missionarischer Anspruch verbunden wäre. Zwar wird das überlegene Athen stolz als „Schule von Hellas“ bezeichnet,41 aber es ist nirgends erkennbar, dass Perikles damit die historische Aufgabe verbunden hätte, diese in die Welt hinauszutragen.42 Kein demokratisches „Sendungsbewusstsein“ veranlasste Jochen Bleicken zufolge die Athener, ihre Verfassung anderen aufzuzwingen, sondern das Interesse des eigenen Machterhalts im Verhältnis zu den untergeordneten Bundesgenossen.43 Insofern war Poppers Annahme, der „athenische Imperialismus“ habe in Frontstellung gegen Sparta dazu tendiert, „sich zu einem Commonwealth griechischer Städte und vielleicht sogar zu einem Universalreich aller Menschen zu entwickeln“44, wohl der Rückprojektion eigener
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Bürowand ausfindig machen zu können, wer zu wem Beziehungen hat; und dieser Traum ist grundsätzlich nicht unerfüllbar, er ist nur etwas schwierig in seiner technischen Ausführbarkeit.“ Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, deutsche Fassung erstmals erschienen 1955, 11. Aufl., München 2006, S. 899. Den Hinweis auf das Internet als technische Erscheinungsform der Universalisierung verdanken wir Ludger Kühnhardt. So die Übersetzung Peter Landmanns zu „tēs Helládos paídeusis“. Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Griechisch-Deutsch. Übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterung versehen von Georg Peter Landmann, Teil I, Zürich 1993, Buch II, Kap. 41, S. 240f. (E-Book-Ausg.) Allerdings setzen sowohl Athener als auch Spartaner schon vor dem Peloponnesischen Krieg ihnen genehme Ordnungen (Demokratie bzw. Oligarchie) in den Poleis ihres Machbereichs durch. Vgl. Wolfgang Will, Herodot und Thukydides. Die Geburt der Geschichte, München 2015, S. 133f., und auch den Kommentar zum Epitaphios des Perikles ebd., S. 135-138. Jochen Bleicken, Die athenische Demokratie, 3. Aufl., Paderborn 1991, S. 381. Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1: Der Zauber Platons, 7. Aufl., Tübingen 1992 (UTB, 1742) [EA 1957], S. 218. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass Popper auch den Epitaphios des Perikles gleichsam als frühe Urkunde seines eigenen Denkens ausführlich zitiert und in einem tendenziell universalistischen Sinne ausdeutet. Vgl. ebd., 221-232.
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Ideale in die Geschichte geschuldet. Athen praktizierte an der Spitze des reichsähnlichen Systems des Attisch-Delischen Seebundes knallhart partikularistische Interessen- und Machtpolitik. Imperium und Partikularismus konnten offenbar durchaus miteinander harmonieren.45 Braucht die liberale Demokratie heute einen Anspruch auf universale Geltung, um bestehen zu können? Anders gewendet: Ist eine post-universalistische Demokratie denkbar?46 Vielleicht kann ihr der prä-universalistische Epitaphios des Perikles doch eine Inspirationsquelle sein: Warum sollen Menschen nicht in ihrer Polis, das heißt ohne jeden Anspruch auf universale Geltung und ohne jeden Missionarismus nach außen, einfach deshalb nach freiheitlich-demokratischen Regeln zusammenleben und andere als ihresgleichen behandeln, weil es ihnen so und nicht anders gefällt? Einen anderen, nicht post-universalistischen, sondern einem gemäßigten Universalismus verpflichteten Weg hat der französische Ideenhistoriker Pierre Rosanvallon vorgeschlagen: Er plädiert für eine Historisierung der Demokratie, die sich dann nicht mehr unter dem Banner eines „geschlossenen Demokratieuniversalismus“ („universalisme démocratique clos“) präsentierte, sondern in ihrer Prozesshaftigkeit, ihren Spannungen und Widersprüchen sichtbar werde – beginnend mit der alles andere als einfachen Frage, wer oder was überhaupt der démos sei, der in der Demokratie herrschen solle.47 Dies ermögliche einen neuen, problembewussten Universalismus, dessen Träger sich als „Lehrlinge in Sachen Demokratie“ verstünden und sich auf der Basis der Gleichheit mit Angehörigen anderer Nationen verständigen könnten.48 45 Zu Athen als Musterbeispiel „interventionsgezwungener“ imperialer Herrschaft vgl. Herfried Münkler, Imperien, S. 30-34 (mit einer Interpretation des berühmten Melierdialogs bei Thukydides als Beispielfall für „imperialen Interventionszwang“); zum Seebund als reichsähnlicher Struktur: Ernst Baltrusch, Außenpolitik, Bünde und Reichsbildung in der Antike, München 2008 (Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike, 7), S. 48-51. 46 Diese Frage stellte jüngst angesichts der Krise des demokratisch-liberalen Grundkonsenses in den USA der amerikanische Althistoriker Josiah Ober, Demopolis – oder was ist Demokratie? Aus dem Englischen von Karin Schuler und Andreas Thomsen, Darmstadt 2017. In seinem Versuch, eine nicht auf den Liberalismus festgelegte „Kerndemokratie“ zu definieren, geht er von einem sehr amerikanischen Liberalismusbegriff aus, der nicht auf die Begrenzung staatlicher Zugriffsmöglichkeiten abstellt, sondern im Gegenteil eher auf die Umsetzung universalistischer Positionen durch einen vielfältig intervenierenden Staat. 47 Pierre Rosanvallon, L’universalisme démocratique: histoire et problèmes, La Vie des idées, 17 décembre 2007, zit. nach URL: http://www.laviedesidees.fr/L-univers alisme-democratique.html [1.8.2018]. 48 Ebd.
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In gewisser Weise verschiebt allerdings auch Rosanvallons gemäßigter Universalismus nur das Kernproblem, da er ja nicht umhinkommt, letztlich in klassisch universalistischer Manier allen Menschen den Wunsch nach einer demokratischen Organisationsform für ihr Gemeinwesen zu unterstellen. Ist dies möglich? Vielleicht kann man tatsächlich von einem universalen Wunsch nach Demokratie ausgehen, wenn man ihre Grundfunktion so allgemein und weit (dabei aber nicht trivial) definiert, wie dies Karl Popper vorgeschlagen hat: Demokratie bedeutet in seiner Wahrnehmung nicht notwendigerweise die Herrschaft der politischen Vernunft, sondern etwas Grundlegenderes: Sie bietet in all ihrer Unvollkommenheit einen wirksamen Schutz vor Tyrannei, der vor allem durch die Möglichkeit des institutionalisierten, gewaltfreien Austauschs der Regierenden gewährleistet wird.49 Dank Fast alle der in diesem Band versammelten Aufsätze sind aus einer Ringvorlesung an der Universität Bonn hervorgegangen, die im Wintersemester 2016/17 unter dem Titel der vorliegenden Buchpublikation stattfand.50 Diese Vortragsreihe war selbst der öffentliche Teil einer intensiven Zusammenarbeit im Bonner Arbeitskreis „Universalismen Genese – Struktur – Konflikt“, dessen Gründung durch eine Initiative des Dekans Andreas Bartels zu „Normativität“ als Querschnittsthema der Philosophischen Fakultät angeregt worden war. Leider ist es uns nicht gelungen, die interdisziplinäre Zusammenarbeit wie angestrebt im Rahmen einer DFG-Forschergruppe zu verstetigen. An den Diskussionen des Arbeitskreises, die in den vorliegenden Band eingeflossen sind, waren neben den Autoren in unterschiedlicher Weise folgende Personen beteiligt, denen wir an dieser Stelle herzlich danken möchten: Andreas Bartels, Matthias Becher, Stephan Coner49 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft, S. 149f. Für Ober ist die Abwehr von Tyrannei ebenfalls das entscheidende Leistungsmerkmal seiner „Kerndemokratie“. Vgl. Ober, Demopolis, S. 111f. und passim. 50 Eine Ausnahme bilden die später aufgenommenen Beiträge von Judith Pfeiffer und Mahir Tokatlı. Für hier nicht in Aufsatzform verfügbare Vorträge im Rahmen der Ringvorlesung danken wir Almut Höfert und Tilman Mayer, für die Teilnahme an einer abschließenden Podiumsdiskussion Patrick Leusch, Valerij Ljubin, Barbara Lochbihler, Peter-Christian Müller-Graff und Egon Ramms, für die Ausrichtung derselben der Bonner Akademie für Forschung und Lehre Praktischer Politik (BAPP). Das studentische Tutorium zur Ringvorlesung hat dankenswerterweise Gabriel Rolfes betreut.
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mann, Markus Gabriel, Dorothée Goetze, Andreas Heinemann-Grüder, Almut Höfert, Holger Impekoven, Şevket Küçükhüseyin, Ludger Kühnhardt, Tilman Mayer, Ulrike Pag, Johannes Paulmann, Eugenio Riversi, Christine Schirrmacher, Jürgen Peter Schmied, Frank Schorkopf, Rudolf Stichweh, Kati Wassmann sowie die uns namentlich nicht bekannten Gutachter der DFG, deren Stellungnahmen uns in Auszügen vorlagen. Für die organisatorische und redaktionelle Unterstützung der Arbeit dieses Kreises danken wir Magdalena Kämmerling, James Krull, Victor Henri Jaeschke, Sandra Müller und Susanne Koch. Für systematische und sehr engagierte Hilfe beim Korrekturlesen und bei der formalen Vereinheitlichung der hier abgedruckten Beiträge sowie für sinnvolle Verbesserungsvorschläge und für Mitwirkung an der Organisation des Publikationsprozesses gilt unser Dank Victor Henri Jaeschke und James Krull, für ergänzende Korrekturunterstützung Tim Raab und Richard Froitzheim. Nicht zuletzt möchten wir auch sehr dankbar die hervorragende und unkomplizierte Betreuung des Projekts durch den Verlag erwähnen. Die Herausgeber Quellen- und Literaturverzeichnis Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, deutsche Fassung erstmals erschienen 1955, 11. Aufl., München 2006. Badel, Christophe, Introduction. Les modèles impériaux dans l’Antiquité, in: Dialogues d'histoire ancienne. Supplément n°5, 2011, S. 9-25, DOI: 10.3406/ dha.2011.3491, zit. nach URL: http://www.persee.fr/doc/dha_2108-1433_2011_s up_5_1_3491 [31.7.2018]. Badiou, Paul, Saint Paul, La fondation de l’universalisme, Paris 2014 (Editions Quadrige, EA 1997). Baltrusch, Ernst, Außenpolitik, Bünde und Reichsbildung in der Antike, München 2008 (Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike, 7). Bleicken, Jochen, Die athenische Demokratie, 3. Aufl., Paderborn 1991. Bosbach, Franz, Art. „Universalmonarchie“, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit Online (digital 2014), zit. nach URL: dx.doi.org/10.1163/2352-0248 _edn_a4452000 [21.109.2018]. Brie, André, Russland, die NATO und die Europäische Union, in: Peter Brandt (Hg.), Der große Nachbar im Osten. Beiträge zur Geschichte, zur Verfassung und zu den Außenbeziehungen Russlands, Berlin 2012, S. 161-174.
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Teil I: Konzepte und Strukturen
Universalismen – Partikularismen. Zur Kultursoziologie von Geltungsansprüchen Clemens Albrecht
Die Französische Revolution ist nicht beendet. Sie lässt sich auch nicht beenden, weil sie Ideen in die Welt gesetzt hat, die eigendynamisch fortwirken. Diese Diagnose eint so verschiedene Zeitgenossen wie Auguste Comte und Alexis de Tocqueville. Während der Chiliastiker Comte, 1798 geboren, daran glaubt, dass im positiven Zeitalter der menschlichen Geistesentwicklung die Wissenschaft alsbald für die richtige Ordnung der Gesellschaft sorgen werde, traut der Skeptiker Tocqueville, 1805 geboren, nur einem vorsichtigen Arrangement politischer Institutionen zu, die unheilvollen Seiten der sozialen Dynamik unter Kontrolle zu halten. Beide gehen davon aus, dass die Idee der Gleichheit als Perpetuum mobile eines ständig erneuerten Erwartungshorizontes künftige Entwicklungen vorantreiben werde, die beim gefühlsinnigen Gründer der „Religion de l’Humanité“ Comte durch Wissenschaft geordnet, beim scharfsichtigen Analytiker der amerikanischen Demokratie Tocqueville mit einem Maximum an Freiheit vereint werden sollen. Die Gleichheitsidee gehört zu den wirkmächtigsten Universalismen der europäischen Neuzeit. Sie entfaltet sich von Anfang an in einem dynamischen Spannungsverhältnis mit Partikularismen, das weitaus komplexer ist als deren bloße Ablösung. Bei dem Saint-Simon-Schüler Comte zeigt sich dies in der Bildung einer Elite, die die Gleichheit der Menschheit herbeiführen soll und dabei zur neuen Ungleichheit zwischen clercs und peuple, zwischen Funktionären des Fortschritts und einer noch uneinsichtigen Gefolgschaft führt. Tocqueville dagegen unterscheidet ein Gleichheitsstreben, das zur meritokratischen Differenz führt, indem es zur individuellen Leistung auffordert, von einem entarteten, das die Schwachen reizt, die Starken auf ihre Stufe herunterzuziehen.1 Aus der strukturellen Parallelität zwischen optimistischer Fortschrittserwartung und skeptischer Fortschrittsbilanzierung, zwischen dem Universa1 Vgl. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Bd. 1, Zürich 1987, S. 81; ein Nachfahre: Henry Kissinger, The Limits of Universalism, in: The New Criterion 30,10 (2012), S. 21-23.
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Clemens Albrecht
lismus der Gleichheit und dem Universalismus der Differenz (Johannes Weiß)2 kann man folgern, dass Universalismen sich in einem dialektischen Spannungsverhältnis zu Partikularismen entfalten: Einerseits entstehen sie aus partikularistischen Gruppierungen heraus und sind eng verbunden mit deren ideellen und materiellen Interessen, ihren Weltdeutungen und Sinnmustern. Andererseits führt die Anerkennung universalistischer Geltungsansprüche intern zu neuen Gruppenbildungen, die sich organisieren und damit auch partikularistische Ideen und Interessen ausbilden. Extern können als Folge der Mission bislang partikularistische Geltungsansprüche in Gegenuniversalismen transformiert werden, wie sich etwa die europäischen Nationalbewegungen als Reaktion auf die napoleonische Expansion überhaupt erst formiert haben. Um den Verschlingungszusammenhang zwischen Partikularismen und Universalismen verdeutlichen zu können, soll im Folgenden erstens am Beispiel von Babeufs „Verschwörung der Gleichen“ die dialektische Grundfigur an einem klassischen, neuzeitlich-europäischen Universalismus skizziert werden, um zweitens einige grundlegende Merkmale von Universalismen herauszuarbeiten. Aus der religionshistorischen Genese des Begriffspaares sollen drittens soziale Entstehungskonstellationen von Universalismen abgeleitet werden, um viertens einen theoretischen Rahmen vorzuschlagen, in dem das Phänomen soziologisch beschrieben werden kann. Daraus leitet sich dann fünftens ein Forschungsprogramm ab. 1. Die Dialektik der Gleichheit „Seit undenklichen Zeiten wiederholt man uns heuchlerisch: die Menschen sind gleich, und seit undenklichen Zeiten lastet die erniedrigendste und größte Ungleichheit schamlos auf dem Menschengeschlecht. Seit es zivilisierte Gesellschaften gibt, wird das schönste Erbteil des Menschen zwar widerspruchslos anerkannt, doch konnte es nicht ein einziges Mal Wirklichkeit werden: die Gleichheit war nichts als eine schöne, ergebnislose Fiktion des Gesetzes. Und heute, wo sie lauter gefordert wird, antwortet man uns: Schweigt, Elende! Die faktische Gleichheit ist nur ein Hirngespinst. Begnügt euch mit der bedingten Gleichheit: ihr seid alle gleich vor dem Gesetz. Kanaille, was willst du noch mehr? Was wir noch mehr wollen? Ge-
2 Vgl. Johannes Weiß, Universalismus der Gleichheit, Universalismus der Differenz, in: Ilja Srubar / Joachim Renn / Ulrich Wenzel (Hg.), Kultur vergleichen. Sozialwissenschaftliche Grundlagen und Kontroversen, Wiesbaden 2005, S. 79-89.
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Universalismen – Partikularismen. Zur Kultursoziologie von Geltungsansprüchen
setzgeber, Herrschende, Grundbesitzer, hört ihr jetzt einmal zu! … Wir wollen nicht nur diese Gleichheit, die in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte geschrieben steht, wir verlangen die Gleichheit in unserer Mitte, unter dem Dach unserer Häuser. Für sie sind wir zu allem bereit, wir sind bereit, reinen Tisch zu machen, um uns an sie allein zu halten. Mögen notfalls alle Künste zugrunde gehen, wenn uns nur die wirkliche Gleichheit erhalten bleibt!“3 Dieser Auszug aus dem Manifeste des Égaux zeigt die Dynamik, in der sich universalistische Ideen entfalten können, indem sie ihren Geltungsanspruch generalisieren. Es wurde 1796 von Sylvain Maréchal verfasst und von Grachus Babeuf in eine politische Programmatik umgesetzt, die als Verschwörung der Gleichen in die Geschichte der Französischen Revolution eingegangen ist. Kern des Manifestes ist die Forderung, die bereits anerkannte Gleichheit vor dem Gesetz auf eine wirkliche Gleichheit, die auch die Lebensumstände umfasst, auszudehnen – um zumindest die Ungleichheiten zu beseitigen, die in den Augen der Verschwörer die verwerflichsten waren. Babeuf gehörte nicht zu den Radikalen in der Französischen Revolution, er vertrat vergleichsweise vernünftige politische Konzepte. Er stammte aus einfachen Verhältnissen in der Picardie und ernährte sich und seine Familie vor der Revolution als feudiste, das heißt als Verwalter von Rechtsdokumenten, mit denen der unter absolutistischem Druck stehende Adel seine alten Rechte auf diesen oder jenen Landstrich und dessen Ausbeutung nachwies. Aus dieser Erfahrung schöpfte Babeuf seine Ideen, die er in verschiedenen Zeitschriften nach 1789 allmählich entwickelte. Kern ist die Gleichheitsidee, die sich, so Babeuf mit Rousseau, eben nur verwirklichen lassen, indem die bestehenden Eigentumsverhältnisse revolutioniert würden. Zuerst wollte Babeuf das produktive Land gleichmäßig an alle Franzosen verteilen. Als er später bemerkte, dass der Produktivitätsfortschritt in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nur durch Konzentration zu bewerkstelligen ist, ging er dazu über, Gemeineigentum zu propagieren. Seine Ideen zielten auf die Gründung von Gemeinschaften, die man heute als Landkommunen bezeichnen würde. Er reformulierte auch die naturrechtliche Basis des Egalitarismus, indem er ihn nicht mehr auf fiktive Rechte, sondern auf die
3 Gracchus Babeuf, Die Verschwörung für die Gleichheit. Rede über die Legitimität des Widerstands, Hamburg 1988, S. 103-105.
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von Natur aus gleichen Bedürfnisse und Fähigkeiten aller Menschen bezog. Deshalb zählt Babeuf heute zu den Klassikern des Sozialismus.4 Diese neue Form der Gleichheitsforderung entfaltete sich 1789 jedoch aus einer revolutionären Bewegung heraus, und damit mischt sich die Logik der sozialen Bewegung mit der Logik ideeller Expansion, und beide zusammen entwickeln eine dialektische Grundfigur, die alle universalistischen Bewegungen kennzeichnet. Inwiefern waren Babeufs Gleichheitsvorstellungen neu? Der Antike war der Begriff einer universell gedachten sozialen Egalität fremd. Gleichheit bezog sich nur auf diejenigen Gruppen, die überhaupt gleich sein konnten: Sklaven unter Sklaven, Freie unter Freien, Bürger unter Bürgern. Deshalb bindet sich in der klassischen politischen Literatur der Begriff der Gleichheit nicht an das Soziale, sondern an das Recht. ‚Rechtsgleichheit‘ taucht als Verfassungsbegriff zum ersten Mal auf, als in Griechenland um 500 v. Chr. die Erweiterung der politischen Rechte nichtadeliger Volksschichten zu organisieren war. Aristoteles bezog den Begriff später auf Gerechtigkeit, indem er zwei Arten unterschied: Ungerecht ist, wenn Gleiche Ungleiches und wenn Ungleiche Gleiches erhalten.5 Diese Form der normativen Kopplung ist sozial flexibel, weil es mitnichten ungerecht ist, Sklaven von bestimmten Gütern fernzuhalten, insofern man sie als verschieden von den Freien betrachtet. Und als Sklaven haben sie auch nur Anspruch auf diejenigen Rechte, die eben Sklaven zustehen oder nicht zustehen. Im römischen Recht benennt das ius aequum dann nur die Gleichheit römischer Bürger vor dem Gesetz.6 Das ist weit von unseren universalistischen Gleichheitsvorstellungen entfernt. Die moderne Gleichheitsdiskussion setzte erst mit dem aufklärerischen Naturrecht ein. Montesquieus These, dass im Naturzustand alle Menschen gleich sind und die Gesellschaft sie verschieden machte, wird 1775 von Rousseau im zweiten Discours kulturkritisch neu interpretiert. Auch Rousseau unterscheidet zunächst physische Verschiedenheit von der durch Konventionen festgelegten Ungleichheit, um dann nach der Quelle dieser Ungleichheit zu fragen. Der Mensch im Naturzustand (ob Rousseau das genetisch oder hypothetisch meint, bleibt offen7) lebe allein der Befrie-
4 Vgl. Ralf Bambach, Gracchus Babeuf (1760-1797), in: Walter Euchner (Hg.), Klassiker des Sozialismus, Bd. 1, München 1991, S. 37-49. 5 Vgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, 4. Aufl., München 1981, 1131a. 6 Vgl. Weyma Lübbe, Rechtsgleichheit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, S. 272-278. 7 Vgl. Kurt Weigand, Einleitung: Rousseaus negative Historik, in: Jean-Jacques Rousseau, Schriften zur Kulturkritik, 4. Aufl., Hamburg 1983, S. LXXVI f.
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digung seiner natürlichen Bedürfnisse und erhalte sich friedlich in physisch gesunder Konvention. Den Übergang zum Gesellschaftszustand bindet Rousseau dann an die Erfindung des Privateigentums: „Le premier qui ayant enclos un terrain s’avisa de dire, Ceci est à moi, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile. Que de crimes, de guerres, de meurtres, que de misères et d’horreurs n’eût point épargnés au genre humain celui qui, arrachant les pieux ou comblant le fossé, eût crié à ses semblables: ‚Gardez-vous d’écouter cet imposteur; vous êtes perdus si vous oubliez que les fruits sont à tous, et que la terre n’est à personne!‘“8 Der Ursprung sozialer Ungleichheit durch Erfindung des Privateigentums – mit dieser Konstruktion weitet sich der naturrechtliche Gleichheitsbegriff auf die gesamte Lebensrealität des Menschen aus. Gab es die Gleichheitsvorstellung bislang nur partikularistisch für bestimmte soziale Gruppen vor dem Recht oder vor Gott, so umfasst sie in ihrer naturrechtlichen Begründung durch abstrakte Bezüge auf Güter unterschiedslos alle Menschen in fundamentalen Aspekten ihres Seins: den Bedürfnissen. Der Gleichheitsbegriff sprengt gleichsam seine Fesseln, er wird zu einer universalen Forderung. Sozial ungleich ist nun alles, der gesamte Gesellschaftszustand des Menschen. Gleichheit, universalistisch gedacht – das hat Tocqueville früh und scharfsinnig bemerkt9 – findet weder eine formal-pragmatische Grundlage im Rechtsbegriff noch eine soziale Realität, die zufriedenstellen könnte. Denn universale Ideale sind unersättlich: Es gibt keinen denkenswerten Zustand der Gleichheit, der nicht noch gleicher, keinen der Freiheit, der nicht noch freier gedacht werden kann. Erst jetzt wird soziale (d.h. alle Lebensbereiche umfassende) Ungleichheit zum dauernden Signum des menschlichen Lebens und zum andauernden Grund des Leidens an jeder seiner Formen. Der Gleichheitsgedanke setzt in der Neuzeit unzählige Forschungsindustrien in Gange, er öffnet die Augen für Verhältnisse, denen man früher völlig unproblematisch gegenüberstanden hatte – und umgekehrt verschließt er das Verständnis für ganze Ordnungen sozialer Wirklichkeit, etwa von Sklavenhaltergesellschaften. Der französische Indologe Louis Dumont etwa zeigt, dass wir aufgrund des tief in unserem normativen Weltbild verankerten egalitären Individualismus nur mit komplizierten Ver-
8 Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes, in: Schriften zur Kulturkritik, 4. Aufl., Hamburg 1983, S. 190-192. 9 Vgl. Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, S. 141-143.
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mittlungsprozessen ein Verständnis für die indische Kastengesellschaft, das heißt einen legitim stratifizierten sozialen Raum, entwickeln könnten, in dem die Chancen des Einzelnen dauerhaft an die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen gekoppelt ist.10 In der westlichen Welt – und weit darüber hinaus – findet das Prinzip der Egalität keine natürlichen Grenzen: Hatte noch Babeuf zwei Gruppen grundsätzlich von seiner Forderung nach Gleichheit ausgeschlossen: Frauen und Kinder, so zeugt die Emanzipationsbewegung von der Unhaltbarkeit der Geschlechtergrenze für Ungleichheit, bis in die Gesetzgebung unserer Tage hinein, wenn etwa in den USA Wickeltische als baulicher Bestandteil auch von Herrentoiletten vorgeschrieben werden, und die Forderung, Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen, zeugt von der ideell schwer begründbaren Grenze im Gleichheitsanspruch und wird, realisiert, wiederum soziale Entwicklungen auslösen. Wie auch immer man neue oder alte Grenzen zu ziehen versucht – über Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Klassenzugehörigkeit, Territorium – überall finden sich Gruppen von Aktivisten, die Babeufs Verschwörung der Gleichen fortsetzen, etwa im Netzwerk No Border, das im Namen einer universellen Gleichheit aller Menschen die Legitimität von Staaten bestreitet, über Staatsbürgerschaft und Grenzen Reisefreiheit einzuschränken. Mit der globalen humanen Perspektive ist der Kampf um den Universalismus Gleichheit aber nicht an ein Ende gekommen. Michael Tomasello und seiner Leipziger Forschungsgruppe scheint es gelungen zu sein, experimentell nachzuweisen, dass auch höhere Primaten – Schimpansen, Bonobos, Orang Utas – über eine „theory of mind“ verfügen, an der man das einzig verbliebene Tier-Mensch-Unterscheidungsmerkmal festgemacht hatte.11 Betrieb die Verhaltensforschung des späten 19. Jahrhunderts eine Egalisierungszoologie – der Mensch als dicker, emporgekämpfter Affe der Darwin-Ära, wie es Gottfried Benn einmal formulierte12 –, so ist die neuere Primatenforschung eine Egalisierungsanthropologie, indem sie nachweist, dass auch die Primaten Moral, Ethik, Diplomatie, Gefühle und jetzt eben
10 Vgl. Louis Dumont, Gesellschaft in Indien. Die Soziologie des Kastenwesens, Wien 1976, S. 18; grundlegender in dieser Argumentation: Louis Dumont, Individualismus. Zur Ideologie der Moderne, Frankfurt a.M. / New York 1991. 11 Vgl. Helmut Mayer, Wieder nichts, was uns Menschen ausmacht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 244 vom 19.10.2016, S. N 2; vgl. Manuel Schrepfer, Ich weiß, was du meinst! Theory of Mind, Sprache und kognitive Entwicklung, München 2013. 12 Vgl. Gottfried Benn, Die neue literarische Saison, in: Sämtliche Werke, Bd. III, Stuttgart 1987, S. 336.
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auch Intentionalität haben.13 Die naheliegende ethische Forderung der Human Animal Studies14 lautet deshalb: Tierrechte in die Verfassung – zunächst nur für Primaten, aber dann ist die schiefe Ebene zur Bewahrung allen Lebens bereits absehbar: Halbaffen, Säugetiere – wer wollte die Grenze ziehen und sie halten? 2. Universalismen zwischen Genese und Geltung Universalismen können als Sinnfiguren bestimmt werden, deren normativer Geltungsanspruch über ihre Trägergruppe in einen unbestimmten sozialen Raum hinausreicht. Sie sind keine Normen, aber nicht selten Grundlagen von Normensystemen. Partikularismen dagegen begrenzen ihren Geltungsanspruch auf eine benennbare Gruppe. Universalismen prägen unsere Weltdeutung, unser Leben, unsere Institutionen, unsere moralischen Gefühle. Sie beanspruchen und bekommen Geltung, meist eine vorreflexive, „automatische“15 (Hermann Schmitz). Universalismen sind Rechtsgrundlagen in einem fundamentalen Sinne,16 sie definieren, was skandalisierbar ist. Sie setzen eine soziale Bewegung nach der anderen in Gang, ja können als Motor der Moderne betrachtet werden, weil sie Anlass geben für ein dauerhaftes, nicht zu befriedigendes Ungenügen an der Wirklichkeit, an jeder Wirklichkeit. Wir haben es dabei immer mit einer komplizierten Gemengelage aus Partikularismen und Universalismen zu tun. Denn stets erwachsen Universalismen aus den historischen Erfahrungen und dem normativen Konsens einzelner Gruppen oder Trägerschichten. Zwar kann es in bestimmten Fällen gelingen, andere Gruppen zu integrieren (zu überzeugen, zu missionieren, häufig einfach: zu erobern), nicht selten aber entwickeln sich gerade an den kulturspezifischen Differenzen Gegenuniversalismen, die dann in Geltungskonkurrenz treten (asiatische Menschenrechte).17 13 Vgl. als pars pro toto: Frans de Waal, Der gute Affe. Der Ursprung von Recht und Unrecht bei Menschen und anderen Tieren, München 2000. 14 Vgl. Magnus Klaue, Der Doktor und das liebe Vieh, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 4, 6.1.2016, S. N 4. 15 Hermann Schmitz, Geltung, Rostocker Phänomenologische Manuskripte, H. 10, Rostock 2010, S. 7. 16 Vgl. Sibylle Tönnies, Der Dimorphismus der Wahrheit. Universalismus und Relativismus in der Rechtsphilosophie, Opladen 1992; Dies., Der westliche Universalismus. Eine Verteidigung klassischer Positionen, Opladen 1995. 17 Vgl. zu dieser Debatte Hans Maier, Wie universal sind die Menschenrechte? Freiburg 1997; Thomas Hoppe, Menschenrechte im Spannungsfeld von Freiheit,
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Jede Frage nach Universalismen berührt Geltungsansprüche, auch eigene.18 Erkenntnis über Genese relativiert Geltung, zumal dort, wo sie auf konkurrierende Ansprüche gerichtet ist. Die Wissenschaft ist ein zentraler Akteur in diesem Feld, sie kann Universalismen legitimieren oder delegitimieren und in Partikularismen rücktransferieren. Hinter dem Geltungsanspruch der Wissenschaft steckt jedoch ein eigener Universalismus, das Primat rationaler Erkenntnis vor religiöser Weltdeutung oder Alltagswissen. Insofern wird der Gegensatz auf einer höheren Ebene reproduziert. Hier wie auch in anderen Kontexten entwickelt sich das Verhältnis Universalismus – Partikularismus stets dialektisch.19 Nicht selten legt die Wissenschaft, bewusst oder unbewusst, ihrem Erkenntnisinteresse die Weltsicht und die Normen spezifischer sozialer Gruppen oder Bewegungen zugrunde (Marxismus, gender studies, postcolonial studies), die offen in der Fragestellung angelegt, aber auch bis zur Unkenntlichkeit in ihre grundlegende Begriffe eingelassen sein können: die ‚Natur‘ als Säkularisat der Schöpfung, deren Immanenz bewiesen wird, die ‚Religion‘ als vom Alltagsleben trennbarer, rituell institutionalisierter Bestand an dogmatischen Überzeugungen, die aufgeklärt werden können, die ‚Gesellschaft‘ als Verband freier und gleicher Individuen, deren fortdauernde soziale Ungleichheit untersucht wird, um Abhilfe zu schaffen. Insofern operiert jede Untersuchung von Universalismen und ihren Geltungsansprüchen selbst in einem universalistischen Geltungsraum, der nur in Teilen reflektiert werden kann. Dies ist keine neue Einsicht: Geschichtsforschung sah sich stets als Teil der Geschichte, Gesellschaftstheorie als Beobachtung in der Gesellschaft, und die Institutionentheorie klärt darüber auf, warum nach jeder Institutionenkritik Unaufklärbares bestehen bleibt. Es ist unwahrscheinlich, dass wir aus dieser Lage in absehbarer Zukunft heraus- und in ein Reich der posthistoire eintreten, das ohne Geltungsansprüche auskommt; denn schon dies lässt sich nur als universalistischer Geltungsanspruch formulieren. Insofern bietet eine Evolutionstheorie (etwa: Differenzierungs-, Modernisierungs- oder Globalisierungstheorie) keinen fruchtbaren Ansatz, um das komplexe Verhältnis in all seinen Entwick-
Gleichheit und Solidarität. Grundlagen eines internationalen Ethos zwischen universalem Geltungsanspruch und Partikularismusverdacht, Theologie und Frieden Bd. 17, Stuttgart 1998. 18 Vgl. dazu grundsätzlich Michael Walzer, Zwei Arten des Universalismus, in: Babylon 7, 1990, S. 7-25. 19 Vgl. Robert Spaemann, Universalismus oder Eurozentrismus, in: Petra Braitling / Walter Reese-Schäfer (Hg.), Universalismus, Nationalismus und die neue Einheit der Deutschen, Frankfurt a.M. 1991, S. 82f.
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lungsmöglichkeiten, Retardierungen, funktionalen Äquivalenten und Wechselwirkungen ausloten zu können, da sie alle mehr oder weniger teleologisch auf Einheit ausgerichtet sind – wissenssoziologisch beobachtet gerade die Funktion haben, gültige von ungültigen Universalismen zu trennen, indem sie entweder Vergangenheit (Religion) oder Zukunft (Wissenschaft) zugeordnet werden. Hier brauchen wir den offenen Ansatz einer klassischen Geschichtsforschung, wie ihn Shmuel Eisenstadt im Konzept der multiplen Moderne verfolgt.20 Denn die Genese der Moderne ist nicht als bloße Ausbreitung eines mehr oder weniger homogenen Prinzips zu verstehen, sondern im Sinne der histoire croisée durch stete Wechselwirkung mit selbstproduzierten Wirklichkeiten. Insofern muss eine soziologische Analyse von Universalismen vom Konzept der Gesellschaftsgeschichte absehen, das die treibenden Kräfte in binnengesellschaftlichen Differenzierungsprozessen sucht, und systematisch die komplexen Beziehungsmuster zwischen Gesellschaften untersuchen, sich also mit Kontakt, Konflikt, Vermittlung, Vermischung beschäftigen, kurz: Weltgeschichte betreiben.21 Dies wird plausibel, wenn man sich die religionswissenschaftliche Genese des Paares Universalismus / Partikularismus anschaut. 3. Entstehungskonstellationen von Universalismen Das Begriffspaar ‚Universalismus‘ / ‚Partikularismus‘ stammt aus der Religionswissenschaft und benennt den Gegensatz zwischen Volks- und Universalreligionen.22 Mit seiner Hilfe wurde ein neuer Typ von Religionen erfasst, der in der Achsenzeit entstanden ist. „In diesem Zeitalter wurden die Grundkategorien hervorgebracht, in denen wir bis heute denken, und es wurden die Ansätze der Weltreligionen geschaffen, aus denen die Menschen bis heute leben. In jedem Sinne wurde der Schritt ins Universale ge-
20 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000; vgl. Ders., Multiple Modernen im Zeitalter der Globalisierung, in: Thomas Schwinn (Hg.), Die Vielfalt und Einheit der Moderne, Wiesbaden 2006, S. 37-62. 21 Vgl. Dazu programmatisch: Friedrich H. Tenbruck, Gesellschaftsgeschichte oder Weltgeschichte?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41,3 (1989), S. 417-439. 22 Vgl. Redaktion, Universalismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Darmstadt 2001, S. 204-207.
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tan.“23 Sie unterscheiden sich von den Volksreligionen durch einen universalen Geltungsanspruch, der die Herkunftsgruppe prinzipiell überschreitet. Das Alte Testament ist von diesem Gegensatz durchzogen, weil der Bundesgedanke partikularistisch ist, während in erster Linie die Jahwisten einen monotheistischen Geltungsanspruch formulierten.24 Die Vermittlung zwischen beiden ist das Konzept des „auserwählten Volkes“. Im Neuen Testament kann man die Trennungslinie zwischen der Jerusalemer Urgemeinde und Paulus’ Heidenmission ziehen.25 Heute hat sich in der Forschung die Gegenüberstellung von primären und sekundären Religionen eingebürgert.26 Vor allem in Bezug auf Jan Assmanns These von der mosaischen Unterscheidung und dem Einzug der Wahrheitsfrage in die Religion durch den universalen Anspruch des biblischen Monotheismus ist – bei allem Streit über die historischen Details der Genese und der Zuspitzung der Debatte auf die Gewaltfrage27 – ein Konsens entstanden, der zwei Typen von antiken Religionen unterscheidet: polytheistische, mythengebundene Systeme partikularistischer Lokalgötter, die weitgehend mündlich tradiert und ritualgebunden sind, von den universalistischen Monotheismen mit ihren schriftgebundenen, rationalen Theologien. Diese Debatte kann hier nicht ausführlich behandelt werden, aber in ihrem Kontext hat Jan Assmann einen weiteren Gedanken entwickelt, der soziologisch fruchtbar ist: die Analyse der sozialen und politischen Situation, aus der heraus die sekundären Religionen (als Beispiele der frühesten beobachtbaren Universalismen) entstanden sind.28 Folgt man der These, dass im Aton-Kult der ägyptischen Amarna-Periode eine der frühesten Formen des Monotheismus zu beobachten ist, so wird der Zusammenhang mit der Expansion des Neuen Reichs plausibel. Erstens war Ägypten durch die erfolgreiche militärische Expansion ver-
23 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 9. Aufl., München / Zürich 1983, S. 20f. 24 Vgl. zum folgenden: Gustav Mensching / Johannes Hempel / Walther Fuchs, Universalismus und Partikularismus, in: Kurt Galling (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Bd. 6, Tübingen 1986, Sp. 1159-1164. 25 Vgl. Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München 2002. 26 Vgl. Andreas Wagner, Primäre/sekundäre Religion und Bekenntnis-Religion als Thema der Religionsgeschichte, in: Ders. (Hg.), Primäre und sekundäre Religion als Kategorie der Religionsgeschichte des Alten Testaments, Berlin / New York 2006 (Beihefte der Zeitschrift für Alttestamentliche Wissenschaft 364), S. 3-20. 27 Vgl. Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München / Wien 2003. 28 Vgl. zum Folgenden: Jan Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000.
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schiedener Pharaonen nach Süden bis zum Sudan, nach Norden die gesamte Levante-Küste hinauf bis zum Reich der Mitanni (heute etwa türkische Grenze) expandiert. Es umfasste mithin eine ganze Reihe von Völkern, die nicht in der ägyptischen Tradition der kultischen Erneuerung des Kosmos standen, andere Sprachen hatten, anderen Kulten folgten; zweitens gab es einen intensiven Austausch mit den benachbarten Großreichen (vor allem: Babylonier und Hethiter) und einer Reihe von Stadtstaaten, die in wechselndem Abhängigkeitsverhältnis zu den Großreichen standen. Diese neue Konstellation der wachsenden politischen, ökonomischen und sozialen Verflechtung in Kleinasien lässt manche Historiker vom „Beginn der internationalen Beziehungen“ in der Amarna-Zeit sprechen.29 Auf der Grundlage dieser Entwicklung zeigt Assmann, wie zentrale politische Kategorien des ägyptischen Königtums im Aton-Kult theologisiert und gleichzeitig universalisiert werden, indem die politische, rechtliche und kosmologische Ordnung zu einer Einheit verschmilzt, deren Bestand an ihre Repräsentationsfigur gebunden ist: den Pharao und die Aufrechterhaltung der Ma’at.30 Sein Herrschaftsanspruch wird auf neue, universalistische Legitimitätsmuster umgestellt: den Aton-Kult; denn die Sonne geht über allen Völkern der Erde auf. Diese Konstellation bildet nicht zufällig die Ausgangssituation für die Entstehung eines universalistischen Hochgottglaubens. Denn die soziale Lage drängt durch Herrschaftssicherung nach innen im politischen Gefüge des Sakralkönigtums und Herrschaftskonkurrenz nach außen auf die Ausbildung eines Universalismus. 4. Theorie der Universalismen Der Gedanke, dass die Kontaktdichte zwischen lokalen Gruppen für die Entstehung von Universalismen konstitutiv ist, lässt sich soziologisch mit einer Figur plausibel machen, die Georg Simmel differenzierungstheoretisch entwickelt hat: die Kreuzung sozialer Kreise.31 Simmel zeigt, welche Bedeutung es für die Ausdifferenzierung von Innenlagen und für die persönliche Freiheit, kurz: für die Individualisierung hatte, als die Menschen aus der alleinigen Vergemeinschaftung in der Herkunftsgruppe entlassen 29 Vgl. Raymond Cohen / Raymond Westbrook (Eds.), Amarna Diplomacy. The Beginnings of International Relations, Baltimore 2000. 30 Vgl. Assmann, Herrschaft und Heil, S. 38-40. 31 Vgl. zum folgenden Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 6. Aufl., Berlin 1983, S. 305-307.
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und durch Handelsverbindungen, Zünfte, Bruderschaften und später dann auch Vereine in jene typisch moderne Situation der wechselnden Vergesellschaftung durch unterschiedliche Gruppen gerieten, die es ihnen erlaubt oder aufnötigt, unterschiedliche, ja teils widersprüchliche „Rollen“ (so später der soziologische Terminus) zu spielen. Je größer dabei die desintegrierenden Kräfte sind, die durch heterogene Anforderungen (Familie, Zunft, Gemeinde, Verein etc.) den Einzelnen fordern, desto stärker muss die individuelle Identität als Gegengewicht eine „Persönlichkeit“ ausbilden: der Kern des Individualisierungsprozesses. Dieser individualisierte Persönlichkeitsentwurf integriert nicht nur die bestehenden Rollen und bezieht sie auf den Kern der Ich-Identität, sondern auch alle potentiellen künftigen. Dieser Grundgedanke lässt sich auf Kollektive übertragen: Relativ isoliert lebende Stämme haben die Ausdrucksformen ihrer Identität niederschwellig institutionalisiert, meist im kollektiven Vollzug von Riten, bei denen kein eigener Reflexionsbedarf entsteht, weil die Zusammengehörigkeit sich aus dem kollektiven Handlungsvollzug von selbst ergibt.32 Je mehr solche Stämme jedoch mit anderen in Kontakt geraten, je mehr andere kultische Praxen, Sitten, Objektivationen beobachtet werden können, desto mehr geraten die eigenen unter Legitimationszwang, müssen begründet werden, und das Ergebnis solcher Begründungen nach innen und außen bildet dann „kollektive Identität“. Universalismen sind in diesem Sinne starke kollektive Identitäten und entstehen durch die Kreuzung kollektiver sozialer Kreise, durch Ausdehnung von Herrschaft, wachsende Vernetzung in Handelssystemen, Ausweitung von Verkehrsräumen sowie friedlichen oder kriegerischen Kontakt. Auf der Grundlage dieser Überlegungen lässt sich das Phänomen Universalismus begrifflich präziser fassen. Ich greife dabei auf eine eigene kultursoziologische Terminologie zurück, an der ich seit einigen Jahren arbeite:33 (1) Überall dort, wo Kultur (Überzeugungen, Weltverständnisse, Wertvorstellungen, Ideen, Ideologien und ihre Objektivationen) ihren Geltungsanspruch auf die soziale Trägergruppe begrenzt, ist in einer kongruenten Kultur die sozialstrukturelle und die kulturelle Einheit deckungsgleich mit ihrem performativen Ausdruck. (2) Im Gegensatz dazu steht der Begriff der repräsentativen Kultur. Er umfasst alle Überzeugungen, Weltverständnis32 Klassisch dazu: Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2014, S. 149-608; Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 5. Aufl., Wiesbaden 1986, S. 145-147. 33 Vgl. Clemens Albrecht, „Die Kunst Rembrandts, nicht die eines beliebigen Stümpers“. Georg Simmel als Philosoph der repräsentativen Kultur, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9, 2015, S. 23-40.
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se, Wertvorstellungen, Ideen, Ideologien und ihre Objektivationen, die einen Geltungsanspruch über ihre Trägergruppe hinaus stellen und das soziale Handeln beeinflussen, weil sie von anderen entweder aktiv geteilt oder passiv respektiert werden.34 Auf der Grundlage dieser Unterscheidung lässt sich der Gegensatz zwischen Universalismen und Partikularismen präziser beschreiben. Partikularismen sind (1) Formen kongruenter Kultur und (2) Formen repräsentativer Kultur, deren Geltungsanspruch sich an einen spezifischen Anderen (Gruppenadoption, aufgenommener Fremdling, eroberte Völker etc.) richtet. Universalismen sind Formen repräsentativer Kultur, die ihren Geltungsanspruch an einen generalisierten Anderen richten. Universalismen entstehen geschichtlich mit hoher Wahrscheinlichkeit dort, wo Gruppen (Völker, Stämme, Reiche) in einer solchen Intensität und Dichte mit anderen in Kontakt treten, dass sie Dritte antizipieren, mit denen sie noch nicht in Kontakt getreten sind. Dabei wird die Verunsicherung, die durch die Kreuzung kollektiver Kreise, das Erscheinen fremder Glaubensbestände, Praxen und Objektivationen entsteht, kompensiert durch eine ideelle Befestigung und Bestätigung der eigenen Formen als bewusst formulierter Ausdruck der Identität, deren Geltungsanspruch nun an alle potentiellen Anderen, eben an den generalisierten Anderen gerichtet werden. Gottes Gebote oder die Menschenrechte gelten für alle – auch für diejenigen, die keine Kenntnis von ihnen haben und die noch nicht in Kontakt getreten sind mit denen, die an den universalen Gott glauben oder von der Universalität der Menschenrechte überzeugt sind. Polytheistische Übersetzungsleistungen primärer Religionen (Astarte = Aphrodite)35 reichen bis zu einem feudalen Grad der politischen Integration aus: symbolische Unterwerfung, Tribut, militärische Dienstleistung, Handel, ansonsten bleiben die lokalen Sozialsysteme autonom. Im Kern begleiten sie also segmentäre Verknüpfungen. Sobald ein höherer Grad der Integration nötig wird (Vereinheitlichung von Kultus, Normen, Verwaltung, Militär etc.) entsteht der Universalismus als potentiell offenes Integrationssystem, dessen Geltung als Legitimitätsquelle kulturell internalisiert werden kann und damit weniger prekär ist als eine politische Herrschaft, die allein auf Macht als Zwangsapparat beruht.
34 Vgl. Friedrich H. Tenbruck, Repräsentative Kultur, in: Hans Haferkamp (Hg.), Sozialstruktur und Kultur, Frankfurt a.M. 1990, S. 20-53. 35 Vgl. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung, S. 32.
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5. Universalismen / Partikularismen: ein Forschungsprogramm Von dieser Grundlage aus lässt sich nun das Phänomen des Universalismus phänomenologisch auffächern. Im Folgenden sollen drei Dimensionen unterschieden werden, die hier nur stichwortartig angerissen sind. Sie stecken das Terrain des Forschungsfeldes aus systematischer Perspektive ab: Modi des Ablaufs universalistischer Bewegungen fragen zunächst nach den Entstehungskonstellationen, den Formen und Verdichtungen des Kontakts mit anderen Gruppen (Handel, militärische Expansion, Kolonialisierung etc.). Wie transformieren sich Partikularismen (lokale Kulte, Legitimierungsformen von Herrschaft) zu Universalismen? Welche Partikularismen sind überhaupt universalisierungsfähig? Dabei sind Begründungsaktualisierungen zentral: Wie werden Begründungsschemata an veränderte Zeitumstände, Konkurrenten, innere Plausibilitäten (neue Religionen, Glaubensverluste etc.) angepasst? Welche Formen der Geltungsdurchsetzung und -expansion lassen sich beobachten (militärisch, missionarisch, imperial etc.)? Entstehen Gegenuniversalismen? Denn gerade durch die Konfrontation mit Universalismen können Partikularismen ‚zum Bewusstsein ihrer selbst‘ kommen und sich universalistisch reformieren (deutsches und russisches Nationalbewusstsein durch die Konfrontation mit der napoleonischen Expansion; Entwicklung des Hinduismus in der Auseinandersetzung mit christlicher und muslimischer Mission; etc.). Schließlich wird die Frage nach der internen Entinstitutionalisierung wichtig, indem Universalismen etwa durch interne Kritik (‚Aufklärung‘) delegitimiert werden (europäisches Christentum, Kolonialismus), durch ein inneres Vakuum (Glaubensverlust) sanft abklingen oder dramatisch durch Krieg, Eroberung oder Gegenmission. Sie können sich repartikularisieren, indem delegitimierte Universalismen ihren Geltungsanspruch bewusst zurückfahren oder sich Nachfolgeuniversalismen unterordnen (Aufgabe des Missionsanspruchs im europäischen Christentum als Akzeptanz der Religionsfreiheit, Bestimmung der Menschenrechte als unsere Werte etc.). Modi der Organisation untersuchen, wie sich Universalismen institutionalisieren. Universalismen bedürfen gerade aufgrund ihrer höheren Dichte als rationalisierte, häufig verschriftlichte Sinnmuster einer spezialisierten Trägerelite (‚Intellektuelle‘). Welchen inneren Status hat diese Gruppe, welches Verhältnis zur politischen Herrschaft, welchen Institutionen verdankt sie ihre Autorität? Wie werden Universalismen mit konkreten Interessenlagen von Machtgruppen oder Herrschaftsgebilden verknüpft? Welche Widersprüche entstehen zwischen universalistischen Lehren und Herrschaftsinteressen (Gewalt und christlicher Glaube etc.)? Welche unterschiedlichen Begründungsmuster für Universalismen lassen sich identifizieren und unter40
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scheiden: Kosmologien, Offenbarung, innerweltliche philosophische Begründung, Gruppensonderstellung über Zeitschemata (Fortschritt) oder Gottesbeziehung (Bund, erwähltes Volk), Zentrum-Peripherie-Modelle (Griechen/Barbaren, Rom, China) etc.? Was sind die zentralen Medien und Ausbreitungsformen der universalistischen Botschaft (Recht, Bilder, Schrift, Verwaltung, militärische Machtentfaltung, Mission etc.)? Modi der Anerkennung gehen davon aus, dass das bei jeder Form der repräsentativen Kultur eigentlich zu erklärende Phänomen weniger der Geltungsanspruch, sondern seine Akzeptanz ist. In politischen Herrschaftsgebilden kann diese Anerkennung mit dem klassischen Legitimitätsglauben verschmelzen oder sich an das Recht koppeln, beides häufig verbunden mit kosmologischen Weltbildern. Die klassische Form der Verbreitung von Universalismen ist jedoch die Mission, die Überlegenheit einer bestimmten Weltdeutung, etwa durch die Geschichtlichkeit der Erlösungsreligionen (Christianisierung der Germanen) oder die Legitimierung einheimischer Eliten nach ihrer Kolonisierung durch Akkulturation. Dann können wir von einer Überlagerung des lokalen Deutungssystems durch ein überlokales sprechen, das in allen sozialen Beziehungen jenseits der Herkunftsgruppe Verwendung findet (Klimawandel). Und schließlich machen zivilisatorische Gefälle Universalismen anerkennungsfähig, wenn sie Zukunftserwartungen plausibilisieren (Hellenisierung, Romanisierung, Amerikanisierung, Europäisierung). Universalismen markieren insofern eine für die menschliche Kultur konstitutive Spannung: zwischen dem begrenzten Geltungsraum der Handlungsformen und dem unbegrenzten der Sinnformen. Hier, wie auch sonst, ist der Mensch ein Bewohner zweier Welten, von denen er nur eine übersieht, während er die andere entwerfen muss. Auf diese zweite aber baut er seine Ordnung, die mit anderen Ordnungen konkurriert. Der Universalismus wird den Partikularismus nicht los - und umgekehrt. Quellen- und Literaturverzeichnis Albrecht, Clemens, Gleichheitspolitik als Differenzgenerator – Identitätspolitik als Gleichheitsmaschine? Zur widerständigen Logik des Sozialen, in: Anne Honer / Michael Meuser / Michaela Pfadenhauer (Hg.), Fragile Sozialität, Wiesbaden 2010, S. 301-312. Albrecht, Clemens, „Die Kunst Rembrandts, nicht die eines beliebigen Stümpers“. Georg Simmel als Philosoph der repräsentativen Kultur, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015), S. 23-40. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, 4. Aufl., München 1981.
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Das atlantische Völkerrecht zwischen staatlicher Partikularität und universeller Rechtsgeltung Udo Di Fabio
Der Beitrag fragt, ob nach der Phase einer linearen Internationalisierung und Globalisierung nunmehr ein Rückschlag im Ablauf der Zivilisierung der Staaten droht oder sich lediglich eine Korrektur der Balance zwischen staatlichen und postnationalen Herrschaftsräumen abzeichnet.* 1 Vom atlantischen Völkerrecht zum postwestfälischen Weltrecht Mit dem Brexit-Referendum und der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten scheinen das Vereinigte Königreich und die USA eine Bühne zu verlassen, die sie vor 76 Jahren gemeinsam bereitet haben. Im August 1941 vereinbarten die beiden Mächte die Atlantik-Charta: Wegweiser in eine Welt, die den Frieden kollektiv sichert, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und grundlegende Menschenrechte anerkennt und den freien, fairen Welthandel garantiert.1 Damit und mit den 1945 gegründeten Vereinten Nationen war ein Zivilisationsprogramm gerade auch für die nach der Nomenklatur des 19. Jahrhunderts bereits „zivilisierten“ Staaten auf den Weg gebracht.2
* Die Ausarbeitung ist im Rahmen des Forschungskollegs „Normative Gesellschaftsgrundlagen“ an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn entstanden. Für kritische Anmerkungen danke ich Frank Schorkopf. 1 Joint Declaration of the President of the United States and the Prime Minister of Great Britain, released to the press on August 14, 1941, abgedruckt in: The Departement of State Bulletin, August 16, 1941, Vol. V, S. 125f. und in: Douglas Brinkley / David Facey-Crowther (Hg.), The Atlantic Charter, Basingstoke 1994, S. xxviixxviii; eine deutsche Übersetzung der Erklärung ist abgedruckt bei Dietrich Rauschning (Hg.), Rechtsstellung Deutschlands, 2. Aufl., München 1989, S. 1-4. 2 Vgl. Knut Ipsen, Völkerrecht, 6. Aufl., München 2014, S. 34, sieht die allgemeine Tendenz von der völkerrechtsbegrenzenden Souveränität zum souveränitätsbegrenzenden Völkerrecht. Siehe auch bereits Wolfgang Friedmann, The Changing Structure of International Law, London 1964. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch die Vereinten Nationen und ihr Sicherheitsrat selbstbezüglich zivili-
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Das atlantische Völkerrecht stand unter dem Patronat der für Jahrzehnte tonangebenden amerikanischen Führungsmacht. Mit dem Fall der Mauer und der Implosion der UdSSR schienen sich ganz neue Chancen für einen noch über das bestehende System hinausweisenden, qualitativen Internationalisierungsschub zu bieten. Auf der Tagesordnung stand nicht nur das kosmopolitische Programm, das Jahrzehnte später gerade in der deutschsprachigen Wissenschaft als Konstitutionalisierung des Völkerrechts vertreten worden ist3. Es ging schon dem atlantischen Völkerrecht um die Zurückdrängung und Korrektur eines Prinzips staatlicher Souveränität, das mit der Idee rücksichtsloser nationaler oder imperialer Selbstbehauptung als falsche Weichenstellung verstanden wurde. Auch Anhänger des klassischen Völkerrechts mussten einräumen, dass jedenfalls durch rücksichtslosen Kolonialismus und verheerende Weltkriege eine Fehlproportionierung entstanden war in jener dialektischen Beziehung zwischen dem naturrechtlich-universellen Fundament der Menschenrechte auf der einen Seite und der demokratischen Volkssouveränität oder dem Selbstbestimmungsrecht der Völker auf der anderen Seite. Seit 1990 ging es nicht mehr nur um die Wahrung des Weltfriedens. In den Vordergrund trat die Bindung, ja die Domestizierung staatlicher Politik durch die Moralität4 und Gemeinwohlorientierung einer globalen Netzwerkarchitektur, die in den Menschenrechten und der Schöpfungsbewahrung eine fundamentale naturrechtliche Grundlage beanspruchte5. Es zeichnete sich insofern bereits recht deutlich eine allmähliche Transforma-
satorischen Standards unterworfen werden, siehe dazu Clemens Feinäugle, Hoheitsgewalt im Völkerrecht, Heidelberg 2011, S. 75ff. 3 Vgl. Armin von Bogdandy, Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts, eine Bestandsaufnahme, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), S. 853 (864); Andreas Fischer-Lescarno, Globalverfassung, Die Geltungsbegründung der Menschenrechte, Weilerswist 2005; Geoffrey Garrett, Global Markets and National Politics. Collision Course or Virtuous Circle?, International Organization 52 (1998), S. 787ff.; Bardo Fassbender, Grund und Grenzen der konstitutionellen Idee im Völkerrecht, in: Otto Depenheuer (Hg.), Staat im Wort, FS fü̈r Josef Isensee, Heidelberg 2007, S. 73ff.; Stefan Kadelbach / Thomas Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht, Archiv des Völkerrechts (44) (2006), S. 235ff. 4 Vgl. Andreas Hasenclever, Die Macht der Moral in der internationalen Politik. Militärische Interventionen westlicher Staaten in Somalia, Ruanda und Bosnien-Herzegowina, Frankfurt a.M. 2001. 5 Dies war und ist eine der Elemente des atlantischen Völkerrechts, siehe etwa Michael Ignatieff, Die Politik der Menschenrechte, übers. v. Ilse Utz, Hamburg 2002, S. 86. Zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Der Hauptfehler war die Vergötzung des Nationalstaates gewesen, die die Menschen vergessen ließ, dass es
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tion des atlantischen Völkerrechts hin zur Entwicklung eines humanitär-rationalen, sozialen und ökologischen Weltrechts6 ab. Staaten sollten mit den Instrumenten des Vertrages und mit Hilfe mehr und mehr erstarkender internationaler Organisationen und politisch selbstbewusst agierender Nichtregierungsorganisationen in die moralische Pflicht genommen werden, einem globalen Gemeinwohl zu dienen. Der wesentliche Baustein des westfälischen Völkerrechts7, die Achtung der territorialen Souveränität nach innen und außen, also des domaine réservé, auf der Grundlage der prinzipiellen Gleichberechtigung der Staaten, wich mehr und mehr einer Idee, die eine Schutzpflichtverantwortung der Weltgesellschaft zu humanitärer Intervention sah8 und so zunehmend den Einzelnen neben dem Staat als Rechtssubjekt des Völkerrechts wahrnahm. Mit dieser Entwicklungstendenz war nicht mehr der Staat mit seinen partikularen Interessen Referenz, höheres Recht gibt, welches gebietet, sich unrechten Befehlen zu widersetzen. Die Preisgabe dieses moralischen Erbes des Naturrechts, die Unterordnung des Individualismus unter den Kollektivismus, hatten nach Überzeugung der Verfasser der Erklärung zur nationalsozialistischen Katastrophe zum repressiven stalinistischen System geführt.“ Doch zugleich beginnt etwa um 1990 herum die „Inflationierung“ individueller Rechte mit politischen oder sozial wünschenswerten Ansprüchen, so dass der Kernbestand zu verblassen droht, und es den Gegnern des westlichen Universalismus erleichtert wird, in den Menschenrechten ein kulturimperiales Unterwerfungsprogramm zu sehen. Siehe dazu Michael Ignatieff, ebd., S. 109; Udo Di Fabio, Menschenrechte in unterschiedlichen Kulturräumen, in: Günter Nooke / Georg Lohmann / Gerhard Wahlers (Hg.), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, Freiburg i. Br. u.a. 2008, S. 63 (88); Christian Tomuschat, Human Rights in a World – Wide Framework, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 45 (1985), S. 547ff. 6 Wobei Weltrecht zunächst die funktionelle Abschließung eines überstaatlichen, auf Menschenrechte gegründeten Rechtssystems mit starker internationaler Gerichtsbarkeit („universal jurisdiction“) meint, so etwa Fischer-Lescarno, Globalverfassung, S. 276. Siehe ansonsten auch Rudolf Stichweh, Die Weltgesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 24ff., der in einem weltgesellschaftlichen Recht dem Nationalstaat Rechte und Pflichten zuwachsen sieht. Dabei findet eine Übertragung der Privatrechtsgesellschaft auf die Ebene des Völkerrechts statt. Diesbezüglich bleibt aber offen, ob ohne die Monopolisierung legitimer Herrschaftsgewalt die Ausdifferenzierung des Rechts wirklich gelingen kann oder nur hinter dem Traum von der Autonomie des globalen Konstitutionalismus die nüchterne Wirklichkeit der eigenen Entdifferenzierung hin zu politischer Moral steht. 7 Vgl. Susan Strange, The Westfailure System, in: The Review of International Studies, 25 (1999), S. 345ff.; Dies., The Retreat of the State, Cambridge 1996. 8 So im Abschlussbericht der International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) aus dem Jahr 2001 als eines der Kernprinzipien: „State sovereignty implies responsibility, and the primary responsibility for the protection of its people lies with the state itself. Where a population is suffering serious harm
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sondern der domestizierte, der internationalisierte, der „entteritorialisierte“ Staat, 9 welcher als Teil des neuen Weltgeistes in eine Ordnung eingepasst werden sollte, die die Zivilisierung der egoistischen und gefährlichen Staatenwelt versprach.10 Durch den Prozess der Globalisierung schien auf der Suche nach kooperativen Lösungsstrategien zunehmend globaler Probleme im Überschwang einer postnationalistischen Denkweise11 bereits sowieso alles unter funk-
(…) and the state in question is unwilling or unable to halt or avert it, the principle of non-intervention yields to the international responsibility to protect.“, International Commission on Intervention and State Sovereignty, The Responsibility to Protect, Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, Ottawa 2001, S. XI. Der Abschlussbericht ist im Original abrufbar unter URL: http://responsibilitytoprotect.org/ICISS%20Report.pdf [14.5.2018], siehe zum Bericht auch Bastian Loges, Schutz als neue Norm in den internationalen Beziehungen. Der UN-Sicherheitsrat und die Etablierung der Responsibility to Protect, Wiesbaden 2013, S. 16; eine Bilanz zieht Sven Simon, 15 Jahre Responsibility to Protect. Worin liegt die Schutzverantwortung?, in: Archiv des Völkerrechts 54 (2016), S. 1ff. Ansonsten auch: Francis Kofi Abiew, The Evolution of the Doctrine and Practices of Humanitarian Intervention, Den Haag u.a. 1999; Daryl A. Mundis, New Mechanisms for the Enforcement of International Humanitarian Law, in: The American Journal of International Law 95 (2001), S. 934ff. 9 Vgl. Ulrich Menzel, Paradoxien der neuen Weltordnung, Frankfurt a.M. 2004, S. 163. Zum Begriff der Entterritorialisierung als rechtsanalytische, Wandlungsprozesse markierende Kategorie vgl. Kirsten Schmalenbach, Völker- und unionsrechtliche Anstöße zur Entterritorialisierung des Rechts, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 76 (2017), S. 246ff.; Jürgen Bast, Völker- und unionsrechtliche Anstöße zur Entterritorialisierung des Rechts, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 76 (2017), S. 278ff.; zur Entteritorialisierung im Wirtschafts-und Kommunikationsrecht siehe Arno Kahl, Entterritorialisierung im Wirtschaftsrecht, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 76 (2017), S. 343ff.; Matthias Cornils, Entterritorialisierung im Kommunikationsrecht, in: Matthias Jestaedt (Hg.), Grenzüberschreitungen: Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Linz vom 5.-8. Oktober 2016, Berlin 2017, S. 391ff.; zur Wirkung der Globalisierung und den Wandel der Souveränitätsvorstellung: Arnold von Arnauld, Staatliche Souveränität im Wandel: Neujustierung der staatlichen „Firewall“, in: Globale Trends 2013, S. 69. 10 Vgl. Shannon Brincat, From International Relations to World Civilizations: The Contributions of Robert W. Cox (Rethinking Globalizations), Abgindon – New York 2017. 11 Vgl. Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt a.M. 1998.
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tionalistischen Gesichtspunkten12 zu Weltinnenpolitik zu werden.13 „Global Governance“ verstand sich als Managementleitfaden der im Common Sense geeinten gutwilligen Regierungen mit der Bereitschaft zu interaktiver Entscheidungsfindung in Netzwerken geteilter Souveränität. Dabei wies diese aber ausgesprochen selbstreferentielle Bezüge mit einer Art expertengestützten, autonomen Steuerung auf, die zwar Möglichkeiten politischer Impulsgebung beinhaltete, aber keine zentralen und kausalen Herrschaftsoptionen besaß14. In diesem Zuge sah so mancher schon die kulturelle Verwandlung der Welt im Sinne westlicher Wertekonkretisierung, mitunter sogar nach Leitbildern eines agonalen Pluralismus einer diversen Idealgesellschaft.15 Auch in der europäischen Integrationsgeschichte zeigt sich, wie mit dem neu auftretenden und sich ausdifferenzierenden Prinzip der Supranationalität den Organen der Gemeinschaften bis hin zur Gerichtsbarkeit ein - gemessen an bekannten völkerrechtlichen Maßstäben - außerordentlich hohes Maß an Autonomie gewährt wurde. Dieses wäre als Herrschaftsmodell im staatlichen Binnenraum auf erhebliche Demokratieprobleme gestoßen, hätte man es nicht mit eben jener Eindämmung nationalstaatlichen Egoismus und unter Aspekten der Funktionalität rechtfertigen kön-
12 Zum funktionalistischen Argument, der Staat sei in seinem Handlungspotenzial anachronistisch vgl. Udo Di Fabio, Erosion des Staates, in: Horst Bredekamp / Dagfinn Føllesdal / Udo Di Fabio (Hg.), Transzendenzen des Realen, Göttingen, 2013, S. 165 (170). 13 Dabei wird der Fall der Berliner Mauer immer wieder als eigentlicher Startpunkt dieser postnationalen Entwicklung angesehen (z.B. Bernhard Zangl, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation. Die Transformation globaler Sicherheitspolitik, in: Egbert Jahn / Sabine Fischer / Astrid Sahm (Hg.), Die Zukunft des Friedens, Bd. 2, Wiesbaden 2005, S. 159ff.), obwohl einiges dafür spricht, dass die Implosion des Ostblocks maßgeblich vom Erfolg des atlantischen Raumes, der auf nationaler Selbstbestimmung, Menschenrechten, Demokratie und offenem Welthandel gegründet war, verursacht wurde. Ansätze für ein Konzept einer kasuistischen Weltinnenpolitik: Dieter Senghaus, Weltinnenpolitik – Ansätze für ein Konzept, in: Europa Archiv 47 (1992), S. 643 (650f.). 14 Vgl. David Kennedy, The Mystery of Global Governance, in: Ohio Northern University Law Review 34 (2008), S. 827ff.; Andrea Bianchi, International Law Theories, Oxford 2016, S. 66ff. 15 Vgl. Frank Schorkopf, Staat und Diversität. Agonaler Pluralismus in der liberalen Demokratie, Paderborn 2017; Klaus Dieter Wolf, Die neue Staatsräson – Zwischenstaatliche Kooperation als Demokratieproblem in der Weltgesellschaft, Baden-Baden 2000, insbesondere S. 213ff.
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nen.16 Dabei wurde jedoch die Autonomie als (nur) abgeleitete Herrschaftsgewalt („the derived nature of autonomy“17) in strategischer Absicht als Selbstermächtigung fehlverstanden.18 Es waren die transnational vernetzten Eliten und Funktionsträger, die auch im europäischen Kontext Rezepturen des politisch wirkmächtigen „Mainstreamings“ auf den Weg brachten19, um die staatlichen Akteure auf den richtigen Weg zum Schutz globaler Kollektivgüter zu bringen.20 Das Konzept ging auf. Es schien sich ein regelrechter, paradigmatischer Durchbruch anzubahnen, von der überlebten Staatsräson zur globalen Überstaatsräson21.
16 Vgl. Jan Klabbers, Autonomy, constitutionalism and virtue in international institutional law, in: Richard Collins / Nigel D. White (Hg.), International Organisations and the Idea of Autonomy. Institutional Independence in the International Legal Order, Abingdon – New York 2013, S. 120 (122ff.); Wolfgang M. Schröder, Grundrechtsdemokratie als Raison offener Staaten, Berlin 2003, S. 263; Udo Di Fabio, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, in: Archiv des öffentlichen Rechts 141 (2016), S. 106 (108ff.); Dimitris N. Triantafyllou, Die asymmetrische Demokratie, in: Europarecht 2014, S. 458 (466) mit dem im Blick auf die widerstreitenden nationalen Gläubiger- und Schuldnerinteressen gemachten Vorschlag, das Europarlament als Kontrolleur einer „Wirtschaftsregierung“ zu installieren und damit im Grunde das Supranationalitätsprinzip durch das Bundesstaatsprinzip zu ersetzen. 17 Vgl. Viljam Engström, Powers of organisations and the many faces of autonomy, in: Collins / White, International Organisations, S. 213 (222ff.). 18 Dies zurechtrückend BVerfGE 123, 267 (352f.). 19 Darunter verstehen wir Versuche, eine angenommene bürgerliche kulturelle Hegemonie mit einem strategisch eingesetzten, häufig emanzipatorisch und moralisch aufgeladenen Themensetting abzulösen. Dabei beruft man sich gerne auf den marxistischen Revolutionstheoretiker Antonio Gramsci. Zu Hegemonie und Zivilgesellschaft vgl. Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, Christian Riecher (Hg.), Frankfurt a.M. 1967, S. 282ff. 20 „Wenn nationalstaatliche Egoismen übergreifende Lösungen be- oder verhindern, dann wird es unabdingbar, eine transnationale oder globale Problemlösung so zu konfigurieren, dass das nationalstaatliche Interesse daran für die nationalstaatlichen Politiksysteme deutlich erkennbar wird. (...) Gelingen kann eine Strategie, globale Kollektivgüter für nationale Demokratien relevant zu machen, aber nur wenn transnationale Institutionen mit eigener Legitimationsbasis zwischen globaler und nationaler Perspektive vermitteln und die Demokratien sich durch Verträge und internationale Abkommen dazu verpflichten, die Regeln und Beschlüsse dieser Institutionen einzuhalten. Dies ist die erste Stufe der Delegation und Dezentrierung.“ Helmut Willke, Dezentrierte Demokratie, Berlin 2016, S. 37. 21 Vgl. Frank Schorkopf, Grundgesetz und Überstaatlichkeit, Tübingen 2007, S. 244f.
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2 Die Wiederkehr einer multipolaren Ordnung 2.1 Krisensymptome einer Weltordnung – Interdependenz politischer Vernetzung und fragmentierender Gesellschaft Schon seit Jahren, insbesondere seit der Weltfinanzkrise 2008 und auch im Blick auf den Aufstieg Chinas, wird von einem Abstieg des Westens und der Herausbildung einer neuen multipolaren Ordnung gesprochen.22 In der Euphorie vom Ende der Geschichte23 und einem UN-Sicherheitsrat, in dem die verbliebene Weltmacht USA bis zum zweiten Irakkrieg 2003 quasi hegemonial agieren konnte,24 wurde übersehen, wie sehr sich die politischen und wirtschaftlichen Kräfte der in Teilbereichen homogenisierten Globalisierung in Richtung einer politischen Disparität verschoben: Die funktionell codierten Interaktionen der Wirtschaft und Wissenschaft und die weltgesellschaftliche Elitenkommunikation nehmen deutlich zu, während zugleich kulturelle Identitätsbehauptungen, fragmentierte Politikund Religionsräume ebenfalls wachsen. Die interdependente Dynamik macht selbst den fundamentalistischen Terror zu einem weltgesellschaftlichen Phänomen. Sie lässt den in westlichen Staaten sich verbreitenden Populismus als eine Rebellion gegen eine sozialtechnisch verengte Globalisierung deuten, die zu wenig die soziokulturellen Fundamente aller Modernisierungsprozesse beachtet hat. Ins Auge fällt dabei die eigentümlich interdependente Beziehung zwischen Funktion und Rebellion. Die Funktionsimperative überstaatlich vernetzter Herrschaft und die Marktgesetzlichkeiten der Welthandelsgesellschaft verlangen Anpassung. Dabei kann kaum eine sichere Entscheidung darüber gefällt werden, wann Anpassungszwang und wann lediglich die Rhetorik der Funktionalität zur Durchsetzung von Herrschaftsinteressen
22 Vgl. Matthew Happold, International Law in a Multipolar World, Abingdon – New York 2012. 23 Vgl. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992. Siehe auch Ernst-Otto Czempiel, Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, München 1993. 24 Kritisch bereits Christian Tomuschat, Der selbstverliebte Hegemon, Die USA und der Traum von einer unipolaren Welt, in: Internationale Politik 5 (2003), S. 39ff.; Jorrik Fulda, Eine legitime Globalverfassung? Die US‑Hegemonie und die weltgesellschaftlich gerechte Vollendung des Kantischen Projektes, in: Archiv des Völkerrechts 54 (2016), S. 334ff.; Stephen G. Brooks, Can we identify a benevolent hegemon?, Cambridge Review of International Affairs 25 (2012), S. 27ff.
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in Rede steht.25 Man kann Fundamentalismen aller Art und populistische Phänomene jedenfalls als Protest gegen wirkliche oder behauptete Funktionalität der ausdifferenzierten westlichen Gesellschaft verstehen.26 Rebellen bestehen auf grundlegend anderen Weltdeutungen. Wenn allerdings gegen die wirtschaftlichen und überstaatlichen Imperative rebelliert wird, zieht das Anstrengungen zu verstärkter sozialtechnischer Regulation nach sich. Dadurch kann zwar die funktionelle Ausdifferenzierung vorangetrieben werden, aber es können auch strukturell gekoppelte Abstände schrumpfen und Entdifferenzierungsprozesse auftreten. Insbesondere das politische und mit ihm besonders gekoppelte rechtliche System können sich ausdehnen (etwa in Gestalt einer politisierten Universitätswissenschaft oder einer politisch imprägnierten Wirtschaft), natürlich ohne das politisch versprochene Gestaltungsoptimum je zu erreichen. Mit anderen Worten: Das Konfliktpotenzial nimmt nicht ab, sondern zu.27 2.2 Entwicklungen einer multilateralen Weltordnung Auch die internationalen Entwicklungen einer Weltbühne, die mit neuen Akteuren wie China, Russland oder dem Iran global player hinzugewinnt, die disparate Wertefundamente besitzen, deuten nicht auf die von westli-
25 Zur Rhetorik der Funktionalität als Instrument der Legitimation von Verdrängungsprozessen vgl. Richard Münch, Globale Eliten, lokale Autoritäten, Frankfurt a.M. 2009, S. 124ff. 26 Zur interdependenten Beziehung von selbstreferentiellen Systemoperationen und Protest, der von der Rhetorik der Angst begleitet ist vgl. Niklas Luhmann, Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1997, S. 61ff. 27 Wenn Kulturen disparat sind, muss gesellschaftliche Evolution auf formalisierte Systembildungen ausweichen (wie zum Beispiel Markt, Global Governance oder auch universelle Werte). Dies wiederum erhöht den Bedarf nach kultureller Identität und leistet damit dem Disparaten Vorschub, welches wiederum funktionelle Lösungen begünstigt. Dieses Interdependenzdilemma zwischen System und Lebenswelt lässt sich gut an der Krise der europäischen Integration analysieren.
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chen Eliten vorgeschwärmte Zukunft als Weltrepublik28 hin.29 Zu different scheinen hier nicht nur Wertefundament und politische Systeme, sondern auch die sowohl regional als auch geopolitisch in der Tendenz immer stärker auf nationale, denn globale Interessen ausgerichtete Politik Chinas, des Irans, von Putins Russland, und allmählich auch der Türkei Erdoğans. Die Wirklichkeit weist also schon seit längerem (zumindest auch) in eine entgegengesetzte Richtung zur universellen Globalverfassung. Sie weist in eine Richtung, deren Phänomenologie mit „multilateraler“ Weltordnung nur sehr vage umschrieben ist. Es ist deshalb nicht ohne Ironie, dass die EU und Deutschland heute hilfesuchend nach China schauen, um die Welthandelsordnung vor dem drohenden Trumpismus des „America First“ zu retten: schließlich war die Teilnahme Chinas am atlantischen System immer von dem Vorbehalt „China First“ relativiert30 und es ist nicht zu sehen, dass sich das gerade änderte. 28 Vgl. Neil Walker, Taking Constitutionalism Beyond the State, Political Studies 56 (2008), S. 519ff.; Lars Viellechner, Transnationalisierung des Rechts, Weilerswist 2013, S. 78ff.; Surendra Bhandari, Global Constitutionalism and the Path of International Law. Transformation of Law and State in the Globalized World, Leiden – Boston 2016; seit dem Jahr 2012 hat die Thematik eine eigene Zeitschrift, vgl. Antje Wiener / Anthony F. Lang / James Tully / Miguel Poiares / Mattias Kumm, Global constitutionalism: Human rights, Democracy and the Rule of Law, in: Global Constitutionalism 1 (2012), 1ff. Zur Relativierung der staatlichen Allzuständigkeit nicht nur durch Menschenrechte, sondern auch bereits durch Volkssouveränität und Subsidiaritätsprinzip vgl. Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001, S. 153ff.; zu den „noch ungelösten“ Funktions- und Legitimitätsvoraussetzungen der postwestfälischen Konstellation: Rüdiger Voigt, Weltordnungspolitik, Wiesbaden 2005, S. 218ff. 29 Beispielhaft sind hier die Aussagen des ehemaligen singapurianischen Staatspräsidenten Lee Kuan Yew: „With few exceptions, democracy has not brought good government to new developing countries. What Asians value may not necessarily be what Americans and Europeans value. Westerners value the freedoms and liberties of the individual. As an Asian of Chinese cultural background, my values are for a government which is honest, effective and efficient.“ Zit. bei: Andrew Coleman / Jackson Maogoto, „Westphalian“ Meets „Eastphalian“ Sovereignty: China in a Globalized World, in: Asian Journal of International Law 3 (2013), S. 237-269 (240). 30 Die EU-Kommission hat noch im Juli 2016 über das Vorgehen gegen unfaire Handelspraktiken Chinas beraten, siehe https://ec.europa.eu/germany/news/eu-komm issare-debattieren-über-chinas-unfaire-handelspraktiken_de#top-page [20.7.2016] und bei Stahlimporten Strafzölle beschlossen (European Commission – Press release, Data basis, 7 October 2016 „European Commission imposes anti-dumping duties on Chinese steel products“, siehe http://trade.ec.europa.eu/doclib/press/ind ex.cfm?id=1615 [14.5.2018]. Siehe auch Handelsblatt, Beitrag vom 7.3.2017, EUFirmen prangern Diskriminierung in China an [14.5.2018].
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Ein gutes Stück weit hatte man im postnationalen Überschwang ohnehin übersehen, dass auch der funktionell schlicht unentbehrliche Hegemon, die USA, im Innern gespalten war. Während die intellektuellen Meinungsführer der USA in der Welt bestens vernetzt den Mainstream lenkten, war es die (häufig vom Kongress ausgependelte) Regierungspolitik von Demokraten wie Republikanern, die eine deutliche Distanz zu den Grenzüberschreitungen des atlantischen Völkerrechts in Richtung Globalverfassung zeigte: Die USA blieben jedenfalls dem Internationalen Strafgerichtshof fern, bremsten Klimaschutzabkommen, erklärten Vorbehalte für die IGH-Zuständigkeit 31. Die Internationalisierung wurde vor allem im republikanischen Lager als zweischneidig angesehen, weil dessen Vertreter zwar Einfluss und Direktionsmacht wünschten, aber den Mechanismus der wechselbezüglichen Unterwerfung unter kollektive Beschlüsse und das Votum von Expertengremien als Einschränkung demokratischer Selbstbestimmung nicht akzeptierten. Was aber bedeutet dieser neue Trumpismus, was der Brexit Theresa Mays? Ist es eine zum Scheitern verurteilte Rebellion gegen die neue unausweichliche postnationale Epoche des Völkerrechts? Oder ist es der Versuch, der Signatarmächte des atlantischen Völkerrechts, die Linearität von politischer Einbindung („Fesselung“) zu unterbrechen und ein neues Gleichgewicht zwischen territorialer Demokratie und den Prozessen der Entterritorialisierung auszuhandeln? Geht es gar in dramatischer Zuspitzung darum, den Grundbestand der offenen atlantisch geprägten Welt zu retten, weil ansonsten eine Erschütterung oder nachhaltig wirkende Schwächung der Demokratien und ein Rückfall in robuste Großraumsysteme drohen? Gibt es neben der geopolitischen Tendenz zur Fragmentierung bereits auch wieder eine Systemkonkurrenz zum Typ westlich-liberaler Demokratien, denen Dysfunktionalität bescheinigt wird32?
31 Zu dem schon 1946 erklärten Connally-Vorbehalt zur Fakultativklausel und zum Vandenberg-Vorbehalt zu multilateralen Vertragssystemen vgl. Christian Walter, Rechtsschutz im Allgemeinen Völkerrecht, in: Dirk Ehlers / Friedrich Schoch (Hg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, Berlin 2009, § 1 Rn. 43f.; emblematisch für die amerikanische Skepsis gegenüber internationalem Recht Jack L. Goldsmith / Eric A. Posner, The Limits of International Law, Oxford 2005. 32 So etwa Helmut Willke, Demokratie in Zeiten der Konfusion, Berlin 2014, S. 63 und S. 94f., mit spürbarem Respekt vor dem chinesischen Modell einer politischen Diktatur mit gelenkter Marktwirtschaft, wobei die strukturellen Risiken und vor allem die fast völlige Intransparenz dieses „Modells“ von Willke anders als beim westlichen System kaum angemessen gewichtet werden. Hierzu auch: Coleman / Maogoto, „Westphalian“ Meets „Eastphalian“, S. 261ff., die die Sicht Chinas auf den westlichen Liberalismus darstellen.
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3 Epochen und Sequenzen der Völkerrechtsentwicklung 3.1 Die neuzeitliche Entwicklung als Sequenz oder Epoche? Eine neue Epoche der Völkerrechtsentwicklung zeichnet sich durch eine paradigmatische Veränderung der grundgebenden normativen Prinzipien aus.33 Relevant sind insbesondere Veränderungen des Kreises der Völkerrechtssubjekte34, also derjenigen, die Recht erzeugen können und ihm unterworfen sind. Aber auch Fragen der Normgenese, also wie verbindliches Recht in internationalen Beziehungen oder in Durchbrechung der Impermeabelität staatlicher Rechtsordnungen entsteht, spielen eine wesentliche Rolle. Eine völkerrechtliche Sequenz (Periodisierung) dagegen entsteht innerhalb einer Epoche, tastet das herrschende Paradigma im Kern nicht an, kann es aber variieren, anders proportionieren und so auch allmählich eine Transformationsphase im Übergang zu einer neuen Epoche einleiten. Bei der bloßen Sequentialisierung bleibt es bei bestehenden Grundprinzipien, sie werden nur anders konkretisiert und häufig in andere politische Legitimitätsvorstellungen eingebettet. Wenn die These richtig wäre, dass das System politischer Herrschaft mit territorialer Begrenzung und entsprechender Zuordnung eines ausschließlichen Gewaltmonopols historisch überholt und durch ein funktionales überstaatliches Netzwerk von Good Governance35 ersetzt worden sei, dann 33 Vgl. Wilhelm Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl., Baden-Baden 1988, S. 25; siehe auch Oliver Diggelmann, The Periodization of the History of International Law, in: Bardo Fassbender / Anne Peters (Hg.), The Oxford Handbook of the History of International Law, Oxford 2014, S. 997ff (2002); vgl. weiterhin (unter Bezugnahme auf Grewe) Bardo Fassbender / Anne Peters, Introduction: Towards a Global History of International Law, in: Dies., The Oxford Handbook, S. 1 (21ff.). 34 Ob die Erweiterung der Völkerrechtssubjekte sequentiell oder paradigmatisch ist, hängt zum einen davon ab, ob die Basisannahmen zu normativen Quellaussagen oder gar axiomatischen Normen, sowie diejenigen zu maßgeblichen Rechtserzeugern verschoben werden. Zum anderen ist maßgeblich wie Gerichte mit dieser Verschiebung umgehen, siehe Lars Viellechner, Verfassung als Chiffre. Zur Konvergenz von konstitutionelleren und pluralistischen Perspektiven auf die Globalisierung des Rechts, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 75 (2015), S. 233 (238ff.). 35 Siehe etwa die Beiträge in: Ian Bache / Matthew Flinders (Hg.), Multilevel Governance, Oxford 2004 und Gerda Falkner, Policy Networks in a Multilevel-System: Convergence Towards Moderate Diversity, in: West European Politics 23 (2000), S. 94ff.
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wären wir in der Tat in einem postwestfälischen neuartigen Völkerrechtsystem.36 Das Gleiche würde gelten, wenn die paradigmatische Grundkonstruktion des Gesellschaftsvertrages, bestehend aus den freien Bürgern eines zur Selbstregierung hinreichend mächtigen politischen Gemeinwesens veränderte oder ersetzte würde.37 Es spricht aber viel dafür, dass hinter der oft diagnostizierten Epochenzäsur mitunter nur eine intellektuelle Prätention stand, die sich als Beobachtung ausgab und sich mit der Überlegenheitsattitüde des moralisch selbstgewissen Fortschrittsgestus immunisierte. Die Wirklichkeit ist anders, jedenfalls wesentlich ambivalenter und voraussetzungsreicher. Die Verengung des Blickwinkels postmoderner Globalverfassungsideen kann vieles nur als Rebellion gegen die Weltvernunft wahrnehmen, was in Wirklichkeit auch ein retardierendes Zurechtrücken aus Sicht neu aufsteigender Mächte sein könnte. Somit wäre es nur Zeichen einer neuen Sequentialisierung innerhalb des bestehenden, paradigmatisch bestimmenden Systems internationalen Rechts, wobei diese Sequentialisierung zu einer Veränderung wichtiger Legitimitätsvorstellungen führen würde. 3.2 Legitimitätsvorstellungen in Sequenzen des Völkerrechts Die Legitimitätsvorstellung etwa des Wiener Kongresses und des Drei-Kaiserbundes war eine die Tradition der Kronen als erstrangige Legitimitätsspender betonende, die die neu aufkommenden Prinzipien der nationalen Selbstbestimmung und der demokratischen Volkssouveränität etwas entgegensetzen sollten.38 Wenn Tschechen in der Habsburgermonarchie ihre
36 Repräsentativ Strange, The Westfailure System, S. 345ff.; Dies., The Retreat of the State, 1996; dazu Di Fabio, Erosion des Staates, S. 170ff. 37 Kritisch zu derartigen Tendenzen: Klaus Ferdinand Gärditz, Die Entwicklung des Umweltrechts im Jahr 2010. Umweltschutz im Schatten des Klimawandels, in: Zeitschrift für Umweltpolitik & Umweltrecht 2011 (4), S. 383 (400); Di Fabio, ebd., S. 171. 38 Das Legitimitätsprinzip der Kronen lehnte das sich mit der Französischen Revolution erstmals entladende Nationalitätsprinzip und das sich daraus anbahnende Selbstbestimmungsrecht der Völker zugunsten der tradierten und völkerrechtlich bestätigten Legitimität von Herrschaft ab. Hintergrund war die Überlegung, eine stabile Friedensordnung zu gewährleisten, was auch im Wesentlichen für ein knappes Jahrhundert in Europa gelang. Robert Rie, Das Legitimitätsprinzip des Wiener Kongresses, in: Archiv des Völkerrechts 5 (1955), S. 272; siehe auch Kurt Bigler, Bismarck und das Legitimitätsprinzip bis 1862, Winterthur 1955.
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Nation betonten, so hielt der Kaiser in Wien die Legitimität der Krone buchstäblich „darüber“, ein Konzept, das innenpolitisch trotz immerwährender Anfechtung sich erstaunlich lange – bis zum Untergang der KuKMonarchie – behauptete, während die Hohenzollern und Habsburger es dem Zaren dynastisch übel nahmen, wenn Russland gegenüber dem Osmanischen Reich auf dem Balkan das neuere Legitimitätsmuster nationaler Unabhängigkeit oder panslawistischer Solidarität für seine Interessen nutzte. 3.3 Die Epoche des westfälischen Völkerrechts Die neuzeitlich herrschende Epoche des westfälischen Völkerrechts setzt stark auf kontraktuelle Formalität der Staatenbeziehungen, auf machtfaktisch zwar begrenzte, aber doch prinzipielle Legalität als eine wichtige Quelle für Legitimität. Gerade in hegemonialen Machtlagen versuchte der Hegemon daneben andere Rechtfertigungsstrategien zur Begründung von Ungleichheiten. Gerade diese Legitimitätsstrategien von Hegemonen sequentialisieren die neuzeitliche Epoche und geben ihre eine spezifische Wirkungsrichtung.39 Eine besondere Bedeutung besitzt seit Grotius und der frühen Neuzeit die Einhegung des Krieges bis hin zu seiner allmählichen Ächtung im 20. Jahrhundert.40 Hinter der Diskussion um das ius belli stand immer auch die vom neuzeitlichen Staatsparadigma genährte Vorstellung, dass die Errichtung eines überstaatlichen, eines globalen Gewaltmonopols gleichsam zwangsläufig zum Weltstaat führen müsse. Zum argumentativen Legitimitätsarsenal gehört regelmäßig auch eine Gemeinschaftsreferenz, die eine Quelle oder einen Maßstab ursprünglicher (origi-
39 In deutlicher Weise erkennt man diesen regulativen Bestimmungsanspruch der Großmächte als selbstverstandene Ordnungsmächte bei der Einbettung des neuzeitlichen Prinzips der Rechtspersönlichkeit von Staaten in ältere Ideen christlicher Einheit, die naturrechtlich angepasst und in der machtpolitischen Härte ausgeglichen wurden. Siehe hierzu Antje von Ungern-Sternberg, Religion and Religious Intervention, in: Fassbender / Peters, The Oxford Handbook, S. 297. 40 Vgl. Peter Schröder, Legalität und Legitimität in den internationalen Beziehungen, in: Rüdiger Voigt (Hg.), Legalität ohne Legitimität? Carl Schmitts Kategorie der Legitimität, Wiesbaden 2015, S. 225ff.; Heinrich Kipp, Moderne Probleme des Kriegsrechts in der Spätscholastik. Eine rechtsphilosophische Studie über die Voraussetzungen des Rechtes zum Kriege bei Vittoria und Suarez, Paderborn 1935; Bernhard Roscher, Der Briand-Kellogg-Pakt von 1928. Der „Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik“ im völkerrechtlichen Denken der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2004.
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närer oder höherrangiger) Normativität bildet, wie das Imperium (etwa das Heilige Römische Reich), das christliche Europa, die Völkergemeinschaft oder die Zivilisationsgemeinschaft, die sich auf Naturrecht, Vernunftrecht oder die Menschenrechte beruft. Das westfälische Völkerrecht von 164841 wurde durch besonders dynamische Großmächte konkretisiert und gestaltet. Gleichsam vorbereitet und grundgelegt war es seit Beginn der Neuzeit von Spanien42. Vom römischen und mittelalterlichen ius gentium43 führt der Weg in die Neuzeit zum ius inter gentes des spanischen Zeitalters, das mit Namen wie Vitoria44 und Suárez45 verbunden ist, über das Zwischenstaatenrecht der französischen Epoche von 1648 bis 181546 und zum englischen Völkerrecht47, das mit der
41 Zur Bedeutung des Westfälischen Friedens für das Völkerrecht vgl. Karl-Heinz Ziegler, Die Bedeutung des Westfälischen Friedens von 1648 für das europäische Völkerrecht, in: Archiv des Völkerrechts 37 (1999), S. 129ff. 42 Bezugspunkt der spanischen Spätscholastik ist Thomas von Aquin und seine Summa theologica, die theologisch etwa von de Vitoria oder de Soto aufgenommen wird und wiederum die Rechtsschule von Salamanca beeinflusst. Siehe etwa Rolf Grawert, Francisco de Vitoria, Naturrecht Herrschaftsordnung Völkerrecht, in: Der Staat 39 (2000), S. 110ff.; Werner Führer, Spätscholastik und Völkerrecht. Francisco de Vitorias Beitrag zum politischen Denken der Neuzeit, in: Reyes Mate / Friedrich Niewöhner (Hg.), Spaniens Beitrag zum politischen Denken in Europa um 1600, Wiesbaden 1994, S. 181ff. 43 Cicero beschreibt das ius gentium dabei als Recht aller Menschen im Vergleich zum ius civile, welches nur für die römischen Bürger (im Besitz der civitas romana) gilt. Siehe Max Kaser, Ius gentium, Wien – Köln 1993, S. 4ff.; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 108ff. 44 Vgl. Josef Soder, Die Idee der Völkergemeinschaft. Francisco de Vitoria und die philosophischen Grundlagen des Völkerrechts, Frankfurt a.M. 1955. 45 Vgl. Josef Soder, Francisco Suárez und das Völkerrecht. Grundgedanken zu Staat, Recht und internationalen Beziehungen, Frankfurt a.M. 1973. 46 Vgl. hierzu insbesondere Heinz Duchhardt, From the Peace of Westphalia to the Congress of Vienna, in: Fassbender / Peters, The Oxford Handbook, S. 628ff.; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 325ff. Das absolutistische Verständnis profiliert und rechtfertigt sich mit der Betonung der Staatsräson und der Souveränität innerhalb klassischer Vertragsauffassungen selbstbezüglich und funktionell als Ordnungs- und Friedensgarant laut Hobbes. Dahingegen betont Grotius, noch näher an der spanischen Spätscholastik, christliche Werte wie Gerechtigkeit und Menschlichkeit, siehe Fritz Wagner, Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, in: Fritz Wagner / Theodor Schieder (Hg.), Handbuch der Europäischen Geschichte Bd. IV, 3. Aufl., Stuttgart 1996, S. 72. 47 Vgl. Miloš Vec, From the congress of Vienna to the Paris Peace Treaties of 1919, in: Fassbender / Peters, The Oxford Handbook S. 654ff.; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 501ff.
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Freiheit der Seewege und universellen Prinzipien einer Ordnung zivilisierter Staaten in das 20. Jahrhundert führte.48 4 Dialektik von Hegemonialinteresse und Universalitätsversprechen Wer ideologiekritisch auch universell-rationale oder globalethisch ausgeflaggte Argumente hinterfragt, kann ohne größere Probleme die funktionelle Passgenauigkeit oder jedenfalls deren Kompatibilität mit Herrschaftsinteressen beobachten.49 Legitimität meint die Berechtigung der Macht50 – und keine Macht versäumt es ihre Ausübung als berechtigt, also legitim zu erklären. Das war im mittelalterlichen Investiturstreit nicht anders als in der neuzeitlichen Französischen Revolution51. Dabei ragt nicht erst seit Thomas Hobbes das selbstbezügliche Versprechen von Machthabern heraus, Macht selbstredend legitim auszuüben, weil nur dadurch Ordnung gestiftet wird.52 Aber über dieses reine Funktionsargument werden klassische Legitimationsformeln bedeutsam, wie der sittliche Impetus „Gerechtigkeit“, so unklar eine solche Idee und so abhängig wie sie von wechselnden Kontexten auch ist, sowie die von Marsilius von Padua vorbereitete und sich neuzeitlich durchsetzende Idee des Gesellschaftsvertrages, der durch zustimmenden Willensakt der Machtunterworfenen rechtfertigt.53
48 Dabei entstand allmählich eine naturrechtliche Renaissance christlicher Werte im säkularen Zivilisationsgedanken. Diese wurden verallgemeinert und durch die Vorstellung einer gemeinsamen Ordnungsverantwortung der zivilisierten Staaten ersetzt, die besser zum damaligen englischen Kolonialismus passte. Siehe dazu Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 335 sowie S. 520ff.; Duchhardt, From the Peace of Westphalia S. 650. 49 So wird von Anhängern einer globalverfassungsrechtlichen Selbstbezüglichkeit in Gestalt einer globalen Jurisdiktion nicht ohne Berechtigung beklagt, dass universelle Legitimationsformeln rasch zu „Apology Law“ werden können. Vgl. FischerLescarno, Globalverfassung, S. 276. Doch die stattdessen geforderte unabhängige Justiz auf Weltrechtsebene ist vermutlich ein nicht ungefährlicher Traum, der entweder ein Jurisdiktionstheater mit Rücksichtnahme auf einflussreiche Mächte erzwingt oder erhebliche Zentrifugalkräfte der Globalisierung erzeugt, die Zerstörungsgefahren für das Weltrecht besitzen. 50 Vgl. Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 3. Aufl., Berlin 1995, S. 45. 51 Führer, Spätscholastik und Völkerrecht, S. 194. 52 Vgl. Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 122. 53 Vgl. Romano García, Staat und bürgerliche Gesellschaft in der spanischen Scholastik, in: Mate / Niewöhner, Spaniens Beitrag zum politischen Denken in Europa
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Wirtschaftlich, politisch und kulturell hegemoniale Mächte belegen ihre Hegemonialstellung gerade dadurch, dass sie im internationalen Raum oder jedenfalls in einem von ihnen beanspruchten regionalen „Großraum“54 eine als allgemein legitim anerkannte Interessenordnung durchsetzen. Diese Interessenordnung dient einerseits ihren eigenen Interessen oder darf ihnen jedenfalls nicht zuwiderlaufen, soll aber andererseits im allgemeinen Regelwerk den Interessen aller zu dienen bestimmt sein und fordert damit die Zustimmung aller ein. Andernfalls wäre auf eine allgemeine Akzeptanz nicht zu rechnen. Simpler Zwang oder die Brutalität einer Herrschaft ohne überzeugendes geistiges Fundament ist schwach, während die versachlichte, zweckrationale Amtsmacht innerhalb eines normativen Konsenssystems auch dann Vertrauen stiftet, wenn man mit der amtlichen Entscheidung nicht einverstanden ist.55 Ein überwiegend lediglich auf den ständigen Einsatz von Machtmitteln angewiesenes Herrschaftssystem kann nicht dauerhaft sein.56 Bei rein funktionaler Betrachtung ist zu erwarten, dass eine Völkerrechtsordnung zwar mehr oder minder deutlich den Interessen eines Hegemons dient, der sich sein Partikularinteresse als Völkerrecht verbriefen lässt. Wahrscheinlicher dürfte aber jene stete Tendenz sein, zu universellen Regelungen zu gelangen, um ein allgemeines Einverständnis und Legitimi-
um 1600, S. 19. Zu Legitimitätsargumenten aus metarechtlichen Quellen siehe S. 17. 54 Der Begriff „Großraum“ kommt ursprünglich aus dem wirtschaftlichen Bereich und wurde mit transnationalen Wirtschaftsstrukturen, Außenhandelsbeziehungen und Zollunionen in Verbindung gebracht, siehe dazu Dietmut Majer / Wolfgang Höhne, Europäische Einigungsbestrebungen vom Mittelalter bis zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957, Karlsruhe 2014 (Juris Fontes: Rechtsquellen in Vergangenheit und Gegenwart 3), S. 197ff.; zum Kontext des Begriffes im Nationalsozialismus und Carl Schmitts Großraumtheorie siehe auch Horst Dreier, Wirtschaftsraum – Großraum, Lebensraum: in Horst Dreier (Hg.), Raum und Recht, Berlin 2002, S. 47ff. 55 Zur evolutionär wichtigen Trennung von Amt und Person vgl. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 92ff. 56 Weswegen für bestimmte Autokratisierungsstrategien wie die eines Putin oder eines Erdoğan die Prognose erlaubt ist, dass neben der Zunahme des Einsatzes von repressiven Machtmitteln über die Idee des Nationalismus oder national-religiöse Identitätsmobilisierungen ein Legitimitätsersatz für neuzeitlich-moderne Legitimationsmuster gefunden werden muss. Aber auch westlich-demokratische Kernstaaten sollten selbstkritisch beobachten, ob sie auf die zunehmende Spaltung und kulturelle Heterogenisierung der Gesellschaft mit der Verstärkung von Machtpotenzialen und gleichzeitig mit verstärkten ideologischen Konformitätsmustern (wie Leitkultur oder Diversität) reagieren.
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tät zu erreichen und um den Zwang zum Ausspielen von Machtmitteln zu vermindern. Der Universalitätsdruck wird in multipolaren oder mächtemäßig ausbalancierten Systemen naturgemäß größer sein als bei nur einem übermächtigen Hegemon. Diese Dialektik von hegemonialem Interesse und Universalitätsargumentation hat gerade die englische und dann die atlantische Sequenz des Völkerrechts bestimmt. 5 Erbe der englischen Sequenz: Völkerrecht als Recht zivilisierter Völker in offenen Handelsräumen 5.1 Der Begriff der Zivilisation in der englischen Sequenz Im 19. Jahrhundert hatte England trotz des Verlusts seiner nordamerikanischen Kolonien eine hegemonial-imperiale Stellung erreicht. Es hinterließ in der Sequenz des westfälischen Völkerrechts vor allem den englisch-französisch entwickelten Zivilisationsbegriff, wie er seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Umlauf gesetzt worden war.57 Seitdem hat sich der Bedeutungsgehalt des Begriffs in der Erwartung an einen entwickelten und fortgeschrittenen Zustand der menschlichen Gesellschaft etabliert. Dahinter entdeckt man unschwer die Handschrift nicht nur der Aufklärung, sondern auch der Physiokraten und der dann im 19. Jahrhunderts zur Entfaltung gelangenden szientistisch-linearen Geschichtsteleologie wie sie für Marx kennzeichnend wird. Im Völkerrecht bleibt der Zivilisationsbegriff weit unterhalb solcher sozialphilosophischer Annahmen. Er bezeichnet eher „ein spezifisch westeuropäisches, genauer: englisch-französisches Kulturbewusstsein“58 mit Überlegenheitsattitüde, die etwa im Begriff des „Entwicklungslandes“ zwar nach 1945 sozialökonomisch technisch gemeint und noch länger gebräuchlich war, aber genau wegen der Überlegenheitskonnotationen unter Kritik geriet.59 Im 19. Jahrhundert wurde die Überlegen-
57 Vgl. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 523; vgl. hierzu insbesondere auch Liliana Obregón, The Civilized and the Uncivilized, in: Fassbender / Peters, The Oxford Handbook, S. 917ff sowie Duchhardt, From the Peace of Westphalia, in: ebd., S. 650. 58 Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 524. 59 Noch deutlicher geriet in die Kritik der Begriff der „Dritten Welt“, siehe dazu Ulrich Menzel, Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorie, 1992; sehr kritisch zum Begriff der Zivilisation im europäischen Völkerrecht des 19. Jh.: Jörn Kämmerer, Das Völkerrecht des Kolonialismus: Genese, Bedeutung und Nachwirkungen, Verfassung und Recht in Übersee 39 (2006) S. 397 (399f.).
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heit der europäischen Zivilisation mit der kognitiven Überlegenheit des wissenschaftlich-technischen Fortschritts begründet und mit einer Sittlichkeit, die letztlich dem Kriegerischen und Brutalen entgegengesetzt ist, auch wenn sie „gezwungen“ sein mag, diese eine ihren Normen entsprechende Friedensordnung militärisch durchzusetzen.60 Im Völkerrecht des 19. Jahrhunderts finden sich deshalb schon die auf dem Wiener Kongress angenommene Deklaration gegen die sogenannte „traite des nègres“, ein Dokument also zur Bekämpfung des durchaus noch florierenden Sklavenhandels etwa in die Südstaaten der USA hinein. Auch die Kongoakte von 1885 wird von Grewe mit ihrem Vorspruch zitiert, wonach die Signatarmächte von dem festen Willen beseelt sind, den Verbrechen und Verwüstungen ein Ende zu bereiten, welche der Handel mit afrikanischen Sklaven mit sich bringt.61 Etwas später findet sich der Gedanke im Vorsprung der Brüsseler Anti-Sklavereiakte von 1890, wonach es darum gehe, die eingeborene Bevölkerung Afrikas wirksam zu schützen und diesem großen Kontinent die Wohltaten des Friedens und der Zivilisation zu sichern. Diese Entwicklung wurde maßgeblich unter Beteiligung und auf Betreiben Englands beschlossen, das zu diesem Zeitpunkt daranging, immer auch mit militärischen Mitteln seinen kolonialen Besitz in Afrika wie auch ansonsten weltweit auszudehnen. 5.2 Der Wandel der Völkerrechtsgemeinschaft zur Zivilisationsgemeinschaft Die Völkerrechtsgemeinschaft wird zur Zivilisationsgemeinschaft umgedeutet und weist damit eine Richtung für die Normativität ihrer Rechtsetzung bis hin zu der daraus dann abgeleiteten Legitimierung des Einsatzes von Gewalt. Die im Großbritannien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 60 Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 525 unter Bezugnahme auf Henry Thomas Buckle. 61 Siehe die Anmerkung Ferdinand von Martitz zur Berliner Kongo-Konferenz: „Die europäischen Regierungen, im Einverständnis mit der nordamerikanischen Union, von dem Bewusstsein getragen, dass den civilisierten Nationen der Principat über die Welt gehört und dass die Leitung moderner Weltpolitik sich in den Händen einer Völkeraristokratie befindet, haben den entscheidenden Schritt getan, auch das letzte Stück der bewohnten Erde, das immer noch einen bloß geographischen Begriff darstellte, derjenigen politischen Organisation teilhaftig werden zu lassen, unter deren Schutz die menschliche Geschichte sich abspielt.“, Ferdinand von Martitz, Das Internationale System zur Unterdrückung des Afrikanischen Sklavenhandels in seinem heutigen Bestande, Archiv für öffentliches Recht 1 (1886), S. 1 (16).
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nachweisbare Diskussion darüber, ob die Türkei in das System der zivilisierten Staaten aufgenommen werden könne, erinnert ein wenig daran, wie über Jahrzehnte hinweg bis heute darüber diskutiert wird, ob und unter welchen Bedingungen die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden könne. Cobden hat 1836 den Beitritt der Türkei zum Kreis der zivilisierten Welt deshalb abgelehnt, weil ihre Lebensweise noch zu orientalisch sei, etwa weil sie ihre Frauen ängstlich von der Gesellschaft des männlichen Geschlechts abschließen würden und der Gebrauch von Messer und Gabel unüblich sei und es an technischer und wissenschaftlicher Kompetenz fehle.62 Die englische Völkerrechtssequenz im 19. und frühen 20. Jahrhundert war bemerkenswert universell und in der Unterscheidung zu ‚barbarischen‘ Regionen, denen England auf den Weg zur Zivilisation verhelfen müsste, handfest partikularen Interessen und Herrschaftsverhältnissen zu dienen bestimmt.63 Die dialektische Verschleifung wird sichtbar an der Handelspolitik gegenüber China Mitte des 19. Jahrhunderts als England und die USA ihre Handelsinteressen unter dem Mantel gleichberechtigten Zutritts (Politik der offenen Tür) zum chinesischen Markt unverhohlen auch mit Gewaltandrohung gegenüber der schwachen kaiserlichen Regierung durchsetzten.64 Zeitgleich wurden aber Handelsabkommen mit dem Abbau von Zollschranken unter den europäischen Mächten zu einer neuen konstruktiven Wirklichkeit,65 die ein Stück Friedensstabilität in Europa ebenso miterklärt, wie der antiliberale Pendelschlag zum Protektionismus (Schutzzollpolitik) gegen Ende des 19. Jahrhunderts für die Zunahme der militärischen Machtrivalität dies tut. 6 Die Dekonstruktionskritik Carl Schmitts Es liegt auf der Hand, dass der universelle Ansatz unter dem Druck des Selbstbestimmungsrechts der Völker und mit der Modernisierung bestimmter Regionen wie der Türkei oder Indiens dem Kolonialismus auch die geistige und normative Grundlage entziehen musste. Das Völkerrecht
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Vgl. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 529. Vgl. ebd., S. 531. Vgl. ebd., S. 561. Goldsmith / Posner, The Limits of International Law, S. 138ff. Dabei wäre es zwar zu weitgehend, bereits von einem „Jahrhundert des Freihandels“ zu reden, aber die Tendenz zur liberalen Handelspolitik in England, Frankreich und Preußen ist belegt, siehe Stefanie Krause, Ökonomische Mechanismen zur Durchsetzung von Freihandel. Eine evolutionstheoretische Analyse, Marburg 2013, S. 37.
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seit 1919 war aber ohnehin schon kein englisches mehr. Es verwandelte sich in den Versuch echter Universalisierung mit Internationalisierung von Herrschaftsverhältnissen, die durchaus als Zivilisierung der angeblich zivilisierten Welt verstanden werden durfte, einer europäischen Welt, die im Morast des Weltkrieges ihr Überlegenheitsgefühl überall erkennbar eingebüßt hatte – und jetzt selbst zum Zivilisierungsfall wurde. In der Zwischenkriegsphase seit Versailles bis 1939 schienen die Europäer mit Völkerbund, den Verträgen von Locarno und dem Briand-KelloggPakt66 also eine neue Epoche des Völkerrechts zu begründen, die von vorneherein subkutan und durch den Zweiten Weltkrieg evident im Schwerpunkt transatlantisch verlagert wurde, bald sogar beinah eine rein amerikanische Prägung besaß. Im Mittelpunkt standen jetzt eben jene zwei, oben schon angedeuteten, überragenden Ideen: das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das die Phase der De-Kolonialisierung einleitete (verbunden mit dem Verzicht auf machtpolitische Präponderanz zivilisierter Mächte)67 und sodann die Zivilisierung auch der zivilisierten Nationen selbst, und zwar im Blick auf das ius belli, dessen Einhegung schon seit Grotius eine Rolle spielte und das jetzt durch Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit den Staaten genommen werden sollte. Einiges von dem, was sich als atlantisches Völkerrecht seit 1941 durchsetzte, war in der Zwischenkriegszeit auf den Weg gebracht. Aber es zerschellte an einer durch den Weltkrieg erheblich vorangetriebenen Brutalisierung multipler Machtkonstellationen. Man könnte sogar sagen, dass in der bolschewistischen Sowjetunion, im faschistischen Italien, im nationalsozialistischen Deutschland und im militaristischen Japan ein offener Bruch mit dem Zivilisationsgedanken, eine Rebellion gegen das westfälische Völkerrecht versucht wurde, ein Aufstand gegen Aufklärung, Liberalität und der Vertragsformalität des Grundsatzes pacta sunt servanda. Im dekonstruktivistischen Stil des 20. Jahrhunderts hielt Carl Schmitt dem englisch-amerikanischen Universalismus partikularistische Triebfedern und praktische Widersprüche vor. „Ihre Methode besteht darin, einen konkreten, räumlich bestimmten Ordnungsgedanken in universalistische ‚Welt‘-Ideen aufzulösen und dadurch den gesunden Kern eines völkerrechtlichen Großraumprinzips der Nichtintervention in eine imperialistische, 66 Vgl. Eva Buchheit, Briand-Kellogg-Pakt. Machtpolitik oder Friedensstreben, Münster 1995; Peter Krüger, Friedenssicherung und deutsche Revisionspolitik. Die deutsche Außenpolitik und die Verhandlungen über den Kellogg-Pakt, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 22 (1974), 227ff. 67 Vgl. Jörg Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion, München 2010, S. 182ff.
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unter humanitären Vorwänden in alles sich einmischende, sozusagen paninterventionistische Weltideologie zu verwandeln.“68 Die Großraumtheorie mit Interventionsverbot raumfremder Mächte sollte nicht nur Europa der Verfügungsgewalt Nazideutschlands ausliefern, sondern auch dem englischen Empire überseeischen Bestandsschutz, Japan freie Hand in Asien verschaffen und die USA auf den nord- und südamerikanischen Kontinent beschränken. In der Sache handelte es sich nicht um den Versuch einer Sequenzialisierung, sondern um einen Frontalangriff auf das klassisch-westfälische Völkerrecht: „Die Transformation des ‚totalen‘ Staates ins Völkerrecht“ bedeutete die Verabschiedung des klassischen Prinzips der Staatengleichheit, jener nicht nur formellen Gleichverteilung von Souveränitätsrechten, „die für das normative Völkerrecht seit der Aufklärung selbstverständlich ist“.69 7 Geburt und Struktur der atlantischen Welt Im Sommer 1940 war die westliche Welt für einen winzigen, aber wesentlichen Augenblick erheblich geschrumpft und existentiell bedroht. Das Bündnis von Hitler und Stalin, das Einvernehmen der Achse mit Japan, der Wegfall der französischen Militärmacht deutete nicht auf eine neue atlantische Welt hin, sondern eher auf den Triumph der Großraumtheorie. Musste sich nicht England und vielleicht sogar die fernen USA mit den totalitären und aggressiven Feinden des Westens arrangieren? Stand hinter dem Aufstand nicht das endgültig besiegelte Scheitern der englischen Prägung des Völkerrechts und des in der Zwischenkriegszeit neu entwickelten Gedankens von Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit? War die Aggression nicht auch Ausdruck einer anderen Kultur, die sich mit ihrem ungezügelten Willen zur Macht nicht in die Sachrationalität von liberalen Menschenrechten, Demokratie und Markt einfügen wollte? Doch spätestens der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941 beendete die Lähmung. Nicht nur weil schon im August des Jahres klar war, dass es keinen Blitzsieg der Wehrmacht und deshalb auch keinen irgendwie denkbaren strategischen Erfolg Nazideutschlands geben würde, 68 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht, Nachdruck der 3. Aufl. 1941, Berlin 2009, S. 33. 69 Ulrich Thiele, Carl Schmitts Großraumtheorie in der Perspektive der KantischKelsenschen Völkerrechtslehre, in: Rüdiger Voigt (Hg.), Großraum-Denken. Kategorie der Großraumordnung, Stuttgart 2008, S. 119-144, (126ff.).
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sondern auch weil den USA klar war, dass sie so oder so das Heft in die Hand nehmen und als globale Ordnungsmacht antreten mussten. Noch Monate vor Pearl Harbor trafen sich Premier Churchill und Präsident Roosevelt auf dem britischen Schlachtschiff HMS Prince of Wales in der Placentia Bay vor Neufundland.70 Die formell neutralen, aber längst mit Waffen- und Hilfslieferungen an England und Russland engagierten USA vereinbarten mit dem Empire jene Atlantik-Charta vom 14. August 1941,71 die der entscheidende Wendepunkt hin zur amerikanischen Sequenz des westfälischen Völkerrechts,72 hin zum atlantischen Völkerrecht werden sollte, einer Sequenz, deren Krisenphase wir heute erleben. Im Kern betraf die Charta den Verzicht auf territoriale Expansion, die Forderung nach gleichberechtigtem Zugang zum Welthandel und zu Rohstoffen, den Verzicht auf Gewaltanwendung sowie die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen.73 Wenn auch unter den hemmenden Bedingungen des Kalten Krieges,74 so entfaltete sich doch die Atlantische Ordnung in einem Westen, der sich unter erheblichen gewalttätigen Geburtswehen von Indochina bis Algerien dann doch dekolonisierte und eine neue Qualität internationaler Organisationen schuf, der den offenen Welthandel und die kollektive Friedenssicherung einleitete.75 Auch wenn diese Welt nie perfekt, nie wirklich friedlich, nie harmonisch war, so bildeten doch die Eckpfeiler des atlantischen Völkerrechts den Konsens aller gesellschaftlichen Eliten des Westens und –
70 Vgl. Helmut Volger, Geschichte der Vereinten Nationen, 2. Aufl., München 2008, S. 1; The Royal Institute of International Affairs (Hg.), Chronology and Index of the Second World War 1938-1945, Nachdruck der 1. Aufl. 1947, Westport – London 1975, S. 72; siehe auch Jan Romein, Das Jahrhundert Asiens. Geschichte des modernen asiatischen Nationalismus, Bern 1958, S. 304. 71 Vgl. Joint Declaration of the President of the United States and the Prime Minister of Great Britain, S. 125f. 72 Vgl. Ulrich K. Preuß spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verwandlung des ‚westfälischen Systems‘ der Staatenkoordination in eine internationale Rechtsgemeinschaft“, siehe Ders., Friedenssicherung durch die UNO – Lösung oder Problem? – Notizen zur Reformbedürftigkeit der UNO, in: Norman Paech (Hg.), Völkerrecht statt Machtpolitik, Beiträge für Gerhard Stuby, Hamburg 2004, S. 287. 73 Vgl. Joint Declaration of the President of the United States and the Prime Minister of Great Britain, a.a.O. 74 Vgl. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, S. 751ff. 75 Vgl. in diesem Zusammenhang – resümierend – zu der Frage, inwiefern die Vereinten Nationen die in der Präambel und in Art. 1 UN-Charta gesetzten Ziele bislang umsetzen konnten: Volger, Geschichte der Vereinten Nationen, S. 433.
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auch global zunehmend – einen diplomatischen und kulturellen Konsens aller tonangebenden Kräfte. Eine der großen Innovationen der atlantischen Sequenz des westfälischen Völkerrechts war die europäische Integration. Die regionale Verbürgung der Menschenrechte wollte die Idee der UN-Menschenrechtskonvention regional befestigen und konkretisieren.76 Die Europäischen Gemeinschaften sollten darüber hinaus und mit anderer Organisationsqualität eine völlig neue Stufe der Zusammenarbeit, eine supranationale Wirtschaftsgemeinschaft auf den Weg bringen77 und sich in Richtung einer politischen Gemeinschaft entwickeln. Europäische Supranationalität und Präföderalität eigneten sich offenbar dazu, ein Modell für die ganze Welt zu sein. Ein faires Institutionensystem der Gleichberechtigung, die relative Aufwertung der Kleinen gegenüber den Größeren,78 die Kräftigung überstaatlicher Organe und das normative Wertefundament von Menschenund Grundrechten sowie demokratischer Rechtsstaatlichkeit schien neben der Fähigkeit zum ausgleichenden diplomatischen Kompromiss eine Überbrückung der alten Kluft zwischen der Universalität der Menschenrechte und der territorialen Begrenztheit nationaler und staatlicher Selbstbestimmung zu erlauben. Die neue Netzwerkarchitektur überstaatlichen Regierens prämierte nicht mehr denjenigen, der sich im Freund-Feind-Schema kriegerisch am besten selbst behauptete, sondern denjenigen Staat, der sich am konstruktivsten und engagiertesten völkerrechtlich verband und innerhalb der internationalen und supranationalen Systeme einflussreich wurde. Das war im Grunde die perfekte Konkretisierung des atlantischen Völkerrechts. Man konnte aber mit guten Gründen das neu entstandene Mehrebenensystem weniger als einen Wandel der Rechtsinhalte, als vielmehr eine Transformation des Staates verstehen, und dabei auch als eine Innovation im rechtstheoretischen Sinne.79 Nicht eigentlich die Souveräni-
76 Zur Entstehung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten im Kontext des nach dem Zweiten Weltkrieg entstehenden internationalen Menschenrechtsschutzes vgl. ausdrücklich Christian Walter, Geschichte und Entwicklung der europäischen Grundrechte und Grundfreiheiten, in: Dirk Ehlers (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 4. Aufl., Berlin 2014, S. 1. 77 Vgl. Christian Hillgruber, Der Nationalstaat in übernationaler Verflechtung, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, 2. Band, 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 32 Rn 85. 78 Durch das völkerrechtliche Prinzip der Staatengleichheit und – innerhalb der EU – durch den Grundsatz der degressiven Proportionalität bei der Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments gem. Art. 14 Abs. 2 EUV. 79 Vgl. Hans Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen 1922, S. 98.
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tät geriet in eine Schwebelage, sondern die Interpretation der Supranationalität verlangte nach einer Metaphorik der transitorischen Ortlosigkeit.80 8 Der kurze Traum vom Ende der Geschichte und dem Anbruch der weltrepublikanischen Epoche Der Zusammenbruch des Sowjetsystems um 1990 machte nicht nur das atlantische Völkerrecht wirklich global, sondern schien auch die empirische Bestätigung der Richtigkeit und Triftigkeit der atlantischen Prämissen zu sein. Es wurden nicht nur die Prämissen der Atlantikcharta entfaltet, es traten auch neue Phänomene innerhalb dieser Sequenz auf. Neben die Vereinten Nationen, die sich über unmittelbare Friedenssicherung hinaus in Richtung Weltregierung entwickelten, bildeten sich regionale Bindungen wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Art, letztlich unter dem Patronat des amerikanischen Hegemons, der mit seiner militärischen und wirtschaftlichen Potenz der bewaffnete Arm der Vereinten Nationen, der „Weltpolizist“ war. Mit dem Ersten Irakkrieg zur Befreiung Kuweits auf der Grundlage eines Mandats des UN-Sicherheitsrats81 schien zum ersten Mal nach scheinbarem Wegfall antinomischer Vetomächte im UN-Sicherheitsrat der Schritt in Richtung zur Weltinnenpolitik möglich. Der als „Weltpolizist“ jetzt angesichts der Implosion der UdSSR für einen kurzen Augenblick fast allgemein anerkannte Hegemon hatte gewiss nie eine nur weiße Weste und Vorteilsnahme war ihm nicht immer fremd, insgesamt aber schulterten die Vereinigten Staaten Lasten in einem System der offenen Gegenseitigkeit, wie sie in der Neuzeit präzedenzlos war. Auch beim Zerfall Jugoslawiens half der gute Hegemon, wenngleich bereits das Fehlen eines UN-Mandats irritierte. Die Globalverfassung schien über die atlantische Ordnung hinauszuweisen82 und man konnte bereits am Horizont nicht nur eine neue Sequenz, sondern ein neues Paradigma, das transwestfälische Völkerrecht erkennen. Das neue globale Völkerrecht wurde bereits als globales Verfassungsrecht
80 Siehe Rainer Wahl, Die Schwebelage im Verhältnis von Europäischer Union und Mitgliedstaaten, in: Der Staat 48 (2009), S. 587ff. 81 Vgl. UN-Sicherheitsrat, Resolution 678 (1990) 29. November 1990, S/RES/678 (1990). 82 Vgl. hierzu Stephan Hobe, Die Zukunft des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung. Perspektiven der Völkerrechtsentwicklung im 21. Jahrhundert, in: Archiv des Völkerrechts 37 (1999), S. 271ff.
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angesehen, also in Richtung Weltstaatlichkeit fortgedacht.83 Das Weltrecht optierte letztlich für einen völkerrechtlichen Monismus, der ethische Fragen der Gerechtigkeit in Recht umschlagen ließ, beziehungsweise beide normativen Systeme entgrenzte, wobei die Entstehungsbedingungen dieses Weltrechts vom staatlichen Gewaltmonopol und Prinzipien der Volkssouveränität weit weg rückten und ein neues Forum in international vernetzten Nichtregierungsorganisationen, Juristen und Expertengremien fand. Wohlgemerkt, es ging ein weiteres Mal um eine neue Legitimitätsvariante oder auch – gemessen am Grundsatz der Staatengleichheit – um eine De-Legitimierungsstrategie: Zivilisiert und akzeptiert im vollen Sinne waren nur noch offene und bindungswillige Staaten, die sich in den Dienst globaler Politik, Menschenrechts- oder Umweltpolitik stellten und dabei nationale Interessen zu relativieren hatten. Wer den Glauben an lineare Geschichtsverläufe aus dem 19. in das 21. Jahrhunderts gerettet hatte, der sah solche Sichtweisen um das Jahr 2000 herum auf der Siegerstraße. Die Herausforderung schien nur noch darin zu bestehen, die einzige verbliebende Hegemonialmacht, die USA, in ihrer Eigenwilligkeit zu zähmen und in den Dienst der Globalverfassung und der vernünftigen Globalpolitik zu stellen. Dass die USA sich weder am Internationalen Strafgerichtshof noch an Abkommen zum Schutz des Weltklimas beteiligten, war ärgerlich, schien aber ein letzten Endes überwindbares Hindernis.84 Für ein Land wie Deutschland erwies sich das globalisierte atlantische Völkerrecht als besonderer Segen. Das wilhelminische Deutschland vor 1914 war zwar eine vor allem wirtschaftlich und wissenschaftlich unglaublich potente Nation, aber im Feld der Außenpolitik, auch im kolonialen
83 Vgl. etwa Angelika Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltrecht, Berlin 2007, S. 1038ff.; siehe weiterhin Kadelbach / Kleinlein, Überstaatliches Verfassungsrecht, S. 235; Anne Peters, Compensatory Constitutionalism: The Function and Potential of Fundamental International Norms and Structures, in: Leiden Journal of International Law 19 (2006), S. 579ff. Zur Konstitutionalisierung im Völker- und Europarecht und zur Unschärfe des Begriffes: Rainer Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff, in: Carl-Eugen Eberle / Martin Ibler / Dieter Lorenz (Hg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, Festschrift für W. Brohm, München 2002, S. 191 (194ff.). 84 Präsident Barack Obama, der ohne erkennbare Verdienste allein im Vertrauen auf die Wiederkehr des guten Hegemons mit dem Vorschuss des Friedensnobelpreises ausgezeichnet wurde, schien jedenfalls Sichtweisen zu bestätigen wie die von Jürgen Habermas in der Schrift „Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?“ geäußerte, in: Ders., Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X, Frankfurt a.M. 2004, S. 113ff.
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Wettlauf vor allem im Kraftfeld der Allianzen reaktiv und ohnmächtig. Das Deutschland im Jahr 2014 dagegen war zwar wirtschaftlich und wissenschaftlich längst nicht mehr die Nummer zwei der Welt, aber in Europa, in der NATO, in den Vereinten Nationen doch auch deutlich mehr als nur ein Juniorpartner der Vereinigten Staaten von Amerika. Von den offenen Handelsbeziehungen profitierte die industriell gut aufgestellte, mit starkem Mittelstand agierende Republik. Die von ihrer Großmannssucht (unter mitlaufenden Inferioritätsgefühlen) geheilte Nation wurde diplomatisch erfolgreich und wusste sich französischen, englischen und amerikanischen Interessen geschmeidig anzupassen, ohne Einfluss zu verlieren. Im Jahr 2014 war Deutschland im Grunde zu einer Führungsmacht der Europäischen Union aufgestiegen.85 9 Die neue Multipolarität: Zweiter Aufstand gegen den Westen? Mit dem Anbruch des neuen Jahrzehnts seit dem Jahr 2000 wurde die Hoffnung auf eine weltrepublikanische Globalverfassung durch eine ganze Serie von Ereignissen erschüttert. Der 11. September 2001, der zähe Krieg in Afghanistan, der völkerrechtswidrige Zweite Irakkrieg 2003,86 das Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrages 2005, die Weltfinanzkrise 2008 und die europäische Schuldenkrise seit 2010, die Krimannexion 2014 und Chinas asiatische Raumordnungsansprüche wirkten wie eine kalte Dusche. Es ist die Frage erlaubt, ob die Sequenz des atlantischen Völkerrechts nicht auf andere Weise zu Ende geht als im weltrepublikanisch linear gerechneten Geschichtsverlauf geglaubt. Es besteht sogar die Gefahr des Rückschlages vor das atlantische Völkerrecht und die Rückkehr zu einem multipolaren Großraumsystem, das den Ideen von Carl Schmitt aus dem Jahr 1939 nähersteht als dem, was vor Neufundland im August 1941 als alliierte Nachkriegsordnung vereinbart wurde. Das Verhalten Russlands bei der Annexion der Krim und der separatistischen Infiltration der Ostukraine, das Verhalten Chinas in Territorialkonflikten mit asiatischen Nach-
85 Dass der aus dem Amt scheidende Präsident Obama der deutschen Kanzlerin bei seinem Besuch in Berlin im November 2016 ideell den Führungsstab der westlichen Welt übergab, schien wie die Vollendung der von Adenauer eingeleiteten Bemühungen um die Rehabilitierung eines moralisch gescheiterten Landes. 86 Zu diesem Problem ausführlich und unter Darstellung des Meinungsstandes vgl. Holger Hestermeyer, Die völkerrechtliche Beurteilung des Irakkrieges im Lichte transatlantischer Rechtskulturunterschiede, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 64 (2004), S. 315ff.
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barn, vielleicht aber auch schon das Verhalten der Europäischen Union auf dem Balkan anlässlich des Zerfalls Jugoslawiens können als neue Großraumarchitektur beschrieben werden.87 Auch das Recht der Vereinten Nationen als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit ist verblasst: Einige Staaten ziehen sich aus dem Internationalen Strafgerichtshof zurück. Im Vor-Brexit-Britannien wurde diskutiert, ob und unter welchen Bedingungen man den Entscheidungen des EGMR Folge leisten will. Die Hirsi-Entscheidung des Straßburger Gerichtshofs vom 23.2.201288 wurde von manchen als Sperrriegel einer effektiven Beherrschung der EU-Außengrenze verstanden: Hier stoßen sich die staatliche Notwendigkeit zur Selbstbehauptung und die Bindungen an die regional konkretisierte Menschenrechtsordnung. Überhaupt hat der tendenzielle Rückzug der atlantischen Signatarmächte USA und Großbritannien einiges damit zu tun, dass die Bindung der Staaten als bedrohliche Fesselung verstanden wird, die in weniger gefestigten Demokratien die autokratische Verführung befördert. Die andere Idee eines Europas der Rechtsgemeinschaft innerhalb einer für alle nützlichen Wirtschaftsunion steht ebenfalls derart unter Druck, dass der Begriff Krise zurückhaltend ist. Dass heute in Syrien regionale Vormächte – wie die Türkei, der Iran und Russland – eine militärische Lösung erzwingen, und die USA, die NATO und die Vereinten Nationen abseitsstehen, mag vorübergehende Schwäche des Westens sein, dessen Potenziale gerne überschätzt, aber auch unterschätzt werden. Die Weltrechtsstrategie jedenfalls scheint fürs erste geschei-
87 Die europäische Integration kann funktionell ebenfalls als (sich selbst im Dienst des global-atlantischen Völkerrechts sehendes) Großraumprojekt mit ordnungspolitischen Ansprüchen betrachtet werden, die in der Ukraine in einen Grenzkonflikt mit einem anderen regionalen Hegemon geraten ist. Dies gilt nicht nur im Blick auf ephemere reaktionär imprägnierte, monoethnisch regionalisierte Reichsvorstellungen, dazu Samuel Salzborn, Carl Schmitts völkerrechtliches Erbe, Volksgruppenrechtstheorie und europäisches Großraum-Denken vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart, in: Voigt, Großraum-Denken, S. 145ff. 88 Vgl. EGMR, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 13 (2012), S. 809ff. Mit dieser Entscheidung entsprach der EGMR in der Sache Forderungen, die eine Migrationskontrolle mit der Möglichkeit geordneter Rückführung in das jeweilige Ausgangsland vor Betreten von EU-Gebiet oder vor dem Erreichen internationaler Gewässer praktisch unmöglich macht. Zu der Problematik vgl. Kay Hailbronner, Eine Krise des Rechts? Die Migrationskrise aus der Perspektive des europäischen und des nationalen Rechts, in: Arnd Uhle (Hg.), Migration und Integration, Berlin 2017, S. 57ff. Vgl. zum Ganzen auch Ruth Weinzierl / Urszula Lisson, Grenzschutz und Menschenrechte. Eine europarechtliche und seerechtliche Studie, Berlin 2007.
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tert. Ihre Erwartung, durch permanente Grenzüberschreitung und De-Legitimierung staatlich organisierter Mächte die Voraussetzungen für eine Weltregierung zu schaffen, hat sich als gefährlich erwiesen. Der insgesamt unzweifelhaft gelungene Versuch der funktionellen Einigung Europas, also über politisch gesetzte Wirtschaftsimperative die politische Einheit Europas zu erzwingen, ist vielleicht überreizt worden. Das internationale Recht verliert sowohl als Vertragsrecht, als auch als europäisches Unionsrecht in wichtigen Bereichen seine Verbindlichkeit und seine gleichmäßige Anwendbarkeit. Das gilt nicht nur für Stabilitätskriterien im Rahmen der Währungsunion oder im Hinblick auf ein bereits konzeptionell falsch angelegtes europäisches Migrationssystem. Auch mehr oder minder offen gewalttätiges Vorgehen, die Unterdrückung der Meinungsfreiheit oder Maßnahmen gegen die unabhängige Justiz scheinen nicht mehr in jedem Fall mit Konsequenzen belegt zu sein. Wenn man die neue multilaterale Mächtekonstellation betrachtet, die englische Distanz zum europäischen Integrationsprojekt, die tiefe Spaltung der amerikanischen Gesellschaft und den Wahlsieg Donald Trumps, wenn man das Anwachsen populistischer Bewegungen und die wachsende Volatilität öffentlicher Meinungsbildung zur Kenntnis nimmt, so könnte man beinahe geneigt sein, einen zweiten Aufstand gegen den Westen anzunehmen. Natürlich stehen heute keine politischen Gewalttäter auf dem amerikanischen Kapitol oder vor den Toren des Élysée. Aber Russland, der Iran und wohl auch die Türkei unter Erdoğan dürfen als antiwestliche Mächte betrachtet werden; sie sind zudem autokratisch regiert. Sowohl Putin, als auch Erdoğan halten – unter den Bedingungen offener Demokratien – die Verwirklichung wahrer Volkssouveränität nicht für möglich. Das war bereits einmal die Leitmelodie gegen die liberalen Demokratien der Zwischenkriegszeit.89 Der herausgeforderte Westen sollte sich nicht auf das Pathos eines Kulturkampfes der Guten gegen die Bösen allein zurückziehen. Gefragt ist eine entschlossene Neujustierung eines atlantischen Völkerrechts. Neujustierung bedeutet, dass die großen Demokratien die konstruktive Spannungslage von universellen Menschenrechten und dem segmentär universellen, als partikular wahrgenommen demokratischen Selbstbestimmungsrecht wieder besser herstellen.
89 Zur Vergleichbarkeit der Entwicklungen in der Weimarer Republik mit denjenigen Russlands unter Vladimir Putin vgl. Steffen Kailitz, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Nach dem „Großen Krieg“. Vom Triumph zum Desaster der Demokratie 1918/19 bis 1939, Göttingen 2017, S. 11.
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1. Einleitung Die im Titel aufgeworfene Frage, ob es sich bei Stabilität tatsächlich um ein demokratisches Versprechen handelt, enthält eine Reihe weiterführender Fragen: Welche Stabilität beziehungsweise welches Maß an Stabilität kann eine politische Ordnung bieten, die auf gesellschaftliche Dynamik, öffentliche Debatte und zivilen Protest abstellt, also das Versprechen auf Veränderung bestehender sozialer und politischer Strukturen enthält? Und worin genau besteht dieses Versprechen auf Veränderung: in mehr Gleichheit – und wenn ja: Gleichheit in Bezug worauf? Oder in mehr Freiheit – und welche Freiheit ist hier gemeint? Und wie verhalten sich Stabilität und Pluralismus zueinander? Sind beide Normen universalistisch oder partikularistisch verstanden? Destabilisiert ein Zuviel an Pluralismus, einschließlich der mit einem gesteigerten Pluralismus notwendigerweise einhergehenden Konflikte, die demokratische Ordnung, oder verhält es sich gerade umgekehrt: Destabilisieren übertriebene Stabilitätserwartungen und diese Erwartungen bedienende Sicherheitspolitiken demokratische Ordnungen? Ist Pluralismus überhaupt ein Wert wie Freiheit und Gleichheit, der normativ schon allein deshalb anzustreben wäre, weil eine Demokratie ohne Pluralismus keine Demokratie wäre?1 Diese Fragen verweisen darauf, dass nicht nur das, was „wir“ unter Demokratie verstehen, umstritten ist; umstritten ist auch der ordnungspolitische Begriff der Stabilität. Die Frage, ob Stabilität ein demokratisches Versprechen ist oder dem normativen Versprechen der Demokratie gerade zuwiderläuft, verweist ins Zentrum der demokratietheoretischen Debatten um die Leistungsfähigkeit der Demokratie, denn zumindest in modernen Gesellschaften birgt das Wort Demokratie „eine Reihe von Versprechen, auf deren Erfüllung ihre Bürger nicht verzichten wollen“.2 Zugleich schwingt in diesem Sprechen über die Versprechen der Demokratie „eine noch unabgegoltene Normati-
1 Vgl. Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016, S. 97f. 2 Hubertus Buchstein, Die Versprechen der Demokratie und die Aufgabe der Politikwissenschaft – Eröffnungsvortrag zum 25. Kongress der Deutschen Vereinigung für
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vität mit – wie es ‚eigentlich sein sollte‘, aber ‚leider noch nicht ist‘“.3 Demokratie ist mithin nicht nur eine analytische Kategorie, über die ein bestimmtes Set an politischen Verfahren und Regeln markiert wird, wie der Herrschaft des Volkes Geltung verschafft werden soll, sondern eben auch ein wertkonnotierter Begriff, der von politischen und wissenschaftlichen Akteuren rhetorisch-strategisch eingesetzt wird, um eigene politische Projekte zu rechtfertigen und konkurrierende demokratische Modelle oder Praxen zu delegitimieren. Dabei spielt der normative Rekurs auf Stabilität insofern eine zentrale Rolle, als dass sich Stabilität als Argument sowohl für als auch gegen eine bestimmte Konzeption der Demokratie ins Feld führen lässt, wodurch das mit der Demokratie assoziierte Normengefüge ausgedehnt oder auch überdehnt wird. Die demokratietheoretischen Kontroversen über das Stabilitätsversprechen der Demokratie und der ideenpolitische Kampf um das „angemessene“ Demokratieverständnis sollen in vier Perspektiven betrachtet werden. Ausgehend von einer begriffstheoretischen Problematisierung des Gegensatzpaares Stabilität und Normativität (2) wird zunächst nach den Stabilisierungsleistungen einer intakten liberalen Demokratie gefragt (3), um daran anschließend Gegenbegriffe des Demokratischen zu diskutieren, wie sie im aktuellen russischen Diskurs mit dem Begriff der „souveränen“ beziehungsweise der „organischen Demokratie“ verbunden (4), aber im Weiteren auch in imperialen Ordnungsentwürfen artikuliert werden, die Legitimität wesentlich an Stabilität binden (5). Die Betrachtungen des Spannungsfeldes zwischen Demokratie, Stabilität und Normativität werden abschließend in einem knappen Ausblick auf politikwissenschaftliche Forschungsfragen zur In-/Stabilität politischer beziehungsweise demokratischer Ordnung zusammengefasst (6). 2. Normativität und Stabilität: eine begriffstheoretische Problematisierung Wie werden Normen begründet beziehungsweise wie entstehen Normen und welche Geltung wird ihnen zugesprochen? Bedürfen Normen einer institutionellen Flankierung, um als verbindliche Handlungsorientierung zu wirken, oder beanspruchen sie eine von praktischer Bestätigung unabhängige Geltung? Begrenzen Normen soziales Handeln oder eröffnen sie
Politische Wissenschaft, in: Ders. (Hg.), Die Versprechen der Demokratie, BadenBaden 2013, S. 25-41, hier S. 32. 3 Ebd.
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alternative Handlungsräume? Was geschieht, wenn verbindliche Normen temporär oder gar dauerhaft gebrochen werden? Wann gelten Normen überhaupt als verbindlich und für wen gilt diese Verbindlichkeit? Werden Normen durch ihre Verletzung obsolet oder fungieren sie als kritisches Korrektiv, um Normbrüche zu markieren? Und, damit verbunden, beziehen sich Normen auf das Wünschenswerte, auch wenn ihre Realisierung höchst unwahrscheinlich ist, oder vermitteln Normen zwischen Sollen und Können? Diese Fragen verweisen auf die Normativität von Normen und damit zugleich darauf, dass Normativität eine für universalistische wie für partikularistische Lesarten offene Kategorie darstellt. Entscheidend ist hier, auf welchen Wertehorizont jeweils Bezug genommen wird und als wie weitreichend die Verbindlichkeit von Normen begründet wird. So kann die Verbindlichkeit von Normen moralisch oder rational begründet und mit dem Anspruch auf transhistorische beziehungsweise globale Gültigkeit verbunden werden. Normen können aber auch im Rekurs auf partikulare, in einer konkreten politischen Erfahrungsgemeinschaft geteilte Werte und Überzeugungen vorgestellt werden, womit freilich die universale Geltung von Normen in Frage gestellt wird. Gegen die normativistische Verschwisterung von Rationalität und Universalismus, wie sie vor allem für die in der Tradition der Aufklärungsphilosophie stehende Theorie des „Politischen Liberalismus“ typisch ist, als deren herausragende Vertreter John Rawls und Jürgen Habermas gelten, hat sich bereits seit Ende der 1970er Jahre, anhebend mit der sogenannten „Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte“, eine kritische Gegenbewegung formiert.4 Zu dieser gegenuniversalistischen Bewegung gehören neben „alten“ und „neuen“ Republikanern vor allem „postfundamentalistische“ Autoren. Claude Lefort, Alain Badiou, Jacques Rancière, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe teilen mit republikanischen wie kommunitaristischen Denkern die tiefgreifende Skepsis gegenüber universalistischen und rationalistischen Letztbegründungsversuchen sozialer Ordnung.5 Die Frage 4 Die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte umfasste im Wesentlichen drei Fragekomplexe: die politisch-anthropologische Frage nach dem Begriff der Person, die metatheoretische Frage nach dem Status von Moralphilosophie, einschließlich der Begründbarkeit universal gültiger Standards, sowie die politisch-institutionelle Frage nach der Neutralität des Staates. Vgl. Michael Haus, Kommunitarismus. Einführung und Analyse, Wiesbaden 2003, S. 19. 5 Einen guten Überblick zu den Arbeiten der „postfundamentalistischen“ Autoren bieten vor allem die Darstellungen von Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou und Agamben, Berlin 2010 und von Uwe Hebekus / Jan Völker, Neue Philosophien des Politischen zur Einführung, Hamburg 2012.
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nach der „richtigen“ oder der „guten“ Ordnung ist in ihren Augen eine Frage, auf die es nicht eine, sondern mehrere mögliche Antworten gibt und die folglich nicht (allein) in theoretischen Debatten, sondern in praktisch-politischen Kämpfen entschieden wird. Dieser sehr grundsätzlich geführte Disput über die Begründung und Geltung universalistischer Normen hat angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen der liberalen Demokratien durch den internationalen Terrorismus, die schwächelnde Weltwirtschaft und die globalen Migrationsbewegungen, aber zudem forciert durch die wachsende Attraktivität autoritärer Regierungen und das Erstarken populistischer Bewegungen noch einmal an politischer Schärfe gewonnen. In diesem offensiv ausgetragenen Streit darüber, ob und wie diesen multiplen, sich gegenseitig überlagernden und einander verstärkenden Herausforderungen der liberalen Demokratie wirksam begegnet werden kann, hat eine Publikation die gegenwärtige Debatte darüber, was Normen überhaupt sind und wie sie begründet werden können, noch einmal forciert: das Buch des Berliner Staatsrechtslehrers und Leibniz-Preisträgers Christoph Möllers Die Möglichkeit der Normen. Ausgehend von einem zunächst minimalistischen Normbegriff, wonach eine Norm die Verwirklichung einer Möglichkeit affirmiert,6 unternimmt Möllers einen Generalangriff auf den „Politischen Liberalismus“, der in den letzten dreißig Jahren den politiktheoretischen Diskurs geprägt hat.7 Möllers macht der normativen Philosophie und Theorie die Begriffe Norm und Normativität selbst streitig. Gegen die abstrakte und bei Rawls wie Habermas über idealtypische Verfahren gewonnene Begründung von Normen sieht er die zentrale Leistung von Normativität in der Bezeichnung und Sichtbarmachung von Alternativen zum bestehenden Weltzustand: „Die Grundoperation des Normativen ist negativ. Sie weist die Welt so, wie sie ist, zurück.“8 Möllers hat damit zugleich in Frage gestellt, dass sich das Normative vom Nicht-Normativen genau abgrenzen lässt. Für Möllers besteht das Charakteristikum von Normen darin, dass sie mit (sozialen) Praktiken zusammenhängen, die auf spezifische historische Kontexte und Institutionen bezogen sind. Hinzu kommt, dass über die Anwendung von Normen von
6 Vgl. Christoph Möllers, Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin 2015, S. 14, 125, 395. 7 Vgl. Regina Kreide, Das Schweigen des politischen Liberalismus, in: Mittelweg 36,2 (2016), S. 5-20, hier S. 5. 8 Möllers, Die Möglichkeit der Normen, S. 208.
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spezifisch autorisierten Akteuren entschieden wird.9 In dieser Aufwertung des partikularen Entstehungs-, Geltungs- und Anwendungskontextes von Normen gegenüber den Frankfurter Versuchen, „mittels einer ‚normativen‘ (Axel Honneth) beziehungsweise ‚rationalen Rekonstruktion‘ (Habermas) wertende Maßstäbe aus der Geschichte oder aus empirischen Phänomenen zu gewinnen“, wird der Normbegriff selbst als „unaufhebbar vage“ vorgestellt: „Normen sind Möllers zufolge hybride Phänomene, insofern in normativen Praktiken die Realität ebenso transzendiert wie auf sie zurückgegriffen wird.“10 In seiner kritischen Würdigung von Möllers’ „Kampfschrift“ hat der Philosoph und Leibniz-Preisträger Rainer Forst das Frankfurter Forschungsprogramm „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ gegen Möllers’ Einsprüche verteidigt. Forst stellt Möllers’ Grundannahme in Frage, der Sollenscharakter von Normen ließe sich jenseits des Anspruches begründen, sich durch tiefer liegende Grundsätze, durch Verfahren oder durch das Erzielen guter Ergebnisse zu rechtfertigen. Für Forst läuft Möllers’ Negieren der Rechtfertigungsdimension ins Leere: Jede, also auch jede sich auf partikulare soziale Praktiken der Normbestätigung oder eben Normrevision beziehende „Theorie des Sollens“ enthalte normative Wertungen, die nur als Rechtfertigungen denkbar sind. Und nur über die moralisch und/oder normativ begründete kritische Reflexion von partikularen Normen ließe sich deren ideologischer Charakter erschließen und die sozialen und politischen Machteffekte im Rechtfertigungsraum sichtbar machen.11 Was sich an diesem aktuell „zwischen Berlin und Frankfurt“ geführten Disput beobachten lässt, ist die Wiederkehr sehr „alter“, seit der Antike kontrovers diskutierter Fragen: Nach welchen Normen soll der Mensch handeln? Wer bestimmt über die Geltung von Normen? In Bezug auf welche Quellen wird begründet, was als Norm zu gelten habe? Wie werden Normbrüche sanktioniert? Und, damit verbunden, wie ist mit konfligierenden Normen umzugehen – und zwar vor allem dann, wenn sie die Stabilität politischer Ordnungen gefährden beziehungsweise zu gefährden scheinen? Die literarisch älteste Narration, in der all diese Fragen behandelt werden, ist Sophokles’ Antigone. Was in dieser Tragödie an dem Handeln der 9 Vgl. ebd., S. 400ff. 10 Wolfgang Knöbl, Soziologische Anmerkungen zu Christoph Möllers, in: MöllersBuchforum (I): Die Möglichkeit der Normen, Berlin 2015. 11 Vgl. Rainer Forst, Wie utopisch sind Tischsitten? Die Zeit Nr. 3/2016, 14. Januar 2016.
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beiden Protagonisten Kreon und Antigone reflektiert wird, ist der Zusammenprall der Norm politischer Stabilität, für die Kreon steht, mit dem religiösen Gebot, auf das sich Antigone beruft, als sie das explizite Verbot ihres Onkels Kreon, den im Zweikampf gefallenen Bruder nicht zu beerdigen, weil ihm als Vaterlandsverräter diese Würdigung nicht zustehe, missachtet. Antigone wird zum Tode verurteilt, weil sie selbst entschieden hat, welche der widerstreitenden Normen für sie verbindlich war. Und das Todesurteil hat Kreon gefällt, als er in seiner Funktion als politischer Führer die Stabilität des Gemeinwesens höher stellte als die in Theben fest verankerte religiöse Tradition, die universale Geltung naturrechtlich begründeter Normen und die Verpflichtungen, die aus verwandtschaftlichen und emotionalen Bindungen erwachsen.12 Sophokles reflektiert in dieser Tragödie zum einen die Erfahrung, dass der Mensch als ein soziales, in verschiedenen Gemeinschaften lebendes und den hier jeweils geltenden Normen verpflichtetes Wesen eigentlich ständig damit konfrontiert ist, zwischen konfligierenden Normen zu entscheiden. „Die Vielfalt von Normen“, so hat der politische Ideengeschichtler Marcus Llanque im Rekurs auf Antigone festgestellt, „ist schier unbegrenzt: Von den Naturrechtsnormen bis zu Verfassungsgesetzen, von Spielregeln und Konventionen bis zu strengen Verfahrens- und protokollarischen Vorschriften finden sich viele unterschiedliche Typen.“13 Zum anderen wirft Sophokles die Frage auf, ob politische Stabilität darüber zu erreichen ist, die Pluralität von Werten und Normen herrschaftlich zu reduzieren: Hat Kreon nicht gerade dadurch, dass er seinen machtpolitischen Anspruch durchsetzt, souverän zu entscheiden, was gut für Theben ist, das tragende Wertegerüst dieses Gemeinwesens ausgehöhlt? Diese komplexe Frage nach der Normativität von Stabilität verweist auf die höchst kontroverse, weit in die politische Ideengeschichte reichende
12 Vgl. Sophokles, Antigone, in: Ders., Werke in zwei Bänden, aus dem Griechischen übers. u. hg. v. Dietrich Ebener, Berlin 1995; eine ambitionierte Reinterpretation der griechischen Tragödiendichtung, insbes. von „Antigone“, für eine universalistische Konzeption des guten menschlichen Lebens bietet Martha Craven Nussbaum, The fragility of goodness. Luck and ethics in Greek tragedy and philosophy, Cambridge 1986, vor allem 3. Kap. (S. 51-84); zu Nussbaums vermittelndem Rekurs auf anthropologische Annahmen über die menschliche Natur und in Narrationen aufgehobene und normativ reflektierte Konflikterfahrungen vgl. Grit Straßenberger, Über das Narrative in der politischen Theorie, Berlin 2005, vor allem S. 103-115. 13 Marcus Llanque, Entstehung und Typen politischer Normen, in: Ders. / Herfried Münkler (Hg.), Politische Theorie und Ideengeschichte. Lehr- und Textbuch, Berlin 2007, S. 341-372, hier S. 347.
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politiktheoretische Diskussion um das Verhältnis von Stabilität und Normativität. Stabilitätspolitische Konzeptionen plädieren häufig in betont „realistischer“, machttheoretischer Perspektive für die Einrichtung einer auf souveräner Entscheidungskompetenz beruhenden politischen Ordnung. In diesen zumeist auf Thomas Hobbes rekurrierenden Ansätzen wird Stabilität – oder in synonymer Verwendung Sicherheit – zur kardinalen Norm, der gegenüber individuelle Freiheitsrechte, politische Beteiligungsansprüche und egalitäre Gerechtigkeitsnormen als untergeordnete Werte erscheinen. Im Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates von 1651 begründet Thomas Hobbes, warum es im wohlverstandenen Interesse des Menschen liegt, sich einer staatlichen Gewalt bedingungslos zu unterwerfen. Radikal mit der Theorietradition des politischen Aristotelismus brechend, bezeichnet Hobbes das klassische Ideal einer guten, gerechten, dem Gemeinwohl verpflichteten, freiheitlichen Republik als falsch und gefährlich.14 Durch die Lektüre griechischer und römischer Schriftsteller, wie Aristoteles und Cicero, „wurde es den Menschen von Kindheit an unter dem Einfluß eines falschen Freiheitsbildes zur Gewohnheit, Aufruhr gutzuheißen und die Handlungen ihres Souveräns sowie die Kritik der Kritiker zu kritisieren, was mit soviel Blutvergießen verbunden ist, daß ich wohl recht habe, wenn ich sage, daß niemals etwas so teuer erkauft wurde wie das Erlernen der griechischen und lateinischen Sprache von der westlichen Welt.“15 Die Aufgabe des Staates ist es Hobbes zufolge gerade nicht, die Freiheit seiner Bürger zu gewährleisten; der Zweck des Staates besteht vielmehr darin, die Sicherheit der „Untertanen“ zu garantieren. Diese Zwecksetzung folgt aus der Unzulänglichkeit der menschlichen Natur. Gegen Aristoteles’ „normative Anthropologie“, den Menschen so zu sehen, wie er sein kann und vor allem wie er sein soll, will Hobbes den Menschen sehen, wie er ist: „Lies in dir selbst“, fordert er den Leser in der Einleitung zum Leviathan auf, „und du wirst ein egoistisches, selbstsüchtiges, habgieriges, nur auf den eigenen Vorteil bedachtes Wesen entdecken, das zugleich ein furchtsames Wesen ist.“16 Habgier und Furcht sind die beiden zentralen Leidenschaften, die den Menschen nach Hobbes antreiben – und sie bilden zugleich die Begründung dafür, warum es nicht nur stabilitätspolitisch not14 Zu Hobbes’ Bruch mit der klassischen politischen Philosophie vgl. Herfried Münkler, Thomas Hobbes, Frankfurt a.M. 2001, S. 56-72. 15 Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. und eingel.v. Iring Fetscher, Frankfurt a.M. 1966, S. 167. 16 Ebd., S. 6.
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wendig, sondern auch rational ist, eine staatliche Zwangsordnung zu etablieren und sich ihr zu unterwerfen. Bei dieser Verschwisterung von Autorität und politischer Entscheidungsgewalt im Konzept souveräner Herrschaft handelt es sich zwar klar um ein illiberales Ordnungsmodell; Hobbes selbst aber hat explizit darauf bestanden, dieses Stabilität priorisierende Modell wäre für monarchische Regierungsformen ebenso anschlussfähig wie für aristokratische und demokratische. Er glaubte, er könne damit den naheliegenden Verdacht einer politischen Parteinahme für die Monarchie entkräften. Mit Blick auf Hobbes’ ideenpolitischen Feldzug gegen Aristoteles stellt sich die Frage, ob der Begründer der politischen Wissenschaft tatsächlich als normativistischer Denker zu verstehen ist, der das, was „real“ ist, dem normativ Wünschenswerten unterordnet und damit, wie Hobbes meinte, höchst unverantwortlich agiert, weil er eine gute politische Ordnung als Norm postuliert, die in der politischen Praxis zu Unordnung beziehungsweise zu einer Destabilisierung politischer Ordnung geführt hat. Sieht man vom siebenten und achten Buch der Politik ab, wo Aristoteles ein ideales Gemeinwesen entwirft, so sind seine ordnungspolitischen Überlegungen auf den Ausgleich sozio-ökonomischer Ungleichheiten, auf die Austarierung politischer Interessenkonflikte und auf die Ausbalancierung konfligierender Machtansprüche gerichtet. Das von ihm präferierte politische Ordnungsmodell der „Politie“ ist eine Mischung zwischen zwei „schlechten“ politischen Verfassungsformen: zwischen der Oligarchie als der Herrschaft der wenigen Reichen zu ihrem Vorteil und der Demokratie als der Herrschaft der vielen Armen zu ihrem Vorteil.17 Die „Politie“ schafft den sozialen und politischen Ausgleich zwischen denen, die man wegen ihrer auf Reichtum begründeten Macht nicht übergehen kann, und denen, die die Mehrheit bilden. Die „Politie“ ist die im politischen Sinne normativ wünschenswerte Ordnung, weil sie dauerhafter ist als alle anderen Verfassungsformen, mögen diese noch so gut sein bezie-
17 Neben dem im dritten Buch der „Politik“ aufgestellten politologisch-normativen Sechserschema der Verfassungen entwickelt Aristoteles in den Büchern IV bis VI ein soziologisch-deskriptives Modell der Verfassungsanalyse und zeichnet im sechsten Buch dann die „Politie“ als mitteorientierte Verfassung aus, die im Gegensatz zur radikalen Demokratie wie zur extremen Oligarchie auf Mäßigung ausgerichtet ist. Vgl. Aristoteles, Politik, übers. v. Olof Gigon, München 1973, S. 202-217 (VI, 1-8); zu Aristoteles’ Verfassungstypologie und seinen stabilitätspolitischen Überlegungen zur „Politie“ vgl. Herfried Münkler / Grit Straßenberger, Politische Theorie und Ideengeschichte. Eine Einführung, München 2016, S. 91-96.
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hungsweise von den Besten aufs Beste regiert werden. Nur die „Politie“ wird der Norm der Stabilität gerecht, weil Aristoteles zufolge nur sie imstande ist, die verschiedenen sozioökonomischen Interessen auszugleichen und die Pluralität der Perspektiven auf das allen gemeinsame Gute, einschließlich der darin offenbar werdenden Wertekonflikte, in politischen Institutionen der Beteiligung an Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zu vermitteln.18 Ist die „alte Politie“ die „neue“ liberale Demokratie, wie der Neoaristoteliker Dolf Sternberger meinte, als er im westlichen Verfassungsstaat die alte Idee einer stabilen Mischung zwischen oligarchischen und demokratischen Elemente verwirklicht sah?19 Sternbergers „bruchlose“ Übertragung antiker Ordnungsvorstellungen auf moderne Strukturen bleibt in vielfältiger Weise defizitär und bestreitbar.20 Vor allem aber steht heute mehr denn je Sternbergers optimistische Einschätzung in Frage, die liberale Demokratie, 18 Aristoteles gilt daher auch als ideengeschichtlicher Vorläufer der mit Polybios’ Kreislaufmodell der Verfassungsformen anhebenden und dann vor allem durch Niccolò Machiavellis Konzept des „begrenzten Konflikts“ und Charles de Montesquieus Gewaltenteilungsmodell begründeten Mischverfassungstheorie, an die dann auch die sogenannten „Federalists“ in ihrem Verfassungsentwurf für eine auf Repräsentation und horizontale wie vertikale Gewaltenteilung fußende demokratische Ordnung anschlossen, die sie selbst als Republik bezeichneten und die dann unter dem Namen „liberale Demokratie“ zum dominanten politischen Ordnungsmodell im „Westen“ wurde. Die Mischverfassungstheorie beruht auf der stabilitätspolitischen Grundüberzeugung, dass die „reine“ oder „radikale“ Demokratie intrinsisch instabil ist und daher durch nicht-demokratische Verfassungselemente, etwa der Einrichtung einer dem demokratischen Mehrheitswillen enthobenen Autorität des Obersten Gerichtshofes, wie durch eine Steigerung der am Politikprozess beteiligten Konfliktparteien stabilisiert werden muss. – Zur Ideengeschichte der Mischverfassungskonzeption vgl. Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010, S. 75-108; zur Rezeption von Machiavelli und Montesquieu bei den Federalists vgl. Barbara Zehnpfennig, Einleitung, in: Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Die Federalist Papers, hg. v. Barbara Zehnpfennig, Darmstadt 1993, S. 1-44. 19 Dolf Sternberger, Der Staat des Aristoteles und der moderne Verfassungsstaat, in: Ders., Verfassungspatriotismus, Schriften Bd. X, Frankfurt a.M. 1990, S. 133-155; Ders., Die neue Politie. Vorschläge zu einer Revision der Lehre vom Verfassungsstaat, in: Ders., Verfassungspatriotismus. Schriften Bd. X, S. 156-231; zu Sternbergers Neoaristotelismus vgl. Thomas Gutschker, Aristotelische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart / Weimar 2002, S. 293-340; zu Aristoteles als „Vorläufer eines modernen politischen Liberalismus“ vgl. Otfried Höffe, Aristoteles’ Politik: Vorgriff auf eine liberale Demokratie?, in: Ders. (Hg.), Klassiker Auslegen. Aristoteles. Politik, Berlin 2001, S. 187-204. 20 Zu Sternbergers affirmativen Neoaristotelismus vgl. René Weiland, Bruch und Vorbild. Auf neoaristotelischer Spur, in: Merkur, 43. Jg., S. 358-365.
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wie sie sich im Gefolge der großen Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet und nach dem „Ende“ des sogenannten Ost-West-Konfliktes als dominantes Ordnungsmodell zunächst durchgesetzt hat, stelle eine stabile politische Ordnung dar, die imstande sei, die Bürger normativ zu binden und zu reflektierter Folgebereitschaft anzuhalten. 3. Über die Stabilität der liberalen Demokratie Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist in Intervallen immer wieder die Erwartung aufgetaucht, die Demokratie werde sich in globalem Maßstab durchsetzen und es werde in Zukunft nur noch demokratische Staaten geben. Dementsprechend sind Schübe der politischen Veränderung als „Wellen der Demokratisierung“ bezeichnet worden. Weniger Aufmerksamkeit und schon gar keine vergleichbare Bezeichnung als allgemeiner Trend haben Gegenbewegungen zur Demokratie oder deren Zerfall gefunden. Es hat aber beides gegeben und gibt beides auch zurzeit. Gleichzeitig zu der Beobachtung, dass sich die Demokratie noch immer nicht im globalen Maßstab durchgesetzt hat und dies auf absehbare Zeit auch nicht zu erwarten ist, ist die mit der Demokratie verbundene politische Semantik in einem solchen Ausmaß hegemonial geworden, dass es zur Demokratie keine symmetrischen Gegenbegriffe mehr gibt. Was es dagegen aber durchaus gibt, sind konkurrierende Demokratiebegriffe. So werden zwar heute politische Systeme als demokratisch bezeichnet, wenn sie über Repräsentativversammlungen verfügen, die politischen Amtsträger gewählt werden, es eine Gewaltenteilung gibt und die politische Entscheidungsfreiheit durch die Verfassung begrenzt wird.21 Aber sowohl diese einzelnen Elemente einer demokratischen Ordnung als auch ihre spezifische Gewichtung werden ganz unterschiedlich ausgedeutet. Ausdruck dieser Vieldeutigkeit des Demokratiebegriffs sind die adjektivischen Ergänzungen: „‚Demokratie‘ steht in der akademischen Diskussion nur ganz selten als Wort für sich, sondern wird zumeist unter Hinzuziehung eines Adjektivs näher qualifiziert. Häufige Qualifikatoren sind ‚westlich‘, ‚repräsentativ‘, ‚plebiszitär‘, ‚liberal‘, ‚modern‘, ‚pluralistisch‘, ‚sozialistisch‘, ‚deliberativ‘, ‚autoritär‘, ‚gelenkt‘ oder ‚defekt‘. Angesichts der vielen sich dadurch semantisch bietenden Möglichkeiten gibt es heute – anders
21 Vgl. Hubertus Buchstein, Demokratie, in: Gerhard Göhler / Mattias Iser / Ina Kerner (Hg.), Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung, 2., aktualisierte und erweiterte Ausgabe, Wiesbaden 2011, S. 46-62, hier S. 46.
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als in der Antike – eine Vielzahl unterschiedlicher und heftig miteinander konkurrierender ‚Demokratietheorien‘, die jeweils reklamieren, über ein zutreffendes Demokratieverständnis zu verfügen.“22 Diese adjektivischen Ergänzungen drehen sich um die Frage, ob das Versprechen der Demokratie primär in verfassungsrechtlich gesicherten Verfahren demokratischer Beteiligung durch regelmäßige und standardisierte Wahlen der politischen Repräsentanten, in der strengen Kontrolle politischer Entscheidungseliten durch parlamentarische Institutionen, eine unabhängige Gerichtsbarkeit und eine kritische Öffentlichkeit sowie in der Ausweitung von Foren und Formen qualifizierter Bürgerbeteiligung besteht – oder ob sich die Leistungsfähigkeit der demokratischen Ordnung vornehmlich in der effizienten Bereitstellung kollektiver Güter wie Sicherheit und Wohlstand erweist. In den letzten zwei Jahrzehnten haben zwei weitere Begriffe des Demokratischen Karriere gemacht, die diesen Streit um das „rechte“ Verhältnis zwischen Input- und Output-Legitimation zu entscheiden versuchen: der Begriff der „Post-Demokratie“ und das Konzept der „agonalen“ beziehungsweise „agonistischen Demokratie“. Den Begriff „Post-Demokratie“ verwendet Colin Crouch, um auf gegendemokratische Entwicklungen innerhalb der westlichen Demokratie aufmerksam zu machen, wie den Legitimitätsverlust der politischen Akteure und Institutionen, die Degradierung der Wähler zu passiven Zuschauern einer von professionellen PR-Experten besorgten Inszenierung des Wahlkampf-Spektakels, die wachsende Macht der Lobbyisten – vorzugsweise von Lobbys der Wirtschaft – und, damit verbunden, die zunehmende Intransparenz politischer Entscheidungsprozesse.23 Wie der Bielefelder Sozialwissenschaftler Helmut Willke hervorhebt, sieht Colin Crouch diese Krisenhaftigkeit der (liberalen) Demokratie „als das Produkt einer übergeordneten Krise des Kapitalismus“.24 Willke schließt an diese Überlegungen an, wenn er in seinem 2014 erschienenen Buch Demokratie in Zeiten der Konfusion feststellt, die etablierten Demokratien des Westens seien nicht mehr imstande, die neuen Herausforderungen, wie sie durch Globalisierung, Wissensgesellschaft und organisierte Komplexität entstehen, zu bewältigen.25 Daher müsse man über eine Transformation der Demokratie in Richtung einer (demokratisch) kontrollierten Expertokratie nachdenken.
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Ebd., S. 47. Vgl. Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008, S. 91ff. Helmut Willke, Demokratie in Zeiten der Konfusion, Berlin 2014, S. 110. Vgl. ebd., S. 10ff.
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Auf eine solche Lösung stellt Colin Crouch zwar ganz klar nicht ab, aber es bleibt durchaus unklar, welche Demokratie die Norm bildet, entlang derer er die beschriebenen („post-demokratischen“) Entwicklungen als Verfallsprozesse identifiziert. Demgegenüber hat der große Liberale der alten Bundesrepublik Ralf Dahrendorf den „Post-Demokratie“-Begriff diagnostisch eingesetzt, um auf die Degeneration der liberalen Demokratie aufmerksam zu machen. Mit dem Begriff „Post-Demokratie“ verbindet Dahrendorf die zugespitzte Kriseneinschätzung einer entkoppelten Elitisierung und der Entfremdung der Bürger von der politischen Macht. Er sieht darin eine Abkehr von dem Versprechen der liberalen Demokratie, die er im Wesentlichen an fünf Entwicklungen festmacht: das Auseinandertreten von Machtausübung und Volkswillen, der wachsende Einfluss von nicht demokratisch legitimierten zivilgesellschaftlichen Eliten, der Niedergang der Medien als vierte Gewalt, der Aufstieg populistischer Politiker und schließlich die sich ausbreitende Apathie der Bürger, die eine „Demokratie ohne Demokraten“ befördert, also eine Gesellschaft, in der „die Bürger ihren Pflichten als Staatsbürger nicht nachkommen“.26 Den Maßstab für Dahrendorfs spezifische postdemokratische Krisendiagnose bietet weder eine die klassischen Spätkapitalismus-Theorien fortsetzende Kritik noch ein normativ überhöhtes oder gar radikaldemokratisches Modell partizipativer Demokratie,27 sondern eine Konzeption der liberalen Demokratie, die die vergessene Tradition eines konfliktaffinen, pluralistischen Liberalismus revitalisiert.28 In einer auf den ersten Blick ungewöhnlichen Allianz mit der derzeit wohl prominentesten radikal-pluralistischen Demokratietheoretikerin Chantal Mouffe hat Ralf Dahrendorf die Stabilität der liberalen Demokratie daran festgemacht, ob es gelingt, die in einer liberal-demokratischen Gesellschaft virulenten und für sie konstitutiven Wertekonflikte auf der politischen Ebene zu repräsentieren und offensiv auszutragen. Der 26 Ralf Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch mit Antonio Politio, München 2002, S. 91f. 27 Vgl. Oliver Eberl / David Salomon, Postdemokratie und soziale Demokratie, in: Politische Vierteljahresschrift 54,3 (2013), S. 415-425, hier S. 415. 28 Zu Dahrendorfs konfliktaffiner Konzeption der liberalen Demokratie vgl. Grit Straßenberger, „Demokratie ohne Demokraten“. Ralf Dahrendorf über das Führungsproblem in der „Post-Demokratie“, in: Michael Haus / Sybille De La Rosa (Hg.), Politische Theorie und Gesellschaftstheorie – Zwischen Erneuerung und Ernüchterung, Baden-Baden 2016, S. 195-218; zur Tradition eines „konfliktiven Liberalismus“ vgl. Vincent Rzepka / Grit Straßenberger, Für einen konfliktiven Liberalismus. Chantal Mouffes Verteidigung der liberalen Demokratie, in: Zeitschrift für Politische Theorie 5,2 (2014), S. 217-233.
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deutsche Liberale und die belgische Hegemonietheoretikerin treffen sich in der Überzeugung, die Bevorzugung der liberalen Demokratie als einer pluralistischen und konfliktaffinen Ordnung ließe sich nicht im Rekurs auf moralisch oder rationalistisch hergeleitete Letztbegründungen plausibilisieren, sondern stelle eine politische Entscheidung dar, für deren Durchsetzung zu kämpfen wäre. Mouffe und Dahrendorf verteidigen die liberale Demokratie als politische Ordnung, die Integration über Konflikt praktiziert.29 Entsprechend sehen sie in der Domestizierung von Konflikten, wie sie in rationalistischen Modellen der Konsens-Demokratie normativ ausgezeichnet und in einer konfliktaversen Politik der Mitte praktiziert werde, eine die liberale Demokratie destabilisierende Aushöhlung der sie tragenden Grundwerte. In ihrer stabilitätspolitischen Verschränkung von Pluralität und Demokratie folgen Dahrendorf und Mouffe der normativen Einsicht des französischen Sozialwissenschaftlers und Demokratietheoretikers Alexis de Tocqueville, die beiden zentralen, aber miteinander in Konflikt stehenden demokratischen Werte Freiheit und Gleichheit ließen sich nur in einer zivilgesellschaftlich verfassten und die politische Führung wirksam kontrollierenden liberalen Demokratie auf Dauer stellen.30 Das Gegenmodell bildet die widerständige Praktiken unterdrückende und individuelle Freiheitsrechte aushebelnde „Tyrannei der Mehrheit“. In seiner 1835 beziehungsweise 1842 veröffentlichten Studie Über die Demokratie in Amerika schreibt der große Skeptiker Tocqueville: „Was ich der demokratischen Regierung, wie man sie in den Vereinigten Staaten ausgebildet hat, vor allem vorwerfe, ist nicht ihre Schwäche, wie sie viele Leute in Europa behaupten, sondern im Gegenteil ihre unwiderstehliche Stärke. Und was mich in Amerika am meisten abstößt, ist nicht die weitgehende Freiheit, die dort herrscht, es ist die geringe Gewähr, die man dort gegen die Tyrannei findet.“31 Tocqueville hat in für die Demokratietheorie folgenreicher Weise die zuvor enge Verbindung der Tyrannis-Semantik mit der Herrschaft eines Einzelnen aufgelöst und sie stattdessen mit der Herrschaft der Vielen in Ver-
29 Zu modernen Ansätzen einer konfliktaffinen Demokratietheorie vgl. Harald Bluhm / Karsten Malowitz, Integration durch Konflikt. Zum Programm zivilgesellschaftlicher Demokratie, in: Oliver Lembcke / Claudia Ritzi / Gary S. Schaal (Hg.), Zeitgenössische Demokratietheorie, Bd. 1: Normative Demokratietheorien, Wiesbaden 2012, S. 189-222. 30 Vgl. dazu Rzepka / Straßenberger, Für einen konfliktiven Liberalismus, vor allem S. 224-227. 31 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, dt. von Hans Zbinden, Zürich 1987, Erster Teil, S. 378.
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bindung gebracht: „Ich werde die Gewalt, alles zu tun, die ich einem einzigen meiner Mitmenschen verweigere, niemals mehreren zubilligen.“32 Es ist die Ausstattung der Regierenden mit „Allmacht“, die nach Tocqueville das Wesen der Tyrannei ausmacht, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um einen Einzelnen, Einige oder Viele handelt: „Es ist demnach auf Erden keine Autorität, die als solche so ehrwürdig oder Trägerin eines so geheiligten Rechtes wäre, daß ich sie unbeaufsichtigt handeln und unbehindert herrschen lassen wollte. Sehe ich also, dass irgendeiner Macht das Recht und die Befugnis, alles zu tun, eingeräumt wird, nenne man sie Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie, werde sie in einer Monarchie oder einer Republik ausgeübt, so sage ich: hier ist der Keim zur Tyrannei und ich trachte, unter anderen Gesetzen zu leben.“33 Für Tocqueville können die liberalen Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber staatlich-politischen Eingriffen nur dann wirksam geschützt werden, wenn die demokratischen Partizipationsrechte der Bürger gesichert sind – und von ihnen auch aktiv in Anspruch genommen werden. Hannah Arendt hat Tocquevilles liberal-demokratische Überlegungen republikanisch zugespitzt. Danach hat die liberale Entscheidungsfreiheit die gesetzliche Möglichkeit und die Bereitschaft der Bürger zur Voraussetzung, durch gemeinsames machtvolles Handeln die Verfassung der Freiheit in ihren negativen Schutzrechten wie, dem vorausgehend, den positiven Partizipationsrechten zu unterstützen. Die Pflicht zum Engagement wird hier zur Grundlage für die Inanspruchnahme bürgerlicher Freiheiten, aber nicht in der simplifizierenden Lesart, derzufolge Pflichten Rechte begründen, sondern in einem qualifizierten republikanischen Verständnis, dass erst durch die aktive Inanspruchnahme positiver politischer Freiheitsrechte die negativen, liberalen Schutzrechte wirksam gesichert werden können.34 Ralf Dahrendorf folgt sowohl Tocquevilles Krisendiagnose als auch – mit Vorbehalt – Arendts republikanischer Zuspitzung seiner Therapievorschläge. Zwar bleibt der Liberale grundsätzlich skeptisch gegenüber republikanischen Tugendanforderungen, gesteht aber angesichts der für ihn bereits Mitte der 1990er Jahren erkennbaren Selbstgefährdungen der liberalen Demokratie zu, dass der Verzicht auf die Möglichkeit aktiver Teilhabe,
32 Ebd., S. 377. 33 Ebd., S. 378. 34 Zu Hannah Arendts republikanischer Vermittlung von negativen Schutz- und positiven Partizipationsrechten vgl. Grit Straßenberger, Constitutio libertatis: Über die Macht gegenseitigen Versprechens. Zur performativen Deutung der Verfassung bei Hannah Arendt, in: Marcus Llanque / Daniel Schulz (Hg.), Verfassungsidee und Verfassungspolitik, Berlin / München / Boston 2015, S. 97-115.
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die bürgerliche oder politische Freiheit nicht vergrößere, ja dass der Verzicht auf aktive Partizipation zu einer Destabilisierung der liberalen Demokratie als eine die individuelle Freiheit schützende und Chancengleichheit befördernde politische Ordnung führen kann: „Auch Apathie kann Freiheit zerstören, ungenutzte Möglichkeiten schwinden dahin; so eröffnen sich Chancen für Usurpatoren. Es ist also möglicherweise nicht genug, nur von der ‚Chance des Handelns‘ und nicht vom Handeln selbst zu sprechen. Es gibt auch so etwas wie eine Entropie der Freiheit. Daher ist tätige Freiheit nötig.“35 Herfried Münkler hat Dahrendorf nicht zuletzt aufgrund dieser Einsicht als „republikanischen Liberalen“ beziehungsweise als „liberalen Republikaner“ bezeichnet.36 Zugleich ist damit die Schnittstelle markiert zwischen einem „konfliktiven Liberalismus“, für den exemplarisch Alexis de Tocqueville und Ralf Dahrendorf stehen, und einem „dissentiven Republikanismus“, als dessen herausragende Protagonistin Hannah Arendt gelten kann.37 Auf dieser Schnittstelle balanciert auch die radikal-pluralistische Hegemonietheoretikerin Chantal Mouffe mit ihrem Modell der „agonistischen Demokratie“. Die zentrale These von Mouffe ist, dass nur eine konfliktaffine, um die agonistische Dimension des Politischen erweiterte liberale Demokratie langfristig stabil ist. Dem Einwand, dass die leidenschaftliche Zuspitzung des politischen Machtkampfes die Konfliktbewältigungsfähigkeit liberaldemokratischer Ordnungen übersteige und daher gerade keine „entfeindende“ Wirkung habe, sondern vielmehr dazu tendiere, politische „Feindschaft“ zu verstetigen oder gar erst hervorzubringen, begegnet Mouffe mit der politiktheoretisch originellen Überlegung, die Pluralisierung von Kämpfen beziehungsweise von Gegnern selbst bewirke eine „Entfeindung“ gesellschaftlicher Konfliktlagen.38 Auf die Frage, ob ein Zuviel an Pluralismus der liberalen Demokratie schade, hat Mouffe eine klare Antwort gegeben. Sie hat aber weder behauptet, dass es zu ihrem agonistischen Modell der liberalen pluralisti-
35 Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2008, S. 56. 36 Herfried Münkler, Sozio-moralische Grundlagen liberaler Gemeinwesen. Überlegungen zum späten Ralf Dahrendorf, in: Mittelweg 36,19,2 (2010), S. 22-37, hier S. 35. 37 Zu Arendts dissentivem Republikanismus vgl. Grit Straßenberger, Hannah Arendt zur Einführung, Hamburg 2015, S. 89-125. 38 Zu Chantal Mouffes Konzeption der „agonistischen Demokratie“ vgl. Grit Straßenberger, Linkspopulismus als Gegengift? Zur Kritik der radikal-pluralistischen Demokratietheorie, in: Mittelweg 36,25,6 (2016/17), S. 36-55.
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schen Demokratie keine Alternativen gebe, noch dass eine „multipolare Welt“, für die Mouffe in Erweiterung ihrer Überlegungen „für das Feld der internationalen Beziehungen“ plädiert und die sie gegenüber kosmopolitischen Ansätzen einer „Universalisierung des westlichen Modells“ abgrenzt, „notwendigerweise eine demokratische sein wird“.39 Die liberale Demokratie verdient „zweifellos unsere Loyalität“, so Mouffe, aber sie ist ein kontingentes Konstrukt – und es „gibt keinen Grund, es als einzig legitime Organisationsform menschlicher Koexistenz darzustellen und zu versuchen, es dem Rest der Welt aufzuzwingen. Offensichtlich ist der Individualismus, wie er in westlichen Gesellschaften vorherrscht, vielen anderen Kulturen, deren Traditionen auf anderen Werten beruhen, fremd. Demokratie, im Sinne der ‚Herrschaft des Volkes‘, kann daher andere Formen annehmen – etwa Formen, in denen dem Wert der Gemeinschaft eine höhere Bedeutung beigemessen wird als der Idee der individuellen Freiheit.“40 4. Demokratiebegriffe in politischen Grauzonen Welche Demokratieformen denk- und rechtfertigbar und wo die Grenzen des Demokratischen plausibel zu ziehen sind, ist ein wiederkehrendes Problem der Demokratietheorie, das auch die politische Debatte nicht unberührt lässt. In den letzten Jahren geriet gerade jener dynamische Pluralismus, der einer intakten liberalen Demokratie immer wieder und insbesondere in ihrer agonalen Ausdeutung zugeschrieben wird, zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik: Die mit ihm assoziierte Instabilität wurde immer wieder mit Gegenbegriffen des Demokratischen gekontert, die eine maximale Leistungsfähigkeit und Stabilität demokratischer Ordnung in Aussicht stellen. Kontrovers ist aber, ob sich diese stabilitätsorientierten Gegenbegriffe, die in der Grauzone zwischen Theoriebildung und politischer Programmatik zu verorten sind, noch auf dem Spektrum des Demokratischen bewegen. Die Konfrontation der bislang erörterten Demokratiebegriffe mit ihren illiberalen Gegenbegriffen wirft somit die Frage nach den notwendigen Kernnormen des Demokratischen auf – und umgekehrt die Frage, ob jene Kernnormen ihrerseits mit Normen der Stabilität unvereinbar sind. Zwei Varianten des Demokratiebegriffes, die sich am Rande des Spektrums möglicher demokratischer Normenkonfigurationen bewegen, sind
39 Chantal Mouffe, Agonistik. Die Welt politisch denken, Berlin 2014, S. 45-75. 40 Ebd., S. 58f.
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in den letzten zwei Jahrzehnten in Russland politisch virulent geworden. Akteure in der Russischen Föderation – die nach dem Zerfall der Sowjetunion zunächst Hoffnungsträgerin und Experimentierfeld für eine universale Durchsetzung liberaler Demokratie war – besetzen spätestens seit der ersten Präsidentschaft Vladimir Putins den Demokratiebegriff neu, um liberaleren westlichen Konzepten die normative Deutungshoheit streitig zu machen.41 Der Begriff der „souveränen Demokratie“ – „suverennaja demokratija“ – wurde 2005 geprägt und von Vladislav Surkov, einem prominenten Kremlstrategen, als Kern russischer Staatsdoktrin öffentlich beworben. Das Attribut „souverän“ bedeutet für Surkov und andere Befürworter dieser Wendung zweierlei: in ökonomischer Hinsicht die Aufrechterhaltung einer unabhängigen nationalen Wirtschaft im Widerstand gegen eine US-amerikanisch initiierte Globalisierung, und in politischer Hinsicht die Behauptung einer genuin russischen Form der Demokratie, die eine Alternative zum westlich-liberaldemokratischen Universalismus vorlebe. Souveränität wird hier also in erster Linie als Stabilisierungsbegriff konturiert, der die inhärente Instabilität der liberalen Demokratie des Westens unterstellt: Er verspricht die Festschreibung territorialer, rechtlicher und ökonomischer Vorherrschaft – und somit einer nationalen Identität Russlands. Diese „Nationalisierung der Zukunft“42 könne nur durch eine spezifische Konfiguration des politischen Systems in Russland gelingen. Stabilität, so das rhetorische Manöver der „souveränen Demokratie“, ist nur dann ein demokratisches Versprechen, wenn die russische Demokratie auch in einem spezifisch russischen Sinne ausgelegt wird. „Demokratie ist ein universaler Wert. Aber letztlich existiert das Universale als solches in der Realität nicht – es existiert nur konkret, lokal, individuell. Das Konzept der Demokratie [...] ist eine Generalisierung unterschiedlicher demokratischer Erfahrungen“,43 so Surkov. Der Ethiker Abdusalam Gusejnov führt in der für die Debatte prägenden Aufsatzsammlung
41 Zu dieser Debatte vgl. ausführlich Eva Marlene Hausteiner, Demokratie als Provokation: Russische Demokratiebegriffe zwischen Agenda und Propaganda, in: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft „Demokratie“ jenseits des Westens. Theorien, Diskurse, Einstellungen (hg. v. Alexander Weiß und Sophia Schubert), 2016, S. 167-187. 42 Vladislav Surkov, Natsionalizatsija budushevo, in: Leonid Poljakov (Hg.), PRO Suverennuju Demokratiju, Moskau 2006, S. 393-412 (Übers. EMH). 43 Vladislav Surkov, Commentaries on the Discussion of „Paragraphs pro Sovereign Democracy“. Russian Studies in Philosophy 47, 4 (2009), S. 85-96, hier S. 90 (Übers. EMH).
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„Pro suverennuju Demokratiju“ weiter aus: „Es ist unsere Aufgabe, Russland nicht in europäische Gewänder zu kleiden, sondern demokratische Gewänder zu entwerfen und zu schneidern, die Russland passen, wie es ist – mit seinen einzigartigen Traditionen, seinem enormen Territorium und strengen Klima, seinen menschlichen Neigungen zu Extremen, seinen diversen Religionen, Kulturen und Ethnien, sogar mit seinen verrottenden Straßen und seinen dummen Menschen […]. Damit Russland demokratisch wird, muss die Demokratie russisch werden“.44 Maßgeblich für diesen Demokratiebegriff ist also der erklärte Widerspruch gegen ein universell übertragbares Modell; der Kern des Universalbegriffes der Demokratie umfasst lediglich eine institutionell und normativ zunächst vage Vorstellung der Volksherrschaft.45 Die konkret russische Ausgestaltung dieses Demokratiebegriffes weist normative Standards westlicher, liberaler Demokratie – Pluralismus und individuelle Freiheitsrechte etwa – zwar nicht ganz zurück, ordnet sie aber anderen Normen unter. Genannt werden hier wiederholt insbesondere eine ökonomisch effiziente Herrschaft, aber auch nationale Solidarität und traditionelle Gemeinschaftlichkeit46 – letztlich Figuren traditionalistischer Stabilisierung, die ihrerseits mit einem Pluralismus freier Individuen potentiell in einem offenen Spannungsverhältnis stehen. Ein expliziter Hauptangriffspunkt von Vertretern der „souveränen Demokratie“ ist dagegen die Verfahrensdimension westlicher Demokratiekonzeptionen: Die Übertragbarkeit parlamentarischer Institutionen und insbesondere streng reglementierter und nach westlichen Kriterien standardisierter Wahlen auf 44 Abdusalam A. Gusejnov, A Democracy for Russia, a Russia for Democracy, in: Russian Studies in Philosophy 47,4 (2009), S. 74-84, hier S. 78 (Übers. EMH). 45 Unklar bleibt, wie substantiell dieser Begriffskern ist. Hubertus Buchstein hat dagegen argumentiert, dass Demokratie gerade kein völlig offener Begriff ist, sondern „ein ‘boundedly contested concept’“ im Sinne von Christopher Lord. Damit ist gemeint, dass der moderne Demokratiebegriff einerseits über einen relativ stabilen Bedeutungskern – körperliche Unversehrtheit und Freiheit, rechtliche und politische Gleichheit, politische Beteiligungsmöglichkeiten, wirtschaftlicher Wohlstand sowie Sicherheit und Frieden – verfügt, über den ein weitreichender Konsens besteht, und dass andererseits die Bedeutung des Begriffs in seinen Außenbereichen heftig umstritten ist: „Wenn wir in diesem modernen Sinne heute von Demokratie sprechen, so sind damit eben nicht die selbst ernannten ,Volksdemokratien‘ in China und Nordkorea und auch nicht die ,gelenkte Demokratie‘ wie in Russland gemeint, sondern das Attribut ,demokratisch‘ wird an mehrere normative ausgewiesene Minimalbedingungen gekoppelt“. Buchstein, Die Versprechen der Demokratie, S. 34. 46 Ein zentraler Begriff ist hier jener der „sobornost‘“ als spiritueller Gemeinschaftlichkeit.
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den russischen Kontext wird immer wieder in Zweifel gezogen.47 Von solchen Erwartungen – wie auch von der Unterwerfung unter westliche Wahlbeobachtung – müsse sich Russland lösen und eigenständige, den lokalen Bedingungen entsprechende Verfahren finden. Worin genau diese genuin russischen Verfahren einer souveränen Demokratie bestehen, bleibt offen; bemerkenswert ist jedoch, dass die begriffliche Intervention auch auf dieser Ebene auf die westliche Debatte bezogen bleibt: Sie greift nicht nur zwei zentrale Termini der westlichen Ideengeschichte auf, sondern arbeitet sich in dem Bestreben der Abgrenzung und Negation an westlichen Standards ab. Mit Blick auf die „souveräne Demokratie“ ist daher zu fragen, ob es sich bei der Wendung allein um ein politisch-rhetorisches Instrument handelt, also um den Versuch, einen global positiv konnotierten Begriff auszuhöhlen und in den Dienst eines nicht nur illiberalen, sondern im Kern undemokratischen Stabilitätsversprechens zu stellen, oder ob hier tatsächlich ein substantieller demokratischer – wenngleich illiberaler – Gehalt vorliegt, etwa in Form einer kollektivistischer orientierten Idee der Volksherrschaft. Als besonders kontrovers erweist sich die Beantwortung dieser Frage im Fall einer weiteren russischen Begriffsanverwandlung des Demokratischen. Die Debatten des Eurasianismus stehen zunächst nicht unter dem Verdacht des Demokratischen: Verfochten wird in dieser Doktrin, die insbesondere seit Putins offenem Expansionismus Aufmerksamkeit gewonnen hat, aber realiter schon seit den frühen 1990er Jahren kultiviert wird,48 ein multiethnisch-großräumiger, anti-moderner Autoritarismus, der angetrieben ist vom Glauben an eine Wesensessenz und Sakralität der eurasischen Völker – und von einem bisweilen paranoiden Antiamerikanismus. Besondere Berühmtheit hat ihr schillerndster Vertreter, der langjährige Philosophieprofessor und Agitator Aleksandr Dugin erlangt, der den Eurasianismus geopolitisch und gleichzeitig ontologisch-mystisch entwirft, doch auch gemä-
47 So etwa von Vladimir Tschurov, der trotz wiederholten Zweifeln an seiner politischen Unabhängigkeit seit 2007 Vorsitzender der russischen Wahlkommission ist. Vladimir Tschurov, Suverennaja Demokratija i Vybori, in: Poljakov (Hg.), PRO Suverennuju Demokratiju, Moskau 2006, S. 541-552. 48 Zum Eurasianismus und seinen Wurzeln in der Zwischenkriegszeit vgl. Marlène Laruelle, Russian Eurasianism. An Ideology of Empire, Washington 2008; Stefan Wiederkehr, Die Eurasische Bewegung, Köln u.a. 2007; Eva Marlene Hausteiner, Imperium Eurasien? Großraumdenken zwischen imperialer Ambition und Globalisierungskritik, in: Zeitschrift für Weltgeschichte 2 (2010), S. 145-160.
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ßigtere Vertreter des eurasischen Denkens folgen ähnlichen Grundsätzen.49 „Eurasien über alles“50 lautet Dugins Wahlspruch in seiner Weltsicht eines dauerhaften Krieges, der von geopolitischen Kräften, kaum aber von Bürgern gelenkt ist. Dennoch hat die Demokratie in diesem Weltanschauungsgebäude zumindest dem Namen nach einen hohen Stellenwert: Dugin fordert eine authentische, dem Volkswillen und -charakter gemäße Demokratie anstatt einer liberalen „Pseudo-Demokratie“,51 die sich auf betrugsanfällige Verfahren verlasse und eine Gesellschaft entfremdeter Individuen befördere. Auch die Eurasianisten rüsten den Demokratiebegriff gegen liberale oder agonale Auslegungen auf, indem sie ihn mit einem Attribut versehen: Sie, und insbesondere Dugin, sprechen von „organischer Demokratie“.52 Gemeint ist hiermit ein der Figur der „souveränen Demokratie“ durchaus ähnliches Modell: Beide Konzepte berufen sich auf die Vorstellung eines geeinten Volkes, dessen Wille über allem steht; das Erkennen dieses Volkswillens folgt keinen festen Verfahren. Tatsächlich impliziert der Zusatz des „Organischen“ im Gegensatz zur „souveränen Demokratie“ aber eine weitere Eskalation dieses Bildes: Imaginiert wird ein unverletzlicher, unteilbarer Volkskörper, der seine Identität gegen Fremdes immunisieren muss und geradezu sakrale Züge aufweist. Im Vordergrund stehen weniger profane Kriterien wie wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit oder eine selbstbestimmte Gesellschaftsstruktur, sondern die Überzeugung einer spirituellen Aufladung Eurasiens und seiner Bevölkerung, in der der Einzelne vollends den Kräften von Geopolitik und Volksschicksal unterstellt ist. Für die Dechiffrierung des politischen Programmes homogener, hierarchischer Volksstaatlichkeit als tendenziell neo-faschistisch53 ist die Einordnung ideengeschichtlicher Bezüge relevant: Orientieren sich die Verfechter
49 Auch der Neo-Eurasianist Aleksandr Panarin hat geopolitisch, wenngleich weniger antagonistisch und militaristisch argumentiert: Aleksandr Panarin, Geopolitische Erklärungsmuster – eine Herausforderung für das „neue Denken“, in: Brigitte Heuer / Milan Prucha (Hg.), Der Umbruch in Osteuropa als Herausforderung für die Philosophie, Frankfurt a.M. u.a. 1995, S. 143-162; Ders., Mezhdu Atlantismom i Evrazijstvom, in: Svobodnaja Misl‘ 8 (1993), S. 3-15. 50 Aleksandr Dugin, Eurasia above all. Manifest of the Eurasianist Movement, 2001, online unter URL: www.arctogaia.com [10.6.2016]. 51 Aleksandr Dugin, Da, demokratiju! Njet, liberalismu!, in: Elementy 5 (2000), online unter URL: http://arcto.ru/article/461 [3.5.2017]. 52 Aleksandr Dugin, Organitscheskaja Demokratija. Konservativnaja Revoljuzija, 1994, online unter URL: http://arctogaia.ru/article/38 [3.5.2017]. 53 Vgl. Stephen Shenfield, Russian Fascism. Traditions, Tendencies, Movements, Amonk 2001, S. 195.
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der „souveränen Demokratie“ in erster Linie terminologisch an westlichen Debatten der Gegenwart, so affirmieren Dugin und andere Eurasianisten solche Positionen der westlichen Ideengeschichte, die sie zur Untermauerung organizistischer Politikmodelle für nützlich erachten. Im Werk Dugins fungieren neben der französisch-belgischen Nouvelle Droite um Jean Thiriart und Alain Benoist eine Reihe von Theoretikern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als ideenhistorische Vorbilder, die er freihändig appropriiert. Carl Schmitts Werk entnommene Schlagworte dienen dem Entwurf eines antagonistischen und raumorientierten Politikbegriffes,54 Verweise auf Martin Heidegger sollen einen ontologischen Volksbegriff untermauern,55 und Julius Evolas faschistischer Traditionalismus informiert Dugins mystischen Antimodernismus. Die Verwandtschaft zu gegenwärtigen rechtsextremen Bewegungen in Westeuropa und den USA – insbesondere in Bezug auf Figuren der unbedingten Souveränität und Multipolarität und der Ablehnung von Migration – geht über ideologische Parallelen hinaus und schließt auch personelle und logistische Verbindungen ein. Exemplarisch hierfür sind etwa Planungskonferenzen wie Ende 2014 im Wiener Palais Liechtenstein zwischen Vertretern der Eurasischen Bewegung, der FPÖ und dem Front National,56 Treffen zwischen Dugin und dem AfD-Funktionär Alexander Gauland in Russland57 und Sympathiebekundungen des US-Chefberaters Steve Bannon gegenüber der weltanschaulichen Ausrichtung des Eurasianismus und insbesondere Dugins Evola-Rezeption.58 Beide Programme – souveräne Demokratie und organische Demokratie – versprechen letztlich Stabilisierung, nicht zuletzt durch explizite Berufung auf die Kategorie des Konservativen.59 Dabei bleiben aber zwei Aspek-
54 Vgl. Aleksandr Dugin, Carl Schmitt: Pjat’ urokov dlja Rossii, in: Nasch Sovremennik 8 (1992), S. 129-135. 55 Vgl. Aleksandr Dugin, Tschetvertij Put’. Vvedenije v tschetvertuju polititscheskuju teoriju, Moskau 2014, z.B. S. 132. Vgl. Micha Brumlik, Das alte Denken der neuen Rechten, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2016), S. 81-92. 56 Vgl. Stephan Löwenstein / Reinhard Veser, Eurasische Internationale, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.6.2014. 57 Vgl. Richard Herzinger, Hauptsache antiliberal, in: Die Welt, 29.4.2016. 58 Diese Bezüge äußerte Bannon auf einer Veranstaltung am Dignitas Humanae Institut im Vatikan. Vgl. Jason Horowitz, Steve Bannon cited Italian Thinker who inspired Fascists, in: The New York Times, 12.2.2017; Ders., Taboo Italian Thinker Is Enigma to Many, but Not to Bannon, in: The New York Times, 10. Februar 2017. 59 Vgl. Katharina Bluhm, Machtgedanken. Ideologische Schlüsselkonzepte der neuen russischen Konservativen, in: Mittelweg 36,6 (2016), S. 56-75.
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te verschwommen: Erstens stellt sich gerade in Bezug auf die bei der souveränen Demokratievorstellung angelegten Demokratiekonzeption die Frage, ob es sich trotz des Gebrauches des Begriffes um ein im Kern undemokratisches, weil illiberales, Versprechen handelt. Beide Inanspruchnahmen des Begriffes – souveräne Demokratie einerseits, organische Demokratie andererseits – priorisieren die Idee eines einheitlichen, erkennbaren Volkswillens und also der Volkseinheit über Normen wie Pluralität, Meinungswiderstreit, individuelle politische Freiheit und Partizipation – wenngleich in sehr unterschiedlichem Maße. Wo genau also verläuft die Grenze zwischen einem demokratischen und einem schlicht undemokratischen Stabilitätsversprechen? Zweitens bleibt auch die zugrunde liegende Vorstellung von Stabilität unbestimmt. Während es den Befürwortern der „souveränen Demokratie“ offenbar um eine statische Vorstellung von Souveränität geht – Staatsterritorium, Wirtschaft und Gesellschaft sollen letztlich vor Veränderungen abgeschirmt werden –, ist das eurasische Stabilitätsversprechen komplexer und vor allem dynamischer. Immerhin bezeichnet sich die Mutterorganisation als „mezhdunarodnoje evrazijskoe dvizehnieje“,60 als internationale eurasische Bewegung mit einer durchaus imperialistisch-expansiven Agenda, die auch im Inneren Eurasiens die gesellschaftlichen Verhältnisse transformieren will. Dass hier Stabilität durch grundlegenden Umbruch versprochen wird, ließe es also allenfalls zu, von einem dynamischen Stabilitätsbegriff auszugehen; kritischer betrachtet handelt es sich aber wohl eher um tiefe soziopolitische Eingriffe, die unter dem Deckmantel von Tradition, Konservatismus und Stabilität getarnt werden. An den Beispielen der souveränen wie auch der organischen Demokratie erweist sich somit einerseits die Umstrittenheit des Demokratischen und seiner Grenzen, andererseits aber auch die Umstrittenheit der Norm der Stabilität selbst. Indem das normative Gerüst des westlich-liberalen Demokratiebegriffs destabilisiert und alle seine universalistischen Einflüsse auf das russische Gefüge geleugnet werden, sollen behauptete Identitäten im Rückgriff auf ehemalige Traditionen stabilisiert werden. Das aber gelingt nur durch permanente Bezüge auf den Westen, ein permanentes, ideengeschichtliches wie politisches, Abarbeiten am Universalismus des Westens. Das wiederum steht freilich im Widerspruch zur Forderung nach einer autonomen, stabilen russischen oder eurasischen Sphäre.
60 Vgl. die Website der Organisation, online unter URL: http://evrazia.org/modules.p hp?name=news&file=article&sid=1915 [10.5.2017].
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5. Stabilitätsversprechen jenseits der Demokratie Diese russischen Ideenkonfigurationen sind schwer von ihrer politischen Indienstnahme zu trennen. Es handelt sich durchaus nicht nur um eine begriffliche, sondern eben auch um eine politische Auseinandersetzung, die nicht eindeutig innerhalb der Grenzen eines demokratischen Konsenses verläuft. Die vorgestellten Gegenbegriffe des Demokratischen bewegen sich an der Grenze substantieller demokratischer Programmatik – insbesondere dann, wenn ein normativ anspruchsvoller Demokratiebegriff angelegt wird, der nicht allein den Mehrheitswillen, sondern individuelle Mitsprache, Minderheitenschutz und Raum für Dissens priorisiert. Eine Diagnose des (un-)demokratischen Charakters der beschriebenen Konzepte entscheidet sich somit letztlich am normativen Status der liberalen Demokratie: Wird die Verbindung zwischen Demokratie und dem Schutz von Individual- und Minderheitenrechten als unauflöslich erachtet, so muss die Frage nach dem demokratischen Gehalt von souveräner und organischer Demokratie verneint werden. Mit Blick auf die anfangs umrissene Figur der inhärenten Instabilität der liberalen Demokratie stellt sich daher die Frage, ob die eigentliche Konkurrenz zur stets prekären demokratischen Stabilität nicht eigentlich von anderen politischen Ordnungsmodellen ausgehe – selbst dann, wenn sie sich in Begriffe des Demokratischen kleiden – und ob also Versprechen absoluter Stabilität mit einer Vermachtung und einer antiliberalen und undemokratischen Beschneidung von Pluralismus und Freiheitsrechten einhergehen, die es offenzulegen gilt. In dieser Hinsicht sind historische und gegenwärtige Ausformungen autokratischer Stabilitäts- und Sicherheitsversprechen und ihrer oft irreführenden Rhetoriken weithin geläufig. Weniger gut untersucht sind dagegen Stabilitätsversprechen und Legitimationsrhetoriken imperialer Strukturen. Daher soll im Folgenden die Relation von imperialen und demokratischen Stabilitätsversprechens und Legitimationsfiguren betrachtet werden. Mit dem Begriff des Imperialen waren im 20. Jahrhundert vornehmlich Dynamiken des Imperialismus assoziiert – gewaltsame Expansionsbewegungen also, die für die betroffenen Bevölkerungen das Gegenteil von Stabilität implizierten und sich in ausbeuterischen Raubzügen, geopolitischen Grenzverschiebungen und kolonialen Unrechtsregimen manifestierten. Neuere Tendenzen in der Imperiumshistoriographie und ihren politiktheoretischen Interpretationen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten aber auch gezeigt, dass Imperien als langfristige politische Strukturen nicht allein expansiv wirken, sondern sich gerade durch ihre Beharrungs-
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kraft kennzeichnen.61 Der imperiale Anspruch auf Dauerhaftigkeit geht dabei immer wieder mit dem Versprechen einer stabilen Weltordnung einher. Imperiale Machtmittel umfassen nicht allein militärische, sondern auch ökonomische, politische und ideologische Ressourcen.62 Diese Machtrepertoires haben imperiale Eliten in Zentrum und Peripherie in unterschiedlichen Mischverhältnissen angewandt: Nutzte das Römische Reich phasenweise verstärkt militärische Interventionen, so ist im British Empire des 19. Jahrhundert ein relativ ausgeprägter Trend zum ökonomischen Freihandelsimperialismus zu beobachten. Dem amerikanischen Imperium wurde dagegen immer wieder bescheinigt, seinen Stabilitätsanspruch aus seiner ideologischen Strahlkraft herzuleiten. Stabilität ist also einerseits als mögliches Resultat von großräumig-imperialer Herrschaft zu sehen – ökonomische Prosperität, die Vermeidung kolonialer Konflikteskalation, oft genug freilich schlicht imperiale Grabesstille –, vor allem ist sie aber ein ideologisches Instrument imperialer Eliten. Wenn imperiale Eliten immer wieder Stabilitätsversprechen bemühen, so ist Stabilität hier anders konzipiert und rhetorisch manifest als in den bislang behandelten Fällen. Dies lässt sich etwa anhand von Debatten britischer Eliten um die letzte Jahrhundertwende zeigen – in einer Phase also, in der sich das Empire seiner größten Ausdehnung annäherte, aber seine Profiteure auch strukturelle Instabilität fürchteten und in der vor allem kolonialer Widerstand und weltpolitische Konkurrenz alles andere als imperiale Beständigkeit suggerierten.63 In dieser Spannungslage greifen Mitglieder der imperialen Elite – Politiker, Administratoren und Intellektuelle – Versprechen der Beständigkeit auf, wie sie im Imperium Romanum erfolgreich zum Einsatz gebracht wurden, und transformierten sie für ihre eigenen Zwecke.
61 Besonders einflussreiche transhistorische Ansätze finden sich bei Michael W. Doyle, Empires, Ithaca 1988; Jane Burbank / Frederick Cooper, Empires in world history. Power and the politics of difference, Princeton 2010; Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005. 62 Michael Mann, Geschichte der Macht. Vom Römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung, Frankfurt a.M. / New York 1994. 63 Neben dem Verlust der US-Kolonien Jahrzehnte früher ist hier insbesondere der Aufstand in Indien 1857 zu nennen: Er wurde von imperialen Akteuren immer wieder zur Rechtfertigung einer neuen imperialen Stabilitätspolitik herangezogen. Vgl. Eva Marlene Hausteiner, Greater than Rome, Neubestimmungen britischer Imperialität 1870-1914, Frankfurt a.M. / New York 2015, S. 62ff., 253.
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Der Terminus der Stabilität selbst wird nicht prominent verwendet; stattdessen spielen Kategorien der Effizienz, des Wohlstandes und der Sicherheit eine zentrale Rolle. Der dominante imperiale Stabilitätsbegriff ist aber jener des imperialen Friedens. Ähnlich wie in der politischen Gegenwart immer wieder von einer Pax Americana die Rede ist, beriefen sich britische Akteure immer wieder auf eine Pax Britannica, die wiederum eine Weiterentwicklung der Pax Romana sei.64 Was ist aber imperial und was stabil an diesem Frieden? Es ist aufschlussreich, dass in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in der britischen Debatte immer wieder die Verse Vergils zitiert und zur britischen Herrschaftsmaxime erhoben werden: „tu regere imperio populos, Romane, memento – hæc tibi erunt artes; pacique imponere morem, parcere subiectis et debellare superbos.“65 Der imperiale Friede ist keineswegs konfliktfrei, steht aber – seinem Anspruch nach – jenseits existentieller Auseinandersetzungen und folgt dem Imperativ der Ordnungssicherung. Letztlich müssen – so ein wiederkehrendes Argument – die Ränder des Reichs als Sicherheitsmaßnahme auch zum Schutz der lokalen Bevölkerung „befriedet“ werden; im Kern wird das Imperium als Hort der Sicherheit dank militärischer, ökonomischer und zivilisatorischer Überlegenheit angepriesen, als Ordnung ohne fundamental bedrohliche Kriege und absehbares Ende. Sind aber Imperien nicht gerade aufgrund dieser Überlegenheitsannahme stets expansiv und imperialistisch, und steht dies nicht in Widerspruch zu dem Versprechen der Stabilität? Der missionarische Universalismus, der auch dem British Empire im 19. Jahrhundert mit Verweis auf die globale Verbreitung von Zivilisation als Begründungsressource diente,66 geht, so
64 Hausteiner, Greater than Rome, S. 23ff.; Kurt A. Raaflaub, „Introduction“, in: Ders. (Hg.), War and peace in the ancient world, Malden / Oxford 2007, S. 1-33; Ali Parchami, Hegemonic Peace and Empire. The Pax Romana, Britannica, and Americana, Abingdon 2009. 65 „Du aber, Römer, gedenk – so wirst du leisten dein Wesen – Völker kraft Amtes zu lenken und Ordnung zu stiften dem Frieden, Unterworfene zu schonen und niederzukämpfen Empörer!“ Vergil, Aeneis, Lateinisch-Deutsch, hg. und übers. v. Johannes Götte, München / Zürich 1983, VI, 851-853, S. 268f. Vgl. Phiroze Vasunia, Virgil and the British Empire, 1760–1880, in: Duncan Kelly (Hg.), Lineages of Empire. The Historical Roots of British Imperial Thought, Oxford 2009, S. 83-116. 66 Jürgen Osterhammel, „The Great Work of Uplifting Mankind“: Zivilisierungsmission und Moderne, in: Boris Barth / Jürgen Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert. Konstanz 2005, S. 363-425.
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eine Warnung auch von Zeitgenossen,67 strukturell mit territorialen Verschiebungen und Eroberungskriegen einher und ist nicht zuletzt für das englische Mutterland kaum ein Stabilitätsgarant. Diese Einsicht prägt den Erfahrungshorizont der britischen Imperiumselite zum Jahrhundertwechsel – und zwar weniger, weil die Elitenmitglieder selbst die Kosten dieser Instabilität zu tragen hätten, sondern weil sie die Gefahr zu erkennen glauben, dass universalistische Expansion den Kern des Imperiums – die britische republic – in der Form von Überdehnung bedrohe. So ist zu erklären, warum die britische Legitimationsrhetorik vor dem Ersten Weltkrieg trotz einer immer noch verbreiteten Missions- und Zivilisierungsrhetorik sukzessive ihren universalistischen Gehalt einbüßte: Angesichts der weltpolitischen Konkurrenz, aber auch der inneren Anzeichen imperialer Überdehnung beteuerten die Imperiumsapologeten zunehmend die Bedeutung fester territorialer Grenzen des Empire. Ein Beispiel hierfür ist die normative Aufladung der sogenannten „salt hedge“ in Nordindien, einer Zollschranke die etwa von dem einflussreichen Archäologen und Imperiumsbefürworter Francis Haverfield, in Referenz auf den Hadrianswall als kluge Imperiumspolitik gerühmt wurde.68 Sie sei – so etwa der Kolonialadministrator Alfred Lyall – in der Lage, die klugen Grenzen des Imperiums zu markieren und die nützliche Abgrenzung gefährdender Feinde und Barbaren abzuwenden.69 Grenzen und territoriale Stabilität wurden, um dem Vorwurf universalistischer Instabilität entgegen zu treten, mit Hilfe des römischen Exempels als genuin imperial präsentiert: „Frontiers have to be settled, demarcated, and then maintained“, so der ehemalige Vizekönig Indiens Lord Curzon.70 Dieser Stabilitätsbegriff hebt also seinem erklärten Anspruch nach nicht auf Mitsprache und Partizipation ab, sondern auf die Bereitstellung von Gütern wie Sicherheit und Wohlstand. Politikwissenschaftlich lässt sich hier von einem Fokus auf Output- statt auf Inputlegitimität71 sprechen: Die Mitglieder der Imperialelite berufen sich nicht auf die Qualität von
67 Siehe als klassische Position John A. Hobson, Imperialism. A Study, Ann Arbor 1972 [1902]. 68 Vgl. Hausteiner, Greater than Rome, S. 335ff.; Richard Hingley, Roman Officers and British Gentlemen, London / New York 2000, S. 38-48. 69 Vgl. Alfred Lyall, Frontiers and Protectorates, in: The Nineteenth Century and After, August 30, 1891, S. 312-328. 70 George Nathaniel Curzon, Frontiers. Romanes Lecture on the subject of Frontiers, Oxford 1907. S. 7ff. 71 Vgl. Fritz W. Scharpf, Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch?, Frankfurt a.M. / New York 1999.
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Entscheidungsprozessen und Machtverteilung, sondern in erster Linie darauf, was das hierarchische Regime an vermeintlichem Nutzen für die Bewohnerinnen und Bewohner produziert; für die Bewohner der Kolonien sind dies Sicherheit, Schutz und Fortschritt, für die Bewohner des Zentrums Prestige und Reichtum.72 Die politikwissenschaftliche Pointe lautet aber dennoch nicht, dass die Outputlegitimation undemokratischen und die Inputlegitimation demokratischen Regimen vorbehalten bleibt. Auch und gerade Demokratien sind auf eine gewisse Leistungsfähigkeit in der Bereitstellung kollektiver Güter angewiesen, die sich teilweise durchaus unter dem Begriff der Stabilität zusammenfassen lassen und auch zunehmend demokratietheoretisch reflektiert werden. Aus dem Vergleich mit Imperien – mit Ordnungen also, die möglicherweise wie die USA im Zentrum, nie aber als Ganzes demokratisch regiert sind – lassen sich vielmehr zwei Schlussfolgerungen ziehen. Erstens müssen sich Vorstellungen des Demokratischen, die die Inputgegenüber der Outputdimension hintanstellen – also zum Beispiel die Herstellung öffentlicher Sicherheit priorisieren, aber die Mittel der Versicherheitlichung nicht der öffentlichen Debatte und Entscheidung überlassen –, nach ihren strukturellen Gemeinsamkeiten mit nicht-demokratischen Regimen befragen lassen. Zweitens lohnt sich im Falle von Versprechen der Stabilität, in Analogie zu Demokratieversprechen, die Frage nach dem semantischen Gehalt und den Implikationen: Welche Stabilität ist gemeint, zu welchen – materiellen oder normativen – Kosten wird sie hergestellt, und wer sind die Nutznießer dieser Stabilität? 6. Fazit Um das Spannungsfeld zwischen Demokratie, Stabilität und Normativität durchzudeklinieren, wurde hier der Versuch unternommen, in mehrfacher Hinsicht eine breite Beobachterperspektive einzunehmen: Erstens durch eine ideengeschichtliche Gegenüberstellung zentraler Theorien und Konfliktlinien; zweitens durch die Anerkennung des häufig umkämpften und direkt politischen Charakters theoretischer Begriffe und Programme; drittens durch eine Berücksichtigung auch exemplarischer nicht-westlicher Begriffsangebote; und viertens durch einen Vergleich mit normativen Positionen in nicht-demokratischen Ordnungen. Anhand dieser ersten ideenhistorischen Spurensuche wird deutlich, dass die Umkämpftheit zentraler 72 Vgl. Hausteiner, Greater than Rome, S. 23ff.
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politischer Orientierungsbegriffe mit deren normativer Bindewirkung in Zusammenhang steht: So ist nicht nur der Demokratiebegriff Gegenstand sehr grundlegender Auseinandersetzungen und oft inhaltlich diametral entgegengesetzter Inanspruchnahmen – etwa zwischen radikal-pluralistischen, inputorientierten Programmen und konservativen, oft technokratischeren und outputorientierten Varianten. Auch ein auf den ersten Blick weniger kontroverser Begriff wie jener der Stabilität erweist sich gerade darum als umstritten, weil sich mit ihm etliche normative Programme in Verbindung bringen lassen – von Versprechen der militärischen Sicherheit und politischen Ordnung bis hin zu Ideen der pluralistisch-dynamischen Balance, aber eben auch der radikalen gesellschaftlichen Transformation unter Verweis auf wiederzuerweckende Traditionen. Im Geflecht der Begriffsauseinandersetzungen und Ordnungsvorstellungen stellt der Verweis auf Stabilität kein exklusiv demokratisches Versprechen dar, denn bestimmte Stabilitätsprogramme sind für undemokratische Programmatiken zentral – und umgekehrt zeichnen sich bestimmte radikaldemokratische Theorien durch eine starke Relativierung von Stabilitätshoffnungen aus. Wenngleich diese Auseinandersetzungen um die Prägung und Besetzung von Schlüsselbegriffen wie Demokratie und Stabilität unter Theoretikerinnen und Theoretikern ebenso wie unter politischen Akteurinnen und Akteuren kein rein westliches Phänomen ist, lässt sich doch diagnostizieren, dass sich auch Begriffskämpfe jenseits der Zentren Europas und der USA maßgeblich an ursprünglich westlichen Termini orientieren – ein nahezu universalisierender Effekt globaler Ideentransfers, an dem sich wiederum partikularistische Gegenprogramme abarbeiten. Diese verwobenen ideenpolitischen Auseinandersetzungen gilt es – mit einem Augenmerk auf die genannten Perspektiven – weiter zu entflechten: Welche Stabilitätssemantiken stehen in Korrelation zu welchen Demokratiesemantiken? Welche theoretischen politischen Zielvorstellungen aber auch Zielkonflikte treiben die entsprechenden Debatten an? Und welche Komplementär- und Gegenbegriffe und damit verbundene Normen müssen in die Entflechtung gegenwärtiger und früherer Debatten einbezogen werden? Eine dergestalt breit orientierte politische Ideengeschichte kann hoffen, auch jenseits ausgetretener Analysepfade zu klären, was Akteure in ihrer jeweiligen politischen Konstellation meinen und anstreben, wenn sie Demokratie und Stabilität versprechen.
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Teil II: Historische Zugänge
Gab es in der Antike Heilige Kriege?1 Konrad Vössing
Auf derartige Fragen gibt es meist keine einfache Ja- oder Nein-Antwort, schon weil jede Positionierung von der zugrundeliegenden Definition abhängt. Gerade aber die Auseinandersetzung mit einer Bestimmung des Begriffsinhalts von ‚Heiliger Krieg‘ ist es, die – zusammen mit dem Blick auf und der Suche nach Verallgemeinerbarem in der Welt der antiken Kriege – auch für das General-Thema der Universalismen und der Weltordnung(en) etwas austrägt. Mit ersten Definitions- und Begriffsfragen (1) soll deshalb begonnen werden; immerhin sprachen schon die Alten Griechen von ihren „Heiligen Kriegen“ um das Orakel von Delphi (2). Auch von der Opferung der Kriegsgefangenen bei Kelten und Germanen berichten antike Quellen (3). Dies wird uns zur wichtigen Unterscheidung zwischen den im Deutschen gleichermaßen mit ‚heilig‘ zu übersetzenden Begriffen sacer und sanctus führen (4), was in eine erste zusammenfassende Bestimmung der ‚Heiligkeit‘ antiker Kriege münden soll (5). Anschließend fragen wir, was antike Götter so wenig geeignet als Urheber Heiliger Kriege erscheinen lässt (6), um dann die Heiligen Kriege des Alten Israel mit einem Seitenblick zu streifen (7), die diese Qualifikation, jedenfalls in der uns von ihren Chronisten überlieferten Form, durchaus verdienten. Lässt sich von hier aus vielleicht eine Linie zur christlichen Spätantike ziehen? Um dies zu prüfen wird zunächst ein kurzer Blick auf die frühen Christen und ihr gespanntes Verhältnis zum römischen Staat geworfen (8). Kaisertum und Christentum blieben, wie dann gezeigt werden soll, in mehrfacher Hinsicht getrennt, trotz der in der Spätantike erfolgreichen Christianisierung (9). An dieser Distanz hatte die nicht etwa religiöse, sondern im Kern auch in der Spätantike immer noch militärische Basis des Kaisertums (10) besonderen Anteil. Für eine christliche oder gar kirchliche Beauftragung römischer Kaiser gab es deshalb keine Voraussetzungen (11), und christlichen Deutungen der Kaiserherrschaft blieben unrealisierbare Möglichkeiten (12). Es war erst die besondere Situation einer lebensgefährlichen Bedrohung durch das Sassa-
1 Die Form des mündlichen Vortrags wird durchgehend beibehalten, herangezogene Publikationen sind im Literaturverzeichnis genannt.
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Konrad Vössing
nidenreich, die im 7. Jahrhundert zum ersten (und einzigen) Heiligen Krieg der Antike unter Kaiser Herakleios führte (13). Er fand jedoch im byzantinischen Reich keine Fortsetzungen. 1. Definitions- und Begriffsfragen Bei entsprechender Vorfestlegung könnte man – was antike heilige Kriege angeht – schnell zu einem generell negativen Ergebnis, aber auch zur umgekehrten Behauptung kommen, dass alle antiken Kriege HEILIG waren. Mit beiden Antworten würde man sich von der spezifischen Relevanz des Phänomens im Rahmen der europäischen Geschichte natürlich verabschieden. Denn wenn es ein Element der Definition gibt, das ganz unstrittig ist, dann dies, das ‚heilige Kriege‘ im üblichen und gewissermaßen alltäglichen Kriegsgeschehen, wie wir es für weite Teile der Geschichte vorauszusetzen haben, etwas Besonderes, Herausgehobenes sind. Aber bleiben wir dennoch zunächst beim Phänomen der alltäglichen ‚Heiligkeit‘ antiker Kriege. Halten wir uns vor Augen, dass zum Krieg das Töten gehört, und das Töten für den Menschen, da ohne entsprechende Instinkte, vergleichsweise schwer ist. Bekannt ist die Theorie des Opfers als eine entschuldigende Ausgleichshandlung nach dem Jagen und Töten von größeren Tieren (Walter Burkert: ‚Homo necans‘). Was das Töten von Menschen angeht, sind dabei jedenfalls viel größere Widerstände zu überwinden. Da nun in der Antike andere ideologische Hilfsmittel (an denen die Moderne so reich ist), die dabei ‚helfen‘ könnten, Mangelware waren – hat man sich, so könnte man fragen, vielleicht deshalb besonders auf eine Übereinstimmung mit den Göttern gestützt? Und könnte man deshalb nicht tatsächlich alle Kriege der Antike als irgendwie heilig betrachten? Denn es war durchaus üblich, vor ihrem Beginn bei den Göttern nachzufragen, sei es nun über vielfältige Orakel oder selbstständig forschend, wie denn der Krieg ausgehen werde, sei es bittend, dass nur die eigene Sache, nicht aber die der Gegner auf übermenschliche Unterstützung rechnen könne. War dabei nicht generell die Überzeugung vorherrschend, dass die Götterwelt in menschliche Kriege auch aus eigenem Antrieb stark involviert war? Aber das war eben nur scheinbar so. Tatsächlich ist in den antiken religiösen Systemen auffallend, wie sehr man sich bemühte sicherzustellen, dass die Götter auf die ihnen gestellten Fragen und Bitten überhaupt irgendwie reagierten. Dahinter steckte die fest verwurzelte Vorstellung, dass diese, was die menschlichen Streitigkeiten angeht, kaum eigene Interessen hatten. Da man nun bei fast jedem Feldzug, und sei er auch noch so klein, 116
Gab es in der Antike Heilige Kriege?
in der beschriebenen Weise prozedierte, war den Zeitgenossen dabei sehr bewusst, dass es in den allermeisten Fällen eine exzeptionelle Gunst war, wenn die Götter antworteten. Eine Gunst übrigens, die man sich teuer erkaufen musste, mit Opfern, Weihegaben und Ähnlichem. Diese geschäftliche Seite des Verhandelns (um es einmal so zu sagen) schwächte jedoch das Zutrauen in das Ergebnis auf der menschlichen Seite ganz erheblich. Zum einen wusste man hier gut genug, wie man Geschäfte machte, und dass es dabei nicht auf unbedingte Ehrlichkeit ankam, und zum anderen war schon unzählige Male beobachtet worden, dass beide Kriegsparteien sich entsprechende Versicherungen geholt hatten, dann aber nur eine Seite gewonnen hatte. Ich will nur ein einziges Beispiel aus der griechischen klassischen Zeit bringen: den Ausbruch des Peloponnesischen Krieges im Jahr 431 v. Chr., in dem auf der einen Seite Athen und seine (mehr oder weniger freiwilligen Verbündeten), auf der anderen Seite Sparta und sein Bund standen, in dem besonders die Stadt Korinth (gar nicht weit entfernt, aber Nachbarstädte waren in der griechischen Poliswelt oft die ärgsten Feinde) auf einen Krieg gegen die neue Seemacht drängte. Der Historiker Thukydides schreibt nun im ersten Buch seines Werkes über diesen Krieg: „Die Spartaner hatten also entschieden, dass der Vertrag gebrochen und die Athener im Unrecht seien; sie schickten aber Leute nach Delphi, und fragten den Gott, ob sie im Kriegsfall gut abschneiden würden. Der Gott antwortete ihnen, wie man berichtet, wenn sie nach Kräften kämpften, werde der Sieg bei ihnen sein, und er selbst werde mit eingreifen, gerufen oder ungerufen.“2 Auf den ersten Blick könnte man hier beste Voraussetzungen für einen ‚echten‘ Heiligen Krieg sehen. Aber wenn man weiter liest mit dieser Erwartung, wird man sich sehr wundern. Denn offenbar nahm man die Auskunft des Orakels als das, was sie auch war: nicht mehr nämlich als die Aussage, dass die Priester von Delphi diesen Krieg für vorteilhaft hielten und die Hilfe Apolls versprachen. Eine besondere Sicherheit oder eine herausragende Motivation leiteten die Spartaner daraus ganz offensichtlich nicht ab, wie an vielen Stellen deutlich wird. Man lese nur, wie in der Bundesversammlung der Peloponnesier in der sogenannten großen Kriegsrede der Korinther (1,123,2) argumentiert wird. Hier heißt es zwar: „Auch den Vertrag [zwischen Athen und Sparta] werdet nicht ihr [also der Bund] als erste brechen, da doch sogar der Gott [Apoll] ihn für übertreten hält,
2 Thukydides 1,118,3, hier und im Folgenden in der Übersetzung nach Georg Peter Landmann.
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wenn er zum Krieg rät; vielmehr werdet ihr seine Verletzung [durch die Athener] rächen.“ Aber das ist nur ein Argument von mehreren, und beileibe nicht das stärkste, wie aus der Aufzählung der Gründe, die einen Sieg Spartas wahrscheinlich machen würde, hervorgeht (1,121,2): „erstens sind wir an Zahl und Kriegserfahrung überlegen, zweitens pflegen wir alle in gleicher Weise Befehlen nachzukommen, drittens werden wir eine Flotte, auf der ja Athens Macht beruht, aus den verfügbaren Mitteln ausrüsten … und dann im Stande sein, durch höheren Sold die von Athen angeworbene Schiffsbesatzung abtrünnig zu machen.“ Der mit seinem Silberbogen so treffsichere Gott Apoll kommt hier also überhaupt nicht mehr vor, ebenso wenig am Schluss der Rede, als das stärkste Geschütz aufgefahren wird: ‚Athen hat sich zum Herrscher aufgeschwungen und will alle, die sich entgegenstellen, unterwerfen. Wir können nur dann gefahrlos leben, wenn wir den Krieg beginnen‘ (1,124, 3). Anschließend heißt es: „So sprachen die Korinther. Als die Spartaner die Meinung aller gehört hatten, ließen sie alle Bundesgenossen, die anwesend waren, der Reihe nach abstimmen … und die Mehrheit stimmte für den Krieg“ (1,125,1). Damit war die Sache entschieden, und die Götter blieben wiederum gänzlich aus dem Spiel. Von einem Heiligen Krieg kann man hier wirklich nicht sprechen, auch nicht – und jetzt machen wir einen großen historischen Sprung – in der Zeit der zahlreichen Kriege und Siege Roms, obwohl die Römer (etruskische Traditionen nutzend) das System der Götterbefragung vor allen Staatshandlungen und namentlich vor Kriegen noch sehr viel weiter getrieben haben als die Griechen. Parallel dazu – und im Grunde für alle Beobachter erkennbar – wurde aber auch die Kunst perfektioniert, sich in dem, was sachlich richtig erschien, vom Götterwillen nicht behindern, sondern nur stärken zu lassen. ‚Heilig‘ konnten die Kriege allerdings im Rückblick werden, und zwar – diese These wird vielleicht überraschen – eigentlich nur im Fall verlorener Kriege. Denn hatte man gewonnen, war das Bedürfnis, mit dem materiellen Erfolg auch den ideellen einzuheimsen und die eigene Stellung zu festigen oder auszubauen, so vorherrschend, dass für die Götter zwar üppige Opfer heraussprangen, ihre Hilfeleistung aber nicht so dargestellt wurde, dass sie den menschlichen Ruhm irgendwie verdunkeln konnte. Anders war es, wenn die Schlacht oder gar der ganze Krieg verloren gegangen war. Dann konnte es eine durchaus erfolgversprechende Interpretation sein, dass dies auf den Unwillen verletzter Götter zurückging. Hier war eine gewisse Entlastung in Sicht, indem die Verantwortung eingegrenzt und personalisiert, etwa dem einen, unfrommen Götterverächter aufgebürdet wurde. Nach der verheerenden Niederlage der Römer gegen Hannibal am Trasimenischen See (218 v. Chr.) wurde der (gefallene) Verlierer, der Konsul 118
Gab es in der Antike Heilige Kriege?
C. Flaminius, systematisch als Verächter der religio dargestellt, dessen fehlender religiöser Gehorsam die Katastrophe verursacht habe. Ein solches menschliches Versagen auf dem Feld der Kommunikation zwischen Gott und Mensch konnte bezeichnender Weise aber nicht nur darin bestehen, nicht richtig gefragt oder die Antwort nicht gewürdigt zu haben, sondern auch darin, die Antwort falsch verstanden, etwa ein religiöses Zeichen überinterpretiert und somit nicht die religio gepflegt, sondern sich einer fast abergläubischen Furcht (superstitio) hingegeben zu haben. Hier war also alles nachträgliche Interpretation, und deren strategischer Charakter lag ziemlich offen zu Tage. Von Heiligen Kriegen wird man hier schon deshalb nicht gut sprechen können, weil die Götter ein allzu selbstverständlicher Bestandteil der menschlichen Politik waren: es fehlte ihrer Einflussnahme das nötige Eigengewicht, gerade auch im Horizont der Handelnden. 2. Die „Heiligen Kriege“ um das Orakel von Delphi Aber gab es in der griechischen Geschichte der klassischen Epoche nicht Kriege, die sogar ausdrücklich als heilig (als hiera polema) bezeichnet wurden? Tatsächlich sprach schon die antike Geschichtsschreibung von vier solcher Heiligen Kriege, die alle (zwischen 600 und 338 v. Chr.) um die Verfügungsgewalt über das eben schon genannte Orakel von Delphi geführt wurden. Die Orakelstätte und sein gewaltiger Schatz wurden gehütet (gewissermaßen) von den sogenannten Umwohnern, der delphischen Amphiktyonie. Es handelte sich um eine Art Verein, gebildet aus vielen griechischen Stadtstaaten, keineswegs nur direkte Nachbarn, gegründet nur zu dem Zweck, die Unabhängigkeit dieses bedeutenden religiösen Zentrums zu gewährleisten. Die Vereinsmitglieder trafen sich regelmäßig, vor allem weil es immer wieder nötig schien, Versuche abzuwehren, die Autonomie des Heiligtums zu beschränken, namentlich von Seiten der Phoker, auf deren Gebiet Delphi lag, und der Lokrer, der nördlichen Nachbarn. Wenn der Verein einen feindlichen Angriff befürchtete, konnte er tatsächlich einen „Heiligen Krieg“ ausrufen, mit dem dann Delphi geschützt werden sollte. Aber schon Thukydides spricht von den „sogenannten“ Heiligen Kriegen (1,112), ganz offensichtlich, weil er dieses Adjektiv nicht ohne Anführungszeichen gebrauchen möchte, und wenn wir uns die vier „Heiligen Kriege“ anschauen, stellen wir fest, dass ihre Heiligkeit ausschließlich darin bestand, dass es eben um einen heiligen Ort und um ein Heiligtum (beziehungsweise die Verfügungsgewalt darüber) ging. Ansonsten aber lief alles wie bei einem ganz ‚normalen‘ Krieg ab, und diese Nor119
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malität war es wohl auch, die schon die Zeitgenossen dazu brachte, von der Heiligkeit dieser Kriege mit einer deutlichen Distanz zu sprechen. Schon damals galt das Adjektiv ‚heilig‘ (hieros) offenbar als erklärungsbedürftig oder gar missverständlich, weil es sich eben nicht auf die Art des Krieges, sondern nur auf seinen Gegenstand, das Heiligtum (hieron) eines Gottes, bezog. Immerhin war dieser Bezug als ‚(auch) im Interesse des Gottes liegend‘ ausdeutbar. Anders war es in den nicht seltenen Fällen gezielter kriegerischer Aggression gegen religiöse Zentren, die das Ziel hatten, die Moral oder gar Identität des Gegners dauerhaft zu schädigen. Die römische Macht ist mit dieser Motivation zum Beispiel gegen druidische Heiligtümer in Gallien, den jüdischen Tempel in Jerusalem und das religiöse Zentrum der dakischen Könige (Sarmizegetusa) vorgegangen, ohne jemals diese Kriege deshalb als ‚heilig‘ zu deklarieren beziehungsweise sie einem Befehl oder Interesse der Götter Roms zuzuschreiben. Damit haben wir aber nun auf gewissermaßen induktivem Weg zwei notwendige Elemente einer im antiken Horizont sinnvollen Definition von ‚Heiliger Krieg‘ gefunden, die auch epochenübergreifend diskussionswürdig sein könnte: zum einen müssen die Ziele der Kriege als in göttlichem Interesse liegend gesehen werden, und zum anderen müssen sich diese Kriege eben durch dieses besondere göttliche Interesse von den nicht in dieser Weise definierten anderen Kriegen unterscheiden, nicht unbedingt in der faktischen Kriegsführung, zumindest aber auf der Ebene der Wahrnehmung. Da hier von Kriegen und nicht einfach nur von Kämpfen die Rede ist, ergibt sich eine Grundbedingung von selbst, soll aber in ihrer antiken Ausprägung doch noch einmal formuliert werden: es ist die politische Gemeinschaft, die Polis oder die Res publica (in ihren realen Organen oder in symbolischer Verdichtung), die für solche Kriege als Handlungsträger und Adressat göttlichen Interesses allein in Frage kommt. 3. Opferung von Kriegsgefangenen Wenn wir uns mit diesem ‚Steckbrief‘ auf die Suche machen, fällt wohl zunächst eine bei antiken Schriftstellern überlieferte Eigenart der Kriegsführung keltischer und germanischer Stämme ins Auge. In besonders schwierigen und bedrohlichen Situationen konnte man (wie uns Diodor, ein griechischer Geschichtsschreiber des 1. Jahrhunderts v. Chr. berichtet), um sich die göttliche Unterstützung möglichst fest zu sichern, die gesamte Kriegsbeute, menschliche wie materielle, den Göttern weihen, musste sie ihnen im Erfolgsfall dann aber auch tatsächlich zur Verfügung stellen. Dies 120
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führte dann nicht nur zur Vernichtung der materiellen Beute, sondern auch zur Tötung aller Gefangenen (5,32,6). Dies war nun wirklich eine sehr besondere Form des Krieges und der Schlacht, der uns an die brutale ursprüngliche Bedeutung dieses deutschen Begriffs erinnert. Es ist jedoch klar, dass es sich dabei um Ausnahmesituationen handelte, und ebenso deutlich ist die psychologische Wirkung einer solchen Devotion. Es wird tatsächlich mit letztem und existenziellem Einsatz gekämpft. Das zweite Element unserer Definition ist hier also in vollem (und erschreckendem) Ausmaß gegeben, aber wie steht es mit dem ersten? Tatsächlich ist es überhaupt nicht vorhanden. Denn es sind niemals die Götter, die diese Selbstverpflichtung fordern, und es ist klar, dass die Schlacht nur für die menschliche Stammesgemeinschaft, nicht aber für die Götterwelt von vitaler Bedeutung ist. Es handelt sich dabei um nichts anderes als um den Versuch, göttliche Unterstützung durch eine enorme Erhöhung des für die Götter ausgesetzten Preises geradezu zu erzwingen. Bei diesem gewaltigen Einsatz handelt es sich also erkennbar um ein Risikogeschäft: es kann zum Gewinnen, aber auch zum kompletten Verlust führen. Während die Opferung von Kriegsgefangenen bei Griechen und Römern Ausnahme blieb, hören wir davon bei Kelten und Germanen häufiger, wobei die antiken Autoren dies als eine barbarische Perversion beschreiben (besonders prominent hier etwa die Opferung der gefangenen Römer nach der Varuskatastrophe im Teutoburger Wald). Menschenopfer waren bei Griechen und Römern in historischer Zeit generell verpönt, auch wenn man sich daran „erinnerte“, dass sie in grauen Frühzeiten vollzogen wurden. Sozial akzeptiert, auch wenn ebenfalls nur aus grauer Vorzeit bekannt, war bei den Römern allein das reale Selbstopfer in der Schlacht, das allerdings nach einem sehr vergleichbaren Prinzip vollzogen wurde: Der römische Feldherr konnte sich in fast aussichtsloser Lage den Göttern gewissermaßen als Opfer anbieten und weihen (devotio) und durch seinen Tod die Schlacht noch wenden. Aber auch hier gilt, dass die Götter am Streitgegenstand ursprünglich offenbar gar kein besonderes Interesse hatten und erst durch die Opferbereitschaft des Anführers auf dessen Seite gebracht werden sollen. Auch die devotio der Feinde war bei den Römern möglich, jedoch nicht in der kompromisslosen Form, wie sie den ‚Nordbarbaren‘ zugeschrieben wurden. Man fand – passend zum System der römischen religio – Mittel und Wege, Ersatzleistungen für die versprochenen Menschenopfer festzulegen. Die Bauform blieb aber die gleiche: die eines erhöhten Einsatzes von menschlicher Seite, der, so hoffte man, das göttliche Interesse entfachen
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würde. Eine devotio reichte also keineswegs aus, um einen Krieg in der definierten Weise ‚heilig‘ zu machen. 4. Der Unterschied zwischen sacer und sanctus Aber es ist schon längst Zeit, noch einmal einen Blick auf die Begrifflichkeit zu werfen, konkret auf den Terminus heilig. Ich möchte hier auf die kennzeichnende wortgeschichtliche Besonderheit hinweisen, dass es im Griechischen und im Lateinischen zwei unterschiedliche Begriffskreise dafür gibt: Den einen haben wir kennengelernt, nämlich heilig im Sinne von ‚den Göttern geweiht oder gehörig‘, was zugleich bedeutet: ‚herausgenommen aus den menschlichen Bezügen‘. Dem griechischen hieros entspricht hier das lateinische sacer. Aus diesem Feld stammen dann auch die Begriffe für Opfergaben (griech. hiereia) oder Heiligtümer (lat. sacraria) für die Götter. In eine andere Richtung bewegt man dagegen mit den griechischen Begriffen hagios und hosios beziehungsweise mit dem lateinischen sanctus, womit eine menschliche Qualität und vorbildliche Eigenschaft bezeichnet wird. Man könnte, um in der Nähe von ‚heilig‘ zu bleiben, von ‚heiligmäßig‘ sprechen, natürlich ohne die christliche Konnotation. Das vorbildhafte Verhalten, um das es dabei geht, kann, aber muss durchaus nicht (nur) den Göttern gegenüber gezeigt werden. Es kann auch ausschließlich im zwischenmenschlichen Bereich angesiedelt sein (wie das auch von der zentralen römischen Tugend der pietas gilt). Hieros und sacer dagegen definieren das Heilige gerade in seiner Trennung vom Menschen, die es seinem Zugriff, seiner Verfügung und überhaupt der direkten Vergemeinschaftung entzieht. Hieraus erklären sich Bedeutungsvarianten, etwa von sacer, wie ‚verflucht‘ im Sinn von ‚aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen und den Göttern überantwortet‘. Als sich im 3. Jahrhundert eine spezifisch christliche Terminologie des ‚Heiligen‘ herausbildete, erwies sich sacer wie auch sacerdos, der Hersteller dieser Qualität, wegen der starken Bindung an die ‚sakrale‘ Definition der antiken (Opfer-)Kulte als schwer transportabel (sacerdotes tauchten erst spät im christlichen Latein auf, und vom Sacrum Imperium sprach erst das Hochmittelalter, jeweils ohne die spezifisch antike Bedeutung). Stattdessen erfuhr jetzt hagios / sanctus eine Ausweitung, da nun auch Gott selbst und alles, was mit ihm verbunden erschien, so (und nicht ‚sakral‘) bezeichnet wurde, durchaus dem hebräischen kaddosch entsprechend. Damit verlor aber die religiöse Sprache eine grundlegende begriffliche Unterscheidung, ein keineswegs zufälliger Verlust, sondern ein programmatischer. Man den122
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ke an die Aufforderung „Heilig sollt ihr sein, denn heilig bin ich, der Ewige, euer Gott“ (3. Mos., 19, wiederaufgenommen etwa im 1. Petrusbrief) oder an die christliche Inkarnationstheologie. Aber das liegt hier für uns nur am Rand. Der Verlust an begrifflicher Präzision durch diese Zusammenführung zweier eigentlich im antiken Denken getrennter Formen von ‚Heiligkeit‘ und ‚Heiligung‘ war jedenfalls erheblich (und er betraf mit den Termini ‚weih-‘ und ‚heilig‘ auch die Christianisierung germanischer Sprachen). In dieser neuen Doppelbedeutung finden Anreden wie der auf das spätantike Sanctitas Tua zurückgehende kirchliche Titel ‚Seine Heiligkeit‘ – gebraucht von Gläubigen, die zugleich im dreimaligen Sanctus dem heiligen Schöpfergott huldigen (‚heilig ist nur Er‘)! – ihre Erklärung; denn sie bescheinig(t)en dem Angesprochenen nichts anderes als eine gewisse religiöse Vorbildfunktion, bilde(te)n also das geistliche Pendant zum ‚sehr geehrt‘. 5. Zwischenfazit Die Unterscheidung von sacer und sanctus bietet uns auch die Möglichkeit, noch einmal thesenartig zusammenzufassen, in welcher Hinsicht die bisher ins Auge gefassten Kriege der Antike ‚heilig‘ waren und in welcher nicht: Sie waren es – oder konnten es sein – in der auf den Menschen bezogenen Bedeutung, nicht aber in der dem Menschen entzogenen, ‚sakralen‘ Bedeutung – und dieses Letztere macht eben das ‚Spezifische‘ einer sinnvollen Definition des Heiligen Krieges aus. Die allgemeine ‚Heiligung‘ der Kriegführenden – also die weitgehende, systembedingte Vermischung von Götterwelt und Menschenwelt im Krieg, beginnend mit dem Einholen von Vorzeichen und dem Anrufen der Götter vor dem Kampf, endend mit den Dankopfern für sie – war eine übliche Pflichterfüllung. Sie machte, wenn alles gut lief, nicht nur die Kriege in diesem Sinn ‚heilig‘, sondern auch die entsprechend agierenden vorbildhaften Menschen, die nach ihrem Tod aufgrund dieser ihrer Kriegstaten sogar zu den Göttern erhoben werden konnten. Und dennoch dachte niemand daran, deshalb die von ihnen geführten Kriege auch so zu bezeichnen; denn diese Art Heiligkeit stellte keinerlei Unterscheidungsmerkmal dar. Aber es gab eben begrifflich nicht nur keine bella sancta, sondern auch keine bella sacra, also solche, die durch den exklusiven Bezug zu den Göttern herausgehoben waren. Wir haben – um auch dies noch einmal zu rekapitulieren – mit der devotio der Kriegsbeute zwar verschiedene Formen des Kriegs identifiziert, in denen ‚Sakralität‘ in seiner scharfen Bedeutung eine besondere, herausge123
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hobene Rolle spielte. Aber es fehlte auch bei ihnen ein entscheidender Aspekt: der eigene, von der Menschenwelt getrennte, für den Krieg aber grundlegende Wunsch und Wille der Götter oder einer Gottheit. Was wir ferner gefunden haben, waren die ‚Heiligen Kriege‘ um Delphi, aber die hießen nur deshalb so, weil der Streitgegenstand ein Heiligtum, ein hieron war, während alles andere in den üblichen Formen des Krieges ablief. Allen Beteiligten war deshalb klar, dass es sich um Kämpfe um den Gott (konkret um den Ort seines Kultes) handelte, nicht um Kämpfe des Gottes oder für ihn. Des Weiteren sind wir auf die ‚Selbstsakralisierung‘ der Kämpfer gestoßen – wieder in der scharfen Bedeutung von sacer, mit der diese den üblichen Einsatz, den üblichen Bezug zu den Göttern so erhöhten, das aus der eigenen sanctitas tatsächlich Sakralität wurde: ‚Herausnahme‘ und Weihung der Krieger. Es liegt im Wesen dieser Steigerung, dass sie nur selten eingesetzt werden konnte. Akteure sind aber auch hier die Krieger selbst, die nicht etwa für einen Gott kämpfen, sondern für sich; der angerufene Gott soll durch diese Form der Sakralisierung nur dazu gebracht werden, sich für den Ausgang des Kampfes zu engagieren. 6. Die mangelnde Eignung antiker Götter für Heilige Kriege Treten wir jetzt noch einmal einen Schritt zurück und fragen uns, warum die polytheistischen Kult- und Gottesvorstellungen der Griechen und Römer offenbar so wenig geeignet für ‚heilige Kriege‘ im Sinne von ‚Götterkriegen‘ oder ‚Gotteskriegen‘ waren. Tatsächlich: Die antiken und vorchristlichen Panthea, also die griechischen und römischen, aber auch keltischen und germanischen Göttinnen und Götter oder generell göttlichen Mächte, kannten keine Missionsaufträge in eigener Sache. Dies aber wohlgemerkt nicht, weil die Göttern nicht an der Verbreitung ihrer Verehrung interessiert waren, sondern weil es einen direkten und geradezu natürlichen Zusammenhang gab zwischen dieser Verehrung der Götter und ihren eigenen Taten, also den Leistungen der Götter selbst, und zwar ganz konkret auf der Ebene von Wachstum und Wohlergehen. Die Götter selbst machten also durch ihre Qualitäten – ablesbar an allseits erkennbaren Erfolgen von Menschen, die sie verehrten – Werbung für sich und für ihren Kult, und vornehmlich in dieser Währung wurde ein- und ausbezahlt. Auf menschliches Werben angewiesen zu sein, war in dieser Optik eine im Grunde ebenso absurde theologische Vorstellung von den Göttern, wie dass ihnen die Verehrer treu bleiben könnten, auch wenn sie – die Götter – in massive Schwierigkeiten gerieten: ein schwacher Gott ist kein solcher.
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Aber nicht nur auf der operationellen Ebene waren Heilige Kriege schwierig, sondern auch auf der ideellen: es fehlte den antiken Göttern eine Agenda, die über das gewissermaßen vitale (aber in diesem Sinn auch banale) Interesse an Verehrung hinausging. Antike Götter kannten in aller Regel weder generelle Botschaften, die es zu verbreiten galt, noch den Willen, mit diesem Programm auf Kosten anderer Götter bei den Menschen zu expandieren. Man könnte sagen: in dieser Hinsicht war ihr Interesse an den Menschen aufs Ganze gesehen viel zu gering (hierin waren sie wirklich anthropomorph), als dass sie sich um deren Lebensweise gesorgt hätten. Das ureigene Kultbedürfnis der Götter war (in dieser religiösen Interpretation) auch nicht auf individuell bestimmte Menschen konzentriert, sodass sich daraus eine entsprechende Agenda hätte entwickeln können; es ging ihnen vielmehr darum, einerseits zahlreiche, anderseits reiche und mächtige Verehrer zu haben. Den Göttern war es deshalb, wenn die ihnen besonders anvertraute Stadt unterging, vor allem darum zu tun, Ersatz zu finden, etwa und gerade bei den Siegern. Das war zwar mit einer gewissen Bedeutungsminderung verbunden, aber viel besser als gar nichts. Und diese Strategie wurde auch nicht als unrühmlicher Opportunismus gewertet, sondern als verständliche Reaktion: auch Götter wollten überleben. Es ist nun klar, dass man mit solchen ‚Vorkämpfern‘ keinen Heiligen Krieg führen konnte. Zwar ist richtig, dass in den gebildeten Schichten diese Form der Interpretation der Götterwelt schon seit dem Hellenismus als nur eine bestimmte – und zwar als ‚politische‘, d.h. innerhalb und vor der staatlichen Gemeinschaft angemessene – und keineswegs alternativlose Art und Weise begriffen wurde, von den Göttern zu reden (in Rom sprach man dann von der theologia tripartita, die drei – unterschiedliche – dieser Redeweisen nebeneinanderstellte, darunter eben das ‚staatsbürgerliche‘ genus civile). Andere Kategorien und Interpretationen des Göttlichen waren also keineswegs unbekannt. Entscheidend für uns ist aber, dass es im öffentlich-staatlichen Leben, das allein die Basis für einen heiligen Krieg der res publica bilden konnte, diese Ausprägung der ‚politischen Religion‘ war, die immer noch Gültigkeit hatte. 7. Heilige Kriege im Alten Israel Der Gott des Alten Israel war demgegenüber ganz anders geartet, was hier natürlich nicht thematisiert werden kann. So viel sei aber doch gesagt: die Kriege bei der sogenannten Landnahme der Israeliten, wie sie in den einschlägigen ‚Geschichtsbüchern‘ der Bibel (Numeri, Josua und Iudices) beschrieben werden, sind tatsächlich nicht selten ‚heilig‘ im oben definierten 125
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Vollsinn des Wortes: Sie basierten auf göttlichem Auftrag und hatten spezifische, von Jahwe befohlene Formen. Denn es ging um die Besitznahme des von Gott verheißenen Landes, dieser Gott kämpfte selbst mit (man denke an den Exodus aus Ägypten oder an Moses in der Schlacht gegen die Amalekiter, Buch Exodus 15,21 und 17,11), und zuweilen waren auch die von Gott erlassenen Ausführungsbestimmungen radikal ‚sakral‘ (im oben bezeichneten Sinn): Oft genug wurden nicht nur alle gefangenen Gegner, sondern auch ihr Vieh einem theonomen Untergang geweiht. Allerdings hat die Geschichtswissenschaft diese Selbststilisierung, die von der Antike (vgl. Augustinus, Contra Faustum 22) bis zur Moderne für bare Münze genommen wurde, mittlerweile in wiederum doppelter Weise als Fiktion erwiesen: diese Kriege haben in dieser Form wohl nicht stattgefunden, sie sind eine nachträglich fabrizierte Legende mit dem Ziel der Separation Israels von der kanaanäischen Umgebung. Und diese Konstruktion war in der damaligen Welt auch nicht so einzigartig, wie man das früher gern annahm,3 sondern steht in einer Reihe mit altorientalischen Parallelen. Man kann mit diesen Kriegführungsregeln also wohl kaum eine unterscheidende Grundbotschaft der Bibel Israels fassen, zumal dem göttliche Friedensvisionen (etwa Ps. 46; Jes. 2; 9 und 11), namentlich im Zusammenhang mit Messias-Verheißungen, entgegenstehen. 8. Das frühe Christentum im römischen Staat Jedenfalls bestimmten Erinnerungen an göttlich unterstützte Landnahme in Israel sicher nicht den jüdischen Hintergrund der christlichen Missionare im 1. Jahrhundert, ganz zu schweigen von den Lehren ihres Meisters. Von der neuen Bewegung gingen mit Sicherheit keine neuen Impulse zur Ermöglichung Heiliger Kriege aus. Überhaupt hatte sie aus der Perspektive der antiken ‚politischen Rede‘ vom Göttlichen (s. oben) ein erhebliches Defizit an Plausibilität, da hier ja Zahl und Wohlergehen der Anhänger eines Gottes auf dessen Qualitäten schließen ließen. Und in dieser Hinsicht sah es für die Christen und ihre Lehre bis zum 3. Jahrhundert schlecht aus, nicht nur wegen der Hinrichtung des Stifters, sondern auch wegen der eher traurigen Bilanz seiner Anhänger, die weder zahlreich noch besonders erfolgreich waren. Hinzu kam, dass das Verhältnis des römischen Staates zu den Christen – zumindest so, wie es ihnen durch christliche Prediger und Literaten vor Augen gestellt wurde – immer 3 Gerhard von Rad, Der Heilige Krieg im alten Israel, 3. Aufl., Göttingen 1958.
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wieder von Fremdheit und Feindschaft sowie (daraus resultierend) von Zwangsmaßnahmen und Verfolgungen geprägt war. Die typischen Märtyrer und (besonders augenfällig) Märtyrerinnen legten vor den staatlichen Autoritäten und der zum Gerichtswesen gehörenden Öffentlichkeit ‚Zeugnis‘ (martyrion) ab von ihrem Glauben, dass die Macht und sogar die Wirklichkeit des Imperators für sie im Vergleich zur göttlichen Realität und ihren Anforderungen defizitär seien. Ungeachtet der im Verhältnis zur Menge der Christen kleinen Zahl dieser Konfrontationen waren sie doch prägend, gerade weil sie dem augenscheinlichen Kräfteverhältnis eklatant widersprachen. Dem Minus an Macht stand nur ein Plus an Entschiedenheit gegenüber. Ausgeglichen wurde dieses Defizit allerdings schrittweise in der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts, als es größere christliche Missionserfolge gab, und im 4. Jahrhundert, als sich der Kaiser selbst zunächst als Fürsprecher, dann sogar als Anhänger des Christentums gewinnen ließ. Erst im 5. Jahrhundert wurde eine flächendeckende (wenn auch keineswegs restlose) Christianisierung des Imperiums erreicht. In welchem Ausmaß hat diese Entwicklung aber das römische Kaisertum und das Christentum einander angenähert? 9. Christentum und Kaisertum – ihre (auch in der Spätantike) andauernde Trennung Kommen wir also zur christlichen Spätantike, die mit der konstantinischen Wende (ab 312 n. Chr.) beginnt, als dieser Kaiser sich nicht nur von früheren Verfolgungen ab-, sondern der Minderheit der Christen im Reich zuwandte, woraus sich dann am Ende seiner Regierungszeit ein christlicher Kaiser und am Ende des 4. Jahrhunderts ein christliches Imperium Romanum entwickelte, ungeachtet immer noch starker paganer Residuen. Aber kam es in dieser Zeit auch zu einer Art des „imperialen“ Monotheismus (Almut Höfert)4 oder zu einer Verbindung von Christentum und Kaisertum, die es erlaubt hätte, dass der Kaiser in bestimmten Situationen Heilige Kriege im Auftrage Gottes führte? Die Antwort fällt negativ aus, jedenfalls wenn wir die christliche Spätantike von ihrer antiken Kernzeit her, dem 4. und 5. Jahrhundert, und nicht von ihrem Ende her, der Zeit unmittelbar vor der arabischen Eroberung, verstehen wollen. Dieses NEIN, das im Folgenden begründet werden soll, ist wichtig nicht nur für die Ein-
4 Almut Höfert, Kaisertum und Kalifat. Der imperiale Monotheismus im Früh- und Hochmittelalter. Frankfurt a.M. / New York 2015.
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schätzung des Phänomens ‚Heiliger Kriege‘, sondern auch als Heilmittel gegen eine Sichtweise, die einen historisch sehr bedeutsamen Unterschied einebnet: den Unterschied zwischen einer ideologischen Möglichkeit und ihrer Aktualisierung. Es liegt ja in der Natur jeder ideengeschichtlichen Betrachtung die Gefahr, dem Potenzial höhere Bedeutung beizumessen als den konkreten historischen Bedingungen, wofür wir hier jetzt ein gutes Beispiel haben. Denn natürlich gehörte und gehört zum Christentum eine religiöse Doktrin mit deutlich universalistischem Anspruch (man denke an die monotheistische Bestreitung des antiken Pantheon, an den Missionsauftrag „für alle Völker“, an deren eschatologische Zusammenführung, an die prinzipiell für alle Menschen geltenden ethischen Postulate usw.); ferner haben wir ein zielgerichtetes Geschichtsbild (im Gegensatz zu einem zyklischen), und wir haben – wiederum zunächst einmal nur als identifizierbare Idee – einen christlichen Kaiser. Mehr braucht man doch nicht, so scheint es jedenfalls, um nun unter diesen Umständen den christlichen Kaiser als Sachwalter und Propagator der Gottesherrschaft auf Erden zu verstehen, ihn in diesem Sinn auch konkrete Politik machen, ja Krieg führen zu lassen, zumal mit solchen Vorbildern wie den ‚Gotteshelden‘ Moses oder Josua, die an der Spitze der Israeliten für Jahwe stritten. Tatsächlich waren aber die realen Konstellationen ganz andere. Zunächst ist wichtig, noch einmal etwas zurückzugehen und auf die grundsätzliche Fremdheit zwischen dem Christentum und dem römischen Staat hinzuweisen, nun aber nicht mit Blick auf die realen Konflikte, sondern auf christliche Interpretationen staatlicher Macht. Das Christentum entstand bekanntlich in einer peripheren Provinz des Römischen Reiches, und in einer, die alles andere als angesehen war. Sie war für ihre Aufstände bekannt, und nach dem großen Krieg 66 bis 70 n. Chr. sogar als gefährlich rebellisch. Die frühen Christen taten zwar viel, um diese Herkunft nicht auf ihre Gemeinschaft abfärben zu lassen (tatsächlich war Jesus von Nazareth kein politischer Rebell gewesen), und sie waren dabei am Ende auch erfolgreich; was aber blieb, war eine große Distanz. Dies war nur zum kleineren Teil auf den eben erwähnten staatlichen Verfolgungen gegründet. Zwar führten sie, gedeutet als Maßnahmen zur Erzwingung religiösen Gehorsams, in bestimmten christlichen Kreisen zur Identifizierung Roms mit dem sündhaften Babylon (etwa in der sogenannten Offenbarung des Johannes), und auch wenn dies keinen Aufruf zum Widerstand darstellte, so war für diese Richtung doch klargestellt, dass man nicht an der Seite Roms stand, das letztlich dem Untergang geweiht war.
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Diese Sichtweise – die ‚feindlich-apokalyptische‘, wie man sagen könnte – blieb jedoch minoritär. Durchgesetzt im Christentum hat sich stattdessen die Überzeugung, dass der Kaiser von Gott eingesetzt sei und dass das Imperium nun einmal diejenige weltliche Macht darstelle, der man, weil gottgegeben, Gehorsam schulde (Paulus im Römerbrief, Kap. 13). Aber Gehorsam gegenüber staatlichen Anordnungen (soweit nicht das Verhältnis zu Gott betreffend) – das war nicht das, was nötig gewesen wäre, um die beschriebene Distanz umzuformen zu einem Konsens, der dem Kaisertum nicht nur als Ordnungsprinzip, sondern auch in seiner konkreten Herrschaftsausübung christliche Legitimierung hätte verschaffen können. Dies verhinderte schon das vollständige Desinteresse der Lehre Jesu vom Gottesreich an einer ideellen Grundlegung des römischen Staates. Wenn Jesus dazu aufforderte, dem Kaiser insofern Gehorsam zu leisten, als ihm ‚das Seine‘ zu geben sei (konkret ging es um die Steuern, deren Folge natürlich römisches Militär war, vgl. Markusevangelium 12,17), war daraus keine göttliche Rückendeckung für die Spezifika des römischen Imperium und für seinen universalistischen Machtanspruch zu entwickeln. Das ‚Gütesiegel‘ einer Ordnungsmacht, die Chaos und allgemeinen Krieg verhinderte, wäre, wie auch den Zeitgenossen deutlich war, jeder funktionierenden – und nicht allzu aggressiv ideologisierten – Herrschaft verliehen worden. Dass die ihrerseits bereits auf eschatologischer Spekulation beruhende Figur des das Weltende hinauszögernden ‚Aufhalters‘ (katechon) im 2. Thessalonicherbrief (2,6f.) von späteren Christen mit dem Römischen Reich in Verbindung gebracht wurde, blieb im Altertum eine theologisch umstrittene, jedenfalls weitgehend folgenlose Konstruktion (von ihrer späteren Karriere im Mittelalter und bis ins 20. Jahrhundert hinein ist hier nicht zu reden). Das reale Verhältnis zwischen Christentum und Kaisertum veränderte die Katechon-Theorie schon wegen ihrer Unklarheit (vgl. Augustinus, Gottesstaat 20,19) definitiv nicht. Aber hat sich diese Distanz vielleicht im zunehmend christlicher werdenden Römischen Reich des 4. Jahrhunderts aufgelöst? Dies war gerade nicht der Fall, oder jedenfalls viel weniger, als es die bekannte Tatsache, dass die Kaiser sich damals tatsächlich dem Christentum zuwandten, erwarten lassen könnte. Tatsächlich müssen wir nämlich genau zwischen dem (mehr oder weniger erkennbaren) religiösen Bekenntnis des Kaisers und den charakteristischen Grundlinien seines seit langem funktionierenden Herrschaftssystems, also dem Kaisertum, unterscheiden. Kaiser- und Christentum waren sich nicht nur anfangs fremd, sie blieben es auch, und die Gründe dafür lagen auf beiden Seiten.
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Betrachten wir zunächst das spätantike Kaisertum: Es ist ein verbreitetes Missverständnis, dass dieses auf einer religiösen Grundlage beruhte, etwa auf dem Kaiserkult, und dass diese dann bei christlichen Kaisern in eine eben christliche Legitimation transformiert wurde. Das römische Kaisertum war im Kern niemals religiös legitimiert gewesen, sondern – und das gilt eben auch in der Spätantike – durch die politisch-militärische Leistung der Herrscher. Wurde diese Leistung von der Res Publica (in der Spätantike vertreten durch das Heer) anerkannt, war der regierende Kaiser auch ‚rechtmäßig‘, wurde sie aberkannt beziehungsweise die Hoffnung darauf aufgegeben, etwa indem man sich einem Herausforderer zuwandte, verlor der Herrscher diesen Status und konnte sich dann auch nicht auf eine irgendwie übergeordnete (etwa religiöse) Legitimität berufen. 10. Die militärische Basis des Kaisertums Zentral für das Kaisertum war jedenfalls immer die untrennbare Verbindung, ja regelrechte Symbiose von Herrscher und Heer. Schon Augustus hatte so etwas wie eine Militärmonarchie eingerichtet, auch wenn er die Repräsentation seiner Herrschaft eine andere war und diese Bezeichnung für sich genommen auch unzureichend ist, um das Spezifische des ‚Prinzipats‘ zum Ausdruck zu bringen. Grundlegend war sein Verhältnis zu den Soldaten dennoch: ohne sie oder gar gegen sie konnte sich kein Kaiser halten. Der Treueid, den sie jedes Jahr auf ihn schworen, war zwar staatsrechtlich irrelevant, machtpolitisch aber von größter Bedeutung. Entscheidend war dabei, dass diese Verbindung gerade nicht notwendig an ein spezifisches religiöses Bekenntnis gebunden war. Zwar konnte der Kaiserkult des Heeres in Zeiten, in denen die christliche Religion offiziell (und das hieß: definiert vom Kaiser selbst) als schädlich oder gar zu bekämpfen galt, zu einem Konfliktfeld werden, auf dem dieser Gegensatz mit aller Härte ausgetragen wurde. Als aber Konstantin diese Bewertung änderte und sogar umkehrte, änderte sich zwar notwendigerweise etwas für die (im Heer aufs Ganze gesehen dünn gesäten) christlichen, nichts aber für die übrigen Soldaten. Auf welche göttlichen Helfer ihr Anführer vertraute, war durchaus nicht irrelevant, es wurde aber insgesamt eher vom Ergebnis her beurteilt als inhaltlich nachvollzogen. Der Kaiser hatte also für militärische Erfolge zu sorgen, dann war er der Kaiser der Soldaten; seine religiösen Vorlieben mussten sie dabei nicht teilen. Hat sich dies bei christlichen Kaisern und ihren Soldaten im 4. Jahrhundert geändert? Insgesamt betrachtet ist dies nicht der Fall. Dass Konstantin vor der Entscheidungsschlacht seinem Heer befohlen haben soll, die Schil130
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de mit christlichen Kreuzen zu kennzeichnen (Laktanz, Die Todesarten der Verfolger, Kap. 44), ist in dieser allgemeinen Form eine Erfindung. Die dem Christentum anhängenden Kaiser des 4. Jahrhunderts haben zwar versucht, die unterschiedlichen Richtungen und Traditionen des Christentums zu unifizieren, aber diese Bemühungen richteten sich – abgesehen davon, dass sie nur in engen Grenzen erfolgreich waren – nicht auf das Heer, sondern auf die Städte beziehungsweise konkret auf die dortigen christlichen Bischöfe. Der Kaiser agierte hier gewissermaßen als Pontifex Maximus, dem traditionell die Kultaufsicht im römischen Staat oblag. Damit war aber eine sehr formale Supervision gemeint, was sich auch daran zeigte, wie gering die Akzeptanz der kaiserlichen Eingriffe war, wenn (seit Konstantin) versucht wurde, in den dogmatischen Streitigkeiten zu intervenieren, um den ‚Rückenwind‘ eines einheitlichen christlichen Bekenntnisses zu erzeugen. Es fehlte den Akteuren dafür offensichtlich das passende Instrumentarium, weil diese Aufgabe nie zur kaiserlichen Rolle gehört hatte. Dies lässt sich aus umgekehrter Perspektive auch daran ablesen, dass relevante Bestreitungen ihrer Eignung als Kaiser niemals auf dem Vorwurf basierten, sie seien ihren religiösen Pflichten nicht nachgekommen. Zu tief war das Wissen verwurzelt, dass der Kaiser seine Herrschaft nicht auf einer bestimmten religio gründete, sondern eben auf der militia. Seine eigentlichen Bewährungsfelder waren die militärische Sicherung und die Administration (vor allem der geregelte und ungestörte Strom der Steuerzahlungen), wobei das Eine nicht ohne das Andere sein konnte und bezeichnenderweise beides militia genannt wurde. Hier haben wir die kaiserliche Betätigung par excellence, alles andere war daraufhin geordnet und sekundär. Auch die Kaiser selbst haben diese ihre Hauptaufgaben offenbar als religiös indifferent eingeschätzt. Jedenfalls fällt auf, dass die Funktionseliten beider Bereiche auch im 4. Jahrhundert nicht in erster Linie nach religiösen Kriterien ausgewählt wurden. Das römische Heer war samt seinen Offizieren nicht nur ethnisch heterogen, sondern auch religiös, und es wurde dementsprechend auch in den (seltenen) robusten kirchenpolitischen Interventionen der Kaiser nicht eingesetzt. Eine Ausnahme waren nur die durchgehend vom sogenannten arianischen Bekenntnis geprägten Foederatentruppen germanischer Provenienz. Ihr Bezug zum Kaiser war bezeichnenderweise eher locker; sie fühlten sich in erster Linie ihren (oft ebenfalls ‚barbarischen‘) Heermeistern verpflichtet.
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11. Eine christliche oder kirchliche Beauftragung für römische Kaiser? Diesem (zugegebenerweise holzschnittartig verfertigten) Bild des im Kern militärisch zu verstehenden Kaisertums in seiner – klar distanzierten – Beziehung zum Christentum soll nun die (ebenso grob skizzierte) christliche Sicht des Kaisertums an die Seite gestellt werden. Sie lässt dieses Verhältnis keineswegs inniger erscheinen. Im Gegenteil. Schon ein schneller Blick in das frühe christliche Schrifttum hat uns gezeigt: Mehr als die Kategorie einer zu akzeptierenden, weil gottgegebenen Obrigkeit ließ sich hier für die staatliche Gewalt Roms (samt ihrer Personifizierung im Kaiser) auch ‚beim besten Willen‘ nicht herauslesen. Tatsächlich waren die beiden beschriebenen militiae, auf deren Feldern man für den römischen Kaiser kämpfen konnte, völlig ungeeignet, um aus christlicher Perspektive den Herrscher als Träger eines spezifisch religiösen Auftrags erscheinen zu lassen. Auch ein Rückgriff auf die jüdische Bibel Israels konnte da kaum Abhilfe schaffen. Selbst die großen Könige David und Salomon waren sündhafte, korrekturbedürftige Menschen gewesen, und die ersten christlichen Kaiser fielen, worin fast alle Beobachter, mit Ausnahme von Eusebius, (dem vom Zauber des Anfangs eines christlichen Kaisertums gefangen genommenen Lobredner Konstantins) sich einig waren, genau in diese Kategorie. Und auch die institutionelle Seite des Verhältnisses ist zu bedenken. Die Kirche war eine Art Körperschaft, gemischt mit Elementen einer philosophischen Schule (secta). Institutionell war sie bereits im frühen 4. Jahrhundert fest gefügt, und zwar ohne dass dem Kaiser irgendein Platz darin zukam. Strukturbildendes Kennzeichen war die Autorität der Ortsbischöfe und ihre – erst Konsens suchenden und dann entscheidenden – Versammlungen, die überregionalen Synoden (Konzilien), als Phänomen übrigens im Kontext der antiken Religionen eine historische Besonderheit. Angesichts ihrer eminenten Bedeutung lag es zwar nahe, dass bereits Konstantin und alle ihm folgenden christlichen Kaiser versuchten, eine Art kaiserliche Synodalgewalt auszuüben und zu befestigen. Sie war aber schon formal niemals unbestritten, ganz zu schweigen von der inhaltlichen Beeinflussung der Beratungen. Aufs Ganze gesehen führten diese Ansprüche eher zur Schärfung der Differenz von Kaisertum und Christentum als zu deren Auflösung, allen realen Unterwerfungen, die der christliche Herrscher im Einzelfall erzwingen konnte, zum Trotz. Lange Zeit blieb ihm also nur ein Platz (und eine Rolle) als – zwar bevorrechtigtes, aber nicht regierendes – Mitglied der Kirche, die zwar insofern eine Reichskirche wurde, als sie unter Kaiser Theodosius die Staatsreligion verkörperte, nicht aber eine imperiale Kirche in dem Sinn, dass sie 132
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die Politik des Imperators (vor allem seine Kriege) legitimierte. Das antike Kaisertum konnte niemals vergessen machen, dass die Kirche ihre innere und äußere Verfasstheit ohne, ja teilweise gegen die staatliche Gewalt, die in der Person des Kaisers symbolisiert war, herausgebildet hatte. Wiederum seit Konstantin lag zwar potentiell die Begründung einer (neuen) kaiserlichen Rolle in diesem Verhältnis bereit – der Kaiser als (neuer) Garant einer wirklich ökumenischen und universellen christlichen Mission –, es blieb aber bei dieser Möglichkeit. Ihrer Realisierung standen nicht nur die genannten inneren Widerstände entgegen, sondern auch die historischen Umstände: christliche Missionare agierten in aller Regel unabhängig von der kaiserlichen Militärmacht, und dies war Teil ihres Selbstverständnisses. Allenfalls im Konflikt schon Konstantins, aber auch vieler seiner Nachfolger mit dem Neupersischen Reich ergab sich eine Konstellation, in der der religiöse Gegensatz mit der politisch-militärischen Ebene im Sinn einer religiösen Aufladung direkt interferieren konnte. Dies ist auch tatsächlich geschehen, hat aber erst 300 Jahre nach Konstantin, wie wir noch sehen werden, zu einem Heiligen Krieg geführt. 12. Mögliche (aber wirkungslose) christliche Deutungen der Kaiserherrschaft Schauen wir noch kurz auf potentielle neue Entwicklungen in Richtung eines christlich gedeuteten Kaisertums der Antike, das in der Lage gewesen wäre, ‚heilige Kriege‘ zu legitimieren. Mögliche Wege einer solchen Umorientierung lassen sich tatsächlich erkennen, aber sie tragen, aus der Nähe betrachtet, ihre Kontradiktion in sich. So gilt dies von der Angleichung des Herrschers an Christus selbst, eine scheinbar naheliegende Assimilation, etwa wenn man die Christusikonographie der Spätantike betrachtet, die deutlich imperial wird (‚Pantokrator‘). Aber eine realistische Möglichkeit war dies dennoch nicht. Eusebius mag in diese Richtung geträumt haben, aber für eine Kirche, die große Teile ihrer theologischen Energie auf die Frage der ontologischen Einzigartigkeit Christi verwandte, und darauf, wie in dieser Einzigartigkeit seine Menschlichkeit und seine Göttlichkeit verankert werden könnten, war ein kaiserliches Pendant dieser zentralen Figur schlicht unpassend. Dabei war es eine besondere Ironie, dass die römischen Kaiser ab Theodosius gerade diejenige Interpretation der Trinität bekämpften, die mittels einer klaren Hierarchisierung der zweiten göttlichen Person (Christus) noch eher eine Art von Angleichung an den menschlichen Herrscher erlaubt hätte als die ‚Wesenseinheit‘ dieser Person mit dem Schöpfergott, die 325 n. Chr. auf dem Konzil von Nizäa definiert worden war. 133
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Vergleichbares lässt sich auch von einer zweiten Möglichkeit feststellen: der Interpretation des Kaisers als Inhaber einer gottgefälligen Macht, etwa als neuer König David. Denn dessen Sünd- und Fehlerhaftigkeit wäre dann dem römischen Herrscher ‚mitvererbt‘ worden (und sie wurde es tatsächlich unter entsprechenden Umständen, wie Bischof Ambrosius’ Position in seiner Auseinandersetzung mit Kaiser Theodosius zeigt). Diese Defizienz hätte zwar durch entsprechende Bußfertigkeit geheilt werden können, aber dazu gehörte dann eben die prophetische Rolle eines Korrektors (vgl. die Rolle des Propheten Nathan im zweiten Samuelbuch). Diese wäre nur von einem Bischof auszufüllen gewesen, wie wir gleich sehen werden. Die Kaiser hüteten sich, aufs Ganze gesehen, diesen Weg einzuschlagen und sich damit in eine schwächende Abhängigkeit zu begeben. Dann aber konnten sie auch nicht an ein (ideales) altisraelitisches Königtum anknüpfen, dessen Traditionen ohnehin – mangels echter Überlieferungen – zu einem weitgehend fiktiven Konstrukt hätten zusammengebaut werden müssen. Man kann also ohne allzu große Übertreibung behaupten, dass es in der Spätantike zwar christliche Kaiser gab, ein christliches Kaisertum dagegen nur in eher disparaten konkreten Wirkungen (etwa in diesen oder jenen – keineswegs in den meisten – Maßnahmen der Kaiser), nicht jedoch in einem neuen Charakter der Struktur und der Begründung. Auch die Kaiser des 5. und 6. Jahrhundert legitimierten sich durch ihren politisch-militärischen Erfolg und kämpften nicht für Gott, sondern für die Macht ihres Reiches. Nicht dass es zu dieser aus heutiger Perspektive geradezu profanen Tradition keine möglichen christlichen Gegenentwürfe gegebenen hätte – sie waren aber sämtlich weit von einer Verwirklichung entfernt. Ein gutes Beispiel für einen solchen Gegenentwurf ist der Brief, den Gelasius, Bischof und Papst in Rom, 494 n. Chr. an den oströmischen Kaiser Anastasios schickte und in dem er das Verhältnis zwischen kaiserlicher Gewalt (potestas regalis) und geistlicher Autorität (auctoritas) der Bischöfe definierte. Es ist dies die berühmte und im Mittelalter höchst wirkmächtige ‚Zwei-Schwerter-Lehre‘, eine Bezeichnung, die allerdings missverständlich ist. Denn die sich dabei anscheinend formal adäquat gegenüberstehenden Potenzen waren in doppelter Hinsicht ungleich: Auf der einen Seite eine (weltliche) Macht und Herrschaft, auf der anderen (nur) eine Autorität. Und mit umgekehrter Priorisierung: Verfügte diese zwar über keine Erzwingungsmittel, so hatte sie doch – in Gelasius’ Sicht (Brief 12) – letztlich viel größeres Gewicht, da die Priester, allen voran der Papst, am Ende der Zeiten vor Gottes Gericht nicht nur für ihre eigenen Taten, sondern auch für die der (von ihnen geistlich beratenen und angeleiteten) Kaiser Rechenschaft ablegen müssten.
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Diese übergeordnete Verantwortung war jedoch nur ein (auf kurze und mittlere Sicht) folgenloser Anspruch, formuliert in einem kirchenpolitischen Konflikt, in dem sich die beiden Briefpartner nicht nur auf verschiedenen Seiten, sondern geradezu in anderen Welten befanden: hier der mächtige Kaiser in Konstantinopel, dort der Papst in einem Rom und Italien, das unter ‚barbarischer‘ Herrschaft stand und in dem sich der ostgotische König aus den kirchlichen Angelegenheiten der römischen Untertanen bewusst heraushielt, ein Zustand, der günstig für Gelasius’ Ansprüche, jedoch äußerst instabil war und nicht lange anhielt. Im 6. Jahrhundert wurde dann von Kaiser Justinian (527 – 565) ein anderer Weg zu einer besonderen und einzigartigen Gottesnähe des Herrschers beschritten: Da eine Heiligung des römischen Kaisertums über dessen innere Struktur nicht gelingen konnte, scheint er sie auf dem Weg über das vorbildhafte Christentum der kaiserlichen Person versucht zu haben. Justinian gerierte sich gewissermaßen als ‚Erster Christ des Reiches‘, den niemand an Frömmigkeit übertreffen konnte. Es gibt gute Gründe, schon diese Stilisierung, unabhängig von ihrem Erfolg, als ein wichtiges Indiz dafür zu verstehen, dass Justinian tatsächlich beides war, ein spätantiker Kaiser und zugleich der erste einer neuen und anderen, oft als byzantinisch bezeichneten Kultur. Unabhängig davon aber erforderte eine Herausstellung der exzeptionellen Frömmigkeit des Kaisers auch die Beglaubigung durch entsprechende Erfolge seiner Herrschaft. Bei Justinian ging das bis in die 530er Jahre vielleicht gut, dann aber begannen die Rückschläge. Seine Kriege waren auch keineswegs Religionskriege, selbst wenn es Versuche gab, sie bei günstigem Ausgang so zu stilisieren. Das erkennbar Nachträgliche dieser Bemühungen scheint dabei aber einen Erfolg verhindert zu haben. 13. Der erste (und letzte) Heilige Krieg der Antike: Kaiser Herakleios’ Kampf gegen die Perser Es bedurfte schon einer wirklich besonderen Situation, um den römischen Kaiser (und mit ihm sein Heer) und das Christentum eng zusammenzubringen. Diese ist tatsächlich erst im 7. Jahrhundert, lange also nach dem Ende des westlichen Kaisertums, eingetreten, und zwar unter Kaiser Herakleios (610 – 641). Dieser stützte sich, hierin noch ganz ein antiker Kaiser, auf seinen Rückhalt in der Armee, nicht etwa auf eine göttliche Weihe. In die Rolle eines Vorkämpfers des Christentums kam er nur durch äußere Umstände.
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Die persischen Sassaniden, die alten Rivalen Konstantinopels im Osten, hatten in der 20-jährigen Herrschaft des Kaisers Maurikios (582 – 602) Frieden gehalten. Dessen Absetzung und Ermordung nutzte der persische Großkönig Chosrau II. jedoch, um in oströmisches Gebiet einzufallen und früher verlorene Gebiete zurückzuerobern. In den ersten Jahren des Herakleios, ab 610, hatte das Römische Reich die bislang größten Verluste gegenüber den persischen Sassaniden in seiner Geschichte zu verzeichnen. Offenbar wollten die Sassaniden nicht nur alle Gebiete, die sie jemals, seit Beginn der jahrhundertelangen (letztlich von den Parthern geerbten) Auseinandersetzung mit Rom einmal besessen hatten, nun wieder ihrem Reich einfügen, sondern viel mehr: Ihr Ziel war der gesamte fruchtbare Halbmond, der ja schon seit vorchristlicher Zeit Teil des römischen Imperium gewesen war. Herakleios konnte schwere Verluste in Syrien nicht verhindern, persische Truppen drangen in der Folge sogar tief nach Kleinasien vor und plünderten mit Kappadokien römisches (und christliches) Kernland. 614 eroberten sie dann die den Christen seit langem heilige Stadt Jerusalem, mitsamt ihren sakralen Schätzen, vor allem mit der Kreuzesreliquie, die ebenso wie der gefangene Patriarch von Jerusalem in die persischen Königsstadt Ktesiphon (bei Bagdad) gebracht wurde. Erschwerend kam für die verstörten christlichen Beobachter hinzu, dass sich die persischen Eroberer bei der Inbesitznahme der Städte im Nahen Osten zunächst der Unterstützung der Juden bedienten, die sich nun (wenn auch nur für ein paar Jahre) als bevorzugte Profiteure des Endes der römisch-christlichen Herrschaft in der Region sehen konnten. Namentlich nach der Eroberung von Jerusalem soll es durch sie zu schweren Zerstörungen besonders der Kirchen und zu Massakern gekommen sein. Anschließend gab es dann aber einen persischen Strategiewechsel, man setzte in der Folge mehr auf die mit Konstantinopel verfeindeten miaphysitischen – also aus Reichsperspektive heterodoxen – Christen als ‚Ansprechpartner‘. Die Perser fielen jedenfalls schließlich – wir sind jetzt im Jahr 616 – auch in Ägypten ein. Drei Jahre später war das Land (seit 30 v. Chr. ununterbrochen Teil des Imperium Romanum) vollständig erobert und in das Sassanidenreich integriert, womit die Kornkammer des Oströmischen Reiches in persischer Hand war, eine Katastrophe, die der Kaiser zunächst hilflos mitansehen musste. Diese Beschreibung möge genügen, um das Gefühl einer einzigartigen Bedrohung zu erklären, das damals um sich gegriffen zu haben scheint. Eine schon bald nach dem Fall Jerusalems, im Jahr 615, in großer Stückzahl geprägte Münze kann die verzweifelte Stimmung illustrieren. Sie trägt die ganz ungewöhnlich Aufschrift Deus adiuta Romanis („Gott, hilf den Rö136
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mern!“). Die Vorderseite zeigt Herakleios und seinen Sohn Konstantin, auf dem Reverse ist das Kreuz auf einem Globus zu sehen, zu dem Stufen heraufführen: es ist das verehrte (und soeben geraubte) Kreuz von Jerusalem.5 Es handelt sich hierbei übrigens um die letzte neuformulierte Münzlegende in lateinischer Sprache, die auf oströmischen Münzen erscheint. Spätere Münzen zeigten entweder griechische Inschriften oder legten alte lateinische Legenden neu auf. Das berühmte, sechs Gramm schwere Silberstück (Hexagrammon) war auch aus wirtschaftlicher Perspektive eine Art Notmünze; denn der Verlust der ganzen Südflanke des Reiches war nicht zu kompensieren; die Zahlungen des Staates mussten rücksichtslos reduziert werden (die Zahl der Soldaten und Beamten, die – zum Teil mit diesem Silber – bezahlt wurden, wurde schlagartig halbiert). Und auch von den übrigen Grenzen kamen Hiobsbotschaften, vor allem vom Balkan, wo Awaren und Slaven ungehindert vordrangen. In dieser Situation erbat der Kaiser also göttlichen Beistand, und zwar nicht nur in Form von Bitten und Gebeten. Er nahm ihn auch direkt in Anspruch: So wurde – ohne erkennbaren Widerstand – ein erheblicher Teil der Kirchenschätze eingeschmolzen, um den Krieg gegen die Perser überhaupt irgendwie finanzieren zu können. Die Lage des Kaisers war schließlich so verzweifelt, dass er eine Zeit lang angeblich überlegt haben soll, die Hauptstadt aufzugeben und sich ins sichere Karthago zurückzuziehen. Nur auf Drängen des Patriarchen soll er im Osten geblieben sein, und er fasste nun einen kühnen Plan: nicht mehr verteidigen, sondern in die Offensive gehen und den Feind in seinem eigenen Land schlagen. Herakleios erkaufte sich vom Khagan der Awaren einen kurzen Frieden in Thrakien, sammelte die verbliebenen Truppen und verließ im April 622 die Hauptstadt. Wohl in Kappadokien konnte Herakleios noch im selben Jahr einen ersten Sieg verzeichnen. Es ist in diesem Zusammenhang beachtenswert, dass Herakleios der erste Kaiser seit Theodosius I. (im späten 4. Jahrhundert) war, der persönlich an der Spitze einer Armee ins Feld zog und somit radikal mit einer über zweihundertjährigen Tradition brach: Seit 395 hatten die oströmischen Kaiser Konstantinopel und sein engstes Umland nicht mehr verlassen. Der Druck, der Herakleios zu dieser Kursänderung brachte, muss erheblich gewesen sein. Die Quellen überliefern, dass der Kaiser sich nun, da er in die Offensive ging, als ein hervorragender Stratege erwies. Ganz ungewöhnlich für spätrömische Feldherrn war dabei, dass der Kaiser sich immer wieder selbst dem Kampfgetümmel ausgesetzt zu haben scheint.
5 Vgl. Walter Emil Kaegi, Heraclius. Emperor of Byzantium, Cambridge/New York 2003, S. 90f.
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Wir sehen also auf vielfältigen Feldern eine Ausnahmesituation – und dem entsprach auch die ideologische Seite. Eine literarische Quelle (Theophanes, Verfasser einer frühmittelalterlichen Weltchronik) überliefert eine Rede des Kaisers, die er 624 zur Unterstützung seiner Verteidigungskriege gehalten haben soll. Natürlich wissen wir nichts über den tatsächlichen Wortlaut. Aber die Quellen, auf denen Theophanes basierte, haben den Sinn offenbar erfasst, zumal die Rhetorik des Kaisers schon vorher in diese Richtung gegangen war. Hier aber war etwas wirklich Neues ausgedrückt (zum Jahr 6115 seit Erschaffung der Welt): „Brüder, lasst uns die Gottesfurcht im Herzen behalten und kämpfen, um die Beleidigung Gottes (durch die Perser) zu rächen. Lasst uns tapfer gegen einen Feind kämpfen, der viele Untaten gegen Christen verübt hat. … Diese Gefahr aber ist nicht ohne Lohn, sondern führt zum ewigen Leben. Tapfer wollen wir zusammenstehen; Gott, der Herr wird uns helfen und unsere Feinde vernichten.“ Dem Besonderen dieser Botschaft entsprachen auch neue Züge der nun folgenden Feldzüge gegen die Sassaniden (624/25 und 627/28): dass nämlich Herakleios den Krieg offenbar auch als einen Krieg gegen die „Feueranbeter“ (also die Anhänger des Zoroastrismus, der im Sassanidenreich eine Art Staatskult war) führte: Es wurden Christusbilder im Heerlager aufgestellt, und aus Rache für die Verwüstung Jerusalems und den Raub des Heiligen Kreuzes wurden mehrere persische Feuertempel zerstört. Herakleios hatte offenbar das Glück des Tüchtigen. Auch die Sassaniden hatten zwar – wie der Kaiser – den Angriff als Verteidigung gewählt. Im Sommer 626 war Konstantinopel von Awaren und Persern gleichzeitig belagert worden; es drohte der Untergang. Die byzantinische Flotte hatte der Stadt jedoch zuhilfe kommen können, da sie Perser und Awaren jeweils am Übersetzen auf das andere Ufer des Bosporus hindern konnte. Die glückliche Rettung der Stadt, die ja kurz vor der Zerstörung gestanden hatte, wurde dann auf den Schutz der Gottesmutter zurückgeführt. Und die Befreiung von Konstantinopel markierte den Wendepunkt des Krieges: Herakleios marschierte im September 627 von Tiflis aus nach Süden; im Dezember schlug er in der Schlacht von Niniveh eine kleinere persische Armee, verzichtete wohlweislich auf die Belagerung der Hauptstadt Ktesiphon und besetzte stattdessen die Lieblingsresidenz Chosraus II., Dastagird. Diese erfolgreichen Operationen stellten das Selbstvertrauen der Oströmer wieder her, den Persern aber zeigten sie ihre Verletzlichkeit. Chosrau II. verlor nach der Niederlage schnell an Rückhalt; schon im folgenden Februar wurde er von seinem Sohn entmachtet und getötet. Man sah im Sassanidenreich jetzt keinen Weg mehr, den Krieg siegreich zu beenden, und bot den Römern Frieden an. Die Perser mussten in der Folge (629/30) alle seit 603 besetzten Gebiete und die Kreuzesreliquie zurücker138
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statten (diese Rückführung wird bis heute in der orthodoxen Kirche gefeiert). Ansonsten wurde der Friede jedoch zwischen gleichrangigen Partnern geschlossen und stellte machtpolitisch schlicht den Status quo wieder her. Herakleios ließ sich natürlich dennoch gebührend feiern. Der Kaiser brachte das Kreuz zunächst im Triumph nach Konstantinopel, 630 zog er mit glänzendem Gefolge nach Jerusalem, um dort die hochverehrte Reliquie wieder in die Grabeskirche zu bringen. Er hatte den Krieg nicht als einen Vernichtungs-, wohl aber als einen Rachekrieg für religiöse Untaten des Gegners geführt. Der Charakter als eine Art Heiliger Krieg war insofern gegeben, als beide dafür nach der oben begründeten Definition notwendigen Komponenten, die göttliche Agenda und deren Auswirkungen auf die Art der Kriegsführung, verifizierbar sind. Hinzu kam sogar noch ein drittes (nicht konstitutives) Element: die Belohnung der Kämpfer im Jenseits, wie sie in der zitierten Rede des Kaisers verheißen wird. Aber behalten wir im Auge, dass Herakleios nicht nur den ersten Heiligen Krieg der Antike führte, sondern, da er mit guten Gründen als der letzte antike Kaiser angesehen wird, auch den letzten und einzigen. Der Kaiser stand zwar nach dem Erfolg gegen die Perser, deren Reich in der Folgezeit durch innere Wirren paralysiert wurde, auf dem Höhepunkt seiner Macht. Doch dieser Höhenflug war trügerisch: Das Oströmische und das Persische Reich hatten sich gegenseitig geschwächt. Nutznießer waren bekanntlich (noch unter Herakleios) die muslimischen Araber. Zwar konnte das byzantinische Reich sich – anders als das persische, das trotz heftiger Gegenwehr zwischen 642 und 651 unterging – gegen die Invasoren verteidigen, die Kämpfe fanden aber im Kerngebiet des Staates, in Kleinasien, statt, und zeitweilig verlor man sogar die Seeherrschaft im östlichen Mittelmeer. So waren die Oströmer um 700 im Wesentlichen auf Teile Kleinasiens, das Umland der Hauptstadt, einige Gebiete in Griechenland sowie in Italien zurückgeworfen. Dieser Verlust von zwei Dritteln des Reichsgebietes beendete im Ergebnis viele antiken Charakteristika des verbliebenen Imperium Romanum: die Polis-Kultur, die Provinz-Struktur und alle westlich-lateinischen Traditionen, wozu eben auch die beschriebene Distanz von Kaisertum und Christentum gehörte. Das heißt nun aber nicht, dass man in Byzanz seit Kaiser Herakleios ‚Heilige Kriege‘ führte. Im Gegenteil: die Sakralisierung des Krieges blieb auch in der Zukunft eindeutig eine Ausnahmeerscheinung. Dies schon deshalb, weil der Kaiser aufs Ganze gesehen trotz seines Erfolges gegen die Perser militärisch am Ende ein Verlierer war. Eine tiefgreifend sakrale Sicht seiner Kriege hätte dies kaum erklären können, ganz abgesehen davon dass die (oben angesprochene) christliche Tradition des Märtyrertums viel zu stark war, als dass sie zu einem Kennzeichen des militärischen Kampfes 139
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christlicher Soldaten hätte werden können. Nicht dass die byzantinischen Kaiser bei Gelegenheit nicht versucht hätten, die Abwehrkriege des Reiches gegen arabische Eindringlinge irgendwie zu heiligen. Aber das blieb ohne größeren Erfolg – übrigens ganz anders als auf der Gegenseite. In Byzanz (wie auch im Westen) war bei ‚normalen‘ Kriegen ein göttlicher Auftrag auch nach der Antike kaum plausibel zu machen. Konsequenterweise blieb hier den gegen muslimische Heere gefallenen christlichen Soldaten der Märtyrerstatus auch künftig verwehrt. Quellen- und Literaturverzeichnis Bainton, Roland Herbert, Die frühe Kirche und der Krieg, wieder in: Richard Klein (Hg.): Das frühe Christentum im römischen Staat, Darmstadt 1971, 187-216. Berrouard, Marie-Francois, Bellum, in: Augustinus Lexikon I (1986), 538-645. Börm, Henning, Prokop und die Perser. Untersuchungen zu den römisch-sasanidischen Kontakten in der ausgehenden Spätantike, Stuttgart 2007. Burkert, Walter, Homo Necans: Interpretationen Altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin 1972. Canepa, Matthew, The two Eyes of the Earth. Art and Ritual of Kingship between Rome and Sasanian Iran, Berkeley u.a. 2009. Colpe, Carsten, Der „Heilige Krieg“. Benennung und Wirklichkeit, Begründung und Widerstreit, Bodenheim 1994. Craigie, Peter Campbell, The Problem of War in the Old Testament, Eugene (OR) 2002. De Souza, Philip, Die Kriege des Altertums. Von Ägypten bis zum Inkareich, London 2008. Destephen, Sylvain / Dumézil, Bruno / Inglebert, Hervé (Hg.), Le Prince chrétien de Constantin aux royautés barbares (IVe-VIIe siècle), Paris 2018. Eich, Armin, Die römische Kaiserzeit. Die Legionen und das Imperium, München 2014. Eich, Armin, Die Söhne des Mars. Eine Geschichte des Krieges von der Steinzeit bis zum Ende der Antike, München 2015. Flaig, Egon, „Heiliger Krieg“: Auf der Suche nach einer Typologie, in: Historische Zeitschrift 285 (2007), 265-302. Fowden, Garth, Empire to Commonwealth. Consequences of monotheism in late antiquity, Princeton/N.J. 1993. Frede, Michael (Hg.), Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999. Gallagher, Clarence, Church Law and Church Order in Rome and Byzantium. A Comparative Study, Aldershot 2002. Ganschow, Thomas, Krieg in der Antike, Darmstadt 2007.
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Universal in Scope, Pluralist in Outlook: Rashīd al-Dīn’s (d. 718/1318) Compendium of Histories and the Narrating of Difference in Mongol Eurasia Judith Pfeiffer*
1. Introductory Reflections “The realm of history is fertile and comprehensive; it embraces the whole moral world.”1 This is how Friedrich Schiller (1759-1805) opened the programmatic paragraph of his 1789 inaugural lecture as Professor of History at the University of Jena. The lecture sought to answer the question: “What is the meaning of, and to what end do we study, universal history?” Had he * I am indebted to several readers, in particular to Evrim Binbaş, Heidrun Eichner, Constantin Fasolt, Peter Geiss, and Helge Jordheim, for their invaluable feedback on this article at various stages. I am especially grateful to Helge Jordheim for our peripatetic discussion of the visual aspects of Rashīd al-Dīn’s work. To Constantin Fasolt I am indebted for reminding me of the value of sound philological work and for suggesting a more flowing and elegant version of the translation of two of the passages of the English translation of Rashīd al-Dīn’s methodological deliberations in his preface to the Jāmiʿ al-tawārīkh. All remaining errors are, of course, my own. Further and special thanks go to Lucy Russell for her meticulous proofreading and endless patience during the final stages of the preparation of this article. Funding for the research for this article was made available by the Alexander von Humboldt Foundation, through an Alexander von Humboldt Professorship at the University of Bonn, and the European Research Council, under the European Union’s Seventh Framework Programme (FP7/2007-2013) / ERC Starting Grant 263557 IMPAcT at the University of Oxford. This has enabled me to acquire some of the manuscripts used for preparing this article. 1 “Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt.” Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine Akademische Antrittsrede bey Eröfnung seiner Vorlesungen gehalten von Friedrich Schiller, Professor der Geschichte in Jena (Jena: in der Akademischen Buchhandlung, 1789), 4; also published in: Der Teutsche Merkur 4 (1789): 105. For the English translation, I refer to the following throughout, with minor emendations: Schiller, “The Nature and Value of Universal History: An Inaugural Lecture [1789],” History and Theory 11,3 (1972): 321-334. The English translation of the above passage is found on p. 322. This article does not provide the translator’s name. I am grateful to Adam Sabra for referring me to this English translation, and to Harold Marcuse for making a copy available to me.
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not added the qualifier “comprehensive,” one could have thought that history itself was a universal science, especially since he also assigned it responsibility for “the whole moral world [emphasis added];” the term “Universalgeschichte” itself became tautological. Schiller’s lecture was an ardent defense of “universal history” (Universalgeschichte), the topic to which this article (and to a certain extent the present volume on universalism in which it is published) is also dedicated. His expositions will serve here as a foil against which we will contrast the method of the pre-modern Muslim intellectual and historian Rashīd al-Dīn (d. 718/1318). European historians have repeatedly labelled his Compendium of Histories (Jāmiʿ al-tawārīkh) a “universal history.”2 When speaking about universal history, often metonymically used to signify universal historiography, the qualifier “universal” can refer to either scope, or method, or a combination of various aspects of both. What exactly is meant depends very much on the specific history in question. When Schiller spoke about universal history his primary aim was to establish a universally applicable, coherent (“synthetic”) narrative to a history that is broad in geographical scope. Rashīd al-Dīn’s history is called “universal,” too, and yet, as this article demonstrates, his outlook and method are in some ways almost diametrically opposed to Schiller’s. One could simply leave it at that and observe that the term universal history is an ambiguous one, which would be an accurate statement. However, given that European historians, including this one, are wont to describe and analyze histories beyond Europe with a terminology developed in and for Europe by European and lately also North American historians with mostly European roots, it is legitimate and indeed desirable to query and clarify the terminology used. This is especially the case in an article like this, which is the only contribution on a Middle Eastern author in a volume whose editors have made the conscious attempt to adopt a wide perspective. Indeed, by actively seeking to include articles dedicated to regions beyond Europe, they are ready to question well-known categories and assumptions.3 On the one hand, we are thus using Schiller’s discussion of universal history here for a straightforward contrast and comparison with Rashīd 2 Early modern Muslim taxonomies of historiography (and universality) would deserve a separate article. Yet any approach involving the translation into English of the pertinent terminology would have to consider the history of these terms in the European context, as I have done in this article with respect to the term ‘universal history.’ For examples, see Section 2 “On Terminology.” 3 See the introduction to the present volume.
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al-Dīn’s method, simply because Schiller’s exposition is so clear and unequivocal. This juxtaposition has exclusively heuristic purposes. It is not to suggest either that any historian of repute would embrace Schiller’s definition today or that there is a transfer, reception, or connection between the two authors. Rashīd al-Dīn wrote more than four centuries before Schiller, and Schiller does not appear to have been aware of Rashīd al-Dīn’s work. They also operated in very different historical, cultural, and intellectual contexts. Schiller’s exposition was chosen here as one of several possible examples suitable for comparison, not because it is more representative or more frequently quoted than others today.4 On the other hand, things are not that straightforward. To this comparison of these primary sources we must add the likeness and contiguity of the terminology used to describe them. When we discuss the different meanings of universal history we are not dealing with simple homonymy, as Marc Bloch once suggested for insidious cases of equivocation, but rather with the more complex phenomenon of polysemy.5 Twentieth- and twentyfirst-century European and North American historians of the Middle East are the heirs of early modern European terminology. We continue to use the same vocabulary as our early modern precursors. While the contents of a phrase such as universal history may have changed, the words we use are the same. These words therefore become receptacles of the entire gamut of meanings that they have held from the past until most recent times, even if only through paradigmatic association, extending in their semantic potential all the way from the early modern period until today.6 Thus, while today only few, if any, scholars would use the term universal history in the sense explained by Schiller, and the meaning has clearly evolved over the
4 For a discussion of the merits and pitfalls of comparison as a method, see, for example, Marc Bloch, “Pour une histoire comparée des sociétés européennes,” Revue de synthèse historique 46 (1928): 15-50; Jürgen Osterhammel, “Transnationale Gesellschaftsgeschichte: Erweiterung oder Alternative?” Geschichte und Gesellschaft 27 (2001): 464-479; Michael Werner and Bénédicte Zimmermann, “Vergleich, Transfer, Verflechtung: Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen,” Geschichte und Gesellschaft 28 (2002): 607-636; and Bruce Lincoln, Apples and Oranges: Explorations in, on, and with comparison (Chicago: The University of Chicago Press, 2018). 5 “Avant tout, il faut déblayer le terrain des fausses similitudes, qui ne sont souvent que des homonymies. Il en est d'insidieuses.” Marc Bloch, “Pour une histoire comparée des sociétés européennes,” Revue de synthèse historique 46 (1928): 30. 6 As a consequence the editors of one of the most recent publications on universal history wisely opted for a polysemous definition of the term; Bjørnstad, Jordheim, and Régent-Susini, eds., Universal History and the Making of the Global.
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past 230 years, the resulting polysemy of the term remains a continuous challenge. This holds particularly true for general histories of the Islamicate world. Often – and too often without it being made explicit – these are associated with a type of universalism akin to that proposed by Schiller, as the assumption is that anything Islamic is religious and as such has ‘universalist’ aspirations. This is an assumption that the study of the Islamic world shares with that of early Christian antiquity, and here Van Nuffelen’s caution that religion and universal claims do not necessarily go together is extremely useful and also applicable to Islamicate historiography.7 A recent example of scholarship that employs the terms universal, universality, and universalism in Islam with a wide spectrum of meanings (without necessarily systematically discussing the differences) is Michael G. Morony’s introduction to a volume on Universality in Islamic Thought. Morony edited the volume and also contributed to it a chapter on “Universality in Islamic Historiography” that deals with Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh among other examples.8 In order to establish common ground for what are six rather disparate articles that mainly only cover early Islam, Morony uses the vehicle of “rationalism.”9 Evoking this well-known sister of European universalism is, however, problematic, as it departs from the premise that the same mechanisms that worked in Christian Europe of the early modern period must also have worked in the predominantly Muslim Middle East of the eighth to fourteenth centuries – itself a universalist assumption.10 7 Van Nuffelen has convincingly refuted the a priori assumption that all historiography written by Christian authors of antiquity was theological and thus universal. Van Nuffelen, “Theology versus Genre. The Universalism of Christian Historiography in Late Antiquity”, in Historiae Mundi, 162. 8 Michael G. Morony, ed., Universality in Islamic Thought: Rationalism, Science and Religious Belief (London: I. B. Tauris, 2014). 9 “The aim [of the volume] is also to show the role of rationalism as a vehicle for universality [in Islam].” Michael G. Morony, “Introduction,” in Universality in Islamic Thought, 1. This reference to rationalism is repeated again on the same page and elsewhere. “Among different kinds of Muslims and between Muslims and nonMuslims, in one way or another rationalism has been a vehicle for universality;” “Logic was considered to be superior to grammar because it was universal and supralingual; the universality of reason made it superior to religion because each people had their own religion.” Morony, “Introduction,” 1. “Thus, the universality of reason has existed as a theme among Muslims, but not all Muslims have thought in rational or universalizing terms.” Morony, “Introduction,” 6. 10 For suggestions on how to challenge the “aufklärungsphilosophische Verschwisterung von Rationalität und Universalismus,” see Peter Geiss, “Universalismen.
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Several of the altogether six articles refer clearly to types of philosophical universality that are closer to Schiller’s philosophical notion of universal history than to Rashīd al-Dīn’s. Thus, in the chapter on Muslim rational theology “universality in Islam is presented in terms of the potential applicability of Islam to all humans and of human submission to the universal deity […] grounded in universal human nature.”11 This is followed by a chapter on Islamic law that discusses “whether or not time could be a cause of ritual acts, [affording] these obligations a universal character.”12 A third chapter discusses the “universalistic humanistic morality […] based on the commonality of human nature” in Ismaili thought, after which there is a chapter treating “the universality and neutrality of science.”13 It is in this company that one finds Morony’s discussion of Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh in his chapter on “Universality in Islamic Historiography.”14 Yet, whilst discussing Rashīd al-Dīn alongside the ninth-century Muslim historian al-Ṭabarī – whose history has a very different structure to that established by Rashīd al-Dīn, one that more closely resembles Schiller’s conception of history – Morony does so without making the differences explicit. I have adopted a different approach in this article, affording particular focus to language and the political implications of its use. After all, the meaning of universal history has substantially and significantly changed since Schiller’s time. It has become much more politically correct, much more ‘inclusive,’ it gives greater recognition and depth to history beyond Europe, and has even begun to “de-center” Europe to the extent that there has been a backlash recently against the writing of “connected histories” and similar approaches that challenge Eurocentric approaches to ‘global’ history. No historian of any name would dare claim wholesale adherence to Schiller’s definition of universal history today. And yet, we are all the heirs of the ideas of early modern Europe, and we continue to use the same terminology. Maps provided in academic publications and public newspapers alike continue to use adaptations of the 1569 Mercator projection, blowing up Europe and North America to uneven proportions and reducing Africa, India, South America, and much of
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Genese – Struktur – Konflikt: Antragsskizze für eine DFG-Forschergruppe” (Unpublished manuscript, p. 7). Morony, “Introduction,” 2. Morony, “Introduction,” 3. Morony, “Introduction,” 3, 4. Morony, “Universality in Islamic Historiography,” in Universality in Islamic Thought, 145-156.
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Asia to disproportionate minimality.15 Not only have most world histories continued to be Eurocentric in terms of scope and the detail with which historical phenomena in different regions of the world are treated, but the very categories, taxonomies, and terminology that were developed in a European context are superimposed on the extra-European phenomena to be studied. A certain ‘nonchalance’ in the use of terms such as “rationality” and “universal history” for the world beyond Europe would fall under this category. Speaking for my own field – Middle Eastern and Islamic History – one of the current debates revolves around the question of when North American and European scholars of Islamic Studies will finally begin to take seriously their twentieth- and twenty-first-century colleagues, who publish in Arabic, Persian, Turkish, Urdu, and other relevant Islamicate languages. These are the same languages in which they are well-equipped to read primary sources. And yet, to this day, many scholars in Islamic Studies use the languages that they have spent years studying almost exclusively to read sources of a more or less remote past, whilst largely ignoring what contemporary scholars of those regions have to say in the present day. Bert Fragner has likened such an attitude to textual Orientalism.16 Thus, discussing the meaning and epistemology of a term like ‘universal history’ for a pre-modern text written in the Middle East is not merely a matter of philology; it is a matter of method and, lastly, politics. Having established the comparative purpose and epistemological relevance of a discussion of the term universal history with reference to an early modern European author such as Schiller when discussing Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh, let us now return to Schiller before moving on to Rashīd al-Dīn. Schiller’s lecture was a spirited and engaged ‘philosophical’ response to his historian colleagues throughout Europe. In response to the challenges of an ever expanding world that was becoming progressively more ambiguous due to colonialism on the one hand and scientific discoveries on the other, historians had been preoccupied for much of the preceding century with the question of universal history, what it means, and how it can be written. This materialized as a largely philosophically oriented debate on universalism in history especially, but not exclusively, within German-
15 For a discussion of the use of the Mercator map and its implications, see Marshall G. S. Hodgson, The Venture of Islam: Conscience and History in World Civilization, 3 vols. (Chicago: The University of Chicago Press, 1974), 1:22-69. 16 Bert Georg Fragner, Oriental Studies, Middle Eastern and Islamic Studies in Germany (An Overview) (Tokyo: The University of Tokyo, 2001).
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speaking circles17 and as a much wider, pan-European preoccupation with the question and practical feasibility of a history that looks beyond Europe being written. This latter project had been initiated by Schiller’s English colleagues, who had prepared a multi-volume, multi-authored history titled English Universal History (1736-1765), a publication that was printed in instalments and was available via subscription throughout Europe.18 The English Universal History was widely read among the intellectuals of its
17 Amongst Schiller’s immediate predecessors who debated on universal historiography within German-speaking circles are Johann Albrecht Bengel (fl. 1741), August Ludwig von Schlözer (fl. 1772), Johann Gottfried Herder (fl. 1772; 1774), Johann Christoph Gatterer (fl. 1777), and Immanuel Kant (fl. 1773), who wrote his influential 1798 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht presumably already under the influence of Schiller. For more on Schiller’s antecedents, see the enlightening article by Jordheim, “Making Universal Time: Tools of Synchronization.” It emerges from this article that European historians of this period generally only observed and described the present and did not engage, or only very rudimentarily engaged, with the past (and historiography) of peoples beyond Europe (the Hottentotten, the Wilden, etc.). This is an approach that is also reflected in Schiller’s lecture, studied here. We should add, however, that the philologists of the same period were making available the histories of nations beyond Europe insofar as they possessed a written tradition. For instance, already in the sixteenth century the orientalists Guillaume Postel (1510-1581), André Thévet (1516-1590), and Pierre Bergeron (1580-1637) had studied and made available some of the main texts. They were followed in the seventeenth century by Pétis de la Croix père (1622-1695), d’Herbelot de Molainville (1625-1695), Antoine Galland (1646-1715), and Pétis de la Croix fils (1653-1713), among others, who translated key historical texts into French, including parts of Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh and several other sources. See Matthieu Chochoy, “Acquisition, interprétations et circulation des savoirs sur l'empire tartare dans le réseau orientaliste français du XVIe à la fin du XVIIIe siècle” (PhD diss., École pratique des hautes études, 2016). Thus, the histories of non-European peoples cannot have been unknown, even less inaccessible, to the eighteenth-century theoreticians of universal history. Yet they played a curiously negligible role for, or may even have undermined, notions of universality similar to Schiller’s. 18 For the complex publishing details of this multi-volume work (23 volumes in folio and 64 volumes in octavo), published over several years and with various contributors as “An Universal History from the Earliest Account of Time to the Present, compiled from Original Authors and illustrated with Maps, Cuts, Notes, Chronological and other Tables,” see Guido Abbattista, “The English Universal History: Publishing, Authorship and Historiography in an [sic] European Project (1736-1790),” Storia della Storiografia 39 (2001): 100-101n2. On the project in general, see Abbattista, “‘The literary mill’: per una storia editoriale della Universal History (1736-1765),” Studi Settecenteschi 2 (1981): 91-133; see also Giuseppe Ricuperati, “Universal History: storia di un progetto europeo: Impostori, storici ed editori nella Ancient Part,” Studi Settecenteschi 2 (1981): 7-90.
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time. Indeed, as surviving subscription lists and other pieces of evidence reveal, among its readers were the luminaries of the eighteenth century, including the philosopher Voltaire (1694-1778), the historian of the Roman Empire Gibbon (1737-1794), the sinologist de Guignes (1721-1800), and the historians Gatterer (1727-1799) and Schlözer (1735–1809).19 The twentieth-century historian Guido Abbattista, who has worked extensively on the English Universal History, its production, and its reception history, has concluded that – with adaptations swiftly elaborated in Holland, France, Italy, Germany, Sweden, and Russia – the Universal History was not in the end a properly “cosmopolitan, enlightened project, but a highly flexible mould ready to be modified under the different sorts of local and historical pressures.”20 Starting out as a project with a grand vision, it was both enlarged and shattered in the prism of many locally produced adaptations, each of which propagated its own view of the world. As a whole, it was a conglomerate of histories, each of which had a different geographical and historiographic horizon. In reaction to this multi-volume, multi-cephalous, pan-European endeavour that nonetheless originally lacked a preface defining its very subject-matter,21 some contemporaries concluded that this work did not in fact constitute a ‘universal history,’ properly speaking, but rather a ‘world history’ as a conglomerate of histories. Schiller’s way to ‘rescue’ the term and idea of ‘universal history’ (permitting him also to take a jab at the “bread-and-butter scholars” [Brodgelehrte] at the German universities of his time), was thus to suggest that ‘world history’ is not comprehensive and
19 “From Voltaire and Goguet to Edward Gibbon and Joseph Priestley, from d’Holbach to Raynal, from Carlo Denina to the abbé Genovesi, Galeani Napione, Gaetano Filangieri and Cesare Cantù, from Meusel to Gatterer and Schlözer, from Joseph de Guignes to Anquetil-Duperron and a host of secondary authors and works (abbé Roubaud, Guérin de Rocher, François Turpin, Pastoret, Alexander Fraser Tytler, David Ramsay) the Universal History was not only widely owned, but also read, used, quoted by the foremost European men of letters, and commented upon by practically all the major XVIIIth century European literary periodicals.” Abbattista, “The English Universal History,” 102-103. On Gatterer and Schlözer in particular, see Jordheim, “Making Universal Time: Tools of Synchronization.” 20 Abbattista, “The English Universal History,” 101. 21 One of the German translators, Siegmund Jakob Baumgarten (1706-1757), pointed this out explicitly and prefaced his translation of the work with his own deliberations on the matter and definition of history (“On the Nature and Usefulness of History”). These were in turn translated back into English and published separately as A Supplement to the English Universal History, lately published in London, 2 vols. (London: The Rose and Crown in the Poultry, 1760).
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united through one single story line, philosophy, or ideology, whereas ‘universal history,’ at least in Schiller’s philosophical definition, is.22 “Where the bread-and-butter scholar (Brodgelehrte) puts asunder, the philosopher joins together. He has early reached the conviction that in the realm of understanding, as in the domain of sensation, everything is interconnected, and his active drive for coherence cannot remain satisfied with fragments.”23 […] “The philosophical mind cannot long detain itself with the subject matter of world-history before a new impulse is activated. This impulse strives for harmony […] Thus he transplants this [missing] harmony from himself to the nature of things; that is, he imports a rational purpose into the course of the world, and a teleological principle into world-history [emphasis added].”24 [...] “From the total sum of these events, the universal historian picks out those which have had on the contemporary state of the world and on the condition of the generation now alive an influence which is essential, undeniable, and easy to discern. It is thus the relevance of an historical fact to the contemporary state of the world to which attention must be paid in assembling materials for world-history. World-history therefore proceeds upon a principle which directly reverses the world-order itself. The real
22 In this, he of course had predecessors, most notably his only slightly older contemporary Johann Christoph Gatterer (1727–1799), who spoke of the “nexus rerum universalis” (“a universal connection of things in the world”) in his conception of history. 23 Schiller, “The Nature and Value,” 324. The original reads: “Wo der Brodgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist. Frühe hat er sich überzeugt, daß im Gebiete des Verstandes, wie in der Sinnenwelt, alles in einander greife, und sein reger Trieb nach Uebereinstimmung kann sich mit Bruchstücken nicht begnügen. ” Schiller, “Was heißt,” 111. 24 Schiller, “The Nature and Value,” 332. The original reads: “Nicht lange kann sich der philosophische Geist bey dem Stoffe der Weltgeschichte verweilen, so wird ein neuer Trieb in ihm geschäftig werden, der nach Uebereinstimmung strebt. [...] Er nimmt also diese [fehlende] Harmonie aus sich selbst heraus, und verpflanzt sie ausser sich in die Ordnung der Dinge d.i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt, und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte [emphasis added].” Schiller, “Was heißt,” 130-131. Schiller also emphasizes the teleological nature of his approach elsewhere: “Thus there extends between the present moment and the beginnings of the human race a long chain of events which interlock as cause and effect.” Schiller, “The Nature and Value,” 330. The original reads: “Es zieht sich also eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfange des Menschengeschlechts hinauf, die wie Ursache und Wirkung in einander greifen.” Schiller, “Was heißt,” 125.
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order of events descends from the origin of things to their most recent state, while the universal historian moves in the opposite way from the most recent state of the world up to the origin of things.”25 What was a perfectly fine, engaged, and engaging response in its own time sounds inappropriate today, both in its language, and in its method.26 Schiller’s was a teleological approach to history that aspired to transcend time and space, and yet was firmly bound to both. Schiller openly declared that the history of other peoples was only worth narrating insofar as it represented earlier stages of the development of a humanity that led up to his own time, place, circumstances, and sensitivities as the pinnacle of progress. The whole purpose of narrating the history of others was its potential to explain the self in its aspiration for perfection.27 “The discoveries which our European seafarers have made in distant oceans and on remote shores afford us a spectacle which is as instructive as it is entertaining. They show us societies arrayed around us at various levels of development, as an adult might be surrounded by children of different ages, reminded by their example of what he himself once was and whence he started. A wise hand seems to have preserved these savage tribes until such time as we have progressed sufficiently in our own civilization to make useful application of this discovery, and from this mirror to recover the lost beginning of our race. But how embarrassing and dismal is the picture of our own childhood presented in these peoples! And it is not even at the earliest level that we perceive them.”28
25 Schiller, “The Nature and Value,” 331. The original reads: “Aus der ganzen Summe d[ies]er [historischen – JP] Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben. Das Verhältniß eines historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung ist es also, worauf gesehen werden muß, um Materialien für die Weltgeschichte zu sammeln. Die Weltgeschichte geht also von einem Princip aus, das dem Anfang der Welt gerade entgegenstehet. Die wirkliche Folge der Begebenheiten steigt von dem Ursprung der Dinge zu ihrer neuesten Ordnung herab, der Universalhistoriker rückt von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen.” Schiller, “Was heißt,” 127-128. 26 See below; Schiller refers to non-European peoples as “savages” (die Wilden). “Was erzählen uns die Reisebeschreiber nun von diesen Wilden?” Schiller, “Was heißt,” 114. 27 Frederick Beiser has concluded that the ultimate rationale for Schiller was that “Reason demands that we should perfect our humanity.” Beiser, Schiller as Philosopher: A Re-Examination (Oxford: Oxford University Press, 2005), 144. 28 Schiller, “The Nature and Value,” 325. The original reads: “Die Entdeckungen, welche unsere europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen
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“What do travel writers tell us now about these savages? Many have been found to be unacquainted with the most elementary skills: without iron, without the plow, some even without fire. Many still compete with wild animals for food and shelter, and, with many, language has scarcely progressed from animal sounds to intelligible signs. Here there is not even the simplest marriage tie; there no knowledge of property; here the indolent mind cannot learn even from experience that is repeated daily; savages have been seen to abandon carelessly their sleeping-places, because it did not occur to them that tomorrow they would sleep again.”29 [...] “Thus we were too. Caesar and Tacitus found us not much better eighteen hundred years ago. What are we now? Let me pause a moment at the age in which we live, the contemporary state of the world we inhabit. Human industry has cultivated the land, and has overcome its resistance by perseverance and skill. There land has been reclaimed from the sea, here water brought to the desert. Man has mingled climatic zones and seasons, and acclimated the tender plants of the East to his own more inclement weather. As he has borne Europe to the West Indies and the South Seas, so he has resurrected Asia in Europe. A more cheerful sky smiles now over the Teutonic forests, rent by man's hand and opened to the sunlight, and Küsten gemacht haben, geben uns ein eben so lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herum stehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen Völkerstämme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in unserer eignen Kultur weit genug würden fortgeschritten sein, um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu machen und den verlornen Anfang unsers Geschlechts aus diesem Spiegel wieder herzustellen. Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben! und doch ist es nicht einmal die erste Stufe mehr, auf der wir sie erblicken [...].” Schiller, “Was heißt,” 11-12. 29 Schiller, “The Nature and Value,” 325. The original reads: “Was erzählen uns die Reisebeschreiber nun von diesen Wilden? Manche fanden sie ohne Bekanntschaft mit den unentbehrlichsten Künsten, ohne das Eisen, ohne den Pflug, einige sogar ohne den Besitz des Feuers. Manche rangen noch mit wilden Thieren um Speise und Wohnung, bei vielen hatte sich die Sprache noch kaum von thierischen Tönen zu verständlichen Zeichen erhoben. Hier war nicht einmal das so einfache Band der Ehe, dort noch keine Kenntniß des Eigenthums; hier konnte die schlaffe Seele noch nicht einmal eine Erfahrung festhalten, die sie doch täglich wiederholte; sorglos sah man den Wilden das Lager hingeben, worauf er heute schlief, weil ihm nicht einfiel, daß er morgen wieder schlafen würde.” Schiller, “Was heißt,” 12.
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the vines of Asia are mirrored in the waters of the Rhine. On its banks rise populous cities whose gay life is filled with work and play.”30 Schiller did not just propose that universal history should describe the universe (“the entire world”) and selectively report about it. He also suggested that the universal historian ought to impose on it his very own synthesizing, universalist, and indeed moral matrix of what matters (“the entire moral world”) in a narrative that portrays progress as desirable, inevitable, and irreversible. What is worth narrating, or what slips through the net, is entirely the historian’s (Schiller’s) decision. It is historiography from the top down, not the bottom up, as he explained: “The real order of events descends from the origin of things to their most recent state, while the universal historian moves in the opposite way from the most recent state of the world up to the origin of things.”31 There are no dead ends in history for Schiller. Everything must make sense, must explain the here and now, and must be a stepping stone on the path to a present that is both more advanced and morally superior to each preceding step. In other words, Schiller’s notion of universal history does what Cornell, Fear, and Liddel observed in authors of antiquity: “… ancient authors not only made claims about universalism with respect to the temporal and/or spatial universality of their works, but devised schemes of historical explanation that struck them as universally applicable [emphasis
30 Schiller, “The Nature and Value,” 326. The original reads: “So waren wir. Nicht viel besser fanden uns Cäsar und Tacitus vor achtzehnhundert Jahren. Was sind wir jetzt? – Lassen Sie mich einen Augenblick bei dem Zeitalter stille stehen, worin wir leben, bei der gegenwärtigen Gestalt der Welt, die wir bewohnen. Der menschliche Fleiß hat sie angebaut und den widerstrebenden Boden durch sein Beharren und seine Geschicklichkeit überwunden. Dort hat er dem Meere Land abgewonnen, hier dem dürren Lande Ströme gegeben. Zonen und Jahreszeiten hat der Mensch durcheinander gemengt und die weichlichen Gewächse des Orients zu seinem rauhern Himmel abgehärtet. Wie er Europa nach Westindien und dem Südmeere trug, hat er Asien in Europa auferstehen lassen. Ein heiterer Himmel lacht jetzt über Germaniens Wäldern, welche die starke Menschenhand zerriß und dem Sonnenstrahl aufthat, und in den Wellen des Rheins spiegeln sich Asiens Reben. An seinen Ufern erheben sich volkreiche Städte, die Genuß und Arbeit in munterm Leben durchschwärmen.” Schiller, “Was heißt,” 13-14. 31 “Die wirkliche Folge der Begebenheiten steigt von dem Ursprung der Dinge zu ihrer neuesten Ordnung herab, der Universalhistoriker rückt von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen.” Schiller, “Was heißt,” 127-128.
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added].”32 This is exactly what Schiller did when infusing his definition of universal history with a narrative of progress and progression. The examples adduced by Schiller are extensive and have been substantially shortened here for the purpose of this article, though they have been given sufficient space to afford an impression of Schiller’s own voice and flow of argumentation. Each passage is a carefully crafted image that comes alive through the contrast between the past (represented by the contemporary ‘savage’ ‘other’) and the present (represented by Schiller and his own time and society). Much has been written about this inaugural lecture, in particular highlighting the role of reason in overcoming religion. Yet, for the purpose of this article, it provides invaluable insights into how one of the foremost philosopher-literati of the eighteenth-century German-speaking enlightenment circles defined ‘universal history.’ It would be misplaced to expect from Schiller or his contemporaries an awareness of twentieth- and twentyfirst-century theories of emplotment or sensitivities for political correctness, and there is barely a scholar today who would subscribe to his views whole-heartedly. However, Schiller’s definition of “Universalgeschichte” is a most striking one and has been chosen here as a reference point that stands out through the clarity of its exposition.33 Above all, his definition also exposes the continuing tension between scope and method, which this
32 Tim Cornell, Andrew Fear, and Peter Liddel, “Introduction,” in Historiae Mundi: Studies in Universal Historiography, ed. Peter Liddel and Andrew Fear (London: Duckworth, 2010), 2. Given that this volume addresses almost three millennia of historiography in fifteen articles, it is not surprising that the contributions reach a variety of diverging conclusions, some of which cannot be reconciled. As a result, the volume has an overall balanced approach, even though it remains largely within the confines of European historiography from antiquity to modern times. As Helen van Noorden has cautioned, when comparing a wide range of historiographical literature subsumed under the genre of universal historiography, it is wise to be “cautious about how far extant writings yield coherent philosophies” and to be vigilant about “the extent to which exceptions have turned out to dominate our view of antiquity.” Indeed, I would add here that we should be vigilant as to the extent that these exceptions dominate other periods, geographies, and genres, too. Helen Van Noorden, “Liddel (P.), Fear (A.) (edd.) Historiae Mundi: Studies in Universal Historiography. London: Duckworth, 2010,” review of Historiae Mundi: Studies in Universal Historiography, ed. Peter Liddel and Andrew Fear, The Classical Review 62.2 (2012): 390, 392. 33 On Schiller and his subsequent literary-dramaturgical take on some of the same questions, see also the recently published article by Johannes Türk, “who interprets the discrepancy between Schiller’s Don Karlos and Wallenstein as a more and more unsettling questioning of universal history’s transparence.” Bjørnstad,
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article seeks to explore by contrasting and comparing Rashīd al-Dīn’s method with Schiller’s. As for more recent definitions of ‘universal history’ – which have largely developed in and for a European context – Tim Cornell, Andrew Fear, and Peter Liddel, in their introduction to the 2010 volume on universal history edited by Liddel and Fear, have proposed the following:34 “Universal history, as its name implies, attempts to deliver a more encompassing study of the past than other more narrowly-focused histories. The distinctive claim of the universal historian, in Graeco-Roman antiquity and beyond, has been to compile an account of history which provides the broadest possible view of the past within the confines of a single work.”35 While this definition focuses primarily on scope, the contributions to the volume cover a broader spectrum of understandings of ‘universal history.’ As Helen van Noorden, who reviewed this volume, has summarized it, “‘Universal History’ is a type of history that attempts to explain the world beyond the immediate surroundings of the author. It reflects a desire to synthesise [emphasis added].”36 It is this final phrase, the desire to synthesize, that hints at the type of universality for which Schiller aimed. There is a perceived need for a ‘glue’ (be it the method, moral aspirations, or a uniting story line) to hold it all together, such as progress or faith and so on. To quote Momigliano, universal history depends on “schemes of historical explanation that struck [authors of universal histories] as universally applicable [such as] the succession of empires, the succession of races, the succession of technical discoveries, the succession of political institutions, or through the analogy of the course of human life.”37
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Jordheim, and Régent-Susini, “Introduction,” 10; Johannes Türk, “Universal History and the Lessons of the French Revolution in Friedrich Schiller,” in Universal History and the Making of the Global, 191-207. Cornell, Fear, and Liddel, “Introduction;” Van Noorden, review of Historiae Mundi, 390-392. Cornell, Fear, and Liddel, “Introduction,” 1. Van Noorden, review of Historiae Mundi, 390. Cornell, Fear, and Liddel, “Introduction,” 2. As Arnaldo Momigliano has affirmed: “The universal historian isolates and defines types of events and tries to make their appearance or disappearance meaningful. By giving more importance and therefore more attention to certain types of events than to others he will provide his own universal history with a characteristic line of development.” Momigliano, “Two Types of Universal History: The Cases of E. A. Freeman and Max Weber,” The Journal of Modern History 58.1 (1986): 235.
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The similarity between these images and those evoked by Schiller is striking and reflects a tension that has troubled authors of universal historiography and those reflecting on this craft for a long time. In the introduction to their recently published volume Universal History and the Making of the Global, the editors suggest that universal history is a “history that includes everything and everyone” in the widest possible “temporal and spatial frames,” including in recent times both ‘deep history’ and ‘big history.’38 They caution that rather than “conceiving of ‘universal history’ as a coherent genre, which follows certain conventions and has a continuous story from Antiquity till today, we [they] will think about ‘universal history’ as a set of gestures used to combine absolute universality with absolute particularity.”39 Referring to the contribution of Gérard Ferreyrolles on the history of universal history, they conclude that “all along, universal history [has been] torn between an urge for exhaustiveness and the search for a unique principle of coherence.”40 It is precisely the tension between these two poles – scope and method – that has led to ambiguity in the use of the term ‘universal history’ in Islamic Studies. Here it is usually applied to histories with the broadest possible (mostly geographical) scope, yet it is also implicitly or explicitly implied that any Muslim author or Muslim history must also have universal claims as Islam qua religion has universal claims and aspirations. Here it is useful to offer the same word of caution as Peter Van Nuffelen, who has refuted the automatic association of Christian history writing with universality, arguing that, while these two can go together, they do not always follow this pattern.41 With respect to Islamicate historiography, Bernd Radtke has asserted that “Islamic universal history generally begins with an elaborate cosmology, continues with the history of the pre-Islamic peoples and empires […] culminating in the Sīra [biography] of Muḥammad, after which it usually restricts itself to the history of Islam.”42 This tallies with Schiller’s approach
38 Bjørnstad, Jordheim, and Régent-Susini, “Introduction,” 1. 39 Bjørnstad, Jordheim, and Régent-Susini, “Introduction,” 2. 40 Bjørnstad, Jordheim, and Régent-Susini, “Introduction,” 9. Elsewhere they state that the very definition of writing a ‘universal history’ is being caught between “the strong and problematic ties between different gestures of universalizing history, and the notion of universality itself.” Bjørnstad, Jordheim, and Régent-Susini, “Introduction,” 10. 41 Peter Van Nuffelen, “Theology versus Genre”, 162. 42 Bernd Radtke, “Towards a Typology of Abbasid Universal Chronicles,” Occasional Papers of the School of ʿAbbasid Studies 3 (1990): 2.
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(which focuses almost exclusively on Europe) as well as that of some, though not all, Muslim historians who have been called ‘universal’ historians. Thus, whilst Rashīd al-Dīn’s (d. 718/1318) Compendium of Histories, the object of the present study, is often adduced as an example of universal historiography, his approach is decidedly different from Schiller’s. In fact, it is so different that it is worth elaborating on it and making the case for a more differentiated terminology to be used. Thus, what should stand at the beginning of this article has transformed more and more into one of its results, namely an attempt at defining what exactly it would mean if we were to call Rashīd al-Dīn’s history – or any history with a similarly broad scope and outlook – a ‘universal history.’ 2. On Terminology43 This article does not claim to provide a survey of all ‘universal histories’ ever written in Islam. Rather, it analyzes one very specific example, contrasting it with other examples for the purpose of clarity and in order to 43 Accepting to write this contribution to the ongoing debate on universalism in a volume that is mostly constituted of articles dedicated to notions of universalism that originate in and/or focus on Europe posed a triple conundrum. First, this article is supposed to say something about a concept for which an equivalent term does not exist, at least not prima facie, in the Islamicate context, with which this contribution engages. There was no ‘Schiller’ in Islam, yet Schiller’s successors have labelled a broad range of histories by pre-modern European and non-European (including Muslim) authors as ‘universal’ as they evoke – directly or indirectly – the definition proposed by Schiller and his contemporaries that continues to inform Western scholarship. Second, and related to this, we must ask whether and to what extent it is appropriate to apply a term and concept that arose in an exclusively European context to 1400 years of Islamicate history and civilization that evolved in a distinct geography with its very own social, political, intellectual, and religious dynamics. And third, we have to disambiguate the term ‘universal’ itself. We can briefly reply to the first and second points by stating that a) for simple heuristic purposes one needs to use a term with a roughly equivalent meaning and b) the advancement of knowledge often occurs precisely at the fringes of and in the less explored contact zones between disciplines. If nothing else, both this article and an earlier collective volume on the topic of universal historiography (the Historiae Mundi edited by Liddel and Fear) demonstrate that the benefit of contrasting and comparing lies in the refinement of the language and vocabulary employed. This brings us directly to the third point, the terminology utilized. Sharpening the conceptualization of ‘universal historiography’ in the Islamicate context and reflecting this back on other contexts and geographies is indeed one
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sharpen the appreciation for its specific place amidst the broad range of works of Islamicate historiography with a universal scope. It thereby also elucidates the semantic range of the term ‘universal history.’ In the context of Islamic and Middle Eastern Studies the terms ‘universal history’ and ‘world history’ are often used interchangeably,44 mostly to distinguish local and dynastic histories from histories with a wider scope, a scope presumably encompassing “the entire world,” as Schiller would have said.45 The terms used in Arabic titles of such works usually evoke the notions of comprehensiveness and completeness. Often these are based on of the contributions of this paper. Lastly, by writing this article in a volume that is otherwise exclusively composed of articles focusing on European authors, texts, and notions, I am buying into the belief that it is possible to communicate across disciplines. This comes at the cost that much foregrounding is needed, in both directions. Hence this article may at times appear as though it states the obvious, for which I hope readers will forgive me. 44 See, e.g., Cornell H. Fleischer, Bureaucrat and Intellectual in the Ottoman Empire: The Historian Mustafa Âli (1541-1600) (Princeton: Princeton University Press, 1986), 240. 45 For a survey of works of world history in Arabic, together with an albeit by now outdated selection of surviving manuscript copies, see Carl Brockelmann, Geschichte der arabischen Litteratur, 5 vols. (including supplements) (Leiden: Brill, 1898-1942; Leiden: Brill, 2012). See esp. the “Reichs- und Weltgeschichte” for each region. For works in Persian, see C.A. Storey, Persian Literature: A Bio-Bibliographical Survey, 2 vols. in 5 (London: Luzac & Co., 1935), 1 (Section II.i.a. “General History”): 61-158. For Ottoman Turkish, see Franz Babinger, Die Geschichtsschreiber der Osmanen und ihre Werke (Wiesbaden: Harrassowitz, 1927); with modern Turkish adaptations and updates by M. Orhan Bayrak, “Osmanlı Tarihi” Yazarları (Istanbul: Milenyum Yayınları, 2002); and Necdet Öztürk, İmparatorluk Tarihinin Kalemli Muhafızları: Osmanlı Tarihçileri Ahmedî’den Ahmed Refik’e (Istanbul: Bilge Kultur Sanat Yayin Dagitim San. Ve Tic. Ltd., 2013). For works in Chaghatay Turkish, albeit interspersed, as the work is not organized by genre, but rather by authors, see H. F. Hofman, Turkish Literature: A Bio-Bibliographical Survey (Utrecht: The Library (?) of the University of Utrecht, 1969). For an attempt at a general survey, regardless of the language in which the works were written, see A. Zeki Velidi Togan, Tarihte Usûl, 4th ed. (Istanbul: Enderun Kitabevi, 1985), 184-187 and (including local histories) 187-229. For selective surveys on Islamicate historiography, see, e.g., Bernard Lewis and P. M. Holt, eds., Historians of the Middle East (London: Oxford University Press, 1962); Tarif Khalidi, Islamic Historiography: The Histories of Masʿūdī (Albany: State University of New York Press, 1975); Fleischer, “Ottoman Historical Writing in the Sixteenth Century,” in The Historian Mustafa Âli, 235-252; Ramazan Şeşen, Müslümanlarda tarih-coğrafya yazıcılığı (Istanbul: İSAR Vakfı Yayınları, 1998); Julie Scott Meisami, Persian Historiography: To the End of the Twelfth Century (Edinburgh: Edinburgh University Press, 1999); Stephan Conermann, Historiographie als Sinnstiftung: Indo-persische Geschichtsschreibung während der Mogulzeit (932-1118/1516-1707) (Wiesbaden: Reichert, 2002);
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the roots J-M-ʿAYN (‘to gather; to collect; to unite, combine, bring together’), especially when a work incorporates several other histories, as is the case in the title of the work to be investigated here, the Jāmiʿ al-tawārīkh or “Compendium of Histories.” Other common alternatives are terms stemming from the roots K-M-L (‘to be or become whole, entire, integral, perfect, complete; to be finished, done, completed, accomplished; to be concluded, come to a close’), as in the Kāmil fī al-tārīkh (“The Complete History”) by Ibn al-Athīr (d. 630/1233).46 SH-M-L (‘to contain, comprise, comprehend; to prevail, be general, universal’) is also used by some Muslim historians in their description of general histories. However, ‘comprehensiveness’ is not a simple and direct equivalent of ‘universalism’ (even and especially if we accept that the latter term has developed in a specifically European context and thus carries particular associations related to those origins). As the present article also demonstrates, it is important to differentiate between universality in terms of scope and universalism as a philosophy and method. Thus, identifying rough equivalents or translations does not absolve us from the need to disambiguate the terminology used. When Rashīd al-Dīn calls his history Jāmiʿ al-tawārīkh (‘all of’ [Jāmiʿ] ‘the histories’ [al-tawārīkh], or literally ‘the gatherer’ [Jāmiʿ] ‘of histories’ [al-tawārīkh]), his objective is to create a history of universal scope, achieved through the narration of parallel pasts of different peoples, as we shall see in greater detail below. Whether this outlook, method or philosophy is also ‘universal’ (in the sense defined by Schiller) is an entirely different, separate question and shall be answered largely in the negative in this article. Thus, it is necessary to be specific, and to review the method used in each individual case, in addition to the scope projected. The
and Chase F. Robinson, Islamic Historiography (Cambridge: Cambridge University Press, 2003). 46 See Michael G. Morony, “Universality in Islamic Historiography,” in Universality in Islamic Thought: Rationalism, Science and Religious Belief, ed. Morony (London: I. B. Tauris, 2014), 146. The above translations of the roots j-m-ʿayn and k-m-l were taken from Hans Wehr, Dictionary of Modern Written Arabic, 3rd ed., ed. J.M. Cowan (NY: Spoken Language Services, 1971). The notion of the ‘completeness’ of history that is inherent in the root k-m-l would deserve a separate discussion that is beyond the scope of the present article, as it raises the question of the ‘end’ of history. Rough equivalents for the terms ‘universal’ and ‘universalism’ in Arabic do of course exist (such as ʿumūmiyya), but as this article shows, and this holds true for English terminology as well, one has to analyze each case by its own merit. The term can refer to both scope and philosophy, and thus in and of itself conveys very little about the approach and method used.
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(assumed and) ubiquitous equation of pre-modern universalism with religious or philosophical universalism is not a given. Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh or Compendium of Histories is famously known as the first world (or ‘universal’) history ever written.47 Completed under the Ilkhan Öljeytü, the Compendium of Histories contained the fullest account of the history of the Mongol Empire and of human history hitherto known. It includes the history of the Chinese, Mongols, Indians, Oghuz Turks, Seljuqs, Jews, and Franks (Europeans), as well as Islamic history from the pre-Islamic prophets down to the last Abbasid caliphs. The Compendium of Histories is a truly remarkable achievement. Not only does it present the most comprehensive history of the known world at the beginning of the fourteenth century, but it also successfully transcends the established stereotypes and topoi of its time by incorporating the indigenous historiographical traditions of hugely diverse regions and peoples in a single narrative framework. This has earned its author Rashīd al-Dīn the title “first world historian,” and his work has been branded a “universal” history.48 It should be noted that this epithet is not unrelated to the political situation and patrons whom he served: the Mongols of the Ilkhanate in the Nile-to-Oxus region (the ‘Middle East’), who, in turn, were part of the Mongol dispensation in Eurasia in the thirteenth century. 47 John Andrew Boyle, “Rashid al Din: The first world historian,” Journal of the Regional Cultural Institute (Iran, Pakistan, Turkey) 2 (1960): 81-90; Boyle, “Rashid al-Din: The first world historian,” Journal of the Pakistan Historical Society 17 (1969): 215-227; Boyle, “Rashīd al-Dīn: The first world historian,” Iran 9 (1971): 19-26; Karl Jahn, “Rashīd al-Dīn as a World Historian,” in Yádnáme-ye Jan Rypka: Collection of Articles on Persian and Tajik Literature, ed. Jiri Becka (Prague: Academia, 1967), 79-87; Togan and M. S. Khan, “The Concept of Critical Historiography in the Islamic World of the Middle Ages,” Islamic Studies 14,3 (1975): 175-184. 48 This designation is ubiquitous in the scholarship. In addition to the already cited article by Morony, one quotation from a standard reference work, the Encyclopaedia Iranica, may suffice: “Although most scholarly attention has focused on volume one of Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh, which is a fundamental source for the history of the rise and establishment of the Mongol Empire, from a historiographical point of view, the second volume is far more significant as the first attempt to write a universal history: an achievement not aspired to again in subsequent centuries.” Charles Melville, “JĀMEʿ AL-TAWĀRIḴ,” Encyclopaedia Iranica XIV.5 (2008): 462-468. Indeed, Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh is quoted as an example of ‘universal history’ in the Wikipedia entry on “Universal history,” accessed August 03, 2018, https://en.wikipedia.org/wiki/Universal_history. I myself have frequently called this work ‘universal’ in the past, meaning to refer to its wide scope, though the present article has afforded a much needed opportunity to review and revise the vocabulary used.
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Readers familiar with thirteenth- and fourteenth-century European history and historiography and the notion of translatio imperii might expect that a similar dynamic existed in the contemporary Islamic world. They may assume that the historiography of the period displayed a teleological dénouement centering on the history of Islam and Islamic dynasties, possibly in combination with universalist aspirations for a further expansion across the world. Yet, while examples of this kind of historiography certainly exist, they are not representative. After all, not all historiography in Islam was universal in scope; many histories are dynastic or local in focus, or they concentrate on the biographies of groups of literary, scholarly, and/or political and military elites arranged by generation, often going into the thousands of individuals.49 These biographical dictionaries are large Who’s Whos composed in the dozens, especially during the thirteenth to sixteenth centuries. They offer exceptional opportunities for prosopographical studies and do not have an equivalent in European historical writing. Not being universal in scope, such works rarely look beyond the confines of the geography ruled by Muslim dynasties. Of those histories that do include pre-Islamic and/or non-Muslim dynasties in their scope, and are therefore often labelled ‘universal,’ however, some are indeed both broad in the geographical scope that they cover and universalist in their outlook, in the sense that they prioritize Islam (comparable to the way in which Schiller prioritized Europe). Yet, even and especially here, we must be careful when qualifying a history as ‘universal.’ In particular, the famous historian of the Mongol period Rashīd al-Dīn (d. 718/1318), whose exceedingly broad historiographical oeuvre is the object of the present study, does not fulfil the expectations based on European history. His Compendium of Histories has often been called a ‘universal history’ due to its extensive scope that includes everything from the history of the Chinese, Mongols, Franks (Europeans), Jews, Oghuz Turks, and Seljuqs to the history of India. It traces Islamic history from the pre-Islamic prophets down to the last Abbasid caliphs, extending beyond that to the Ilkhans, the Mongol dynasty in the Middle East. It even includes lists of the Jewish patriarchs and Christian popes. But this history is only universal in geographical scope and historical depth and not in terms of the philosophy underpinning it. If anything, it is pluralist in spirit and thus a far cry from the universalism proposed by Schiller.
49 R. Stephen Humphreys, “A Cultural Elite: The Role and Status of the ʿUlamāʾ in Islamic Society,” in Islamic History: A Framework for Inquiry, rev. ed. (Princeton: Princeton University Press, 1991), 187-208.
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3. The Historical Context: Defining Difference in the Era of ‘Mongol Tolerance’ When the Mongols arrived in the Middle East in the thirteenth century, some six and a half centuries after the beginnings of Islam, they did so with an unprecedented speed, drive, and self-understanding. Their own understanding of this enterprise was quite a universal one, one might add, as it was based on the ideology of divinely mandated world dominion, which was apparently confirmed by continuous expansion and military success. After all, the Mongol dispensation was the largest contiguous land empire known in history. From the Mongol perspective, the Nile-to-Oxus region (the ‘Middle East’) was merely an area at the south-western fringes of their empire. This was an empire that stretched from the equivalent of modern-day China to Poland and offered favourable conditions for a lifestyle based on a combination of seasonal transhumance and intermittent raids, including in the Nile to Oxus region. It also provided an overflow area for the ever expanding corporate dynasty of the Chinggisid dispensation, driven and organized by lateral succession based on the principles of tanistry and primogeniture.50 For the predominantly Muslim population of the region, the Mongols’ swift conquests of the heartlands of Islam came as a shock. The Mongol conquest of Baghdad and execution of the Abbasid caliph in 1258 was an event with major eschatological reverberations. Similarly, the abolishment of the religio-political institution of the caliphate at the hands of the nonMuslim Mongols, who adhered to universal notions of their own – the
50 On the concept of tanistry, see Joseph F. Fletcher, “The Mongols: Ecological and Social Perspectives,” HJAS 46 (1986): 17; and Fletcher, “Turco-Mongolian Monarchic Tradition in the Ottoman Empire,” in “Eucharisterion: Essays presented to Omeljan Pritsak on his Sixtieth Birthday by his Colleagues and Students,” ed. Ihor Ševčenko and Frank E. Sysyn, special issue, Harvard Ukrainian Studies 3-4 (1979-1980): Part 1, esp. 239-242. Fletcher claims that “among the Turks and Mongols tanistry worked so well that no regular, ascriptive, and automatic succession principle, such as primogeniture or levirate (in the wider sense of the term), ever replaced it on anything more than a temporary basis,” Fletcher, “Turco-Mongolian Monarchic Tradition,” 239. Fletcher has identified tanistry as the principle “that the tribe should be led by the best qualified member of the chiefly house,” Fletcher, “The Mongols,” 17.
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worship of Tengri,51 (especially Nestorian) Christianity, and Buddhism52 – fundamentally and irreversibly transformed the social, political, and intellectual landscape of the Nile-to-Oxus region, if not much of Eurasia. Various forms of accommodation took place in the Nile-to-Oxus region. These included: resistance on the ground; proactive accommodation of Mongol contingents even before their conquest of Baghdad; voluntary submission to the Mongols during the conquest phase; finding a post-conquest modus vivendi under Buddhist Mongol rule between 1258 and 1295; and a postconquest literary accommodation that began in earnest after the Mongols’ conversion to Islam around 1295. The proliferation of Muslim literature seeking to explain the Mongol phenomenon resulted in the integration of the Mongols into the larger Muslim historiography and cosmology. One explanation of the phenomenon was as a memory of grief, as transpired mostly in areas in North Africa and the Levant that were never or only briefly conquered by the Mongols. In other areas, predominantly those under Mongol rule after the Mongols’ conversion to Islam, the Mongols were accommodated within a narrative framework of conquest and conversion, which facilitated their integration into Muslim historiography as yet another Muslim dynasty.53 These two reactions to the phenomenon – its literarization as either a memory of grief or a narrative of conversion and accommodation – represent two sides of a coin that Marshall G. S. Hodgson
51 For examples of the worship of Tengri, see Devin DeWeese, Islamization and Native Religion in the Golden Horde: Baba Tükles and Conversion to Islam in Historical and Epic Tradition (University Park, PA: The Pennsylvania State University Press, 1994), 294; see also Boyle, “Turkish and Mongol Shamanism in the Middle Ages,” Folklore 83 (1972): 177‑193 [Reprinted in: Boyle, The Mongol World Empire 1206‑1370 (London: Variorum Reprints, 1977)]; and Boyle, “A Form of Horse Sacrifice amongst the 13th- and 14th-Century Mongols,” CAJ 10.3/4 (1965): 145-150. 52 Samuel M. Grupper, “The Buddhist Sanctuary-Vihāra of Labnasagut and the IlQan Hülegü: An Overview of Il-Qanid Buddhism and Related Matters,” Archivum Eurasiae Medii Aevi 13 (2004): 5-77. Grupper argues that it was the Chinggizids among the Mongols (as opposed to the Mongol commoners) who had converted to Buddhism before they adopted Islam. 53 For these different modes of accommodation, see Judith Pfeiffer, “Confessional Ambiguity vs. Confessional Polarization: Politics and the Negotiation of Religious Boundaries in the Ilkhanate,” in Politics, Patronage and the Transmission of Knowledge in 13th-15th Century Tabriz, ed. Pfeiffer (Leiden: Brill, 2014), 129-168. On the historiographical accommodation, see Pfeiffer, “The Canonization of Cultural Memory: Ghāzān Khān, Rashīd al-Dīn, and the Construction of the Mongol Past,” in Rashīd al-Dīn: Agent and Mediator of Cultural Exchanges in Ilkhanid Iran, ed. Anna Akasoy, Charles Burnett, and Ronit Yoeli-Tlalim (London: The Warburg Institute, 2013), 57-70.
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once dubbed the “Age of Mongol Prestige.”54 The dominant mode of remembrance was that which developed to the south of the Euphrates in the Mamluk Sultanate in Egypt and Syria, which was the political enemy of the Mongol Ilkhanate in Iran to the north of it. It is from here that the memory of grief entered European scholarship, which in its beginnings was largely based on Arabic-language sources that appeared to confirm for a different geography – the Nile-to-Oxus region – that which European historians had already established concerning the Mongol Yoke in Russia. In short, the Mongol arrival ushered in the ‘dark ages’ – a permanent decline and fall – of Islamic civilization, or so the general narrative was for a long time until recent revisionist literature began to draw a more differentiated picture.55 In the Middle East, in those largely Perso- and Turcophone areas that came under Mongol rule, the historians initially did not know how to react. For the first three generations of Mongol rule, there is a historiographical gap, as though historians were silenced in the face of the unimaginable reality of non-Muslim rule in the heartlands of Islam. These three generations of historiographical silence were followed by the all-time peak of Persian historiography, initiated by Rashīd al-Dīn and his world history almost immediately after the conversion of the Mongols to Islam in 1295. It appears as though it was the Mongols’ conversion to Islam that unleashed the writing of Islamicate historiography in a previously unseen quantity and quality.56 Muslim authors now sought to understand where the Mongols came from originally. Several sources point to the fact that the Mongols had initially been believed to be the descendants of Abraham’s first concubine and then wife Ketorah, who, according to the Hebrew Bible and also Muslim lore, bore six sons to Abraham. This stands in stark contrast to both Hagar and Sarah, who each only bore one son to Abraham: Ismael and Isaac, who played important roles in the Abrahamitic religions, inheriting
54 Marshall G. S. Hodgson, “Crisis and renewal: The Age of Mongol Prestige,” in The Venture of Islam: Conscience and History in a World Civilization, 3 vols. (Chicago: The University of Chicago Press, 1974), 2:369-574. 55 Thomas T. Allsen, Culture and Conquest in Mongol Eurasia (Cambridge: Cambridge University Press, 2001); Allsen, Technical Transfers in the Mongolian Empire (Bloomington: Department of Central Eurasian Studies, Indiana University, 2002). 56 Pfeiffer, “The Canonization of Cultural Memory.”
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prophecy and kingship, respectively.57 Abraham had Ketorah’s sons sent away to the East, from whence they now supposedly returned in the form of the Mongols. The Shiʿi population of Baghdad even welcomed the Mongols as the “Sons of Ketorah” (Banū Qanṭūra), as the liberators, whose advent the Shiʿi imāms had predicted a long time ago. The Sons of Ketorah, they claimed, were supposed to come and free them from the injustice of the idle, arrogant, and inequitable Sunni caliphate in Baghdad.58 Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh has to be seen in this context. Rather than explaining the Mongols in terms of an Abrahamic descent, integrating them into an existing genealogical paradigm of the known world (essentially that shared by the Bible and the Qurʾān), he studied them in their own terms.59 He afforded a voice to oral witnesses from the Mongols and various other peoples, mapping these both vertically, through genealogy and historiography, and horizontally, through geography. He thereby expanded the Islamic cosmology in unprecedented ways.60 57 Genesis 25:5-6; 1 Chronicles 1:32. The names of these six sons were Zimran, Jokshan, Medan, Midian, Ishbak, and Shuah. Unlike Ismael and Isaac they did not play a foundational role in any of the three Abrahamic religions. They could therefore conveniently be identified as the sons of Ketorah, being both members of the Abrahamic family and yet outsiders to the core religions of the Nile-toOxus region. 58 Pfeiffer, “‘Faces Like Shields Covered with Leather:’ Keturah’s Sons in the PostMongol Islamicate Eschatological Traditions,” in Horizons of the World: Festschrift for İsenbike Togan, ed. İlker Evrim Binbaş and Nurten Kılıç-Schubel (Istanbul: İthaki, 2011), 557-594. The Mongols incidentally spared the Shiʿa of Baghdad and the neighbouring town Hilla and also established a favorable rapport with the Shiʿi ʿulamāʾ of Ḥilla. One of the Shiʿi ʿulamāʾ dedicated several of his works to one of the later Mongol rulers, Öljeytü, who converted to Twelver Shiʿi Islam. Pfeiffer, “Conversion Versions: Sultan Öljeytü’s Conversion to Shiʿism (709/1309) in Muslim Narrative Sources,” Mongolian Studies 22 (1999): 35-67; also Pfeiffer, “Confessional Ambiguity.” 59 In Rashīd al-Dīn’s narrative, not Ketorah but the mythical figure Alan Qoʾā is the Mongols’ ancestress. Pfeiffer, “Faces Like Shields,” with further secondary literature on Alan Qoʾā. 60 In relation to the effect that certain periods had on the writing of history, parallels can be seen between the Middle East after the Mongol conquests and early modern Europe in the wake of its discoveries of the world beyond European territory. Bjørnstad, Jordheim, and Régent-Susini have pointed out that, for early modern Europe, “the discovery of an entirely new continent in America as well as increased contact with people in Asia put pressure on the traditional Bible-based understanding of reality.” Thus “Early Modern universal history can be seen as a response to the epistemological crisis provoked by new knowledge and experience, an attempt to assemble the world in order to conserve its unity.” (Bjørnstad, Jordheim, and Régent-Susini, “Introduction,” 1.) A similar comment can indeed
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Born in the mid-thirteenth century in Iran, Rashīd al-Dīn rose to power as member of a physician family at the Ilkhanid (Mongol) court.61 In 1298 he was appointed deputy vizier and commissioned as court historian by the Ilkhan Ghazan Khan (r. 1295-1304). After this date, he continued to occupy important positions at the highest echelons of the Ilkhanid administration and throughout his tenure amassed an immense wealth. He later used this wealth to found one of the largest endowments of the later Middle Ages, as evidenced by the extant 191 folio-long partial autograph copy of his endowment deed62 and the fine execution of the extraordinary miniatures adorning his Compendium of Histories.63 Rashīd al-Dīn was executed in 1318 by the Ilkhan Abū Saʿīd (r. 1316-1335) under suspicion of having poisoned the latter’s father and predecessor Öljeytü (r. 1304-1316).64 We ought to recall that, from Rashīd al-Dīn’s vantage point in early fourteenth-century Tabriz in Iran, it was not at all obvious in which direction history would evolve. The Mongols’ conversion to Islam was a very recent development, and the Turco-Mongol elites continued to oscillate between the Mongol legal code, the yasa, and the Muslim sharia for several decades. From the perspective of the Mongol military elites, a return to the old (Mongol) ways seemed to remain an appealing option well into the
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be made as regards the Mongol Moment in the Middle East, as this resulted in unprecedented ways of writing history, of which Rashīd al-Dīn is the prime example. Il-khān means ‘subordinate khān,’ a Chinggisid ruler subordinate to the Great Khān in Mongolia and China. Iraj Afshār, “The autograph copy of Rashīd-al-Dīn’s Vaqfnāmeh,” Central Asiatic Journal 14 (1970): 5-13; Birgitt Hoffmann, Waqf im mongolischen Iran: Rašīduddīns Sorge um Nachruhm und Seelenheil (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2000). David Talbot Rice, The Illustrations to the ‘World History’ of Rashīd al-Dīn, ed. Basil Gray (Edinburgh: Edinburgh University Press, 1976); Sheila S. Blair, A Compendium of Chronicles: Rashid al-Din’s Illustrated History of the World (Oxford: The Nour Foundation in association with Azimuth Editions and Oxford University Press, 1995); Blair, “Patterns of patronage and production in Ilkhanid Iran: the case of Rashid al-Din,” in The court of the Il-Khans 1290-1340, ed. J. Raby and T. Fitzherbert (Oxford: Oxford University Press, 1996), 39-59; Blair, “Writing and Illustrating History: Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tavārīkh,” in Theoretical Approaches to the Transmission and Edition of Oriental Manuscripts: Proceedings of a symposium held in Istanbul, March 28-30, 2001, ed. Pfeiffer and Manfred Kropp (Würzburg: Ergon Verlag, 2007), 57-65. For a survey and contextualization of Rashīd al-Dīn’s works, see Pfeiffer, “Rashīd al-Dīn’s Bayān al-ḥaqāʾiq and its Sitz im Leben: A preliminary appreciation,” in Rashīd al-Dīn, Bayān al-ḥaqā’iq, ed. Pfeiffer (Istanbul: Türkiye Yazma Eserler Kurumu Başkanlığı, 2016), 59-100.
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fourteenth century.65 The Popes, for example, were far away in theory. Yet, in practice, the very patron who commissioned, read, and corrected Rashīd al-Dīn’s history before it was approved for distribution, the Mongol Ilkhan Öljeytü (r. 703-716/1304-1316), had also once been baptized “Nicholas” in the name of Pope Nicholas IV, with the famous Isol of Pisa as his godfather.66 Said Pope was in office from 1288 to his death in 1292 and stood in close diplomatic contact with the Mongols. The world was more connected than modern historiography at times suggests. At the same time, Öljeytü was brought up in a Buddhist environment before converting first to (probably Ḥanafī) Sunni Islam and then, induced by deliberately staged court debates in which representatives of various confessional groups participated, adopted Twelver Shiʿism, making that his state politics.67 It is not too much of a surprise that in this syncretistic world Rashīd al-Dīn, who himself was a convert from Judaism to Islam, would have developed a theory of pluralist rather than universalist history. He gave not only the Mongols but indeed each nation with whom they had been in contact its own voice. Let us now turn to the analysis of Rashīd al-Dīn’s method as he describes it in the preface to his Compendium of Histories (Jāmiʿ al-tawārīkh). 4. Rashīd al-Dīn’s Method In his preface to the Compendium of Histories, Rashīd al-Dīn elaborates on his method in great detail. Therefore, it is worth paying attention to how Rashīd al-Dīn describes this method.68 He states that he had originally begun composing the Mongol part of this history upon the order of the
65 Pfeiffer, “Conversion Versions;” Pfeiffer, “Yasa and sharīʿa in the Mongol Ilkhanate” (paper presented at the International conference, “New Approaches to the Il-Khans,” National University of Mongolia/International Association for Mongol Studies, Ulanbaatar, May 21-23, 2014); Pfeiffer, “Yasa and sharīʿa in the Ilkhanate: Amīr Baytmish’s Decree from the year 687/1288” (seminar presentation, Atelier CEMS-GSRL (Centre des Études Mongoles et Sibériennes and Groupe Sociétés, Religions, Laïcités), Paris, February 11, 2015). 66 Jean Richard, “The Mongols and the Franks,” Journal of Asian History 3.1 (1969): 55. 67 Pfeiffer, “Conversion Versions.” 68 In this article, my aim is to understand Rashīd al-Dīn’s method and to situate it in the general literature on universalism. Needless to say, Rashīd al-Dīn had access to multiple narratives for each chapter of his history and, in choosing specific narratives, he exercised his authorial authority. However, his source-criticism approach
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Mongol ruler and convert from Buddhism to Islam Ghazan (r. 694-703/1295-1304). Yet he thereafter explains that Ghazan’s brother and designated heir to the Mongol throne Öljeytü (r. 703-716/1304-1316) had ordered that the history include all the peoples of the then known world. Thus, in addition to the Mongols, he wrote about the Chinese, Franks (Europeans, including a list of the Popes), Jews (including the Jewish Patriarchs), Indians, Oghuz Turks, Seljuqs, Khwārazmshahs, and Muslims (including the pre-Islamic prophets). According to Rashīd al-Dīn, and here we can perhaps see a certain parallel to the Roman notion of universal rule over the orbis terrarum,69 Öljeytü believed that “in these days […] all corners of the inhabited earth are under our control and that of Genghis Khan’s illustrious family.”70 Indeed he celebrated how “philosophers,
is beyond the focus of the present chapter; it will be discussed in greater detail in my forthcoming monograph on Rashīd al-Dīn and his oeuvre. 69 In Islamicate literature, geographical notions of universality are usually expressed in terms of the “seven climes,” of which the central and most important one is often Iran. This is echoed in such expressions as “the seven climes” (haft iqlīm), encompassing the entire world, or “limits of the world” (ḥudūd al-ʿālam), standing for “the entire world,” all of which suggest that the world in its entirety is known and indeed knowable. A. Shapur Shahbazi, “HAFT KEŠVAR,” Encyclopædia Iranica XI.5 (2003): 519-522, http://www.iranicaonline.org/articles/haft-kesvar. Shahbazi specifies: “HAFT KEŠVAR (seven regions), the usual geographical division of the world in Iranian tradition.” 70 “dar īn ayyām […] aṭrāf wa aknāf-i rubʿ-i maskūn […] dar taḥt-i farmān-i ūrūgh-i Chīngīz Khān-ast,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, eds. Rawshan/Mūsawī, 4 vols. (Tehran: Nashr-i Alburz, 1373/1994), 1:8, lines 22-23; Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh: Compendium of Chronicles, A History of the Mongols, trans. Wheeler M. Thackston, 3 vols. (Cambridge, MA: Harvard University Department of Near Eastern Languages and Civilizations, 1999), 1:6. This is, of course, the Mongol perspective, which is universal. They claimed or believed that ‘all’ of the world, its ‘entirety,’ was under their control. Thus, in the above phrase translator Wheeler M. Thackston has added “all” in “all the corners” to the English translation, despite the “all” having no equivalent in the Persian text. He could have rendered the sentence as “the corners of the [inhabited] earth,” yet as it is implied that these are all the corners, I have kept the “all” in the translation, as it is more precise and elegant. In this and the following passages, I have largely adopted Thackston’s translation, though I have emended/commented on the text where necessary based on the most recent edition by Rawshan and Mūsawī, which was not accessible to Thackston when he prepared his translation. For example, in the above sentence the Persian says “inhabited earth” (rubʿ-i maskūn), whereas Thackston has only translated “earth;” I have thus restituted the adjective “inhabited” (maskūn). This shows how difficult it can be to capture notions of universality, as at times they are not attached to a specific terminology, but rather emerge from the argument as a whole.
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astronomers, scholars, and historians of all religions and nations---from among the inhabitants of Cathay, Machin, India, Kashmir, Tibet, Uyghur, and other nations of Turks, Arabs, and Franks [were] gathered in droves at our glorious court.”71 And since Öljeytü knew that “each and every one of them possesses copies of the histories, stories, and beliefs of their people, and they are well informed of some of them,”72 he asked that “out of these distinct histories and stories73 a compendium that would be perfect (mujmalī mukammal) should be made in our royal name.”74 This compendium should contain the histories of “all inhabitants of the climes of the world and of the various classes (literally generations [ṭabaqāt]) and categories of humans,”75 “so that the aggregate of that (majmūʿ-i ān) would be a peerless book and include the totality of all types of histories (jāmiʿ-i jamīʿ-i anwāʿ-i tawārīkh).”76 Given that no such history had been composed before, Öljeytü’s explicit hope and aim was that, as a result, his “name and fame” would endure forever.77 The vision of the Mongol ruler who commissioned this history to be written, Rashīd al-Dīn’s patron Öljeytü, was certainly universal in terms of scope. His view was spatial/political and chronological rather than being 71 “wa ḥukamāʾ wa munajjimān wa arbāb-i dānish wa aṣḥāb-i tawārīkh-i ahl-i adyān wa milal az ahālī-yi Khitāy wa Mā-Chīn wa Hind wa Kashmīr wa Tibet wa Uyghūr wa dīgar aqwām-i atrāk wa aʿrāb wa afranj, dar bandagī-yi ḥaḍrat-i āsmān-shukūh gurūh gurūh mujtamiʿ-and,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:8-9; trans. Thackston, 1:6. Similarly to the preceding example, the “all” in the phrase “all religions and nations” has no physical equivalent in the Persian text, but was added by Thackston. The Persian simply says “philosophers, astronomers, scholars, and historians of the religions and nations from among the inhabitants of Cathay […] [emphasis added].” 72 Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:9; trans. Thackston, 1:6. 73 “az mufaṣṣal-i ān tawārīkh wa ḥikāyāt,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:9. 74 Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:9, lines 4-5. 75 “ʿumūm-i ahl-i aqālīm-i ʿālam wa ṭabaqāt-i aṣnāf-i banī ādam,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:8, line 19; trans. Thackston, 1:7. 76 Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:9, lines 7-8. 77 “tā mūjib-i nām-u-nāmūs gardad.” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/ Mūsawī, 1:9, line 10; trans. Thackston, 1:7. In the passage quoted above, terms that refer to concepts and words such as ‘generality,’ ‘all,’ ‘every,’ and ‘comprehensive’ do refer to notions of comprehensiveness and inclusion, but not in the sense used by Schiller. They do not refer to comprehensiveness in the sense of a synthesis and purpose applicable to all, but rather in the sense of giving equal voice and equal depth to the past of every nation across the full spatial breadth of the then known world. Obviously, the process of selection will implicitly give the story a direction, but this does not have to come with hierarchization.
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defined or informed by a historiographical philosophy or method. The notion of progress was not part of the orders given, and no preference was expressed for any particular nation or religion. Nor were the desired results (“name and fame”) to be derived from it. The image evoked is not linear progression and synthesis but comprehensiveness of scope (and rule) and parallel existence under the paramount sovereignty of the Mongols. On the nature of history Rashīd al-Dīn says: “It is absolutely true that no historian has ever witnessed with his own eyes [all] the events and things of which he writes and reports. […] Furthermore, those who deal with events and incidents, which are the stuff of history, have not heard of these things directly but write and speak of them through the tradition of transmitters [emphasis added]. [...]”78 “It is an undeniable fact79 that the histories of so many different peoples and such long periods of time cannot be verified absolutely, and that the traditions that have been and still are being handed down are neither equal nor in agreement. As a matter of course, every one recounts a thing as it has come to him through uninterrupted, widely attested transmission80 or as
78 Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:10; trans. Thackston, 1:7. While I have closely followed (and at times emended, in light of the Rawshan/ Musawī edition) Thackston’s translation, I am indebted to Constantin Fasolt, who has taken the time to review and improve the English of this paragraph and the next, resulting in a much more readable text. Any remaining errors are, of course, my own. 79 “pas yaqīn ḥāṣil mīshawad ki,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/ Mūsawī, 1:10, line 21. 80 “chunānki ba-tawātur ba-way rasīda bāshad.” On the term tawūtur, a key term in early Islamic ḥadīth transmission, and its use by Rashīd al-Dīn’s contemporary and adversary Ibn Taymiyya (ca. 661/1263-728/1328) in the area of legal theory, see Carl Sharif El-Tobgui, “From Legal Theory to Erkenntnistheorie: Ibn Taymiyya on Tawātur as the Ultimate Guarantor of Human Cognition,” Oriens 46 (2018): 6-61. Interestingly, even though Rashīd al-Dīn (who lived and wrote in the Mongol Ilkhanate, in modern day Iran and Iraq) and Ibn Taymiyya (who lived and wrote in the Mamluk Sultanate, in modern day Egypt and the Levant) wrote from across political enemy lines, and Ibn Taymiyya accused Rashīd al-Dīn of heresy, they nonetheless proposed a similar method and have reached similar conclusions with regard to the notion of tawātur, which El-Tobgui translates as ‘recurrent mass transmission.’ While Rashīd al-Dīn employed it in the area of historiography, in order to assert that non-Muslim peoples have equally valid narratives of the past as Muslims, Ibn Taymiyya used tawātur in the area of legal theory, to “expand the umbrella of what is ‘functionally equivalent to the mutawātir,’ extending epistemic certainty to a wide range of religious knowledge.” El-Tobgui, 6.
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he has heard it through reports [from others],81 and it often happens that a transmitter arbitrarily adds or omits something from his reports. Even if he does not tell an absolute lie, he gives a certain color to his expression, and that gives rise to controversy.82 Since this is how the divine way is put into effect (as has been mentioned),83 and [since] human nature has been fashioned in this manner,84 anyone who thinks he can report otherwise is muddle-headed and wrong-thinking.”85 “Consequently, a historian who tries to write only what is verifiable and incontrovertible can broach absolutely no story whatsoever, for anything he introduces has been reported by some group or other of great men who witnessed it, heard it related by others, or read it in old books—and in any case, as has been pointed out before, it will be subject to controversy (maḥall-i ikhtilāf). If for this reason [historians] give up writing and speaking, thinking, ‘God forbid, people might object or disapprove,’ then of course all tales, narratives, and events in the world will be abandoned, and humankind in general (ʿumūm-i khalq) will be deprived of any benefit they might derive from them. Therefore, it is the duty of historians to take the stories and narratives of every nation and group of people [as they come], however those people have recorded and reported them in their own books, and to relate and rewrite them from the books of those nations that are well-known, up-to-date, and based on the accounts of the most reliable people—and ‘may the responsibility [for their truth] be on the head of the narrator.’”86
81 “yā ba-sabīl-i akhbār shanīda.” Like tawātur (‘uninterrupted [mass] transmission’), akhbār (‘reports’) is a technical term used in the science of ḥadīth (utterances of the prophet Muḥammad), permitting scholars especially in early Islam to verify the reliability of a ḥadīth. In the ḥadīth tradition early Muslim scholars devised rigorous methods to verify the chains of transmission (isnād), to establish whether a given ḥadīth could actually have been transmitted from scholar A to scholar B to scholar C. They based this on historical knowledge about the life dates and geographical movements of each scholar. On the ḥadīth tradition, see, e.g., Harald Motzki, ed., Ḥadīth: Origins and developments (Aldershot: Ashgate, 2004). 82 “ki mutażammin-i wuqūʿ-i ikhtilāf bāshad,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:11, line 2. 83 “wa chun ijrā-yi sunnat-i ilāhī bar īn jumlat ast ki dhikr raft,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:11, lines 2-3. 84 “wa ṭabīʿat-i ādamī bar īn shīwa majbūl,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:11, lines 3-4. 85 “muḥāl-andīsh wa bāṭil-gūy bāshad,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/ Mūsawī, 1:11, line 5. 86 Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:11, lines 17-18. One may thus ask: if so much of Rashīd al-Dīn’s work consisted of the compilation of
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“Now that it has been explained that every group and class of people relate and hand down accounts of their history according to their own beliefs, and that they will naturally prefer their own beliefs (muʿtaqad-i khwīsh) to anyone else’s and will exaggerate the truth thereof, it is not possible for all people to be unanimous in all cases.87 This is obvious to everyone. When a historian narrates from different peoples, there will doubtlessly be a difference in his words, and some people in some places and stories will differ, but the good and bad, or the fault and virtue, will not rebound upon him, for he, as has been said, is recounting the history of others. As a matter of course a real verification is impossible to make, as has been said. Inasmuch as all are agreed (ba ittifāq-i jumhūr) that uninterrupted transmission (naql-i mutawātir) is given weight and accepted88 --- and although the Muslim [method of] uninterrupted transmission (tawātur-i musalmānān) is
earlier histories, what was Rashīd al-Dīn’s contribution? If we are to believe Rashīd al-Dīn, and all evidence points in this direction, no history of this scale had existed before he undertook composing the Jāmiʿ al-tawārīkh. His Mongol patrons who commissioned the Compendium of Histories to be written lived a largely transhumant life. Therefore they focused just as much on mobile assets – people and animals – as on the land they had conquered. The geography and peoples they came to rule as a single corporate dynasty constituted an empire of unprecedented dimensions. They wanted to get to know the peoples whom they had conquered and to understand their place in the world, and there was no history that would serve this purpose. Rashīd al-Dīn’s contribution was to incorporate the indigenous historiographical traditions of hugely diverse regions and peoples in a single conceptual framework. For this he used both written (narrative, normative, and documentary) sources and collected oral accounts of the representatives of various groups of peoples present at the Ilkhanid court. According to his own assessment, one of his major contributions was the visualization of geography – on an unprecedented scale on paper – and the visualization of genealogies. On the latter, see İlker Evrim Binbaş, “Structure and Function of the Genealogical Tree in Islamic Historiography (1200-1500),” in Horizons of the World: Festschrift for İsenbike Togan, ed. İlker Evrim Binbaş and Nurten Kılıç-Schubel (Istanbul: İthaki, 2011), 465-544. 87 “wa mumkin na ki majmūʿ-i khalāyiq dar jamīʿ-i qażāyā muttafiq al-kalima bāshand,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:11, lines 22-23. 88 “wa jihat-i ānki ba ittifāq-i jumhūr naql-i mutawātir muʿtabar wa maqbūl ast,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:12, lines 4-5. For clarification, ‘uninterrupted transmission’ in the passage above refers to widely attested transmission in succession.
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the most reliable of all89 --- nonetheless, the basis of the various accounts [of various peoples] cannot be laid on that.”90 “Therefore, everything that is related by any group must inevitably be considered reliable, for we have said over and over that it carries weight either with the generality [of people] (nazd-i ʿumūm) or with a particular group (yā pīsh-i ṭāyifa-yi makhṣūṣ), and that which is related periodically, by attestation through a single witness (ghayr-i mutawātir), may possibly be true or false.”91 “A historian’s duty, as we have said, must be to extract and write from what reliable people have said and from reliable standard books. If he makes any change therein according to his own imagination, it will become positively worthless and incorrect.”92 This approach is diametrically opposed to Schiller’s, whose notion of universal historiography is dependent on the philosopher-historian’s intervention. Rashīd al-Dīn, by contrast, considered and dismissed the option of narrating the history of all the peoples of the world in one single narrative based on one single truth. This is quite extraordinary (and quite
89 “wa agarchi tawātur-i musalmānān muʿtabar-tar az hama bāshad,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:12, line 5. 90 “ammā binā-yi riwāyāt-i mukhtalif bar ān natawān nihād,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:12, lines 5-6; trans. Thackston, 1:8a, lines 38-40, who added “of various peoples.” Thackston’s translation is based on the 1965 Moscow edition for this part of the history (Rashīd al-Dīn, Dzhami at-tavarikh, ed. A.A. Romaskevich, L.A. Khetagurov, and A.A. Ali-zade, 3 vols. (Moscow: Nauka, GRVL, 1965) [hereafter referred to as “The 1965 Moscow edition”]). And indeed the 1965 Moscow edition, 1:23, lines 4-5 also only says “ammā binā-yi riwāyāt-i mukhtalif bar ān natawān nihād;” without mentioning “the various peoples.” However, in the critical apparatus the editors refer to no less than four manuscripts (thā, ḥā, chīn, and jīm) that do add the term aqwām (‘peoples’) between riwāyāt (‘accounts’) and mukhtalif (‘different’). This appears to provide the basis for Thackston’s translation: “nonetheless, the basis of the accounts of various peoples cannot be laid on that” (ammā binā-yi riwāyāt-i aqwām-i mukhtalif bar ān natawān nihād). All manuscripts with this addition are later copies. thā = British Museum-Timurid copy?; ḥā = Leningrad copy, dated September 27, 1576; chīn = Paris copy, not dated?; and jīm = Tehran copy, dated May 25, 1596. 91 Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:12, lines 7-10. The expression ghayr-i mutawātir denotes a far inferior and weaker mode of transmission compared to tawātur, ‘uninterrupted mass transmission.’ The method as such represents a Sunni approach to Islam. 92 Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:12, lines 10-13.
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‘modern,’ in a sense),93 and it should not make him a ‘lesser’ historian. In a sense, calling Rashīd al-Dīn’s history a ‘universal history’ is a misnomer, certainly in juxtaposition to Schiller. Unlike Schiller, he did not propose to subsume all histories of the world under one main ideology or religion in a narrative culminating in his own time, place, and perspective. Rather, he allowed for the plurality of various nations’ narratives to be heard (each in their own voice) and to stand next to each other as equally valid accounts of the past of those nations based on their own most reliable transmitters and methods of transmission. Rashīd al-Dīn had previously witnessed, and at times actively participated in and recorded, dozens if not hundreds of deliberately staged court debates, often on theological questions, between Buddhist, Jewish, Christian, and Muslim scholars of various denominations (especially Ḥanafī and Shāfiʿi Sunnis and Twelver Shiʿis) for some seven decades in Mongol service. Yet this experience eventually led him to realize that searching for a shared (‘universal’) basis among all of these was futile, even in such a seemingly uncontentious area as historiography. Of course, his perspective is different from Schiller’s. In order to see ‘the world,’ Schiller had to read travelogues and look outward, whereas for Rashīd al-Dīn ‘the world’ had converged on him. It had converged at the Mongol courts, with the new Mongol elites and scholars representing this expanded world that the Mongols had recently come to rule. These intellectuals and elites were physically present in Tabriz and the ambulant Mongol court in Iran, and they engaged in debates with the Mongol elites, local Muslim elites, and with Rashīd al-Dīn personally.94 In practice, Rashīd al-Dīn operated in a world that had suddenly grown very small. Under Mongol rule, and from the perspective of Karakorum, the Muslim ‘Middle East’ was no more than the ‘south west’ of the Eurasian land mass ruled by the Chinggisid dispensation. Rashīd al-Dīn had to come to terms with new patrons, a new ideology, a new political system, and an entirely new, re-calibrated, and re-constituted cosmos. Yet
93 What Bjørnstad, Jordheim, and Régent-Susini have pointed out as regards the early modern period in Europe also applies to Rashīd al-Dīn and to the methods he employed. He put “a plurality of practices at work in [his] attempt to assemble the world, of which narrative, which is going to be the all-dominant factor of the nineteenth century [in Europe], is […] only one alternative, and is challenged and expanded by other practices, like visualizations, lists, maps, and tables.” Bjørnstad, Jordheim, and Régent-Susini, “Introduction,” 6. 94 For examples, see esp. Rashīd al-Dīn, Asʾila wa ajwiba, ed. Riḍā Shaʿbānī, 2 vols. (Islamabad: Markaz-i Taḥqīqāt-i Fārsī-yi Īrān va Pākistān/Iran-Pakistan Institute of Persian Studies, 1371 sh./1993); Rashīd al-Dīn, Bayān.
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even so he was asked to tell the story of the wider world that included everything from China and India to the Nile-to-Oxus region and parts of Europe. What’s more he was to tell this story to all of his audiences, which included everyone from the sometime Buddhist conquerors from Mongolia to the mostly Muslim conquered population of the Nile-to-Oxus region, and everyone in-between and, indeed, beyond. While the Jāmiʿ al-tawārīkh was originally a commissioned work, it is evident from Rashīd al-Dīn’s endowment deed that he himself intended his history to be read by the widest possible audiences. After all, he composed an Arabic and a Persian version of his history during his own life time, and stipulated in his endowment deed that annual stipends be provided for copyists who were to produce annually one copy each of the Persian and Arabic versions of his voluminous work. He also specified that these new copies be sent to Persian- and Arabic-speaking cities every year, year after year, to the bigger and most important cities first and to the lesser ones in subsequent years. Rashīd al-Dīn thus clearly sought to ensure that copies of the Compendium of Histories were reproduced and distributed among the widest possible audiences, attesting to his own personal ‘universal’ aspirations at least in this sense.95 5. Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh: between Universalism and a Theory of Situated Pluralism Narrating the history of all the peoples inhabiting this newly expanded world under Mongol rule required a special approach and method. The method Rashīd al-Dīn chose was a pluralistic narrative of parallel pasts from the vantage point of the Ilkhanid Mongol court in the predominantly Muslim Middle East. Indeed, not only did Rashīd al-Dīn develop a theory of pluralism in historiography, but he also applied it. For instance, with regard to the notion of time, he prefaced each history of a nation of the world – such as that of the Chinese, the Indians, and the Jews – with a dedicated brief introduction that explained how each of these nations dealt with the concept of ‘time’ and, in particular, time past.96 In terms of form, he was systematic, placing his discussion on the different cultures of understanding and
95 Pfeiffer, “Rashīd al-Dīn’s Bayān al-ḥaqāʾiq and its Sitz im Leben.” 96 Pfeiffer, “Rashīd al-Dīn’s Craft: Narrating Parallel Pasts in the Fourteenth Century” (paper in preparation).
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accounting for time at the beginning of each branch of human history, regardless of whether or not notions of time were also found at the beginning of the histories that formed his sources. As regards contents, he filled it with whatever the reliable transmitters of each nation had to offer on that subject. While these nations’ notions and accounting of time were widely diverging, ranging from circular and linear concepts of time to repetitive ‘timelines’ and ‘eons,’ Rashīd al-Dīn recorded and explained these without judgment. Only when the object of discussion was controversial did he bring in his own voice, reminding the reader, lest he be accused of heresy, that it was not he, Rashīd al-Dīn, speaking, but rather the highly respected narrators of each of those nations. Not only did the breadth of Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh mirror the Mongols’ political aspirations for universal rule but, like him, the Mongols did not seek to present the history of any one of the nations under their rule as superior to another. Apart from affirming the political reality of Mongol world dominion, neither the Mongols as patrons of the Jāmiʿ al-tawārīkh nor Rashīd al-Dīn as its author-compiler asserted a prerogative to absolute truth claims. To compare this to a history with a similar structure (albeit from the context of late antiquity), Van Nuffelen has observed that Eusebius’ fourthcentury chronicle also set the pasts of various peoples in parallel. He has, however, cautioned that this parallelism “must be situated against its proper apologetic background,” which was the competition between Christianity and the Greco-Roman culture for the antiquity of their respective traditions.97 No such competition is apparent in the case of the Compendium of Histories. Rashīd al-Dīn did not attempt to establish which of the several cultures he described – and this did include that of the Mongols – was the most ancient, and he did not set them up in competition against each other. It appears as though priority – and sovereignty – had already been fought out in a different arena, namely that of the divinely mandated real political situation on the ground, in which the Chinggisid dispensation reigned supreme. However, Rashīd al-Dīn’s historiographical framework did have political as well as ethical underpinnings. Mongol official
97 Van Nuffelen, “Theology versus Genre,” 166-167.
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ideology in Iran was happy to tolerate parallel pasts as long as the supremacy of the Chinggisid dynasty was respected.98 Rashīd al-Dīn’s approach to theology, which I have investigated in another instance, also points in this direction.99 In this area he clearly found it difficult to let different options stand side by side. This can be seen, for example, when he discussed the question of metempsychosis, evidently important for his Mongol patrons, who had only recently converted from Buddhism to Islam, but anathema in Islam.100 Rashīd al-Dīn took up this topic four times over several years in a lengthy dispute with contemporary Muslim theologians, who had reacted vehemently against his treatise on the topic. Apparently he did not show sufficient polemical acumen and rigor in refuting this idea for the taste of his mostly Shafiʿi colleagues, who were accustomed to discussing such matters in inter-confessional polemical debates.101 An area that was much less controversial than theology or historiography was medicine. This provides yet another example of Rashīd al-Dīn’s pluralist approach. Here Rashīd al-Dīn could claim some authority, both because he had practiced as a physician and came from a family of physicians and apothecarians, and because the principle of experience (tajriba) was paramount in Islamicate medicine ever since the polymath Avicenna (d. 427/1037) had made this one of his key methods.102 Thus, in a booklength (ca. 43 folio-size folios or 86 pages) epistle on smallpox and measles,103 to which he added an appendix on medical matters and a further epistle on heat,104 Rashīd al-Dīn discussed and juxtaposed the diseases and their cures. In this work he let stand side by side two diametrically opposed methods – the Islamic-Galenic humoral medicine and the TurcoMongol medical practice – without passing judgment on which one is better, simply confessing that he did not know. He laconically states at the end
98 For the Ilkhanid dynasty in Iran (the Toluid-Hülegüid branch of the Chinggisids) and the Yuan dynasty in China this especially meant respect for the Toluid branch of the Chinggisids. 99 Pfeiffer, “Rashīd al-Dīn’s Nafāʾis al-afkār: Preliminary investigations on a 14th century debate on resurrection and afterlife” (lecture, The Institute of Islamic Studies, Free University of Berlin, November 21, 2006). 100 Pfeiffer, “The Canonization of Cultural Memory.” 101 Pfeiffer, “Rashīd al-Dīn’s Nafāʾis al-afkār.” 102 Dimitri Gutas, “The Empiricism of Avicenna,” Oriens 40.2 (2012): 391-436. In modern Arabic the term tajriba denotes a wide spectrum of related meanings, including: trial, test, try out, experiment, and practice. 103 “Risāla fī al-judarī wa al-ḥasba,” Rashīd al-Dīn, Bayān, 161a-204b. 104 Rashīd al-Dīn, Bayān, 205a-207b, 207b-241a.
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that “God knows best,” after also admitting to the bitterest defeat of all: Rashīd al-Dīn reveals that he wrote this epistle on the causes of and remedies for smallpox and measles because his little son of five, Maḥmūd, had suffered from the disease, and Rashīd al-Dīn had lost him to it.105 Throughout Rashīd al-Dīn’s oeuvre, but especially in this instance, one gains the strong impression that Rashīd al-Dīn knows that he does not know, and he admits it openly. Faced with a world greater than his rational faculties and imagination, he appears quite ready to fully give in to a pluralist worldview, while at the same time probing all known and possible methods until he reaches his limits. He was writing in a political and social context in which local groups loudly claimed the superiority of Islam. Yet, were it not for this context, it appears that he would have been quite happy to admit the existence and validity of a world greater than his rational faculty, one in which different beliefs and different, equally valid methods may – or indeed may not – lead to various possible outcomes. This, to my mind, appears closer to pluralism than universalism. As the preceding investigation and above all Rashīd al-Dīn’s own reflections on his method have shown, while the geographical and chronological scope of his work were certainly exceedingly wide (‘universal’), his method and approach were anything but ‘universal.’ This distinction is important: it is the fine line separating Schiller (and some Muslim historians, such as al-Ṭabarī, whom we shall introduce below) on the one hand and Rashīd al-Dīn on the other. Referring to both of their methods by the same term does not seem right. Rashīd al-Dīn’s approach was definitely different from Schiller’s, in the sense that he did not attempt to subordinate or synthesize all ideologies or all historical narratives of various peoples into one supreme ideology or metanarrative with absolute truth claims. Applying the same term ‘universalism’ to both would mean glossing over these fundamental differences. Rashīd al-Dīn did not instrumentalize the histories of non-Muslim peoples as explanatory ‘others,’ as precursors to the ultimate truth, leading up to the one ‘true’ narrative of Islam (or the Mongols) with the Islamic civilization reigning supreme in his own time and place. On the contrary, he was keenly aware of the strong and well-founded truth claims of other nations and groups of peoples linked by creed, confessional affiliation, or other shared values.106 After all, Rashīd al-Dīn had personal experience of this, both as a convert from Judaism to Islam, and through his personal observation of and at times active participation in the
105 Rashīd al-Dīn, Bayān, 161a-204b. 106 Pfeiffer, “Rashīd al-Dīn’s Bayān al-ḥaqāʾiq and its Sitz im Leben.”
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disputations between representatives of various confessions and nations staged at the Mongol court. Hence, in his Jāmiʿ al-tawārīkh different nations’ histories appear side by side with the history of Islam and that of the Mongols as different ‘branches’ of history, evolving in parallel with rather than leading up to Islam. Given the geographically and culturally broad perspective of his Mongol patrons and their lack of missionary aspirations in any particular direction (living up to the famous ‘Mongol religious tolerance’), there was also no official pressure on Rashīd al-Dīn in one direction or another, at least not from his patrons. Indeed his patrons cared more about tribal affiliation and personal loyalty than religious or confessional association. There appears, however, to have been considerable public pressure in the predominantly Muslim environment in which he operated.107 Rashīd al-Dīn had to be careful not to over-emphasize his Jewish roots or pluralist approach. Hence in his introduction to the Compendium of Histories we do find affirmations that the Muslim method of transmission is the best and most reliable, as for example when he states that “the Muslim [method of] uninterrupted transmission (tawātur) is the most reliable of all.”108 But he does then swiftly qualify such statements by adding that “nonetheless, the basis of the accounts of various peoples cannot be laid on that [i.e., on the Muslim uninterrupted transmission].” In practice, Rashīd al-Dīn permitted for ‘parallel histories’ of different peoples to evolve, and he narrated these in a non-polemical manner, without judgment or disparaging comments, letting each nation speak through its own trusted narrators and historians. And yet, absolving responsibility to these narrators was seemingly difficult, as Rashīd al-Dīn deemed it necessary at various instances to defend himself for merely recounting the stories of other peoples without condemning or questioning them. He adds time and again
107 For the pressure that the first Muslim Mongol ruler (Ilkhan) Aḥmad Tegüder (r. 681-683/1282-1284) was exposed to only twenty years earlier, see Pfeiffer, “Aḥmad Tegüder’s Second Letter to Qalāʾūn (682/1283),” in History and Historiography of Post-Mongol Central Asia and the Middle East, ed. Pfeiffer and Sholeh A. Quinn (Wiesbaden: Harrassowitz, 2006), 167-202. 108 See the long quotation above. If one reads the passage closely, one realizes that Rashīd al-Dīn actually refers to the method of uninterrupted transmission (used by Muslims in their study and authentication or rejection of utterances of ḥadīths ascribed to the prophet Muḥammad), rather than to the religion of Islam as such.
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that “the responsibility [for a given account] is on the narrator [of that nation, not the historian Rashīd al-Dīn].”109 The bottom line is that, while Rashīd al-Dīn clearly felt the need to pay lip service to his predominantly Muslim audiences, he also understood and insisted on the fact that a history valid for all nations (a ‘universal history’) was impossible to achieve. Wherever he could, and this stands in stark contrast to Schiller, Rashīd al-Dīn tried to avoid judgment and a teleological approach. Thus, while Rashīd al-Dīn’s oeuvre in general and his history in particular is certainly written from a specific vantage point in time and space, his method cannot be called universalist, at least not in the way that was fashioned by Schiller. The very structure of his history and oeuvre as a whole betrays a different perspective and makes it very clear that Rashīd al-Dīn leans toward pluralism rather than universalism.110 Thus, the scope of Rashīd al-Dīn’s history is universal, but his method is not universalist. A more differentiated vocabulary is clearly necessary as Rashīd al-Dīn, like any other author, is situated in his very own social, political, cultural, and geographical context at a very specific time with very specific audiences. Hence he is, as we are, in need of narrative tools and an appropriate language in order to be able to convey his message.111 109 “wa al-ʿuhda ʿalā al-rāwī,” Rashīd al-Dīn, Jāmiʿ al-tawārīkh, ed. Rawshan/Mūsawī, 1:11, lines 17-18. 110 I suggested as much at a recent conference dedicated to the topic “Assessing the Islamic Past” (organized by Professor Shahzad Bashir, April 20-21, 2018, Brown University, Providence, Rhode Island). I am most grateful to the participants, and in particular to Constantin Fasolt, who asked whether I had considered if Rashīd al-Dīn’s approach might qualify to be identified with ‘situated’ or ‘negative’ universalism. However, neither term appears applicable to the Islamicate context of the thirteenth and fourteenth centuries or in particular to Rashīd al-Dīn’s approach. Above all, Rashīd al-Dīn’s method is pluralist at heart, and one can add as many qualifiers as one wishes to the term ‘universalism,’ but it would still be off the mark. 111 ‘Language’ is meant here not in the sense of Arabic, Persian, etc., but in the sense of the sociolect of his audiences. Any given author needs to tell his or her story with a plot that follows an expected, known pattern for it to be believable and ‘true’ for the specific audience(s) he or she addresses. See esp., Thomas Luckmann, “Kanon und Konversion,” in Kanon und Zensur: Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II, ed. Aleida and Jan Assmann (Munich: Wilhelm Fink Verlag, 1987), 38-46. On the topic of the master narrative in general, see Joyce Appleby, Lynn Hunt, and Margaret Jacob, eds., Telling the truth about history (NY: Norton, 1995), esp. 231-237; and Hayden White, The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation (Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1987), esp. chs. 1 and 3.
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For this reason, rather than describing his method as a manifestation of universalism, we may consider borrowing from recent debates on this terminology and using the term situated pluralism. Rashīd al-Dīn acknowledges the existence of, seriously engages with, and consciously incorporates into his methodological reflections and historiography the existence of more than one ‘other,’ each with their own history, beliefs, understanding of time, medicine, theology, and legal system. He treats them, in fact, as equals, encountering them on a level playing field, in an approach that is essentially pluralist. At the same time, by qualifying his pluralism as ‘situated,’ this would also permit us to take into account the need to address Rashīd al-Dīn’s overall rare, yet once in a while interspersed comments that the Muslim method of transmission (tawātur) is the best of all. Indeed the term situated pluralism could allow for that without obscuring the overall tenor and structure of his work, which is pluralist rather than universalist at heart. It would also permit us to avoid lumping together and designating by the one and same term ‘universal’ his method and that of someone like Schiller, when both are so clearly different. To a certain extent, this phrase – situated pluralism – is tautological, but so is ‘situated universalism,’ as all works and authors are situated (conditioned by a social, historical, and political context) in one way or another. 6. Rashīd al-Dīn and al-Ṭabarī Compared To bring home this point even more clearly, let us briefly compare Rashīd al-Dīn’s method with that of another Muslim historian with a broad outlook. This is the scholar, historian, and exegete of the Qurʾān Abū Jaʿfar Muḥammad b. Jarīr al-Ṭabarī (224-310/839-923). He is often compared to Rashīd al-Dīn. Indeed Michael G. Morony, in his article dedicated to the topic of “Universality in Islamic Historiography,” discusses Rashīd al-Dīn’s history together with al-Ṭabarī’s and three further historians’ works as examples of universal historiography.112 Rashīd al-Dīn’s method shows certain parallels with the method that his great predecessor of the early fourth/tenth century al-Ṭabarī used in his “History of the Prophets and Kings” (Taʾrīkh al-rusul wa al-mulūk). This is a general history starting with Creation and leading, via the pre-Islamic prophets and Iranian kings, to the arrival of Islam and the early Islamic
112 Morony, “Universality in Islamic Historiography,” 145-156.
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dynasties up until the year 302/beg. 27 July 914 in al-Ṭabarī’s own time.113 Scholars often point to al-Ṭabarī as an example of and precursor to the kind of historiography that Rashīd al-Dīn composed.114 Indeed, like al-Ṭabarī, who also wrote a famous and extensive Qurʾān exegesis, Rashīd al-Dīn tried his hand in the area of Qurʾān exegesis, through several epistles found in his theological works that are dedicated to specific Qurʾānic verses.115 Rashīd al-Dīn also used terminology known from ḥadīth criticism. The terms ṭawātur (‘widely attested or uninterrupted mass transmission’) and akhbār (‘reports’), for example, are typical terms used in ḥadīth criticism.116 Thus Rashīd al-Dīn possessed first-hand familiarity with this terminology and, like al-Ṭabarī, operated from the perspective of monotheism.117 However, this is pretty much where the parallels end. Not only is the scope of al-Ṭabarī’s history less wide (it does not include the histories of China and India, which play central roles in Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh), but, most importantly, al-Ṭabarī’s method and storyline is much more (uni)linear than Rashīd al-Dīn’s and, like Schiller’s, is teleological in outlook. Fred M. Donner, who has studied early Islamic historiography extensively, has summarized al-Ṭabarī’s method as follows: “The overarching structure of al-Ṭabarī’s chronicle appears to be dictated by a ‘story line’ or master narrative that, from a Muslim perspective, traces the key episodes in the history of the human race and its relationship to God, and in the evolution of the Muslim community. The objective of this master narrative was to affirm the belief that the Islamic community was, in fact, the community of the true faith, and to explain how the 113 Fred M. Donner, Narratives of Islamic Origins: The beginnings of Islamic historical writing (Princeton: Darwin Press, 1998), 129-130. 114 Indeed, some fifteenth-century Muslim historians saw Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh as the ‘natural’ continuator of Ṭabarī’s Taʾrīkh al-rusul wa al-mulūk. The Timurid historian Ḥāfiẓ Abrū (d. 833/1430), for instance, in his Majmūʿa-yi Ḥāfiẓ-i Abrū arranged the histories of Ṭabarī (in the Persian translation of Balʿamī) and Rashīd al-Dīn together with Shāmī’s Ẓafar-nāma sequentially after each other and filled the resulting gaps himself by writing the continuation from Rashīd al-Dīn’s time (the Mongols) to his own time (the Timurids), albeit without also continuing to write a history of China, etc., as Rashīd al-Dīn had done. The pluralist ‘side lines’ were thus cut off and lost/discontinued. 115 Josef van Ess, Der Wesir und seine Gelehrten: zu Inhalt und Entstehungsgeschichte der theologischen Schriften des Rašīduddīn Fażlullāh (gest. 718/1318) (Wiesbaden: Steiner, 1981). 116 This is the translation El-Tobgui proposed for tawātur, “From Legal Theory to Erkenntnistheorie,” 7. 117 Pfeiffer, “Rashīd al-Dīn’s Bayān al-ḥaqāʾiq and its Sitz im Leben.”
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Islamic community had reached the situation and circumstances it faced in al-Ṭabarī’s day […] Al-Ṭabarī’s master narrative thus presents an organic historical explanation for the identity and role of the Muslim community in the third and fourth centuries ah. It shows how the community can see itself as the result of the application of God’s guidance in human affairs. It shows how earlier communities, led by prophets with the same message as that revealed to Muḥammad, went astray, making the Muslims unique in their adherence to the true law, even though the earlier prophets and their communities can be seen in a sense as forerunners of Muḥammad and the Islamic community [emphasis added].”118 The focus on one culminating point or peoples attaining true knowledge and the succession of peoples and their prophets with repeated revelations leading up to it is an expression of a linear perception of history that bears a cunning resemblance to Schiller’s notion of universal historiography.119 Rashīd al-Dīn’s history, by contrast, does not culminate in Islam, but rather consists of several open-ended accounts of the still-continuing histories of different peoples and geographies. This is also reflected in the relative ‘thickness’ of the narrative for certain periods over others. Whereas Rashīd al-Dīn applied quasi-anthropological methods and referred to a lot of oral material the closer his narrative came to his own time, al-Ṭabarī’s heavily text-based narrative is thickest for the earlier periods and slimmest when he reaches his own time.120 Calling al-Ṭabarī, Schiller, and Rashīd al-Dīn simply and without qualification ‘universal historians’ would be glossing over these substantial
118 Donner, Narratives of Islamic Origins, 129. 119 To what extent Donner’s description of al-Ṭabarī’s method is, in turn, informed by conventions of writing about universal history that have their roots in eighteenth-century Europe would be the subject of a different article, though the structure of al-Ṭabarī’s work clearly resembles Schiller’s exposition. 120 Abd Al-Aziz Duri has called Ṭabarī’s treatment of the most recent history, as well as his own time, “weak.” Abd Al-Aziz Duri, The Rise of Historical Writing Among the Arabs (Princeton: Princeton University Press, 1983), 71. The question of how exactly Rashīd al-Dīn compiled and treated the sources he used deserves a separate discussion that goes beyond the confines of this article. This is particularly the case as regards his oral sources, for which in some cases he had to create both the appropriate tools (the visualization of genealogy and geography) and the written accounts. A standard introduction is Paul Pelliot and Louis Hambis’ “Introduction” to their annotated translation of the “History of the Campaigns of Chinggis Khan.” Pelliot and Hambis, eds. and trans., Cheng-wou ts’in-tscheng lou (Histoire des campagnes de Gengis Khan) (Leiden: Brill, 1951), xi-xxvii.
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differences and doing injustice to the efforts that each of the authors put into writing history and reflecting on that craft. Thus, even Morony, when discussing al-Ṭabarī and his history, along with the work of four other historians, as examples of “universality in Islamic historiography,” had to concede that “[al-Ṭabarī’s] focus is really on the history of the Muslim community and is thus not ‘universal’ […] when he comes to the Islamic period.”121 To this Morony contrasted al-Masʿūdī (d. 346/956), another earlier historian and a contemporary of al-Ṭabarī, who was closer in method to Rashīd al-Dīn than al-Ṭabarī (or Schiller, for that matter). “[Masʿūdī’s] originality lay mainly in including non-Muslim peoples after the rise of Islam and not seeing their history as merely as [sic] a preface to Islamic history.”122 This shows that in very general terms Rashīd al-Dīn’s method is neither an exception nor the rule and that a great variety of historiographical narratives were produced in the Islamic world, each of which deserves to be analyzed in its own right and historical context.123 We could give in to the inherent polysemy of the term “universal history.” But here we shall try to disambiguate the phrase ‘universal historiography.’ In order to do so we need to distinguish, both within Islamicate literature and in general, between scope (geographical breadth and chronological depth) and method (synthesis with a salvation or other storyline vs. a pluralist approach to history with parallel pasts for different peoples). How can we refine the terminology used to account for these different models of historiography? The term ‘world history’ springs to mind, but that would not take into account the effort and level of theoretical
121 Morony, “Universality in Islamic Historiography,” 148. Here Morony confounds scope and method. Al-Ṭabarī’s history is not only ‘universal’ (wide) in (geographical) scope, but it is a ‘universal history’ precisely in terms of method, if we were to apply Schiller’s definition. Al-Ṭabarī makes Islam both his vantage point and the end point into which history culminates, just as European history not only dictated Schiller’s perspective but was also for him the culminating point of his history. This is a good example of why it is useful to distinguish between scope and method when labelling any given historiographical work as ‘universal..’ 122 Morony, “Universality in Islamic Historiography,” 148. 123 Comparing Rashīd al-Dīn’s work with that of Masʿūdī would go beyond the scope of this paper. Above all, however, there are a number of other histories that one could compare here (such as the Tārīkh-i alfī, ‘the millennial history,’ begun in 990/1582 at the Mughal court under Akbar) but which are often not mentioned, as they were either composed after the ‘classical’ period of Islamic history or outside of the Central Islamic lands. They were also often written in languages other than Arabic.
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reflection that someone like Rashīd al-Dīn put into his history, as reflected in its preface. Clearly, he aspired to achieve some unity of narrative, just not a unity that privileged the history of one nation, religion, or group above all others. Both Rashīd al-Dīn and al-Ṭabarī are regularly adduced as examples of ‘universal historiography’ in Islam. Both are universal in scope as far as the horizontal (geographical) breadth is concerned (though even here Ṭabarī’s history shows less breadth than Rashīd al-Dīn’s, as he does not cover China or India, both of which were well known at his time).124 However, in terms of method and vertical (historical) depth, al-Ṭabarī’s universalism is closer to Schiller’s in the linearity of his storyline that ‘narrativizes’ (to use Hayden White’s terminology) the superiority of Islam and tells us the story of Islamic progress. By contrast, Rashīd al-Dīn’s history narrativizes, if anything, the possibility of parallel pasts, as well as the parallel and equal presence of various peoples in a pluralist world under Mongol rule. But, as Hayden White put it, narrating everything is the ultimate universalism.125 Thus we are back to square one: is it universalist to synthesize and subsume, or is the ultimate universalism to allow for the existence of multiple truths and multiple pasts? 7. Conclusions and Outlook: Narrating Cultural Difference in the Age of Mongol Prestige “Could we ever narrativize without moralizing?” With this question Hayden White concluded his chapter on historiography titled “The Value of Narrativity in the Representation of Reality,” in which he reflects on the differences between annals, chronicles, and histories (itself a story of narrative progress paralleling civilizational advancement).126 If part of the definition of ‘narrativization’ is to provide a finite moralizing purpose (such as a
124 The ninth-century jurist Abū Yūsuf’s (d. 182/798) Book on taxation (Kitāb al-kharāj) deals extensively with the question of how to tax Hindus and, already in the eighth century, the Tang and Abbasid forces had clashed in a military encounter (751, in the valley of the Talas River). 125 “It is surely much more ‘universalistic’ simply to record events as they come to notice,” White, “The Value of Narrativity in the Representation of Reality,” in The Content of the Form, 10. 126 White, “The Value of Narrativity,” 25. For one possible answer, see Van Nuffelen, “Theology versus Genre,” 162-175.
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teleological theology, a “theology of history,” or a “philosophy of history”)127 and not just a chronological end to a history, then Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh is a mere chronicle by White’s definition. Schiller’s method conversely falls right into the paradigm of history, starting out as he did by asserting that history encompasses the entire moral world, and claiming that a history has a clear plot and purpose (making one wonder whether White had Schiller in mind when he penned his chapter). But what if the purpose of narrativization can be precisely what Rashīd al-Dīn attempted to do self-reflectively and deliberately? What if it can show that there are several possible pasts to be narrated not from the top down but from the bottom up, in parallel to each other, each equally valid, each told by its own most trusted narrators and methods, and each with the potential to show that ultimately the historian knows that he does not know and is therefore determined not to moralize? Does this make him less of a practitioner of ‘narrativity’ and less of a historian? And if so, would then not any post-modern, deconstructing, de-centering historian be simply that, a ‘mere chronicler,’ because s/he leaves the end open, or is able, just like Rashīd al-Dīn, to deal with parallel histories without favouring any one of them a priori? White assumes that there must be a ‘moral’ to a story and that in any given history (as opposed to annals or chronicles qua genre) there must be a conclusion (from the historian proper, as distinguished from the chronicler and annalist, White demands a conclusion that concludes, not terminates a narrative).128 He insinuates that there must be a single story with a single plot. Yet, with these assumptions and insinuations, White’s still very readable and thought-provoking reflections nonetheless betray, at least to this reader’s mind, their not only European but deeply romantic, if not theological, roots, as well as a clear indebtedness to Schiller and his contemporaries. Schiller – who has here only been taken as a foil and example because his is such a clear, representative case of a ‘narrativized’ telling of history with a universal scope and universalist plot – told a ‘narrative’ that actually
127 Van Nuffelen has referred to this purpose as a “theology of history,” when discussing Christian historiography in Late Antiquity, though he has also refused a blanket qualification that suggested that all historiography written by Christian authors was theological and thus universal. Van Nuffelen, “Theology versus Genre,” 162. 128 According to White, the lack of “a proper discursive resolution” distinguishes a history from a chronicle. White, “The Value of Narrativity,” 19. “[…] the chronicle, like the annals, but unlike the history, does not so much conclude as simply terminate.” White, “The Value of Narrativity,” 16, 17.
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flattens history. This kind of ‘universalism’ is a-historical by definition, as it denies and attempts to – selectively – overcome and straighten out the differences that difference in time and space affords. This, I believe, distinguishes Rashīd al-Dīn’s notion of historiography from that of al-Ṭabarī and Schiller. Rashīd al-Dīn acknowledged the existence of parallel pasts and accepted the different historical narratives of various peoples as authoritative in their own traditions, all the while allowing for the possibility of error, as well as his own and others’ ignorance (understood both as lack of knowing and cognizance of unknowability). Rashīd al-Dīn’s Jāmiʿ al-tawārīkh thus foreshadowed, in its method, the notions of Ungleichzeitigkeit, of a de-centered, pluralist, and ambiguous history that twentieth- and twenty-first-century historians – not coincidentally citizens of a globalized world not dissimilar to Mongol Eurasia – had yet to invent. Postscript During the final stages of the preparation of this article the following most pertinent publication appeared. This is Hall Bjørnstad, Helge Jordheim, and Anne Régent-Susini, eds., Universal History and the Making of the Global (New York: Routledge, 2019 [sic]). This volume focuses on “the Early Modern period in Western history,” and “intends to present a European prehistory to the conceptualization and narrativization of the ‘global,’” (Bjørnstad, Jordheim, and Régent-Susini, “Introduction,” in Universal History and the Making of the Global, 5; 10). The volume does thus not cover historiography in the Islamicate or other non-European contexts. Yet, some of the editors’ observations are of direct relevance here. Given the circumstances, I have not been able to take this volume into consideration in its entirety, but I have read with great interest the editors’ introduction and have benefited especially from the following article: Jordheim, “Making Universal Time: Tools of Synchronization,” in Universal History and the Making of the Global, 133-150. At an even later stage, Matthieu Chochoy brought to my attention the following publications, for which I wish to thank him profoundly, and which will take their due place in future publications on the topic. These are Hervé Inglebert, Le Monde, l’Histoire. Essai sur les histoires universelles (Paris: Presses universitaires de France, 2014), and the same author’s Histoire universelle ou Histoire globale? (Paris: Presses universitaires de France, 2018), where he revised his ideas in a concise manner.
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Der universale Frieden als Leitvorstellung auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643-1649). Probleme und Perspektiven der Forschung1 Michael Rohrschneider
Eine der wohl berühmtesten Passagen aus europäischen Friedensverträgen findet sich in Paragraph beziehungsweise Artikel I der Friedensverträge von Münster und Osnabrück, die beide am 24. Oktober 1648 in Münster unterzeichnet wurden und nachfolgend unter der Bezeichnung „Westfälischer Frieden“ in das kollektive europäische Gedächtnis eingegangen sind. Dort heißt es gleich zu Beginn: „Pax sit christiana, universalis et perpetua“.2 Dieser Friedensschluss beendete den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) und damit eine der längsten und komplexesten Konfrontationen in der vormodernen Geschichte Europas überhaupt. Schon die Zeitgenossen haben dies so wahrgenommen. Viel zitiert ist in diesem Zusammenhang der venezianische Friedensvermittler Alvise Contarini, der schon das höchst problematische Zustandekommen des Westfälischen Friedenskongresses als Weltwunder bezeichnet hat.3 Der Augsburger Historiker Johannes Burkhardt hat den Friedensschluss von 1648 vor diesem Hintergrund im Jubiläumsjahr 1998 voller Über-
1 Der Beitrag geht auf den Vortrag des Verfassers vom 16. Januar 2017 im Rahmen der Ringvorlesung „Eine Werteordnung für die Welt? − Universalismus in Geschichte und Gegenwart“ zurück. Der spezifische Charakter der Vortragsform wurde weitgehend beibehalten. Für Hinweise danke ich Herrn Jonas Bechtold, Bonn. 2 Acta Pacis Westphalicae. Serie III Abteilung B: Verhandlungsakten. Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden. 1. Teil: Urkunden. Bearb. von Antje Oschmann, Münster 1998, S. 4 beziehungsweise 98; zur Deutung dieser Friedensklausel vgl. jüngst Maria-Elisabeth Brunert, Der Westfälische Frieden 1648 ‒ eine Friedensordnung für das Reich und Europa, in: Peter Geiss / Peter Arnold Heuser (Hg.), Friedensordnungen in geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive. Unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Bonn 2017, S. 69-95, hier S. 79-85. 3 Vgl. Konrad Repgen, Der Westfälische Friede. Ereignis, Fest und Erinnerung, Opladen / Wiesbaden 1999, S. 7.
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schwang sogar als das „größte Friedenswerk der Neuzeit“4 bezeichnet − und ist dafür mit kräftiger Kritik bedacht worden. Denn in der Tat muss die aus einem solchen Superlativ möglicherweise resultierende Erwartungshaltung gleich in dreifacher Hinsicht relativiert werden: Zum einen ist das Postulat, dass der Friede christlich, universal und immerwährend sei, im Konjunktiv formuliert, d.h. es handelte sich hierbei um eine zum Ausdruck gebrachte Forderung, Hoffnung oder Absichtserklärung, nicht aber um eine Bezeichnung des damaligen Ist-Zustands. Zum anderen erwies sich der Friedensschluss keineswegs als immerwährend („perpetua“), denn spätestens die dichte Aufeinanderfolge der Kriege Ludwigs XIV. von Frankreich seit 1667 zeigte in aller Deutlichkeit, dass ein dauerhafter Frieden auch nach 1648 letztlich eine Wunschvorstellung blieb.5 Und schließlich ist zum Dritten darauf hinzuweisen, dass der neu konstituierte Frieden keineswegs allgemein („universalis“) angelegt war, denn er blieb traditionsgemäß auf die Christenheit beschränkt. Das Osmanische Reich, der sogenannte „Erbfeind der Christenheit“, war weder an den vorausgegangenen Verhandlungen beteiligt, noch in den Friedensschluss integriert worden.6 Darüber hinaus − und das ist der wichtigere Sachverhalt in diesem Kontext − ist es selbst innerhalb der Christenheit nicht gelungen, eine „pax universalis“ herzustellen. Zwar war dies erklärtermaßen das ursprüngliche Ziel des Westfälischen Friedenskongresses; zu einem Friedensschluss zwischen den beiden katholischen Vormächten Frankreich und Spanien ist es aber 1648 trotz langwieriger Verhandlungen nicht gekommen.7 Beide setzten ihren 1635 begonnenen Krieg vielmehr noch elf weitere Jahre fort und beendeten ihren Konflikt erst 1659 im sogenannten Pyrenäenfrieden, und zwar letztlich zu Bedingungen, die man im Prinzip schon 1648 hätte ver-
4 Vgl. Johannes Burkhardt, Das größte Friedenswerk der Neuzeit. Der Westfälische Frieden in neuer Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998), S. 592-612; vgl. dazu die Kritik von Martin Tabaczek, Wieviel tragen Superlative zum historischen Erkenntnisfortschritt bei?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), S. 740-747, und Paul Münch, 1648 − Notwendige Nachfragen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 329-333. 5 Vgl. pointiert Heinz Duchhardt, Westfälischer Friede und internationales System im Ancien régime, in: Historische Zeitschrift 249 (1989), S. 529-543. 6 Siehe hierzu die Skizze von István Hiller, Feind im Frieden. Die Rolle des Osmanischen Reiches in der europäischen Politik zur Zeit des Westfälischen Friedens, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte, München 1998, S. 393-404. 7 Vgl. insg. Michael Rohrschneider, Der gescheiterte Frieden von Münster. Spaniens Ringen mit Frankreich auf dem Westfälischen Friedenskongress (1643-1649), Münster 2007.
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einbaren können.8 Streng genommen müsste man somit sowohl angesichts der ursprünglichen Zielsetzung, in Münster und Osnabrück einen allgemeinen Frieden für die gesamte Christenheit zu generieren, als auch aufgrund der Tatsache, dass sich die erhoffte langfristige Befriedung Europas nicht realisieren ließ, zu dem Schluss kommen, dass die maßgeblichen Akteure die allseitigen Hoffnungen und Erwartungen nicht erfüllt haben. Nun ist es aber nicht Aufgabe und Ziel dieser Ausführungen, das geläufige Bild des Westfälischen Friedens als grundlegende Friedensordnung für Europa in desillusionierender Weise vollständig zu dekonstruieren. Denn es ist unbestritten, dass es in Münster und Osnabrück gelang, einen Friedensschluss herbeizuführen, der dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zumindest im Inneren die erhoffte langfristige Befriedung brachte. Einen Religionskrieg hat es nach 1648 im Alten Reich, trotz immer wieder auftretender politischer und konfessioneller Konflikte, jedenfalls nicht gegeben. Gerade deshalb werden der Dreißigjährige Krieg und der Westfälische Frieden neuerdings immer wieder − auch auf höchster politischer Ebene − als Vergleichsmaßstab für die Tagespolitik herangezogen, um unter der Überschrift „Ein Westfälischer Frieden für den Nahen Osten“ zu fragen, ob das 17. Jahrhundert eventuell Muster dafür bietet, komplexe Konfliktkonstellationen wie aktuell in Syrien zu lösen. So findet sich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. November 2016 ein aufschlussreicher Artikel von Rainer Hermann mit der hoffnungsvollen Überschrift: „Religiöse Emotionen kontrollieren. Der Westfälische Frieden zeigt, wie Sicherheit trotz fehlenden Vertrauens möglich ist“. Gegen Ende des Artikels zieht der Verfasser allerdings eine ernüchternde Bilanz: „Gültigkeit hat auch eine andere Lektion des Westfälischen Friedens: Bei einem derart komplexen Krieg kann es schwerlich einen Universalfrieden geben, der alle Konflikte beilegt.“9 Dies trifft genau den Kern der vorliegenden Untersuchung. Denn die ersehnte „pax universalis“ blieb auch nach 1648 eine Chimäre, die zwar nichts von ihrer Wirkungsmacht als Norm und Idealvorstellung eingebüßt
8 Zur Vorgeschichte und zu den Verhandlungen des Pyrenäenfriedens vgl. ausführlich Daniel Séré, La paix des Pyrénées. Vingt-quatre ans de négociations entre la France et l’Espagne (1635-1659), Paris 2007; siehe ferner jüngst Lucien Bély / Bertrand Haan / Stéphane Jettot (Hg.), La Paix des Pyrénées (1659) ou le triomphe de la raison politique, Paris 2015. 9 Rainer Hermann, Religiöse Emotionen kontrollieren. Der Westfälische Frieden zeigt, wie Sicherheit trotz fehlenden Vertrauens möglich ist, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 272, 21. November 2016, S. 8.
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hatte, die faktisch aber kaum Realisierungschancen besaß, wie die nachfolgenden Jahrzehnte in aller Deutlichkeit offenbarten. Die charakteristische Bellizität der Frühen Neuzeit10 ließ sich auch von der 1648 etablierten Friedensordnung nicht zähmen, was schon ein kurzer Blick auf die zahlreichen Kriege der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zeigt. Selbst das aufgeklärte 18. Jahrhundert wies im Hinblick auf die Kriegsaffinität leitender Persönlichkeiten gegenüber dem vorangegangenen Säkulum nur graduelle, aber keine prinzipiellen Veränderungen auf. Das Streben Friedrichs des Großen nach kriegerisch fundiertem Ruhm und Reputation ließe sich exemplarisch als Beleg anführen.11 Ziel der folgenden Ausführungen ist es, genauer darzulegen, dass der universale Frieden − trotz der gerade vorgebrachten Einschränkungen − eine Leitvorstellung war, die ungeachtet der bellizitären Dispositionen der Protagonisten des Dreißigjährigen Krieges für die Zeitgenossen des Geschehens in Münster und Osnabrück von herausragender Bedeutung war. In einem ersten, einführenden Schritt erfolgt eine kurze Erläuterung der historischen Wurzeln der Vorstellung einer universalen Friedensordnung (1.). Denn das Streben nach einem allgemeinen Frieden war bekanntlich nicht erst der Friedenssehnsucht der Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts geschuldet, sondern es kann als überzeitliche Konstante menschlichen Denkens und Handelns gelten. Anschließend rücken der Dreißigjährige Krieg und der aufschlussreiche Befund der neueren Forschung in den Mittelpunkt, dass gerade die konkurrierenden, ins Universale zielenden Ansprüche der beteiligten Hauptmächte mit ausschlaggebend dafür waren, dass dieser Krieg so lange währte und so schwer zu beenden war (2.). In einem dritten Schritt wird der Fokus auf die Frage gerichtet, welche Vorstellungen die für die Verhandlungen in Münster und Osnabrück maßgeblichen Mächte im Hinblick auf die Frage entwickelten, wie eine „pax universalis“ konkret gestaltet werden sollte (3.). Und schließlich soll in Form eines Ausblicks aufgezeigt werden, welche konkreten Forschungsprobleme und -perspektiven sich hieraus ergeben (4.).
10 Vgl. Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), S. 509-574. 11 Vgl. Michael Rohrschneider, Reputation als Leitfaktor in den internationalen Beziehungen der Frühen Neuzeit, in: Historische Zeitschrift 291 (2010), S. 331-352, hier S. 346-350.
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1. Historische Wurzeln des Leitgedankens der „pax universalis“ Das Streben nach einem universalen Frieden ist, wie bereits angedeutet, keineswegs eine Erfindung der Frühen Neuzeit. Blickt man in die Antike zurück, dann ist beispielsweise auf die Vorstellung einer „Pax Romana“ oder „Pax Augusta“12 zu verweisen, die dem Anspruch nach den gesamten Kulturkreis der römischen Herrschaft („Orbis Romanus“) umfasste und letztlich mit der toposhaften Vorstellung eines Goldenen Zeitalters („aetas aurea“) einherging. Auch im Mittelalter waren universalistisch gedachte Friedensvorstellungen von großer Bedeutung.13 Nach christlicher Überzeugung konnte die Realisierung der Vision eines umfassenden Weltfriedens jedoch aufgrund der prinzipiellen Sündhaftigkeit des Menschen nicht im Diesseits realisiert werden, sondern sie war dem transzendentalen ewigen Frieden („pax aeterna“) im Reich Gottes vorbehalten. Derartige Friedenskonzeptionen wiesen aufgrund ihrer teleologisch-heilsgeschichtlichen Ausrichtung per se einen universalen Anspruch auf und waren von langfristiger Prägekraft. Exemplarisch verwiesen sei an dieser Stelle lediglich auf die mittelalterlichen Friedensbewegungen, die unter den Schlagworten „pax Dei“ beziehungsweise „treuga Dei“ subsumiert werden.14 Oft genannt wird auch, um hier ein konkretes Beispiel aus dem späteren Mittelalter aufzugreifen, Dante Alighieris berühmte Abhandlung über die Monarchie, in der zur Erlangung einer „pax universalis“ die alleinige Herrschaft eines einzigen Monarchen gefordert wird.15
12 Zur „Pax Romana“ vgl. jüngst Adrian Goldsworthy, Pax Romana. War, Peace and Conquest in the Roman World, London 2016; Michel Molin, La pax Romana: variations sur un thème antique, in: Jean-Luc Liez / Thomas Nicklas (Hg.), Imaginer la paix. De la Pax Romana à l’Union européenne, Reims 2016, S. 17-46. 13 Die Literatur zum mittelalterlichen Friedensdenken ist sehr umfangreich. Für die vorliegende Untersuchung wurden folgende Arbeiten mit Gewinn herangezogen: Stefan Hohmann, Friedenskonzepte. Die Thematik des Friedens in der deutschsprachigen politischen Lyrik des Mittelalters, Köln / Weimar / Wien 1992; Ulrich H. J. Körtner, Die Reich-Gottes-Hoffnung des Christentums als Friedensvision, in: Mariano Delgado / Adrian Holderegger / Guido Vergauwen (Hg.), Friedensfähigkeit und Friedensvisionen in Religionen und Kulturen, Stuttgart 2012, S. 121-135. 14 Ausführlich hierzu Hartmut Hoffmann, Gottesfriede und Treuga Dei, Stuttgart 1964; Thomas Gergen, Pratique juridique de la paix et trêve de Dieu à partir du concile de Charroux (989-1250). Juristische Praxis der Pax und Treuga Dei ausgehend vom Konzil von Charroux (989-1250), Frankfurt a.M. u.a. 2004. 15 Vgl. Dante Alighieri, Monarchia. Studienausgabe. Lateinisch / Deutsch, hg. v. Ruedi Imbach, Stuttgart 1989.
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Bei aller Berechtigung, die langfristigen Traditionen universalistisch konzipierter Friedensvorstellungen hervorzuheben, ist für die konkreten Friedensvorstellungen im Umfeld des Westfälischen Friedenskongresses auf die herausragende Bedeutung der signifikanten Modifikationen des Friedensdenkens hinzuweisen, die seit dem Humanismus zur Herausbildung einer spezifisch neuzeitlichen Signatur des Friedens führten. Verwiesen sei an dieser Stelle stellvertretend auf die einschlägigen Schriften Erasmus’ von Rotterdam, der die frühneuzeitlichen Friedenskonzeptionen ganz maßgeblich beeinflusst hat.16 Zwei dieser Modifikationen werden von der neueren Forschung besonders betont.17 Zum einen trat die traditionelle Trias „pax − iustitia – concordia“ im Laufe der Frühen Neuzeit, bildlich gesprochen, auseinander. Die religiös verstandenen Termini „iustitia“ und „concordia“ waren nicht mehr selbstverständlicher, integraler Bestandteil des nun stärker säkular gedachten Friedens. Zum anderen ergab sich im Verlauf der Frühen Neuzeit eine konzeptionelle Ausdifferenzierung, deren Kern die Unterscheidung zwischen dem inneren Frieden („pax civilis“) einerseits und dem äußeren Frieden („pax inter civitates“) andererseits war. Im 19. Jahrhundert fand diese Entwicklung insofern ihren Abschluss, als der Terminus „Frieden“ in der Regel nur noch dem äußeren Frieden vorbehalten blieb. Der innere Frieden wurde nun hingegen verstärkt mit der noch heute gebräuchlichen Umschreibung „öffentliche Ruhe und Sicherheit“ gekennzeichnet. Unverändert blieb dagegen in der Frühen Neuzeit die Tatsache, dass der Frieden als größtes Gut auf Erden und damit als handlungsleitende Norm zu gelten hatte, sodass die Herstellung beziehungsweise Wahrung des Friedens zentrale Pflichten eines jedweden christlichen Herrschers waren. Gerade die große Wirkungsmacht humanistischer Einflüsse muss in diesem Zusammenhang noch einmal besonders betont werden.
16 Vgl. insbesondere Erasmus von Rotterdam, Querela Pacis undique Gentium ejectae profligataeque / Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde, in: Ders., Ausgewählte Schriften. Acht Bände. Lateinisch und Deutsch, hg. v. Werner Welzig, Sonderausgabe, 5. Bd., übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Gertraud Christian, Darmstadt 1995, S. 359-451. 17 Vgl. zum Folgenden die konzisen Ausführungen von Christoph Kampmann, Art. „Friede“, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart 2006, Sp. 1-21; siehe ferner Wilhelm Janssen, Art. „Friede“, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 543-589, hier insbesondere S. 556-567.
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Demgegenüber stand freilich der „eklatante Unterschied zwischen der Friedensnorm und einer wesentlich von Krieg geprägten Lebenswelt“.18 In der Frühen Neuzeit war nicht der Frieden der Normalzustand, sondern eher der Krieg. Schon allein der Blick auf das „eiserne“ 17. Jahrhundert zeigt dies in aller Deutlichkeit, denn im Verlauf dieses Säkulums gab es in Europa bekanntlich kaum ein Jahr, in dem nicht Krieg geführt wurde. Die nahezu ununterbrochene Folge kriegerischer Auseinandersetzungen vom Dreißigjährigen Krieg zu den Kriegen Ludwigs XIV., den Nordischen Kriegen und den sogenannten Türkenkriegen verdeutlicht in einzigartiger Weise die kriegsaffine Signatur dieses Zeitalters. Dass es sich selbst im aufgeklärten und vernunftorientierten 18. Jahrhundert nicht viel anders verhielt, wurde bereits erwähnt.19 Andererseits darf man nicht aus den Augen verlieren, dass sich die Zeitgenossen trotz der nahezu kontinuierlichen, quasi perpetuierten Abfolge von Kriegen ihre grundsätzliche Friedensfähigkeit bewahrten, was die zahlreichen Friedenskongresse und -schlüsse des 17. und 18. Jahrhunderts eindrucksvoll zeigen.20 Der Friede als normatives Ideal verlor keineswegs an Bedeutung, blickt man beispielsweise auf die zeitgenössischen Friedensutopien Émeric Crucés oder William Penns.21 Zudem führten gerade die permanenten kriegerischen Verwicklungen zu einer intensivierten Herausbildung beziehungsweise Schärfung geeigneter Mittel der Friedensstiftung, um den nahezu ubiquitären bellizitären Herausforderungen mit Erfolg begegnen zu können. Dieses spannungsreiche Verhältnis von Kriegsaffinität einerseits und prinzipieller Friedensfähigkeit andererseits zählt somit ohne Zweifel zu den Grundmerkmalen der Frühen Neuzeit. Ein genauerer Blick 18 Christoph Kampmann, Friedensnorm und Sicherheitspolitik. Zur Geschichte der Friedensstiftung in der Neuzeit, in: Andreas Hedwig / Christoph Kampmann / Karl Murk (Hg.), Bündnisse und Friedensschlüsse in Hessen. Aspekte friedenssichernder und friedensstiftender Politik der Landgrafschaft Hessen im Mittelalter und in der Neuzeit, Marburg 2016, S. 1-22, hier S. 4. 19 Vgl. hierzu jüngst auch die Beiträge in Stefanie Stockhorst (Hg.), Krieg und Frieden im 18. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche Studien, Hannover 2015. 20 Siehe hierzu vor allem Heinz Schilling, Der Westfälische Friede und das neuzeitliche Profil Europas, in: Duchhardt (Hg.), Der Westfälische Friede, S. 3-32; Christoph Kampmann / Maximilian Lanzinner / Guido Braun / Michael Rohrschneider (Hg.), L’art de la paix. Kongresswesen und Friedensstiftung im Zeitalter des Westfälischen Friedens, Münster 2011. 21 Vgl. Kurt von Raumer, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg / München 1953, S. 289-320 (Crucé) beziehungsweise 321-341 (Penn); siehe dazu jüngst Guido Braun, Friedensutopien in der Frühen Neuzeit. Éméric Crucé und die Idee einer supranationalen Friedenssicherungsinstanz ‒ Vorläufer der UNO?, in: Geiss / Heuser (Hg.), Friedensordnungen, S. 97-116.
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auf den Dreißigjährigen Krieg und den Westfälischen Friedenskongress wird dies verdeutlichen. 2. Konkurrierende Universalmächte im Dreißigjährigen Krieg Der Dreißigjährige Krieg, dessen Ausbruch sich 2018 zum 400. Mal jährte, war ein Konflikt, dessen Ausmaße so unerhört waren, dass er schon von den Zeitgenossen als exzeptionell angesehen wurde.22 In diesem Krieg amalgamierten sich politische, militärische, konfessionelle und wirtschaftliche Konflikte in einer so komplexen Art und Weise, dass es eines rund fünf Jahre währenden Kongresses bedurfte, um endlich einen Friedensschluss zu bewerkstelligen.23 Für das Rahmenthema dieses Sammelbands ist eine spezielle Ursache dieser signifikanten Kriegsverdichtung von besonderem Interesse. Der bereits erwähnte Augsburger Historiker Johannes Burkhardt hat nämlich in seinen Arbeiten in überzeugender Art und Weise demonstriert, dass der Ausbruch, der Verlauf und vor allem auch die außerordentliche Länge des Dreißigjährigen Krieges in einem erkennbaren Zusammenhang mit der Unvereinbarkeit der Zielsetzungen konkurrierender Universalgewalten standen.24 Sowohl die Habsburger als auch Frankreich und nicht zuletzt auch Schweden, d.h. drei der direkt am Kriegsgeschehen beteiligten Hauptmächte, strebten im Dreißigjährigen Krieg allesamt danach, für ihre Monarchen eine Führungsrolle in Europa zu erringen, die erkennbar universalistischen Charakter hatte beziehungsweise gezielt mit universalistischen Traditionen legitimiert wurde. So blickte das Haus Österreich beziehungsweise die casa de Austria bereits bei Ausbruch des Krieges 1618 auf eine lange Tradition universalistischer Herrschaftsansprüche zurück. Die Vereinigung der spanischen Königs- mit der römisch-deutschen Kaiserwürde in der Person des Habsbur22 Grundlegend zur zeitgenössischen Wahrnehmung ist nach wie vor Konrad Repgen, Über die Geschichtsschreibung des Dreißigjährigen Krieges: Begriff und Konzeption, Wiederabdruck in: Ders., Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, hg. v. Franz Bosbach und Christoph Kampmann, Paderborn u.a. 1998, S. 21-111. 23 Zum Westfälischen Friedenskongress insgesamt vgl. folgende Synthesen: Fritz Dickmann, Der Westfälische Frieden, 7. Aufl., hg. v. Konrad Repgen, Münster 1998; Derek Croxton, Westphalia. The Last Christian Peace, New York 2013; Siegrid Westphal, Der Westfälische Frieden, München 2015. 24 Vgl. vor allem Johannes Burkhardt, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a.M. 1992, S. 30-63.
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gers Karl I./V. hatte im 16. Jahrhundert einen riesigen Herrschaftsverband entstehen lassen, dessen Ausdehnung so außerordentlich war, dass sich nahezu zwangsläufig Widerstände gegen eine habsburgische Suprematie herausbildeten. Insbesondere die spanische Monarchie erwies sich nach der Abdankung Karls und der Teilung seines Erbes als derart dominant innerhalb des in Entstehung begriffenen europäischen Staatensystems, dass Spanien unterstellt wurde, die gesamte Christenheit in tyrannischer Manier unterjochen zu wollen. Gespeist wurde dieser Vorwurf oftmals mit dem vermeintlichen oder tatsächlichen Streben Madrids nach einer Universalmonarchie („monarchia universalis“).25 Dieser Begriff war auf habsburgischer Seite während der Regierungszeit Karls V. zu einer politischen Leitvorstellung mit weitreichenden Ansprüchen geworden. Gemäß dem berühmten Memorandum des Großkanzlers Karls V., Mercurino Gattinara, vom 12. Juli 1519 war der Kerngedanke hierbei, dass „das Gut des allgemeinen Friedens (paix universelle) [...] nicht anders als durch die Kaiserliche Herrschaft (monarchie) erreicht werden kann.“26 Ein einziger Universalmonarch sollte somit die Geschicke der gesamten Christenheit steuern, und zwar mit der Zielvorstellung, einen universalen Friedenszustand herzustellen. Die weitere Entwicklung des politischen Leitbegriffes der „monarchia universalis“ seit dem späteren 16. Jahrhundert ist höchst aufschlussreich. Aus einem ursprünglich positiv verstandenen Herrschaftsideal entwickelte sich die Universalmonarchie zu einem regelrechten Schreckgespenst, das immer dann hervorgeholt wurde, wenn es galt, angebliche Hegemonieabsichten des politischen Gegners als Tyrannei zu diskreditieren beziehungsweise die eigene Politik zu legitimieren. Ludwig XIV. ist ein ausgezeichnetes Beispiel für diesen Sachverhalt, dem von seinen politischen Kontrahenten wiederholt vorgeworfen wurde, nach einer universalmonarchischen
25 Nach wie vor grundlegend ist Franz Bosbach, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der Frühen Neuzeit, Göttingen 1988; vgl. darüber hinaus zur spanischen Politik Peer Schmidt, Spanische Universalmonarchie oder „teutsche Libertet“. Das spanische Imperium in der Propaganda des Dreißigjährigen Krieges, Stuttgart 2001. 26 Zit. in deutscher Übersetzung (mit den Schlüsselbegriffen im französischen Original) nach Alfred Kohler (Hg.), Quellen zur Geschichte Karls V., Darmstadt 1990, S. 59; zum Leben und Wirken Gattinaras vgl. jüngst Rebecca Ard Boone, Mercurino di Gattinara and the creation of the Spanish Empire, London / Vermont 2014.
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Stellung zu streben.27 Sogar Napoleon wurde noch unterstellt, er ziele auf eine Universalmonarchie ab.28 Im Dreißigjährigen Krieg wurde insbesondere der spanischen Monarchie vorgeworfen, eine universale Herrschaft etablieren zu wollen. Die Zeitgenossen verdächtigten Spanien, nach der „fünften Monarchie“ zu streben, was im Prinzip gegen die göttliche Weltordnung verstieß.29 Dahinter stand die sogenannte Vier-Reiche-Lehre, die auf dem Buch Daniel des Alten Testaments30 gründete und der zufolge das römische Reich das letzte von vier aufeinander folgenden Weltreichen sei, bevor mit dem Jüngsten Tag die Herrschaft Christi anbrechen sollte. Ausgangspunkt dieser Anschauung ist ein Traum Daniels, in dem vier fantastische Tiere aus dem Meer aufsteigen. Im Mittelalter deutete man diesen Traum als Prophezeiung einer konkreten Abfolge von vier Weltreichen: dem assyrischen, persischen, griechischen und schließlich dem letzten, dem römischen Weltreich, in dessen Ära gemäß der Vorstellung von der „translatio Imperii“ auch noch das Heilige Römische Reich deutscher Nation als unmittelbarer Nachfolger einbezogen war. Ein fünftes Weltreich war nicht vorgesehen. Insofern warf die antispanische Propaganda dem Madrider Hof vor, eine Politik zu verfolgen, die sich explizit gegen die göttlich vorherbestimmte Ordnung wandte. Aber auch die österreichische Linie der Habsburger darf nicht außer Acht gelassen werden. Nichts verdeutlicht dies anschaulicher als der viel zitierte Wahlspruch A.E.I.O.U., der maßgeblich auf den im 15. Jahrhundert regierenden habsburgischen Kaiser Friedrich III. zurückgeht. Es gibt über dreihundert Auslegungen dieser bewusst gesetzten Buchstabenkombination, wobei die geläufigste Variante folgende Auflösung der Vokale ist: „Austriae est imperare orbi universo“.31
27 Vgl. Franz Bosbach, Eine französische Universalmonarchie? Deutsche Reaktionen auf die europäische Politik Ludwigs XIV., in: Jochen Schlobach (Hg.), Médiations / Vermittlungen. Aspects des relations franco-allemandes du XVIIe siècle à nos jours. Études réunies par Michel Grunewald, Bern u.a. 1992, S. 53-68. 28 Vgl. als zeitgenössisches Beispiel den Brief des Publizisten Friedrich von Gentz an den Schweizer Historiker und Staatsmann Johannes von Müller vom 3. November 1805, in: Gustav Schlesier (Hg.), Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal, Bd. 4, Mannheim 1840, S. 132. 29 Vgl. Schmidt, Universalmonarchie, S. 125. 30 Vgl. Dan 7, 1-28. 31 Vgl. Alfons Lhotsky, AEIOV. Die „Devise“ Kaiser Friedrichs III. und sein Notizbuch, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 60 (1952), S. 155-193.
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Ob die Habsburger im Dreißigjährigen Krieg tatsächlich solch umfassende Herrschaftsansprüche umsetzen wollten, ist für das Thema der vorliegenden Studie nicht maßgeblich. Entscheidend ist vielmehr zum einen, dass die Zielsetzungen der Politik Madrids und Wiens als universal wahrgenommen beziehungsweise diskreditiert wurden, und zum anderen dass zwei der großen Konkurrenten Habsburgs, Frankreich und Schweden, im Gegenzug ebenfalls hegemoniale Ambitionen hegten, die mit den habsburgischen Leitvorstellungen nicht vereinbar waren. So ging es aus französischer Perspektive im Dreißigjährigen Krieg vor allem darum, jedweden universalen Herrschaftsansprüchen der Habsburger entgegenzuwirken.32 Dies stand in bester Tradition des 16. Jahrhunderts, in dem der sehr kriegsintensive französisch-habsburgische Antagonismus zeitweise sogar die chevalereske Form eines ernsthaft erwogenen persönlichen Duells zwischen Kaiser Karl V. und König Franz I. von Frankreich auf der Fasaneninsel des französisch-spanischen Grenzflusses Bidasoa angenommen hatte. Im Dreißigjährigen Krieg reduzierte sich die französische Politik gleichwohl nicht auf eine reine Abwehrhaltung gegenüber den vermeintlichen oder tatsächlichen universalen Herrschaftsbestrebungen der Habsburger. Vielmehr lässt sich, wie gleich noch näher zu zeigen ist, schon für die Zeit Richelieus nachweisen, dass der habsburgischen Leitvorstellung einer Friedensordnung, die durch die beiden Linien der casa de Austria kontrolliert wurde („pax austriaca“), von französischer Seite das Ziel einer Führungsrolle Frankreichs in der Christenheit entgegengesetzt wurde. Diese konkurrierenden Ansprüche Habsburgs und Frankreichs manifestierten sich nicht nur auf politischem und militärischem, sondern auch und gerade auf kulturellem Terrain. Sogar im Hinblick auf die skandinavische Vormacht Schweden, die unter König Gustav II. Adolf 1630 in den Dreißigjährigen Krieg eintrat, wird angenommen, dass in Form des sogenannten Gotizismus, das heißt unter direkter Bezugnahme auf die Reichsbildungen der Goten in der Völkerwanderungszeit, umfassende Herrschaftsansprüche erhoben wurden, die hegemonial-universalen Charakter hatten.33 Auch Schweden war somit, so Burkhardt, dem eigenen Anspruch nach eine Universalmacht, deren Ziele 32 Zu den französischen Zielen im Dreißigjährigen Krieg vgl. Anuschka Tischer, Französische Diplomatie und Diplomaten auf dem Westfälischen Friedenskongress. Außenpolitik unter Richelieu und Mazarin, Münster 1999, insbesondere S. 195-208. 33 Vgl. Andreas Zellhuber, Der gotische Weg in den deutschen Krieg – Gustav Adolf und der schwedische Gotizismus, Augsburg 2002; Inken Schmidt-Voges, De anti-
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über die Beherrschung der nordosteuropäischen Region („dominium maris Baltici“) deutlich hinausgingen. Diese konkurrierenden, einander letztlich ausschließenden Universalansprüche der Habsburger, Frankreichs und Schwedens waren, so betont Burkhardt mit guten Gründen, in ihrer prinzipiellen Unvereinbarkeit wesentlich mitverantwortlich dafür, dass sich der Konstituierungsprozess des frühneuzeitlichen Europa so kriegsintensiv gestaltete und dass der 1618 ausgebrochene Krieg exzeptionell lange währte. Denn schon aus strukturellen Gründen waren diese universalistisch gedachten Ansprüche inkompatibel: Es konnte ja nur eine einzige Universalmacht geben und nicht gleich drei. Dass dies eine schwere Hypothek für jedweden Versuch war, Europa wieder den Frieden zu bringen, wurde auf dem Westfälischen Friedenskongress schnell deutlich. 3. Die pax universalis auf dem Westfälischen Friedenskongress Die mehrjährigen Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück sind ein Paradebeispiel für den fundamentalen frühneuzeitlichen Prozess, der als signifikante Verdichtung diplomatischer Aktivitäten umschrieben werden kann. Schon der Blick auf die nackten Zahlen vermag diese augenfällige Intensivierung der Diplomatie im Gefolge des Friedenskongresses zu verdeutlichen. So nahmen insgesamt 194 Vertretungen der europäischen Staaten und des Heiligen Römischen Reiches an dem Geschehen in Münster und Osnabrück teil. Die Zahl setzte sich aus 109 Vertretungen durch eigene und 85 Vertretungen durch fremde Gesandte zusammen, wobei allein die Reichsstände 140 Vertretungen ausmachten.34 Dies übertraf die bis dahin üblichen Dimensionen von Friedensverhandlungen zwischen den europäischen Mächten um ein Vielfaches. Dass damit eine imposante Vielzahl sich überschneidender Verhandlungspunkte einherging, die in ihrer Gesamtheit eine fast schon monströs zu nennende Komplexität erreichten, ist angesichts der genannten Zahlen nicht verwunderlich. Trotzdem gelang es auf dem Westfälischen Friedenskongress im Jahr 1648, gleich drei große militärische Konflikte zu beenden: Am 30. Januar den Achtzigjährigen Krieg, das heißt den Krieg zwischen den aufständi-
qua claritate et clara antiquitate Gothorum. Gotizismus als Identitätsmodell im frühneuzeitlichen Schweden, Frankfurt a.M. u.a. 2004. 34 Vgl. Franz Bosbach, Die Kosten des Westfälischen Friedenskongresses. Eine strukturgeschichtliche Untersuchung, Münster 1984, S. 14.
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schen nördlichen Niederlanden und Spanien, sowie am 24. Oktober die Auseinandersetzungen zwischen Frankreich beziehungsweise Schweden einerseits sowie dem Kaiser mit einem Teil der Reichsstände andererseits. Wichtig ist es, noch einmal explizit darauf hinzuweisen, dass ein anderer großer Krieg in Europa auf dem Westfälischen Friedenskongress nicht beendet werden konnte. Der spanisch-französische Krieg wurde vielmehr bis zum Pyrenäenfrieden 1659 fortgesetzt. Das ursprüngliche Ziel des Westfälischen Friedenskongresses, die erhoffte Herstellung einer „pax universalis“ beziehungsweise „pax generalis“ wurde somit nicht erreicht. Weshalb es auf dem Westfälischen Friedenskongress letztlich nicht gelungen ist, einen universalen Friedensschluss zu bewerkstelligen, kann man intensiv erforschen. Mit der monumentalen Bonner Edition der Akten zum Westfälischen Frieden, den „Acta Pacis Westphalicae“ (APW), liegt eine herausragende Quellengrundlage vor, die sich inzwischen auf 48 stattliche Bände erstreckt.35 Im Rahmen dieser kurzen Studie ist es angesichts dieser Quellenfülle nicht möglich, eine vollständige Auswertung der APW zur „pax universalis“ als Leitgedanken der maßgeblichen Akteure des Kongressgeschehens zu präsentieren. Aus pragmatischen Gründen werden daher im Folgenden im Sinne einer Tiefenbohrung die Instruktionen von vier Signatarmächten der Friedensschlüsse von 1648 analysiert: die Instruktionen des Kaisers, Frankreichs, Schwedens und Spaniens. Die kaiserlichen, französischen und schwedischen Instruktionen sind im Rahmen der APW ediert worden, während die spanischen Instruktionen bislang ungedruckt sind.36 Der Quellengattung der Instruktionen, die den Friedensgesandten als konkrete Handlungsanweisungen für ihre Missionen ausgestellt wurden, kommt generell herausragender Quellenwert zu, da sie im Sinne eines imperativen Mandats in der Regel die maßgeblichen Kriegs- beziehungsweise Friedensziele benannten, die der jeweilige Gesandte nach Möglichkeit vor Ort umsetzen sollte. Insofern sind diese Schriftsätze besonders gut dazu geeignet, die leitenden Vorstellungen der Akteure zu ermitteln. Eine Analyse der genannten Instruktionen im Hinblick auf die Frage, ob und in welcher Weise darin die Leitvorstellung des universalen Friedens
35 Vgl. zuletzt Maximilian Lanzinner, Das Editionsprojekt der Acta Pacis Westphalicae, in: Historische Zeitschrift 298 (2014), S. 29-60. 36 Vgl. Acta Pacis Westphalicae. Serie I: Instruktionen. Bd. 1: Frankreich – Schweden – Kaiser. Bearb. von Fritz Dickmann, Kriemhild Goronzy, Emil Schieche, Hans Wagner und Ernst Manfred Wermter, Münster 1962; zur Entstehungsgeschichte und Überlieferung der spanischen Instruktionen vgl. Rohrschneider, Der gescheiterte Frieden, S. 76-79.
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thematisierte wurde, ergibt drei wesentliche Ergebnisse. Der erste Befund erscheint relativ banal: In allen untersuchten Instruktionen wird der universale Frieden als grundsätzliches Ziel der Verhandlungen ausdrücklich genannt: „pax universalis“, „paix générale“, „allmän fred“, „allgemeiner Frieden“, „paz universal“ − je nach Sprache der Instruktion, zum Teil auch mit entsprechenden Synonymen.37 Der zweite Befund ist dagegen weit weniger selbstverständlich. Es finden sich an zahlreichen Stellen Erläuterungen dazu, welche Bedingungen für unbedingt notwendig erachtet wurden, damit die Universalität und Festigkeit des Friedens gewährleistet war. Ein guter und fester Frieden müsse sicher und reputierlich sein − so ließe sich die inhaltliche Substanz der verstreuten Stellungnahmen zu diesem Themenkomplex zusammenfassen.38 Der dritte Befund verweist auf die enormen Schwierigkeiten, vor die sich alle unmittelbar am Westfälischen Friedenskongress Beteiligten gestellt sahen: Was sollte eigentlich geschehen, wenn sich im Verlauf der Verhandlungen herausstellte, dass sich der Leitgedanke einer „pax universalis“ nicht realisieren ließ? Welche Handlungsoptionen und Zielvorgaben standen den Friedensgesandten dann zur Verfügung? Auch in diesem Punkt lässt sich anhand der untersuchten Instruktionen ein gewisser Tenor ermitteln: In fast allen herangezogenen Fällen werden konkrete Alternativen für den Fall benannt, dass der Kongress an seinem Anspruch, einen allgemeinen Frieden herzustellen, zu scheitern drohte. Exemplarisch genannt seien hier zum einen die Überlegungen, gegebenenfalls als Minimalziel separate Friedensschlüsse zu bewerkstelligen, sowie zum anderen die Vorgaben, die eigenen Verhandlungsziele sukzessive herunterzuschrauben, um am Ende doch noch einen allgemeinen Frieden zu erreichen. Das vielleicht hervorstechendste Beispiel hierfür ist die in der Geheiminstruktion für den kaiserlichen Prinzipalgesandten Graf Trauttmansdorff 37 Vgl. die kaiserlichen, französischen und schwedischen Instruktionen APW I/1, S. 356, 358, 373 („pax universalis“), 20, 38, 45 und 47 („paix générale“), 234 („almen fredh“), 388, 417 („allgemeiner Frieden“) sowie den Anfang der spanischen Instruktion vom 25. Februar 1645, Konzept (undatiert): Archivo Histórico Nacional (Madrid), Estado, legajo 2880, unfoliiert („paz universal“). 38 Vgl. z.B. APW I/1, S. 49, 188 und 294 sowie für das spanische Beispiel ausführlich Michael Rohrschneider, Sicherheitskonzeptionen in den spanischen Instruktionen zu den Friedenskongressen von Köln und Münster (1636-1645), in: Guido Braun / Arno Strohmeyer (Hg.), Frieden und Friedenssicherung in der Frühen Neuzeit. Das Heilige Römische Reich und Europa. Festschrift für Maximilian Lanzinner zum 65. Geburtstag, Münster 2013, S. 183-209, hier vor allem S. 199-207.
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enthaltene Weisung Kaiser Ferdinands III., im äußersten Notfall sogar ohne Einschluss der spanischen Habsburger Frieden zu schließen, um eine Fortsetzung des Krieges zu vermeiden.39 Diese spektakuläre Separation der beiden Linien des Hauses Habsburg, deren Umsetzung ein großer Kongresserfolg Frankreichs war, zeigt sehr deutlich, wie gerade unter dem Eindruck wachsenden militärischen Drucks und fehlender Ressourcen nach langen Jahren des Krieges aus Gründen der Friedensnotwendigkeit pragmatische Entscheidungen getroffen wurden, die den Erfordernissen der Norm eines universalen Friedensschlusses zwar entgegenliefen, in letzter Konsequenz aber aus Sicht der Akteure nahezu unumgänglich waren. Diese Kompromissbereitschaft belegt auf allgemeiner Ebene die eingangs erwähnte grundsätzliche Friedensfähigkeit der Zeitgenossen. 4. Probleme und Perspektiven der Forschung Die „pax universalis“ als Leitvorstellung auf dem Westfälischen Friedenskongress ist ein Themenkomplex, der noch intensiver erforscht werden muss. Sechs Probleme und Perspektiven seien an dieser Stelle besonders hervorgehoben: (1) Ob und inwiefern der Gedanke einer „pax universalis“ leitende Bedeutung für das konkrete Handeln der mittel- oder unmittelbar an den Friedensverhandlungen beteiligten Akteure hatte, muss noch sehr viel detaillierter anhand der vorliegenden diplomatischen Quellen untersucht werden. Im Rahmen der vorliegenden Studie konnte diese Frage nur exemplarisch anhand der Instruktionen skizziert werden. Noch völlig offen ist beispielsweise, inwiefern sich hierbei konkrete Einflüsse des zeitgenössischen Friedensdiskurses nachweisen lassen. Eine entsprechende Studie, die auch und gerade publizistische Quellen40 einbeziehen müsste, ist zweifellos ein wichtiges Desiderat der Forschung und böte die Möglichkeit, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und nicht zuletzt Interdependenzen von universalistischen Vorstellungen auf praxeologischer und diskursiver Ebene herauszuarbeiten. (2) Wichtige Erkenntnisse sind auch in der Frage zu erwarten, welche konkurrierenden Ordnungsmodelle zeitgenössisch als Alternativen zum Universalismus-Gedanken diskutiert wurden. Traditionell streitet die 39 Vgl. APW I/1, S. 450. 40 Verwiesen sei auf die geplante Habilitationsschrift von Peter Arnold Heuser über die politische Publizistik im Umfeld des Westfälischen Friedenskongresses.
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Forschung beispielsweise darüber, ob Gleichgewichtsvorstellungen handlungsleitende Bedeutung für die Akteure des Friedenskongresses hatten.41 Auch in dieser Frage ist der legitimatorische Aspekt von besonderer Bedeutung, denn die Leitvorstellung einer europäischen „balance of power“ wurde seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von den Trägereliten immer wieder bevorzugt angeführt, um die eigene Politik öffentlich zu legitimieren. Die diesbezüglichen Narrative, Argumentationstechniken und nicht zuletzt auch Ideentransfers eingehend anhand der Quellen zum Westfälischen Friedenskongress zu rekonstruieren und analysieren, wäre eine wichtige Aufgabe künftiger Forschungen. (3) Darüber hinaus können vertiefende Studien einen zentralen Beitrag leisten zu der laufenden Diskussion über die „Europäizität“42 des Westfälischen Friedens und die wichtige Frage, ob und inwiefern das Osmanische Reich in Theorie und Praxis einbezogen wurde. Zwar war der am 24. Oktober 1648 konstituierte Frieden explizit christlich gedacht; dies ändert aber gleichwohl nichts an der Tatsache, dass es sehr wohl Überlegungen der Zeitgenossen gab, das Osmanische Reich in eine neu zu etablierende Staatenordnung einzubinden, denkt man beispielsweise an Émeric Crucés 1623 veröffentlichten Friedensplan in seinem „Nouveau Cynée“.43 Das spannungsreiche Verhältnis zwischen einem „universalen“ Frieden, der letztlich den gesamten Erdkreis erfassen sollte, und einem „christlichen“ Frieden, der nichtchristliche Akteure prinzipiell exkludierte, ist im Hinblick auf den Westfälischen Frieden noch nicht ausgelotet worden. (4) Eingehender zu untersuchen wäre noch die Frage, ob das Streben nach einer „pax universalis“ in paradoxer Weise selbst kriegsfördernde Wirkungen hatte. Für bewährte Instrumente der Friedensstiftung wie Me-
41 Siehe insbesondere Konrad Repgen, Der Westfälische Friede und die Ursprünge des europäischen Gleichgewichts, in: Ders., Von der Reformation zur Gegenwart. Beiträge zu Grundfragen der neuzeitlichen Geschichte, hg. v. Klaus Gotto und Hans Günter Hockerts, Paderborn u.a. 1988, S. 53-66; Wolfgang-Uwe Friedrich, Gleichgewichtsdenken und Gleichgewichtspolitik zur Zeit des Teutschen Krieges, in: Wolf D. Gruner (Hg.), Gleichgewicht in Geschichte und Gegenwart, Hamburg 1989, S. 18-59; siehe jüngst auch Klaus Malettke, Universalmonarchie, kollektive Sicherheit und Gleichgewicht im 17. Jahrhundert, in: Michael Jonas / Ulrich Lappenküper / Bernd Wegner (Hg.), Stabilität durch Gleichgewicht? Balance of Power im internationalen System der Neuzeit, Paderborn 2015, S. 17-34. 42 Vgl. Heinz Duchhardt, Der Westfälische Friede ‒ ein europäischer Friede, in: Ders., Der Westfälische Friede im Fokus der Nachwelt, Münster 2014, S. 1-18. 43 Vgl. Raumer, Ewiger Friede, insbesondere S. 306-310.
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diation und Arbitration konnte bereits nachgewiesen werden, dass ihre Handhabung durchaus die Gefahr implizierte, zur Entstehung neuer bewaffneter Konflikte beizutragen.44 Damit ist erneut die charakteristische Bellizität der Frühen Neuzeit berührt und darüber hinaus die weiterführende Frage, ob es politisch und ethisch überhaupt gerechtfertigt werden kann, Krieg zu führen beziehungsweise zu riskieren, um Frieden herzustellen. Der kurze Hinweis auf die lebhafte internationale Diskussion über die Berechtigung des Abwurfes der Atombomben im Zweiten Weltkrieg, der seitens der USA mit der Zielsetzung legitimiert wurde, einen langen, verlustreichen Krieg gegen Japan vermeiden zu wollen, mag hier als gravierendstes Beispiel zur Veranschaulichung dieser Problematik genügen.45 (5) Die Überlieferungsfülle zum Westfälischen Friedenskongress ist für die Forschung ein Segen. Allein die „Acta Pacis Westphalicae“ umfassen im Druck zehntausende von Seiten, und selbst damit ist letztlich nur ein Bruchteil der zur Verfügung stehenden archivalischen Quellen erfasst. Hier bietet das digitale Zeitalter erweiterte Möglichkeiten, die es erst noch auszuschöpfen gilt. Seit einigen Jahren sind 40 Bände der APW auch digital greif- und vorzüglich durchsuchbar − und zwar kostenlos und jederzeit über die Plattform „APW digital“.46 Mit dieser digitalen Edition liegt ein neues Instrument vor, das insbesondere aufgrund der sich bietenden Möglichkeiten der Suchfunktionen gezielt für semantische Studien zur politischen Verkehrssprache, zu den Leitvorstellungen der Akteure und den damit korrelierenden Narrativen genutzt werden kann. Schon eine einfache ,unscharfe Suche‘ des Begriffs „universal“ ergibt eine Treffermenge von 160 Dokumenten! Hier
44 Siehe dazu Christoph Kampmann, Friedensstiftung von außen? Zur Problematik von Friedensvermittlung und Schiedsgerichtsbarkeit in frühneuzeitlichen Staatenkonflikten, in: Claudia Ulbrich / Claudia Jarzebowski / Michaela Hohkamp (Hg.), Gewalt in der Frühen Neuzeit. Beiträge zur 5. Tagung der Arbeitsgemeinschaft Frühe Neuzeit im VHD, Berlin 2005, S. 245-259. 45 Vgl. den Überblick bei Florian Coulmas, Hiroshima. Geschichte und Nachgeschichte, München 2010, insbesondere S. 98-105. 46 Vgl. http://apw.digitale-sammlungen.de sowie Maximilian Lanzinner / Tobias Schröter-Karin / Tobias Tenhaef, Acta Pacis Westphalicae digital, in: Annette Gerstenberg (Hg.), Verständigung und Diplomatie auf dem Westfälischen Friedenskongress. Historische und sprachwissenschaftliche Zugänge, Köln / Weimar / Wien 2014, S. 251-265.
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lassen sich also exemplarisch die Vorzüge des digitalen Mediums nutzen.47 (6) Eine detaillierte Untersuchung der Frage, mit welchen Mitteln die Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts versucht haben, eine universale Friedensordnung zu konstruieren, mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen hatten und welche Lösungen sie für ihre hochkomplexen Fragen gefunden haben, kann keine konkreten Antworten auf die Frage geben, wie in der gegenwärtigen Staatenwelt Frieden erreicht werden kann. Wohl aber lassen sich generelle Probleme der Friedensforschung mit größerer Tiefenschärfe betrachten: Welche Instrumente stehen zur Friedensstiftung traditionell zur Verfügung? Welche Praktiken der Friedensvermittlung haben sich in der Vergangenheit herausgebildet und mit welchem Erfolg? Wie lassen sich religiös fundierte Kriege beilegen? Welche Rolle spielen mentalitätsgeschichtliche Faktoren, wie zum Beispiel Vorurteile, Feindbilder und Stereotype, im Kontext von Friedensstiftung? Die Frageliste ließe sich problemlos fortsetzen. Um es noch einmal zu betonen: Die Erforschung des Westfälischen Friedenskongresses kann in diesen Fragen keine konkreten Handlungsanweisungen liefern. Sie erlaubt aber exemplarische Einsichten und generiert einen erhöhten Wissensbestand, der nicht nur im Hinblick auf die gegenwärtigen Probleme der internationalen Beziehungen orientierenden Charakter haben kann; vielmehr werden auf diesem Wege auch intensive Einblicke in die grundlegende Frage ermöglicht, wie der Mensch in der Vergangenheit mit schier unlösbaren Konflikten umgegangen ist, die sich aus unterschiedlichen Faktoren zusammensetzten. Das Beispiel 1648 zeigt uns noch heute in aller Deutlichkeit, dass komplexe Probleme in aller Regel auch komplexe und intelligente Antworten erfordern. Dies ist eine Lehre, die wir auch heutzutage beherzigen sollten und die uns davor bewahren kann, auf diejenigen zu hören, die uns in schwierigen Fragen einfache Lösungen versprechen.
47 Vgl. insbesondere mit Blick auf „APW digital“ Dorothée Goetze / Tobias Tenhaef, How to Face the Crisis of Legitimacy: The Transfer and Further Development of Methods of Access from Printed to Digital/Digitized Editions, in: Proceedings of the Third Conference on Digital Humanities in Luxembourg with a Special Focus on Reading Historical Sources in the Digital Age, Vol. 1681 CEUR Workshop Proceedings, Aachen 2016, online unter URL: http://ceur-ws.org/Vol-1681/goetze_ten haef_crisis.pdf [21.1.2017].
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Quellen- und Literaturverzeichnis Acta Pacis Westphalicae. Serie I: Instruktionen. Bd. 1: Frankreich – Schweden – Kaiser. Bearb. von Fritz Dickmann, Kriemhild Goronzy, Emil Schieche, Hans Wagner und Ernst Manfred Wermter, Münster 1962. – Serie III Abteilung B: Verhandlungsakten. Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden. 1. Teil: Urkunden. Bearb. von Antje Oschmann, Münster 1998. Alighieri, Dante, Monarchia. Studienausgabe. Lateinisch / Deutsch, hg. v. Ruedi Imbach, Stuttgart 1989. [Archivo Historico Nacional (Madrid), Estado, legajo 2880, unfoliiert], Spanische Instruktion vom 25. Februar 1645, Konzept (undatiert). Bély, Lucien / Haan, Bertrand / Jettot, Stéphane (Hg.), La Paix des Pyrénées (1659) ou le triomphe de la raison politique, Paris 2015. Boone, Rebecca Ard, Mercurino di Gattinara and the creation of the Spanish Empire, London / Vermont 2014. Bosbach, Franz, Die Kosten des Westfälischen Friedenskongresses. Eine strukturgeschichtliche Untersuchung, Münster 1984. Bosbach, Franz, Monarchia Universalis. Ein politischer Leitbegriff der Frühen Neuzeit, Göttingen 1988. Bosbach, Franz, Eine französische Universalmonarchie? Deutsche Reaktionen auf die europäische Politik Ludwigs XIV., in: Jochen Schlobach (Hg.), Médiations / Vermittlungen. Aspects des relations franco-allemandes du XVIIe siècle à nos jours. Aspekte der deutsch-französischen Beziehungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Études réunies par Michel Grunewald, Bern u.a. 1992, S. 53-68. Braun, Guido, Friedensutopien in der Frühen Neuzeit. Éméric Crucé und die Idee einer supranationalen Friedenssicherungsinstanz ‒ Vorläufer der UNO?, in: Peter Geiss / Peter Arnold Heuser (Hg.), Friedensordnungen in geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive. Unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Bonn 2017, S. 97-116. Brunert, Maria-Elisabeth, Der Westfälische Frieden 1648 ‒ eine Friedensordnung für das Reich und Europa, in: Peter Geiss / Peter Arnold Heuser (Hg.), Friedensordnungen in geschichtswissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Perspektive. Unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Bonn 2017, S. 69-95. Burkhardt, Johannes, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt a.M. 1992. Burkhardt, Johannes, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 24 (1997), S. 509-574. Burkhardt, Johannes, Das größte Friedenswerk der Neuzeit. Der Westfälische Frieden in neuer Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 49 (1998), S. 592-612. Coulmas, Florian, Hiroshima. Geschichte und Nachgeschichte, München 2010. Croxton, Derek, Westphalia. The Last Christian Peace, New York 2013. Dickmann, Fritz, Der Westfälische Frieden, 7. Aufl., hg. v. Konrad Repgen, Münster 1998.
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Universalismen in der Geschichte Russlands und der Sowjetunion Martin Aust
Die Geschichte Russlands und der Sowjetunion ist reich an Universalismen, wenn darunter allgemeine Ordnungsvorstellungen von internationaler Politik, Staat, Gesellschaft und Religion verstanden werden. Dabei soll entweder die Geltung solcher Vorstellungen jenseits der eigenen WirGruppe und Staatsgrenzen durchgesetzt werden oder die eigene innere Organisation an auswärtigen Modellen orientiert werden. Zugleich lässt sich in der Geschichte Russlands wiederholt beobachten, wie Selbstbeschreibungen in Abgrenzung von Universalismen entworfen worden sind. Dieser Beitrag bietet einen Überblick über Universalismen und Abgrenzungen von Universalismen in der Geschichte Russlands seit dem 16. Jahrhundert. Er schließt mit einem Ausblick auf den Stellenwert universalistischer und gegenuniversalistischer1 Konzeptionen im Russland Putins, die als ein Desiderat allerjüngster Zeitgeschichtsschreibung erscheinen. 1. Moskau, das Dritte Rom: die kurzzeitige Expansion im Zeichen eines universalistischen Konzepts 1522 sandte der Mönch Filofej aus Pskov ein Sendschreiben an Michail G. Misjur‘ Munechin, der in Pskov in Diensten des Moskauer Großfürsten Vasilij III. stand. Der Großfürst herrschte in einer für Moskau besonderen Zeit. Im 12. Jahrhundert war die spätere Metropole ein neugegründeter und im ostslawischen Raum vollkommen unbedeutender Ort gewesen. Mit dem Glanz der alten ostslawischen Kapitale Kiev, dem Reichtum der Handelsmetropole Novgorod und der politischen Bedeutung der neuen Herrschaftsorte Vladimir und Suzdal‘ konnte Moskau es im 12. und 13. Jahrhundert nicht aufnehmen. Unter der Oberherrschaft der Mongolen-Tataren hatten es die Fürsten von Moskau mit einer beharrlichen Politik jedoch weit gebracht. Im 14. und 15. Jahrhundert reklamierten sie den Titel 1 Vgl. zum Konzept des Gegenuniversalismus ausführlich den Beitrag von Clemens Albrecht im vorliegenden Band.
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des Großfürsten für sich und galten dem Chan der Goldenen Horde der Mongolen-Tataren als primus inter pares unter den ostslawischen Fürsten. Die Moskauer bauten diese Stellung aus und brachten die übrigen russischen Fürstentümer unter ihre Herrschaft. 1480 kündigten sie dem Chan der Goldenen Horde die Gefolgschaft. Vasilij III. regierte von 1505 bis 1533 von Moskau aus über einen konsolidierten russischen Herrschaftsverband, der sich Novgorod, Pskov, Vladimir, Suzdal‘, Tver‘ und Nižnij Novgorod unterworfen hatte. In dieser Situation erinnerte der Mönch aus Pskov Vasilij III. an seinen Status als rechtschaffenen orthodoxen Herrscher. Er ergab sich aus der biblischen Vier-Reiche-Lehre, die auf das Buch Daniel zurückgeht. In der mittelalterlich-christlichen Interpretation stellt sich die Weltära bis zum Jüngsten Gericht als Abfolge des babylonischen Reiches, des Perserreiches, des Reiches Alexanders des Großen und des Römischen Reiches dar. Westrom war 476 untergegangen, Ostrom eroberten die Osmanen 1453. Die russische orthodoxe Kirche sah damit die Funktion Roms in einer abermaligen translatio imperii von Byzanz auf Moskau übergehen, das im Sinne der Vier-Reiche-Lehre nun als das Dritte Rom gezählt wurde; ein viertes Rom werde es nicht geben. Dies rief der Mönch Filofej mit seinem Schreiben von 1522 dem Großfürsten Vasilij III. in Erinnerung.2 Wie Vasilij III. das Schreiben aufnahm, ist nicht überliefert. Jedoch lässt sich argumentieren, dass der heilsgeschichtlichen Bedeutung Moskaus in der Mitte des 16. Jahrhunderts für eine kurze Zeitspanne handlungsanleitende politische Bedeutung zukam. Sie erhellt sich vor dem Hintergrund gesteigerter Endzeiterwartung vor dem Jahr 1562. Die orthodoxe Hierarchie hatte das Ende der byzantinischen Weltära, das ursprünglich für 1492 angenommen worden war und dann nicht eintrat, nun mit einem Aufschlag von siebzig Jahren auf das Jahr 1562 datiert. Aus dieser Mitte des 16. Jahrhunderts, in der der 1547 zum Zaren gekrönte Ivan IV. herrschte, stammt die Ikone Gesegnet seien die Himmlischen Heerscharen (Ecclesia militans / Blagoslovenno vojsko nebesnogo car’ja). Es handelt sich um eine jener seltenen Ikonen, die das biblische Heilsgeschehen und aktuelles Zeitgeschehen in einem Bild überblenden. Ein dynamisches Geschehen, das aus Sicht des Betrachters von rechts nach links verläuft, verbindet zwei Städte an den Bildrändern der Ikone: rechts heilsgeschichtlich das biblische bren-
2 Peter Hauptmann / Gerd Stricker (Hg.), Die Orthodoxe Kirche in Rußland. Dokumente ihrer Geschichte, (860-1980), Göttingen 1988, Nr. 74, S. 252f. Vgl. zu universalistischen Nutzungen der Daniel-Tradition auch die Beiträge von Michael Rohrschneider und Peter Geiss im vorliegenden Band.
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nende Babylon beziehungsweise das säkulare tatarisch-muslimische Kazan‘, das Ivan IV. 1552 erobert hatte; links das himmlische, paradiesische Jerusalem, beziehungsweise das auserwählte Moskau. Die Dynamik im Bild stellt ein dreigeteilter Zug dar, der sich als himmlische Heerscharen unter Führung des Erzengels Michael wie auch als das üblicherweise in drei Reihen agierende Moskauer Heer unter dem Kommando Ivans IV. lesen lässt. Die Einnahme von Kazan‘ 1552 erhält in der Ikone eine heilsgeschichtliche Bedeutung und hebt Moskau in den Rang des paradiesischen Jerusalems.3 Der Feldzug gegen Kazan‘ 1552 steht dabei nicht für sich allein. Es lässt sich argumentieren, dass alle Kriege Ivans IV. in den 1550er Jahren auch als Religionskriege in Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Weltenendes zu begreifen sind. Die universale Aufgabe des orthodoxen Herrschers lag demzufolge darin, vor dem Jüngsten Gericht expansiv noch so viele nicht-orthodoxe Menschen wie möglich in den Herrschaftsbereich der Orthodoxie zu überführen. In der Tat richteten sich alle Kriege der 1550er Jahre gegen andere Konfessionen: die muslimischen Nachfolgeherrschaften der einstigen Goldenen Horde in Kazan‘ und Astrachan und das protestantische Livland. Eine universalistische Agenda darf hier als handlungsleitendes Muster der Moskauer Politik angenommen werden.4 Gewiss, weitere Faktoren für die Moskauer Entscheidungen zum Krieg lassen sich nicht von der Hand weisen: Die Kontrolle der Wolga und ein Ostseezugang im Baltikum versprachen handelspolitische Vorteile. Auch lässt sich argumentieren, dass die Angriffe auf Kazan‘, Astrachan und Livland Herrschaftsgebilden in Krisen galten, in deren Räumen das aufstrebende Moskau Dominanz herstellen konnte. Diese Aspekte kann eine religionsgeschichtliche Interpretation der Kriege Moskaus in den 1550er Jahren nicht von der Hand weisen. In den religiösen Zusammenhang fügt sich jedoch wiederum sehr trefflich die orthodoxe Zwangsmission unter den muslimischen Tataren unmittelbar nach der Eroberung von Kazan‘. Die Geschichte der Zwangsmission wirft allerdings auch ein erhellendes Licht auf die kurze Dauer universalistischer Handlungsanleitung. Tatarischer Widerstand gegen die Mission und auch das Ausbleiben des Weltenendes 1562 ließen
3 V. M. Sorokatyj, Ikona Blagoslovenno vojnstvo nebesnogo Car’ja. Nekotory aspekty soderžanija, in: Drevnerusskoe iskusstvo. Vizantija i drevnjaja Rus‘. K 100-letiju Andreja Grabara (1896-1996), St. Petersburg 1999, S. 399-417. 4 Reinhard Frötschner, Der Livländische Krieg (1558-82/83) – ein Glaubenskrieg des Moskauer Zartums? Der Krieg im Spiegel der zeitgenössischen offiziellen Moskauer Historiographie, in: Horst Brunner (Hg.), Der Krieg im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Gründe, Begründungen, Bilder, Bräuche, Recht, Wiesbaden 1999 (Imagines Medii Aevi, 3), S. 373-394.
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in Moskau schließlich eine Pragmatik inklusiver Politik angeraten erscheinen. Die Tataren durften ihren muslimischen Glauben behalten und ihre Elite wurde in den Moskauer Adel kooptiert. Hier liegt die Geburtsstunde pragmatischer Moskauer Herrschaftsausübung, die in den folgenden Jahrhunderten ein Kennzeichen des Imperiums werden sollte. Das Moskauer Herrschaftsinteresse stellte politische Stabilität und Loyalität gegenüber dem Zaren an die erste Stelle: religiöse und ethnische Zugehörigkeiten und auch der Export einer universalistischen Agenda traten dahinter zurück.5 2. Die kulturelle Revolution Peters des Großen: Russland schreibt sich in die europäische Zivilisation ein Um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert war das Moskauer Reich von einem Bürgerkrieg erschüttert worden. Die Dynastie der Rjurikiden war 1598 ausgestorben. Der Adel und verschiedene Thronprätendenten waren uneins, wie die Macht neu verteilt werden sollte. Die sich ausbildende Leibeigenschaft barg sozialen Sprengstoff und veranlasste Bauern, sich gegen Adlige zu erheben. Die Nachbarmächte Polen-Litauen und Schweden nutzten die Schwäche Russlands zu Interventionen. Schweden besetzte Novgorod, Polen-Litauen Moskau. Erst 1612 hatte eine russische Landwehr die Interventen aus Moskau vertreiben können. Michail Romanov wurde 1613 von einer Reichsversammlung zum neuen Zaren gewählt. Er begründete die Dynastie der Romanovs, die Russland bis zur Februarrevolution 1917 regieren sollte. Die orthodoxe Kirche zog aus dem Bürgerkrieg den Schluss, dass das Moskauer Reich sich auf seine eigenen Werte besinnen und vor schädlichen Einflüssen von außen abschließen müsse. Nach 1613 stand die Innenpolitik im Zeichen der Restauration und die Außenpolitik unter dem Stern der Zurückhaltung. Doch an vielen Orten durchbrachen Menschen im Russland des 17. Jahrhunderts den orthodoxen Versuch, den Status quo zu konservieren und das Land nach außen abzuschließen. Paradoxerweise war die Kirche daran selbst beteiligt. Ordnungsversuche der orthodoxen Liturgie und Gesangbücher ließen die Obrigkeit der Kirche in der Ukraine ausgebildete orthodoxe Geistliche ins Land holen, die sich an der Kiever Akademie mit der katholischen Gegenreformation auseinandergesetzt hatten. Auf ihren
5 Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall 1552-1917, München 1992, S. 29-36.
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Einfluss gehen kirchliche Bildungsprojekte und erste theologische Dispute im späten 17. Jahrhundert im Moskauer Russland zurück. Orthodoxe Hierarchen aus dem osmanischen Herrschaftsbereich (Jerusalem, Konstantinopel, Antiochien) reisten nach Moskau, um den Zaren an seine Aufgaben in der orthodoxen Ökumene als einzigen orthodoxen Herrscher zu erinnern. Dies trug wesentlich zur Preisgabe des außenpolitischen Minimalismus bei, führte zur Moskauer Unterstützung der ukrainischen Kosaken gegen die Adelsrepublik Polen-Litauen und resultierte schließlich in der Einrichtung eines autonomen ukrainischen Hetmanats im Moskauer Staat. Im Außenhandel nahm die Verflechtung Moskaus mit Märkten in Europa und Asien zu. Einige russische Adlige wiederum begannen europäische Bücher zu sammeln. Am Zarenhof Aleksej Michajlovičs trug man polnische Mode und ließ zum Entsetzen der orthodoxen Geistlichkeit barocke Theaterstücke aufführen. In der Moskauer Ausländervorstadt waren europäische Experten – Ärzte, Ingenieure, Handwerksmeister, Kaufleute – untergebracht. Die orthodoxe Kirche hielt es für schädlich, wenn diese Europäer frei ihren Wohnsitz in Moskau hätten wählen dürfen. Die Ausländervorstadt war einer der bevorzugten Orte des jungen Petr Alekseevič, der später als Zar Peter der Große von sich reden machen sollte. In der Ausländervorstadt wurde der Funke der Neugierde auf Europa im künftigen Herrscher über das Reich geweckt.6 1697/98 begab Peter I. sich auf die sogenannte Große Gesandtschaft, die in eine Vielzahl europäischer Länder führte, u.a. nach Preußen, Österreich, die Niederlande und England. Das diplomatische Ziel der Reise, eine große Koalition gegen das Osmanische Reich zu schmieden, erfüllte sich nicht. Nachhaltige Wirkung hatte die Große Gesandtschaft als Bildungserlebnis Peters I., der Wissenschaften, Künste und vor allem das Handwerk zu schätzen wusste. Nach Russland zurückgekehrt ordnete er an, dass eine Schar russischer Adliger es ihm gleichtun sollte, die er auf Ausbildungsreise nach Europa schickte.7 Von 1700 bis 1721 führte der Zar Krieg gegen die europäische Großmacht Schweden und konnte im Frieden zu Nystad 1721 Russlands Ostseeherrschaft absichern. Neben dem Krieg fand der Zar noch Zeit für eine Vielzahl von Anordnungen und Reformprojekten, die sich zu einer kulturellen Revolution verdichteten und seine Herrschaft als eine interessante 6 Sergej F. Platonov, Moskva i zapad v XVI-XVII vekach, Leningrad 1925; Hans-Joachim Torke, Moskau und sein Westen. Zur „Ruthenisierung“ der russischen Kultur, in: Berliner Jahrbuch für Osteuropäische Geschichte 1 (1996), S. 101-120. 7 Jurij M. Lotman, Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I., dt. Köln 1997, S. 250ff.
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Epoche für universalistische Vorstellungen erscheinen lassen.8 Im Einzelnen gründete Peter I. 1703 St. Petersburg, die neue Hauptstadt des Reiches. Das Petersburger Stadtbild des 18. Jahrhunderts zitierte urbane Muster Amsterdams, Venedigs und Roms. Mit dem von orthodoxen Kirchen geprägten Bild Moskaus hatte es nichts gemeinsam. Im Rückblick auf die Herrschaft Peters sprach der italienische Graf Algarotti davon, der Zar habe an der Ostsee Russland „ein Fenster nach Europa“ geöffnet.9 Das über die Jahrhunderte im Regierungsapparat gewachsene System der Moskauer Zentralämter vereinfachte Peter und überführte es in eine Ordnung von Kollegien, die sich am Vorbild der schwedischen Regierung orientierten.10 In der höfischen Festkultur brach er aus den tradierten Bahnen der russischen Orthodoxie aus und stellte auf das in Europa gängige antik-barocke Zeichensystem um. Weitere antikisierende Elemente traten hinzu. An die Spitze der Regierung setzte Peter eine Einrichtung, die er „Senat” nannte. Nach dem ruhmvollen Friedensschluss mit Schweden 1721 nahm er den Titel „Imperator” an und ließ sich „pater patriae” nennen. Die Gründung einer Akademie der Wissenschaften gab er noch in Auftrag, starb jedoch 1725 zu früh, um noch ihre Eröffnung miterleben zu können. Friedrich Christian Weber, der hannoversche Gesandte in Russland, beschrieb das Zarenreich unter Peter dem Großen als ein verändertes Russland.11 In der Summe liefen die Veränderungen Peters I. darauf hinaus, das Zarenreich kulturell an Europa, beziehungsweise vor allem am protestantischen Nordwesten Europas zu orientieren. Universalismusgeschichtlich gesprochen hatte Russland unter Peter I. kein eigenes universalistisches Projekt, das in die Welt getragen werden sollte. Der Zar suchte in einem gewaltigen Akt der Umgestaltung ebenbürtigen Anschluss an eine europäische Zivilisation, die im Laufe der folgenden zwei Jahrhunderte in immer stärkerem Maß ein universalistisches Sendungsbewusstsein ausbilden sollte.
8 James Cracraft, The Petrine Revolution in Culture, Cambridge/MA 2004. 9 Zit. nach Klaus Zernack, Polen und Russland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994, S. 236. 10 Michael Schippan, Die Einrichtung der Kollegien in Russland zur Zeit Peters I., Wiesbaden 1996. 11 Friedrich Christian Weber, Das veränderte Russland, Frankfurt a.M. 1721.
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3. Europäischer Universalismus und Gegenuniversalismen im langen 19. Jahrhundert Die Bezeichnung des 19. Jahrhunderts als eines „langen” Jahrhunderts von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg ist seit geraumer Zeit und mit guten Gründen in die Kritik geraten.12 Der Begriff des langen 19. Jahrhunderts übergeht die weltgeschichtliche Umbruchzeit von 1750 bis 1850, in der vor allem Großbritannien und die USA eine Öffnung Asiens erzwangen und sich die Weltgeltung Europas ankündigte. Das gleiche gilt für die Dynamik der Globalisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die im Begriff des „langen” 19. Jahrhunderts verloren geht. Damit nicht genug, bringt die Rede vom „langen” 19. Jahrhundert auch Wahrnehmungen der Zeitgenossen nicht zum Ausdruck, wie sie etwa in Begriffen des Viktorianischen Zeitalters oder des Fin de Siècle vorliegen. Für die Diskussion des Stellenwertes von universalistischen Projekten in der Geschichte Russlands hat die Vorstellung eines „langen” 19. Jahrhunderts jedoch eine gewisse Berechtigung. In russischen Beobachtungen Europas und Selbstbeschreibungen kommt der Französischen Revolution in der Tat eine rahmende Funktion zu, die einen Bogen von 1789 bis 1917/18 spannt. Die Gewalt in der Französischen Revolution führte unter den Gebildeten Russlands zu ersten Zweifeln an der Lehrerrolle Europas gegenüber dem russischen Schüler, die im 18. Jahrhundert als Konstante zu beobachten gewesen war.13 1917 wiederum waren in den Russischen Revolutionen Analogien zur Französischen Revolution ein gängiges Mittel von Selbstbeschreibung und Orientierung. Den Sturz der Monarchie in der Februarrevolution 1917 begleiteten Gesänge der Marseillaise auf den Straßen. Die Menschen redeten sich als citoyen und citoyenne (graždanin, graždanka) an. Ende des Jahres 1917 sahen die Bol’ševiki es als einen großen Erfolg an, sich länger als die zwei Monate währende Pariser Kommune von 1870/71 an der Macht gehalten zu haben.14
12 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, Kapitel II. Zeit: Wann war das 19. Jahrhundert?. 13 Denis Sdvižkov, Nos amis les ennemies. Über die russisch-französischen Beziehungen von der Revolution 1789 bis zum Krimkrieg 1853-56, in: Martin Aust / Daniel Schönpflug (Hg.), Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2007, S. 36-60. 14 Martin Aust, Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium, München 2017, S. 102, 151f.
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Die Zeitspanne von 1789 bis 1917 stellt sich in der Geschichte Russlands als das Jahrhundert dar, das die größte synchrone Vielfalt an universalistischen und gegenuniversalistischen Positionen hervorgebracht hat. Das hat viel mit dem Wandel von Gesellschaft und politischer Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert zu tun. Die Deutungsmacht über die Geschicke Russlands lag nicht mehr exklusiv bei hohen Geistlichen und einer Handvoll Beratern des Zaren am Hof. Die Entstehung der Intelligenz als sozialer Gruppe ab den 1830er Jahren, die Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Wissenschaften an der Akademie und den Universitäten, die Zunahme von Printmedien, das Wachstum des Buchmarktes und eine nicht vollständige, doch nicht zu vernachlässigende Alphabetisierung vor allem im späten 19. Jahrhundert – diese Faktoren begünstigten Debatten über das Selbstverständnis Russlands, über sein Verhältnis zu Europa, zunehmend auch Asien und über seine Positionierung in der Welt. Drei Grundtendenzen lassen sich dabei mit Blick auf Universalismen und Gegenuniversalismen beobachten. (1) Über das gesamte 19. Jahrhundert sind russische Abgrenzungen zunächst von der Französischen Revolution und später von Europa zu erkennen, die sich als gegenuniversalistische Entwürfe zusammenfassen lassen. Von der Französischen Revolution bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts stand vor allem in der Politik Russlands die Abgrenzung von Revolution, Konstitution und Nation im Vordergrund. In dem Maß, in dem ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts die Intelligenz publizistische Debatten prägte, gewann die Unterscheidung von Europa und Russland als Zivilisationen Bedeutung im gegenuniversalistischen Feld. Als in Polen-Litauen die Reformbemühungen des Königs Stanisław August Poniatowski und des Reichstags (sejm) am 3. Mai 1791 in der Verabschiedung der ersten geschriebenen Verfassungsurkunde Europas, dem Regierungsstatut (ustawa rządowa) kulminierten, bezeichnete die russländische Kaiserin Katharina II. diesen Vorgang als Ausbreitung der „jakobinischen Pest” an der Weichsel.15 In den Augen des offiziellen Russlands expandierte die Französische Revolution nach Osten. Nachdem Russland maßgeblichen Anteil an der Zurückschlagung des napoleonischen Revolutionsexports in Gestalt der Bildung eines französischen Empire in Europa gehabt hatte, legte Alexander I. 1815 den Plan einer Heiligen Allianz als Gegenentwurf zu einem Europa der sich revolutionär bildenden Nationen vor. Statt ihrer schwebte dem Zaren ein transkonfessionelles Bündnis der Monarchen vor, die im Geiste christlicher Brüderliebe vereint ihre Völker
15 Zernack, Polen und Russland, S. 290.
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wohlwollend beherrschen sollten. Metternich stutzte den Plan auf ein Niveau zurück, das keine gesamteuropäische Bedeutung hatte und sich in einem symbolischen Bündnis der drei schwarzen Adler Preußens, Habsburgs und Russlands erschöpfte.16 Die russischen Niederschlagungen des Dekabristenaufstandes in Russland 1825 – einer Gruppe von Offizieren, die die Einführung einer Konstitution forderten –, des polnischen Novemberaufstandes 1830 und der Revolution in Ungarn 1849 standen ganz im Zeichen der russischen Abwehr von Revolution, Konstitution und Nation.17 Je weiter das 19. Jahrhundert jedoch voranschritt, desto deutlicher wurde es, dass die Kategorie der Nation sich nicht dauerhaft von Russland würde fernhalten lassen. Dem in der Revolution von 1830 aktualisierten Wahlspruch liberté, égalité, fraternité setzte der Bildungsminister des Zarenreiches Uvarov 1833 die Trias von Autokratie, Orthodoxie und Volkstümlichkeit (samoderžavie, pravoslavie, narodnost‘) entgegen. Im Begriff der Volkstümlichkeit kommt die defensive Haltung Russlands gegenüber dem Nationsbegriff zum Ausdruck. Im Russischen hebt der Begriff narodnost‘ auf Sprache, Sitten und Gebräuche ab und lässt sich mithin als Variante einer Vorstellung von Kulturnation auffassen. Die politische Nation als staatsbürgerliche Gesellschaft bezeichnet demgegenüber im Russischen das Lehnwort nacija, dem Uvarov den unpolitischen Begriff der Volkstümlichkeit entgegensetzte. An die Stelle einer Blockade des Wortfeldes Nation war die Auseinandersetzung mit ihm getreten.18 Die sich in den 1830er Jahren ausbildende Intelligenz beschäftigte sich in ihren Diskussionen mit Themen, die nach einer kategorialen Unterscheidung zwischen Russland und Europa fragten. Ab den 1830er Jahren lassen sich die opponierenden Gruppen von Westlern und Slawophilen – beides Fremdbezeichnungen – beobachten. Während die Westler sich dem Erbe Peters des Großen verpflichtet fühlten und Russland weiterhin auf einem an Europa orientierten Reformweg sahen, setzten die Slawophilen einen Akzent auf der Eigentümlichkeit (samobytnost‘) Russlands. In den Augen der Slawophilen waren in Europa Kräfte von Verfall, Niedergang und sozialer Verwerfung am Werk. Dieses Bild Europas kontrastierten sie mit russischen Werten von orthodoxer Gemeinschaft (sobornost‘) und dem
16 Ebd., S. 311-313. 17 Diese drei Ereignisse fallen alle in die Regierungszeit Nikolaus’ I. (1825-1855): William Bruce Lincoln, Nikolaus I. von Rußland 1796-1855, dt. München 1981. 18 Aleksej I. Miller, Priobretenie neobchodimoe, no ne vpolne udobnoe: Transfer ponjatija nacija v Rossiju (načalo XVIII - seredina XIX v.), in: Martin Aust / Aleksej Miller / Rikarda Vulpius (Hg.), Imperium inter pares. Rol‘ transferov v istorii Rossijskoj Imperii, Moskau 2010, S. 42-66.
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Bündnis zwischen Zar und einfachem Volk.19 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts trat eine andere Spielart der russischen Abgrenzung von Europa hinzu. Sie richtete ihren Blick nach Asien und wollte eine russischasiatische Gemeinsamkeit in der Abgrenzung von europäischer Moderne und europäischem Kolonialismus erkennen.20 Für diese Gruppe hat sich die Bezeichnung Ostler/Orientalisten (vostočniki) eingebürgert. Sie blendete die strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen britischer Kolonialherrschaft in Indien und Russlands kolonialem Projekt in Turkestan aus und gab sich dem Glauben hin, dass anders als das Britische Empire Russland andere Ethnien nicht unterdrücke, sondern in seinem multiethnischen Reichsverband integriere. Die Topoi von gewaltsamer britischer Expansion und natürlicher russischer Ausweitung waren weit über den Kreis der vostočniki verbreitet. Sie liegen beispielsweise Vasilij Ključevskijs Gesamtdarstellung russischer Geschichte aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zugrunde.21 (2) Eine zweite Tendenz des 19. Jahrhunderts liegt in der zunehmenden materiellen und ideellen Verflechtung mit Europa und Stimmen, die dies ausdrücklich gutgeheißen haben.22 Unter dem Zaren Alexander I. stellte sich in der napoleonischen und postnapoleonischen Zeit der Westen des Reiches als ein Experimentierfeld europäisch orientierter Reformpolitik dar. Das Großfürstentum Finnland war seit 1809 allein in einer Personalunion mit Russland verbunden und regelte seine inneren Angelegenheiten im finnischen Landtag. Dem russischen Teilungsgebiet Polens, das nominell als Königreich Polen im Besitz des Zaren geführt wurde, gewährte Alexander I. 1815 eine eigene Verfassung, die ein Parlament (sejm) und ein eigenes Heer vorsah. In den baltischen Ostseeprovinzen hob Alexander I. 1818 die Leibeigenschaft der Bauern auf. Auch die Großen Reformen im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts waren noch von oben angestoßen und
19 Eine Auswahl grundlegender Texte aus dem 19. Jahrhundert findet sich in: Dieter Groh / Dmitrij Tschižewskij (Hg.), Europa und Rußland. Texte zum Problem des westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses, Darmstadt 1959. 20 David Schimmelpenninck van der Oye, Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration, New Haven/CT 2010. 21 Vera Tol’c, Russkie vostokovedy I obščeevropejskie tendencii razmyšlenijach ob imperijach konca XIX – načala XX veka, in: Aust / Miller / Vulpius (Hg.), Imperium inter pares, S. 266-307. 22 Überblick bei: Martin Aust, Russland und Europa in der Epoche des Zarenreiches (1547-1917), in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2015-11-24, Abschnitte 4 und 5, online unter URL: http://www.ieg-ego.eu/austm-2015-de URN: urn:nbn:de:0159-201511091 9 [6.6.2017].
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fügen sich in eine europäische Reformgeschichte. Alexander II. hatte dem Adel mitgeteilt, es sei besser, die Leibeigenschaft in eigener Regie von Staat und Adel abzuschaffen, anstatt darauf zu warten, bis sie sich revolutionär von unten selber aufhebe. Der Befreiung der leibeigenen Bauern im Februarmanifest von 1861 ließ Alexander II. weitere Reformen folgen: 1864 die Justizreform und die Reform der Lokalverwaltung (zemstvo) auf dem Land wie auch in der Stadt, wo städtische Parlamente (gorodskaja duma) eingeführt wurden. 1874 folgte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Die Großen Reformen setzten eine soziale Dynamik frei, in der eine Reihe von Akteuren ihre Agenda an europäischen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und politischer Partizipation ausrichtete. Die Justizreform hatte den öffentlichen Gerichtsprozess und den Beruf des Anwaltes in Russland begründet. In den darauf folgenden Jahrzehnten machte eine große Gruppe von Juristen sich die Vorstellung vom liberalen Rechtsstaat zu Eigen. Die Rückbesinnung auf die Justizreform von 1864 begründete ein Rollenverständnis vieler Juristen, Gesellschaft und Rechtsstaatlichkeit gegenüber der Obrigkeit zu vertreten und zu schützen.23 Die Lokalverwaltungen wiederum beschäftigten Ärzte, Ingenieure und Lehrer als Angestellte, die lokales fachspezifisches Engagement zunehmend in translokale politische Verantwortung übersetzten. Sie stellen ein wichtiges Reservoir der liberalen Bewegung im Zarenreich und eine bedeutende Akteursgruppe in der Revolution von 1905 dar. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eröffneten Eisenbahn- und Dampfschiffsverbindungen der russischen Exportwirtschaft neue Wege auf internationale Märkte. Im späten 19. Jahrhundert brachte der Investitionsbedarf der Industrialisierung eine zunehmende Verflechtung Russlands mit internationalen Kapitalmärkten und Kreditgebern mit sich. Russland war vielfältig mit Europa verbunden, und es wuchs die Zahl der Akteure in Russland, die diesen Umstand bewusst reflektierten und kommentierten. Vielen Beobachtern außerhalb des slawophilen Feldes erschien dabei Russland zunehmend mehr als eines von vielen Ländern in Europa, das Anteil an einer rasanten Entwicklung hatte. Der geschichtsphilosophische Gegensatz von Russland und Europa löste sich für solche Beobachter auf, die sektoral – industriell, agrarwirtschaftlich, infrastrukturell, wissenschaftlich – auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Russland und an23 Carla Cordin, Von Schreibanlässen und Erinnerungsfunktionen. Erkenntnisgewinn aus autobiographischer Praxis von Juristen im späten Zarenreich, in: Martin Aust / Frithjof Benjamin Schenk (Hg.), Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln 2015, S. 175-204.
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deren Ländern in Europa schauten. Bereits der Synthese russischer Geschichte von Michail Solov’ev in der Mitte des 19. Jahrhunderts lag das Axiom zugrunde, Russland als Variation eines allgemeinen europäischen Typus zu begreifen.24 (3) Eine dritte universalistische Grundtendenz ist in Russlands Teilhabe an der Globalisierung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu beobachten.25 Das Zarenreich gehörte 1868 zu den Gründungsmitgliedern der Internationalen Telegraphenunion26 und war 1874 ebenfalls an der Etablierung der Internationalen Postunion beteiligt.27 Im Oktober 1884 nahm eine Delegation Russlands in Washington an der Konferenz teil, die den Null-Meridian festlegte und die Welt in bis heute gültige Zeitzonen einteilte.28 Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, als die Transsibirische Eisenbahn ihrer Vollendung entgegenschritt, favorisierte Russlands Finanzminister Sergej Witte eine noch weitergehende Schienenverbindung. Von einer Eisenbahnverbindung zwischen den USA und Russland über die Beringstraße erhoffte er sich, einen Großteil des über den Atlantik laufenden Warenverkehrs auf einen transkontinentalen Schienenstrang umzuleiten, der Russlands Anteil am Weltverkehr signifikant erhöht hätte – so das Projekt realisiert worden wäre.29 Der russische Diplomat und Völkerrechtler Fedor Martens wiederum spielte eine wichtige Rolle in der Weiterentwick24 Mark Bassin, Turner, Solov’ev, and the ‘Frontier Hypothesis‘: The Nationalist Signification of Open Spaces, in: Journal of Modern History 65 (1993), S. 473-511. 25 Martin Aust (Hg.), Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte 1851-1991, Frankfurt a.M. 2013; Ders., New Perspectives on Russian History in World History, in: Kritika 17,1 (2016), S. 139-150. 26 Marsha Siefert, „Chingis-Khan with the Telegraph“. Communications in the Russian and Ottoman Empires, in: Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen (Hg.), Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011, S. 78-108, hier S. 96; Madeleine Herren, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009, S. 21. 27 Die Postunion wurde am 9. Oktober 1874 in der Schweiz in Bern gegründet. [Anonym], Vertrag, betreffend die Gründung eines allgemeinen Postvereins, zit, nach URL: http://de.wikisource.org/wiki/Vertrag,_betreffend_die_Gründung_eines_allgemeinen_Postvereins [19.6.2015]. 28 [Anonym], International Conference Held at Washington for the Purpose of Fixing a Prime Meridian and Universal Day, October 1884. Protocols of the Proceedings, Washington 1884, online unter URL: http://www.gutenberg.org/files/17759/ 17759-h/17759-h.htm [19.6.2015]. 29 Frithjof Benjamin Schenk, Das Zarenreich als Transitraum zwischen Europa und Asien: Russische Visionen und westliche Wahrnehmungen um die Jahrhundertwende, in: Aust (Hg.), Globalisierung imperial und sozialistisch, S. 41-63.
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lung des Völkerrechts im späten 19. Jahrhundert. Internationale Rechtsfelder wie das humanitäre Völkerrecht zur Zähmung des Krieges und die Begründung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit auf den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 verdanken Fedor Martens wichtige Impulse.30 Russlands Teilhabe an infrastrukturellen Vernetzungen und Normierungen der Welt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert schufen unter den Eliten des Zarenreiches ein Bewusstsein, Teil einer europäischen Trägergruppe der Vermessung und Beherrschung der Welt zu sein. Beispielhaft sei dafür auf die Reiseberichte verwiesen, die die Fürstin Ol’ga Aleksandrovna Ščerbatova im späten 19. Jahrhundert über ihre Reisen nach Palästina, Syrien, auf die arabische Halbinsel, nach Indien sowie Java veröffentlichte.31 Sie lag damit ganz auf der Linie, die Fedor Dostoevskij in seinem Tagebuch eines russischen Schriftstellers formuliert hatte: in Europa stets unter Rückständigkeitsverdacht gestellt, kamen Russen nach Asien in dem Bewusstsein, dort als Träger der zivilisatorischen Mission Europas aufzutreten.32 4. Revolution und Dekolonisation – zwei sowjetische Universalismen und ihre pragmatischen Grenzen Die Sowjetunion verkörperte zwei universalistische Projekte, von denen eines viele Jahrzehnte größte politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit fand. Die marxistische Meistererzählung von der Geschichte als Abfolge von Klassenkämpfen und der Teleologie des Kommunismus als Herrschaft des Proletariats stand von Anbeginn der Machtübernahme der Bol’ševiki im Herbst 1917 im Fokus von Selbstbeschreibungen und Fremdwahrnehmungen des sozialistischen Experiments.33 Die Revolution in Berlin 1918/19, die kurzlebigen Räterepubliken in München und Budapest 1919, die Gründung der Dritten, das heißt Kommunistischen Internationale, der letztlich erfolglose Vorstoß der Roten Armee bis vor die Tore War-
30 Martin Aust, Völkerrechtstransfer im Zarenreich. Internationalismus und Imperium bei Fedor F. Martens, in: Osteuropa 60, 9 (2010), S. 113-125. 31 O. A. Ščerbatova, Po Indii i Cejlonu. Moi putevye zametki v 1890-1891 gg., Moskau 1892. Dies., V strane vulkanov. Putevye zametki na Jave 1893 goda, St. Petersburg 1897. Dies., Verchom na rodine beduinov v poiskach za krovnymi arabskimi lošad’mi, St. Petersburg 1903. 32 Auszugsweise in: Groh / Tschižewskij, Europa und Rußland, S. 472-511. 33 Gerd Koenen / Lew Kopelew (Hg.), Deutschland und die russische Revolution 1917-1924, München 1988.
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schaus und der Kongress der Völker des Orients in Baku 1920 – sie alle waren Momente, in denen die Bol’ševiki sich dem Ziel der Weltrevolutionen einen Schritt näher wähnten. Die Weltrevolution blieb jedoch eine universalistische Idee der Bol’ševiki. Es handelte sich um ein ausgesprochen ideologisches Projekt. Es brachte über die Welt verteilt linke Faszination und konservative wie marktradikale Gegenkräfte gleichermaßen hervor. Reisen ausländischer Schriftsteller in die junge Sowjetunion der 1920/30er Jahre waren – selbst auf dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors – ein von der Sowjetführung gerne genutztes Mittel, um ein Bild des sowjetischen Sozialismus in die Welt zu transportieren. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellen Debatten europäischer Intellektueller über den Sozialismus im Angesicht der Interventionen der Sowjetunion in der DDR 1953 und Budapest 1956 sowie des Warschauer Paktes in Prag 1968 sowie schließlich in Anbetracht der Revolutionen in Ostmitteleuropa 1989 das Vergehen einer Illusion – in den Worten François Furets „le passé d’une illusion“ – dar. Die Zukunftserwartung linker Emanzipation verwandelte die Sowjetunion in die Geschichte von Gewalterfahrung, Ernüchterung und Enttäuschung.34 Von längerer und nachhaltigerer ideengeschichtlicher Prägung war demgegenüber die Vorstellung vom Kapitalismus in den USA in Abgrenzung von der Sowjetunion und ihrem Wirtschaftssystem. Im 19. und auch noch frühen 20. Jahrhundert hatte der Begriff Kapitalismus allein zum sozialistischen Wortschatz gehört. Erst in Abgrenzung vom sowjetischen Experiment wurde der Begriff Kapitalismus zu einer Vokabel amerikanischer Selbstbeschreibung. Die Bücher der Emigrantin Ayn Rand aus den 1920er Jahren formulierten die Idee des Kapitalismus als freiem, unreguliertem und marktorientiertem System in Opposition zum sowjetischen, staatsgelenkten Experiment. Sie gehörten zur prägenden Lektüre amerikanischer Entscheidungsträger wie dem Vorsitzenden der Federal Reserve Alan Greenspan und etablierten ein kapitalistisches Selbstverständnis, das sich viele Präsidenten der USA zu Eigen machten: Ronald Reagan, George H. W. Bush und Bill Clinton sind hier zu nennen. Noch im Angesicht der Finanzkrise im November 2008 hob Präsident George W. Bush die Vorzüge eines vollkommen freien und unregulierten Kapitalismus im Kontrast zur Performanz der Sowjetwirtschaft hervor.35 34 François Furet, Le passé d‘une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle, Paris 1995. 35 Steven G. Marks, „Im russischen Spiegelreich“: Wie amerikanische Vorstellungen des Kapitalismus vom sowjetischen Kommunismus geprägt wurden, in: Aust (Hg.), Globalisierung imperial und sozialistisch, S. 333-352.
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Das zweite universalistische Projekt der Bol’ševiki zielte auf die Dekolonisation und das Selbstbestimmungsrecht der Völker.36 Es handelte sich in den Augen Lenins um ein revolutionäres Instrument, mit dem sich der Imperialismus kapitalistischer Mächte aushebeln lassen sollte. Bereits im Ersten Weltkrieg hatte Lenin entsprechende Vorstellungen formuliert. Nachdem sich die auf den amerikanischen Präsidenten Wilson projizierten Hoffnungen auf Dekolonisation in Asien 1918/19 nicht erfüllt hatten, richteten Akteure von Nationsbildung und Dekolonisation außerhalb Europas ihre Blicke zunehmend auf das revolutionäre Sowjetrussland und dann die junge Sowjetunion. Als Marxisten hatten die Bol’ševiki ein ambivalentes Verhältnis zur Nation. In ihren Zukunftsvorstellungen eines proletarischkommunistischen Internationalismus hatten Nationen keinen Platz. Nationen waren ein Überbauphänomen des Kapitalismus. Der Kapitalismus wiederum erschien manchen Bol’ševiki als ein Modernisierungsstadium, das der Geschichtsverlauf nicht überspringen konnte. Insofern waren Nationen kurz- und mittelfristig als Transporteure gesellschaftlichen Fortschritts tolerierbar. Lenin hatte zudem noch eine andere Perspektive auf das Phänomen Nation. In seinen Augen waren Imperien „Völkerkerker”, in denen eine große Nation die Rolle des Gefängniswärters spielte – im Falle des Zarenreiches die russische Nation, so Lenin. Vor diesem Hintergrund sprach Lenin sich entschieden für einen emanzipatorischen Nationalismus vormals unterdrückter Völker aus. Hier gingen in Lenins Gedankenwelt Nationsbildung, Revolution und Dekolonisation ein Zweckbündnis ein. Daraus resultierte in der jungen Sowjetunion eine Nationalitätenpolitik, die die einzelnen Unionsrepubliken wie die belarussische, die ukrainische und andere als Nationsbildungsprojekte auffasste. Unterhalb der Ebene der Unionsrepubliken gab es weitere territoriale Autonomien von kleinen Nationen. Die Nation, der zunächst eine prominente Rolle versagt blieb, war die russische. Lenin wollte nicht abermals ein – wie er es titulierte – großrussisch-chauvinistisches Reich schaffen. So wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu einer universalistischen Handlungsmaxime der Sowjetunion der 1920er Jahre. Im Inneren brach Stalin um 1930 mit diesem Prinzip. Die 1930er Jahre erlebten eine Aufwertung der russischen Nation als führender Ethnie in der Sowjetunion. International blieben das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und die Dekolonisation jedoch Teil der sowjetischen Rhetorik. Beide universalistische Projekte, die proletarische Weltrevolution und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, verfolgte die Sowjetführung nicht
36 Zum folgenden als Überblick: Aust, Die Russische Revolution, S. 202-228.
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mit ideologischer Priorität, sondern balancierte sie ein um das andere Mal im Lauf ihrer Geschichte mit herrschaftspragmatischen Ansätzen aus. Die gesamte Geschichte sowjetischer Außenpolitik ist ein permanenter Abgleich zwischen ideologischen und herrschaftspragmatisch-machtpolitischen Erwägungen.37 Bereits 1920 war es den Bol’ševiki wichtiger, ein Handelsabkommen mit Großbritannien zu schließen, als die revolutionäre Agenda des Kongresses der Völker des Orients vollumfänglich in Asien umzusetzen. Auf britischen Druck hin nahm Moskau einige Punkte von seiner asiatischen Propaganda-Agenda zurück. Ähnliches wiederholte sich im Kalten Krieg. Das Ringen um internationale Studierende bewog die Moskauer Führung dazu, an der Moskauer Universität der Völkerfreundschaft, der sowjetischen Hochschule für Studierende aller Länder, die ansonsten an sowjetischen Hochschulen obligatorischen Kurse in Marxismus-Leninismus aus dem Curriculum zu streichen.38 5. Auf der Suche nach Russlands Ort in einer multipolaren Welt – gegenuniversalistische Konzeptionen in Putins Russland 1991 verschwand die Sowjetunion von der Weltbühne der Geschichte. In der europäischen Euphorie der frühen 1990er Jahre mochte es jedoch so aussehen, als wenn Gorbačevs Wort vom gemeinsamen Haus Europa sich auch für die Russländische Föderation noch erfüllen könnte. 1994 veröffentlichte der Berliner Osteuropahistoriker Klaus Zernack ein Buch mit dem Titel: Polen und Russland – zwei Wege in der europäischen Geschichte. Mit dem Ende der Sowjetunion wähnte Zernack Russland von der Last des Imperiums befreit und Polen mehreren Jahrhunderten der Fremdbestimmung zunächst durch die Teilungsmächte der Adelsrepublik im 18./19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert durch die Diktaturen des Nationalsozialismus und der Sowjetunion entronnen. Die Geschichten Polens und Russlands würden fortan als die von zwei Nationen in Europa verlaufen.39 Tempi passati: in der dritten Präsidentschaft Vladimir Putins stellen sich die Dinge anders dar. Am 18. März 2014 hielt Putin vor der Föderalen Versammlung Russlands im Kreml‘ eine Rede, in der er Geschichte und Ge37 Immer noch lesenswert: Dietrich Geyer (Hg.), Sowjetunion. Außenpolitik, 3 Bde., Köln 1972-1976. 38 Tobias Rupprecht, Gestrandetes Flaggschiff. Die Moskauer Universität der Völkerfreundschaft, in: Osteuropa 1 (2010), S. 95-114. 39 Zernack, Polen und Russland.
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genwart auf einen Nenner brachte: die westliche und europäische Ausgrenzung und Gängelung Russlands. In einem weiten historischen Bogen beschrieb Putin Russland als belagerte Festung. Die anschließend vollzogene Unterschrift des Präsidenten unter die Eingliederung der Krim in die Russländische Föderation erschien aus Putins Perspektive als folgerichtiger Schritt der Selbstbehauptung Russlands.40 Russische Völkerrechtler beeilten sich anschließend, diesen Schritt als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu rechtfertigen. Völkerrechtler und Politiker aus den USA, Europa und der Ukraine sehen in dem Schritt eine völkerrechtswidrige Annexion der Krim, die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine und insgesamt die russische Infragestellung der Nachkriegsordnung Europas seit 1945.41 Wie schon der Georgienkrieg 2008 stellen auch die Annexion der Krim 2014, der fortdauernde hybride Krieg im Donbass und die Intervention in Syrien 2015 nicht allein Interventionen Russlands in bestimmten Regionen dar. Sie stehen auch für Russlands Auseinandersetzung mit den USA, der NATO und der Europäischen Union. Russlands Auseinandersetzung mit dem Westen ist dabei nicht auf die Felder von Außenpolitik und militärischem Konflikt begrenzt. Auch die Innenpolitik Putins untersteht den Regeln einer Abgrenzung gegenüber Demokratie und Rechtsstaatlichkeit europäisch-westlicher Provenienz. Auf den ersten Blick verspricht die Abgrenzung vom Westen innere Geschlossenheit und Stärke. Ein zweiter Blick wirft jedoch Fragen auf. Sie betreffen das Verhältnis von Strategie und Taktik im Agieren Putins. Über eine langfristige Entwicklungsstrategie Russlands scheint Putin nicht zu verfügen. Die Politikziele von Korruptionsbekämpfung, Diversifizierung der Wirtschaft und Ausbau der Infrastruktur referiert er seit seinem Einzug in den Kreml‘ im Jahr 2000 – mit überschaubaren Erfolgen angesichts von drei Präsidentschaften und einer Amtszeit als Ministerpräsident. Demgegenüber erweist Putin sich jedoch als gewiefter und statusorientierter Taktiker, der auch mit einem schlechten Blatt noch eine passable Partie zu spielen versucht. Zu den Fragen, die ein zweiter Blick auf Putins Russland aufwirft, gehört auch die Frage nach der ideologischen Kohärenz. Es ist ein beliebtes Spiel der Publizistik, einzelne Autoren und Texte zu identifizieren, die vermeintlich den Schlüssel 40 Die Rede auf youtube mit englischen Untertiteln: Wladimir Putin, Rede vom 18. März 2014 vor der Föderalen Versammlung Russlands im Kreml‘, online unter URL: https://www.youtube.com/watch?v=uS8hbmoc15c [18.7.2017]. 41 Die divergenten Positionen von Völkerrechtlern aus dem Westen und Russlands zur Krim sind dokumentiert in einem Zeitschriftenband: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1 (2015).
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zu Putins Masterplan liefern. Ein Blick auf Institutionen der Politikdiskussion in Russland zeigt jedoch eine Debattenlandschaft, die Trends wie die Suche nach einer multipolaren Weltordnung erkennen lässt, jedoch kein durchkomponiertes Ordnungskonzept, wie dies die Außenbeobachtung manchmal unterstellt. Die allumfassende Analyse der ideellen Verortung Russlands in der Welt seit 2000 wartet noch auf ihre Historikerinnen und Historiker.42 Quellen- und Literaturverzeichnis [Anonym], International Conference Held at Washington for the Purpose of Fixing a Prime Meridian and Universal Day, October 1884. Protocols of the Proceedings, Washington 1884, zit. nach URL: http://www.gutenberg.org/files/17759/17 759-h/17759-h.htm [19.6.2015]. [Anonym], Vertrag, betreffend die Gründung eines allgemeinen Postvereins, zit, nach URL: http://de.wikisource.org/wiki/Vertrag,_betreffend_die_Gründung_eines_allgemeinen_Postvereins [19.6.2015]. Aust, Martin, Völkerrechtstransfer im Zarenreich. Internationalismus und Imperium bei Fedor F. Martens, in: Osteuropa 60, 9 (2010), S. 113-125. Aust, Martin (Hg.), Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte 1851-1991, Frankfurt a.M. 2013. Aust, Martin, Russland und Europa in der Epoche des Zarenreiches (1547–1917), in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2015-11-24, Abschnitte 4 und 5, online unter URL: http://www.ieg-ego.eu/austm-2015-de URN: urn:nbn:de:0159-201511091 9 [6.6.2017]. Aust, Martin, New Perspectives on Russian History in World History, in: Kritika 17,1 (2016), S. 139-150. Aust, Martin, Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium, München 2017. Bassin, Mark, Turner, Solov’ev, and the ‘Frontier Hypothesis‘: The Nationalist Signification of Open Spaces, in: Journal of Modern History 65 (1993), S. 473-511. Cordin, Carla, Von Schreibanlässen und Erinnerungsfunktionen. Erkenntnisgewinn aus autobiographischer Praxis von Juristen im späten Zarenreich, in: Martin Aust / Frithjof Benjamin Schenk (Hg.), Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln 2015, S. 175-204. Cracraft, James, The Petrine Revolution in Culture, Cambridge/MA 2004.
42 Think Tanks und Organisationen, die es dabei in den Blick zu nehmen gilt, sind: Russia in Global Affairs, Valdai Club, Izborsker Club und Russkij Mir.
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Universalismen in der Geschichte Russlands und der Sowjetunion Frötschner, Reinhard, Der Livländische Krieg (1558-82/83) – ein Glaubenskrieg des Moskauer Zartums? Der Krieg im Spiegel der zeitgenössischen offiziellen Moskauer Historiographie, in: Horst Brunner (Hg.), Der Krieg im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Gründe, Begründungen, Bilder, Bräuche, Recht. Wiesbaden 1999 (Imagines Medii Aevi, 3), S. 373-394. Furet, François, Le passé d‘une illusion. Essai sur l’idée communiste au XXe siècle, Paris 1995. Geyer, Dietrich (Hg.), Sowjetunion. Außenpolitik, 3 Bde., Köln 1972-1976. Groh, Dieter / Tschižewskij, Dmitrij (Hg.), Europa und Rußland. Texte zum Problem des westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses, Darmstadt 1959. Hauptmann, Peter / Stricker, Gerd (Hg.), Die Orthodoxe Kirche in Rußland. Dokumente ihrer Geschichte (860-1980), Göttingen 1988. Herren, Madeleine, Internationale Organisationen seit 1865. Eine Globalgeschichte der internationalen Ordnung, Darmstadt 2009. Kappeler, Andreas, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall 1552-1917, München 1992. Koenen, Gerd / Kopelew, Lew (Hg.), Deutschland und die russische Revolution 1917-1924, München 1988. Lincoln, William Bruce, Nikolaus I. von Rußland 1796-1855, dt. München 1981. Lotman, Jurij M., Rußlands Adel. Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I., dt. Köln 1997. Marks, Steven G., „Im russischen Spiegelreich“: Wie amerikanische Vorstellungen des Kapitalismus vom sowjetischen Kommunismus geprägt wurden, in: Martin Aust (Hg.), Globalisierung imperial und sozialistisch. Russland und die Sowjetunion in der Globalgeschichte 1851-1991, Frankfurt a.M. 2013, S. 333-352. Miller, Aleksej I., Priobretenie neobchodimoe, no ne vpolne udobnoe: Transfer ponjatija nacija v Rossiju (načalo XVIII - seredina XIX v.), in: Martin Aust / Aleksej Miller / Rikarda Vulpius (Hg.): Imperium inter pares. Rol‘ transferov v istorii Rossijskoj Imperii, Moskau 2010, S. 42-66. Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, Kapitel II. Zeit: Wann war das 19. Jahrhundert?. Platonov, Sergej F., Moskva i zapad v XVI –XVII vekach, Leningrad 1925. Putin, Wladimir, Rede vom 18. März 2014 vor der Föderalen Versammlung Russlands im Kreml‘, online unter URL: https://www.youtube.com/watch?v=uS8hbm oc15c [18.7.2017]. Rupprecht, Tobias, Gestrandetes Flaggschiff. Die Moskauer Universität der Völkerfreundschaft, in: Osteuropa 1 (2010), S. 95-114. Ščerbatova, O. A., Po Indii i Cejlonu. Moi putevye zametki v 1890-1891 gg., Moskau 1892. Ščerbatova, O. A., V strane vulkanov. Putevye zametki na Jave 1893 goda, St. Petersburg 1897. Ščerbatova, O. A., Verchom na rodine beduinov v poiskach za krovnymi arabskimi lošad’mi, St. Petersburg 1903.
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Der Aufstieg der AKP im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Partikularismus Mahir Tokatlı
1 Einleitung Seit nunmehr 16 Jahren regiert in der Türkei die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP), ohne dabei auf einen Koalitionspartner angewiesen zu sein. Das ist unter anderem deshalb bemerkenswert, weil die Türkische Republik qua Verfassung ein laizistischer Staat ist und das Militär in der Vergangenheit keinerlei Zweifel daran aufkommen ließ, dieses Prinzip mit allen Mitteln zu verteidigen. Mit der AKP regiert jedoch eine Partei, die aus der Tradition des politischen Islam stammt. Wie konnte die AKP in einem streng kemalistischen politischen Umfeld derart an die Spitze aufsteigen und sich dort halten? Auf diese Fragen gibt es diverse Antworten und anders als in vielen Analysen soll hier der Antagonismus zwischen einem kemalistischen Zentrum und einer anatolischislamischen Bourgeoisie der Peripherie nicht als maßgebliche Erklärung für den AKP-Aufstieg dienen1 – und ebenso wenig die gelegentlich vorgenommene, daran eng angelegte Unterscheidung zwischen „black and white Turks“.2 Grund hierfür ist die allzu simplifizierende Wirkung beider Ansätze, reduziert auf einen geographischen Raum, der zudem anatolische Aleviten ebenfalls als „black Turks“ aus der Peripherie begreift3 und die dynamischen Prozesse in der Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie vernachlässigt. Stattdessen basiert die hier skizzenhaft vorzustellende Analyse
1 Siehe z.B. Mücahit Bilici, Black Turks, White Turks: On the Three Requirements of Turkish Citizenship, in: Insight Turkey 11,3 (2009), S. 23-35, hier S. 35, oder: Jenny White, The Ebbing Power of Turkey`s Secularist Elites, in: Current History, 113,767 (2007), S. 427-433, hier S. 429. 2 Mehmet Ali Soydan, Dünden Bugüne ve Yarına Türkiye’nin RP Gerçeği, Erzurum 1994. 3 Bei dieser Betrachtung wird die Realität einer strengen alevitischen Opposition bezüglich der islamischen Peripherie und im Gegenzug auch eine gewisse „Zentrumstreue“ eines Großteils der Aleviten verkannt.
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auf einem Wechselspiel zwischen Universalismus, Partikularismen, Abwehr- und Gegenuniversalismus 4. Auf die „moderne“ Türkei übertragen bedeutet dies: Mit der Gründung der Republik, 1923, folgte die kemalistische Elite genuin westlich-europäischen Prinzipien. Hervorzuheben ist hier zum einen das „Nation-Building“ und zum anderen eine Säkularisierung, beides „top-down“. Statt jedoch, wie es für Universalismen üblich ist, sich auf einen „generalisierten Anderen“ zu beziehen,5 galten diese Prinzipien exklusiv, was der Logik eines (post-osmanischen) Partikularismus entspricht. Kurzum: Mit der allmählichen Realisierung universalistischer Prinzipien bei gleichzeitiger Verweigerung bestimmter Elemente, etablierte die kemalistische Elite einen „Andere“ exkludierenden Partikularismus und schuf den Raum für einen Abwehruniversalismus, der sich unverzüglich entwickelte, dem aber lediglich die Verteidigung eigener Werte inhärent war. Erst der Gegenuniversalismus stellt einen tatsächlichen Alternativentwurf dar, dessen Idee allerdings eng an die Vorstellung der islamischen „Umma“ geknüpft war und deswegen seinerseits ebenfalls partikular definiert wurde. Aufgrund nicht zu überwindender institutioneller Hürden, die aus der kemalistischen Hegemonie resultierten, musste dieser Alternativentwurf scheitern. Jedoch setzten einzelne Akteure auf eine neue Strategie und formulierten einen Gegenuniversalismus, der Teile des westlichen Universalismus mit Elementen einer bereits vorhandenen und im Folgenden näher zu erläuternden Universalismusabwehr kombinierte und schließlich die Machtverhältnisse veränderte. Mit der Konsolidierung der Macht wurde nach und nach ein neuer, heute herrschender AKP-Partikularismus entwickelt.
4 Dazu wird das Konzept von Clemens Albrecht herangezogen. Vgl. dazu seinen Beitrag im vorliegenden Band. Universalismus erhebt stets einen Geltungsanspruch für einen allgemeinen „Anderen“ über die eigene Trägergruppe hinaus, während ein Gegenuniversalismus mit einem eigens formulierten Universalismus ebenfalls Geltungsanspruch erhebt und somit in Geltungskonkurrenz tritt. Anders als Albrecht arbeite ich zusätzlich mit dem Konzept der Universalismusabwehr, die sich gegen bestimmende Aspekte des herrschenden Universalismus richtet, aber keine eigenen universalistischen Ansprüche erhebt. Im konkreten türkischen Fall lässt sich einerseits – vereinfacht formuliert – beim westlich-kemalistischen Ansatz ein Universalismus finden, der zunächst mit Hilfe einer partiell islamisch geprägten Universalismusabwehr abgeschwächt wurde. Später wandelte sich diese Universalismusabwehr zu einem Gegenuniversalismus, da sie nun ausschließlich auf den Islam rekurrierte und für einen „generalisierten Anderen“ Anspruch erhob und mit dem westlich geprägten Universalismus in Konkurrenz trat. 5 Vgl. hierzu den Beitrag von Clemens Albrecht im vorliegenden Band.
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2 Zentrum vs. Peripherie – ein aus dem Osmanischen Reich tradiertes Cleavage Analysen zu gesellschaftlichen Konfliktlinien in der Türkei rekurrieren heute noch auf die bahnbrechende Arbeit des Soziologen Şerif Mardin, der bereits 1973 auf das Osmanische Reich verweisend den alles überwölbenden Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie herausstellte. Schon hier prägte ein derartiger Konflikt die innerstaatlichen Strukturen und drückte sich einerseits als elitäres, am Vorbild des Westens orientiertes (Modernisierungs-)Projekt (Militärwesen, Verwaltung, Steuern) aus, andererseits aber auch in einem Widerpart zu diesem Modell, der sich einer Verwestlichung zentraler Provenienz mit Hilfe der Mobilisierung peripherer Massen widersetzte.6 Ähnlich schätzt Mesut Yeğen die Lage ein, wenn er von einer „Westernisierung“ des einstigen Imperiums spricht und dabei fortwährende Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie entdeckt, die im Einklang mit einer zunehmenden Zentralisierung des Staatsapparats standen und gemeinsam die Peripherie unterdrückten.7 Reformen, die sich inhaltlich an zeitgenössischen westlichen, im Industrialisierungsprozess befindlichen Staaten orientierten, waren die Folge und mündeten in den sogenannten osmanischen Tanzimatreformen ab 1830, aus denen schließlich 1876 die erste Verfassung nach westlichem Vorbild entstand.8 Trotz des Übergangs zu einer konstitutionellen Monarchie mit einer parlamentarischen Demokratie, dominierten in dieser asymmetrischen Ordnung weiterhin autoritäre, zentralistisch-staatliche Maßnahmen.9 Dieser Konflikt sei als Relikt aus dem Osmanischen Reich in die Ordnung des Nachfolgestaats transferiert worden; 10 die Türkische Republik habe diese autoritäre Praxis perpetuiert und insbesondere in ihren Anfangsdekaden die Gesellschaft nach dem Prinzip top down strukturiert.11 Das jungtürkische Diktum „Einheit und Fortschritt“ wurde zum Leitprinzip
6 Vgl. Şerif Mardin, Center-Periphery Relations: A Key to Turkish Politics? in: Daedalus 102,1 (1973), S. 169-190, hier S. 175. 7 Mesut Yeğen, The Kurdish Question in Turkish State Discourse, in: Journal of Contemporary History 34,4 (1999), S. 555-568, hier S. 558. 8 Vgl. Thorsten Hasche, Quo vadis, politischer Islam? AKP, al-Qaida und Muslimbruderschaft in systemtheoretischer Perspektive, Bielefeld 2015, S. 263. 9 Bereits zwei Jahre später suspendierte Sultan Abdülhamid die Verfassung, ließ das Parlament schließen und regierte die nächsten 30 Jahre ungehemmt weiter, bis in einem jungtürkischen Putsch die Verfassung wieder ihre Gültigkeit erlangte. Vgl. Zürcher, Modern Turkey, S. 76. 10 Vgl. Mardin, Center-Periphery Relations, S. 187. 11 Vgl. ebd., S. 183.
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für einen Aufbruch in die „Moderne“ erklärt und die „Westernisierung“12 vorangetrieben, wie die Abschaffung des Kalifats 1924 trotz massiver Proteste der Peripherie bezeugt. Nicht zufällig ist dies auch der Anfang kurdisch-türkischer Konflikte islamischer Prägung, da die Kurden aus der Peripherie im Unabhängigkeitskrieg an der Seite der Türken standen, im Glauben einen islamischen Krieg zu führen, und mit der Abschaffung des Kalifats enttäuscht wurden.13 Diese ersten konfliktbehafteten Jahre der Republik sind bereits ein Anzeichen für das Vermächtnis des Osmanischen Reichs, dessen belastende Wirkungen schließlich durch den sogenannten „Geburtsfehler der Republik“ und die damit verbundene größer werdende Kluft zwischen Zentrum und Peripherie weiter verschärft wurden. Anhand der wirtschaftspolitischen Entwicklung lassen sich diese Beziehungen anschaulich darstellen. Während der Westen prosperierte, fehlte eine vergleichbare Entwicklung im Osten nahezu komplett. Ähnlich wie ihr Vorgängerstaat versuchte die neu gegründete Türkische Republik die Peripherie zu homogenisieren, indem westliche Prinzipien im ganzen Land verinnerlicht und dieses „verwestlicht“ werden sollte. Mit der Errichtung von Dorfinstituten in den Provinzen sollte – der grundlegenden Idee einer nationalen Einheit folgend – der Peripherie die Sicht des Zentrums oktroyiert werden14. Aufgrund dieser Priorität versteiften sich die Kemalisten auf symbolische Politik statt ernsthafte Probleme anzugehen15 und korrigierten gar nicht erst den „Geburtsfehler“. Stattdessen verschärfte sich der Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie zunehmend. Verstöße gegen Grundprinzipien wie Nationalismus und Laizismus, wurden als Verrat an der Republik und ihren Werten aufgefasst und dementsprechend brutal geahndet. Zahlreiche Unterdrückungen von kurdischen, islamischen oder kurdisch-islamischen Aufständen in den Anfangsjahren vornehmlich in der Peripherie, bezeugen dieses gewaltsam umgesetzte Homogenisierungsprojekt des Zentrums.16 Ebenso wie die nationale Einheit als wichtige Voraussetzung für
12 Anselm Doering-Manteuffel, Amerikanisierung und Westernisierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.01.2011, zit. nach URL: http://docupedia.de /zg/doering_amerikanisierung_v 1_de_2011 [26.11.2018]. 13 Vgl. Hamit Bozarslan, Kurds and the Turkish State, in: Reşat Kasaba (Hg.), The Cambridge History of Turkey, Cambridge 2008, S. 333-356, hier S. 339. 14 Vgl. Mehmet H. Yavuz, Islamic Political Identity in Turkey, Oxford 2003, S. 54. Freilich ging es dem Staat auch darum die bildungsferne Peripherie mit Schulen auszustatten und die hohe Analphabetenrate zu reduzieren. 15 Vgl. Mardin, Center-Periphery Relations, S. 183. 16 Vgl. Bozarslan, Kurds and the Turkish State, S. 338-342.
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den Fortschritt in die Zivilisation galt, traf dies auch auf die säkulare Ordnung zu. Dieser Modernisierungsprozess folgte positivistischen Prinzipien und legitimierte brutale Handlungen der republikanischen Elite, die im Widerspruch zu universellen Werten standen.17 Hervorzuheben ist hier das staatlich von langer Hand geplante Dersim-Massaker von 1937/38. Die Bewohner verweigerten sich einer sunnitisch-türkischen Identitätsüberstülpung und waren weder gewillt, ihre alevitische, kurdisch/zazaische Identität zu leugnen, noch sich machtpolitisch dem Zentrum zu unterwerfen.18 Die Peripherie wurde immerzu verdächtigt, die vermeintlich positiven Errungenschaften des Zentrums, die nationale Einheit und damit den weiteren gesellschaftlichen Fortschritt, zu gefährden. Ein solch asymmetrisches und von Misstrauen geprägtes Verhältnis führte schließlich bei gleichzeitiger Propagierung universeller Werte, wie demokratische Mitbestimmung und Repräsentation in Form von Wahlen und freiem Wettbewerb, zu missliebigen Konsequenzen für die Kemalisten, doch zuvorderst zu einem starken Rechtfertigungsdruck. Resultat dessen war die Einführung des Mehrparteiensystems 1946, wiederum „von oben“ als Zeichen einer demokratischen Intention, die universellen Ideen entsprach.19 Bezeichnend für das Unbehagen des Zentrums gegenüber der Peripherie war die Warnung der Republikanischen Volkspartei (CHP) als über 20 Jahre nach der Ausrufung der Republik das Mehrparteiensystem eingeführt wurde20: „Holt eure Unterstützung nicht in den Städten oder Dörfern der Provinz. Auf diese Weise wird nur die nationale Einheit unterminiert.“21
17 Vgl. Nilüfer Göle, Secularism and Islamism in Turkey: The Making of Elites and Counterelites, Middle East Journal 51,1 (1997), S. 46-58, S. 48. 18 Vgl. Ismail Beşikçi, Tunceli Kanunu (1935) ve Dersim Jenosidi, 1991 Bonn, S. 173f. 19 Vgl. Erik J. Zürcher, Turkey. A Modern History, 3. Aufl., New York 2016, S. 206f. 20 Das Mehrparteiensystem wurde zwar 1946 eingeführt, aber diese Ankündigung wurde mit vorgezogenen Neuwahlen so stark sabotiert, dass erst die Parlamentswahlen 1950 als die Einführung eines Mehrparteiensystems datiert werden können. Vgl. Zürcher, Turkey. A Modern History, S. 217. 21 Fuat Köprülü, Partiler ve milli birlik, in: Tibor Halasi-Kun (Hg.): Demokrasi Yolunda, London 1964, S. 303-306, hier S. 304. (Übersetzung aus dem Türkischen, MT).
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2.1 Universalistischer Anspruch, partikularistische Wirklichkeit: Der Kemalismus A priori definierte universale (westliche) Werte waren zwar das Postulat, sie wurden aber partikular angewendet, sodass Nicht-Türken die türkische Identität und religiösen Bürgern der inkonsequente Laizismus ‚übergestülpt‘ wurden. Im teleologischen Modernisierungsprojekt „Türkische Republik“ definierten die Eliten sich selbst als progressiv, während der Religion eine Rückständigkeit attestiert wurde, die es im Interesse der Modernisierung zu überwinden gelte.22 Während das Kalifat bereits abgeschafft wurde, verankerten die Kemalisten das Laizismus-Prinzip 1937 in der Verfassung23, allerdings bekam das aus Frankreich abgeschaute Prinzip der laicité einen partikular türkischen Anstrich. Religion wurde nicht vom Staat getrennt, sondern mit der Errichtung des „Ministeriums für religiöse Angelegenheiten“ 1924 lediglich verstaatlicht; dabei bestanden „Elemente der Theokratie“ – um mit Antonio Gramsci zu sprechen24 – fort, weswegen hier von einem „inkonsequenten Laizismus“ gesprochen werden kann.25 Gleichzeitig wurde aber der traditionellen Religionsausübung der Raum entzogen, fromme Bürger taten sich schwer, Republik und Religion in Einklang zu bringen.26 Von einem wirklich universalen, westlich-demokratischen Prinzipien entsprechenden Konzept des Laizismus war dieser nunmehr explizit türkische Partikularismus weit entfernt. Die Verwirklichung des kemalistisch-progressiven Heilsversprechens folgte der Gründung der Türkei nicht. Ein Faktor, den Gazi Çağlar als ausschlaggebend hierfür betrachtet, habe darin bestanden, dass die „Grundlage der territorial-politischen Einheit des Landes nicht die Gleichheit“ gewesen sei, sondern eine „Hegemonie des ökonomisch starken Westens zu dessen Gunsten der kurdische Osten ausgebeutet“ wurde.27 Neben der Ausbeutung kurdischer Provinzen im Osten, welche die industrielle Entwicklung im Westen vorantreiben sollte, entstand darüber hinaus eine kul22 Yavuz, Islamic Identity, S. 60. 23 Türkische Verfassung von 1924 nach den Änderungen vom 5. Februar 1937 (Gesetznummer: 3115). 24 Antonio Gramsci, Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, Deutsches GramsciProjekt (Hg.), Bd. 1-8, Hamburg 1999, Bd. 4, S. 925. 25 Gazi Çağlar, Die Türkei zwischen Orient und Okzident. Eine politische Analyse ihrer Geschichte und Gegenwart, Münster 2003, S. 173. 26 Vgl. Jan-Markus Völmel, Partei und Gemeinde. Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 und der Zusammenprall zweier Entwürfe des politischen Islams in der Türkei, in: Perspektiven DS 33,2 (2016), S. 115-130, hier S. 117. 27 Çağlar, Orient und Okzident, S. 171.
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turelle Ungleichheit. Während der Osten nicht nur ökonomisch unterentwickelt war, sondern auch weiterhin weitgehend religiös und archaisch blieb, präsentierte sich der Westen zunehmend entwickelt und säkularisiert. Die Adjektive „kurdisch“ und „religiös“ konnten in den postosmanischen Partikularismus des Nationalismus und in die türkische Formel des Laizismus nicht integriert werden. An diesem Beispiel wird die frühe türkische Abkehr von einem universalen Anspruch deutlich: Das Set der dominierenden Normen besaß nicht länger für den „generalisierten Anderen“ Geltung, sondern exklusiv für eine bestimmte, partikulare Gruppe, nämlich die der säkularen Türken. Wie Çağlar korrekt bemerkt, setzte die positivistisch-kemalistische Elite auf Assimilation, indem die Hegemonie des Zentrums über die Peripherie einerseits teilweise gewaltsam, andererseits mit einer ökonomischen und kulturellen Marginalisierung der Gruppen durchgesetzt wurde.28 Flankiert wurden diese staatlichen Vorhaben mit der kemalistischen Erziehung der Peripherie. Folgen dieser Politik waren ökonomische Rückständigkeit und mangelhafte Infrastruktur in vielen Teilen der Republik, was schließlich zunehmend zu einer Unzufriedenheit und einer daraus resultierenden Landflucht führte.29 Es kann kaum überraschen, dass die Implementation eines scheinbar westlichen Universalismus zu zahlreichen Verletzungen demokratischer Rechte von Individuen führte. Diese sind sowohl in einer fehlerhaften institutionellen Konfiguration als auch im extrakonstitutionellen Bereich zu verorten. Alles in allem konnte sich die Demokratie in der Türkei zu keiner Zeit vollständig konsolidieren und wies stets diverse Defekte auf.30 Ein wichtiger Bestandteil dessen ist der post-osmanische, türkisch-laizistische Partikularismus im Gewand eines Universalismus. War dieser und damit gleichbedeutend die zentralistisch-kemalistische Hegemonie zu irgendeinem Zeitpunkt gefährdet, sorgte das Militär für die Einhaltung des Partikularismus. Es kam zu vier aus der Sicht der Streitkräfte erfolgreichen Interventionen, von denen zwei31 sich explizit gegen eine vermeintliche ReIslamisierung und folglich für die Aufrechthaltung der laizistischen Ord-
28 Vgl. ebd. 29 William A. Hale / Ergun Özbudun, Islamism, Democracy and Liberalism in Turkey. The Case of the AKP, New York 2010, S. 78f. 30 Vgl. Hierzu Paul Kubicek / Cengiz Erişen (Hg.), Democratic Consolidation in Turkey. Micro and Macro Challenges, London 2016. 31 Im Jahr 1960 putschte in der jungen Republik das Militär zum ersten Mal. Neben einer schleichenden Islamisierung durch die DP waren für das Militär weitere Interventionsgründe entscheidend: einerseits die Autokratisierung des Regimes
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nung stellten. In der positivistischen Idee der Kemalisten, die das Erreichen der Moderne mittels einer Verwestlichung sieht, sollte paradoxerweise ein status-quo-orientierter, demokratisch nicht legitimierter Akteur, nämlich das Militär, als Garant fungieren. 2.2 Von der DP bis zu Erbakan – Die Evolution eines Gegenuniversalismus Mit der Einführung des Mehrparteiensystems und der damit verbundenen Proliferation partizipativer Elemente wurde die Beziehung zwischen Republik und Religion ambivalenter. Einerseits setzten die herrschenden Eliten weiterhin ihre rigide Politik gegenüber islamischen Tendenzen fort, andererseits resultierte die politische Öffnung in einer verstärkten Teilnahme islamischer Gruppen an der Politik.32 Sie gewährleistete eine Pluralisierung politischer Ideen, die eine abwehrende Haltung gegenüber dem türkischen Partikularismus lancierten und Alternativen in Form einer Universalismusabwehr boten. Wie bisher gezeigt werden konnte, spielt das cleavage „Zentrum vs. Peripherie“ in der Türkei eine spezielle Rolle, sollte jedoch nicht als statisch aufgefasst werden, sondern muss vielmehr unter den Bedingungen einer besonderen Dynamik betrachtet werden. Insbesondere die verstärkt auftretende Binnenmigration in den 1950er Jahren führte zu einem regen Kontakt beider Gegensätze und löste die Beziehung zumindest in ihrer hegemonialen Beziehung zueinander allmählich auf. Zusätzlich bewirkte diese Berührung unterschiedlicher Lebensstile und -konzepte in der Peripherie die Perzeption einer eigenen Minderwertigkeit und Unzufriedenheit gegenüber dem Zentrum.33 Die Soziologin Nilüfer Göle erkennt in diesem Kontakt ein Paradoxon und stellt Folgendes fest: Je mehr die Peripherie mit dem Zentrum in Berührung komme und sich grundlegend moderne Ressourcen – wie beispielsweise politische Partizipation – aneigne, desto
unter der DP, aber viel relevanter als dies, war andererseits der Verlust der Hegemonie des Militärs. Während die CHP gleichsam eine Symbiose mit dem Militär bildete, trat die DP als Antagonist in Erscheinung. Vgl. William Hale, The Turkish Republic and its Army, in: Turkish Studies 12,2 (2011), S. 191-201, hier S. 197f. Kurz vor der Jahrtausendwende sorgte das Militär durch eine bloße Drohung zu intervenieren, für die Absetzung der Regierung. Vgl. Gareth Jenkins, Continuity and Change: Prospects for Civil-Military Relations in Turkey, in: International Affairs 83,2 (2007), S. 339-355, hier S. 345f. 32 Vgl. Yavuz, Islamic Identity, S. 59. 33 Vgl. ebd., S. 61.
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stärker rekurriere sie auf eigene Wertvorstellungen – wie in diesem Fall auf den Islam.34 Ähnlich wertet Yavuz die Lage und konkludiert, eine Internalisierung demokratischer Spielregeln führe zu der Annahme, der Staat sei responsiv gegenüber dem Willen der Peripherie und über Wahlen könne die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft umdefiniert werden.35 Bereits in den 1940er Jahren sind die ersten Formen einer Universalismusabwehr zu erkennen, die in einer innerparteilichen Opposition artikuliert wurde, sich abwehrend gegen die herrschende kemalistische Elite stellte und partiell auf islamische Elemente rekurrierte. In den folgenden Jahren zwang diese Haltung den kemalistischen Partikularismus immer mehr zu Kompromissen und setzte ihn unter Rechtfertigungsdruck. Als erste demokratische Herausforderung des Zentrums und infolge der Einführung des Mehrparteiensystems entstand die Demokratische Partei (Demokrat Partisi, DP), deren führende Köpfe ironischerweise allesamt aus dem Zentrum stammten und Mitglieder der CHP waren.36 Der Kontext demokratischer Wahlen führte zu einem Wettbewerb und forcierte das Streben nach Stimmenmaximierung, was die Peripherie zu einem äußerst attraktiven Wählerreservoir werden ließ. Auf diese Situation reagierte die DP und ging auf die angesprochenen religiösen wie ökonomischen Bedürfnisse der Bürger ein, indem sie der Peripherie eine Stimme gab, religiöse Interessen auf die Agenda setzte und diese nicht als rückständig degradierte.37 Im Unterschied zur CHP sah die DP die aufstrebende (grüne) Bourgeoisie und nicht den Staat als Schlüssel zur Moderne. Während die DP zur Stimme der demokratischen Peripherie aufstieg, galt die CHP als Partei des repressiven bürokratischen Zentrums.38 Beide Akteure, sowohl die politische Opposition aus dem Zentrum als auch die vernachlässigte Peripherie, standen vor einer klassischen „WinWin-Situation“ und profitierten von dieser faktischen Koalition. Gleichzeitig lässt allein die personelle Konstellation darauf schließen, dass Peripherie und Zentrum nicht zwangsläufig in einem antagonistischen Verhältnis zueinanderstanden. Mit der Unterstützung islamischer Orden und Vereine gelang der DP 1950 auf Anhieb die Alleinregierung in einem Wahlsystem, das klare Mehrheiten schuf. In den darauffolgenden Wahlen 1954 und 1957 wiederholte sie ihren Triumph, allerdings behielten im institutionellen Kräfteverhältnis die Kemalisten weiterhin die Zügel in der Hand. 34 35 36 37 38
Vgl. Göle, Secularism and Islamism, S. 52. Vgl. Yavuz, Islamic Identity, S 61. Vgl. Feroz Ahmad, The Making of Modern Turkey, London 1993, S. 103. Vgl. Mardin, Center-Periphery Relations, S. 185. Vgl. Yavuz, Islamic Identity, S. 61.
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Das Militär, das sich als Hüter des kemalistischen Erbes gerierte, wähnte dieses Erbe durch eine allmähliche Re-Islamisierung39 gefährdet und putschte mit Kenntnis der Oppositionspartei CHP am 27. Mai 1960.40 Mardin zufolge war dies eine Wiederkehr des alten Strukturkonflikts aus dem Osmanischen Reich: Die herrschenden Kräfte im Zentrum wollen die alte Ordnung und folglich die eigene Hegemonie bewahren, während die Peripherie diese Ordnung in Frage stellt und dazu drängt, einen Wandel herbeizuführen.41 Trotz des Putsches, der sich explizit gegen die DP richtete, konnte ihre Nachfolgerin, die Gerechtigkeitspartei (Adalet Partisi, AP), an die guten Wahlergebnisse anknüpfen. Für die Soziologin Binnaz Toprak sind die anfänglichen Erfolge dieser Mitte-Rechts-Parteien mit ihrer islamischen Rhetorik ein Vorzeichen für die Gründung „wirklich“ islamischer Parteien.42 Ungeachtet der Unterstützung religiöser Orden kam es nämlich nicht zu einer permanenten Symbiose der aus dem Zentrum entstandenen MitteRechts-Parteien mit islamischen Kräften der Peripherie. Zum einen lag dies daran, dass schon zu Zeiten der zehnjährigen DP-Alleinregierung eine Asymmetrie zwischen politischen Präferenzen der Parteikader und Wähler herrschte, dementsprechend die enge Beziehung eher funktionaler denn ideologischer Natur war. Zum anderen führte der 1960er Putsch mit einigen liberalen Elementen zu einem Aufblühen zivilgesellschaftlicher Akteure.43 Konflikte und Spannungen innerhalb der Universalismusabwehr44 wurden nunmehr sichtbar und wenig überraschend wird eine erste dezidiert
39 Eine Re-Islamisierung ist beispielsweise zu erkennen an der Wiedereinführung des Muezzinrufs in arabischer Sprache. Obgleich Gazi Çağlar (S. 184f.) bereits ab 1945 in der CHP eine Re-Islamisierung erkennt, sind die zaghaften Schritte der CHP eher dem Versuch des Machterhalts zuzuordnen als vielmehr einer tatsächlichen Strategie unter der Prämisse einer Islamisierung. Vgl. Yavuz, Islamic Identity, S. 60. 40 Vgl. ebd., S. 61f. 41 Vgl. Mardin, Center-Periphery Relations, S. 186. 42 Vgl. Binnaz Toprak, Islam and Political Development in Turkey, Leiden 1981, S. 92ff. 43 Vgl. Yavuz, Islamic Identity, S. 63. 44 Weil es den Analyserahmen des Beitrags sprengen würde, wird hier nicht auf die unterschiedlichen Religionsorden, wie die Süleymancis, Nurcus und die bekannteste Gruppe die Gülencis eingegangen. Ihre essentielle Bedeutung für die Formulierung und Etablierung eines Abwehruniversalismus darf jedoch nicht unerwähnt bleiben. Insbesondere wegen ihrer engen Verbindung zu den politischen Akteuren.
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islamische Bewegung gegründet, Milli Görüş45. Um diese Bewegung besser zu verstehen, sollte sie aus dem engen Kontext politischer Parteien herausgenommen und vielmehr auf ihren übergeordneten Bewegungscharakter verwiesen werden. Als wichtigste Persönlichkeit und Gründervater gilt der in Aachen als Maschinenbauer promovierte Necmettin Erbakan, der seine ersten politischen Gehversuche noch im Dunstkreis der DP unternahm. Kurze Zeit später trennten sich aufgrund eines Zwists über die Rolle des Islam in der Politik die Wege.46 Eine erste dezidiert politisch-islamische die Ansichten der Milli Görüs vertretende Partei wurde schließlich 1970 gegründet47 und rekrutierte sich personell zu einem großen Teil aus Mitgliedern der AP. An dieser Stelle ist ein Übergang von der Universalismusabwehr zu einem Gegenuniversalismus festzustellen. Mit dem Konzept „adil düzen“ (gerechte Ordnung) grenzte man sich vom Establishment der AP ab, es sollte primär die von der Modernisierung nicht profitierende Peripherie angesprochen werden, indem eine genuin islamisch geprägte Alternative vorgestellt wurde.48 Grundlage war die Auffassung, die AP, in Person von Süleyman Demirel, vertrete gar nicht die Interessen religiöser Wähler, sondern sei selber Teil des Zentrums. Neben den islamischen Orientierungen, wie sie in der Forderung nach einer zinslosen Wirtschaftspolitik deutlich werden, stellen außenpolitische Ansichten eine anschauliche Differenz zwischen beiden Parteien dar. Während die Westbindung der Türkei zu keinem Zeitpunkt, weder von den Kemalisten noch von der DP / AP, ernsthaft infrage gestellt wurde, forderte Erbakan eine radikale Abkehr von der Verwestlichung. Die von Erbakan propagierte „gerechte Ordnung“ folgte konsequenter den Prinzipien eines Gegenuniversalismus, sie wandte sich explizit gegen den postulierten westlichen Universalismus und reüssierte mit dem Prinzip der „islamischen Umma“ als Gegenmodell einer westlichen Ordnung. Allerdings war ihr in gewisser Weise selber ein Partikularismus inhärent, da sie mit der Umma einen konkreten und keinen abstrakten Anderen ansprach. Erbakan forderte offen die Abschaffung des laizistischen Prinzips,
45 Oftmals mit „Nationale Sicht“ übersetzt, verkennt dies jedoch die islamischen Elemente, die dem Wort „Milli“ inhärent sind, da dieser auf das osmanische „Millet-System“ rekurriert. Auch die Übersetzung „Sicht“ greift zu kurz, weswegen hier „Islamisch-nationaler Standpunkt“ als Übersetzung angeboten werden soll. 46 Vgl. Ahmet Şık, Paralel yürüdük biz bu yollarda, AKP-Cemaat ittifakı nasıl dağıldı, Istanbul 2014, S. 38. 47 Die Nationale Ordnungspartei (Milli Nizam Partisi, MNP). 48 Nilüfer Narlı, The Rise of the Islamist Movement in Turkey, in: Middle East Review of International Affairs, 3,3 (1999), S. 38-48, hier S. 41.
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die Einführung des islamischen Rechts basierend auf der Scharia und gab sich fortwährend antizionistisch und antisemitisch.49 Tatsächlich fühlten sich breite Massen angesprochen und die als Nachfolgepartei der MNP50 gegründete Nationale Heilspartei (Milli Selamet Partisi, MSP) fuhr insbesondere an der Peripherie, die das Gros ihrer Wählerklientel stellte, erste Erfolge ein. Zeitweise war Erbakan als Koalitionspartner Teil verschiedener Regierungen, doch seine systemoppositionelle Haltung blieb. Ausdruck fand diese kurz vor dem Militärputsch 1980, als unter seiner Führung am 6. September in Konya eine Kundgebung zur „Rettung Jerusalems“ stattfand.51 Sowohl antisemitische Gefühle wurden hierbei bedient als auch die Ablehnung der westlich ausgerichteten Türkei, deren Nationalhymne von Pfiffen der Teilnehmer begleitet wurde. Wenig überraschend war, dass diese Kundgebung nicht in einer der säkular geprägten Städte der Republik stattfand, sondern in Konya, das heißt in einer der religiösen Peripherie zuzurechnenden Stadt, die sich im folgenden Jahrzehnt zur Hochburg der islamischen Bourgeoisie entwickeln sollte.52 Entscheidend für die weitere Entwicklung des Gegenuniversalismus ist der neokemalistische Putsch von 1980, bei dem – wie bereits in der Gesellschaft – der starre Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie endgültig aufgehoben wurde. Nach dem Putsch von 1980 wurden alle Parteien verboten und führenden Politikern jedwede politische Aktivität untersagt.53 Eine Nachfolgepartei der MSP wurde mittels nicht vorbelasteter Politiker 1983 gegründet und predigte die gleiche Form der Universalismusabwehr, mittlerweile jedoch in einer neuen von den Militärs konfigurierten und noch stärker dominierten institutionellen Ordnung. War die Auslegung des Laizismus bereits in den Anfangsjahren der Republik inkonsequent, so folgt die neokemalistische Ordnung nach 1980 einer schizophrenen Definition, in der die Rolle des Islam für die Gesellschaft komplett umdefiniert wurde. Er sollte nicht länger aus der Öffentlichkeit verschwinden, sondern als gesellschaftlicher Kitt fungieren und ideologische Konflikte als Resultat eines Pluralismus im Keim ersticken.54 Gleichzeitig legitimierte das Militär
49 Vgl. Hale / Özbudun, Islamism, S. 6. 50 Nach der zweiten Militärintervention 1971 wurde die MNP wegen antilaizistischer Aktivitäten vom Verfassungsgerichtshof verboten. 51 Yavuz, Islamic Identity, S. 68. 52 Vgl. Mustafa Şen, Transformation of Turkish Islamism and the Rise of the Justice and Development Party, in: Turkish Studies 11,1 (2010), S. 59-84, hier S. 71. 53 Vgl. Ergun Özbudun, The Constitutional System of Turkey. 1876 to the Present, New York 2011, S. 15. 54 Vgl. Yavuz, Islamic Identity, S, 59.
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seine Intervention mit dem Rekurs auf kemalistische Prinzipien, weswegen das institutionelle Umfeld des neuen politischen Systems, zwar nicht der Religion, wohl aber dem politischen Islam nach wie vor feindlich gesinnt war.55 Prägnant formuliert: Die islamische Peripherie bildete seit 1980 einen wichtigen Teil des Zentrums. Im Geflecht zwischen Partikularismus, Universalismusabwehr und Gegenuniversalismus sowie im Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie darf die 1970 von rechten Intellektuellen entwickelte Türkisch-Islamische Synthese (TIS)56 nicht unerwähnt bleiben. An ihr lässt sich einerseits die Komplexität der politischen Rechten in der Türkei veranschaulichen, andererseits auch ihre Stärke erklären, denn sie weist zwei Dimensionen auf: (1) eine völkisch-nationalistische und (2) eine islamische. Die TIS vereinte beide Strömungen als unzertrennbare Einheit zu einer Symbiose.57 Dennoch blieben unterschiedliche Auffassungen bestehen, weswegen das rechte politische Spektrum stets mehrere Parteien mit unterschiedlich ausgewählten Schwerpunkten beheimatete. Nichtsdestotrotz, war der Antikommunismus den rechten Akteuren gemeinsam und stellte das verbindende Element dar, was schließlich zu diversen rechten Zusammenschlüssen auch außerhalb des Parlaments führte, wie beispielsweise der „Verein für den Kampf gegen den Kommunismus“ bezeugt.58 Unklare Mehrheitsverhältnisse sorgten schließlich dafür, dass Erbakan und die rechtsradikale Nationalistische Aktionspartei (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) oftmals das Zünglein an der Waage waren, sich ihres „Erpressungspotenzials“ bedienten und ihre Stimmen entweder der AP oder CHP gaben; im Gegenzug erhielten sie wichtige Posten und konnten einen Großteil der Bürokratie bestimmen. Mit anderen Worten: Sie waren stets Teil des politischen Zentrums.
55 Vgl. Hale / Özbudun, Islamism, S. 71. 56 Die TIS stellt den türkisch-völkischen Nationalismus als untrennbare Einheit mit dem Islam dar. Dieser Symbiose liegen zwei zentrale Gedanken zu Grunde: (1) Der Islam sei die einzige Bedingung Türke zu werden und Türke zu bleiben. (2) Sobald die Türken den Islam als ihren Glauben angenommen haben, stiegen sie direkt als Führer der islamischen Welt auf. Mit dem Militärputsch wurde die Synthese zur halboffiziellen Staatsideologie erkoren. Siehe hierzu detaillierter Şen, Transformation of Turkish Islamism. S. 61ff. 57 Der Streit um die Frage, wieviel Islam türkischer Nationalismus verträgt, führte schließlich 1993 zu einer Spaltung der Partei und die stärker auf den Islam fokussierte Große Einheitspartei (Büyük Birlik Partisi, BBP) unter Muhsin Yazıcıoğlu wurde gegründet. 58 Völmel, Der Putschversuch, S. 118.
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5 Vermischung von Universalismus und Universalismusabwehr als AKPStrategie Die in den achtziger Jahren gegründete Wohlfahrtspartei (Refah Partisi, RP) bekam die Macht des Militärs 1997 zu spüren, als dieses in einem ‚soften‘ Putsch den Parteivorsitzenden Erbakan, der seit einem Jahr Seniorpartner einer Koalition und somit Ministerpräsident war, zwang, von seinem Posten zurückzutreten. Ein offen antilaizistischer Ministerpräsident in einer laizistischen Republik, der zudem die Eliten und die Prinzipien der modernen Türkei angriff, war schließlich für die kemalistische Elite selbst in der neu definierten religionsfreundlichen Ordnung nicht tragbar. Die kemalistische Staatsbürokratie erreichte nun durch das Verfassungsgericht ein Parteiverbot, was wiederum in der Gründung einer neuen islamischen Partei mündete. Keine zwei Jahre später wurde die Tugendpartei (Fazilet Partisi, FP) ebenfalls verboten. Institutionell war die Partei, die den Gegenuniversalismus der Peripherie propagierte, am Ende – nicht jedoch ihr Potenzial. Folgt man Göle, so kann festgehalten werden, dass dieses sogar zunahm, denn mehrere Wirtschaftskrisen in den 1990er Jahren resultierten in einer verstärkten Binnenmigration der Peripherie in die westlichen Städte. Dies förderte dort ein antiwestliches Klima und die Nachfrage nach religiös-politischen Konzepten.59 Um die institutionelle Feindseligkeit des politischen Systems zu umgehen, entwickelten religiös orientierte Kräfte eine neue Strategie. Es waren keine neuen Akteure, vielmehr sogenannte junge Modernisierer, die genug davon hatten zu sehen, wie ihre Parteien letztlich vor dem Verfassungsgericht verboten wurden. In genau diesem Kontext ist 2001 die Entstehung der AKP zu sehen. Zum ersten Mal kam es zu einer parteipolitischen Spaltung des politischen Islam; religiös motivierte Kräfte schufen zur Entwaffnung ihrer Gegner das Konzept der „konservativen Demokratie“ (muhafazzar demokrasi), was zu einer weitgehenden Negierung der eigenen Historie aus der Milli Görüş Bewegung führte und die AKP stattdessen in eine Reihe mit konservativen Parteien in Europa rückte.60 Sie übernahm Aspekte der bisherigen Abwehr- und Gegenuniversalismen, aber kleidete diese wiederum in einen westlichen Universalismus ein. Die neue Partei kritisierte den Laizismus nicht länger aus der Perspektive des Staates, sondern argumentierte von einem freiheitlich-demokratischen Standpunkt aus für
59 Vgl. Narlı, Rise of Islamist Movement. S. 41f. 60 Vgl. Charlotte Joppien, Die türkische Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP). Eine Untersuchung des Programms „Muhafazakar Demokrasi“, Berlin 2011, S. 53ff.
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eine friedliche Koexistenz zwischen Religion und Staat.61 Mit universalistischen Argumenten stach sie den vermeintlichen Universalismus der (neo-)kemalistischen Eliten aus. Auf diese Weise gelang es der AKP weiterhin, als Anwalt der peripheren Interessen aufzutreten und die klassische Wählerklientel anzusprechen, zusätzlich jedoch auch diejenigen, die eine Sehnsucht nach tatsächlichen universellen Werten wie Menschenrechte, Grundrechte und Freiheiten empfanden und diejenigen, die die repressive, paternalistische, illiberale Politik des Militärs nicht länger unterstützten.62 Mit dem Versuch, Prinzipien westlicher Demokratie mit der Religion zu vereinen, gelang es der AKP gegenüber ihren direkten Vorgängerparteien, ihre Wählerstimmen zu steigern und dies trotz einer einmaligen Situation in türkischen Parlamentswahlen, nämlich einer Konkurrenz zweier aus der Tradition des politischen Islam stammenden Parteien, der AKP und der Glückseligkeitspartei (Saadet Partisi, SP). Nicht nur, dass sie die sogenannte Peripherie integriere, sondern sogar diejenigen, die qua Verfassung gesellschaftlich und politisch zu den Marginalisierten zählten, erhielten durch die AKP die Hoffnung, den diskriminierenden Status Quo eines türkischen Universalismus zu überwinden, der lediglich partikularistisch angewandt wurde. Eingebettet in das Image einer Außenseiterpartei auf der Seite des Volkes gegen die kemalistische Staatsbürokratie, agierte die AKP trotz der komfortablen Situation als alleinige Regierungspartei populistisch, indem sie das verknöchert-kemalistische Establishment der Bürokratie und Verwaltung angriff und auf diese Weise in vielen Teilen der Bevölkerung weiteres Prestige gewann.63 Das ließ sie für die Peripherie und Teile des soge-
61 Eine maßgebliche Rolle in der neuen Ausrichtung spielen die engen Verbindungen zu der organisatorisch stark aufgestellten Gülen-Bewegung. Unter der Führung Erbakans gab es stets Spannungen, weswegen die Gülen-Bewegung mehrheitlich dezidiert mitterechts Parteien unterstützte. Vgl. ausführlicher Yavuz Çobanoğlu, Islam and Politics of Islamism in Turkey, in: Ayhan Bilgin / Armağan Öztürk (Hg.), Political Culture of Turkey in the Rule of the AKP. Change and Continuity, Baden-Baden 2016, S. 88-109. 62 Vgl. Paul Kubicek, Majoritarian Democracy in Turkey: Causes and Consequences, in: Paul Kubicek / Cengiz Erisen (Hg.), Democratic Consolidation in Turkey. Micro and Macro Challenges, London 2016, S. 123-144, hier S. 131 oder Ayhan Bilgin, Der Aufstieg der AKP unter dem Blickwinkel des politisch-kulturellen Wandels, in: Ayhan Bilgin / Armağan Öztürk (Hg.), Political Culture of Turkey in the Rule of the AKP. Change and Continuity, Baden-Baden 2016, S. 29-66, hier S. 52f. 63 Vgl. Şakir Dinçşahin, A Symptomatic Analysis of the Justice and Development Party's Populism in Turkey, 2007–2010, in: Government and Opposition 47,4 (2012), S. 618-640, hier S. 630.
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nannten Zentrums oder „white turks“ gleichermaßen wählbar erscheinen. Lediglich strenge Kemalisten konnten nicht erreicht werden, da die AKP als eine Form der Bedrohung für ihren türkischen Partikularismus wahrgenommen wurde. Diese republikanischen Eliten beneideten die AKP um ihren Erfolg und handelten reaktionär.64 Höhepunkte dieser Strategie waren das gescheiterte E-Memorandum des Militärs im April 2007,65 die umstrittene verfassungsgerichtliche Annullierung der ersten Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten einen Monat später66 und die Eröffnung eines Parteiverbotsverfahrens 2008 gegenüber der AKP.67 Eine tragende Säule in der Transformation der AKP spielt die sogenannte aufstrebende grüne Bourgeoisie, die sich mit westlichen Werten, denen traditionell genuin islamische Bewegungen ablehnend gegenüberstanden, arrangierte, wie beispielsweise kapitalistischen Wirtschaftsformen. Entstanden aus den wirtschaftsfreundlichen Reformen Turgut Özals68, stieg der ökonomisch rückständige Osten mehr oder weniger aus eigener Kraft auf und forderte mit der Zeit eine Aufwertung der Lebensqualität und mehr Mitsprache in Entscheidungsprozessen.69 Während die AKP weiterhin mit den Akteuren aus der Milli-Görüş-Bewegung arbeitete, konnte sie zusätzlich durch ihre modernisierende, prowestliche Agenda wichtige Personen aus dem Umfeld des muslimischen „Vereins Unabhängiger Unternehmer und Industrieller“ (MÜSIAD) als Unterstützer der angestrebten Politik ge-
64 Armağan Öztürk, Epistemological Framework of the Political Culture in Turkey, in: Ayhan Bilgin / Armağan Öztürk (Hg.), Political Culture of Turkey in the Rule of the AKP. Change and Continuity, Baden-Baden 2016, S. 13-29, hier S. 20. 65 Ümit Cizre, Introduction: The Justice and Development Party: making choices, revisions and reversals interactively, in: Ders. (Hg.), Secular and Islamic Politics in Turkey. The making of the Justice and Development Party, London 2008, S. 1-15, hier S. 12f. 66 Ergun Özbudun / Ömer Faruk Gençkaya, Democratization and the Politics of Constitution-Making in Turkey, New York 2009, S. 102. 67 Murat Sevinc, AKP´nin Kapatilma Davasi, in: Ilhan Izgel / Bülent Duru (Hg.), AKP Kitabi. Bir dönüsümün bilancosu (2002-2009), 3. Aufl., Ankara 2013, S. 264-283, hier S. 264f. 68 Özal war zunächst zwischen 1983-1989 Ministerpräsident und anschließend bis zu seinem mysteriösen Tod 1993 Staatspräsident. Er selber war ein frommer Muslim und war in der Vergangenheit bereits der Universalismusabwehr verpflichtet. Er war in den 1970er Jahren, sowohl Mitglied der MSP als auch in islamischen Orden aktiv. 69 Vgl. İsmet Parlak / Onur Aycan, Turkey´s Memory Politics in Transformation: AKP´s New and Old Turkey, in: Ayhan Bilgin / Armağan Öztürk (Hg.), Political Culture of Turkey in the Rule of the AKP. Change and Continuity, Baden-Baden 2016, S. 67-88, hier S. 78.
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winnen.70 Mit dem MÜSIAD, dessen Mitglieder sich selber gemeinhin als „Homo-Islamicus“ in Abgrenzung zum westlichen homo-oeconomicus bezeichnen, entstand eine strategische Partnerschaft im beidseitigen Interesse und deutet eine Vermischung wirtschaftsfreundlicher Praktiken unter Beachtung religiöser Pflichten an.71 Beide vertraten islamische Werte, legten antiwestliche Ressentiments bis zu einem gewissen Grad ab und fühlten sich einer wirtschaftsfreundlichen, kapitalistischen Politik verpflichtet. Dieser Balanceakt der AKP geriet phasenweise durchaus in Turbulenzen, nicht immer gelang es ihr, Bedürfnisse ihrer Stammklientel und westlichen Universalismus in Einklang zu bringen. Eine offen reaktionäre Politik konnte die AKP anfänglich nicht umsetzen, nicht nur, dass die Türkische Republik weiterhin als eine Form der „Enklavendemokratie“72 bezeichnet werden konnte, in der das letzte Wort die kemalistische Elite behielt, sondern auch wegen ihrer neuen außenpolitischen Ausrichtung. Während Regierungen vor ihr aufgrund des Partikularismus Beziehungen zur Europäischen Union schleifen ließen und keinerlei Reformen einleiteten um die notwendigen Kopenhager Kriterien zu erfüllen73, verfolgte die AKP einen proeuropäischen Ansatz. Geplante konservative Gesetze wie die Kriminalisierung von Ehebruch 2004 wurden nach massiver Kritik der Europäischen Kommission schließlich zurückgezogen, obwohl eine komfortable parlamentarische Mehrheit vorhanden war.74 Generell gab es zahlreiche Reformen um die türkischen Gesetze mit den europäischen zu harmonisieren.75 Der partielle Universalismus der AKP hatte demnach Auswirkungen – sowohl auf die Innen- als auch auf die Außenpolitik.
70 Vgl. Ali Ekber Doğan, İslamcı Sermayenin Gelişme Dinamikleri ve 28 Şubat Süreci, in: İlhan Uzgel / Bülent Duru (Hg.), AKP Kitabı. Bir Dönüşümün Bilançosu (2002-2009), 3. Aufl., Ankara 2013, S. 283-307, hier S. 304f. 71 Şen, Transformation of Turkish Islamism, S. 74. 72 Ergun Özbudun, Problems of Rule of Law and Horizontal Accountability in Turkey: Defective Democracy or Competitive Authoritarianism, in: Paul Kubicek / Cengiz Erişen (Hg.), Democratic Consolidation in Turkey. Micro and Macro Challenges, London 2016, S. 144-166, hier S. 147. 73 Nicht unerwähnt sollen hier die zaghaften Versuche der Ecevit-Regierungen bleiben, türkische Gesetze mit EU-Recht zu harmonisieren, wie z.B. die De-facto-Abschaffung der Todesstrafe. 74 Vgl. Arda Can Kumbaracıbaşı, Turkish Politics and the Rise of the AKP. Dilemmas of Institutionalization and Strategical Leadership, London 2009, S. 182. 75 Vgl. H. Kutay Aytuğ, Europeanisation of Turkey During AKP Governments, in: Ayhan Bilgin / Armağan Öztürk (Hg.), Political Culture of Turkey in the Rule of the AKP. Change and Continuity, Baden-Baden 2016, S. 269-282, hier S. 275.
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Ob es tatsächlich von Anfang an ein kalkuliertes Spiel war oder nicht76, lässt sich abschließend nicht eindeutig beantworten, aber tendenziell ist eine Strategie zu erahnen, da aus den Fehlern der Vorgänger anscheinend die richtigen Schlüsse gezogen wurden. Onur Açar kommentiert die einstige europafreundliche Haltung der AKP wie folgt: „In fact it might be possible to say that AKP´s approach to the European Framework was first and foremost to gain advantage in the power struggle with the military.“77 Diese These folgt der Annahme eines feindlich gesinnten institutionellen Umfelds, das zunächst „bearbeitet“ werden musste, um überhaupt selber Fuß im feindlichen Terrain fassen zu können. Statt einer Politik, die auf einen partikularen Ansatz beschränkt war und nur einen gewissen Teil der Bevölkerung repräsentieren sollte und damit institutionellen Anfeindungen ausgesetzt war, formulierte die AKP einen universellen Anspruch und schuf eine breite Unterstützungsplattform. Im Rahmen des Konflikts „Zentrum vs. Peripherie“, der in diesem Fall auch präziser als „status-quo-orientiert vs. an Wandel orientiert“ charakterisiert werden kann, sind liberale Stimmen ebenfalls zu Antagonisten des herrschenden Kemalismus hinzuzuzählen, so beispielsweise die 1992 gegründete Liberal Thought Society, die aufgrund ihrer Ablehnung des „verknöcherten Kemalismus“ eine Annäherung mit der „Status-Quo-ändernden“ AKP gesucht hat.78 Dieser „Kampf“ um die staatliche, gesellschaftliche und kulturelle Hegemonie im Land ist der Übergang eines Partikularismus, der nur eine exklusive Gruppe anspricht, zu einem Universalismus, der einen abstrakten also allgemeinen Anderen umfasst. Die Kontrahenten der kemalistischen Elite sind jedoch nicht ausschließlich Akteure aus der Peripherie oder noch simplifizierter „black turks“, die gegen „white turks“ aufbegehren. Vielmehr agierten die neuen Antikemalisten wie dargestellt bereits aus dem Zentrum heraus. Entscheidender für den Erfolg der AKP als die Rekrutierung der „black turks“ war der Vertrauensgewinn der „Opfer“ des 76 Hierzu u.a. Bassam Tibi, Islamischer Konservatismus der AKP als Tarnung für den politischen Islam? Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus, in: Gerhard Besier / Hermann Lübbe (Hg.), Politische Religion und Religionspolitik, Göttingen 2005, S. 229-260. 77 Onur Açar, The Deadlock of Justice and Development Party`s Recognition Politics, in: Ayhan Bilgin / Ar-mağan Öztürk (Hg.), Political Culture of Turkey in the Rule of the AKP. Change and Continuity, Baden-Baden 2016, S. 161-200, hier S. 175. 78 Özlem Denli. Liberalism and the „Liberal-AKP“ Rapprochement in Turkey, in: Ayhan Bilgin / Armağan Öztürk (Hg.), Political Culture of Turkey in the Rule of the AKP. Change and Continuity, Baden-Baden 2016, S. 240-268, hier S. 241.
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Kemalismus: Demokraten, Liberale und Kurden. Es ist demnach falsch anzunehmen, der Aufstieg der AKP wäre ein reines ‚Märchen‘, in dem die anatolische Peripherie eine alles entscheidende Rolle spielt. 6 Stabiler AKP-Partikularismus ab 2007 In der ersten Legislaturperiode unter der Einparteienregierung pflegte die AKP eine harmonische und inklusive Rhetorik. Einst marginalisierte Gruppen wurden konsequenterweise durch diesen neuen Universalismus entstigmatisiert.79 Selbst einstige Gründe für die Kreation einer islamischen Partei, nämlich die Gegnerschaft zum Kemalismus, wurden relativiert, indem der Laizismus nicht per se infrage gestellt, sondern lediglich dessen demokratische Neuausrichtung gefordert wurde.80 Für die regierende AKP ist das Jahr 2007 der Wendepunkt, insbesondere in Fragen der Machterhaltung. Viele Konflikte und ihre Ausgänge konsolidierten schließlich ihre Macht und trugen dazu bei, die kemalistische Elite aus ihrer komfortablen Situation allmählich zu verdrängen, sie läuteten die Kehrtwende von einem propagierten Gegenuniversalismus hin zu einem AKP-Partikularismus ein. Mit der Wahl Abdullah Güls, einem Gründungsmitglied der AKP, 2007 besetzte die Partei nicht nur die letzte durch Wahlen einzunehmende staatliche Bastion in den Händen der Kemalisten, sondern auch mittelfristig wesentliche Teile der Gerichtsbarkeit. Im Sinne einer indirekten Machterhaltung hatte das türkische Militär mit der Verfassung von 1982 den Staatspräsidenten kurzerhand verfassungsmäßig mit beträchtlichen Befugnissen ausgestattet, unter anderem die nahezu komplette Ernennungsgewalt für den Verfassungsgerichtshof und den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte, diese Möglichkeit der Politisierung jedoch gleichzeitig mit der Bedingung einer parteipolitischen Neutralität den Parteien quasi entzogen.81 Was unter der Bedingung eines fragmentierten Parlaments, das den Präsidenten mit einer Zweidrittelmehrheit wählt, in der Regel zu einem den Militärs wohlgesonnen Kandidaten führte, bot in einer stabilen Einparteienregierung keine Sicherheit mehr für den Machterhalt der militärischen Führung. Vor diesem Hintergrund formulierte die Armeeführung folgende Drohung: Sofern die AKP an ihrem Vorhaben, Gül zu wählen, festhielte, sehe das Militär sich einmal mehr zum Ein-
79 Vgl. Joppien, Die türkische AKP, S. 78. 80 Vgl. ebd., S. 105. 81 Siehe Türkische Verfassung von 1982.
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schreiten gezwungen, so der Inhalt des E-Memorandums. Gül wurde nominiert, die Drohung nie realisiert, stattdessen verlor das Militär gegenüber der AKP mehr und mehr an Boden.82 Ein letzter Schritt der AKP, das institutionelle Zentrum endgültig zu ‚kapern‘, war eine Verfassungsänderung im Jahr 2010, die mit einer DreiFünftel-Mehrheit verabschiedet wurde und deswegen der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt werden musste. Der Clou bestand darin, die Abstimmung als Paket vorzulegen und diesem einige Punkte ‚unterzujubeln‘ deren Demokratisierungsgrad hoch waren, woraufhin viele liberal-demokratische Kräfte ihre Zustimmung ankündigten, obwohl die Reformen noch lange „nicht ausreich[t]en“.83 Mit Blick auf die Gewaltenteilung jedoch waren diese Verfassungsänderungen nicht mit demokratischen Prinzipien zu vereinbaren, sondern bedeuteten einen großen Schritt in Richtung exekutiver Abhängigkeit der ohnehin stark vom Einfluss des Staatspräsidenten geprägten Judikative.84 Ein Resultat dieser Annahme waren die ersten staatlichen Säuberungen unter Richtern und Staatsanwälten im Zuge der Aufdeckung massiver Korruption und Bestechung 2013; dabei wurden auch AKP-Mitglieder sowie Regierungsminister und Familienangehörige beschuldigt. Ihre simple Versetzung und die damit verbundene Verhinderung weiterer Ermittlungen wurden erst durch diese Reform ermöglicht. Mit diesen machterhaltenden Reformen und den ständigen Wahlsiegen fand gleichzeitig eine Veränderung im Selbstverständnis der AKP statt und demokratische, EU-freundliche Reformen gerieten immer mehr ins Stocken.85 Leichte Modifikationen in den Visionen und eine Abkehr vom westlichen Universalismus hin zu einem AKP-Partikularismus wurden stärker, was sich innenpolitisch wie außenpolitisch bemerkbar machte. Zunehmend entfremdeten sich beispielsweise liberale und linke kurdische Kräfte von der AKP aufgrund ihrer autoritärer werdenden Politik. Obgleich der Friedensprozess mit den Kurden weiterhin eine wichtige und
82 Vgl. Roy Karadağ, Islam und Politik in der neuen Türkei: der Aufstieg der AKP aus historisch-institutionalistischer Perspektive, in: Zeitschrift für Politik 59,3 (2012), S. 332-352, hier S. 347ff. 83 Ergun Özbudun, Turkey`s Search for a new Constitution, in: Insight Turkey 14,1 (2012), S. 39-50, hier S. 44-49. 84 Burak Gümüş, Der türkische Hohe Rat für Richter und Staatsanwälte HSYK als politisches Instrument, in: Burcu Doğramacı et al. (Hg.): Die Türkei im Spannungsfeld von Kollektivismus und Diversität. Junge Perspektiven der Türkeiforschung in Deutschland, Wiesbaden 2016. 85 Aytuğ, Europeanisation of Turkey. S. 278f.
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verbindende Rolle spielte, begannen allmählich viele Beobachter zu ahnen, dass die von der AKP als demokratisches Konzept präsentierte „kurdische Öffnung“ lediglich eine kulturelle Dimension aufwies, statt einer politischen, auf Teilhabe basierenden Annäherung.86 Spätestens während des Gezi-Widerstands und angesichts des verstärkten Rekurses auf islamische Ordnungsvorstellungen war der Abschied vom Universalismus offensichtlich. Beispielsweise sprach Erdoğan in den letzten Jahren mehrfach von seiner Vision eine religiöse Generation heranzuziehen und von dem Willen, hierfür vermehrt in Predigerschulen zu investieren.87 Außenpolitisch drückte sich der Wandel in einem Abbruch der EU-Reformen und einer zunehmenden Ausrichtung des außenpolitischen Interesses gen Osten aus. Die AKP erhob einen Führungsanspruch innerhalb der sunnitisch-muslimischen Welt. Engere Beziehungen zu islamistisch-radikalen HAMAS-Größen wie Khalil Meshal, aber auch bewusst antisemitische Äußerungen wie die des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan auf der Davos-Konferenz 2009, der Shimon Perez vorwarf, Israel sei Meister darin, Kinder zu töten, sind Teil des islamischen Führungsanspruchs und des neuen Partikularismus.88 In diese Tendenz reihten sich weitere antidemokratische Maßnahmen89 nahtlos ein, sei es der kurz vor der Parlamentswahl im Juni 2015 angefangene erbarmungslose Krieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung90, die schrittweise – aber gnadenlose – Abschaffung oppositioneller Medien oder die damit einhergehende Bekämpfung des gesellschaftlichen Pluralismus.91 Der Versuch, das Land gleichzuschalten, nahm mit dem versuchten Militärputsch im Juli 2016 und der anschließen86 Vgl. Açar, Deadlock of Recognition Politics. S. 173. 87 Vgl. Yeni Şafak: Dindar nesil yetiştireceğiz, 28. Februar 2016, https://www.yenisafa k.com/gundem/dindar-nesil-yetistirecegiz-2424175%20/ [26.11.2018]. 88 Vgl. Mahir Tokatlı, Zur führungscharismatischen Inszenierung des «Großen Meisters» - Recep Tayyip Erdoğan und sein Charisma, in: Yunus Yoldaş et al. (Hg.): Die Neue Türkei. Eine grundlegende Einführung in die Innen- und Außenpolitik der Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan, Frankfurt a.M. et al. 2015, S. 159-189, hier S. 180f. 89 Die Entdemokratisierung findet laut Freedom House Index seit 2013 kontinuierlich statt und erreichte ihren Höhepunkt im Bericht von 2018 als die Türkei das erste Mal als „not free“ eingestuft wurde. In den letzten zehn Jahren habe die Türkei den größten Rückschritt gemacht. Vgl. Freedom House Index, Freedom in the World 2018. Democracy and ist Crisis, Washington 2018, S. 10. 90 Burç, Rosa, Erdoğan’s Plan for the Kurds: Destroy, Rebuild, Pacify, teleSUR, 3 March 2016, online unter URL: https://www.telesurtv.net/english/opinion/Erdog ans-Plan-for-the-Kurds-Destroy-Rebuild-Pacify-20160303-0031.html [31.5.2018]. 91 In Fragen der Pressefreiheit belegt die Türkische Republik den 155. Platz von 180 möglichen, noch hinter Weißrussland und Äthiopien. Vgl. Reporter ohne Gren-
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den Ausrufung des Ausnahmezustands, der bis heute andauert und die legale Ordnung suspendiert hat, an Geschwindigkeit zu und mündete schließlich in die Annahme des Verfassungsreferendums, das de facto kein Regierungssystemwandel, sondern ein Regimewechsel ist und im Grunde die Konstitutionalisierung des Ausnahmezustands bedeutet.92 In der Außenpolitik ist nicht nur eine radikale Abkehr zu konstatieren, sondern eine aktive Lust, einst freundschaftliche Beziehung zu westlichen Partnern feindselig eskalieren zu lassen. Diese skizzenhaft vorgestellten, gravierenden Kursänderungen deuten auf einen neuen, stabilen AKP-Partikularismus hin. 7 Fazit Die mit der AKP oftmals assoziierte Vorstellung eines Aufstiegs der benachteiligten islamischen Peripherie trifft nicht zu. Die Implementierung universalistischer Prinzipien hatte schon lange vor Gründung und Aufstieg dieser Partei einen demokratisch-partizipationsorientierten Druck erzeugt, der zu einer institutionellen Repräsentation dieser vermeintlichen Peripherie im Zentrum führte. Je nach zeitlicher Phase mit unterschiedlicher Macht ausgestattet, war der politische Islam als Gegenstück zur dominierenden Säkularisierungspolitik ein konstanter Teil des Zentrums. Spätestens der Militärputsch von 1980 sorgte im Rahmen der nunmehr neokemalistischen Hegemonie für einen festen und stabilen Zugang der peripheren Interessen in die Entscheidungsprozesse. Es ist unzureichend, zu behaupten, der politische Islam sei weiterhin ausschließlich in der Peripherie ansässig. Eine simplifizierte Analyse des cleavages „Zentrum vs. Peripherie“ könnte zu dem Schluss führen, die Rollen wären lediglich vertauscht worden und die Peripherie hätte nun die Rolle des Hegemons eingenommen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die AKP nicht allein für die Peripherie Politik betrieb, sondern selber universalistische Ziele formulierte, die eben dieses cleavage überwinden sollten. Gescheitert ist Erdoğan mit seinem Anspruch nicht; nach der Verwirklichung dieses Anspruchs hat er ihn zen Rangliste der Pressefreiheit 2017, zit. nach URL: https://www.reporter-ohne-g renzen.de/fileadmin/Redaktion/Presse/Downloads/Ranglisten/Rangliste_2017/Ra ngliste_der_Pressefreiheit_2017_-_Reporter_ohne_Grenzen.pdf [31.5.2018]. 92 Vgl. Mahir Tokatlı, Kommt jetzt ein neues Regierungssystem? Die türkischen Parlamentswahlen vom 7. Juni und 1. November 2015, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 47,4 (2016), S. 735-752, hier S. 752.
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schlicht ad absurdum geführt und den a priori propagierten Universalismus in einen islamischen Partikularismus umgewandelt, ähnlich wie die kemalistische Elite, die ihren positivistischen Universalismus letztendlich in einen post-osmanischen Partikularismus überführte. Beiden Partikularismen gemeinsam ist ihr etatistisches Leitmotiv und die Zeichnung von potentiellen Feinden, die diese nationale Einheit und somit ihre eigene Hegemonie, also den Status Quo, gefährden. Es gilt diese nicht in den Partikularismus Integrierbaren zu marginalisieren und letztlich zu assimilieren. Quellen- und Literaturverzeichnis Açar, Onur, The Deadlock of Justice and Development Party`s Recognition Politics, in: Ayhan Bilgin / Armağan Öztürk (Hg.), Political Culture of Turkey in the Rule of the AKP. Change and Continuity, Baden-Baden 2016, S. 161-200. Ahmad, Feroz, The Making of Modern Turkey, London 1993. Aytuğ, H. Kutay, Europeanisation of Turkey During AKP Governments, in: Ayhan Bilgin / Armağan Öztürk (Hg.), Political Culture of Turkey in the Rule of the AKP. Change and Continuity, Baden-Baden 2016, S. 269-282. Beşikçi, Ismail, Tunceli Kanunu (1935) ve Dersim Jenosidi, Bonn 1991. Bilgin, Ayhan, Der Aufstieg der AKP unter dem Blickwinkel des politisch-kulturellen Wandels, in: Ayhan Bilgin / Armağan Öztürk (Hg.): Political Culture of Turkey in the Rule of the AKP. Change and Continuity, Baden-Baden 2016, S. 29-66. Bilici, Mücahit, Black Turks, White Turks: On the Three Requirements of Turkish Citizenship, in: Insight Turkey 11,3 (2009), S. 23-35. Bozarslan, Hamit, Kurds and the Turkish State, in: Reşat Kasaba (Hg.), The Cambridge History of Turkey, Cambridge 2008, S. 333-356. Burç, Rosa, Erdoğan’s Plan for the Kurds: Destroy, Rebuild, Pacify, teleSUR, 3 March 2016, online unter URL: https://www.telesurtv.net/english/opinion/Erdo gans-Plan-for-the-Kurds-Destroy-Rebuild-Pacify-20160303-0031.html [31.5.2018]. Çağlar, Gazi, Die Türkei zwischen Orient und Okzident. Eine politische Analyse ihrer Geschichte und Gegenwart, Münster 2003. Cizre, Ümit, Introduction: The Justice and Development Party: making choices, revisions and reversals interactively, in: Ders. (Hg.): Secular and Islamic Politics in Turkey. The making of the Justice and Development Party, London 2008, S. 1-15. Çobanoğlu, Yavuz, Islam and Politics of Islamism in Turkey, in: Ayhan Bilgin / Armağan Öztürk (Hg.), Political Culture of Turkey in the Rule of the AKP. Change and Continuity, Baden-Baden 2016, S. 88-109. Dinçşahin, Şakir, A Symptomatic Analysis of the Justice and Development Party's Populism in Turkey, 2007–2010, in: Government and Opposition 47,4 (2012), S. 618-640.
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Menschenrechte und die Gestaltung der internationalen Ordnung im 20. Jahrhundert Jan Eckel
Während des 20. Jahrhunderts gewann die Idee der Menschenrechte eine symbolkräftige und politisch nicht selten tragende Bedeutung für das Nachdenken darüber, wie sich eine gerechtere und friedlichere Weltordnung schaffen lasse. Im historischen Rückblick wird erkennbar, dass Politiker, Aktivisten und Intellektuelle gerade in Momenten des tiefgreifenden Umbruchs auf diese Idee rekurrierten, in denen sich die überkommenen internationalen Strukturen aufzulösen und die Voraussetzungen des politischen Handelns zu wandeln schienen. In diesen Phasen kristallisierten sich in Menschenrechtsdiskursen bisweilen ausgreifende Projekte der Gestaltung internationaler Politik, die darauf ausgerichtet waren, das internationale System auf eine neue Grundlage zu stellen, seine Unzulänglichkeiten zu beheben – oder es schlicht vor einer Katastrophe zu bewahren. Betrachtet man das Bemühen, Menschenrechte zu schützen, aus dieser Perspektive, so verschafft es einen spezifischen und vergleichsweise neuen Zugang dazu, über die internationalen Beziehungen des 20. Jahrhunderts nachzudenken. Im Zentrum stehen dann nicht die verheerenden Kriege und großen Krisen oder die dominierenden weltpolitischen Konfliktlinien, so präsent diese als Hintergrund fraglos bleiben. Der Blick richtet sich gleichsam auf die andere Seite: auf die Diagnosen der Missstände und Mängel und die daraus hervorgehenden Bemühungen, Abhilfe zu schaffen – Gewalt einzudämmen, Leiden zu mindern oder Ungleichheiten zu beseitigen. Die Menschenrechtsgeschichte macht deutlich, dass solche Ambitionen der Weltverbesserung durchaus wirkmächtig sein konnten, verweist aber ebenso darauf, dass sie sehr unterschiedlich motiviert sein und die konkreten Zielvorstellungen stark voneinander abweichen konnten. In diesem Aufsatz möchte ich diese Zusammenhänge anhand von vier historischen Phasen näher betrachten, in denen die wahrgenommenen Verwerfungen in der internationalen Politik besonders intensive Reflexionen über eine mögliche Neuausrichtung der weltpolitischen Ordnung auslösten und menschenrechtlichen Vorstellungen eine Schlüsselfunktion zuge-
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Jan Eckel
schrieben wurde.1 In den 1940er Jahren waren es die Verheerungen des Weltkriegs – welche als Kulminationspunkt einer Jahre oder sogar Jahrzehnte währenden Krise begriffen wurden –, die dringliche Überlegungen darüber anleiteten, wie sich in Zukunft ein internationales System aufbauen ließe, das dem Kriegswillen einzelner Staaten weniger ausgeliefert sein würde. Gut zwanzig Jahre später trieb der Dekolonisierungsprozess einem ersten Höhepunkt entgegen, und somit spitzte sich auch die Frage zu, wie das Verhältnis von westlichen (Kolonial-)Mächten einerseits und der kolonialen und postkolonialen Welt andererseits beschaffen sein sollte. Mit Anbruch der 1970er Jahre gelangten vor allem westliche politische Experten zu der Auffassung, die Welt befinde sich in einem Stadium rasant wachsender „Interdependenz“, woraus der internationalen Politik grundlegend neue Herausforderungen erwüchsen. Nach dem Verschwinden der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa schließlich schienen in den Augen zahlreicher Beobachter lang gehegte Gewissheiten über die internationale Ordnung gleichsam über Nacht aufgelöst und die Möglichkeit – aber auch Notwendigkeit – zu bestehen, die Parameter des weltpolitischen Geschehens völlig neu auszurichten. In der Folge soll es darum gehen, zu untersuchen, welche Rolle menschenrechtlichen Projekten in diesen Umbruchssituationen zukam – welche historischen Perzeptionen ihnen zugrunde lagen, mit welchem politischen Gehalt sie versehen wurden und welche Veränderungsansprüche sie verfolgten. Abschließend versuche ich, daraus einige verallgemeinerbare Schlussfolgerungen abzuleiten und Menschenrechte auf diese Weise in der Geschichte der internationalen Politik des 20. Jahrhunderts zu verorten. 1. Menschenrechte und die internationale Sicherheit in den 1940er Jahren In den Jahren zwischen etwa 1941 und 1948 wurde über die Möglichkeiten internationaler Steuerung und zwischenstaatlicher Kooperation so intensiv diskutiert, wie niemals zuvor.2 Und selbst wenn sich bei Weitem nicht alle
1 Vgl. zum Folgenden ausführlicher: Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940er Jahren, Göttingen 20152. 2 Vgl. etwa Jessica Reinisch, Internationalism in Relief. The Birth (and Death) of UNRRA, in: Past and Present (2011), S. 258-289; Gerard Daniel Cohen, In War’s Wake. Europe’s Displaced Persons in the Postwar Order, New York 2012; Patricia Clavin, Securing the World Economy. The Reinvention of the League of Nations, 1920-1946, Oxford 2013; Thomas Zimmer, Welt ohne Krankheit. Geschichte der internationalen Gesundheitspolitik 1940-1970, Göttingen 2017. Vgl. auch Or
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Menschenrechte und die Gestaltung der internationalen Ordnung im 20. Jahrhundert
Pläne, die damals erdacht wurden, anschließend verwirklichen ließen, wurden doch, fast durchweg unter amerikanischer Führung, wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Sie sollten die internationale Ordnung zum Teil auf Jahrzehnte hinaus beeinflussen. Das beschränkte sich nicht auf die Gründung der neuen Weltorganisation der Vereinten Nationen. Darüber hinaus entfalteten sich auf zahlreichen politischen Feldern oftmals präzedenzlose Anstrengungen. Die United Nations Relief and Rehabilitation Administration leistete vor allem in Europa humanitäre Hilfe und praktische Wiederaufbauarbeit in gigantischem Maßstab. In Bretton Woods wurden die Rahmenbedingungen einer neuen, wenn auch schließlich auf den Westen begrenzten Wirtschaftsordnung vereinbart. Der Gedanke der „Entwicklung“ der Kolonialgebiete erhielt einen starken Schub, und das Gleiche galt für die Idee, die „Weltgesundheit“ durch groß angelegte präventive Kampagnen zu sichern. Diese Projekte flossen aus vielfältigen politischen Kalkülen, doch hatten sie einen zentralen gemeinsamen Bezugspunkt. Denn sie alle wurden als Beiträge zur Grundlegung stabiler internationaler Strukturen begriffen, mit denen der Friede ein für alle Mal besser gesichert sein sollte als in den zurückliegenden katastrophischen Jahrzehnten. Die Forderungen, überstaatliche Menschenrechtsgarantien zu schaffen, standen nicht im Zentrum dieses politischen Zukunftsdiskurses, bildeten jedoch einen konturierten Strang.3 Dieser reichte bis in die 1920er Jahre zurück, als Völkerrechtler und international ausgerichtete Juristen begonnen hatten, über den Sinn und die Möglichkeit internationaler Menschenrechtsdokumente nachzudenken. In den Kriegsjahren intensivierte sich der Diskurs indes erheblich. Symbolisch kulminierte er in der Verabschiedung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung im Jahr 1948, institutionell in der Schaffung eines Menschenrechtssystems in den Vereinten Nationen, über welches das Thema fortan dauerhaft präsent war.4 Dass Menschenrechte in den 1940er Jahren eine sehr viel sichtbarere Rolle auf dem internationalen Parkett zu spielen begannen als zuvor, lässt
Rosenboim, The Emergence of Globalism. Visions of World Order in Great Britain and the United States, Princeton 2017. 3 Vgl. zum Hintergrund Jay Winter / Antoine Prost, René Cassin and Human Rights. From the Great War to the Universal Declaration, Cambridge 2013; Samuel Moyn, Christian Human Rights, Philadelphia 2015; Marco Duranti, The Conservative Human Rights Revolution. European Identity, Transnational Politics, and the Origins of the European Convention, Oxford 2017. 4 Vgl. Roger Normand / Sarah Zaidi, Human Rights at the UN. The Political History of Universal Justice, Indianapolis 2008.
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sich nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Zahlreiche politische Akteure und Gruppen gaben in den Diskussionen ihren Überzeugungen Ausdruck, und folglich waren die Erfahrungen und Zielvorstellungen, die das Verlangen nach Menschenrechten speisten, denkbar vielfältig. Es gab jedoch einen dominierenden Ideenkomplex, dem sich besonders viele Menschenrechtsverfechter verschrieben und zumal diejenigen, welche die wichtigen Entscheidungen über die Gestalt der neuen internationalen Normen und Institutionen direkt beeinflussten. Dieser Ideenkomplex kreiste um die Frage, wie sich effektivere Mechanismen der internationalen Sicherheit und Friedenswahrung aufbauen ließen – und lag somit ganz auf der gedanklichen Linie, die in diesen Jahren auch auf anderen Politikfeldern vorherrschte. Er bestimmte etwa den Denkhorizont internationalistischer Vereinigungen in den USA, die große Anstrengungen unternahmen, um die Regierung Franklin D. Roosevelts zu überzeugen, sie solle sich für starke Menschenrechtsbestimmungen in der Charta der zu gründenden Organisation der Vereinten Nationen einsetzen. Die Commission to Study the Organization of Peace, eine Gruppe linksliberaler, internationalistisch gesinnter Akademiker, erlangte dabei besondere Bedeutung, zumal sie Kontakte zu hohen Regierungskreisen pflegte.5 Ihre Mitglieder plädierten für internationale Menschenrechtsgarantien, weil sie glaubten, auf diese Weise die Kriegsgefahr, die von radikalen Diktaturen wie der italienischen und vor allem der nationalsozialistischen ausgehe, künftig im Keim ersticken zu können. Die internationale Gemeinschaft, so das Kalkül, sollte bereits in dem Moment einschreiten können, in dem fanatisierte Bewegungen den Rechtsstaat abschafften, um anschließend ihre totalitäre Herrschaft zu errichten. Denn ließe man sie gewähren, so wäre die Folge, dass sie die eigene Bevölkerung indoktrinieren und militaristisch mobilisieren würden, um anschließend Krieg gegen die umliegenden Staaten vom Zaun zu brechen. Das Aufkommen des Menschenrechtsgedankens in den Kriegsjahren war insofern an eine bestimmte Deutung der Ereignisse der 1930er und frühen 1940er Jahre gebunden. Im Zentrum stand die Erfahrung, dass sich ein neuer Typus von Diktatur herausgebildet hatte, dessen aggressives Ausgreifen eine existenzielle Gefahr für die internationale Ordnung darstelle. 5 Vgl. zu den Ideen der Gruppe Quincy Wright, Human Rights and the World Order, in: International Conciliation 389 (April 1943), S. 238-262; Commission to Study the Organization of Peace, International Safeguard of Human Rights, in: International Conciliation 403 (September 1944), S. 552-575. Vgl. auch Glenn Tatsuya Mitoma, Human Rights and the Negotiation of American Power, Philadelphia 2013, S. 17-43.
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In dieser Deutung erschien die innere, gesellschaftliche Unterdrückung nur als erster und gleichsam instrumenteller Schritt auf dem Weg zu einem gewalttätigen Expansionismus. Erschrecken über die Gewaltexzesse des Kriegs und aufrichtiges Mitleid mit den Opfern mögen die Vordenker menschenrechtlicher Sicherungen durchaus angetrieben haben. Ausgesprochen wurden solche Empfindungen in dem Diskurs jedoch selten. Dessen Akzent lag folglich nicht so sehr darauf, das Leid unschuldig Verfolgter im Ausland zu beschwören oder eine neue, universelle politische Moralität zu postulieren. Die Commission to Study the Organization of Peace stand mit der Denkfigur der Kriegsvermeidung durch internationalen Menschenrechtsschutz beileibe nicht allein. Dass die Repression, mit der Diktaturen ihre Macht im eigenen Land zementierten, in einem engen Zusammenhang mit der Bedrohung des weltweiten Friedens stehe, bildete auch den ideellen Kern anderer wichtiger Vorschläge, die in diesen Jahren unterbreitet wurden. Diejenigen lateinamerikanischen Staaten wie Kuba oder Uruguay, die sich auf der UN-Gründungskonferenz in San Francisco für ein starkes Menschenrechtssystem einsetzten, hoben ebenso darauf ab wie die Vertreter internationaler NGOs, etwa der International League for the Rights of Man oder der Women’s International League for Peace and Freedom, die dieses System anschließend mit politischem Leben zu erfüllen suchten. Auch bei der Etablierung eines Menschenrechtsregimes im Europarat, der 1950 eine Konvention verabschiedete und später eine Kommission schuf, finden sich ähnliche Annahmen. Und selbst noch, als sich gegen Ende der 1950er Jahre das inter-amerikanische Menschenrechtssystem zu aktivieren begann – auf die Verabschiedung einer Menschenrechtserklärung 1948 waren auf dem Kontinent zunächst kaum weitere Impulse gefolgt –, spielte der Gedanke eine Rolle, zwischenstaatlich vereinbarte Menschenrechtsnormen könnten Schutz vor einer Unterminierung der regionalen Ordnung bieten. Sie drohte in den Augen vieler lateinamerikanischer Politiker in diesen Jahren vom kubanischen Revolutionsexport. Auf diese Weise verdichtete sich die sicherheitspolitische Aufladung der Menschenrechtswahrung in den Kriegs- und Nachkriegsjahren zu einer Leitvorstellung der internationalen Neuordnung. 2. Die Verkehrung der machtpolitischen Weltordnung in der Dekolonisierung Noch während sich bei den Vereinten Nationen die Strukturen eines neuen Menschenrechtssystems zu formieren begannen, nahm ein anderer Prozess von globalhistorischer Bedeutung Fahrt auf. Die Unabhängigkeit der 267
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Philippinen, Indiens und Palästinas in den ersten Jahren nach dem Krieg markierte den Auftakt eines bei allen Brüchen zusammenhängenden Prozesses der Dekolonisierung, dessen Dynamik zuvor kaum jemand für möglich gehalten hätte. Innerhalb von rund dreißig Jahren sollten mit Afrika und Asien zwei ganze Kontinente ihre staatliche Eigenständigkeit und zum Teil jahrhundertealte Herrschaftsverhältnisse ihr Ende finden – eine Verwandlung der Welt, wenn es jemals eine gegeben hat. Auch im Zusammenhang dieser wohl größten Freiheitsbewegung des 20. Jahrhunderts machten sich menschenrechtliche Vorstellungen geltend; wenn auch vielleicht nicht dort, wo man sie am ehesten erwarten würde.6 In der Rhetorik kolonialer Unabhängigkeitsführer und nationalistischer Bewegungen nämlich waren Menschenrechte zwar keineswegs abwesend. Doch erlangten sie eine eher situative Bedeutung. Der spätere erste Staatspräsident Ghanas, Kwame Nkrumah, war keineswegs untypisch, wenn er das Menschenrechtsversprechen mal als scheinheiliges westliches Täuschungsmanöver zurückwies, mal als Rechtfertigung für den antikolonialen Kampf beanspruchte.7 Dieses ambivalente Muster durchzog den antikolonialen Diskurs. So dienten Menschenrechte aufs Ganze gesehen als eine flexible Begründungsform des politischen Handelns, die in taktisch günstigen Momenten eingesetzt wurde und ansonsten in den Hintergrund trat. Gleichwohl gab es einen Ort, an dem afrikanische und asiatische Akteure die Bezugnahme auf Menschenrechte in eine konsistente und langlebige Strategie überführten: die Vereinten Nationen. Dabei kam der Forumscharakter der Organisation besonders stark zum Tragen. Denn nur hier, und genauer noch in der Generalversammlung, waren alle selbständigen Staaten mit gleicher Stimme vertreten. Und hier stellte sich am ehesten so etwas wie eine Weltöffentlichkeit her – die dann in den Reden auch gerade-
6 Vgl. zum Hintergrund Fabian Klose, Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in Kenia und Algerien 1945-1962, München 2009; Roland Burke, Decolonization and the Evolution of International Human Rights, Philadelphia 2010; Andreas Eckert, Afrikanische Nationalisten und die Frage der Menschenrechte von den 1940er bis zu den 1970er Jahren, in: StefanLudwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 312-336; Meredith Terretta, „We Had Been Fooled into Thinking that the UN Watches over the Entire World“. Human Rights, UN Trust Territories, and Africa’s Decolonization, in: Human Rights Quarterly 34 (2012), S. 329-360. 7 Vgl. Kwame Nkrumah, Towards Colonial Freedom. Africa in the Struggle against World Imperialism, London u.a. 1962 [orig. 1947?]; Ders., Africa Must Unite, New York 1970 [orig. 1963].
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zu stereotyp beschworen wurde. Eine imposante Beitrittswelle unabhängig gewordener Staaten sorgte dafür, dass afrikanische und asiatische Mitglieder, die oft von lateinamerikanischen Delegierten unterstützt wurden, seit den sechziger Jahren das numerische Übergewicht in diesem Gremium besaßen.8 Diese Dominanz nutzten afrikanische und asiatische Staaten, in enger Abstimmung untereinander, dazu, sich die Menschenrechtsagenda der Weltorganisation anzueignen und sie im Sinne ihrer politischen Anliegen und Ziele umzuschreiben. Dieses Bemühen schlug sich in den sechziger Jahren vor allem in drei größeren Initiativen nieder. Zunächst einmal gelang es, das Selbstbestimmungsprinzip – und damit die wichtigste Begründungsfigur des antikolonialen Kampfes – als ein internationales Menschenrecht festzuschreiben. Die Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker, 1960 von der Generalversammlung verabschiedet, stellte ein Bekenntnis zum Selbstbestimmungsgedanken dar, der eng an den Menschenrechtsbegriff gekoppelt wurde, und verwarf die fortgesetzte Kolonialherrschaft als eine Menschenrechtsverletzung. Sechs Jahre darauf wurde das Selbstbestimmungsrecht jeweils im ersten Artikel der beiden UN-Menschenrechtspakte über bürgerlich-politische sowie über soziale und wirtschaftliche Rechte aufgeführt. Damit war es in den bis dato bedeutendsten internationalen Menschenrechtsvereinbarungen verankert. Überdies konnte 1965 geradezu in Rekordzeit die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung vollendet werden. Sie verurteilte Rassismus als Verstoß gegen die Menschenrechte und sah sogar einen wenn auch schwachen Mechanismus der Überwachung vor.9 Schließlich geriet das südafrikanische Apartheidsystem in das Fadenkreuz eines konzertierten menschenrechtspolitischen Angriffs, der bis zum Ende des weißen Minderheitsregimes nie längerfristig nachlassen sollte.10 Er trug viel dazu bei, dass das Kapregime als ein moralisch geächteter Paria der internationalen Staatengemeinschaft erschien. Zudem ergriffen die Vereinten Nationen gegenüber Südafrika auch deutlich weiterreichende Strafmaßnahmen, als man es sonst gewohnt war, etwa indem
8 Vgl. Evan Luard, A History of the United Nations, Bd. 2, London / Basingstoke 1989. 9 Vgl. dazu jetzt auch Steven Jensen, The Making of International Human Rights. The 1960s, Decolonization, and the Reconstruction of Global Values, Cambridge 2016. 10 Vgl. als Überblick: United Nations Department of Public Information (Hg.), The United Nations and Apartheid, 1948-1994, New York 1994.
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der Sicherheitsrat erstmals in seiner Geschichte ein Waffenembargo verhängte. Mit diesen politischen Erfolgen hatten die postkolonialen Staatenvertreter dem westlich-demokratischen Lager die moralpolitische Initiative entwunden, die es zuvor im Menschenrechtsbereich besessen hatte. Zugleich zeigten sie der Sowjetunion, die mehrfach versuchte, sich zur Anführerin der antikolonialen Agitation aufzuschwingen, die kalte Schulter. Hatten die Systemgegner die Weltorganisation bis dahin mit ihren politischen Gefechten bestimmt, so war nunmehr eine neue Ära angebrochen. Erst jetzt wurden überhaupt wieder internationale Rechtsdokumente verabschiedet, nachdem sich Ost und West in den langen 1950er Jahren zumeist gegenseitig blockiert hatten. Seit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung waren kaum signalkräftige internationale Vereinbarungen zu verzeichnen gewesen. Außerhalb der Weltorganisation jedoch, so ließe sich zugespitzt formulieren, änderte sich an den Hierarchien und Ungleichgewichten in der internationalen Ordnung wenig. Zwei übergreifende historische Trends, die sich seit den 1960er Jahren sogar noch verschärfen sollten, verdeutlichen dies besonders schlagend. Denn einmal betrachteten die Supermächte den postkolonialen Raum weiterhin als Zielfeld einer potentiell unbeschränkten Machtprojektion und brachten verheerende militärische oder geheimdienstliche Interventionen auf den Weg, wenn sie sich im Systemkonflikt unter akutem Zugzwang sahen.11 Zugleich vertiefte sich die ökonomische Kluft zwischen den reichen Industrieländern des globalen Nordens und den ärmeren Ländern der Südhalbkugel stetig und nahm bisweilen dramatische Ausmaße an. Dass Menschenrechte gerade in der Frage der weltweiten Wohlstandsverteilung keine emanzipatorische Kraft besaßen, sollte sich um die Mitte der 1970er Jahre in einer für die postkolonialen Staaten besonders enttäuschenden Weise offenbaren. Zahlreiche Staaten des globalen Südens unternahmen in dieser Dekade, beflügelt durch das Gefühl neuer Verhandlungsmacht, das ihnen das arabische Ölembargo von 1973/74 verschafft hatte, einen groß angelegten Versuch, den westlichen Ländern das Bekenntnis zu einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ abzuringen.12 Die Forderung nach einer solchen weltwirtschaftlichen Reform unterfütterten sie einmal mehr mit menschenrechtlichen Argumenten. Tatsächlich waren 11 Vgl. Odd Arne Westad, The Global Cold War. Third World Interventions and the Making of Our Times, Cambridge 2005. 12 Vgl. dazu das Themenheft von Humanity 6,1 (2015); Jürgen Dinkel, Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik (1927-1992), Berlin 2015.
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sie damit insofern auch erfolgreich, als die Vereinten Nationen 1974 eine Erklärung über die Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung veröffentlichten und zwölf Jahre später ein Recht auf Entwicklung proklamierten. Materiell war damit aber eben nichts gewonnen. Die westlichen Staaten wehrten sich gegen substanzielle Konzessionen, und so änderte sich de facto an den weltwirtschaftlichen Abhängigkeiten nichts. Im Gegenteil sollten westliche Regierungen und internationale Finanzorganisationen wie der Internationale Währungsfonds nach dem Ausbruch der Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre tiefer in die politischen und ökonomischen Systeme südlicher Länder eingreifen als jemals zuvor seit dem Ende der Kolonialherrschaft.13 Doch selbst wenn sich die tiefen politischen und wirtschaftlichen Asymmetrien im internationalen System nicht überwinden ließen, waren die menschenrechtspolitischen Vorstöße, die postkoloniale Staaten in den Vereinten Nationen unternahmen, keineswegs bedeutungslos. Richtet man den Blick noch einmal zurück auf die 1960er Jahre, so zeigt sich dies wohl am deutlichsten. Indem afrikanische und asiatische Staaten die Menschenrechtsagenda der Vereinten Nationen okkupierten, vermochten sie ihre Anliegen international sichtbar zu platzieren, westliche Formen des Unrechts wie Kolonialismus und Rassismus zu stigmatisieren und die moralischen Selbstrechtfertigungen der Industriestaaten als fadenscheinig zu entlarven. Das bedeutete eine symbolische Abwandlung der weltweiten Machtverhältnisse, die schon deshalb gewichtig war, weil sie sich nur hier ereignete. Die postkoloniale Agitation ließ Züge einer neuen Weltordnung aufscheinen, die nicht einfach nur postuliert, sondern geradezu repräsentiert wurde. Die UN-Verhandlungen gerieten zur Bühne für permanente Anklagen, signalkräftige Erklärungen und geradezu zelebrierten Abstimmungen, bei denen der Westen stets den Kürzeren zog. All dies fügte sich zu einem wirkungsvollen performativen Akt, durch den sich die realpolitische Ordnung der Staatenwelt geradezu zu verkehren schien.
13 Vgl. Julia Laura Rischbieter, Risiken und Nebenwirkungen. Internationale Finanzstrategien in der Verschuldungskrise der 1980er Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2015), S. 465-493.
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3. Menschenrechte als moralpolitisches Versprechen in einer interdependenten Welt Der Übergang in die postkoloniale Ära, der in den 1970er Jahren weitgehend zum Abschluss kam, war nur ein Grund, warum die internationale Politik in diesem Jahrzehnt eine folgenreiche Transformation erlebte.14 Vor allem die wirtschaftlichen Umbrüche strahlten weit aus. Im Westen endete der jahrzehntelange Nachkriegsboom, und die Ökonomien gerieten infolge der „Stagflation“ in ungekannte Schwierigkeiten. Gleichzeitig geriet das System fester Wechselkurse ins Wanken und löste sich schließlich völlig auf. Viele Regierungen begannen, sich einer monetaristischen Politik zuzuwenden und Marktlösungen einen deutlich gesteigerten Stellenwert einzuräumen. Dadurch wuchs die Integration der Weltwirtschaft, und zugleich setzte nunmehr im kommunistischen Osteuropa, das am überkommenen Plansystem festhielt, eine schließlich nicht mehr aufzuhaltende ökonomische Abwärtsspirale ein. Darüber hinaus versiegte die Modernisierungseuphorie, die während der 1960er Jahre in Blüte gestanden hatte, nicht nur in der westlichen Innenpolitik, sondern auch in der internationalen Arena.15 Der entwicklungspolitische Machbarkeitsglaube erhielt einen starken Dämpfer, und es schob sich ein neues Bewusstsein für Umweltgefährdungen, Ressourcenabhängigkeit und die Notwendigkeit „nachhaltiger“ Planung in den Vordergrund.16
14 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2010; Niall Ferguson u.a. (Hg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge 2010; Werner Plumpe, „Ölkrise“ und wirtschaftlicher Strukturwandel. Die bundesdeutsche Wirtschaft in den 1970er Jahren, in: Alexander Gallus / Axel Schildt / Detlef Siegfried (Hg.), Deutsche Zeitgeschichte – transnational, Göttingen 2015, S. 101-123. 15 Vgl. David Ekbladh, The Great American Mission. Modernization and the Construction of an American World Order, Princeton 2010, S. 226-256; Michael Latham, The Right Kind of Revolution. Modernization, Development, and U.S. Foreign Policy from the Cold War to the Present, Ithaca / London 2011, S. 157-185; Marc Frey, Neo-Malthusianism and Development: Shifting Interpretations of a Contested Paradigm, in: Journal of Global History 6 (2011), S. 75-97; Corinna R. Unger, Entwicklungspfade in Indien. Eine internationale Geschichte 1947-1980, Göttingen 2015. 16 Vgl. Thorsten Schulz-Walden, Anfänge globaler Umweltpolitik. Umweltsicherheit in der internationalen Politik (1969-1975), München 2013; Stephen Macekura, Of Limits and Growth. The Rise of Global Sustainable Development in the Twentieth Century, Cambridge 2015; Wolfram Kaiser / Jan-Henrik Meyer (Hg.), International Organizations and Environmental Protection. Conservation and Globalization in the Twentieth Century, New York 2016.
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Auch die internationale Menschenrechtspolitik erhielt in den 1970er Jahren starken Auftrieb.17 Im Zeitraum weniger Jahre ballten sich zahlreiche politische Aufbrüche, in denen Menschenrechtsideen zu einer beflügelnden Leitvorstellung avancierten. Diktaturgegner in Lateinamerika griffen sie ebenso auf wie Dissidenten in Osteuropa und neue soziale Bewegungen in westlichen Ländern. Infolge des KSZE-Prozesses wuchs ihnen im Systemkonflikt neuerlich ein großer Stellenwert zu, wie sie auch in den beschriebenen Versuchen postkolonialer Selbstbehauptung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung gewannen. Die Vielfalt der historischen Kontexte, in denen Menschenrechte angeeignet wurden, verweist darauf, dass sich auch diese politische Konjunktur nicht auf ein einziges politisches Projekt reduzieren lässt. Wenn es allerdings einen gemeinsamen Nenner gab, dann lag er darin, dass Menschenrechte als ein multifunktionales politisches Erneuerungsversprechen erschienen. Das zeigte sich gerade in den neuen außenpolitischen Aufbrüchen westlicher Regierungen. Diese entdeckten den politischen Wert der Menschenrechtsidee ebenfalls für sich, und ihre Neuorientierung ist für die Frage nach Vorstellungen einer Neugestaltung der internationalen Ordnung besonders aufschlussreich. In einer Phase der regelrechten Hegemonie linker und linksliberaler Kräfte erklärten mehrere westliche Regierungen (wenn auch bei weitem nicht alle) den internationalen Menschenrechtsschutz zu einem vorrangigen Ziel ihrer Außenpolitik. Dafür entwickelten sie bisweilen elaborierte Konzeptionen. Sie definierten die Rechte, die es zu schützen galt, formulierten Zielvorgaben, legten Mittel der Umsetzung fest, schufen neue Institutionen und systematisierten die Informationssammlung. Mit alledem verliehen sie dem Menschenrechtsgedanken eine größere Bedeutung für ihre auswärtigen Beziehungen, als er zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem Zweiten Weltkrieg besessen hatte. Zu denen, die einen solchen Kurs besonders früh einschlugen, gehörte die 17 Vgl. Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge / London 2010; Sarah Snyder, International Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network, Cambridge 2011; Jan Eckel / Samuel Moyn (Hg.), Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen 2012; Matthias Peter / Hermann Wentker (Hg.), Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975-1990, München 2012; William Michael Schmidli, The Fate of Freedom Elsewhere. Human Rights and U.S. Cold War Policy toward Argentina, Ithaca / London 2013; Barbara J. Keys, Reclaiming American Virtue. The Human Rights Revolution of the 1970s, Cambridge 2014; Mark Philip Bradley, The World Reimagined. Americans and Human Rights in the Twentieth Century, Cambridge 2016.
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Linksregierung, die zwischen 1973 und 1977 die politische Macht in den Niederlanden innehatte. Die weltweit größte Ausstrahlung wiederum entfaltete, in Zustimmung wie Ablehnung, die Menschenrechtspolitik des demokratischen Präsidenten Jimmy Carter (1977-80). Doch auch die britische Labour-Regierung unter Premierminister James Callaghan (1976-79) begab sich auf einen erkennbar neuen menschenrechtspolitischen Kurs.18 Selbst in diesen drei Ländern nahmen sich die nationalen Kontexte so unterschiedlich aus, dass die menschenrechtliche Außenpolitik signifikant unterschiedliche Züge erhielt. Gleichwohl besaßen die internationalen Ordnungsvorstellungen, welche die Regierungen mit ihrer menschenrechtspolitischen Wende verfolgten, eine ausgeprägte Verwandtschaft. Erstens nämlich wurden sie stark von der Wahrnehmung befördert, dass die „Interdependenz“ im internationalen Staatensystem entscheidend zugenommen habe, die zahlreiche außenpolitische Beamte und Politiker in diesen Jahren teilten. Die „wesenhafte Schicksalsverbundenheit der Weltgemeinschaft“, wie es die niederländische Regierung formulierte, lenkte den Blick auf grenzübergreifende Probleme, welche die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten herausforderten – vom Energiebedarf über Umweltschäden und Migrationen bis hin zum weltweiten Bevölkerungswachstum.19 Auch Menschenrechtsverletzungen begriffen die Regierungen als eines dieser drängenden transnationalen Probleme. Daher wirkte sich hier einmal mehr ein sicherheitspolitischer Ansatz aus: Denn Menschenrechtsverstöße in fernen Weltregionen erschienen den westlichen Experten des-
18 Vgl. zu den Niederlanden Peter Malcontent, Op kruistocht in de Derde Wereld. De reacties van de Nederlandsde regering op ernstige en stelselmatige schendingen van fundamentale mensenrechte in ontwikkelingslanden, 1973-1981, Hilversum 1998; Stefan de Boer, Von Sharpeville tot Soweto. Nederlandse regeringsbeleid ten aanzien van apartheid, 1960-1977, Den Haag 1999; Floribert Baudet, „Het heeft onze aandacht“. Nederland en de rechten van de mens in Oost-Europa en Joegoslavie, 1972-1989, Amsterdam 2001. Aus der neueren Literatur zu Carter vgl. David F. Schmitz / Vanessa Walker, Jimmy Carter and the Foreign Policy of Human Rights. The Development of a Post-Cold War Foreign Policy, in: Diplomatic History 28 (2004), S. 113-143; Keys, Reclaiming American Virtue; Daniel J. Sargent, A Superpower Transformed. The Remaking of American Foreign Relations in the 1970s, Oxford / New York 2015. 19 Rijksbegroting voor 1974, S. 2, online unter URL: http://resolver.kb.nl/resolve?ur n=sgd%3Ampeg21%3A19731974%3A0003677 [2.12.2018]. Zur Carter-Regierung vgl. Cyrus Vance, Hard Choices. Critical Years in America’s Foreign Policy. New York 1983, S. 27. Vgl. dort vor allem Vances Schlüsselmemorandum vom Oktober 1976: App. I: Overview of Foreign Policy Issues and Positions [Oktober 1976], S. 441-463; zur britischen Menschenrechtspolitik vgl. David Owen, Menschenrechte, Wien / Hamburg 1979 [orig. London 1978].
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halb als bedrohlich, weil sie das interdependente Staatensystem als Ganzes in Mitleidenschaft ziehen und den Weltfrieden gefährden könnten. Aus dieser Sicht stellte der internationale Menschenrechtsschutz folglich einen Versuch dar, die staatliche Steuerungsfähigkeit in einem komplexer gewordenen globalen Umfeld aufrechtzuerhalten. Damit verband sich zweitens die Diagnose, dass die Systemkonfrontation des „Kalten Kriegs“ nicht mehr das weltpolitisch allein ausschlaggebende Geschehen darstelle. Es sei an der Zeit, die „inordinate fear of communism“ zu überwinden, wie die berühmte (und von seinen Gegnern besonders stark angefeindete) Formel lautete, die Jimmy Carter für diese Einsicht fand.20 Eine Außenpolitik, die sich weiterhin auf den Systemwettbewerb fixiere, so glaubten die außenpolitischen Eliten auch in den Niederlanden und Großbritannien, laufe Gefahr, entscheidende weltpolitische Entwicklungen zu verkennen. Sie hielten es daher für unabdingbar, das auswärtige Handeln fortan auf eine neue Grundlage zu stellen. Es musste demnach auf eine multipolare Ordnung ausgerichtet werden, in der gerade die sogenannten Entwicklungsländer einen größeren Stellenwert gewönnen, und langfristige Lösungen für die erwähnten transnationalen Probleme entwickeln. Drittens aber verstanden alle drei Regierungen ihre menschenrechtlichen Selbstverpflichtungen als Teil einer moralisch grundierten außenpolitischen Erneuerung.21 Der Gedanke, dass es mit den tief verwurzelten Konventionen einer oft zynischen Realpolitik zu brechen gelte, spielte in der außenpolitischen Neuausrichtung eine herausragende Rolle. Nunmehr erschien es als ein ethischer Imperativ, in den internationalen Beziehungen Raum zu schaffen, um staatlicher Gewalt grundsätzlich entgegenzutreten und leidenden „Anderen“ auch in fernen Ländern zu helfen. Diese Impulse äußerten sich in den verschiedenen Ländern unterschiedlich. Während Carter mit der außenpolitischen Umkehr nach den ruinösen Jahren von Vietnam und Watergate dazu beitragen wollte, die gespaltene amerikanische Gesellschaft zu versöhnen und den Führungsstatus der USA in der Welt auf neue Weise zu befestigen, hatte die niederländische Regierung eher im Sinn, einen neulinken Reformimpuls auf die internationale Bühne
20 Jimmy Carter, Address at Commencement Exercises at University of Notre Dame, 22.5.1977, in: Public Papers of the Presidents, Jimmy Carter, Bd. 1977, I. Washington 1977, S. 954-962, hier S. 956. 21 Vgl. zu den USA etwa Jimmy Carter, New Approach to Foreign Policy, 28.5.1975; Ders., Our Foreign Relations, 15.3.1976, beide in: The Presidential Campaign 1976, Volume One, Part One, Jimmy Carter, Washington 1978, S. 66-70, S. 109-119.
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zu tragen. Alle drei Regierungen reagierten mit der Aufnahme von Menschenrechtsideen auf einen erheblichen innenpolitischen Druck. Zivilgesellschaftliche Bewegungen und oppositionelle Parlamentarier hatten mitunter schon seit Jahren gefordert, die staatliche Außenpolitik dürfe nicht länger unsensibel gegen Verfolgung und Ungerechtigkeit sein, wo immer auf der Welt sie geschähen. Tatsächlich verband das Bestreben, der Politik eine moralische Dimension zu eröffnen und sie damit auf einen existenziellen Kern zurückzuführen, der zudem jenseits aller Lagergegensätze liege, die vielen disparaten menschenrechtlichen Projekte dieses Jahrzehnts am stärksten miteinander. Denn eine moralpolitische Regeneration hatten auf je spezifische Weise auch Nichtregierungsgruppen wie Amnesty International, die Dissidenten in Osteuropa und Regimegegner in lateinamerikanischen Militärdiktaturen sowie die postkolonialen Regierungen in ihrem Kampf für eine Neue Weltwirtschaftsordnung im Sinn. Aus der Rückschau mögen die 1970er Jahre wie ein flüchtiger Moment der menschenrechtlichen Bewusstwerdung erscheinen, der jäh wieder vorüber war. Immerhin waren alle drei Regierungen bald schon abgewählt. Doch brachten sie Veränderungen in Gang, die noch länger fortwirken sollten. Menschenrechte blieben, auch unter den nachfolgenden konservativen Regierungen, in allen drei Ländern eine außenpolitische Leitidee – rhetorisch, doch zumindest in Ansätzen auch praktisch. Gleichzeitig verdichtete sich das institutionelle Geflecht auf staatlicher wie auch nichtstaatlicher Ebene so stark, dass Menschenrechte ein dauerhaftes Thema der internationalen Politik blieben. Tatsächlich waren staatliche Menschenrechtsverletzungen nie zuvor so eingehend beobachtet und öffentlich derart breitflächig diskutiert worden wie in den 1970er Jahren, und hinter diesen gewandelten Rahmen führte auch in der Zukunft kein Weg zurück. Zudem verschärfte sich der „Kalte Krieg“ zwar seit den späten 1970er Jahren noch einmal, doch fand er schon in der folgenden Dekade sein Ende, und so gewannen viele der außenpolitischen Diagnosen der 1970er Jahre neue Relevanz – ob es sich um die Bedeutung transnationaler Herausforderungen, die Multipolarität im internationalen System oder die weltweite Verflochtenheit handelte. Dabei hatte der beträchtliche menschenrechtspolitische Druck, den innere und äußere Kritiker in Wechselwirkung miteinander aufbauten, seinen Teil zum politischen Umsturz im kommunisti-
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schen Osteuropa (wie auch zuvor zu demjenigen in Südamerika und später in Südafrika) beigetragen.22 4. Humanitäre Interventionen als Weltordnungspolitik in den 1990er Jahren Dieser Umsturz war der wichtigste Grund, warum die Jahre um 1990 einen Moment der weltweit euphorischen Hoffnung auf eine bessere internationale Ordnung markierten, wie es ihn im 20. Jahrhundert zuvor wohl noch nicht gegeben hatte. Das weitgehend friedliche Verschwinden des Kommunismus in Osteuropa und das Ende des „Kalten Kriegs“ vollzogen sich so rasch und waren in so hohem Maße unerwartet, dass viele Beobachter glaubten, Zeugen des Heraufziehens einer neuen welthistorischen Ära zu sein. Überdies blieben die Transformationen nicht auf Osteuropa beschränkt. Schon seit Mitte der 1980er Jahre hatten auch in anderen Erdteilen Länder, die oft jahrzehntelang diktatorisch regiert worden waren, zur Demokratie zurückzukehren begonnen. Das galt für die Militärdiktaturen in Argentinien, Brasilien und Chile ebenso wie für die Philippinen und Südkorea, für das Apartheidregime in Südafrika ebenso wie für manche anderen subsaharischen Staaten. Der Glaube, es lasse sich nunmehr ein Zeitalter internationaler Gerechtigkeit begründen, war eine wichtige Ingredienz des verheißungsvollen Zukunftsdiskurses. Dabei fungierte gerade der Menschenrechtsgedanke als ein weithin akklamiertes Ideal. In den frühen 1990er Jahren wurde es wohl häufiger und emphatischer beschworen, als selbst in den 1970er Jahren. Das symbolisierte etwa die UN-Menschenrechtskonferenz, die 1993 in Wien abgehalten wurde. Hier bekannten sich 171 Staaten, und damit mehr als jemals zuvor, zur universellen Geltung der Menschenrechte.23 Doch reichten die Anläufe, ein gerechtes und schutzmächtiges internationales System zu schaffen, über menschenrechtliche Sicherungen hinaus. So verwandelten sich die UN-Friedensmissionen erst jetzt zu einem häufig genutzten Instrument internationaler Ordnungspolitik, und am Ende der
22 Vgl. zur Sowjetunion Yuliya von Saal, KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985-1991, München 2014. 23 Vgl. World Conference on Human Rights, 14-25 June 1993, Vienna, online unter URL: http://www.ohchr.org/EN/ABOUTUS/Pages/ViennaWC.aspx [30.8.2017].
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Dekade erlebte die internationale Strafjustiz mit der Gründung eines permanenten Gerichtshofs in den Haag einen säkularen Durchbruch.24 Schließlich kristallisierten sich die internationalen Aufbrüche dieser Jahre in besonderem Maße im Gedanken der humanitären Intervention. Denn sie waren ein Novum – zwar nicht welthistorisch, wenn man etwa auf den Interventionismus europäischer Staaten im 19. Jahrhundert blickt, aber im Erfahrungshorizont der handelnden Generationen.25 Als einen ersten Akt des humanitären Eingreifens lässt sich der Entschluss des Sicherheitsrats nach Ende des Irakkriegs 1991 verstehen, im Norden des Landes eine Schutzzone für bedrohte Kurden einzurichten.26 Im folgenden Jahr beschloss er eine Militäroperation, die die Sicherheit in Somalia wiederherstellen sollte, nachdem die öffentliche Ordnung im Land in den bürgerkriegsähnlichen Kämpfen zwischen verschiedenen Kriegsfürsten zusammengebrochen war. Im Jahr 1994 schickten die Vereinten Nationen eine multilaterale Streitmacht nach Haiti, um die Demokratie wiederherzustellen, die das Militär nach seinem Putsch abgeschafft hatte. Auch auf die Kriege im zerfallenden Jugoslawien reagierte die Weltorganisation unter anderem, indem sie Schutzzonen errichtete, wobei ein durchgreifender Schritt erst geschah, als die NATO nach dem Massaker von Srebrenica 1995 im Einklang mit dem UN-Sicherheitsrat einen Militärschlag gegen serbische Streitkräfte in Bosnien-Herzegowina durchführte. Am Ende des Jahrzehnts folgten weitere Einsätze, wobei die Angriffe auf Serbien im Kosovokonflikt 1999 die größte internationale Aufmerksamkeit auf sich zogen. Diese Interventionen stellten eine bemerkenswert neue historische Qualität dar, denn westliche Staaten setzten nun erstmals militärische Gewalt ein, um Zivilisten vor staatlicher Verfolgung oder den Gefahren einer zusammenbrechenden staatlichen Ordnung zu schützen. Zudem engagierten sie sich oftmals in Gebieten, in denen sie keine vitalen Interessen verorte-
24 Vgl. Mark Mazower, Governing the World. The History of an Idea, London 2012, S. 378-405. 25 Vgl. zum 19. Jahrhundert und allgemein Gary J. Bass, Freedom’s Battle. The Origins of Humanitarian Intervention, New York 2008; Brendan Simms / David J. B. Trim (Hg.), Humanitarian Intervention. A History, Cambridge / New York 2011; Davide Rodogno, Against Massacre. Humanitarian Interventions in the Ottoman Empire, 1815-1914. The Emergence of a European Concept and International Practice, Princeton 2012; Fabian Klose (Hg.), The Emergence of Humanitarian Intervention. Ideas and Practice from the Nineteenth Century to the Present, Cambridge 2016. 26 Vgl. zum Überblick etwa Mats Berdal / Spyros Economides (Hg.), United Nations Interventionism, 1991-2004, Cambridge 2007; Norrie Macqueen, Humanitarian Intervention and the United Nations, Edinburgh 2011.
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ten. Der Begriff der Menschenrechte stand bei der Begründung dieses Vorgehens nicht unbedingt im Zentrum, war jedoch durchaus präsent. Regierungen und internationale Beamte wie auch die öffentliche Berichterstattung rekurrierten auf ein breiteres semantisches Feld, um den militärischen Humanitarismus zu rechtfertigen, in dem etwa auch die Formeln des menschlichen Leidens und der humanitären Katastrophe wichtig waren.27 Eine neue Qualität brachte der Interventionismus aber auch noch in einer anderen Hinsicht mit sich. Denn mit ihm verbanden sich die weitreichendsten Visionen globalen politischen Wandels im Namen der Hilfe für leidende „Andere“, die im gesamten 20. Jahrhundert zu verzeichnen gewesen waren. Das galt allerdings noch nicht so sehr für die Interventionen der frühen 1990er Jahre.28 Sie verfolgten vergleichsweise begrenzte politische Zielsetzungen, etwa bestimmte Gruppen zu schützen oder die staatliche Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Tatsächlich schien es nach dem Desaster des amerikanischen Einsatzes in Somalia zunächst, als sei die Geschichte der humanitären Intervention vorüber, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Denn die Clinton-Regierung wollte sich anschließend auf weitere Wagnisse nicht einlassen, und so nahmen zunächst die Bürgerkriege in Jugoslawien wie auch der Massenmord in Ruanda 1994 ihren Lauf, ohne dass die Staatengemeinschaft sich militärisch eingemischt hätte. Seinen Höhepunkt erlebte der westliche Interventionismus dagegen erst am Ende der 1990er Jahre im Kosovokrieg. Denn jetzt erschien das militärische Einschreiten zugunsten von Gewaltopfern als ein weitreichendes Instrument internationaler politischer Veränderung. Der britische Premierminister Tony Blair verkündete noch während der Luftschläge seine „Doctrine of the International Community“.29 Ihr zufolge sollte das Prinzip der Nichteinmischung außer Kraft gesetzt werden, wenn Staaten einen Geno27 Vgl. etwa United Nations Security Council, Resolution 688 (1991), 5.4.1991 zum Irak; Resolution 751 (1992), 24.4.1992 zu Somalia; Resolution 940 (1994), 31.7.1994 zu Haiti; sowie zu Bosnien Resolution 836 (1993), 4.6.1993; Resolution 1004 (1995), 12.7.1995; Resolution 1031 (1995), 15.12.1995, alle einsehbar unter: http://www.un.org/en/sc/documents/resolutions/. 28 Vgl. zum folgenden Argument den wichtigen Aufsatz von Stephen Wertheim, A Solution from Hell. The United States and the Rise of Humanitarian Interventionism, 1991-2003, in: Journal of Genocide Research 12 (2010), S. 149-172. 29 Vgl. Tony Blair, Doctrine of the International community, [24/4/1999], online unter URL: https://www.globalpolicy.org/component/content/article/154/26026.h tml [2.12.2018]. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Dominik Geppert im vorliegenden Band.
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zid verübten, massive Fluchtbewegungen auslösten oder die Mehrheit der Bevölkerung von der Herrschaft ausschlossen („minority rule“). Und der amerikanische Präsident Clinton versprach nach dem Ende der Kampfhandlungen, dass die USA fortan der Verfolgung Unschuldiger überall auf der Welt Einhalt gebieten würden, sofern es in ihrer Macht liege.30 Beide artikulierten eine denkbar ambitionierte Weltordnungspolitik im Namen überstaatlicher Gerechtigkeit. Sie ging weit über die Gestaltungsansprüche hinaus, die Verfechter des internationalen Menschenrechtsschutzes in den 1970er und 1980er Jahren bekundet hatten. Das weltpolitische Veränderungspotenzial, das humanitären Interventionen damit zugeschrieben wurde, war ein Reflex auf neue Ermöglichungsbedingungen. Vor allem konnten westliche Staaten in den 1990er Jahren intervenieren, ohne eine militärische Eskalation im Rahmen eines Systemkonflikts befürchten zu müssen. Darin lag ein signifikanter Unterschied zu der Zeit vor 1991. Betrachtet man die handlungsleitenden Perzeptionen, die hinter den humanitären Interventionen standen, so gab es jedoch auch wichtige strukturelle Analogien zur Menschenrechtspolitik der 1970er Jahre. So ging es den betreffenden Regierungen ganz offenkundig darum, ihr Handeln in der Welt zu relegitimieren. Das galt zumal für die treibenden Kräfte dieser Interventionen. Bill Clinton und Tony Blair waren bemüht, den politischen Projekten, mit denen sie angetreten waren – den „New Democrats“ hier und „New Labour“ dort – , ein scharfes außenpolitisches Profil zu geben.31 Eine moralische Grundierung war in diesem Zusammenhang gleichfalls wichtig. Sie reagierte allerdings auf gewandelte nationale und internationale Bedingungen. So spielte das Gefühl, dass die internationale Staatengemeinschaft jahrelang auf dem Balkan wie auch im Angesicht des grauenvollen Massenmords in Ruanda versagt habe, eine wichtige Rolle für den Entschluss, in den Kosovokonflikt einzugreifen. Dabei reagierten die Staatsführer auch auf eine zunehmend einflussreiche Strömung in der linksliberalen Öffentlichkeit, die den humanitären Interventionismus als eine entscheidende Politikform begriff, mit der sich die Defizite des internationalen Systems beheben ließen.32 All dies vollzog sich vor dem Hintergrund einer veränderten Wahrnehmung von Massen-
30 Vgl. Bill Clinton, Remarks to Kosovo International Security Force Troops in Skopje, 22.6.1999, online unter URL: http://www.presidency.ucsb.edu/ws/index.php?pi d=57770&st=innocent+civilians&st1= [31.8.2017]. 31 Vgl. Matthew Jamison, Humanitarian Interventions since 1990 and „Liberal Interventionism“, in: Simms / Trim (Hg.), Intervention, S. 365-380. 32 Vgl. etwa Samantha Power, „A Problem from Hell“. America and the Age of Genocide, New York u.a. 2003.
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verbrechen, die in den 1990er Jahren klare Konturen gewann. Genozid und sogenannte ethnische Säuberungen galten nunmehr als gleichsam absolute Verbrechen, die unter allen Umständen verhindert werden müssten. Dieser Imperativ wurde durch die in der öffentlichen und politischen Debatte weit verbreiteten Vergleiche mit dem Holocaust noch verstärkt, der dadurch in den 1990er Jahren starke Züge einer universellen, historisch entkontextualisierten Chiffre des menschlichen Bösen gewann.33 Überdies verband sich mit dem militärischen Humanitarismus der Versuch, das ideologische Vakuum zu füllen, welches das Ende der jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion hinterlassen hatte. Dies galt besonders für die Clinton-Regierung. Sie hatte sich von Beginn an daran gestört, dass der viel verwendete Begriff der „post-Cold War foreign policy“ lediglich eine Kennzeichnung ex negativo darstellte. Daher suchte sie nach einer visionären Formel, mit der sich ein neuer außenpolitischer Auftrag formulieren ließe.34 Als der humanitäre Interventionismus im zweiten Anlauf am Ende der 1990er Jahre erfolgreich zu sein schien, versprach er eine solche positive Zielbestimmung zu ermöglichen. Darin lag ebenfalls eine Parallele zu den 1970er Jahren, als sich westliche Regierungen auch deshalb dem internationalen Menschenrechtsschutz zugewandt hatten, weil sie den „Kalten Krieg“ nicht länger als dominierende globalpolitische Konfliktlinie erachteten. Und schließlich speisten sich die Militäreinsätze der 1990er Jahre, ganz so wie die menschenrechtliche Außenpolitik der 1970er, aus einer akuten Verflechtungswahrnehmung. Hatten die Politiker und Experten damals von der zunehmenden „Interdependenz“ des Staatensystems gesprochen, so beriefen sich die Exponenten humanitärer Politik am Ende des Jahrhunderts auf die „Globalisierung“.35 Der Kerngedanke blieb dabei gleich, nämlich dass staatliche Verbrechen überall auf der Welt die internationale Stabilität als Ganze unterhöhlen könnten. Bei alledem war der Gipfelpunkt der westlichen Hoffnungen, die sich auf das humanitäre Eingreifen mit militärischen Mitteln richteten, schon kurze Zeit später überschritten. Die Angriffe der Bush-Regierung auf Afghanistan 2001 und vor allem auf den Irak 2003 schufen eine neue Aus-
33 Vgl. als wichtiges Beispiel dafür Daniel Levy / Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt a.M. 2001. 34 Vgl. Hal Brands, From Berlin to Baghdad. America's Search for Purpose in the Post-Cold War World, Lexington 2008, S. 101-262; John Dumbrell, Clinton’s Foreign Policy. Between the Bushes, 1992-2000, London / New York 2009; James D. Boys, Clinton's Grand Strategy. U.S. Foreign Policy in a Post-Cold War World, London 2015. 35 Vgl. Blair, Doctrine of the International Community.
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gangslage – und es ist diese Ausgangslage, die den Diskurs über humanitäre Interventionen bis heute bestimmt, nicht der Gestaltungsoptimismus der Kosovojahre. Denn mit Blick auf die Folgen dieser Angriffe – die Destabilisierung der betreffenden Länder und letztlich des ganzen Mittleren Ostens, die enormen Verluste an Menschenleben und den Einsatz der Folter, die Beförderung des transnationalen Terrorismus – wuchs eine dezidierte Ablehnung westlicher militärischer Einmischung, ganz gleich wie sie auch begründet würde. Diese Ablehnung prägte fortan die politische Debatte in westlichen Ländern, wurde aber nicht zuletzt auch zu einer Konstante der chinesischen und russischen Außenpolitik. In Libyen wurden dann jüngst noch einmal alle Dilemmata der 1990er Jahre durchgespielt. Nachdem es im Vorfeld des NATO-Einsatzes und unmittelbar nach dem Sturz des Gaddhafi-Regimes viel Zustimmung gegeben hatte, wich diese einer äußerst skeptischen Beurteilung, als das Land im Bürgerkrieg versank und dschihadistische Gruppen immer stärker Fuß fassen konnten. 5. Schluss Versucht man abschließend, diese Befunde zu bündeln und eine Art Jahrhundertbilanz zu skizzieren, so fällt der Blick zunächst auf die Vielgestaltigkeit der menschenrechtspolitischen Ordnungsvorstellungen. Über die Jahrzehnte erwies sich die Menschenrechtsidee als denkbar offen für verschiedenartige Aufladungen – von der Kriegsvermeidung, die während der 1940er Jahre im Vordergrund stand, über die staatliche Gleichrangigkeit, auf die antikoloniale und postkoloniale Initiativen zielten, bis hin zu der personifizierten Sorge um leidende Andere, die in den 1970er Jahren auf diplomatischen Wegen, am Ende des Jahrhunderts auch mit militärischen Mitteln in die Tat umgesetzt werden sollte. Gerade in dieser vielfältigen Auslegbarkeit lag ein wichtiger Teil der Dynamik, welche die Menschenrechtsidee in das internationale System einführte. Denn auf diese Weise wurde sie immer wieder zu einem Austragungsort konfligierender politischer Projekte. Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass Menschenrechte seit den Jahren des Zweiten Weltkriegs in allen wichtigen Phasen des weltpolitischen Auf- und Umbruchs in der einen oder anderen Weise präsent waren. Nicht selten rückten sie sogar in das Zentrum des Nachdenkens über die möglichen oder nötigen Veränderungen der politischen Strukturen und Instrumente. Sie stellten eine ebenso distinkte wie einflussreiche politische Sprache bereit, in der grundsätzliche Ansprüche auf eine bessere Gestaltung der Welt wie auch ganz konkrete Zielvorstellungen artikuliert und legiti282
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miert werden konnten. In einem weiteren historischen Blick zeigt sich darin ein bemerkenswerter Wandel des Ringens um eine angemessene internationale Ordnung. Dass Menschenrechtsverfechter dabei sehr oft mit ihren Ambitionen der Weltverbesserung scheiterten, war über alle Jahrzehnte hinweg ein zweifellos prägekräftiges historisches Muster. Kriege dauerhaft zu verhindern oder wenigstens unwahrscheinlicher zu machen, wie es die Internationalisten in den 1940er Jahren anstrebten, gelang nicht. Die politische und wirtschaftliche Emanzipation des globalen Südens ließ sich nicht herbeiführen. Die westliche Außenpolitik auf der Grundlage einer universellen Moralität zugunsten staatlich verfolgter Menschen neu auszurichten, wie es Jimmy Carter emblematisch postulierte, erwies sich als Überforderung des staatlichen Handelns. Und der Versuch, ein militärisch bewährtes, globales System zur Eindämmung ‚absoluter‘ Verbrechen zu schaffen, erzeugte neue geopolitische Katastrophen. Gleichzeitig führten die menschenrechtspolitischen Bemühungen in der internationalen Politik aber auch strukturelle, wenngleich subtile Veränderungen herbei, die oft sehr wirksam waren. Völkerrechtliche Dokumente wie die Allgemeine Menschenrechtserklärung boten symbolische Referenzpunkte, durch die Opfer staatlicher Verfolgung ihrem politischen Kampf Nachdruck verschaffen konnten. Der Menschenrechtsbereich der Vereinten Nationen stellte postkolonialen Staaten eine bedeutsame Plattform für die internationale Profilierung bereit. Beginnend in den 1970er Jahren, erlebte die internationale Politik eine Fundamentalsensibilisierung für staatliche Menschenrechtsverletzungen. Schließlich haben die humanitären Interventionen der letzten zweieinhalb Jahrzehnte immerhin das Bewusstsein für das vielleicht tiefste Dilemma grenzüberschreitender Hilfspolitik in aller Schärfe aufgezeigt: Einschneidende Eingriffe von außen haben immer nicht-intendierte, kontraproduktive Wirkungen und erzeugen oft Folgeprobleme, von denen sich nicht vorausahnen lässt, ob sie die Gewalt, die eigentlich eingehegt werden soll, nicht noch potenzieren. Die Alternative wiederum besteht darin, staatlichen Verbrechen ihren Lauf zu lassen. Quellen- und Literaturverzeichnis Bass, Gary J., Freedom’s Battle. The Origins of Humanitarian Intervention, New York 2008. Baudet, Floribert, „Het heeft onze aandacht“. Nederland en de rechten van de mens in Oost-Europa en Joegoslavie, 1972-1989, Amsterdam 2001.
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An der Grenze des Universalismus. Staatsbürgerschaft in der Geschichte Europas im 20. und 21. Jahrhundert1 Dieter Gosewinkel
Es war im Herbst 2015. Europa erlebte den Andrang von Millionen flüchtender Menschen. Sie suchten auf dem Gebiet des Alten Kontinents Zuflucht und Schutz vor Verfolgung, Misshandlung, aber auch wirtschaftlicher Not. Ihre Motive waren ganz verschieden. Es kamen Familien aus Syrien, die wegen ihrer politischen Opposition oder ihrer Religionszugehörigkeit nur knapp dem Zugriff des Assad-Regimes entgangen waren. Es gab junge Frauen die sich vor der drohenden Entführung durch die Terrormiliz „IS“ in Sicherheit bringen wollten. Es kamen Menschen aus dem subsaharischen Afrika, die der Verödung ihrer Heimatländer und dem Hunger entkommen wollten, auch junge Männer aus Bangladesh und Pakistan, aber auch aus Albanien und dem Kosovo, die dem wirtschaftlichen Elend und der Chancenlosigkeit in ihren Heimatländern entgehen wollten. In einem seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekannten Ausmaß war der von Exzessen der Gewalt zerrissene Kontinent nicht Ursprung massenhafter Fluchtbewegungen, sondern deren Ziel. Insbesondere Deutschland, das Herz der Finsternis, als Europa zum „schwarzen Kontinent“2 des 20. Jahrhunderts wurde, geriet, so hieß es immer wieder, zum ‚Traumland‘ für Flüchtlinge. Das Ursprungsland des Holocaust öffnete sich Millionen Schutzsuchenden. Es öffnete nicht nur die Tore der Grenzzäune, sondern – was sehr viel mehr bedeutet – es gab den Eintretenden ein Recht, das Recht auf einen Aufenthalt auf dem Territorium des deutschen Staates. Es waren das Recht des Grundgesetzes, Asyl zu erhalten, das Recht auf Aufnahme gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention und das Recht der Europäischen Union, die den Geflüchteten, jedenfalls auf gewisse Zeit, Schutz gewährleisteten. Gemeinsam war all diesen Rechten, dass sie den Geflüchteten nicht als Staatsbürgern, als Angehörigen eines Staates, son-
1 Im vorliegenden Aufsatz wurden Merkmale des mündlichen Vortrags beibehalten. 2 Mark Mazower, Dark continent. Europe's twentieth century, 1. Aufl., New York 2000.
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dern als Menschen, d.h. als Inhabern von Menschenrechten, garantiert wurden. 1 Problemstellung, Fragen, Begriffe Wir stehen vor der Ursituation, die die Notwendigkeit von Menschenrechten am nachdrücklichsten unterstreicht: Menschen wird der elementare Schutz ihres Lebens und ihrer Freiheit, zu dem Staaten verpflichtet sind, nicht gewährt – sei es, weil ein Staat diese Rechte seinen Angehörigen verweigert oder zu ihrem Schutz nicht imstande ist. Menschenrechte werden hier zur rechtlichen Bedingung und Minimalvoraussetzung des Überlebens. Sie sind die letzte Zuflucht derer, über die kein Staat seine schützende Hand hält. Damit ist nüchtern eine rechtliche Extremlage von Individuen umrissen. Menschenrechte bedeuten aber heute in der öffentlichen, weltweit geführten Debatte sehr viel mehr. Wir befinden uns auf dem – vorläufigen – Gipfelpunkt einer Aufschwungphase des rechtlichen Universalismus, die 1945 mit dem Ende des mörderischen Zweiten Weltkrieges einsetzte, ab den 1970er Jahren große Schwungkraft erhielt und mit dem Ende der blockpolitischen Konfrontation 1989/90 einen weltweiten Siegeszug antrat. Die positiv-rechtliche Ausgestaltung individueller Rechte als Menschenrechte ist dabei nur die – wenngleich essentielle – Formgebung eines weiter reichenden politischen und philosophisch-theoretischen Anspruchs: Dieser Anspruch zielt zum einen auf die Befreiung des Individuums von illegitimer Beschränkung und Unterdrückung seiner angeborenen Rechte in Systemen der autoritären Fremdbestimmung und Ausbeutung.3 In einer tieferen Bedeutungsschicht verkörpert er die Kristallisation eines langen Prozesses, der ‚Sakralisierung‘ der Person, der sich (unter anderem) in der weltweiten Kodifikation und Durchsetzung von Menschenrechten niederschlug.4 Diese Vorstellungen flossen zu einer umfassenden Denkströmung zusammen, die einen neuen Erwartungshorizont markierte: eine aufsteigende Entwicklungslinie individuellen Rechtsschutzes. Diese reicht von national gebundenen und beschränkten Rechten der Staatsbürger bis zu 3 Seit den 1970er Jahren steht auch der Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung im Fokus der Menschenrechte, z.B. Vereinte Nationen, Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, 16.12.1966, in Kraft seit 3.1.1976. 4 Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 3. Aufl., Berlin 2011, S. 81: „Die menschliche Person […] wird selbst zum heiligen Objekt“.
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universalistischen Rechtspositionen, die allen Menschen qua Menschseins über territoriale Grenzen und Mitgliedschaftsverhältnisse hinweg zustehen. Ich begegne einer derartigen Entwicklungsteleologie mit der Skepsis eines Historikers, der nicht eine Entwicklungsrichtung verfolgt, sondern nach Bedingungen der Möglichkeit einer Entwicklung fragt, die einem steten historischen Wandel unterworfen sind. Ich möchte Sie daher einladen – auch wenn es Ihnen widerstreben mag –, die Perspektive zu wechseln, ja, diese umzukehren: Stellen Sie sich bitte vor, dass der Siegeszug der Menschenrechte nicht die glückliche Überwindung der Epoche des Nationalstaats, sondern dessen Begleiterscheinung darstellt. Im Zentrum meiner Überlegungen stehen das Individuum und der Schutz seiner Rechte. Von daher stelle ich meine Fragen: Inwieweit wurde in der Moderne (seit der revolutionären Wende zum 19. Jahrhundert) der Schutz des Einzelnen maßgeblich durch den Nationalstaat, die Rechte des Staatsbürgers, geschützt? Wie wirksam war die Staatsbürgerschaft hinsichtlich der Gewährleistung von Schutz und Freiheit des Einzelnen – und wo lagen ihre Schwächen und Lücken?5 Welche Wirkungen hat der Aufschwung der Menschenrechte auf die Funktion und Bedeutung von Staatsbürgerrechten? Lässt sich prospektiv eher von einer allmählichen Verdrängung der staatsbürgerlichen Mitgliedschafts- durch universelle Menschenrechte sprechen? Oder ist das Modell einer dauerhaften Koexistenz beider Formen des Rechtsschutzes – mit unausweichlichen Friktionen und Spannungen, aber auch Konstellationen der Komplementarität – wahrscheinlicher? In meinen Überlegungen konzentriere ich mich auf Europa, von der Wende zum 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Schließlich noch eine Vorbemerkung zur Terminologie: Wenn ich von Staatsbürgerschaft spreche, so ist damit ein Zweifaches gemeint: Zum einen die juristisch-formal definierte Zugehörigkeit zu einem Staat, zu Deutsch Staatsangehörigkeit, zum anderen die Rechte des Einzelnen, die an diesen Status der Staatsangehörigkeit anknüpfen, die Staatsbürgerrechte. Wer den Aufschwung der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, genauer in dessen zweiter Hälfte, als Ausdruck einer langen historischen Entwicklungstendenz interpretiert, wählt vielfach die großen Texte der atlantischen Doppelrevolution an der Wende zum 19. Jahrhundert als Fluchtpunkt. Zum Beispiel die klassische Formulierung des „That all men are by nature
5 Dazu umfassend: Dieter Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, 1. Aufl., Berlin 2016.
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equally free and independent, and have certain inherent rights“ der Virginia Bill of Rights von 1776 gilt als zukunftweisende Kodifizierung des menschenrechtlichen Universalismus schlechthin. Die nachfolgende Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1789 setzt die Menschen- und Bürgerrechte ohne hierarchische Stufung nebeneinander. Gleichwohl aus der Voranstellung der Menschenrechte deren Primat und eine Entwicklungsrichtung abzuleiten, entspräche weder der Vorstellung der Schöpfer der Déclaration6 noch dem in Gang gesetzten historischen Prozess. Die Grundlegung der nation une et indivisible leitet eine Epoche der politischinstitutionellen Entwicklung ein, die als Entfaltung des Nationalstaats in Abgrenzung von anderen Nationalstaaten, nicht nur die europäische, sondern auch die außereuropäische Geschichte bis in unsere Gegenwart prägt. Der aufklärerische, menschheitliche Duktus der klassischen Déclaration steht bei genauem Hinsehen neben konkreten Formulierungen von großer praktischer Bedeutung, die eben genau den Bürgern (citoyens), Mitgliedern der neuen revolutionären Staaten, und nicht allen Menschen zukommen sollen.7 Es sind diese konkreten, national und damit partikular formulierten Rechtsgewährleistungen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts den expandierenden, immer stärker verfassungsrechtlich geschützten Rechtsstatus des Einzelnen bestimmen. An der Wende zum 20. Jahrhundert, mit der die Phase höchster Intensivierung und Machtentfaltung des Nationalstaats beginnt, sind die Menschenrechte beinahe vergessen.8
6 Vgl. Marcel Gauchet, La révolution des droits de l'homme, 1. Aufl., Paris 1989, S. 101; Stéphane Rials, La déclaration des droits de l'homme et du citoyen, 1. Aufl., Paris 1988. Die spätere republikanische Verfassung vom 09. November 1848 formulierte im zweiten Kapitel nur Bürgerrechte. 7 Dies lässt sich an zahlreichen Beispielen im Text der Déclaration belegen. Beispielsweise werden laut Art. 6 Gesetze von Bürgern erlassen und diese sind vor dem Gesetze gleich. Die Kommunikationsfreiheit des Art. 11 ist im ersten Satz als Menschenrecht formuliert, jedoch darf ausdrücklich der citoyen frei reden, schreiben und drucken. Steuerpflicht herrscht unter Bürgern (Art. 13) und diese bewilligen die Steuern (Art. 14). 8 Samuel Moyn, The last utopia. Human rights in history, 1. Aufl., Cambridge, 2012, S. 39-41.
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2 Staatsbürger- und Menschenrechte in Europa, 1900-2016 2.1 Nation und Staatsbürgerschaft im späten 19. Jahrhundert Mit dem 20. Jahrhundert begann eine Phase der Entwicklung europäischer Staatlichkeit, die als höchste Intensivierung staatlicher Machtausübung in vielfach autoritären Formen auftrat. Diese Ära der „autoritären Hochmoderne“9 war geradezu imprägniert von den Ideen des Nationalismus und Imperialismus und mit diesen unauflösbar verbunden. Empire-building und nation-building trafen sich in der Fixierung auf Abgrenzungen. Diese betrafen zum einen den Raum als materielle Grundlage und Symbol der Erringung und Festigung politischer Macht, den es zu erobern beziehungsweise zu sichern galt. Zum anderen waren sie auf die Kontrolle von Menschen, die Festlegung ihrer Zugehörigkeit und die Steuerung ihrer Mobilität, angelegt. Besonders scharf wirkte die zunehmend rassistische Grenzziehung und Diskriminierung im Gefolge der globalen Expansion europäischer Kolonialreiche. Fremdstämmige, sogenannte ‚inorodtsy‘, insbesondere in den asiatischen Teilen des Russischen Reichs, ‚sujets-indigènes‘ im französischen Kolonialreich, ‚eingeborene‘ Schutzgebietsangehörige unter deutscher Kolonialherrschaft und ‚subjects‘ nichteuropäischer Herkunft in der Weite des British Empire, genossen ohnehin nur minimalen Schutz als Staatsangehörige im Verkehr mit anderen Staaten. Im Inneren ihrer kolonialen Imperien aber waren sie strikt und auf Dauer von den vollen Rechten und Freiheiten der britischen, französischen etc. Staatsbürger ausgeschlossen. Das Grundprinzip der Gleichheit zwischen Staatsangehörigen, das in den metropolitanen Gebieten galt, wich demgegenüber im kolonialen Raum einer ebenso prinzipiellen Diskriminierung nach kulturellen und ‚rassischen‘ Merkmalen. In den metropolitanen Gebieten Europas selbst entsprang die Intensivierung und Radikalisierung nationaler Bewegungen vielfach der Wahrnehmung einer Bedrohung von außen, symbolisiert und verstärkt durch die Einwanderung als zutiefst fremd empfundener und deshalb als minderwertig herabgesetzter Bevölkerungsgruppen. So geschah es zum Beispiel im Deutschen Reich, als 1885/86 mehr als 30.000 aus Russland und Österreich Eingewanderte im Zuge einer antipolnischen und antisemitischen Abwehrpolitik ausgewiesen wurden. 9 James C. Scott, Seeing like a state. How certain schemes to improve the human condition have failed, 1. Aufl. New Haven 1999; Vgl. Gabriele Metzler, Probleme politischen Handelns im Übergang zur Zweiten Moderne, in: Ulrich Beck / Martin Mulsow (Hg.), Vergangenheit und Zukunft der Moderne, 1. Aufl., Berlin 2014, S. 232-272, hier S. 248-261.
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Heute wissen wir genauer, wie sehr sich Nationalismus und Imperialismus gegenseitig verstärkten. Der transkontinentale imperiale Ausgriff einer europäischen Gesellschaft beförderte gerade die Nationalisierung der metropolitanen Gesellschaft in den europäischen Mutterländern der Kolonialstaaten und damit die Herausbildung nationaler Eigenheiten und Abgrenzung. In dieser Verschränkung wirkten beide politisch-ideologischen Strömungen antiuniversalistisch. Grundlegende Rechte der Bürger – nicht der Bürgerinnen – wurden partikular, nach Maßgabe der Zugehörigkeit zu einem Staat, einem Geschlecht beziehungsweise einer ‚rassisch‘ herrschenden Gruppe erteilt. Die Kehrseite dieser Abgrenzung nach außen war die Expansion staatlicher Tätigkeit als Interventions- und Wohlfahrtsstaat nach innen. Das Bedürfnis nach präziser bürokratischer Bestimmung der Zugehörigkeit zum National- und Militärstaat hing unmittelbar mit der Zuteilung sowohl von Pflichten als auch zunehmenden politischen und sozialen Rechten zusammen. Es ging darum, die Angehörigen des Nationalstaats mit herausgehobenen, von Nichtzugehörigen unterschiedenen Rechten und Pflichten auszustatten. Staatsangehörige des jeweiligen Staates wurden gegenüber Ausländern privilegiert. Hier erhielt das Rechtsinstitut der Staatsbürgerschaft eine zentrale Verteilungsfunktion. Es schützte im Rahmen eines sich herausbildenden internationalen Konsenses eigene Staatsangehörige vor Ausweisung und vermittelte ihnen zunehmend Rechte. Umgekehrt machte es jene verletzlicher, die sich außerhalb ihres Herkunftsstaats aufhielten. Sie konnten als Ausländer, sofern sie als ‚unerwünscht‘ galten, ohne menschenrechtliche Sicherungen oder Rücksicht auf ihre lange Ansässigkeit mit ihren Familien ausgewiesen werden. Die rechtliche Grenzziehung zwischen Ausländern und Staatsangehörigen vertiefte sich noch, indem ihr zunehmend eine substantielle Unterscheidung zwischen ‚Zugehörigen‘ und ‚Nichtzugehörigen‘ zugeschrieben wurde. Nationale und ethnische Diskriminierungen hielten Einzug in die Einbürgerungspolitiken zwischen europäischen Staaten. Die Restriktionen zum Beispiel gegenüber slawischen und jüdischen Immigranten im Deutschen Reich sowie die Bevorzugung romanisch-katholischer Einwanderer in Frankreich zeigen dies. 2.2 Stärkung und Erosion der Staatsbürgerschaft in der Weltkriegszeit Die Weltkriegszeit in Europa verschärfte diese Diskrepanz zwischen innen und außen und kerbte den rechtlichen Unterschied zwischen Ausländern und Staatsangehörigen noch stärker aus. Die Gewaltentladung des Ersten Weltkriegs verfestigte all diese Strömungen der Demarkation zu einem Sys294
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tem der Grenzbefestigung – territorialer und personaler Ausprägung. „Die Welt von gestern“, die Stefan Zweig als Universum beschrieb, in dem man staatliche Grenzen weithin ohne belastende Kontrollen überschreiten konnte,10 wich einer Ordnung, in der die Abgrenzung von Zugehörigkeiten, die Kartierung kollektiver Identitäten und deren scharfe, bürokratisch organisierte und technisch verfeinerte Kontrolle beherrschend wurden. Mit der universellen Wehrpflicht enthüllte der Krieg eine existentielle Dimension der Staatsbürgerschaft, die im Frieden verborgen bleibt. Männliche Staatsangehörige unterlagen zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Pflicht, als Soldaten ihr Leben für das Wohl des Heimatstaats einzusetzen. Die Staatsangehörigkeit trennte Freund und Feind, konstituierte, vom Recht ausgehend, auch politisch-symbolisch gegeneinander gerichtete Wehrgemeinschaften und wirkte wiederum zurück auf die zivile Gesellschaft. Aus langansässigen Ausländern und Nachbarn, sofern sie einem ‚Feindstaat‘ angehörten, wurden ‚enemy aliens‘, die ihrer Freiheit und Rechte beraubt werden konnten. Ausweispflichten und Grenzkontrollsysteme wurden eingeführt. Sie waren, kriegsbedingt, als temporäre Maßnahmen gedacht, tatsächlich aber leiteten sie ein ganzes Zeitalter europäischer Demarkationen ein und wurden erst mit dem Ende des Kalten Krieges aufgebrochen. Doch reichten diese Demarkationen viel tiefer. Sie machten nicht an den Grenzen der Staatsangehörigkeit und der Staaten halt. Unter der Oberfläche rechtlicher Verfahren begann ein grundlegendes Prinzip der Staatsangehörigkeit selbst – der Anspruch auf prinzipielle Gleichheit und Schutz aller Staatsangehörigen – zu erodieren. Die Denaturalisation, das heißt Ausbürgerung von naturalisierten Staatsangehörigen, die ehemals ‚Feindstaaten‘ angehört hatten und deshalb nun als verdächtig galten, wurde 1914/15 in Großbritannien und Frankreich als neue Sanktion eingeführt und damit als fester Bestandteil ins Arsenal nationaler Grenzziehung aufgenommen. Das untergehende Zarenreich trieb diese Ausschlussmaßnahmen noch weiter, indem es eigene Staatsangehörige, Untertanen der russischen Krone, vor allem deutscher und jüdischer Herkunft, massenhaft der Deportation und Enteignung aussetzte. Das weist bereits auf die spätere Praxis des sowjetischen Regimes voraus, das nach dem Sieg im Bürgerkrieg 1921 mehr als einer Million Russen, die als politische Gegner emigriert waren, ihre Staatsangehörigkeit entzog und sie zu Staatenlosen machte.
10 Vgl. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 2001, S. 463.
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Politisch etabliert hatte sich damit ein Selektionsmechanismus, der sich der Staatsangehörigkeit bediente, diese aber damit zugleich ihrer Grundfunktion beraubte, nämlich Gleichheit, Schutz und Freiheit aller Staatsbürger zu gewährleisten. Nationale, ethnische und politische Kriterien begründeten existentiell einschneidende Maßnahmen der Selektion, Diskriminierung und Exklusion unter den eigenen Staatsbürgern. Die Staatsbürgerschaft war damit nicht mehr länger die sichere Basis der individuellen zivilen und politischen Existenz in Europa. Das bekamen zunächst die Angehörigen der autoritären Systeme Europas kommunistischer beziehungsweise faschistischer Provenienz zu spüren. Sie gerieten von Staatsbürgern zu Objekten der Regimepolitik. Die Nürnberger Rassengesetze von 1935 wurden zum Prototyp dieser Funktionsumkehrung der Staatsbürgerschaft: Von einer Rechtsinstitution auf der Basis der Gleichheit der Mitglieder und zu deren Schutz wurde sie zu einem politisch verfügbaren Instrument der Rassendiskriminierung. Nicht mehr Staatsbürgern schlechthin, sondern allein herausgehobenen ‚Reichsbürgern‘ wurden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur ‚arischen Rasse‘ die vollen Rechte und der Schutz des nationalsozialistischen Staats zuteil. Einfache Staatsangehörige, zu denen unter anderem alle als ‚Juden‘ Eingestuften gehörten, bildeten eine mindere Rechtskategorie. Bevor das nationalsozialistische Regime die in Deutschland verbliebenen Juden deutscher Staatsangehörigkeit in den Holocaust trieb, stieß es sie in die Staatenlosigkeit. Wir verdanken diesem historischen Vorgang massenhafter Entrechtung und innerer Aushöhlung der Staatsbürgerschaft als Rechtsinstitution einen der hellsichtigsten und bittersten Texte politischer Theorie im 20. Jahrhundert, das berühmte Kapitel über Menschenreche in „The Origins of Totalitarianism“, das Hannah Arendt 1951 auch im Rückblick auf ihren eigenen Lebens- und Leidensweg als deutsch-jüdische Emigrantin formulierte: „Nun stellte sich plötzlich heraus, daß in dem Augenblick, in dem Menschen sich nicht mehr des Schutzes einer Regierung erfreuen, keine Staatsbürgerrechte mehr genießen und daher auf das Minimum an Recht verwiesen sind, das ihnen angeblich eingeboren ist, es niemanden gab, der ihnen dies Recht garantieren konnte, und keine staatliche oder zwischenstaatliche Autorität bereit war, es zu schützen.“11 Dieser Text ist auch deswegen berühmt, weil er aus der scharfen Analyse des Verlusts an Schutz, den Staatsbürgerrechte nach dem Verständnis des 19. Jahrhunderts gewährt hatten, nicht die Flucht in überstaatliche, universelle Menschenrech-
11 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1. Aufl., Frankfurt a.M. 1955, S. 437.
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te antritt. Vielmehr atmet er tiefe Skepsis gegenüber den menschenrechtlichen Verheißungen, die angesichts der Verheerungen der europäischen Rechtskultur keinerlei Schutz gewährt hatten. Es zeigt das ganze Ausmaß der Zerstörung rechtlichen Schutzes und der darauf beruhenden Freiheit, dass die volle Wucht der Entpluralisierung, der homogenen Gemeinschaftsbildung, auch jenseits der Diktaturen kein politisches System unberührt ließ. In der Zwischenkriegszeit traf die Hochzeit des radikalen Nationalismus mit der höchsten Kraftentfaltung nationalstaatlicher Interventionsmacht zusammen. Verschärft wurde diese Entwicklung durch eine tiefe ökonomische und politische Doppelkrise globalen Ausmaßes. In dieser Lage enthüllten auch die europäischen Demokratien ihre „dunkle Seite“12. Sie entfalteten ihr Potenzial zur Nationalisierung und Homogenisierung der Gesellschaften. Großbritannien, die Weimarer Republik, schließlich auch die französische III. Republik sowie die fragilen jungen Demokratien in Mittelosteuropa, zum Beispiel Polen und die Tschechoslowakei, ergriffen vielfach rigide Maßnahmen zur Beschränkung von Immigration und Einbürgerung. Kampagnen der Ausweisung von Ausländern, kaum gehemmt durch humanitäre oder menschenrechtliche Rücksichten, waren ein probates Instrument, um den Bedarf an ausländischer Arbeitskraft zu regulieren sowie ethnisch oder politisch unerwünschte Ausländergruppen fernzuhalten. Diese Maßnahmen der Schließung trafen verstärkt Gruppen, die einen besonders prekären Status besaßen: Arbeitsuchende, politische Emigranten und Flüchtlinge. Sollte man darin einen Beleg schlechthin für die „Tyrannei des Nationalen“ sehen, wie Gérard Noiriel13 es genannt hat? Ich teile dieses moralische Verdikt gegen den Nationalstaat nicht, jedenfalls nicht, soweit es um demokratische und rechtsstaatlich-konstitutionell kontrollierte Staaten geht. Zum einen, weil diese in Europa für das große Elend, das Prekariat der migrierenden Massen Staatenloser, gar nicht verantwortlich waren. Es waren vielmehr Diktaturen und totalitäre Regime, die sich tradierter rechtlicher Bindungen und humanitärer Konventionen des internationalen Rechts entledigten, um sich möglichst wirksam und massenhaft von ihren Regimegegnern zu befreien und diese zugleich auch symbolisch zu erledigen. Nicht zuletzt sollte das Elend der Flüchtlinge zur Destabilisierung der De-
12 Vgl. Michael Mann, The dark side of democracy. Explaining ethnic cleansing, 1. Aufl., Cambridge 2005. 13 Vgl. Gérard Noiriel, La tyrannie du national. Le droit d’asile en Europe, (1793 – 1993), 1. Aufl., Paris 1991.
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mokratien beitragen, die, getreu ihren rechtsstaatlichen und humanitären Grundprinzipien, die Flüchtlinge nicht schlechthin zurückwiesen – und auch nicht zurückweisen konnten. Vor allem aber zeigte sich gerade an den demokratischen Nationalstaaten Europas die nach innen gewandte inklusive Kehrseite der Grenzziehung gegenüber Nichtmitgliedern, Ausländern. Die Zwischenkriegszeit war nicht nur eine Phase der Nationalisierung individueller Rechte, sondern zugleich ihrer Expansion im Innern nationaler Gemeinschaften. Dabei bedeutete Expansion nicht nur die Erweiterung bestehender individueller Rechtsgarantien, sondern auch die Schaffung neuer Typen von Rechten. Die Ausweitung politischer Rechte, insbesondere des Wahlrechts, in den europäischen Demokratien zwischen dem Ersten Weltkrieg und den 1930er Jahren bedeutete in doppelter Hinsicht geradezu einen Sprung für die Rechte von Gruppen, die lange, zum Teil vollständig, von der demokratischen Partizipation ausgeschlossen gewesen waren. Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte für alle europäischen Staaten den Durchbruch zum allgemeinen, gleichen Männerwahlrecht. Noch einschneidender aber war die Einführung des gleichen Wahlrechts für Frauen, die damit erstmals in der Geschichte des modernen Staates zu Staatsbürgerinnen wurden. Die Ausweitung des Wahlrechts auf beide Geschlechter wirkte sich zusätzlich verstärkend auf die Expansion sozialer Rechte aus. Zum Beispiel im Bereich der Regelung von Mutterschaft und Kinderfürsorge, der Versorgung von Kriegsgeschädigten und -hinterbliebenen, der Versicherung gegen Arbeitslosigkeit und der Zuteilung von Wohnraum schuf der Sozialstaat der Zwischenkriegszeit erhebliche neue Leistungen und Leistungsrechte. Das ‚Soziale‘ als Argument und Bedarfsforderung in der latenten sozioökonomischen Dauerkrise der Zwischenkriegszeit wurde zu einem ubiquitären Gedanken, indem es in annähernd alle Politikbereiche vordrang. Im Zuge dieser expansiven Entwicklung stieg die Zahl der Unterstützungsbedürftigen in allen Ländern sprunghaft an.14 Eine derartige Steigerung sozialer Leistungen und der Ansprüche an den Leistungs- und Wohlfahrtsstaat warf gerade in einer Phase tiefgreifender ökonomischer Labilität die Frage nach den Grenzen der Leistungskraft des Wohlfahrtsstaats auf. Die fortschreitende Nationalisierung vieler elementarer Rechte, das heißt ihre Beschränkung auf eigene Staatsangehörige, war eben der Preis ihrer Erweiterung und substantiellen Verbesserung. Der darin offenbar werdende Zusammenhang zwischen der qualitativen Verbesserung von Rechten und ihrer selektiven Zuteilung unter den Bedin-
14 Gosewinkel, Schutz und Freiheit?, S. 249.
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gungen begrenzter Ressourcen einer politischen Gemeinschaft ist seitdem ein Kernproblem jeder demokratischen Ordnung, die eine staatlich verfasste und begrenzte ist. 2.3 Staatsbürgerschaft und Menschenrechte nach 1945 Auch der Zweite Weltkrieg beendete nicht das Zeitalter autoritärer politischer Systeme in Europa und damit einer autoritären Bindung staatsbürgerlicher Rechte an Vorgaben politischer, ideologischer oder ethnischer Homogenität. Die aus der nationalsozialistischen Okkupation neu entstandenen nationalen Volksdemokratien Polens und der Tschechoslowakei zum Beispiel kehrten die ethnischen Exklusionskriterien ihrer ehemaligen Besatzer gegen diese selbst. Sie schlossen ‚ethnisch Deutsche‘ aus ihrer sozialistischen Gemeinschaft aus. ‚Sowjetbürger‘, ‚Staatsbürger‘ der DDR und anderer sozialistischer Staaten wie auch der iberischen Diktaturen genossen den Schutz und die eng begrenzten Freiheiten ihrer Staaten nur nach Maßgabe ihrer politisch-ideologischen Gefügigkeit. Ansonsten drohte ihnen die Ausbürgerung. Demgegenüber verschoben sich in den westeuropäischen Demokratien allmählich die Grenzen zwischen Inklusion und Exklusion. Zwei Prozesse der Öffnung und Liberalisierung, die teilweise miteinander verknüpft waren, trugen dazu bei. Der erste Prozess, die Öffnung der Staatsbürgerschaft für Gruppen, die davon zuvor aus ethnisch-rassischen Gründen ausgeschlossen worden waren, entsprang der Dekolonisation. Die europäischen Kolonialmächte vollzogen diesen Schritt nicht ganz freiwillig. Aber der Ausschluss sogenannter ‚Indigener‘ von den vollen Rechten der Staatsbürgerschaft war zum Sprengsatz im spätkolonialen Machtgefüge geworden. Die ehemaligen Kolonialunterworfenen suchten sich der kolonialen Diskriminierung gerade durch die Gründung unabhängiger Nationalstaaten zu entziehen und die Gestaltung ihrer Staatsbürgerschaft in die eigene Hand zu nehmen. Es gehört zu den Paradoxien der Rechtsentwicklung, dass sich in den dekolonisierten Staaten außerhalb Europas ein Schub der Nationalisierung durchsetzte, der das Staatsmodell des metropolitanen Europa regelrecht kopierte. Hinzu kam die Verflochtenheit der postkolonialen Beziehungen, die dazu führte, dass ehemalige Kolonialangehörige ihre britische, französische, belgische etc. Staatsangehörigkeit nutzten, um den Zugang zum metropolitanen Gebiet zu erlangen. Die seit den 1950er Jahren einsetzende Welle der postkolonialen Migration veränderte zunächst die westliche Hemisphäre des europäischen Kontinents grundlegend. Die Immigration afrikanischer und asiatischer Menschen aus ehemaligen Kolo299
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nien, die vielfach Pässe ihrer Kolonialmächte vorwiesen, gab Europa auf Dauer ein ethnisch und religiös-kulturell grundlegend verändertes Gesicht. Diese Rückwirkung des europäischen Kolonialismus veränderte nicht nur die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung, sondern auch der staatsangehörigen Bevölkerungen in Europa. Sie wurden ethnisch, religiös und kulturell pluraler. Doch war selbst mit der staatsbürgerlichen Gleichstellung dieser ehemaligen Kolonialangehörigen ein fundamentales sozio-kulturelles Problem der post-kolonialen Ära nicht gelöst. Tradierte Exklusionsmechanismen wirkten nach. Die britischen Migrationsbehörden beispielsweise beschränkten seit den 1980er Jahren das Aufenthaltsrecht nichteuropäischer ‚Commonwealth Citizens‘ im Vereinigten Königreich. ‚Citoyens français‘, die aus den ehemaligen Kolonialgebieten stammen, werden vor allem in den Banlieues mit sozialer und kultureller Diskriminierung konfrontiert, die nicht zu trennen ist von überkommenen Mustern kolonialer und rassistischer Abwertung. Hieran zeigt sich die Begrenztheit des Schutzes überhaupt, den Rechtsregelungen des Individualschutzes vermitteln können, seien sie partikularer Art wie die Staatsbürgerschaft oder universeller Art. Die zweite Öffnung der Staatsbürgerschaft vollzog sich unter dem Einfluss einer neuen Kategorie von Normen, die von außen als neuer Maßstab des Individualrechtsschutzes an die Nationalstaaten herangetragen wurde: universelle Menschenrechte. Diese waren schon unmittelbar nach 1945 aufgrund der Erfahrung massenhafter Vernichtung individueller Rechte Gegenstand internationaler Kodifikationen geworden. Die europäischen Diktaturen – sowohl faschistischer als auch sozialistischer Provenienz – hatten mit ihrer programmatischen Schwächung beziehungsweise Negierung individueller Rechtspositionen auch ihre Staatsbürgerrechte zu einer inhaltsleeren Proklamation gemacht. In Reaktion darauf hatten Menschenrechtsdeklarationen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue, universalrechtliche Basis für diese Forderungen proklamiert. Aber erst in den 1970er Jahren wurde dieser universelle Rechtsmaßstab in Europa als Topos und Rechtsanspruch zu einer wirksamen Waffe des politischen Kampfes. In einer Lage, in der in West und Ost menschenrechtliche Maßstäbe nicht nur gegen Staaten, sondern auch gegen die ideologische Blockspaltung in Stellung gebracht werden konnten, erhielten Staatsbürgerrechte im Kampf um die Durchsetzung individueller Rechte eine wirkungsvolle Konkurrenz in Gestalt der Menschenrechte. Das Helsinki-Abkommen von 1975 gab den Menschen der sozialistischen Staaten Europas ein Instrument, mit dem sie Schutz und Freiheit von ihren Herkunftsstaaten fordern konnten, die ihnen diese als Staatsbürger vorenthalten hatten. Auf westlicher Seite wirkte die Rechtsprechung 300
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des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte immer intensiver auch in die nationale Rechtsordnung der politisch einflussreichsten Mitgliedstaaten hinein. Die nationalen Staatsbürgerrechte waren damit nicht mehr die ausschließliche Schutznorm individueller Rechte in Europa und der Nationalstaat nicht mehr ihr alleiniger Garant. Vielmehr setzte seit den 1970er Jahren ein Zug zur Denationalisierung und Deterritorialisierung des Individualrechtsschutzes in Westeuropa ein. Insbesondere soziale und wirtschaftliche Rechte, zum Beispiel im Bereich der Gesundheitsvorsorge und Sozialversicherung sowie beim Zugang zum Arbeitsmarkt, wurden zunehmend unabhängiger von einer bestimmten Staatsangehörigkeit und deren spezifischem Mitgliedstatus. Die verdichtete transnationale Migration, internationale Abkommen und menschenrechtliche Garantien griffen hierbei ineinander. In der wissenschaftlichen Literatur wurde das vielfach zu einer Gesamtentwicklung synthetisiert. Die Rede vom Übergang von der nationalstaatlich gebundenen Staatsbürgerschaft zu einer postnationalen Mitgliedschaft (‚postnational membership‘) ist allerdings überzogen. Tatsächlich wurden Staatsbürgerrechte in ihrer Bedeutung für den Individualrechtsschutz von Menschenrechten weder verdrängt noch gar ersetzt. Für Menschen im Osten wie im Westen Europas blieb der Staat der Hauptbezugspunkt ihrer Forderung nach Schutz und Freiheit: Wo er, wie im Osten Europas, diese Forderungen in den Augen seiner Staatsbürger immer weniger erfüllte, wurde er zur Zielscheibe revolutionären Widerstands. Dort hingegen, wo er – wie im Westen Europas – durch den Ausbau sozialer Leistungen und die Expansion bürgerlicher Freiheiten seine Legitimität steigern konnte, wurde die Staatsbürgerschaft (citizenship) geradezu zum Symbol des modernen Wohlfahrtsstaats.15 Bürger, die in den Genuss dieser liberalen, wohlfahrtsstaatlichen Systeme kamen, sahen ihre soziale Existenz durch staatsbürgerliche Rechte ihres nationalstaatlichen Systems und nicht – oder nur ergänzend – durch Menschenrechte gewährleistet. Dies war die Lage im Wendejahr 1989, das erstmals seit der ideologischen Spaltung des Kontinents 1917 die Chance auf eine politische und rechtliche Einigung Europas eröffnete. Das gemeinsame rechtskulturelle Erbe des rechtsstaatlich-liberalen und demokratischen Konstitutionalismus enthielt in seinem Kern die Idee einer Staatsbürgerschaft. Sie war von der atlantischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts ausgeformt worden und bildete nach zweihundert Jahren erstmals den Kristallisationspunkt
15 Thomas Humphrey Marshall, Citizenship and Social Class, 1. Aufl., Cambridge 1950, S. 42-43.
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einer gemeinsamen europäischen Rechtsentwicklung. Alle aus dem Untergang des sowjetischen Machtblocks hervorgehenden neuen Verfassungsstaaten erhoben die Institution der Staatsbürgerschaft in den Verfassungsrang, kodifizierten und sicherten individuelle staatsbürgerliche Rechte durch gewaltenteilige sowie justizförmige Sicherungen umfassend ab. Im Zusammenwirken mit grundlegenden menschenrechtlichen Gewährleistungen der neuen Verfassungen gaben die Staatsbürgerrechte dem neuen europäischen Konstitutionalismus eine rechtlich kohärente Legitimationsgrundlage, die er nie zuvor besessen hatte. Die Wende 1989 formulierte für ganz Europa die Absage an eine autoritäre und gemeinschaftsgebundene Rechtsstellung des Individuums und setzte es in den Stand autonomer Ausübung seiner Rechte. Es waren zunächst und vor allem die Rechte von Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen. Mit einer spezifischen Ausgestaltung staatsbürgerlicher Rechtsgarantien durch den jeweiligen Staat blieb das Bewusstsein einer je spezifischen Ausgestaltung der Beziehung zwischen dem Staatsbürger/der Staatsbürgerin und seinem/ihrem Staat als dem Garanten individueller Rechte erhalten. Bleibt diese Deutung allzu sehr dem Etatismus und Nationalismus vergangener Jahrhunderte verhaftet? Kosmopolitische Rechtstheorien können auf die fraglos gewachsene rechtliche Bedeutung der Menschenrechte verweisen. Diese sind in den Verfassungen vieler Staaten und in zahlreichen internationalen Abkommen verankert.16 Auch gilt das Argument der Überwindung nationalstaatlich begrenzter Zugehörigkeit gerade im Herzen Europas: die Unionsbürgerschaft der Europäischen Union. Hier ist eine dezidiert überstaatliche Rechtsinstitution politischer Zugehörigkeit aus dem Willen der europäischen Unionsstaaten entstanden, die Grenzen zu öffnen, den Unionsbürgern möglichst umfassend Freiheit zu gewährleisten und deren Schutz europäischen Institutionen anzuvertrauen. Und dennoch war dies ein Schritt, der nicht das Prinzip aufhob: Der Rechtsstatus der Unionsbürgerschaft beruht auf der Staatsangehörigkeit in einem Mitgliedstaat, setzt diese voraus und ersetzt sie gerade nicht – wie das europäische Recht explizit festhält.17 Der Zugang zur Unionsbürgerschaft unterliegt dem Zugang zur Staatsbürgerschaft, und dieser unterliegt der Souveränität des Mitgliedstaats. Die Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts wird von den Mitgliedstaaten als Insignie ihrer Souveränität verteidigt. 16 Vgl. David Weissbrodt, Human Rights of Noncitizens, in: Rhoda E. Howard-Hassmann / Margaret Walton-Roberts (Hg.), The Human Right to Citizenship. A Slippery Concept, 1. Aufl., Philadelphia 2015, S. 21-30. 17 Vgl. Art. 20 Abs. 1, Satz 2-3 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, konsolidierte Fassung, Amtsblatt Nr. C 326, 26.10.2012, S. 47–390.
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Entgegen Annahmen in der Literatur lässt sich auch nicht von einer Konvergenz der Staatsangehörigkeitsregelungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union reden. Im Gegenteil: Kämpfe um die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat und dessen Kriterien der Staatsangehörigkeit weisen in die entgegengesetzte Richtung. Dabei tauchen Konflikte auf, die seit der Hochphase des europäischen Imperialismus und Nationalismus schwelen. Ungarn zum Beispiel, das 1919 im Versailler Vertrag erhebliche Gebiete an Rumänien und die Slowakei verloren hatte, erinnerte in den letzten Jahren immer wieder Staatsangehörige dieser Staaten daran, dass sie ihre ethnischen Wurzeln in Ungarn haben. Angesichts dieses historischen Konflikts und gegenwärtiger grundsätzlicher Auseinandersetzungen um die Verteilung von Migranten in der Europäischen Union wäre Ungarn ebenso wie die meisten anderen ostmitteleuropäischen – und wohl auch westlichen – Mitgliedstaaten nicht bereit, die Kriterien der Aufnahme in die Staatsbürgerschaft einem einheitlichen europäischen Kodex anzupassen. 3 Schluss Wir sind damit im Krisenjahr 2016. Was folgt aus diesem historischen Durchgang, in dem der Schutz individueller Rechte über lange Strecken von Staatsbürgerrechten dominiert wurde, bevor universelle Menschenrechtsgewährleistungen hinzutraten, die die Partikularität der Staatsbürgerrechte herausforderten und vielfach in Frage stellten? Festzuhalten ist im Rückblick auf das Ende des 19. Jahrhunderts, dass Menschenrechte Lücken des Schutzes für Menschen in elementaren Notlagen schließen. Sie gewährleisten heutzutage ein Recht auf Asyl bei politischer Verfolgung, auf Aufenthalt für Schutzbedürftige und seit langem legal Ansässige. Sie verbieten scharfe Diskriminierungen nach absoluten Kriterien wie Rasse und Geschlecht. Die Hilfe suchenden Syrer in unserem Ausgangsfall könnten von europäischen Staaten nur unter Verstoß gegen elementare Menschenrechtsgrundsätze zurückgewiesen werden, der vor internationalen Gerichtshöfen anzugreifen wäre. Verlässt man jedoch dieses menschenrechtlich gesicherte Terrain von Notlagen und konsensualem Aufenthalt, wird die Durchsetzungskraft universalistisch begründeter Rechtsforderungen brüchiger. Staatsbürgerrechte beanspruchen in der Staatspraxis – vielfach ungeachtet internationaler Vertragsverpflichtungen – höhere Legitimität gerade unter Berufung auf ihre partikulare Geltungsbestimmung und die Scheidung zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern. Das Festhalten selbst der Mitgliedstaaten der Europäischen Union an der souveränen Bestimmung über ihr Staatsange303
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hörigkeitsrecht zeigt dies. Daran knüpft die jüngste Entwicklung an, die in vielen Staaten der Union eine kollektive Rückbesinnung auf territoriale und mitgliedschaftliche Grenzziehungen aufdeckt. Dahinter steckt eine fundamentale Krise über die Bestimmung politischer Zugehörigkeit in Europa. In dem Maße, in dem auf der Ebene des europäischen Staatenverbundes Möglichkeiten der Grenzkontrolle nicht bestehen oder nicht wahrgenommen werden, wachsen nationalstaatliche Bedürfnisse nach Abgrenzung und Kontrolle. Diese berufen sich auf mitgliedschaftliche Abgrenzungen, die in einer seit Jahrzehnten nicht mehr erlebten Intensität – teils auch Aggressivität – gegen universalistische Rechtsforderungen in Stellung gebracht werden. Die massiven Flüchtlingsbewegungen, die ein seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gekanntes Ausmaß angenommen haben, verbinden sich in weiten Teilen Europas – und nicht nur hier – mit Ängsten und Abwehrreaktionen gegenüber der zweiten Welle der Globalisierung. Es sind nicht nur ephemere Reminiszenzen, sondern Reflexe eines tief verankerten institutionellen Kollektivgedächtnisses, die dabei aktualisiert werden. Die bis in die Zwischenkriegszeit reichende erste Welle der Globalisierung brach sich an einem protektionistischen und nationalistischen Damm. Die – zeitweilige – Stabilisierung nach innen wurde seinerzeit auch in der Verknüpfung von politischer und sozialer Demokratie auf der Basis der begrenzten Mitgliedschaft gesucht. Die Konstruktion der mitgliedschaftlich begrenzten, nach innen stabil gehaltenen oder expandierenden Staatsbürgerrechte verschaffte der Demokratie in Zeiten der Krise eine Legitimitätsgrundlage und verstärkte sie noch in Zeiten des Booms nach 1945. Es liegt nahe, in der politischen Bewegung hin zu verstärkter Grenzziehung und Exklusion eine Reaktualisierung dieses Legitimationsmechanismus zu sehen. Die besondere Vehemenz des Rückzugs auf Rechtskonstruktionen der Mitgliedschaft, um Schutz und Freiheit zu garantieren, hat aber einen doppelten Grund. Sie resultiert nicht nur aus der Absicht, eine befürchtete Auflösung der politischen Gemeinschaft durch das universelle Außen, sondern auch deren Aushöhlung von innen abzuwehren. Mit letzterem sind terroristische Angriffe gemeint, die von Mitgliedern, Staatsbürgern, gegen die Grundlage der Staatsbürgerschaft selbst, nämlich Schutz und Freiheit für alle Mitglieder zu gewähren, verübt werden. Die fundamentale Absage der terroristischen Täter an die Loyalität gegenüber dem Staat, deren Mitglieder sie selbst sind, provoziert als Abwehrreaktion den Ausschluss aus
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der staatlich verfassten Gemeinschaft, die Ausbürgerung.18 Das Vereinigte Königreich macht seit 2002 von der Möglichkeit der Ausbürgerung Gebrauch, die französische Regierung betrieb dieses Projekt 2015 intensiv, setzte es aber nicht durch. In Deutschland gab es politische Vorstöße in diese Richtung, die aber (bis jetzt jedenfalls) nicht mehrheitsfähig waren. Auch hier scheint eine Parallele zur Krise der Zwischenkriegszeit zu liegen, in der die Ausbürgerung systematisch zur Selektion eingesetzt wurde. Seinerzeit ging es um politisch beziehungsweise ‚rassisch‘ erwünschte Staatsbürger. Im Unterschied zu jener Politik sind heute Tatbestände im Visier, die kriminelle Taten der Auszubürgernden bis hin zum massenhaften Mord im Auge haben. Die Ausbürgerungen sollen Loyalitätsverletzungen bestimmter Bürger gegenüber der im Staat verkörperten politischen Gemeinschaft ahnden. Auch darin liegt eine Aufwertung der Staatsbürgerschaft gegenüber universalistischen Rechtspositionen durch den Rückgriff auf ein immanentes Pflichtelement im Status der Mitgliedschaft. Appelliert die Forderung nach primärem Schutz der Staatsangehörigen durch Staatsbürgerrechte an den Staat, so verpflichtet die Sanktionsmöglichkeit der Ausbürgerung die Bürger zur elementaren Loyalität gegenüber dem Staat. Es liegt auf der Hand, dass die Ermächtigung zur Ausbürgerung vom Staat missbraucht und gegen seine grundsätzliche Pflicht zum Schutz aller Staatsbürger verkehrt werden kann. Die massenhaften Ausbürgerungen der Zwischenkriegszeit legen davon Zeugnis ab. Und eben dies will die Verfassungsordnung des Grundgesetzes verhindern.19 Gegenwärtig gibt es Anzeichen dafür, dass nicht nur Menschen-, sondern auch Staatsbürgerrechte unter erhöhtem Legitimationsdruck stehen und von Erosion bedroht sind. Geht man vom gemeinsamen Zweck, dem Schutz des Individuums und seiner Rechte, aus, so treten zwei Kernkonstellationen im Verhältnis zwischen Staatsbürger- und Menschenrechten hervor. Zum einen stehen sie – in gegenwärtig wohl wachsender – Spannung zueinander: Menschenrechtlichen Forderungen wird unter Berufung auf das engere, partikulare Mitgliedschaftserfordernis die universelle Geltung abgesprochen. Damit hätten zum Beispiel die vor wirtschaftlicher Not flüchtenden Menschen aus Afrika und Asien, die sich auf ihr Recht auf Leben der UN-Deklaration oder das Recht auf angemessene Ernährung aus dem UN-Sozial-
18 Sandra Mantu, Contingent citizenship. The law and practice of citizenship deprivation in international, European and national perspectives, 1. Aufl., Leiden / Boston 2015. 19 Vgl. BVerfGE 116, 24 .
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pakt beriefen, kein Recht auf Aufenthalt und Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland – im Unterschied zu deutschen Staatsbürgern. Zum anderen aber vermögen die beiden Rechtskategorien einander zu ergänzen im gemeinsamen Zweck, das Individuum zu schützen. Dieser komplementäre Schutz erweist sich in den beschriebenen existenziellen Notlagen des Einzelnen, der ‚zwischen‘ den Staaten steht, dem sein Herkunftsstaat nicht mehr und sein erstrebter Zielstaat noch nicht Schutz bietet. In dieser Lage bedarf der Einzelne des einen grundlegenden „Rechts auf Rechte“, das Hannah Arendt vor dem Hintergrund der massenhaften Entrechtung durch Staatenlosigkeit postulierte.20 Von der Philosophie in die Sprache des Rechts übersetzt bedarf der Einzelne eines „Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit“.21 Nur ein solches elementares und unentziehbares Recht auf Mitgliedschaft in einer staatlich verfassten Gemeinschaft gibt einen minimalen Schutz gegen die vollständige Entrechtung des Individuums. Das erscheint wenig, gemessen an den umfassenden menschheitlichen Forderungen, die im Namen der Menschenrechte immer wieder erhoben werden. Aber es erscheint mir – gerade zum Schutz des Individuums – als eine greifbare, erkämpfenswerte Forderung. Sie trägt der Aufteilung der Welt in partikulare politische Gemeinschaften Rechnung, nimmt diese aber in eine universelle Pflicht, keinen Menschen ohne den Schutz einer Staatsbürgerschaft zu lassen. Quellen- und Literaturverzeichnis Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1. Aufl., Frankfurt a.M. 1955. Gauchet, Marcel, La révolution des droits de l'homme, 1. Aufl., Paris 1989. Gosewinkel, Dieter, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, 1. Aufl., Berlin 2016.
20 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 465: „Diese neue Situation, in der die ‚Menschheit‘ faktisch die Rolle übernommen hat, die früher der Natur oder der Geschichte zugeschrieben wurde, würde in diesem Zusammenhang besagen, dass das Recht auf Rechte oder das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören, von der Menschheit selbst garantiert werden müßte. Und ob dies möglich ist, ist durchaus nicht ausgemacht“. 21 Sükrü Uslucan, Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit. Deutet sich in Europa ein migrationsbedingtes Recht auf Staatsangehörigkeit an – auch unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit?, Berlin 2012, S. 12; Rhoda Howard-Hassmann, The Human Right to Citizenship, in: Dies. / Margaret Walton-Roberts (Hg.), The Human Right to Citizenship, S. 1-20.
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An der Grenze des Universalismus Howard-Hassmann, Rhoda, The Human Right to Citizenship, in: Dies. / WaltonRoberts, Margaret (Hg.), The Human Right to Citizenship. A Slippery Concept, 1. Aufl., Philadelphia 2015, S. 1-20. Joas, Hans, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, 3. Aufl., Berlin 2011. Mann, Michael, The dark side of democracy. Explaining ethnic cleansing, 1. Aufl., Cambridge 2006. Mantu, Sandra, Contingent citizenship. The law and practice of citizenship deprivation in international, European and national perspectives, 1. Aufl., Leiden / Boston 2015. Marshall, Thomas Humphrey, Citizenship and Social Class, 1. Aufl., Cambridge 1950. Mazower, Mark, Dark continent. Europe's twentieth century, 1. Aufl., New York 2000. Metzler, Gabriele, Probleme politischen Handelns im Übergang zur Zweiten Moderne, in: Beck, Ulrich / Mulsow, Martin (Hg.), Vergangenheit und Zukunft der Moderne, 1. Aufl., Berlin 2014, S. 232-272. Moyn, Samuel, The last utopia. Human rights in history, 1. Aufl., Cambridge, Mass. 2010. Noiriel, Gérard, La tyrannie du national. Le droit d'asile en Europe, (1793 – 1993), 1. Aufl., Paris 1991. Rials, Stéphane, La déclaration des droits de l'homme et du citoyen, 1. Aufl., Paris 1988. Scott, James C., Seeing like a state. How certain schemes to improve the human condition have failed, 1. Aufl., New Haven 1999. Uslucan, Sükrü, Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit. Deutet sich in Europa ein migrationsbedingtes Recht auf Staatsangehörigkeit an – auch unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit?, 1. Aufl., Berlin 2012. Weissbrodt, David, Human Rights of Noncitizens, in: Howard-Hassmann, Rhoda E. / Walton-Roberts, Margaret (Hg.), The Human Right to Citizenship. A Slippery Concept, 1. Aufl., Philadelphia 2015, S. 21-30. Zweig, Stefan, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 2001.
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Tony Blair, der Irak-Krieg und das Erbe William Ewart Gladstones Dominik Geppert
Der liberale Universalismus westlicher Prägung mit seiner Vision einer auf allgemeinen Wohlstand und Freihandel gegründeten pluralistisch-demokratischen und pazifizierten Staatenwelt scheint aus heutiger Sicht irgendwo im Schattenreich zwischen Geschichte und Gegenwart angesiedelt zu sein. Bis vor nicht allzu langer Zeit hätte man gedacht, er sei eine treibende Kraft unserer Tage. Heute jedoch spricht im Lichte aufkommender Nationalismen, dem Erstarken autoritärer Herrschaftsformen und zunehmender protektionistischer Tendenzen manches dafür, dass er in einer tiefen Krise steckt und vielleicht sogar bereits einer Welt von gestern angehört. Der folgende Beitrag ist daher auch als ein erster, tastender Versuch der Historisierung eines Phänomens aus dem späten 20. und frühen 21. Jahrhundert zu verstehen. Dieses Phänomen kann im Anschluss an die britischen Politikwissenschaftler Krieger und Coates als „kriegerischer Humanitarismus“ (warlike humanitarianism)1 bezeichnet werden. Darunter ist eine Rechtfertigung militärischer Gewalt zu verstehen, die nicht auf geostrategische Notwendigkeiten oder nationale Interessen abzielt, sondern auf humanitäre Notlagen und ethische Gesichtspunkte. Ein derartiger „kriegerischer Humanitarismus“ ist eine bestimmte Ausdrucksform des westlich-liberalen Universalismus im Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen. Und er ist, das wäre meine erste These, an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert kaum irgendwo sonst so offensiv vertreten, aber auch derart vehement kritisiert worden wie in Großbritannien zur Regierungszeit Tony Blairs. Blairs vehementer Einsatz für die notfalls auch militärische Durchsetzung bestimmter ethischer Prinzipien und normativer Grundsätze, das wäre meine zweite These, hat mehr als alles andere dazu beigetragen, dass die Reputation des ehemaligen Premierministers in seinem Heimatland während der zurückliegenden zehn bis fünfzehn Jahre extrem gelitten hat. Als Blair im Jahr 2005 seine dritte Unterhauswahl gewann, war er der einzige Labour-Premierminister in der Geschichte seines Landes, dem so etwas je1 David Coates / Joel Krieger, Blair’s War, Oxford 2004.
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mals gelungen war. Insgesamt regierte er zehn Jahre: länger als irgendein anderer britischer Premier im 20. Jahrhundert – ausgenommen Margaret Thatcher, die freilich ihre eigene Partei nicht in dem Maße umgekrempelt und gleichsam auf den Kopf (oder vielleicht eher: vom Kopf auf die Füße) gestellt hatte wie Blair.2 Blairs Regierungszeit von 1997 bis 2007 fiel ziemlich genau mit einem ausgedehnten wirtschaftlichen Boom zusammen, der am längsten anhaltenden Phase ökonomischen Wachstums in Großbritannien nach 1945, in dessen Verlauf das britische Pro-Kopf-Einkommen zwischenzeitlich das deutsche überholte (wie Medien und Politik im Vereinigten Königreich nicht müde wurden zu betonen). Heute, zwölf Jahre später, hat sich Blairs eigene Partei so gründlich von ihm abgewandt, dass der bloße Verdacht, ein Labour-Unterhausabgeordneter hege Sympathien für den Ex-Premier oder dessen Politik, das Ende höherer politischer Ambitionen mit sich bringt. Blair ist nicht mehr der strahlende Sieger in drei Unterhauswahlen, sondern der Mann, der Großbritannien in mehr Kriege oder Militärinterventionen geführt hat als jeder andere britische Premier im 20. Jahrhundert. Insbesondere wird Blair als der Mann gesehen, der sein Land in einen sinnlosen und verheerenden Krieg im Irak geführt habe, der im Parlament gelogen habe, um dies zu erreichen, und der dabei noch dazu als Erfüllungsgehilfe eines besonders unangenehmen und konservativen US-Präsidenten aufgetreten sei.3 Über die Gründe für Blairs Kriege gehen die Ansichten auseinander. Die wohl am weitesten verbreitete Einschätzung lautet, Blair sei nach dem Terroranschlag auf die New Yorker Twin Towers im September 2001 in Fehleinschätzung der besonderen britischen Beziehungen zu den USA und in völliger Überschätzung seines eigenen Einflusses auf die amerikanische Politik in den Krieg gezogen.4 Eine weitere Interpretation besagt, Blairs informeller Regierungsstil (sofa government), seine Verachtung für das eigene Kabinett wie für die britische Ministerialbürokratie hätten dazu geführt, dass bewährte Prüfmechanismen und Beratungsverfahren ausgehebelt wurden, während politisch unverantwortliche Berater aus dem engsten Umfeld des Premierministers sowie eigennützige Zuflüsterer aus den Geheimdiensten
2 Siehe hierzu und zum Folgenden Anthony Seldon, The Blair Effect, Cambridge 2005; Ders., Blair's Britain, 1997–2007, Cambridge 2007. 3 Siehe etwa Tom Bowen, Broken Vows. Tony Blair, The Tragedy of Power, London 2016. 4 Vgl. Hugo Riddell, Hug them Close. Blair, Clinton, Bush and the ‚Special Relationship‘, London 2003.
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unangemessen großen Einfluss ausüben konnten.5 Eine dritte Deutung zielt auf den Dauerkonflikt mit Blairs mächtigem Schatzkanzler und Rivalen Gordon Brown, dem der Premier die Gestaltungshoheit über weite Teile der britischen Innenpolitik überlassen musste. Deswegen suchte er selbst sich zunehmend außenpolitisch zu profilieren, obwohl er sich für dieses Politikfeld vor 1997 kaum interessiert hatte und so gut wie kein entsprechendes Vorwissen nach 10 Downing Street mitbrachte.6 Diese Interpretationen schließen sich nicht gegenseitig aus und verweisen nach meiner Einschätzung auch jeweils auf wichtige Punkte für das historische Verständnis von Blairs Politik. Hier soll jedoch eine weitere Deutung zur Debatte gestellt werden, die Blairs Handeln im Lichte des eingangs erwähnten „kriegerischen Humanitarismus“ begreift. Sie zielt darauf, dass Blair nicht als Bushs Pudel 2003 in den Irak-Krieg zog, dass er hierzu nicht von schlechten Beratern oder falschen Geheimdienstinformationen überredet wurde und dass er sich auch nicht aus bloßer Frustration über innenpolitische Blockaden einer kriegerischen Außenpolitik zuwandte. Vielmehr, so meine dritte These, war die Entscheidung für eine militärische Intervention im Irak 2003 nicht allein an Bushs „Krieg gegen den Terror“ gekoppelt, sondern lag in der Fluchtlinie der Blair’schen Politik seit 1997. Blairs Entscheidung stand zugleich in einer bestimmten Tradition britischer Außenpolitik, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und die man mit dem Namen des großen liberalen Premierministers der 1860er bis 1880er Jahre William Ewart Gladstone als „gladstonianische“ Außenpolitik bezeichnen kann. Sie kreiste um die Ideen internationalen Interessenausgleichs durch Kongressdiplomatie, der Ablehnung von geheimen Bündnisverträgen („needless and entangling alliances“) sowie der Gleichberechtigung großer und kleiner Länder. Im Mittelpunkt stand die Vision einer Herrschaft des Rechts nicht nur im Innern von Staaten, sondern auch in den Beziehungen zwischen ihnen. „Der größte Triumph unserer Zeit“, schrieb Gladstone im Herbst 1870 vor dem Hintergrund des deutsch-französischen Krieges in einem anonym publizierten Aufsatz in der Edinburgh Review, „ein Triumph in einer Region, die erhabener ist als die von Elektrizität und Dampf, wird die Inthronisation des Öffentlichen Rechts als die 5 Das ist beispielsweise das Verdikt des im Sommer 2016 publizierten Untersuchungsberichts von Sir John Chilcot; siehe The Independent vom 6. Juli 2016; http://www.independent.co.uk/voices/chilcot-inquiry-report-iraq-war-tony-blair-ver dict-history-hostile-unfairly-so-a7123241.html [16. Mai 2017]. 6 Vgl. James Naughtie, The Rivals. The Intimate Story of a Political Marriage, London 2001.
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leitende Idee der europäischen Politik sein; als das gemeinsame und kostbare Erbe aller Länder, aber überlegen der vergänglichen Meinung eines jeden.“7 Amerikaner hätten eine solche Politik und den missionarischen Tonfall, in dem sie vorgetragen wurde, nicht „gladstonianisch“, sondern „wilsonianisch“ genannt, was wiederum deutlich macht, dass dies weder eine persönliche Marotte Blairs noch Ausfluss eines britischen Sonderwegs war, sondern die (zugegeben extreme) Form eines westlichen – oder zumindest anglo-amerikanischen – Universalismus, der über Großbritannien hinausreicht, in Blairs Politik aber einen besonders markanten Ausdruck findet. Um diese These zu prüfen, werden im Folgenden in einem ersten Schritt fünf besonders wichtige außenpolitische Reden Tony Blairs genauer vorgestellt und in ihren historischen Kontext eingeordnet. In einem zweiten Schritt werden in der Zusammenschau dieser Reden vier Charakteristika einer Politik des „kriegerischen Humanitarismus“ herausgearbeitet, ehe abschließend in einem dritten Schritt zu fragen ist, was man im Abstand von ein bis zwei Jahrzehnten über die Ergebnisse, Konsequenzen und nicht intendierten Nebenfolgen dieser Politik sagen kann. Fünf politische Grundsatzreden Die erste Rede, die hier zu betrachten ist, hielt Blair am 10. November 1997 beim jährlichen Bankett des Lord Mayor of London, ein gutes halbes Jahr nach seinem erdrutschartigen ersten Wahlsieg und seiner Ernennung zum Premierminister.8 In seinen Erinnerungen hat Blair dazu kokett, aber zutreffend bemerkt, er sei völlig ohne Verwaltungserfahrung nach Downing Street gekommen: Premierminister sei das erste und einzige Regierungsamt, das er je innegehabt habe.9 Diese erste größere Rede zur Außenpolitik war eine typische New Labour-Rede, die gut klingende, aber wenig substanzielle Schlagworte aus der Oppositionszeit variierte. Sie vermied Festlegungen und war vor allem bemüht, das neue positive Lebensgefühl und die Aufbruchsstimmung, die Labours Wahlsieg nach 18 Jahren Tory-Herrschaft bei vielen Briten hervor7 Zit. nach Thomas Stamm Kuhlmann, Bismarck und Gladstone (Friedrichsruher Beiträge 37), Friedrichsruh 2008, S. 21. 8 Tony Blair, Rede auf Lord Majors Bankett, 10. November 1997; zit. nach URL: http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20070701080624/http:/www.pm.gov.uk/ output/Page1070.asp [26.5.2017]. 9 Tony Blair, A Journey, London 2010, Schutzumschlag.
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gerufen hatte, auf das Feld der Außenpolitik zu übertragen: „Britain is once again a great place to be. It has new optimism, confidence and selfassurance about its future. What it needs now is to turn that spirit into a clear definition of national purpose, not just what we want for Britain itself, but the direction of the nation and how it deals with the outside world.“ Es folgten eine Reihe von wenig spezifischen Losungen zur Rolle Großbritanniens zwischen Europa und den USA („strong in Europe and strong with the US“), zur historischen Dimension britischer Außenpolitik („using the strength of our history to build our future“) und zur Rolle in der Europäischen Union („change Europe where it needs changing“). Im Rückblick bemerkenswert erscheinen drei Punkte: Erstens war der einzige Mensch, der in der Rede namentlich erwähnt wurde, Saddam Hussein und zwar mit der Bemerkung, die britische Regierung sei entschlossen „to stand firm against a still dangerous dictator“. Zweitens forderte Blair schon 1997 im Einklang mit seinem damaligen Außenminister Robin Cook eine „ethische Dimension“ der Außenpolitik: „We use power and influence for a purpose, for the values and aims we believe in.“ Drittens stellte er die etablierte Trennung von Innen- und Außenpolitik in Frage: „Foreign policy should not be seen as some self-contained part of government in a box marked ‚abroad‘ or ‚foreigners‘. It should complement and reflect our domestic goals. It should be part of our mission of national renewal.“ Ein gutes Jahr später beteiligte sich Großbritannien an amerikanischen Luftschlägen gegen den Irak, nachdem Saddam Hussein die gegen ihn verhängten UN-Sanktionen immer wieder unterlaufen hatte. Hier zeigten sich bereits Differenzen zu einigen Partnern in der EU, insbesondere Frankreich, das im UN-Sicherheitsrat nach den Luftschlägen gemeinsam mit Russland und China für eine Aufhebung des Ölembargos gegen den Irak plädierte. Das Ziel 1998 war nicht ein Regimewechsel in Bagdad, sondern den irakischen Diktator zu einer Einhaltung der UN-Auflagen zu bewegen. Dennoch bemerkte Blair schon damals, „no one would be better pleased [than me] if his evil regime disappeared as a direct or indirect result of our action“.10 Blair verbuchte die Operation Desert Fox als einen politischen und moralischen Erfolg, der sein Selbstbewusstsein stärkte, nicht zuletzt, weil es ihm und seinem Stab gelungen war, die öffentlichen Reaktionen in Großbritannien und speziell in seiner eigenen Partei so geschickt
10 Zit. nach Coates, Krieger, Blair’s War, S. 15.
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zu lenken, dass es kaum Proteste und keine Anti-Kriegs-Demonstrationen gab.11 Diese Erfahrung bildete die Folie, vor der die zweite einschlägige Rede Blairs zur Außenpolitik zu sehen ist. Es war seine wohl berühmteste und wichtigste außenpolitische Rede. Er hielt sie am 24. April 1999 in Chicago und hat sie selbst mit dem etwas bombastischen Titel „Doktrin der Internationalen Gemeinschaft“ versehen.12 Die Rede war konkreter und detaillierter als die Rede vom November 1997. Sie spiegelte die größere internationale Erfahrung, vor allem aber das gewachsene Selbstbewusstsein des Premierministers wider. Auch wenn sie in entscheidenden Passagen von Lawrence Freedman, einem britischen Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperten, als Ghostwriter verfasst worden ist, gab sie doch ziemlich akkurat Blairs eigene Position wieder. Den aktuellen Bezugspunkt bildeten diesmal nicht die Konflikte im Mittleren Osten, sondern auf dem Balkan, genauer gesagt: die von Slobodan Milošević initiierte Unterdrückung und massenweise Ermordung der Albaner im Kosovo, auf die Amerikaner und Briten wie im Jahr zuvor gegen den Irak mit Luftschlägen reagierten. Diese Luftschläge blieben militärisch wirkungslos und erwiesen sich propagandistisch sogar als kontraproduktiv. Denn Milošević beschleunigte und eskalierte seine ethnischen Säuberungsaktionen im Kosovo, während die Bilder ziviler Opfer der britischen und amerikanischen Luftschläge in Serbien die Unterstützung für die Maßnahmen im Westen schwinden ließen. Vor diesem Hintergrund drängte Blair den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, Bodentruppen auf dem Balkan einzusetzen – oder zumindest deren Einsatz anzudrohen, falls Milošević nicht einlenkte. Clinton zögerte, das Leben amerikanischer GIs in dieser von Washington aus betrachtet entlegenen und strategisch nicht besonders wichtigen Region aufs Spiel zu setzen. Es kam zu einem spannungsgeladenen Treffen von Blair und seiner engeren Entourage mit Clinton und seinen Leuten am 21. April im Weißen Haus. Der Legende zufolge brachte erst ein ausgedehnter gemeinsamer Toilettenbesuch der beiden Spitzenleute eine Kompromisslösung zustande. Blair versprach, auf dem unmittelbar bevorstehenden NATO-Gipfel den Einsatz von Bodentruppen nicht anzusprechen. Dafür sagte Clinton zu, alles zu tun, was nötig sei, um einen Erfolg gegen Serbien herbeizuführen.13 11 Vgl. Anthony Seldon, Blair, London 2004, S. 391-392. 12 Tony Blair, Doctrine of the International community, Economic Club, Chicago, 24. April 1999; http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20070701080624/http:// www.pm.gov.uk/output/Page1297.asp [26. Mai 2017]. 13 Seldon, Blair, S. 400.
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Es ist wichtig, diesen Kontext im Hinterkopf zu haben, wenn man sich die Chicago-Rede anschaut. Tatsächlich wurde darin die Forderung, Bodentruppen im Kosovo einzusetzen, mit keinem Wort angesprochen. Zugleich entwarf Blair jedoch ein weitreichendes Programm zur Generalüberholung internationaler Regeln und Institutionen, um sie radikal veränderten globalen Gegebenheiten anzupassen.14 In einer Welt durchlässiger Grenzen, in der Chaos und Konflikt schnell von einem Staat auf den nächsten übergreifen könnten, verlangten Blair zufolge sowohl Moral als auch wohlverstandenes Eigeninteresse nach effektiverer Intervention in Krisensituationen. Die Welt nach dem Kalten Krieg benötige eine erweiterte Definition von Sicherheit. Blair plädierte für „Internationalismus an der Stelle von Isolationismus“ und erklärte, Staaten, die ihre eigene Bevölkerung unter Druck setzten und verfolgten, dürften sich nicht länger in der Gewissheit wiegen können, dass der Rest der zivilisierten Welt tatenlos zusehe: „When oppression produces massive flows of refugees which unsettle neighbouring countries then they can properly be described as threats to international peace and security“. Im Klartext bedeutete dies, dass die Souveränität von Staaten nicht mehr uneingeschränkt gelte, sondern an die Einhaltung bestimmter Grundprinzipien und universaler Verhaltensregeln gebunden sein sollte, auch wenn Blair vorsichtig genug war, diese Aussage dadurch abzumildern, dass er sie an eine Checkliste von fünf Prüfkriterien koppelte, die erfüllt sein müssten, ehe man militärisch interveniere: (1) Die Fakten müssten deutlich zutage liegen und eindeutig geklärt sein; (2) alle diplomatischen Möglichkeiten müssten ausgeschöpft sein; (3) militärisches Eingreifen müsse Aussicht auf Erfolg haben; (4) man müsse bereit sein, sich langfristig zu engagieren; (5) nationale Interessen müssten involviert sein. Wie schwierig die genaue Definition und Anwendung dieses Prüfkatalogs im Einzelfall sein konnte, würde der Irak-Krieg 2003 zeigen. Kurzund mittelfristig aber konnte Tony Blair den Eindruck haben, mit seiner Doktrin der Internationalen Gemeinschaft ein Konzept entwickelt zu haben, das es erlaubte, sich in der komplexen Welt nach dem Kalten Krieg zurecht zu finden. Die wichtigste Erkenntnis, die Blair aus den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zog, bestand nicht darin, dass sich die Welt von einem Tag auf den anderen komplett gewandelt hatte. Vielmehr sah er sich in seinen Ausführungen von Chicago durch den Angriff auf die Twin Towers ebenso wie durch den anschließenden Krieg gegen die Taliban in Afghanis-
14 Philip Stephens, Tony Blair. The Price of Leadership, London 2004, S. 225.
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tan grundsätzlich bestärkt. Das war der Tenor der dritten Rede, die ich vorstellen möchte. Blair hielt sie nach dem Sieg der Koalition der Willigen in Afghanistan am 8. April 2002 in der George Bush Presidential Library in Texas.15 War Blair 1997 noch der unerfahrene Neuling im Amte und 1999 der kleine Bruder des großen Bill Clinton gewesen, so trat er 2002 nach seinem zweiten Wahlsieg beinahe wie ein Mentor und Lehrmeister von George W. Bush auf – ganz ungeachtet der Tatsache, dass er es jetzt nicht mehr mit einem weltanschaulich und parteipolitisch ähnlich gesinnten US-Präsidenten, sondern mit einem Mann zu tun hatte, der ihm ideologisch viel ferner stand. In Texas erklärte Blair, warum der 11. September für ihn eine Bestätigung seiner These einer immer engeren Verflechtung und Interdependenz der Welt war, die Staatsgrenzen durchlässig, wenn nicht überflüssig machte. Die Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik erschien ihm ebenso obsolet wie die Unterscheidung zwischen einer realistischen (Blair sagte: utilitaristischen) und einer idealistischen (Blair sagte: utopischen) Außenpolitik. Er verfocht „an enlightened self interest that puts fighting for values right at the heart of the policies necessary to protect our nations. Engagement in the world on the basis of these values, not isolationism from it is the hard-headed pragmatism for the 21st century.“ Humanitärer Interventionismus und nationale Interessenpolitik fielen heutzutage ineinander, so lautete die Botschaft. Noch deutlicher artikulierte Blair dieses Credo ein gutes Jahr später, nach dem Irak-Krieg, am 17. Juli 2003, bei einer Rede vor beiden Häusern des US-Kongresses, zu der Blair überhaupt erst als vierter britischer Premier – nach Winston Churchill, Clement Attlee und Margaret Thatcher – eingeladen worden war: „Our ultimate weapon is not guns, but our beliefs. There is a myth that though we love freedom, others don’t; that our attachment to freedom is a product of our culture; that freedom democracy, human rights, the rule of law are American values, or Western values; […] Members of Congress, ours are not Western values, they are universal values of the human spirit.“16 Obwohl der Tenor der Rede stark pro-amerikanisch war und die Gemeinsamkeiten der USA mit Großbritannien und Europa betonte, lag Blair daran, vor diesem Auditorium auch Punkte anzusprechen, die in amerikanischen Ohren eher ungewohnt oder sogar misstö15 Tony Blair, Rede in der George Bush Senior Presidential Library, Texas, 8. April 2002; https://www.theguardian.com/politics/2002/apr/08/foreignpolicy.iraq [2. Mai 2017]. 16 Tony Blair, Rede vor dem Kongress, Washington D.C., 17. Juli 2003; https://www. theguardian.com/politics/2003/jul/18/iraq.speeches [2. Mai 2017].
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nend klangen: eine gerechte Friedenslösung für Israel und Palästina, den Kampf gegen Armut in Afrika und den Klimawandel. Die öffentlichen Reaktionen auf Blairs Rede machen deutlich, wie sehr er zu diesem Zeitpunkt im eigenen Land und in der eigenen Partei bereits in die Kritik geraten war. Kurz zuvor hatte die BBC unter Berufung auf eine unbekannte Quelle aus dem Regierungsapparat behauptet, Blair und seine Mitarbeiter hätten Geheimdienstberichte über die angebliche Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen bewusst aufgebauscht („sexed up“), um Zustimmung für eine britische Militärintervention an der Seite der USA zu generieren. Auf dem Weiterflug von Washington nach der Rede erfuhr Blair, dass der britische Waffeninspektor David Kelly, der als Informant der BBC enttarnt worden war, Suizid begangen hatte. Vor diesem Hintergrund bezeichnete der Daily Mirror Blairs Rede vor dem Kongress als „Geschwätz“ („claptrap“) und in der Daily Mail wurden Blairs Ausführungen als „reine Fantasterei“ beschrieben, die keinerlei Beziehung mehr zur Wirklichkeit besitze und einen Wendepunkt vom Schlechten zum noch Übleren markiere.17 Die fünfte hier zu beleuchtende Rede stammt aus Blairs letztem Jahr als Premierminister. Er hielt sie am 26. Mai 2006 an der Georgetown University in Washington D.C.18 Der Premierminister griff darin einige seiner bevorzugten Themen und Thesen noch einmal auf, etwa indem er ausführte, „Liberating oppressed peoples in distant lands … [is] not just an abstract moral duty but essential for security“. Neu war der Ruf nach einer radikalen Reform der globalen Institutionen, damit diese den Anforderungen des 21. Jahrhunderts genügen könnten. Blairs Ansicht nach war die Zeit reif, die Verwerfungen und den Streit des Irak-Kriegs hinter sich zu lassen und über eine Neuordnung des globalen Institutionengefüges nachzudenken. Erneut erklärte er in diesem Zusammenhang den Gegensatz zwischen einer wertebasierten Außenpolitik und einer interessengeleiteten Außenpolitik für überholt und falsch: „Globalisation begets interdependence. Interdependence begets the necessity of a common value system to make it work. In other words, the idealism becomes the realpolitik.“ Nur auf der Basis einer gemeinsamen Werteordnung könnten die globalen Institutionen funktionieren und das Risiko neuer Kriege und Konflikte gemindert werden.
17 Anthony Seldon, Blair Unbound, London 2007, S. 199. 18 Tony Blair, Rede an der Georgetown University, Washington D.C., 26. Mai 2006; http://scienzepolitiche.unipg.it/tutor/uploads/discorso_di_blair_alla_georgetown_ university_del_26_5_07.pdf [2. Mai 2017].
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Konkret dachte Blair an eine Erweiterung des UN-Sicherheitsrates um Länder wie Deutschland, Japan oder Indien. Er schlug eine Fusion, wenigstens aber eine Generalüberholung von Internationalem Währungsfonds und Weltbank vor. Er brachte ein multilaterales System für die sichere Anreicherung nuklearer Energie ins Spiel, sah die Vergrößerung der G8 als Modell der Zukunft und setzte sich für die Schaffung einer UN-Umweltorganisation ein. Die Schlagworte der ersten großen außenpolitischen Rede neun Jahre zuvor hatten konkreteren Überlegungen und einem geschärften Sinn für die Bedeutung von Institutionen und Regeln Platz gemacht. Aber die zugrunde liegenden Prinzipien und konzeptionellen Leitgedanken waren erstaunlich konstant geblieben. Diesen konzeptionellen Leitmotiven und gedanklichen Grundmustern will ich mich jetzt im zweiten Teil des Vortrags zuwenden. Vier Grundmuster Das erste Grundmuster, das sich in der Zusammenschau der wichtigsten außenpolitischen Grundsatzreden Tony Blairs erkennen lässt, ist ein Denken in schwarz und weiß, richtig und falsch, gut und böse, wie es für universalistische Weltsichten typisch ist. Auf diesen Grundzug hat Blairs politischer Mentor, Lord Jenkins, in seiner letzten Rede im britischen Oberhaus im September 2002 hingewiesen. Bezeichnenderweise war Jenkins ein Renegat, der die Labour-Partei Anfang der 1980er Jahre verlassen hatte, um mit der Social Democratic Alliance eine moderatere, sozialdemokratischere Alternative zur damals extrem linkslastigen Labour-Partei ins Leben zu rufen. Später gehörte Jenkins zu den Führungsfiguren der britischen Liberalen, die er Blair als Koalitionspartner in einer neuen progressiven Allianz von gemäßigten Sozialdemokraten und sozial gesinnten Liberalen schmackhaft machen wollte. In der besagten Unterhausrede nahm Jenkins den Premierminister gegen den damals häufig erhobenen Vorwurf in Schutz, ein überzeugungsloser Opportunist, bloß ein geschickter Wahlkämpfer und trickreicher Verkäufer substanzloser Slogans zu sein. In seinen Augen, so Jenkins, mangele es Blair nicht an Überzeugung („conviction“). Er habe eher zu viel als zu wenig davon, besonders wenn es um die Welt außerhalb Großbritanniens gehe. Für seinen vielleicht abgestumpften oder altersweisen Geschmack sei Blair etwas zu manichäistisch: „seeing
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matters in stark terms of good and evil, black and white contending with each other“.19 Diese Charakterisierung verwundert auf den ersten Blick ein wenig, wenn man bedenkt, wie sehr Tony Blair das Denken des Kalten Krieges als überholt und überwunden empfand und wie sehr er seine eigene Politik geradezu als Antwort auf die Herausforderung einer neuen Weltordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts bezeichnet hat. Vor diesem Hintergrund hätte man erwartet, dass Blair auch den Schwarz-Weiß-Kategorien des Kalten Krieges als einer Auseinandersetzung zweier universalistischer Weltanschauungen eine Absage erteilte, zumal es zu den zentralen Botschaften New Labours gehörte, die Polarisierung von rechts und links sei obsolet. Schaut man jedoch ein wenig genauer hin, so stellt man fest, dass es nicht in erster Linie diese Dimension des Kalten Krieges war, die Blair als überwunden betrachtete, sondern das Denken in Blöcken und Einflusszonen. „Spheres of influence is an outdated concept“, erklärte er in seiner Rede in der Bush Library in Texas: „A series of interlocking alliances on issues of security, trade and stability should replace old rivalries.“20 Das Denken in den Kategorien von schwarz und weiß behielt er jedoch bei, nur dass bei ihm an die Stelle des Gegensatzes zwischen Kommunismus und Kapitalismus der Gegensatz zwischen den universalen Werten des Liberalismus und deren radikaler Infragestellung durch Terroristen, Diktatoren und religiöse wie politische Fundamentalisten trat. Zugespitzt könnte man vielleicht sagen, dass der Kalte Krieg ein Wettstreit zweier universalistischer Weltanschauungen war, der durch das nukleare Patt und die Sorge vor einem globalen Atomkrieg gleichsam realpolitisch eingehegt wurde. In der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges, wie Blair sie sah, ging es um den Kampf universaler Werte gegen partikularistische Bedrohungen durch Terrorismus, Fanatismus, gescheiterte Staaten und Massenvernichtungswaffen in den falschen Händen. Die realpolitische Erdung durch das Gleichgewicht des Schreckens aber war entfallen. Eng damit verbunden war ein zweiter Grundzug in Blairs außenpolitischer Philosophie, den man vielleicht am besten als Entdifferenzierung bezeichnen könnte. Das ist natürlich teilweise der Textgattung der politischen Rede geschuldet, in der es für den Staatsmann nicht darum gehen kann, sich im Kleinklein des Besonderen zu verlieren, sondern die darauf 19 Lord Jenkins of Hillhead, Rede im Oberhaus, 24. September 2002 (zit. nach Riddell, Hug them Close, S. 1). 20 Tony Blair, Rede in der George Bush Senior Presidential Library, Texas, 8. April 2002; https://www.theguardian.com/politics/2002/apr/08/foreignpolicy.iraq [2. Mai 2017].
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zielt, große Linien und Lösungsstrategien aufzuzeigen. Dennoch fällt auf, wie wenig die partikularen Gesichtspunkte von Geschichte, Kultur und Geografie in Blairs Reden vorkommen. An einer Stelle in seiner Rede vor dem US-Kongress im Juli 2003 bemerkte Blair ausdrücklich, dass nie zuvor das Studium der Geschichte so wenig weiter geholfen habe wie in der gegenwärtigen Situation einer globalisierten Welt.21 In Blairs Interpretation der Globalisierung, die alles mit allem verband, verwischten nicht nur die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik, zwischen Ideen und Interessen, sondern auch die kulturellen, geografischen und historisch gewachsenen Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen der Welt oder zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Landes. Diese Denkweise führte zu einer – wir würden heute wohl sagen: allzu optimistischen – Einschätzung der Existenz und Wirksamkeit globaler Werte. „We must fashion“, erklärte Blair in seiner Rede in der Georgetown University, „an international community that both embodies, and acts in pursuit of global values: liberty, democracy, tolerance, justice. These are the values we believe in. These are the values universally accepted across all nations, faiths and races, though not yet by all elements within them.“22 Dieses Zitat verweist auf einen weiteren Grundzug der Reden Tony Blairs, nämlich deren ausgeprägten Optimismus. Selbst wenn man auch hier wieder das Genre der politischen Rede in Rechnung stellt, die kaum der Ort und die Gelegenheit sind, Selbstzweifel auszustellen, fällt doch auf, mit welcher Zukunftszuversicht und Fortschrittsgewissheit Blairs Weltsicht eines liberalen Universalismus ausgestattet war. Wirtschaftliche Globalisierung und politische Demokratisierung gehörten in dieser Perspektive untrennbar zusammen. Die Globalisierung wurde als Kraft gesehen, die allmählich und stetig dafür sorgte, dass die Interessen der verschiedenen Staaten und Gesellschaften sich einander anglichen und überall auf der Welt Reformprozesse in Richtung auf mehr Freiheit, Demokratie, Toleranz und Gerechtigkeit angestoßen wurden. Wo das nicht geschah und die Verfechter des liberalen Universalismus militärisch intervenierten, dort würden die Kräfte des Wandels sich nach einem erzwungenen Regimewechsel durchsetzen und für Besserung sorgen. Noch im Mai 2006 interpretierte Blair die Lage im Irak – nicht ganz uneigennützig – in diesem Sinne: „Despite it all, despite the terror, sectarian violence, kidnapping and exhibition of every ugly aspect of human na-
21 Vgl. Tony Blair, Rede vor dem Kongress. 22 Tony Blair, Rede in Georgetown.
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ture, a democratic political process has grown. [...] the [Iraqi] leaders, chosen by the people, Sunni, Shia, Kurds, non-aligned [...] They want Iraq to be democratic. They want its people to be free. They want to tolerate difference and celebrate diversity. They want the rule of law not violence to determine their fate.“23 In seiner Sicht war jeder Wandel per definitionem Wandel zum Besseren, ja musste ein Wandel zum Besseren sein und war daher von der internationalen Staatengemeinschaft zu unterstützen. „[C]ountry by country, in every way we can, with every means we can properly deploy, the international community should be the champions of those who want change there.“24 Eine Folge der Verbindung von Optimismus, Entdifferenzierung und Manichäismus in Blairs politischer Philosophie bestand darin, dass er den Unterschieden zwischen den verschiedenen partikularen Kräften, die seinem liberalen Universalismus entgegenstanden, wenig Beachtung schenkte. Die Bedrohungen durch Schurkenstaaten und global agierende Terroristen fielen in seinen Reden zumeist in eins zusammen; ähnlich verhielt es sich mit den Gefahren von Massenvernichtungswaffen und der Unterdrückung von Minderheiten durch üble Diktatoren.25 Das war womöglich die tiefer liegende Ursache für die Schwierigkeiten, in die Blair mit seiner Rechtfertigung der britischen Beteiligung am IrakKrieg geriet, denn wir wissen heute, dass diese Verwischung wesentlicher Unterschiede nicht nur in öffentlichen Stellungnahmen, sondern auch im internen Entscheidungsprozess in der Regierungszentrale stattfand: Saddam Hussein war ein übler Diktator, der die Minderheiten in seinem Land unterdrückte und Gegner massenhaft töten ließ, aber er besaß keine Massenvernichtungswaffen; der Irak war ein Schurkenstaat, aber er besaß keine Verbindungen zum Terrornetzwerk al-Qaida.26 Für eine Politik, die sich eng am nationalen Interesse definiert, markieren diese Feststellungen bedeutsame Unterscheidungen: ein Diktator, der Massenvernichtungswaffen besitzt und mit Terroristen kooperiert, die 23 24 25 26
Ebd. Ebd. Siehe etwa die Rede in Texas [oben Anm. 20]. Vgl. Review of Intelligence on Weapons of Mass Destruction („Butler Report“). Report of a Committee of Privy Counsellors, Juli 2004; Lord Hutton, Report of the Inquiry into the Circumstances Surrounding the Death of Dr David Kelly C.M.G. („Hutton Report“), Januar 2004; Report of the Iraq Inquiry („Chilcot Report“). Report of a Committee of Privy Counsellors, July 2016; Comprehensive Report of the Special Advisor to the DCI on Iraq’s WMD („Duelfer Report“), Report of the Iraq Survey Group (ISG), September 2004 und dazu das Addendum to the Comprehensive Report, March 2005.
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weltweit zuschlagen, tangiert das nationale Interesse anderer Staaten; ein Diktator, der „nur“ seine eigenen Landsleute unterdrückt oder tötet, tangiert das nationale Interesse anderer Staaten sehr viel weniger. Für eine Politik jedoch, die Interessen und Werte in eins setzt, fallen diese Unterscheidungen sehr viel weniger ins Gewicht. Diese Moralisierung der Außenpolitik ist ein weiteres Merkmal von Blairs politischer Philosophie. Die Moralisierung der internationalen Beziehungen war nichts, was er scheu verbarg, sondern etwas, zu dem er sich stolz bekannte. Er stellte sich selbst ganz bewusst und ausdrücklich in die Tradition von William Ewart Gladstone, dem großen liberalen Premierminister und Lieblingsfeind Bismarcks aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts.27 Auf dem Höhepunkt der Kosovo-Krise im Mai 1999 erinnerte Blair in einer Rede in der bulgarischen Hauptstadt Sofia seine Zuhörer ausdrücklich an Gladstones berühmte Midlothian Campaign von 1876, die dazu diente, die Weltöffentlichkeit wachzurütteln und auf die Massaker an den Bulgaren aufmerksam zu machen, die damals im Osmanischen Reich verübt wurden. „The parallels between now and then are all too tragically clear“, stellte Blair fest. „Today we face the same question that confronted Gladstone over hundred twenty years ago. Does one nation or people have the right to impose its will on another? Is there ever a justification for a policy based on the ethnic supremacy of one ethnic group? Can the outside world stand by when a rogue state brutally abuses the basic rights of those it governs? Gladstone’s answer in 1876 was clear. And so is mine today.“28 Kritiker haben damals spitz bemerkt, Gladstone habe die Verfolgung bulgarischer Christen durch Muslime unter osmanischer Herrschaft angeprangert, während Blair die USA und die NATO dazu drängte, sich entschiedener für muslimische Kosovaren zu engagieren, die von christlichen Serben drangsaliert wurden.29 Derartige konfessionelle Unterscheidungen waren aus Blairs Sicht unbedeutend. Was ihn mit Gladstone verband, war
27 Vgl. Blair, A Journey, S. 225. 28 Zit. nach Stephens, Blair, S. 229. 29 Tatsächlich hatte Gladstone in einer Streitschrift gegen die bulgarischen Gräueltaten die „Türken“ 1876 wie folgt verteufelt: „They were, upon the whole, from the black day when they first entered Europe, the one great anti-human specimen of humanity. Wherever they went a broad line of blood marked the track behind them, and, as far as their dominion reached, civilization vanished from view. They represented everywhere government by force as opposed to government by law“; William Ewart Gladstone, Bulgarian Horrors and the Question of the East. London 1876, S. 31.
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ein tiefer religiöser Antrieb seiner Politik. Roy Jenkins, unter anderem auch Autor einer großen Gladstone-Biographie, hat einmal bemerkt, Gladstone und Blair seien stärker und bewusster religiös engagiert gewesen als alle anderen britischen Premierminister des 19. und 20. Jahrhunderts.30 Es ist in Großbritannien anders als in den USA nicht üblich, religiöse Überzeugungen in der Politik zu äußern oder zur Begründung politischer Entscheidungen anzuführen. Deswegen waren der Premierminister und seine Umgebung sorgfältig auf der Hut, Blairs persönliche Religiosität nicht zum Gegenstand öffentlicher Erörterungen oder Spekulationen zu machen. Dennoch kann man diese Facette von Blairs Persönlichkeit bei der Analyse seiner politischen Philosophie nicht völlig außer Acht lassen. Sie erinnert uns jedenfalls an die Bedeutung der Religion für die Analyse von Universalismen auch in vordergründig so säkularen Zeiten und Gesellschaften wie unseren. Es dürfte deutlich geworden sein, dass der „kriegerische Humanitarismus“ Großbritanniens in der Ära Blair keine bloße Reaktion auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 darstellte. Der Angriff auf die Twin Towers markierte keine Zäsur in Blairs außenpolitischer Philosophie. Schließlich fanden drei der insgesamt fünf Kriege oder Militärinterventionen, die Blair anordnete, vor 9/11 statt: die Luftschläge im Rahmen der Operation Desert Fox gegen den Irak (1998) sowie die Interventionen im Kosovo (1999) und in Sierra Leone (2000); nur die Kriege in Afghanistan (2002) und gegen den Irak (2003) kamen später. Was man jedoch feststellen kann, ist eine Bestätigung und Bekräftigung bereits vorher andeutungsweise geäußerter oder in Umrissen entwickelter Positionen durch den öffentlichen, militärischen und moralischen Erfolg zunächst begrenzter, später immer stärker ausgeweiteter Interventionen. Insofern lässt sich so etwas wie eine innere Dynamik der Expansion militärischer Interventionen in der Regierungszeit Tony Blairs feststellen. Das Erbe des kriegerischen Humanitarismus Betrachtet man abschließend Ergebnisse und Konsequenzen der Politik des kriegerischen Humanitarismus 22 Jahre nach Blairs Amtsantritt und zwölf Jahre nach seinem Rücktritt, so ist zunächst festzustellen, dass nicht nur Blairs persönliche Reputation, sondern auch die von ihm vertretene Kon-
30 Vgl. Roy Jenkins, The British Liberal Tradition. From Gladstone to Young Churchill, Asquith and Lloyd George. Is Blair Their Heir?, Toronto 2001, S. 19.
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zeption internationaler Politik aus der Mode gekommen ist. An der Intervention in Libyen 2011 hatte sich die britische Regierung noch führend beteiligt. Beim militärischen Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg 2013 verweigerte das Unterhaus jedoch Blairs Nachnachfolger David Cameron die notwendige Unterstützung. Premierministerin Theresa May erklärte im Januar 2017 in einer Rede auf dem Parteitag der amerikanischen Republikaner dezidiert: „The days of Britain and America intervening in sovereign countries in an attempt to remake the world in our own image are over.“31 Vor diesem Hintergrund erlebten realpolitische Konzeptionen eine Renaissance.32 Buchtitel verkündeten die „Rückkehr der Geschichte“, die „Rache der Geographie“ und das „Ende der Träume“.33 Bismarck, so scheint es, hat uns gegenwärtig mehr zu sagen als Gladstone.34 Es wäre zu einfach, wollte man das Verblassen der Ideale eines westlichen Universalismus lediglich mit den immer noch nicht überwundenen Folgen der Weltwirtschaftskrise seit 2008 und der unverkennbaren imperialen Überdehnung der USA erklären.35 Beides ist richtig und wichtig, aber mindestens ebenso bedeutsam scheint, dass sich einige der zentralen Annahmen des „kriegerischen Humanitarismus“ nicht bewahrheitet und vielmehr teilweise sogar – etwa im Mittleren und Nahen Osten – in ihr Gegenteil verkehrt haben. Der Münchener Politikwissenschaftler Carlo Masala macht in diesem Zusammenhang vier „Illusionen des Westens“ aus, die aus seiner Sicht entscheidend für das verantwortlich sind, was er die neue „Weltunordnung“ nennt.36 Da ist zunächst die „Illusion der Demokratisierung“. Sie besteht in der Annahme, dass man in allen Ländern und Kulturen unter Demokratie
31 Theresa May, Rede auf der Republican Party ‚Congress of Tomorrow‘ Konferenz in Philadelphia, 26. Januar 2017; http://uk.businessinsider.com/full-text-theresa-m ays-speech-to-the-republican-congress-of-tomorrow-conference-2017-1 [2. Mai 2017]. 32 Hierzu etwa John Bew, Realpolitik. A History, Oxford 2016, S. 1. 33 Robert Kagan, The Return of History and the End of Dreams, New York 2009; Robert Kaplan, The Revenge of Geography. What the Map Tells Us about Coming Conflicts and the Battle against Fate, New York 2012. 34 Siehe die Beispiele bei Tilman Mayer (Hg.), Bismarck: Der Monolith. Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2015. 35 Für letzteres siehe die Argumentation von John Mearsheimer, Imperial by Design, in: The National Interest Januar/Februar 2011, S. 16-34; siehe auch bereits Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005. 36 Carlo Masala, Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens, München 2016, S. 18-65.
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stets eine Demokratie westlich-liberalen Zuschnitts verstehe, dass es einen gleichsam unaufhaltsamen Trend zur Durchsetzung einer solchen Demokratie überall auf der Welt gebe und dass eine auf diese Weise demokratisierte Welt friedlicher, stabiler und sicherer sei als die überkommene internationale Ordnung. Tatsächlich stellte sich heraus, dass es in vielen Staaten lediglich Lippenbekenntnisse zur Demokratisierung gab, um westliche Hilfe zu erhalten, aber keine ernsthafte Bereitschaft zur Transformation. Außerdem hatten demokratische Wahlen – gerade in der arabisch-islamischen Welt – die unangenehme Eigenschaft, Gruppen an die Macht zu bringen, die den westlichen Staaten nicht gefielen und die ihnen zum Teil auch ausgesprochen feindselig gegenübertraten. Umgekehrt tendierte der Westen dazu, offenkundigen Wahlbetrug zu tolerieren, wenn er die „richtigen“ Regimes an die Macht brachte oder dort hielt (etwa Hamid Kazai und seinen Clan in Afghanistan) beziehungsweise Demokratisierung oder die Einhaltung von Menschenrechten gar nicht erst einzufordern, wenn ein Staat strategisch bedeutsam war (wie Saudi-Arabien). Dieser „doppelte Standard“, so Masala, „diskreditiert die Idee der Demokratie und ihre Protagonisten in den Augen vieler Menschen, die in autoritären Staaten leben“.37 Als zweites nennt Masala, die „Illusion der militärischen Interventionen“. Sie besteht darin zu glauben, dass der Westen geführt von den USA aufgrund seiner immensen technischen Überlegenheit, ohne eigene Soldaten in größerer Zahl in Gefahr zu bringen, überall auf der Welt erfolgreich militärisch eingreifen könne, um humanitäre Katastrophen zu beenden und massenhafte Menschenrechtsverletzungen zu ahnden. Derartige Interventionen bringen laut Masala zweierlei Probleme mit sich: Zum einen verdeckt der Verweis auf humanitäre Notlagen oft ebenfalls vorhandene geostrategische oder wirtschaftliche Interessen und bringt dem Westen den Vorwurf der Heuchelei und Doppelzüngigkeit ein. Zum anderen erschwert die Kennzeichnung des Kriegsgegners als Menschenrechtsverletzer die Beilegung militärischer Konflikte, nicht zuletzt wenn die Besiegten damit rechnen müssen, am Ende vor dem Internationalen Strafgerichtshof angeklagt zu werden. Militärische Interventionen im Namen von Humanität und Menschenrechten, so Masala, trügen daher „in letzter Konsequenz zur Eskalation von Konflikten bei und auch zur Diskreditierung der Ordnung, der eigentlich zum Durchbruch verholfen werden soll“.38
37 Ebd., S. 25. 38 Vgl. ebd., S. 41.
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Das dritte Trugbild, das Masala ausmacht, ist die „Illusion der Institutionalisierung“. Gemeint ist die Annahme, der liberale Interventionismus stärke die Organisationen der internationalen Ordnung, die nach 1945 unter der Ägide der USA geschaffen worden und durch den Ost-West-Konflikt entweder ganz blockiert oder zumindest in ihrer territorialen Reichweite begrenzt worden waren. Nach der Beendigung des Kalten Krieges schien sich die Chance zu bieten, eine umfassende liberale Ordnung im Weltmaßstab zu etablieren. Das Gegenteil sei der Fall, stellt Masala fest: Die Bedeutung internationaler Organisationen habe nach 1989/91 nicht zugenommen, sondern abgenommen – teils weil sie durch den liberalen Interventionismus diskreditiert worden seien, teils weil sich die Staatengemeinschaft als unfähig erwiesen habe, die Institutionen den veränderten Machtverhältnissen und Erfordernissen anzupassen.39 Schließlich die „Illusion der Verrechtlichung“, die darauf zielt, die Anarchie der Staatenwelt durch rechtliche Regeln zu bändigen und internationale Kooperation zunehmend rechtsstaatlichen Prinzipien zu unterwerfen. Der Bedeutungszuwachs des Völkerrechts ist in diesem Zusammenhang zu nennen, aber auch die Einberufung von Ad-hoc-Strafgerichtshöfen nach den Kriegen und Bürgerkriegen in Jugoslawien (1993), Ruanda (1994), Kosovo (2000), Ost-Timor (2002) und Kambodscha (2003). Auffällig ist hierbei, dass es sich stets um Konflikte an der machtpolitischen Peripherie des internationalen Staatensystems handelte, in die keine Großmacht direkt involviert war, während etwa für die Kriege in Afghanistan und dem Irak, aber auch in der Ost-Ukraine nichts Vergleichbares geschaffen wurde. In die gleiche Richtung zielt der Vorwurf vieler Staaten des globalen Südens, vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag seien bisher fast nur afrikanische Verbrechen angeklagt und verhandelt worden. Aus ihrer Sicht besteht die Idee der Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen lediglich darin, „im internationalen System eine Zweiklassengesellschaft zu etablieren“. Für Masala haben die entsprechenden Bestrebungen der westlichen Staaten lediglich dazu geführt, „dass der Universalismus bestimmter Ideen (Menschenrechte, bedingte Souveränität) diskreditiert wurde, da er als ein liberal-imperiales Instrument erschien, das zur Verwestlichung der internationalen Beziehungen … dienen sollte“.40 ***
39 Vgl. ebd., S. 48. 40 Ebd., S. 63-64.
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Muss diese verbreitete und ja nicht unbegründete Desillusionierung dazu führen, dass wir in ein Zeitalter ungebremster Machtstaatlichkeit und zynischer Realpolitik zurückkehren, wenn wir die Wunschbilder des liberalen Interventionismus hinter uns lassen? Trost findet man in dieser Hinsicht ausgerechnet beim Altmeister der Realpolitik, Henry Kissinger, den sein jüngster Biograph dezidiert als „Idealisten“ und nicht als „Realisten“ porträtiert hat.41 Tatsächlich hat sich Kissinger 2012, als ihm der „EdmundBurke-Preis für Verdienste um Kultur und Gesellschaft“ verliehen wurde, auf einen Konservatismus à la Burke berufen, um die Kluft zwischen Realismus und Idealismus zu überbrücken.42 Die künstliche Unterscheidung zwischen Realismus auf der einen und Idealismus auf der anderen Seite widerspreche den Erfahrungen der Geschichte, argumentierte Kissinger. Idealisten hätten kein Monopol auf moralische Werte, und Realisten müssten erkennen, dass auch Ideale zur Wirklichkeit gehören. Werte seien universal gültig, aber sie könnten nur Schritt für Schritt in einem langen historischen Prozess verwirklicht werden. Wenn man versuche, sie ohne Rücksicht auf geschichtliche Erfahrung und konkrete Kontexte durchzusetzen, brächten sie alle Dämme der Tradition zum Bersten („invalidate all traditional restraints“). Es sei daher kein Verrat an den eigenen Prinzipien, wenn der Staatsmann seine Politik an die inneren Umstände anderer Gesellschaften anpasse. Als Hoffnung und Ziel beschrieb Kissinger eine Weltordnung von Staaten, die sich auf demokratische Teilhabe und internationale Kooperation nach vorher vereinbarten Regeln einließen: „An attempt to operate on principles of power alone will prove unsustainable. But an attempt to promote values without an account for culture and nuance – as well as other intangibles of circumstance and chance – will end in disillusionment and abdication.“
41 Vgl. Niall Ferguson, Kissinger 1923-1968. The Idealist, London 2015. 42 Vgl. Henry Kissinger, The Limits of Universalism. Edmund Burke Award for Service to Culture and Society, in: The New Criterion, Juni 2012.
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Unterwegs zum „Ende der Geschichte“? Internationale Politik und Narrativität 1789-2016 Peter Geiss
1. Einleitung Mit dem „Ende der Geschichte“ greift der vorliegende Beitrag eine 1989 von dem amerikanischen Politologen Francis Fukuyama bekannt gemachte Formulierung auf, die trotz – oder gerade wegen – ihrer utopischen Überspanntheit wie kaum eine andere für die mit dem Ende des Kalten Krieges verknüpften Hoffnungen und Erwartungen steht. In einem Aufsatz von 1989 und dem darauf basierenden, drei Jahre später erschienenen Buch The End of History and the Last Man feierte Fukuyama die liberale Demokratie als den Gipfel- und Zielpunkt der Weltgeschichte.1 Sein Erfahrungshintergrund war der Zusammenbruch des Kommunismus als Herrschaftssystem in Mittel- und Osteuropa, eine spektakuläre Wende, die er als Teilphänomen eines weltweiten, schon 1945 einsetzenden Niedergangs autoritärer Regime zugunsten freiheitlich-demokratischer Entwicklungstendenzen betrachtete.2 Fukuyama war – wie er selbst betonte – keineswegs der erste Denker, der die Weltgeschichte auf ein Ziel, ein Telos, zuschreiten ließ.3
1 Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National Interest (Sommer 1989), S. 3-18; Ders., The End of History and the Last Man, New York u.a. 2006 (EA 1992). Man beachte das Verschwinden des 1989 noch gesetzten Fragezeichens im Titel der Buchfassung. Bei dem hier vorliegenden Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines vom Autor (PG) im Rahmen der Bonner Ringvorlesung „Eine Werteordnung für die Welt? – Universalismen in Geschichte und Gegenwart“ (Wintersemester 2016/17) gehaltenen Vortrags. Der Text ist vor dem Hintergrund intensiver Diskussionen in der Arbeitsgemeinschaft „Universalismen – Genese – Struktur – Konflikt“ (Erarbeitung einer DFG-Antragsskizze an der Universität Bonn) entstanden, für die der Autor zahlreichen Kolleginnen und Kollegen dankt. Für hilfreiche Anregungen zum Manuskript gilt sein Dank zudem den Mitherausgebern dieses Bandes sowie Victor Henri Jaeschke, für Unterstützung bei der Literatur- und Quellenbeschaffung Sandra Müller sowie Theresa Michels, für das Korrekturlesen und die Erstellung des Literaturverzeichnisses wiederum Victor Henri Jaeschke sowie James Krull. 2 Fukuyama, The End of History, 2006/EA 1992, S. 12. 3 Fukuyama, The End of History?, 1989, S. 4f.
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Dem vorliegenden Beitrag liegt die Annahme zugrunde, dass Narrationen4 wie die von Fukuyama vertretene für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Staaten bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen in höchstem Maße handlungsrelevant waren und sind. Politik und Geschichtswissenschaft, aber auch die Literaturwissenschaft haben in den letzten Jahren die Beziehung zwischen politischem Handeln und Erzählen in vielfacher Weise aufgezeigt.5 Der Literaturwissenschaftler Alfred Koschorke hat in diesem Zusammenhang zwei für das hier zu behandelnde Thema wichtige Annahmen formuliert: Erstens deute und ordne das Erzählen nicht nur eine vorgefundene Realität; es habe vielmehr den Charakter einer „Intervention“ – es „interveniert in die Welt“.6 Zweitens schaffe das Erzählen gerade in Zeiten der Angst und Krise „kognitive wie affektive Orientierung zu vergleichsweise geringen Informationsbeschaffungskosten“.7 Vor dem Hintergrund dieser Ausgangshypothesen geht der vorliegende Beitrag in 4 Zur Begriffsverwendung sei festgehalten, dass im Folgenden mit ‚Narrativ‘ die grundlegenden Regeln, das ‚System‘ eines in bestimmten kulturellen, religiösen und/oder intellektuellen Traditionen stehenden Erzählens gemeint ist, während sich ‚Narration‘ auf die konkreten Einzelrealisierungen bezieht, z.B. in bestimmten Werken der Historiographie oder in politischen Reden. Diese Unterscheidung lehnt sich an die Dichotomie langue versus parole bei de Saussure an und basiert hier auf den Überlegungen bei Dominika Biegon / Frank Nullmeier, Narrationen über Narrationen. Stellenwert und Methodologie der Narrationsanalyse, in: Frank Gadinger / Sebastian Jarzebski / Taylan Yildiz (Hg.), Politische Narrative. Konzepte – Analyse – Forschungspraxis, Wiesbaden 2014, S. 39-66, hier S. 41 und Roland Barthes, L’aventure sémiologique, Paris 1988 (Seuil: Points / Essais), S. 168f; eine andere Abgrenzung dagegen bei Wolfgang Bergem, Narrative Formen in Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, in: Wilhelm Hofmann / Judith Renner / Katja Teich (Hg.), Narrative Formen der Politik, Wiesbaden 2014, S. 31-48, hier S. 32f. (Narrativ als „Vorgang“ und Narration als „Ergebnis“, aber auch „Muster“). Für hilfreichen Austausch über die Begrifflichkeiten und Hinweise zur politikwissenschaftlichen Literatur dankt der Verfasser Grit Straßenberger. 5 Frank Gadinger / Sebastian Jarzebski / Taylan Yildiz, Politische Narrative. Konturen einer politikwissenschaftlichen Erzähltheorie, in: Dies. (Hg.), Politische Narrative (wie Anm. 4), S. 3-38; Bergem, Narrative Formen (wie Anm. 4); pointiert auch Jürgen Osterhammel, Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Juli 2014 (gekürzte Fassung des Vortrags „Vergangenheiten – über die Zeithorizonte der Geschichte“), zit. nach URL: http://www.faz.net/- gqz-7rrtx [14.9.2016]. 6 Bei Koschorke im allgemeineren Kontext des „Bezeichnens“, aber klar bezogen auf „Erzählen“. Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M. 2012, S. 22. 7 Ebd., S. 238. Damit verwandt ist die narrative Stiftung von Kohärenz, wo zunächst kontingente Erfahrungen vorgelegen hatten. Vgl. Julia Abel / Andreas Blödorn / Michael Scheffel, Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und
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explorativer Weise folgenden Fragen nach: Welche Indizien lassen sich für die Interventionskraft des universalistischen Erzählens in der internationalen Politik ermitteln? Wie wirkt sich die Schaffung von Orientierung durch universalistisches Erzählen in der internationalen Politik aus, soweit dies auf der Basis von Indizien beobachtbar ist? Von Indizien ist hier deshalb die Rede, weil der Versuch des Beweisens kausaler Beziehungen zwischen politischen Ideen (zu denen auch Erzählungen gehören) und Handlungen in eine methodische Sackgasse führen muss.8 Über Indizien hinausgehende Erkenntnisse sind auf diesem Feld nicht zu gewinnen. Diese liegen dann vor, wenn politische Akteure, die wesentlich an zwischenstaatlich relevanten Entscheidungsprozessen teilhaben, universalistische Narrationen heranziehen, um ihr politisches Handeln zu erläutern oder zu legitimieren. Im Folgenden stehen – unter dieser einschränkenden methodischen Prämisse – vor allem drei mögliche Wirkungen des universalistischen Erzählens im Fokus: (1) Wirklichkeitsvereinfachung beziehungsweise -verdrängung sowie Immunisierung gegenüber Kritik und Komplexität; (2) Ermächtigung, auch zu gewaltsamem Vorgehen; (3) Selbst- und Fremdüberforderung.9
Kohärenz. Einführung, in: Dies (Hg.), Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung, Trier 2009 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft, 81), S. 1-10, hier S. 2; Bergem, Narrative Formen, S. 33; zum benachbarten Themenfeld der „textuellen Kohärenz“: Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Aufl., München 2007, S. 87-103; zur Problematik der Zuweisung epistemischer Funktionen an das Erzählen mit weiterer Literatur: Peter Geiss, Objektivität als Zumutung. Überlegungen zu einer postnarrativistischen Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17 (2018), S. 27-41, zit. nach URL: https://www.vr-elibrary.de/d oi/pdfplus/10.13109/zfgd.2018.17.1.27 [17.9.2018]. 8 Zur Schwierigkeit des Beweises von kausalen Einflüssen zwischen Ideen und Handlungen vgl. Quentin Skinner, The Limits of Historical Explanations, in: Philosophy 41,157 (1966), S. 199-215, zit. nach URL: http://www.jstor.org/stable/3748405 [2.5.2017]; zum weiteren methodologischen Rahmen einer an Kausalität interessierten Ideengeschichtsschreibung: Herfried Münkler / Grit Straßenberger, Politische Theorie und Ideengeschichte. Eine Einführung, München 2016, Einleitung, zit. nach URL: http://www.chbeck.de/fachbuch/zusatzinfos/Leseprobe_Politische-Theorie.pdf [29.5.2016]. 9 Vgl. zu (1) insbes. Koschorke, S. 238 und Abel / Blödorn / Scheffel, Narrative Sinnbildung S. 2 (wie Anm. 7); zu (2) Philippe Buc, Heiliger Krieg, Gewalt im Namen des Christentums. Aus dem Amerikanischen von Michael Haupt, Darmstadt 2015, passim; zu (3) Heinz Theisen, Nach der Überdehnung. Die Grenzen des Westens und die Koexistenz der Kulturen, 3. Aufl., Berlin 2014, passim.
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Die in diesem Beitrag entwickelten Überlegungen beschränken sich auf einen ‚atlantischen‘, hier Frankreich und die Vereinigten Staaten von Amerika umfassenden Kontext.10 Dies geschieht in der wohl weithin konsensfähigen Annahme, dass diese Länder besonders starke und die Moderne langfristig in entscheidender Weise prägende universalistische Traditionen hervorgebracht haben.11 Demgegenüber wird man zum Beispiel für Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert auf dem Feld des Politischen eher von sekundären Universalismen oder ‚Importuniversalismen‘ sprechen müssen, auch wenn die Frage nach dem Grad der Abhängigkeit und Ausprägung universalistischer Denkweisen in Deutschland sicherlich einer vertiefenden, hier nicht zu leistenden Erörterung bedürfte.12 Eine Urform des teleologischen Erzählens universalistischen Typs ist die Geschichte von der Abfolge der Reiche im Buch Daniel des Alten Testaments.13 Sie wurde wahrscheinlich im dritten oder zweiten Jahrhundert
10 Zum zugrundeliegenden Konzept der „Altantlischen Revolutionen“ vgl. Bernard Gainot, La contribution de Jacques Godechot aux Annales Historiques de la Révolution Française, in: Annales historiques de la Révolution française Juli / September 2008, zit. nach URL: http://ahrf.revues.org/11106 [1.10.2016]. Großbritannien wurde trotz hoher Relevanz für das Thema ausgespart, da sich hierzu im vorliegenden Band ein Beitrag von Dominik Geppert findet. 11 Für die frühen USA bezweifelt Michael Hochgeschwender allerdings das Gewicht universalistischer Faktoren. Vgl. Michael Hochgeschwender, Die Amerikanische Revolution. Geburt einer Nation 1763-1815, München 2016, Einleitung: Welche Revolution? Wessen Revolution?, S. 19, zit. nach URL: http://www.chbeck.de [21.1.2017]. 12 Zum Fehlen eines deutschen Universalismus im Vergleich mit dem revolutionären Frankreich vgl. Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992 (Sprache und Geschichte, 19), S. 132; sehr pointiert ferner Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Band II: Machtstaat vor der Demokratie, München 1998 (Sonderausgabe), S. 896. Auch das Denken in „Kulturkreisen“ markierte um 1900 möglicherweise eine Trennung von universalistischen ‚Westen‘. So jedenfalls Riccardo Bavaj / Martina Steber, Introduction, Germany and ‘the West’. The Vagaries of a Modern Relationship, in: Dies. (Hg.), Germany and ‘The West’. The History of a Modern Concept, New York / Oxford 2015, S. 1-37, hier S. 19, zit. nach URL: http://www.berghahnbooks.com/downloa ds/intros/BavajGermany_intro.pdf [2.8.2017]. 13 Vgl. Wolfgang Marienfeld, Weltgeschichte als Heilsgeschehen. Die Idee des Endreiches in der Geschichte, hg. v. der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 2000, S. 11f. und 14, zit. nach URL: http://www.nibis.de/ nli1/rechtsx/nlpb/pdf/PolBildung/Weltgeschichte.PDF [22.4.2017]; zum Danielbuch ferner John J. Collins, Art. „Daniel/Danielbuch“, in: Hans Dieter Betz u.a. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, 1999, Sp. 555-559.
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vor Christus auf der Basis älterer Überlieferungen redaktionell fixiert.14 In dieser Geschichte des Alten Testaments deutet der Israelit Daniel einen Traum des babylonischen Herrschers Nebukadnezar. Es ist die berühmte Geschichte vom sprichwörtlichen „Koloss auf tönernen Füßen“: Der goldene Kopf des Ungetüms, sein silberner Oberkörper und sein Bauch aus Kupfer standen wie seine Schenkel aus Eisen und seine aus Eisen und Ton gemischten Füße für verschiedene aufeinander folgende Reiche des alten Orients (Dan 2,27-44). Das Standbild wurde im Traum des Nebukadnezar durch einen Stein zerschlagen (Dan 2,35).15 Dieses Ereignis steht für den Anbruch des Gottesreiches, von dem es heißt: „Aber zur Zeit dieser Könige [gemeint sind die Herrscher des letzten Reiches, PG] wird der Gott des Himmels ein Reich aufrichten, das nimmermehr zerstört wird; und sein Reich wird auf kein anderes Volk kommen. Es wird alle diese Königreiche zermalmen und zerstören, aber es selbst wird ewig bleiben.“16 Was das Danielbuch hier im religiösen Gewand vorführt ist eine teleologische Geschichtskonzeption: Die Geschichte mäandert nicht planlos, sie bewegt sich auf ein Ziel zu.17 Der Heidelberger Philosoph Karl Löwith18 hat kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem Buch Weltgeschichte als Heilsgeschehen die Relevanz solcher Teleologien jüdisch-christlicher Prägung für die Moderne betont. Großen Teilen der modernen Geschichtsphilosophie attestierte er biblische Wurzeln und in letzter Konsequenz die „Säkularisierung ihres eschatologischen Vorbilds“.19 In diese Tradition fügt sich aus Löwiths Sicht selbst das atheistische Geschichtsdenken des Marxismus ein, das ja ebenfalls auf ein Telos der Weltgeschichte, nämlich die auf 14 Vgl. ebd., Sp. 557. 15 Zur Identifikation der Reiche vgl. ebd; zur Verwendung der Daniel-Tradition im 17. Jahrhundert vgl. den Beitrag von Michael Rohrschneider im vorliegenden Band. 16 Dan 2,44; hier zit. nach der revidierten Luther-Übersetzung: Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments in der Übersetzung Martin Luthers, hg. v. der Deutschen Bibelgesellschaft, Stuttgart 1984.; vgl. auch das Zitat der gesamten Traumdeutung in Marienfeld, Weltgeschichte als Heilsgeschehen, S. 38f. 17 Vgl. Marienfeld, Weltgeschichte als Heilsgeschehen, S. 11. 18 Cathleen Muehleck, Art. „Löwith, Karl“ in: Neue Deutsche Biographie 15 (1987), S. 112-114 [Onlinefassung]; zit. nach URL: https://www.deutsche-biographie.de/g nd118574043.html#ndbcontent [28.9.2016]. 19 Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 8. Aufl., Stuttgart 1990, S. 12; anknüpfend an Löwith: Marienfeld, Weltgeschichte als Heilsgeschehen, S. 14. vgl. auch Wayne Cristaudo, History, theology and the relevance of the translatio imperii, in: Thesis Eleven 116,1 (2013), S. 5-18, hier S. 1, zit. nach URL: http://the.sagep ub.com/content/116/1/5.full.pdf+html [26.5.2017]; Buc, Heiliger Krieg, S. 12.
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revolutionärem Wege über verschiedene Stadien erreichbare „klassenlose Gesellschaft“ hin, ausgerichtet ist.20 Grob vereinfachend könnte man sagen: Was Daniel das Gottesreich war, ist Marx und Engels die „klassenlose Gesellschaft“ und Fukuyama die liberale Demokratie mit marktwirtschaftlicher Ordnung. Als universalistisch lassen sich all diese Erzählungen charakterisieren, weil sie behaupten, einen für die ganze Welt und die ganze Menschheit verbindlich geltenden Geschichtsplan zu offenbaren.21 In diesem absoluten Anspruch liegt etwas potenziell Autoritäres und auch Gewaltsames.22 Zwar manifestiert sich universalistisches Denken keineswegs immer und notwendig in gewaltsamer Weise. So kann etwa ein religiöser Universalismus wie der christliche sogar die radikale Ablehnung von Zwang und Gewalt fordern, weil er den Wert jedes einzelnen menschlichen Lebens als vom Schöpfer gestiftet und damit universal erachtet.23 Hans Joas verwendet hierfür das Konzept eines „Potentials für die Sakralisierung der Person“, das er in den unterschiedlichsten religiösen Kontexten angelegt, wenn auch nicht notwendigerweise immer ausgeschöpft sieht.24 Ungeachtet dieser Entwicklungsmöglichkeit verfügen universalistische Strömungen aber zugleich aufgrund der ihnen eigenen Absolutheitsansprüche auch über die Option, die Anwendung von Zwang oder gar Gewalt bis hin zur Tötung von Menschen für legitim zu erklären, wenn es um die Durchsetzung der von ihnen als richtig und gottgewollt erkannten Ziele geht.25 Es ist kein Zufall, dass die Geschichte des Christentums gleichermaßen die Legitimation von radikaler Gewaltlosig-
20 Vgl. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, S. 38-54; Marienfeld, Weltgeschichte als Heilsgeschehen, S. 18; Buc, Heiliger Krieg, S. 65. 21 Zum Begriff des Universalismus vgl. Sibylle Tönnies, Der westliche Universalismus. Eine Verteidigung klassischer Positionen, Opladen 1995, S. 15f. 22 Vgl. hierzu die im Folgenden noch näher zu thematisierenden Überlegungen in: Buc, Heiliger Krieg, S. 24, 36 und 290. In der Ableitung unbeschränkter Machtbefugnisse aus dem Anspruch, den „Sinn der Weltgeschichte“ erfasst zu haben, sah Hans Buchheim ein wesentliches Merkmal des Totalitarismus. Ders., Totalitäre Herrschaft. Wesen und Merkmale, München 1962, S. 18. 23 Die religiös motivierte Zurückweisung von Gewalt manifestiert sich in besonders radikaler Weise im Gebot der Feindesliebe, das Jesus Christus in der Bergpredigt ausspricht (Matth. 6,44). 24 Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, München 2015, S. 54. 25 Vgl. Buc, Heiliger Krieg, passim. In der weitgehenden zwischenstaatlichen Entschärfung religiöser Wahrheitsansprüche sieht Peter Heuser vor diesem Hintergrund eine wesentliche Leistung der frühneuzeitlichen Religionsfrieden. Vgl. Peter Arnold Heuser, Vom Augsburger Religionsfrieden (1555) zur konfessionellen Friedensordnung des Westfälischen Friedens (1648), in: Peter Geiss / Peter Arnold Heuser (Hg.), Friedensordnungen in geschichtswissenschaftlicher und geschichts-
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keit und massiver Gewalt aus dem Glauben heraus kennt. In einer jüngst erschienenen Monographie hat der französische Mediävist Philippe Buc die Säkularisierungsthese Löwiths aufgegriffen und sie mit der Idee der „eschatologischen Gewalt“ verknüpft.26 Diese Form des gewalttätigen Extremismus zeigt er im Christentum unter anderem am Beispiel des Ersten Kreuzzuges und der blutigen Einnahme Jerusalems 1099 auf.27 Er betrachtet Denkweisen dieses Typs aber auch – und hierin ist die zentrale Provokation seines Buches zu sehen – für die Kriege der Ära George W. Bush als handlungsrelevant.28 Im Anschluss an Löwith, Marienfeld und Buc ist davon auszugehen, dass die lange Tradition säkularisierter christlich-jüdischer Teleologien universalistische Narrative generiert hat, die weite Teile westlichen Denkens und Handelns – sei es gewaltsam oder friedfertig – in der Welt prägen. Dass sich westliche Akteure dieser Tatsache nicht oder nur eingeschränkt bewusst sind, erschwert ihnen möglicherweise in einem komplexen Weltgefüge die Selbst- und Fremdanalyse und erhöht das Risiko von Fehleinschätzungen wie auch Fehlentscheidungen. Der Politikwissenschaftler Heinz Theisen hat im Zusammenhang mit westlichem Universalismus von der Gefahr einer „Überdehnung“ gesprochen, die aus dem Gefühl einer Zuständigkeit für alle Weltprobleme resultiere.29 Auch wenn man Theisens Reduktion universaler Normen auf eine essentialistisch verstandene ‚westliche‘ Kultur kritisch sehen kann, lässt sich seine Überdehnungsthese nicht einfach von der Hand weisen.30 Dies gilt vor allem dann, wenn die Demokratie und Menschenrechte konfrontativ bis hin zu militärischen Interventionen gegen all jene Staaten durchgesetzt werden sollen, die sich ihrem
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didaktischer Perspektive. Unter Mitarbeit von Victor Henri Jaeschke, Göttingen 2017 (Wissenschaft und Lehrerbildung, 2), S. 47-68, hier S. 55; zur Ambivalenz von Religion zwischen Gewalt und Gewaltverzicht vgl. Frank-Michael Kuhlemann, Ohne Religionsgeschichte wird es nicht gehen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.12.2015, S. 7. Vgl. Buc, Heiliger Krieg, S. 24, 36 und 290. Vgl. ebd., S. 275f. Vgl. ebd., S. 56f. Theisen, Nach der Überdehnung, S. 9f. Zum Problem der Essentialisierung von Kultur vgl. Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, S. 37; Bernd Stefan Grewe, Geschichtsdidaktik postkolonial – eine Herausforderung, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 5-30; Regina Richter, Für eine historische und transkulturelle Menschenrechtsbildung. Zur Kritik an der „westlichen“ Menschenrechtserzählung, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11 (2012), S. 31-49, hier S. 37.
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von Fukuyama einst gefeierten und jetzt skeptisch hinterfragten Siegeszug widersetzen.31 Andererseits ist es aber auch kaum vorstellbar, dass der ‚Westen‘ den Geltungsanspruch seiner Werte territorial begrenzt, ohne einen Kernbereich seiner Identität zu verlieren.32 Eine von 1776 und mehr noch 1789 ausgehende Wertegemeinschaft wäre möglicherweise nicht – wie von Theisen gefordert – „begrenzbar“, ohne dass sie aufhören müsste, ‚westlich‘ zu sein.33 Eine prinzipielle Preisgabe der Annahme, dass „die Menschen frei und gleich an Rechten geboren werden und bleiben“34 könnte in einem westlichen Kontext nur als Abgleiten in die Unmenschlichkeit verstanden werden. Zugleich ist die Diskussion über praktische Folgerungen aus dieser nicht verhandelbaren Annahme unter der Bedingung begrenzter Durchsetzungsressourcen mit einem demokratisch-pluralistischen Werterahmen durchaus kompatibel und wird von diesem sogar verlangt.35 In der Erforschung und öffentlichen Bewusstmachung universalistischer Narrative liegt zweifellos eine gesellschaftliche und sicherheitspolitische
31 Zum ethischen Interventionismus vgl. David Chandler, From Kosovo to Kabul and Beyond. Human Rights and International Intervention, London u.a. 2006 und Dominik Geppert im vorliegenden Band. Einen selbstkritischen Blick auf die eigenen Thesen vom 1989/92 bietet Francis Fukuyama, Why is democracy performing so poorly, in: Journal of Democracy 26,1 (2015), S. 11-20, hier S. 11, zit. nach URL https://fsi.stanford.edu/sites/default/files/ff_jod_jan2015.pdf [29.4.2017]; vgl. hierzu auch Friedemann Bieber, Das Ende der Geschichte, vertagt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Mai 2017, S. N 4 (Forschung und Lehre). 32 Eine solche „Selbstbegrenzung“ des Westens fordert Theisen, Nach der Überdehnung, S. 13. 33 Vgl. zu dieser Unbegrenzbarkeit Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde, S. 108 (im Rekurs auf Schama). 34 „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits.“ [Assemblée nationale constituante], Extrait des procès-verbaux de l'Assemblée nationale, des 20, 21, 22, 23, 24, 26 août & premier octobre 1789. Déclaration des droits de l'homme en société, Article Premier, zit. nach URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k2054 80r/f2.image [17.5.2017]; vgl. Tönnies, Universalismus, S. 16; zur grundlegenden Diskussion über den Status von Menschenrechten: Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, Bonn 1987 (Bundeszentrale für politische Bildung, Studien zur Geschichte und Politik, 256). 35 Vgl. hierzu etwa die Position von Peter Graf Kielmansegg, Demokratie braucht Grenzen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.6.2016, S. 6, zit. nach URL: https://www.faz-biblionet.de [24.8.2017].
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Notwendigkeit.36 Dies gilt umso mehr, als analytische Beobachter der Gegenwart durchaus Grund zu der Annahme haben können, dass gegenuniversalistische Narrative auf dem Vormarsch sind – und zwar zum Teil in Reaktion auf ‚westlichen‘ Universalismus. Diese „Gegenuniversalismen“ können Ihrerseits in neue Universalismen „umschlagen“.37 Hier ist zum Beispiel an Russland zu denken, das in seiner antiwestlichen Präsidialrhetorik ein stark gegenuniversalistisches Muster erkennen lässt.38 Im öffentlichen Reden und Handeln des amerikanischen Präsidenten Donald Trump offenbart sich ebenfalls ein solches Muster, selbst wenn nicht auszuschließen ist, dass auch unter der seit Januar 2017 amtierenden Administration die starken Strukturkräfte des amerikanischen Universalismus wieder Einfluss oder sogar die Oberhand gewinnen werden.39 Möglicherweise ist mit Blick auf das Verhältnis universalistischer und partikularistischer beziehungsweise gegenuniversalistischer Kräfte in der amerikanischen Außenpolitik eine rezente Beobachtung Henry Kissingers erkenntnisfördernd, der im Schwanken zwischen selbstbezogener „westfälischer“ Gleichgewichtspolitik und universalistischer Wertehaltung ein grundlegendes und in keiner Weise neues Strukturmerkmal amerikanischer Außenpolitik
36 Zur sicherheitspolitischen Relevanz von Narrationen am Beispiel von Schulbüchern vgl. Peter Geiss, Didaktische Funktionen der „Urkatastrophe“ – Der Erste Weltkrieg in ausgewählten europäischen Schulgeschichtsbüchern der Gegenwart, in: Olivier Mentz / Marie-Luise Bühler (Hg.), Deutsch-französische Beziehungen im europäischen Kontext - ein vergleichendes Mosaik aus Schule und Hochschule, Berlin 2017 (Europa lernen. Perspektiven für eine Didaktik europäischer Kulturstudien, 5), S. 16-60. 37 Diese Denkfigur und Begrifflichkeit verdankt der Verfasser Clemens Albrecht. Mit Blick auf das Beispiel Russland ist er Martin Aust verpflichtet. Vgl. hierzu auch die Aufsätze beider Kollegen im vorliegenden Band. 38 Vgl. hierzu das unten zitierte Beispiel der Rede Putins vor der UN-Vollversammlung im Jahr 2015 (s.u., Anm. 98) sowie zu Russland die ausführlicheren Beobachtungen von Martin Aust sowie von Grit Straßerger und Eva Hausteiner im vorliegenden Band. 39 Trumps erste Rede bei der NATO in Brüssel (5. Mai 2017) bot sowohl Anknüpfungspunkte für universalistische (Bekämpfung des Terrorismus als gemeinsames Menschheitsanliegen) als auch für tendenziell gegenuniversalistische Positionen (Kritik an angeblich unkontrollierter Migration). Vgl. Donald Trump, Remarks by President Trump at NATO Unveiling of the Article 5 and Berlin Wall Memorials - Brussels, Belgium, 5. Mai 2017, zit. nach URL: https://www.whitehouse.gov/t he-press-office/2017/05/25/remarks-president-trump-nato-unveiling-article-5-and-b erlin-wall [27.5.2017].
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sieht.40 Einer genaueren, hier mangels islamwissenschaftlicher Expertise nicht zu leistenden Untersuchung bedürfte die Frage, inwieweit sich auch in Narrativen des terroristischen Dschihadismus universalistische oder gegenuniversalistische Denkweisen manifestieren, wenn dessen Repräsentanten die Idee einer globalen Verteidigung des Islam gegen westliche Universalansprüche propagieren.41 2. Universalistische Historiographie: von Friedrich Schiller zu Heinrich August Winkler Zwischen Politik und Geschichtsschreibung bestehen enge Beziehungen. Zum einen stattet Geschichtsschreibung im Modus der Narration vergangenes Geschehen – und damit auch vergangene Politik – rückblickend mit Sinn aus,42 zum anderen kann sie selbst Inspirations- und Legitimationsquelle für aktuelles politisches Handeln werden.43 Säkulare Formen des universalistischen Erzählens werden im Europa des 18. Jahrhunderts erkennbar, also im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution. Ein Beispiel hierfür ist Friedrich Schillers berühmte Antrittsvorlesung in Jena. Darin heißt es: „Unser menschliches Jahrhundert herbey zu führen
40 Vgl. Henry Kissinger, World Order, New York 2015, S. 8. Zum Spannungsverhältnis zwischen Isolationismus und Universalismus bezogen auf die Rolle der USA im Ersten Weltkrieg vgl. Charlotte Lerg, Washington: „Die Welt sicher machen für die Demokratie“, in: Georg Eckert / Peter Geiss /Arne Karsten (Hg.), Die Presse in der Julikrise. Die internationale Berichterstattung und der Erste Weltkrieg, Münster 2014, S. 165-191. 41 Vgl. hierzu mit zahlreichen Beispielen islamistischer Diskurse: Gilles Kepel (unter Mitwirkung von Antoine Jardin), Terreur dans l’Hexagone. Genèse du Djihad français, Paris 2015. Philipp Buc nimmt – wie der Autor des vorliegenden Beitrags und aus dem auch hier genannten Grund – von einer Behandlung dieses Themenkomplexes Abstand, obwohl eine vergleichende Einbeziehung für seine Thesen von großem Interesse wäre. Vgl. Buc, Heiliger Krieg, S. 154. 42 Vgl. Jörn Rüsen, Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen, 2. Aufl., Schwalbach/Ts. 2008, S. 30. 43 Vgl. Jörn Leonhard, Vergangenheit als Vorgeschichte des Nationalstaates? Zur retrospektiven und selektiven Teleologie der deutschen Nationalhistoriographie nach 1850, in: Hans Peter Hye (Hg.), Nationalgeschichte als Artefakt: zum Paradigma „Nationalstaat“ in den Historiographien Deutschlands, Italiens und Österreichs, Wien 2009, S. 179-200, hier zit. nach URL: https://freidok.uni-freiburg.de/ dnb/download/7991 [29.4.2017].
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haben sich – ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt.“44 Geschichte wird hier teleologisch auf einen Idealzustand hin perspektiviert – in diesem Fall auf die Gegenwart, im 19. Jahrhundert dann – wie von Reinhart Koselleck begriffsgeschichtlich gezeigt – zunehmend auf die Zukunft.45 Zur Zeit des Preußenkönigs Friedrichs II. waren der von ihm und anderen Herrschern kultivierte Universalismus und das Fortschrittsdenken der Aufklärung für den Umgang zwischen den Staaten kaum handlungsrelevant. Darauf hat schon Johann Gottfried Herder hingewiesen, als er das Philosophentum Friedrichs mit der ernüchternden Bilanz seiner auswärtigen Politik und Kriegsführung verglich.46 Dies änderte sich mit der Französischen Revolution, die 1789 mit der berühmten Erklärung der Menschenrechte in der Gesellschaft47 eine universalistische Programmatik entwarf. Angesichts der von Georg Jellinek aufgezeigten Rückbezüge zu den bills of rights amerikanischer Einzelstaaten lässt sie sich treffend als ein Schlüsseldokument nicht nur des französischen, sondern tatsächlich des ‚atlantischen‘ Freiheitsdenkens betrachten.48
44 Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte. Eine akademische Antrittsrede, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, XVII, 1, hg. v. Liselotte Blumenthal und Benno von Wiese, Weimar 1970, S. 359-376, hier S. 375f; dazu: Temilo van Zantwijk, Schillers Antrittsvorlesung. Das Problem der Universalgeschichte, zit. nach URL: https://www.uni-jena.de/So nderausgabe_Schiller_AV-path-18,60,130,180,1892,50902.html [22.10.2016]; vgl. ferner den Beitrag von Judith Pfeiffer im vorliegenden Band. 45 Reinhart Koselleck, Die Verzeitlichung der Begriffe, in: Ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der sozialen Sprache, Frankfurt a.M. 2006, S. 77-85, hier S. 82. 46 Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, hg. v. Dietrich Irmscher, Stuttgart 1990 [1774], S. 106f; dazu auch Ingrid Mittenzwei, Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie, Berlin 1980, S. 53f. Für den Hinweis auf diese ungeachtet ihres marxistischen Deutungsrahmens immer noch sehr lesenswerte Biographie dankt der Verfasser Gerrit Walther. Auch Tönnies erwähnt Friedrichs Expansion als Beispiel einer prä-universalistischen Machtpolitik und stellt sie exemplarisch der universalistischen Begründungslogik des ersten Golfkrieges gegenüber. Vgl. Tönnies, Universalismus, S. 101f. Die Kriegsintensität des Aufklärungszeitalters behandelt auch Michael Rohrschneider im vorliegenden Band. 47 So lautete der Titel zunächst: Déclaration des droits de l'homme en société, Article Premier, Quelle wie Anm. 34; zu Entstehung und Gehalt: François Furet, La Révolution, I, 1770-1814, Paris 1988, S. 130f. 48 Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, in 3. Aufl. neu bearb. v. Walther Jellinek, München 1919, u.a. S. 16.
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Klarer noch als die Revolution selbst vertrat möglicherweise die republikanische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts diesen die gesamte Menschheit umfassenden Anspruch, auch wenn die Frage der (geringeren) Gewichtung zwischenstaatlicher Implikationen im Verhältnis zur Darstellung innerfranzösischer Entwicklungstendenzen der genaueren Untersuchung bedürfte. Ein Beispiel für die Ineinssetzung von nationaler und universaler Mission49 bietet der Historiker Jules Michelet. In seiner 1847 erschienenen Histoire de la Révolution française weist er der französischen Nation die universale Funktion zu, die Menschheit zu befreien. Zitiert sei im Folgenden aus den Passagen über die Kriegsdebatte der französischen Nationalversammlung im April 1792: „Ach, welch hohen Mut Frankreich 92 zeigte! Wann wird er jemals wiederkehren! Welche Zärtlichkeit für die Welt! Welches Glück, sie zu befreien! Welcher Eifer des Opfers – und wie wenig alle Güter der Erde in diesem Moment wogen!“ 50 Die Perspektive der Befreiten suchte Alphonse de Lamartine in seiner ebenfalls 1847 erschienenen Histoire des Girondins zu charakterisieren. Im Rheinland seien die Menschen vom Geist der französischen Philosophie und vom Hass auf die klerikale „Theokratie“ wie auch auf die Aristokratie durchdrungen und – vor allem an den Universitäten – ganz für Frankreich eingenommen gewesen: „Der Sache der Revolution zu dienen, hieß für die Denker, der Sache der Menschheit zu dienen. […] Die Trikolore war das Banner der Philosophie im gesamten Universum.“51 Ähnlich äußerte sich der nach dem Staatsstreich Louis Napoléon Bonapartes ins Exil geflohene Dichter Victor Hugo in seinem Gedicht O soldats de l’an deux („O Soldaten
49 Vgl. Furet, La Révolution, S. 186; Buc, Heiliger Krieg, S. 56 (für die USA); Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 35. 50 Übers. PG nach Jules Michelet, Histoire de la Révolution française, présentation de Claude Mettra, chronologie et dictionnaire des personnages établis par Alain Ferrari, Bd. 1, Paris 1979, S. 691. Franz. Wortlaut dort: „Oh, le grand cœur de la France en 92! Quand reviendra-t-il jamais! Quelle tendresse pour le monde! quel bonheur de le délivrer! quelle ardeur de sacrifice et comme tous les biens de la terre pesaient peu en ce moment!“ 51 Alphonse de Lamartine, Histoire des Girondins / par A. de Lamartine; Brüssel 1847, zit. nach URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007709290 bzw. https:// babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uc2.ark:/13960/t6ww7qp4q;view=1up;seq=114 [7.10.2016], S. 6. Der Stellenwert universalistischer Narrative im Gesamtgefüge der zitierten Werke müsste noch näher untersucht werden.
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des Jahres zwei der Republik“): „Die Revolution rief ihnen zu: Freiwillige, sterbt, um alle Brudervölker zu befreien! Glücklich sagten sie ja.“52 Das Narrativ einer für die Belange der gesamten Menschheit kämpfenden und damit universalen französischen Nation findet sich im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder – besonders prominent etwa 1914, am Beginn des Ersten Weltkrieges, im Kontext der parteiübergreifenden Union sacrée.53 Dieses Erzählmuster war bis in die jüngste Vergangenheit hinein abrufbar und nutzbar, so etwa im Libyen-Krieg des Jahres 201154 oder in einem Interview des linken Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon. Dieser hatte 2016 das universalistische Erbe Frankreichs in einem gegen die aus seiner Sicht demokratiezerstörende Macht der multinationalen Konzerne und der Finanzwelt gerichteten Sinne für seine Politik reklamiert: „Es geht nicht darum, eine Rolle zu konstruieren, um einen Größenwahn in der Geschichte zu befriedigen. Wenn ich die Unabhängigkeit Frankreichs fordere, dann [geschieht dies], damit es seine Handlungsfreiheit wiedererlangt. Aber wozu? Die Unabhängigkeit und Souveränität sprechen nicht für sich selbst. Sie sind kein Selbstzweck. Sie stellen sich dar als die Instrumente eines Ziels. Hier liegt das Herz der Tradition der Aufklärung und der großen Revolution von 1789. Frankreich macht keine Revolution für sich selbst. Es zielt auf einen gemeinsamen, von der ganzen Menschheit zu teilenden Horizont ab, wie es die Devise ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‘ tut.“55
52 Übers. PG nach [André Lagarde / Laurent Michard (Hg.)], Collection littéraire Lagarde et Michard, XIXe siècle. Les grands auteurs français du programme. Anthologie et histoire littéraire, Paris 1985, S. 168. 53 Vgl. etwa Annie Kriegel / Jean-Jacques Becker, La guerre et le mouvement ouvrier, Paris 1964, S. 141f. (Beispiel der universalistischen Rede des CGT-Vorsitzenden Jouhaux) sowie mit weiteren Quellen und Literatur: Peter Geiss, „Das unsterbliche Frankreich, der Soldat des Rechts“: Französische Zeitungen in der Julikrise 1914, in: Georg Eckert / Peter Geiss / Arne Karsten (Hg.), Die Presse in der Julikrise 1914. Die Internationale Berichterstattung und der Erste Weltkrieg, Münster 2014, S. 83-112, hier insbes. S. 104-109; bezogen auf Schulbücher: Rainer Bendick, Bereit zum Großen Krieg? – Gegenwartsdeutungen und Zukunftserwartungen in deutschen und französischen Schulgeschichtsbüchern vor 1914, in: Philippe Alexandre / Reiner Marcowitz (Hg.), L’Allemagne en 1913: culture mémorielle et culture d’avant-guerre – Deutschland im Jahre 1913: Erinnerungs- und Vorkriegskultur, Nancy 2013, S. 321-346, hier S. 344. 54 Vgl. dazu die unten zitierte Rede Jean-Marc Ayraults, Anm. 87. 55 Übers. PG nach: Jean-Luc Mélenchon (im Interview mit Pascal Boniface), La France, trait d’union au sein de l’humanité universelle, 22. Februar 2016, zit. nach URL: http://melenchon.fr/2016/02/27/la-france-trait-dunion-au-sein-de-lhumaniteuniverselle/ [31.3.2016].
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Heute bekannter und wirkmächtiger als die französische Spielart des teleologischen Universalismus ist die amerikanische. Auch sie hat eine lange Tradition und lässt sich zum Beispiel in amerikanischen Präsidentenreden gut greifen, so etwa in Woodrow Wilsons War Address von 1917 – er wollte „für den endgültigen Frieden der Welt und die Befreiung ihrer Völker“ in den Krieg ziehen 56 – oder fast ein halbes Jahrhundert später in John F. Kennedys berühmter Rede vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin 1963.57 In dem Satz „Ich bin ein Berliner“ bündelt sich die Identifikation mit dem freien, universalen Weltbürgertum, für das West-Berlins Einwohner hier stellvertretend unter den Schutz der USA gestellt werden. Dieses freie Weltbürgertum, so Kennedys Prognose, wird seinen Sieg über die Macht der kommunistischen Tyrannei erringen; der Weg ist vorgezeichnet – mit „heilsgeschichtlicher“ Notwendigkeit im besten Sinne von Löwiths These.58 Mit dem Pathos gläubiger Heilsgewissheit sprach Kennedy im Sommer 1963 genau jene Verheißung aus, deren grundsätzliche Erfüllung Francis Fukuyama dann ein Vierteljahrhundert später konstatieren sollte.59 Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Machtbereichs und den Erfolgen der Freiheits- und Demokratiebewegungen Ost- und Mitteleuropas proklamierte er die liberale Demokratie als das weithin erreichte Telos der Weltgeschichte.60 Das Zulaufen der Entwicklung auf dieses Staats- und Gesellschaftssystem visualisierte er sogar durch eine Tabelle, die das Zunehmen des Anteils von Demokratien an den Staatsverfassungen durch Kreuze anzeigte.61 Jenseits der liberalen Demokratie gab es für Fukuyama kein weite-
56 President Woodrow Wilson, Address to Congress, April 2, 1917, Compliments of the American Exchange National, New York, S. 11, hier zit. online nach dem Digitalisat der Library of Congress, Washington, URL: http://archive.org/details/presi dentwoodrow00unit [29.4.2017]. Zum Kontext vgl. Lerg, Washington: „Die Welt sicher machen für die Demokratie“. 57 John F. Kennedy, Rede an die Berliner vor dem Schöneberger Rathaus, 26. Juni 1963, Text mit Kommentar von Michael Hochgeschwender, zit. nach URL: http:// www.1000dokumente.de [29.4.2017]; dort angegebene und digital im Auszug eingestellte Edition: Department of State Bulletin, Bd. XLIX, Nr. 1256, 22. Juli 1963, S. 124f. 58 Vgl. ebd., S. 125. 59 Fukuyama, The End of History?, 1989 und Ders., The End of History and the Last Man, 2006/EA 1992. 60 Vgl. ebd., S. XIII. 61 Vgl. ebd., S 49f.
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res historisches Entwicklungsstadium mehr, das er sich als vernünftig vorstellen konnte.62 Philippe Buc ist zuzustimmen, wenn er den Fukuyama der späten 1980er und frühen 1990er Jahre in die vom Buch Daniel geprägte Tradition des eschatologischen Denkens einordnet.63 Fukuyama wusste, dass er sich mit seiner „Universal History“ letztlich in heilsgeschichtliche Traditionen des Christentums stellte, auch Hegel und Marx waren ihm in ihren Auffassungen von Geschichte als zielgerichtetem Prozess wichtige Referenzen.64 Fukuyamas Konzeption von Geschichte ist heute trotz seiner eigenen Zweifel daran keineswegs tot. Auch wenn der deutsche Historiker Heinrich August Winkler feststellt, dass sich Fukuyamas weitreichende Hoffnungen nicht erfüllt hätten,65 zeichnet sich im letzten Band seiner Geschichte des Westens doch zumindest eine gedankliche Strukturverwandtschaft zu den Thesen von The End of History ab: „Der große Demokratisierungsschub, der von den friedlichen Revolutionen von 1989 ausging, hat die Kämpfe um die Aneignung oder Verwerfung der Ideen von 1776 und 1789 innerhalb des Westens zu einem gewissen, wenn auch keineswegs vollständigen Abschluß gebracht. Weltweit aber geht die Auseinandersetzung um den universellen Geltungsanspruch der unveräußerlichen Menschenrechte weiter.“66 Was hier von Winkler vorgetragen wird, ist gewissermaßen die These eines End of History light: Im Großen und Ganzen ist der ‚Westen‘ mit seinem „normativen Projekt“ auf Erfolgskurs, aber es bleibt bis zur vollen Realisierung dennoch viel zu tun.67 62 „Liberal democracy remains the only coherent political aspiration that spans different regions and cultures around the globe.“ Ebd., S. XIII. 63 Buc, Heiliger Krieg, S. 72. 64 Fukuyama, The End of History, S. XIV und 55-70. 65 Vgl. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart (Bd. 4), München 2015, S. 602. 66 Ebd., S. 13. 67 Vgl. ebd. S. 12f. (von dort auch der Begriff des „normativen Projekts des Westens“). In diesem Sinne hat Philipp Blom im Interview mit Michael Köhler bereits Fukuyamas Thesen in ihrer teleologischen Radikalität relativiert. Vgl. das Interview „Freiheit ist immer eine Frage der Abwägung“, 3. Oktober 2015, Transkription zit. nach URL: http://www.deutschlandfunk.de/geschichtsphilosophie-freiheitist-immer-eine-frage-der.694.de.html?dram:article_id=332849 [29.4.2017]. Auch Heinrich August Winklers Buchpublikation Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika (München 2017) nimmt ganz offenkundig gegenüber den Erfolgsaussichten des „normativen Projekts des Westens“ eine skeptischere Haltung ein, konnte aber für den vorliegenden Beitrag nicht mehr rezipiert werden. Er schreibt u.a. Donald Trump die Infragestellung des „normativen
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3. Narrativität kann blind machen: universalistisches Erzählen als politisches Werkzeug Das universalistische Erzählen war seit dem späten 18. Jahrhundert ein wichtiges Werkzeug der Politik. Michael Jeismann konnte zwar mit Blick auf die Kriegsdebatte der Französischen Revolution zeigen, dass universalistische Ansprüche zunächst nicht das entscheidende Motiv für den Eintritt Frankreichs in den Krieg mit den europäischen Monarchien waren.68 Dennoch gab es Stimmen, die solche Ansprüche sehr deutlich artikulierten: So befürwortete der später von Michelet zitierte Abgeordnete Jean Baptiste Mailhe die Kriegserklärung an Franz II. als König von Böhmen69 und Ungarn mit folgendem Argument: „Die Menschheit leidet sicherlich, wenn man bedenkt, dass Sie [die angesprochenen Deputierten, PG] durch die Kriegserklärung den Tod von mehreren tausend Menschen dekretieren werden; aber bedenken Sie auch, dass Sie vielleicht die Freiheit der ganzen Welt dekretieren werden.“70 Doch was geschah, wenn die zu Befreienden gar nicht befreit werden wollten oder wenn ihre Befreiung mit unverhältnismäßig hohen Opferzahlen verbunden war? Auch wenn nationale Abwehrreaktionen eine wesentProjekts des Westens“ (ebd., S. 10f.) zu, hofft aber darauf, dass dieses von Europäern insbesondere im Zusammenwirken mit an „den Prinzipen der westlichen Demokratie“ orientierten Amerikanern weitergetragen wird (ebd., S. 11). 68 Jeismann, Das Vaterland der Feinde, S. 116 und 129, vgl. auch T.C.W. Blanning, The Origins of the French Revolutionary Wars, New York 1986, S. 120-123 so auch Virginie Martin, Débat: Brissot versus Robespierre, La Révolution française, in: L’Histoire 60 (Juli 2013), hier zit. nach URL: http://www.histoire.presse.fr/coll ections/revolution-francaise-0/debat-brissot-versus-robespierre-11-07-2013-57192 [22.3.2016]. 69 Vgl. Frédéric Bluche / Stéphane Rials / Jean Tulard, La Révolution française, Paris 1989 (Que sais-je?), S. 72. 70 Übers. PG nach Jean Baptiste Mailhe, Rede in der Kriegsdebatte der Assemblée législative, 20. April 1792, in: Archives parlementaires de 1789 à 1860 Paris, 1862ff., Bd. 42, S. 208, eingesehen als Digitalisat unter URL: http://frda.stanford.e du/en/catalog/cg346zm5141_00_0212 [16.10.2015]. Französischer Wortlaut dort: „L’humanité souffre sans doute, lorsque l’on considère qu’en décrétant la guerre, vous allez décréter la mort de plusieurs milliers d’hommes; mais considérez aussi que vous allez décréter peut-être la liberté du monde entier.“ Passage später in etwas anderem Wortlaut zit. in: Michelet, Histoire de la Révolution française, Bd. 1, S. 696; zur Person vgl. Adolphe Robert / Edgar Bourloton / Gaston Cougny (Hg.), Dictionnaire des parlementaires français [...]: depuis le 1er mai 1789 jusqu'au 1er mai 1889 [....], Bd. 4, Paris 1891, S. 226f., zit. nach dem Digitalisat unter URL : http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k837081/f228.item.r=Mailhe.zoom [28.8.2017].
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lich geringere Rolle spielten als konkrete Belastungen durch Krieg, Besetzung, später auch steuerliche Inanspruchnahme und Rekrutierung, kann von einer ungeteilt freundlichen Aufnahme der französischen Truppen und Administratoren jenseits der Grenzen sicherlich nicht die Rede sein.71 Bei Mailhe scheint überdies bereits das auf, worin Immanuel Wallerstein ein zentrales Problem des europäischen Universalismus – und damit meint er auch den amerikanischen – sieht: das Problem des „Kollateralschadens“.72 Dies meint avant la lettre auch Mailhe, wenn er von mehreren Tausend Toten spricht. Der später in Fragen der Gewaltanwendung wenig zimperliche Maximilien Robespierre hat zudem Widerstand gegen Fremdbefreiung vorausgesehen, als er warnte: „Die abwegigste Idee, die im Kopf eines Politikers keimen kann, ist die, dass es für ein Volk genügen könnte, mit bewaffneter Hand bei einem fremden Volk einzumarschieren, um es dazu zu bringen, seine Gesetze und seine Verfassung anzunehmen. Niemand liebt die bewaffneten Missionare; und der erste Rat der Natur und der Klugheit besteht darin, sie wie Feinde zurückzuschlagen.“73 Hier stand Robespierre in einem Konflikt mit dem Girondisten Brissot. Dieser hatte in seiner Zweiten Rede über die Notwendigkeit des Krieges gegen die deutschen Fürsten am 30. Dezember 1791 eine Narration zur Rechtfertigung des Krieges entwickelt, indem er auf den Mythos der Kreuzzüge rekurrierte und diesen in einem aufklärerisch-revolutionären Sinne umdeutete: „Erinnern sie sich an die Kreuzzüge, in denen sich Europa für ein wenig Aberglauben bewaffnete, sich durch die Stimme eines Mannes erschüttern ließ, um die Hydra zu zerquetschen. Die Zeit ist gekommen für einen anderen Kreuzzug, und dieser hat ein viel edleres Ziel. Es handelt sich um 71 Dazu detailliert Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden: Alltag – Wahrnehmung – Deutung 1792-1841, Paderborn 2007 (Krieg in der Geschichte, 33), Zusammenfassung auf S. 642-659, zur geringen Bedeutung nationaler Abwehrmotive in der napoleonischen Zeit auch Jörg Echternkamp, „Wo jeder Franzmann heißet Feind …“? Nationale Propaganda und sozialer Protest im napoleonischen Deutschland, in: Veit Veltzke (Hg.), Napoleon. Trikolore und Kaiseradler über Rhein und Weser, Köln 2007, S. 411-428, hier S. 411. 72 Immanuel Wallerstein, European Universalism. The Rhetoric of Power, New York 2006, S. 9, 27. 73 Maximilien Robespierre, Discours de Maximilien Robespierre sur la guerre, Prononcé à la Société des Amis de la Constitution, le 2 janvier 1792 […], in: Ders., Œuvres de Maximilien Robespierre, hg. v. Marc Bouloiseau u.a., Bd. VIII: Discours (3e partie), Octobre 1791-Septembre 1792, Paris 1954, S. 74-94, hier S. 81f., übers. hier im freien Rückgriff auf die deutsche Fassung in: Peter Fischer (Hg./ Übers.), Reden der Französischen Revolution, München 1974 (dtv text-bibliothek), S. 145-152, hier S. 147.
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einen Kreuzzug der universellen Freiheit. Hier ist jeder Soldat Peter der Einsiedler, ein Bernhard [von Clairvaux], und wird beredsamer sein als diese. Er wird nicht mystische Dogmen predigen, sondern das, was jeder kennt, was jeder will, die Freiheit.“74 Die Idee des von Frankreich geführten „heiligen“ Krieges für die Freiheit begegnete über ein Jahrhundert später – Anfang August 1914 – den Lesern der französischen Tageszeitung Le Matin, die auf ihrer Titelseite den „Heiligen Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei“ erklärte.75 Hier wurde Kriegsführung damit legitimiert, dass sie dem Erreichen von Freiheit als einem geschichtsnotwenigen Menschheitsziel diene. Man war in Frankreich auch im Sommer 1914 unterwegs zum „Ende der Geschichte“ – und der Weg dorthin war angesichts hochgerüsteter Feinde der Freiheit ein kriegerischer. Ein ähnliches Narrativ spielte auch für die Legitimation des zweiten Irakkriegs eine wesentliche Rolle.76 Wenige Tage nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 sprach der damalige US-Präsident George W. Bush wörtlich von „diesem Kreuzzug, diesem Krieg gegen den Terrorismus“, der „eine Weile dauern“ werde.77 Philippe Buc zitiert eine Rede George W. Bushs aus dem Jahr 2008, in der dieser vor dem Hintergrund des nach fünf opferreichen Jahren in die Kritik geratenen Irakkrieges seinen Glauben an die – wie er sagte – „transformative power of liberty“ betonte. 78 Diese Freiheit sei gottgegeben und universal; Amerika habe die Aufgabe, an diese
74 Übers. PG nach [J. P. Brissot], Société des Amis de la Constitution, Séante aux Jacobins, Paris. Second discour[s] de J. P. Brissot, député, Sur la nécessité de faire la guerre aux princes allemands; prononcé à la société à la séance du vendredi 30 décembre 1791, S. 27 [dem Verfasser von der Bibliothèque nationale Paris dankenswerterweise als Digitalisat nach Mikrofilm zur Verfügung gestellt], im Auszug zit. in: Robespierre, Œuvres, hg. v. Bouloiseau u.a., Bd. VIII, S. 74 (Einleitung). 75 [Anonym], L’Allemagne déclare la guerre à la France – La guerre sainte de la civilisation contre la barbarie, in: Le Matin, 04. August 1914, S. 1, zit. nach dem Digitalisat der Bibliothèque nationale unter URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k 570968k.item [6.5.2017]; vgl. Jeismann, Vaterland der Feinde, S. 346; Geiss, „Das unsterbliche Frankreich […]“, S. 111. 76 Vgl. hierzu mit Blick auf Großbritannien den Beitrag von Dominik Geppert im vorliegenden Band. 77 [George W. Bush], Remarks by the President Upon Arrival. For Immediate Release. Office of the Press Secretary. September 16, 2001, zit. nach URL: https://geo rgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/2001/09/20010916-2.html [22.10.2016]; Übers. (PG), Original: „This crusade, this war on terrorism is going to take a while. And the American people must be patient.“. 78 [George W. Bush], Remarks by the President at National Republican Congressional Committee Dinner, Washington Hilton Hotel, Washington, D.C., March 12,
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Verwandlungsmacht der Freiheit zu glauben.79 Auf die von Buc zitierte Passage folgt ein Abschnitt, der für den Zusammenhang des vorliegenden Beitrags von einigem Interesse ist: Vor 60 Jahren, so George W. Bush, habe sein Vater hart gegen die Japaner gekämpft, nun sei er – der Sohn – mit dem ehemaligen japanischen Premier Koizuni befreundet.80 Die japanische Demokratie war für Bush ein Beispiel für die besondere Fähigkeit der USA, freiheitliche Transformationsprozesse voranzubringen.81 Auf diese Weise bettete Bush sein interventionistisches Freiheitscredo in eine Narration ein, welche die Richtigkeit und Sinnhaftigkeit seines zu diesem Zeitpunkt schon sehr umstrittenen außenpolitischen Handelns untermauern sollte: Die USA setzten im Irak eine historische Befreiungsmission fort, deren Erfolg am Beispiel Japans zu beobachten sei. In analoger Weise ließe sich der Sieg über Hitler-Deutschland oder über die Sowjetunion im Rahnen eines teleologischen Narrativs als Beleg dafür ins Feld führen, dass die USA berufen wären, die Völker der Welt zu befreien.82 Mit Bezug auf das amerikanische Selbstbewusstsein nach 1989 sprach Ellen Schrecker kritisch von „Cold War Triumphalism“.83 Politiker verwenden heilsgeschichtliche Narrative, weil diese die Welt und das Handeln in ihr in hohem Maße als kohärent erscheinen lassen.84
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2008, zit. nach URL: https://georgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/ 2008/03/20080312-12.html [28.9.2016]; im Auszug zit. in Buc, Heiliger Krieg, S. 66. Vgl. [George W. Bush], Remarks by the President at National Republican Congressional Committee Dinner. Eine ähnlich universalistische Perspektive nahm Bush in folgender Rede ein: George W. Bush, State of the Union Address, 20. Januar 2004, hier zit. nach Washington Post, URL: http://www.washingtonpost.co m/wp-srv/politics/transcripts/bushtext_012004.html [22.4.2017]. Vgl. George W. Bush, Remarks by the President at National Republican Congressional Committee Dinner. Vgl. ebd. Vgl. Ellen Schrecker, Cold War Triumphalism and the Real Cold War, in: Dies. (Hg.), Cold War Triumphalism, New York 2004, S. 1-24, hier S. 2. Ebd. Zur Kohärenzherstellung vgl. Abel / Blödorn / Scheffel, Narrative Sinnbildung, S. 2. Diesem Vorgang verwandt ist die für politische Handlungszusammenhänge überzeitlich grundlegende Komplexitätsreduktion. Vgl. dazu im Rekurs auf Luhmann exemplarisch für das republikanische Rom Jan Timmer, Vertrauen. Eine Ressource im politischen System der römischen Republik, Frankfurt a.M. / New York 2017 (Campus Historische Studien), S. 84-86; zur literarischen Dimension historischer Sinngebung: Hayden White, Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Christoph Konrad / Martina Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 123-157, hier S. 127.
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Aufgrund ihrer suggestiven Macht vermögen es Narrative dieses Typs, jene Teile der Wirklichkeit ins Dunkel zu verschieben, die nicht ins Argumentationsbild passen.85 Man musste kein radikaler Kritiker George W. Bushs sein, um mit Blick auf die von ihm gefeierte Wirksamkeit der „transformative power of liberty“ im Irak auch schon 2008 einige vorsichtige Fragezeichen zu setzen – von dem desaströsen Bild, das die nahöstliche Krisenregion heute (2018) bietet, ganz zu schweigen. Der Blick in die Geschichte legt einen vorsichtigen Umgang mit dem Erzählen nahe – und zwar gerade mit dem in seinen Absolutheitsansprüchen besonders machtvollen universalistischen Erzählen auf einem Feld, auf dem es oft um Krieg und Frieden geht, das heißt in der internationalen Politik. Dies lässt sich etwa im Rückblick auf das Jahr 2011 am Beispiel der amerikanisch-britisch-französischen Intervention in Libyen studieren, bei der sich Deutschland abseits hielt. Der französische Politikwissenschaftler Julien Pomarède hat in einer Diskursanalyse aufgezeigt, wie hier das Ziel des humanitären Schutzes der Bevölkerung von Bengasi nach und nach in ein Unternehmen des militärisch herbeigeführten „regime change“ überführt wurde.86 Dabei spielte in Frankreich der narrative Subtext der Revolutionskriege erneut eine Rolle. Am 22. März 2011 formulierte der Abgeordnete Jean-Marc Ayrault von den damals oppositionellen Sozialisten in der Nationalversammlung folgendes Credo: „Wir sind das Land der Freiheit. Wir dachten, alles geschrieben zu haben. Andere Völker werden in ihrer Sprache, in ihrem Alphabet diesen wunderbaren Schwung erneuern, der uns seit 1789 inspiriert. Es lag in unser Verantwortung [dafür zu sorgen], dass er nicht an den Toren von Bengasi zum Erliegen kam, damit die arabischen Völker, jedes für sich, ihre Geschichte schreiben konnten. Unser Stolz ist es sie zu begleiten, ohne ihnen voranzugehen, ohne sie aufzugeben.“87 Inwieweit sind in dieser Äußerung die drei eingangs umrissenen Funktionsmerkmale des (universalistischen) Erzählens erkennbar? – Wirklichkeitsverdrängung und Immunisierung gegenüber Kritik könnten sich hier darin zeigen, dass Ayraults kurze Erzählung die Möglichkeit einer mit den
85 Bergem, Narrative Formen, S. 33, 38. 86 Julien Pomarède, Des maux guerriers aux mots interventionnistes. Une analyse des mécanismes de légitimation de l’opération militaire internationale en Libye (2011), in: Etudes internationales: revue trimestrielle 2 (2014), S. 229-260. 87 Übers. PG nach: Jean-Marc Ayrault, Rede, in: Assemblée nationale. XIIIe législature. Session ordinaire de 2010-2011. Compte rendu intégral. Première séance du mardi 22 mars 2011, zit. nach URL: http://www.assemblee-nationale.fr/13/cri/201 0-2011/20110144.asp [6.10.2016].
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europäischen Verhältnissen des späten 18. Jahrhunderts nicht vergleichbaren Realität in Libyen ausklammert, so etwa das wahrscheinliche Fehlen einer der Aufklärung entsprechenden Geistesströmung und der aus ihr hervorgegangenen freiheitlichen und demokratischen Traditionen. Diese skeptische Annahme muss die Wirkungen aufklärerischen Denkens auf die libysche Gesellschaft oder die etwa von Hans Joas betonte Hervorbringung ganz eigener Konzepte von der „Sakralisierung der Person“88 keineswegs in arroganter Weise ausschließen; sie hätte nur respektvoll-vorsichtig davon auszugehen, dass Libyen eben nicht Europa ist und europäische Entwicklungslogiken damit nicht notwendigerweise „übersetzbar“ sein könnten. Auf eine prinzipielle „Übersetzbarkeit“ der 1789 in Frankreich manifest gewordenen Ideale verweist ja Ayraults Sprachmetapher.89 Das zweite Funktionsmerkmal des universalistischen Erzählens – die Selbstermächtigung – muss man bezogen auf das Zitat kaum weiter erläutern. Ayrault leitete aus der Tradition von 1789 für Frankreich zumindest implizit die Befugnis ab, weit jenseits seiner Grenzen mit militärischen Mitteln Verhältnisse zu regeln – auch wenn in postkolonialer Sprachsensibilität von „Begleitung“ die Rede ist. Zum dritten Punkt, dem Risiko der Selbst- und Fremdüberforderung, ist eine abschließende Aussage angesichts der Offenheit der libyschen Entwicklung gegenwärtig noch nicht möglich.90 Ein kritischer Blick auf die interventionistische Narration Ayraults darf allerdings nicht verges-
88 Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, insbes. S. 54; zur problematischen Verengung von Menschenrechtsdenken auf westliche Traditionen vgl. auch Richter, Für eine historische und transkulturelle Menschenrechtsbildung. 89 Vielleicht ist hier eine Strukturparallele zum „Übersetzen“ von erfahrungsbezogenen Wertvorstellungen bei Michael Walzer (dazu am Ende des Beitrags ausführlicher) zu sehen. Vgl. Grit Straßenberger, Partikulare Erfahrungen und normative Urteile. Wege kommunikativer Universalisierung bei Martha Nussbaum und Michael Walzer, in: André Brodocz (Hg.), Erfahrung als Argument: zur Renaissance eines ideengeschichtlichen Grundbegriffs, Baden-Baden 2007, S. 137-152, hier S. 148. Zum Problemkreis der konzeptuellen und historiographischen Dominanz Europas vgl. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, 2. Aufl., Princeton/Oxford 2007 (Princeton Studies in Culture / Power / History), S. 3-6 und 29. Auf die Schlüsselbedeutung von Übersetzungsproblemen hat in den Diskussionen der in Anm. 1 genannten Arbeitsgruppe ferner Ludger Kühnhardt hingewiesen. 90 Vgl. für den Spätsommer 2018 die journalistische Lagebeschreibung von Christoph Sydow, Kämpfe in Libyen. Aufstand gegen das Kartell von Tripolis, in: Spiegel online, 3.9.2018, zit. nach URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/libyenaufstand-gegen-das-kartell-von-tripolis-a-1226315.html [18.9.2018]. Das Problem der universalistischen Selbst- und Fremdüberforderung des Westens diagnostiziert treffend, aber auf der Basis hier nicht geteilter kulturalistischer Prämissen Thei-
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sen machen, dass es 2011 angesichts des Handlungsdrucks einer – wie angenommen – bevorstehenden humanitären Katastrophe für die beteiligten westlichen Akteure schwierig war, einen anderen Weg zu gehen.91 Ob eine Nichtintervention zu ethisch akzeptableren Ergebnissen geführt hätte, bleibt auch mit Blick auf das Schicksal Syriens fraglich. Narrationen begleiten nicht nur Interventionen starker Staaten gegen vergleichsweise schwache, sie kommen auch in der diskursiven Verhältnisbestimmung zwischen den weltpolitischen Hauptkontrahenten USA und Russland zum Einsatz. Dies sei abschließend knapp anhand des narrativen „Showdowns“ aufgezeigt, den sich die Präsidenten Obama und Putin anlässlich der UN-Vollversammlung zum 70. Gründungsjahrestag der Vereinten Nationen am 28. September 2015 geliefert haben. In der knapp 45-minütigen Rede Obamas erscheint das Wort „history“ neun Mal. 92 Wenig überraschend in der Gesamttendenz, wohl aber in manchen Nuancen, formuliert Obama in seiner Rede eine Lehre der Geschichte, die zugunsten der Demokratie und der mit ihr verbundenen universalen Werte ausfällt. Die Geschichte, so erklärt er, führe vor Augen, dass „Regime, die ihr eigenes Volk fürchten, letztlich stürzen, aber starke Institutionen, errichtet auf der Grundlage der Zustimmung der Regierten, werden auch lange nach dem Abtreten eines Individuums Bestand haben.“93 Dies hätten gerade die von Obama als „stärkste Führungsfiguren“ gerühmten Staatsmänner wie George Washington und Nelson Mandela vorgelebt.94 Während die Geschichte bei Fukuyama unausweichlich auf die liberale Demokratie zuläuft, belegt sie bei Obama die langfristige Überlegenheit, aber nicht Geschichtsnotwendigkeit dieses Regierungssystems. Der amerikanische Präsident vertritt hier eine weniger ‚harte‘ Teleologie als Fukuyama. Darüber hinaus könnte man von einem ‚weichen‘ Universalismus95 sprechen, wenn er – im Grunde ähnlich wie der voranstehend zitierte französische Sozialist
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sen, Nach der Überdehnung, passim; ähnlich auch Ders., Eine Welt jenseits von Utopie und Regression, in: Neue Züricher Zeitung, 30.8.2017, zit. nach URL: https://www.nzz.ch/meinung/regionalismus-statt-globalismus-eine-welt-jenseits-vo n-utopie-und-regression-ld.1313361 [18.9.2018]. Dazu Winkler, Geschichte des Westens, Bd. 4, S. 450. Übers. PG nach [Barack Obama], Remarks by President Obama to the United Nations General Assembly, United Nations Headquarters New York, 28. September 2015, zit. nach URL: https://obamawhitehouse.archives.gov/the-press-office/2015/ 09/28/remarks-president-obama-united-nations-general-assembly [29.5.2017]. Ebd. Ebd. Auf die Unterscheidung zwischen „starken“ und „schwachen“ Universalismen weist bereits Tönnies hin. Tönnies, Universalismus, S. 13; ähnlich auch Robert
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Ayrault – die kulturrelative Vielgestaltigkeit von Demokratie bei gleichzeitigem Festhalten an sehr allgemeinen Grundwerten betont.96 Es fällt auf, dass er hier keineswegs die voll entwickelte Demokratie westlichen Typs als Modell vorstellt, sondern auf einer sehr viel tieferen Ebene ansetzt: Alle Menschen sollten das Recht haben, sich mit ihren Anliegen friedlich an die Regierenden zu wenden.97 Demokratische Wahlen erwähnt er zumindest an dieser Stelle nicht. Auch der einige Stunden später sprechende russische Präsident Putin betätigt sich als Historiograph in eigener Sache: Er betont in seiner Rede die stabilitätsstiftende Kraft der Konferenz von Jalta – sie habe „Aufruhr größten Ausmaßes“ verhindert.98 Bei Putin sind nicht Freiheit und Menschenrechte das Thema, sondern Stabilität und Ordnung. Den westlichen Universalismus kritisiert er als stabilitätszerstörende, chaosstiftende Kraft. Dabei formuliert er ebenfalls eine Lehre der Geschichte, indem er auf Erfahrungen mit dem sowjetischen Universalismus hinweist, aber damit eigentlich den westlichen beziehungsweise amerikanischen meint: „Wir sollten uns alle an die Lektionen der Vergangenheit erinnern. Wir erinnern uns etwa an Beispiele aus unserer sowjetischen Vergangenheit, als die Sowjetunion soziale Experimente exportierte, in anderen Ländern aus ideologischen Gründen zur Veränderung drängte, und dies führte oft zu tragischen Konsequenzen und verursachte Verschlechterung anstelle von Fortschritt.“99 In der UN-Vollversammlung trafen ein abgemildert universalistisches und ein offensiv gegenuniversalistisches Narrativ aufeinander. Beide Redner nahmen für sich in Anspruch, der Weltöffentlichkeit als ‚Geschichtslehrer‘ Lektionen – wörtlich „lessons of history“ (Obama) beziehungsweise „lessons of the past“ (Obama und Putin) – nahezubringen, die ihre jeweiligen politischen Orientierungen und Handlungsweisen als plausibel und notwendig erscheinen lassen sollten.
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Deinhammer, Menschenrecht und Kulturrelativismus, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 96,1 (2019), S. 51-63, zit. nach URL: https://www.ingentaconne ct.com [05.02.2019, freundlicher Literaturhinweis von Daniel Voges] sowie – mit Bezug auf die Verknüpfung von Idealismus und kontextbezogenen Realismus bei Henry Kissinger – Dominik Geppert im vorliegenden Band. [Barack Obama], Remarks by President Obama, UN, 28. September 2015. Vgl. ebd. Übers. PG nach der englischen Fassung: Vladimir Putin, Rede vor der UN-Vollversammlung, Homepage des Kreml, zit. nach URL: http://en.kremlin.ru/events/pres ident/news/50385 [29.5.2017]. Ebd.
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4. Mögliche Folgerungen Kann die Bewusstmachung und Analyse universalistischer Erzählungen in der internationalen Politik praktisch wirksam werden? – Politiker brauchen operative Klarheit in Situationen der Ungewissheit.100 Deshalb werden sie aller Voraussicht nach damit fortfahren, kohärenzstiftende Narrative zu verwenden und zu generieren. Aufgabe von Wissenschaft kann es – wie von Max Weber 1919 mit bleibender Gültigkeit betont – nicht sein, alternative Handlungskonzepte zu entwerfen oder gar zu empfehlen.101 Ihre Funktion wird bezogen auf das Erzählen in der internationalen Politik vielmehr darin liegen, von politischen Akteuren zu Legitimationszwecken erzeugte narrative Kohärenz auf der Basis analytischer Befunde zu hinterfragen, um die Möglichkeit von Fehleinschätzungen und die Gefahr von daraus resultierenden Fehlentscheidungen aufzuzeigen.102 Als realitätsfremd und risikoreich können sich sowohl universalistische als auch die auf sie bezugnehmenden gegenuniversalistischen Erzählungen erweisen: Vladimir Putins gegenuniversalistische Jalta-Narration der zwischen Großmächten zu respektierenden Einflusszonen kann zum Sicherheitsrisiko werden, wenn westliche Staaten aufgrund von universalistischen Orientierungen die Existenz solcher Zonen – etwa in Gestalt eines autoritär regierten Syriens unter russischer Protektion – verneinen. Zu den Risikoquellen der internationalen Politik gehört aber auch der narrativ grundierte Glaube an bewaffnete Demokratisierungsmissionen westlicher Staaten, die gleichsam geschichtsnotwendig Freiheit und Menschenrechte in Nordafrika und im Nahen Osten mit sich bringen würden.103 Hier wäre zu erfor100 Bergem, Narrative Formen, S. 31. 101 Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf [Vortrag von 1919], in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen 1988, S. 582-613, hier insbes. S. 601. 102 Ähnlich Weber zum Aufzeigen der Beziehung zwischen Zwecken und Mitteln, da dies noch im Feld der Wissenschaft liege, während die Festlegung von Zwecken Politik sei. Vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf, S. 607. Zur Aufklärungspflicht der Geschichtswissenschaft gegenüber gesellschaftlichem und politischem „Geschichtsbegehren“ vgl. Karl-Ernst Jeismann, Zum Verhältnis von Fachwissenschaft und Fachdidaktik – Geschichtswissenschaft und historisches Lernen, in: Ders., Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur Historischen Bildungsforschung, hg. v. Wolfgang Jacobmeyer und Bernd Schönemann, Paderborn u.a. 2000, S. 73-86, hier S. 81. Zum Anliegen der „Dekonstruktion“ von Narrationen vgl. u.a. auch Wolfgang Hasberg, Klio im Geschichtsunterricht, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48,12 (1997), S. 708-726 sowie mit weitere Literatur Geiss, Objektivität als Zumutung. 103 Vgl. dazu sehr kritisch Chandler, From Kosovo to Kabul and Beyond.
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schen, was es bedeutet, wenn europäisch-atlantische Befreiungserzählungen in der Tradition von 1776 beziehungsweise 1789 auf Räume und Menschen übertragen werden, deren Erzählungen Europäer und US-Amerikaner kaum kennen. In einer Situation der Unkenntnis empfiehlt sich Zurückhaltung – und die Bereitschaft zu präziser Beobachtung. Ethisch problematisch wird eine solche Haltung allerdings dann, wenn sie angesichts von schwerem menschlichem Leid in Indifferenz mündet oder sich zu der Annahme versteigt, Menschenrechte wären Privilegien, die kulturell exklusiv nur Angehörigen westlich geprägter Gesellschaften zustünden.104 Vielleicht bietet der von Michael Walzer entwickelte „reiterative Universalismus“ Ansätze zu einer Überwindung des Dilemmas, das sich aus dem Anliegen ergibt, weder einem selbstgerecht-dogmatischen Universalismus zu huldigen noch in die kulturessentialistische Indifferenz abzugleiten.105 Seine Überlegungen münden nicht in den normativen Rückzug des Westens auf sich selbst, aber auch nicht in „Triumphalismus“ (Hans Joas) gegenüber dem Rest der Welt.106 Walzer geht davon aus, dass es durchaus Werte gibt, die allen Menschen gemeinsam sind – so etwa der hohe Wert der Befreiung von Fremdherrschaft, der für das Volk Israel im Exodus narrativ zum Ausdruck gebracht werde.107 Er stellt aber auch fest, dass diese Werte in kulturell unterschiedlichen Weisen „kreativ“ – und nicht durch Eins-zu-Eins-Übertragung – realisiert werden müssen: „Es gibt keine universale Geschichte [universal history], sondern eher eine Reihe von Geschichten (die wahrscheinlich nicht konvergieren oder erst in einer
104 Joas wendet sich aus gutem Grund gegen die Annahme eines exklusiv ‚westlichen‘ Charakters der Menschenrechte. Vgl. Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, S. 74. 105 Der Verfasser orientiert sich im Folgenden an der Rekonstruktion und Analyse von Walzers Ansatz in Straßenberger, Partikulare Erfahrungen und normative Urteile, insbes. S. 145-148; vgl. zu Walzer auch den Beitrag von Grit Straßenberger und Eva Hausteiner im vorliegenden Band; Walzers Position zusammenfassend vgl. ferner Manuel Knoll / Michael Spieker, Einführung in Walzers Gerechtigkeitstheorie, in: Dies. (Hg.), Michael Walzer: Sphären der Gerechtigkeit. Ein kooperativer Kommentar, Stuttgart 2014 (Staatsdiskurse, 29), S. 15-25, zit. nach URL: http://www.steiner-verlag.de/titel/60203.html [28.5.2016]. 106 Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, S. 79. 107 Vgl. Michael Walzer, Nation and Universe. The Tanner Lectures On Human Values. Delivered at Brasenose College, Oxford University, May 1 and 8 1989, S. 513f., zit. nach URL: http://tannerlectures.utah.edu/_documents/a-to-z/w/walz er90.pdf [29.5.2017]; dazu Straßenberger, Partikulare Erfahrungen und normative Urteile, S. 147.
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mythischen Endzeit, wie die vielen nationalen Wege zum Kommunismus), in denen Wert gefunden werden kann.“108 Wenn westliche Akteure die Pluralität der in solcher Weise erzählbaren Geschichten anerkennen, können sie damit aufhören, die Geschichte der Menschheit in illusionärer – und potenziell gewaltträchtiger – Weise auf ein bestimmtes Ende hin zu erzählen.109 Was allerdings offen bleibt, ist die Frage, wie weit sich diese Geschichten in ihrer Pluralität voneinander entfernen können, ohne dass der Bezug zu geteilten ethischen ‚Urwerten‘ – wie der von Walzer als Beispiel gewählten ‚Befreiung‘ – für Teile der Menschheit unkenntlich wird. Auch die inhaltliche Bestimmung und Reichweite dieser ‚Urwerte‘ ist problematisch: Wäre es westlichen Gesellschaften heute möglich, Erzählungen als den ihrigen gleichrangig anzuerkennen, in denen sich ‚Befreiung‘ zwar auf die Beendigung der Herrschaft eines Volkes über ein anderes bezöge, die Überwindung eines Herrschaftsverhältnisses zwischen den Geschlechtern aber nicht einschlösse? Quellen- und Literaturverzeichnis [Anonym], L’Allemagne déclare la guerre à la France – La guerre sainte de la civilisation contre la barbarie, in: Le Matin, 04. August 1914, S. 1, zit. nach dem Digitalisat der Bibliothèque nationale unter URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt 6k570968k.item [6.5.2017]. Abel, Julia / Blödorn, Andreas / Scheffel, Michael, Narrative Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz. Einführung, in: Dies (Hg.), Ambivalenz und Kohärenz. Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung, Trier 2009 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft, 81), S. 1-10. [Assemblée nationale constituante], Extrait des procès-verbaux de l'Assemblée nationale, des 20, 21, 22, 23, 24, 26 août & premier octobre 1789. Déclaration des droits de l'homme en société, Article Premier, zit. nach URL: http://gallica.bnf.f r/ark:/12148/bpt6k205480r/f2.image [17.5.2017]. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 6. Aufl., München 2007, S. 87-103.
108 Übers. PG nach Walzer, Nation and Universe, S. 514; zur kreativen Dimension vgl. ebd., S. 528. 109 Die Formulierung lehnt sich bewusst an Marc Blochs Plädoyer für eine „Vergleichende Geschichte der europäischen Gesellschaften“ an: „En un mot, cessons, si vous le voulez bien, de causer éternellement d’histoire nationale à histoire nationale, sans nous comprendre.“ Marc Bloch, Pour une histoire comparée des sociétés européennes, in: Ders., L’Histoire, la Guerre, la Résistance, hg. v. Annette Becker und Étienne Bloch, Pais 2006, S. 349-380, hier S. 380.
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Autoren- und Herausgeberverzeichnis
Albrecht, Clemens, Dr., Professor, Lehrstuhl für Kultursoziologie, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn. Aust, Martin, Dr., Professor für Osteuropäische Geschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Di Fabio, Udo, Dr. Dr., Professor für Öffentliches Recht, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Eckel, Jan, Dr., Professor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen. Geiss, Peter, Dr., Professor für Didaktik der Geschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Geppert, Dominik, Dr., Professor für Geschichte des 19./20. Jahrhunderts, Universität Potsdam. Gosewinkel, Dieter, Dr., Professor für Neuere Geschichte, Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, und Leiter des „Center for Global Constitutionalism“, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Hausteiner, Eva, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Pfeiffer, Judith, Dr., Alexander von Humboldt-Professorin für Islamische Studien, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Reuschenbach, Julia, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn. Rohrschneider, Michael, Dr., Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Straßenberger, Grit, Dr., Professorin, Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 365
Autoren- und Herausgeberverzeichnis
Tokatlı, Mahir, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Vössing, Konrad, Dr., Professor für Alte Geschichte, Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn.
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