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German Pages [414]
Virgilio Masciadri
Eine Insel im Meer der Geschichten Untersuchungen zu Mythen aus Lemnos
Alte Geschichte Franz Steiner Verlag
Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge – 18
Virgilio Masciadri Eine Insel im Meer der Geschichten
POTSDAMER ALTERTUMSWISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE (PAwB) Herausgegeben von Pedro Barceló (Potsdam), Peter Riemer (Saarbrücken), Jörg Rüpke (Erfurt) und John Scheid (Paris) –––– Band 18
Virgilio Masciadri
Eine Insel im Meer der Geschichten Untersuchungen zu Mythen aus Lemnos
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2008
Gedruckt mit Unterstützung des Fonds für Altertumswissenschaft an der Universität Zürich Titelvignette: Karte von Lemnos nach G. F. A. de Choiseul-Gouffier, Voyage pittoresque de la Grèce, tome second, Paris 1809, pl. 14 (vgl. unten p. 15f).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-08818-3 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany
VORWORT Die Erstfassung dieser Untersuchungen habe ich im Winter 2001 der Section des Sciences Religieuses der École Pratique des Hautes Études (EPHE) in Paris als Thèse für das Diplôme post-doctoral vorgelegt; die Arbeit an dieser früheren Version wurde vorübergehend auch durch ein Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. Danach wurde der Text umgeschrieben, erweitert und im Wintersemester 2004/05 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich als Habilitationsschrift angenommen. In Vorträgen und Lehrveranstaltungen durfte ich einzelne Kapitel bereits vorstellen; sie liegen deshalb als separate Veröffentlichungen vor1. Für die Aufnahme in diesen Band wurden sie gründlich überarbeitet. Zudem führte ein Ortstermin auf Lemnos im Herbst 2005 zur präziseren Fassung einiger Abschnitte. Ich danke allen, welche die Entstehung dieses Buches mit Interesse begleitet und Teile oder das Ganze gelesen und kommentiert haben, besonders Katharina Waldner, Walter Burkert und George E. Dunkel (Zürich); weiter den Mitgliedern der Zürcher Habilitationskommission, namentlich Beat Näf, Christoph Riedweg und Peter Stotz; sodann meinen directeurs de thèse in Paris, John Scheid (EPHE, jetzt Collège de France) und Jesper Svenbro (CNRS) sowie den anderen Mitgliedern des jury de diplôme, Stella Georgoudi (EPHE), François Lissarrague (EHESS) und Philippe Borgeaud (Genf); schliesslich für Anregung und Ermutigung in einem wichtigen Moment den Teilnehmern des Kolloquiums ‚Myth & Symbol III’ vom September 2002 in Athen. Den Herausgebern der ‚Potsdamer altertumswissenschaftlichen Beiträge’, vor allem Jörg Rüpke (Erfurt), danke ich für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe, dem Zürcher ‚Fonds für Altertumswissenschaft’ für seinen Beitrag an die Druckkosten. Dass dennoch in einem solchen Buch Irrtümer, Widersprüche und Ungenauigkeiten stehen bleiben, ist unvermeidlich, und so freue ich mich über jeden der Sache förderlichen kritischen Hinweis. Zürich, im Juli 2007
1
Masciadri 2000-2001 (Resumé), 2002 (≈ 1.2) und 2004 (≈ 3.4).
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ............................................................................................................5 INHALTSVERZEICHNIS .....................................................................................7 ABKÜRZUNGEN ................................................................................................14 KARTEN ...............................................................................................................15 Karte 1: Die Nordägäis und die hellespontischen Inseln Karte 2: Lemnos
1.
STATT EINER EINFÜHRUNG: MELAMPUS UND DIE SPRACHE DER TIERE
1.1.
AUSZÜGE AUS EINEM LOGBUCH .....................................................17 Aufriss dieser Untersuchungen: Lemnische Mythologie – Hypsipyle und die Frauen von Lemnos – Hephaistos – Melampus und die Schlangen – Mythenforschung
1.2.
MELAMPUS UND DIE SPRACHE DER TIERE
1.2.1. Das sinnreiche Reptil .................................................................................19 Verbreitung des Motivs der Schlange im Mythos – Notwendigkeit der Einschränkung des Fragehorizonts – Beispiele: Kychreus von Salamis – Python – Polyidos und Gilgamesh
1.2.2. Le dénicheur de serpents ...........................................................................25 Die Sage von Melampus: zwei Varianten – Griechische Parallelen zur Erscheinung der Schlange am Altar – Aussergriechisches: Märchen und Sagen aus Nordeuropa – Schlangen und Vögel als Sprachsymbole
1.2.3. Plus ultra ....................................................................................................33 Exkurs: George W. Hensley und die Schlangenpraktiken der Heiligkeitskirche in Tennessee
2.
DER VERWUNDETE PHILOKTET
2.1.1. Iphiklos’ Neffe ..........................................................................................38 Philoktet: ein Name – Ein mythologisches Profil – Philoktet, Gregorius, Melampus: der rettende Aussenseiter
2.2.
EIN ZERBROCHENER SPIEGEL – DIE ÜBERLIEFERUNG
2.2.1. Dreimal Tragödie ......................................................................................43 Die Überlieferung zur Verwundung des Philoktet: die Tragiker
a) Sophokles ..............................................................................................44 b) Theodektes ............................................................................................46 c) Euripides ...............................................................................................47 Versuch einer Rekonstruktion
2.2.2. Spuren im Unterholz .................................................................................52 Hygin – Dictys Cretensis – Sophokles-Scholien
Inhaltsverzeichnis
8
2.2.3. Mythographischer Nachsommer ...............................................................55 Eine Sagenvariante im Vergilkommentar des Servius – Versuch einer philologiegeschichtlichen Rückführung: Donat, Aemilius Asper, C. Iulius Hyginus: augusteische Quellen?
2.2.4. Die Letzten und die Ersten ........................................................................61 Die Chrestomathie des Proklos – Homerscholien und Verwandtes – Die Epitome aus Apollodors Bibliothek
2.2.5. Gemalter Schmerz .....................................................................................63 Die bildliche Überlieferung der Sage: Gemmen – Vasenbilder – Der Silberbecher von Hoby – Etruskische Bronzespiegel
2.3.
ELFMAL PHILOKTET
2.3.1. Handschriften ............................................................................................65 Übersicht zu den im vorhergehenden Kapitel umrissenen Varianten – Darin vorkommende Schlangenarten – Schuld und Sühne – Versuch einer systematischen Ordnung
2.3.2. Von Schlangen und Mäusen a) Philoktet auf Tenedos ............................................................................71 Die Verwundung des Philoktet in den Kyprien – Der Tod des Tennes – Sophokles’ Syndeipnoi
b) Apollon Smintheus ................................................................................74 Der Gott in der Troas – Der Herr des Geziefers – Mäuse-Mythologie: Krinis, Sennacherib, die Teukrer – Mäuse und Schlangen
c) Dareios und die Skythen .......................................................................81 Eine Erzählung bei Herodot – Vogel, Maus, Frosch, Pfeile, Natter: zur Entzifferung eines Zeichensystems
2.3.3. Ein Literat ..................................................................................................84 Dictys Cretensis: Elemente der Erzählung – Philoktet, Palamedes und Ulixes – Die Philoktetepisode des Dictys: eine literarische Kombination aus Euripides, Homer und den Homerkommentaren?
2.3.4. Rückkehr der Tragiker ...............................................................................87 a) Euripides ................................................................................................88 Ein verborgener Altar, verborgene Gräber: Chryse, Dirke und Verwandtes – Die Nymphe Chryse
b) Und Aischylos? .....................................................................................93 Vermutungen zur Darstellung der Episode bei Aischylos – Die Vorlage für die Erweiterungen des Euripides?
c) Sophokles ..............................................................................................94 Zentrum und Peripherie – Das Motiv der Schuld – Eine attische Umdeutung
d) Theodektes ............................................................................................96 Hand und Fuss – Überblick über die tragischen Varianten
2.3.5. Hereinbrechende Ränder ...........................................................................99 Philoktet und Herakles – Besonderheiten des Hyginus – die verliebte Nymphe
2.3.6. Philoktets italienische Reise ....................................................................104 Die Sagenvariante bei Servius: Analyse der Erzählung – Die Fussverletzung durch einen fallenden Pfeil: Herakles und Pholos – Schlangen und Pfeile: eine überraschende Verwandlung – Motive aus Euripides und Sophokles: literarische Quellen? – Die Stadt Petelia – Kulturkontakt und Kreolisierung von Erzählmustern
Inhaltsverzeichnis
3.
DIE STADT DER FRAUEN
3.1.
VON FREMDEN LÄNDERN UND MENSCHEN
9
3.1.1. The isles of Greece, the isles of Greece! .................................................112 Mythos und Landschaft – Die Inseln, wo Philoktet verwundet wurde: Verzeichnis der Namen – Die hellespontischen Inseln – Imbros
3.1.2. Der Erdtaucher a) De Chryse insula .................................................................................117 Das Eiland Chryse: antike Nachrichten und moderne Vermutungen
b) Περὶ τῶν Νεῶν ...................................................................................119 Nea, Neai und Agios Evstratios
c) De generatione et corruptione insularum ............................................122 Das angebliche Auftauchen und Versinken von Inseln bei Lemnos – Herodot über Onomakritos und Lasos von Hermione – Die geologische Wirklichkeit – Werden und Vergehen von Inseln als mythisches Motiv – Die Homerphilologie als Sagendichterin
3.1.3. La segnano le carte antiche dei corsari ....................................................128 Lage und Gestalt der Insel Lemnos – Der lemnische Vulkan: ein Phantasiegebilde – Der Berg Mosychlos
3.1.4. Schatten von gestern ................................................................................135 Probleme der lemnischen Frühzeit – Darstellung der Insel bei Homer – Griechische Besiedlung seit mykenischer Zeit – Die Tyrrhener von Lemnos – Sprachgeschichte und Archäologie – Die beiden Poleis auf der Insel – Unsicherheiten und Zweifel
3.1.5. An heiliger Stätte Die Kulte auf Lemnos (unter Ausschluss der Kabirenmysterien)
a) Artemis, Athene, Hephaistos und Hermes, Herakles und Philoktet ...149 Archäologische und literarische Spuren – Höhenkulte auf Lemnos?
b) Die Grosse Göttin Lemnos ..................................................................152 Das Phantom der Grossen Muttergöttin – Die Göttin von Lemnos: Texte und Archäologie – Lemnos, Artemis, Bendis, Aphrodite: Heikle Verbindungen
3.2.
KURIOSE GESCHICHTEN
3.2.1. Eine Mythologie ......................................................................................160 Verhältnis der drei lemnischen Sagenkreise zueinander: Philoktet, Hypsipyle, Hephaistos – Deutungen in der bisherigen Forschung
3.3.
LEMNISCHES UNHEIL
3.3.1. Der Klassiker ...........................................................................................164 Die Überlieferung zur Mordnacht von Lemnos: Apollonios Rhodios
3.3.2. Spuren und Bruchstücke a) Epos und Lyrik ....................................................................................166 Die Quellen vor Apollonios: Homer, Simonides, Pindar – Erginos und der Agon bei der Ankunft der Argonauten auf Lemnos
b) Das attische Theater ............................................................................170 Aischylos, Sophokles, Aristophanes: Fragmente und nicht-apollonische Motive
c) Euripides ..............................................................................................174 Die ‚Hypsipyle’ des Euripides und die lemnischen Mythologie – Die Mordnacht in diesem Stück: eine Rekonstruktion – Argos und Lemnos: Mythologische Umkehrungen
10
Inhaltsverzeichnis
d) Geschichtsschreiber und Verwandtes .................................................179 Herodot – Kaukalos – Herodoros – Aklepiades von Tragilos – Myrsilos von Lesbos: der üble Geruch der Frauen von Lemnos – Quellen des Apollonios von Rhodos?
3.3.3. Echoräume a) Familienbande .....................................................................................182 Die Quellen nach Apollonios – Genealogie der lemnischen Könige – Die Euneiden – Athen und die Inseln
b) Das Parfum ..........................................................................................188 Nochmals zum üblen Geruch der Lemnierinnen – Lukianscholien – Nikolaos von Damaskos – Apollodor Bibliotheke – Hygin – Dion Chrysostomos – Mordnacht und dysodia: verschiedene Geschichten? – Sport auf Lemnos
c) Römische Erzähler ..............................................................................194 Ovid – Statius – Valerius Flaccus – Dessen abweichender Bericht von der Rettung des Thoas: archaischer Ritus oder literarische Erfindung? – Parallelen bei Euripides und in augusteischer Dichtung – Zeitgeschichtliche Anspielungen?
3.4.
HYPSIPYLE UND IHRE SCHWESTERN
3.4.1. Zweimal Hypsipyle .................................................................................201 Versuch einer Analyse der verschiedenen Fassungen – Zwei Basisvarianten
3.4.2. La belle dame sans merci ........................................................................206 Die Rolle der Aphrodite in der Geschichte – Die Rache der Aphrodite Hippolytos, Atalante, Myrrha, Psyche – Beziehungen zu Amazonen- und Adonismythen
3.4.3. Götter, Helden und Kisten .......................................................................211 Die Rettung des Thoas – Sozialer Sinn des Schwankens zwischen verschiedenen Varianten – Die Aussetzung in der schwimmenden Kiste: griechische Parallelen – Sargon von Akkad – Moses – Systematisierung der Sagenvarianten zur Mordnacht von Lemnos
3.4.4. Von Müttern und Sprachen .....................................................................218 Herodots Bericht über die pelasgische Vesper auf Lemnos – Beziehungen zur HypsipyleSage – Zusammenhang ihrer Entstehung mit der athenischen Eroberung der Insel – Hymenaios – Beziehungen zur Mythologie der Artemis von Brauron – Sagenchronologische Überlegungen: Moses, Sargon, Thoas und die orientalisierende Epoche
3.4.5. Die Töchter des Danaos ..........................................................................226 Die Danaidensage – Analogien und Unterschiede zu den Hypsipyle-Mythen – Telesilla und die Frauen von Argos
3.4.6. Vor Sonnenaufgang .................................................................................231 Eine hethitische Parallele: die Sage von Zalpuwa – Ihr Verhältnis zu den griechischen Erzählungen: Endogamie und Exogamie – Vermutungen über die Datierung dieser Sagen: die Danaiden und Hypsipyle spätbronzezeitlich, Thoas orientalisierend? – Zusammenfassender Versuch einer Sagenchronologie dieses Mythenkomplexes
3.5.
FRAUENLIEBE UND LEBEN
3.5.1. Lesarten ...................................................................................................239 Das Feuerfest von Lemnos: das Problem – Quellen zum Ritual – Spuren in der Darstellung des Mythos bei Apollonios Rhodios
Inhaltsverzeichnis
11
3.5.2. Folgerungen .............................................................................................248 Versuch einer Analyse der Belege – Chronologische Fragen: Ritus und Geschichte – Was wir über das Feuerfest wirklich wissen – Parallelen zum Mythos – Verhältnis zu ähnlichen Festen: Thesmophoria und Hybristika
3.5.3. Querlesen .................................................................................................254 Ein Erklärungsmuster: Mythos und Ritual – Einschränkungen zum Erklärungswert dieses Musters – Poseidonios über Mänaden in Gallien – Schwierigkeit bei der Unterscheidung von Mythos und Ritus – Der Primat des Narrativen
4.
DER HINKENDE GOTT
4.1
WER DEN WUCHT’GEN HAMMER SCHWINGT
4.1.1. Ein Fremder im eigenen Haus .................................................................259 Hephaistos: Das Bild des Gottes in der bisherigen Forschung – Ein Ausländer und Aussenseiter: Probleme der gängigen Klischees – Frühe Zeugnisse: Kulte, Namen, Mythen, Münzen – Überraschend breite Streuung des Materials – Mykenische Herkunft des Gottes?
4.1.2. Zwischen Himmel und Amboss ..............................................................269 Himmelssturz des Hephaistos, erste Variante: Darstellung in der Ilias – Spätere Überlieferungen – Beziehungen zu ähnlichen Sagen: Himmelssturz von Ate, Phrixos und Helle, Bellerophon, Ikaros, Phaethon – Vom Himmel fallende Götterbilder und andere Objekte – Der steinerne Himmel – Die Sage von Hephaistos: Muttersohn und Vatersohn
4.1.3. Alle Räder stehen still .............................................................................282 Himmelssturz des Hephaistos, zweite Variante: Homer, der homerische Apollonhymnos und der verlorene Hymnos auf Dionysos: Versuch einer Rekonstruktion – Darstellungen auf Vasenbildern – Umkehrungen und Parallelen: Vergleich der zwei Fassungen – Topographie und Sozialgeschichte: Hintergründe der beiden Varianten
4.2
DER HEILENDE GOTT
4.2.1. Lemnische Erde a) Aus dunklem Altertum ........................................................................294 Die heilkräftige Erde von Lemnos: Berichte der antiken Medizinschriftsteller über Gewinnung und Verwendung – Vermutungen über Anfang und Entwicklung des Brauchs
b) Licht aus der Neuzeit? .........................................................................299 Die lemnische Erde im Mittelalter: keine kontinuierliche Tradition – Neubelebung unter der Türkenherrschaft – Grabungsbräuche der Neuzeit – Artemis-Lemnos und Hephaistos
4.2.2. Der geheilte Philoktet ..............................................................................304 Vier Varianten zur Heilung des Philoktet: Dionysios von Samos und Quintus von Smyrna – Homerscholien, Dictys und Hygin – Philostrat – Die Lithika des Orpheus – Analyse dieser Varianten, ihr Verhältnis zu den lemnischen Überlieferungen: ausserordentliche Durchsichtigkeit ihrer Herkunft
4.3.
DIE KLEINEN LEUTE
4.3.1. Thrakisches Eisen ....................................................................................313 Überlieferungen über die sogenannten Sintier auf Lemnos: Homer, Hellanikos, spätere Autoren – Wirkliche Nachrichten und spätere Hypothesen – Sintier, Pelasger und Tyrrhe-
Inhaltsverzeichnis
12
ner: Unterscheidungen und Verwirrungen – Verhältnis der Lemnier zu den thrakischen Sintoi auf dem Festland – Thrakische Sprachreste in lemnischen Namen: Sintier, Erginos, Mosychlos? – Die Sintier keine Kult- sondern eine Volksgruppe
4.3.2. Vom Bösen Blick ....................................................................................327 Die Telchinen: Hauptquellen – Rhodos und Lemnos – Mythologische Parallelen: Spuren einer insularen Mythologie?
4.3.3. Die Nächte des Kabirions ........................................................................331 Die Zeugnisse zu den Kabiren auf Lemnos: literarische Quellen, Inschriften, Archäologisches – Mythologie und Kult: Versuch einer Synthese der Zeugnisse – Unklare Vorstellungen in der Forschung: der lemnische Kult ohne nachweisbare ekstatische Elemente, die Kabiren nicht zwergengestaltig – Kabiren, Sintier, Telchinen: Quervergleiche – Die Kabiren und die anderen Mythen von Lemnos – Lemnischer Festkalender
4.3.4. Die ungleichen Schwestern a) Samothrake ..........................................................................................344 Die Mysterien: Archäologie und literarische Quellen – Grosse Götter oder Kabiren? – Verhältnis des Kultes zu Lemnos – Seenot und heilige Ringe – Amazonen – Die homerische Mythologie: Elektra, Dardanos, das Palladion – Lemnische Analogien
b) Imbros .................................................................................................351 Kabiren, Hermes und Dionysos: Spuren einer Verwandtschaft?
5.
STATT EINES NACHWORTS: PROLEGOMENA ZU EINER WISSENSCHAFTLICHEN MYTHOLOGIE
5.1.1. Imagines maiorum ...................................................................................353 Zu einer Ideengeschichte der Mythenforschung seit dem 19. Jh. – Die historische Schule: der Mythos als Zeitspeicher – Die Vergleichende Mythologie: Mythos und Sprache – Ritualistische, psychologische und strukturale Ansätze – Schiefer Blick aller bisherigen Annäherungen an die mythischen Geschichten: die Leerstelle des Narrativen
5.1.2. Das mythologische Feld ..........................................................................363 Mythos nicht als Begriff sondern als Feld – Umfang und Grenzen dieses Feldes: Quellen, Epochen – Mythos und Historiographie – Mythenrezeption als Problem – Das System der Begriffe und Vorstellungen
5.1.3. Etwas über das Vergleichen ....................................................................369 Fragen zur vergleichenden Forschung – Ein syntaktisches Grundmuster der Narration – Mythologische Namen – Binäre Operatoren, Struktur und dialogisches Prinzip
6.
ANHANG
6.1.
REGISTER
6.1.1. Textnachweise der Mythenvarianten .......................................................378 6.1.2. Philologica a) Worterklärungen ..................................................................................379 b) Textstellen ...........................................................................................379
Inhaltsverzeichnis
6.2.
13
BIBLIOGRAPHIE
6.2.1. Editionen und Kommentare a) Inschriften ...........................................................................................380 b) Griechisch-römische Texte .................................................................381 c) Nicht-klassische Texte ........................................................................385 6.2.2. Nachschlagewerke und Handbücher a) Geographisches ...................................................................................386 b) Lexika und Enzyklopädien .................................................................386 c) Handbücher .........................................................................................387 6.2.3. Weitere Literatur .....................................................................................388
14
ABKÜRZUNGEN Jahreszahlen ohne besondere Kennzeichnung beziehen sich in der Regel auf die Periode vor Christus. Die Abkürzungen von antiken Autoren und Werken sowie von altertumswissenschaftlichen Zeitschriften, Nachschlagewerken und Handbüchern sind die üblichen. Monographien werden mit Autornamen und einem Titelstichwort, Artikel in Periodika und Sammelbänden mit Verfassernamen und Jahrgang angeführt. Vollständigere Angaben finden sich im bibliographischen Anhang (unten 6.2.1–3); einige allgemein bekannte Werke sind nicht einzeln nachgewiesen (ANET, EAA, LFE, LGPN, LIMC, NP, RE, RML u.ä.) Die nachfolgende Zusammenstellung erklärt bloss Abkürzungen von in der Altertumsforschung weniger zitierten Standardwerken, sowie ein paar für dieses Buch neu eingeführte: Burkert, GR Burkert, HN Chantraine EdM ELL Gantz, EGM Grimm, DS Grimm, KHM Gruppe, GMR HDA Head, HN NCHom RGG Risch, WbHom RlAss Robert, GH West, EFH
Burkert: Greek Religion Burkert: Homo necans Chantraine: Dictionnaire étymologique de la langue grecque Ranke, Enzyklopädie des Märchens Encyclopedia of language and linguistics Gantz: Early Greek myth Grimm: Deutsche Sagen Grimm: Kinder- und Hausmärchen Gruppe: Griechische Mythologie und Religionsgeschichte Hoffmann-Krayer: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens Head: Historia Numorum Morris/Powell: A new companion to Homer Betz: Religion in Geschichte und Gegenwart Risch: Wortbildung der homerischen Sprache Reallexikon der Assyriologie Robert: Griechische Heldensage West: The East face of Helikon
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KARTEN2
Karte 1: Die Nordägäis und die hellespontischen Inseln 2
Nach: Choiseul-Gouffier, Voyage 2, pl. 13/14 (vgl. unten 3.1.2.c). Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Zentralbibliothek Zürich.
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Karte 2: Lemnos
Karten
1. STATT EINER EINFÜHRUNG: MELAMPUS UND DIE SPRACHE DER TIERE 1.1. AUSZÜGE AUS EINEM LOGBUCH Die in diesem Buch vorgelegten Untersuchungen haben ihren Schwerpunkt in der Mythologie der nordägäischen Insel Lemnos. Allein sie vermögen diese weder zu erschöpfen, noch beschränken sie sich auf lemnische Erzählungen. Vielmehr umkreisen sie drei mit diesem Eiland verbundene Themen, von denen jedes einen anderen Zugang verlangt: Die Geschichte von Philoktets Verwundung, die Sage von Hypsipyle und den Frauen von Lemnos, sowie den Gott Hephaistos. Am bekanntesten ist die für das attische Drama so wichtige Geschichte, wie Philoktet von einer giftigen Schlange gebissen wurde. Ich beginne deshalb mit einer Bestandesaufnahme der einschlägigen Überlieferungen und versuche, diese jeweils bestimmten Mythenvarianten zuzuordnen. Dabei wird sich zeigen, wie sie sich unterscheiden, in einzelnen Punkten des Handlungsverlaufs so gut wie im Namen der Insel, wo sich der Unfall zuträgt, in der Gottheit, mit welcher dieser verknüpft ist, oder der Schlangenart. Diese Unterschiede zeichnen gleichsam die Achsen, denen entlang die Geschichte sich mit immer wieder anderen verbindet, und jede von ihnen bedürfte einer gesonderten Behandlung. Schon hier galt es, eine Auswahl zu treffen, doch habe ich versucht, gegenüber der bisherigen, oft etwas einseitigen Forschung eine grössere Breite von Aspekten zur Sprache zu bringen1. Als besonders wichtig erwies sich dabei die Bedeutung des Lokalen für das Verständnis der einzelnen Mythen. Wirft man indes diese Frage auf, so sieht man sich rasch vor einer Fülle von Problemen: Ein mythologisches Territorium hat zunächst seine wirkliche Seite, die Topographie, die archäologischen Fundstätten, Bevölkerung und Geschichte. Über dieser Wirklichkeit allerdings gibt es eine imaginäre Landschaft, welche wir in Dichtung, Sage und Bildkunst kennenlernen, und sobald man Wirkliches und Imaginäres zusammen betrachtet, wird man gewahr, wie hier alles mit unsichtbaren Fäden verwoben ist, wie die Geschichten einander antworten und wie sie ins Leben der Menschen hineinsprechen. Eine eingehendere Behandlung der Inseln, die in den Berichten über Philoktet eine Rolle spielen, sowohl was ihre wirklichen und geschichtlichen Seiten angeht als auch hinsichtlich der Vorstellungen, die sich bei den Griechen mit Inseln im Allgemeinen verbinden, habe ich deshalb an das Kapitel über die Sage vom Schlan1
Im Mittelpunkt standen bisher die Gottheiten (so bei Untersteiner, Eraclidi, 95–180 und Froning, Dithyrambos, 52–74) oder die Frage nach dem Ort der Verwundung, vgl. 3.1.1. Ausserdem verzichte ich auf eine Untersuchung der Überlieferungen zur Einholung des Philoktet nach Troia; dieser Aspekt der Sage ist im Zusammenhang mit den Tragödien von Eur. und Soph. ausführlich diskutiert worden, vgl. Avezzú, Ferimento und Müller, Beiträge, sowie Müller, Kommentar; weiteres unten 2.1.1.
18
1. Statt einer Einführung
genbiss angeschlossen. Eine gleichmässige Untersuchung aller Schauplätze war dabei leider nicht möglich: Von der Insel Tenedos etwa wird im Folgenden nicht die Rede sein, ich beschränke mich fast gänzlich auf Lemnos und seine nähere Umgebung. Dessen Mythen, besonders jener von Hypsipyle und der lemnischen Mordnacht oder die mit Hephaistos verbundenen Überlieferungen, haben den Ruf, merkwürdig, ja fremd in der griechischen Sagen- und Vorstellungswelt zu stehen. Meine Untersuchungen haben mich dazu geführt, dieses Bild zu hinterfragen, und es ist davon am Ende wenig übrig geblieben. Tatsächlich verdankt Lemnos seinen Ruf, wie ich zeigen werde, weniger ein paar Hinweisen in den antiken Quellen als einer Forschungstradition, die es immer wieder unter diesem Gesichtspunkt betrachtete. Dabei hat gerade die angebliche Marginalität der Insel oft ihren Reiz ausgemacht, und natürlich sagen solche ausgrenzenden Deutungen immer auch allerlei darüber, was man als griechisch anzusehen gewillt ist und was nicht. Hinsichtlich der methodischen Grundlagen meiner Untersuchungen wird jeder Leserin und jedem Leser wohl schon beim blossen Durchblättern dieses Buches klar, dass das Vorbild für die hier betriebene Art von Mythenforschung bei Claude Lévi-Strauss zu finden ist. Dies mag etwas Irritierendes haben. Dass die Schriften des grossen französischen Anthropologen heute in den Rang klassischer Literaturwerke des 20. Jahrhunderts aufgerückt sind, scheinen sie auch mit der Wirkungslosigkeit des Klassikers bezahlt zu haben2. Die theoretischen Voraussetzungen seiner Mythendeutung sind längst selber so sehr Gegenstand der kritischen Deutung, dass kaum jemand sie noch unbefragt als Schlüssel zum Verständnis von Überlieferungen anwenden wird. Der Zugang, den ich gewählt habe, stellt mithin einen Rückgriff dar, allein ich hoffe zu zeigen, inwiefern dieser sinnvoll ist und wie er zum Ausgangspunkt für Überlegungen werden kann, die den Horizont, der dieser Methode wie jeder anderen gezogen ist, in eine neue Richtung überschreiten. Es hat sich dennoch aufgedrängt, meinen lemnischen Untersuchungen einen Rahmen zu geben, der sie in einen grösseren Zusammenhang stellt. Diesem Zweck dienen sowohl das letzte Kapitel, wo die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen mythologischer Forschung wenigstens aufgeworfen wird, als auch die nachstehende Einführung, wo ich an einem Beispiel einige von den Problemen und Begriffen vorstellen möchte, die im Hauptteil meiner Arbeit öfter wiederkehren. Dass in dieser Einleitung teils reichlich kuriose Geschichten über Schlangen zur Sprache kommen, mag auf den ersten Blick erstaunen. Doch wird damit nicht nur ein Thema eingeführt, das für die Philoktetsage wichtig ist, ich kenne auch kaum eine andere Erzählung, an der sich so einfach zeigen liesse, wo der Angelpunkt aller Mythendeutung liegt, wie die Geschichte vom Seher Melampus Einführung wie Schlusskapitel verweisen auf Forschungsliteratur nur exempli gratia. Bei ersterer müsste sonst der komparatistische Zugang zu einer Aufblä2
Erschwerend kommt hinzu, dass – wie Wittenburg 2000 richtig hervorhebt – in der deutschsprachigen Altertumswissenschaft die Ansätze der von Lévi-Strauss ausgehenden französischen anthropologischen Schule der 70er- und 80er-Jahre lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen wurden.
1.2 Aus einem Logbuch
19
hung des Stoffes führen, die dem propädeutischen Zweck des Kapitels nicht angemessen ist, und was das zweite angeht, so weiss jeder, der sich je mit dem Thema beschäftigt hat, dass eine kritische Studie über Mythenforschung, wenn man sich nicht vorsieht, rasch zu einem eigenen dickleibigen Buch anschwillt. Und schliesslich rechne ich auch darauf, dass die Leserin oder der Leser es auch nicht ungerne sehen wird, wenn in einem Buch, das tief in die verwinkelten Archivgänge der philologischen Forschung hinabführt, wenigstens vor und hinter dem Haus ein Rasenstück angelegt wird, wo man sich die Beine vertreten kann. 1.2. MELAMPUS UND DIE SPRACHE DER TIERE 1.2.1. Das sinnreiche Reptil Liest man Mythen, Sagen oder Märchen, so stellt man rasch fest, dass es von allen Tierarten in erster Linie zwei sind, die in solchen volkstümlichen Erzählungen überall auf der Welt immer wieder auftauchen: die Schlangen und die Vögel. Auch in der Mythologie der Griechen, wo Erzählungen über Menschen das Übergewicht gegen Tiergeschichten haben, fehlt es nicht an kriechendem oder geflügeltem Personal. Versucht man, sich ein Bild von dessen Rolle und Bedeutung zu machen, so trifft man vor allem auf zwei Schwierigkeiten: nämlich die Sache aus einem zu engen oder sie aus einem zu weiten Blickwinkel zu betrachten. Bleiben wir beim Beispiel der Schlange3. Eine zu enge Perspektive wäre es hier, das Tier nur von der christlichen Tradition her zu betrachten: die Schlange, durch die Eva im Paradies verführt wurde, vom Baume der Erkenntnis zu naschen – wir kennen sie aus der Bibel so gut wie von unzähligen Gemälden und Abbildungen, wo wir sehen, wie Eva mit der Hand nach der Frucht greift, die das tückische Tier ihr weist4. Heute weniger bekannt ist das in der christlichen Bildkunst fest geprägte Gegenbild zu dieser Szene: In den Darstellungen der sogenannten unbefleckten Empfängnis erscheint die Gottesmutter Maria als Umkehrung der von der Schlange verführten Eva. Konsequenterweise nähert sie sich dem Reptil nicht mit der Hand, sondern zertritt es mit dem Fuss, wobei dieses, um den Zusammenhang klarzustellen, bisweilen noch den verhängnisvollen Apfel im
3
4
Ihre Allgegenwart konstatiert etwa Brunel, Mythes littéraires, 1272 [R. Boyer]. Zur Schlange im Kulturvergleich Egli, Schlangensymbol, Lurker, Adler, Mundkur, Cult; auch HDA 7 (1936) 1114–1195 s.v. Schlange [E. Hoffmann-Krayer]; nur zur Antike: RE 2 (1921) 494– 521 s.v. Schlange: I: Allgemeines [H. Gossen / R. Hartmann / A. Steier], 346–416, NP 11 (2001) 181–184 s.v. Schlange. II. Mythos und Religion [J. N. Bremmer], Küster, Schlange, Bodson, Zoia, 68–92, Sancassano, Serpente (vgl. Sancassano 1996/7), Kelhoffer, Miracle, Gilhus, Animals, 108–111; einzelnes auch bei Bodson 2003, 22f. Gen. 3.1–7; zur hinter dieser Geschichte stehenden engen Verbindung von Schlange und Unsterblichkeit unten p. 25, religionsgeschichtliche Deutungsversuche bei Joines 1975, Wallace, Narrative, 144, 155–157, 159–161. Zu grundsätzlichen Verständnisschwierigkeiten, welche die berühmte Passage bietet, etwa Stratton, Eden, 41–45; ausserdem Kelhoffer, Miracle, 388–390, Gilhus, Animals, 162f.
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1. Statt einer Einführung
Munde führt5. Die Schlange ist für die christliche Tradition somit der Teufel, der die Menschheit ins Unglück gestürzt hat, sie ist das unterweltliche, das dämonisch-böse Tier schlechthin. Dieser Grundzug bestimmt unser europäisches Bild des Reptils, und zwar so sehr, dass es uns erst auffällt, wenn wir mit dem vergleichenden Blick von aussen zurückkommen6. Der anderen Gefahr, das Thema zu weit zu fassen, erliegt man, wenn man die Bedeutung dieser Tierart schlechthin, in allen Zeiten und Kulturen verstehen will. Die Versuchung dazu ist beträchtlich, gerade wegen der grossen Verbreitung des Motivs. Möchte man indessen die Schlangen auf die Weise studieren, so schwirrt einem bald schon der Kopf, womit alles sie sich verknüpfen lassen: Der scheussliche Apophis droht zwar bei den Ägyptern allabendlich damit, die untergehende Sonne zu verschlingen, steht also, wie wir erwarten würden, auf der Seite der unterweltlichen Mächte7 – aber warum finden wir das Tier dann auf der Krone des ägyptischen Königs? Gefiederte Schlangen oder Regenbogenschlangen, wie etwa bei den Amazonasindianern, verweisen das vermeintlich erdhafte Reptil in luftige Höhen, ganz zu schweigen von Sagen über Wasserschlangen, die sie mit einem dritten Element zusammenbringen8. Und wider alle grausigen Kriechtiermonstren steht die Vorstellung der Römer, dass der Schutzgeist eines Hauses darin in Gestalt einer Schlange erscheine9. Diesen Glauben haben die Albaner bis in die Neuzeit bewahrt: eine treffliche Hausmutter konnte bei ihnen ehrfürchtig als ‚Hausschlange der Familie’ gepriesen werden, was für unsere Ohren doch eher befremdlich klingt10. Die Griechen schliesslich hielten nicht nur die Schlangenart Amphisbaina für eine Realität, die vorne und hinten einen Kopf hat, und von der man deshalb nie weiss, in welche Richtung sie als nächstes kriechen wird11, sondern waren auch der Meinung, unter den Vipern gebe es nur Männchen, und das Tier pflanze sich fort, indem es sich mit einem schlangenähnlichen Meerfisch, der Muräne, paart12.
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Der Bildgedanke beruht letztlich auf einer christlichen Projektion von Gen. 3.15. Zu dieser Bildtradition mit der Schlange: Kirschbaum, Lexikon 4, 75–81 s.v. Schlange [W. Kemp], insbesondere 79 zum sogenannten Immaculata-Typus. Ein Beispiel wie dieses Vorverständnis die Sicht auf mythische Überlieferungen einengen kann: Garbe 1979. Zum Gegensatz zwischen der früheren Vielfalt von Auffassungen der Schlange und ihrer Vereindeutigung im Christentum auch Brunel, Mythes littéraires, 233– 235 [A. Siganos]. Ein Versuch, nachzuzeichnen, wie es zu dieser Fixierung kam, bei Martinek, Schlange. Vgl. Martinek, Schlange, 45. Zur gefiederten Schlange Brunel, Mythes littéraires, 1280–1288 [D. Nouhaud], zu griechischen Vorstellungen von fliegenden Schlangen Hdt. 2.75f, 3.107–109. Dazu NP 11 (2001) s.v. Schlange. II. Mythos und Religion, 181 und 183 [J. N. Bremmer]; zur Schlange als Wächterin des Erechtheions in Athen auch unten 2.3.4.c. Zum albanischen Hausschlangen-Geist, der sogenannten Vitore: Lambertz, Mythologie, 506. Hekat. FGrHist 1 F 24, Aischyl. Ag. 1233, Aristoph. Frg. 457 u.a., vgl. RE 2.2. (1921) s.v. Schlange 523f [H. Gossen/A. Steier], Sancassano, Serpente, 166f. Opp. Hal. 1.554–579, vgl. Aristot. Hist. An. 1.5 [489b28–30], Ach. Tat. 1.18.3, Ael. Nat. Anim. 1.50, 9.66; angezweifelt wurde die Fabel schon von Ath. 7.312e, Schol. Nik. Ther. 826; Weiteres unten 2.3.1.
1.2 Melampus und die Sprache der Tiere
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Schon diese wenigen Beispiele dürften es klar machen: Sucht man eine universelle Bedeutung des Symbols Schlange, so gerät man in ein wildes Kuriositätenkabinett. Entsprechend blieben die bisherigen Versuche, das Reptil auf einen Begriff zu bringen, eher entmutigend: Schlangen stehen danach für den Ursprung der Welt, für kosmische Mächte, für Sexualität, für die grosse Muttergöttin, für Ahnen und Seelen, gute Schutzgeister und böse Dämonen, für Weisheit und Macht, für Wasser, Erde und Himmel, für Tod, Sünde und Unterwelt nicht weniger als für das Leben und die Unsterblichkeit13. Die Liste scheint beliebig, und ihr Beweiswert kann eigentlich nur negativ sein: Die Suche nach dem Sinn des Symbols Schlange gleicht derjenigen nach der Bedeutung des Buchstabens A. Wenn mythische Bilder sinnvoll sind, dann jedenfalls nicht, weil sie sich mit einer immer gleichen Bedeutung verbinden. Dennoch gibt es vielleicht einen Ausweg aus dieser Wirrnis, nämlich dass man versucht, nicht nach der Schlange als solcher zu fragen, sondern mit einer einzelnen, klar begrenzten Geschichte beginnt und von dieser ausgehend eine Reihe von Sagen untersucht, die ihr gleichen. So können wir sichtbar machen, wie sich das Symbol in einem bestimmten Kontext mit Sinn füllt. Nicht im Bild der Schlange selbst suche ich also den Schlüssel zu ihrem Verständnis, sondern im Zusammenhang der Erzählung, in dem sie jeweils auftaucht. Alle Aussagen, die im Folgenden über Schlangen gemacht werden, sind nur im Rahmen dieser Einschränkung gültig. Ich beginne mit einer Sage (M1), die so abseitig ist, dass ich hier in wenigen Zeilen praktisch das ganze Material vorstellen kann, das wir über sie kennen14: Im Golf von Athen liegt die Insel Salamis, wo es den Griechen in den Perserkriegen gelang, die feindliche Flotte in die Enge zu treiben und zu vernichten. Pausanias berichtet vom Tag jener Schlacht15: Damals sei auf den Schiffen eine Schlange erschienen, und das Orakel habe erklärt, diese sei der Heros Kychreus – offensichtlich ein Wunderzeichen, das auf den nachfolgenden Kampf vorausdeutete. Jedermann kannte in jener Zeit die Szene aus dem zweiten Gesang der Ilias, wo das Heer der Achaier die Schiffe nach Troia besteigen will und eine Riesenschlange erscheint, die der Seher Kalchas als Vorzeichen für den Krieg deutet16. Nach diesem Muster wird, wie es scheint, auch der Vorfall vor der Schlacht von Salamis erzählt.
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Die Aufzählung weitgehend nach Eliade, Encyclopedia 13 (1987) 370–374 s.v. Snakes [M. Lurker]; vgl. Chevalier/Gheerbrandt, Dictionnaire, 867–879. Vgl. RML 2 (1890–94) 1672f s.v. Kychreus [H. W. Stoll], RE 11 (1921–22) 2301f s.v. Kychreus [S. Eitrem]; Zur Deutung der Geschichte auch Marx, Märchen, 112 mit n. 3, Küster, Schlange, 100, 146f, Van Groningen, Euphorion, 92f, Kearns, Heroes, 180. Paus. 1.36.1. Vgl. unten p. 29. Die Passage spielt für die Ausformung ähnlicher Szenen in der Tradition eine Schlüsselrolle; vielleicht der deutlichste Beleg dafür ist, wie Cic. Div. 1.72/2.63–65 seine eigene Begegnung mit einem Schlangenvorzeichen berichtet, gerade nachdem er voraufgehend diese Passage der Ilias übersetzt und besprochen hat (vgl. auch Val. Max. 1.6.4). Eher als Erscheinung des Genius loci versucht Kearns, Heroes, 53 n. 38 unter Verweis auf das Schlangenwunder des Sosipolis in Elis (Paus. 6.20.4f) den Vorfall zu deuten.
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1. Statt einer Einführung
Die Gestalt jenes Heros Kychreus verbindet sich nun mit jener Art von Urkönigen, die es in Griechenland vielerorts gab. Sie waren nicht nur Gestalten der Sage, sondern hatten Altäre, wo man ihnen opferte und Feste feierte17. Ebensowenig einmalig ist, dass man sich Kychreus als Schlange denkt: Auch die Stadt Athen stellte ihren Urkönig Kekrops als Mischwesen dar, halb Mensch, halb Schlange, und was der grossen Stadt recht war, mochte der kleinen Nachbarinsel nur billig sein18. Über den Urkönig von Salamis gibt es noch andere Geschichten: Auf der Insel soll eine üble Schlange gelebt haben, und Kychreus machte das Land erst bewohnbar, indem er sie tötete19. Allerdings wird die Sache auch umgekehrt erzählt: Kychreus selbst soll die Schlange grossgezogen haben, und es war ein zweiter König, der sie vertrieb. Sie ging deshalb hinüber aufs Festland und wurde Tempeldienerin im Heiligtum der eleusinischen Demeter20. Nach einer dritten Variante erwarb sich Kychreus selbst durch seine rauhen Sitten den Namen ‚die Schlange’, und jener andere König vertrieb ihn und zwang ihn zur Übersiedlung nach Eleusis21. In diesen bruchstückhaften Andeutungen finden wir überraschend genug nicht wenig von jener Komplexität der Bedeutungen wieder, welche auch die grossen vergleichenden Studien zutage gefördert haben: Die Schlange steht am Ursprung, hat zu tun mit der Macht des Königs, verkündet die Zukunft und ist je nachdem ein Monster oder eine fromme Tempeldienerin. Doch was in der wissenschaftlichen Materialsammlung unverbunden nebeneinander steht, rückt in den Mythen in einen sinnvollen Erzählzusammenhang. So wird die Insel Salamis erst bewohnbar, indem eine gefährliche Schlange von ihr entfernt wird. Das ist zunächst nichts Ungewöhnliches: Auf Rhodos etwa soll es von Giftschlangen gewimmelt haben, bis ein Wundermann aus Thessalien
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Altäre für Kychreus bei Plut. Thes. 10.3 (Athen) und Sol. 9.1 (Salamis); an letzterem soll Solon geopfert haben, um die Insel für Athen zu gewinnen, vgl. Kearns, Heroes, 46f. Zu Kychreus als Urkönig auch Schol. Lyk. Alex. 451 mit Euph. Frg. 30 Powell (über diese schwierige Stelle Van Groningen, Euphorion, 91f). Eine Erhebung auf der Insel hiess Kychreus-Hügel (Soph. Frg. 579 = Steph. Byz. s.v. Κυχρεῖος πάγος) und Salamis selbst konnte auch einfach Insel des Kychreus genannt werden (Aischyl. Pers. 570, Strab. 9.1.9, ferner Lyk. Alex. 451). Zu Kekrops LIMC 6 (1992) 1084–1091 s.v. Kekrops [I. Kasper-Butz/I. Krauskopf/B. Knittlmayer] und zum Vergleich mit Kychreus besonders L’Homme-Wéry 2000, 338f, Gourmelen, Kékrops, 401–403. Die Analogie hat schon Frazer, Bough III, 86f für seine Deutung verwertet, vgl. auch NP 11 (2001) s.v. Schlange. II. Mythos und Religion, 182 [J. N. Bremmer]. Möglicherweise hängt die Ausbildung dieser mythologischen Bezüge mit der Rivalität zwischen Athen und Megara um die Herrschaft über Salamis im 6. Jh. zusammen, vgl. Shapiro, Art, 154–157. Diod. 4.72.4, Apollod. 3.12.7, Tzetz. Scholl. Lyk. Alex. 110 und 451. Hes. Frg. 226 = Strab. 9.1.9. Die Stelle belegt, dass die Geschichte von Kychreus bereits der hesiodeischen Katalogdichtung angehört hat, vgl. West, Catalogue, 103, 164, 170. Steph. Byz. s.v. Κυχρεῖος πάγος, Eusth. Dion. Periheg. 506f; von einem König Ophis (d.h. Schlange) ist die Rede bei Et.M. s.v. Σαλαµίς.
1.2 Melampus und die Sprache der Tiere
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kam, der sie zu vertreiben wusste22. Kychreus ist sodann derjenige, der die Schlange entweder tötet oder sie aufzieht, ihr Erhalter oder Vernichter. Dass die Motive zwischen den Varianten einer Geschichte in dieser Weise umgekehrt werden, ist bei Mythen und Märchen nichts Seltenes. Das Wichtigste an solchen Umkehrungen ist, dass durch sie eine Spiegelachse festgelegt wird, der wir folgen können, um den Zusammenhang der Sagen zu verstehen. Ähnliches wird uns im Verlauf dieser Untersuchungen auf Schritt und Tritt begegnen. Ist Kychreus schliesslich selbst die Schlange, so wird er nicht getötet, sondern verlässt bloss die Insel. Indem er aufs Festland übergeht oder aus einem lebenden König zu einem toten Heros wird, kehrt sich auch sein Charakter um: vom landverwüstenden Schlangenmonster zum Hüter des Tempels, oder zum verheissungsvoll sprechenden Vorzeichen für den Sieg. Hier findet also innerhalb der Geschichte selbst eine Umkehrung statt, die an den Übergang des Motivs über eine Grenze geknüpft scheint. Noch verschwommen erkennen wir hier die Umrisse eines Systems von Vorstellungen, das ich in ein paar weiteren Geschichten nachzeichnen möchte. Die eine (M2) gehört zu einem Mythos, der so berühmt war, dass ich ihn hier nur in groben Umrissen darstellen kann, und führt uns zum Orakel des Apollon von Delphoi. Der Gott hat in diesem bekanntlich durch doppelte Vermittlung gesprochen: zunächst durch sein eigentliches Medium, die Pythia. Sie sass im Allerheiligsten des Tempels auf einem Dreifuss (einem Bronzebecken mit drei Füssen, um es über das Feuer zu stellen). Dort sang oder schrie sie ihre Prophezeiungen in einer unverständlichen, heiligen Sprache, die erst von den Priestern in griechische Verse, die eigentlichen Orakelsprüche, umgesetzt wurde23. Über die Gründung dieses Heiligtums gab es mehrere Geschichten. Nach der bekanntesten gehörte die Orakelstätte ursprünglich einer gewaltigen Schlange, dem Python, einem Sohn der Erdgöttin, welcher wusste, dass er von den Kindern der Göttin Leto getötet werden würde. Als diese Apollon und Artemis gebar, verfolgte er sie deshalb, um sie zu umzubringen; Apollon aber erschoss die Schlange mit seinen Pfeilen und wurde damit selber zum Herrn von Delphoi24. Auf einer Goldmünze der italischen Griechenstadt Kroton, welche diese Geschichte darstellt, steht zwischen dem Gott und der Schlange übergross der heilige Dreifuss25 – kaum zufällig: Das Becken, worauf die Pythia sass, war verdeckt, und niemand
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So Diod. 5.58.4f; allgemeinere Färbung erhält das Motiv, wenn Herakles zuerst die Insel Kreta von schädlichen Tieren (Bären, Wölfen, Schlangen) säubert und danach ebenso Libyen (Diod. 4.17.3f). Vgl. NP 10 (2001) 663–665 s.v. Pythia [1] [J. Scherf], Burkert, HN 133–147, GR 115f mit n. 65, Schnurr-Redford 2000, ausserdem Mazzoldi 2002, 151f; im Einzelnen ist vieles umstritten, vgl. unten n. 68. Hymn. Hom. Ap. 300–304, Eur. Iph. Taur. 1239–1258, Apollod. 1.4.1, Hyg. Fab. 140.1f u.a., vgl. LIMC 2 (1984) s.v. Apollon IIIA 301–303 (Nrr. 986–1002) [W. Lambrinudakis], LIMC 7 (1994) 609f s.v. Python [L. Kahil], Gantz, EGM 88f, Suárez de la Torre 2002, 156–160. Vgl. LIMC 2 (1984) s.v. Apollon IIIA, 303 (Nr. 1000: um 420–380 v. Chr.; ähnlich Nrr. 998f) [W. Lambrinudakis].
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hat je hineingeschaut. Aber man erzählte, dass Apollon darin die Zähne und Knochen des getöteten Python verschlossen habe26. Wie auf Salamis wird hier eine Stätte erst betretbar, indem ein urtümliches Schlangenmonster getötet wird, und der Gott, der es tut, steht im Mittelpunkt des lokalen Kultes. Mehr noch: Auch die Kychreus-Schlange fand ja besiegt in Eleusis in einem Tempel Aufnahme, und wenn der Heros vor der Schlacht als Schlange erscheint, so ist er ein Vorzeichen, eine Art Orakel – so wie Python seine letzte Ruhestätte dort findet, wo die Sprüche der Pythia erteilt werden. Bevor ich weitere Geschichten einführe muss ich vielleicht sagen, warum es so ungewöhnlich ist, eine Schlange zu töten: Die Frage ist nämlich, ob Schlangen überhaupt sterblich sind. Denn sie ziehen, wenn sie alt geworden sind, einfach ihre bisherige Haut aus und sind wieder jung und frisch. Die Griechen nannten die ausgezogene Schlangenhaut deshalb mit demselben Wort wie das Alter, geras, und ein Dichter konnte schon einmal in einer gewagten Umschreibung statt Schlange ein Wort wie der Altersauszieher setzen27. Dazu passt eine Geschichte (M3), welche die Griechen als Mythos aus Kreta erzählten28: Glaukos, der Sohn des Königs Minos, fiel, als er einer Maus nachjagte, in einen grossen Vorratstopf mit Honig und ertrank. Als das Kind verschwunden war, liess Minos den Seher Polyidos nach ihm suchen, und nachdem dieser ihn gefunden hatte, schloss der König ihn mit dem Leichnam ein, wobei er ihm befahl, den Knaben wieder zum Leben zu erwecken. Bei dem Toten alleingelassen, sah Polyidos eine Schlange, die auf den Leichnam zukroch, und tötete sie mit einem Steinwurf. Etwas später kam eine zweite Schlange, zog sich aber zurück, als sie ihre tote Artgenossin sah. Nach kurzem kehrte sie wieder, und zwar mit einem Kraut, das sie über dem Körper der toten Schlange ausbreitete, worauf diese sogleich von neuem lebendig wurde. Polyidos nahm das Kraut, legte es auf den toten Glaukos, und auch dieser erwachte wieder zum Leben. Ähnliche Erzählungen, nach denen die Schlangen ein wunderbares Kraut kennen, womit man Tote erwecken kann, kennt man aus vielen Märchen der Neu-
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Hyg. Fab. 140.5; vgl. ausserdem Serv. Verg. Aen. 3.360 [SD], Eusth. Dion. Periheg. 441, Lukian. Astr. 23 u.a. ἐκδυγήρας Dosiad. AP 15.26.14, vgl. 2.2.1; zu γῆρας als Schlangenhaut: Aristot. Hist. An. 5.17 [549b26], Nik. Ther. 31 u.a.; bei Plin. erscheint senecta/senectus ebenso gebraucht (wahrscheinlich als Lehnübersetzung, vgl. das Theophr.-Zitat Plin. Nat. 8.(49).111 u.ö.). Scheid/Svenbro, Métier, 10f n. 9 zitieren diesen Gebrauch als Beleg für den linguistischen Charakter der mythischen Ideenverkettung, vielleicht nicht besonders glücklich, weil in diesem Fall die Verbindung offenkundig eher über die Bildvorstellung läuft als über das Sprachliche. Ausdrücklich für unsterblich erklärt wird die Schlange bei Phil. Bybl. FGrHist 790 F 4 (= Eus. Praep. Ev. 1.10.46–53), vgl. Macr. Sat. 1.20.2, Physiol. 11, auch HDA 7 (1936) s.v. Schlange 1121 [E. Hoffmann-Krayer]. Das Folgende nach Apollod. 3.3.1; vgl. Palaeph. 26, Hyg. Fab. 136, Tzetz. Lyk. Alex. 811, Apostol. 5.48, vgl. LIMC 4 (1988) 273f s.v. Glaukos II [O. Palagia], LIMC 6 (Suppl. 1997) 1010f s.v. Polyidos [K. Zimmermann], Gantz, EGM 270f; dargestellt war die Sage in Soph. Manteis/Polyidos (vgl. bes. Soph. Frg. 399) und Eur. Polyidos. Bei Hyg. Astr. 2.14 tritt der Heilgott Asklepios an die Stelle des Polyidos; vgl. Deonna 1956, 14f, Hansen, Thread, 464.
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zeit29. Doch die Vorstellung, dass die Schlange die Herrin des ewigen Lebens sei, lässt sich weit hinter den griechischen Mythos zurückverfolgen. In einer babylonischen Geschichte heisst es etwa, der Held Gilgamesch hätte das wunderbare Kraut gefunden, durch das der alt gewordene Mensch wieder jung wird; aber auf dem Heimweg zu seinem Volk liess er das Kraut liegen, während er in einem Brunnen badete, und unterdessen kam die Schlange und frass es. Deshalb können die Schlangen sich stets erneuern, während die Menschen sterben müssen30. Wie in der hebräischen Bibel ist auch hier die Schlange schuld an der menschlichen Hinfälligkeit. In der Polyidos-Geschichte haben die Griechen hingegen die Motive umgedeutet, indem nicht die Schlange den unachtsamen Menschen die Unsterblichkeit entreisst, sondern der schlaue Mensch die Schlange aushorcht und von ihr das Geheimnis der Wiedererweckung lernt – auch hier liegt also die exakte Umkehrung eines Erzählmodells vor. 1.2.2. Le dénicheur de serpents Nach dieser Vorbereitung will ich nun eine der seltsamsten Schlangengeschichten aus dem alten Griechenland einführen, welche diesen Motiven eine neue Wendung gibt. Ihre Hauptfigur ist der Seher Melampus, eine Art Wunderheiler oder Medizinmann. Man erzählte unter anderem, wie er seinem Bruder Bias um Pero werben half, die Tochter des Neleus. Dieser hatte nämlich geschworen, das Mädchen nur einem Manne zur Frau zu geben, dem es gelang, die von einem wunderbaren Hund bewachten Rinder des Iphiklos zu stehlen. Melampus versuchte dies, wurde jedoch – wie er selber richtig voraussah – erwischt und in den Kerker gesteckt. Weil er die Gespräche der Holzwürmer in den Balken seines Gefängnisses verstand, gelang es ihm, vor dessen Einsturz zu warnen und sich so bei Phylakos, dem Vater des Iphiklos, Ansehen als Wahrsager zu verschaffen. Dieser liess ihn frei und befragte ihn, weshalb sein Sohn Iphiklos keine Kinder zeugen könne. Da lockte Melampus mit einem Opfer die Vögel herbei und erfuhr von ihnen die Ursache des Übels und das Mittel zur Heilung: ein in die Rinde eines Baums eingewachsenes blutiges Messer, mit dem der Vater einst den kleinen Iphiklos
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Bekanntestes Beispiel ist Grimm, KHM 16: Die drei Schlangenblätter; im neugriechischen Volksmärchen: Kretschmer, Märchen, 5 (= Kretschmer, Dialektstudien, 476); vgl. Frazer, Apollodorus II, 363–370. Gilgamesch-Epos XI.271–299; vgl. Joines 1975, 1–3, Martinek, Schlange, 40f, auch Wallace, Eden, 159f. Fast genau die gleiche Geschichte wurde auch in Griechenland erzählt, bloss dass man hier die Schuld dem Esel gab, vgl. Nik. Ther. 343–358, Ael. Nat. Anim. 6.51, Schol. Nik. Ther. 343–354; diese Fassung stand angeblich schon bei Ibyk. Frg. 342 Page (vielleicht mit Frg. 313, vgl. Davies 1987, 72f), ausserdem im Satyrspiel Kophoi (Die Stummen) des Soph. vgl. Krumeich/Pechstein/Seidensticker, Satyrspiel, 349–355. Zum Ganzen auch Deonna 1956, 15–20, und 8–10, wo er Parallelen aus dem Erzählgut der verschiedensten Völker für diese Verbindung der Schlange mit dem Ursprung der menschlichen Sterblichkeit beibringt, ebenso Davies 1987, 66–69. Eine direkte Entlehnung eines orientalischen Märchens ist in diesem Fall nicht auszuschliessen, vgl. Burkert, Epoche, 113f, West EFH, 118.
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erschreckt hatte und dessen Rost der junge Mann trinken musste, um wieder gesund zu werden31. Drei Weissagungen des Melampus berichtet diese Geschichte. Zwei davon gelingen ihm, weil er die Sprache der Tiere versteht. Darüber, wie er diese Kenntnis erworben hat, gibt es ebenfalls eine Geschichte, die in zwei Varianten überliefert ist32. Die erste lautet wie folgt: M4a33 Amythaon wohnte nun also in Pylos und heiratete Eidomene, die Tochter des Pheres, und als Söhne hatte er Bias und Melampus. Letzterer wohnte auf dem Land und vor seinem Haus stand eine Eiche, in der sich ein Nest von Schlangen befand. Als nun die Diener diese Schlangen töteten, trug er Holz zusammen und verbrannte die Kriechtiere, doch die Jungen der Schlangen zog er auf. Als sie herangewachsen waren, stellten sie sich ihm auf beide Seiten der Schultern, während er schlief, und reinigten sein Gehör mit der Zunge. Er wachte auf und erschrak, und da verstand er auf einmal die Stimmen der Vögel, die über ihn hinwegflogen, und sagte den Menschen die Zukunft voraus, die er von diesen erfuhr. Zusätzlich erhielt er die Kunst der Weissagung durch Opfer verliehen, und nachdem er am Alpheios eine Begegnung mit Apollon hatte, war er hinfort der allerbeste Seher.
Dieser Text stammt aus dem mythologischen Handbuch mit dem Titel Bibliotheke, das man vielleicht im 2. Jh. n. Chr. verfasst und unter den Namen des grossen hellenistischen Philologen Apollodoros von Athen gestellt hat34, doch die Geschichte selbst ist sicher einiges älter35: Anspielungen auf die Rinder des 31 32
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So Apollod. 1.9.11–13, vgl. Pherekyd. FGrHist 3 F 33 = Schol. Hom. Od. 11.289, auch Schol. Theokr. 3.43–45a–e; kürzere Anspielungen bei Apoll. Rhod. 1.120f, Prop. 2.3.51–54. Das Material zu Melampus und seinen Geschichten zuerst ausführlich gesammelt bei Eckermann, Melampus, 1–40, dann RML 2 (1894–97) 2567–2573 s.v. Melampus I [O. Wolff], RE 15 (1932) 392–399 s.v. Melampus 1) [J. Pley] (allerdings mit etlichen Fehlern), LIMC 6 (1992) 405–410 s.v. Melampous [E. Simon], Jost 1992, Gantz, EGM 185–188, 312f; Interpretationen bei Friedländer, Argolica, 44–49, Parke, Oracles, 165–176, Dowden, Death, 97–115, Suárez de la Torre 1992, Borgeaud 1999, Harrauer 1999, Hansen, Thread, 462–469, Pellizer 2002; insbesondere zur Heilung des Iphiklos auch Preiser 2001, 283f. M4a = Apollod. 1.9.11f. Die Fragen von Autorschaft und Datum sind noch nicht befriedigend geklärt. Vorläufig vgl. Carrière/Massonie, Bibliothèque, 7–12. Die bei Scarpi/Ciani, Apollodoro, x–xiii erwogene Vorstellung, dass der Text schon auf das Christentum reagiere, projiziert eine falsche historische Finalität in den Text. Die Bibliotheke gehört in die Geschichte der antiken Lehr- und Handbücher, nicht in die der Apologetik. Einen Kult für Melampus gab es in Aigosthenai in der Nähe von Megara: literarisch (Paus. 1.44.5) und inschriftlich bezeugt sind ein Heiligtum des Melampus, das Melampodeion (IG VII.207.15, 208.24f, 223.20f) und ein Fest Melampodeia (IG VII.223.22, vgl. 219.4), dazu kommen Namen wie Melampodoros (IG VII.216.6–9) und Melampodora (IG VII.232.1), vgl. RML 2 (1894–97) s.v. Melampus I, 2571–2573 [O. Wolff], RE 15 (1932) s.v. Melampus 1), 393 [J. Pley], Nilsson, Feste, 460f, Löffler, Melampodie, 31, Musti/Beschi, Pausania I, 439f, Antonetti/Lévêque 1990, 200–205. Eine gewisse Schwierigkeit stellt es dar, dass wir in den Mythen über Melampus keinen namentlichen Hinweis auf diesen Ort finden. Immerhin hat aber mit Dieuchidas von Megara ein Historiker aus der Gegend offenbar die Kindheitsgeschichte des Sehers erzählt (Dieuchid. FGrHist 485 F 9 = Schol. Apoll. Rhod. 1.118–21d), vgl. Wilamowitz, Isyllos, 177f n. 33; weiteres bei Antonetti/Lévêque 1990, 204f, ausserdem Head, HN 392f. Zu Spuren von Melampus-Kult in Arkadien Jost 1992, 182.
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Iphiklos finden sich schon in der Odyssee36; dieses Stück der Sage war also sicher schon im 7. Jh. bekannt. Auch in Werken aus jener Masse griechischer Ependichtung, die später unter dem Namen des Hesiod umlief, wurde es offenbar erzählt: etwa in den sogenannten Frauenkatalogen, den Ehoiai, und selbst von einer eigentlichen Melampodeia sind uns ein paar Fragmente überliefert37. In diesen sind Iphiklos und Phylakos genannt38, und einen Vers, in dem der Qualm von Pech und Zedernholz erwähnt ist, möchte man gern auf das Ausräuchern des Schlangennestes beziehen39. So darf man wohl die Geschichte von den Schlangen im Baum ebenfalls auf diese Melampodeia zurückführen, die spätestens im 6. Jh. entstanden sein dürfte. Auch die zweite Variante der Geschichte stammt nach Angabe unserer Quellen aus diesen hesiodeischen Dichtungen, nämlich aus einem Werk, das vielleicht eine erweiterte Fassung der Frauenkataloge war, jedenfalls den Namen die Grossen Ehoien trug: M4b40 In den grossen Ehoien heisst es, dass also Melampus, der dem Apollon besonders lieb war, ausser Landes ging und bei Polyphantes41 einkehrte. Als er nun ein Rind opferte, kroch eine Schlange herauf zu dem Opfer, und die Diener des Königs töteten sie. Weil der König darüber zornig wurde, nahm sie Melampus und begrub sie. Ihre Jungen aber, die er aufgezogen hatte, leckten ihm die Ohren aus und hauchten ihm die Seherkunst ein.
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Hom. Od. 11.287–297, 15.225–242. Ehoiai: Hes. Frg. 37; Melampodeia: Hes. Frgg. 270–279, vgl. Löffler, Melampodie, bes. 31– 40, Huxley, Poetry, 54–59; zu Melampus in den Hes.-Frgg. allgemein Schwartz, PseudoHesiodeia, 210–228, 357–361, 543–547. Hes. Frg. 272. Hes. Frg. 270; zur Deutung Morel 1928, 348f n. 5, Löffler, Melampodie, 32f. Eine andere in der Melampodie ebenfalls erzählte Schlangengeschichte war die bekannte von Teiresias, vgl. Hes. Frg. 275. M4b = Hes. Frg. 261 (= Schol. Apoll. Rhod. 1.118–21); zu den Grossen Ehoien vgl. West, Catalogue, 3f, Hirschberger, Katalogos, 81–86. Bei einer Reihe von Nebenquellen bleibt unklar, welcher Fassung sie zugehören, weil der Bericht erst einsetzt, als die Schlangen dem Seher die Ohren auslecken, vgl. Plin. Nat. 10.(70).137, Porphyr. Abst. 3.3.6, 3.4.1, Schol. Hom. Od. 11.290 = Eusth. ad loc. [1685.24f], auch Lukian. Pr. Im. 20; nur Schol. Pind. Pyth. 8.66c ergänzt das Detail, „zwei Schlangen hätten dem Melampus die Ohren durchgeleckt und sie quer zueinander durchbohrt“. Das ‚Reinigen’ der Ohren als Voraussetzung für das Verstehen der Vogelsprache auch Apollod. 3.6.7 bei Teiresias, nur ist es dort die Göttin Athene, die es vollzieht. Üblich ist, nach einem Vorschlag von Wilamowitz, hier statt dem überlieferten Πολυφάντῃ ein Πολυφόντῃ zu konjizieren (vgl. Hofinger, Lexicon, 552 s.v. Πολυφόντης) und anzunehmen, es handle sich um den messenischen König Polyphontes (über diesen RE 21 (1952) 1824 s.v. Polyphontes 5) [K. Schaefer]); immerhin liegt die Heimat des Melampus vielleicht nicht weit von Messenien entfernt (wenn man annimmt, er werde mit dem messenischen Pylos verbunden, vgl. Jost 1992, 174f, Suárez de la Torre 1992, 4 n. 8, anders Dowden, Death, 100f). Allerdings wissen wir sonst nichts über Polyphontes, was ihn mit Melampus in Zusammenhang bringen würde, und so bleiben derartige Verbesserungen willkürlich.
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1. Statt einer Einführung
Das gemeinsame Grundmuster beider Varianten ist deutlich42: Melampus begegnet einer Gruppe von alten und jungen Schlangen; die alten werden getötet, die jungen zieht er auf; zum Lohn lecken sie ihm die Ohren aus und er versteht fortan die Sprache der Tiere. Dies letztere Motiv, findet sich ähnlich noch in anderen Sagen über berühmte Seher der mythischen Zeit, etwa bei den Troianern Kassandra und Helenos: Als kleine Kinder wurden diese nach einem Fest des Nachts von ihren Eltern allein im Tempel des Apollon zurückgelassen; als sie am Morgen zurückkamen waren zwei Schlangen bei den Kindern, welche ihnen die Ohren ausleckten, ihnen aber nichts zuleide taten43. Eine entsprechende Geschichte erzählte man über Iamos, den mythischen Ahnherrn des aus Elis stammenden Sehergeschlechts der Iamiden44. Doch daneben fallen vor allem die Unterschiede zwischen den Varianten auf. Zum Teil erhellen sie sich gegenseitig: Wenn der Seher in M4a Holz zusammenträgt und die Kriechtiere verbrennt, so zeigt uns M4b, dass er für sie einen Scheiterhaufen errichtet und ein richtiges Begräbnis veranstaltet, so wie in den Gedichten Homers die toten Helden verbrannt werden45. Ausserdem heisst es in M4a, dass Melampus auf dem Land gewohnt habe, und in M4b geht er ausser Landes. In beiden Erzählungen entfernt er sich so vom Mittelpunkt der Gemeinde – vielleicht deutet das an, dass er seine Kunst in einem Status erwirbt, der ihn an die Ränder der Gesellschaft führt. Dazu kommt, dass beide Fassungen auf die besondere Nähe des Sehers zu Apollon hinweisen, die erste sogar mit einer merkwürdigen Verdoppelung des Erwerbs der Sehergabe, für die sie auf das Motiv der Weihe im Fluss zurückgreift46. Soweit scheinen sich also die beiden Geschichten in sinnvoller und durchsichtiger Weise zu entsprechen. 42
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Friedländer, Argolica, 46f versuchte sogar, eine direkte gemeinsame Quelle von Melampodie und Grossen Ehoien zu bestimmen. So einfach wird man die Dinge heute nicht mehr sehen wollen; vgl. auch Söder, Quellenuntersuchungen, 124–127. Zu Kassandra und Helenos Anticl. FGrHist 140 F 17 = Schol Hom. Il. 7.44; vgl. Eusth. Hom. Il. 7.44f [663.40–44], Tzetz. Lyk. Alex. 5.17–31 Scheer, PapOx 3830 [Frg. 1 + Frg. 2 col. 1]; vgl. Halleux/Schamp, Lapidaires, 36f, Neblung, Gestalt, 105f, Hansen, Thread, 464f. Zu Iamos Pind. Ol. 6.43–57, Scholl. Pind. Ol. 6.73a/78b/i; vgl. Wilamowitz, Isyllos, 176f, RE 9 (1914) 685–689 s.v. Iamos (H. Hepding), Sancassano, Serpente, 129–134. Auch der neugeborene Erichthonios wurde nach Eur. Ion 21–24 von zwei Schlangen beschützt; zu dieser Art von Geschichten allgemein Wagenvoort, Inspiratie, 15, 17–19. Vgl. bes. Hom. Il. 23.163f, 24.784, Od. 12.11, und allgemein Andronikos, Totenkult, 21–32. Dass man eine Schlange begraben muss, wenn man sie getötet hat, zeigt auch die Geschichte von Krisamis, Zenob. 4.64, Hesych. und Suid. s.v. Κρίσαµις, Phot. s.v. Κρίσσαµις, vgl. RE 11 (1921) 1892f s.v. Krisamis [W. Kroll], Halleux/Schamp, Lapidaires, 16f. Auch bei Stat. Theb. 6.84–87, 220–237 erhält die Schlange, die den Opheltes getötet hat (zu dieser Geschichte 3.3.2.c) ein feierliches Begräbnis mit eigenem Scheiterhaufen, zu dem sorgfältig Holz gesammelt wird. Ein merkwürdiger Verweis auf das Motiv des Schlangenbegräbnisses auch bei Diod. 4.76.6. Übrigens scheint in altindischen und ozeanischen Mythen das Verbrennen von bösen Schlangendämonen eine Rolle zu spielen, vgl. Chandra Sinha, Worship, 26, Frobenius, Zeitalter, 68–70. Einen Versuch, Melampus als besonders ‚liebe’ Gestalt zu kennzeichnen sieht dagegen Hansen, Thread, 465 in der Szene. Zur Rolle der Marginalität in dieser Geschichte Dowden, Death, 100f, Suárez de la Torre 1992, 10. Auch zur Sage von Kassandra gab es eine Variante, nach der sie die Sehergabe von Apollon erhielt (Aischyl. Ag. 1202–1212, Apollod. 3.12.5 u.a.), sowie eine Fassung, welche
1.2 Melampus und die Sprache der Tiere
29
Schwieriger ist das Kernstück, in dem die beiden Varianten verschieden sind: Die Trennung der alten Schlangen von den jungen ist in der ersten Geschichte an einen hohlen Baum geknüpft, eine Begegnung in der freien Natur, in der zweiten an ein Opfer, einen kultisch-religiösen Anlass. Solche Erscheinungen von Schlangen beim Opfer werden nun in der Antike immer wieder erzählt. Insbesondere aus Rom sind zahlreiche Beispiele bekannt, die von der Priesterschaft als prodigium, als Vorzeichen, aufgezeichnet wurden. In einem Fall verfügen wir sogar über einen Augenzeugenbericht, weil der junge Cicero dabei anwesend war47. Aus der griechischen Welt muss man vor allem drei mythische Geschichten anführen, die diesem Muster gehorchen: Am berühmtesten sind die Schlangen, welche vor dem Fall von Troia den Priester Laokoon töten48, dann jenes andere Kriechtier, das zu Beginn des troianischen Krieges den Philoktet verwundet49, und schliesslich das bereits erwähnte Sperlingswunder von Aulis im zweiten Gesang der Ilias, wo die Achaier ein Opfer darbringen und unter dem Altar eine Schlange hervorkommt, die auf eine nahegelegene Platane kriecht; dort findet sie ein Vogelnest und verschlingt die frischgeschlüpften Spatzen mitsamt ihrer Mutter, neun Vögel alle zusammen. Der Seher Kalchas deutet den Vorfall dahingehend, dass die Achaier Troia neun Jahre vergeblich belagern müssten, bevor es ihnen in die Hand fiele50.
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beides kombiniert (Schlaf im Tempel und Begegnung mit Apollon: Hyg. Fab. 93). Die Flussweihe nach dem Schlangenwunder auch im Fall des Iamos, vgl. Pind. Ol. 6.45f mit 6.57–64, Scholl. Pind. Ol. 6.77c/95e; bekanntestes Beispiel für das Motiv ist sonst Ev. Marc. 1.9–11 (vgl. Ev. Mt. 3.13–17, Ev. Luc. 3.21f, Ev. Joh. 1.29–34). Schlangen beim Opfer: Liv. 25.16.1–3, Obseq. 47 u.a.; weitere Belege bei Luterbacher, Prodigienglaube, 28, 53f, Wülker, Entwicklung, 16f, Grassmann, Prodigien, 83f, Février 2003, 45f, 55f; die Schlange am Grab des Anchises Verg. Aen. 5.84–93 gehört dagegen mit der auch in Griechenland üblichen Verbindung von Schlangen mit Heroengräbern zusammen; zu Cic. oben n. 16. Sehr häufig sind ausserdem auf Haus- und Wegkreuz-Altären Darstellungen von einer oder zwei Schlangen, die auf einen Altar mit Opfergaben zugekrochen kommen, gelegentlich auch einer einzigen, die sich um einen Altar ringelt, vgl. auch Fröhlich, Lararien, 56–61, 165–169; Vorstellungen vom Genius loci überkreuzen sich darin vielleicht mit solchen von der Schlange als Wächterin des heiligen Ortes (vgl. Pers. 1.113f). Vgl. Prokl. Chr. Hypoth. Il. Pers. 6–8 PEG, Bakchyl. Frg. 9 = Serv. Verg. Aen. 2.201, Soph. Frgg. 370/372 (aus dem Laokoon), Euph. Frg. 70 Powell = Serv. Verg. Aen. 2.201, Verg. Aen. 2.199–227, Apollod. Epit. 5.17f, Hyg. Fab. 135, Tzetz. Lyk. Alex. 347 u.a.; eine Sammlung der wichtigsten Quellen bei Zintzen, Laokoonepisode, 67–72, ausserdem LIMC 6 (1992) 196–201 s.v. Laokoon [E. Simon], Stockinger, Vorzeichen, 92, Gantz, EGM 647–649. Vgl. 2.1–2.3. So Hom. Il. 2.303–329, vgl. Prokl. Chr. Hypoth. Kypr. 33–35 Bernabé; weiteres bei Stockinger, Vorzeichen, 16–19, 121f, Sancassano, Serpente, 28–37; nicht sehr ergiebig leider der Kommentar von Latacz, Ilias II.2, 93–99, der es versäumt, die Szene in den Zusammenhang verwandter Geschichten zu stellen; vgl. auch oben n. 16. Deutungen der schon in der Antike berühmten Passage bei Schol. Hom. Il. 2.308–319, Orig. c. Cels. 4.91 u.a., vgl. Aumüller 2003, 6–8, zur Nachwirkung Heath 1999. Eine Begegnung mit Schlangen und Vögeln an einem Altar erzählt auch Orph. Lith. 96–164, vgl. Halleux/Schamp, Lapidaires, 12–20; zu einer anderen Parallele in demselben Werk unten n. 61. Die Verbindung von Schlange, Baum und Vogel versucht Fauth 1977–78, 130f in die vorder-orientalischen Kulturen zurückzuverfolgen; die dafür angeführten Bildzeugnisse sind leider kaum überzeugend, interessanter sein Hinweis auf die Erzählung von Gilgamesch und dem huluppu-Baum.
1. Statt einer Einführung
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Merkwürdig ist, dass hier wesentliche Motive beider Varianten der Melampussage in einer Geschichte beisammen zu liegen scheinen: Wie dort führt die Verbindung von Schlangen und Vögeln zu einer Weissagung, wobei wir einerseits wie in M4b die Erscheinung einer Schlange am Altar finden, anderseits wie in M4a das Motiv des Nestes im Baum, das ausgehoben wird. Ein solches Verhältnis, bei dem, was in einer Geschichte zusammengehört, anderswo in zwei verschiedene Erzählungen zertrennt wird, wird uns im Verlauf dieser Untersuchung noch öfter begegnen. Ich nenne es, in Anlehnung an einen Begriff der Sprachwissenschaft, eine paradigmatische Spaltung51. Ausserdem erinnert der Anfang dieser Fassung an die kretische Geschichte von Polyidos und dem toten Glaukos (M3): Auch dort schliesst man den Seher zuerst aus der Gesellschaft aus, dann wird eine Schlange getötet, kommt eine zweite, überlebende hinzu, und wie Melampus seine Seherkraft von den Schlangen bezieht, lernt Polyidos von ihr schliesslich das ganz besondere Kunststück, einen Toten wieder lebendig zu machen. Noch engere Verwandte hat M4 allerdings ausserhalb der griechischen Welt52. Am bekanntesten dürfte das Grimmsche Märchen Die Weisse Schlange sein. Dort wird von einem König erzählt, der auf wunderbare Weise immer über alles Bescheid wusste, was in seinem Land vorfiel. Er hatte aber die seltsame Sitte, jeden Mittag alleine eine geheimnisvolle Speise zu essen, die ihm in einer verdeckten Schüssel gebracht wurde. Eines Tages konnte sein Diener der Neugier nicht mehr widerstehen und sah hinein: M553 ... da sah er, dass eine weisse Schlange darin lag. Bei ihrem Anblick konnte er die Lust nicht zurückhalten, sie zu kosten; er schnitt ein Stückchen davon ab, und steckte es in den Mund. Kaum aber hatte es seine Zunge berührt, so hörte er vor seinem Fenster ein seltsames Gewisper von feinen Stimmen. Er ging und horchte, da merkte er dass es die Sperlinge waren, die mit einander sprachen und sich allerlei erzählten, was sie im Felde und Walde gesehen hatten. Der Genuss der Schlange hatte ihm die Fähigkeit verliehen, die Sprache der Tiere zu verstehen.
Ganz ähnlich ist die Sage von Sigurd (M6), wie sie in der Edda erzählt wird: Auch dieser tötet in dem Drachen Fafnir eine Art Schlangenungeheuer und brät dessen Herz, bis der Saft heraus schäumt; er fasst es an, verbrennt sich und fährt mit dem
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Eine ähnliche Teilung der Varianten ist ansatzweise noch bei der römischen Schlangenerscheinung zu fassen, die dem Tarquinius Superbus seinen Sturz angekündigt haben soll: Bei Liv. 1.56.4 kriecht „aus einer hölzernen Säule“ hervor, womit wir der Schlange im Baum recht nahe kommen (ähnlich Zonar. 7.11 [332b]); als Schlangenerscheinung beim Opfer ist der Vorfall hingegen geschildert Ov. Fast. 2.711f. Daneben gibt es eine Geschichte mit einem Vogelvorzeichen; zu diesem ganzen Komplex Fauth 1977–78, 139f. Vgl. HDA 8 (1936–37) 939–943 s.v. Tiersprache [R. Riegler], Marx, Märchen, 108–111, Wagenvoort, Inspiratie, 18 n.2, Röhrich, Märchen, 81–84, 86f, Scherf, Lexikon, 437–439, Hansen, Thread, 462f. Grimm, KHM 17, vgl. Rölleke, Kinder und Hausmärchen, 97, Scherf, Lexikon, 436f; dasselbe Motiv Grimm, DS 131, vgl. Rölleke, Deutsche Sagen, 184f; eine ähnliche Geschichte schon bei Saxo Gramm. 5.2.6–8.
1.2 Melampus und die Sprache der Tiere
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Finger in den Mund, und als das Blut ihm auf die Zunge kommt, da versteht er die Vogelsprache54. Wie bei Melampus wird also zuerst die Schlange getötet, dann kommt es zum Kontakt mit dem Körper des Tiers, und dadurch wird die Sprache der Vögel verständlich. In den griechischen Geschichten bewirkt dies das lebende Tier, indem es mit der Zunge das Ohr des Menschen berührt. In den nordeuropäischen Fassungen ist es die tote Schlange, welche die Zunge des Menschen berührt: die Varianten spielen offenkundig mit dem Gegensatz zwischen den Stellen, wo die menschliche Stimme entsteht und vernommen wird. Die getötete Schlange ist ja – dies nur zur Erinnerung – im Tempel des Apollon in Delphi ganz analog an den Ort geknüpft, wo die Orakelsprüche erteilt werden; auch dort stellt sich das Problem des Übergangs von einer unverständlichen zu einer verstehbaren Sprache, weissagt die Pythia doch in einer heiligen ekstatischen Lallsprache, die erst von den Priestern in sinnvolle Verse umgesetzt werden muss. Ein letztes Beispiel soll diese Verknüpfung von Schlangen, Mund, Sprache und Vögeln bestätigen (M7). Die Geschichte stammt ebenfalls aus dem Norden Europas und wurde im Hochmittelalter aufgezeichnet, doch gibt es gute Gründe für die Annahme, dass sie sehr viel älter ist, mindestens so alt wie unsere griechischen Sagen55: Der wunderbare Trank, der die Dichtergabe verleiht, der sogenannte Skaldenmet, befand sich ursprünglich im Besitz des Riesen Suttung, der ihn in drei Gefässen aufbewahrte und von seiner Tochter Gunnlöd hinter einem grossen Berg bewachen liess. Odin machte sich auf den Weg, um den Skaldenmet für Menschen und Götter zu gewinnen. Sein Helfer, der Riese Baugi, durchbohrte den Berg, Odin nahm Schlangengestalt an und kroch durch das Bohrloch zu Gunnlöd. Dort trank er den ganzen Met, verwandelte sich in einen Adler und flog schnell davon. Suttung verfolgte ihn, ebenfalls in Adlergestalt, doch Odin entfloh zum Wohnsitz der Götter und spie dort den Met wieder aus. Auch hier haben wir zuerst die Schlange, in die sich Odin verwandelt, dann die Einnahme des wunderbaren Trankes durch den Mund, die Vogelverwandlung, und schliesslich kommt die Sprache der Dichtung zu Göttern und Menschen. Das all diesen Geschichten gemeinsame Motiv ist der Wechsel von einer schlechteren zu einer besseren Sprache. Teils spiegelt er sich im Übergang von den Schlangen zu den Vögeln (M4a, M5, M6, M7), teils geschieht er durch eine Art Reduktion der Schlange, sei es dass sie getötet (M1, M2) oder zerschnitten wird (M5, M6) oder dass aus einer Gruppe von Tieren nur einzelne Exemplare übrig bleiben (M4a/b); in drei Fällen zeigen sich Überschneidungen dieser Motive (M4a, M5, M6).
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Lieder-Edda, Fáfnismál (Prosa), deutsch bei Genzmer, Edda, 163. Snorra Edda, Skáldskaparmál 1, deutsch bei Krause, Edda, 81–88; zur engen Verwandtschaft des Berichts mit der indischen Sage von der Gewinnung des Rauschtrankes Soma: Doht, Rauschtrank.
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1. Statt einer Einführung
Seltsam genug scheint sich in diesen mythischen Bildern eine bestimmte Reflexion über das Wesen der Sprache zu spiegeln56. In all diesen Geschichten gibt es zwei Register: Die Vögel bezeichnen jenes der verständlichen, differenzierten Sprache. Es ist eine bekannte Tatsache, dass kein anderer Tierlaut der menschlichen Sprache so sehr gleicht wie der Gesang der Vögel: Auch er setzt sich aus Tönen zusammen, deren Repertoire endlich ist und die einzelnen Laute klar voneinander scheidet, wobei die präzise Gestalt dieses Repertoires im Einzelfall nicht angeboren, sondern erlernt ist – manche Zugvögel bringen im Frühling jeweils afrikanischen Artgenossen abgelauschte Melodien mit nach Europa – und dementsprechend lokal variieren kann: spanische Rotkehlchen singen anders als deutsche. Dass die Vögel neben den Menschen allein über eine artikulierte Sprache verfügen, stand schon für Aristoteles fest57, und noch Lévi-Strauss zeigt anhand des Vogelgesangs, dass die Grenze zwischen Natur und Kultur nicht mit jener zwischen Mensch und Tier zusammenfällt58. Demgegenüber scheint die Schlange zunächst das Gegenteil der Vögel zu bezeichnen. Bei Aristoteles lesen wir, dass sie nur eine ganz schwache Stimme besitze und keinerlei Artikulation59, doch das ist wohl nicht die ganze Wahrheit. Ich erinnere zunächst an jene Geschichten, in denen die Schlange als Herrin des ewigen Lebens erscheint – auch dies ist ja eine Art von unzerschnittenem, kontinuierlichem Zusammenhang ohne die Brechung des Lebens durch Geburt und Tod. Die Schlange erscheint damit als das kontinuierliche Wesen schlechthin, als Bild für die ungegliederte Natur. So leuchtet es ein, dass sie im Übergang von der unverständlichen zur verständlichen Sprache reduziert werden muss60. Damit geschieht nichts anderes, als wenn das indistinkte Kontinuum der Laute, welche 56
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Hansen, Thread, 462 weist darauf hin, dass es im internationalen Erzählgut von dieser Geschichte auch einen Typus gibt, wo die Schlange nicht die Kenntnis der Tiersprache vermittelt, sondern die Fähigkeit, durch die Dinge hindurchzusehen (vgl. Aristoph. Pl. 733–738, wo zwei Schlangen durch Lecken an den Augen die Blindheit des Plutos heilen; zur Beziehung zwischen der Schlange und dem Blick: Frontisi-Ducroux 2003, 114–116); er unterscheidet entsprechend diese ‚visual redaction’ von der ‚aural redaction’, der M4 und ähnliche Erzählungen zugehören. Dieses Nebeneinander verdeutlicht das Gewicht des akustischen Registers in den hier vorliegenden Geschichten. Von den Sagen über das Verstehen der Tiersprache sind im übrigen jene zu unterscheiden, nach denen im Goldenen Zeitalter die Tiere sprechen konnten; zu diesen Gera, Ideas, 19–23, 31f. Vgl. Aristot. Hist. Anim. 4.9 [536a20–23/a32–b8], auch 2.12 [504a35–b3] (vgl. Part. An. 17 [660a29f]); ausserdem Hist. Anim. 1.1 [488a31–b1], 4.9 [535a26–536b23], De An. 2.8 [420b5–421a6], vgl. auch Poet. 20 [1456b22f] und Plin. Nat. 11.(112).266–268. Nach Aristot. Hist. Anim. 4.9 [536b8–20] teilen die Vögel mit den Menschen sogar, dass sie innerhalb einer Sprache verschiedene Dialekte kennen. Zur Analogie zwischen Vogelstimmen und Sprache ausführlich Brillante 1991, 157–160. Vgl. Lévi-Strauss, Cru, 27. n. 1; zu dieser Stelle auch Mâche 1999, 166f. Aristot. Hist. An. 4.9 [536a5f]. Auch Paul Valéry benutzte an einer Stelle in den Cahiers von 1940 die Schlange als Bild für das Kontinuum, das gebrochen werden muss, damit verständliche Sprache wird: Rien de plus étonnant que cette parole „intérieure“, qui s’entend sans aucun bruit et s’articule sans mouvement. Comme un circuit fermé. Tout vient s’expliquer et se débattre dans ce cercle semblable au serpent qui se mord la queue. Parfois l’anneau se rompt et émet la parole interne ... Die Passage wird zitiert und kommentiert bei Derrida, Marges, 343.
1.2 Melampus und die Sprache der Tiere
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die menschliche Stimme zu erzeugen vermag, in die begrenzte Auswahl der klar geschiedenen Phoneme zerlegt wird. Am deutlichsten ist das in dem Grimmschen Märchen, wo der neugierige Diener von der Schlange ein Stück herausschneidet (sie ‚segmentiert’), oder in der Geschichte von Melampus, wo aus dem Gewimmel des Schlangennestes nur eine kleine Auswahl von Individuen übrig bleibt. Von den Schlangen, dem ungegliederten Lautkontinuum, gehen wir so über ins Reich der Vögel, das die artikulierte, verständliche Sprache bezeichnet, die den Horizont öffnet, auf dem die Zukunft, die vorweggenommene Zeit, erfassbar wird; und naturgemäss ist der Kreuzpunkt, an dem sich diese beiden Reiche begegnen, in diesen Geschichten das Ohr, d.h. das Hören, oder die Zunge, das Sprechen61. Das aber ist eine Art, die Sprache zu denken, welche uns vertrauten Modellen der Linguistik in der Nachfolge des Saussureschen Cours recht nahe kommt, wo auf der untersten Ebene der Sprache der Übergang vom phonetischen Kontinuum zur distinkten Reihe der Phoneme überhaupt als der Punkt betrachtet wird, an dem die Sprache als solche sichtbar wird. Der Mythos nimmt also von ferne die Wissenschaft vorweg – oder diese hat sich von ihm doch nicht so freizumachen gewusst, wie sie gerne behauptet62. 1.2.3. Plus ultra Dass sich Mythen, Sagen und Märchen aus so weit auseinander liegenden Zeiten und Gegenden in Aussage und Bildlichkeit derart ähnlich sind, stellt man immer wieder aufs Neue mit Staunen fest. Wir stossen damit auf viel allgemeinere Fragen wie, ob es einst eine hinter all diesen Geschichten noch aufscheinende indoeuropäische Mythologie gab. Indessen fehlt es, wie angedeutet, nicht an Parallelen im alten Orient, und es dürfte ebensowenig schwer fallen, vergleichbare Analogien in japanischen Sagen oder irgendwo sonst auf der Welt nachzuweisen. Sind also die Mythen zuerst von Osten nach Westen und dann nordwärts gewandert? Aber die hier besprochenen antiken Geschichten waren (ausser M2) im lateinischen Mittelalter höchstwahrscheinlich unbekannt. Überhaupt werden solche einfachen historistischen Erklärungen fragwürdig, wenn wir ein letztes Bei61
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Ein weiteres Beispiel bietet Orph. Lith. 699–747, wo ein Ritual zum Gebrauch eines Wundersteins beschrieben ist, mithilfe dessen man die Sprache der Vögel verstehen und die Zukunft vorhersehen kann; dabei werden ebenfalls mit einem Altarfeuer Schlangen angelockt, getötet, in Stücke geschnitten und gegessen. Auch Plin. Nat. 10.(40).137 (nach Bolos von Mendes? Vgl. [Demokr.] Frg. B 300.7 DK) weiss von einer aus Vogelblut geborenen Schlange, deren Genuss Kenntnis der Vogelsprache verleiht (vgl. Plin. Nat. 29.(22).71f, Gell. 10.12.7), und nach Philostr. VA 1.20 und 3.9 verschaffen sich die Araber die Kenntnis der Tiersprache, indem sie Herz oder Leber von Schlangen essen. Der locus classicus für die Abgrenzung zwischen blossen Lauten und Phonemen: Saussure, Cours, 163–166. Auf die Kritik an der herkömmlichen Scheidung zwischen mythischer und wissenschaftlich-rationaler Denkweise bei neueren deutschen Autoren wie Kurt Hübner, Hans Blumenberg u.a. verweist auch NP 15/1 (2001) s.v. Mythos. I. Begriff, 641f [R. M. Erdbeer], übersieht dabei allerdings, dass die Gleichstellung der beiden schon vorher etwa von Lévi-Strauss postuliert wurde.
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1. Statt einer Einführung
spiel betrachten, das zeigt, wie die Bildwelten dieser Erzählungen in einer ganz neuen Welt wieder lebendig werden können. Im amerikanischen Bundesstaat Tennessee entstand in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts eine evangelische Gemeinschaft, die sich Heiligkeitskirche nennt, und bis heute vor allem in der weissen Unterschicht ihre Anhänger hat63. Zu ihren Gottesdiensten gehören eigenartige Mutproben wie das Trinken von Strychnin oder sich einen angezündeten Bunsenbrenner ans Kinn zu halten, vor allem aber das Hantieren mit Schlangen, und zwar mit ausnehmend giftigen Arten, etwa Klapperschlangen. Denn wer wirklich von Gott ergriffen ist, so die Meinung der Gläubigen, dem tun diese Tiere nichts. Über die Anfänge dieser Heiligkeitskirche gibt es so gut wie keine schriftlichen Aufzeichnungen. Ihr eigentlicher Begründer, George Went Hensley, war nach eigenen Angaben sogar Analphabet: Wenn er predigte, musste jemand neben ihm stehen und ihm das Evangelium vorlesen. Trotzdem kannte er seinen Text sehr genau, und strebte nach dessen Erfüllung im Wortsinn. Zugleich war er ein ruheloser Charakter, der nie zur Arbeit taugte, ohne festen Wohnsitz, beging ab und zu Einbrüche und war dafür mehrmals im Gefängnis. Diese Verbindung von religiöser Getriebenheit und sozialer Unrast, von Wundertäter und Outcast, ist ein Persönlichkeitsmuster, das nichts nur Evangelisches ist. Es kennzeichnet vielmehr solche Wunderpraktiker auch andernorts. Erinnern wir uns daran, wie Melampus als wandernder Seher erschien, der neue Kultpraktiken verbreitete – und dass er zugleich ein Rinderdieb war, der eingesperrt wurde. Von allen Bibelstellen scheint Hensley keine so beschäftigt zu haben, wie der Schluss des Markusevangeliums. Dort spricht der Auferstandene zu seinen Jüngern die Worte64: An Zeichen aber werden folgende die Gläubiggewordenen begleiten: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben; in neuen Zungen werden sie reden; Schlangen werden sie aufheben, und wenn sie etwas Tödliches getrunken haben, wird es ihnen nicht schaden.
Darüber, wie Hensley seine diese Stelle betreffenden Glaubenszweifel löste, gibt es zwei verschiedene Berichte. Die verbreitere Fassung, deren Erzähler sich auf den Gründer selbst berufen, berichtet, er sei auf einen Berg bei Ooltewah in Tennessee gestiegen, den White Oak Mountain, und zu einer Stelle namens Rainbow Rock gekommen. Dort betete er zu Gott um ein Zeichen, wie er auf den Vers bei Markus antworten solle, der die Schlangen betraf. Und wirklich erschien vor ihm eine Klapperschlange, und er ergriff sie, und sie biss ihn nicht. Da stieg er vom Berg herab zur Grasshopper Church of God. Er trat mit seiner Schlange ein, und
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Zum Folgenden Burton, Signs; weiteres bei Kelhoffer, Miracle, 411–415. Ev. Marc. 16.17f; zum Text auch Kelhoffer, Miracle, 102–109, 199–228. Dass der Heilige von den Schlangen unverletzt bleibt, erscheint zum Erzählmotiv umgesetzt auch Apg. 28.3–6, vgl. unten 2.3.4.d. Als antike Parallele beachte man ausserdem die Geschichte bei Ael. Nat. Anim. 1.57 über die Psylloi in Libyen, welche die Legitimität ihrer Kinder prüfen, indem sie diese in eine Kiste voller Schlangen stecken, vgl. Kelhoffer, Miracle, 379f. Dazu gehört natürlich auch der Umgang der Schlangen mit Melampus, Iamos, Kassandra und Helenos.
1.2 Melampus und die Sprache der Tiere
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die anderen Mitglieder der Gemeinde taten es ihm nach und nahmen sie selbst in die Hände65. Eine zweite Variante erzählt, Hensley habe oft über diese Stelle bei Markus gepredigt. Ein paar Bauernlümmel, die sich über ihn lustig machen wollten, seien deshalb heimlich mit einer Kiste voller Giftschlangen in den Gottesdienst gekommen und hätten diese losgelassen. Der grösste Teil der Gemeinde sei entsetzt zurückgewichen, Hensley indessen, vom Heiligen Geist ergriffen, kam von seinem Altarpodium herab und nahm die Schlangen auf seine Arme – „wie ein Junge, der Feuerholz in seinen Armen sammelt, um es ins Haus zu tragen“, sagt der Erzähler dieser Geschichte wörtlich66. Schon die Unterschiede zwischen diesen Varianten machen klar, dass sie unmöglich beide wahr sein können. Es sind weder Augenzeugenberichte noch stützen sie sich auf historisch verlässliche Quellen. Aufgezeichnet wurden sie vielmehr Jahrzehnte nach den berichteten angeblichen Vorfällen, nach Angaben von Personen, die aus mündlicher Überlieferung davon wussten. Das bedeutet, dass sie unzählige Male durch Nach- und Weitererzählen umgeformt wurden, oder anders gesagt, dass ihre Gestaltung einen Weg gegangen ist, der demjenigen der griechischen Mythen ganz ähnlich sein dürfte. Dennoch ist bemerkenswert, wie auch die inhaltlichen Analogien zwischen Hensley und den mythischen Geschichten, vor allem jenen von Melampus, fast in irritierendem Mass ins Detail gehen: Auch hier gibt es eine Fassung, wo die Begegnung mit der Schlange anlässlich einer sakralen Handlung, während eines Gottesdienstes stattfindet, und daneben eine andere, wo sie sich abseits der Siedlungen, auf einem einsamen Berg zuträgt. Dieser heisst ausserdem „Berg der Weissen Eiche“, wie Melampus seine Schlangen in einer Eiche fand. In M4a wurde übrigens berichtet, Melampus habe Holz zusammengetragen, um die Schlangen zu verbrennen – und Hensley trägt die Schlangen zusammen wie ein Junge Brennholz. Das Motiv der Sprache freilich scheint zunächst zu fehlen. Allerdings werden Hensley und seine Anhänger meist der Pfingstbewegung zugerechnet. Wie in den Pfingstgemeinden ist auch bei ihnen der durch Predigt und Gebet, Musik und Tanz erstrebte Höhepunkt, dass der Heilige Geist über die Gemeindemitglieder komme. In diesem Augenblick, den sie die ‚Salbung’ nennen, beginnt ein Teil von ihnen in Zungen zu reden wie die Apostel beim Pfingstwunder und wie es auch in der Stelle des Markusevangeliums angekündigt ist, von der Hensley ursprünglich ausging67. Diese Zungenrede ist, stark vereinfacht, ein freies Reihen von Silben 65 66 67
Nach Burton, Signs, 32. ... like a boy would gather stovewood in his arms to carry into the house, so Burton, Believers, 33. Das Pfingstwunder Apg. 2.4, vgl. auch Apg. 10.44–46; weitere Stellen bei RGG4 3 (2002) 1013–1015 s.v. Glossolalie [N. G. Holm/W. Pratscher/W. Thiede], ausserdem Eliade, Encyclopedia 5 (1987) 563–566 s.v. Glossolalia [F. D. Goodman], Samarin 1972, und zur Glossolalie in pagan-antiken Kulten Lombard, Glossolalie, 90–99, Mosiman, Zungenreden, 41f, Heirman 1975, 264–267. Das Phänomen erscheint – was oft übersehen wird – nicht nur in religiösem Kontext, sondern mindestens seit dem frühen 20. Jh. auch als Verfahren
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1. Statt einer Einführung
ohne für den Aussenstehenden erkennbaren Zusammenhang, das aber der Redende selbst als befreiend und sinnerfüllt empfindet. Nichts anderes als eine Form solcher Zungenrede war vielleicht auch das unverständliche Reden der Pythia von Delphi, das von den Priestern gedeutet werden musste68. Es ist nun genau dieser Augenblick der durch die ekstatische Zungenrede verbürgten Ausgiessung des Geistes, in welchem die Schlangenpraktiker ihre Reptilienkisten öffnen. Wer Salbung und Zungenrede nicht erfährt, der soll, so ist ihre Regel, die Finger lassen von den gefährlichen Tieren. Auch hier ist also die Begegnung mit den Schlangen an den Gewinn einer in höherem Sinn bedeutenden Sprache geknüpft, nur dass wir nicht vom Naturlaut zur Menschensprache übergehen, sondern von der Sprache der Menschen zu der des Heiligen Geistes. Natürlich liegen Tausende von Kilometern und Jahren zwischen den Schlangenzeremonien in Tennessee und den altgriechischen Mythen. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Der Abstand ist kleiner, als er scheint. Das einzige Buch, von dem die Fundamentalisten der amerikanischen Heiligkeitskirche wirklich eine Vorstellung haben, ist das Neue Testament. Die dort versammelten Texte stammen aus einer Zeit als die Mythen und Kulte des alten Griechenland im ganzen Mittelmeerraum lebendig waren. Hinter der Stelle bei Markus, von der Hensley ausging, stehen vielleicht wirklich Schlangenpraktiken in damaligen ekstatischen Kulten69. Der Zwiespalt zwischen der historischen Überlieferung solcher Geschichten und ihrer unmittelbaren Wirkkraft löst sich damit freilich nicht, sondern erweist sich eher als für den Mythos selbst grundlegend: Ein einzelnes Fragment genügt offensichtlich, um auch unter völlig veränderten äusseren Umständen den ganzen Zusammenhang wieder hervorzubringen, dem es einst angehörte. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint der Mythos weniger als Inventar von überlieferten Erzählungen denn als eine Verkettung von Begriffskategorien, so dass es genügt, eine einzelne von ihnen aufzurufen, um das ganze System in
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künstlerischer Sprachgestaltung, sowohl im Scat-Gesang des Jazz wie in der AvantgardeLyrik (Hugo Ball, Kurt Schwitters u.a.). Öfter trifft man heute die Auffassung, dass die Pythia nicht ekstatisch, sondern rational kontrolliert gesprochen habe, vgl. etwa Schnurr-Redford 2000, 134, NP 10 (2001) s.v. Pythia, 664f [J. Scherf]. Dahinter steht letztlich die falsche Vorstellung, dass Zungenrede und Aussageabsicht unvereinbar seien: Glossolalie ist kein Phänomen der Psychopathologie, sondern eine Form durchaus intentionalen Sprachverhaltens und entsprechend fähig, auf einer konnotativen Ebene ‚Bedeutung’ zu vermitteln (vgl. etwa Hugo Balls Gedicht Karawane). Für die klassische und hellenistische Zeit ist dergleichen bezeugt für die Kulte des Sabazios (Demosth. 18.260, vgl. Clem. Alex. 2.16.2, Firm. Err. 10.2, wobei nach Arnob. Nat. 5.21 freilich eine „goldene Schlange“ [aureus coluber] verwendet wurde) und des Dionysos (Plut. Alex. 2.9 vgl. Gal. 14.45; zweifelhaft ist der Wirklichkeitsbezug bei Eur. Bakch, 698/767f), vgl. Kelhoffer, Miracle, 353–365 und zum Asklepioskult 369–372; rituelle Schlangenfütterung wird erwähnt für Epirus (Ael. Nat. Anim. 11.2) und Lanuvium (Prop. 4.8.3–14, Ael. Nat. Anim. 11.16, vgl. Rein, Schlangenhöhle); zu Italischem auch Liv. 7.17.1f, vgl. Kelhoffer, Miracle, 352. Ein eigentlicher Schlangenkult ist auch der erst in der Kaiserzeit aufgekommene um den Gott Glykon von Abonuteichos (Lukian. Alex.), vgl. Kelhoffer, Miracle, 372f; weiteres: NP 11 (2001) s.v. Schlange. II. Mythos und Religion, 182f [J. N. Bremmer], Gilhus, Animals, 108–111.
1.2 Melampus und die Sprache der Tiere
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Aktion treten zu lassen70. Ein mythischer Text kann damit auch in sehr fragmentiertem Zustand implizit noch sehr viel mehr von seinen ursprünglichen Systembezügen mit sich tragen als auf den ersten Blick sichtbar ist, vergleichbar mit einem hochpotenzierten homöopathischen Heilmittel, das seine Wirkung auch noch tut, wenn die grobschlächtigen Analyseverfahren der akademischen Naturwissenschaft darin längst nichts mehr können als reines Wasser. Der Herausarbeitung solcher unterschwelliger Bezüge, der hinter dem Gewebe der mythischen Erzählungen wirksamen unsichtbaren Verbindungs- und Querfäden wird der grösste Teil der folgenden Untersuchungen gewidmet sein. Betrachtet man nach alledem, was Hensley und die Seinen unternahmen, so zeigt sich, dass sie in ihren Schlangengottesdiensten vielleicht sogar, ohne es zu wissen, etwas taten, das Marcel Detienne in den letzten Jahren mehrfach vorgeschlagen hat: Religionsgeschichte auf dem Weg des Experiments zu betreiben. Der französische Anthropologe mag sich das weniger handfest, mehr im Sinne eines Gedankenexperiments vorgestellt haben71 – dennoch wäre es wohl angebracht, G. W. Hensley endlich auch als einen der interessantesten Religionswissenschafter des frühen 20. Jahrhunderts wahrzunehmen.
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Zu diesem Aspekt des Mythos als „concaténation de catégories“ vgl. die grundsätzlichen Überlegungen von Scheid/Svenbro, Métier, 10 mit n. 8. Vgl. Detienne, Comparer, 81–104.
2. DER VERWUNDETE PHILOKTET 2.1. IPHIKLOS’ NEFFE Die Geschichte von Philoktet bildet, wie die beiden anderen berühmten Schlangenwunder der griechischen Sage, ein Stück des grossen Erzählgefüges vom troianischen Krieg1. Wenn der Held, von der Schlange unheilbar verletzt, für die Achaier wegen seiner Wunde unerträglich wird, so dass sie ihn alleine zurücklassen, dann gehört das zu Aufbruch und Fahrt nach Troia. Seine Heimholung und Heilung leiten die Eroberung der Stadt ein. Die Geschichte bildet also eine enge Klammer um das Kampfgeschehen, genau wie die beiden anderen Schlangenerscheinungen sich über einen weiteren Bogen entsprechen: das Sperlingswunder vor der Ausfahrt von Aulis, der Tod des Laokoon unmittelbar vor dem Fall der Stadt. Wären diese Geschichten in einem erhaltenen Werk archaischer Zeit zusammenhängend erzählt, so würde man von einer Ringkomposition sprechen2. Die Gestalt des Philoktet war bei den Dichtern beliebt. So wie sie uns heute erscheint, ist sie massgeblich durch das frühgriechische Epos und die attischen Tragiker geprägt. Die Bildung des Namens Philoktetes muss dabei in der epischen Dichtung erfolgt sein3. Mit der Bedeutung Herr über die Seinen ist es einer jener
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Die antiken Quellen zur Philoktetsage sind am vollständigsten gesammelt bei RML 3 (1902– 09) 2311–2343 s.v. Philoktetes [G. Türk]. Die seinerzeit grundlegende Arbeit von Milani, Filottete ist durch Neufunde überholt und fast nur noch als Übersicht über die Forschung des 19. Jh.s zu gebrauchen. Weitere Stoffsammlungen bei Jebb, Philoctetes, vii–xl; Robert, GH 598, 1093–1095, 1207–1218, 1499–1507; RE 19 (1938) 2500–2509 s.v. Philoktetes [K. Fiehn]; Gantz, EGM 459f, 589f, 635–638, 700f; Jouan/Van Looy, Euripide VIII,3, 269– 299; vgl. auch Beschorner, Helden, 183f und Müller, Kommentar, 25–82. Zu den Bildquellen unten 2.2.5. Zu diesem Begriff Van Otterlo, Untersuchungen. Whitman, Homer, 252–284 versucht nachzuweisen, dass Ringstrukturen für den Aufbau der Ilias grundlegend sind, vgl. NCHom 345– 348 [S. L. Schein], und zur Odyssee 361–364 [S. V. Tracy]; kritisch gegen den Begriff der Ringkomposition Dane 1993. Demgegenüber hatte die ältere Forschung den Hang, ihn als aus vorgeschichtlicher Zeit stammende, urtümliche Gestalt zu deuten, vgl. namentlich Pettazzoni 1909, bes. 187 oder Untersteiner, Filottete, 105–129. Zur Herleitung des Namens Meier-Brügger 1978, 229, 236 n. 41 und Leukart, Nomina, 48, 67, 286f. Danach ist Φιλοκτήτης ein Produkt des Hexameters: In den Komposita auf -της erscheint von ablautenden Wurzeln des vorliegenden Typs das Hinterglied, wenn keine metrischen Rücksichten vorliegen, in der Schwundstufe, doch passt *Φιλοκτατης ausser im Vokativ in keinen Daktylus. Zur Bildeweise vgl. myk. Philo-nestas (pi-ro-ne-ta: PY Jn 658.3) = der die Seinen rettet/heil heimbringt. Als Bedeutung für Φιλοκτήτης ergibt sich damit (sofern überhaupt eine beabsichtigt ist und nicht beliebige Teile anderer Namen rekombiniert werden) am wahrscheinlichsten der Herr ist über die Seinen, vgl. Φιλοκράτης (häufig seit 5. Jh., Gleichsetzung mit myk. pi-ro-ka-te [PY Jn 832.10] unsicher).
2.1. Iphiklos’ Neffe
39
Adels- und Fürstennamen, wie ihn die meisten homerischen Helden führen4. Daneben stehen der Name seines Vaters, Poias, in dem das Wort für Gras, für den Weideplatz stecken muss5, und der Name einer Stadt, die oft als Ort seiner Herkunft genannt wird, Meliboia, was soviel heisst wie: wo man sich um die Rinder sorgt6. Kein Zufall also, wenn wir hören, dass Poias auf der Suche nach seinem Vieh einmal bis auf das Oita-Gebirge gekommen sein soll7. In solchen Bildern ist der Begriff des Reichtums angedeutet, auf dem die Stellung dieser Vornehmen beruht8. Noch mit anderen Orten wird unser Held verbunden, die man für seine Heimat hält: Die Ilias nennt für die Herkunft der Truppen, die er in den troianischen Krieg führt, neben Meliboia drei weitere Gemeinden: Methone, Thaumakie und Olizon9. Wahrscheinlich liegen diese alle auf der Halbinsel Magnesia östlich des Pagasaeischen Golfes, rund um den Fuss des Pelion-Massivs10. Spätere Überliefe4
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Als Name der Mutter erscheint dazu passend ∆ηµώνασσα (Lateinisch Demonassa in Hyg. Fab. 97.8, 102.1, vgl. Ph4). Zu dessen Bildung vgl. homerisch Ἰφιάνασσα u.ä. und das gleichbedeutende Λάνασσα, Herrscherin über das Volk, als Name für eine Tochter des syrakusanischen Tyrannen Agathokles (Diod. 21.4.1). Zu den Familienverhältnissen des Philoktet: RML 3 (1902–09) 2311 s.v. Philoktetes [G. Türk] und 2599f s.v. Poias [G. Türk]. Zu Ποίας Hom. Od. 3.190, Pind. Pyth. 1.53, Soph. Phil. 5 u.ö.; Gras heisst attisch πόα, ionisch ποίη. Vgl. Hom. Il. 2.717, Strab. 6.1.3, Lucan. 6.353f, Mela 2.(3).35 u.a. Zur Bildung des Ortsnamens Μελιβοία mit βοῦς im Hinterglied vgl. Εὔβοια und homerische Personennamen wie Ἠερίβοια, Περίβοια; zu Μελι- im Vorderglied (von µέλοµαι) vgl. das recht genau entsprechende Μελέαγρος (= der sich um den Acker kümmert). Bei Vergil ist Meliboeus zu einem bukolischen Hirtennamen geworden (Verg. Ecl. 1.6 u.ö.). Nicht überzeugend LFE s.v. Μελιβοία, wonach das Vorderglied µέλι (Honig) enthalten soll: Unklar bleibt dabei der Sinn der Bildung – Kühe geben schliesslich keinen Honig; weiteres bei Napolitano, Philoktetes, 109. Zu ποίη / Ποίας vgl. φορβή (= Weide) / Φόρβας und αἶα (= Erde) / Αἴας; weiteres bei Risch, WBhom 27 (§12a), vgl. LFE s.v. Αἴας. Zur Herleitung all dieser Namen auch Fick/Bechtel, Personennamen, 384, 399, 406. Apollod. 2.7.7. Sprachwissenschaftlich nicht haltbar sind alte Deutungen des Namens Φιλοκτήτης wie Freund des Erwerbs, der Schatzliebende (so Pape, Eigennamen s.v. Φιλοκτήτης mit Hinweisen auf die ältere Lit.) oder der Besitzliebende (so noch Avezzù, Ferimento, 49f, Müller, Kommentar, 25), und die daran geknüpften Versuche, Namen und Schicksal des Helden in Bezug zu setzen (bes. Radermacher 1949, dessen Deutung sich noch Müller, Kommentar, 35f, 40f nicht ganz entziehen kann), oder die entsprechenden weitreichenden religionsgeschichtlichen Spekulationen z.B. von Gruppe GMR II 1233 n.6 (Philoktet als Abspiegelung des Απόλλων Κερδῶιος, was etwa noch bei Untersteiner, Filottete, 97–99 die Grundlage der Deutung bildet) und Pettazzoni 1909, 180–185 (Beziehung zu semitischen Goldgöttern und zu Chryse; vgl. 2.3.4f). Sekundär lässt sich der Name des Helden umdeuten, indem der Anklang an κτάοµαι/κτῆµα (erwerben/Besitz) darauf bezogen wird, wie Philoktet den Bogen des Herakles erwirbt, so Soph. Phil. 670–673, vgl. Daly 1982; Miralles 1999. Hom. Il. 2.716f. Zur Lokalisierung Müller, Griechenland, 337–340, 344f (über die Halbinsel Magnesia und Meliboia) 340f, 368 (über Malis und das Spercheios-Tal); ausserdem Simpson/Lazenby, Catalogue, 138f und 127 Map 7, sowie Visser, Katalog, 682–690, der Müller, Griechenland nicht zu benutzen scheint, und Napolitano, Philoktetes, 102–116.
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2. Der verwundete Philoktet
rung hat diese Namen in die Familiengeschichte des Philoktet eingebaut und ihn so enger mit der Landschaft verbunden11. Die Tragiker scheinen ihm hingegen eher etwas weiter westlich ein Zuhause zu geben, in Malis, an der Mündung des Spercheios, also zu Füssen des Oitagebirges, das in seinem Leben eine so wichtige Rolle spielt12. Es wird nicht bei diesem einen Gegensatz zwischen dem Bild des Helden im Epos und bei den Tragikern bleiben. Diese Namen und Orte geben nicht viel mehr als den allgemeinen Begriff eines Helden der homerischen Zeit13. Nichts darin kündigt jene Geschichten an, die für uns den Philoktet der Sage ausmachen und durch die er gleichsam mit einem vollständigen Lebenslauf ausgestattet wird: Als zeitweiliger Kampfgefährte des Herakles, erlöst er diesen auf dem Oita von seinen Schmerzen, denn er hat als einziger den Mut, dessen Scheiterhaufen anzuzünden. Zur Belohnung schenkt ihm Herakles Bogen und Pfeile. Später zieht Philoktet mit den Achaiern nach Troia, erleidet Schlangenbiss und Aussetzung, wird aber zurückgeholt, weil ein Orakel verkündet, dass anders die Stadt nicht zu nehmen sei. Im Kampf tötet er ParisAlexandros, kehrt heil von Troia in seine Heimat zurück und zieht am Ende als Städtegründer nach Unteritalien, wo er den Tod findet. Allerdings tritt uns eine Figur wie Philoktet in der Überlieferung meist nicht mit einer solchen geradlinigen Lebensgeschichte entgegen, sondern in ein oder zwei Kernbegebnissen oder Schlüsselszenen, in denen die Frage gestellt wird, auf welche die Gestalt eine Antwort darstellt14. Im Fall des Philoktet sind diese Schlüsselszenen leicht zu bestimmen, sie haben ja auch unserer Überlieferung den meisten Stoff gegeben: Philoktet am Scheiterhaufen des Herakles und die Heimholung des kranken Helden von Lemnos mit ihrer schmerzhaften Vorgeschichte. Im ersten Fall trifft Philoktet auf einen leidenden Helden, den er als einziger zu 11
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Nach Eusth. Hom. Il. 2.695 [323.43] hiess Philoktets Mutter Μεѳώνη, was nur eine geringe Abweichung vom homerischen Ortsnamen Μηѳώνη darstellt, und als Vater des Poias erscheint Thaumakos (Apollod. 1.9.16, Steph. Byz. s.v. Ѳαυµακία). Ob in Stat. Silv. 3.5.48 mit Meliboea eine uns sonst unbekannte Gattin des Philoktet genannt ist, bleibt unklar. Soph. Phil. 4, 664, 1430 und schon Aischyl. Frg. 249, vgl. Jebb, Philoctetes, vii–ix; ausserdem Schnebele, Quellen, 109–112, der eine Herkunft des Motivs aus der Kleinen Ilias vermutet. Immerhin ist es auffallend, dass dort, wo Philoktet nach den Tragikern herkommt, der Ilias zufolge Achilleus zu Hause war, vgl. Hom. Il. 2.681–694 mit Simpson/Lazenby, Catalogue, 126–131, Visser, Katalog, 651–656, Müller, Griechenland, 390–392. Es könnte also sein, dass die Ilias deshalb auf die andere von zwei altbekannten Varianten ausweicht. Deuten auch die wörtlichen Parallelen zwischen den die beiden Heroen betreffenden Abschnitten im Schiffskatalog (vgl. Hom. Il. 2.694 mit 2.724 und dazu Kirk, Iliad 233 [zu Hom. Il. 2.724–5]) auf ein solches Verhältnis? Zu dieser ‚Verschiebung’ des Helden auch materialreich, aber unübersichtlich Napolitano, Philoktetes, 131–195. Ähnlich die Überlegungen bei Müller, Kommentar, 25. Aber vgl. 2.3.6 (zu Ph8) und in gewissem Sinn schon Soph. Phil. 1326–1335. Müller, Kommentar, 26 legt das Gewicht zu einseitig auf den Auftritt des Philoktet vor Troia, der allein dem „Mythos ... in seiner frühesten Form“ angehöre, während alle andern Elemente der Geschichte des Helden „jüngere und ganz junge Erweiterungen“ seien. In solchen Wendungen schimmert noch die ältere philologische Vorstellung durch, dass sich von einer mythischen Geschichte eine ursprüngliche Gestalt rekonstruieren lasse; dagegen unten 2.3.1.
2.1. Iphiklos’ Neffe
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erlösen vermag, wobei ein Teil unserer Überlieferung ausdrücklich betont, dass er damals nicht zur Gruppe der Gefährten des Herakles gehörte, sondern als ein zufällig von aussen kommender die Rettung brachte15. Hier, wo er seine wunderbare Waffe gewinnt, erscheint Philoktet gewissermassen in der Rolle Parzivals auf der Gralsburg16. In der zweiten Szene ist er auf einer einsamen Insel ausgesetzt, und doch der einzige, der dem Kriegsvolk vor Troia die Rettung, den Bogen des Herakles zu bringen vermag. Auch hier lässt sich mit einer mittelalterlichen Parallele bestätigen, wie ergiebig die zugrunde liegende Frage ist: Ich meine das Ende der Gregoriuslegende, wo der Held von seinem einsamen Steine im See geholt werden muss, auf dem er Busse tut, um als Papst das zerstrittene Rom zu versöhnen17. Merkwürdig genug ist übrigens auch Gregorius gerade mit Beinschellen an den Stein gefesselt und davon an den Füssen wund18. Der Vergleich macht deutlich, 15 16
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Vgl. Diod. 4.38.4, ausserdem Philostr. Her. 28.1. Auf den Vater Poias übertragen ist das Motiv Apollod. 2.7.7, Zenob. 1.33 s.v. Αἰѳὴς πέπλος. Aus dem Alten Orient gibt es Beispiele von Herrschern, die behaupten, ihren Bogen von einer Gottheit erhalten zu haben, vgl. West, EFH 485f mit weiterer Literatur. Gegen diesen beweist das nichts für eine Abhängigkeit der Philoktetsage von „Orientalischem“: Dass der Held seine Waffe von einer höheren Macht erhält, gehört zu den geläufigsten Zügen des Helfermärchens überhaupt, vgl. Lüthi, Märchen, 27f. Hartmann von Aue, Gregorius, 3137–3740. Zur Geschichte der Gregoriuslegende Verfasserlexikon 3 (1981) coll. 244–248 s.v. Gregorius [V. Mertens], coll. 510f s.v. Hartmann von Aue [C. Cormeau]; EdM 6 (1990) 125–131 s.v. Gregorius [U. Mölk]. Auch hier verweist West, EFH 485 auf eine sumerische Parallele, die Sage von Lugalbanda, dem Vater des Gilgamesch, und dem Donnervogel Imdugud (vgl. Jacobsen, Harps, 320–344): Lugalbanda wird auf einem Feldzug von Gefährten krank in einer Höhle zurückgelassen, gesundet dann aber und begegnet Imdugud in der Einöde, und zwar in einer Sequenz, die auffällige Ähnlichkeiten zur Melampussage aufweist (vgl. 1.2.2). Der Vogel bietet ihm verschiedene Wunderkräfte an, darunter Treffsicherheit für Pfeil und Bogen, doch Lugalbanda schlägt alles aus, ausser der Gabe schnellen Laufes, kehrt zum Heer zurück und bringt ihm Hilfe bei der Eroberung einer Stadt, welche die anderen schon aufgegeben hatten. Es ist auffällig, dass hier als Haupttier der Geschichte ein Vogel neben den Helden tritt, während es bei Philoktet eine Schlange ist (zu seinem Bezug zu Vögeln vgl. allerdings unten p. 43 mit n. 21) – doch genauso wie bei den mittelalterlichen Geschichten liegt auch hier kaum eine direkte Abhängigkeit vor, sondern eine Parallele, wie sie sich aus dem viel allgemeineren Rollenmodell des Experten- oder Heldentums immer wieder ergibt. Dâ im diu îsenhalte lac| 3450beidiu naht unde tac,| dâ hete si im ob dem vuoze| daz vleisch harte unsouze| unz an daz bein vernozzen,| sô daz sî was begozzen| 3455mit bluote zallen stunden| von den frischen wunden.| daz was sîn swerende arbeit,| âne ander nôt die er leit. Hartmann von Aue, Gregorius, 3449–58. In der in verschiedenen Versionen erhaltenen altfranzösischen Vie du pape Saint Grégoire, von der eine ältere Fassung Hartmann als Vorlage gedient haben muss, gibt es keine genau entsprechenden Passagen, sondern bloss den allgemeinen Hinweis, dass Gregorius nicht mehr auf seinen Füssen stehen konnte (Version A: 2536 Les ferges aprés li osterent. |Volstrent le faire sus lever, |Mais il ne pot sor piez ester. |Feibles esteit e sens valor ... und Version B: 2001N’en estant ne pot ester |Ne de ses piez un pas aler); dafür erscheint hier das der Philoktetlegende genau entsprechende (aber in Legenden allgemein sehr häufige) Motiv, dass der Heilige auf der Insel in einer Höhle lebt (Version A: 2213Que la roche est ensi crusee |Cum une maison bien ovree); Text und Übersetzung all dieser Stellen bei Kasten, Saint Grégoire.
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2. Der verwundete Philoktet
was den beiden Hauptszenen der Philoktetsage gemeinsam ist: dass darin eine Gruppe im Mittelpunkt steht, die ihre Probleme nicht zu lösen vermag – die Vertrauten des Herakles, die Achaier vor Troia –, und dass zu diesen ein Aussenseiter tritt, der die Lösung bringt und dafür belohnt wird – mit den Pfeilen oder mit der Heilung. Spätestens hier drängt sich ein Vergleich mit Melampus auf, ist doch, von aussen Lösungen zu bringen, ein heilendes Expertentum gegenüber Einzelnen oder Gruppen gerade eine der Funktionen, welche dem Seher immer wieder zugeteilt wird19. Beim erzählerischen Entwurf von auf diese Weise besonders begabten Gestalten gibt es nun zwei kritische Punkte: erstens den Eintritt in die Gruppe, wenn der Held die Grenze vom Aussen ins Innen überschreitet. Dies ist der Stoff des uns erhaltenen Philoktetdramas des Sophokles. Anderseits muss die Frage beantwortet werden, wie er denn überhaupt zum Aussenseiter geworden ist. Die Philoktetsage antwortet auf diese zweite Frage mit der Geschichte vom Schlangenbiss. Wieder ist es merkwürdig, dass man auch bei Melampus die Begegnung mit den Schlangen an dem Punkt findet, wo der Seher wird, was er ist. Dennoch sollte man die Unterschiede nicht übersehen: Während Melampus seine besten Fähigkeiten den Schlangen verdankt, ist der Bogen, durch den Philoktet für die Achaier wertvoll ist, der Erwerb seines früheren Auftritts. Das Reptil macht ihn nur noch zum Aussenseiter und bringt ihm gewissermassen den unschönen Aspekt seines Expertentums20. Eine Reihe von einfachen Umkehrungen verdeutlicht diesen Bezug zwischen den beiden Geschichten: die von der Begegnung mit den Schlangen direkt betroffene Körperstelle springt um von zuoberst nach zuunterst, vom Kopf zu den Füssen. Zugleich wird aus dem sanften und reinigenden Eingriff einer, der grausam und vergiftend ist. Die Bilderfolge, welche auf eine Schlange die Vögel 19
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Die Parallele zwischen Philoktet und Sehergestalten arbeitet auch Davies 2003, 347–351 deutlich heraus. Schon Mackie 2001, 5–7 verwies darauf, dass Heroen nicht selten als ‚Heiler’ einer ‚sozialen Wunde’ auftreten und nennt dabei auch Philoktet. Goyens-Slezakowa 1992 versucht, Schlangenbiss und Aussetzung als Spiegelung einer schamanistischen Initiation zu deuten, bleibt aber in der Behandlung der einzelnen Motive schematisch. Vorausgegangen war Bremmer 1978, 9–15, der die Fussverletzung des Philoktet und seinen Aufenthalt auf einer einsamen Insel als Hinweise auf die ‚liminale Periode’ der Initiation versteht (dass Philoktets Leben auf Lemnos als Aufenthalt in der ‚Wildnis’ geschildert wird, betonen auch Morin 2003, bes. 390–393, Phillips/Clay, Philoctetes, 7–9, Scanzo 2003, 482–488). Etwas problematisch ist die Art, wie bei Bremmer Belege gereiht werden, um eine allgemein gültige Bedeutung des Motivs ‚Fussverletzung’ zu bestimmen. Müller, Kommentar, 36 hält dies für strukturalistisch, ein Irrtum, der für die ungenügende Rezeption strukturaler Ansätze in der deutschsprachigen Altertumswissenschaft kennzeichnend ist; tatsächlich ähnelt das Verfahren weit eher der in der Psychologie C. G. Jungs üblichen Amplifikation. Man beachte, dass bei Philoktet damit Elemente der Geschichte, welche bei Melampus eng zusammen gehören, auf zwei verschiedene Episoden aufgeteilt werden. Es liegt also ein weiteres Beispiel jenes Verhältnisses zwischen zwei Geschichten vor, das ich paradigmatische Spaltung genannt habe (vgl. 1.2.2). Sanh Tong 1996 verweist auf Vorstellungen der Maias, wonach der Schlangenbiss zum Zeichen der Erwählung des Medizinmannes wird. Anders als bei den oben p. 41 mit nn. 17 und 18 angeführten Parallelen stehen wir mit solchen Analogien ausserhalb eines auch nur möglichen Überlieferungszusammenhangs mit griechischen Vorstellungen.
2.1. Iphiklos’ Neffe
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folgen lässt, wird indessen auch bei Philoktet nicht aufgegeben: Unter den kleinen Tieren, von deren Jagd er während der Aussetzung auf Lemnos lebt, werden Tauben und Ähnliches immer wieder an erster Stelle genannt, und in einem Teil der späteren Überlieferung jagt er sogar ausschliesslich Vögel21. Während Melampus also zuerst die Schlangen nährt (a1), ehe ihm diese zu einer besonderen, das Gehör betreffenden Begegnung mit den Vögeln verhelfen (b1), begegnet Philoktet zuerst dem Mund der Schlange (b2) und nährt sich danach von Vögeln (a2-1). Hier liegt ein Fall vor, der uns noch öfter begegnen wird: dass eine Erzählsequenz in ihrer Abfolge gerade umgekehrt wird, eine Erscheinung, die ich in Anlehnung an einen Begriff der Musiktheorie im Folgenden als den ‚Krebs’ bezeichnen möchte. In diesem Fall führt – auch dies eine häufige Erscheinung – der Krebs zum Wechsel des Vorzeichens der betroffenen Elemente22. Die Transformation findet dabei (auch dies ist nicht ungewöhnlich) auf der Achse einer vertrauten grammatischen Kategorie, Diathese oder Genus verbi statt (ἔѳρεѱα vs. ἐτράφην). Dass zwischen Philoktet und Melampus eine solche nähere Beziehung besteht, scheint schliesslich ein Teil unserer Überlieferung sogar in Familienbegriffe umgesetzt zu haben: Danach ist Poias, der Vater des Philoktet, ein Sohn jenes Phylakos von Phylake, dem Melampus die Rinder stehlen sollte, und damit wird Iphiklos, den der Seher von der Unfruchtbarkeit geheilt hat, zum Onkel des Philoktet23. 2.2. EIN ZERBROCHENER SPIEGEL: DIE ÜBERLIEFERUNG 2.2.1. Dreimal Tragödie Die Überlieferung zu Philoktet wird in der älteren Forschung vor allem auf zwei Arten ausgewertet: Entweder man hat einzelne Elemente aus allen möglichen Texten zusammengefasst, um ein scheinbar abgerundetes Gesamtbild zu erzeugen (und so habe ja auch ich selbst es im voranstehenden Einführungskapitel ge-
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Vögel an erster Stelle schon auffallend häufig bei Soph. Phil. 288f, 710f, 955, 1092–1095, 1107–1111, 1146f; Nahrung allein von Vögeln etwa bei Acc. Trag. 217–219, 222f Dangel = 539f, 546–548 R., Ov. Met. 13.53, Quint. Smyrn. 9.357–361, Apollod. Epit. 3.27; vgl. auch Zenob. 4.99 und dazu unten 3.1.5. In einem Teil dieser Quellen kleidet sich Philoktet sogar in Vogelfedern, verwandelt sich also in einen eigentlichen Vogelmann. Mit dem Flügel eines Vogels fächelt er auf einer Reihe von antiken Bildern seine Wunde, vgl. LIMC 7 (1994) s.v. Philoktetes 380–383 (Nrr. 34–37, 66, 68) [M. Pipili]. Zur Geschichte dieser Motive Müller, Beiträge, 277f, 300 n. 195, 304 n. 213. Zum Verhältnis Mund/Gehör vgl. 1.2.2. In eine Formel gefasst, könnte man schreiben: a1 : b1 :: b2 : a2-1; ähnliche Transformationen werden uns im Folgenden immer wieder begegnen. Eusth. Hom. Il. 2.698 [323.41f.].
44
2. Der verwundete Philoktet
macht24), oder man versuchte, die älteste oder mindestens gewisse sehr alte Formen der Sage wiederherzustellen, oft ebenfalls durch die Kombination von Teilstücken aus unterschiedlichen Quellen25. So wurden etwa dafür, wie die Geschichte vom Schlangenbiss in der Tragödie des Aischylos dargestellt war, ganz verschiedene Vorschläge gemacht, wie sie als Ganze in unseren Quellen nirgends erzählt werden26. Im Folgenden will ich anders verfahren: Ich werde meiner Untersuchung soweit möglich weder Synthesen noch Rekonstruktionen zugrunde legen27, sondern die einzelnen Varianten der Sage, so wie sie überliefert sind, einzeln nebeneinander stellen28. Erst in einem zweiten, von dieser Bestandesaufnahme getrennten Schritt versuche ich dann, die Varianten in die Bahnen zu weisen, aus denen sie stammen, und die Bedeutungen aufzufächern, die sich mit ihnen verknüpfen29. Die Zeugnisse zur Verwundung des Philoktet sind alles in allem überschaubar. Vergleicht man die Texte, fasst zusammen, was zusammen gehört und trennt das Unvereinbare, bleiben elf deutlich unterschiedene Varianten. Ich beschränke mich dabei auf jene Texte, die eine zusammenhängende Geschichte erzählen. Die grosse Zahl jener, die nur den Schlangenbiss nennen oder allenfalls noch den Ort des Geschehens, werde ich nachtragen, wenn es der Verlauf meiner Untersuchung nötig macht. 2.2.1. a) Sophokles Der Einfachheit halber, ordne ich die Varianten zunächst in der Reihenfolge, in der sie in uns erhaltenen Texten bezeugt sind. Am Anfang steht deshalb das Philoktet-Drama des Sophokles, das 409 uraufgeführt wurde. Gerade hier wird auf die Vorgeschichte mit dem Schlangenbiss nur in ein paar knappen Randbemerkungen angespielt30. Die ausführlichste Stelle sind die folgenden Verse, die der junge Neoptolemos gegen Ende des Stücks zu Philoktet spricht, in einer Passage, in der das Schicksal des Helden von seiner Verwundung bis zur Heilung und zum Fall von Troia zusammengefasst wird: 24 25 26 27
28
29 30
Das Verfahren findet sich vor allem in religions- oder sagengeschichtlich ausgerichteten Arbeiten wie Marx 1904, Pettazzoni 1909, Untersteiner, Filottete, Radermacher 1949 u.a. Beispiele bei Schnebele, Quellen, 108–119, Müller, Beiträge, 11f, Kommentar, 26–40 u.ö. Zur Fassung der Sage bei Aischylos ausführlicher 2.3.4.b. Grundsätzlich zum Problem der Rekonstruktion vgl. Masciadri, Verwechslungskomödie, 11– 13 u.ö. Ein vollständiger Verzicht lässt sich natürlich nicht durchhalten. Schon aus Gründen der Übersichtlichkeit ist man immer wieder zu solchen vereinfachenden Kombinationen genötigt (vgl. unten zu Ph3 und weiter 2.3.1). Vergleichbare Versuche boten bisher vor allem Mandel, Philoctetes, 2–45 und Avezzù, Ferimento, 87–172, allerdings nicht schwergewichtig zur Geschichte vom Schlangenbiss; zu dem ähnlichen Versuch von Bowersock, Fiction, 55–76 vgl. unten 2.3.1 mit n. 2. Vgl. 2.3. Vgl. Müller, Beiträge, 74f, Kommentar, 54 n.115; Zusammenstellungen der betreffenden Stellen auch bei Mandel, Philoctetes, 20–25 und Schnebele, Quellen, 110f.
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – die Überlieferung
45
Ph131 Du krankst an diesem Schmerz durch göttliches Treffen weil du dich dem Wächter der Chryse genähert hast, der das ungedeckte Gehege bewacht, als verborgene hausbewachende Schlange.
An einer zweiten Stelle spricht Philoktet selbst: Ph1a32 Ich bin jener, von dem du wohl gehört hast, dass er der Herr über die Waffen des Herakles sei, der Sohn des Poias, Philoktet, den die beiden Feldherrn und der Fürst der Kephallener 33 in schändlicher Weise so in der Einöde ausgesetzt haben, während ich hier hinschwinde durch wilde Krankheit, geschlagen von der männerverderbenden Viper mit wildem Biss.
An einer dritten spricht dann wiederum Neoptolemos: Ph1b34 Als ein göttliches, wenn auch ich meine Meinung sagen darf, befiel ihn auch jenes Leiden von der hartherzigen Chryse.
Weiteres Material liefern die Scholien zu den Tragödien des Sophokles. Diese Art von fortlaufenden Kommentaren geht im Kern auf die Arbeit der Gelehrten des 3. und 2. Jh.s zurück. Gegen Ende des 1. Jh.s hat der Universalphilologe Didymos von Alexandria sie zu grossen Handbüchern zusammengefasst, doch erhalten ist davon bloss ein Auszug, der wohl auf eine Bearbeitung im 2. oder 4. Jh. n. Chr. durch einen Mann namens Sallustios zurückgeht35. Zu Ph1 finden wir darin folgende erklärenden Umschreibungen: Ph1c36 Du, Philoktet, krankst durch göttliche Vorsehung, weil du nahe darangegangen bist an die Schlange, die das Heiligtum der Athene bewacht, und es gibt keine Heilung ausser durch die Söhne des Asklepios37.
Ph1d38 Weil du nahe darangegangen bist an die Schlange, die der Wächter der Insel Chryse ist.
Diese Texte bieten ein geschlossenes Bild: Schauplatz ist ein Ort Chryse, wo es eine Gottheit gleichen Namens mit einem heiligen Gehege gibt, das heisst ein umfriedetes Heiligtum ohne überdachten Tempel. Philoktet gerät dort in die Nähe 31 32 33 34 35 36 37 38
Ph1 = Soph. Phil. 1326–1328 (vgl. hph1.1). Ph1a = Soph. Phil. 261–267. Gemeint sind Agamemnon, Menelaos und Odysseus. Ph1b = Soph. Phil. 192–194. Zur Geschichte der Soph.-Scholien RE 2.2 (1921) 625–705 s.v. Scholien [A. Gudeman], bes. 656–662. Ph1c = Schol. Soph. Phil. 1326. Gemeint sind Machaon und Podaleirios; zur Heilung des Philoktet 4.2.2. Ph1d = Schol. Soph. Phil. 1327.
2. Der verwundete Philoktet
46
der verborgenen Wächterschlange und wird von dieser gebissen, offenbar auf Veranlassung der hartherzigen Gottheit39. 2.2.1. b) Theodektes Eine zweite Gruppe von Zeugnissen schliesst an eine Stelle in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles an40: Ph241 ... wie der Philoktet des Theodektes, von der Viper gebissen...
Mit diesem Wort verweist der Philosoph auf eine verlorene Tragödie des Dichters Theodektes, der im mittleren Drittel des 4. Jh.s wirkte42. Besser verständlich wird es durch die Hinweise in zwei spätantiken Kommentaren: Ph2a43 Wie der Philoktet bei Theodektes, der den Begleitern des Neoptolemos verbergen will, wie er vom Vipernbiss gequält wird, erst eine Weile aushält, nachher aber, als er die Grösse der Schmerzen nicht mehr erträgt, deutlich wird.
Hier zeigt der Hinweis auf die Begleiter des Neoptolemos, dass auch das Drama des Theodektes die Heimholung des Philoktet schilderte. Für unsern Zusammenhang bedeutend ist indessen vor allem die zweite Erklärung: Ph2b44 Theodektes war ein Tragödiendichter und er führt den Philoktet ein, wie er, von der Schlange in die Hand gebissen, lange Zeit Widerstand leistete gegen Leid und Schmerz, später aber unterlag und schrie: „Schlagt meine Hand ab!”
Diese Variante der Geschichte unterscheidet also von allen anderen, dass Philoktet nicht in den Fuss sondern in die Hand gebissen wird.
39
40 41 42 43 44
Zum Begriff des ‚Heiligen Geheges’ 2.3.4.c). Einzelne Abweichungen sind bloss scheinbar: in Ph1d wird der doppeldeutige Ausdruck Wächter der Chryse, der sowohl Insel wie Göttin meinen kann, eindeutig festgelegt, und in Ph1c steht Athene für Chryse, indem der weniger bekannte Name als Beiwort der bedeutenderen Göttin gefasst wird. Zu den folgenden Stellen auch Avezzù, Ferimento, 152–154, Jouan/Van Looy, Euripide VIII,3, 277f. Ph2 = Aristot. NE 7.8 (1150b8f) [= 7.T1 Avezzù]. Zu den Fragmenten des Theodektes allgemein Kannicht, Musa, 168f. Ph2a = Theodektes TrGF 72 F 5bI (Aspas. Comm. in Aristot. NE = CAG XIX 1.133.6–9) [fehlt bei Avezzù]. Ph2b = Theodektes TrGF 72 F 5bII (Anon. Comm. in Aristot. NE = CAG XX 436.33–35) [= 7.T2/F1 Avezzù].
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – die Überlieferung
47
2.2.1. c) Euripides Es folgt nun eine Reihe von Zeugnissen, aus denen sich trotz kleineren Unterschieden eine einheitliche und einer bestimmten Quelle zuweisbare Variante gewinnen lässt45. Das erste dieser Zeugnisse ist das Gedicht eines gewissen Dosiadas, über den sich nicht viel mehr Sicheres sagen lässt, als dass er in hellenistischer Zeit gelebt hat. Die Verse gehören der damals aufkommenden Kunstspielerei des Figurengedichts an, das heisst sie geben im Schriftbild den Umriss eines Gegenstandes wieder, nämlich einen Altar46. Dieser spricht in dem Gedicht selbst und erzählt auch von sich, allerdings in äusserst gewundenen Umschreibungen, so dass der Text wie eine Verschränkung von Wort- und Bildrätsel erscheint. Um die Sache zu vereinfachen, gebe ich die wichtigste Stelle nicht bloss übersetzt, sondern in einer Auflösung der Rätselrede47: Ph3a Iason, der Gatte der Medea und Liebling der Chryse, errichtete mich, als Medea den Talos zerschmetterte48. Nachdem Philoktet mich erblickt hatte, schrie er schrecklich auf, denn die Schlange hatte ihn mit ihrem Gift verletzt. 45
46 47
48
Unvollständig sind die Zusammenstellungen dieser Quellengruppe bei Mandel, Philoctetes, 13–15 (nur Ph3c, Ph3d, Dares, Val. Fl.) und Avezzù, Ferimento, 132–145 (nur Ph3c, Ph3f, während er Ph3d und Ph3e nicht zu den Zeugnissen für Eur. zählt), noch knapper die Auswahl bei Kannicht, TrGF 5,2, 827–844 (nur Ph3c, Ph3f); vgl. auch Schnebele, Quellen, 110f. Für die Forschung zum Philoktetes des Eur. haben die Arbeiten Müllers (zusammengefasst in Beiträge, bes. 21f, 43–48 und Kommentar, bes. 325–328, 375–377) neue Massstäbe gesetzt, so dass ich ältere Studien nur noch ausnahmsweise zitiere. Auch bei Müller fehlt allerdings eine vollständige Übersicht über diese Zeugnisse (Ph3b etwa scheint nirgends berücksichtigt), und die von ihm eingeführte neue Zählung der Fragmente ist eher unübersichtlich (auch abgesehen davon, dass Bildzeugnisse nicht mit den Nummern des LIMC zitiert werden), so dass ich hier nicht einfach darauf zurückgreifen konnte. Die Behandlungen des Schlangenbisses bei Jouan/Van Looy, Euripide VIII,3, 281f und Collard/Cropp/Gilbert, Euripides 2, 2f, 26, welche die Zeugnisse nirgends zusammenstellen, sind unbefriedigend, vgl. unten n. 68. Eine kurze Übersicht zu den Fassungen der Philoktetsage auf der attischen Bühne auch bei Avezzù, Mito, 149–152 und (ohne viel Gewinn, da anscheinend ohne Kenntnis von Müllers Arbeiten) Scanzo 2003, bes. 488–493. Zum hellenistischen Figurengedicht allgemein Wojaczek, Daphnis, 56–126, Ernst, Carmen, 54–94; Wojaczek 1993 bringt demgegenüber kaum Neues; vgl. auch Strodel, Überlieferung. Ph3a = Dosiad. AP 15.26; genauer in der Übersetzung von Beckby, Anthologie, 279: „Des in Männerkleid gehüllten Weibes| Gatte, der Mann, der zweimal jung gewesen,| baute mich, nicht der, der in Asche lag, der Sohn der Empusa, das Opfer| des teukrischen Hirten und (Mörder) des Kindes der Hündin,| sondern der Freund der Chryse, als die Männerkochende| den erzleibigen Wächter zerschmetterte,| den der Vaterlose, der Zwiebeweibte,| der von der Mutter Fortgeschleuderte geschaffen hatte.| Meinen Bau sehend,| schrie der Mörder des Theokritos,| der Verbrenner des in drei Nächten Erzeugten,| auf mit furchtbarem Ruf.| Denn verletzt hatte ihn mit Gift| der Bauchkriecher, der das Alter abstreift.| Ihn aber, der auf Ringsumtoster jammerte,| haben der Gatte von Pans Mutter, der Dieb| mit den zwei Leben, und der Sohn des Menschenfressers um der ilionvernichtenden| Pfeile willen nach der dreimal zerstörten Teukris gebracht.“ Vgl. Buffière, Anthologie, 214f und den Kommentar bei Wojaczek, Daphnis, 105–112, ausserdem Ernst, Carmen, 83–86, Strodel, Überlieferung, 59–61. Gemeint ist der eherne Riese Talos auf Kreta, vgl. Apoll. Rhod. 4.1636–1688 u.a.
2. Der verwundete Philoktet
48
Hier schliesst sich gleich ein späterer Text an, von dessen Autor feststeht, dass er das Gedicht von Dosiadas gekannt hat: In der Zeit Hadrians hat ein gewisser Besantinos dem Kaiser ein Figurengedicht gewidmet, ebenfalls in Altarform49. Auch darin spricht der Altar selbst, weist aber darauf hin, dass er gerade nicht der Altar des Philoktet ist – eine Unterscheidung, durch die der Dichter seine Verse ebenso in Beziehung zur Vorlage des Dosiadas setzt, wie damit, dass er in der ionischen Kunstdialekt spricht, während Dosiadas die dorische verwendet hatte. Hier übersetze ich den Text wieder wörtlich: Ph3b50 ... denn rein bin ich von Gift spritzenden Tieren, wie jener sie barg, auf dem thrakischen Neai, den nahe bei Myrina dir, die du drei Väter hast, der Dieb des rotgoldenen Widders errichtete.
Die Handschrift, welche dieses Gedicht überliefert, enthält einen ausführlichen Kommentar. Die wichtigsten Bemerkungen zu unserer Stelle lauten: Ph3b′51 „Gift spritzenden Tieren“ statt: „Ich habe keine giftspeienden Schlangen“.
Ph3b′′52 „Die du drei Väter hast“: „Dir, Athene“. Es heisst, Athene sei von drei Vätern gezeugt und werde deshalb „dreimal geborene“ genannt53.
Das nächste Zeugnis steht bei Dion von Prusa, einem Redner vom Ende des 1. Jh.s n. Chr., der in einem kleinen Werk zwei Abschnitte aus dem PhiloktetDrama des Euripides nacherzählt. Die erste der beiden folgenden Stellen stammt
49
50 51 52 53
So die Datierung des Textes seit Haeberlin, Carmina, 59–66. Der – von Ernst, Carmen, 86– 90 übernommene – Versuch von Wojaczek, Daphnis, 112–126, den zweiten Altar ebenfalls dem Dosiadas zuzuschreiben, hat mich nicht überzeugt. Beachtet man, wie sehr die kaiserzeitliche griechische Dichtung die Tendenzen des Hellenismus fortschreibt, so sagen Anklänge an Lykophron und Nikandros für eine Frühdatierung nicht viel aus, und dass mit dem Vokativ im das Gedicht durchlaufenden Akrostichon ΟΛΥΜΠΙΕ ΠΟΛΛΟΙΣ ΕΤΕΣΙ ѲΥΣΕΙΑΣ, welches Haeberlin als Widmung an Hadrian gedeutet hatte, der Dichter sich selbst anredet, ist äusserst unwahrscheinlich; in Akrosticha erscheint sonst der Autorname im Nominativ (Nik. Ther. 345–353, Il. Lat. 1–8) oder Genitiv (bei [Eudox.] Ars 1–12, Dion. Calliph. 1–9, Dion. Periheg. 112–121). Vor allem aber fehlt im Altar des Besantinos die virtuose Verrätselung der Sprache, um derentwillen der Text des Dosiadas schon im Altertum umstritten war (vgl. Lukian. Lex. 25), so dass sich der Eindruck verstärkt, es liege die Arbeit eines etwas weniger geschickten Nachahmers vor, vgl. Strodel, Überlieferung, 61f. Eine weitere, lateinische Imitation ist die Ara Pythia bei Opt. Porph. 26, die aber nicht mehr auf Philoktet Bezug nimmt. Ph3b = Besantinos AP 15.25.23–26. Ph3b′ = Schol. Besantinos AP 15.25.24. Ph3b′′ = Schol. Besantinos AP 15.25.26. Hinter der Deutung steht die Gleichsetzung von Chryse mit Athene, vgl. Ph1c, Ph3f; nichtig sind die anderen Erwägungen bei Wojaczek, Daphnis, 116f, der überhaupt den Zusammenhang beider Altargedichte mit Eur. verkennt.
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – die Überlieferung
49
aus dem Prolog, die zweite aus dem Auftritt, in dem Philoktet und Odysseus einander zum ersten Mal begegnen54: Ph3c55 [Odysseus über Philoktet] Ich selber war ja schuld, dass er zurückgelassen wurde, als er von der schlimmen und unheilbaren Viper gebissen war. [Philoktet über Odysseus] Wahrhaftig, du hast mich hier ausgesetzt, und dabei war ich wegen des Gemeinwohls und des Sieges in dieses Unglück gestürzt, indem ich [dem griechischen Heer] den Altar der Chryse zeigte: Wenn sie dort opferten, würden sie die Feinde besiegen; wenn nicht, wäre der Feldzug vergeblich.
Es folgt ein Text aus der Sammlung von Gemäldebeschreibungen des sogenannten Jüngeren Philostrat aus severischer Zeit. Eine davon zeigt den ausgesetzten Philoktet und berichtet Folgendes: Ph3d56 Als die Achaier nach Troia segelten und die Inseln anliefen, suchten sie den Altar der Chryse, den Iason seinerzeit gebaut hatte, als er nach Kolchis fuhr, und als Philoktet den Suchenden den Altar zeigte, weil er sich als einer der Begleiter des Herakles noch daran erinnerte, und ihm die Natter das Gift in den einen der beiden Füsse spritzte, brachen die Achaier zwar nach Troia auf, er aber lag hier in Lemnos, „den Fuss“, wie Sophokles sagt, „triefend von nagendem Gift“.
Schliesslich noch zwei Texte aus dem Umkreis der Sophokles-Kommentierung: der erste ist ein eigentliches Scholion: Ph3e57 Es gibt auch eine Gemeinde Chryse bei Lemnos, wo er von der Schlange gebissen wurde, als er den Altar suchte, auf dem Herakles geopfert hatte, da er gegen Troia zu Felde zog.
Der andere ist der Anfang einer Hypothesis in Versen von allerdings höchst mässiger Qualität: Ph3f58
Den für Athene auf Chryse aufgeschütteten Altar 59, wo den Achaiern von einem Orakel befohlen war zu opfern, kannte allein der Sohn des Poias, der seinerzeit mit Herakles zusammen gewesen war. Als er versuchte, diesen dem zu Schiff fahrenden Heereszug zu zeigen, von der Viper gebissen, wurde er krank auf Lemnos zurückgelassen. 54 55 56 57 58 59
Zum Verhältnis dieser beiden Szenen im Stück vgl. Müller, Beiträge, 55–62, 75f, Kommentar, 121f. Ph3c = Dion Chr. 59.3/9 [= 5.T7 Avezzù = P6/10 Müller = Frg. 789b/d Kannicht]. Ph3d = Philostr. iun. Im. 17.2 [= 8.2.21 Avezzù]; vgl. weiter Müller, Kommentar, 78 mit n. 33. Ph3e = Schol. Soph. Phil. 194 [= 8.2.12a Avezzù]; vgl. 2.2.2. zu Ph6. Ph3f = Hypoth. metr. Soph. Phil. 1–5 [= 5.A2 Avezzù = Kannicht TrGF im Apparat zu Frg. 789d]. Ich folge hier dem Text der ältesten und wichtigsten Handschrift (L), die liest: Ἐν Χρύσηι Αѳηνᾶι βωµὸν ἐπικεχωσµένον, auch wenn der griechische Vers dadurch holprig wird. Bei dem bescheidenen Können des unbekannten Verseschmieds sind alle Eingriffe fragwürdig. Zur Übersetzung Ussher, Philoctetes, 110.
2. Der verwundete Philoktet
50
Die scheinbare Vielfalt dieser sechs Texte schwindet bei genauerer Betrachtung rasch: Philoktet wird von der Schlange gebissen, als er den Altar sucht und zeigt, welcher der Göttin Chryse gehört. Dies ist der gemeinsame Kern, und so wird die Geschichte nirgendwo sonst erzählt. Diese Basis verbindet sich nun mit verschiedenen anderen Angaben, die sie erst sinnvoll machen. Die folgende Übersicht fasst zusammen60: Ph3
a
b
c
d
e
f
1.
Schauplatz: Chryse (+) / Neai (–)
0
–
0
0
+
+
2.
Name der Göttin: Chryse (+) / Athene (–)
+
–
+
+
0
–
3.
Den Altar suchen (+) / zeigen (–)
0
0
–
(+)/–
+
4.
0
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+
0
0
+/– +
0
0
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–
+
–
6.
Das Orakel verlangt von den Griechen ein Opfer vor dem Troiazug Herakles hat auf dem Troiazug dort geopfert (+) / Philoktet war dabei (–) Der Altar wurde von Iason errichtet
+
+
0
+
0
0
7.
Iason war der Liebling der Chryse
+
0
0
0
0
0
5.
Die Unterschiede zwischen den sechs Texten sind wohl kaum viel mehr als Unschärfen der Überlieferung: zweimal wird Chryse mit Athene gleichgesetzt, davon einmal wieder im Umkreis der Kommentarliteratur (Ph3f, vgl. oben Ph1c). Das Zeigen und Suchen sind ein und derselbe Vorgang: Philoktet sucht den Altar, von dem er allein weiss, um ihn den Griechen zu zeigen. Sein Wissen hat Philoktet, weil er schon Herakles dorthin begleitet hat, und zwar bei dessen erstem Troiazug. Herakles seinerseits kannte den Altar von der Teilnahme an der Argonautenfahrt, bei der Iason ihn errichtet hatte – das steht so nicht in den Quellen, aber der Gedanke drängt sich auf. Die sechs Zeugnisse schliessen sich damit zu einem lückenlosen Zusammenhang. Nur Ph3b tanzt aus der Reihe, indem es die Geschichte auf einer anderen Insel ansiedelt. Es ist klar, dass diese Stellen zwar alle eine schöne Kette bilden, aber keine einzelne sämtliche Glieder enthält. Es kann also nicht eine die Quelle aller anderen sein, ja es ist sogar schwierig, auch nur einzelne davon auseinander abzuleiten. Umgekehrt ist zwar kein Glied der Kette in allen Texten vorhanden, aber jedes kommt in mehr als einem Text vor – mit Ausnahme der seltsamen Angabe von Ph3a, Iason sei der Liebling der Chryse gewesen. So liegt es nahe, alle Texte von einer einzigen verlorenen Quelle unmittelbar abhängig zu denken. Diese ist nun mit Sicherheit die Tragödie Philoktetes des Euripides. Ph3c tritt ja ausdrücklich als Auszug aus diesem Drama auf. Dass damit die Fassung des Euripides in Ph3e und Ph3f dazu dienen muss, die etwas andere bei Sophokles zu erklären (vgl. Ph1), und dass der jüngere Philostrat in Ph3d seinen nach Euripides geformten Bericht mit einem Zitat aus Sophokles abschliesst, braucht nicht weiter 60
0 = kein Beleg.
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – die Überlieferung
51
zu erstaunen61: Derselbe Dion von Prusa, dem wir Ph3c verdanken, hat in einer kleinen Schrift die Philoktet-Dramen aller drei grossen Tragiker verglichen62. Tatsächlich war es üblich, Tragödien mit gleichem Inhalt nebeneinander zu lesen; Spuren davon sind immer wieder vergleichende Bemerkungen in den einführenden Hypotheseis und in den Scholien, gerade auch im Fall des Philoktet63. Darüber hinaus belegt die grosse Zahl der Zeugnisse zu Variante Ph3 die breite Leserschaft, welche dieses heute verlorene Euripides-Drama noch bis in die Kaiserzeit gefunden hat64. Freilich lässt sich aus der Fassung Ph3c streng genommen nicht ableiten, dass auch das 5. und 6. Glied der Handlungskette aus Euripides stammen: Hier könnte auch eine Nebenquelle einfliessen. Indessen kam der Philoktet des Euripides zuerst 431 als zweites Stück einer Tetralogie auf die Bühne, die mit der Medea eröffnet wurde. Wenn darin die Gründung des Altars der Chryse auf Iason zurückgeführt wird, so schafft dies eine einleuchtende Verbindung der zwei Stücke, indem es beide die späten Folgen der Argonautenfahrt spiegeln lässt65. Das Opfer des Herakles unter Anwesenheit des Philoktet müsste dann als notwendiges Bindeglied zwischen die Argonauten und die Troia-Fahrer treten. Auffällig genug ist dieses Herakles-Opfer auch auf rotfigurigen Vasen dargestellt, die alle in die Jahrzehnte nach 430 gehören und wohl an die Wirkung des euripideischen Schauspiels anknüpfen66. So setze ich zusammenfassend folgende Variante der Geschichte an, die ich forthin auch einfach als die euripideische behandeln werde, ohne die einzelnen Belege noch zu nennen, aus denen ich sie zusammengestellt habe:
61
62 63 64
65 66
Vgl. Soph. Phil. 7. Philostrat zitiert frei und ändert die Wortstellung. Ausserdem bieten unsere Soph.-Hss. für Gift (ἰῶι) das Wort Krankheit (νόσωι). Die Wendung nagende Krankheit (διάβορος νόσος) erscheint auch Soph. Trach. 1084. Zu solchen Näherungen zwischen den Fassungen als Folge der Lektürepraxis der Zeit auch Müller, Beiträge, 32 mit n.79 und 195 mit n. 57. Dion Chr. 52; dazu ausführlich Luzzatto, Tragedia, 92–100. Aristoph. Byz. Hypoth. Soph. Phil.; Schol. Soph. Phil. 1; und ähnlich bereits Aristot. Poet. 1458 b 19–24 Zur Vorherrschaft der euripideischen Fassung im Altertum auch Müller, Beiträge, 28f n.70, 195 mit n. 56, 258–308, Kommentar, 72–82. Letztlich wird dieselbe vorausgesetzt, wenn Philoktet selbst unter den Argonauten genannt wird wie Val. Fl. 1.391–393: „Auch du strebst mit dem Ruder nach Phrixos’ Kolchos, Sohn des Poias, / der du Lemnos zweimal besuchen solltest, jetzt berühmt durch die Lanze / des Vaters, dereinst aber mit den Pfeilen des Herkules in der Hand“, vgl. Hyg. Fab. 14.22, ausserdem Napolitano, Philoktetes, 154–156. Durch starke Verkürzung falsch geworden ist die Nachricht in der Erzählung vom Troianischen Krieg des Dares Phrygius (Dares 15), wo es über das Achaierheer auf dem Troiazug heisst: „Sie gebrauchten Philoktet als Führer, der mit den Argonauten bei Troia gewesen war“. Vgl. auch zur engen Verbindung zweier späterer Varianten mit Euripides unten 2.3.3. (zu Ph5) und 2.3.6 (zu Ph8). Zu weiteren thematischen Beziehungen zwischen den Stücken 2.3.4.a). LIMC 3 (1986) s.v. Chryse I, 280 (Nrr. 1–5) [H. Froning]; noch Schnebele, Quellen, 111 hält diese Vasenbilder irrtümlich für älter als Euripides; vgl. unten 2.3.5.
2. Der verwundete Philoktet
52 Ph3
Auf der Argonautenfahrt gründete Iason einen Altar für die Göttin der Insel Chryse. Als Herakles später gegen Troia zog, kehrte er, von Philoktet begleitet, zu einem Opfer dorthin zurück. Beim Aufbruch gegen Troia wurde den Griechen geweissagt, dass sie, um erfolgreich zu sein, wieder an diesem Altar opfern müssten. Philoktet zeigte ihnen, wo er lag, und wurde dabei von der Schlange gebissen.
2.2.2. Spuren im Unterholz Die nächste Variante unserer Geschichte stammt aus den Fabulae des sogenannten Hyginus, einer lateinischen Sammlung mythologischer Geschichten, die wahrscheinlich im 2. Jh. n. Chr. zusammengestellt und unter den Namen des berühmten Bibliothekars und Altertumskundlers der Augustuszeit, Gaius Iulius Hyginus gestellt wurde67: Ph468 Als Philoktet, der Sohn des Poias und der Demonassa, sich auf der Insel Lemnos aufhielt, durchstiess eine Natter seinen Fuss. Diese Schlange hatte Iuno geschickt, die wütend auf ihn war, weil er als einziger von allen gewagt hatte, einen Scheiterhaufen für Herkules zu errichten, als er den menschlichen Leib ablegte und der Unsterblichkeit übergeben wurde. Wegen dieser Wohltat nämlich schenkte Herkules ihm seine göttlichen Pfeile.
Ein weiteres Stück stammt aus dem Journal des troianischen Krieges des Diktys von Kreta, einer freien Nacherzählung der alten Geschichten, die sich als Augenzeugenbericht ausgibt. Die griechische Urfassung dieses Textes ist bis auf wenige, auf Papyrus erhaltene Fragmente verloren, sie lässt sich aber in die Zeit zwischen Nero und dem Ende des 2. Jh.s n. Chr. datieren, wahrscheinlich eher gegen Ende dieses Zeitraums69. Vollständig erhalten ist die lateinische Übersetzung eines gewissen Septimius aus dem 4. Jh. n. Chr.: 67
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69
Auf das Jahr 207 n. Chr. datiert sind mythologische Fragmente, die anscheinend Auszüge aus einer griechischen Übersetzung des Hyg. bieten (CGL 3.56–59), womit der terminus ante quem gesetzt ist, vgl. Cameron, Mythography, 11 und 34–38. Neuere Versuche, das Werk wieder dem berühmten C. Iulius Hyginus (über ihn auch 2.2.3. [zu Ph8]) zuzuschreiben (so Boriaud, Hygin, ix–xiii, NP 5 (1998) 778f s.v. Hyginus [P. L. Schmidt]), überzeugen nicht. Zum einen passt unter den nicht wenigen Titeln von Werken, die für C. Iulius Hyginus bei den antiken Autoren bezeugt sind (vgl. Christes, Sklaven, 77–81), keiner auf die Fabulae, zweitens müsste die Vorstellung, dass ein Mann zum Vorsteher der palatinischen Bibliothek ernannt wird, der einen so repetitiven und oft fehlerhaften lateinischen Stil schreibt, unser Vertrauen in die augusteische Kulturpolitik nachhaltig erschüttern, und vor allem stimmen die Fabulae an etlichen Stellen auffallend mit nachaugusteischen Dichtern überein, z.B. mit Val. Fl., vgl. oben zu Ph3 Anm. 37; ausserdem Müller, Beiträge, 305f. Ph4 = Hyg. Fab. 102.1f [= 5.A3/8.2.27 Avezzù], (vgl. HPh2b). Gegen den (etwa noch bei Jouan/Van Looy, Euripide VIII,3, 281f sichtbaren) Hang der älteren Forschung, Ph4 unbesehen als Zeugnis für Eur. zu nehmen Müller, Beiträge, 306. Aus der Zeit kurz nach 200 n. Chr. stammen die Papyrus-Fragmente des griechischen Textes (Pap. Tebt. No. 268 (II [1907] 9–18), Pap. Oxy 2539; beide bei Eisenhut, Dictys, 134–140]), während der lateinische Vorspann ein angebliches phönizisches Original erwähnt, das im 13. Regierungsjahr des Nero entdeckt und dem Kaiser vorgelegt worden sei; vgl. Merkle 1999,
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – die Überlieferung
53
Ph570 [Die Griechen sind bei Troia gelandet und belagern und unterwerfen zuerst ein paar kleinere Städte in der Umgebung, um sich freie Hand zu verschaffen.] Zur selben Zeit wurde den Griechen ein Orakel des Pythischen [Apollo] mitgeteilt: Alle müssten zugestehen, dass durch Palamedes dem Apollo Zminthius ein Opfer dargebracht würde. Darüber freuten sich viele wegen der Tüchtigkeit und Fürsorglichkeit, mit denen sich der Mann um das ganze Heer kümmerte, aber einige von den Führern schmerzte dies. Also wurden, wie erwähnt, hundert Tiere für das ganze Heer geopfert, unter der Leitung des Chryses, des Priesters an jenem Ort. Unterdessen erfuhr Alexander [Paris] die Sache, versammelte eine Schar von Bewaffneten und kam, sie zu behindern. Ihn schlugen die beiden Ajaxe, ehe er sich noch dem Tempel nähern konnte, in die Flucht, wobei sie die meisten töteten. Aber Chryses – wir haben gesagt, dass er der Priester des Apollo Zminthius war – fürchtete, eines der beiden Heere zu beleidigen, und wer immer von den Parteien zu ihm kam, zu dem tat er, als ob er mit ihm verbündet sei. Währenddessen nun stand Philoktet bei dem Opfer nicht weit vom Altar jenes Tempels und wurde zufällig vom Biss der Schlange getroffen. Darauf erhob sich bei allen, die es bemerkt hatten, ein Geschrei, und Ulixes eilte herbei und tötete die Schlange; und nicht viel später wurde Philoktet mit wenigen Gefährten zur Heilung nach der Insel Lemnos geschickt.
Die nächste Fassung stammt wieder aus den Scholien zum Philoktetes des Sophokles, und zwar gehört sie zu Vers 194, also zu Ph1b: Ph671 Chryse ist eine Insel vor Lemnos, wo sich eine Nymphe namens Chryse aufhielt, die sich in Philoktet verliebte; und als sie ihn nicht überreden konnte, verfluchte sie ihn; deshalb nennt der Dichter sie auch hartherzig.
Ergänzen lässt sich Ph6 durch folgendes Zeugnis: Ph6a72 Manche sagen auch, dass eine Nymphe namens Chryse sich dort [auf Chryse] in ihn verliebt hatte, und als sie ihn nicht überreden konnte, sich mit ihr zu vereinigen, wurde er wegen ihres Zornes von der genannten Natter gebissen.
Johannes Tzetzes, der byzantinische Gelehrte des 12. Jh.s, aus dessen Kommentar zur Alexandra, dem merkwürdigen mythologischen Gedicht des hellenistischen Dichters Lykophron, diese Stelle stammt73, schreibt hier wohl den Text von Ph6 umformulierend ab, mit Ausnahme des letzten Teilsatzes, wo er den in Ph6 ausgesparten Schlangenbiss aus dem Zusammenhang sinnvoll ergänzt. Auch das nächste Zeugnis stammt aus den Sophokles-Scholien:
70 71 72 73
162f (mit älterer Lit.). Da dieser Urtext mit Sicherheit niemals existiert hat, liegt es nahe, seine Erfindung nicht allzu dicht an seine angebliche Entdeckung heranzurücken, ganz abgesehen von der Frage, wann Neros Herrschaft weit genug zurücklag, dass ein Autor so unbefangen damit spielen konnte. Ph5 = Dict. 2.14 (vgl. HPh2a). Ph6 = Schol. Soph. Phil. 194 [= 8.2.12a Avezzù]. Ph6a = Tzetz. Lyk. Alex. 911 [= 8.12b Avezzù]. Zu diesem Werk vgl. 2.2.3.
2. Der verwundete Philoktet
54 Ph774
Es heisst, dass er von der Schlange gebissen wurde, als er auf Lemnos am Meeresstrand einen Altar für Herakles errichten wollte.
Dieses Zeugnis ist Ph4 ausserordentlich ähnlich: auffallend etwa, dass in Ph4 die Schlange von Hera/Iuno geschickt wird und zwar als Strafe dafür, dass Philoktet als einziger gewagt hat, einen Scheiterhaufen für Herakles zu errichten – eine nicht geringe Merkwürdigkeit, weil Philoktet sonst den Scheiterhaufen nur anzündet75. In Ph7 wird Philoktet gebissen, als er einen Altar für Herakles errichten will. Nun ist Ph7 ein knapper Hinweis aus einem Kommentar, so dass man das Fehlen der Hera als blosse Verkürzung erklären könnte. Hinwiederum stammt Ph4 aus dem mythologischen Handbuch des Hyginus, das zwar oft Geschichten bietet, die sonst nirgends belegt sind, dessen Umgang mit den Quellen aber nicht immer über jeden Verdacht erhaben ist. Dass dadurch ein Altar des Herakles unter dem Einfluss des bekannteren Auftritts auf dem Oeta in der lateinischen Überlieferung zu seinem Scheiterhaufen werden konnte, ist nicht undenkbar, und so könnte man auf den Gedanken kommen, Ph4 und Ph7 seien Bruchstücke ein und derselben Fassung der Philoktet-Geschichte76. Wahrscheinlich wäre dies ein voreiliger Schluss: Die Nachricht, dass Philoktet den Scheiterhaufen errichtet habe, kehrt bei Hyginus noch an anderer Stelle wieder (Hyg. Fab. 36.577) und das griechische Wort für den Scheiterhaufen, pyra, scheint mit der Verbrennung des Herakles und dem Ort, wo sie stattfand, besonders eng verknüpft78. So fallen Ph4 74 75 76
77 78
Ph7 = Schol. Soph. Phil. 270. Vgl. Diod. 4.38.4, Ov. Met. 9.229–234, Sen. Herc. Oe. 1483–1487, Serv. Verg. Aen. 8.299, Schol. Hom. Il. 2.724 u.a. Schon griechisch kann πυρά auch einen Brandaltar bezeichnen, wobei aber meist an ein Totenopfer zu denken ist (Hom. Od. 10.523 = 11.31), an ein danebenliegendes Grab (Eur. Hek. 386, El. 92, 513) oder an den Tod, der eine Person an diesem Altar ereilt (Hdt. 7.167, Eur. Tr. 483, vgl. Hdt. 2.107.2) oder bedroht (Eur. El. 1022 / Iph. Taur. 26, Ion 1258) – dies letztere ist vom Fall des Philoktet gar nicht so weit entfernt. Auch das Lateinische übernimmt pyra nicht nur für den Scheiterhaufen bei der Totenbestattung, sondern auch sonst für Holzstösse zu Brandopfern (vgl. Verg. Aen. 4.494f, Stat. Theb. 4.465). Entsprechend fallen dann die Erklärungen der Grammatiker aus: pyra [paratur] sacrificiis, rogus defunctis (Suet. Frg. 176 [288 Re]), pyra ara lignis altioribus composita (Gloss. 4.272.44), pyram instruem lignorum in qua gentiles sacrificant (Gloss. 4.383.6) u.a.; vgl. auch Apg. 28.2. Hyg. bietet allerdings auch an anderen Stellen sonst kaum bekannte Geschichten über eine pyra: Hyg. Fab. 72.1, 243.8, vgl. auch 104.3; in 243.2 entspricht allerdings pyra genau der πυρά von Eur. Hik. 1046, Apollod. 3.7.1 u.a. Ps. Lact. Plac. Fab. Ov. 9.4, wo das Motiv ebenfalls erscheint, ist wohl schon von Hyg. Fab. 36.5 abhängig; im übrigen vgl. unten 2.3.5. Vgl. die oben n. 75 genannten Stellen, dann auch Soph. Phil. 1431–1433, Apollod. 2.7.7, Phot. Bibl. 190 [147a39] (= Ptol. Chenn.) u.a.; Pyra als Ortsname für die Brandstätte: Liv. 36.30.3, Theophr. Hist. Plant. 9.10.2, vgl. Plin. Nat. 25.49; als andere Namen erscheinen Phrygia (Kallim. Artem. 159 mit Schol., Steph. Byz. s.v. Φρυγία, Eusth. Dion. Periheg. 809) und Typhrestion (Lact. Plac. Stat. Theb. 4.157–8); zur Archäologie und Forschungsliteratur Burkert, GR 210 und 63 mit n.71. Das Material zum Tod des Herakles gesammelt bei RE Suppl. 3 (1918) s.v. Herakles 1088–1090 [O. Gruppe], LIMC 5 (1990) 121–132 [J. Boardman], zum Scheiterhaufen bes. 128, und zur Topographie Müller, Griechenland,
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – die Überlieferung
55
und Ph7 bei aller Nähe doch nicht einfach zusammen, und muss die Frage nach der Verwandlung Altar-Scheiterhaufen letztlich im Zusammenhang der ganzen Geschichte gelöst werden79. 2.2.3. Mythographischer Nachsommer Die folgende Variante bedarf schon hier einer ausführlicheren Behandlung, da in ihrem Fall die Verhältnisse der Überlieferung besonders merkwürdig sind: Ph880 Philoktet aber war der Sohn des Poeas, der Gefährte des Herkules, den Herkules, als er auf dem Berg Oeta sein menschliches Wesen ablegte, bat, dass er niemandem die Reste seines Körpers verraten dürfe; darüber zwang er ihn, einen Eid zu schwören, und gab ihm die mit dem Gift der Hydra getränkten Pfeile als Geschenk. Beim troianischen Krieg erging dann ein Orakel, dass zur Eroberung von Troia die Pfeile des Herkules benötigt würden. Man fand also Philoktet, und obwohl er zuerst bestritt zu wissen, wo Herkules sich befinde, gestand er schliesslich, dass er tot sei. Als er danach heftig gedrängt wurde, sein Grab anzuzeigen, stampfte er mit dem Fuss auf die Stelle, weil er nicht sprechen wollte. Als er dann in den Krieg zog, übte er sich einmal im Pfeilschiessen, und da fiel ihm einer von den Pfeilen herunter und verletzte ihn an dem Fuss, mit dem er auf das Grab gestampft hatte. Weil die Griechen dann den Gestank der unheilbaren Wunde nicht ertrugen, führten sie ihn zwar unter dem Zwang des Orakels lange mit sich, liessen ihn aber schliesslich auf Lemnos zurück, wobei sie ihm die Pfeile wegnahmen. Aus Abscheu über seine Verwundung wollte er später nicht in seine Heimat zurückkehren, sondern erbaute für sich das kleine Petelia in Kalabrien.
Ich habe dieses Textstück aus dem Vergilkommentar des Servius vollständiger ausgeschrieben als die meisten anderen Zeugnisse, weil es in wesentlichen Punkten von der sonstigen Überlieferung abweicht81: Nicht nur die Verbindung mit der unteritalischen Stadt Petelia ist einzigartig, sondern auch die Behauptung, dass Philoktet gar nie in Troia gewesen sei, sowie der Bericht über ein Grab des Herkules. Diese Besonderheiten lassen sich für eine Klärung der Überlieferung nutzbar machen. Die Vorstellung, dass Philoktet selber nicht an der Belagerung von Troia teilgenommen hat, wiederholt sich bei Servius noch an anderer Stelle. In einer Aufzählung der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit das Schicksal die Eroberung von Troia zulässt, heisst es82: ... dass die Pfeile des Herkules dabei sein müssten, die Philoktet schickte, weil er selbst sie nicht bringen konnte, denn er starb vorher.
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319f; vgl. Pease, Natura Deorum, 1048f (zu Cic. Nat. deor. 3.41), Laurens/Lissarrague 1989, und Kray/Oettermann, Herakles, II.163f; weiteres unten 2.2.3. Vgl. 2.3.5. Ph8 = Serv. Verg. Aen. 3.402 (vgl. Mythogr. Vat. I.59 / II 192) [= 8.2.26 Avezzù]. Über Servius allgemein Enc. Virg. 4 (1988) 805–813 s.v. Servio [G. Brugnoli], Bruggisser, Romulus, 4–9, Fowler 1997, Uhl, Servius, 1–5 mit Literaturbericht 5–14, Pellizzari, Servio. Serv. Verg. Aen. 2.13.
56
2. Der verwundete Philoktet
Auch wenn dieser Schluss mit Ph8 nicht ganz zusammenpasst, so ist doch eindeutig, dass Servius davon ausgeht, dass Philoktet niemals in Troia war. Keine der übrigen Erwähnungen des Helden in seinem Kommentar widerspricht dem83. Nur an einer einzigen Stelle finden wir in der antiken Literatur diesen Gedanken wieder: In der Neuen Geschichte des Ptolemaios Chennos war berichtet, dass Philoktet am Schlangenbiss gestorben sei und nicht er, sondern Menelaos den Alexandros mit dem Speer getötet habe84. Nun gehört dieses Buch, dessen Autor man an der Wende vom 1. zum 2. Jh. n. Chr. tätig denkt, zur Gattung der sogenannten Schwindelliteratur, d.h. es betreibt ein spielerisch-phantasievolles Weiterdichten der alten Geschichten85. Eines der häufigsten Verfahren ist dabei das Abstreiten von bekannten Fakten, eine Art fiktiven Dementis. Gerade zu Philoktet findet sich noch ein anderes Beispiel: nicht dieser habe den Scheiterhaufen des Herakles angezündet, steht da, sondern ein gewisser Morsimos von Trachis86. Schon dadurch wird deutlich, dass Servius, der in diesem Punkt der bekannteren Fassung der Geschichte folgt, kaum aus Ptolemaios Chennos geschöpft hat. Anders als der römische Kommentator liefert dieser ja auch nicht eine zwar abweichende, aber doch in sich zusammenhängende Geschichte über Philoktet, sondern bloss einzelne Einfälle, die sich zu einer sinnvollen Geschichte weder schliessen können noch müssen. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Quellen erklärt sich daraus, dass die Freude des Schwindelbuches an grotesken Umkehrungen hier zufällig auf dasselbe Resultat führt wie die Geschichte, die hinter dem Text des Servius steht, mit ihrer ganz anderen Aussagerichtung87. Weiter führt der zweite Punkt, das Grab des Herkules: Dieses Detail ist im Zusammenhang der griechischen Religion merkwürdig sinnlos, denn keiner der Kultorte dieses Helden behauptet, sein Grab zu beherbergen88. Auch die bekannte Stätte auf dem Oeta ist nur der Ort seines Todes, nicht seines Begräbnisses. In den dazu gehörenden Geschichten spiegelt sich dies so, dass Iolaos und die Seinen nach der Verbrennung des Herakles vergeblich seine Gebeine suchen und daraus folgern, er sei ein Gott geworden89. Auf Vasenbildern bleibt ein leerer Brustpanzer auf dem Scheiterhaufen zurück90. Nun finden wir zwar in Griechenland gelegentlich sogar Berichte über Gräber von Göttern, die als Unsterbliche ja kei-
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Vgl. Serv. Verg. Aen. 3.401, 8.299, 9.619. Ptol. Chenn. bei Phot. Bibl. 190 [151a4–6]. Über Ptol. Chenn. allgemein Tomberg, Kaine Historia, auch Brisson, Mythe, 78–80 n.1, Cameron, Mythography, 134–159. Ptol. Chenn. bei Phot. Bibl. 147a37; der Name ist ein durchsichtiges Wortspiel: µόρσιµος (Adj.) heisst vom Schicksal bestimmt, zugeteilt oder tödlich, letzteres vor allem in der Verbindung µόρσιµον ἦµαρ, Tag des Todes, z.B. Hom. Il. 15.613, Od. 10.175; vgl. LFE s.v. µόρσιµος/µόριµον und Tomberg, Kaine Historia, 97 mit n.21. Dies gegen Tomberg, Kaine Historia 104 mit n.61, der annimmt, die Geschichte bei Ptol. Chenn. stamme aus einer älteren literarischen Bearbeitung des Mythos. Vgl. Pfister, Reliquienkult, 157 mit n. 577. Vgl. Diod. 4.38.5. Vgl. LIMC s.v. Herakles Nrr. 2916–2918.
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – die Überlieferung
57
nes haben können91. Aber zum einen sind derartige Überlieferungen immer mit dem Kennzeichen des Abseitigen behaftet – gerade das berühmteste Beispiel, das Grab des Zeus auf Kreta, muss, wo es uns zuerst begegnet, als Beispiel für die sprichwörtliche Lügenhaftigkeit der Kreter herhalten92. Zum andern fehlt es im Fall des Herakles ausser an unserer Stelle gänzlich an solchen Hinweisen93. Der Bericht des Servius steht freilich nicht völlig allein: Er kehrt zunächst in verschiedenen lateinischen Scholienkorpora wieder, die ebenfalls auf die Spätantike zurückgehen, aber wahrscheinlich bereits von Servius abhängig sind94. Immerhin ist dort ausdrücklich der Oeta als Ort nicht nur der Verbrennung sondern auch des Begräbnisses genannt, eine Angabe, die in dem uns vorliegenden Text des Servius fehlt95. Aufschlussreicher ist eine Stelle bei Laktanz, der aus christlicher Sicht die heidnischen Götter, und also auch Herkules anzweifelt96: Und die Menschen halten diesen für einen Gott! Aber gewiss hielt ihn Philoktet nicht dafür, sein Erbe, der die Fackel angelegt hat, als er verbrannt wurde, der seine Glieder und Sehnen verbrennen und zerfallen sah, der seine Gebeine und seine Asche auf dem Berg Oeta begraben hat und für diese Leistung seine Pfeile erhielt97.
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Das Material gesammelt bei Pfister, Reliquienkult, 385–397. Kallim. Iov. 8f, vgl. Iamb. 12.15–17 (Frg. 202.15–17) und im selben Sinn Lucan. 8.872 mit Schol., Stat. Theb. 1.278f; als eine Art epigraphisches Missverständnis erklärt Schol. Kall. Iov. 8b die Sache, wieder anders Ptol. Chenn. (Phot. Bibl. 190 [147b37–148a4]; vgl. weiter Enn. Euhem. Frg. 11 Vahlen = Lact. Inst. 1.11.44–46 (= Euhem. Test. 69A Winiarczyk), Cic. Nat. Deor. 3.(21).53, Diod. 3.61.1f u.a.; zum Ganzen Pfister, Reliquienkult, 385–387 mit Ergänzungen und Literatur bei Pease, Natura Deorum, 1096f (zu Cic. Nat. Deor. 3.(21).53), ausserdem Verbruggen, Zeus, 55–70, Burton 2001, 43–45. Daneben gibt es Geschichten über im verdeckten Dreifuss von Delphi beigesetzte Götter, je nachdem Apollon (Porphyr. Vit. Pyth. 16, vgl. Fulg. Exp. Serm. Ant. 2 = Mnaseas Frg. 16 [FHG 3.152]) oder Dionysos (Dein. FGrHist 399 F 1, Philoch. FGrHist 328 F 7, Kallim. Frgg. 517, 643 u.a.), dazu auch oben 1.2.1. Einen Sonderfall stellt wohl der teilweise ohnehin in die Nähe der Heroen gerückte Asklepios dar (zu seinem Grab Cic. Nat. Deor. 3.22.57, Lact. Inst. 1.10.2, Lyd. Mens. 4.142). Eine Reihe von weiteren Göttergräbern (Aphrodite, Ares, Helios usw.) dürfte erst von den Kirchenvätern erfunden worden sein, die an dem Thema ein naheliegendes Interesse hatten. Der Hercules, dessen Gebeine in einem Tempel bei Gades in Spanien beigesetzt sind, hat den Beinamen Aegyptius (Mela 3.(6).46) oder Tyrius (Arnob. Nat. 1.36), ist also kein griechischer, sondern ein phönizisch-karthagischer Gott. Zum Problematischen und quasi Exotischen, das der Vorstellung vom Göttergrab für Griechen und Römer anhaftet, auch Cic. Nat. Deor. 1.119, Max. Tyr. 2.5. Suppl. Lucan. 6.354. Ebenfalls auf Servius basiert wahrscheinlich das wohl aus der Vandalenzeit stammende Epigramm De Philocteta in Anth. Lat. 174.1–4 Riese: „Den Philoktet, der die Geschosse des Herakles den Griechen verriet, bezwingt sein von einer Wunde verletzter Fuss ... noch jetzt spürt er die Strafe ...“ Adnot. Lucan. 8.800, vgl. Suppl. Lucan. 8.800. Lact. Inst. 1.9.11. Laktanz folgt in der Wahl des Beispiels und in der Argumentation grundsätzlich der bei Cic. Nat. Deor. 3.(16).41 vorgetragenen Kritik an der euhemeristischen Vorstellung der Vergöttlichung historischer Personen: „Mir will nicht einleuchten, wie jener [Hercules], der, wie Accius schreibt [Acc. Trag. 709f Dangel = 670f R.], ‚auf dem Oetaberg mit Fackeln angesteckt wurde’, aus jener Glut ‚ins ewige Haus des Vaters’ gekommen sein soll“. Auffallend genug
58
2. Der verwundete Philoktet
Bemerkenswert ist, dass hier nicht nur die wesentlichen Tatsachen mit Servius übereinstimmen, sondern teilweise gar der Wortlaut98. Nun ist es angesichts des inneren Widerspruchs, welchen der Bericht über ein Grab des Herkules in sich birgt, nicht wahrscheinlich, dass es zwei unabhängige Überlieferungen dieses Inhalts gegeben haben soll. Anderseits kann der Bericht des Servius, seiner grösseren Vollständigkeit halber, nicht aus Laktanz geschöpft sein, während Laktanz doch fast hundert Jahre vor Servius geschrieben hat. Es bleibt also nur die Annahme einer gemeinsamen Quelle, die aufzusuchen auch deshalb nicht unwichtig ist, weil der Fall von Ph8 keineswegs das einzige Beispiel solcher Nähe zwischen den beiden Autoren ist99. Man nimmt nun an, dass Servius, der seinen Kommentar um 400 n. Chr. schrieb, sich gerade in den mythologischen Erklärungen im Wesentlichen auf das etwa ein halbes Jahrhundert ältere Werk des Aelius Donatus stützt. Aber wenn es damit wahrscheinlich ist, dass Ph8 über diesen zu Servius gelangt ist, so ist auch Donat immer noch jünger als Laktanz. Eine genauere Betrachtung des Textes bei Servius kann hier weiterhelfen: Dem Text von Ph8 gehen zwei Bemerkungen zur Herkunft des Namens Petelia oder Petilia voraus; die eine davon führt die Etymologie wie folgt auf Philoktet zurück: Nach der Heimkehr von Troia, wohin er von den Griechen geführt worden war, ‚machte er sich’ nach dieser Stadt ‚auf’ (eam ‚petivit’ civitatem).
Was die Rolle des Philoktet in Troia angeht, finden wir hier also die Version der gesamten griechischen Überlieferung, allerdings so knapp formuliert, dass sie eigentlich unverständlich bleiben muss, beachtet man, dass die abweichende Fassung Ph8 anschliessend als einzige und ohne Erklärung des Widerspruchs geboten wird. Man erhält so den Eindruck, dass hier ein Stück aus einer vollständigeren Vorlage nicht auf die glücklichste Weise zusammengestrichen wurde. Dies lässt sich bestätigen: Vom Kommentar des Servius ist irgendwann im Frühmittelalter eine erweiterte Fassung zusammengestellt worden, in die mindestens teilweise Stücke aus dem Werk des Aelius Donatus eingegangen sind, die Servius weggelassen hatte100. Dieser ‚erweiterte Servius’ fügt an den Schluss von Ph8 die Bemerkung: Andere sagen, dass er [Philoktet] von den Griechen nach Troia geführt wurde, um Paris mit den Pfeilen zu töten. folgt bei Cic. nicht ein Hinweis auf die Beisetzung der sterblichen Überreste des Heros, sondern darauf, dass er bei Homer unter den Toten in der Unterwelt erscheint. 98 Man beachte besonders Serv. ei pro munere dedit sagittas neben Lact. pro quo munere sagittas eius accepit. Der Wegfall des quo bei Serv. verschiebt die Bedeutung von sinnvollem „für diese Leistung“ zu einem blassen „anstelle eines Geschenks“ (d.h. als Gabe, vgl. Ov. Rem. 277, Liv. 21.13.5, Petron. 101.2 u.a.); der Eindruck nicht immer geglückter Verkürzungen im Text des Servius wird sich wiederholen. 99 Brandt/Laubmann, Lactanti Opera 2.1, 264 nennen Serv. auct. Verg. Aen. 3.167 mit Lact. Inst. 1.23.3 und Serv. Verg. Aen. 8.190 mit Lact. Inst. 1.20.36, erwähnen allerdings gerade Ph8 nicht. 100 Im Einzelnen bleibt vieles umstritten, vgl. Bruggisser, Romulus, 6–9, Uhl, Servius, 2.
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – die Überlieferung
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Hier haben wir wohl den Beleg, dass das, was bei Servius nur noch als vage Widersprüchlichkeit durchscheint, in seiner Vorlage klar ausgesprochen und diskutiert wurde: der Gegensatz von Ph8 zum aus Drama und Epos der Griechen bekannten Schicksal des Helden. Ich muss hier daran erinnern, wie im Verlauf des 4. Jh.s n. Chr. die griechische Literatur aus dem Bildungswesen des lateinischen Westens nach und nach weitgehend verschwand101. Servius schrieb bereits für einen Schulbetrieb, in dem die Lektüre der griechischen Klassiker keine Rolle mehr spielte und mythologische Differenzen zu diesen deshalb nicht mehr besprochen werden mussten. Wenn Ph8 in einer älteren Schicht der Vergilkommentierung noch zusammen mit einer Diskussion ihres Verhältnisses zu den Tragikern überliefert wurde, dann ist es also sehr wahrscheinlich, dass diese Verbindung nicht erst im 4. Jh. n. Chr. entstand, sondern mindestens bereits auf Aelius Donatus als Vorlage zurückgeht. Betrachtet man die Stellen, die in unserem Vergilkommentar aus den griechischen Tragikern zitiert werden, so fällt weiter auf, dass auch Stücke zu Wort kommen, die ausserhalb der in Griechenland in Spätantike und Mittelalter allein gelesenen Schulauswahl stehen102, wohl als spärliche Reste eines Reichtums an Verweisen in den älteren Kommentaren, von dem uns Macrobius noch ein aussagekräftiges Bruchstück erhalten hat103. Da diese Texte selbst im griechischen Literaturbetrieb schon im 3. Jh. n. Chr. von der Bildfläche verschwinden, ergibt sich, dass das Vergleichsmaterial aus den griechischen Tragikern spätestens in der Severerzeit in die Vergilkommentierung eingeflossen sein muss. Damit kann auch die kontrastierende Diskussion von Ph8 und der üblichen Version von Philoktets Schicksal nicht später entstanden sein. Nun wird bei Servius zu einem einzigen Zitat aus den Tragikern eine Quelle genannt: Aemilius Asper104, der Verfasser eines umfangreichen vollständigen Vergilkommentars, der am Ende des 2. Jh.s n. Chr. schrieb und in dessen Werk griechische Parallelen zu Vergil nachweislich eine bedeutende Rolle spielten105. Beachtet man weiter, dass Aspers Kommentar noch im 4. Jh. n. Chr. zu den üblicherweise benutzten gehörte106, so wird es ziemlich wahrscheinlich, dass Ph8 und das zugehörige Material bereits bei diesem ein101 Vgl. die klassischen Darstellungen bei Marrou, Saint Augustin, 27–44, auch Histoire II, 47– 61, besonders 53–58; zusammenfassend Herzog, Restauration, 13f (mit weiterer Literatur), der allerdings mit einem wirklichen Rückgang der Kenntnisse erst im 5. Jh. n. Chr. rechnet. Das ist wohl zu optimistisch: Gerade die Blüte des Übersetzerwesens im 4. Jh. deutet doch darauf, dass man die Übersetzungen auch in der Bildungsschicht nötig hatte, also nicht mehr allgemein imstande war, die griechischen Originale zu lesen; sehr kritisch zum Verhältnis des Serv. zu griechischen Quellen auch Cameron, Mythography, 192–209. 102 Serv. auct. Verg. Aen. 2.204 [Soph. Laokoon], 6.21 [Eur. Herakl.]. 103 Macr. Sat. 5.18–22: aus Aischyl. Aetna, Soph. Rhizotomoi, Eur. Hyps., Meleagros, Andromeda u.a. 104 Serv. Verg. Aen. 7.773, vgl. Eur. Frg. 1022. 105 Vgl. schon Wessner, Aemilius Asper, 43. Nach Tomsin, Étude, 85 stammen alle EuripidesZitate bei Servius aus Asper, vgl. zur Herkunft der mythologischen Erklärungen 99, 104f; allgemein über den Autor Enc. Virg. 1 (1984) 373f s.v. Aspro [M. Geymonat], Sallmann, Literatur, 251–253 [P.L. Schmidt], Pellizzari, Servio, 248f, Cameron, Mythography, 189f. 106 Vgl. Hier. adv. Rufin. 1.16.
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2. Der verwundete Philoktet
flussreichen Autor zum Stoff der Vergilkommentierung gehörten und durch ihn sowohl Aelius Donatus und Servius vermittelt worden sind als auch Laktanz, der bekanntermassen ein fleissiger Vergilleser war und dabei wohl auch einen Kommentar benutzt haben dürfte. Vielleicht kann man noch weiter gehen: Eine einzige Stelle in einem griechischen Text berichtet ebenfalls von einem Grab des Herakles107: Philoktet verbrannte und begrub den Herakles am Fluss Dyras bei Trachis und erhielt ihn [den Bogen] als Gegengabe für seine Mühe.
Beachtet man, dass der Dyras vom Oeta-Gebirge herabströmt und seine Quellen ganz nahe bei der grossen Brandstätte des Herakles hat108, so finden wir hier die genau gleichen Angaben wie bei Servius109. Nun geht der Lykophronkommentar des Tzetzes, aus dem diese Stelle stammt, offenbar im Kern auf ein Werk des alexandrinischen Philologen Theon zurück, der in augusteischer Zeit gewirkt und dem damals so gut wie verschollenen Lykophron durch seinen enzyklopädischen, gerade auch von mythographischer Gelehrsamkeit überquellenden Kommentar erst wieder zu Beachtung verholfen hat110. Der Schluss liegt damit nahe, dass Ph8 schon in spätaugusteischer Zeit eine bekannte Geschichte war. An welchem Punkt sie zuerst in den breiten Strom der Vergilkommentierung eingedrungen ist, ist natürlich nicht mehr zu ermitteln. Das Werk Über Ursprung und Lage der Städte Italiens des Gaius Iulius Hyginus – das sich der Frühgeschichte der bei Vergil erwähnten Städte widmete, auch Sagen über aus Griechenland zugewanderte Stadtgründer berichtete und gerade die kalabresische Umgebung von Petelia mitbehandelte – ist dafür wohl die früheste mögliche, und eine nicht unwahrscheinliche Stelle111. Vielleicht ist es kein Zufall, dass wir damit in
107 Tzetz. Lyk. Alex. 914. 108 Zu Name und Lage dieser Brandstätte oben n. 78. 109 Man vergleiche wieder besonders Lact. pro quo munere sagittas eius accepit mit Tzetz. ἔλαβεν αὐτὸ εἰς ἀµοιβὴν τοῦ κόπου. 110 Vgl. RE 13 (1927) s.v. Lykophron 8) 2350–2354 [K. Ziegler], RE 2.5 (1934) 2054–2059 s.v. Theon 9) [C. Wendel], bes. 2056, und über den Kommentar des Tzetzes RE 2.7 (1948) s.v. Tzetzes 1) 1978–1982 [C. Wendel]. 111 Zu De origine et situ urbium Italicarum vgl. Christes, Sklaven, 80f, auch Enc. Virg. 2 (1985) 900f s.v. Igino, Gaio Giulio [F. della Corte], Pellizzari, Servio, 246 (doch etwas irritierend, dass dieser Autor offenbar annimmt, Serv. hätte alle von ihm zitierten Quellen selber im Original benutzt); Stadtgründer: Hyg. bei Serv. Verg. Aen. 1.530, Serv. auct. Verg. Aen. 8.638; Kalabrien: Hyg. bei Serv. Verg. Aen. 3.553. Auf die Vermutung, Verg. habe selbst schon aus diesem Werk des C. Iulius Hyginus geschöpft, kann ich hier nicht eingehen. Im vorliegenden Fall, scheint mir unwahrscheinlich, dass Verg. sich bereits auf die in Ph8 geschilderte Geschichte stützt: Verg. Aen. 3.396–402 warnt Helenus den Aeneas davor, in Unteritalien an Land zu gehen, weil dort überall schon Griechen ansässig seien. Genannt werden die Lokrer – Gefährten des Aias –, dann Idomeneus, der den Achaiern in Troia zu Hilfe kam, schliesslich Philoktet. Die Reihe beginnt also mit zwei gefährlichen Feinden der Troianer, und es wäre merkwürdig, sie mit Philoktet abzuschliessen, wenn Aeneas diesen nur vom Hörensagen als den Kranken auf Lemnos kennen würde. Ich erinnere auch daran, dass Quint. Smyrn. 11.474– 499 Aeneas und Philoktet sogar im Kampf aufeinander treffen lässt. Die Nennung Philoktets
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – die Überlieferung
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eine Umgebung geraten, in der seit der Vergöttlichung des ermordeten Caesar, die Erhebung von Personen, von denen es ein wirkliches Grab gab, in den götternahen, mit Tempel und Kult ausgestatteten Stand des Divus als religiöse Neuerung eine besondere Aufmerksamkeit beanspruchte112. Dass es sich bei Ph8 nicht einfach um ein Erzeugnis spätantiker Stubengelehrsamkeit handelt, ist damit bereits deutlich geworden. Eine Untersuchung des Inhalts wird dies bestätigen113. 2.2.4. Die Letzten und die Ersten Das nächste Textstück gehört zwar zu den jüngsten, was die Zeit anbelangt, in der es seine jetzige Gestalt erhielt, weist aber in die älteste Zeit zurück. Ich entnehme es einer Art Literaturgeschichte, die zu den Werken des neuplatonischen Philosophen Proklos aus dem 5. Jh. n. Chr. gerechnet und Chrestomathie genannt wird. Von dieser ist uns zwar nur eine Zusammenfassung aus dem 9. Jh. n. Chr. überliefert114, doch gibt es Homerhandschriften, die als Einleitung eine Nacherzählung jener verlorenen frühgriechischen Epen bieten, die man unter dem Namen des Kyklos zusammenfasst. Dieser Text stammt, so behauptet zumindest die Überschrift, ebenfalls aus der Chrestomathie des Proklos. Im Abschnitt über die Kyprien, jenes Epos, das die Vorgeschichte des troianischen Krieges schilderte, steht: Ph9115 Dann segeln [die Achaier] nach Tenedos; und während sie an einem Festgelage sind, wird Philoktet von einer Natter gebissen und wegen des üblen Geruchs auf Lemnos zurückgelassen.
Den nächsten Bericht entnehme ich den Scholien zu Homers Ilias. Die grosse Bedeutung, welche den homerischen Epen in der griechischen Welt zukam, spiegelt sich auch im Reichtum der dazu überlieferten Kommentare. In diesen sind die verschiedensten Quellen zusammengeflossen und wohl erst am Ende der Antike, vielleicht im 5. oder 6. Jh. n. Chr. wurden sie mehr oder weniger ihre heutige Form gebracht116. Neben der Arbeit der hellenistischen Wissenschaft stehen darin Bruchstücke aus Ketten von mythologischen Erzählungen, die ausführlich schildern, was in den grossen Epen nur kurz angedeutet wird, und die man deshalb auch einfach den Homerischen Mythographen nennt. Diese Stoffe dürften teilweise schon im 5. Jh. zusammengestellt worden sein und damals zunächst bei der
112 113 114 115 116
als Gründer von Petelia allein setzt also die vorliegende Geschichte nicht schon in ihrer voll entwickelten Form voraus. Vgl. Scheid, Religion, 133f. Vgl. 2.3.6. Phot. Bibl. Cod. 239; vgl. Cameron, Mythography, 59f. Ph9 = Prokl. Chr. Hypoth. 41.50f PEG (vgl. HPh1e) [= 8.2.5 Avezzù]. Vgl. Wilson, Scholars, 33–36; zu den Homerscholien auch NCHom 101–122 [Nagy].
2. Der verwundete Philoktet
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Homerlektüre in der Schule als Erklärungen gedient haben117. Die folgende Bemerkung stammt wohl daraus und steht in den Scholien zu der einzigen Stelle der Ilias, die den auf Lemnos liegenden Philoktet erwähnt: Ph10118 Es wird berichtet, dass Philoktet, als er auf Lemnos den Altar der Chryse genannten Athene reinigte, von der Natter gebissen und, einer unheilbaren Wunde verfallen, dortselbst von den Griechen zurückgelassen wurde.
Der byzantinische Gelehrte Eustathios, der gegen Ende des 12. Jh.s einen grossen Kommentar zur Ilias schrieb, zitiert wohl bloss etwas verkürzt aus demselben Scholion, wenn er schreibt: Ph10a119 Als Philoktet auf Lemnos den Altar der Athene Chryse reinigte, wurde er von der Natter gebissen und unheilbar verwundet von den Achaiern dort zurückgelassen.
Etwas anders erscheint der Bericht im Lykophronkommentar des Tzetzes: Ph10b120 [Philoktet] lag auf Lemnos, weil er kürzlich von der Natterschlange gebissen worden war, die man auch Schildkrötennatter nennt, als er auf Chryse den aufgeschütteten Altar der Athene reinigte.
Ich messe hier der Verschiebung des Schauplatzes keinerlei Gewicht bei: solche späten Kommentatoren schöpfen oft aus mehreren Quellen, was sich bei Tzetzes nicht nur in der Angabe eines zweiten Namens für die Schlange zeigt – er bezieht ihn wohl aus der einschlägigen Fachliteratur – sondern auch darin, dass sich im Text die Variante Ph6 gleich anschliesst, die auf der Insel Chryse spielt121. Das letzte Zeugnis weist schon auf den ersten Blick auffällige Ähnlichkeiten mit Ph9 auf, die wohl damit zu erklären sind, dass es sich ebenfalls von den Kyprien herleitet122. Der Text stammt aus dem pseudo-apollodorischen mythologischen Handbuch Bibliotheke, und zwar aus der Schlusspartie, die nur in verschiedenen Auszügen und Zusammenfassungen erhalten ist, die seinerzeit von byzantinischen Gelehrten des Hochmittelalters erstellt wurden. Die nachfolgende
117 Vgl. auch NCHom 118 [Nagy] mit weiterer Literatur; ausserdem Cameron, Mythography, 28f, 104–106. 118 Ph10 = Schol. Hom. Il. 2.722 (vgl. HPh2); vgl. Severyns, Cycle 298f. 119 Ph10a = Eusth. Hom. Il. 2.724 [330.11f] (vgl. HPh2) [= 8.2.12 Avezzù]. 120 Ph10b = Tzetz. Lyk. Alex. 911 (vgl. HPh1a, HPh4b) [= 8.2.12b Avezzù]. 121 Eustathios verschmilzt genauso verschiedene Quellen, wenn er kurz vor der obigen Stelle eine ganze Reihe möglicher Orte für das Unglück des Philoktet nennt (Eusth. Hom. Il. 2.723 [330.1–3]): „Porphyrios sagt, Philoktet sei nach manchen auf Tenedos oder Imbros gebissen und von dort nach Lemnos gebracht worden, andere [sagen auch] auf einer gewissen Insel Chryse.“ 122 Vgl. 2.3.2 und Schnebele, Quellen, 164–166.
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – die Überlieferung
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Partie stammt aus einem solchen, wohl auf Johannes Tzetzes zurückgehenden Text123: Ph11124 Als die Griechen auf Tenedos zu segelten, sah Tennes sie und hinderte sie [am Anlegen], indem er Felsen warf; und er starb, als Achilleus ihm das Schwert in die Brust stiess, obwohl Thetis dem Achilleus verboten hatte, Tennes zu töten: Er werde nämlich durch Apollons Hand umkommen, wenn er Tennes töte. Und als sie dem Apollon ein Opfer darbrachten, kam aus dem Altar eine Natter herbei und biss Philoktet.
2.2.5. Gemalter Schmerz Philoktet war im Altertum nicht nur ein Gegenstand der Dichtung, sondern auch einer für die bildenden Künste. Was sich an Darstellungen der Geschichte vom Schlangenbiss erhalten hat, bietet uns zwar keine neuen Fassungen, erweitert und vertieft aber unsere Vorstellung des Helden und hilft uns, gewisse Einzelheiten der Texte zu klären125. Zwei Gruppen von Bildern sind dabei zu unterscheiden: erstens ein gutes halbes Dutzend italische und etruskische Gemmen aus dem 4. bis 1. Jh. Auf diesen ist jeweils Philoktet mit der Schlange abgebildet126. Zweimal ist auch ein Altar angedeutet, einmal in Gestalt eines Steinhaufens, worunter sich die Schlange verkriecht127, wobei auffällt, dass dieses Element auf den jüngeren Stücken durchweg fehlt128. Eine besondere Rolle spielt ein heute verschollener Skarabäus aus Vulci129, auf dem der verwundete Philoktet von einer zweiten Heldengestalt gestützt wird, während zwischen den beiden die Schlange im Boden verschwindet. Dieser Helfer des Philoktet ist als talmethi beschriftet, was man wohl richtig als Palamedes gedeutet hat130. Entsprechend hat man in dem unbeschrifteten Jüng123 Vgl. RE 2.7 (1948) s.v. Tzetzes 1) 1987 [C. Wendel]; Carrière/Massonie, Bibliothèque, 18, 22f; Scarpi/Ciani, Apollodoro, xviif. 124 Ph11 = Apollod. Epit. 3.26f (vgl. HPh1f) [= 8.2.8 Avezzù]. 125 Die älteren Zusammenstellungen des Bildmaterials wie Jebb, Philoctetes, xxxv–xxxix, RML 3.2 (1902–1909) s.v. Philoktetes 2327–2343 [G. Türk], EAA 3 (1960) s.v. Filottete 691–693 [A. Andrén], Schnebele, Quellen, 174–178 u.a. sind heute ersetzt durch LIMC 7 (1994) 376– 385 s.v. Philoktetes [M. Pipili]. Wichtige Korrekturen und Ergänzungen bei Simon 1996, sowie in den der Ikonographie gewidmeten Kapiteln bei Müller, Beiträge, 71–96, 134–210; vgl. auch Moret 1995 und Fontannaz 2000, der neue Fragmente eines apulischen Glockenkraters publiziert. 126 LIMC s.v. Philoktetes Nr. 14 (4./3. Jh.), Nr. 18 (3. Jh.), Nr. 19 (undat.), Nr. 20 (1. Jh. v./n. Chr.). 127 LIMC s.v. Philoktetes Nr. 16 (2. Hälfte 3. Jh.) und Nr. 15 (4. Jh.). 128 In LIMC s.v. Philoktetes 18 (3. Jh.) ist ein Stück Fels angedeutet, auf das Philoktet tritt; damit ist kaum der Altar gemeint. 129 LIMC s.v. Philoktetes Nr. 17 [4./3. Jh.] = T 16 (a) Müller. 130 Die Beziehung zwischen Philoktet und Palamedes hat vor allem Müller herausgearbeitet, dem ich weitgehend folge, vgl. Beiträge, 52–69, 153–156, 285–300, Kommentar, 52–54, 355; zum Skarabäus von Vulci besonders auch 82f und 154f mit Hinweisen auf die ältere Literatur.
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2. Der verwundete Philoktet
ling, der sich auf einem der nachfolgend zu besprechenden Vasenbilder über Philoktet beugt, Palamedes gesehen. Für diese Helferrolle des Palamedes gibt es keine direkten literarischen Zeugnisse, doch ist es auffällig, dass offenbar Odysseus im verlorenen Drama des Euripides sich bei Philoktet mit einer Geschichte einschmeichelte, die ihn als besonderen Freund des Palamedes zeigte131, und dass später gelegentlich Philoktet und Palamedes als Opfer der Intrigen des Odysseus zusammengestellt werden132. Man hat deshalb angenommen, dass diese enge Beziehung zwischen den beiden Helden schon vor Euripides in der Sage einen festen Platz hatte, vielleicht in dem Philoktet-Drama des Aischylos. Noch bedeutender sind zwei attische Vasenbilder aus der Mitte des 5. Jh.s: nicht nur erscheint hier der unter dem Schlangenbiss zusammenbrechende Philoktet von Gefährten aus dem Heer der Griechen umringt133, die auf der einen Darstellung ausdrücklich als Agamemnon, Achilleus und Diomedes bezeichnet werden; wir erhalten im angedeuteten Hintergrund auch Angaben über den Schauplatz: Auf einer niedrigen Säule steht das Bild einer Göttin, bekleidet, mit starrem Blick und erhobenen Händen, offensichtlich ein hochaltertümliches Idol andeutend, wahrscheinlich das der Chryse134. Etwas jüngere Bilder, die das Opfer des Herakles auf dem Zug nach Troia darstellen, zeigen ein ganz ähnliches Götterbild, dazu einen aus rohen Feldsteinen aufgeschichteten urtümlichen Altar, wie er auch auf einzelnen Philoktetdarstellungen begegnet135. Genauso sprechen übrigens Ph3f und Ph10a von einem aufgeschütteten Altar. Hier anzuschliessen ist eine Gruppe von Darstellungen, auf denen jemand den Fuss des Philoktet zu pflegen versucht, und die man deshalb auch schon auf die Heilung des Helden bezogen hat136. Eine Deutung auf den Zeitpunkt der Verwundung ist allerdings in all diesen Fällen auch möglich oder sogar wahrscheinlicher137. Am deutlichsten ist das Relief auf einem Silberbecher augusteischer Zeit138: Der verwundete Philoktet wird hier von Gefährten gestützt, während ein weiterer ihm mit einem Schwamm den verletzten Fuss wäscht; er sitzt dabei auf einem angedeuteten Felsstück, unter dem man noch die Schlange davonkriechen sieht. Dass diese nicht einfach zugesetzt ist, weil zu Philoktet eine Schlange gehört, sieht man, sobald man den Becher dreht: Auf seiner Rückseite sehen wir, 131 Vgl. Dio. Or. 59.8f. 132 Etwa Ov. Met. 13.43–62 und Quint. Smyrn. 5.195–199. 133 Ein in der Deutung noch nicht gesichertes Wandgemälde aus Ephesos (Ende 2. Jh. n. Chr.) zeigt möglicherweise ebenfalls den von seinen Gefährten gestützten Philoktet und die Schlange, vgl. Strocka, Wandmalereien, 48f, 52 und Tafelband Nr. 70; seine Deutungen sind überholt durch Simon 1996, 32–34. 134 LIMC s.v. Philoktetes Nrr. 12 und 13. 135 Vgl. LIMC 3 (1986) 279–281 s.v. Chryse I [H. Froning], bes. Nrr. 1–5, und ausführlicher Froning, Dithyrambos, 52–59. 136 LIMC s.v. Philoktetes Nrr. 72–74. 137 So Müller, Beiträge, 150–156 u.ö. wohl richtig gegen die Deutungen bei LIMC s.v. Philoktetes 72–74; ebenso Simon 1996, 31f. 138 LIMC s.v. Philoktetes Nr. 74 = T 16(b) Müller.
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – die Überlieferung
65
wie Odysseus dem Philoktet den Bogen raubt. Der kranke Heros erscheint als gealterter, bärtiger Mann, während er auf der Vorderseite, frisch verwundet, jugendlich und bartlos ist, wodurch der Künstler den Abstand von zehn Jahren zwischen den beiden Szenen verdeutlicht. Älter als dieses Bild und schwieriger zu deuten ist ein etruskischer Bronzespiegel des 5. Jh.s, auf dem Machaon (beschriftet Machan) dem Philoktet (beschriftet Pheltute) den Fuss bandagiert139. Hinter dem Helden erscheint auch hier die davonkriechende Schlange, und den Spiegel umzieht ein Ornamentband mit Wellen und Delphinen, so dass man sich die Szene auf einer Insel denken möchte140, wo der Heros gebissen wurde, und nicht im Lager der Griechen vor Troia, wo Machaon und Podaleirios ihn nach den Textquellen geheilt haben141. Eine wesentliche Gemeinsamkeit verbindet im Übrigen fast alle diese Bilder und die Mehrzahl der Darstellungen des Philoktet überhaupt: Er erscheint darauf nie als aufrechter, kämpferischer Held. Stets sehen wir ihn sitzend, stürzend oder verwundet: Philoktet ist gewissermassen immer ein gebeugter Heros. Seine Gestalt gleicht sich damit auf diesen Bildern der Waffe an, die er besser meistert als irgendein anderer, den gekrümmten Bogen142. Andererseits erscheint so auch sein Profil ganz wesentlich an ein Leiden gebunden, an jenen Schmerz, dessen Urheberin die Schlange ist. Damit ist der Stoff, den ich meiner Untersuchung über Philoktet zugrunde legen will, zur Hauptsache ausgebreitet. In dieser rohen Aufzählung von Zeugnissen ist er freilich weder verständlich noch nur übersichtlich, und bereits jetzt eine Art historische Entwicklung in ihn einzuschreiben, müsste unvermeidlich zu Willkür und Fehlschlüssen führen. In den folgenden Kapiteln versuche ich deshalb aufzuzeigen, dass die beschriebene Vielfalt der Varianten nicht beliebig ist, sondern die Verwandlungen der Sage einer inneren Logik folgen. 2.3. ELFMAL PHILOKTET 2.3.1. Handschriften Bei der Vorstellung der verschiedenen Geschichten über den Schlangenbiss des Philoktet habe ich mich bisher darauf beschränkt, sie in einer Reihenfolge aufzulisten, welche durch das jeweils älteste Textzeugnis bestimmt wird. Mehr als einmal musste ich allerdings darauf hinweisen, dass der früheste überlieferte Text nicht auch der erste gewesen sein dürfte, der eine Geschichte erzählte, und dass 139 LIMC s.v. Philoktetes 73. 140 Ein etruskischer Skarabäus der 2. Hälfte des 5. Jh.s (LIMC s.v. Philoktetes 72) zeigt weder Schlange noch Wellen, doch die Personen in genau derselben Haltung, könnte also die gleiche Szene meinen. 141 Vgl. 4.2.2. 142 Für die Anregung zu dieser Deutung danke ich François Lissarrague. Zu Philoktet als dem unübertrefflichen Meister im Bogenschiessen Hom. Od. 8.219f, App. Prov. 5.15, auch Lukian. Ind. 5.
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2. Der verwundete Philoktet
sich durchaus etwas über die Quellen vermuten lässt, aus denen er kommt. Um diese vereinzelten Bemerkungen in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, will ich nun versuchen, eine mögliche Entwicklungsgeschichte der Philoktetsage vorzuschlagen. Nicht dass ich nach einer ersten, ursprünglichen Quelle suchen möchte: Solche vielfältig umlaufenden Geschichten hat es nie in nur einer Fassung gegeben, sie formen sich vielmehr erst durch ein stetiges Wiedererzählen, das sich in einem Nebeneinander von Varianten entfaltet143. In vielen Fällen lässt sich aber eine Fassung der Geschichte auf ein literarisches Werk zurückführen, das die spätere Überlieferung nachhaltig geprägt hat. Dadurch gewinnen wir feste geschichtliche Marken, zu denen wir den weniger leicht einzuordnenden Rest der Erzählungen nach inhaltlichen Gesichtspunkten in Beziehung setzen können. Sehr oft freilich wird diese Art von Quellenkritik die Perspektive, in der uns die Geschichten erscheinen, zwar um eine oder zwei Wegmarken verlängern, doch auf mehr als vage Fluchtpunkte, hinter denen wir irgendwo die Herkunft der jeweiligen Variante vermuten müssen, kommen wir damit nicht. Ich gebe zunächst eine Übersicht, welche die elf Fassungen der Sage nach dem, was ich bisher an solchen Fluchtpunkten gewonnen habe, in zeitlicher Reihenfolge neu ordnet. Dass dadurch die bedachtsam gesetzten Nummern der Varianten wieder durcheinander geraten, ist beabsichtigt, gerade auch als Mahnung, dass wir, wenn wir die Texte auf eine solche zeitliche Schichtung hin untersuchen, niemals Vorder-, Mittel- und Hintergrund zugleich in vollkommener Schärfe erfassen, sondern je nach Einstellung unseres Objektivs ganz verschiedene Muster in den Blick bekommen. Nur zweimal fallen, wie im Folgenden auf den ersten Blick erkenntlich, Fluchtpunkt und Erstbeleg zusammen, und auch im Falle von Hyginus’ Geschichtensammlung liesse sich vielleicht ein älteres Vorbild namhaft machen, wenn man bloss über die Quellen dieses seltsamen Buches etwas halbwegs Zuverlässiges ausmachen könnte. Eine nach rein äusserlichen Kriterien aufgestellte Anordnung wie diese Tabelle sagt noch ziemlich wenig über den Zusammenhang der elf Varianten. Ich versuche deshalb, ehe ich mich an die Untersuchung der einzelnen Fassungen mache, eine Ordnung in den Stoff einzuführen, die sich mehr auf den Verlauf der Erzählungen selbst stützt144. Dabei kommt natürlich dem wechselnden Schauplatz, an dem die Geschichte angesiedelt wird, eine gewichtige Rolle zu, doch
143 Vgl. 5.1.2f. 144 Ältere Übersichten zur Entwicklung der Episode wie Jebb, Philoctetes, vii–xxxiii, Marx 1904, 677–679, Untersteiner, Filottete, 97–138 usw., ja auch noch Mandel, Philoctetes, 20– 25 und Müller, Kommentar, 25–82 sind entweder blosse Materialsammlungen oder sie widmen sich der Wiederherstellung verlorener, ‚ursprünglicher’ Fassungen der Sage. Sie bieten deshalb kaum Vergleichspunkte zu meinem Versuch, die erhaltenen Varianten miteinander ins Gespräch zu bringen. Bowersock, Fiction, 55–76 unternimmt es, die Entwicklung der Philoktetsage in Hellenismus und Kaiserzeit nachzuzeichnen, leider mit nicht wenigen, teils groben sachlichen Fehlern: bei ihm liegt der Tempel der Chryse auf Tenedos (57), ist die Rolle Apollons in der Sage eine nachhellenistische Neuerung (66) usw.
2.3. Elfmal Philoktet
67
Ph9
Fluchtpunkt 7. Jh.
Kyprien
Erstbeleg Proklos
5. Jh. n. Chr.
Ph3
431
Euripides: Philoktet
Dosiadas: Bomos
3./2. Jh. (?)
Ph1
409
Sophokles: Philoktet
Sophokles: Philoktet
409
Ph10 5. Jh. (?)
‚Homerischer Mythograph’
Scholion zu Homers Ilias
5./6. Jh. n. Chr. (?)
Ph2
2. Drittel 4. Jh.
Theodektes: Philoktet
Aristoteles: Nikomachische Ethik
3. Viertel 4. Jh.
Ph6
3./1. Jh.
Sophokleskommentar
(Sallustios:) Scholion zu Sophokles’ Philoktet
2./4. Jh. n. Chr.
Ph7
3./1. Jh.
Sophokleskommentar
2./4. Jh. n. Chr.
Ph8
1. Jh.
(Sallustios:) Scholion zu Sophokles’ Philoktet Theon: Kommentar zu Servius: Kommentar zu Lykophrons Alexandra Vergils Aeneis
1. Jh. n. Chr. (?) Ph11 2. Jh. n. Chr. (?)
‚Diktys von Kreta’ (Septimius:) Dictys Creten(griechisch) sis Ephemeris Belli Troiani Apollodor: Bibliotheke Joh. Tzetzes: Epitome aus Apollodors Bibliothek
4. Jh. n. Chr.
Ph4
Hyginus: Fabulae
2. Jh. n. Chr.
Ph5
2. Jh. n. Chr.
Hyginus: Fabulae
Um 400 n. Chr.
12. Jh. n. Chr.
neben ein paar anderen Motiven, wird nicht zuletzt der Name des Kriechtiers, von welchem der Heros gebissen wird, bedeutsam sein. Zahlreiche Quellen bezeichnen diese zwar mit einem allgemeinen Wort für ‚Schlange’145, doch daneben gibt es eine ganze Reihe von Zeugnissen, die ihr einen besonderen Namen geben. Zwei Bezeichnungen stehen dabei im Mittelpunkt: hydros, die Natter146, und
145 So heisst sie einfach ὄφις bei Ph1, Ph1c, Ph1d, Ph2b, Ph3e, Ph7, Ph10a, ausserdem App. Mithr. 77, δράκων bei Ph3b′ und vielleicht Aischyl. Frg. 252, vgl. serpens in Ph4, Ph5 und anguis bei Ov. Trist. 5.12.15. Die einzige gründliche Gesamtdarstellung der Schlangen in der antiken Naturgeschichte bei RE 2A (1921) 521–557 s.v. Schlange II: Die einzelnen Arten [H. Gossen / A. Steier] strotzt leider von Fehlern, vgl. die Auswahl von Korrekturen bei Morel 1928, ausserdem NP 11 (2001) 178–181 s.v. Schlange. I. Zoologie [C. Hünemörder]; genauere Bestimmungen bei Leitz, Schlangennamen, der allerdings das Problem unterschätzt, die Taxinomie der Griechen eins zu eins in die moderne Biologie zu projizieren. 146 Als ὕδρος bei Ph3d, Ph6a, Ph9, Ph10a, Ph10b, Ph11, ausserdem bei Hom. Il. 2.721, Paus. 8.33.4, Philostr. Her. 28.4, Quint. Smyrn. 9.385, Steph. Byz. und Suid. s.v. Νέαι, Schol. Hom. Il. 2.723 und auf dem Ostrakon (3. Jh. n. Chr.) bei Milne 1908 Nr. X. In einzelnen späten Quellen erscheint dafür eine jüngere Bezeichnung (vgl. Schol. Nik. Ther. 359a), nämlich χέρσυδρος (Schol. Hom. Il. 2.723, Eusth. Hom. Il. 2.723 [330.3]); wohl ein blosser Irrtum für dieses ist χέλυδρος bei Ph10a; vgl. auch die lateinische Entsprechung coluber bei Ph4.
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2. Der verwundete Philoktet
echis, die Viper147, wobei erstere vor allem in Texten auftaucht, die mit der epischen Dichtung in Verbindung stehen, während wir für die zweite eher auf die attische Tragödie verwiesen werden148. Ein einzelner Name kann jedoch leicht von einer Quelle in die andere wandern, und so zeigt sich die Überlieferung gerade in diesem Punkt öfter verwirrt. Ein Blick in die naturkundlichen Schriftsteller der Griechen zeigt, dass die beiden Schlangennamen nicht zufällig oder bloss aufgrund ihrer Häufigkeit gewählt sind. Der hydros erscheint da, wie schon sein Name andeutet, eng ans Wasser geknüpft, wo er meistens lebt und seine Lieblingsnahrung, die Frösche, jagt. Allerdings ist es für ihn kennzeichnend, dass er zu bestimmten Gelegenheiten an Land kommt, und dann soll er sogar besonders giftig sein149. Was wir ansonsten über die Schlange erfahren, legt nahe, sie als eine Art Ringelnatter zu bestimmen – die Schwierigkeit ist bloss, dass Ringelnattern nach unserem heutigen Wissen nicht giftig sind. In solchen Merkwürdigkeiten zeigt sich, wie verschieden der Blick der Alten auf die Natur von dem unsrigen sein konnte – und es genügt ja auch völlig, an die Giftigkeit einer Schlange fest zu glauben, um an ihrem Biss ernsthaft krank zu werden150. Der echis erscheint demgegenüber in wichtigen Merkmalen als Umkehrung des hydros: Er ist von Natur ein trockenes Tier, zeigt aber hin und wieder ein bemerkenswertes Verlangen nach Flüssigkeit. Die Begegnung mit dem Feuchten ist allerdings für den echis gefährlich, unter Umständen verliert er sogar sein Gift dabei, bewegt sich also diesbezüglich auf derselben Skala wie der hydros, bloss in umgekehrter Richtung151. So hat, bei aller Befremdlichkeit für unsere Begriffe, 147 Als ἔχις bei Ph2, Ph2a, Ph3f, in der weiblichen Form ἔχιδνα bei Ph1a, Ph3c, ausserdem bei Soph. Phil. 632, Orph. Lith. 392f, Schol. Hom. Il. 2.721a, vgl. ex viperino morsu bei Acc. Trag. 552f Ribbeck = 235f Dangel. 148 Dazu auch Scanzo 2003, 489f. Ein hochgelehrtes Poem wie Lyk. Alex. 912 überrascht den Leser mit der Nachricht, es habe sich vielmehr um einen κεγχρίνης, gehandelt, eine seltene Schlangenart, die nach der Auskunft eines anderen, nicht minder belesenen Dichters (Nik. Ther. 458–482), gerade auf Lemnos gelebt haben soll. Zu dieser sonst mit verschiedenen Namen bezeichneten Schlange Philum. Ven. 26.1, Ael. Nat. Anim. 8.13 u.a. 149 Zur Stellung des hydros am Übergang vom Wasser ans Land Aristot. Hist. An. 1.1 [487a23], Resp. 10 [475b26–476a1], zur Froschjagd [Hom.] Batr. 82, Aesop. 90 Perry, Verg. Georg. 3.430f, Ael. Nat. Anim. 12.15 u.a.; der Übergang vom Wasser aufs Trockene soll sich auch im Namen chersydros spiegeln, vgl. Philum. Ven. 24.1f, Androm. 21–23; zu seiner besonderen Gefährlichkeit, wenn er an Land kommt Nik. Ther. 366–371, Verg. Georg. 3.425–434, Androm. 21–24, Philum. Ven. 42.2 und mit unmittelbarer Bezugnahme auf die Verletzung des Philoktet Quint. Smyrn. 9.385–387. 150 Den hydros als ‚Wasserschlange’ zu bestimmen, wie es auch heute noch gelegentlich geschieht (etwa bei Sancassano, Serpente, 51f, Latacz, Ilias II, 233 [zu 2.733]), weckt falsche Assoziationen an ein exotisches Monster. 151 Die Viper bevorzugt trockene Aufenthaltsorte (Ath. 7.312e, Tert. Bapt. 1, vgl. Aristot. Hist. An. 8.15 [599b1f]). In der medizinischen Literatur gilt ihr Fleisch als trocknend und erwärmend (Gal. 12.319) und kann heftigen Durst erregen (Gal. 12.316, 14.45f). In Aesop. 90 Perry begegnet der durstige echis dem hydros, der Herr einer Quelle ist. Mit Wein lässt sich der echis in eine Falle locken (Aristot. Hist. An. 8.4 [594a10–12]), gelegentlich ertrinkt er auch in einem Weinkrug, der für andere bestimmt ist (Gal. 12.313f, Artem. 4.48, vgl. Plin.
2.3. Elfmal Philoktet
69
eine letzte Nachricht auch ihre Folgerichtigkeit: Die antiken Tierkundler waren der Ansicht, dass sich gewisse Tierarten unter bestimmten Bedingungen in eine andere verwandeln konnten, zum Beispiel durch die Veränderung des Lebensraumes, wie [sich] der hydros in einen echis [verwandelt], wenn die Quellen austrocknen 152.
Lenken wir unseren Blick von dieser Einzelheit der Schlangennamen zurück zu den Erzählungen als ganzen, so ist bei ihrer Gliederung von dem auszugehen, was fast allen Fassungen gemeinsam scheint – es ist wenig mehr als die Tatsache, dass Philoktet von einer Schlange gebissen wird, wobei der Anlass, bei dem dies geschieht, etwas mit einem Opfer zu tun hat. Das ist an sich noch keine erzählbare und am allerwenigsten die ‚ursprüngliche’ Gestalt der Geschichte, sondern höchstens eine Hohlform, die immer nur dann sichtbar wird, wenn sie sich mit jenen bestimmenden Einzelheiten füllt, welche die Vielfalt der Varianten ausmachen. Trotzdem bezeichne ich diesen scheinbaren Kern der Sage mit dem Buchstaben Ω. Überhaupt werde ich im Folgenden solche Siglen verwenden, um die bloss übergeordneten und zusammenfassenden Variantenklassen von den in den Texten wirklich gegebenen Varianten der Sage zu unterscheiden153. Eine erste Gruppe von Geschichten [Α] führt diesen Kern durch drei zusätzliche Einzelheiten aus: Philoktet wurde auf Tenedos gebissen, nach einem Opfer für Apollon und durch einen hydros (Ph9, Ph11). Diese Fassung der Geschichte war offensichtlich bereits im 7. Jh. bekannt, da sie für die Kyprien belegt ist. Einer zweiten Gruppe von Erzählungen [Β] ist gemeinsam, dass sie alle drei Hauptpunkte von Α durch Umkehrungen oder Negationen dementiert: Philoktet wurde nicht auf Tenedos verwundet, sondern bei einer anderen Insel, die dieser in der Ägäis gegenüberliegt, Lemnos; er wurde nicht vor, sondern nach dem Opfer gebissen, dieses galt nicht Apollon, und die gefährliche Schlange war nicht eine Natter sondern eine Viper. Innerhalb dieser Gruppe gibt es weitere Unterscheidungen: Die eine Linie [β1] bestimmt als Ort des Opfers eine kleine Insel nahe bei Lemnos, Chryse, und bringt es in Zusammenhang mit der gleichnamigen Göttin des Ortes (Ph1, Ph3, Ph10, vgl. Ph6). Den ersten Beleg für diese Variantenklasse finden wir im Philoktetes des Euripides154. Zu dieser Fassung lässt sich eine weitere wiederum als Umkehrung lesen [β2]: Philoktet wird darin nicht auf Chryse gebissen, sondern auf dem gegenüberNat. 10.(93).198). Wenn der echis ans Wasser geht, um sich mit der Muräne, einem schlangenähnlichen Meerfisch zu paaren, speit er sein Gift auf einem Felsen aus und leckt es nachher wieder auf – wird es ihm unterdessen weggenommen, stirbt er vor Ärger über seine Wehrlosigkeit (Opp. Hal. 1.554–579, vgl. Ael. Nat. Anim. 1.50, 9.66). 152 Theophr. Hist. Plant. 2.4.4, vgl. Aristot. Frg. 328b. 153 Eine gesonderte Übersicht über die Schauplätze des Schlangenbisses unten 3.1.1. 154 Zu Vermutungen über Aischyl. unten 2.3.4.b. Für die Rückführung auf die Il. parv., die Schnebele, Quellen, 116f vorschlägt (anders Müller, Beiträge, 22 n.41), fehlt leider jeder Beleg. Interessant sind aber seine Überlegungen dazu, wie die Verschiedenheit der Varianten aus der „Konkurrenzsituation“ verschiedener Erzähler hervorgeht.
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2. Der verwundete Philoktet
liegenden Lemnos selbst, und der sakrale Kontext ist nicht durch eine Göttin, sondern durch Herakles, einen männlichen Heros, bestimmt (Ph4, Ph7). Hinter die Scholien zu Sophokles, d.h. hinter die hellenistische Zeit, sehen wir mit den Zeugnissen für diese Variante nicht. In allen bisher betrachteten Fassungen wird Philoktet während eines Rituals bei einem Altar verwundet, der in den Texten auch ausdrücklich erwähnt wird. In ein paar Berichten, die grundsätzlich den Gruppen β1 oder β2 nahestehen, fehlt aber jeder Hinweis auf einen Altar [γ], dafür bieten sie mehr oder weniger ausführliche Begründungen, weshalb die Schlange Philoktet gebissen habe: Dabei begeht der Held immer einen ernsthaften Fehltritt und wird durch den Schlangenbiss bestraft (Ph4, Ph6, Ph8). Da die Überlieferung zu Philoktet wesentlich durch die Tragödie mitgeformt wurde und Tragödien nach einem verbreiteten, darum aber noch nicht unbedingt zutreffenden Vorurteil Geschichten von Schuld und Sühne erzählen, besteht in der älteren Forschung die Neigung, diesen Zusammenhang als Grundmuster der Philoktetsage überhaupt anzusehen. Demgegenüber will ich schon hier ausdrücklich darauf hinweisen, dass sich in keinem der uns vorliegenden Berichte das Motiv der Schlange am Altar und das von Schuld und Sühne verbinden, so dass insgesamt eher der Eindruck entsteht, das eine habe das andere ersetzt. Auch für diese Entwicklung ist ein Scholion zu Sophokles das älteste Zeugnis. Sie muss also spätestens in hellenistischer Zeit stattgefunden haben155. Gruppiert man die Varianten in dieser Weise nach dem Charakter ihrer Erzählung, hat man den Vorteil, dass mindestens die Anordnung der Variantenklassen auch der geschichtlichen Folge ihrer jeweils ältesten Fluchtpunkte zu entsprechen scheint. Ich habe deshalb in der nebenstehenden Grafik versucht, die Dinge in einer Übersicht zusammenzustellen, welche den verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Fassungen und ihrer vermutlichen historischen Abfolge Rechnung trägt. Hier habe ich mit Absicht eine Darstellung gewählt, die an jene Stammbäume von Handschriften erinnert, die jeder Philologe aus den Einleitungen wissenschaftlicher Textausgaben kennt. Tatsächlich geht es um die Nachzeichnung des Weges, den eine Art Text, die Sage von der Verwundung des Philoktet, bis in die Umschriften zurückgelegt hat, die wir kennen, und habe ich versucht, diesen Weg nachträglich aus den feinen Unterschieden zwischen diesen letzteren herauszulesen. Allerdings möchte man anhand solcher Überlegungen bei Handschriften immer auch, zu brauchbaren Aussagen über die verlorene ursprüngliche Fassung gelangen, was bei mythischen Geschichten, wie angedeutet, ein eher zweckloses Unterfangen ist. Was ich als Variantenklassen angesetzt
155 Ich habe schon darauf hingewiesen, dass auf allen bildlichen Darstellungen, die jünger sind als das 3. Jh. der Altar nicht mehr angedeutet wird, vgl. LIMC 7 (1994) s.v. Philoktetes Nrr. 17–20, 74 [M. Pipili] und vielleicht das Wandgemälde von Ephesos, vgl. 2.2.5. Die moralisierende Deutung, die den Schlangenbiss als Strafe für ein Verschulden versteht (vgl. dagegen 2.3.2) wird gegen ältere Interpretationen auch von Segal, Tragic World, 112 als Entwicklung späterer Sagenvarianten erwiesen.
2.3. Elfmal Philoktet
71
Ω 7. Jh.
Α Ph9
5. Jh.
Β β1
Ph10 Ph3 4. Jh.
Ph1
Ph2
3. Jh.
γ
β2
Ph6 1. Jh.
Ph8
1. Jh. n. Chr. 2. Jh. n. Chr.
Ph7
Ph5 Ph11
Ph4
habe, die gewissermassen reinen Fassungen, sind blosse von uns selber erstellte Hilfskonstruktionen. Ihre Aufgabe besteht vor allem darin, wenigstens auf einen Teil der vielfachen Bezüge zu verweisen, in welche eine Geschichte eintritt, denen sie immer wieder neuen Sinn abgewinnt und ihre eigentliche Lebendigkeit verdankt. Unser Gesichtspunkt ist also nicht der des Textkritikers und Herausgebers, sondern allenfalls jener des Überlieferungshistorikers, welcher seine Handschriften nicht um des Inhalts willen betrachtet, sondern im Hinblick auf ihren wechselnden Gebrauch durch ihre Schöpfer und Benutzer. Damit ist zugleich gesagt, dass der Stammbaum, den ich oben vorgelegt habe, kein Ergebnis der Forschung darstellt, sondern lediglich einen handlichen Plan, welchem ich folgen will, um Wege zum Verständnis der einzelnen Fassungen vorzuschlagen. 2.3.2. Von Schlangen und Mäusen 2.3.2. a) Philoktet auf Tenedos Ich beginne mit den Zeugnissen der Gruppe Α, welche wir am weitesten zurückverfolgen können. Dabei sind zunächst Ph9 und Ph11 zu behandeln, die eng zusammengehören, während Ph5 eine Umschrift dieser ältesten Tradition darstellt,
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2. Der verwundete Philoktet
welche bereits Elemente aus der Gruppe Β verwertet. Ich stelle deshalb zuerst die beiden wichtigsten Zeugnisse nebeneinander156: Ph9 [Die Achaier] segeln nach Tenedos;
und während sie an einem Festgelage sind, wird Philoktet von einer Natter gebissen...
Ph11 Als die Griechen auf Tenedos zu segelten, sah Tennes sie und hinderte sie [am Anlegen], indem er Felsen warf; und er starb, als Achilleus ihm das Schwert in die Brust stiess, obwohl Thetis dem Achilleus verboten hatte, Tennes zu töten: er werde nämlich durch Apollons Hand umkommen, wenn er Tennes töte. Und als sie dem Apollon ein Opfer darbrachten, kam aus dem Altar eine Natter herbei und biss Philoktet.
Ph9 enthält offensichtlich kaum etwas, was sich nicht auch in Ph11 findet, so dass der erste Text wie eine verkürzte Fassung des zweiten erscheint. Sonst besteht der einzige inhaltliche Unterschied darin, dass in Ph9 der Held während einem Festgelage gebissen wird, in Ph11 hingegen, als die Griechen dem Apollon opfern. Beides ist nicht unvereinbar. Zunächst versteht sich, dass gewöhnlich dem Opfer das Festmahl folgt, bei dem das getötete Tier verspeist wird. Doch man kann den Zusammenhang noch genauer fassen: Die Sänger, auf deren Lieder die Texte zurückgehen, welche später in den homerischen und kyklischen Epen gesammelt wurden, fügten einen grossen Teil ihrer Dichtungen aus Passagen, die sie auf Vorrat auswendig wussten und nur dem jeweiligen Kontext anzupassen brauchten157. Zum eisernen Bestand solcher Szenen scheinen nicht zuletzt solche gehört zu haben, die Opfer und Festgelage nacheinander abrollen liessen158. Beschreibungen von Festmählern, denen nicht ausdrücklich die Schilderung einer Opferhandlung vorausgeht sind hingegen selten159 und meistens an besondere Gelegenheiten geknüpft, das Erlegen von Wild etwa oder die Bewirtung von ankommenden Gästen160. Es liegt also nahe, sich vorzustellen, dass auch in den 156 Eine ähnliche Gegenüberstellung der beiden Hauptquellen bietet Schnebele, Quellen, 164. Gewöhnlich wird daraus die Sagengestalt der Kyprien rekonstruiert, wobei in den Hauptpunkten Einigkeit herrscht, vgl. etwa Jebb, Philoctetes, xf; Bethe, Epenkreis, 93f [=241f], Severyns, Cycle, 298–301; Kullmann, Quellen, 8, 269f; Jouan, Euripide, 311f und Jouan 1994, 193; Mandel, Philoctetes, 8f; Schnebele, Quellen, 110 mit n. 8; Davies, Cycle, 46; Scaife 1995, 167; Müller, Beiträge, 11f n.2 und Kommentar, 28–31. Eine Gesamtanalyse der Kyprien bietet auch Burgess 1996, wiederaufgenommen in Burgess, Tradition mit einer sehr ergiebigen Gesamtanalyse zur kyklischen Epik und ihrem Verhältnis zu Ilias und Odyssee. 157 Zu diesen ‚typischen Szenen’ NCHom 154–156 [J. M. Foley]. 158 Hom. Il. 1.447–474, 2.402–432, 7.314–322, Od. 3.417–472, 14.413–453, 20.248–256, und kürzer Od. 8.59–61, 13.24–27, 20.276–280; das Material auch gesammelt bei Arend, Scenen, 64–78; auch Foley, Traditional Art, 171–187 und 271–273. 159 Beispielsweise Hom. Il. 24.621–627. 160 Wild bei Hom. Od. 10.179–184, Gäste bei Hom. Il. 9.89–92, Od. 1.144–150, 4.51–68, 19.418–425.
2.3. Elfmal Philoktet
73
Kyprien der Verwundung des Philoktet eine solche typische Szene voranging, in welcher Opfer und Festmahl aufeinander folgten. Damit erscheint diese älteste Gestalt der Sage bis in ihre Einzelheiten von den Gesetzen der poetischen Gattung bestimmt, in welcher sie überliefert wird, eine Erscheinung, die uns gelegentlich wiederbegegnen wird161. Die beiden Quellentexte hätten dann – durch welche Vermittlung auch immer – aus dieser ältesten Fassung eine verschiedene Auswahl getroffen. Freilich wird gerade dadurch Wesentliches verändert, weshalb ich es bei der Vorlage des Materials nicht gewagt habe, Ph9 und Ph11 zu einer einzigen Variante zusammenzuschweissen. Mit dem Opfer ist in Ph9 zugleich die Geschichte von Tennes weggefallen, vor allem aber die Person des Apollon, der nach gewissen Berichten der Vater des Tennes war und damit in der ausführlicheren Fassung Ph11 die Eroberung der Insel und den Schlangenbiss verklammert. Ob diese Klammer schon in den Kyprien bestand und welche Bedeutung ihr zukam, lässt sich aus unseren bruchstückhaften Zeugnissen nicht mehr so einfach erschliessen. Immerhin kann ich darauf hinweisen, dass unsere Quellen, entgegen einer verbreiteten Auffassung162, nicht den geringsten Hinweis auf den Gedanken bieten, der Schlangenbiss stelle die unmittelbare Strafe für die Tötung des Apollonsohnes dar. Eher wird man bedenken müssen, dass der Gott in der Ilias auf Seiten der Gegner der Achaier steht. So trägt auch sein Vorgehen gegen Philoktet, dessen Anwesenheit vor Troia sich später für die Eroberung der Stadt als unumgänglich erweisen wird, zu deren vorläufiger Erhaltung bei. Übrigens berichtet unsere Quelle für Ph9 anschliessend, dass es bei dem Fest auf Tenedos zu einem Zerwürfnis zwischen Agamemnon und Achilleus gekommen sei, den man dazu nicht rechtzeitig eingeladen hatte163. Dieser Teil der Geschichte scheint später auch durch seine Behandlung in einem Satyrspiel des Sophokles, den Syndeipnoi bekannt gewesen zu sein164. Das Stück enthielt eine Schilderung des Zornes des Achilleus, die möglicherweise sehr drastisch war und später von den Philosophen als Muster für diesen Affekt zitiert wurde165, sowie eine Auseinandersetzung zwischen Odysseus und Achilleus, der da schon zum ersten Mal seinen Dienst verweigert166. Der Aufenthalt der Achaier auf Tenedos 161 Vgl. 4.2.2 über die älteste Variante der Heilung des Philoktet (HPh1). 162 Etwa noch bei Müller, Kommentar, 28f; vgl. aber oben p. 70 mit n. 155. 163 Dazu Kypr. Frg. 25 mit Prokl. Chr. Hypoth. Kypr. 41.51f PEG. Vermuten lässt sich, dass schon Hom. Od. 8.73–82 auf diesen Abschnitt der Kyprien anspielt, vgl. Huxley, Epic Poetry, 136f. Die Stelle ist damit ein gewichtiges Argument für das neoanalytische Verständnis Homers, vgl. bes. Kullmann, Quellen 100, 271f und 221f mit n. 4. Weiter zu dieser Episode RML 1 (1884–86) s.v. Achilleus 33 [C. Fleischer]; Bethe, Epenkreis, 93 [=241]; von der Mühll 1954; Jouan, Euripide, 313f und Jouan 1994, 203–206; Davies, Cycle, 46f; Müller, Kommentar, 30 mit n.22; und zu den Soph.-Frgg. Pearson, Fragments, 2.198–209, Krumeich/Pechstein/Seidensticker, Satyrspiel, 396–398. 164 Σύνδειπνοι: Die Essgenossen, Soph. Frgg. 562–571. 165 Vgl. Soph. Frg. 565; wahrscheinlich geht schon Aristot. Rhet. 2.24.6 [1401b18] mehr auf das Stück des Soph. als auf die Kyprien, vgl. Comm. Anon. Aristot. Rhet. CAG XXI.2.151.16, Phld. Ir. col. 18.17–20, vielleicht auch Cic. ad Q. fr. 2.16.3. 166 Soph. Frg. 566.
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2. Der verwundete Philoktet
scheint damit nicht nur in dem Missgeschick, das Philoktet trifft, vom Unglück gezeichnet, sondern es wird noch ein anderes Handlungsmotiv vorweggenommen und vorbereitet, das in der Ilias den Fall der Stadt verzögern wird: der Groll des wichtigsten Kämpfers gegen die obersten Heerführer. Für das Verhältnis der beiden Varianten Ph9 und Ph11 stellen sich damit verschiedene Fragen: Gehört das Fest mit dem nicht eingeladenen Achilleus wirklich zu dem Opfer an Apollon, oder sind die Tennesepisode und der Streit zwischen Achilleus und Agamemnon alternative Beschreibungen für das Umfeld in welchem der Schlangenbiss stattfindet? Oder wurde am Ende Achilleus gerade deshalb nicht eingeladen, weil er es war, der Tennes getötet hatte? Wenn die Sage auf diese Weise den Helden aus der rituellen Festgemeinschaft der Insel ausschliesst, so lässt sich dafür nämlich eine Entsprechung im Kult finden: Im Heiligtum des Tennes auf Tenedos war es verboten, den Namen des Achilleus auszusprechen167. Letztlich dürften unsere Zeugnisse kaum mehr ausreichen, um klar zu sehen, wie diese Dinge in den Kyprien geschildert waren. 2.3.2 b) Apollon Smintheus Etwas Weiteres mag mitspielen: Auf Tenedos ist bei Homer auch ein Kult des Apollon bezeugt168. Er führt dort den Beinamen Smintheus, und auch ohne das indirekte Zeugnis von Ph5 zu diesem Punkt beizuziehen, wird man annehmen dürfen, dass das Opfer auch in den Kyprien diesem Apollon Smintheus galt169. Damit trägt Apollon auffällig genug denselben Beinamen, wie als er uns am Anfang der Ilias entgegentritt: Zu Apollon Smintheus betet jener Chryses, dem Agamemnon seine entführte Tochter Chryseis nicht zurückgeben will; der Gott erhört ihn, sendet seine schrecklichen Pfeile gegen das Lager der Achaier und lässt damit die Pest ausbrechen170. Apollon Smintheus ist damit in der Ilias ebenso 167 So Diod. 5.83.5, Plut. Mor. 297ef. 168 Hom. Il. 1.38f, vgl. 1.452. 169 Über Apollon Smintheus allgemein RML 4 (1909–15) 1083–1086 s.v. Smintheus [J. Ilberg]. Apollon als Mäusegott behandelt unter Beizug von reichem volkskundlichem Material Krappe 1936 und 1941; fragwürdig hingegen die umfangreiche Studie von Grégoire/Goossens/Mathieu, Asklépios: Um Smintheus mit dem indischen Rudra zusammen zu bringen, werden seine Mäuse zu Maulwürfen erklärt, womit das Unterscheidungsvermögen der alten Griechen einigermassen unterschätzt werden dürfte; die Ungenauigkeiten in der Darstellung der griechischen Sachverhalte stimmen ausserdem wenig vertrauensvoll, was jene der (für mich nicht überprüfbaren) indischen angeht. Um ein tieferes Verständnis der Gestalt ringt auch Otto 1959, 22–25. Grundlegend dann Schretter, Alter Orient, 174–182, besonders zu den westsemitischen Bezügen der Gestalt, die allerdings für meine Untersuchung nicht wesentlich sind; dazu auch Huber, Rituale, 93 mit n. 31. Zum Ganzen auch Lorenz 1988, Faraone, Talismans, 128–132 und Ogden, Kings, 66–69, welche die meisten der nachfolgenden Geschichten kurz besprechen; bei Pulleyn, Homer, 135f (zu Hom. Il. 1.39) auch Hinweise zur älteren Forschung. 170 Hom. Il. 1.35–52; etwas vordergründig rationalistische medizinische Erwägungen dazu bei Bernheim/Zener 1978, ausserdem Huber, Rituale, 92–96.
2.3. Elfmal Philoktet
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an die Lähmung des Heeres als Ganzes geknüpft wie in den Kyprien an die Lähmung eines seiner wichtigsten Kämpfer. Die Pfeile des Gottes spielen damit eine analoge Rolle wie die Schlange, die an seinem Altar auftaucht, was vielleicht auf den ersten Blick eine etwas kühne Parallele scheint. Die Belege dafür werden sich aber rasch vermehren171. Wenn Tenedos als Kultort des Apollon Smintheus schon in der Ilias erscheint, heisst das noch nicht, dass die Kyprien aus jener geschöpft haben müssen oder umgekehrt: Die Verehrung des Apollon auf der Insel ist auch später belegt172, der Gott erhält dabei ausdrücklich den Beinamen Smintheus173, und so liegt der Gedanke nahe, dass dieser schon zur Zeit der Abfassung unserer Epen bekannt war. Stützen lässt sich diese Vermutung durch einen Blick auf die Verbreitung des Apollon Smintheus im Allgemeinen174: Wir hören von ihm zwar auch in einigen Kolonien im Westen und auf Rhodos, wo es ausser einem Monat Sminthios auch ein Fest Smintheia gab175, aber eben doch vor allem rund um die Nordwestecke Kleinasiens, nicht nur auf Tenedos, auch auf Lesbos und in der Troas176, in Larisa, Parion, sowie in Koiloi auf der thrakischen Chersonesos177. Das eigentliche Zentrum scheint das Heiligtum von Chryse gewesen zu sein, das zur Gemeinde Hamaxitos gehörte und mit dieser später ins Gebiet von Alexandreia Troas einbezogen wurde178. Ein Tempel ist dort ausgegraben worden, dazu nicht wenige Weihinschriften179, auf denen in der Kaiserzeit auch Smintheia als festlicher Agon erwähnt sind180. Der Kult ist nachweislich noch in diokletianischer Zeit lebendig gewesen181. In dieser Gegend sind auch Orts- und Flurnamen, die zu dem Gott 171 Vgl. 2.3.6. Zu den antiken allegorischen Deutungen dieses Mythos Buffière, Mythes, 130f und 191f. 172 Aristot. Frg. 594 = Strab. 8.6.22 und Paus. 2.5.4. 173 Strab. 13.1.46, allerdings mit Zitat von Hom. Il. 1.38f. 174 Vgl. RE 2 (1895) s.v. Apollon 68f [A. Wernicke] und RE 2.5 (1927) 724f s.v. Sminthe [L. Bürchner], beide mit Listen der damals bekannten Kultstätten. 175 Mit σµίνѳος verwandte Ortsnamen in Rhodos und Lindos erwähnt Strab. 13.1.48; auch Σµίνѳος als Personennamen ist auf Rhodos belegt (Lindos, um 400). 176 An Personennamen kommen in der Nordägäis hinzu: Σµίνѳευς auf Lesbos (Mytilene, 5. Jh.) und Σµίνѳις auf Thasos (5./4. Jh.); je einen weiteren Beleg für die eher seltenen Namen dieser Gruppe liefern Boiotien (5. Jh.) und Athen (kaiserzeitl.). Zwischen Rhodos und der Troas ist auch in Magnesia am Maiandros ein nach Smintheus benannter Monat, ion. Σµισιών belegt (Inschr. Magnesia 8.6, 11.1, 98.2, 105.2, 220.2 Kern); zu weiteren durch – teilweise fragwürdige – Konjekturen wiederhergestellten Belegen für solche Monatsnamen Trümpy, Untersuchungen §88 (Chios), §91 (Erythrai), § 226 (Antiochia in Pisidien, sehr unsicher). 177 Ein Fest Smintheia ist bezeugt für Koiloi bei IK 53 Chrysa Test. 18. 178 Die Inschriften und literarische Zeugnisse sind am vollständigsten gesammelt bei Ricl, Inscriptions [= IK 53], 6f, 93–97, 188–194; vgl. Schwertheim, 1996, 111–113. 179 IK 53 (Alexandreia Troas) Nrr. 4, 41, 63, 65–67, 126; Schwertheim 1996, Nrr. 14–16; die bisher bekannten Reste des Tempels stammen aus Hellenismus und Kaiserzeit, vgl. NP 5 (1998) 103f s.v. Hamaxitos [E. Schwertheim]. 180 IK 53 (Alexandreia Troas) Nrr. 52–54, Test. 18 [Inscr.]. 181 Das wichtigste Zeugnis Men. Rh., vgl. Russell/Wilson, Menander. Dessen Rezepte für Prunkreden richten sich offenbar an einen Adressaten aus Alexandreia Troas (426.11f/22ff, 429.1f, 444.2–12) und erwähnen nicht nur Apollon Smintheus (428.3–5) sondern auch ausdrücklich
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2. Der verwundete Philoktet
gehören, nicht selten182, sogar eine ganze Gemeinde heisst Sminthe183, worauf man in der Antike gelegentlich den Beinamen des Gottes zurückgeführt hat. Versucht man zu klären, was es mit dieser Göttergestalt auf sich hat, so überlagern sich mehrere Fragen: Tiermythologie und Homerdeutung, Lokalkult und die Suche nach Entsprechungen zwischen den religiösen Vorstellungen der Griechen und der Westsemiten. Dabei tritt ein Komplex von Bildern zutage, in dem vielleicht nicht alle Beziehungen gleich auf der Hand liegen, der aber insgesamt in sich geschlossen wirkt. Zunächst scheint der Name Smintheus an das Wort sminthos geknüpft, das als seltener, poetischer Name für die Maus gebraucht werden konnte184. Für den Beinamen werden dabei zwei mögliche Deutungen gegeben, die zu je eigenen Geschichten gehören: Die eine macht ihn zum Beschützer der Stadt Sminthia, die ihren Namen von den Mäusen hat185; die andere trägt uns erst Eustathios vor:
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das Fest Sminthia (427.21–24). Das letzte Stück des erhaltenen Textes ist eine Anweisung für eine Festrede an diesem Anlass (Sminthiakos) und erwähnt ausdrücklich den Gott (438.11, 440.13–15, 444.8f, vgl. auch 440.31f), den Tempel (445.1f), Fest und Agon (444.17–20), und schildert den Ort auch als Orakelstätte (439.21–24). Eine eigene literarische Gattung haben aus dem Sminthiakos, der als an einen konkreten Anlass gebundenes Stück Beredsamkeit gemeint ist, erst byzantinische Handbücher gemacht (vgl. Men. Rh. Test. 3 (Joh. Doxopat.) und 6 (Nicol. Progymn.) Russell/Wilson, auch Eusth. Hom. Il. 1.39 [34.32f]). Schwer zu entscheiden ist, ob ein angeblich aus Klaros stammender Orakelspruch ebenfalls hierher gehört, der die Frage beantwortet, wie ein Gebet an Apollon Smintheus lauten müsse (Lact. Inst. 1.7.9, vgl. Men. Rh. 438.11), doch wirken nach allem selbst die Erwähnungen des Smintheions bei Quint. Smyrn. noch durchaus wie Beschreibungen einer wirklichen Landschaft (Quint. Smyrn. 7.402, 14.413). Strab. 13.1.48 nennt Orte bei Hamaxitos, Larisa und Parion. Apollon. Soph. Lex. Hom. s.v. Σµινѳεύς, Steph. Byz. s.v. Σµίνѳη, vgl. auch Hsch. s.v. Σµινѳεύς. Aischyl. Frg. 227, Kallim. Frg. 177.16, Lyk. Alex. 1306, AP 9.410.1 [Tullius Sabinus]. Der Ursprung des Wortes ist undurchsichtig, vgl. Chantraine s.v. σµίνѳος, ausserdem Quattordio Moreschini 1984, 86–88. Darauf, dass die antiken Grammatiker es bald für mysisch, bald für kretisch erklärten (beide Angaben bei Schol. Hom. Il. 1.39, troisch-äolisch nach Ael. Nat. Anim. 12.5, kretisch nach Schol. Clem. Alex. Protr. 39.7, Et.M. s.v. Σµινѳεύς, Tzetz. Lyk. Alex. 1303), ist nichts zu geben. Als männlicher Personenname ist si-mi-te-u (Smintheus) schon mykenisch belegt (Knossos, vgl. DMic s.v. si-mi-te-u), daneben steht der nicht seltene etruskische Personenname Sminѳ ie- o.ä. Ihn einfach als Entlehnung aus dem Griechischen zu deuten (so Pfiffig, Sprache, 178 und de Simone, Entlehnungen, 2.333f; vgl. Steinbauer, Handbuch, 466f) ist schwierig, solange Belege für von Smintheus abgeleitete Personennamen im Westen noch weitgehend fehlen, und in Rom Smintheus wenig mehr ist als eine (deutlich der Ilias entlehnte) sehr seltene gelehrte Umschreibung für Apollo (Ov. Met. 12.585, Fast. 6.425, Sen. Ag. 176). Das Suffix -nth- wird gerne auf eine vorgriechische, wahrscheinlich anatolische Sprachschicht zurückgeführt (vgl. λαβύρινѳος oder alte Ortsnamen wie Κόρινѳος u.a.), und ausgehend von der Glosse bei Hesych. σµίς·µῦς lassen sich damit Vermutungen anstellen, denen die Gegenwart der Tyrrhener auf dem nahen Lemnos einen gewissen Reiz verleihen mag (vgl. 3.1.4). Ob freilich σµίνѳος wirklich von σµίς abgeleitet ist oder nicht doch eher umgekehrt, lässt sich anhand des kargen Materials unmöglich entscheiden. So Schol. Hom. Il. 1.39 nach der Geschichte von den Kretern und der Gründung von Sminthia: „Er wurde Smintheus genannt, weil er sie beschützt“.
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Apollon Smintheus ist nach ihm der Mäusetöter186. Dazu passt eine Legende aus Rhodos, nach der Apollon zusammen mit Dionysos die Mäuse getötet hat, die dort alle Weinstöcke abzufressen drohten187. Ebenso kann man ein kurioses Epigramm aus der frühen Kaiserzeit anführen, in dem erzählt wird, wie ein gefrässiges Mäuschen auf der Leier des Apollon eine Saite benagte, worauf diese losschnellte und das arme Tier erwürgte. Der uns sonst unbekannte Dichter, Tullius Sabinus188, beschliesst diese schröckliche Geschichte mit einem staunenden Vergleich der Kraft der Leier des Gottes mit der seines Bogens. Man sollte diese scheinbar belanglosen Verse nicht unterschätzen, nicht nur weil sie mit der Bezeichnung der Maus als sminthos gelehrt auf Apollon Smintheus anspielen, ohne ihn zu nennen: Man darf doch annehmen, dass nach gut hellenistischem Brauch eine literarische Polemik hinter der Sache steckt und mit dem unglückseligen Nagetier jemand Bestimmtes gemeint war. Dass Apollon die Mäuse nicht nur bannen, sondern auch zum Unheil schicken kann, belegt eine andere Legende189: In Chryse in Mysien gab es einen Apollonpriester Krinis, welchem sein Gott zürnte und Mäuse schickte, die seine Felder verwüsteten; aber dann kam Apollon zur Versöhnung zum obersten Rinderhirten des Krinis, welcher ihn aufnahm und bewirtete, worauf der Gott mit seinen Pfeilen die Tiere tötete; schliesslich trug er dem Hirten auf, das Wunder seinem Herrn zu melden, der zum Dank dem Apollon einen Tempel baute und ihm den Beinamen Smintheus gab190. Die Geschichte ist auch auf Münzen aus der Mitte des 3. Jh.s n. Chr. dargestellt191: dort sitzen sich Krinis und Apollon am gastlichen Tische gegenüber, während der Hirt im Hintergrund steht, und der Gott hält in der einen Hand den Bogen, während er mit der andern dem Priester ein Bündel Pfeile darbietet, von denen einer eine Maus durchbohrt. Dieses Vorzeigen von Pfeil und Maus, mit dem der Gott hier seine Tat berichtet, müssen wir uns merken; wir werden schon bald auf eine andere Geschichte stossen, in der eine wichtige Botschaft ähnlich ausgedrückt wird192.
186 µυοκτόνος, so Eusth. Hom. Il. 1.39 [34.23], vgl. ibid. 34.13f, was noch von Latacz, Ilias I, 42 (zu Hom. Il. 1.39) nachgesprochen wird (Smintheús als „Kurzform für Sminthophthoros“); vgl. dagegen Risch, WBhom, 158f (§57c) für den tatsächlich weit komplexeren Hintergrund solcher Bildungen. Als weitere Deutung schlägt Eusth. übrigens vor: jener, der durch die Mäuse Orakel gibt, ibid. 34.44f. 187 Apollon. Soph. Lex. Hom. s.v. Σµινѳεύς. 188 AP 9.410. 189 Der Gott „befreit nicht von der Mäuseplage, sondern schickt sie in erster Linie“, so Otto 1959, 24 n.8. Zu Krinis RML 2.1 (1890–94) 1431f s.v. Krinis [K. Tümpel]; RE 11 (1922) 1865 s.v. Krinis 1) [W. Kroll]; LIMC 6 (1992) 137 s.v. Krinis [D. Vollkommer]; Ricl, Inscriptions, 194 n.36. 190 Polemon Frg. 31 [FHG 3.124] = Schol. Hom. Il. 1.39. 191 Vgl. LIMC s.v. Krinis 1. 192 Vgl. 2.3.2 c). Eine rationalisierende Verkürzung der Geschichte von Krinis liegt wohl bei Ael. Nat. An. 12.5 vor, wo es heisst, die Troer und Aioler hätten bei einer Mäuseplage vom delphischen Orakel den Auftrag erhalten, dem Apollon Smintheus zu opfern, und danach seien die Mäuse verschwunden.
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2. Der verwundete Philoktet
In Chryse in der Troas, wo diese Sage spielt, stand im Tempel des Apollon Smintheus ein berühmtes Kultbild, ein Werk des Skopas, das den Gott zeigte, wie er mit dem Fuss auf eine Maus trat193, und an denselben Ort waren auch andere Geschichten geknüpft, die ihn mit den Mäusen verbanden: etwa jene über die Teukrer aus Kreta194, oder der Bericht, dass es rund um das Heiligtum von Mäusen wimmelte, die als heilig galten195. Heilige Mäuse gehören vielleicht sowenig zum geläufigen Bild des klassischen Griechenland wie die Vorstellung von Apollon als Herrn des Geziefers, an der im übrigen schon ein wohlgezogener Philologe des Altertums wie Aristarch Anstoss nahm196. Gerade diese Vorstellung ist freilich nicht einzigartig, führt doch Apollon verschiedentlich Beinamen, welche belegen, dass zu dem Unglück, das der göttliche Heiler abzuwehren hatte, in jener bäuerlich geprägten Welt allerhand Schädlinge gehörten197. So gibt es einen Apollon Parnopios, den Abwehrer der parnopes, der Heuschrecken198, und einen Apollon Sauroktonos, den Töter der saurai, der Eidechsen, die als Bienen- und Taubenfeinde galten199. Was aber die Mäuse im Besonderen betrifft, sind sie nicht nur Ernteschädlinge, sondern auch jene Tiere, welche die Pest ankündigen und ihr zuerst zum Opfer fallen200. Damit wird der Herr der Mäuse auch der Pestgott, und in dieser Gestalt tritt uns Apollon Smintheus auch am Anfang der Ilias entgegen201. 193 So Strab. 13.1.48; im Einzelnen ist die Rekonstruktion des Bildwerks schwierig, vgl. LIMC 2 (1984) 231f s.v. Apollon 378 [W. Lambrinudakis]. 194 Vgl. unten p. 80. 195 Herakleid. Pont. Frg. 154 Wehrli = Strab. 13.1.48. 196 Vgl. Apollon. Soph. Lex. Hom. s.v. Σµινѳεύς. Kennzeichnend etwa noch der Widerstand gegen solche Vorstellungen bei Otto 1959, 24. Zur Bedeutung der Maus allgemein RE 14 (1931) s.v. Maus 2396–2408 [H. Steier]. 197 Zu den folgenden (und einigen weiteren) Beispielen Usener, Götternamen, 260–263; auch Bodson, Zoia, 13f und Faraone, Talismans, 130f. 198 Strab. 13.1.64, Paus. 1.24.8; vgl. auch IG XII.2 Nr. 645.48 199 Plin. Nat. 34.70, Mart. 14.172; vgl. Bodson, Zoia, 63–68 und LIMC 2 (1984) s.v. Apollon/Apollo Nr.53 [E. Simon], wo allerdings zu Unrecht angezweifelt wird, dass Apollon Sauroktonos in die Reihe der Abwehrer von Ungeziefer gehört. Man setzt damit wohl zu einfach voraus, dass alle Völker die Eidechslein genauso herzig finden, wie wir Mitteleuropäer. Ich verweise für diese letztere Haltung auf den heute kaum mehr gelesenen Gedichtzyklus Von Lazerten von Paul Heyse, auch wegen der darin (III und IV) gegebenen so gelehrten wie freien Deutung der Gestalt des Sauroktonos mitsamt neu erfundenem Mythos. Zu den Eidechsen im Altertum RE 11 (1922) s.v. Krokodile und Eidechsen 1959 [H. Gossen/ A. Steier] und NP 3 (1997) s.v. Eidechse [C. Hünemörder]. Von heutigen Griechen habe ich mir sagen lassen, dass auch sie noch die Eidechsen unangenehm und etwas unheimlich finden. Zur Notwendigkeit, die Bienen vor ihnen zu schützen, Verg. Georg. 4.13–17, Colum. 9.7.1, Ael. Nat. Anim. 1.58, Gp. 15.2.18, zu den Tauben Varro Rust. 3.7.3; für die Nützlichkeit der Vertilgung von Eidechsen allgemein Aesop. 293 Perry (= Babr. 27). 200 Vgl. etwa Strab. 3.4.18. 201 Später kann Apollon ohne den Beinamen Smintheus als Pestgott erscheinen (z.B. Amm. 23.6.24 [Apollon Komaios]), vgl. Faraone, Talismans, 61–66. Gegen dessen religionsgeschichtliche Ableitungen (vgl. zur angeblichen orientalischen Herkunft 125–127) ist dies doch schwer unabhängig davon zu denken, dass das Profil des Gottes von der Ilias geprägt wurde, also durch das Bild des Apollon Smintheus.
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Es gibt vor allem zwei Geschichten, in denen die Mäuseplage als Bild für die Pest erscheint. Sie führen allerdings über den östlichen Rand der griechischen Welt hinaus, doch weiss man heute ja, wie durchlässig die kulturellen Grenzen in diesem Bereich vor dem 5. Jh. waren. Der erste Bericht steht bei Herodot202: Als der Assyrerkönig Sennacherib gegen Ägypten zog, war der Pharao Sethon gerade mit dem Kriegeradel zerstritten und das Land deshalb schutzlos. Aber Sethon betete zu Hephaistos203, und der Gott schickte in der Nacht Feldmäuse gegen das Heerlager der Assyrer bei Pelusion, welche diesen die Bogen und die Träger der Köcher und der Schilde zerfrassen, so dass Sethon die Wehrlosen am folgenden Tag mit wenigen Leuten in die Flucht schlagen konnte. Daran erinnert im Hephaistostempel eine Statue des Pharao, der eine Maus in der Hand hält. Wesentliche Motive dieser Erzählung werden uns in der Sage von der Wanderung der Teukrer wiederbegegnen, doch fragt man nach dem historischen Hintergrund der Sache, so machen nichtgriechische Quellen – bei allen Schwierigkeiten, das historische Ereignis im einzelnen zu fassen204 – es wahrscheinlich, dass die putzige Geschichte von den Mäusen als Deckerinnerung über einer weit schrecklicheren Wahrheit liegt: Ein assyrischer Bericht scheint anzudeuten, dass der Feldzug Sennacheribs nach Westen kein voller Erfolg war: Zwar wurden die Ägypter und Äthiopier vernichtend geschlagen, doch gelang die angestrebte Eroberung von Jerusalem anscheinend nicht205. In der israelitischen Überlieferung schlägt ein Würgengel des Herrn das Heer, als es vor Jerusalem liegt206. Ob dieser missglückte Feldzug gegen Jerusalem wirklich derselbe war wie jener gegen Ägypten, von dem Herodot spricht, ist für unseren Zusammenhang weniger wichtig, als was hellenistische Historiker aus diesen Berichten gemacht haben207: Hier erscheint der Bericht des Herodot unmittelbar zusammengerückt mit einer Deutung der Ereignisse vor Jerusalem, dass in dem Heer des Sennacherib eine Seuche ausbrach, wirken also Mäuse und Pest als unmittelbar zusammengehörige, einander erhellende Vorstellungen. Noch deutlicher wird dies in der zweiten Geschichte, wonach die Philister, als sie einmal von einer Pest befreit wurden, goldene Mäuse als Weihegaben stifteten208. In diesen Rahmen von Vorstellungen fügt es sich also ein, wenn Apollon in der Ilias, als er die Pest schickt, den Beinamen des Herrn der Mäuse trägt. Allerdings stösst Philoktet am Altar des Smintheus nicht auf eine Maus, sondern auf eine Schlange, und so müssen wir zum Schluss nach der Verknüpfung 202 Hdt. 2.141; vgl. West 1987; Faraone, Talismans, 65f, 129. Der Zusammenhang von Mäusen und Pest an dieser Stelle wird zu Unrecht bestritten etwa von Lloyd, Herodotus (Commentary 99–182), 102–105, mit der Begründung in Ägypten lasse sich die Verbindung nicht nachweisen; aber natürlich erzählt Hdt. seine Geschichte für Griechen. 203 Gemeint ist ein ägyptischer Gott, wohl Ptah. 204 Dazu ausführlich West 1987, 267f. 205 Vgl. ANET2 287f. 206 Jes. 37.36f und dazu 2. Kön. 19.35f, 2. Chron. 32.20f. 207 Ios. Ant. Iud. 10.1.4f, wohl nach Berossos FGrHist 680 F 7a. 208 1. Sam. 5.6–6.5, vgl. Faraone, Talismans, 41, Huber, Rituale, 73–81, bes. 77 n. 362 die wichtigen Hinweise auf archäologische Belege zu solchen Weihegaben.
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2. Der verwundete Philoktet
zwischen diesen beiden Tieren fragen. Eine naheliegende Verbindung ist gewiss, dass Schlangen gern Mäuse fressen209, doch versucht man, Philoktet und Apollon Smintheus auf die Weise unmittelbar zusammenzudenken, so wird Philoktet in die Rolle der Maus gedrängt, und soweit ich sehe, ergeben sich kaum weitere Bezüge zwischen diesem Helden und Vorstellungen, die man sich im Altertum von der Maus machte. Weiter kommt man, wenn man davon ausgeht, wie in den ersten zitierten Pestgeschichten die Mäuse eine ganze Armee am Weiterziehen hindern. Dasselbe geschieht auch in jener vielleicht schon seit der Mitte des 7. Jh.s umlaufenden Sage von den Teukrern, die aus Kreta auswanderten und denen ein Orakel gegeben wurde, sie sollten sich dort niederlassen, wo ihnen die Erdgeborenen entgegenträten: Sie gründeten dann an jener Stelle eine Stadt, wo ihnen aus dem Boden auftauchende Mäuse über Nacht alle aus Tierhaut gefertigten Bestandteile der Waffen zernagten, allen voran die Tragriemen der Schilde und die Sehnen der Bogen210. Anders als in der Geschichte von Sennacherib trägt hier das Eingreifen der Mäuse keinen verhängnisvollen, vernichtenden Zug: Es beschränkt sich darauf, die wandernden Krieger zum Einhalten zu bringen. Ähnlich wird auch Philoktet von der Schlange auf dem Zug nach Troia zurückgehalten, denn ein Biss in den Fuss macht einen Krieger ebenso kampfunfähig, wie wenn man seine Waffen unbrauchbar macht – zumal es ja auch bei den Teukrern eine Gruppe von Bogenschützen zu treffen scheint. Wenn die aus dem Bodenloch hervorkriechende Maus als erdgeboren bezeichnet wird211, erinnert das ausserdem daran, dass auch die Schlange so genannt oder als Kind der Erde umschrieben werden kann212. Endgültig zusammen fallen die Herkunft der Schlange des Philoktet und der Aufenthalt der Mäuse bei der Nachricht, dass man unter dem Altar des Apollon Smintheus in Hamaxitos weisse Mäuse gehalten habe213. Dazu tritt die besondere Nähe der Maus zu den Füssen, etwa wenn das Kultbild des Apollon Smintheus in Chryse, wie schon geschildert, den Fuss auf eine Maus setzte; und wenn es in Rom zu den übelsten Vorzeichen gehörte, die einem Feldherrn begegnen konnten, wenn eine Maus seine Schuhriemen zerfrass214, so scheinen sogar einzelne Züge der Geschichten von Philoktet und von den Teukrern unmittelbar 209 Vgl. Aesop. 197 Perry. 210 Strab. 13.1.48 (= Herakleid. Pont. Frg. 154 Wehrli; letztlich nach Callin. Frg. 7 West?) spricht sogar von allen Lederbestandteilen von Waffen und Gebrauchsgegenständen; Schilde und Bogen bei Ael. Nat. Anim. 12.5, Serv. Aen. 3.108, Tzetz. Lyk. Alex. 1302f; nur die Schilde bei Schol. Hom. Il. 1.39, Eusth. Hom. Il. 1.39 [34.33–45]. Eine Überlagerung dieser Geschichte mit der an den Zug des Sennacherib geknüpften Tradition liegt wohl vor, wenn es Clem. Alex. Protr. 2.39.7 heisst, die Verehrung des Apollon Smintheus bei den Leuten in der Troas gehe darauf zurück, dass die Mäuse den Feinden die Bogensehnen zerfressen hätten; das Motiv auch bei Aristot. Rhet. 2.24 [1401b15f]. 211 Vgl. auch Dion. Thr. 12.6, Hdt. 4.132.1. 212 Die Schlange als γηγενής bei Ar. Byz. Epit. 2.273, Philo Opif. 156, Schol. Pind. Pyth. 8.66b u.a., als γῆς παῖς bei Hdt. 1.78.3, Artem. 2.13, vgl. Ael. Nat. An. 2.21 und schon den Mythos von Erechtheus/Erichthonios (vgl. LIMC 4 (1988) 923–995 [U. Kron]); weiteres bei Küster, Schlange, 86f. 213 Ael. Nat. An. 12.5. 214 Plin. Nat. 8.(82).221.
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übereinander geblendet. Hier kommt ausserdem die Maus als Wahrsage- und Vorzeichentier ins Spiel, eine Eigenschaft, auf die man grosse Stücke gehalten zu haben scheint215 – auch dies ein Zug, der sie mit den Schlangen verbindet, die ja, wie schon die Geschichten in der Einleitung gezeigt haben, das Tier der Seher schlechthin sind216. 2.3.2. c) Dareios und die Skythen Das System, in das Schlange und Maus gehören, lässt sich vervollständigen, indem man eine Stelle bei Herodot beizieht, welche die seltene Gelegenheit bietet, dass wir einen griechischen Autor selber über mögliche symbolische Bedeutungen der Maus nachdenken hören217: Als Dareios vor seinem Angriff auf die Skythen von diesen ein Zeichen der freiwilligen Unterwerfung forderte, schoben sie die Antwort zuerst hinaus und schickten ihm schliesslich statt dessen einen Boten218, der ihm ohne Erklärung einen Vogel, eine Maus, einen Frosch und fünf Pfeile übergab. Dareios verstand dies dahingehend, dass die Skythen sich selber und Land und Wasser ihm unterwarfen, indem er dies davon ableitete, dass die Maus in der Erde entsteht und sich von derselben Speise nährt wie der Mensch, der Frosch aber im Wasser, der Vogel einem Pferd sehr ähnlich sei, und dass sie die 219 Pfeile als Zeichen ihrer Wehrkraft übergäben .
Aber einer der Ratgeber des Königs fand die wirkliche Mitteilung, welche die Skythen machen wollten: Wenn ihr nicht zu Vögeln werdet und in den Himmel emporfliegt, ihr Perser, oder euch als Mäuse in die Erde verkriecht oder als Frösche in die Sümpfe springt, so werdet ihr nicht heimkehren, denn wir werden euch mit unseren Pfeilen treffen220. 215 Theophr. Char. 16.6, Cic. Div. 1.(44).99, 2.(27).59, Plin. Nat. 8.(82).221–224 u.a. 216 Vgl. 1.1.3; zur Maus als Wahrsagetier RE 14 (1930) s.v. Maus 2406 [A. Steier]; Pease, De divinatione, 1.276 (zu Cic. Div. 1.(44).99). 217 Hdt. 4.131f, vgl. Ath. 8.9 [334ab]; zum gedanklichen Umkreis ähnlicher Geschichten Lateiner 1987, 95–100 und West 1988, die den Blick über den griechischen Bereich hinaus weitet. Parallelstellen und Literatur bei Corcella, Erodoto IV, 326f, der leider dazu neigt, die Geschichte (unter Verweis auf russische Volksmärchen und auf den im Kunsthandwerk sichtbaren sogenannten skythischen Tierstil) für eine brauchbare ethnographische Nachricht über die Skythen zu halten. 218 Dazu auch Hdt. 4.127.4. 219 Hdt. 4.132.1. 220 Hdt. 4.132.3. Eine Variante zu diesem Bericht bietet Clem. Alex. Strom. 5.8.44.2–4 = [Pherekyd.] FGrHist 3 F 174; die bei West 1988, 210f ausführlich diskutierte Frage, ob Hdt. oder [Pherekyd.] die ‚ursprünglichere’ Fassung biete, ist unentscheidbar und für unseren Zusammenhang ohne Interesse. Bei [Pherekyd.] schicken die Skythen eine Maus, einen Frosch, einen Vogel, einen Pfeil und einen Pflug und die Deutung ist auf zwei Berater des Königs verteilt. Der erste versteht wieder die Übergabe von Behausungen (= Maus), Wasser (= Frosch), Luft (= Vogel), Wehrkraft (= Pfeile) und Boden (= Pflug), der zweite hingegen richtig wie bei Herodot, mit dem Zusatz für den Pflug, denn wir sind nicht Herren ihres Landes. Die Zeichenreihe erscheint damit linearer als bei Hdt., der in gewissem Sinn die Bedeutungen von
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2. Der verwundete Philoktet
Der Gegensatz zwischen den beiden Deutungen ist auf verschiedene Weise lehrreich: Der König nämlich sucht in seiner falschen Deutung, den Vergleichspunkt gewissermassen im Wesen der Gegenstände selbst: Die Bilder bezieht er ganz allgemein auf das Leben der Skythen, im Krieg (wo Pferd und Bogen die kennzeichnende Ausrüstung des Skythen sind) wie im Frieden, wobei er ein ihm ohnehin vertrautes Deutungsmuster anwendet, hatte er selber doch von den Skythen genauso wie später von den Griechen als Zeichen der Unterwerfung die Übergabe von Wasser und Erde gefordert221. Der Ratgeber hingegen deutet die Zeichen nicht auf Gegenstände, sondern löst sie in Bewegung, in Handlung auf. So vermutet der König das Prädikat der Botschaft der Skythen noch ausserhalb dieser selbst, in der Übergabe der Zeichen, die er als Übergabe der bezeichneten Dinge versteht. Umgekehrt verlagert der Ratgeber es ins Innere des symbolischen Gefüges. Nicht die Umstände der Mitteilung sind es, welche ihre Bedeutung bestimmen, sondern ihr innerer Zusammenhang, das heisst: Vor die Wahl zwischen pragmatischer und textimmanenter Interpretation gestellt, entscheidet sich Herodot für die letztere. Freilich scheint auch die Deutung des Ratgebers nur dadurch kohärent zu werden, dass sie an einer Stelle einen Bruch einführt, der die gleichförmige Umwandlung der Zeichen in Bedeutungen stört: während Vogel, Maus und Frosch als Metaphern gedeutet werden, versteht er die Pfeile als Synekdochen222. Der Wechsel von Zeichenbezug oder rhetorischer Figur ist freilich nur scheinbar willkürlich, denn er geschieht am Übergang von Tierzeichen zu Sachzeichen und entspricht nicht nur dem Subjektwechsel von den fliehenden Persern zu den tötenden Skythen, sondern auch dem Wechsel vom Nebensatz zum Hauptsatz der Mitteilung. Dass die Rede in erzählenden Bildern einer Syntax gehorcht, welche jener der Sprache an Genauigkeit nicht nachsteht, werden wir noch öfter beobachten – Maus und Pflug zusammenlegt, indem die Nähe der Maus zum Menschen (d.h. die Bedeutung Behausungen) in den alimentären Code übergeführt und mit dem Bezug des Pflugs zur Erde gekoppelt wird. Dass neben mehreren Tieren auch mehrere unbelebte Gegenstände stehen müssen, scheint ebenfalls zur Logik der Geschichte zu gehören: ein Pfeil und ein Pflug stehen so neben fünf Pfeilen. Eine nicht unähnliche Geschichte über die Umdeutung diplomatischer Geschenke ist jene von den Gaben des Kambyses für den König der Aithiopen, Hdt. 3.20–22. Weil Missionare und Reisende bis ins 19. Jh. ähnliche Erlebnisse aus der Mongolei und Schwarzafrika berichten, hat West 1988, 208f geschlossen, dass es sich hierbei um eine unter schriftlosen Völkern verbreitete Art handle, Mitteilungen zu machen. Eine solche Deutung übersieht zum einen, dass in all diesen Geschichten Missverständnis und Umdeutung im Mittelpunkt des Interesses stehen, zum andern dass es dafür schöne Beispiele gerade auch unter durchaus schriftkundigen hellenistischen Griechen gibt (Phylarch. FGrHist 81 F 1 = Ath. 8.9 [334ab]). Und ehe man mit solchen Interpretationen unkritisch in althergebrachten Eurozentrismus zurückfällt und den Grand Partage zwischen Zivilisierten und Barbaren zementiert, sollte man jedenfalls auch die in Europa seit der Renaissance mit einem gelehrten Mantel umhüllte Kunst der Emblematik in die Betrachtung mit einbeziehen. Zur Deutung der Passage auch Vignolo Munson, Wonders, 115f. 221 Hdt. 4.126, 6.48.2, 7.32 u.a.; Lateiner 1987, 99 spricht treffend von the ethnocentric fallacy. 222 In den semiotischen Begriffen von Peirce könnte man Maus und Frosch als Symbole, die Pfeile als Indizes betrachten, vgl. Peirce, Phänomen, 64–67.
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seltener geschieht es, dass uns ein antiker Schriftsteller in der Weise zeigt, wie sehr ihm dies bewusst ist. Nun gibt es auch Dinge, welche die beiden Deutungen der Nachricht des Skythen verbinden, allen voran, dass die Maus mit der Erde, der Frosch mit dem Wasser verknüpft wird223. Der Gegensatz der beiden Tiere ist natürlich aus der Fabel über den Froschmäusekrieg bekannt; indessen haben sie auch bemerkenswerte Gemeinsamkeiten: So sagen auch Frösche die Zukunft voraus, wenn sie mit ihrem Gequake Regen und Sturm ankündigen, und vielleicht hängt es sogar damit zusammen, wenn sie gelegentlich mit Apollon in Verbindung gebracht werden224. Ebenso konnten Frösche als Landplage, die ganze Gemeinden entvölkerte, in einem Atemzug mit Mäusen und Schlangen genannt werden225. Wenn sie sich auf Land und Wasser verteilen, organisieren sich Frösche und Mäuse also nicht anders als die Schlangen, die in den Philoktet-Geschichten auftauchen, ja genau genommen erscheint vor allem der Frosch als Umkehrung des hydros, der Natter, welche Philoktet gebissen hat226: ist jene die Schlange, die aus dem Feuchten ins Trockene kommt, so erscheint der Frosch hier als Tier auf der Flucht vom festen Land ins Wasser, wo er sich sprichwörtlich am wohlsten fühlt227. Die Maus aber erscheint in diesem Zusammenhang als das Tier, das ins Trockene flüchtet oder dort geboren wird, also ihrerseits als eine Art Umkehrung des Frosches, und steht, jenseits eines doppelten Spiegels, indirekt parallel zum hydros. Dieser freilich ist noch auf andere Weise in dem Zeichengefüge der herodoteischen Anekdote verborgen: Es fällt einem auf, sobald man einen Bruch, eine irritierende Seltsamkeit in den Bildern der Geschichte beachtet. Ist es nicht eine ausgesprochen unpraktische Idee, Mäuse oder Frösche mit einem Pfeilbogen zu jagen? Allerdings ist es schon das zweite Mal, dass wir dieser Vorstellung begegnen: Nicht anders hat Apollon die Mäuse des Krinis mit seinem Bogen erschossen228 – anderseits haben wir schon Belege dafür gefunden, dass alle drei Tiere, 223 Über die griechischen Vorstellungen von Fröschen RE 7 (1910) 113–119 s.v. Frosch [M. Wellmann], ein Artikel, der sich vorteilhaft von manch anderem abhebt, was in der RE über Tiere zu lesen steht; ausserdem Hirschberg, Frosch, 57–74 relativ knapp über die klassische Antike, und jetzt ausführlich Lévêque, Grenouilles. 224 Zu Fröschen als Wetterboten Arat. 946, Cic. Att. 15.16a, Verg. Georg. 1.378, Plin. Nat. 18.361, Ael. Nat. An. 9.13 u.a.; zum Bezug zu Apollon Aristoph. Ran. 231, Plut. Mor. 164a, 399ef, ausserdem Bodson, Zoia, 59–61. 225 Diod. 3.30.3, Plin. Nat. 8.(43).104, Ael. Nat. An. 17.41, Iust. 15.2.1. 226 Vgl. 2.3.1. 227 Vgl. Suid. s.v. βατράχωι ὕδωρ. Mitschwingen mag dabei auch die aus der Fabelliteratur bestens bekannte Vorstellung von der besonderen Feigheit der Frösche, vgl. Lévêque, Grenouilles, 23f. 228 Ein Parallelfall für diese umständliche Art des Tötens von Ungeziefer ist vielleicht das Schicksal des Periklymenos, der versuchte, Herakles zu entkommen, indem er sich in verschiedene Gestalten verwandelte. Darunter sind neben Vögeln und Schlangen auch Ameise und Biene. Als er sich aber auf die Wagennabe des Herakles setzte, erschoss ihn dieser mit dem Bogen, den Phoibos Apollon (!) ihm gegeben hatte (Hes. Frg. 33.29). Mindestens Schol. Hom. Il. 2.336 wird das so verstanden, dass er ihn als Biene getötet hatte. An anderen Stellen wird hingegen umgedeutet, dass Herakles die Biene mit seiner Keule erschlägt (Schol. Apoll.
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Maus, Frosch und Vogel, gelegentlich Beute eines und desselben Jägers werden, der selbst unter das Register der Tiere fällt: Es ist die Schlange, und darauf, dass gerade sie Mäuse frisst, habe ich eben hingewiesen, während mindestens der hydros für Frösche sogar eine ausgesprochene Vorliebe hat und uns die vogelfressende Schlange seit dem Sperlingswunder der Ilias wohl vertraut ist229. Damit haben wir schon den zweiten Hinweis auf die Gleichung von Schlange und Pfeil. Weil schliesslich auch zwischen Schlangen und Vögeln, wie angedeutet, eine besondere Beziehung besteht, ergibt sich aus unserer Stelle ein Gefüge von Bezügen, in dem sich Maus und Schlange nahe genug stehen, um verständlich zu machen, dass im Reich des Apollon der Mäuse auch die Natter ihren Platz hat: trocken/nass +/– Jäger/Gejagter +/–
Natter
Maus
Frosch
Vogel
– +
+ –
– –
+ –
2.3.3. Ein Literat Es wird nach dieser Vorbereitung leicht, den Zusammenhang von Ph5 mit der Erzählung der Kyprien zu verstehen. Allerdings verflechten sich allerdings in diesem Text des sogenannten Diktys von Kreta nicht weniger als drei Handlungsstränge, die es zunächst auseinanderzutrennen gilt. Für uns am wichtigsten ist die eigentliche Geschichte von Philoktet: [Als die Griechen schon in der Troas gelandet waren, erhielten sie] ein Orakel des Pythischen [Apollo], dass dem Apollo Zminthius ein Opfer dargebracht [werden müsse]. Also wurden hundert Tiere für das ganze Heer geopfert unter der Leitung des Chryses, des Priesters an jenem Ort. Nun stand Philoktet bei dem Opfer nicht weit vom Altar jenes Tempels und wurde zufällig vom Biss der Schlange getroffen. Darauf erhob sich bei allen, die es bemerkt hatten, ein Geschrei, und Ulixes eilte herbei und tötete die Schlange; und nicht viel später wurde Philoktet mit wenigen Gefährten zur Heilung nach der Insel Lemnos geschickt.
Im Mittelpunkt der ersten Nebenhandlung steht die Gestalt des Palamedes: [Als die Griechen in der Troas gelandet waren, erhielten sie] ein Orakel des Pythischen [Apollo]: alle müssten zugestehen, dass durch Palamedes dem Apollo Zminthius ein Opfer dargebracht würde. Darüber freuten sich viele wegen der Tüchtigkeit und Fürsorglichkeit, mit denen sich der Mann um das ganze Heer kümmerte, aber einige von den Führern schmerzte dies.
Diese Geschichte wird in der Episode mit dem Opfer nicht fortgeführt, denn dort spielt Palamedes keine Rolle, sondern übernimmt Chryses die Führung. So dient dieser Faden mehr dazu, das Opfer in eine übergeordnete Linie einzuweisen: der Rhod. 1.156–60a), mit den Fingern zerquetscht (Nonn. Dion. 43.247–249), oder die Angaben bleiben unpräzise (Apollod. 1.9.9, Eusth. Hom. Od. 11.285 [1686.1–3]). Bei Ov. Met. 12. 556–572 erschiesst Herakles ihn dann in Gestalt eines Adlers (in der er sich nach Hyg. Fab. 10.3 aber retten kann). 229 Vgl. 1.2.1f.
2.3. Elfmal Philoktet
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Erzähler macht nämlich den Gegensatz zwischen Palamedes und Ulixes zum Angelpunkt seines ganzen Kriegsberichts230. Ausserdem sind wahrscheinlich, wie schon bemerkt231, Philoktet und Palamedes in gewissen Fassungen der Troiasage durch besondere Freundschaft verknüpft gewesen. Dass sie beide auch als Opfer des Odysseus erscheinen, spielt freilich keine Rolle, da er das Verhältnis von Ulixes und Philoktet, wie wir gleich sehen werden, gänzlich umwertet. Ebenso verknüpft sich das dritte Element der Erzählung nicht unmittelbar mit der Geschichte unseres Helden, sondern dient mehr dazu, den Hintergrund von Krieg und Bedrohung zu malen, vor dem sie stattfindet: [Als die Griechen bei Troia gelandet waren, belagerten und unterwarfen sie zuerst ein paar kleinere Städte in der Umgebung, um sich freie Hand zu verschaffen. Während sie dann das von Apollon geforderte Opfer vorbereiteten] erfuhr Alexander [Paris] die Sache, versammelte eine Schar von Bewaffneten und kam, sie zu behindern. Ihn schlugen die beiden Ajaxe, ehe er sich noch dem Tempel nähern konnte, in die Flucht, wobei sie die meisten töteten. Aber Chryses – wir haben gesagt, dass er der Priester des Apollo Zminthius war – fürchtete, eines der beiden Heere zu beleidigen, und wer immer von den Parteien zu ihm kam, zu dem tat er, als ob er mit ihm verbündet sei.
Da die Zusammenhänge zwischen diesen drei Handlungssträngen so locker sind, möchte ich nur die Philoktetepisode im engeren Sinne noch etwas genauer betrachten; der Charakter dieses Textes wird auch so deutlich werden. Auf den ersten Blick sind die Ähnlichkeiten zwischen Ph5 und der Sagenfassung der Kyprien geringer als die Unterschiede. Genaue Entsprechungen bieten nur das Opfer an Apollon und der Schlangenbiss am Altar, während eine ganze Reihe von Motiven in eine andere Richtung weist: das Orakel, der Ort des Opfers, die Figur des Chryses, die Tötung der Schlange. Die Kombinationen, durch welche diese Besonderheiten zustande kommen, sind so durchsichtig, dass sich die dafür verwendeten Nebenquellen bestimmen lassen: Es sind die Ilias und der Philoktet des Euripides, also zwei durchaus geläufige Texte. Aus dem Euripides (vgl. Ph3) stammt sowohl die Idee, das Opfer durch einen Orakelspruch zu motivieren, als auch der Name Chryse. Allerdings wird dieser kühn umgedeutet: nicht mehr von der Nymphe Chryse und ihrer Insel ist die Rede, sondern von dem aus dem Anfang der Ilias bekannten Priester Chryses und der mit seinem Namen verbundenen Stadt in der Troas232. Schwierig ist im Grunde bloss das Motiv der getöteten Schlange: Keine andere literarische Quelle erwähnt etwas Vergleichbares, und auf Bildern, welche die Verwundung des Philoktet zeigen, sieht man sogar öfter, wie das Reptil unversehrt davonkriecht233. Zwei verschiedene Sinnrichtungen überkreuzen sich 230 Zur Hervorhebung der Rolle des Palamedes bei Dict. vgl. Merkle, Ephemeris, 166f. 231 Vgl. 2.2.5. 232 Spuren derselben Übertragung der Motive finden sich auch in Ph1d und bei Steph. Byz. s.v. Χρύση, vgl 3.1.2. 233 Vgl. 2.2.5; auch auf dem Vasenbild LIMC s.v. Philoktetes Nr. 13 stösst Agamemnon nicht – wie von den Neueren etwa noch Mandel, Philoctetes, 26 mit n.29 und Müller, Kommentar, 53 meinen – mit seinem Stock nach der Schlange, sondern stützt sich bloss damit etwas hinter
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wohl in diesem isolierten Element: Zum einen kommt damit Ulixes dem Philoktet zu Hilfe, wird der böse Widersacher aus den Tragödien von Euripides und Sophokles umgewertet zum hilfreichen Freund und eine gütliche Lösung der Verbannung des Helden schon hier vorbereitet234 In demselben Sinne wird Philoktet am Ende des Abschnitts nicht auf einer öden Insel ausgesetzt, sondern bei den Priestern des Vulcanus zur Pflege gelassen, erhält er während seines Aufenthalts auf der Insel seinen Anteil an der Kriegsbeute zugesandt235 und geschieht seine Rückkehr ins Lager der Griechen schliesslich ohne Spannungen und fast beiläufig236. Anderseits habe ich bereits ausführlich auf Entsprechungen zwischen der Geschichte von Philoktet und jener von Melampus hingewiesen237, in der das Töten der Schlange eine wichtige Rolle spielt. Es lässt sich deshalb nicht ausschliessen, dass Ph5 mit diesem Motiv doch ein Stücklein aus den Kyprien oder einem anderen alten Überlieferungszweig bewahrt, in dem die Beziehungen zwischen Philoktet und Geschichten wie jener von Melampus noch deutlicher hervortraten als in unseren sonstigen Berichten. Auch was Apollon Smintheus angeht, bietet Dictys ja das einzige Zeugnis, das den alten Beinamen im Zusammenhang der Geschichte bringt, weil sich damit zugleich der Bogen schlagen liess vom Gott von Tenedos in den Kyprien zu jenem des Chryses in der Ilias238. Diese verschiedenen Quellen entnommenen Elemente verbindet der Erzähler von Ph5 zu einem geschlossenen Ganzen und gibt der Sache eine eigenständige Wendung: Während das feindliche Umfeld in Ph11 durch die Geschichte von Tennes und seine Verwandtschaft mit Apollon eng mit dem Opfer verknüpft ist, übernimmt in Ph5 Alexander-Paris die Rolle des Gegners, der den Griechen entgegentritt. Er allerdings wird ohne Folgen vom Opfer ferngehalten und innerhalb der Opferszene selbst ist die Gegenseite nur in der schwankenden Unzuverlässigkeit des Priesters Chryses gegenwärtig, die für den Augenblick ebenso folgenlos bleibt. So wird hier, warum die Schlange ausgerechnet am Altar des Apollon auftaucht, zu einer Frage, die man gar nicht stellen soll, erscheint alles als blosses Missgeschick, dessen Zufälligkeit der Erzähler sogar noch besonders hervorhebt. Und während selbst in einer so ausgedörrten Erzählung wie Ph11 noch ausdrücklich gesagt wird, dass die Schlange aus dem Altar hervorkriecht, wodurch ihr Auftauchen eine gleichsam numinose Färbung erhält, ist hier das Tier völlig unbegründet plötzlich da. Aus einer Welt, in der alles durch von den Göttern be-
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und über ihr auf die Stufen des Altars, vgl. auch LIMC 1 (1981) s.v. Agamemnon Nr. 43 [O. Touchefeu]. Die meisten kaiserzeitlichen Fassungen der Philoktetsage scheinen, abweichend von den Tragödien des 5. Jh.s, zu einer konfliktfreien Darstellung seiner Rückkehr zu neigen, vgl. Müller, Beiträge, 307f mit n.233 und schon Mandel, Philoctetes, 25–32; spezieller zu Quint. Smyrn. vgl. Vian, Quintus II, 172–177. Dict. 2.33; zu Philoktet bei den Vulcanuspriestern unten 4.2.2. Dict. 2.47. Vgl. 2.1. Urteile wie jenes von Müller, Beiträge, 154 n.63, Dict. sei „als mythologisches Testimonium wertlos“, sind also vielleicht voreilig. Zu einem möglicherweise bei Ph5 allein bewahrten Motiv des Euripides unten 2.3.4.a.
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stimmte unsichtbare Zusammenhänge verbunden ist, geraten wir damit in eine, wo nur noch faktische Kausalität und Kontingenz herrschen. Die Sage hört auf, als sinnstiftende, ordnende Struktur zu wirken. Sie selber ist nun der unübersichtliche Gegenstand, der zu verstehen ist, und die Umdeutung der alten Geschichten spiegelt keine andere Erfahrung mehr als die Lektüre der klassischen Texte. So überrascht es auch nicht, dass in inhaltlicher Hinsicht, hat man sich einmal klargemacht, woher die einzelnen Elemente stammen, von der Erzählung nach Abzug ihrer Quellen gewissermassen nichts übrig bleibt: Keine Spur von jenen Verwandlungen und Umkehrungen, die allen anderen Geschichten, die ich bisher untersucht habe, ihr jeweils eigenständiges Gepräge geben. Von hier aus lässt sich der Ursprung dieser Fassung leicht bestimmen: Die unmittelbare Nachbarschaft von Ilias und Euripides unter den Quellen verweist darauf, dass der Autor bei seinen Lesern den Bildungshintergrund des nachklassischen Schulbetriebs voraussetzt, für den diese beiden die Grundlage bilden. Der weniger bekannte Hauptfaden der Geschichte, den der Autor – wenn auch vielleicht durch die Vermittlung eines mythologischen Handbuchs – letztlich aus den Kyprien bezieht, wird also mit den Bildungsvoraussetzungen des Lesers so verknüpft, dass dieser eine Fassung der Geschichte vor sich sieht, die ihm realistisch und wahrscheinlich vorkommen muss, weil alle Spuren des Wunderbaren daraus getilgt sind. Auch die antiken Geschichtsschreiber pflegen die alten Mythen auf diese Weise zu brauchbaren Quellen für die Kenntnis der Vorzeit umzudeuten239. Wir stossen hier also auf die Denkmuster einer Kultur, welche Ph5 einen Platz irgendwo zwischen Hellenismus und Kaiserzeit anweisen. Wir haben keinen Anlass, diese Variante der Sage für älter zu halten, als die Urfassung des sogenannten Diktys selbst. 2.3.4. Rückkehr der Tragiker Ich komme nun zur zweiten Familie von Berichten (Β) und beginne mit der Untergruppe, die ich mit der Sigle β1 bezeichnet habe. Bei diesen Varianten fällt zunächst auf, dass die meisten Texte, aus denen sie sich herleiten, derselben literarischen Gattung angehören: Es sind Tragödien. Nun haben zwar alle drei grossen Tragiker des 5. Jh.s die Geschichte von Philoktet bearbeitet, doch was das älteste Stück betrifft, jenes des Aischylos, lässt sich über den Schlangenbiss kaum mehr etwas Sicheres in Erfahrung bringen240 – auf mögliche Vermutungen werde ich zurückkommen.
239 Zu solchen sogenannt euhemeristischen Modellen etwa Graf, Mythologie, 171f. 240 Wir wissen zuverlässig bloss vom Schlangenbiss in den Fuss des Helden, vgl. Aischyl. Frgg. 252–254.
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2.3.4. a) Euripides Damit erhält die Fassung des Euripides (Ph3) im Zusammenhang dieser Gruppe nicht anders als im Verhältnis zu Ph5 eine Schlüsselrolle241. Das erste, was an dieser Geschichte auffällt, ist ihre Kompliziertheit: nicht weniger als drei Opfer sind nötig, um das Unglück herbeizuführen, das Philoktet am Ende trifft. Das geheime Wissen um einen verborgenen Altar wird so über drei Heroengenerationen weitergegeben, wobei Herakles die erste mit der zweiten verbindet, Philoktet die zweite mit der dritten. Wie er den Bogen des Herakles geerbt hat, erscheint Philoktet damit auch als Erbe eines geheimen Wissens, und wenn später seine Anwesenheit vor Troia unentbehrlich ist für die Eroberung der Stadt, so wird deutlich, dass er in der Erzählung in einzelnen Punkten die Rolle des Herakles übernimmt242. Ausserdem schlägt dieser Dreischritt den Bogen zwischen Argonautensage und troianischem Krieg, was vielleicht weniger neu und fremd wirkt, wenn man bedenkt, wie schon in der Ilias am Rande auch Euneos, der Sohn von Iason und Hypsipyle, eingeführt wird243. Allerdings habe ich schon darauf hingewiesen, dass dies ganz auffällig zu den Bedürfnissen des Euripides passt, der seinen Philoktetes als zweites Stück einer Trilogie auf die Bühne brachte, die mit der Medeia eröffnet wurde244, in deren ersten Versen die Amme gleichfalls an die Argonautenfahrt erinnert. Damit stellt der Dichter seine beiden ersten Stücke gewissermassen unter ein Motto: Medeas Morde und die Leiden des Philoktet gehören in jene Welt, die durch den Urfrevel der Argofahrt eröffnet wurde und von der uns die Amme der Medea schon in ihren ersten Worten sagt, dass sie niemals hätte sein dürfen245. Auf den ersten Blick ist Apollon hier völlig durch die Inselgöttin von Chryse aus der Geschichte verdrängt246. Als Anlass zu dem Opfer erscheint indessen eine 241 Grundlage des Folgenden ist die Rekonstruktion am Ende von 2.2.1. 242 Zu weiteren Analogien zwischen den beiden Gestalten vgl. unten pp. 97, 99ff; grundsätzlich zu dieser Nähe von Philoktet und Hephaistos auch Napolitano, Philoktetes, 157–195. 243 Vgl. 3.3.2.a. An einer anderen Stelle erwähnt die Ilias, wieder die Familiengeschichte des Iason mit dem troianischen Krieg verknüpfend, im Heer der Griechen den Eumelos, Sohn von Admetos und Alkestis, der Tochter des Pelias (Hom. Il. 2.711–715). 244 Vgl. Aristoph. Byz. Hypoth. E. Med. 245 Zu weiteren Bezügen zwischen den Stücken Müller, Beiträge, 33f; Kommentar, 71. Vom Schluss der Trilogie, dem Diktys, ist so gut wie nichts mehr erkennbar. Wahrscheinlich bildete mit Seriphos wie im Philoktetes eine Insel den Schauplatz. Unter den Fragmenten (Eur. Frgg. 331–348) sind ferner einige, welche die Schwierigkeiten einer Zweitheirat für eine Frau behandeln, also vielleicht ein Anklang an das Thema der Medeia. Das zugehörige Satyrspiel Theristai war schon für die alexandrinischen Philologen verloren (vgl. Aristoph. Byz. Hypoth. E. Med.). 246 Zu den Beziehungen zwischen Apollon Smintheus und Chryse in der Troas bei Hom. oben p. 74f. Die Göttin Chryse steht im Mittelpunkt eines grossen Teils der bisherigen Deutungen der Philoktetsage, vgl. Jebb, Philoctetes, xxxivf (für die Forschung des 19. Jh.s massgebend war Heinrich, Chryse, 14–26). Dabei wird meist auf die Vorstellung von einer „Grossen Muttergöttin“ zurückgegriffen, besonders deutlich bei Untersteiner, Filottete, 110–114 (dessen Ansatz noch Froning, Dithyrambos 58–64 fortspinnt), wo Philoktet als Verkörperung Apollons
2.3. Elfmal Philoktet
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Weissagung, welche es zur Vorbedingung für die Eroberung von Troia macht. Über die Herkunft dieses Spruchs schweigen sich die Quellen für Ph3 aus, selbst die verhältnismässig deutlichste (Ph3f) bleibt ganz unbestimmt. Bei solchen allgemeinen Ausdrücken liegt es freilich nahe an die üblichste Form zu denken, in der Orakel für grosse Staatsaktionen erteilt wurden, nämlich an einen delphischen Spruch. In Ph5 jedenfalls, wo das Motiv des Orakels aus Ph3 übernommen ist, wird eindeutig von einem Orakel des Pythischen Apollon gesprochen247. Der Gott, der in der ältesten Fassung der Geschichte im Mittelpunkt des Geschehens stand, ist damit möglicherweise auch aus Ph3 nicht einfach verschwunden, sondern bloss an den Rand getreten und hat der neuen, weiblichen Gestalt Platz gemacht. Vielleicht sind deshalb auch feinere, gewissermassen unterschwellige Entsprechungen nicht bedeutungslos: Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es zu den Besonderheiten gehört, welche die Mäuse des Apollon mit seiner Schlange verbinden, dass in beiden der mantische Aspekt des Apollon zum Ausdruck kommt – sie deuten also, wenn auch viel leiser, in dieselbe Sinnrichtung wie hier der Orakelspruch. Daneben könnte auch der Name der Göttin nicht ganz nebensächlich sein, die an seiner Stelle in den Mittelpunkt tritt: Chryse heisst einfach die Goldene, ein Ausdruck, der als Beiname von Göttinnen in dieser Form nicht sehr häufig ist, ausser bei Aphrodite, die ihn fast regelmässig trägt248. Von den Göttern hingegen wird kein anderer so oft mit der Vorstellung des Goldenen verbunden wie Apollon249, vor allem heisst er immer wieder der Gott mit den golzum Paredros der Chryse wird, die ihrerseits eine Spiegelung der Artemis als alte kretische Muttergöttin und Herrin der Tiere sein soll. Solche Deutungen beruhen u.a. auf viel zu optimistischen Annahmen über die Erschliessbarkeit von religiösen Entwicklungen in der Bronzezeit oder noch früheren Epochen; vgl. ausserdem unten 3.1.5.b zur grundsätzlichen Fragwürdigkeit des Konzepts der „Grossen Muttergöttin“. Über die Altertumswissenschaft hinaus gedrungen sind solche Deutungen bei Jung, Symbole, 378–380, wo der Schlangenbiss als Rache des vernachlässigten Unbewussten erscheint. In nicht ganz unähnlichen Bahnen bewegt sich die vom Autor als „Weiterdichtung“ vorgetragene Interpretation bei Müller, Kommentar, 35f; doch Müller, Beiträge, 21f mit n.39f spricht derselbe Autor von Chryse als von einer „Meeres- oder Inselgöttin der Nordägäis“, wie wenn sie kultgeschichtlich fassbar wäre. Im Folgenden beschränke ich mich darauf, die Rolle der Chryse anhand jener Angaben zu bestimmen, die wir in den Texten zur Philoktetsage erhalten, welche die einzige wirkliche Quelle über sie darstellen. Unklar bleiben muss mangels Belegen die oft vermutete Beziehung von Chryse zu anderen Nymphen auf Lemnos, vgl. unten 4.3.3 (bes. Kab2a, Kab2b), ferner auch Larson, Greek Nymphs, 177–179. 247 Müller, Kommentar, 374f übersieht dieses Zeugnis und vermutet ohne Beleg den Seher des Griechenheeres, Kalchas, als Urheber des Spruchs. 248 Zuerst Hes. Erg. 65, dann Hom. Il. 3.64, Od. 4.14, Mimn. Frg. 1.1, Theogn. 2.1293 u.a. Andere Göttinnen, die das Beiwort vereinzelt tragen, sind die Musen (Pind. Isthm. 8.61), Nike (Pind. Isthm. 2.26), Elpis (Soph. OT 157) oder Apollons Mutter Leto (Kallim. Del. 4.39). Diese und die folgenden Bestandesaufnahmen beruhen auf den (gewiss ergänzungsbedürftigen) Listen bei Bruchmann/Carter, Epith. Gegen die älteren Deutungen, welche auch Philoktet einen besonderen Bezug zum Gold unterstellen vgl. 2.1.1. 249 Apollon hat von allen Gottheiten überhaupt am meisten auf Gold bezogene Beiwörter, mehr noch als Aphrodite, die sich zusammen mit Artemis den zweiten Rang teilt. Goldene Haare
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denen Haaren (meist chrysokomas oder ähnlich250): So erscheint auch in dieser Hinsicht die Nymphe Chryse fast als weibliches Spiegelbild des Smintheus. Eine andere Besonderheit von Ph3, die im Verlauf dieser Untersuchung noch bedeutend werden wird251, ist das Motiv einer verborgenen Kultstätte, deren Lage als Geheimwissen gilt. In Griechenland ist dergleichen nichts Einmaliges. Neben dem Altar der Chryse steht vor allem eine Nachricht aus Theben. Dort lesen wir über das Grab der Dirke, ... dessen Ort allen Thebanern unbekannt ist, es sei denn, sie hätten das Amt des Hipparchen versehen 252. Denn wenn einer dieses Amt abgibt, nimmt er jenen, der es antritt, alleine mit und zeigt es ihm bei Nacht, und sie vollziehen darauf gewisse heilige Handlungen ohne Feuer, deren Spuren sie nachher verwischen und unsichtbar machen, und verlassen im Dunkeln auf getrennten Wegen den Ort253.
Dieser Bericht ist völlig isoliert, denn nach der gewöhnlichen Überlieferung kann es von Dirke eigentlich gar kein Grab geben254: Als böse Stiefmutter von Amphion und Zethos wird sie von den beiden Helden getötet, und ihre Gebeine nach der Leichenverbrennung von ihrem Gatten Lykos in die Quelle des Ares geworfen, die von daher den Namen Dirke erhält255. Dennoch ist die Parallele zur Philoktetsage deutlich: Auch Chryse ist eine weibliche Gestalt, der geopfert werden muss, auch das Opfer an ihrem Altar erscheint an eine Abfolge von Heerführern gebunden, von Iason über Herakles zu Philoktet, und immer steht es am Anfang eines militärischen Unternehmens, nicht sehr verschieden von der Übernahme des Hipparchenamtes256.
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haben auch andere Götter, so Zephyros (Alk. Frg. 327), Dionysos (Hes. Theog. 941) oder Eros (Anakr. Frg. 358 Page, Eur. Iph. Aul. 548). Die ältesten Belege sind leider im Text nicht gesichert (Tyrt. Frg. 4 West = °14.2 GentiliPrato), nur ergänzt (Sappho Frg. 44A) oder nicht zuverlässig zuzuschreiben (Lyr. adesp. 950 Page [Simonid.?]); eindeutig dann Pind. Ol. 6.41 u.a. Vgl. 2.4.6. Vgl. RE 8 (1913) 1683f s.v. Hipparchos 20) [E. Lammert]. Der hipparchos ist in Boiotien der Führer der gesamten Reiterei, ein jährlich neu besetztes Amt, vgl. Hdt. 9.69.2, Thuk. 4.72.4, Polyb. 20.5.8. In Athen trugen mehrere Führungsoffiziere diesen Titel; das ausführlichste Zeugnis, Xen. equ. mag., geht zwar auf athenische Verhältnisse, verweist jedoch gleich im ersten Satz auf nicht näher beschriebene kultische Verpflichtungen beim Amtsantritt – gab es in Athen einen dem thebanischen analogen Ritus? Nicht weniger merkwürdig ist für die Parallele zwischen Plutarch und Euripides, dass einer der athenischen hipparchoi ausgerechnet der Befehlshaber der auf Lemnos stationierten Reiterei war, so [Aristot.] Ath. Pol. 61.6 (vgl. Rhodes, Commentary, 686f). Der Titel erscheint auch auf einer Reihe von Siegeln auf Tontafeln von der Athener Agora (vgl. Shear 1973 178f mit pl. 39), ausserdem Demosth. 4.27, Hyp. Lyc. 17 und inschriftlich (ergänzt) IG II/III.1.1 Nr. 672.14. Plut. Mor. 578 B. Zu dieser Überlieferung Vian, Origines 104–106; Burkert HN 210. Eur. Antiop. Frg. 223, 109–114, 141–144, vgl. Nikol. Damask. FGrHist 90 F 7, Paus. 9.25.3, Apollod. 3.5.5, Hyg. Fab. 7.5 u.a. Dirke hat wie Chryse nach gewissen Überlieferungen Züge einer Nymphe, vgl. Larson, Greek Nymphs, 6f. Eine andere Analogie zwischen lemnischer und thebanischer Mythologie zeigt sich im Kabirenkult, vgl. 4.3.3.
2.3. Elfmal Philoktet
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Andere geheime Gräber257 gab es von Sisyphos und Neleus auf dem Isthmus bei Korinth oder, schon wieder mit einem halb historischen Hintergrund, das Grab des Dichters Hesiod an einer unbekannten Stelle im heiligen Bezirk des Zeus Nemeios bei den Lokrern258. Besonders zu erwähnen sind schliesslich Anspielungen in Sophokles’ Oidipus auf Kolonos, welche auf ein verborgenes Grab des Oidipus hinweisen, dessen Kenntnis als Geheimwissen im athenischen Königsgeschlecht weitergegeben wird259 – auffällig genug, dass wir damit wie bei Dirke in die Nähe thebanischer Sagen geraten. Man wird so jedenfalls die Vermutung nicht einfach abweisen können, die lange Vorgeschichte des Altars der Chryse sei erst von Euripides selbst gerade unter Verwendung von solchen Traditionen entwickelt oder doch zurechtgebogen und seinen dramaturgischen Bedürfnissen angepasst worden260. Merkwürdig ist ja, dass solche geheimen Stätten sonst in den meisten Geschichten Gräber sind und nur hier ein Altar261. Vielleicht ist auch eine Spur davon, dass das Opfer an Chryse als solches schon in der älteren Tradition vorgebildet war und allein die komplizierte Rückbindung an die Argonautensage Werk des Euripides ist. Dass die aischyleische Philoktet-Tragödie zu diesen älteren Traditionen gehörte, lässt sich mindestens vermuten, und das ist wohl bereits ein erstes Indiz, dass eine der anderen Sagenfassungen, in denen Chryse vorkommt (Ph6 oder Ph10), aus dessen Drama stammen könnte. Mit dem Auftreten der Chryse anstelle des Apollon in der Variante Ph3 wechselt zugleich der Schauplatz der Handlung: wir kommen vom Apollon von Tenedos zu Chryse und ihrer kleinen Insel unweit Lemnos. Versucht man diese Veränderung auf einfache Gegensatzpaare zurückzuführen, so überlagern sich mehrere Ebenen: Was die Insel angeht, so ist es nicht nur ein Sprung zum Gegenüber, von Tenedos nach Lemnos, sondern zugleich jener von der Hauptinsel zum kleinen Eiland nebenan. Dazu sind die Nachrichten über dieses Inselchen spärlich und verwirrend, und man erhält insgesamt den Eindruck, dass es sich um einen reinen Märchenort handelt262. So ist man versucht hinzuzufügen, dass der Sprung auch von einer wirklichen Insel zu einer fiktiven führt. So oder so erscheint damit der Schauplatz aus der ersten Fassung im Spiegel der zweiten herabgestuft. Eine ähnliche schiefe Spiegelung wiederholt sich seitens der Gottheiten: Hier kommen wir nicht nur von der männlichen zur weiblichen Figur, sondern zugleich 257 Unauffindbar waren zur Zeit des Paus. auch die Gräber von Krokon (Paus. 1.38.2), Lepreos (Paus. 5.5.4) und Linos (Paus. 9.29.9); aus der Formulierung ist schwer zu erschliessen, ob es sich um verborgene Gräber handelt oder nur um den enttäuschten Eifer des suchenden Antiquars; vgl. Pfister, Reliquienkult, 461–463, Burkert, HN 225f. 258 Korinth: Eumel. FGrHist 451 F 4 = Paus. 2.2.2; bei den Lokrern: Plut. Mor. 162e/f. 259 Soph. OK 1518–1555, 1760–1765. 260 Dies gegen Müller, Kommentar, 40f, 54f der diese Vorgeschichte schon auf Aischyl. zurückführt, ohne zu beachten, dass die Darstellungen mit dem Opfer des Herakles auf Vasen erst nach Eur. einsetzen; vgl. Froning, Dithyrambos, 52–58. 261 Die beiden Dinge stehen sich freilich nahe, sobald es um Heroenkult geht, vgl. Simonid. im Grabepigramm für die Gefallenen der Thermopylen Frg. 531.3 Page: und ihr Grab ist ein Altar. 262 Zu diesem Problem unten 3.1.2.a.
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2. Der verwundete Philoktet
wird diese in der Hierarchie tiefer gesetzt, und wir gelangen von einem der grossen Hauptgötter, Apollon, zu einer Nymphe, zu einer Gottheit also, die eher niedriger steht und in der Regel an die unbewirtschaftete Natur und an einen einzelnen, eng umschriebenen Ort geknüpft scheint263. Gerade dass eine Nymphe auch als Herrin einer Insel erscheint, die denselben Namen trägt, ist nichts Seltenes. Bekannt sind etwa die drei Töchter des Flussgottes Asopos mit Namen Korkyra, Salamis und Aigina264. Diese Asymmetrie auf der Ebene der Götter wird offensichtlich ausgeglichen in jenen Berichten, wo Chryse, parallel zum Apollon Smintheus von Tenedos, zu einer Verkörperung der Athene aufgewertet wird. Weniger klar ist, ob sich analoge Variationen auch bei den Kultstätten der Gottheiten zeigen: Zum Apollon von Tenedos dürften sich unsere Texte jedenfalls, auch wenn sie darüber nichts Genaueres mitteilen265, ein einigermassen ausgebautes Heiligtum gedacht haben (wie es die meisten anderen bekannten Kultstätten des Apollon Smintheus auch waren). Im Fall des Opfers an Chryse hingegen haben wir Zeugnisse für einen aus rohen Feldsteinen behelfsmässig aufgeführten Altar266. Nimmt man alles zusammen, erscheint diese Fassung der Geschichte von der Verwundung des Philoktet also gegenüber der ersten nicht nur unter dem Zeichen einer gewissen Diminution, sondern mit dem Übergang von Gott und gebautem Tempel zu Nymphe und Steinhaufenaltar als einer vom Zustand höherer Zivilisation in die Nähe der wilden Natur. Ein letzter Punkt verdient noch Beachtung: in den Varianten vom Typ Α erfahren wir nichts darüber, was Philoktet selber tut, als er von der Schlange gebissen wird. Unsere Quellen enthalten keinen Hinweis, dass er an diesem Opferfest eine besondere Funktion hätte, als die Schlange auftaucht. Natürlich darf man dieses Schweigen bei dem kläglichen Zustand unserer Überlieferung nicht überbewerten267. Wenn etwa Ph5 sogar ausdrücklich darauf hinweist, dass Philoktet bloss zufällig von der Schlange gebissen wurde, so sagt das ja in erster Linie etwas über die Art, wie dieser Erzähler die Geschichte auffasst268. Dennoch ist es bemerkenswert, wie nun Ph3 dem Helden bei der Vorbereitung des Opfers eine besondere Rolle zuweist, das Zeigen der geheimen Stelle, während dessen die Schlange zubeisst. Die Verwundung des Philoktet verbindet sich so mit einer Fähigkeit, mit der er dem Heer der Achaier zum ersten Mal einen Dienst erweist, 263 Über Nymphen allgemein LIMC 8 (Suppl. 1997) 891–902 s.v. Nymphai [M. Halm-Tisserant] und die schon mehrfach zitierte umfassende Darstellung bei Larson, Greek Nymphs. 264 Diod. 4.72.1, Paus. 2.5.2 u.a. 265 Ph5 spricht ausdrücklich vom Altar jenes Tempels ist aber ein zweifelhafter Zeuge, da sich die Bemerkung nicht auf den Tempel von Tenedos, sondern auf jenen in Chryse in der Troas bezieht. 266 Ph3f, vgl. auch Ph10a; Bildzeugnisse: LIMC s.v. Chryse I, Nrr. 1–5; dazu Froning, Dithyrambos, 59. 267 Vereinzelt gibt es im alten Epos allerdings Opferschilderungen, welche den beteiligten Personen bestimmte Rollen im Ritual zuweisen und damit geradezu die Praxis späterer Kultinschriften vorwegnehmen, vgl. Hom. Od. 3.439–445, auch 24.625f, und nachgebildet bei Apoll. Rhod. 1.406–410, 425–438. 268 Vgl. 2.3.3.
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und das überlegene Wissen, das ihn für dieses bedeutsam macht, wird zugleich Anlass für die Begegnung mit der ihn dauerhaft schlagenden Schlange. 2.3.4. b) Und Aischylos? Ich schliesse von den anderen der Gruppe β1 angehörenden Fassungen hier Ph10 an, der ich bis jetzt nur vage einen Platz in der Tradition der Homerkommentare anweisen konnte: Nach dieser wurde Philoktet, als er auf Lemnos den Altar der Chryse genannten Athene reinigte, von der Natter gebissen. Dieser Bericht ist also ganz ähnlich wie Ph3: Nicht nur Lemnos und der Name Chryse begegnen uns wieder, sondern auch die wichtige Rolle, welche dem Helden bei der Vorbereitung des Opfers zukommt. Nur der Name der Schlange, der als Natter (hydros) angegeben wird, stört das einheitliche Bild. Allerdings entstammt Ph10 ja einem Homerscholion269, und an der betreffenden Stelle der Ilias ist ebenfalls von der Natter die Rede. Wahrscheinlich spiegelt Ph10 damit in diesem Punkt vor allem die eigene Überlieferungsgeschichte. Hingegen fehlen alle Züge, welche den merkwürdig geschwächten Charakter von Ph3 ausmachen: Nicht die kleine Insel bei Lemnos ist der Schauplatz sondern die Hauptinsel selbst (insofern könnte man diesen Text auch schon der Gruppe β2 zuordnen, von der er sich sonst deutlich unterscheidet), und entsprechend ist Chryse hier von Anfang an eine Verkörperung der grossen Athene. Wenn diese Gleichsetzung nicht eine Interpretation der alexandrinischen Philologie ist, so könnte es sein, dass Athene hier in einer Variante eingesetzt ist, die dem Umfeld der attischen Tragödie entstammt, um die Geschichte vertrauter, athenischer aussehen zu lassen – jedenfalls wird uns Vergleichbares bei der nächsten Fassung begegnen270. Ein paralleles Verhältnis besteht vielleicht hinsichtlich der Tätigkeit des Philoktet: Das Reinigen des Altars bedeutet einerseits eine Berührung mit diesem, gehört anderseits auch zur unmittelbaren Vorbereitung des Opfers und trägt damit eine rituell-sakrale Färbung. Demgegenüber erscheint das blosse Zeigen als eine Handlung aus grösserem Abstand und geht selbst den vorbereitenden Riten noch eine Weile voraus – auch hier also vielleicht ein Zeichen von Herabstufung, wachsender Entfernung vom Mittelpunkt in Ph3 gegenüber Ph10. Es ist wichtig, gerade auf das letztere den Finger zu legen, sonst könnte man ja auch meinen, dass die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen sich als blosse Zusammenziehungen und Vereinfachungen deuten lassen. Denn auf den ersten Blick scheint hier fast nur die verwickelte Vorgeschichte von Ph3 zu fehlen: Der Altar ist, so269 Vgl. 2.2.4. 270 Auf Eur. führt Müller, Beiträge, 32 n.79 diese Gleichsetzung nur unter Zweifeln zurück. Froning, Dithyrambos, 64 versucht ausserdem, aus Kleidemos FGrHist 323 F 18 = Plut. Thes. 27.3 mit der Ortsangabe πρὸς τὴν Πνύκα κατὰ τὴν Χρύσαν („bis zur Pnyx bei der Chrysa“) ein Heiligtum der lemnischen Chryse in Athen zu erschliessen. Doch die Stelle ist textkritisch umstritten, und nicht nur ist der Name Chryse an sich nicht selten (vgl. Jacoby zu Kleidemos FGrHist 323 F 18), es liegt hier offenbar auch noch eine andere Wortform vor: Χρύσα statt wie in der Philoktetsage Χρύση.
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weit wir sehen können, einfach da. Nur der Übergang von blossem Zeigen zum Reinigen macht es unmöglich, sich Ph10 einfach als verkürzte Nachschrift von Ph3 zu denken. Hingegen könnte man fast versucht sein, die Sache umgekehrt zu sehen: Etwa so wie Ph10 könnte jene Form der Geschichte ausgesehen haben, die Euripides vorfand, ehe er die kunstvolle Konstruktion zur Verbindung mit der Argonautensage entwickelte. Wir kennen ja vom Opfer für Chryse auch noch zwei Vasenbilder aus der Mitte des 5. Jh.s, die also älter sind als das Drama des Euripides und die man deshalb mit jenem des Aischylos in Verbindung bringt. Auf beiden ist deutlich das Standbild der Chryse zu erkennen271, was sowohl zur Insel Chryse wie zu Lemnos als Schauplatz passt. Könnte also Ph10 der Fassung der Sage bei Aischylos nahe stehen272? 2.3.4 c) Sophokles Während wir zu Aischylos nur vage Vermutungen anstellen können, betreten wir bei der Variante Ph1, Sophokles Philoktetes, wieder festen Boden. Dieser Dichter verweist in seinem Stück auf den Vorfall in verschiedenen Anspielungen, die folgendes Bild ergeben: Schauplatz ist ein Ort namens Chryse, wo es eine Gottheit gleichen Namens mit einem umfriedeten Heiligtum ohne Dach gibt. Philoktet gerät in die Nähe der verborgenen Wächterschlange, einer Viper, und wird auf Veranlassung der hartherzigen Gottheit von dieser gebissen273. Der Text des Sophokles deutet an, dass mit Chryse auch hier eine eigenständige Insel gemeint ist274, ohne sich genauer über deren Lage zu äussern. In der verlorenen Tragödie Die Lemnierinnen war aber offensichtlich von Lemnos und den angrenzenden Gauen von Chryse die Rede275, so dass auch hier die bei Euripides gegebenen Verhältnisse herrschen. Im übrigen kehrt diese Fassung gegenüber Ph3 in verschiedener Hinsicht zu der einfacheren Gestalt von Ph10 zurück: Das Heiligtum ist einfach da, ein Orakelspruch, der die Griechen ausdrücklich 271 LIMC s.v. Philoktetes Nr. 6 und Nr. 7; auf der nur bruchstückhaft erhaltenen Darstellung LIMC s.v. Philoktetes Nr. 12 (= Chryse Nr. 6) gibt es auch Säulen, die das Heiligtum andeuten, also nicht ganz dem oben gezeichneten Bild der Göttin und ihres Kults entsprechend. 272 Untersteiner, Filottete, 139–148 vermutet Aischyl. näher an Ph7, wofür er zur Abwechslung Chryse mit Hera als mediterrane Ur- und Erdgöttin gleichsetzt. Müller, Beiträge, 22 und Kommentar, 52–55 verlegt den Schlangenbiss bei Aischyl. schon auf die Insel Chryse und deutet Beiträge, 51 n. 37 die Nennung von Lemnos (unter fälschlichem Einbezug von Ph3d als Zeugnis) als „geographische Vereinfachung“. Mette, Aischylos, 99–103 setzt ein Drama des Aischyl. Tennes an, worin auch die Verwundung des Philoktet auf Tenedos erzählt worden sei (vgl. auch Avezzù, Ferimento, 44, 99–101), was von Jouan 1964 so weiterentwickelt wird, dass bei Aischyl. auf Tenedos ein Opfer an Chryse vollzogen worden sei; das ist alles luftige Spekulation (Jouan/Van Looy, Euripide VIII,3, 273f rechnen denn auch wieder mit einem Opfer auf der Insel Chryse). 273 Der Annahme von Lefèvre, Unfähigkeit, 194–197, bei Soph. sei die eigentliche Ursache für den Schlangenbiss die unerwiderte Liebe der Chryse (vgl. Ph6), fehlt jede Grundlage. 274 Soph. Phil. 269f. 275 Soph. Frg. 384.
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dorthin weisen würde, wird nicht erwähnt, und auch über Chryse erfahren wir nichts näheres276. In einem Punkt werden wir sogar auf die Varianten vom Typ Α zurückgeführt: Philoktet übt, als er von der Schlange gebissen wird, keine besondere Tätigkeit aus, sondern kommt einfach in die Nähe des Heiligtums, und wir erfahren nicht einmal, ob zufällig oder mit Absicht. Dieser letzte Punkt muss in Zusammenhang damit gerückt werden, dass sich hier auch die räumliche Vorstellung des Schauplatzes ändert: Während alle bisher betrachteten Berichte den Ort der Schlangenerscheinung durch einen Altar bezeichnen, ist hier alleine von einem offenen Gehege, also der äusseren Einfriedung des Heiligtums die Rede. Das Wort, das der Autor dafür verwendet, sekos bezeichnet ursprünglich die Viehhürde277, was zwar schon auf dieser Ebene auch einen Stall mit Dach meinen kann278 und später zu einem ganz allgemeinen Wort für ein Heiligtum wird279; in Ph1 wird es jedoch ausdrücklich in einem engeren Sinne verwendet, nämlich für eine heilige Stätte ohne Tempelbau, die vor allem durch eine einfache steinerne Umfriedung gekennzeichnet ist, wie es sie in Griechenland allenthalben gab280. Damit geraten wir, was den Ort der Verletzung angeht, vom in sich geschlossenen, massiven Objekt, das den Mittelpunkt bildet, an die Peripherie um eine leere Mitte, einen sakralen Raum, dessen Inneres merkwürdig unbestimmt bleibt. Damit scheint auch die Aufgabe zusammenzuhängen, die nun der Schlange zugewiesen wird: sie bewacht das Heiligtum und beisst Philoktet, als er ihr zu nahe kommt, was doch wohl heisst: als er die Umfriedung des sekos überschreitet281. Gegenüber Ph3 wird damit vielleicht an der 276 Am Ende des Dramas nimmt der Chor Abschied von den Wasser- und Wiesennymphen von Lemnos (Soph. Phil. 1454, vgl. Larson, Greek Nymphs, 45); der Dichter gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass diese mit Chryse zu verbinden wären. 277 σηκός: Hes. Erg. 787, Hom. Od. 9.219 u.a. 278 Vgl. Hom. Il. 18.589. 279 Vgl. Jebb, Philoctetes, 204 (zu Soph. Phil. 1327); Chantraine, 997f s.v. σηκός, und schon Ammon. Diff. s.v. σηκός; Et.M. s.v. σηκός u.a.; bei den Grammatikern wird gelegentlich unterschieden zwischen ναός für ein Götter- und σηκός für ein Heroenheiligtum, vgl. Ptol. Ascal. 402.17; Ammon. Diff. s.v. ναός; Poll. 1.6 u.a. 280 Zur Beschreibung eines sekos als steinerne Umfriedung für das Vieh vgl. Plat. Theait. 174e, und ebenso für das ursprüngliche Heiligtum des Erechtheus Eur. Erechtheus IV 90f Diggle, vgl. Lys. 7. Auffallend ist in unserem Zusammenhang σηκὸς δράκοντος (Schlangenhürde) für die Wohnung der thebanischen Schlange Eur. Phoin. 1010. 281 Man kann hier an die Geschichte von dem misslungenen Versuch des Miltiades erinnern, ins Heiligtum der Demeter von Paros einzudringen (Hdt. 6.134–136): auch er springt über die Umfassungsmauer, wird im Innern des Heiligtums vom Schauder gepackt, verletzt sich fliehend beim Sprung von der Mauer schwer am Schenkel oder an den Knien (Hdt. 6.134.2 weist ausdrücklich darauf hin, dass diesbezüglich zwei verschiedene Varianten umlaufen); die Verletzung ist langwierig, beginnt zu faulen, und nach der Rückkehr in die athenische Heimat stirbt er daran. Die Parallele wird noch merkwürdiger, wenn man beachtet, dass die Eroberung von Lemnos zu den wesentlichen Verdiensten des Miltiades zählte, worauf Hdt. beim Erzählen dieser Geschichte sogar hinweist (Hdt. 6.136.3). Der sagenhafte Charakter dieser Geschichte wird noch deutlicher, wenn man die ganz andere Darstellung des Kampfes um Paros bei Ephor. FGrHist 70 F 63 vergleicht; dazu Nenci, Erodoto VI, 313, und zum Ganzen auch Burkert 1969, 24f; Bremmer 1978, 12.
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Handlung nicht viel verändert: Auch als Führer, der den andern den Ort zu zeigen vorangeht, wird Philoktet wohl beim entscheidenden Schritt zu nahe heran gebissen. Doch verschiebt sich die Auffassung des Geschehens je nachdem, ob man es unter dem Blickwinkel des Zeigens, das heisst seiner Bedeutung für das Heer der Achaier, oder unter dem der Grenzüberschreitung betrachtet, das heisst hinsichtlich des Verhältnisses von Philoktet zum Raum der Gottheit. Ausserdem entsteht so erst der Eindruck, der Biss der Schlange treffe Philoktet in dem Teil des Körpers, dem Fuss, mit dem er die verhängnisvolle Grenze überschritten hat. Zum ersten Mal drängt sich damit der Gedanke auf, dass der Biss der Schlange die Folge eines Fehltritts des Helden sein könnte. Zugleich – und dieser Punkt wird erst bei der weiteren Entfaltung unserer Geschichte seine Bedeutung gewinnen – verdunkelt sich der Mittelpunkt des kultischen Betriebs, der Altar, und wird unsichtbar. Wie bei Ph3 genügen hier allerdings die Philoktet-Geschichten nicht, um alle Einzelheiten der Berichte herzuleiten: vielmehr werden von anderswo stammende Elemente gewissermassen eingekreuzt, welche der Geschichte eine zusätzliche Färbung geben. Wenn hier von der hausbewachenden Schlange (oikouros ophis) die Rede ist, so erinnert das an jenes fabelhafte Kriechtier, das angeblich als Wächter der Akropolis unsichtbar im Erechtheion lebte und monatlich einen Honigkuchen zum Opfer erhielt282. Man erhält so den Eindruck, dass auch dieser Dichter die alte Geschichte durch Angleichung an ein heimisches Bild näher an seine Zuschauer heranzurücken versucht: Aus dem lemnischen Philoktet wird damit gewissermassen ein attischer. 2.3.4. d) Theodektes Die letzte zu dieser Gruppe gehörende Fassung unserer Geschichte stammt aus dem Philoktetes des Theodektes (Ph2). Sehr dünn sind allerdings die inhaltlichen Angaben, die wir hier noch zu gewinnen vermögen: dass die Schlange eine Viper war, und dass sie den Helden in die Hand biss. Während das erste allen aus der Tragödie stammenden Varianten gemeinsam ist, stellt das zweite einen eigenwilligen Zug dar, der Wesentliches an der Geschichte ändert. Nun war vielleicht die Überlieferung, an welcher Körperstelle Philoktet gebissen wurde, nie so ein-
282 Dazu am ausführlichsten Hdt. 8.41.2f, wo die Schlange als schlimmes Vorzeichen am Vorabend der persischen Eroberung zu verschwinden scheint (zur mantischen Bedeutung der Schlange und besonders zu ihrer Rolle als Vorzeichen im Krieg oben 1.2.1); vgl. Plut. Them. 10.1 und Aristoph. Lys. 758f. An den beiden letzten Stellen auch wörtliche Anklänge an Soph. Phil. 1326: οἰκουρὸς ὄφις bei Aristoph., σηκός bei Plut.; ausserdem Phylarch. FGrHist 81 F 72 (= Phot. Lex. s.v. οἰκουρὸν ὄφιν), Philostr. Im. 2.17.6, Hesych. s.v. οἰκουρὸν ὄφιν, Eusth. Hom. Od. 1.357 [1423.7f]; vgl. auch Jebb, Philoctetes, 204 (zu Soph. Phil. 1327), Ussher, Philoctetes, 157 (zu Soph. Phil. 1326–1328), Küster, Schlange, 126, Kron, Phylenheroen, 42, Sancassano, Serpente, 64f. Sehr weit geht die ‚politische’ Deutung dieser Zusammenhänge bei Ugolini, Sofocle, 198–200, 210f.
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heitlich, wie unsere Schriftzeugnisse den Eindruck erwecken283: auf der ältesten Bilddarstellung, der einzigen, wo wir die Schlange wirklich in Aktion sehen, beisst sie nämlich nicht am Fuss zu, sondern im unteren Teil der Wade284. Die Unterscheidung mag kleinlich wirken, doch nehmen auch die antiken Erzähler es mit solchen Einzelheiten bisweilen sehr genau285. Merkwürdig ist, dass damit der Bogen zu einer anderen nur noch in Spuren fassbaren Tradition geschlagen wird: Als Herakles den Kerberos aus der Unterwelt holte, wurde er von dessen schlangenköpfigem Schwanz gebissen286, wobei diese ungenaue Angabe der Schriftquellen durch eine Reihe von unteritalischen Vasenbildern des 4. Jh.s verdeutlicht wird – und dort trifft der Schlangenkopf genau dieselbe Stelle an der Wade wie bei dem Bild von Philoktet287. Die beiden Geschichten sind einander ja nicht unähnlich: Auch Herakles dringt ins Reich einer Göttin, der Persephone, ein, welches man bei Lebzeiten besser nicht betreten sollte, und Kerberos ist dessen Wächter. Durch den engen Anschluss an dieses Erzählmuster rückt Philoktet einmal mehr in unmittelbare Nähe zu Herakles, von dem er den Bogen geerbt hat288. Allerdings verbindet auch so die Verletzung des Philoktet diesen noch mit einer Reihe von anderen Gestalten, die an den Füssen gezeichnet sind, während die Verlagerung der Wunde an die Hand ihn ganz aus dieser Reihe löst289.Vor allem setzt sie eine Umdeutung der vorhergehenden Ereignisse voraus: Philoktet kann nur in die Hand gebissen werden, wenn er sich in einer Weise verhält, dass seine Hand in die Nähe der Schlange gerät. Das trennt diese Fassung grundsätzlich von allen Beispielen aus der Gruppe Α, die einen unbeteiligt dastehenden Philoktet 283 284 285 286 287 288
Für eine leichte Abweichung in einer Textquelle vgl. 4.2.2 zu HPh4. LIMC s.v. Philoktetes Nr. 12 = Chryse Nr. 6. Etwa Hdt. 6.134.2, vgl. oben n. 281. Apollod. 2.5.12. LIMC s.v. Hades Nr. 132, vgl. (nicht sicher mit Biss) LIMC s.v. Herakles Nr. 2571. Vgl. oben p. 88 mit n. 242. Auf die Parallele dieser Heraklesbilder hat Müller, Beiträge, 81f n. 48 (mit weiterer Literatur) aufmerksam gemacht, vgl. Burkert 1969, 23–25; Bremmer 1978, 10f. Nach einer Nebenüberlieferung wurde Herakles auch beim Kampf mit der Hydra von dieser gebissen und erst auf Anraten des pythischen Apollon mit einer phoinikischen Pflanze geheilt, vgl. Steph. Byz. s.v. Ἄκη. 289 Am nächsten an diese Fassung schliesst sich die Episode vom Apostel Paulus an, der bei der Landung auf der Insel Malta, als er Reisig für ein Feuer sammelt, von einer Viper in die Hand gebissen wird (Apg. 28.1–6), eine Geschichte die auch sonst eigenwillige Ähnlichkeiten zur Philoktetsage aufweist – Paulus ist schliesslich auf dem Weg, die Stadt der Nachkommen der Troianer, Rom, für das Christentum zu erobern (vgl. weiter auch oben 1.2.3 mit n. 64). Xanthakis-Karamanos, Studies, 36f betont, dass durch die Verlagerung der Wunde vom Fuss an die Hand Philoktet unfähig wird, seinen Bogen zu gebrauchen. In ähnlicher Weise sucht dann Müller, Beiträge, 79 n. 40 eine „dramaturgische Begründung“ für die Neuerung: eine Intrige für die Gewinnung des Bogens wird so überflüssig. Avezzù, Ferimento, 52 hebt mehr die Steigerung des Pathos durch diese neue Wehrlosigkeit des Philoktet hervor, betont aber 72f auch schon, wie sich die Verletzung der Hand mit der Geste des Zeigens des Altars verbindet; vgl. auch Avezzù, Mito, 240f. Ältere Deutungen (z.B. Jebb, Philoctetes, xxxif) meinen eher, es gehe darum, Philoktet würdiger erscheinen zu lassen, ohne den leicht komischen Eindruck des Hinkens als Folge der Fussverletzung; auch Xanthakis-Karamanos loc. cit. verwies noch auf Kritik der Alten Attischen Komödie an den hinkenden Helden des Eur.
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2. Der verwundete Philoktet
zeigen, wie auch von jener des Sophokles (Ph1), für die ja der Bezug auf die Bewegung des Fusses gerade wesentlich ist. Ph3 hingegen steht auch hier vielleicht nicht völlig abseits: man könnte etwa das Zeigen und die Hand als unmittelbar zusammengehörig betrachten. Doch am nächsten kommen wir der Sache mit Ph10: beim Reinigen des Altars muss man unvermeidlich die Hände zu Hilfe nehmen, und der Gedanke liegt deshalb nahe, dass dieses auch in Ph2 so geschildert war. Entscheidend ist jedenfalls, dass die Verwundung der Hand eine Bewegung des Philoktet voraussetzt, welche die Reaktion der Schlange auslöst, dass also der Biss nicht nur als Folge eines besonderen Griffs gedacht wird, sondern auch unmittelbar das Organ trifft, mit dem der Held zugreift. In diesem Punkt scheint Ph2 die Denkform des Sophokles fortzusetzen. Wenn die Zeugnisse nicht täuschen und die vorgeschlagenen Zuordnungen richtig sind, würde dies nicht zuletzt heissen, dass bereits bei Theodektes in Ph2 jenes Kombinieren von Elementen aus verschiedenen schon in literarischer Form vorgefundenen Fassungen durchscheint, welches ein kaiserzeitliches Kunstgebilde wie Ph5 kennzeichnet. Wenn man zum Abschluss diese Geschichten der Gruppe β1 nochmals überblickt, so fallen verschiedene Dinge auf: zunächst, dass sie alle im Kreis der tragischen Dichtung von Athen ihren Ursprung haben. Im Mittelpunkt der ganzen Gruppe steht dabei – kaum überraschend – Euripides: die herausragende Bedeutung dieses Dichters für die Ausbildung der mythologischen Tradition wird sich in meinen Untersuchungen auf Schritt und Tritt zeigen. Wichtiger ist die Frage, ob die Veränderungen zwischen den einzelnen Fassungen willkürlich sind, oder ob sie einer einheitlichen Achse folgen. In zwei Richtungen scheint die Entwicklung dabei mehr als nur einmal einen Schritt zu machen: Einerseits werden bei Euripides und Sophokles, vielleicht auch schon bei Aischylos Motive von ausserhalb der eigentlichen Philoktetsage eingekreuzt, um diese dem Zusammenhang anzupassen, in dem der Dichter sie erzählen will. Zieht man diese Kreuzungen ab, so bleibt vor allem ein Element, dessen Wandel alle vier Fassungen kennzeichnet: die Bewegungsweise Philoktets, als er auf die Schlange trifft. Wir treffen nacheinander: Zeigen (des Altars) (Ph3), Reinigen (des Altars) (Ph10/Ph2?), Überschreiten der Grenze (des Heiligtums) (Ph1). Gemeinsam ist allen drei Bewegungen die Richtung auf den Mittelpunkt des Heiligtums hin, doch verschieden ist die Distanz aus welcher dies geschieht. Während wir im Fall des Zeigens erst bei der Richtungsangabe ganz von ausserhalb sind, kommen wir beim Reinigen bereits ins Innere, während uns die dritte Variante zeigt, was geschieht, wenn die Grenze zwischen Aussen und Innen überschritten wird. Die Variation der Sage vollzieht sich also entlang einer Linie, welche durch die Frage bestimmt ist, in welcher Entfernung vom Mittelpunkt des sakralen Bereichs der Schlangenbiss sich zuträgt, der den Charakter des Heros bestimmt.
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2.3.5. Hereinbrechende Ränder Das eindeutigste Beispiel für eine Variante vom Typ β2 liefert Ph7, wonach Philoktet gebissen wird, „als er auf Lemnos am Meeresstrand einen Altar für Herakles errichten“ will. Diese Fassung scheint zunächst von allen bisherigen abzuweichen. Erst auf den zweiten Blick bemerkt man, dass ihre einzelnen Elemente fast ausnahmslos in den schon behandelten Geschichten aufgetaucht sind: Abgesehen von dem, was den meisten gemeinsam ist (Schlange, Biss und Altar) kam Lemnos als Schauplatz vielleicht schon bei Aischylos vor (Ph10) und die Figur des Herakles hat auch Euripides mit dem Altar verbunden (Ph3). Einzig dass dieser am Meeresstrand stehen soll, ist neu. Die Bögen, die sich von hier aus schlagen lassen, sind vielfältig: Zum einen rückt die Schlangenerscheinung in unmittelbare Nähe zum Wasser. Ähnliche Andeutungen haben wir bisher aus den bildlichen Darstellungen der Geschichte erhalten290 und dass sowohl Natter wie Viper sich gerade durch ihr Verhältnis zu diesem Element bestimmen, habe ich ebenso gezeigt291. Vielleicht werden wir damit auch auf andere Schlangenerscheinungen an Altären verwiesen: Das Schlangenwunder im zweiten Gesang der Ilias ereignet sich in Aulis, dem Meerhafen, von wo die Achaier nach Troia fahren, und vor allem wird man sich hier an die Schlangen erinnern, die aus der See auftauchen und Laokoon bei seinem Opfer am Strand überfallen292. Der Altar am Meer in Ph7 ist also nicht eine zufällige Abweichung, sondern verbindet diese Fassung mit einem Handlungsmuster, das in Schlangensagen öfter wiederkehrt. Schwieriger scheint der Rollenwechsel des Herakles: er errichtet den Altar nicht mehr (wie in Ph3), sondern dieser gilt ihm selbst. Eine ähnliche Stellung nimmt der Heros auch in Ph4 und Ph8 ein, so dass ich auf dieses Motiv noch zurückkommen werde. Wichtig ist jedoch, dass damit den vorbereitenden Handlungen für das Opfer eine weitere Variante hinzugefügt wird, nämlich das Errichten des Altars (auch dies übrigens eine Tätigkeit, die sich mit der Hand verbindet). Wenn hier also nicht von einem bereits vorhandenen Heiligtum die Rede ist, sondern eine Kultstätte neu geschaffen wird, rückt Philoktet in jene Rolle ein, die Herakles in Ph3 selbst zukam, und erscheint einmal mehr quasi als Stellvertreter des grössten aller Heroen. Alle übrigen Varianten der Klasse β2 weisen jene merkwürdige Veränderung auf, die ich mit der Sigle γ bezeichnet habe293. Dies ist die unschärfste Gruppe, weil sie nicht nur keinen reinen Vertreter hat, sondern darüber hinaus auch teils in β1, teils in β2 eingreift. Die Abfolge, in der ich die letzten Varianten behandle, kann deshalb nur mehr oder weniger willkürlich sein, und wenn ich Ph8 an den
290 Vgl. 2.2.5, und insbesondere auf dem Wandbild von Ephesos, das vielleicht die Verwundung des Philoktet zeigt, die weite blaue Fläche im Hintergrund, die vielleicht als Meer zu deuten ist, ausserdem das Wellenband um LIMC s.v. Philoktetes Nr. 73. 291 Vgl. 2.3.1. 292 Vgl. 1.2.2. 293 Vgl. 2.3.1.
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2. Der verwundete Philoktet
Schluss stelle, dann allein weil diese Fassung absonderlich und das Ergebnis sehr komplexer Transformationen zu sein scheint. Am nächsten an Ph7 schliesst sich Ph4 an. Ein Stück weit lässt sich diese Fassung recht einfach in Elemente aus verschiedenen Klassen zerlegen: Die Natter etwa, die den Helden beisst, stammt aus der Gruppe Α, doch ist ja gerade dieses Element verhältnismässig wenig bezeichnend. Vor allem weiss man, dass diese Schlange an jener Stelle der Ilias erwähnt wird, wo von Philoktet die Rede ist, und wie wichtig die Lektüre der Ilias für die Griechen war. Die Wahl des Schauplatzes Lemnos indessen entspricht derjenigen in Ph7 (aber auch Ph10!) und gehört damit zu den Elementen, welche β2 als Gruppe konstituieren. Schwieriger ist es, die Gottheit zu benennen, welche über den Ort herrscht, an dem der Held in Ph4 gebissen wird: Zum einen wird hier, anders als in allen bisherigen Varianten, der Raum, wo die Schlange erscheint, überhaupt nicht mehr als sakral bezeichnet. Vielmehr tritt an die Stelle des als heilig erlebten gegenwärtigen Raums eine in die Vergangenheit verlegte, an eine Gottheit geknüpfte Episode, welche den Schlangenbiss in ein klares Verhältnis von Ursache und Wirkung rückt. Was bei Sophokles in einen einzigen dramatischen Augenblick gefasst wird, Raum und Kausalität, Grenzüberschreitung und Biss, wird damit in eine erzählbare Sequenz von Handlungen aufgelöst: Der Raum wird hier zur Zeit, spaltet sich in Einst und Jetzt. Dem entspricht auf der Ebene der Personen, durch welche diese Orte bestimmt werden, eine nicht weniger merkwürdige Verdoppelung: hatten wir bisher immer eine einzelne kultische Figur, welche das Umfeld des Schlangenbisses beherrschte, sind es hier zwei, Herkules und Iuno, ein Gott-Heros und eine Göttin, eine männliche und eine weibliche Figur. Während das Auftreten des Herkules alle Varianten der Gruppe β2 kennzeichnet, ist die Nennung der Iuno eine Eigenheit dieser Geschichte allein294. An sich gehört natürlich eine Göttin zu allen Geschichten des Typs β1, und dass Chryse gelegentlich zu einer der grossen Göttinnen umgedeutet werden konnte, zu Athene, habe ich bereits gezeigt. Dass die Schlange eine von dieser weiblichen Gottheit gewollte Strafe vollstreckt, wurde in Ph1 bloss verdeckt angedeutet, in Ph6 aber ausdrücklich angegeben. Anderseits gehört der Groll der Iuno von Anfang an so fest zur Gestalt des Herkules295, dass der Gedanke, die Schuld für das Auftauchen der bösen Schlange vom strahlenden Helden auf die finstere weibliche Gestalt in seinem Rücken umzulenken, nur allzu nahe liegt. Darüber hinaus wird hier indes eine andere Sage eingekreuzt, in der Hera wirklich Schlangen losgeschickt hat, nämlich gegen den neugeborenen Herakles in seiner Wiege296. Auch hier rückt Philoktet also in eine Parallele zu jenem, und zwar gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen widerfährt ihm, was dem 294 Untersteiner, Filottete, 139–147 sieht darin die Fassung des Aischyl., in der Philoktet dafür bestraft wird, dass er sich für Herakles und gegen die ‚chthonischen’ Mächte entscheidet; vgl. dagegen ausser 2.3.4.b auch Müller, Beiträge, 306 n. 222. 295 Zu einer weiteren solchen Geschichte vgl. 4.1.2. 296 Pind. Nem. 1.33–51, Theokr. Eid. 24.1–63, Plaut. Amph. 1107–1119 u.a.; vgl. auch oben p. 88 mit n. 242.
2.3. Elfmal Philoktet
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grösseren Heros als kleines Kind widerfahren ist, zum anderen erweist er sich gerade dadurch als schwächer, dass er sich, anders als jener, nicht gegen das Tier zur Wehr zu setzen vermag297. Auch in dieser Fassung ist nirgends von einem Altar die Rede, an dem die Schlange sich zeigt. Stattdessen erscheint, in die Vorgeschichte zurückgespiegelt, der Scheiterhaufen des Herakles – auch dies ein Motiv, das uns nochmals begegnen wird. Zunächst werden damit die beiden Kernszenen, welche die Gestalt des Philoktet bestimmen, in eine zusätzliche Verbindung gebracht: Philoktet erbt von Herakles nicht nur die wunderbaren Pfeile, die ihn für den Zug nach Troia so wichtig machen, sondern ebenso den Hass der Stiefmutter. Abseits des Üblichen steht freilich auch hier, dass Philoktet den Scheiterhaufen errichtet, ist es doch sonst seine besondere Leistung, dass er den Mut findet, ihn anzuzünden. Auch hier scheint sich unsere Sage merkwürdig mit einer anderen zu überkreuzen: Es ist als ob hinter Ph4 unausgesprochen Ph7 stünde, wo Philoktet den Altar des Herakles errichtet, und nun diese Handlung auf den Scheiterhaufen zurückgeworfen würde. Die Sache ist ja auch insofern verdächtig, als dies das einzige Mal ist, dass das sonst der Gruppe Β so konsequent variierte Motiv, was Philoktet im Moment des Bisses gerade tut, in zwei Fassungen der Geschichte wirklich unverändert wiederholt wird. Betrachtet man, aus welcher Quelle Ph4 stammt, so stehen wir vor einem der vielen Rätsel von Hygins Geschichtenbuch – gerade solche abenteuerlichen Rekombinationen älterer Elemente sind darin ja nicht selten. Solange freilich über das Zustandekommen dieses seltsamen Werkes keine Klarheit zu gewinnen ist, sind auch hinsichtlich seiner einzelnen Geschichten höchstens Vermutungen möglich. Nach den im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Beispielen habe ich den Eindruck, dieselbe verquere Kombinatorik zeige sich bei diesem Autor in Geschichten, wo die mutmasslichen Quellen ganz verschieden gewesen sein müssen. Sie stammt also wohl nicht aus den jeweiligen Quellen, sondern auf irgendeiner Entwicklungsstufe dieses Werks muss ein Bearbeiter die Hand im Spiel gehabt haben, der in der Behandlung der Geschichten einen ganz bestimmten, persönlichen Ansatz verfolgte. Dazu passt vor allem die gelegentlich auffallende Kohärenz des Fabelbuchs in seinen Seltsamkeiten: Dass Philoktet den Scheiterhaufen für Herkules errichtet, steht dort, wie schon vermerkt, auch noch an ganz anderer Stelle, nämlich beim Bericht über den Tod des Herkules298. Auch wenn ich eine eingehende Untersuchung dieser Probleme hier nicht vorlegen kann, sind zwei Dinge vorweg als mögliche Ergebnisse einer solchen festzuhalten: Erstens ganz allgemein, dass man sich hüten muss, für jede Sonderbarkeit, die sich im Text des Hyginus findet, eine alte Quelle zu suchen und jede 297 Dumézil, Problème, 188–190 parallelisiert zum Verständnis dieser Variante ausserdem den Scheiterhaufen des Herkules und das ‚lemnische Feuer’ (zu diesem unten 3.5.1f). 298 Vgl. 2.2.2.; nachdem Hyg. Fab. 36.1–4 die Geschichte von Deianira und Hercules in direkter Rede berichtet wurde, geschieht in 36.5 ein Neuansatz mit tunc dicitur Philoctetes ... pyram in monte Oetaeo construxisse, der auch sprachlich den Eindruck einer Hinzufügung macht: Vielleicht fassen wir hier noch die Hand des Bearbeiters am Werk.
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2. Der verwundete Philoktet
seiner Varianten gleich zu einer verlorenen Tragödie des 5. Jh.s aufzublasen299. Dafür nämlich, dass die Mythen in hellenistischer, ja selbst in römischer Zeit produktiv bleiben und weitergedacht werden, kann ich gleich im nächsten Abschnitt noch ein viel stärkeres Beispiel vorlegen. Zweitens und speziell für unseren Fall ergibt sich, dass möglicherweise die Variante Ph7 eine der Quellen dargestellt hat, aus welcher der Urheber von Ph4 schöpft, so dass sich das Schema für den Zusammenhang und die Zeitverhältnisse der Geschichten in dem Sinne präzisieren lässt. Da Ph7 einem Scholion zu Sophokles entstammt, heisst das vielleicht sogar, dass auch der Redaktor von Hygins Fabelbuch seine Kenntnisse einem solchen Kommentar entnimmt, der ihm freilich noch in einer weniger ausgedörrten Fassung vorgelegen haben dürfte, als unsere von der Überlieferung gerade im Fall des Philoktetes übel zugerichteten Scholien. Mit der Variante Ph6, in welcher der Biss der Natter die Strafe einer in Philoktet unglücklich verliebten Nymphe ist, kehren wir in die Gruppe β1 zurück. Zunächst ist auch hier möglicherweise die epische Natter (Α) in eine Geschichte eingedrungen, in der sie eigentlich nichts zu suchen hat. Der entsprechende Beleg stammt ja aus der mehrere Richtungen kombinierenden Darstellung im Lykophronkommentar des Tzetzes, der gleich im folgenden Abschnitt bezüglich der Schlangennamen verschiedene Traditionen zusammenstellt300. Im Übrigen fallen wieder vor allem die Elemente der Gruppe β1 auf: die Insel Chryse bei Lemnos und die gleichnamige Nymphe, nur dass der Altar auch hier (γ) durch eine motivierende Vorgeschichte ersetzt ist. Wie in Ph4 erscheint dabei der Zorn einer göttlichen Figur als deren Motiv, die Schlange zu schicken, und dieser Zorn hat hier seine Ursache in unerwiderter Liebe301. Das ist ein Muster von Geschichten, wie man sie über Nymphen gelegentlich erzählt: Diese Gottheiten gehören für die Griechen zu jenen nicht ganz gewöhnlichen weiblichen Gestalten, die eigene erotische Ansprüche stellen und durchsetzen302. Am bekanntesten ist der Fall des schönen Knaben Hylas, der von einer verliebten Nymphe in ihre Quelle hinabgezogen wird und der in der Geschichte von Bormos eine enge Parallele hatte; ähnliches erzählte man sich offenbar öfter303. Schon diese Anlage der Fabel macht klar, dass die Liebe der Nymphe nicht 299 Zu diesem Problem in anderem Zusammenhang auch Masciadri 1987, 1f und 6f. 300 Vgl. Tzetz. Lyk. Alex. 912. 301 Dass Mart. 2.84 Philoktet für schwul erklärt, sollte man (gegen Mandel, Philoctetes, 34 u.a.) nicht damit zusammenbringen. Nach Mart. ist dies ja erst die Rache der Venus für die Tötung des Paris, gehört also in die Zeit nach der Rückkehr von Lemnos. Vom Muster der Geschichte her erinnert dies vor allem an Ph4 (Rache einer Göttin wegen etwas, das sie für ein Fehlverhalten gegenüber einem ihr besonders wichtigen Helden hält), wenn denn auf einen solchen Witz überhaupt etwas zu geben ist. 302 Zu den nachfolgend behandelten Geschichten RML 3 (1897–1909) 553–555 s.v. Nymphen [L. Bloch]; RE 17 (1936) 1547f s.v. Nymphai [F. Heichelheim]; LIMC 8 (Suppl. 1997) 891 s.v. Nymphai [M. Halm-Tisserant]; ausserdem Larson, Greek Nymphs, 66–70, 79–81, mit weiteren Beispielen. 303 Hylas: Apoll. Rhod. 1.1221–1239 u.a.; Bormos: Athen. 14.11 [619f–620a], Hesych. s.v. Βῶρµον; für Weiteres Kallim. Epigr. 22.
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unbedingt immer erwidert wird, wofür das Verhältnis der Echo zu Narcissus das berühmteste Beispiel geworden ist304. Auch dass die Rache der Nymphen den abweisenden oder untreuen Geliebten getroffen, wurde ab und zu erzählt, am bekanntesten ist hier die Geschichte von Daphnis305. Aus dieser ganzen Gruppe von Sagen stechen im übrigen zwei Nachrichten heraus, die eine besondere Nähe zu der von Philoktet aufweisen: Auch Iason soll schon der Geliebte der Chryse gewesen sein306, und dann soll einmal eine Nymphe sich aus Eifersucht auf Herkules in die Pflanze nymphaea, die Seerose, verwandelt haben – der erotische Hintergrund dieser Geschichte wird deutlich, wenn es heisst, dass zeugungsunfähig wird, wer einen von dieser Pflanze stammenden Saft trinkt307. Auch hier übernimmt Philoktet also wieder die Rolle des Herakles, ohne ihr ganz gewachsen zu sein, denn gegen die Ansprüche der Nymphe ist er offenbar weniger wirksam immunisiert308. Man hat sich davon, dass derlei Geschichten in der hellenistischen Dichtung gerne nacherzählt wurden, vielleicht etwas zu leichtfertig verführen lassen, alles irgendwie Ähnliche für nachklassisch zu erklären309. Gewiss gab es aus dem 3. Jh. einen offenbar in Hexametern abgefassten Philoktetes des berühmten Euphorion, doch erhalten hat sich davon ein einziges Fragment, das auf eine gewisse Nähe zur Sagengestalt des Euripides weist, uns aber über den Schlangenbiss nichts lehrt310. Für das Verständnis von Ph6 wichtiger ist, dass hier die gesamte übrige Reihe der Geschichten, insbesondere Ph1, gerade umgekehrt wird: nicht das Überschreiten einer Grenze zur Nymphe hin, sondern im Gegenteil die Abwendung von ihr, das Aufrechterhalten der Entfernung erscheint als Verschulden des Helden, welches als Strafe den Schlangenbiss nach sich zieht. Nicht nur was die Namen der handelnden Personen angeht, sondern auch hinsichtlich der einfachen und geradlinigen Beziehung zu den anderen Geschichten steht damit Ph6 den Berichten aus dem 5. Jh. vielleicht näher, als eine kompliziertere Ableitung wie Ph4.
304 305 306 307 308
Ov. Met. 3.356–401 u.a. Diod. 4.84 u.a. Vgl. 2.2.1. zu Ph3a. Plin. Nat. 25.(37).75. Vgl. oben p. 88 mit n. 242. Herakles kommt allerdings am Ende auch durch das Schlangengift der Hydra um, das ins Nessosblut geflossen ist, mit dem die eifersüchtige Deianeira sein Gewand tränkt (Soph. Trach. 750–771, Apollod. 2.7.7 u.a.) – eine so berühmte Geschichte hat natürlich vielerorts ihre Spuren hinterlassen. 309 Auch für Müller, Beiträge, 22 n. 42 ist dies deshalb „zweifellos eine nachklassische Version des Mythos“; ähnlich Froning, Dithyrambos, 59; vgl. dagegen Simon 1996, 20 mit n. 30, wenn auch unter fragwürdigem Rückgriff auf das der Gestalt der Chryse angeblich zugrunde liegende Bild „der grossen anatolischen Göttin“. Gegen die pauschale Vermutung, alle solchen Sagen seien erst hellenistisch, auch Larson, Greek Nymphs, 69. 310 Euph. Frg. 44 Coll. Alex.
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2.3.6. Philoktets Italienische Reise Ph8, die Fassung, welche die Sage von Philoktet im Vergilkommentar des Servius annimmt, habe ich schon bei der Darstellung der Überlieferung ausführlicher behandeln müssen. Schon dabei hat sie sich, obwohl in der Forschung fast völlig vernachlässigt, als besonders komplex erwiesen311. Nicht viel einfacher ist die Geschichte, was ihren Inhalt angeht: Tatsächlich ist darin ja auf den ersten Blick von den bisherigen Geschichten nicht mehr viel wiederzuerkennen. So empfiehlt es sich, zunächst den Erzählablauf einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Das Geschehen entfaltet sich hier in fünf Szenen: (1) (2) (3) (4) (5)
Philoktet und Herkules auf dem Oeta Philoktet und die Griechen am Grab des Herkules Die Verwundung des Philoktet Philoktet wird auf Lemnos zurückgelassen Philoktet in Italien
b1 a1 a2 a3 b2
Damit entsteht in diesem Text etwas, was wir in unserer Überlieferung sonst kaum antreffen, nämlich eine zusammenhängende Biographie des Helden, welche die beiden grossen Szenen, die seine Gestalt bestimmen, in einen Zusammenhang rückt und aufeinander bezieht. Dabei folgen einander die Episoden nicht wie in einem mythologischen Handbuch in einer beliebig offenen Reihe, die allein durch die Person des Helden zusammengehalten wird, sondern wir finden einen geschlossenen, symmetrischen Aufbau: Drei Szenen aus dem troianischen Feldzug in der Mitte der Geschichte (a1/a2/a3) werden von zweien umschlossen, die vor (b1) und nach (b2) dem Krieg spielen. Darüber hinaus werden die Szenen 1. bis 3. durch die Tatsache verknüpft, dass darin das Grab des Herkules die Achse bildet, um die sich die Handlung dreht (c), während in den Szenen 3. bis 5. die Verwundung des Philoktet das Verhalten der Personen bestimmt (d). Der Unglücksfall des Helden, der die Mitte der Geschichte bildet, ist die einzige Szene, welche die Hauptmotive der beiden Hälften der Geschichte (c/d) miteinander verbindet. Das wichtigste Motiv freilich, die Pfeile des Herkules (e), scheint zunächst eine unerwartete Schrägung in dieses ausgewogene Muster zu bringen, denn in den Szenen 1. bis 4. ausdrücklich erwähnt, ist es in der letzten plötzlich verschwunden: Szene
(1)
Auf dem Feldzug Vor/nach dem Feldzug Grab/Verwundung Pfeile
b1 c e
(2)
(3)
(4)
a1
a2
a3
c e
c/d e
d e
(5) b2 d
Genauer betrachtet, verweist freilich gerade diese scheinbare Unregelmässigkeit auf eine Linie, welche die ganze Geschichte durchzieht: In (1) erhält Philoktet die 311 Vgl. 2.2.3; eine der seltenen Behandlungen der Stelle findet sich bei Napolitano, Philoktetes, 161–171.
2.3. Elfmal Philoktet
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Pfeile als Gabe des Herkules, kann sie also von nun an für seine eigenen halten; in (2) benötigen die Griechen dieselben für den Zug nach Troia, und damit wird ein übergeordnetes Interesse an den Pfeilen sichtbar, die nun nicht mehr Philoktet alleine angehen; in (3) fällt dem Helden eines der Geschosse beim Üben auf den Fuss, als ob er begänne, die Kontrolle über das zu verlieren, was einst sein ausschliesslicher Besitz war; in 4. nehmen ihm die Griechen die Pfeile ganz weg. Auch wenn unser Text das nirgends ausdrücklich sagt, so ist klar, dass wir in der letzten Szene (5) einen Philoktet ohne Pfeil und Bogen vor uns haben, und dass dieses Fehlen der Waffe gewissermassen den Endpunkt einer Entwicklung darstellt, welche die Fabel als ganze zusammenhält. Das Fehlen des Motivs in der letzten Szene ist damit nicht weniger bedeutsam als seine Anwesenheit in den vorangehenden vier. Trotz dieser Geschlossenheit fehlt es in der Fabel nicht an merkwürdigen Zeichen der Unordnung, am deutlichsten in der Szene (2): Hier heisst es zunächst, die Griechen seien vom Orakel geheissen, die Pfeile des Herkules aufzutreiben. Von Philoktet erfahren sie aber zweierlei: erstens dass Herkules schon tot ist und er selber nun die wunderbaren Pfeile besitzt, zweitens den Ort, wo Herkules begraben liegt. Das erste wird uns eindeutig so erzählt, als ob die Griechen noch nichts von Herkules’ Tod wüssten, so dass das Orakel bloss von seinen Pfeilen gesprochen haben kann, ohne etwas über den Eigentümer, geschweige denn sein Grab anzudeuten. Wenn Philoktet dann aber die Griechen dorthin führt, so verläuft die Handlung, als ob das Orakel ihnen ein Opfer am Grabe befohlen hätte – warum aber wissen sie dann nicht, dass er tot ist? Es ist, als wären hier zwei verschiedene Geschichten nicht wirklich erfolgreich verschweisst worden312. Deutlich erscheint allerdings auch hier Philoktet als der Mann mit den besonderen Fähigkeiten, ohne welche die anderen nicht zum Ziel kommen: Nur er hat die Pfeile, nur er kennt das Grab des Herkules. Zugleich wird uns ein allmählicher Bedeutungsverlust des Helden vor Augen geführt: Nachdem er den Griechen sein Wissen mitgeteilt und die Pfeile aus der Hand gegeben hat, nachdem er am Ende auch noch verletzt wurde, ist er dem Griechenheer nur noch lästig. Allerdings lassen sie ihn deswegen nicht gleich fallen, sondern führen ihn „unter dem Zwang des Orakels lange Zeit mit sich“ – die Geschichte stellt sich also dem moralischen Problem, ob es erlaubt ist, die Funktion des Mannes mit den besonderen Fähigkeiten von ihm selber abzulösen, Philoktet von seinen Pfeilen zu trennen313. Doch am Ende kommt zur Erniedrigung des Helden durch das Heer eine Art Selbsterniedrigung hinzu: Wie die Griechen ihn verabscheut haben, so verachtet er nun sich selbst und kehrt nicht in seine Heimat zurück, sondern sucht sich einen neuen Wohnsitz in Italien. In Troia war er damit natürlich niemals. 312 Aufschlussreich ist, wie einer der wenigen Autoren der Neuzeit, welche die Geschichte aufgreifen, die Sache begradigt: Fénelon, der 1699 in Les aventures de Télémaque das 12. Buch über das Leben des Philoctète teilweise nach Ph8 gestaltet, lässt das zweite Motiv fallen und hebt das Geheimnis um den Tod des Hercule stark hervor, vgl. Fénelon, Oeuvres II, 198f. 313 Die Rolle, welche dieses „Bogen-Mann-Problem“ schon in Soph. Phil. spielt, ist erschöpfend behandelt bei Visser, Untersuchungen, vgl. bes. 6f.
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2. Der verwundete Philoktet
Versucht man, der Geschichte einen Platz im Rahmen der anderen Fassungen zuzuweisen, so fällt zunächst auf, dass sie praktisch keine Beziehungen zur Gruppe Α unterhält. Einzige Ausnahme ist vielleicht der Hinweis, dass das Gift der Pfeile von der Hydra von Lerna stammt, was sowohl einen Bogen zum hydros des alten Epos schlägt (doch dies muss ja, wie schon öfter angedeutet, nicht viel besagen), als auch einen wohlbekannten Gemeinplatz der Heraklessage einkreuzt. Im Übrigen sind die Verhältnisse auffallend klar: Es gibt hier keine Göttin, sondern nur Herkules (β2), und ein Altar ist nirgends erwähnt, dafür finden wir eine ausführliche Geschichte über die wunderbare Bestrafung des Helden (γ). Dennoch ist gerade hier ein Vergleich mit den Fassungen der Geschichte bei Euripides (Ph3) und Sophokles (Ph1) ausgesprochen lehrreich. Ich habe schon darauf hingewiesen, wie sich in Ph1 zum ersten Mal eine Entwicklung andeutet, welche den Schlangenbiss als Strafwunder versteht, wobei Schuld und Sühne sowohl zeitlich als auch inhaltlich zusammenfallen: Auf einen Fehltritt im engsten Sinne des Wortes folgt ein Biss in den Fuss. Dieses Motiv wird in Ph8 wieder aufgegriffen: Zwar werden Verschulden und Strafe in zwei Szenen auseinandergelegt und zeitlich getrennt, doch trifft der fallende Giftpfeil den Helden genau in dem Fuss, mit dem er auf das Grab gestampft hat, um zum Schein sein Schweigeversprechen zu wahren. Da dieses Motiv Ph1 eigentümlich ist, fassen wir damit vielleicht in Ph8 einen sophokleischen Zug, der über das auch von anderen Autoren aufgenommene Motiv des Strafwunders hinausgeht314. Das Motiv vom den Fuss des Helden durchbohrenden Pfeil, zieht allerdings auch eine Linie zu einer ganz anderen Geschichte315: Als Herakles auf dem Weg zum Kampf gegen den Erymanthischen Eber ist, gewährt ihm der freundliche Kentaur Pholos Unterschlupf und bewirtet ihn; er macht für ihn sogar ein ganz besonderes Vorratsgefäss mit Wein auf, das eigentlich nur alle Kentauren zusammen öffnen dürften316. Vom Duft angelockt, eilen die anderen Kentauren herbei, und es kommt zum Kampf mit Herakles, der einige von ihnen mit seinen Pfeilen tötet. Als der Held dann gegen den Eber ausgezogen ist, wundert sich Pholos, dass eine so kleine Waffe einen ganzen Kentauren töten kann und zieht einen Pfeil aus einer der Leichen, um ihn zu betrachten; dabei gleitet er ihm aus der Hand, fällt ihm auf den Fuss und tötet ihn sogleich317. 314 Am nächsten steht möglicherweise die Verbindung von Handverletzung und Zeigehandlung in Ph2; zu einer gewissen Nähe von Ph8 und Ph2 auch Müller, Beiträge, 79f n. 40, und zum Motiv der Pfeilverletzung am Fuss Jung, Symbole, 380. 315 Das Folgende nach Apollod. 2.5.4. Die Quellen gesammelt bei RML 3 (1897–1909) 2416– 2423 s.v. Pholos [O. Höfer]; RE 20 (1941) coll. 516–518 s.vv. Pholoe 1, Pholos [J. Schmidt] 3; LIMC 8 (Supplement 1997) s.v. Kentauroi et Kentaurides. Anhang: Der Kentaur Pholos 706–710 [M. Leventopoulou]; Weiteres bei Masciadri 2008. Wie diese Parallele den Kentauren und Philoktet einander annähert, beschreibt auch Davies 2003, 353 n. 27. 316 Ebenso bei Tzetz. Lyk. Alex. 670, Pediasim.4. 317 Auch der alte Akrisios kommt dadurch ums Leben, dass ihn Perseus unwillentlich mit einem Diskoswurf am Fuss trifft, vgl. Pherekyd. FGrHist 3 F12 = Schol. Apoll. Rhod. 4.1091, Apollod. 2.4.4, Zenob. 1.41, Tzetz. Lyk. Alex. 838; das Motiv fehlt bei Paus. 2.16.2, und abweichend wieder einmal Hyg. Fab. 63.5, wo der Diskos „an den Kopf des Acrisius“ fliegt.
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Die Beziehungen dieser Fabel zu Ph8 sind auf verschiedenen Ebenen auffallend eng: Die Geschichte vom Tod des Pholos wird zweimal in der erweiterten Fassung von Servius’ Vergilkommentar angeführt318, und eine dritte Stelle bezeugt, dass sie schon im Kommentar des Aemilius Asper stand319. Wir sind damit wohl genau auf jener Bahn, auf der auch Ph8 überliefert wurde320. Ausserdem beschränken sich die inhaltlichen Entsprechungen nicht auf den fallenden Pfeil des Herakles: Auch Pholos zeigt ja etwas, was er nicht dürfte, er öffnet nämlich das Vorratsgefäss, das nicht ihm allein gehört – in gewissem Sinne liegt also auch hier eine Strafwundergeschichte vor. In einer Parallelfassung ist ausserdem dieser Wein nicht verboten, sondern von Dionysos ausdrücklich für Herakles bestimmt; dafür ist hier dann das Gefäss in der Erde vergraben, nicht anders als der tote Herkules in Ph8321. Alter und Herkunft dieser Geschichte sind schwer zu bestimmen: Von der Bewirtung des Herakles durch Pholos weiss Stesichoros schon um 600, doch ist damit natürlich noch nicht die ganze Geschichte gegeben322. Das wird klar, wenn man neben unsere Geschichte die Stellen hält, an welchen die Einkehr des Herakles bei Pholos und der Kampf mit den Kentauren berichtet werden, ohne den merkwürdigen und uns hier allein interessierenden Schluss mit dem Giftpfeil anzuhängen323. Dieselbe Schwierigkeit stellt sich bei den nicht wenigen Bildzeugnissen, von denen das älteste, ein kretisches Tonrelief, bis in die Jahre um 600 zurückreicht324, während eine ganze Reihe von Vasenbildern aus der Zeit vom 6. bis ins frühe 5. Jh. stammt: Fast immer sehen wir darauf den Kentaurenkampf oder Herakles und Pholos mit dem Weinfass oder beim Symposion, niemals den Tod des Kentauren325. An der Geschichte, wie sie bei Apollodoros und Diodoros erzählt wird, fällt allerdings nicht nur ihre schön abgerundete Gestalt auf, sondern vor allem, dass ihre Hauptlinie sehr ähnlich ist mit jener von Kallimachos’ berühmtem Kleinepos Hekale: Dort kommt Theseus auf dem Weg zum Kampf gegen den Stier von Ma318 Serv. Verg. Aen. 8.294 [SD], Georg. 2.456 [SD]. 319 Schol. Stat. Ach. 1.238. 320 Vgl. Tomsin, Étude, 21f. Weitere Hinweise auf die Geschichte bei Hyg. Astr. 2.38, Schol. Lucan. 6.391; ganz unsicher ist Phld. Piet. 242 IVa, vgl. Philippson 1920, 268f. 321 Vgl. Diod. 4.12.3–8. In dieser Variante fehlt auch der ausdrückliche Hinweis auf den Fuss als Ort der Verwundung (vgl. Diod. 4.12.8). Zur Herkunft dieses wunderbaren Weins auch Schol. Theokr. 7.149/50a. Zum Motiv des geöffneten Fasses hat v.a. Dumézil, Problème, 176–179 auf die Analogie zu den Pithoigia am attischen Anthesterienfest hingewiesen; vgl. Burkert, HN 254f. Zu vergleichbaren Motiven in nordeuropäischen Sagen Mannhardt, Waldund Feldkulte, 44. 322 Frg. 181 Page (aus der Geryoneis); andere, teils nicht gesicherte, Stellen aus der älteren Dichtung sind Pisand. Frg. 9, Panyas. Frg. 7, Epich. Frg. 78 aus einem Herakles bei Pholos; später auch kurze Anspielungen bei Theokr. 7.149f, Iuv. 12.44f. 323 Polyain. Strat. 1.3.1, Quint. Smyrn. 6.273–282, Tzetz. Lyk. Alex. 670, Hist. Var. 5.116–127, Pediasim. 4. 324 LIMC s.v. Kentauroi et Kentaurides Nr. 358. 325 LIMC s.v. Kentauroi et Kentaurides Nrr. 348–370; Kentaurenkampf: Nrr. 365–370; Herakles und Pholos mit dem Weinfass: Nrr. 351–359; beim Symposion: Nrr. 360–364.
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rathon zu einer alten Frau, die ihn gastlich aufnimmt, doch als er siegreich zurückkommt, findet er sie tot, wie Herakles hier den Kentauren. Letztlich unentscheidbar ist wohl, ob das eine Ähnlichkeit ist, die in einem alten gemeinsamen Grundmuster der Geschichten begründet liegt, oder ob sie eher erst im Verlauf ihrer literarischen Gestaltung so ähnlich geworden sind, d.h. ob nicht die Sage von Pholos in einem ähnlichen verlorenen hellenistischen Epyllion ihre uns vorliegende Gestalt erhalten haben könnte326. Es wird sich zeigen, dass wir auch mit der Variante Ph8 in dieselbe Epoche geführt werden. Wenn in Ph8 der fallende Giftpfeil an die Stelle der Schlange tritt, so ist dies auch ein weiterer Beleg für die im Verlauf dieses Kapitels schon mehrfach angedeutete Parallele zwischen Schlangen und Pfeilen. Im Grunde setzt ja schon die Geschichte von den mit dem Gift der Hydra getränkten Geschossen des Herkules diese Beziehung einfach voraus327, und so ist es nur naheliegend, dass auch die Dichter gelegentlich vergleichbare Bilder gebraucht haben328: Aischylos bezeichnet den Pfeil des Apollon einmal als glänzende geflügelte Schlange329, und Lykophron noch gewagter, wenn auch wieder mit deutlichem Bezug auf die Hydra, den von Herakles geerbten Bogen des Philoktet als krumme Skythenschlange330. Auf der Ebene der Metaphern ist hier die Verwandlung schon vollzogen, die in Ph8 dann handlungswirksam wird331. Es würde trotz alledem überraschen, wenn Ph8 nicht auch Beziehungen zu Ph3 hätte. Tatsächlich wird ja eines der bezeichnenden Motive jener Variante hier wiederholt: Dass Philoktet den Griechen etwas zeigen muss, bildet eine starke Verbindung zwischen den beiden Fassungen, und nur zwischen ihnen. Ich habe ausserdem darauf hingewiesen, dass sich in Ph8 unklare Spuren des Motivs zeigen, dass die Griechen vom Orakel den Auftrag zu einem Opfer an einer dem Herkules heiligen Stätte erhalten haben – auch das entspricht den Verhältnissen in Ph3, die auch, weniger deutlich, in Ph5 aufgegriffen werden. In Ph3 erscheint dieses Orakel in gewissem Sinne auch als Verdoppelung des Spruches des Helenos, nach dem die Griechen Philoktet von Lemnos holen müssen: Es stellt eine weitere Bedingung, die zu erfüllen ist, wenn Troia erobert werden soll, und abermals ist Philoktet allein imstande, die Aufgabe zu lösen. Demgegenüber sind in Ph8 die beiden Orakelsprüche wie in eins verschmolzen: Der Zeitpunkt, zu dem das Orakel gegeben wird, entspricht dem des von Euripides neu eingeführten Orakels (nämlich vor dem Krieg), der Inhalt aber ist jener des alten Spruches des Helenos (dass die Pfeile mitgebracht werden müssen). Es macht hier also den 326 Vgl. die Erwähnung der Geschichte gerade bei Theokr. 7.149f. 327 Hauptbelege sind Eur. Herakl. 1187f, Diod. 4.11.6, Apollod. 2.5.2, Paus. 2.37.4, Hyg. Fab. 30.3, Serv. Verg. Aen. 6.287 [SD]; vgl. RML 1.2 (1886–90) s.v. Hydra coll. 2769f [H. W. Stoll]; LIMC 5 (1990) s.v. Herakles Nrr. 34–43 (Herakles and the Lernaean Hydra) [G. Kokkorou-Alewras]. 328 Vgl. Holzinger, Alexandra, 304 (zu v. 917). 329 Aischyl. Eum. 181: πτηνὸν ἀργηστὴν ὄφιν. 330 Lyk. Alex. 916f: ῥαιβῷ ... Σκύѳῃ δράκοντι. 331 Mit der Metapher einer Schlange (eines Basilisken) werden Pfeile schon in dem sumerischen Gedicht über Lugalbanda bezeichnet, vgl. Jacobsen, Harps, 330 (v. 145).
2.3. Elfmal Philoktet
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Eindruck, als würden Vorgeschichte und Haupthandlung der Euripides-Tragödie gewissermassen übereinander gefaltet. Etwas ganz Ähnliches wiederholt sich am Ende: Wenn die Griechen moralische Skrupel haben, Philoktet einfach die von ihnen benötigten Pfeile wegzunehmen, so kehrt eines der zentralen Probleme wieder, aus denen sowohl die Sophokles-Tragödie wie auch jene des Euripides ihre Spannung bezogen. In beiden Stücken allerdings stellt sich das Problem nicht bei der Aussetzung des Philoktet, sondern erst im Augenblick seiner Rückholung von Lemnos. Insgesamt liegt damit der Gedanke nahe, dass der Erfinder von Ph8 sowohl Sophokles als auch Euripides gekannt haben muss. Nun habe ich schon bei der Behandlung der Überlieferung zu Ph3 darauf hingewiesen, dass es mindestens seit dem späteren 4. Jh. üblich war, Tragödien der drei grossen Tragiker mit demselben Stoff vergleichend nebeneinander zu lesen und dass gerade die drei Philoktet-Dramen gern auf diese Weise behandelt wurden332. Zu dem aus der Überlieferungsgeschichte von Ph8 gewonnenen terminus ante quem in der augusteischen Epoche gewinnen wir damit irgendwo im 4. Jh. einen terminus post quem. Weiter kommen wir vielleicht, wenn wir jene Züge genauer betrachten, die sich nicht so einfach aus diesen beiden Quellen, ja aus keiner der anderen Fassungen überhaupt ableiten lassen: die wichtige Rolle der Pfeile und wie Philoktet sie allmählich verliert. Zu ihrer Erhellung ist es allerdings nötig, den Hinweis auf den unteritalischen Schauplatz am Ende der Geschichte ernst zu nehmen. Über die Stadt Petelia, deren Gründung Philoktet hier zugeschrieben wird, sind wir aus Nachrichten antiker Schriftsteller und durch Ausgrabungen verhältnismässig gut unterrichtet333. Es lag auf dem Gebiet des heutigen Strongoli, einer Siedlung in Kalabrien etwas nördlich von Kroton, die offensichtlich erst seit der Mitte des 4. Jh.s eine Rolle spielt, als sie sich zu einer Festung der in jener Gegend ansässigen unteritalischen Stämme entwickelt. Mit der Anwesenheit einzelner griechischer Siedler, und damit der Begegnung der Italiker mit griechischer Kultur, darf man allerdings wohl schon im 5. Jh. rechnen334. Zu einem gewissen Ruhm gelangte der Ort im zweiten punischen Krieg, als er als einziger in der Re332 Vgl. 2.2.1. 333 Die Gründung durch Philoktet ausser bei Verg. Aen. 3.401f auch bei Strab. 6.1.3, Solin. 2.10; anders Cato Or. Frg. 70 Peter = 3.3. Chassignat (= Serv. Verg. Aen. 3.402 [SD]). Übersichtsdarstellungen zu Petelia bieten: EAA 6 (1965) 94f s.v. Petelia [P.E. Arias]; Enc. Virg. 4 (1988) 48–50 s.v. Petelia [A. Russi], mit vollständiger Übersicht über die ältere Literatur; ausserdem NP 9 (2000) coll. 661f s.v. Petelia [M. Lombardo], wo allerdings die wichtigste Publikation zur Archäologie des Ortes, de La Genière, Épéios, nicht einmal erwähnt ist. Neuere Arbeiten sind Giangiulio 1993 und 1996, 291–295, mit sehr ausführlicher Bibliographie (301–303); Mele 1996, 237f. Die beste Übersicht über Archäologie und Geschichte der ganzen Gegend bieten Lattanzi u.a., Greci; vgl. auch Osanna, Chorai Coloniali, 167–200; de La Genière 1993; Genovese, Santuari, 94–100. 334 Ein Beleg ist das Bronzetäfelchen IG XIV 636 mit einem Privatvertrag des 6./5. Jh.s das schon 1783 bei Petelia gefunden wurde; vgl. Arena, Iscrizioni 78. Das bekannte orphische Goldplättchen von Petelia (IA2 Pugliese Carratelli) stammt aber erst aus dem 4. Jh.; zur Anwesenheit von Griechen in Streusiedlungen ausserhalb der Städte auch de la Genière 1999, 516f; Malkin 1998, 139f und Returns, 221f.
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2. Der verwundete Philoktet
gion treu zu Rom hielt und dafür von den Karthagern nach langer Belagerung vernichtet wurde335. Das passt recht gut zu unserer Geschichte: Philoktet, der erste Vorfahr der Petelianer, hat ebensowenig an der Zerstörung von Troia selbst teilgenommen wie die Bewohner der Siedlung am Kampf gegen die Stadt der Erben der Troianer, der Römer. Was die kulturelle Entwicklung angeht, so gewinnt man den Eindruck, dass sich die Bewohner von Petelia, trotz ihres italischen Ursprungs, spätestens im Verlauf des 3. Jh.s dem allgemeinen Strom der griechisch-hellenistischen Welt angeschlossen haben336. Schon dieser äussere Rahmen legt den Gedanken nahe, dass sich die Stadt in nicht allzu später hellenistischer Zeit auch eine Gründungsgeschichte zugelegt hat, und dass Ph8 gerade diese Überlieferung spiegelt. Was nun die Pfeile des Herkules angeht, so gibt es Nachrichten, dass sie in verschiedenen Heiligtümern in Unteritalien gezeigt wurden337: Wir hören von Thurioi338 und von dem berühmten Tempel des Apollon Alaios in Krimissa339. In diesem letzten Fall sind die Pfeile an eine Überlieferung geknüpft, dass das Heiligtum von Philoktet gegründet wurde, und dienen gewissermassen als Beleg dafür340. Allerdings wird in unseren Quellen bei einer ganzen Reihe von Orten in jener Gegend die Gründung dem Philoktet zugeschrieben, doch ist offensichtlich – neben Petelia – der Tempel des Apollon Alaios der einzige, der in hellenistischer Zeit noch eine Rolle spielte341. Die anderen – wir hören die Namen Chone und Makalla342 – waren entweder rein mythisch oder sind schon früher wieder verschwunden. Die Bürger von Petelia standen damit vor einem Problem: Wie konnten sie die Gründung ihrer Stadt durch Philoktet nachweisen, wenn sie seine Pfeile nicht besassen? Soweit wir wissen, hat sie nämlich dort nie jemand gesehen, ja es gibt sogar halb verdunkelte Hinweise, dass sie dort gerade nicht zu se335 Vgl. Polyb. 7 Frg.1.3 (= Athen.12.36 [528a]) und dann ausführlich Liv. 23.20.4–10, 23.30.1– 5, Val. Max. 6.6 ext. 2, App. Hann. 29.123–127, Frontin. 4.5.18, vgl. Petr. 141.1; andere Episoden des zweiten punischen Kriegs in der Nähe von Petelia bei Liv. 27.26.5f, Plut. Marc. 29.2, App. Hann. 57.239f, 60.250; zur Rolle der Stadt beim Aufstand des Spartacus Plut. Crass. 11.6. 336 Dazu besonders die Inschriften in griechischer Sprache (ab dem 4./3. Jh.) IG XIV.637–640, auf denen auch italische Namen auftauchen (IG XIV 637, vgl. BCH 45 (1921) 24 (IV.85), Suppl.EG 34 (1984) 1008f, 36 (1986) 921), und lateinisch CIL X.112–119; ausserdem die Münzprägung der Stadt, Head, HN 106f. 337 Ein bei Heroengräbern wie bei Reliquien gelegentlich auftauchendes Problem, vgl. Pfister, Reliquienkult, 218–238, 331–336. 338 Iust. 20.1.16. 339 Aristot. Mirab. 107 [840a15–26], Tzetz. Lyk. Alex. 911, 920, Et.M. s.v. Ἀλαῖος. 340 Zum Heiligtum des Apollon Alaios Lattanzi 1991, 71–73; de La Genière 1993; Mertens 1993; die Beziehungen der Pfeile zu verschiedenen Heiligtümern scheinen mit nicht mehr ganz klaren Translationslegenden zusammenzuhängen, vgl. Giangiulio, Ricerche, 229–231; Malkin 1998, 136f und Returns, 216f; Bugno, Sibari, 40f. 341 Zu Krimissa auch Lyk. Alex. 913, Diod. 8.17.1, Strab. 6.1.3, Steph. Byz. s.v. Κρίµισα, Tzetz. Lyk. Alex. 911, 913. 342 Zu Makalla Lyk. Alex. 927, Aristot. Mirab. 107 [840a16f], Schol. Thuk. 1.12.2, Steph. Byz. s.v. Μάκαλλα, Et.M. s.v. Μαλακός, zu Chone Strab. 6.1.3, Steph. Byz. s.v. Χώνη.
2.3. Elfmal Philoktet
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hen waren343. In dieser Lage bietet die Fabel von Ph8 den Entwurf einer Geschichte, in der Philoktet ohne seine Pfeile nach Italien kommt. Damit müssen sie auch als Beweis nicht mehr vorgewiesen werden, oder vielleicht kann man sogar sagen: Gerade die Abwesenheit der Pfeile wird zum Beweis für die Wahrheit der Gründungssage. Ph8 wäre dann eine Art Aition für das Fehlen einer Kultreliquie. In der freien Art, wie verschiedene Sagen und Sagenvarianten zu einem neuen Zusammenhang verbunden werden, erinnert diese Variante insgesamt auffällig an Ph4 und Ph5, doch geht sie Variante in verschiedener Hinsicht noch darüber hinaus: Während auch in Ph5 nicht einfach eine Sagenvariante im Allgemeinen als Quelle auszumachen ist, sondern zwei oder drei ganz bestimmte literarische Texte, die zusammengearbeitet werden, so sind in Ph8 die zugrunde liegenden literarischen Vorlagen zwar ebenfalls noch deutlich zu erkennen. Sie werden jedoch hier nicht bloss kontaminiert, sondern ihre Motive in einer Weise tiefgreifend umgearbeitet, die weniger an die Arbeit eines Literaten erinnert, als an jenen bricolage, den man gemeinhin zu den Kennzeichen populärer Erzählkunst und mündlicher Überlieferung zählt. In ganz ähnlicher Weise hat man beobachtet, wie – längst literarisch gewordene – französische Märchen von den kanadischen Indianerstämmen in ihre mündlichen Erzählungen eingearbeitet worden sind344: Das Verhältnis zwischen Sage und Literatur war also offensichtlich schon im Altertum keine Einbahnstrasse. Man darf vielleicht auch daran denken, dass Petelia eine Stätte kulturellen Austausches war, wo sich indigen-italische Bevölkerung und koloniales Griechentum begegneten. Entsprechend hat man auch schon darauf hingewiesen, dass Philoktet in Unteritalien in der Regel nicht an die Zentren der griechischen Besiedlung geknüpft wird, sondern an Randzonen im Hinterland, wo sich Griechen und Altansässige begegnen345. Einiges von den Merkwürdigkeiten unserer Geschichte, etwa das seltsame Motiv des Herkulesgrabes, könnte also durch die Verschiebungen bedingt sein, welche die Zusammenführung verschiedener Sprech- und Erzählkulturen notgedrungen nach sich zieht. Man könnte geradezu sagen, dass in Ph8 die Motive der bekannteren Fassungen einem Prozess der Kreolisierung unterzogen werden346.
343 Die Schwierigkeit liegt bei der Stelle Sil. Ital. 12.433, wo es nach der Nennung des von Hannibal zerstörten Petelia heisst, die Stadt sei doch einst stolz gewesen, den Köcher des Herkules zu bewahren: Streng genommen zeugt diese Stelle einzig dafür, dass die Waffen des Herkules zur Zeit des Sil. Ital. dort jedenfalls nicht zu sehen waren, was immer vor dem punischen Krieg gewesen sein mag. Spaltenstein, Punica, 183 ad. loc. hält den Zug für eine Erfindung des Sil. Ital. 344 Vgl. Lévi-Strauss, Histoire, 241–255. 345 Vgl. Ampolo 1992, 230–232; Mele 1996, 237f; Malkin 1998 und Malkin, Returns, 214–226; grundsätzliche Überlegungen in derselben Richtung, schon bei Prinz, Gründungsmythen, 163–165. 346 Zum linguistischen Begriff der Kreolisierung als Etablierung und Verfestigung, Gewinn an Komplexität und Systemautonomie eines als vereinfachte Kontaktsprache entstandenen Pidgins vgl. ELL 6 (1994) 3177–3188, bes. 3180, 3183–3185, 3187; zu seiner Anwendung als allgemeines kulturwissenschaftliches Konzept Burke, Kulturgeschichte, 177.
3. DIE STADT DER FRAUEN 3.1. VON FREMDEN LÄNDERN UND MENSCHEN 3.1.1. The isles of Greece, the isles of Greece! In den bisherigen Kapiteln habe ich vor allem auf zwei Wegen versucht, mythische Geschichten miteinander ins Gespräch zu bringen: Eine Sequenz von Sagen mit einem gemeinsamen Motiv stand im Mittelpunkt der Einführung; Schlangen spielten dabei überall eine Schlüsselrolle, und so kamen wir von Melampus über Laokoon und die Griechen in Aulis zur Verwundung des Philoktet. In einem zweiten Schritt habe ich diesen letzten Mythos aufgefächert, und versucht, alle ihn betreffenden Überlieferungen in ein System zu bringen. Damit bildete nicht mehr ein Handlungsmotiv das einigende Band unter den betrachteten Geschichten, sondern der Name des Helden Philoktet; zugleich wurde unser Blick von den Gemeinsamkeiten zwischen den Varianten weg und auf die feinen Unterschiede gelenkt. Bei der allerletzten, jener über Philoktet und die Gründung von Petelia, ist von der anfangs gegebenen Sage sogar nicht mehr viel übrig geblieben – nicht einmal die Schlange, deretwegen wir in der Einführung auf Philoktet aufmerksam geworden sind. Die Erzählungen, die ich in den folgenden Kapiteln untersuche, verknüpfen sich weder über gemeinsame Motive, noch über den Namen eines Helden, sondern allein dadurch, dass sie derselben Landschaft zugehören, wie die Verwundung des Philoktet. Bis jetzt war ja der Schauplatz dieses Vorfalls einfach eines der Kennzeichen, um Varianten voneinander abzusetzen1. Einen eigenen Wert oder besondere Aufmerksamkeit habe ich diesem Aspekt der Geschichten nicht zugestanden. Untersucht man allerdings die Frage im Einzelnen, so zeigt sich, dass sehr oft der Nachbarschaft von Geschichten im Raum nicht nur Beziehungen unter den handelnden Personen entsprechen – meist verwandtschaftliche Verhältnisse –, sondern auch solche auf der Ebene der Erzählmotive. So verwandeln sich die vielfältig gebrochenen Spiegelungen, in denen die Sagen aufeinander Bezug nehmen, in einen Diskurs, der die symbolische Ordnung eines zugleich gesellschaftlichen wie geographischen Raums erstellt. Mythen dienen damit auch der Abgrenzung und Verknüpfung von Lebensräumen. Die enge Beziehung zwischen Mythos und Territorium hat die Forschung seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder beschäftigt: Oft erklärte man es für eine ihrer Hauptaufgaben, die Sagen zu lokalisieren und hoffte, so trennen 1
In der älteren Forschung wurde der Ort der Verwundung öfter sogar als Hauptmerkmal behandelt, wonach die verschiedenen Fassungen der Sage einzuteilen seien, so noch Müller, Beiträge 21, 11 mit n. 2, Kommentar, 27f, 40f, 51 mit n. 37; auch Froning, Dithyrambos, 60, Schnebele, Quellen, 109–111, 116f.
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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zu können, was alt und ursprünglich und was bloss später hinzugesetzt sei2. Da die Geschichten schon von den antiken Erzählern immer wieder mit einzelnen Landschaften und Siedlungen verknüpft werden, nicht selten auch mit einer bekannten Kultstätte, hielt man dies nicht nur für ein im allgemeinen leichtes Geschäft, sondern glaubte, damit sei das Wesentliche schon geleistet. So erschöpfte sich die Untersuchung der lokalen Züge eines Mythos in der Zuordnung seiner Hauptgestalt zu einer Kultgemeinde, und indem man der Dimension der mythischen Namen allein folgte, liess man die Frage nach dem Inhalt der einzelnen Erzählungen auf sich beruhen. Schliesslich schrieb man einzig dem lokalen Kult eine gemeinschaftsbildende Wirkung zu, während die Geschichten, die sich darum rankten, mit beliebigen, überall wiederkehrenden Erzählmotiven, spät eben, wie man meinte, ausgeschmückt schienen3. Auf diese Weise wurde nicht zuletzt die Geschichtlichkeit der Mythen als etwas ihnen von aussen Aufgeprägtes verstanden, nicht als eine der Dimensionen, in denen sich die Erzählung aus sich heraus entfaltet. Demgegenüber will ich im Folgenden – unter anderem – zeigen, wie erst eine sorgfältige Beobachtung der beweglichen Umgestaltung von Handlungsmotiven, die einander in den verschiedenen Erzählungen entsprechen, verständlich macht, welche Rolle sie für die Bestimmung der symbolischen und wirklichen Räume spielten, in die sie eingeschrieben sind. Weil ich den Ort, wo Philoktet gebissen wurde, noch nie eingehend behandelt habe, muss ich nun zuerst die Überlieferung klären. Ich beginne mit einer Zusammenstellung der Belege für die einzelnen Schauplätze4: Chryse: Ph1 (vgl. Ph1/Ph1b mit Soph. Phil. 269f, ausserdem Ph1d), Ph3 (Ph3e/Ph3f), Ph6/Ph6a, Ph10b, Paus. 8.33.4, Eusth. Hom. Il. 2.723 [330.2f] Lemnos: Ph4, Ph7, Ph10, Ph10a, [Hesych. s.v. Νέα5] Tenedos: Ph9, Ph11, Schol. Hom. Il. 2.721a, Porphyr. Frg. 395 Smith = Eusth. Hom. Il. 2.723 [330.1f]. Neai: Ph3b, Steph. Byz. s.v. Νέαι, Suid. s.v. Νέαι Imbros: Schol. Hom. Il. 2.721a, Porphyr. Frg. 395 = Eusth. Hom. Il. 2.723 [330.1f]. 2
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So ausdrücklich schon Müller, Prolegomena, 226, der 226–236 die Bedeutung des Lokalen für die Mythologie überhaupt behandelt. Die Sinnrichtung von Müllers Ansatz ist doppeldeutig: Burkert 1980, 164f spricht bei dessen Vorstellung von griechischer Frühgeschichte vom „Ideal einer völkischen Urzeit“ und Momigliano 1984, 272 sieht gar einen Hang zu „Blut und Boden“ mysticism am Werk – in beiden Urteilen wird die Gedankenwelt eines Spätromantikers auf fragwürdig vorausdeutende Weise in Wertbegriffe projiziert, die erst im späteren Verlauf der deutschen Geschichte ihre unangenehme Bedeutsamkeit gewonnen haben; charakteristisch für eine solche prospektive Lesart der Forschung des 19. Jahrhunderts auch die Erwägungen bei Lincoln, Myth, bes. 73–75; ausgewogener die Darstellung bei Graf, Mythologie, 28f, der die zukunftsweisenden historistischen Züge bei Müller hervorhebt, die eine moderne, soziologische Mythenbetrachtung vorbereiten. Mustergültig mit Bezug auf die hier untersuchten Geschichten Pettazzoni 1909, 171: Non forse la patria dell eroe è un espressione mitica riflettente il legame intimo fra il mito di Philoktetes e quella religione locale nella quale esso avrebbe radice? Vgl. die Übersicht bei Jouan/Van Looy, Euripide VIII/3, 274 n. 16. Die Stelle bei Hesych. sagt allerdings von Nea als Stätte der Verwundung, es sei „ein Ort auf Lemnos“; zum teilweise problematischen Text vgl. p. 120 mit n. 43.
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3. Die Stadt der Frauen
Nicht alle Zeugnisse zu den untersuchten elf Varianten des Mythos liefern einen Namen für den Ort des Geschehens: Ph2 und Ph8 schweigen ebenso wie einzelne der Belege für den Philoktet des Euripides (Ph3c, Ph3d). Dazu kommt die ganz abweichende Darstellung in Ph5, wo die Griechen schon in der Gegend von Troia gelandet sind – dies allerdings, wie gezeigt, als Folge merkwürdiger Umdeutungen der Überlieferung6. Dafür treten neben die oben aufgelisteten Stellen zwei indirekte Zeugnisse: erstens zu Ph3 das Papyrusfragment einer in Prosa abgefassten Hypothesis zu Euripides’ Philoktetes, woraus zumindest hervorgeht, dass Philoktet nicht auf Lemnos, sondern irgendwo in der Nähe verwundet wurde7. Dazu kommt der verschlüsselte Hinweis bei Lykophron, der die Schlange kenchrines als Übeltäterin nennt, von der er vielleicht bei Nikandros gelesen hatte, dass sie auf den thrakischen Inseln, besonders Lemnos und Samothrake, vorkam8. Diese Zeugnisse lassen sich nach ihrer Herkunft ordnen: Da stehen auf der einen Seite jene Texte, die aus Tragödien stammen (Ph1, Ph3), aus Kommentaren zu den Tragikern (Ph6, Ph7) oder aus dem mythologischen Buch des Hyginus (Ph4): Hier wird überall Lemnos, das nahe gelegene Chryse oder eine ähnliche Insel als Schauplatz genannt, und ich habe sie deshalb in der Variantenklasse Β zusammengefasst. Zur Klasse Α gehören jene Stellen, die Tenedos erwähnen; sie weisen aufs alte Epos (Ph9, Ph11) und die dazugehörigen Kommentare. In den grossen Sammelwerken des byzantinischen Hochmittelalters, die verschiedene Quellen zusammengiessen, werden auch hier die Verhältnisse verwischt9. Die Belegdichte für die einzelnen Orte ist sehr ungleich. Neben der grossen Zahl von Nennungen der Insel Chryse, die natürlich mit der breiten Wirkung des Euripides zusammenhängt, stehen nur ganz wenige für Neai oder Imbros. Doch auch um Lemnos selbst ist es nicht viel besser bestellt, obwohl dieses als Ort der Verbannung des Philoktet und als Schauplatz der Dramen über seine Heimholung sehr fest mit unserer Geschichte verbunden ist10. Von den vier Belegen ist Ph10 die unmittelbare Quelle für Ph10a, während Ph10b wohl nur als Folge einer irrtümlichen Verschmelzung zweier Quellen durch Tzetzes die Insel Chryse zum Schauplatz macht11. Dazu kommen Ph4 und Ph7, auf deren besonders engen Zusammenhang ich bereits mehrfach hinzuweisen hatte12. Alles in allem gibt es also drei nahe verwandte Varianten, in denen Lemnos, der Ort der Aussetzung des 6 7 8 9 10
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Vgl. 2.3.3. Hypoth. Eur. Phil. PapOx. 2455 Frg. 17 = Eur. Phil. Test. iii a Kannicht. Lyk. Alex. 912 / Nik. Ther. 458–463, vgl. oben 2.3.1. Vgl. Ph10 und zum Einzelnen oben 2.3.1. Die Bedeutung des Philoktet für Lemnos, zeigt sich an den Ortsnamen auf der Insel, die sich mit ihm verbinden: Akesa, zu ἀκέω (heilen), hiess eine Flur, mit der angeblich der Heros nach seiner Heilung belehnt wurde (Philostr. Her. 28.6), zum Flurnamen Nea und zum Vorgebirge Chryse unten pp. 118, 120 und n. 76 ; ausserdem gab es einen Felsen, der nach seiner Form Drakon, die Schlange, hiess (Philostr. Dial. 2 [259.28 Kayser], vgl. Beschi 1997, 33) – schwer vorzustellen, dass dabei niemand an die Schlange des Philoktet gedacht haben soll. Vgl. 2.2.4 zu Ph10. Vgl. 2.2.2 und 2.3.5.
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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Philoktet, zugleich der Ort seiner Verwundung ist. In der Mehrzahl der Fassungen wird der Held aber anderswo verletzt, ehe man ihn zur Verbannung oder zur Behandlung nach Lemnos bringt. Unter den Orten der Verwundung befinden sich nun einerseits Tenedos, Imbros oder eben Lemnos, also noch heute bekannte Inseln, anderseits mit Chryse und Neai zwei Namen, die sich nicht ohne weiteres an bekannte Örtlichkeiten anknüpfen lassen. Die sicher bestimmbaren Inseln bilden auf der Landkarte zusammen mit dem heutigen Agios Evstratios – das man gewöhnlich mit dem antiken Halonnesos gleichsetzt13 – eine geschlossene Gruppe, die das nördlichste Ägäisbecken, das thrakische Meer, nach Süden begrenzt. Man zählt sie entweder, etwas ungenau, mit den an der anderen Seite des Thrakischen Seebeckens gelegenen Thasos und Samothrake zu den thrakischen oder versammelt sie gesondert unter dem Namen der Hellespontischen Inseln14. Als Landeplatz auf dem Zug nach Troia oder auf der Fahrt der Argonauten nach Kolchis, dem sagenumwobenen Reich am hintersten Ende des Schwarzen Meeres, wirken diese Inseln allerdings einleuchtend gewählt. Tatsächlich dienten sie ja nur schon dank ihrer Lage immer wieder als Sammelplätze für Kriegsflotten auf dem Weg nach Norden und Osten, und Lemnos mit seinen vorzüglichen Häfen spielte dabei die Hauptrolle. Bekannt ist etwa aus jüngerer Zeit, wie die Engländer beim Angriff auf die Dardanellen im ersten Weltkrieg ihre Marine in den Buchten von Lemnos stationierten. Entsprechend ist die Insel noch heute die wichtigste Basis der griechischen Luftwaffe in der Nordägäis, und der Reisende stösst vielerorts auf militärische Sperrgebiete, Stacheldraht und Photographierverbote15. Dem seefahrenden Kaufmann des Altertums mussten die Hellespontischen Inseln freilich ebenso vertraut sein: Gerade im Sommer, wenn die Schiffahrt in der Ägäis ihren Höhepunkt erreicht, liegt das Meer hier nicht nur unter den tagsüber gleichmässig von Norden blasenden Etesien; unruhige Fallwinde aus 13
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Vgl. Lauffer, Griechenland, 248 mit älterer Literatur. Mit wie vielen Unsicherheiten die Identifikation (durchgesetzt von Fredrich, Halonnesos, 14–18) behaftet ist, zeigt RE Suppl. 3 (1918) 880–883 s.v. Halonnesos [L. Bürchner]; eine Schilderung von Agios Evstratios bei Lehmann, Inseln 4, 421–438, dort 425 auch skeptische Vermutungen zur Gleichsetzung mit Halonnesos. Vgl. die Übersichtskarte p. 15. Allgemeine Einführungen zu Geographie, Geologie und Klima der Ägäisinseln finden sich bei Lienau, Griechenland, 265–271 und Koder, Pelagos, 57–70; spezieller zu Erdgeschichte und geologischer Struktur der Region zwischen Thrakien und den Dardanellen die auch für Laien lesbare Arbeit von Higgins, Companion, 114–129. Unter den älteren landeskundlichen Darstellungen galt lange Philippson, Meer als grundlegend, dort 219–232 über die Hellespontischen Inseln, ausserdem 20–22, 37 sowie im Anhang die Karte Der Nordteil des Aegaeischen Meeres zu deren Unterscheidung von den Thrakischen Inseln; vgl. auch Lehmann, Inseln 4, 420. Beide Gruppen als Einheit behandelt Koder, Pelagos, 62– 68, ebenso schon Intelligence, Geography, 365–392, eine weniger bekannte, doch ausgezeichnete, ursprünglich als Spionagehandbuch für die Royal Navy angelegte Landeskunde. Zu Flotten in Lemnos Demosth. Or. 4.32, Eusth. Hom. Il. 23.745 [1327.55f] und allgemein Arena 2002, 319–321; zur Neuzeit Lauffer, Griechenland, 380; im 20. Jh. führte die Lage der Insel zu Kontroversen um ihre Militarisierung vgl. Lienau, Griechenland, 270; weiteres zu Lemnos unten p. 129f.
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3. Die Stadt der Frauen
dem thrakischen Gebirge und dem Athos kommen hinzu, sowie eine Luftströmung, die unablässig und heftig aus den Dardanellen gegen die Ostküste von Lemnos bläst16. Diese Inseln als Ort zu betrachten, wohin man sich zurückgeworfen sieht oder wo man gegen seinen Willen aufgehalten wird, dürfte den Erzählern unserer Geschichten nur zu nahe gelegen haben17. Weniger einheitlich ist das Bild, wenn man fragt, welche Geschichten in dieser Gegend heimisch sind. Am wenigsten erfährt man über Imbros, auch wenn dessen Name sich bis in die mykenische Zeit zurückverfolgen lässt und die Insel seit den Anfängen der Literatur genannt wird18: schon die Götter der Ilias kommen gelegentlich dort vorbei, wenn sie Troia verlassen19, Poseidon stellt in einer unterseeischen Höhle in der Nähe seine Pferde unter20, und Imbros ist auch die Heimat jenes Eetion, der den von Achilleus an Euneos von Lemnos veräusserten Lykaon wieder freikauft21. Inwiefern diese Berichte vorgefundene Sagen verwerten, in denen die Insel eine Rolle spielte, ist schwer zu sagen. Für unser Auge überwiegt der Eindruck, dass hier zu den kämpfenden Kriegslagern das Bild eines Hinterlandes hinzuerfunden wird, in dem die hellespontischen Inseln in landschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen erscheinen, die mehr oder weniger an die wirklichen Verhältnisse anschliessen22. Enger an die Insel selber geknüpft erscheinen die Berichte, die den Kabiren und Hermes dort eine besondere Rolle zuschreiben, doch werde ich auf diese noch gesondert zurückkommen. Jedenfalls kennen wir über Imbros keine zusammenhängenden Sagen, und entsprechend rätselhaft bleibt der Hinweis auf die Verwundung des Philoktet, zumal allein der Schlangenbiss ohne Erzählzusammenhang überliefert ist. Die Quelle, aus der er stammt, scheint freilich bemerkenswert: es sind die Homerischen Forschungen des Philosophen Porphyrios aus dem 3. Jh. n. Chr., denen Eustathios die Stelle ausdrücklich zuweist und auf die also wohl auch Schol. Hom. Il. 2.721a zurückgeht. Porphyrios hat seinerseits reiche und gute Quellen verarbeitet, Kommentare wie Spezialuntersuchungen über Homer23, und so liegt der Gedanke nahe, dass sich hinter dem Hinweis auf Philoktet in Imbros eine weitere 16 17 18
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Zu den Windverhältnissen in der nordöstlichen Ägäis Intelligence, Geography, 367, Koder, Pelagos, 68–70 und die eingehende Untersuchung bei Rauh, Klimatologie, 13–26. Wie das Motiv der Insel sich in der frühgriechischen Dichtung immer wieder mit jenem von piège et prison verbindet, hat Villatte, Insularité, 31–37 gezeigt. Mykenisch belegt ist ein Ethnikon i-mi-ri-jo (wohl Imrios = Ἴµβριος: KN Db 1186), vgl. Parker 1999, 496. Kurze Schilderungen der Insel bei OCD s.v. Imbros [D. G. J. Shipley], NP 5 (1998) 949 s.v. Imbros [H. Kalcyk] und Koder, Pelagos, 63f (auch 177–179); ausführlicher Müller, Kleinasien, 846–850. Der an diesen Stellen aufgeführten älteren Literatur hinzuzufügen ist Fredrich, Dardanellen, 63–83: Diese populäre Darstellung enthält viele landeskundliche Beobachtungen, die in den meist allein zitierten akademischen Arbeiten des Autors fehlen. Weiteres zu Imbros unten 4.3.4.b. Hom. Il. 14.281, 24.78. Hom. Il. 13.32–38. Vgl. unten 3.1.4. Noch weniger besagen frühe Belege wie Hymn. Hom. 3.36 und Archil. Frg. 142.3 West. Vgl. Erbse, Beiträge, 40–77.
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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Fassung der Geschichte verbirgt, von der sich heute höchstens noch sagen lässt, dass sie vielleicht einmal Teil eines Gewebes von Geschichten war, das die ganze Gruppe der hellespontischen Inseln zugleich zusammen- und auseinanderhielt: ein mythisches Netzwerk gewissermassen, von dessen Schnüren und Knoten wir nur noch den kleinsten Teil aus den Trümmern unserer Überlieferung wiedergewinnen können. 3.1.2. Der Erdtaucher Wie schon angedeutet, lassen sich die Namen der Inseln Chryse und Neai heute nicht mehr an bestimmte Örtlichkeiten knüpfen. Die antiken Autoren berichten Widersprüchliches und die modernen Handbücher haben nicht viel zur Klärung beigetragen24. So empfiehlt es sich auch hier, mit einer Übersicht darüber zu beginnen, was in den Quellen wirklich steht. 3.1.2. a) De Chryse insula Zunächst ist festzuhalten, dass nicht jede Erwähnung einer Gottheit namens Chryse auch schon auf eine ihr gehörende Örtlichkeit verweist25. Zum einen gibt es Stellen, wo Chryse als Beiname der Athene auf Lemnos selbst erscheint (Ph10, Ph10a), anderseits kommt es vor, dass Athene ohne Beinamen in Chryse auftritt (Ph3f, Ph10b). Dennoch wird auch ein paar Mal der Ortsname klar mit der gleichnamigen Gottheit verbunden26. Diesen Ort Chryse bezeichnen die Zeugnisse als Insel27, und genauso scheint es sich Sophokles vorgestellt zu haben, wenn er Philoktet zu Schiff „von Chryse im Meer“ nach Lemnos kommen lässt28. Sodann erfahren wir, dass dieses Chryse ziemlich nahe bei Lemnos liegt, wofür wieder Sophokles der erste Zeuge ist29. Nur drei Stellen liefern Angaben, die über diesen Kern hinausgehen: Ph1d spricht von einer „Gemeinde (polis) Chryse nahe bei Lemnos“, stellt sich den Ort also nicht als ödes Eiland, sondern bewohnt vor. Ganz ähnlich klingt es in dem geographischen Lexikon, das ein gewisser Stephanos von Byzanz im 6. Jh. n. Chr. 24
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Vgl. RML 1 (1884–1890) 901 s.v. Chryse [L. v. Sybel], RE 3 (1897) 2486f s.v. Chryse 2) und 3) [L. Bürchner], NP 2 (1997) 1176 s.v. Chryse a) [H. Kalcyk]; RE 16 (1935) 2101f s.v. Nea(i) [R. Herbst], NP 8 (2000) 770 s.v. Nea [A. Külzer]; alle diese Artikel hängen letztlich ab von der in vielem längst überholten Arbeit von Heinrich, Chryse, 1–14, der zum Beispiel 13f die Verlegung des Schlangenbisses nach Tenedos für eine der jüngsten Varianten des Mythos hielt. Wie die Dinge heute noch durcheinander gewürfelt werden, zeigt auch Phillips/Clay, Philoctetes, 102 (zu Soph. Phil. 194). Über die Nymphe Chryse vgl. 2.3.4f. Ph1d, Ph6 und Eusth. Hom. Il. 2.723 [330.2f]. Ph1d, Ph6, Paus. 8.33.4, Eusth. Hom. Il. 2.723 [330.2f]. Soph. Phil. 269f. Soph. Frg. 384, vgl. Ph3e, Ph6, Paus. 8.33.4.
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3. Die Stadt der Frauen
zusammengestellt hat und das uns fast nur in einer späteren, stark gekürzten Bearbeitung erhalten ist30: Chryse: die Gemeinde des Apollon nahe bei Lemnos. So Sophokles in den Lemnierinnen31: "O Lemnos und ihr angrenzenden Gaue von Chryse" und in den Kriegsgefangenen32: "Ich wohne33 in diesem Killa und Chryse". Es gibt auch andere Gemeinden mit dem gleichen Namen Chryse und viele Orte ... auch ein Vorgebirge bei Hephaistia auf Lemnos, welches in Richtung Tenedos blickt.
Hier belegt das zweite Sophokleszitat, dass Stephanos zwischen Chryse in der Troas mit seinem Apollonheiligtum und der Insel bei Lemnos keinen Unterschied macht. Ich erinnere daran, dass dieselbe Übertragung von der Insel auf die Festlandgemeinde sich auch im Troiaroman des Diktys findet34. Damit ist wohl auch das Zeugnis des Stephanos weniger der Irrtum eines spätantiken Kompilators als Rest einer uns nur noch in Bruchstücken fassbaren Deutungstradition. Ph1d spiegelt entweder dieselbe Überlieferung, oder hängt schon unmittelbar von dem viel benutzten Handbuch des Stephanos ab35. Dessen Hinweis auf das gleichnamige Vorgebirge bei Hephaistia allerdings klingt dann doch wieder wie ein Stück echter Lokalkenntnis. Besonders wichtig ist schliesslich eine Stelle bei Pausanias36: Eine eher kurze Strecke zu Schiff von Lemnos entfernt befand sich die Insel Chryse, auf der auch, wie man sagt, dem Philoktet das Unglück mit der Natter passiert sein soll. Diese hat eine Woge ganz verschlungen, und Chryse ist untergetaucht und in der Tiefe unsichtbar geworden.
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Steph. Byz. s.v. Χρύση; vgl. OCD 1442 s.v. Stephanus of Byzantium [R. Browning], NP 11 (2001) 958f s.v. Stephanos [7] von Byzanz [H. A. Gärtner]. Soph. Frg. 384, zu den Lemnierinnen unten 3.3.2.b. Soph. Frg. 40. Das Verb fehlt in den Handschriften; die verschiedenen Ergänzungen (etwa νέµω [Meineke], ἔχω [Casaubon]) heissen alle etwa dasselbe, aber der Satz kann auch ganz anders weitergegangen sein. Ph5, dazu oben 2.3.3. Dieser Zusammenhang spricht auch gegen die von Heinrich, Chryse, 2 vertretene Auffassung, πόλις stehe hier einfach spätgriechisch für νῆσος. Wo eine solche Bedeutung belegt ist, handelt es sich stets um einen aus dem Kontext verständlichen Tropus (Hom. Il. 14.230, Eur. Ion. 294, Frgg. 658, 730, Aristoph. Pax 251, Lys. Frg. 342 u.a.), der von den antiken Kommentatoren diskutiert wird (vgl. Schol. Hom. Il. 14.230, Schol. Aristoph. Pax 251a, Strab. 8.3.31, Harp. Lex. s.v. Κεῖοι, Poll. 9.27) und den man fälschlich zur Sonderbedeutung des Wortes hat versteinern lassen. Das Frg. Trag. Adesp. 262: „Das Pythische Allerheiligste: gemeint ist das Heiligtum in Chryse, nämlich jenes des Apollon“ (= Hesych. s.v. Πυѳίων ἀνακτόρων) wird TrGF II, 82 mit Soph. Frg. 384 verbunden und gedeutet: de Chrysa insula Apollini sacra. Doch die Insel Chryse hat ausserhalb der die gleichnamigen Orte identifizierenden Tradition über den Schlangenbiss nichts mit Apollon zu tun, und Frg. Trag. Adesp. 262 geht deshalb wahrscheinlicher auf das bekannte Heiligtum in der Troas (dazu oben 2.3.2.b); vgl. Pearson, Fragments II, 53 zu Soph. Frg. 384. Paus. 8.33.4.
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
119
Fasst man zusammen, was wir bis hierhin erfahren haben, so ergibt sich: Chryse war eine Insel in der Nähe von Lemnos. Fast immer wird sie in direktem Zusammenhang mit dem Schlangenbiss des Philoktet erwähnt, und selbst das einzige Zeugnis, das nicht ausdrücklich darauf Bezug nimmt37, stammt aus einem Stück, das Die Lemnierinnen hiess, also ein Thema aus der Mythologie der Insel behandelte. So ist vielleicht auch dieser Vers als Hinweis auf die andere lemnische Geschichte, die von Philoktet, gemeint. Zur Zeit des Pausanias schliesslich war Chryse nirgends mehr zu sehen, angeblich hatte sie das Meer verschluckt. Es empfiehlt sich, mit dem Urteil über diese Überlieferungen zurückzuhalten, bis wir jene über Neai geprüft haben. 3.1.2. b) Περὶ τῶν Νεῶν Von diesem Inselchen ist zuerst bei Antigonos von Karystos die Rede, einem Autor, der wahrscheinlich in hellenistischer Zeit eine Sammlung von geographischen und naturkundlichen Kuriositäten, sogenannten Paradoxa, zusammengestellt hat38: Auf den Inseln der Lemnier, die man Neai nennt, leben keine Rebhühner, und wenn man welche hinbringt, sterben sie. Einige berichten noch Erstaunlicheres, nämlich [dass sie schon sterben], wenn sie das Land bloss sehen.
Unser zweiter Autor ist ein Römer, der ältere Plinius, der an zwei Stellen in den geographischen Büchern seiner Naturgeschichte auf Neai zu sprechen kommt; wir stossen demnach auf eine ähnliche Art Literatur wie bei Antigonos. In einer Passage, wo er Vermutungen über eine mögliche „Ursache für das Entstehen von Ländern“ anstellt, schreibt Plinius39: Auch auf andere Weise entsteht Land und taucht plötzlich aus einem Meer auf, wie wenn die Natur immer auf ihren inneren Ausgleich bedacht wäre und, was ihr Aufklaffen an einer Stelle verschlingt, an einem anderen Ort zurückgäbe. Seit jeher waren die Inseln Delos und Rhodos deswegen berühmt, und später sind kleinere entstanden, wie Anaphe jenseits von Melos, Neae zwischen Lemnus und dem Hellespont, Halone zwischen Lebedus und Teos, unter den Kykladen im 4. Jahr der 135. Olympiade [= 237] Thera und Therasia, und zwischen ihnen 40 Jahre später Hiera, das auch Automate genannt wird.
Hier ist also Neai in einer Reihe von Inseln genannt, die aus dem Meer aufgetaucht sind. In einer anders gearteten Liste begegnet der Name an der zweiten Stelle40: 37 38
39 40
Soph. Frg. 384. Antig. Kar. 9.1f. Die Zuschreibung dieser Sammlung an den hellenistischen Autor ist umstritten. Vereinzelt wird die Auffassung vertreten, sie sei erst in byzantinischer Zeit aus verschiedenen Quellen zusammengeschrieben worden, vgl. Dorandi, Antigone, xiv–xvii. Mit den dort vorgetragenen Argumenten lässt sich allerdings jedes Werk der antiken Literatur, das allein in einer mittelalterlichen Abschrift erhalten ist, für eine byzantinische Fälschung erklären. Plin. Nat. 2.(88f).202. Plin. Nat. 4.(23).72.
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3. Die Stadt der Frauen Vor dem Golf von Pagasai liegen Euthia, Cicynethus, das bereits erwähnte Scyrus, ... vor dem Golf von Thermai Iresia, Solymnia, Eudemia und Nea, welches der Minerva heilig ist.
Der erste Text, der Neai als Ort der Verwundung des Philoktet nennt, ist das wahrscheinlich aus hadrianischer Zeit stammende Gedicht des Besantinos41. Ausserdem gibt es zwei Belege aus Wörterbüchern, die gegen Ende des Altertums entstanden. Im Lexikon des Alexandriners Hesychios aus dem 5. Jh. n. Chr. können wir lesen42: Nea: Neubrüche [d.h. neu urbar gemachtes Land]. So heisst auch ein Ort auf Lemnos, wo angeblich Philoktet gebissen wurde43.
Die letzte Stelle findet sich wieder im geographischen Lexikon des Stephanos von Byzanz44: Neai: eine Insel nahe bei Lemnos, auf der nach einigen Philoktet von der Natter gebissen wurde. Sie hat den Namen davon, dass Herakles dorthin geschwommen ist.45
Das etymologische Wortspiel mit dem Namen Ne-ai und dem Verb ne-cho (schwimmen), mit dem diese Stelle schliesst, erinnert an die Vorgeschichte des Altars, an dem Philoktet gebissen wurde: Herakles war ja sowohl auf dem Argonautenzug mit dabei, als der Altar gebaut wurde, als auch beim ersten Troiazug, als Philoktet ihn kennen lernte46. Dass die Überlieferung die Namengebung der Insel an den früheren Besuch des Herakles mit den Argonauten knüpfte, ist wohl das Wahrscheinlichere. Darauf hinzuweisen ist schliesslich, dass eine Insel Neoi seit Mitte des 9. Jh.s n. Chr. gelegentlich in byzantinischen Texten vorkommt; dann meint die Bezeichnung eindeutig das heutige Agios Evstratios47. Diese Überlieferung ist also auf den ersten Blick verhältnismässig reichhaltig: wir bekommen Hinweise auf die Lage der Insel und eine Etymologie, und wir erfahren ausser Mythologischem auch naturgeschichtliche Kuriositäten. Während Chryse für uns nur ein Name aus der Philoktetsage ist, entsteht hier der Eindruck, wir hätten es mit einer wirklichen Insel zu tun. Leider erweisen sich die Angaben genau besehen als nicht frei von Widersprüchen. Das beginnt schon beim Namen: Der Singular Nea begegnet bei Hesychios und an der zweiten Stelle bei Plinius. Die erste hat, wie alle anderen, den Plural Neai. Zur ungleichen Form treten widersprüchliche Ortsangaben: Neai soll 41 42 43
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Ph3b, vgl. 2.2.1.c. Hesych. s.v. Νέα. Der Text dieser Stelle ist unsicher: Der Nebensatz mit dem Hinweis auf Philoktet steht in der handschriftlichen Überlieferung des Hesych. bei einem anderen Lemma drei Zeilen weiter oben, wo er sicher nicht hingehört, und ist erst von den modernen Herausgebern zu der Glosse über Νέα übertragen worden. Steph. Byz. s.v. Νέαι. Aus dieser Stelle übernommen ist wohl der Eintrag bei Suid. s.v. Νέαι: „Neai: eine Insel bei Lemnos, von νέω, schwimmen, zu der, wie man sagt, Herakles hingeschwommen ist. Nach einigen ist Philoktet dort von der Natter gebissen worden.“ Vgl. 2.3.4.a. Belege und Diskussion bei Koder, Pelagos, 240–242.
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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nach Plinius zwischen Lemnos und dem Hellespont, d.h. nordöstlich von Lemnos liegen, Nea hingegen vor dem Golf von Thermai, was zwingend in den Westen von Lemnos führt. Diese zweite Ortsangabe passt einigermassen auf Agios Evstratios, das byzantinische Neoi. Allerdings weist Plinius auch darauf hin, dass die Insel Nea der Minerva, also der Athene heilig sei. Dies führt zurück zu Ph3b, wonach der Altar der Argonauten auf Neai der Athene gegolten habe. Die Ortsangaben zu Neai in Ph3b sind schwer zu deuten. Wenn sie nicht poetisch frei, sondern genau zu verstehen sind (was keineswegs feststeht), so passt das thrakische Neai zwar zu beiden Stellen bei Plinius, doch da Myrina an der Westküste von Lemnos liegt, müsste der Ausdruck Neai nahe bei Myrina das Nea des Plinius meinen. Aus all dem ergibt sich mehreres: Erstens setzt offenbar schon Plinius die Fassung der Philoktetgeschichte mit dem Schlangenbiss auf Neai voraus, die wir sonst erst – nicht ganz hundert Jahre später – in Ph3b fassen. Zweitens meinen Neai und Nea doch denselben Ort, woraus drittens folgt, dass eine der beiden Lokalisierungen bei Plinius falsch ist – Irrtümer und Ungenauigkeiten sind ja bei diesem Autor nichts Seltenes48. Während aber nur Plinius Neai im Nordosten von Lemnos lokalisiert, gibt es für eine Lage im Westen, wie gezeigt, Parallelen in Ph3b und in der byzantinischen Benennung von Agios Evstratios. Beides ist freilich nicht allzu aussagekräftig, und der Gleichsetzung von Neai mit Agios Evstratios stellt sich ausserdem dessen allgemein übliche Identifikation mit dem antiken Halonnesos entgegen49. Natürlich kann eine Insel auch zwei Namen haben, doch die zitierte Stelle bei Antigonos, unserem wohl ältesten Zeugen, versteht unter den Neai eine Inselgruppe, die „den Lemniern“ gehört. Nun wissen wir leider kaum etwas über die inneren Verhältnisse von Agios Evstratios im Altertum und seine allfälligen Beziehungen zur grösseren Nachbarinsel. Die Insel liegt zwar nur 21 Seemeilen von Myrina entfernt und ist von den Hügeln und Buchten im Südwesten von Lemnos aus als breiter, sich aus dem Meer wölbender Landschild gut sichtbar. Allerdings ist es eben doch eine einzelne Insel und keine Gruppe, und so hat man Hemmungen, die Formulierung des Antigonos darauf zu beziehen. Sicher ausschliessen lässt sich diese Deutung deswegen natürlich nicht; dennoch will ich im Folgenden versuchen, eine wahrscheinlichere Lösung vorzuschlagen50.
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Vgl. auch das Urteil über die Inselliste Plin. Nat. 4.(23).72 bei RE Suppl. 3 (1918) s.v. Halonnesos 3) 880 [L. Bürchner]: „offenbar ohne Ordnung und mit Irrtümern“. Vgl. oben p. 115 mit n. 13. Fredrich, Halonnesos, 17f sammelt einige Hinweise (u.a. Funde von Münzprägungen aus Hephaistia), dass Evstratios vielleicht von Lemnos aus verwaltet wurde. Die einzige Inschrift der Insel ist eine Weihung eines Philostratos an die Grosse Göttin aus dem 2. Jh. (IG XII.8, Nr. 45); letzteres erinnert an gewisse Nachrichten über die lemnischen Kulte (vgl. unten n. 198), der Name des Weihenden an die aus Lemnos stammende kaiserzeitliche Schriftstellerfamilie, deren uns bekannte Mitglieder Philostratos hiessen – doch bei der grossen Verbreitung dieses Namens (über 250 Belege aus allen Regionen bei LGPN) lässt sich darauf gar nichts bauen. Die Karte bei Lehmann, Inseln 4, 422 zeigt am nordöstlichen, gegen Lemnos weisenden Rand der Insel mehrere Kleinst-Eilande, 434f sind auf dem gegenüber-
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3. Die Stadt der Frauen
3.1.2. c) De generatione et corruptione insularum Die Nachrichten über Neai enthalten ja noch mehr Fragwürdiges. Am auffälligsten ist sicher, dass die Insel nach Plinius aus dem Meer aufgetaucht sein soll. Dies wirkt umso eigenartiger, wenn man daneben stellt, wie Pausanias an der zitierten Stelle fortfährt, nachdem er das Versinken von Chryse berichtet hat: Und stattdessen liess [das Meer] eine andere , Hiera genannt, jener Zeit noch nicht gab.51
Bei der Bewertung dieser Nachricht haben in der bisherigen Diskussion zwei weitere Punkte eine Schlüsselrolle gespielt: Zuerst eine Geschichte, die sich, nach den Namen der darin auftretenden Personen, um 520 zugetragen haben müsste. Am Tyrannenhof der Söhne des Peisistratos in Athen lebte damals Onomakritos, ein Wahrsager, der auch als Herausgeber der Sprüche des Musaios tätig war. Er wurde später vertrieben, und Herodot erzählt darüber52: Denn Onomakritos wurde von Hipparchos, dem Sohn des Peisistratos, aus Athen vertrieben, weil ihn Lasos von Hermione dabei ertappte, wie er in die Sprüche des Musaios einen einschwärzte, dass die bei Lemnos liegenden Inseln im Meer verschwinden würden; deshalb vertrieb ihn Hipparchos, der ihn vorher oft befragt hatte.
Diese Geschichte scheint auf den ersten Blick verführerisch klar: Man könnte meinen, dass Onomakritos seinen lemnischen Spruch eingefügt habe, nachdem die genannten Inseln in Aufsehen erregender Weise versunken seien. Die Schwierigkeit ist dabei, dass Herodot von den „bei Lemnos liegenden Inseln“ spricht, was irgendwie klingt, wie wenn sie zu seiner Zeit noch bestanden hätten und allgemein bekannt gewesen wären53. Ausserdem spricht er in der Mehrzahl, was vielleicht auf die Neai passen könnte (die allerdings gerade aufgetaucht und nicht untergegangen sein sollen), aber kaum auf Chryse, von dem immer nur im Singular die Rede ist. So könnte man geradesogut die Meinung vertreten, dass Lasos die Unechtheit des Spruches nachwies, indem er klarstellte, dass die Inseln eben nicht untergegangen waren. Doch eigentlich sagt uns der Text ja rein gar nichts über die Argumente, die bei der Kontroverse eine Rolle gespielt haben, und so kann man daraus wohl kaum etwas Brauchbares ableiten54.
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liegenden Landstrich (sehr spärliche) Spuren antiker Siedlungen vermerkt – für die Annahme einer Inselgruppe Neai reicht das aber wohl nicht aus. Paus. 8.33.4. Im Text der Handschriften scheint nach ῾Ιερὰν eine Lücke zu sein, für die man verschiedene, inhaltlich ähnliche Vorschläge gemacht hat. Ich übernehme exempli gratia eine humanistische Ergänzung: , vgl. Rocha-Pereira, Descriptio, II, 293. Hdt. 7.6.3. Mit dem obliquen Optativ im Nebensatz (ὡς αἱ ἐπὶ Λήµνῳ ἐπικείµεναι νῆσοι ἀφανιζοίατο κατὰ τῆς ѳαλάσσης) wird das Berichtete nicht als Tatsache, sondern als Äusserung des übergeordneten Subjekts bezeichnet, d.h. als Inhalt des Spruches des Onomakritos. Die Formulierung erlaubt also keinen Schluss, ob Hdt. davon ausging, dass sich die Sache wirklich zugetragen hat, oder nicht, vgl. Cooper, Syntax, 701. Naiv-realistisch verstand z.B. Jebb, Philoctetes, 245 die Stelle als Zeugnis für volcanic disturbances bei Lemnos, ähnlich Stein, Herodotos 4,10, welcher vermutet, der junge Ursprung
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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Der zweite Punkt betrifft ein paar erdkundliche Besonderheiten von Lemnos und Umgebung, die ich weiter unten ausführlicher behandeln muss, so dass ich hier zunächst bloss ein paar kurze Hinweise gebe55: Bei einzelnen antiken Autoren ist von einem Vulkan auf der Insel die Rede, ausserdem weiss man von einer ausgedehnten Untiefe ein wenig nordöstlich von Lemnos, der sogenannten Kerosoder Mythones-Bank, über der das Wasser stellenweise wenig mehr als zwei Meter tief ist56. Der erste, der dies mit den Nachrichten der antiken Schriftsteller zusammenzubringen suchte, war der Graf von Choiseul-Gouffier, der in den letzten Jahren vor der Grossen Revolution als Botschafter Frankreichs bei der Hohen Pforte amtete. Um 1780 unternahm er ausgedehnte Forschungsreisen in der Ägäis und veröffentlichte später ein zweibändiges Werk, dessen oft wunderbar detaillierte Landkarten heute als Zeugnisse für die Gestalt der griechischen Landschaft vor den Umwälzungen des 19. Jh.s unendlich wertvoll sind57. Er kam bei Sondierungen in den Untiefen vor Lemnos zum Schluss, dass genau dies die Reste der Insel Chryse sein müssten, welche beim Einsturz des ebenfalls verschwundenen Vulkans der Insel mit in die Tiefe gerissen worden sei. Neai ist aber nach seiner Meinung nicht mit Chryse gleichzusetzen, sondern das heutige Agios Evstratios58. Auf dieser Grundlage haben die Forscher nach ihm weitergebaut: Um die Mitte des 19. Jh.s konnte ein historischer Atlas die Insel Chryse als wirkliches Eiland nordöstlich von Lemnos verzeichnen59, und als die Gleichsetzung von Neai mit Agios Evstratios hinfällig wurde, besann man sich darauf, dass es ein Inselchen gewesen sein soll, das aus dem Meer auftauchte – und das konnte ja nur gewesen sein, nachdem Chryse verschwunden war. Dass es auch dieses Eiland heute nicht mehr gab, erklärte man damit, dass es seither ebenfalls wieder versunken sei60.
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der Inseln sei das Argument des Lasos gegen Onomakritos gewesen; vgl. weiter How/Wells, Commentary, 127 oder Privitera, Laso, 48f n.1; vorsichtiger fragt Macan, Herodotus, 7f nach einer möglichen politischen Bedeutung eines solchen Orakels. Vgl. 3.1.3. Vgl. Philippson, Meer, 229. Über Choiseul-Gouffier vgl. Eckstein, Nomenclator, 89f und Sandys, History, 394. Choiseul-Gouffier, Voyage II, 129–132. Beispiele für seine Karten oben p.15f. Vgl. Kiepert, Atlas, Karte 4 und Stein, Herodotos, 4, [Vorsatzblatt], wo die zwei Phantasieinseln östlich von Lemnos allerdings zur Abwechslung mit „Neue Inseln“ beschriftet sind. Vor allem Heinrich, Chryse, 2f hat sich mit Nachdruck für die Auffassungen von ChoiseulGouffier eingesetzt. Noch Beschi 1997, 30 n. 50 sucht das versunkene Chryse in den Untiefen östlich von Lemnos. Dass die vom Festland aus wahrnehmbaren, früher von Schwammtauchern ausgebeuteten Untiefen auch die Phantasie von nicht-wissenschaftlichen Betrachtern angeregt haben, belegt der Hinweis auf daran geknüpfte neugriechische Sagen über versunkene Städte bei Conze, Reise, 122 (vgl. auch 119). Ein paar Beispiele für dieses und ähnliche Modelle: Jebb, Philoctetes, 245; RE 3 (1897) s.v. Chryse 2487 [L. Bürchner]; RE 16 (1935) 2101f s.v. Neai [R. Herbst]; Philippson, Meer, 225; Forsyth 1984, 9f; Winkler/König, Naturkunde III/IV, 404f; Harrison 1989, 175 und ebenso noch Koder, Pelagos, 240f; NP 8 (2000) 770 s.v. Nea [A. Külzer]. Kaum jemand scheint sich daran gestört zu haben, dass damit Sagen, die für die Griechen in die Zeit vor dem troianischen Krieg gehörten (Philoktet, Herakles und die Argonauten) an eine angeblich in wesentlich jüngerer, gut erinnerter Zeit aufgetauchte Insel geknüpft wurden. Unmöglich sind solche
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3. Die Stadt der Frauen
In solchen Vorstellungen erscheinen Dichtung und Wahrheit fast unauflöslich verquickt: Während der Vulkan auf Lemnos ins Märchenreich gehört, liegt zwischen der Insel und dem kleinasiatischen Festland wirklich ein oft von wenig tiefem Wasser bedecktes unterseeisches Plateau, das in ferner prähistorischer Zeit weitgehend trocken gelegen haben könnte. In den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben Taucher bei dem Vorgebirge, das hinter dem Dorf Plaka an der nordöstlichsten Ecke von Lemnos ins Meer hinausläuft, rund einen Kilometer vor der Küste unter Wasser Siedlungsreste nachgewiesen. Diese sind anscheinend den Bauresten der prähistorischen Stadt von Poliochni im Südosten der Insel ziemlich ähnlich61. Dennoch bleibt höchst zweifelhaft, ob die Sagen über Chryse und Neai wirklich eine Erinnerung an so frühe Zeiten bewahren. Zum einen ist die Stelle des Plinius über die Entstehung von Neai selbst ziemlich fragwürdig: Die dort zitierte Reihe von aufgetauchten Inseln schliesst zwar mit jenen, welche der Vulkan von Thera von Zeit zu Zeit aufgeworfen hat, und für diese gibt er auch genaue Daten. Doch von den davor genannten sind weder Delos noch Rhodos noch die Kykladeninsel Anaphe zu einer Zeit aus dem Meer aufgestiegen, an die ein Mensch sich erinnern kann62. So fragt man sich schon, warum wir Plinius dann ausgerechnet für Neai glauben sollen. Ein ähnlicher Ursprung wurde übrigens ein paar anderen Inseln ebenso zugeschrieben, und wenn sich die betreffenden Nachrichten auch bei den Geschichtsschreibern und Geographen finden, sollten wir uns davon nicht täuschen lassen63: Schon Pindar wusste, dass Rhodos ursprünglich in der Tiefe des Meeres verborgen lag, bis sie auf Befehl des Zeus aus dem Wasser hervorsprosste, Delos soll für die Geburt des Apollon aufgetaucht sein und Anaphe auf Befehl desselben Gottes, als die Argonauten in Seenot waren64. Das aber bedeutet, dass
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phantastischen Verlängerungen der Geschichte wohl nicht, aber man sollte nicht einfach ohne weitere Begründung damit rechnen. Vgl. Moutsopoulos 1969; zur Topographie der Gegend um Plaka Lehmann, Inseln, 4, 469f und unten p. 138 zu Poliochni. Keine der drei ist überhaupt vulkanischen Ursprungs, vgl. Higgins, Companion, 152–154 (Rhodos), 171 Fig. 15.1 (Anaphe), 173f (Delos). Das nach Plin. Nat. 2.(88f).202 an der kleinasiatischen Küste aufgetauchte Halone ist nicht eindeutig zu identifizieren, vielleicht liegt ein weiterer Irrtum des Autors vor, vgl. Plin. Nat. 5.(38).137 und RE 7 (1912) 2279f s.v. Halone [L. Bürchner]; zu der Stelle bei Plin. auch Beaujeu, Livre II, 245–247. Zypern nach Eusth. Dion. Periheg. 508, Sizilien, Lipara und Pithekusa nach Strab. 1.3.10 (zu letzterem auch Plin. Nat. 2.203). Weiteres zum Thema bei Strab. 1.3.16, 6.1.6, Plut. Mor. 399cf, Iust. 30.4.1f, Amm. 17.7.13, vgl. Hennig 1939, 238f. Im Mittelpunkt steht an den meisten Stellen klar das Auftauchen der bekannten vulkanischen Inselchen in der alten Caldera von Thera, vgl. Lienau, Griechenland, 100–103, Guidoboni, Catalogue, 147–150, Higgins, Companion, 192–194, Sonnabend, Naturkatastrophen, 58, 143. Ein weiterer, schon viel zweifelhafterer Fall aus der Kaiserzeit betrifft die angeblich im 1. Jh. n. Chr. zwischen Thera und Kreta aufgetauchte Insel, von der Philostr. VA 4.34 berichtet, vgl. Guidoboni, Catalogue, 193f, Sonnabend, Naturkatastrophen, 72. Zum Hintergrund solcher Stellen RAC 18 (1998) s.v. Insel 316–318 [F. Prontera], Sonnabend, Mensch, 231–234, s.v. Insel [W. Orth]. Zu Rhodos Pind. Ol. 7.54–57/69f, Schol. Pind. Ol. 100b, Aristot. Frg. 611.65, vgl. Villatte, Insularité, 205f, 213 und zum Alter der von Pindar verwerteten Tradition von der Mühll
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es sich hier nicht um erdkundliche Vermutungen hellenistischer Gelehrter handelt, sondern um mythische Geschichten, von denen einzelne sicher weit in die archaische Zeit zurück reichen. Natürlich ist die Ägäis mit ihren vielen Inseln und Untiefen ein Gebiet, das die Verbreitung von solchen Berichten anregen und begünstigen mochte. Doch mythische Geschichten sind mehr als nur Abbild und Erklärung von Naturtatsachen. Sie entstehen in der ständigen Weitergabe und Umformung von Erzählmotiven, die sehr alt sein können und ein gewisses Eigenleben haben. Tatsächlich ist das Auftauchen der ersten Insel aus dem Grunde der Urflut ein mythisches Motiv, das in den Kosmogonien zahlreicher Völker eine Rolle spielt, vom alten Ägypten bis nach Ostasien und in die Märchen der Indianer Nordamerikas65. Solche Geschichten spielen in Griechenland nicht dieselbe wichtige Rolle wie anderswo, doch die erwähnten Berichte über auftauchende Inseln deuten darauf, dass man Ähnliches durchaus gekannt hat. Auffallend ist ja, dass es in Griechenland von demselben Mythenkomplex auch eine Spur jener wichtigen Sonderform gibt, nach der es eine Demiurgengestalt ist, die aus dem Urozean etwas Erde heraufholt, welche sich dann, ins Meer gestreut, zum festen Land ausbreitet. In dieser überlagern sich zwei Motive: die Heraufkunft des Landes aus der Tiefe und seine Entstehung aus der ins Wasser gestreuten Erde. Gerade für Letzteres gibt es im griechischen Bereich mindestens einen sicheren Beleg, nämlich die Insel Thera, die angeblich aus dem Meer auftauchte, als der Argonaut Euphemos eine Erdscholle ins Wasser warf66 – vielleicht ein weiteres Bruchstück dieses grossen mythologischen Zusammenhangs.
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1963, 200. Das Auftauchen von Delos ausser Plin. Nat. 2.(88).202 noch 4.(22).66 (Aristot. Frg. 488[a]), Serv. Verg. Aen. 3.73 [= Lact. Plac. Stat. Achill. 1.206], Schol. Lyk. Alex. 401, Et. M. s.v. ∆ῆλος (= Aristot. Frg.488[c]), Eusth. Dion. Periheg. 525; in Hymn. Hom. Ap. 70– 78 fürchtet die Insel umgekehrt, dass der Gott sie in die Tiefe des Meeres stossen könnte, sollte er nach der Geburt feststellen, wie klein und hässlich sie sei – die Vorstellungen vom Auf- und Untertauchen stehen also hier nahe beisammen. Bekannter ist über Delos die Sage, dass die Insel vor der Geburt des Apollon ohne festen Ort auf dem Meer herumgeirrt sei, vgl. Pind. Frg. 33d und allgemein Villatte, Insularité, 157–163. Zum Auftauchen von Anaphe Konon, Narr. 49, Amm. 17.7.13, doch anders Apoll. Rhod. 4.1709–1718, wo Apollon den Argonauten bloss in der Finsternis die Insel sichtbar macht; ebenso Apollod. 1.9.26, Steph. Byz. s.v. Ἀνάφη; unklar Orph. Arg. 1356–1358; vgl. Kallim. Ait. Frgg. 7–21. Einiges davon gesammelt bei Dänhardt, Natursagen I, 1–89; wichtige Ergänzungen bei Schier 1963, 316–327, der zu erweisen sucht, dass es sich um ein sehr altes, aus dem östlichen Mittelmeerraum stammendes Motiv handelt, das um die Welt gewandert ist. Bei aller Fragwürdigkeit von derart weit reichenden diffusionistischen Vermutungen, sind in diesem besonderen Fall die Argumente mindestens einer ernsthaften Prüfung wert. Eine psychologische Deutung für die Häufigkeit des Motivs legt dagegen Bischof, Kraftfeld, 201–214 vor. Zum Thema auch EdM 7 (1993) s.v. Insel 198 [K. Horn]. Apoll. Rhod. 14.1755–1757, vgl. Schol. Apoll. Rhod. 4.1750–57. Auch für die Entstehung von Delos lautet eine weitere Variante, dass Asterie, zuerst in eine Wachtel verwandelt, zu Stein geworden und ins Meer gestürzt sei, und dass aus diesem Stein dann die Insel wurde (Pind. Frg. 52h). Diese Sage ist umso auffallender, als der demiurgische Erdtaucher in vielen Fassungen der genannten Wasserkosmogonien Vogelgestalt hat.
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Dem Land, das aus dem Meer aufsteigt, steht anderes gegenüber, welches absinkt: Plinius wie Pausanias drücken den Gedanken aus, dass sich die Natur auf diese Weise im Gleichgewicht hält. Gerade das Auftauchen der kleinen Vulkaninseln im Krater von Thera, zu denen ja auch das von Pausanias erwähnte Hiera gehörte, hat Spekulationen angeregt, welche anderen Landstriche an seiner Statt ins Meer gesunken sein könnten. So berichtete man von einem Erdbeben, das zur gleichen Zeit in Phönizien Teile der Hafenstadt Sidon habe ins Meer gleiten lassen67. Doch ich will gar nicht erst versuchen alle in der Antike umlaufenden Geschichten über versunkene Inseln oder Städte einzeln zu untersuchen. Auch hier lehren schon wenige Beispiele rasch, dass das wenige, das sich historisch zuverlässig fassen lässt, wie die berühmte Katastrophe der 373/2 vom Meer verschlungenen Stadt Helike in Achaia, neben einer Vielzahl von rein sagenhaften Erzählungen steht68. Aus alledem ergibt sich übrigens auch, dass der berühmteste derartige Bericht, Platons Atlantis-Märchen, keine Erfindung aus dem Stegreif war, sondern geläufige Motive verwertete69.
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Strab. 1.3.16, vgl. Iust. 30.4.3; dazu Guidoboni, Catalogue, 145. Zu Helike und dem gleichzeitig in einem Abgrund versunkenen Bura vgl. Aristot. Meteor. 1.6 [343b1–4], 2.8 [368b6–12], Mund. 4 [396a20f], Kallisth. FGrHist 124 F 19–21 (vgl. Sen. Nat. 6.23.3, 6.26, 7.5.3–5), Herakleid. Pont. Frgg. 46a/b Wehrli (vgl. Strab. 8.7.1f, Diod. 15.48f), Paus. 7.24.5–25.5 u.a., vgl. Müller, Griechenland, 769f, Guidoboni, Catalogue, 128– 132, Higgins, Companion, 69f, Sonnabend, Naturkatastrophen, 1–9, 249, Debidour 2003, 35– 39; das Ereignis gilt als historisch, obwohl der Nachweis archäologischer Spuren eher problematisch scheint. Eine starke Aufblähung des effektiv Vorgefallenen durch die Überlieferung (v.a. mit wachsender zeitlicher Entfernung) ist allerdings in solchen Fällen in vormoderner Zeit fast die Regel. Ein Beispiel etwa das im Gebiet der opuntischen Lokrer, gegenüber von Euboia liegende Inselchen Atalante, auf dem nach Thuk. 3.89.2f im Jahr 426 ein athenisches Kastell von einem Tsunami übel zugerichtet wurde (zu dem schweren Erdbeben, das damals die ganze Umgebung des Golfes von Malis traf, vgl. Guidoboni, Catalogue, 119– 122). Bei späteren Geschichtsschreibern wird daraus die (trotz Guidoboni, Catalogue, 122) nicht unbedingt sehr glaubwürdige Nachricht, die Insel sei erst damals vom Festland getrennt worden (Diod. 12.59.2, Oros. Hist. 2.18.7, Hier. Chron. a. Abr. Ol. 88.3, vgl. Strab. 1.3.20) und bei Sen. Nat. 6.24.6 ist dann sogar von einem Untergang des ganzen Eilands die Rede. Versunken sein sollen auch Teile von Pyrrha und Antissa (Plin. Nat. 2.(94).206), den Lichaden-Inseln und Kap Keneion (Strab. 1.3.20) sowie von Keos (Plin. Nat. 4.(12).62, 2.(94).206), wobei im letzten Fall ziemlich sicher einfach der Mythos vom Untergang der Telchinen historistisch umgedeutet wurde (zu diesem 4.3.2); vgl. auch Beaujeu, Livre II, 248f. Spätantike Berichte (von unterschiedlicher Zuverlässigkeit) über von Meereswogen verschlungene Städte und Stadtteile sind zitiert bei Guidoboni, Catalogue, 242–244, 246, 251f; zur Kritik der Überlieferung über die ‚kosmische Katastrophe’ von 365 (Amm. 26.10.15–19 u.a.), bei der angeblich überall im östlichen Mittelmeerraum reihenweise ganze Städte von einer Flutwelle zerstört wurden (Guidoboni, Catalogue, 267–274), vgl. Sonnabend, Naturkatastrophen, 23–31, 250. Plat. Tim. 25cf, vgl. Strab. 2.3.6. Es ist üblich, unter den Anregungen, von denen Plat. wahrscheinlich ausgegangen ist, das Versinken von Bura und Helike zu nennen, vgl. Nesselrath, Platon, 26f, der auch (allerdings in unkritischer Übernahme der Berichte von Diod. und Strab.) auf die Katastrophe auf dem Inselchen Atalante hinweist, das so auffallend ähnlich heisst wie Atlantis. Caduff, Sintflutsagen, 198f vermutet Anregung durch die Sage vom Un-
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Für die Bewertung solcher Nachrichten ist nun eine Stelle bei Strabon besonders aufschlussreich70: Vom Kopaissee verschlungen wurden Arne und Mideia, welche der Dichter [= Homer] im Katalog [der griechischen Schiffe in der Ilias] erwähnt: "Und jene, die das traubenreiche Arne bewohnen und jene von Mideia."
Hier hat man offensichtlich ein beliebtes Sagenmotiv verwendet, um zu erklären, dass zwei bei Homer genannte Orte sich in späterer Zeit nicht mehr finden liessen71. Der Verdacht, dass es sich mit dem angeblich versunkenen Chryse ähnlich verhalten haben könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Damit ist die Grundlage gelegt, damit wir die letzte wichtige Textpassage verstehen können, die man mit Chryse oder Neai in Verbindung zu bringen pflegt. Sie stammt aus dem Geschichtswerk des Appian aus der Mitte des 2. Jh.s n. Chr. und berichtet von einer See-Expedition des römischen Feldherrn Lucullus im Krieg gegen Mithridates im Jahre 7272: Und er traf Varius, Alexander und Dionysios bei Lemnos auf einer einsamen Insel, wo man einen Altar des Philoktet zeigt und eine eherne Schlange und Pfeile und einen mit Binden umschlungenen Brustpanzer, Symbol seines Leidens.
Hier ist also von einem Inselchen bei Lemnos die Rede, unbewohnt, doch mit einem Heiligtum, in dem Reliquien gezeigt werden, die Leidenswerkzeuge des Philoktet gewissermassen – und die Erwähnung einer Bronzeschlange legt den Gedanken nahe, dass man sich die Verwundung des Helden an demselben Ort dachte73. Darüber, ob diese Insel neu aufgetaucht oder noch nicht untergegangen war, wird man sich wohl nicht mehr den Kopf zerbrechen. Wenn sie einen Namen trug, müsste er Neai gelautet haben, vielleicht zusammen mit einem ganzen Grüppchen, zu dem sie gehörte. Doch selbst so bleibt ihre Lage ungewiss: Lemnos ist, wie viele andere Inseln, von einem ganzen Kranz von kleinen und klein-
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tergang von Keos, das ja nahe bei Athen liegt (vgl. oben n. 68) wahrscheinlich muss aber das Feld, aus dem diese Ideen stammen, viel weiter gezogen werden. Strab. 1.3.18; das Homerzitat: Hom. Il. 2.507. Strab. gibt im weiteren Verlauf der zitierten Stelle mehrere Beispiele von Landmarken der homerischen Epen, die später unauffindbar waren. Der alexandrinische Philologe Zenodot änderte Hom. Il. 2.507 den Text, um das Problem loszuwerden, vgl. Strab. 9.2.35, Schol. Hom. Il. 2.507a; weiteres zur antiken Diskussion um diese Homerstelle bei Visser, Katalog, 277–279. Auf die Bedeutung der Homererklärung für die Entwicklung solcher Geschichten hat auch RAC 18 (1998) s.v. Insel 317 [F. Prontera] hingewiesen. Im Kopaissee liegen (nach Strab. 9.2.18, Plin. Nat. 2.(94).206, Paus. 9.24.2, Steph. Byz. s.v. Ἀѳῆναι) ausserdem versunkene Städte namens Eleusis, Athen oder Orchomenos. Strab. 1.3.18 nennt auch im Bistonis-See in Thrakien versunkene Orte. In einzelnen italienischen Seen sollen ebenfalls alte Städte liegen (Amm. 17.7.13, Sotion = Paradoxograph. Florent. 41 Giannelli). App. Mithr. 77 (334f). Im archäologischen Museum von Myrina ist heute neben anderen Fragmenten von Bronzearbeiten aus klassisch-hellenistischer Zeit eine etwa 20 cm lange kriechende Schlange aus demselben Material zu sehen. Ob diese mit der Geschichte von Philoktet zu tun hat oder zu einer anderen mit Schlangen verbundenen Gestalt gehörte (z.B. Asklepios), muss leider offen bleiben.
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sten Inselchen und Klippen umgeben, und es scheint lemnische Überlieferungen gegeben zu haben, nach denen Philoktet einige davon für die Herren der Insel erobert haben soll74. Besonders zu erwähnen sind etwa das der Nordwestküste vorgelagerte öde Sergitsi und mehrere Inselchen im südwärts gelegenen Golf von Moudros, sowohl an seinem Eingang von der offenen See her, wie rund um das ihn in der Mitte zerteilende weit vorspringende Kap Pounta. Dass auch solche unbewohnten Kleinstinseln nicht ohne Kult sein müssen, belegt etwa, dass auf einem dieser winzigen Felseilande, das der Nordseite dieser Landzunge wenige hundert Meter vorgelagert liegt, heute, nicht anders als schon zu Choiseul-Gouffiers Zeiten, ein weisses Kirchlein steht75. Gerne wüssten wir natürlich, ob der Altar, den Lucullus antraf, bereits in die archaische Zeit zurückreicht. Dass die Reliquien den Requisiten einer Tragödienaufführung so merkwürdig ähnlich sehen, stimmt auf den ersten Blick wenig zuversichtlich, muss aber nicht allzuviel heissen. Man kann ja nicht ausschliessen, dass hier Älteres von der Wirkung der beliebten Theaterstücke über den Helden ebenso überlagert wurde wie – um einen nur scheinbar fernen Vergleich zu ziehen – im Fall der Tellskapelle am Urnersee. Ich werde bei der Behandlung der lemnischen Geschichte jedenfalls auf sehr alte Siedlungsspuren gerade auf diesen kleinen Inselchen hinzuweisen haben. Ob es das wunderbare Chryse dagegen je gegeben hat, ob man irgendwann ein anderes Eiland mit ihm gleichgesetzt hat oder wie immer – all dies muss zweifelhaft bleiben. Wahrscheinlich ist allerdings, dass in diesem Fall nicht zuerst die Insel und dann die Geschichte da war, sondern umgekehrt76. 3.1.3. La segnano le carte antiche dei corsari... Die letzten Kapitel haben uns immer näher an Lemnos herangeführt, und so ist nun höchste Zeit, dass wir uns dieser Insel selbst zuwenden. Zwar verdankt sie ihren Ruhm und die Aufmerksamkeit der Forschung vor allem ihren Mythen, aber 74 75
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Philostr. Her. 28.6. Das Inselchen heisst St. Nicolas bei Choiseul-Gouffier, Voyage I, pl. 42; gleich daneben liegen zwei weitere flache Felsklippen (I. Percée bei Choiseul-Gouffier). Die grösste Insel im Golf von Moudros ist das langgestreckte Alogonisi (I. Verte) südlich von Kap Pounta; zu Koukonisi (I. Rouge) unten p. 139. Zum Golf von Moudros und seinen Inseln auch Lehmann, Inseln, 4,472f und Koder, Pelagos, 256, zu Sergitsi, das auch Siderites heisst, Koder, Pelagos, 276; zu ähnlichen kleinen Inseln um Agios Evstratios oben n. 50. Sehr skeptisch gegenüber der wirklichen Existenz der Insel Chryse zuletzt Müller, Beiträge, 21 n.39, der sogar erwägt, ob sie nicht geradezu eine Erfindung des Aischyl. gewesen sein könnte; vgl. Müller, Kommentar, 41 und 375. Harrison 1989, 175 trägt leider kaum Begründungen vor, um ihre Zuversicht zu stützen, dass der Kult auf dem Inselchen bei App. ins 5. Jh. zurückreicht. Die Nachrichten bei Hesych., wonach Nea eine Stelle auf Lemnos gewesen sein soll, und bei Steph. Byz., nach dem ein Vorgebirge auf Lemnos Chryse hiess (vgl. oben n. 10), könnten darauf deuten, dass man schon im Altertum die Sage an verschiedene Orte knüpfte, weil es einen ‚wirklichen’ nicht gab.
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nicht weniger scheinen sie gewisse Merkwürdigkeiten geographischer und historischer Art zu kennzeichnen – oder mindestens stellt unsere Überlieferung es so dar. Eine umfassende Landeskunde dieses Fleckens Erde kann ich hier natürlich nicht geben, sie wäre auch für unseren Zusammenhang nicht allzu nützlich77. Ein paar Eigenheiten von Landschaft und Geschichte des Ortes muss ich gleichwohl gründlicher besprechen, weil man sie vielfach herangezogen hat, um die Mythen zu erklären. Man hat dabei meistens versucht, die Sagen unmittelbar aus der Beschaffenheit des Landes abzuleiten; erst in der neueren Forschung sind mehr und mehr Zweifel aufgekommen, ob sich die Sache nicht eher anders herum verhält. Unter den Inseln der nördlichen Ägäis sticht Lemnos schon dadurch hervor, dass es recht genau in der Mitte der umliegenden Landmarken liegt. Die Chalkidike ist von hier über eine ähnliche Strecke zu erreichen wie der Hellespont oder Samothrake, ja bei gewissen Wetterlagen ist von Myrina im Westen durch eine Art Föhneffekt der Athos als hoch über den Meereshorizont ragender Felsenberg ebenso zu sehen wie von der Südküste aus das benachbarte Agios Evstratios oder von der nordöstlichen Landzunge bei Plaka der Umriss von Imbros78. Zwei einander gegenüberliegende Buchten teilen die Insel in ungleiche Hälften: der sich wie ein Fjord tief ins Land hineinziehende Golf von Moudros im Süden und der von Pournia im Norden, der sich breiter öffnet und an dessen Ostseite die wichtigste antike Siedlung Hephaistia lag. Das Höhenprofil der Insel ist vor allem in ihrem südöstlichen Viertel ziemlich flach, während sich im Nordosten eine Hügelkette der Küste entlang zieht und westlich der beiden Buchten ein Bergland aufsteigt, das trotz seiner bescheidenen Höhe von etwas über 400 Metern durch seine Nähe zum Meer und dank dem Kontrast zu den weiten Ebenen der Osthälfte eindrücklich wirkt. Während dieses nach Norden zu eine leicht hügelige, steppenartig bewachsene Hochebene bildet, reichen im Südwesten der Insel schroffe, oft bizarr gezackte Felsen bis ans Meer. Wenn die antiken Autoren Lemnos als steil und steinig beschreiben, dann haben sie wohl diese Gegend im Blick79.
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Beschreibungen bei Fredrich 1906, 241–256, Fredrich, Dardanellen, 40–62, Sealy 1918– 1919, 159–172, Intelligence, Greece 3, 382–391, Philippson, Meer, 224–229, Rauh, Klimatologie, 7–10, 65–84, Müller, Griechenland, 64–67, Lehmann, Inseln 4, 439–477, Higgins, Companion, 123–125, Koder, Pelagos, 64f, auch 205–209 u.ö.; zum Verhältnis von antiken Überlieferungen und realer Geographie Beschi 1997. Die Sichtbarkeit des Athos von Lemnos aus war schon im Altertum sprichwörtlich, vgl. Soph. Frg. 776 u.a.; zu Agios Evstratios oben p. 121. Eine (trotz einzelnen Irrtümern) im Kern realistische Schilderung der Schiffsroute vom Mutterland nach Lemnos gibt Apoll. Rhod. 1.594– 608, vgl. Vian, Argonautiques I, 17–19, 78, 255f; auffallend die Ähnlichkeit mit der Wanderung der Hera vom Olymp nach Lemnos und von dort zum Ida bei Hom. Il. 14.225–230/281– 283, von der man schon lange vermutet, dass sie den alten Seeweg spiegelt, vgl. Fries 1929; ganz ähnlich erscheint Lemnos in der Feuerstafette von Troia nach Mykene bei Aischyl. Ag. 283f; dazu auch unten p. 134 mit n. 96. Etwa Soph. Phil. 1000 u.ö.; zu Apoll. Rhod. 1.608 vgl. unten 3.3.1; auch bei Dion. Periheg. 522 erscheint die Insel als felsiges Gefilde.
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Mit Ausnahme dieser südwestlichen Gebiete, wo sich zwischen den Felsen auch grössere Flächen von Nadelwald finden, ist die lemnische Landschaft weitgehend waldlos. Bloss da und dort durchbrechen isolierte Boskette als dunkle Flecken die den grössten Teil des Jahres braungelb verbrannten Felder. Dieser Zustand ist kaum ursprünglich, sondern dürfte sich im Verlauf der Jahrhunderte als Folge von Abholzung und Überweidung eingestellt haben. Antike Schilderungen zeigen jedenfalls noch keine völlig kahle Insel80. Dem Ackerbau freilich waren die weiten Ebenen seit jeher günstig: Schon früh finden wir Hinweise auf den lemnischen Weinbau, und in klassischer Zeit gehörte die Insel zu den wichtigen Getreidelieferanten der Stadt Athen81. Ihre sicheren Häfen hinwiederum sorgten, wie schon angedeutet, zusammen mit der ausgezeichneten Lage dafür, dass sie, soweit wir zurückschauen können, zu allen Zeiten in Handel und Verkehr eine bedeutende Rolle spielen konnte. Die äussere Gestalt der Insel, wie sie sich heute zeigt, hat freilich stets weniger Aufsehen erregt, als gewisse Vermutungen über ihre erdgeschichtliche Vergangenheit. Aus der Sicht der modernen Wissenschaft liegt Lemnos zusammen mit Imbros und Tenedos auf einem Kontinentalschelf, der sich von der türkischen Küste weit ins Meer hinein erstreckt, also gleichsam auf einer unterseeischen Schwelle, die den Südrand des nördlichsten Ägäisbeckens bezeichnet. Während der letzten Eiszeit, als der Spiegel des Mittelmeers wesentlich tiefer lag als heute, dürfte sie die Spitze einer alten Halbinsel vor Kleinasien gebildet haben.82 Nördlich von Lemnos fällt der Meeresboden hingegen steil ab und bildet einen tiefen Graben, welcher der Nordseite der Halbinsel von Gallipoli entlang, zwischen Imbros und Samothrake und vor dem Athos quer durch die Ägäis verläuft. In die80
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Die entsprechenden Hinweise der klassischen Autoren sind nicht immer von sicherer Ortskenntnis gespeist und mögen bisweilen ein fiktives Element enthalten, doch sind sie insgesamt zu zahlreich, um sie einfach beiseite zu wischen, vgl. Nik. Ther. 472, Acc. Trag. 532 R. (vgl. den anonymen Vers trag. inc. 71f R. bei Cic. Nat. Deor. 1.(42).119), Val. Fl. 2.279f, 283, 289, Stat. Theb. 5.152f (vgl. unten n. 95). Bei Philostr. VS 1.21 [28.29–29.8 Kayser], einem Autor, der Lemnos sicher aus eigener Anschauung kannte (vgl. unten n. 95 und 3.5.1) und, schlägt ein Blitz in eine Eiche am Keras der Insel (merkwürdig dazu Serv. Verg. Aen. 8.414, wo der Sturz des Hephaistos mit den auf Lemnos angeblich besonders häufigen Blitzschlägen zusammengebracht wird, vgl. 4.1.1); für Eusth. im Hochmittelalter ist Lemnos dann aber schon auffallend kahl, vgl. unten n. 92. Zum Ganzen Koder, Pelagos, 65 und Rauh, Klimatologie, 65f, 77–81, der mit früher grösseren Beständen an Macchie rechnet. Zu Lieferungen von Gerste aus Lemnos IG 2.5.834b, Col. 2.64 (329/8); zum Wein Hom. Il. 7.467f (vgl. Athen. 1.56 [31af] u.a.), Quint. Smyrn. 9.338, ausserdem Aristoph. Pax 1162 mit Schol. (= Androt. FGrHist 324 F 80) die Erwähnung einer besonderen lemnischen Rebsorte und noch im 4. Jh. n. Chr. die Expos. Mundi 63: „Lemnus, das sich selber versorgt und viel Wein nach Makedonien und Thrakien exportiert“. Zur Bewirtschaftung von Lemnos während der athenischen Besetzung Marchiandi 2002, 536–547; gegen deren Annahme eines Verschwindens des Weinbaus nach der archaischen Zeit spricht dessen Wichtigkeit auch in späteren Epochen, vgl. etwa die vielen Rebberge auf Choiseul-Gouffiers Karten (noch heute produziert die Insel qualitativ hochstehende, vor allem weisse Weine). Zur Kulturlandschaft im Mittelalter Hinweise bei Koder, Pelagos, 207, zur Neuzeit bei Rauh, Klimatologie, 68–72. Vgl. Higgins, Companion, 123.
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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sem Graben taucht die Masse kristallinen Gesteins, welche die nordgriechischen Gebirge, das sogenannte Rhodope-Massiv bildet, in die Tiefe, und stösst auf die nordägäische Horizontalverschiebung, eine westliche Fortsetzung der nordanatolischen, in welcher die Platten von Anatolien und Schwarzem Meer aneinander stossen. Diese ganze Zone ist noch immer in Bewegung und wird anscheinend im Abstand von etwa 150 Jahren von Perioden starker Erdbebenaktivität heimgesucht83. Die Schriftsteller des Altertums wussten natürlich nichts von solchen Zusammenhängen. Bei ihnen lesen wir dafür von rauchenden Höhlen, ja feurigen Kratern auf Lemnos84. Diese Nachrichten begegnen seit späthellenistischer Zeit, zuerst bei römischen Dichtern, und dann vor allem in Kommentaren zu Homer und Sophokles. Doch schon bei etwas älteren griechischen Autoren wird auf Lemnos ein Berg Mosychlos genannt, wo ein Feuer gebrannt haben soll, dem man göttlichen Ursprung zuschrieb85. Dazu kommt, dass für die Insel noch ein zweiter oder Beinamen überliefert wird, Aithaleia, was soviel wie Die Lodernde heisst86. Über 83 84
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Vgl. Higgins, Companion, 114–116. Ob man in dem Papyrusfragment TrGF II Frg. adesp. 680b, worin von Lemnos und wohl auch von Hephaistos die Rede ist, den ersten Vers wirklich (mit Burkert 2000, 249) ergänzen soll zu ὦ Λῆµνε καὶ κρα[τῆρες muss dahingestellt bleiben. Ebenso möglich ist (neben bereits von den Herausgebern vorgeschlagenem κρά[τιστον) z.B. κρα[τοῦσα und damit ein Bezug auf die Inselgöttin, vgl. 3.1.5.b. Zu den übrigen Belegen für den Vulkan auf Lemnos Jebb, Philoctetes, 243f und unten n. 92. Vgl. Antim. Ep. Frg. 46, Eratosth. Frg. 17 (beide bei Schol. Nik. Ther. 472a); nur das lemnische Feuer (ohne Hinweis auf den Berg) bei Aristoph. Lys. 299, Soph. Phil. 799–801, 986f (vgl. auch 926), Lyk. Alex. 227, vgl. Martin 1987, bes. 95–97; zum Namen des Berges unten 4.3.1 und zur Rolle des Feuers im lemnischen Ritus 3.5. Polyb. 34.11.4 = Steph. Byz. s. v. Αἰѳάλη; vgl. Et.M. s.v. Αἰѳάλη. Denselben Beinamen hatten nach Steph. Byz. Chios und das Etrurien vorgelagerte Elba; letztere Analogie wird wohl von Dognini 2003, 20f in ihrer Tragweite überschätzt. Angeführt wird ab und zu auch die Formel Hom. Il. 24.753 Λῆµνον ἀµιχѳαλόεσσαν (vgl. Hymn. Hom. Ap. 36, Kallim. Ait. Frg. 18.8). Das schon den antiken Lesern unverständliche Adjektiv (vgl. Apollon. Lex. 17.14–16, Schol. Hom. Il. 24.753.af, auch Eusth. Hom. Il. 24.753 [1374.14–18], Schol. Soph. Phil. 215, Schol. Kallim. Ait. SH Frg. 251.5–30, Hesych. und Et.M. s.v. ἀµιχѳαλόεσσαν), wurde von einem Teil der Kommentatoren als rauchumhüllt gedeutet (vgl. noch Forsyth 1984, 6, Beschi 1997, 23f und LFE s.v. ἀµιχѳαλόεις), doch der dafür angenommene Bezug zu ὀµίχλη (Dunstschleier, Staubwolke) ist problematisch, die Herleitung des Wortes umstritten. Andere Vorschläge sind mit ungemischter Üppigkeit, unstet, fruchtbar, nicht hafenarm u.a. (eine Durchsicht der Vorschläge bei Bettarini 2003, 75–79, ausserdem Leumann, Wörter, 214f mit n. 8, Ruijgh, Élément, 145, Chantraine 76). Bei so grosser Unsicherheit ist der Bezug auf den Vulkanrauch schon im Altertum nicht mehr als die Projektion eines liebgewordenen Bildes auf ein sinnloses Wort. Leumann loc. cit. entschied sich überraschend für reich an Mandelbäumen (zu ἀµύγδαλον, Mandel, einem wohl vorgriechischen Wort; vgl. Nik. Ther. 891); schon Doederlein, Glossarium, 37–39 [§1064] hatte dazu auf die Bedeutung der Mandel auf den Ägäisinseln hingewiesen (tatsächlich waren Mandelbäume auf Lemnos noch in jüngster Zeit eine der wichtigsten Kulturen, vgl. Rauh, Klimatologie, 68). Ernsthaft prüfenswert jetzt die Lösung von Bettarini 2003, 79–85, der in dem Wort eine in der epischen Formelsprache entwickelte Erweiterung von ἄµικτος sehen möchte (in Analogie zu dem öfter in epischen Formeln auf Inselnamen bezogenen παιπαλό-
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3. Die Stadt der Frauen
die Lage des Mosychlos sagen unsere Quellen zwar nichts, wir wissen aber von einem Hügel unweit von Hephaistia, auf den Hephaistos bei seinem Sturz vom Himmel gefallen sein soll. Galen, der im 2. Jh. n. Chr. schrieb, beschreibt ihn als kahl und von verbrannter Färbung, womit er wohl ebenfalls einen Bezug zum Feuer andeuten will87. Auch wenn der grosse Arzt uns den Namen dieses Hügels nicht nennt, ist es naheliegend, dass der Berg, auf dem der Feuergott Hephaistos zur Erde kam und der Feuerberg Mosychlos ein und derselbe waren. Von der Vorstellung, dass dieser ein Vulkan gewesen sei, blieb allerdings nicht viel übrig, nachdem die Ägäis seit dem 18. Jh. öfter von Forschern bereist wurde. In der Nähe von Hephaistia, ja auf Lemnos überhaupt gibt es keinen Vulkan. Man behalf sich deshalb zunächst damit, dass man vermutete, der Feuerberg, von dem die Alten noch wussten, sei seither im Meer versunken88. Doch was es auf Lemnos an vulkanischem Gestein gibt, dürfte rund 20 Millionen Jahre alt sein, und man darf also wohl ausschliessen, dass irgendjemand im Altertum auf dieser Insel noch einen rauchenden Berg gesehen hat89. Manche Forscher nahmen deshalb an, es habe auf Lemnos wenigstens eine Art Erdfeuer gegeben, die seither spurlos erloschen sind90. Tatsächlich spricht mindestens eine kaiserzeitliche Quelle relativ eindeutig nicht von einem vulkanischen Krater, sondern davon,
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εσσα), im Sinne von unnahbar und als Begründung für dieses Epitheton auf die Sage von Hypsipyle und ihren Frauen verweist, welche alle Männer von der Insel abweisen. Gal. 12.173, zum Text unten 4.2.1. Die Vorstellung von einem ins Meer versunkenen Vulkan auf Lemnos wurde v.a. durch die Schilderungen von Choiseul-Gouffier, Voyage 1,79f und 2,129–131 durchgesetzt; vgl. oben p. 123. Vgl. Higgins, Companion, 123 und schon Philippson, Meer, 226f, 229. In prähistorischer und historischer Zeit gibt es Vulkanismus in Griechenland nur noch in der südwestlichen Ägäis (Thera, Nisyros) und auf dem Festland um den saronischen Golf (Methana), vgl. Higgins, Companion, 165–167, 38f, 210; Spuren jüngerer vulkanischer Aktivität ausserdem auf Kos, Melos und Aigina, sowie in Sousaki bei Korinth, vgl. Higgins, Companion 159f, 182–184, 35–37, 40. So schon Choiseul-Gouffier, Voyage, 2,135, später Hennig 1939, 231f und noch Beschi, 1997, 24–26 und Brodersen, Stätten, 351f s.v. Lemnos [S. Brenne] unter Hinweis auf die Thermalquellen im gebirgigen Westteil der Insel; diese stehen allerdings in keinerlei Zusammenhang mit vulkanischen Aktivitäten, vgl. Higgins, Companion, 124. Am ausführlichsten argumentierte Forsyth 1984, 10–14, welche als Reste älteren Vulkanismus seither verschwundene Fumarolen und Solfataren vermutet. Die von Forsyth 1984, 13 angeführten Parallelen (Campi Flegrei, Sousaki, Melos, Kos, vgl. oben n. 89) belegen allerdings bloss, dass solche Phänomene nicht so schnell und spurlos verschwinden und vor allem in Griechenland auf den südägäischen Vulkanismusbogen beschränkt sind. Eigentliche ‚Erdfeuer’ dürften sonst in der Regel durch austretendes Erdgas gebildet werden, das mit Vulkanen (auch erloschenen) nichts zu tun hat. Das in der Antike bekannteste Beispiel waren die Feuer von Olympos in Lykien, vgl. RE 8 (1913) s.v. Hephaistos, 317–319 [L. Malten], NP 8 (2000) 1143 s.v. Olympos [11] [K. Geppert]; ganze Listen von ähnlichen Phänomenen bei Aristot. Mirab. 33–40 [832b26–833a27] (vgl. Flashar, Mirabilia, 83–86) und Plin. Nat. 2.(110f).236– 241 (vgl. Beaujeu, Livre II, 261–264).
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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„dass dort aus der Erde von selbst entstehende Feuerflammen hervorgehen“91. Doch gerade dieses Nebeneinander ganz verschiedener Berichte macht stutzig: Man beachte auch, dass diese Zeugnisse gelegentlich so formuliert sind, als dächten sich die Autoren selbst schon Vulkane oder Feuer nur in ferner Vergangenheit lebendig92. So halte ich es alles in allem leicht für möglich, dass wir es bloss mit Hypothesen der antiken Kommentatoren zu tun haben, welche die besondere Rolle erklären sollten, die dem Feuer und seinem Gott Hephaistos in den frühen Überlieferungen der Insel zukommt. Auch wenn die literarischen Quellen uns keine genaueren Angaben machen, lässt sich schliesslich eine begründete Vermutung zur Identifikation des Berges Mosychlos formulieren. Das antike Hephaistia befand sich auf einer Landzunge am östlichen Ausgang der Bucht von Pournias und ist nur durch einen flachen Isthmus mit dem Festland verbunden. Dazwischen lag in einer heute teilweise verlandeten Meerbucht, der alte Hafen. Die Stadt selbst hing auf dem einen Südhang bildenden, flach ansteigenden Hügelschild der Halbinsel, der an seiner 91
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Herakleit. All. 26.15 ἐνταῦѳα γὰρ ἀνίενται γηγενοῦς πυρὸς αὐτόµατοι φλόγες (zum Text Burkert 1970, 5 mit n. 2); danach wohl auch Schol. Hom. Od. 8.284, Eusth. Hom. Il. 1.592–94 [157.36f]. Am entschiedensten hat Burkert 1970, 5 das Bild vom lemnischen Vulkan bekämpft; vgl. 3.5.1. Die Belege für den Feuerberg stammen vor allem aus Lexika (Steph. Byz. und Et. M. s.v. Αἰѳάλη) und aus der Kommentarliteratur (Schol. Soph. Phil. 800, 986; Herakleit. All. 26. 15 [vgl. auch Schol. Hom. Od. 8.284]; ausserdem: Eusth. Hom. Il. 1.593 [157.34–37], 1.594 [158.3f], Od. 8.284 [1584. 44]; Eusth. Dion. Periheg. 520 [316.26–28]). In literarischen Texten erscheinen entsprechende Nachrichten zuerst bei Acc. Trag. 532–534 R., nach dessen Schilderung der Rauch des Vulkans aus einem Wald aufsteigt (was allerdings ein bemerkenswertes Naturwunder wäre), dann wieder bei den flavischen Dichtern, vgl. Val. Fl. 2.332– 339, Stat. Theb. 5.87f, Silv. 3.1.131f; auch Phlp. Opif. 4.10 [182.10f]. Die Annahme liegt nahe, dass diese allesamt ausgesprochen gelehrten Literaten selber schon aus den Homerkommentaren geschöpft haben. Das Erdfeuer wird am deutlichsten als Tatsache einer fernen Vergangenheit angesprochen bei Eusth. Hom. Il. 1.593 (ὅτι πῦρ καὶ ἐκεῖ γῆѳεν ἀνεδίδοτό ποτε αὐτόµατον: „weil dort einst von selber Feuer aus der Erde kam“, vgl. Eusth. Dion. Periheg. 520), wobei offen bleibt, ob dies der ursprüngliche Textzustand der Scholien ist, oder ob Eusth., der auch sonst gelegentlich echte Lokalkenntnis in seinen Kommentar einfliessen lässt, selbst den Schluss auf die ferne Vergangenheit zog. Bemerkenswert ist jedenfalls, wie er an derselben Stelle fortfährt: „Denn der ganze Ort (Lemnos) ist dem Feuer, d.h. Hephaistos, wesensmässig verwandt, hat er doch hervorbrechendes Feuer und andere Zeichen der Wärme, wie das Hervorsprudeln der dortigen warmen Quellen, die Kahlheit des Landes, oder die Armut an Ertrag; deshalb ist die Insel auch nicht mit Bergwäldern bewachsen“. Hier hat man den Eindruck, dass die anderen „Zeichen der Wärme“, welche das aus den Kommentaren übernommene „hervorbrechende Feuer“ bestätigen sollen, aus wirklicher Ortskenntnis stammen – die Thermalquellen etwa sind sonst offenbar erst im Spätmittelalter (1407) bezeugt (vgl. Koder, Pelagos, 295, der Eusth. nicht anführt). Merkwürdig ist ausserdem der Bericht einer byzantinischen Chronik von 1424 über eine (wohl vom Athos aus beobachtete) ungewöhnlich grosse Feuererscheinung über Lemnos, wobei unklar bleibt, ob der Chronist bei diesem Vorfall (wohl einem Meteoriten oder anderen atmosphärischen Phänomen) einen Bezug auf das sprichwörtliche lemnische Feuer mitdenkt, vgl. Schreiner, Kleinchroniken 1, 627 (Chronik 93.3) und den Kommentar 2, 426.
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Nordkante als steile Klippe ins Meer hinunter bricht. Blickt man von dort aus landeinwärts, so tut sich weiter östlich eine breite Senke auf, hinter der erst in grösserer Ferne neue Anhöhen auftauchen, doch wird im Südwesten der Horizont von einer kurzen Hügelkette umschlossen. Diese wächst aus einem im unteren Teil sanften Hügelhang empor, der heute mit dem auf Lemnos üblichen gelblich bis grüngrauen Steppenbewuchs bedeckt ist, und zeichnet sich im oberen Teil sowohl durch ihre Steilheit, als auch durch ihre dunklere Färbung aus. Ihr östliches Ende bildet eine Erhebung, auf welche der Stadt und Festland verbindende Isthmus gerade zuläuft, und deren Gestalt ist so bemerkenswert, dass es sich aufdrängt, sie mit dem alten Mosychlos gleichzusetzen93: Sie bildet im Querschnitt ein sich nach oben gleichmässig verjüngendes Trapez, dem – immer von Hephaistia aus gesehen und ungeachtet der wirklichen geologischen Verhältnisse – eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Vulkan nicht abzustreiten ist. In gewissem Sinne erinnert sie auch an einen riesigen archaischen Altar, und der Gedanke, dass der Berg Träger eines der in frühgriechischer Zeit so wichtigen Höhenkulte gewesen sein könnte, ist nicht abwegig – noch die Mittelachse des hellenistischen Theaters von Hephaistia zielt nämlich genau auf ihn hin. Seine Erde ist von einem dunklen, fast kohlenfarbenen Braun, das gegenwärtig noch durch einen schwärzlichen Gestrüppbewuchs vertieft wird94. Keine andere Hügelkette auf Lemnos trägt diese ungewöhnliche Färbung, und sollte sie schon in der Antike ähnlich ausgesehen haben, wäre jedenfalls die Beschreibung Galens, dass der Berg wirkt, als ob er abgebrannt wäre, vollkommen treffend. Wenn diese Überlegungen zutreffen, dann waren die wunderbaren Flammen auf dem Berg Mosychlos keine geologische Kuriosität, sondern es hat damit eine andere Bewandtnis, von der ich noch ausführlicher zu berichten habe. Etwas weiteres kommt nämlich noch hinzu: Neben dem Mosychlos kennen wir nur zwei weitere Namen für lemnische Berge. Das eine ist ein bei dem Römer Statius erwähnter Berg der Minerva, vielleicht also der Athene, auf dem sich angeblich ein
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Die bisherige Forschung sucht den Mosychlos in einhelliger Nachfolge von Fredrich 1906, 253–255 (mit Abb. 6 bei p. 245) und Dardanellen, 55–57, weiter südwestlich beim Dorf Repanidi zuinnerst am Golf von Pournias, an jener Stelle, wo seit Spätmittelalter und früher Neuzeit die ‚Lemnische Erde’ gegraben wurde. Allerdings bestehen ernste Zweifel an einer Kontinuität dieser Ausbeutung durch Spätantike und Mittelalter hindurch, vgl. unten 4.2.1. Der Bericht von Gal. 12.173 erweckt ausserdem den Eindruck, dass die kostbare Erde auf einem Fuhrwerk in die Stadt geführt wurde; indessen ist vom neuzeitlichen Grabungsort wegen der dazwischenliegenden Hügelkette nur auf einem längeren Umweg durchs Hinterland in die Stadt Hephaistia zu gelangen, während der Weg zu Schiff über den Golf von Pournias massiv kürzer und einfacher wäre. Ausserdem wirkt der flache Geländehang bei Repanidi auch auf gutwillige Betrachter nicht wie ein Berg und es fehlt jeder – für den Kult nicht ganz unbedeutende – Sichtkontakt zur Stadt. Zu diesem Hügel, dem sogenannten Kastrowuni vgl. Fredrich 1906, 255 (mit Abb. 7 bei p. 245) und Dardanellen, 58f; schon Sealy 1918–19, 166f (mit Figg. 7–9), der den Ort archäologisch untersucht hat, vermutet eine kultische Beziehung zur Stadt; weiteres bei Koder, Pelagos, 189, der auch auf die guten Sichtverbindungen dieser Erhebung hinweist.
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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Heiligtum der Göttin befand95. Eine andere Erhebung wird jedoch in unseren Berichten ebenfalls mit dem Feuer verbunden: Der sogenannte Berg des Hermes, über dessen Lage wir nichts wissen, ist die lemnische Station der Feuerstafette, welche bei Aischylos die Nachricht von Troias Fall nach Mykene bringt96. 3.1.4. Schatten von gestern Ins helle Licht der Geschichte tritt Lemnos am Ende des 6. Jh.s, als es mitten in die Auseinandersetzungen des Ionischen Aufstands und der Perserkriege gerät, um schliesslich dauerhaft in athenischen Besitz zu geraten. Über der früheren Zeit hingegen liegt ein Halbdunkel, in dem schwer zu unterscheiden ist, was als historische Nachricht, was bloss als Sage gelten darf. Dennoch hat man sich in der Diskussion über die dieser Insel zugehörigen Mythen immer wieder auf die vermuteten lokalen Verhältnisse in jener Epoche berufen, freilich meist bloss unter Heranziehung einzelner, beliebig ausgewählter Nachrichten. Hier möchte ich hingegen versuchen, zuerst ein Gesamtbild der lemnischen Geschichte vor der athenischen Eroberung zu entwerfen. Antike Berichte, archäologische und sprach95
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Stat. Theb. 5.152–154: „Ein Hain verschattet die Anhöhe der Minerva / bis zum Boden, selbst schon finster, aber darüber ragt ein gewaltiger / Berg auf und das Sonnenlicht wird von doppelter Finsternis verschluckt“; der Verweis auf das Heiligtum bei Lact. Plac. Stat. Theb. 5.152. Man sollte nicht vergessen, dass diesem Autor bei seiner Bearbeitung der HypsipyleSage, woher die Stelle stammt, das betreffende Drama des Euripides noch vollständig vorlag, vielleicht mit Kommentar, worin er auch den Hinweis auf einen solchen Ortsnamen gefunden haben kann (vgl. 3.3.2.c). Für ein paar weitere Plätze auf der Insel finden sich Namen in den Schriften des Lemniers Philostrat: das sogenannte Keras, das Horn der Insel, offenbar eine Hafenbucht, wo einmal ein Blitz eingeschlagen haben soll (vgl. oben n. 80), ein Ort namens Euboia (Strab. 10.1.15) und zwei an die Philoktetsage geknüpfte Stätten, die Flur Akesa und den Felsen Drakon, vgl. zu diesen (und zu den Ortsnamen Chryse und Nea) oben n. 10. Zu der sogenannten LykiosQuelle unten n. 174. Aischyl. Ag. 283f, vgl. Soph. Phil. 1459, sowie die Scholl. zu beiden Stellen; man vermutet meistens (etwa Jebb, Philoctetes 225; Fraenkel, Agamemnon, 154) dass damit entweder Kap Plaka an der Nordostecke der Insel oder Skopia, die höchste Erhebung im Nordwesten gemeint sein müsse. Doch die Feuerstafette des Aischyl. ist kaum sehr realistisch, zu den Schwierigkeiten etwa Ameling 1986 (Tracy 1986 verweist auf eine ähnliche Feuerstafette des Mardonios als mögliche reale Anregung für Aischyl. [vgl. Hdt. 9.3.1]; doch waren vergleichbare Einrichtungen wohl nichts so seltenes, dass man sich unbedingt auf diesen Einzelfall beziehen muss, vgl. Soph. Frg. 432.6f, Hdt. 7.182, und weiteres bei Calder 1922); damit ist aber auf solche Überlegungen (gegen Beschi 1997, 26–29) kaum Verlass. Eine andere auf einer Insel gelegene Erhebung ähnlichen Namens ist der ῞Ερµαιος λόφος, der Hügel des Hermes, der nach Hom. Od. 16.471 oberhalb der polis auf Ithaka liegt. Im Anschluss an Schol. Hom. Od. 16.471 lässt man gerne offen, ob damit eine Landmarke oder ein kultischer Steinhaufen für Hermes gemeint ist; für letzteres wäre allerdings der Ausdruck λόφος eher seltsam (vgl. LFE s.v. ῞Ερµαιος λόφος [B. Mader]), und ähnliche Ortsbezeichnungen sind öfter belegt, vgl. RE 8 (1913) 691f s.vv. Hermaea Insula, Hermaeum promunturium und 710 s.vv. Hermaion 3)–6); weiteres unten p. 151.
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wissenschaftliche Befunde müssen dabei zur Deckung gebracht werden, und es wäre unklug, nicht zum Vornherein darauf hinzuweisen, dass eindeutige und widerspruchsfreie Lösungen dafür bislang ausstehen. Was ich bieten kann, sind deshalb nicht mehr als Vermutungen, die ich für einigermassen wahrscheinlich halte97. Bereits die homerischen Gedichte erwähnen Lemnos öfter: wir hören, wie Zeus den Hephaistos, als dieser sich einmal gegen ihn stellte, am Fuss packte und vom Olymp warf; da fiel der Geschleuderte auf Lemnos nieder, wo ihn die Sintier aufnahmen98. Auch an einer zweiten Stelle wird Hephaistos mit der Insel verbunden: als er die Falle gestellt hat, in der er seine ehebrecherische Gattin Aphrodite und ihren Liebhaber Ares fangen will, täuscht er vor, nach der von ihm über alles geliebten, schön gebauten Stadt Lemnos, zu den Sintiern, weggegangen zu sein, kehrt aber vor Erreichen des Ziels um und ertappt daheim die beiden Sünder99. Neben den Göttern begegnen wir auch Helden des troianischen Krieges auf Lemnos. Der erste ist natürlich Philoktet, von dem es in den schon mehrfach angeführten Versen heisst, er liege voller Schmerzen auf der Insel, von den Achaiern zurückgelassen mit der Wunde, die ihm die Natter geschlagen hatte100. Dass die Achaier bei der Fahrt nach Troia auf Lemnos Halt machten, steht auch an jener anderen Stelle, wo Agamemnon ihnen die prahlerischen Reden vorhält, die sie auf der Insel geführt hätten, als sie bei einem üppigen Festmahl mit Fleisch von Rindern und Wein sassen und schworen, jeder von ihnen wolle hundert oder zweihundert Troer im Kampf bestehen101.
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Die Übersichten in den geläufigen Standardwerken behandeln die Zeit vor der athenischen Eroberung meist nur in vagen Umrissen, vgl. Lauffer, Griechenland, 377–380 s.v. Lemnos [W. Günther], NP 7 (1999) 41–43 s.v. Lemnos [H. Kaletsch/E. Meyer], Brodersen, Stätten, 351–353 s.v. Lemnos [S. Brenne], Hansen/Nielsen, Inventory, 756f [G. Reger]. Die aufgrund der Anwesenheit sogenannter Tyrrhener vermutete engere Beziehung der Insel zu Italien hat dazu geführt, dass – nach ersten Zufallsfunden einheimischer Ausgräber gegen Ende des 19. Jh.s (dazu Beschi 2001, 191f) – die wichtigsten archäologischen Fundstätten seit den 20erJahren des letzten Jahrhunderts von der Italienischen Schule betreut worden sind (vgl. Tinè 2000, 67). Ende der 30er-Jahre wurden diese keineswegs nur von lauteren wissenschaftlichen Motiven geleiteten Expeditionen (vgl. unten n. 118) eingestellt und das Bild der lemnischen Ur- und Frühgeschichte fror (abgesehen von einer Grabung in Poliochni in den 50er-Jahren) auf dem Vorkriegsstand ein (Zusammenfassungen der damaligen Forschungslage bei PECS 496f s.v. Lemnos [J. Boardman]; EAA 4 (1961) 542–545 und Suppl. (1973) 407 s.v. Lemno [L. Bernabò-Brea]). Die seit 1978 wiederaufgenommenen Grabungen der Italiener und andere Funde haben diese Vorstellungen in vieler Hinsicht modifiziert (gute Übersichten bei EAA 2o Suppl. (1995) 329–332 s.v. Lemno [L. Beschi], Beschi 1998, Acheilara/Archontidou, Λήµνος, Greco 2001; zur Geschichte der neuen Grabungen auch Di Vita 1998–2000, 13–15), was aber bisher in den religionsgeschichtlichen Arbeiten über Lemnisches noch kaum zur Kenntnis genommen wurde; so fehlt etwa bei Leclercq-Neveu, Crime, 110 jeder Hinweis auf die neuen Grabungsberichte. 98 Hom. Il. 1.590–594, vgl. 4.1.2. 99 Hom. Od. 8.283–302. 100 Hom. Il. 2.721–723, vgl. Ph10. 101 Hom. Il. 8.229–234.
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Dazu kommen Hinweise, wie man die inneren Verhältnisse der Insel dachte: Als Hera sich hinbegibt, um Hypnos zu treffen (sie will ihn in der sogenannten Dios Apate dazu bewegen, Zeus in Schlaf zu versenken, damit sie unterdessen die Achaier im Kampf begünstigen kann102), wird die Insel als „Gemeinde des göttlichen Thoas“ bezeichnet103. Ein andermal, als die Achaier eine Mauer um ihr Lager gebaut haben, kommen aus Lemnos Schiffe, mit Wein, den sie für Erz, Eisen, Tierhäute, Rinder oder Sklaven eintauschen; ausgesandt hat sie Euneos, der Sohn des Iason und der Hypsipyle, offenbar der Herrscher der Insel104. Dass Lemnos im Handel eine wichtige Rolle spielte, zeigt sich auch an weiteren Stellen: Als Achilleus Lykaon, den Sohn des Priamos, gefangen nimmt, bringt er ihn dorthin und verkauft ihn um den Preis von hundert Rindern an denselben Euneos; dieser gibt ihn dann dem Imbrier Eetion für Lösegeld frei, worauf er nach Hause zurückkehrt105. Achilleus soll überhaupt öfter gefangene Priamos-Söhne nach den umliegenden Inseln Samothrake, Imbros und Lemnos verkauft haben106. Weiter setzt er an den Leichenspielen für Patroklos einen grossen silbernen Mischkrug aus Sidon zum Preis aus: Phoiniker, die einmal nach Lemnos kamen, schenkten diesen dem Thoas, und Euneos hat ihn später dem Patroklos als Teil des Kaufpreises für Lykaon weitergereicht107. In diesem Gemälde liegen mehrere Farbschichten übereinander. Die durchsichtigste ist wohl die Aufgabe, die der Insel in der Erzählung zugeteilt ist: als Hinterland zu dienen, d. h. als von der Bühne des Kampfgeschehens abgeschirmter Bereich, aus dem heraus die Personen auftreten, in den sie wieder verschwinden und wo sich Dinge zutragen, die nicht zur Haupthandlung gehören. Das ist besonders deutlich im Fall des verkauften Lykaon oder des Hephaistos in der Geschichte von Ares und Aphrodite, doch ebenso bei der gewissermassen hinter den Kulissen intrigierenden Hera. Eine andere Schicht bilden die mythischen Geschichten, die zu der Insel gehören und auf die an diesen Stellen angespielt wird. Zwischen der Funktionalität der Epenhandlung und den alten Mythenerzählungen liegt aber eine dritte Schicht, gewissermassen das Dekor der Inszenierung. Mit dieser geben uns die homerischen Epen eine Schilderung der Insel, wie sie in der Wirklichkeit des 8. oder 7. Jh.s durchaus erscheinen mochte108. So erfahren wir, dass sie als Zwischenhalt auf der Fahrt zum Hellespont dient, dass sie Wein in die Troas liefert und von dort im Austausch vielfältige andere Güter erhält und dass an diesem bedeutenden Umschlagplatz auch Phönizier die Erzeugnisse ihres Luxusgewerbes absetzen. All das entspricht wohl den tatsächlichen Verhältnissen: 102 103 104 105 106 107
Vgl. Hom. Il. 14.225–282. Hom. Il. 14.230. Hom. Il. 7.467–475. Hom. Il. 21.40–79. Hom. Il. 24.751–753. Vgl. Hom. Il. 23.741–747; dass es Patroklos war, der Lykaon nach Lemnos brachte, berichteten auch die Kyprien (Prokl. Chr. Hypoth. Kypr. = 42.63f PEG). 108 Zu diesem Aspekt auch Gras, Trafics, 619f.
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Kostbare Becher aus Phönizien zum Beispiel, wie sie das Epos auch anderswo erwähnt109, haben die Ausgräber an verschiedenen Orten in Griechenland gefunden; ebenso hört man von phönizischen Niederlassungen auf Inseln der Ägäis, auch auf dem Lemnos benachbarten Thasos110. Die Bewohner der Insel erscheinen in den homerischen Gedichten zunächst als Griechen: Alle auftretenden Gestalten tragen jedenfalls klar griechische Namen111. Allerdings muss das noch nicht viel heissen: Die Ilias arbeitet kaum mit den Effekten des Exotischen und bietet, vielleicht mit Ausnahme von ein paar karischen und thrakischen Namen – Dryas oder Mentes etwa112 – das Bild einer einfärbigen griechisch-heroischen Welt, auch wo Gegner der Achaier auftreten113. Doppelt auffällig ist deshalb die Erwähnung jener Leute auf Lemnos, die Hephaistos besonders nahestehen, der Sintier, von denen es sogar heisst, dass sie agriophonoi sind, d.h. wilde Laute von sich geben. Darüber, wer mit diesem Namen bezeichnet sein könnte, gibt es verschiedene Vermutungen, und ich werde mich der Frage noch ausführlich zuwenden114. Hier will ich bloss vorwegnehmend bemerken, dass eine gründliche Prüfung aller Nachrichten es wahrscheinlich macht, dass in Ilias und Odyssee damit Elemente der Inselbevölkerung gemeint sind, welche Thrakisch sprachen, ein versprengter Teil jener Volksgruppe, welche zu Beginn des 1. Jt.s den inneren Balkan und die Nordküste der Ägäis besiedelte. Bereits in den wenigen Hinweisen, die uns die homerischen Epen geben, erscheint Lemnos damit als Ort, an dem sich Nord und Süd, Ost und West begegnen, als eine Drehscheibe des Austauschs unter den Völkern der nördlichen Ägäis. Die Bedeutung der Seewege, die hier vorbeiführen, lässt sich freilich viel weiter zurückverfolgen: Vor allem in der Osthälfte der Insel ist ein ganzes Netz von vorgeschichtlichen Siedlungen nachweisbar, Poliochni, in einer fruchtbaren Senke an der Südostküste gelegen, ist davon am besten erforscht. Es reicht bis in die ausgehende Jungsteinzeit zurück und war in seiner Blütezeit zwischen 2800 und 2100 eines der wichtigsten Zentren der nördlichen Ägäis, eine richtige Stadt mit Befestigungen, Wohnhäusern und Magazinen. Seine Kultur weist enge Beziehungen zu Westkleinasien auf, insbesondere zu den gleichzeitigen Schichten von Troia, doch ebenso zu anderen Inseln der Ägäis – auch das ein Zeichen für den Austausch, der über Lemnos lief. Seit der frühen Bronzezeit spielt die Insel dann auch in der Metallverarbeitung eine Rolle, und noch im 8./7. Jh. sind in den Urnengräbern von Hephaistia die Funde von Eisenwaffen und Goldobjekten überdurchschnittlich häufig – offensichtlich eine Folge davon, dass Lemnos in der Ägäis 109 Hom. Od. 4.615–619 = 15.115–119. 110 Vgl. Hdt. 2.44.4, 6.47.1f; zu den Funden phönizischer Prunkbecher und den Handelsniederlassungen von Phöniziern in der Ägäis vgl. Burkert, Epoche, 21, 24f und Richardson, Iliad VI, 251 (zu Hom. Il. 23.740–9). 111 Vgl. 3.3.2.a. 112 Hom. Il. 6.130, 17.73 u.a. 113 Vgl. Scherer 1976. 114 Vgl. Hom. Od. 8.294 und dazu unten 4.3.1.
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einer der ersten Häfen war, die der Handel aus den wichtigen Abbaugebieten am Schwarzen Meer anlief115. In mykenischer Zeit finden wir dann auf Linear B-Täfelchen aus Pylos mehrfach Ableitungen vom Namen der Insel zur Bezeichnung von Sklaven. Auch das setzt wohl Handelsbeziehungen von Lemnos zu Kerngriechenland voraus116. Mykenische Funde sind in Hephaistia, Myrina und Poliochni zutage getreten, aber auch auf dem winzigen, heute unbewohnten Inselchen Koukonisi, das am Ostrand des Golfes von Moudros in einer meist nur wenige Spannen tiefen Flachsee liegt, durch einen Fahrdamm mit dem Festland verbunden. Die Fundstücke von all diesen Orten weisen auf intensive Kontakte mit der mykenischen Welt der Ägäis, Handel mit Sicherheit, aber vielleicht gab es – wie auf den meisten Inseln – auch 115 Zur ältesten Epoche auf Lemnos allgemein Alram-Stern, Frühzeit, 915f; zu Poliochni EAA 6 (1965) 280f s.v. Poliochni [L. Bernabò-Brea], Acheilara/Archontidou, Λήµνος, 20–25 [A. Benvenuti], Tinè 2000, NP 10 (2001) 12–16, s.v. Poliochni [C. Tsochos], Alram-Stern, Frühzeit, 916–928; auch in Myrina und auf Koukonisi befanden sich Siedlungen, die in die frühe Bronzezeit zurückreichen, vgl. Huber/Varalis 1995, 983f, Touchais 1996, 1284f und 1998, 911f, Acheilara/Archontidou, Λήµνος, 26f [A. Archontidou], Alram-Stern, Frühzeit, 928–931. Zur Rolle von Lemnos in der Metallverarbeitung Benvenuti 1992, 9f, Beschi 1997, 23 mit n.14, zu den Gräbern von Hephaistia Mustilli 1932–33, 246–254, 274f. 116 ra-mi-ni-ja = Lamniai (PY Ab 186.B) und ra-mi-ni-jo = Lamnios (PY An. 209.2, Cn 328.4, Cn 719.6); sicher falsch dazu die Deutung von Parker 1999, 497 und 499f, der (offenbar in Unkenntnis der neueren Grabungen) behauptet, es gebe auf Lemnos keine archäologischen Spuren der Mykener und diese Namen deuteten deshalb auf Raubzüge und Sklavenjagd der Griechen in der Nordägäis. Was den Namen Λῆµνος selbst betrifft (dor. Λᾶµνος, vgl. Pind. Ol. 4.20 u.a.), so führt Steph. Byz. s.v. Λῆµνος ihn auf die angeblich gleichnamige Grosse Göttin zurück. Ein antikes Wortspiel konnte Λῆµνος mit λήµη (= Schleim der Augendrüsen) zusammenbringen, vgl. Aristoph. Lys. 299/301; allerdings scheint der Vergleich von Inseln mit λήµη nicht unüblich gewesen zu sein, Perikles soll ihn auf Aigina angewendet haben (Aristot. Rhet. 3.10 [1411a14f], weitere Stellen und Diskussion bei Dufour/Wartelle, Rhétorique, 115f), andere – mindestens nach einer Konjektur Casaubons – auf das Zwergeiland Psyttalia vor dem Piräus (vgl. Strab. 9.1.4). Gewöhnlich erklärt man den Namen Lemnos heute für ungriechisch und vergleicht Τῆµνος (äol. Τᾶµνος) als Name für eine Stadt am Hermos in Lydien (Hdt. 1.149 u. a.) und ein Gebirge in Mysien (Strab. 13.1.70 u. a.), was zu den alten Beziehungen der Insel zu Westkleinasien zu passen scheint (das Urteil stützt sich immer noch weitgehend auf Fick, Ortsnamen, 66, vgl. auch Chantraine 637 s.v. Λῆµνος). Zwingend ist die Annahme nicht, bieten sich doch gleich zwei plausible innergriechische Ableitungen an: entweder zu λαµβάνω/ἔλαβον = nehmen, bei dem sich die meisten Ableitungen an die ursprüngliche langvokalische Form der Wurzel anschliessen (λῆµµα, λῆѱις, -λήπτωρ [in Komposita] usw., vgl. Chantraine 616 s.v. λαµβάνω, Rix, LIV 514 [T. Zehnder]), also *slagw-no- > Λᾶµνος (wie zu σέβοµαι: *tyegw-no-: σεµνός, vgl. Lejeune, Phonétique, 78 [§67]) – dann könnte der Name auf die Landnahme (λῆµνος, sc. γῆ) durch Siedler zurückgehen, die jene Handelsniederlassungen gründeten, aus denen die lemnischen Sklaven nach Pylos kamen. Oder der Name gehört zu der Wurzel las- = begehren, die im Griechischen in λιλαίοµαι (begehren) und λάσται (Dirnen, vgl. Hsch. s.v. λάσ-ται) erscheint: *las-mno- > Λᾶµνος (wohl schon vormykenisch der Schwund des -s- mit Ersatzdehnung, vgl. Lejeune, Phonétique, 121–123 [§§ 114, 116]). Sollte man allenfalls den Namen die Begehrende auf die Grosse Göttin Lemnos-Artemis beziehen dürfen, von der gleich unten zu sprechen sein wird? Aber natürlich haftet dem Spekulieren mit Namen immer etwas Beliebiges an.
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hier mykenische Siedlergruppen, war also das griechische Element schon vor den thrakischen Sintiern vertreten117. Die dunklen Jahrhunderte scheinen in der Entwicklung der Insel keinen Bruch hinterlassen zu haben. Zwar ist es zweifelhaft, ob die in Hephaistia gefundene bemalte Keramik des 8./7. Jh.s wirklich Formen der submykenischen Epoche wieder aufnimmt, wie die älteren Ausgräber gemeint haben; neuere Forschungen verstehen sie eher als Sonderentwicklung im Rahmen der orientalisierenden Produktion jener Zeit118. Verlässlichere Hinweise auf eine gewisse kulturelle Kontinuität in dieser Zeit liefern die lokalen Kulte: So hat man in Hephaistia zwei kleine Heiligtümer ausgegraben, die bis in die 2. Hälfte des 7. Jh.s zurück reichen und Bauformen mykenischer Zeit wiederaufnehmen. Dort fanden sich auch Tonidole, die deutlich an die bekannten bronzezeitlichen Figuren einer Frau mit betend erhobenen Armen anknüpfen. Beides sind Erscheinungen, die sich auch anderswo in der griechischen Welt beobachten lassen, denn am Ende der spätmykenischen Welt liegt bekanntermassen kein radikaler Kulturbruch119. 117 Zur mykenischen Fundschicht auf Lemnos Messineo 1997, 244f, 248f, LIMC 8.1 (1997) s.v. Lemnos 1, 772 [C. Boulotis], Touchais 1996, 1285 und 2000, 957f, Chiai 2000, 206f mit n. 17; zu der merkwürdigen Lage von Koukonisi auch Lehmann, Inseln, 4,472f. Noch Parker 1994, 343–345 geht aber davon aus, dass Lemnos erst durch die athenische Besetzung griechisch wurde, was nicht nur die wirkliche Sachlage verkennt, sondern auch in religionsgeschichtlicher Hinsicht zu fragwürdigen Deutungen führt wie: In so far as they are Greek, the cults of Lemnos are ... Athenian, no other polis having been there first (Parker 1994, 344). Schon für Homer war freilich Lemnos eine polis – manchmal sind die Griechen eben nicht ganz so ethnozentrisch, wie ihre modernen Deuter glauben möchten. 118 Die Vorstellung vom Fortleben minoisch-mykenischer Formen in der lemnischen Keramik der sogenannten tyrrhenischen Periode wurde vor allem von Della Seta 1937b geprägt, vgl. EAA 4 (1961) s.v. Lemno 543 [L. Bernabò-Brea]; Nachwirkungen dieser Auffassung noch bei Heurgon 1988, 18f, Messineo 1997, 241, Chiai 2000, 206f; begründete Kritik bei Beschi 1998, 70–72, Greco 2001, 383. In der Tat ist das zeitbedingte Interesse, das die italienische Forschung der Ära Mussolini an Lemnos hatte, nirgends so deutlich wie hier: Aus der Analogie mit der minoisch-mykenischen Kunst wird bei Della Seta 1937b, 635–637 abgeleitet, dass die lemnischen Tyrrhener eine versprengte Gruppe der vorgriechischen Bevölkerung der Palastzeit waren (Linear B ist damals noch nicht entziffert!) – unausgesprochen avancieren damit die nächsten Verwandten der Tyrrhener, die italischen Etrusker, zu natürlichen Erben der ersten grossen Seemacht im mare nostro. Ausgangspunkt der Betrachtung ist dabei die Stele von Kaminia, allerdings nicht ihre Sprache, sondern die Fremdartigkeit des darauf abgebildeten Kopfes dal basso cranio con fronte sfuggente e occipite mancante, dal naso rigonfio (Della Seta 1937b, 629). Diese Aufmerksamkeit für völkische Physiognomien hat so kurz vor den Rassegesetzen von 1938 etwas Irritierendes – eigentlich beklemmend wird sie, wenn man sie in ihren biographischen Zusammenhang stellt: Della Seta, überzeugter Faschist und schon vor 1920 Anhänger einer expansionistischen Grossmachtpolitik Italiens, war Jude und verlor 1938 seine Stellung als Leiter der Italienischen Schule und alle anderen Ämter; nach Della Seta 1937a) und b) waren ihm keine Publikationen mehr möglich, vgl. Dizionario Biografico 37 (1989) 476–481 s.v. Della Seta, Alessandro [D. Manacorda]; der Abbruch der Grabungen in Lemnos erfolgte vor allem im Zusammenhang mit dieser Absetzung ihres Leiters noch vor Kriegsausbruch 1939, vgl. Tinè 2000, 67. 119 Zu den Heiligtümern von Hephaistia EAA 3 (1960) s.v. Efestia 230f [D. Mustilli] und die neueren Berichte von Messineo 1988–89, bes. 421–425, und Beschi 1998, 53–56, der die
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Eine andere Überlegung bestätigt diesen Befund: es gehört zu den üblichen Meinungen über die lemnischen Mythen, dass mindestens jener von Hypsipyle und ihren Frauen mit einem der Kulte der Insel eng zusammenhängt, von dem wir aus späterer Zeit zuverlässige Zeugnisse haben, dem sogenannten Feuerfest120. Da auf Hypsipyle aber schon in den homerischen Epen angespielt wird, liegt der Gedanke nahe, dass auch das Ritual schon damals bestanden haben muss, auf das sich der Mythos bezieht, ebenso gewisse gesellschaftliche Einrichtungen als Träger desselben. Die Verhältnisse sind vielleicht im Einzelnen einiges komplizierter – aber griechische Kulte und Götter dürften auf der Insel schon lange vor der athenischen Eroberung ihren Platz gehabt haben121. Es ist nötig, so deutlich auf all diese Zeichen von Kontinuität in Besiedlung und Kultur der Insel hinzuweisen, weil die ältere Forschung ein ganz anderes Bild gezeichnet hat. Hier treffen wir Darstellungen, nach denen eine ganze Reihe von Völkern die Insel nacheinander besetzt und jeweils ihre Vorgänger vertrieben habe, bis dann als letzte die Athener kamen. Heute erkennen wir diese Vorstellungen weitgehend als Fehldeutungen, welche die Mythologie der Insel allzu linear in historische Fakten umsetzen, auch wenn gelegentlich die Verwirrung noch nachwirkt, die sie hinterlassen haben122. Eine der Hauptschwierigkeiten ist dabei, dass seit dem Ende des 6. Jh.s in unseren Quellen noch von einem weiteren Volk auf der Insel die Rede ist, den Pelasgern, die man später auch als Tyrrhener bezeichnet hat123. Während es schwer fällt, den Namen der Pelasger, die in der griechischen Geschichtsschreibung verschiedentlich die Rolle eines mythischen Ur- oder Wandervolkes spielen, auf einen eindeutigen Inhalt festzulegen, ist jener der
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Analogien zu anderen griechischen Kultbauten des 8./7. Jh.s hervorhebt, sowie Messineo 2000, 90–92, der mehr die Kontinuität zu Mykenischem betont. Zu den Tonidolen von Lemnos LIMC 8.1 (Suppl. 1997) 771–773 s.v. Lemnos [C. Boulotis], bes. Nr. 2, Beschi 1998, 61– 66; zu den Analogien an anderen Orten (Samos, Rhodos, Athen, Boiotien u.a.) vgl. Burkert, GR 48, Dietrich 1987, 489f. Vgl. 3.5.1f. Aus dem Heiligtum von Hephaistia stammt ein Relief aus vorattischer Zeit, das Aias mit dem Leichnam des Achilleus darstellt und so belegt, dass die Gestalten der griechischen Dichtung auf Lemnos am Anfang des 6. Jh.s bekannt sind, vgl. LIMC s.v. Achilleus Nr. 860 und Beschi 1998, 66. Kaum überzeugend ist hingegen (auch gegen Heurgon 1988, 22–24) die Deutung des Bildes auf einem Vasenfragment auf Ares und Aphrodite, vgl. LIMC 2.1 (1984) s.v. Ares 483 (zu Nr. 60). Zu Artemis und Athene unten 3.1.5.a. Mustergültig und prägend seinerzeit Fredrich, IG XII.8, 2–6. Dumézil, Crime hat diesen Phantomen jede Grundlage entzogen. Trotzdem feiert die historisierende Projektion der Mythen noch heute bisweilen eine befremdliche Auferstehung, vgl. Janko, Iliad IV, 187f zu Hom. Il. 14.229–30, ja selbst Beschi 1996–97, 25–27 kann sich in seinem historischen Abriss nicht ganz von ihr freimachen. Vgl. Greco 2001, 385. Erster Zeuge ist Hekat. FGrHist 1 F 127 = Hdt. 6.137; zur Überlieferung Kinzl, Miltiades-Forschungen, 121–129. Pelasger auch auf dem benachbarten Imbros nennen Hdt. 5.26.2 und Anticl. FGrHist 140 F 21 = Strab. 5.2.4, auf Samothrake Hdt. 2.51.3. Bei der grossen Verbreitung des sagenhaften Pelasgermotivs müssen diese Berichte nicht wirklich etwas mit den lemnischen Verhältnissen zu tun haben.
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Tyrrhener zugleich die griechische Bezeichnung für die Etrusker in Italien124. Damit haben wir für die nichtgriechische Bevölkerung von Lemnos vier oder fünf Spielgrössen – Sintier, Thraker, Pelasger, Tyrrhener, Etrusker –, die sich auf verschiedene Weise kombinieren lassen. Schon die Griechen selbst haben alles Mögliche versucht, und es hat wenig Sinn, hier die ganze – in der letzten Zeit recht intensiv geführte – Diskussion nochmals aufzurollen125. Sicher scheint danach zu sein, dass man sich hüten muss, Sintier und Tyrrhener in einen Topf zu werfen, um Lemnos zu einer von nur einem barbarischen Urvolk bewohnten Insel zu machen; denn neben den Griechen und den Thrakern scheint sich mindestens noch eine dritte Volksgruppe auf Lemnos sicher nachweisen zu lassen. Wir finden hier nämlich eine Reihe von Inschriften und Graffiti aus der Zeit vor der athenischen Eroberung in einer fremden, mit dem Griechischen nicht verwandten Sprache. Das wichtigste Zeugnis ist eine Grabstele vom Ausgang des 6. Jh.s, die in Kaminia, einem Dorf im Südwesten unweit von Poliochni, gefunden wurde126. Nachdem die Sprache dieser Inschriften lange als rätselhaft galt, haben die Fortschritte der Etruskologie in den letzten Jahrzehnten erlaubt, sie eindeutig als eine nahe Verwandte des Etruskischen zu erweisen. Allerdings fallen dabei einerseits gewisse altertümliche Züge des Lemnischen auf, wohl ein Zeichen, dass das Areal dieses Idioms schon einige Zeit vor Abfassung unserer Inschriften vom etruskischen Sprachgebiet getrennt worden ist. Dennoch sind die Ähnlichkeiten so gross, dass diese Trennung nicht in grauer Urzeit, vor der Einwanderung der Griechen in die Ägäis am Ende des 3. Jt.s liegen kann. Zum einen hat man nämlich längst darauf hingewiesen, dass das Etruskische, obwohl im Grunde nicht indoeuropäisch, in Wortschatz und grammatischer Struktur auffallende Analogien zu 124 Ob es wirklich einmal ein Volk der Pelasger gegeben hat und welche Rolle es in Griechenland spielte, ist unklar. Sicher fiktiv ist die Vorstellung vom Urvolk, das sich die Griechen an den verschiedensten Orten ansässig dachten, vgl. De Simone, Tirreni, 47–62 und 1997, 42– 44, NP 9 (2000) 490f s.v. Pelasgoi [F. Gschnitzer], Sourvinou-Inwood 2003. Nur Nep. Milt. 2.5 nennt als Vorgänger der Athener statt der Pelasger die Karer, die ja oft eine ähnliche Rolle als Urvolk spielen, vgl. Kinzl, Miltiades-Forschungen, 141–144, Burkert, HN 250–255. 125 Der ausführlichste Beitrag, dem ich in wesentlichen Punkten folge, ist De Simone, Tirreni; ihm vorausgegangen waren Gras, Trafics, 630f, Drews 1992, 24–28, bes. 27 u.a.; dieser Ansatz hat ausser vorsichtiger Zustimmung (etwa bei Briquel, Civilisation, 71f) auch kontroverse Reaktionen ausgelöst, vgl. unten p. 148 mit nn. 150f; De Simone 1997 und 1998 verteidigt seinen Standpunkt weiter. Wichtige Grundlinien der ganzen Diskussion sind schon bei Meyer 1892 vorweggenommen. 126 Vgl. IG XII.8.1. Der Sinn dieser Inschrift ist erst teilweise klar; wesentliche Beiträge zu ihrem Verständnis bei Rix 1968, Agostiniani 1986, De Simone, Tirreni, 23–38; eine Zusammenfassung bei Van der Meer 1992, 61–67. Weitere tyrrhenische Inschriften und Graffiti aus Hephaistia bei Della Seta 1937a, 120–125, Beschi 1992–93, 268–274, De Simone, Tirreni, 7– 23 (dazu unten n. 128), Beschi 1996–97, 72–74. Die neuerdings von De Palma 2001 und De Palma, Paese behauptete vollständige Entzifferung und Übersetzung der Stele ist weitgehend phantastisch. Der Autor kombiniert Vergleichswörter aus den verschiedensten Sprachen, ohne irgendeine linguistische Methode erkennen zu lassen; ebensowenig adäquat ist sein Umgang mit den Quellen, wenn er den historischen Hintergrund zu deuten versucht.
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den indoeuropäischen Sprachen hat, was sich nur damit erklären lässt, dass es sich bereits in einem stark von diesen geprägten Umfeld zu der Form entwickelt hat, die wir heute allein kennen127. Es ist nun eher unwahrscheinlich, dass eine solche Entwicklung in zwei voneinander getrennten Arealen mit verschiedenen Nachbarsprachen zu Resultaten führt, die sich so ähnlich sind wie Etruskisch und Lemnisch. Dazu kommt, dass unter den Zügen, die Etruskisch und Lemnisch verbinden, sich wahrscheinlich einzelne befinden, die auch für die merkwürdige Nähe des Etruskischen zu seinen italischen Nachbarn kennzeichnend sind128. Der Schluss liegt somit nahe, dass sich irgendwann in den dunklen Jahrhunderten auch Siedler aus Italien auf Lemnos niedergelassen haben, die eine alte Form des Etruskischen sprachen. Ob sie dabei den Handelswegen nach Osten als friedliche Kaufleute und Kolonisten gefolgt sind, oder – wie der allgemeine Ruf des Namens Tyrrhener andeutet – mehr aus seeräuberischem Interesse, wird mal wohl offen lassen müssen129. Wenn griechische Historiker von Wanderungen der Pelasger oder Tyrrhener erzählen, welche diese nach Lemnos geführt haben, so kann man das natürlich nicht misstrauisch genug betrachten – viel wahrer als die Sagen von der Einwanderung der Troianer in Italien brauchen solche Geschichten nicht zu sein. Doch gerade wenn die Niederlassung der Tyrrhener auf Lemnos nicht allzuweit hinter dem 7. Jh. zurückliegen sollte, in dem unsere Überlieferungen anfangen, könnte es auch sein, dass solche Berichte nicht mehr im engeren Sinn mythisch sind, sondern eine Spur geschichtlicher Erinnerung in sich tragen130. 127 Man bezeichnet das Etruskische deshalb auch als peri-indoeuropäisch, vgl. Briquel 1997, 330f; Skepsis gegen dieses Konzept bei Beekes 1993, 52–57; der Versuch von Adrados 1989, Etruskisch überhaupt zur indoeuropäischen Sprache zu machen, hat dennoch keine Zustimmung gefunden, vgl. Neu 1990, Adrados 1994. Die enge Zusammengehörigkeit von Lemnisch und Etruskisch wird allgemein anerkannt, vgl. Steinbauer, Handbuch, 363–366. Zentral sind dabei, neben erkennbar analogen syntaktischen Formeln (dazu Rix 1968), v.a. die grossen Ähnlichkeiten in Lautsystem und Formenlehre (vgl. Agostiniani 1986, 17–23); dass die Entsprechungen im Vokabular spärlich sind (dazu Agostiniani 1986, 23–25), hat bei der Kargheit des Materials nichts zu bedeuten (dies gegen Beekes 2001, 360; die Unterschiede wohl auch überbewertet bei Heurgon 1988, 27 mit nn. 39f); zu den archaischen Zügen des Lemnischen Agostiniani 1986, 36–42. 128 Vgl. De Simone, Tirreni, 23–37, 85–87 und 1997, 44f, der gewisse Merkmale des noch gut erkennbaren Namenssystems und einzelne Suffixe (-lo/-la, -sio) anführt. Wenigstens eines seiner Argumente, ein Graffito von 6 Buchstaben auf einem Webstuhlgewicht aus Hephaistia (vgl. De Simone Tirreni, 7–23), ist allerdings nicht verwertbar, weil die von De Simone vorgeschlagene Lesung wohl falsch ist, vgl. die Kritik bei Beschi 1996. Die Ingeniosität, mit der De Simone 1997, 36–37 dessen das Wort umkehrende Lesung ebenfalls seiner Hypothese dienstbar macht, belegt leider bloss, dass sich aus einem so winzigen Fragment immer alles und nichts herauslesen lässt. 129 Zu den Tyrrhenern als Seeräubern schon Hymn. Hom. Dion. 6–8. Als Versteck von (See-?) Räubern erscheint Lemnos auch in der zeitlich nicht sicher einzuordnenden Geschichte von Amphiretos bei Polyain. Strat. 6.54 (vgl. 4.2.1). Eine umstrittene Frage ist, ob die Anwesenheit von Etruskern in der Ägäis nicht nur auf Lemnos beschränkt war, vgl. Briquel, Origine, 74–79. 130 Vgl. Hdt. 6.137, Hellanik. FGrHist 4 F 71a = Schol. Hom. Od. 8.294, und zur Deutung De Simone, Tirreni, 66–84; anders Heurgon 1988, 26–30. Da die Tyrrhener das etruskische Al-
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Es scheint, dass es diesen Tyrrhenern gelang, auf der Insel eine führende Stellung zu erobern. Eine Vertreibung der bisher ansässigen Bevölkerung setzt das nicht voraus: Spuren von Zerstörung und gewalttätigen Auseinandersetzungen liessen sich in dieser frühen Zeit bisher nicht nachweisen. Gewiss gliedern sich die Keramikfunde von Hephaistia in zwei Phasen, deren erste durch subgeometrische Ware und grauen Bucchero gekennzeichnet ist und den Funden an anderen Orten in der Nordägäis entspricht, während sich in einer zweiten Phase ein Lokalstil ausbildet, den die Ausgräber ‚tyrrhenisch’ genannt haben. Dennoch sollte man daraus keine voreiligen Schlüsse ziehen: Dass eine wenig unterschiedene geometrische Keramik im 7. Jh. durch stärker lokal gefärbte Formen abgelöst wird, beobachtet man in der griechischen Welt allenthalben, und dies hat wohl mehr mit der inneren Entwicklung der Gemeinden zu tun als mit Verschiebungen in der Bevölkerung131. Sobald figürliche Darstellungen auftauchen, sind ihre Themen jedenfalls die auf griechischen Vasenbildern der Zeit üblichen (einen Wagen besteigende Krieger, Jäger beim Erlegen eines Ebers usw.), so dass man insgesamt den Eindruck einer typisch griechischen oder jedenfalls sich an hellenischen Vorbildern orientierenden Produktion erhält. Anders ist die Lage am Ende des 6. Jh.s: Zuerst wurde die Insel offenbar von den Persern unter Otanes erobert, die den Samier Lykaretos zu ihrem Statthalter einsetzten132. Die Stadt Hephaistia verwüstete damals ein archäologisch nachweisbarer Brand, was man wohl zu Recht mit diesen kriegerischen Auseinandersetzungen in Verbindung bringt. Etwas später wurde die Insel von Miltiades angegriffen, wobei Hephaistia kaum Widerstand leistete, während Myrina
phabet schon mitgebracht haben könnten, vermutet De Simone, Tirreni, 90f eine Einwanderung erst um 700 (ähnlich schon Gras, Trafics, 629–631) – nicht unbedingt zwingend, da das Alphabet (anders als die Sprache) auch bei einem Heimatkontakt einige Zeit nach der Landnahme übernommen sein kann; ausserdem steht die Herkunft des lemnischen Alphabets selbst noch nicht fest, vgl. De Simone 1994 gegen Beschi 1996–97, 94–97, Malzahn 1997. Bei einem so späten Ansatz der Landnahme wird übrigens auch das Problem gravierend, dass die materielle Kultur der archaischen Lemnier sonst sehr wenig ‚etruskische’ Züge zu tragen scheint, vgl. unten n. 150. Sprachliche Gründe gegen einen zu späten Ansatz der Einwanderung der Tyrrhener bei Agostiniani 1986, 42f. Eine Einführung des Kabirenkultes auf Lemnos durch die Tyrrhener anzunehmen (der archaische Bau des Kabeirions von Chloi stammt aus dem 7. Jh.), fehlt gegen Beschi 1996–97, 27 jede Grundlage, vgl. unten 4.3.3. Überbewertet wird schliesslich bei De Simone, Tirreni, 45–47, 88f und 1997, 42 sowie 1998, 397, dass Homer auf Lemnos nur die Sintier, aber keine Tyrrhener kennt – bei der Spärlichkeit der Quellen in dieser frühen Zeit ist das argumentum ex silentio nicht viel wert. Rix, Rätisch, 59f setzt den gemeinsamen Vorfahren von Etruskisch, Lemnisch und Rätisch (zu diesem unten n. 152) in die Zeit um 1000. Die Erbitterung mit der De Simone 1998, 405–409 gegen den Ansatz eines solchen ‚Urtyrsenischen’ kämpft und darauf beharrt, dass Lemnisch wirklich Etruskisch sei (obwohl einzelne Unterschiede deutlich sind), ist mir nicht nachvollziehbar. Es klingt, als hätte die Etruskologie vergessen, wie willkürlich und mehr kulturpolitischer als linguistischer Natur die Unterscheidung zwischen Sprache und Dialekt ist. 131 Zur lemnischen Keramik Beschi 1994, 29f und 1998, 70–74. 132 Vgl. Hdt.5.26f.
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sich erst nach längerer Belagerung ergab133. Die antiken Historiker erzählen, dass damals die Tyrrhener vertrieben worden seien; sie hätten sich dann auf der AthosHalbinsel niedergelassen, wo sie noch zur Zeit des peloponnesischen Krieges nachweisbar waren134. Auch die Archäologen beobachten damals Spuren eines Wandels: in Hephaistia wurde das erwähnte altertümliche Heiligtum nach dem Brand nicht wieder aufgebaut. Ausserdem gibt es in der Stadt eine alte, vom 8. bis ans Ende des 7. Jh.s benutzte Nekropole mit Brandurnen, in deren Nachbarschaft nach 500 Gräber mit Erdbestattungen angelegt wurden. Freilich sollte man die Tiefe des Bruchs auch nicht überschätzen: Ein archaisches Heiligtum der Artemis vor den Toren von Myrina etwa wurde in den folgenden Jahrhunderten weiter benutzt, und noch auffälliger ist die Situation in dem berühmten Kabirenheiligtum bei Hephaistia, wo nach einem Unterbruch in den Jahren nach 500 der Kult in ganz ähnlicher Weise wiederaufgenommen wurde – bloss die Sprache der Graffiti auf den Trinkgefässen, welche die Mysten benutzten, wechselte von Tyrrhenisch zu Griechisch135. Nach der Eroberung durch die Athener erhielt Lemnos attische Siedler zugeteilt, seine Gemeinden wurden Mitglieder des Seebundes. Bei dieser engen Bindung an die Stadt blieb es – mit seltenen kurzen Unterbrüchen – bis ans Ende der Antike: Lemnos gehört mit Imbros zu jenen wenigen überseeischen Besitzungen, deren attische Zugehörigkeit man als geradezu selbstverständlich empfand136. Das kann dazu beigetragen haben, dass die Mythen der Insel weit herum berühmt blieben, anderseits muss man sich klar sein, dass bei einem so engen und dauerhaften Kontakt die athenische Eroberung das Leben auf der Insel nicht nur durch das Entsenden neuer Siedler verändert hat, sondern vielleicht noch mehr durch eine
133 Hdt. 6.140, Diod. 10.19.6, Charax FGrHist 103 F 18 (= Steph. Byz. s.v. Ἡφαιστιάς), Zenob. 3.85 (vgl. Hesych. und Suid. s.v. Ἑρµώνιος χάρις), Nep. Milt. 2.4f u.a.; zu den literarischen Zeugnissen kommen kurze Inschriften vom Anfang des 5. Jh.s, die sich auf die athenische Eroberung beziehen lassen (IG I3 522bis, 1466, IG XII Suppl. 337); Beschi 1994, 33, Messineo 1997, 251 und Beschi 2000, 77 deuten ausserdem gewisse Keramikfunde und Schadenspuren im archaischen Telesterion (vielleicht auf zu dramatisierende Weise) als unmittelbaren Reflex der persischen Eroberung. Die Einzelheiten der gewiss komplexen Auseinandersetzungen um die Insel sind umstritten, ich verzichte deshalb auf eine eingehende Untersuchung jener Jahrzehnte; ausführlich Kinzl, Miltiades-Forschungen, 56–80, 130–140, 145– 154, Rausch 1999. 134 Thuk. 4.109.3f, vgl. Hdt. 1.57.2, Strab. 7 Frg.35; dazu auch De Simone 1998, 398–400. 135 Zum Ende des Heiligtums von Hephaistia Messineo 1988–89, 424f, Beschi 1994, 30f, EAA 2o Suppl. 3 (1995) s.v. Lemno 330f [L. Beschi]; zu den Verhältnissen im Kabirenheiligtum von Chloi Beschi 1994, 43 und 2000, 79 sowie unten 3.1.5.a und 4.3.3; zu beidem Greco 2001, 387; zur Datierung der Nekropole von Hephaistia Mustilli 1932–33, 241–243, 277; vgl. auch Messineo 2000, 87; zum Artemisheiligtum von Avlonas und den damit verbundenen Problemen unten p. 150 mit n. 158. 136 Imbros und Lemnos waren auch im Sprichwort eng verbunden, vgl. Hesych. s.v. ῎Ιµβριος καὶ Λήµνιος, Macar. 4.77 u.a.
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Art Modernisierung als Folge des Verkehrs mit dem Mittelpunkt der damaligen griechischen Kulturwelt137. Eine letzte Frage bleibt noch zu besprechen: in klassischer Zeit kennt man auf der Insel zwei Gemeinden138, das bereits geschilderte, heute verlassene Hephaistia und den modernen Hauptort der Insel, das von Hügelland umgebene Myrina an der südlichen Westküste mit seinem markanten, zwischen zwei Buchten ins Meer vorspringenden Burgfelsen. Anders wirken die in den homerischen Epen vorausgesetzten Verhältnisse: Dort stellt Lemnos als Ganzes eine einzige Gemeinde dar139. Dass sich daraus etwas Zuverlässiges über die innere Entwicklung der Insel in archaischer Zeit folgern lässt, ist kaum anzunehmen. So lückenhaft die archäologische Erforschung noch ist, reichen jedenfalls an beiden Orten die Siedlungsspuren weit über die homerische Zeit zurück, und damit besteht kein Anlass, eine der beiden Städte als später hinzugekommen zu denken140. Für unseren Zusammenhang ist etwas anderes interessanter: Wo Lemnos bei Homer als Gemeinde des Thoas beschrieben wird, erklären die Scholien, dass damit im engeren Sinne Myrina gemeint sei141. Bedenkt man die Rolle, die Thoas in den Sagen der Insel spielt, so stellt sich die Frage, ob sich allenfalls ein Teil der Überlieferung an eine der beiden Gemeinden besonders anknüpfen lässt. Zwei widersprüchliche Zeugnisse treten nämlich neben die Scholien142: Zum einen verlegt Apollonios Rhodios die Geschichte von Iason und Hypsipyle eindeutig nach Myrina143, anderseits lässt Aischylos in seinem Stück Kabeiroi auch Iason und seine Leute auftreten, und zugleich kann man nicht ausschliessen, dass sich dieses Stück auf die Kulte von Hephaistia bezieht144. Beide Stellen sind nicht unverdächtig: Bei Aischylos ist dieser Bezug keinesfalls sicher, und bei Apollonios
137 Zur späteren Geschichte von Lemnos Sealy 1918–19, 148–159, Lauffer, Griechenland s.v. Lemnos, 378–380 [W. Günther], Koder, Pelagos, 205–209 u.ö. 138 Zwei πόλεις: Steph. Byz. s.v. Λῆµνος = Hekat. FGrHist 1 F 138a; Gal. 12. 171f, Ptol. Geogr. 3.13.47 u.a. 139 Vgl. besonders Hom. Il. 14.230, 281, Od. 8.283. 140 Zu Hephaistia vgl. EAA 3 (1960) 230f s.v. Efestia [D. Mustilli], Lauffer, Griechenland, 259f s.v. Hephaistia [W. Günther], Acheilara/Archontidou, Λήµνος, 35–38 [A. Benvenuti], Messineo 2000, Hansen/Nielsen, Inventory, 757f [G. Reger], auch Koder, Pelagos, 174, Lehmann, Inseln 4, 464; die italienischen Grabungen haben bisher nur einen Teil des Stadtgebiets genau untersucht, vgl. die Übersichtskarte bei Di Vita 1992–93, Tav. IX und Messineo 2000, 89f; zu Myrina RE 16 (1935) 1093–1095 s.v. Myrina 2) [R. Herbst], Lauffer, Griechenland, 449f s.v. Myrina [W. Günther], Acheilara/Archontidou, Λήµνος, 26–34 [A. Archontidou], Hansen/ Nielsen, Inventory, 757 [G. Reger], auch Lehmann, Inseln 4, 448–454. Zum Alter von Myrina oben n. 115. Der Name der Stadt erscheint in der Form Murinail wohl schon auf der Stele von Kaminia, vgl. De Simone, Tirreni, 38. 141 Schol. Hom. Il. 14. 230. 142 Daraus, dass der Name der Stadt Myrina auf die Gattin des Thoas zurückgeführt wird (Schol. Apoll. Rhod. 1.604, Steph. Byz. s.v. Μύρινα, Et. M. s.v. Μυρίννα), lässt sich gar nichts machen: Damit kann Thoas selber immer noch als Herr von Hephaistia gedacht sein. 143 Apoll. Rhod. 1.634, vgl. auch 1.604 und Schol. Kallim. Frg. 384. 144 Vgl. 4.3.3.
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Rhodios besteht die Möglichkeit, dass er selber bereits auf eine gelehrte Auseinandersetzung um die Bestimmung der Stadt des Thoas anspielt145. Weiterhelfen kann vielleicht ein Blick auf die lemnischen Geschichten bei Herodot146. Auch dieser spricht, so lange er die in grauer Vorzeit spielenden, rein sagenhaften Berichte über das Lemnische Unheil erzählt, immer nur von Lemnos im Allgemeinen. Wenn er aber die in einer noch erinnerten Geschichtsperiode spielenden Ereignisse der athenischen Eroberung berichtet, unterscheidet er klar zwischen Hephaistia und Myrina147. Ich halte es deshalb für das Einfachste anzunehmen, dass beide Gemeinden in manchem ähnliche Überlieferungen pflegten, die man deswegen allgemein als die lemnischen betrachtete. Vielleicht muss man auch daran erinnern, dass es auf Inseln, wo mehrere poleis nebeneinander bestanden, von allen gemeinsam gepflegte, oft im Grenzgebiet dazwischen gelegene Kulte gab148. Ob auch auf Lemnos Vergleichbares vorliegt, lässt sich anhand unseres Materials nicht mehr entscheiden. Eine zusammenhängende Darstellung der Frühgeschichte von Lemnos, wie ich sie hier versucht habe, bleibt fragwürdig, wenn man nicht auf die vielen Unsicherheiten und Widersprüche hinweist, die beim gegenwärtigen Stand der Forschung immer noch bleiben – auch wenn Publikationen über die neueren italienischen Grabungen einander derzeit Schlag auf Schlag folgen und so reichhaltig sind, dass jede daraus abgeleitete Arbeit schon bei ihrer Veröffentlichung wieder überholt scheinen muss. So steht etwa die oben angenommene Kontinuität griechischer Besiedlung der Insel seit der Bronzezeit gegen die Tatsache, dass die griechischen Inschriften erst nach 500 einsetzen, wenn gleichzeitig jene in Lemnisch aufhören149. Die Annahme einer Einwanderung der Tyrrhener erst in der Eisenzeit hingegen führt auf die Schwierigkeit, dass sich von Warenaustausch mit Etrurien auf Lemnos bisher kaum eine Spur findet und es auch so gut wie keine kulturellen Übereinstimmungen zwischen Lemniern und Etruskern im archäologischen Material gibt. Beides sind freilich Argumente ex silentio, deren Kraft auch bei viel reicheren Belegen, als sie die bisherigen Grabungen geliefert haben, noch sehr beschränkt bleiben würde150. Ich habe deshalb in meiner Übersicht 145 146 147 148 149 150
Vgl. eben Schol. Hom. Il. 14.230. Hdt. 6.137–140. Hdt. 6.140. Zu Beispielen auf Lesbos und Euboia vgl. Polignac, Naissance, 56, Villatte, Insularité, 87. Zum Beginn der griechischen Inschriften vgl. Jeffery, Scripts, 299f. Auf das Fehlen einer archäologischen Spur von Kontakten zwischen Lemnos und Etrurien hat etwa Beschi 1994, 29; 1996, 133 n. 5; 1998, 51f mit Nachdruck aufmerksam gemacht. Die Antwort darauf bei De Simone 1998, 410 non esiste una correlazione inerente tra „lingua“ ed „aspetti culturali“ (vgl. auch De Simone 1994, 161f und 1997, 48f) spielt das Problem unzulässig herunter, besonders wenn De Simone zugleich darauf beharrt, dass die Lemnier erst zu Beginn des 7. Jh.s – bei schon weit entwickelter etruskischer Kultur – von Italien ausgewandert sein sollen. Allerdings unterschätzt Beschi seinerseits wohl das Gewicht der sprachlichen Argumente. Ausserdem wird auf der Grabstele von Kaminia neben den Vaterauch der Mutternamen gesetzt, was vielleicht eine nicht unbedeutende kulturelle Analogie zu Etruskischem darstellt (vgl. Van den Meer 1992, 68, De Simone, Tirreni, 23–37 und 1998, 403f), und auf die Ähnlichkeit der Urnengräber in der Nekropole von Hephaistia mit jenen
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3. Die Stadt der Frauen
diese Bedenken weniger stark gewichtet als die grosse Nähe zwischen der Sprache der lemnischen Tyrrhener und dem Etruskischen, die mir eine Trennung der Idiome schon vor der ersten indoeuropäischen Wanderung zu verunmöglichen scheint, was aber fast zwingend dazu führt, dass entweder die Lemnier aus Etrurien oder die Etrusker von Lemnos gekommen sein müssen. Nun wird gewiss die alte Hypothese einer Einwanderung der Etrusker aus Kleinasien, womit Lemnos als Teil ihres ursprünglichen Siedlungsgebiets gelten könnte, gelegentlich von vor allem sprachgeschichtlich ausgerichteten Forschern immer noch vertreten151. Mit dem gegenwärtigen Stand der archäologischen Etruskerforschung scheint sie mir indessen so wenig vereinbar wie mit den Rahmenbedingungen der Sprach- und Kulturgeschichte des Mittelmeerraums überhaupt152. Tatsächlich liegt das Problem aller rein linguistisch orientierten Versuche, diese Frage anzugehen, bei der relativen Kargheit des etruskischen Materials und der absoluten Dürre des lemnischen: denn wo bisweilen selbst ein wichtiges Lautgesetz nur aus einem einzigen Beispiel abgeleitet werden kann, bleiben sprachhistorische Hypothesen notgedrungen anfechtbar153. So sind es letztlich vor allem Überlegungen der allgeder frühetruskischen Villanova-Kultur hat schon Mustilli 1932/33, 277 aufmerksam gemacht; vorsichtiger Gras, Trafics, 623f. Problematisch ist auch, dass Beschi mit einer Vertreibung der Griechen durch die Tyrrhener rechnet (vgl. Beschi 1996–97, 27), statt mit einer kontinuierlichen griechischen Besiedlung der Insel seit mykenischer Zeit. Die Analogien der materiellen Kultur von Lemnos zur umgebenden Nordägäis erklären sich jedoch leichter auf dieser Grundlage als anhand einer von Beschi öfter (1994, 49f; 1996–97, 27; 1998, 75) vorgeschlagenen anatolischen Herkunft der Tyrrhener. 151 Sie ist zwar keineswegs the standard view, wie Beekes 2001, 359 behauptet, findet sich aber bei Steinbauer, Handbuch, vgl. bes. 389 und mit Bezug auf das Lemnische bei Van den Meer 1992, 68f und Beekes 1993 selbst. Von dieser Seite kommt auch die Kritik an De Simone, Tirreni bei Steinbauer 1999 (der sich bezeichnenderweise nur zu den linguistischen Hypothesen De Simones äussert und 202f jede andere Art von Argumenten für wertlos erklärt) und Beekes 2001; vgl. auch Messineo 2000, 86. 152 Sicher rein fiktiv sind die letztlich hinter allen solchen Annahmen stehenden antiken Berichte über die Auswanderung der Etrusker aus Lydien (bes. Hdt. 1.94, vgl. die Übertragung auf die lemnischen Tyrrhener bei Anticl. FGrHist 140 F 21 [= Strab. 5.2.4]), dazu Drews 1992, 16– 28, De Simone 1997, 40f und 1998, 394–396. Briquel, Origine, 1–89 hat einen Hintergrund vorgeschlagen, auf dem solche Erfindungen entstehen können und dabei sogar einen Zusammenhang mit den Lemniern vermutet, vgl. auch Briquel 1998, 215f; ein anderes Modell bei Drews 1992, 28–39. Die archäologische Forschung fragt heute ohnehin nicht mehr danach, wie und von wo ein fertiger ‚etruskischer Stamm’ in Italien eingewandert sein könnte, sondern wie die etruskische Kultur und damit eine Identität als ‚Volk’ sich im 10./9. Jh. allmählich ausbildete, vgl. die knappen Synthesen bei Briquel, Civilisation, 72–74 und NP 4 (1998) s.v. Etrusci, Etruria. I. Geschichte, 169 [G. Camporeale], auch De Simone 1998, 392f; die Kritik von Beekes 1993, 49 an diesem Modell geht an der Sache vorbei. Wenn das Rätische, das aus einer Reihe von im Gebiet zwischen Comer- und Gardasee gefundenen Inschriften bekannt ist, wirklich mit dem Etruskischen verwandt sein sollte (so Rix, Rätisch, bes. 57–60, anders noch Beekes 1993, 47f und Steinbauer, Handbuch, 358 mit n.2), macht auch die Präsenz einer verwandten Sprache im benachbarten Alpenraum die Einwanderung der Etrusker aus Kleinasien noch unwahrscheinlicher, vgl. De Simone 1998, 408. 153 Ein gutes Exempel etwa das „Lautgesetz“, anhand dessen Steinbauer, Handbuch, 364 und 1999, 203 beweisen möchte, dass Lemnisch nicht direkt von Etruskisch abstammen könne.
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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meinen Wahrscheinlichkeit, welche mein Urteil bestimmt haben: Da alle andern Lösungen aus den geschilderten Gründen ausscheiden, bleibt eine Herkunft der lemnischen Tyrrhener aus dem Westen nicht nur die einzige Möglichkeit, sie hat, wie gezeigt, auch ein paar Argumente für sich und ist ja wirklich nichts Unvorstellbares, zumal die an so wichtigen Verkehrswegen gelegene Insel auch in späteren Jahrhunderten öfter Besetzer aus dem Westen Europas anziehen sollte. Mehr kann man im Augenblick wohl nicht sagen. Trotz aller Unsicherheiten ist es wichtig, sich von diesen geschichtlichen Fragen ein einigermassen zusammenhängendes und wahrscheinliches Bild zu machen. Es war nämlich bislang bei der Untersuchung von Sagen und Bräuchen der Insel nur zu üblich ist, bald auf diese, bald auf jene einzelne historische Nachricht hinzuweisen, ohne sich über deren Wert und Bedeutung für das Ganze Aufschluss zu verschafften. So entstand ein fetzenhaftes Bild, in dem die Züge des Sonderbaren und Mystischen, des Urtümlichen und Fremdartigen sich in einer Weise mischten, die völlig verdunkelte, dass Lemnos auch im früheren Altertum von Menschen bewohnt war, die wie jedermann den grössten Teil ihrer Zeit verhältnismässig sinnvollen Beschäftigungen nachgingen. Diese Bewohner waren auch – wie immer es bei einem Teil von ihnen um die Herkunft von eingesessenen Thrakern stehen mochte – keineswegs eine wilde Horde, sondern unterschieden sich in den Zeiten, auf die sich unsere Texte beziehen, kaum mehr grundsätzlich von den Siedlern auf den benachbarten Inseln. Jedenfalls darf man sich nicht verlocken lassen, einzelne Erzählungen oder Kulte durch ihren Ursprung aus einer bestimmten Volksgruppe zu erklären. Was wir auf Lemnos fassen, sind genauso griechische Überlieferungen wie in Athen oder Korinth, und wenn sie gelegentlich urtümlich und barbarisch scheinen, dann allein deshalb, weil sie etwas darüber aussagen, wie sich ihre Erzähler selber das Urtümliche und Barbarische gedacht haben. 3.1.5. An heiliger Stätte 3.1.5 a) Artemis und Athene, Hephaistos und Hermes, Herakles und Philoktet Die Geschichten, die man über Lemnos erzählte, waren sehr vielfältig, und ich stelle deshalb eine Übersicht über das, was wir von den Kultstätten der Insel wissen, der Behandlung ihrer Sagen voran154. Bereits erwähnt habe ich die beiden kleinen, bis ins 7. Jh. zurückreichenden Heiligtümer in Hephaistia155. Sie wurden beim Brand der Stadt zerstört und spielten in klassischer Zeit keine Rolle mehr. 154 Von den älteren Übersichten über die Religion der Insel spiegelt Gruppe, GMR 225–228 den Stand der Forschung vor dem Einsetzen der modernen Grabungen; vgl. weiter RE 16 (1935) s.v. Myrina 2), 1095 [R. Herbst], Delcourt, Héphaistos, 171–175, EAA 4 (1961) s.v. Lemno, 542f [L. Bernabò-Brea], Parker 1994, 343–346, NP 7 (1999) s.v. Lemnos, 43 [H. Kaletsch/ E. Meyer], Acheilara/Archontidou, Λήµνος, 11f [L. Acheilara]. 155 Vgl. oben p. 140 mit n. 119.
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3. Die Stadt der Frauen
Ganz anders, wie ebenfalls angedeutet, das Kabirenheiligtum auf den Felsenklippen, die der Stadt jenseits der Bucht im Nordosten gegenüberliegen: auch dieses lässt sich in eine frühe Periode zurückverfolgen, wurde aber in hellenistischer Zeit sowie nochmals im 2./3. Jh. n. Chr. durch einen Neubau ersetzt156. Die Dokumente für den Kult der Kabiren sind allerdings relativ zahlreich, und es lohnt sich, ihnen ein eigenes Kapitel zu widmen157. Zwei weitere archäologisch fassbare Heiligtümer reichen vielleicht nicht ganz so weit zurück: Noch nicht lange ausgegraben ist das bereits angeführte Artemisheiligtum an der Bucht von Avlonas einen Kilometer nördlich von Myrina, aus dem eine altattische Inschrift vom Anfang des 5. Jh.s und mehrere jüngere Zeugnisse erhalten sind; auch hier reichen die Funde einigermassen kontinuierlich von der Zeit vor der athenischen Eroberung bis in die nachklassische Epoche hinab158. Ausserdem gab es beim Dorf Komi im Osten der Insel einen Heraklestempel, dessen uns bekannte Inschriften vom Ende des 4. Jh.s stammen. Ob dieses Heiligtum allenfalls älter war und ob es etwas mit dem Einbezug des Herakles in die Mythen um Philoktet und die Argonauten zu tun hatte, muss offen bleiben – grundsätzlich ist freilich davon auszugehen, dass der beliebte Gott-Heros so gut wie überall gegenwärtig ist, wo Griechen sind159. Eine Reihe von weiteren Heiligtümern ist in den unterschiedlich zuverlässigen Berichten der Schriftsteller erwähnt. So hören wir, wie berichtet, öfter vom Berg Mosychlos bei Hephaistia, der zu den heiligen Stätten der Insel zählte160: dort wurde unter der Leitung der Priesterin der Artemis die heilkräftige lemnische Erde gegraben, woraus man schliessen darf, dass es auch in Hephaistia ein Artemisheiligtum gab. Am Mosychlos, an der Stelle, wo Hephaistos vom Himmel gestürzt ist, soll sich ausserdem ein Heiligtum dieses Gottes befunden haben161.
156 Vgl. oben p. 145 mit n. 135. 157 Vgl. 4.3.3. 158 Vgl. oben p. 145; Inschriften bei Segre 1932–33, 294–298 (Nrr. 4f), Jeffery, Scripts, Pl. 57 Nr. 58, Suppl.EG 40 (1990) Nr. 745, Pariente 1992, 923 (vgl. Suppl.EG 45 [1996] Nr. 1192); zu diesem Heiligtum auch Beschi 1992, 132, Parker 1993, Touchais 1998, 912 und 1999, 780, Acheilara/Archontidou, Λήµνος, 32–34 [A. Archontidou]; kritische Vorbehalte gegenüber der Identifikation dieser Baureste als Sakralbau äussert Beschi 2001, 218. Zu einem davon zu scheidenden zweiten Heiligtum vor den Toren von Myrina unten p. 157. 159 Zum Heiligtum von Komi IG XII.8, Nrr. 18–22, besonders 19. Die archäologischen Reste des Heiligtums, die Fredrich 1906, 251 noch sah, waren angeblich bereits zur Zeit von Sealy 1918–19, 168f weitgehend beseitigt; die Sealys Bericht widersprechende Nachricht von Acheilara/Archontidou, Λήµνος, 18f [L. Acheilara], dass dort noch heute die Reste eines imposanten Tempels zu sehen seien, konnte ich nicht verifizieren; vgl. ausserdem EAA 4 (1961) s.v. Lemno, 545 [L. Bernabò-Brea]; auch RE Suppl. 3 (1918) s.v. Herakles, 961 [O. Gruppe], Parker 1994, 343; zu bemerken ist auch, dass auf dem Lemnos nicht allzu fernen Thasos Herakles seit alters einer der Hauptgötter war, vgl. RE Suppl 3 (1918) s.v. Herakles, 964 [O. Gruppe], NP 5 (1988) s.v. Herakles, 391 [F. Graf], Bergquist, Herakles, 35–39. 160 Vgl. 3.1.3. 161 Acc. Trag. 569–571 R: „Da ist der Tempel des Vulcanus gerade/ unter dem Hügel, wohin er gestürzt sein/ soll von der hohen Schwelle des Himmels“, vgl. Gal. 12.172 und unten 4.2.1.
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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Hephaistos hatte auch in Myrina einen Tempel162 und ein Fest Hephaisteia, das noch im 2./3. Jh. n. Chr. gefeiert wurde163. Darüber hinaus kennen wir noch zwei Feste auf Lemnos: die Inynia, über die wir ausser diesem Namen nichts wissen164, und das berühmte Feuerfest, das ich noch ausführlicher besprechen muss165. Für Philoktet gab es in Myrina ein Heiligtum166, über das wir leider nichts Genaueres erfahren, dazu hören wir von einem Inselchen irgendwo in der Nähe von Lemnos, wo ein Heiligtum mit Reliquien des Philoktet zu besichtigen war167. Ausserdem wird ein angeblich berühmter Tempel der Venus erwähnt, d.h. wohl der Aphrodite, doch wissen wir gar nichts über dessen Lage168; immerhin erscheint Aphrodite wahrscheinlich auch auf einer Inschrift aus dem Kabirenheiligtum von Chloi169. Der Mosychlos scheint nicht der einzige heilige Berg der Insel gewesen zu sein: wir hören von einem Berg der Minerva, d.h. wohl der Athene, mit zugehörigem Heiligtum. Die Belege sind zwar ebenso spät und ungenau wie für das Aphroditeheiligtum, doch es wäre befremdlich, wenn es auf dieser den Athenern gehörenden Insel keinen Kult für Athene gegeben hätte170. Ebenso erwähnt habe ich den Berg des Hermes, auf dem es einen Kult für diesen Gott gegeben haben soll171. Derselbe tritt in den schriftlichen Überlieferungen zu Lemnos sonst nir162 163 164 165 166 167 168
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Gal. 12.172. Suppl.EG 28 (1978) Nr. 718. Vgl. Hesych. s.v. Ἰνυνία; man möchte vom Namensanklang her an Ino-Leukothea denken. Vgl. unten 3.5.1f. Gal. 12.172. Vgl. 3.1.2.c; dort auch zu den Vermutungen von Harrison 1989 über Philoktetkult auf Lemnos. Schol. Stat. Theb. 5.59, vgl. Robertson 1985, 278. Ein archaisches Vasenbild aus Hephaistia, das einen Mann und eine Frau zeigt, die einander gegenüber knien, hat man oft (nach der bekannten Geschichte aus Hom. Od. 8.266–366) als Darstellung von Ares und Aphrodite in den Fesseln des Hephaistos gedeutet (so etwa noch Burkert 1970, 8f n. 7 = 1990, 74 n. 38, Heurgon 1988, 21–24) – kaum überzeugend; das Thema des Bildes ist wohl unentzifferbar, vgl. LIMC 2 (1984) s.v. Aphrodite 122f (Nr. 1288), 126 (Nr. 1318) [A. Delivorrias/G. BergerDoer/A. Kossatz-Deissmann], und s.v. Ares 483 (Nr. 60) [P. Bruneau]. Zwischen Philoktet und Aphrodite besteht vielleicht in Unteritalien eine Verbindung im Kult: Im Heiligtum des Apollon Alaios, wo angeblich die Pfeile des Philoktet aufbewahrt wurden (vgl. oben 2.3.6), finden sich Spuren von Aphroditekult, vgl. Lattanzi 1991, 71–73. Vgl. 4.3.3. Zu Belegen und Diskussion der Quellenlage vgl. oben p. 134 mit n. 95. Aus einem der archaischen Heiligtümer in Hephaistia stammt die Terrakottastatuette einer behelmten Göttin (um 580), die man als Athene gedeutet hat (Beschi 1998a, 67 mit Tav. 4C). Attische Siedler auf Lemnos haben, wohl um die Mitte des 5. Jh.s, eine der berühmtesten Statuen der Athene auf der Athener Akropolis gestiftet, die Athena Lemnia des Pheidias, vgl. Paus. 1.28.2, Lukian. Im. 4/6, Aristeid. Or. 2.408.23–27 Jebb; vgl. zu den Umständen der Stiftung Höcker/Schneider, Phidias, 102f, ausserdem Linfert 1982, 59–66 mit interessanten Vermutungen zur späteren Aufstellung des Bildes in Konstantinopel und seiner wahrscheinlichen Zerstörung im Jahr 1203; weiteres bei LIMC 2 (1984) s.v. Athena, 976 (Nr. 197) [P. Demargne] und s.v. Athena/Minerva, 1084 (Nrr. 141, 141a) [F. Canciani], NP 9 (2000) s.v. Pheidias, 761f [R. Neudecker]. Zur Lage oben p. 135 mit n. 96; zum Kult Schol. Aischyl. Ag. 283b.
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3. Die Stadt der Frauen
gends hervor, doch wurden im Kabirenheiligtum von Hephaistia Skulpturfragmente gefunden, die zu Hermesdarstellungen gehört haben müssen172, und auf dem benachbarten Imbros scheint er eine wichtige Rolle zu spielen173. Auffallend ist, dass damit auf Lemnos gleich drei Berge mit einem Kult in Verbindung stehen. Wo Höhenkulte andernorts in Griechenland belegt sind, gehören sie meist in die Frühzeit der Polis und wurden in klassischer Zeit aufgegeben. Vielleicht bewahren also diese Hinweise in lemnischen Überlieferungen eine Erinnerung an Kultpraktiken, die sich hier länger gehalten haben als anderswo174. Überblickt man das Material, so fällt auf, dass es ein relativ enger Kreis von Göttern und Heroen ist, die auf der Insel eine Rolle spielen: Gut bezeugt sind Artemis, Hephaistos, Philoktet und die Kabiren; die letzteren gehören enger zu dem Schmiedegott, aber auch zu Dionysos, auf den sich in einer Inschrift aus dem Kabeirion ein Hinweis findet175; von Dionysia mit Tragödienaufführungen nach attischem Vorbild hören wir im 4. Jh. in Myrina176. Weniger klar zu fassen ist, welches Gewicht eine Reihe von weiteren Gestalten im Kult hatte: Aphrodite, Hermes, Athene und Herakles, sowie schliesslich die Nymphen, auf die es vereinzelte Hinweise sowohl in der Schriftüberlieferung wie in den Funden im Kabirenheiligtum gibt177. 3.1.5. b) Die Grosse Göttin Lemnos Eine Gruppe für sich bilden die Nachrichten über die Verehrung einer Grossen Göttin auf Lemnos. Neben die Mängel der Überlieferung tritt hier ein Problem unseres heutigen Blickwinkels: die Vorstellung einer Grossen Göttin als einer Art 172 Beschi 1998b, 53f. 173 Vgl. 4.3.4.b. 174 Zu Bergkulten im 2. Jt. Burkert, GR 24–26, zur geometrischen Zeit Polignac, Naissance, 38– 40. – Rätselhaft bleiben die Worte des Philoktet beim Abschied von Lemnos Soph. Phil. 1461f „Jetzt, ihr Quellen und lykischer Trank, verlasse ich euch“ mit dem zugehörigen Scholion, das als eine von mehreren möglichen Interpretationen vorschlägt, es könnte sich um eine dem Apollon Lykios heilige Quelle handeln (Schol. Soph. Phil. 1461). Eine vollständigere Fassung dieses knappen Scholions hat sich vielleicht bei Zenob. 4.99 erhalten: „Lykischer Trank: Das hat [der Dichter] wegen der Quelle des Apollon gesetzt und wegen dem Ort ... Es waren aber zwei hervorströmende Quellen, die eine von Wein, die andere von Honig, an denen die Vögel sich setzten und [von Philoktet] mit dem Bogen geschossen wurden.“ Das erweckt nicht unbedingt Vertrauen als topographische Angabe, klingt aber nach einem Stück aus einer verlorenen Philoktetdichtung: Apollon, der in den Α-Varianten der Sage die Verletzung des Philoktet bewirkt hat (vgl. oben 2.3.1–3), trägt hier dazu bei, dass der Held am Leben bleibt. – Einer klaren Einordnung entzieht sich der Hinweis bei Plut. Is. 380e, dass die Lemnier die Haubenlerchen (κόρυδοι), einen auch auf dieser Insel tatsächlich häufigen Vogel, als Vertilger von Ungeziefer verehrten. 175 Vgl. 4.3.3. 176 IG XII.8, Nr. 4. 177 Vgl. 2.3.4, 4.3.3; auffallend die Prominenz von drei für die Griechen eng mit Thrakien verknüpften Gottheiten: Dionysos, Artemis und Hermes; vgl. Marcaccini 1995, 17–47.
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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Urmutter aller Göttinnen178. In diesem Bild, das sich in Teilen der Forschung bis heute festgesetzt hat, sind mit Sicherheit mindestens drei Dinge durcheinander geraten, und zwar: a) Die Bezeichnung Megale Theos (Grosse Göttin), die für verschiedene Gottheiten sicher bezeugt ist. Die frühesten Belege zeigen das Wortpaar als ein etwas beliebiges Attribut, das den verschiedensten Göttinnen angehängt werden konnte, mit Vorliebe durchsichtigen Personifikationen von Abstrakta179. Nach und nach scheint sich die Verwendung auf einen engeren Kreis von Göttinnen konzentriert zu haben, zu denen etwa Artemis und Demeter gehörten, doch allen voran die Megale Meter (Grosse Mutter) Kybele180. b) Diese Göttin, die nach allgemeiner Vorstellung aus Phrygien stammte, wo sie seit dem 7. Jh. auf Inschriften als Matar Kubileya erscheint, wurde an der Wende vom 7. zum 6. Jh. auch in Griechenland in den Kult aufgenommen und erhielt als Grosse Mutter der Götter einen bisweilen schwankenden, doch gewichtigen Platz in der Mythologie zugewiesen181. Trotz ihrer weitgehenden Umgestaltung bei diesem Einbezug in die griechische Religion blieb sie – wohl auch aufgrund ihrer Abwesenheit aus den kanonischen Texten von Homer und Hesiod – für einzelne antike Autoren eine der Projektionsgestalten des Exotischen und Fremden. Besonders das den Mythos von Attis und Kybele behandelnde Gedicht des Römer Lyrikers Catull hat diesbezüglich eine starke Nachwirkung gehabt182. Unter dem Blickwinkel einer neuzeitlichen Wissenschaft, welche die griechische Polis vor allem als Männergesellschaft sehen wollte, schien sich dieses Fremde mit dem aus der Stadtgemeinschaft ausgeschlossenen Weiblichen zu überschneiden, und so wurde das Modell einer ‚Grossen Muttergottheit’ zum Muster, nach dem man griechische Göttinnen überhaupt auslegte. 178 Besonders ausgearbeitet wurde das Bild der Grossen Göttin, die zugleich Chryse, ArtemisBendis, Aphrodite, Athene, Kabeiro, Lemnos und die Muttergöttin der Pelasger sein soll, von Froning, Dithyrambos, 58–64; ähnliche Spekulationen schon bei Gruppe, GMR 225–228, Delcourt, Héphaistos, 180f, EAA 4 (1961) s.v. Lemno, 542 [L. Bernabò-Brea]; vgl. auch Dumézil, Crime, [1924] 40 = [1998] 75, Burkert 1970, 4 mit n. 2 = 1990, 62 mit n. 15; Nachwirkungen noch bei Popov 1980, 206, Robertson 1985, 278f, Graf 1990, 71f, Beschi 1993, 31f und 1998b, 49, Capdeville, Volcanus, 272–277 u.a. 179 Μεγάλη ѳεός u.ä. erscheint für Atropos bei Hes. Sc. 259, für Pistis bei Theogn. Eleg. 1137, für Peitho und Ananke bei Hdt. 8.111.2 (ähnlich Kallim. Hymn. Del. 122), für die Wolken bei Aristoph. Nub. 316, für Nemesis/Adrasteia bei Antimach. Frg. 53. 180 Für Demeter und Persephone bei Soph. OC 683 (ähnlich Kallim. Hymn. Dem. 121), für Hera bei Eur. El. 190, für Athene Pronoia Demosth. Or. 25.34 (ähnlich Kallim. Lav. Pall. 19); für die phrygische Meter bei Pind. Parth. Frg. 95f; Weiteres zur Geschichte des Attributs µεγάλη ѳεός bei Hemberg, Kabiren, 29f. 181 Zu Kybele vgl. Burkert, GR 177–179; LIMC 8 (Suppl. 1997) 744–766 s.v. Kybele [E. Simon], NP 6 (1999) 950–956 s.v. Kybele [S. A. Takacs]; ausserdem Borgeaud, Mère, Roller, Search, Munn, Mother. Aus hellenistischer Zeit stammt eine Tonstatuette der Kybele, die in Hephaistia gefunden wurde, vgl. Acheilara/Archontidou, Λήµνος, 11 Abb. 10; fragwürdig bleibt, ob man dies mit dem Kult der archaischen Inselgöttin in Verbindung bringen darf. 182 Catull. 63; zur Diskussion um eine mögliche griechische Vorlage Gall 1999, Fantuzzi/Hunter, Tradition, 477–485.
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3. Die Stadt der Frauen
c) Eine scheinbare Bestätigung fanden solche Vorstellungen in einer Reihe bildlicher Darstellungen von Frauen, die aus den vorgeschichtlichen Kulturen des Vorderen Orients ebenso zahlreich bekannt sind, wie aus anderen prähistorischen Fundschichten, bis zurück zu gewissen Figürchen der Altsteinzeit. Man vermutete, dass diese allesamt eine Göttin mit einheitlichem Wesenskern spiegelten, eine Erd- und Fruchtbarkeitsgöttin, in der sich eine urtümliche, im Wesen des Menschen angelegte Auffassung des Weiblichen verdichtet habe. Der letzte Schritt bestand darin, den Titel der Megale Theos mit einer Verallgemeinerung des Kybele-Bildes und unter Einbezug der prähistorischen Frauenstatuetten zu einer grossen Ur-Muttergöttin zu verschmelzen. Diese soll noch in den Kulten der archaischen und klassischen Zeit ihre Spuren hinterlassen haben, ja die meisten weiblichen Gottheiten der historischen Zeit müssten nichts als Spiegelungen dieser einen Grossen Göttin sein. Verschiedene Autoren haben diesen Schritt mit unterschiedlichen Gewichtungen getan, meist in der einen oder anderen Weise in der Nachfolge von Bachofens berühmten Theorien über die Entstehung der antiken Gesellschaften aus einer älteren matriarchalen Ordnung. Es würde zu weit führen, dies hier ausführlich darzustellen, oder detailliert nachzuzeichnen, wie die neuere Forschung dieses Phantom zerstört hat183. Das Hauptproblem ist wohl, dass sich die Elemente, aus denen das Bild konstruiert wurde, bei näherem Zusehen als disparat erweisen: Schon die prähistorischen Frauenfiguren spiegeln bei näherer Betrachtung keinen einheitlichen Typ, sondern alle möglichen weiblichen Gestalten, und in Ermangelung von zugehörigen Schriftquellen ist nur bei einem kleinen Teil von ihnen eine religiöse Bedeutung anhand der Fundumstände überhaupt plausibel zu machen. Betrachtet man weiter das Gemeinsame aller Göttinnen, die man dem Typus der Grossen Muttergöttin hat zuordnen wollen, so stösst man auf Gemeinplätze, wie dass sie mit Leben und Tod zu tun haben und mit Tieren, gerade letzteres angesichts der Bedeutung des Tieropfers schwerlich eine Überraschung – es dürfte ja kaum eine wichtigere Gottheit geben, gleich welchen Geschlechts, auf die eine solche Beschreibung nicht zutreffen würde. So bleibt am Ende das Weiblich-Sein als einziger wirklicher Grund, diese Gestalten alle auf ein und dieselbe zu reduzieren. Dass eine solche Simplifikation im Fall der weiblichen Gottheiten zum Teil bis in die jüngere Forschung hinein Erfolg haben konnte, während man den 183 Knappe Zusammenfassung der Diskussion und Literaturangaben bei NP 8 (2000) 561–563 s.v. Muttergottheiten [P. Borgeaud]. Einflussreiche neuere Versuche, das Bild dieser grossen Ur-Muttergöttin wiederherzustellen sind Burkert, HN 92–95 (und vorsichtiger Burkert, GR 11f, 41f) mit einer Herleitung aus den angeblichen Besonderheiten einer vorzeitlichen Jägergesellschaft (dagegen z.B. Roller, Search 17f) oder die zahlreichen Arbeiten von Gimbutas, die immerhin versucht, ihre Urgöttin nicht als anthropologische Universalie zu konstruieren sondern für einen bestimmbaren prähistorischen Raum, die ‚alteuropäische Kultur’, einen ganz Südosteuropa umfassender Kulturkreis des 7.–4. Jt.s, vgl. v.a. Gimbutas, Gods and Goddesses und Living Goddesses. Eine glänzende, in der Dokumentation fundierte und kritisch wohldurchdachte Destruktion des Bildes der ‚Grossen Muttergöttin’ bietet Roller, Search, 1–24. Nicht zu bestreiten ist natürlich, dass es in Griechenland einzelne weibliche Gottheiten mit mütterlichen Zügen gegeben hat, vgl. die Zusammenstellung bei Simon 1987.
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
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männlichen fast durchweg ihre funktionelle Unterschiedenheit beliess184, lässt sich schwer anders erklären als mit einer Befangenheit des Blicks in den Wertmassstäben des bürgerlichen Zeitalters, wo Männern eine Fülle sozial differenzierter Stellungen und Funktionen offen standen, Frauen hingegen – mindestens in der Ideologie – auf die einzige Rolle der Liebenden und Mutter festgelegt wurden. Entsprechend achtete man bei den Männern zunächst auf ihre Stellung und ihre Fähigkeiten, an den Frauen jedoch auf das Geschlecht, und diese Haltung spiegelt sich wohl auch in der damaligen Sicht des Altertums. Es versteht sich von selbst, dass dies der Blickwinkel der fast ausschliesslich von Lehrern und Studenten männlichen Geschlechts bevölkerten Hochschule des 19. und frühen 20. Jh.s war, keinesfalls aber jener der Gesellschaften der Alten Welt, an der Männer wie Frauen in je eigener Weise teilhatten. Ich habe deshalb in meiner ganzen Untersuchung Mythendeutungen nicht eingehend behandelt, die auf diesem längst nicht mehr haltbaren Bild der Grossen Muttergöttin aufbauen. Ebenso möchte ich im Fall der Göttin von Lemnos zusammenstellen, was uns die Quellen lehren, ohne ihre Umrisse in diesem fragwürdigen Hintergrund verschwimmen zu lassen. Die früheste bekannte Erwähnung einer Megale Theos von Lemnos stammt aus der verlorenen Komödie Die Lemnierinnen des Aristophanes, der allerdings keinen Namen nennt185. Die Kommentatoren des Altertums haben vermutet, dass Bendis gemeint sein könnte, eine thrakische Jägergöttin186. Das passt dazu, dass unter den Bewohnern der Insel thrakische Sintier waren, doch scheinbar auch zu einer Vasenscherbe aus Hephaistia, worauf eine wahrscheinlich göttliche Jägerin dargestellt ist. Man hat in diesem Bild Ähnlichkeit mit späteren griechischen Dar184 Kennzeichnend und verräterisch sind etwa Urteile wie: „Die so verschiedenen, sich gegenseitig ergänzenden Göttinnen des griechischen Polytheismus sind gerade in ihren frühen Formen doch immer wieder ähnlich“ (Burkert, HN 93) – als ob früharchaische Götterstatuetten einander nicht auch im männlichen Fall alle gleichen würden. Ähnliche Pauschalisierungen seitens männlicher Gottheiten (Vegetationsdämonen u.ä.) versuchte man durchaus, doch waren sie in der Forschung weniger langlebig. 185 Aristoph. Frg. 384, vgl. Frg. 381. 186 Hesych. s.v. µεγάλη ѳεός, Phot. Lex. s.v. µεγάλην ѳεόν; die Vermutung wird von der modernen Forschung meist unbefragt übernommen, so etwa von Martin 1987, 101f und Marcaccini 1995, 35 n. 89. Bendis begegnet in der griechischen Literatur seit der Mitte des 6. Jh.s (vgl. Hippon. Frg. 127 W.); seit 430/29 hat sie in Athen Kult und Heiligtum (vgl. Plat. Rep. 327af; Xen. Hell. 2.4.11; IG I3 136 u.a.), doch gibt es Hinweise, dass sie dort schon früher bekannt war, vgl. Marcaccini 1995, 33f. Die Zahl der Zeugnisse ist damit nicht ganz unbedeutend, und so scheint es auffällig, dass darunter jeder Hinweis auf das mit Athen so eng verbundene Lemnos fehlt. Nur auf einer lemnischen Grabinschrift des 3. Jh.s erscheint der Name Βενδιδωρα (Suppl.EG 16 (1959) Nr. 505). Das kann unmittelbar mit dem Kult der Göttin in Athen zusammenhängen, wo mit Bendis gebildete Namen auch sonst belegt sind (vgl. Masson 1988), mit einer sekundären Einführung der Bendis-Verehrung auf den Inseln von Athen aus oder mit der Nähe Thrakiens, das öfter solche Namen bietet (vgl. LGPN I, 100 zur Häufung ähnlicher Namen auf dem am nächsten bei Thrakien gelegenen Thasos). Zur Frage, ob die thrakischen Sintier in klassischer Zeit noch Reste kultureller Eigenständigkeit zeigten, unten 4.3.1.
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stellungen der Bendis sehen wollen, freilich ohne zu beachten, dass diese Göttin in der Ikonographie weitgehend der mit ihr am häufigsten gleichgesetzten Artemis angeglichen wurde, die unter ihrem eigenen Namen wahrscheinlich schon in archaischer Zeit auf Lemnos belegt ist187. Die Gleichsetzung der Grossen Göttin bei Aristophanes mit Bendis kann also sehr wohl eine willkürliche Gelehrtenvermutung sein, angeregt durch die in Athen zeitweise lebhafte Verehrung der aus Thrakien, mithin aus der Nähe von Lemnos stammenden Göttin. Nach anderen Berichten hiess die Grosse Göttin wie die Insel selbst Lemnos188, und unter diesem Namen erhalten wir auch Nachrichten über Kult und Sage: Nach der einen, die man mit nicht unbedingt guten Gründen auf Hekataios zurückzuführen pflegt, wurden ihr Mädchen geopfert189, nach der anderen hat sie als ersten Menschen den Kabiros geboren190. Berichten über Menschenopfer in Griechenland ist bekanntlich mit äusserster Vorsicht zu begegnen. Es handelt sich meist um mythische Geschichten, die auf in der Wirklichkeit eher weniger schaurige Elemente des Rituals verweisen. In diesem Fall drängt es sich auf, die Nachricht im Zusammenhang der lemnischen Mythologie zu betrachten, in der es mehrere Hinweise auf Artemis gibt, von denen einzelne ausdrücklich den Bogen zum Kult von Brauron schlagen191. Dort aber sind wir in der Nähe zu Iphigenie, die selbst fast zum Menschenopfer geworden wäre und ihrerseits beinahe den Bruder geopfert hätte. Offenbar verbinden sich Mädchenweihen, wie sie auf Brauron stattfanden, gelegentlich mit Erzählungen, in denen man Mädchen opfert. Dass auf Lemnos etwas Ähnliches vorlag, ist mindestens denkbar. Die Nachricht über
187 Das angeblich (so nach Heurgon 1988, 21 und Beschi 1998a, 72f) Bendis darstellende Vasenbild bei LIMC 8 (Suppl. 1997) s.v. Lemnos I, 772 zu Nr. 5 [C. Boulotis] = LIMC 2 (1984) s.v. Artemis, 692 zu Nr. 935 [L. Kahil/N. Icard]; zu Bendis allgemein Goceva 1986, 85f, NP 2 (1997) 558f s.v. Bendis [C. Auffarth], zur Ikonographie LIMC 3 (1986) 95–97 s.v. Bendis [Z. Goceva/D. Popov]. Auch die Bilder vom Typ der sogenannten Artemis-Bendis zeigen keine besondere Nähe zu dem Vasenbild von Hephaistia, vgl. LIMC 2 (1984) s.v. Artemis Nrr. 915–941. Zu Artemis im archaischen Hephaistia das Graffito bei Della Seta 1937a Nr. 4: υαρѳαµεζα (und dazu Della Seta 1937a, 143f); davon lässt sich vielleicht ein unklares Präfix u- abtrennen sowie das etruskische Possessivsuffix -sa, so dass sich als Bedeutung wohl ergibt: „Ich gehöre der Artemis“ (d.h. ihrem Heiligtum). 188 Auf kaiserzeitlichen Münzen aus Hephaistia erscheint ausserdem ein weibliches Brustbild mit Mauerkrone, Schleier und der Beischrift ΛΗΜΝΟΣ. Offenbleiben muss, ob hier eine Erinnerung an die Grosse Göttin Lemnos aufscheint, über die hellenistisch-römische Städte-, bzw. Inselallegorie mit ihren typischen Motiven hinaus. In dieser Zeit kann es sich auch um einen antiquarischen Rückgriff handeln; für den Kult bezeugt er kaum etwas, vgl. LIMC 8 (Suppl. 1997) s.v. Lemnos I, 771 zu Nr. 1 [C. Boulotis]. 189 Steph. Byz. s.v. Λῆµνος = Hekat. FGrHist 1 F 138c (die Herleitung ist ebenso problematisch wie bei der daran anschliessenden Bemerkung über die Sintier, vgl. 4.3.1); zur Deutung der Stelle Popov 1980, 205f, Hughes, Sacrifice, 135f. 190 Hippol. Haer. 5.7.4 = Kab3. 191 Vgl. 3.4.4.
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die Geburt des Kabiros schliesslich deutet auf eine Verbindung der Grossen Göttin Lemnos auch zu den Mysterien im Kabeirion192. Neben diese literarischen Quellen, die nicht über die hellenistische und klassische Epoche zurückführen, treten archäologische Funde aus der Zeit vor der athenischen Eroberung: In dem archaischen Heiligtum, das man auf der Anhöhe von Hephaistia ausgegraben hat, scheint eine weibliche Gottheit verehrt worden zu sein. Gefunden wurden dort eine Reihe von Terrakottafiguren, zum grossen Teil Frauengestalten, vielleicht die Göttin selbst. Sie erscheint bald sitzend, bald stehend, immer prächtig gekleidet, geschmückt und oft mit einer auffälligen hohen Kopfbedeckung. Dazu kommen Darstellungen, die anscheinend an die bekannten mykenischen Figuren einer Frau mit erhobenen Armen anknüpfen; andere geben der Gestalt eine einfache Leier in die Hand193. Auf einer Vasenscherbe aus demselben Heiligtum tritt vielleicht ein Betender mit einem ähnlichen Musikinstrument tanzend vor eine solche Göttin auf ihrem Thron194. Ähnliche Figürchen wie in Hephaistia sind schon Ende des 19. Jh.s bei noch unzulänglichen, kaum dokumentierten Grabungen in Myrina zum Vorschein gekommen. So weit sich das heute rekonstruieren lässt, wurde damals auf einem Landvorsprung an der nördlichen Bucht der Stadt ein Heiligtum aus archaischer Zeit gefunden, das im 5. Jh. nicht mehr benutzt wurde. Auch das Fundmaterial ist jenem aus Hephaistia bis ins einzelne parallel – Sirenen, Sphinxe, Darstellungen der Göttin – und so wird man annehmen dürfen, dass auch die kleinere Schwestersiedlung ein derselben Gottheit geweihtes Heiligtum besass195. Weihungen und andere Funde aus diesen Heiligtümern können den Charakter der Göttin verdeutlichen: Zahlreich sind die Gaben aus dem Bereich der weiblichen Arbeiten, insbesondere Webstuhlgewichte, doch belegt neben der erwähnten Vasenscherbe mit dem Musikanten die Tonstatuette eines Mannes, dass die Göttin
192 Vgl. 4.3.3; zu beidem auch Delcourt, Héphaistos, 180f, welche die Parallele zu Artemis als Beleg dafür wertet, dass die Grosse Göttin Lemnos keine späte Inselallegorie sei. Bei einem weiteren Zeugnis, Fulg. Serm. Ant. 5, ist der Text zu verderbt, um als Beleg für die angeblichen lemnischen Menschenopfer brauchbar zu sein, vgl. Bonnechere, Sacrifice, 288 mit n. 31. 193 Vgl. LIMC 8 (Suppl. 1997) s.v. Lemnos I, 771f zu Nr. 2 [C. Boulotis], Acheilara/Archontidou, Λήµνος, 12 Abb. 11f. Übersichten zu den Funden aus den Heiligtümern von Hephaistia bei Beschi 1992, 131, 1993, 31–34 und 1998a, 58–69, Messineo 2000, 90–92; zur Typologie der Idole auch Messineo 1988–89, 421f, Beschi 1992, 133–135, Beschi 1998a, 62–66. 194 Vgl. LIMC 8 (Suppl. 1997) s.v. Lemnos I, 772 zu Nr.3 [C. Boulotis], dazu auch Heurgon 1988, 19–21; Beschi 1992, 137 und 1998a, 73f vermutet nicht Darstellung eines Adoranten vor der Göttin sondern eine uns unbekannte mythologische Szene. Gegen Beschi 1992 sollte man nicht von einer dea della musica sprechen – solche schulmässig-humanistischen Definitionen des ‚Wesens’ einer Gottheit gehen an der Wirklichkeit der alten Religionen vorbei. Im vorliegenden Fall dürfte die Leier darauf verweisen, dass ein ähnliches Instrument im Kult eine Rolle spielte. 195 Die älteren Berichte zu den Funden aus Myrina bei Fredrich 1906, 63–69, Beschi 1992, 131f, 1998a, 69f sind heute überholt durch die ausführliche Rekonstruktion bei Beschi 2001; danach ist der Ort dieser alten ‚Grabungen’ mittlerweile identifiziert und neu sondiert worden.
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auch ihre männlichen Verehrer hatte196. Unter den Keramikfunden häufen sich Gefässformen, die gewöhnlich zum Weintrinken verwendet wurden – Ähnliches lässt sich im Kabirenheiligtum ausserhalb der Stadt beobachten. Andere Objekte sind heikler zu deuten: Um zwei schwer bestimmbare Gegenstände – vielleicht Altaruntersätze – ringeln sich tönerne Schlangen, und unter den Votivgaben finden sich zwei Tonmodelle von mehrteiligen Brunnenhäusern, wobei im Wasserbecken des einen nicht nur ein Männchen am Rand sitzt, sondern auch Tiere schwimmen: eine Schildkröte und – wieder – eine Schlange197. Auch in diesen Schlangen hat man gelegentlich (wie in den Idolen und in der Bauform des Heiligtums) eine Fortsetzung von Zügen der mykenischen Religion gesehen – nicht unbedingt zwingend angesichts der Allgegenwart dieser Tierart im sakralen Bereich. Problematischer wird es, wenn wir versuchen, diese Funde mit den Schriftquellen zur Deckung zu bringen: Mit ihrem möglichen Bezug zu Mädchenweihen etwa könnte die Grosse Göttin Lemnos für die Frauen eine besondere Rolle gespielt haben, und wenn sie den Kabiros gebiert, tritt sie auch in ein Verhältnis zu den Männern. Die Göttin von Hephaistia nun hat in ihren Weihegaben ebenfalls starken Bezug zur Welt der Frauen, ohne doch die Männer auszuschliessen, und die Bauweise ihrer Heiligtümer wie die Rolle der Trinkgefässe im Kult erinnern an die Verhältnisse im Kabeirion von Chloi. Das sind keine sehr engen Parallelen, aber sie legen nahe, die Göttin von Hephaistia mit Namen und Titel der Grossen Göttin Lemnos zu schmücken. Damit stellt sich die Frage, welche Veränderungen im archaischen Kult die Umwälzungen am Ende des 6. Jh.s bewirkt haben könnten. Denn obwohl die Heiligtümer von Hephaistia nach der athenischen Eroberung aufgegeben wurden, bezeugt Aristophanes, dass die Grosse Göttin noch am Ende des 5. Jh.s verehrt wurde – dass das Athener Publikum eine rein antiquarische Anspielung lustig gefunden hätte, wird man kaum annehmen müssen198. Es wäre deshalb unzulässig anzunehmen, die Megale Theos sei lediglich durch eine klassisch-griechische Göttin verdrängt worden; dies widerspräche auch dem Befund, dass damals nicht einfach die Bevölkerung der Insel ausgewechselt wurde199. Trotzdem ist auffällig, dass es eine Gottheit gibt, die in späterer Zeit – wie früher die Grosse Göttin – in beiden Gemeinden der Insel eine bedeutende Rolle im Kult gespielt hat: Artemis. In den mythischen Geschichten der Insel kommt sie zwar nirgendwo direkt vor, ist aber in verschlüsselten Querverweisen mehrfach gegenwärtig200 – auch dies 196 Vgl. Karo 1930, 139–142 mit Abb. 19. 197 Zu den Altaruntersätzen Messineo 1988–89, 401–405, bes. 404 mit Fig. 37; zu den Brunnenhäusern Karo 1930, 143–146 mit Abb. 22f und ausführlich Beschi 1998a, 58–60; zu einer weiteren auf Lemnos gefundenen Schlangendarstellung oben n. 73. 198 Bemerkenswert auch eine kaiserzeitliche Inschrift aus dem benachbarten Agios Evstratios mit einer Weihung an eine Grosse Göttin (IG XII.8 Nr. 45 vgl. oben n. 50). Offen bleibt leider, ob der Weihende an die lemnische Göttin oder an Kybele gedacht hat, und ob er – im Zuge späterer Verschmelzungen – die beiden überhaupt noch unterschied. 199 Vgl. 3.1.4. 200 Vgl. 3.4.3f.
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teilt sie mit der Grossen Göttin Lemnos, deren Kulte für uns weitgehend unabhängig neben den überlieferten Geschichten stehen; und wie die Berichte über sie sich mit Artemis verknüpfen, hat sich ja schon bei der blossen literarischen Betrachtung der Quellen gezeigt. Möglicherweise liegt es auch an solchen und weiteren, uns nicht mehr fassbaren Entsprechungen, dass der Name der griechischen Göttin schon zur Zeit der Tyrrhener auf Lemnos eingebürgert wurde201. Damit liegt der Gedanke nahe, dass man bereits im 6. Jh. begonnen hat, in der Göttin Lemnos zugleich die Artemis zu sehen, und dass sich diese Beziehung nach der athenischen Eroberung gefestigt hat, ohne dass das Wissen von der anderen Göttin jemals ganz erloschen wäre202. Bei einer solchen Quellenlage ist man versucht, die Frage aufzuwerfen, ob die grosse Inselgöttin in unseren Geschichten nicht in verdeckter Gestalt gegenwärtig sei, etwa so, dass die darin auftretenden weiblichen Gottheiten – Aphrodite, Hera oder Chryse – ebenso ein späterer Ersatz wären für ein ursprüngliches Auftreten der Göttin Lemnos wie in den späteren Kulten die Artemis; verschiedene Deutungen der Sagen gehen denn auch in diese Richtung203. Die Zeugnisse über ArtemisLemnos sind zumindest in zwei Punkten verlockend: Eine vor allem von Frauen verehrte Göttin könnte hinter der Aphrodite der Geschichte von den Frauen von Lemnos stehen, und dann sind da noch die Schlangen im Heiligtum von Hephaistia, vor allem jene an den Altaruntersätzen, die man gerne mit Philoktet und der Schlange am Altar der Chryse verbinden möchte. Die Schwierigkeit ist freilich, dass man damit herausgerissene Einzelheiten vergleicht, ohne den Zusammenhang der Geschichten als Ganze zu berücksichtigen; und sobald man den Rahmen der Betrachtung nur weit genug zieht, findet man auf diese Art Bezüge zu allem möglichen. Aber selbst wenn diese Spuren keine Luftspiegelungen sein sollten und in verlorenen frühen Sagen wirklich Lemnos an der Stelle der Aphrodite oder der Chryse stand, hilft das beim Verständnis der uns vorliegenden Geschichten nicht viel. Wir erfahren damit ja nicht, weshalb für die ursprüngliche Gestalt ausgerechnet diese oder jene neue eingesetzt wurde. So werde ich mich im Folgenden nicht auf solche Hypothesen einlassen, sondern von den Namen ausgehen, die in den uns vorliegenden Fassungen der Geschichten stehen.
201 Vgl. oben n. 187. 202 Dieselbe Entsprechung erwägt u.a. Parker 1994, 345. Sein Modell, das die Grosse Göttin den alten Tyrrhenern zuordnet und die Artemis den griechischen Siedlern, ist jedoch zu simpel – die Wege der Akkulturation dürften verschlungener gewesen sein. 203 Sehr beliebt ist diese Auffassung für Chryse, vgl. 2.3.4.a; zu Aphrodite Froning, Dithyrambos, 61f, Burkert 1970, 3 mit n. 4 und 4 mit n. 2 = 1990, 62 mit nn. 13 und 15, Robertson 1985, 278f u.a.; etwas anders Dumézil, Crime [1924] 40 = [1998] 75.
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3.2. KURIOSE GESCHICHTEN 3.2.1. Eine Mythologie Bei dem Versuch, einige Fragen zu klären, welche Geographie, Geschichte und Kultbräuche von Lemnos betreffen, habe ich in den vorangehenden Kapiteln öfter auf Sagen der Insel verweisen müssen, und zwar nicht nur auf die bereits ausführlich behandelten Geschichten über Philoktet: Vor allem drei Sagenkreise liegen auf Lemnos beisammen; sie haben ihre Mittelpunkte in den Gestalten von Hypsipyle, Hephaistos und Philoktet204. Meine Übersicht darüber, was die homerischen Epen von der Insel erzählen, hat gezeigt, dass alle drei zu jenem Hintergrund gehören, auf dem der Dichter seine Erzählung entwirft205. Damit ist klar, dass es sich um alte Geschichten handeln muss, die spätestens Ende des 8. Jh.s allgemein bekannt waren. Was uns von der Überlieferung der Philoktetsage noch fassbar ist, hat uns einen relativ klaren Begriff von Ausbildung und Prägung dieser Sagengestalt gegeben: Philoktet ist eine Figur des Epenstoffes vom troianischen Krieg, wo sein Verhältnis zu Herakles, seine Teilnahme am Troiazug, seine Verwundung und Heimholung ihren festen Platz besitzen. Die attische Tragödie des 5. Jh.s hat den Helden mit einem noch klareren Profil versehen und seine Beziehung zu dem den Athenern gehörenden Lemnos verstärkt, indem ausser Verbannung und Heimholung auch seine Verwundung in den Umkreis dieser Insel verlegt wurde. Eine Reihe von erst später fassbaren Überlieferungen ergänzt diesen doppelten Kern um mehrere, teils höchst eigenwillige Varianten. Schon ein oberflächlicher Blick auf unsere Quellen zur Hypsipylesage zeigt, dass man nicht einfach ein solches Schema als mustergültig für die Überlieferung mythischer Geschichten schlechthin verallgemeinern darf. Gewiss beweist die Ilias, wenn sie Euneos, den Sohn des Iason und der Hypsipyle, als König von Lemnos auftreten lässt206, dass die Geschichte der Lemnierinnen schon damals als Teil eines anderen grossen Sagenkreises, der Argonautensage, erzählt worden ist207. Eine Reihe von Anspielungen in den homerischen Gedichten und anderswo
204 Übersichten über die lemnische Mythologie auch bei Gruppe, GMR 225–228, EAA 4 (1961) s.v. Lemno, 542 [L. Bernabò-Brea], Gras, Trafics, 616–623, NP 7 (1999) s.v. Lemnos, 42f [H. Kaletsch/ E. Meyer], Acheilara, Λήµνος, 8–10; weiteres unten n. 222. 205 Vgl. 3.1.3. 206 Hom. Il. 7.467–475, vgl. Hy-A1. 207 Genauso ist das schon festgehalten bei Schol. Hom. Il. 7.468 Der Iasonsohn Euneos: [so sagt der Dichter] weil er auch die Argonautika kannte. Zur Argonautensage allgemein RE 2 (1896) 743–787 s.v. Argonautai [O. Jessen], Preller-Robert, GH 758–875, Braswell, Commentary, 6–23, Rizzo/Martelli 1988–89, 26–28, Gantz, EGM, 340–373, LIMC 2 (1984) 591– 599 s.v. Argonautai [R. Blatter]; dieser konstatiert 598f die Spärlichkeit archaischer Bildzeugnisse für den Mythenkomplex, dazu auch Braswell, Commentary, 19–23; seither neu hinzugekommen ist indessen eine etruskische Bucchero-Olpe aus der Mitte des 7. Jh.s mit mehreren Argonautenszenen, die für die weite Verbreitung des Mythos in dieser Epoche
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in der frühgriechischen Dichtung liefern klare Hinweise, dass diese Sage bereits zur Zeit, als Ilias und Odyssee abgefasst wurden, als ausgearbeitetes selbständiges Epos umlief208. Nichts davon ist erhalten geblieben, so dass wir keine Vorstellung mehr gewinnen, wie dort vielleicht die lemnische Episode erzählt war; unser ältester ausführlicher Zeuge ist erst Pindar209. Anders als im Fall des Philoktet gewinnt für uns auch die Sagengestalt bei den Dramatikern des 5. Jh.s nicht das nötige Profil: Wir wissen zwar, dass sich alle drei grossen Tragiker, ja auch Aristophanes, mit dem Stoff befasst haben, doch dessen Umriss erkennen wir bloss bei der Hypsipyle des Euripides. Dieses Stück muss – soviel sehen wir noch – die nachfolgende Überlieferung massgeblich geprägt haben, obwohl es eigentlich von etwas ganz anderem handelt und die Geschichte vom Verbrechen der Lemnierinnen bloss die Vorgeschichte darstellt. Eine ausführliche Behandlung dieses Teils der Sage finden wir dann in den Argonautika des Apollonios von Rhodos, des wichtigsten Epikers hellenistischer Zeit210. Auch dieses Werk hat auf die Dichter der nachfolgenden Jahrhunderte eine bedeutende Vorbildwirkung gehabt und ist für die Darstellung des Mythos in späteren Texten gerade so wichtig wie Euripides211. Besonders deutlich ist dies bei den lateinischen Epikern der flavischen Zeit, wo sich sowohl in den Argonautica des Valerius Flaccus als auch in der Thebais des Statius sehr ausführliche Hypsipyle-Erzählungen finden212. Ich werde zeigen müssen, dass diese Gestaltungen – trotz ihrer grossen Breite – für die Kenntnis der älteren Überlieferung nur sehr wenig ausgeben, weniger wegen ein paar wohl frei erfundenen Zusätzen der Römer, als weil sie höchstwahrscheinlich keine anderen Quellen mehr benutzt haben als Apollonios, Euripides und allenfalls deren antike Lesekommentare. Aus den wenigen anderweitig überlieferten einzelnen Zeugnissen lässt sich hingegen erraten, dass die Spannweite der Vari-
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zeugt, vgl. Rizzo/Martelli, 1989, auch LIMC 6 (1992) s.v. Medeia 388 und 395f (zu Nr. 1) [M. Schmidt]. Vgl. ausser den erwähnten Hinweisen auf die lemnische Mythologie in Hom. Il. die Schlüsselstelle Hom. Od. 12.69–72, die man gemeinhin als konkreten Hinweis auf ein episches Gedicht versteht; ausserdem Hes. Theog. 992–1002, Frgg. 151, 156, 241, 254f u.a., Hom. Od. 10.137, 11.254–259, Mimn. Frgg. 11, 11a West, Simon. Frgg. 544, 546f. Die klassische Analyse dieser Zusammenhänge bei Meuli, Odyssee, 25–115 [= GS 610–674], vgl. auch Vian, Apollonios I, xxvi–xxviii, Kullmann 1992, 125–129, Dräger, Argo, 12–39, Lordkipanidzé 1996, 21–29. Ob die lemnische Episode auch in den Naupaktia vorkam, einem weiteren verlorenen Epos archaischer Zeit, worin die Argonautensage eine wichtige Rolle spielte, ist völlig offen, vgl. RE 16 (1935) 1975–1979 s.v. Ναυπάκτια ἒπη, Huxley, Poetry, 69–73; mindestens zweifelhaft ist dasselbe bei den ebenfalls Argonautenmotive verwertenden Korinthiaka des Eumelos, vgl. Huxley, Poetry, 60–68; noch fragwürdiger die angebliche Argonautendichtung des Epimenides, vgl. Diog. Laert. 1.112 (= VS 3 A 1 DK) und dazu Jacoby, Fragmente IIIb, 314f. Pind. Ol. 4.19–27, Pyth. 4.251–254, vgl. Hy-A3. Apoll. Rhod. 1.601–909. Ein wichtiger unmittelbarer Vorgänger des Apoll. Rhod. muss Antim. gewesen sein, aus dessen Lyde etliche Frgg. mit Bezug auf die Argonautensage erhalten sind (Frgg. 67–77 Matthews); keines davon bezieht sich allerdings auf das lemnische Abenteuer. Val. Fl. 2.77–427 = Hy-C7, Stat. Theb. 5.49–485 = Hy-C6.
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anten einmal einiges breiter war, als unsere nach den Mustern aus attischer Tragödie und hellenistischem Epos uniformierte Überlieferung nahe zu legen scheint213. Die dritte bedeutende Gruppe von lemnischen Geschichten, jene um Hephaistos, wird noch einer gesonderten Untersuchung bedürfen214. Was ihn betrifft, finden wir in den homerischen Epen neben der ausführlichen Erzählung von Aphrodites Ehebruch, deren Bezug auf Lemnos allerdings fragwürdig ist, zum Teil deutliche Anspielungen auf Geschichten, die erst in Handbüchern der Kaiserzeit und der Spätantike zusammenhängend erzählt werden – vor allem zum Himmelssturz und zu Streik und Heimholung des Gottes –, für die sich aber zuverlässig Quellen in der archaischen Dichtung namhaft machen lassen. Dazu kommt allerhand Treibsand, Nachrichten aus Kommentaren und Lexika, die zwar keinen geschlossenen Erzählkern bilden, jedoch einen Eindruck von der Verbindung des Gottes mit den auf der Insel verehrten Kabiren geben215. Ein Umstand freilich erleichtert die Beschäftigung mit allen drei lemnischen Geschichtenkreisen: dass sie auf den ersten Blick kaum zusammenhängen, die Hauptpersonen von Sage zu Sage gänzlich verschieden sind. Nur selten zeigen sich Querbezüge: So spielt Aphrodite, die ungetreue Gattin des Hephaistos, auch in der Geschichte von Hypsipyle eine Rolle, und Hera, die schwierige Mutter des Gottes, besucht nicht nur in der Geschichte vom Trug an Zeus die Insel Lemnos216, sondern tritt auch in einer Fassung der Philoktetsage auf (Ph4). Ferner hören wir davon, dass die zum Umkreis des Hephaistos gehörenden Kabiren, wegen der Verbrechen der lemnischen Frauen die Insel verlassen hätten217; anderseits soll sich Hephaistos dafür eingesetzt haben, Aphrodite mit den Lemnierinnen zu versöhnen218. Dieses Erzählelement ist freilich wohl wenig mehr als die vergröbernde Ausdeutung einer Stelle bei Apollonios Rhodios219. Dass solche Verknüpfungen zwischen den Sagenkreisen bisweilen die abgeleitete Erfindung einzelner Autoren sein können, hat sich in Einzelfällen bereits gezeigt. Zu erwähnen sind etwa die Berichte, gemäss denen Philoktet bei den Priestern des Hephaistos auf der Insel zur Pflege gelassen oder mit der lemnischen Erde geheilt wurde, deren Wunderkraft vom Sturz des Hephaistos herrührt (vgl. Ph10 und HPh2a); auch 213 Rätselhaft ist mir das Verhältnis dieser Geschichten zu einer angeblichen neugriechischen Sage aus Lemnos über eine Prinzessin Ypsipyli, die bei Lehmann, Inseln 4,462f ohne Quellenangabe berichtet wird. 214 Vgl. 4.1.1–3. 215 Vgl. 4.3.3. Nicht genügend klar zu fassen ist für uns eine Tradition, nach welcher der Feuerraub des Prometheus auf Lemnos stattgefunden haben soll, belegt bei Acc. Trag. 532–536 R. 216 Hom. Il. 14.225–282. 217 Phot. Lex. s.v. Κάβειροι. 218 Schol. Apoll. Rhod. 1.850, Val. Fl. 2.316. 219 Vgl. Apoll. Rhod. 1.850–852. Bei Val. Fl. 2.98–100 (dem Lact. Plac. Stat. Theb. 5.58–59 folgt) wird die Vernachlässigung der Venus durch die Lemnierinnen darauf zurückgeführt, dass diese die Göttin verachteten, weil sie ihrem Inselgott Hephaistos die Ehe gebrochen hatte; das ist wohl eine freie Kombination dieses auch sonst (vgl. unten 3.3.3.c) eigenwilligen Autors.
3.2. Kuriose Geschichten
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die kunstreiche Verknüpfung von Argonautensage und Verwundung des Philoktet bei Euripides (Ph3) ist wohl eine persönliche Konstruktion dieses Dichters220. Ich habe ausserdem darauf hingewiesen, dass sich selbstverständlich in den Kulten und Tempeln der Insel bisweilen Nachbarschaften von Gestalten ergeben haben, die auch in den Mythen eine Rolle spielen221. Kaum etwas von all dem greift in den Kern der Geschichten ein und würde von sich aus nahe legen, die Sagen anders als jeweils einzeln für sich zu untersuchen. Dennoch hat die mythologische Forschung immer wieder versucht, Bezüge zwischen den lemnischen Geschichten aufzudecken. Diese sind freilich grundsätzlich anderer Art, nicht solche rein erzählerischen Verknüpfungen, sondern Entsprechungen auf der Bedeutungsebene, vermöge derer sich die Sagen gegenseitig erhellen sollen222. Ein besonderes Interesse hat dabei immer wieder die Geschichte von der Mordnacht von Lemnos, das Verbrechen der Lemnierinnen, gefunden. Sie galt nicht nur – ein Urteil, das sich schon in der Antike selbst vorbereitet – als der Inbegriff von lemnischer Mythologie schlechthin, sondern hat seit dem frühen 19. Jh. eine Reihe von Deutungen bekannter Forscher herausgefordert, die sie zum Musterbeispiel einer Mytheninterpretation werden liessen, die über das bloss Philologische und Historische hinaus einen anthropologischen Horizont zu entwerfen sucht223. Während eine historistische Mythenforschung die Verbrechen der Lemnierinnen und der Pelasger als Reflexe von wirklichen Massakern und Vertreibungen einander nachfolgender Völker auf der Insel deutete224, sah etwa Bachofen darin eine Erzählung vom Ende des Matriarchats, indem die Lemnierinnen sich am Ende mit den Argonauten verheiraten und die männliche Erbfolge wiederhergestellt wird. Zwar blieb auch eine solche Lesart noch in den 220 Vgl. 2.3.4.a. 221 Vgl. 3.1.5. 222 Ein Beispiel für solche Zusammenschau bei Villatte, Insularité, 83f, die das Überwiegen von Mythen konstatiert, die auf die Trennungsphase der Initiation anspielen (Aussetzung des Philoktet, Mordnacht, der aus dem Olymp verbannte Hephaistos), wobei es allerdings auch Integrationsmythen gebe (etwa die Ankunft der Argonauten). Eine ausführliche Synthese, die das Gewicht besonders auf die Rolle des Hephaistos legt, bei Delcourt, Héphaistos, 171–187. 223 Die Hauptstationen der Entwicklung sind Welcker, Trilogie, 155–304, 311–319, 585–595, Bachofen, Mutterrecht, 85–92 = Werke 2/1, 264–279, Dumézil, Crime, Burkert 1970 (= 2000, vgl. auch Burkert, HN 212–218), Detienne, Jardins, 172–84. Zur Wertung dieser Arbeiten im Einzelnen Masciadri 2004; ausserdem Leclercq-Neveu, Crime, 5–34, Brunel, Mythes féminins, 1140–1142, und zu Bachofens Deutung Borgeaud, Mythologie, 149–154. 224 Mustergültig und einflussreich Fredrich, IG XII.8, 2–6, de Lemno et Imbro; zur sachlichen Unhaltbarkeit solcher Vorstellungen vgl. 3.1.4. Ausserdem gab es in der älteren deutschsprachigen Forschung eine Interpretation, nach der Hypsipyle ursprünglich eine grosse Todesgöttin und das eigentliche Ziel der Argofahrt gewesen wäre (vgl. RML 5 (1916–24) s.v. Thoas, 805 [O. Immisch], RE 2B (1937) s.v. Thoas 2), 299 [A. Mordze]). Dahinter steht jene Grimmsche Deutungstradition, die auf die Namen der mythologischen Gestalten allein abstellt, wobei der Hinweis auf ein ‚hohes Tor’ im Namen Hypsipyle als Hadestor gedeutet wird – dass damit ausgerechnet die Totengöttin ihrem Vater das Leben rettet und den vorbeifahrenden Seemann zu sich ins Körbchen lockt, um mit ihm Kinder zu machen, wird bei einer solchen Deutung grosszügig vernachlässigt.
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3. Die Stadt der Frauen
Denkformen des Historismus gefangen, sie öffnete jedoch in zweierlei Hinsicht den Blick darüber hinaus: durch eine soziologische Lektüre der mythischen Symbolik einerseits, durch den schwergewichtigen Einbezug von Fragestellungen der Verwandtschaftsethnologie anderseits. Gerade dieser letzte Ansatz wird sich auch für meine nachfolgende Untersuchung als ertragreich erweisen225. Den entscheidenden Bruch bedeutete dann jene frühe Studie von Dumézil, in welcher er in diesen Fabeln nicht mehr den Reflex geschichtlicher Ereignisse der Vorzeit sehen wollte, sondern eine Spiegelung von Ritualen, die in klassischer Zeit fortbestanden. Es ist diese Deutung, die Schule gemacht hat und alle späteren Analysen der lemnischen Mythologie weitgehend prägt226. Demgegenüber folge ich in den nachfolgenden Erläuterungen demselben Ansatz wie bisher: Ich versuche, zuerst das System der Erzählungen, wie es sich in unseren Texten darbietet, in seinen inneren Bezügen und in jenen zu anderen Geschichten zu verstehen, und erst von da aus allfällige Rückschlüsse auf einen Hintergrund ausserhalb des Narrativen zu ziehen227. Eine ausführliche Übersicht über das Material, das der Untersuchung zugrunde liegt, ist auch hier fürs erste unentbehrlich. 3.3. LEMNISCHES UNHEIL 3.3.1. Der Klassiker Um den Überblick über die Überlieferung zur Mordnacht von Lemnos zu vereinfachen, lege ich, anders als bisher, die Zeugnisse nicht in zeitlicher Folge vor, sondern beginne mit dem für uns zentralen Text aus dem Epos des Apollonios Rhodios228. Danach folgen die älteren Dokumente, und schliesslich versuche ich abzuschätzen, was sich aus jenen Autoren gewinnen lässt, die nach Apollonios geschrieben haben. Dieser alexandrinische Epiker des 3. Jh.s erzählt die Mordnacht von Lemnos als Teil der Argonautensage, jenes grossen Unternehmens der Vorzeit, bei dem eine Gruppe der edelsten Helden sich unter der Führung des Iason auf dem Schiff Argo aufmachte, um im fernen Kolchis das goldene Vlies zu gewinnen. Auf der 225 Vgl. 3.4.6. 226 Ausser Burkert 1970 etwa Robertson 1985, 276–280, Martin 1987, 88f; vgl. unten n. 227. 227 Am ehesten schliesst mein Ansatz – trotz verschiedenen Ergebnissen – an jenen von Detienne, Jardins, 172–84 an; eine Kombination dieser Deutung mit dem Ansatz von Burkert 1970 bei Moreau, Mythe, 88–91. 228 Die beste Quellenübersicht bietet Vian, Apollonios I,19–28; vgl. auch Gantz, EGM 345–347, von den älteren Arbeiten RE 2 (1896) s.v. Argonautai 755f [O. Jessen], RE 9 (1914) 436–443 s.v. Hypsipyle [O. Jessen], Preller-Robert, GH 849–859, RML 1 (1884–90) 2853–2856 s.v. Hypsipyle [H. W. Stoll], Dumézil, Crime [1998], 41–43, 46–49; ausserdem LIMC 8 (Suppl. 1997) 645–650 s.v. Hypsipyle [C. Boulotis] und die Quellensammlung von Leclercq-Neveu, Crime, 122–151, wo allerdings das Material aus Eur. Hyps. (Hy-A6) u.a. fehlt; ungenügend auch – trotz universellem Anspruch – die v.a. auf Apoll. Rhod., Val. Fl. und Stat. gestützte Arbeit von Dominik 1997, wo Eur. ebensowenig diskutiert wird.
3.3. Lemnisches Unheil
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Hinfahrt nach diesem zuhinterst am Schwarzen Meer gedachten Fabelland ist Lemnos die erste Zwischenstation229: Hy-B Als jedoch zugleich mit den Sonnenstrahlen der Wind sich schlafen legte, erreichten [die Argofahrer] mit Ruderschlägen das felsige Lemnos der Sintier. Dort war durch Frevel der Frauen im letzten Jahr das ganze [Männer-] Volk auf einen Streich grausam ums Leben gebracht worden. Denn die Männer hatten gegen ihre rechtmässigen Frauen eine Abneigung gefasst und sie verschmäht; und es packte sie eine grimmige Lust nach Beutemädchen, die sie selbst von der andern Seite [des Meers] gebracht hatten, als sie Thrakien plünderten: Ein schauriger Zorn der Kypris nämlich verfolgte sie230, weil sie diese lange nicht mit Opfergaben geehrt. Ach, die Grausamen und in ihrer Eifersucht elendiglich Unersättlichen! Sie erschlugen nicht nur zugleich mit jenen [Thrakerinnen] ihre Gatten in ihrem Bett231, sondern das ganze männliche Geschlecht, damit sie auch fürder keine Busse zu leisten hätten für den jammervollen Mord. Als einzige von allen schonte Hypsipyle ihren ehrwürdigen Vater Thoas, der über das Volk herrschte, und liess ihn in einem hohlen Kasten über die Salzflut treiben, in der Hoffnung, er käme so davon 232. Und diesen zogen auf der Insel Oinoie Treibjäger233 an Land (so hiess sie früher, aber später wurde sie Sikinos genannt, nach Sikinos, welchen dem Thoas die Bergnymphe Oinoie gebar, nachdem sie mit ihm im Bett war);
229 Hy-B = Apoll. Rhod. 1.607–630 [607–914]; kurze Rückverweise auf diese Episode Apoll. Rhod. 2.30–32, 2.764, 3.1204–1206, 4.423–428. Der Autor hat bei der Gestaltung des Abschnitts nach Art der hellenistischen Dichter auf verschiedene literarische Muster zurückgegriffen, mit deren Motiven und Formulierungen er spielt, was hier nicht Gegenstand der Untersuchung sein kann. Von besonderer Bedeutung ist der Bezug zu homerischen Szenen, insbesondere der Kirke-Episode bei Hom. Od., vgl. Clauss, Best, 106f, Knight, Renewal, 162– 169, auch Bulloch 2006, 50–57; die beste literarische Analyse von Hy-B bietet Clauss, Best, 106–147; die hausbackene ‚Psychologie’, die Natzel, Frauen, 170–180 auf den Text anwendet, trivialisiert diesen dagegen in unzulässigem Mass; weiter Fränkel, Noten, 89–123, Levin, Argonautica, 59–86, George 1972, Beye, Epic, 88–93, Nyberg, Unity, 121–125, Pavlock, Eros, 45–51, Margolies De Forest, Apollonius, 54–60, 86–92, Clare, Path, 62–66, 179–87, 208–11, 268–73, Schmakeit, Apollonios, 200–225. 230 Als Kuriosität erwähnt sei Fränkels Vorschlag (App. ad loc.), hier nicht das überlieferte ὄπαζε zu lesen, sondern ἄποζε (vertrieb sie mit Gestank) o.ä. – eine Konjektur, die versucht, hier das in anderen Varianten des Mythos wichtige Motiv des schlechten Geruchs (vgl. 3.3.3.a) einzuführen, vgl. Levin, Argonautica, 62f. 231 Zu einer anderen Deutung dieser Stelle: Schmakeit, Apollonios, 206 n. 34. 232 Zu dieser Übersetzung: Fränkel, Noten, 91. 233 Das hier vorliegende Wort ἐπακτῆρες bezeichnet sonst (Hom. Il. 17.135, Od. 19.435, Kallim. Iov. 77, Lyk. Alex. 109, Opp. Kyn. 1.74 u.ö.) immer Jäger (im Sinne von Hundetreiber, vgl. Schol. Soph. Ai. 7, Hesych. s.v. ἐπακτῆρες); nach Schol. Apoll. Rhod. 1.623–26b (ebenso Schol. Nik. Ther. 824) sollen hier jedoch Fischer gemeint sein, weil es auf einer Insel keine Jäger gebe – eine Umdeutung, der man nicht zwingend folgen muss, vgl. die Skepsis von Ardizzoni, Apollonio, 175 [zu Apoll. Rhod. 1.625]. Jagd auf den Inseln galt als selten, ist aber belegt, vgl. Xen. Kyn. 5.24f und dazu Lane Fox 1996, 125f. Hunter, Argonautica, 112 n. 49 vermutet ein Wortspiel über ἐπ’ ἀκτῆι (am Meeresufer).
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3. Die Stadt der Frauen jenen aber [d.h. den Lemnierinnen] fiel das Rinderhüten, das Anlegen von ehernen Waffen und die weizentragenden Felder zu durchschneiden [d.h. pflügen] leichter als alle Handarbeiten der Athene [d.h. Spinnen und Weben], womit sie sich zuvor stets beschäftigt.
Nach dieser knappen Vorgeschichte erzählt der Dichter die Ankunft der Argonauten in epischer Breite. Ich gebe diesen Bericht gerafft: Die Lemnierinnen lebten in ständiger Angst, dass sie eines Tages von den Thrakern überfallen würden; als sie das Argonautenschiff sahen, warfen sie sich deshalb in die Waffen, stürzten aus den Toren der Stadt Myrina, fürchteten sich jedoch, die Ankömmlinge anzugreifen [630–639]. Da schickten die Argonauten den Herold Aithalides zu ihnen, der Hypsipyle dazu brachte, dass sie den Helden die Übernachtung auf der Insel zugestand; doch wegen des Nordwindes fuhren sie am anderen Tag nicht weiter [640–652]. Unterdessen hielten die Lemnierinnen eine Ratsversammlung ab, wie mit den Fremden zu verfahren sei: Während Hypsipyle riet, sie mit Proviant zu versorgen und möglichst rasch wieder wegzuschicken, damit sie nicht erführen, was in der Stadt geschehen sei, warnte die alte Amme Polyxo davor, die Insel auf Dauer ohne männlichen Schutz und ohne Nachkommenschaft zu lassen, und empfahl, die Argonauten einzuladen, im Land zu bleiben und zu heiraten; ihre Meinung setzte sich durch [653–701]. Die Lemnierinnen schickten deshalb die Botin Iphinoe zu den Argonauten, und Iason, als deren Führer, zog einen prächtig geschmückten Mantel an, machte sich auf den Weg in die Stadt und wurde von Hypsipyle freundlich empfangen [702–792]. Dass es auf der Insel keine Männer gab, erklärte sie dem Gast damit, dass diese allesamt auf das thrakische Festland übergesiedelt seien. Sie hätten öfter Beutezüge in Thrakien unternommen und von dort Beutemädchen mitgebracht, für die sie sich bald mehr interessierten als für ihre Gattinnen und Kinder; deshalb hätten die Lemnierinnen den Männern bei der Rückkehr von einem weiteren Zug nach Thrakien die Stadttore versperrt und sie gezwungen, endgültig dort ihren Wohnsitz zu nehmen [793–826]. Namens seiner Leute nahm Iason die Einladung der Hypsipyle an; die Argonauten – mit Ausnahme des Herakles, der beim Schiff blieb – zogen in die Stadt und verbanden sich mit den Lemnierinnen [827–860]; Aphrodite schenkte den Frauen dazu Liebreiz, dem Hephaistos zu Gefallen, damit dessen Insel nicht leer von Männern bleibe [850–852], und überall stieg Opferrauch auf, vor allem zu Ehren von Hera und Aphrodite [857–860]. Tag für Tag ging so hin, bis Herakles die Helden schalt und sie an ihren Auftrag erinnerte; da entschlossen sich die Argonauten zur Weiterfahrt [861–887]. Beim Abschied bat Iason Hypsipyle, falls er nicht aus Kolchis zurückkäme und sie einen Sohn gebäre, diesen als Stütze des Alters zu seinen Eltern nach Iolkos zu schicken [888–914].
3.3.2. Spuren und Bruchstücke 3.3.2. a) Epos und Lyrik Die älteste Erwähnung dieser Geschichte findet sich, wie schon mehrfach erwähnt, in der Ilias, wo eine Lieferung von Nachschub von den Inseln im Lager der Griechen vor Troia eintrifft234:
234 Hy-A1a = Hom. Il. 7.467–469; zu dieser Passage auch unten n. 324. Euneos, der Sohn des Iason, erscheint als König von Lemnos ebenso Hom. Il. 21.41 und 23.747.
3.3. Lemnisches Unheil
167
Hy-A1a Schiffe waren aus Lemnos gekommen, die Wein brachten, viele, die Euneos, der Iasonsohn, geschickt hatte, den Hypsipyle dem Iason, dem Hirten der Männer, geboren.
An einer zweiten Stelle ist von Hera die Rede, die nach Lemnos kommt: Hy-A1b235 Sie kam nach Lemnos, in die Gemeinde des göttlichen Thoas.
Diese Stellen geben uns nicht viel mehr als eine Genealogie: Thoas, vielleicht als eine Art Urkönig der Insel, Hypsipyle (ohne zu sagen, wie sie zu ihm steht), ihre Verbindung mit Iason und den gemeinsamen Sohn Euneos236. Klar geht daraus 235 Hy-A1b = Hom. Il. 14.230 236 Der Name Εὔνηος bedeutet als Possessivkompositum soviel wie der Mann, der ein gutes Schiff hat; dieser ist natürlich Iason mit der Argo, und so heisst der Sohn nach der kennzeichnenden Eigenschaft des Vaters – eine nicht seltene Bildeweise für epische Namen, vgl. Astyanax, Telemachos oder Neoptolemos und dazu Von Kamptz, Personennamen, 31f [§ 10e1], Kullmann 1992, 127; allerdings ist e-u-na-wo (Eunawos) schon mykenisch als Personenname belegt (KN As1520.9 u.a.); weiteres unten p. 184. Merkwürdiger ist, trotz seiner durchsichtigen Bildung, der Name ῾Υѱιπύλη, der als einfache Femininableitung eines Adjektivs ὑѱίπυλος erscheint, das im Epos und bei den Lyrikern ab und zu begegnet und jener, der ein hohes Tor hat bedeutet (zur Bildung vgl. Risch, WBhom 217 [§ 77b], 185f [§ 68f]). Allerdings beschreibt dieser Ausdruck niemals Personen, sondern Städte (Hom. Il. 6.416, 16.698, 21.544, Ibyk. Frg. 282.14 Page, Bakchyl. 9.46, Dion. Hal. 6.17.12 [= Frg. Lyr. adesp. 1027e Page] u.a.) oder Gebäude (Eur. Herakl. 1030, Aristonous ii.5 Powell). Da es im alten Epos eine ganze Reihe solcher Namen gibt, die von der Bedeutung her für Personen eigentlich nicht taugen (etwa noch Eurypylos, Anchialos, Amphialos u.ä.), hat man vorgeschlagen, darin Adjektive zu sehen, die bloss aufgrund formaler Ähnlichkeit mit Namen und wegen mit diesen gemeinsamen Kompositionsbestandteilen auf Personen übertragen wurden (vgl. von Kamptz, Personennamen, 10 [§ 2d3]) – was sie wohl deutlich als Erzeugnis der dichterischen Technik des frühgriechischen Epos ausweisen würde. Bei Hypsipyle bietet sich allerdings die Alternative, den Namen (analog zu Astypylos [Hom. Il. 21.209], vgl. von Kamptz, Personennamen, 91 [§ 31d2]) zu verstehen als jene, die am hohen Tor wohnt. Das könnte zu interessanten Vermutungen anregen: etwa über eine Gestalt des lokalen Kultes, die bei den Griechen der Insel einen Beinamen nach der Lage des Heiligtums erhielt – doch derlei ist natürlich luftige Spekulation. Nach Schol. Hom. Od. 4.797 trug ausserdem eine Schwester der Penelope bei einzelnen Autoren den Namen Hypsipyle (nach andern hiess sie Iphthime, Mede oder Laodameia). Auch dies deutet vielleicht darauf, dass der Name dem Repertoire der epischen Bildungen angehörte, doch ist es dann merkwürdig, dass als einer der Brüder der Penelope ein Thoas (Apollod. 3.10.6) oder Thoon (Schol. Hom. Od. 4.797) genannt wird. Der Name Hypsipyle erscheint ferner bei Clem. Alex. Protr. 2.32.3 (und danach Arnob. Nat. 4.26.3) für eine Geliebte des Apollon, ohne weitere Angabe zum Zusammenhang, so dass unklar bleibt, ob es sich um eine verschollene lemnische Geschichte oder etwas ganz anderes handelt (das neue Feuer im mit dem Hypsipyle-Mythos verbundenen Feuerfest kommt immerhin von der Apollon-Insel Delos, vgl. 3.5.1). Ein beliebig verfügbarer literarischer Name ist Hypsipyle bei Theophyl. Sim. Ep. 18. In einem bei Parth. 21.3 anonym überlieferten Fragment aus einer hellenistischen Gründung von Lesbos in Hexametern ist schliesslich ein Hypsipylos als Bruder des Helikaon und Bewohner der Insel genannt – bemerkenswert, dass wir auch damit in die nördliche Ägäis
3. Die Stadt der Frauen
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hervor, dass die Ilias den zweiten Teil der Geschichte, die Landung der Argonauten voraussetzt; über das Verbrechen der Lemnierinnen steht hier streng genommen nichts. Wie üblich darf man jedoch aus dem Fehlen einer Geschichte in den homerischen Gedichten nicht folgern, dass deren Verfasser sie nicht gekannt hätte: Zwar lässt sich eine Sage durchaus denken, nach der die Argonauten auf einer ganz normal mit Männern und Frauen besiedelten Insel landen und ihr Führer die Hand der Königstochter gewinnt – wahrscheinlicher, als dass Homer mit diesen Versen auf die ganze uns aus anderen Quellen bekannte Geschichte anspielt, ist eine solche Annahme jedoch nicht237. Besonders zu bemerken ist schliesslich, dass mit Euneos in Hy-A1 eine Gestalt auftaucht, die in Hy-B nicht vorkommt. Unser nächstes Zeugnis ist ein Fragment des lyrischen Dichters Simonides, dessen Tätigkeit in die Jahrzehnte um 500 fällt. Es ist kein wörtliches Zitat, sondern bloss ein kommentierender Hinweis: Hy-A2238 Denn auch bei Simonides steht die Geschichte, dass sie [die Argonauten auf Lemnos] einen Wettkampf um das Gewand veranstalteten.
Das heisst also, dass Hypsipyle bei der Ankunft der Argonauten einen athletischen Wettkampf veranstaltete, bei dem ein Gewand der Preis für den Sieger war, worüber wir aus den nächsten Zeugnissen Genaueres erfahren werden. Auffällig ist auch hier, dass Hy-B unter den Festlichkeiten zum Empfang der Argonauten zwar Opfer, Gastmähler und Tänze erwähnt239, aber keine athletischen Wettkämpfe. Als dritter Autor, der von den Lemnierinnen spricht, ist Pindar zu nennen. Seine Preisgedichte auf siegreiche Athleten lassen sich mehrheitlich aufs Jahr genau datieren. So wurde die 4. Pythische Ode 462 für den König Arkesilaos IV von Kyrene geschrieben. Darin erzählt der Dichter ausführlich die Fahrt der Argonauten. Als letzte Station auf der Heimfahrt von Kolchis laufen die Helden Lemnos an: Hy-A3a240 Sie trafen auf die Fluten des Ozeans, das Rote Meer und den Stamm der lemnischen Frauen, die ihre Männer getötet hatten; dort brachten sie es im Wettkampf der Glieder zur Entscheidung über das Gewand und gingen mit [den Lemnierinnen] ins Bett.
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kommen (die Verse werden oft Apollonios zugeschrieben, vgl. Apoll. Rhod. Frg. 12 Powell). Zum Namen Iason vgl. 4.3.4, zu Thoas unten p. 173 mit n. 268, sowie 3.3.3.a. Zu Homers Kenntnis des alten Argonautenepos und der Diskussion der antiken Philologen über diese Frage vgl. 3.2.1. Eine Landung der Argonauten vor der Mordnacht rekonstruiert Robert 1909, 380–387, allerdings als Neuerung des Eur., vgl. 3.3.2.c. Hy-A2 = Simon. Frg. 547 Page (= Schol. Pind. Pyth. 4.451). Apoll. Rhod. 1.857–860. Hy-A3a = Pind. Pyth. 4.251–254; vgl. die Vorbereitung in 4.50f und dazu Burton, Odes, 164, 167; zur lemnischen Herkunft des Königsgeschlechts von Kyrene unten p. 191.
3.3. Lemnisches Unheil
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An einer zweiten Stelle, in der wahrscheinlich 452 für Psaumis von Kamarina verfassten 4. Olympischen Ode, berichtet Pindar eine Einzelheit aus diesem Wettkampf: Hy-A3b241 Der wahre Mensch zeigt sich, wenn es zur Probe kommt: so hat es den Sohn des Klymenos aus der Unehre vor den lemnischen Frauen gelöst. Nachdem er in ehernen Waffen den Wettlauf gewonnen hatte, sagte er, als er vor Hypsipyle trat, den Kranz zu empfangen: "So einer bin ich, wenn es um Schnelligkeit geht; und meine Arme und mein Herz sind gleich. Auch jungen Männern wachsen manchmal weisse Haare, anders als die Zeit ihres Alters erwarten liesse."
Was Pindar hier in poetisch geraffter Erzählweise berichtet, wird von den Scholien in eine einfache Erzählung umgesetzt: Der Argonaut Erginos, Sohn des Klymenos, hatte trotz seiner Jugend weisse Haare; die Lemnierinnen lachten ihn aus, als er, ein scheinbarer Greis, zum Wettlauf antrat – sein Sieg selbst über die schnellen Söhne des Boreas rettete seine Ehre242. Es überrascht an sich kaum, dass Pindar, dessen Gedichte Athleten verherrlichen, auf diese lemnischen Wettkämpfe soviel Gewicht legt, die in Hy-B fehlen243. Dennoch ist dieser sportliche Agon um das Gewand vielleicht ein alter, wichtiger Bestandteil der Geschichte, denn es gibt eine etruskische Bucchero-Vase, noch aus der Mitte des 7. Jh.s, auf der sich Szenen aus der Argonautensage finden – darunter Medea, zwei Helden im Ringkampf und eine Gruppe von Männern, die eine Art langer Stoffbahn tragen – vielleicht das lemnische Gewand244. 241 Hy-A3b = Pind. Ol. 4.18–27; zum Verständnis der Passage: Gerber 1987, 20–23, ausserdem (trotz etlichen Mängeln, vgl. unten n. 243) Mader, Psaumis-Oden, 52–58, zur Datierung Schmitz 1992, auch zu den (gegen die Überlieferung von Schol. Pind. Ol. 4 inscr. [168.3f] und von POxy 222.ii.22) vorgeschlagenen Daten 460 oder 456 (so Gerber 1987, 7f). 242 Schol. Pind. Ol. 4.29df, 31c, 32bf. 243 Vgl. Braswell, Commentary, 349 (zu Pind. Pyth. 4.253 [b].). Erginos erscheint bei Apoll. Rhod. 1.185–189 und 2.896f als besonders begabter Seemann, ohne jeden Hinweis auf seine Kraft als Läufer oder seine weissen Haare (irreführend also Mader, Psaumis-Oden, 56: „... Apollonios Rhodios nimmt den Stoff auf“). Hingegen formuliert Kallim. Frg. 197 [= Schol. Pind. Ol. 4.32]: „Erginos, Sohn des Klymenos, herausragend im Stadionlauf“. Kallim. ist ein Zeitgenosse des Apoll. Rhod. und die Formulierung der Stelle erweckt den Eindruck, als ob gerade Pind. Ol. 4 die Vorlage wäre. Zur Rolle dieses Mythos in Pind. Ol. 4 vgl. Schmitz 1994; der Versuch von Dräger 1997, bes. 3–6, die ganze Geschichte als Erfindung Pind.s zu erweisen, trägt dem religionsgeschichtlichen Hintergrund der Gestalt nicht Rechnung (die diesbezüglichen Argumente von Meuli, Odyssee, 22 und Burkert 1970, 8f werden von Dräger nicht zur Kenntnis genommen; ebensowenig von Mader, Psaumis-Oden, 52 und 56); weiteres zu Erginos unten 4.3.1. 244 Vgl. Rizzo/Martelli 1988–89, 29–43, Lordkipanidzé 2002, Dognini 2003, 16–21. Die Stoffbahn ist mit dem etruskischen Wort ΚΑΝΝΑ beschriftet, das sich nicht sicher deuten lässt, vielleicht aber etwas wie Schmuck bedeutet (vgl. Hesych. s.v. χανά· κόσµησις), was die Interpretation stützen würde, vgl. Rizzo/Martelli, 1988–89, 49–52, anderes bei Lordkipanidzé
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3. Die Stadt der Frauen
Alles in allem finden wir so bei Pindar die wesentlichen Elemente der Sage beisammen: Hypsipyle, den Mord an den Männern, die Heirat mit den Argonauten – auffällig ist bloss, dass die Landung in Lemnos nicht als erste, sondern als letzte Station der Seefahrer erscheint245. 3.3.2. b) Das attische Theater Wie angedeutet, war die Mordnacht von Lemnos bei den Dramatikern der klassischen Zeit nicht unbeliebt: Neben Fragmenten der grossen Tragiker und des Aristophanes stehen etliche Hinweise auf Werke kleinerer Dichter246. Der einzige Text, von dem wir noch wirklich ein Bild gewinnen können, ist allerdings die Hypsipyle des Euripides. Sie geht in vielem eigene Wege, und ich behandle sie deshalb gesondert. Von Stücken des Aischylos sind mehrere Titel überliefert, die auf diese lemnischen Geschichten hinweisen. Eines hiess Lemniai (Die Lemnierinnen), doch liegt daraus kein Fragment mehr vor, das einen Hinweis auf die Handlung gäbe247. Nicht mehr festzustellen ist deshalb, ob allenfalls dasselbe Stück gemeint ist wie mit dem Titel Hypsipyle. Unter diesem letzteren hat sich ein Hinweis auf die Geschichte der Frauen von Lemnos erhalten248:
245 246
247
248
2002, 304; weder Schmitz 1994 noch Dräger 1997 scheinen dieses Zeugnis zu beachten. Weiteres unten n. 349. Schon kritisch vermerkt von Schol. Pind. Pyth. 4.448; zum Problem unten 3.3.3.a. Vgl. Schmakeit, Apollonios, 201–203. Über die Tragödie Hypsipyle des Kleainetos wissen wir nur, dass sie an den Lenaia 363 gespielt wurde (vgl. TrGF 1, no. 84 T 4). Von den Fragmenten der Lemniai des Nikochares (Nikoch. Frgg. 14–17), eines Zeitgenossen des Aristophanes, ist Frg. 15 von Interesse, wo jemand einem Mädchen von seiner Seefahrt zum Vlies erzählt, was Worte des Iason zu Hypsipyle sein könnten. Von Strattis, einem Dichter der späten Alten Komödie, ist ein Titel Lemnomeda belegt, worin man auch schon eine komische Vermischung von Lemniai und Andromeda gesehen und eine Hypsipyle-Parodie vermutet hat (vgl. PCG VII, 634); die Frgg. geben leider nichts aus (Stratt. Frgg. 23–26). Merkwürdig ist Schol. Aristoph. Lys. 299, wo die Rede ist von „den lemnischen Frauen, die Huren waren“: hier wird der Empfang der Argonauten durch die Lemnierinnen so umgedeutet, dass diese als Damen des Gunstgewerbes erscheinen – was eigentlich nur die Erfindung eines Komödiendichters gewesen sein kann (dieselbe Sichtweise kehrt ernst gemeint in modernen psychologischen Deutungen der Sage wieder, vgl. Lawall 1966, 150f). Die Komödien des Alexis, des Antiphanes, des Diphilos und des Römers Turpilius mit Titeln wie Lemnia u.ä. sind wohl (gegen Jouan/van Looy, Euripide VIII.3, 160 u.a.) keine mythologischen Stücke, sondern eher mit Menander-Komödien wie Samia, Imbrioi usw. zu vergleichen. Erhalten sind bloss zwei Wörter, vgl. Aischyl. Frgg. 123a/b. In der schlechteren Überlieferung erscheint der Titel auch als Lemnioi (Die Lemnier), vgl. TrGF 3, 233. Über das Verhältnis zur Hypsipyle: TrGF 3, 273. Daneben stehen zwei Einzelwörter (Aischyl. Frgg. 247f); von einem gewissen Interesse ist dabei Frg. 248 ἀποκορσωσαµέναις was heisst: jene [Frauen], die sich die Haare abschneiden – als Trauergeste nach dem Tod der Männer?
3.3. Lemnisches Unheil
171
Hy-A4a249 Aischylos aber sagt in der Hypsipyle, dass sie [die Lemnierinnen] in Waffen herbeigeeilt seien und jene [die Argonauten], die von einem Sturm bedrängt wurden, an der Landung hinderten, bis sie ihnen den Eid abgenommen hatten, dass sie mit ihnen schlafen würden, wenn sie an Land gingen.
Wir erinnern uns hier daran, dass auch in Hy-B die Lemnierinnen bewaffnet am Strand zusammenlaufen, freilich aus einem anderen Grund, während nachher die Vereinigung zwischen Lemnierinnen und Argonauten viel sanfter verläuft250. Ein dritter Titel des Aischylos lautet Kabeiroi (Die Kabiren) und es ist nicht ganz klar, ob dieses Stück zur lemnischen Mythologie oder nach Samothrake gehört; ich werde jedoch an anderer Stelle zeigen, dass der Bezug auf Lemnos der wahrscheinlichere ist251. In diesem Stück gab es einen Katalog der Argonauten252, und Iason und seine Leute traten betrunken auf253. Letzteres deutet – nebst dem Stil der wörtlichen Fragmente254 – darauf hin, dass wir es mit einem Satyrspiel zu tun haben, das vielleicht nur sehr lockere Beziehungen zu einer bekannten mythologischen Geschichte hatte255. Aischylos nimmt schliesslich noch an einer Stelle in den vollständig erhaltenen Stücken auf das Verbrechen der Lemnierinnen Bezug. In den Choephoren spricht der Chor von Mordanschlägen, die Frauen gegen Männer geschmiedet haben und zitiert:
249 Hy-A4a = TrGF 3 p. 352 (= Schol. Apoll. Rhod. 1.769–73). 250 Vgl. Knight, Renewal, 162f, Schmakeit, Apollonios, 202. In der epischen Nachdichtung des Römers Statius kehren sowohl der Sturm als auch der kriegerische Anlauf der Lemnierinnen wieder; vgl. unten p. 172 sowie n. 367. Die Sanftheit der Fassung des Apollonios tritt noch deutlicher hervor, wenn man sie mit den im Hintergrund stehenden homerischen Szenen vergleicht, vgl. Knight, Renewal, 115f, Clauss, Best, 116f. Dagegen versuchte Stoessl, Apollonios, 47–52 noch zu erweisen, dass Apoll. Rhod. im Wesentlichen dem Drama des Aischyl. folgt – bei dem wenigen, was wir über letzteres wissen eine beliebige Behauptung. Zum Kampfmotiv bei den beiden älteren Tragikern auch Detienne, Jardins, 175; verständnislos auch hier Natzel, Frauen, 170, die wegen Hy-A4a behauptet, Aischyl. habe den Lemnierinnen „eine extrem nymphomanische Veranlagung nachgesagt“. Jackson, Myrsilus, 18f vermutet, die Lemnierinnen hätten die Argonauten wegen ihres üblen Geruchs (dazu 3.3.3.a) zu sich ins Bett zwingen müssen; solches Zusammenschrauben verschiedener Sagenvarianten sollte man vermeiden; ebenso kritisch diesbezüglich Schmakeit, Apollonios, 207 n. 35. 251 Vgl. 4.3.3f. 252 Aischyl. Frg. 97a = Schol. Pind. Pyth. 4.171b. 253 Aischyl. Test. 117a Radt = Athen. 10.33 [428f]. 254 Aischyl. Frgg. 95–97. 255 Vgl. Radt TrGF 2, 215; eine Behandlung des Stücks fehlt seltsamerweise bei Krumeich/ Pechstein/Seidensticker, Satyrspiel. Dafür, aus diesen Titeln und Fragmenten eine ‚lemnischen Tetralogie’ des Aischylos zu rekonstruieren, fehlen m.E. hinlängliche Anhaltspunkte, trotz der Versuche von Mette, Aischylos, 120–132, Vian, Apollonios I, 20f, Gantz, EGM 345– 347 und Deforge 1987, der 42f gar Lemnioi mit der Geschichte des Verbrechens der Lemnierinnen als Satyrspiel bringen will, obwohl das weder vom Ablauf der Geschichte her an den Schluss passt noch, wie Aélion, Mythes, 127 n. 20 richtig anmerkt, ein Stoff für ein heiteres Stück ist.
3. Die Stadt der Frauen
172 Hy-A4b256
Von allen Übeln steht dem Ruf nach das lemnische voran: man verschreit es im ganzen Volk als widerlich – und immer wieder vergleicht man Untaten mit dem lemnischen Unheil.
Zusammengefasst kennt Aischylos also klar den Mord an den Männern von Lemnos (Hy-A4b) und die Ankunft der Argonauten, die mit den Lemnierinnen Kinder machen (Hy-A4a); für diesen zweiten Teil der Sage bietet allerdings auch er Besonderheiten, die bei Hy-B fehlen. Etwas anders steht es um die Überlieferung zu Sophokles257: Bei diesem gibt es nur einen einschlägigen Titel, Lemniai (Die Lemnierinnen). In den zugehörigen Fragmenten kommen Lemnos und das Inselchen Chryse vor258; ausserdem hat sich ein Vers erhalten, worin jemand von einem furchtbaren, rätselhaften Wesen spricht, das er oder sie aufgezogen hat259. Man vermutet gelegentlich, dass hier die Amme der Hypsipyle über ihre Königin spricht, womit die Gestalt der Polyxo in Hy-B vorbereitet würde260 – ohne zu bedenken, dass gerade Hypsipyle in der Geschichte das Muster der Sanftmut ist, weil sie ihren Vater verschont hat. Oder folgte Sophokles in diesem Punkt einer anderen Version? Merkwürdig ist schliesslich eine isolierte Wendung, die Stunde ohne Trompetenstoss261, womit die Mitternacht gemeint sein soll, weil dann anders als tagsüber kein Stundensignal geblasen wurde. Könnte das eine Angabe über die Tatzeit des Verbrechens der Lemnierinnen gewesen sein262? Trotzdem: Insgesamt müssen wir zugeben, dass sich so gut wie nichts mehr darüber sagen lässt, wie der Mord an den Lemniern bei Sophokles erzählt wurde. Auch von der zweiten Hälfte der Geschichte, der Ankunft der Argonauten, erkennen wir nur noch Einzelheiten: Es gab in dem Stück einen Katalog der Helden263 und der Empfang durch die Lemnierinnen scheint eher noch kriegerischer gewesen zu sein als bei Aischylos: Hy-A5264 Und Sophokles sagt in den Lemnierinnen, dass sie [die Frauen] sogar eine heftige Schlacht mit ihnen [den Argonauten] angefangen hätten.
Besser berichtet sind wir über Aristophanes: Von ihm gab es eine Komödie mit dem Titel Lemniai (Die Lemnierinnen), und wir haben daraus noch eine Reihe
256 257 258 259 260 261 262 263 264
Hy-A4b = Aischyl. Ch. 631–634. Vgl. Pearson, Fragments II, 51–56. Soph. Frg. 384. Soph. Frg. 387. So Pearson, Fragments II, 54f (ad loc.) und noch Vian, Apollonios I, 21; skeptisch auch Schmakeit, Apollonios, 206f, 212–217. ἀσάλπικτον ὥραν: Soph. Frg. 389. Andere Deutungen bei Pearson, Fragments II, 53 (ad loc.). Soph. Frgg. 385f. Hy-A5 = TrGF 4, 336f (= Schol. Ap. Rhod. 1.769–73); zur Wirkung bei Stat. oben n. 250
3.3. Lemnisches Unheil
173
von Fragmenten, die auf den Stoff der Hypsipyle-Sage hindeuten265. Da wurde offenbar die Insel beschrieben als „Lemnos, wo schöne, zarte Saubohnen wachsen“266, und dann erfahren wir: Hy-A7a267 Dort herrschte der Vater der Hypsipyle, Thoas, der von allen Menschen der langsamste im Rennen war.
Der Zusammenhang des Namens Thoas mit dem Adjektiv thoos (= schnell) wird hier also zum Anlass für ein mässig gescheites Wortspiel268. Ein nächster Vers erwähnt den Mord an den Männern: Hy-A7b269 Sie töteten die Männer, die Kinder zeugenden.
Dann gibt es ein Fragment, das auf die Ankunft der Argonauten anspielt: Hy-A7c270 Von importierten Männern wimmelt es um jeden Herd.
Auffällig schliesslich ist die folgende Bemerkung: Hy-A7d271 Ich habe sie eben verlassen, als sie sich abwischte in der Badewanne.
Weniger, wer hier in der Badewanne sitzt (wahrscheinlich eine Lemnierin, am Ende gar Hypsipyle selbst?), ist dabei interessant, als die Frage, weshalb: Im Folgenden werde ich auf eine Überlieferung zu sprechen kommen, nach der die Lemnierinnen mit einem üblen Geruch geschlagen waren272 – hängt dieses Bad allenfalls damit zusammen?
265 Zu Aristoph. Lemniai auch Martin 1987, 80 und 101–104, der vor allem Motivanalogien zu Aristoph. Lys. notiert; auffallend besonders Aristoph. Frgg. 379 und 385, die vielleicht auf das Motiv des Liebesstreiks verweisen. Ausführlich parallelisiert dann Bowie, Aristophanes, 184–195 Aristoph. Lys. mit dem von Dumézil und Burkert rekonstruierten lemnischen Feuerfest (vgl. 3.5.1). Trotz bemerkenswerten Analogien bleibt dies insofern fragwürdig, als sich immer nur Entsprechungen isolierter Motive aber nie ganzer Sequenzen ergeben. Weiteres bei Taffe, Aristophanes, 53f, Margolies De Forest, Apollonius, 55. 266 Aristoph. Frg. 372. 267 Hy-A7a = Aristoph. Frg. 373. 268 Die Stelle wirkt wie eine Parodie auf die bei Eur. Iph. Taur. 32f gegebene Etymologie zum Namen des Taurerkönigs Thoas, was das Stück des Aristoph. in die Jahre nach 413 datieren würde, vgl. RE Suppl. 12 (1970) s.v. Aristophanes, 1413 [T. Gelzer]; zum Verhältnis der beiden Figuren unten p. 199 mit n. 387; zur Etymologie des Namens Thoas RML 5 (1916–24) s.v. Thoas 801–803 [O. Immisch], LFE 1051f s.v. Thoas [J. N. O’Sullivan]; vgl. unten n. 322. 269 Hy-A7b = Aristoph. Frg. 374. 270 Hy-A7c = Aristoph. Frg. 375. 271 Hy-A7d = Aristoph. Frg. 376. 272 Vgl. 3.3.3.b.
174
3. Die Stadt der Frauen
Die übrigen Fragmente geben keine so klaren Hinweise auf den Mythos273. Nochmals hingewiesen sei auf jene beiden Stellen, welche die Grosse Göttin der Insel erwähnen274, sowie auf mehrere Verse mit üppigen Speiseschilderungen. Solche gehören zwar zum üblichen Grundbestand der Komödie, doch man kann sich leicht vorstellen, dass es die Ankunft der Argonauten war, die Anlass zu diesem Fest gab275. Alles in allem finden wir bei Aristophanes den üblichen Grundriss der Geschichte: Thoas, Hypsipyle, den Mord an den Männern, die Heirat mit den Argonauten, und vielleicht – als einzige Besonderheit – den üblen Geruch. 3.3.2. c) Euripides Von der wohl in den letzten Lebensjahren des Dichters uraufgeführten Tragödie Hypsipyle des Euripides sind grössere Stücke auf Papyrus wiederentdeckt worden, insgesamt fast 300 Verse, aus denen sich ein gutes Bild vom Inhalt des Werks gewinnen lässt; ihr Thema ist freilich, anders als der Titel vielleicht erwarten lässt, nicht das Verbrechen der Lemnierinnen276. Hypsipyle erscheint hier vielmehr als Amme am Hof des Königs Lykurgos von Nemea auf der Peloponnes277. Zur Ob273 Hinzuweisen wäre allenfalls auf Aristoph. Frg. 377 „Hast du Herzweh? Aber was muss man da machen?“, worin man Worte einer Amme zur verliebten Hypsipyle gesehen hat, oder auf Frg. 378 „Solange sie noch frisch ist hinsichtlich ihres Alters“, was man ebenfalls auf die lemnische Königstochter bezogen hat, vgl. Kaibel bei PCG III.2, 209f ad locc. Die Erwähnung eines Schiffwächters in Frg. 388 könnte schliesslich ebenfalls in Zusammenhang mit der Argo stehen; die meisten dieser Deutungen sind freilich spekulativ. 274 Aristoph. Frgg. 381 und 384, vgl. 3.1.5.b. 275 Aristoph. Frgg. 380, 383. 276 Zudem wird in Eur. Hek. 886f als Beispiel für Frauen, die Männer überwältigt haben, die Mordnacht von Lemnos neben die Tat der Danaiden gestellt. Zur Datierung von Eur. Hyps. vgl. Bond, Hypsipyle, 144, Salottolo 1997–98, 376 mit n. 2, Jouan/Van Looy, Euripide VIII.3, 161, Collard/Cropp/Gilbert, Euripides 2, 183, Kannicht, TrGF 5.2, 736 zu Test. ii. 277 Es ist hier nicht der Ort, auf die Schwierigkeiten beim Wiedergewinnen der Handlung, im Einzelnen einzugehen; vgl. Vian, Apollonios I, 21–23, Aélion, Euripide I, 187–195 und Mythes, 128–135, Salottolo 1997–98, 370–375, Jouan/van Looy, Euripide VIII.3, 155–175; zu den Bildquellen auch LIMC 4 (1988) 59–62, s.v. Euneos et Thoas [G. Berger-Doer]. Die massgeblichen Textausgaben: Bond, Hypsipyle, Cockle, Hypsipyle, Jouan/Van Looy, Euripide VIII.3, 176–223, Collard/Cropp/Gibert, Euripides 2, 169–258, und Kannicht, TrGF 5.2, 736–797, nach welch letzterem in der Folge zitiert wird. Das Material zu der nemeischen Geschichte auch bei RE 17 (1914) s.v. Hypsipyle, 441–443 [O. Jessen], vgl. Doffey 1992, 190– 192; die Bildquellen bei LIMC 8 (Suppl. 1997) 645–650 s.v. Hypsipyle I [C. Boulotis]. Das Stück war berühmt, Zeugnis für eine Aufführung noch im 1. Jh. ist Ath. 8.31 [343ef], vgl. auch die Nennung als Stoff für pantomimische Tanzvorführungen bei Lukian. Salt. 44; entsprechend oft ist die Geschichte wiedererzählt worden, am ausführlichsten bei Stat. Theb. 4.739–796, 5.499–604; ausserdem AP 3.10 [aus Kyzikos, 2. Jh.], Hypoth. Pind. Nem. b–d [vgl. Hy-A6c], Apollod. 3.6.4, Paus. 2.15.2f, Hyg. Fab. 74, Schol. Clem. Alex. Protr. 2.34 [306.25 Stählin] u.a.; eine originelle allegorische Deutung bei Fulgent. Super Thebaidem p. 184f Helm.
3.3. Lemnisches Unheil
175
hut anvertraut ist ihr Opheltes, ein Kind, das man laut einem Orakelspruch nicht mit dem Boden in Berührung bringen darf, ehe es gehen kann. Doch da begegnet sie dem Zug der Sieben gegen Theben, die nach einer Quelle fragen, und während sie den Kriegern den Weg zeigt, setzt sie das Kind zwar nicht auf den Erdboden, aber auf eine grüne Staude. Unterdessen kommt eine Schlange und tötet es. Eurydike, die Königin von Argos, will die schuldige Hypsipyle bestrafen, doch setzen sich die Sieben für sie ein. Unter den Kriegern ihres Zugs sind auch Thoas und Euneos, Hypsipyles Söhne von Iason, die ihre Mutter am Ende wiedererkennen. Zum Andenken an den Tod des Opheltes werden schliesslich die Nemeischen Spiele begründet. Im Verlauf dieses Dramas ist mehrfach die Rede von dem, was sich seinerzeit auf Lemnos abgespielt hat: An einer Stelle schildert Hypsipyle, wie die Argonauten auf dem stillen Meer nach Lemnos kommen und landen278, vor allem aber finden wir Hinweise im letzten erhaltenen Textstück, welches die Wiedererkennung zwischen Hypsipyle und ihren Söhnen schildert: Hy-A6a279 Euneos: ... Und was deine Leiden angeht, unglückliche Mutter, so war wohl ein Gott so unersättlich darin. Hypsipyle: Ach, wenn du wüsstest, welche Fluchten ich geflohen bin, mein Kind, von Lemnos übers Meer, weil ich das graue Haupt des Vaters nicht abschlug. Eun.: Haben sie dir denn befohlen, deinen Vater zu töten? Hyps.: Schauder erfasst mich vor den Schrecken von damals. Weh, mein Kind, wie Gorgonen töteten sie im Ehelager ihre Bettgenossen.
Im Folgenden berichtet Hypsipyle, wie sie ans Meer flüchtete, von Seeräubern aufgegriffen und in Nauplia als Sklavin verkauft wurde; Euneos hingegen erzählt, wie Iason ihn als Kleinkind von Lemnos auf der Argo nach Kolchis mitnahm, und dass er später nach des Vaters Tod mit seinem Bruder von Orpheus nach Thrakien gebracht wurde. Darauf möchte Hypsipyle wissen, wie sie dennoch in ihre alte Heimat zurückgekehrt seien: Hy-A6b280 Hyps.: Und auf welchem Weg kamt ihr durch das Ägäische Meer zur lemnischen Küste?
278 Eur. Hyps. Frg. 752g, 4–14; die Schilderung steht in deutlichem Gegensatz zu den bei Lemnos von einem Sturm bedrohten Argonauten von Hy-A4a; zu ihrer Wiederaufnahme bei Stat. Theb. 5.341–345 vgl. Aricò 1961,61f. Über den vielleicht aus dem Prolog stammenden P.Hamb. 118 b (= Frg. 752a), der wohl die Genealogie des lemnischen Königsgeschlechts erzählte, unten p. 183f. 279 Hy-A6a = Eur. Hyps. 1591–1599 (= Frg. 759a, 70–78); für den Part der Söhne liefert der Pap. nur die allgemeine Angabe οι υѱιπ. υοι (die Söhne der Hypsipyle). 280 Hy-A6b = Eur. Hyps. 1624–1627 (= Frg. 759a, 103–106).
176
3. Die Stadt der Frauen Eun: Thoas, dein Vater, hat uns zwei Kinder281 hingebracht. Hyps.: Ist er denn gerettet? Eun.: Ja, durch die List des Bakchios.
Die Geschichte vom Verbrechen der Lemnierinnen besteht hier also aus folgenden Elementen: Die Lemnierinnen bringen ihre Männer um; auch Hypsipyle sollte ihren Vater töten, tut es aber nicht und flieht ans Meer (wo sie von den Seeräubern entführt wird); die Argonauten landen, Hypsipyle hat mit Iason zwei Kinder, Euneos und Thoas, die dieser nachher auf seine Fahrt mitnimmt; Thoas, der auf wunderbare Weise, durch Eingreifen des Dionysos gerettet wird, bringt später die Kinder nach Lemnos zurück. Wenn man die Dinge so erzählt, lassen sich die Elemente nicht in eine Reihe bringen, die mit Hy-B übereinstimmt, ohne dass Hypsipyle nicht mehr auf Lemnos ist, als die Argonauten landen. Grundsätzlich sind für dieses Problem zwei Lösungen möglich: a) Die Argonauten landen vor der Mordnacht. b) Dass Hypsipyle Thoas nicht getötet hat, fliegt erst nach der Abfahrt der Helden auf, auch ihre Flucht ans Meer erfolgt später. Aus den uns vorliegenden Bruchstücken des Euripides-Textes ist die Frage nicht entscheidbar. Die spätere Überlieferung hat durchweg die Lösung b) gewählt, und der Gedanke liegt nahe, dass sie darin Euripides folgt282. Es herrscht in den diesem Muster folgenden Quellen allerdings Uneinigkeit, wie das Entkommen des Thoas ablief und sogar darüber, ob er nicht doch dabei ums Leben gekommen sei. Überall ist jedoch die Rede von dem entschlossenen Versuch der Hypsipyle, ihn zu retten. So scheint es auffällig, dass sie in Hy-A6b darüber staunt, dass er lebend davongekommen ist – man hat den Eindruck, ihre Rettung ist scheinbar gescheitert und sie hält ihn für tot. In den anderen Quellen gibt es einen einzigen Bericht, der genau darauf passt:
281 An dieser Stelle ist der Text des Papyrus ungrammatisch; die Übersetzung folgt dem naheliegendsten Sinn, den auch alle bisherigen Konjekturen wiederherzustellen suchen, vgl. Bond, Hypsipyle, 135; gut möglich freilich, dass hier etwas völlig anderes stehen sollte. 282 So etwa Hypoth. Pind. Nem. b [= Hy-A6c], Apollod. 3.6.4 [= Hy-C3], Stat. Theb. 5.486–498 [= Hy-C7], Hyg. Fab. 15.5 [= Hy-C4]. Robert 1909, 380–387 rekonstruiert trotzdem nach a), doch nicht nur hätte damit die Sagenversion eines so bekannten Textes wie Eur. Hyps. in der späteren Überlieferung keine Spur hinterlassen, vor allem wird die Geschichte damit (verglichen mit der anderen Fassung) ein bisschen doof, was schon Robert 1909, 399 selber hervorhebt, aber für Eur. durchaus passend findet; man wird ihm darin heute kaum mehr zustimmen. Bond, Hypsipyle, 128f folgt mit Vorbehalten der Rekonstruktion von Robert; ein wichtiges Argument ist für ihn der Erzählverlauf der Passage, aus der Hy-A6a stammt – kaum überzeugend, handelt es sich doch nicht um eine chronologisch ablaufende Erzählung, sondern um ein Stück lyrischen Dialog. Zum Problem auch Vian, Apollonios I, 22f, der die Sagengestalt bei Eur. offen lässt, und Aélion, Mythes, 131–133, die sich ebenfalls für eine mit dem Rest der Überlieferung im allgemeinen übereinstimmende Fassung bei Eur. ausspricht. Nach Robert rekonstruieren dann wieder LIMC 4 (1988) s.v. Euneos et Thoas, 60 [G. BergerDoer], Salottolo 1997–98, 369f mit n. 5, Collard/Cropp/ Gibert, Euripides 2, 171 und 177, Kannicht, TrGF 5.2, 786 (App. zu 1591–1632).
3.3. Lemnisches Unheil
177
Hy-A6c283 Hypsipyle kam folgendermassen nach Nemea: Als die Lemnierinnen beschlossen hatten, das ganze männliche Geschlecht zu ermorden, schützte von allen [allein] Hypsipyle ihren Vater Thoas, indem sie ihn in einer Truhe einschloss. Später, nach der Abfahrt der Argonauten, wurde den Lemnierinnen offenbar, was mit Thoas geschehen war, und ihn selbst warfen sie in der Kiste eingeschlossen ins Meer und verurteilten auch Hypsipyle zum Tode; diese erfuhr es und entfloh. Unterdessen fiel sie Räubern in die Hände und wurde an Lykurgos verkauft.
Wenn die Kiste mit Thoas nach der Entdeckung ins Meer geworfen wird, so bleibt in diesem knappen Bericht offen, ob er dabei versunken ist oder gerettet wurde – hier müsste also das Eingreifen des Dionysos liegen, von dem Hypsipyle in HyA6b noch nicht weiss284. Der Text von Hy-A6c stammt übrigens aus den antiken Kommentaren zu Pindar, deren Grundlage in hellenistischer Zeit zusammengestellt wurde. Dass dabei zur Erläuterung der mythologischen Zusammenhänge auch auf die beliebten Sammlungen von Tragödienstoffen in Kurzfassung – in unserem Fall der Hypsipyle des Euripides – zurückgegriffen wurde, ist keineswegs undenkbar. Auch wenn damit ein wahrscheinliches Profil für den Ablauf der Vorgeschichte bei Euripides gewonnen ist, lohnt es sich, das Schema a) einmal zu Ende zu denken. Es müsste zu folgendem Ablauf führen: Iason und seine Leute landen auf der normal bevölkerten Insel; Iason gewinnt die Hand der Königstochter (während die übrigen Argonauten wohl leer ausgehen), und das lemnische Verbrechen geschieht nach seiner Abfahrt. Eine solche Geschichte würde es nicht nur dramaturgisch noch zwingender machen, dass Iason seine Söhne auf die Fahrt mitnimmt (sonst müsste Hypsipyle später Vater und Kinder retten), sie gibt auch der bei Euripides angedeuteten Rückkehr des Thoas ein besonderes Gewicht – denn irgendwie müssen ja wieder Männer nach Lemnos gekommen sein, wenn das Leben weitergehen soll. Für die Handlung bei Euripides ist dies zwar die weniger wahrscheinliche Variante, doch wir werden im Folgenden auf mit der Sage von der Mordnacht verwandte Quellen stossen, die einem solchen Ablauf entsprechen285. Zusammengefasst verlief also die Geschichte in der Hypsipyle des Euripides etwa so: Hy-A6 Die Lemnierinnen töten ihre Männer, allein Hypsipyle rettet ihren Vater Thoas, indem sie ihn versteckt. Später landen die Argonauten bei gutem Wetter, verbinden sich mit den Lemnierinnen, und Hypsipyle gebiert dem Iason zwei Söhne, Euneos und Thoas; Iason nimmt diese 283 Hy-A6c = Hypoth. Pind. Nem. b 2.7–15. Eine besondere Nähe dieses Textes zur Tragödie des Eur. nahm aus anderen Gründen schon Menozzi 1910, 6–16 an. 284 Jordan 2003, 5f versucht dagegen zu zeigen, dass die Rettung bei Eur. ähnlich ablief wie in Hy-C6; dort spielt allerdings Bacchus bei der Flucht zu einem Zeitpunkt eine Rolle, als Hypsipyle noch gegenwärtig ist, und sie ist es auch, die ihn in einem alten Boot aufs Meer lässt, um ihn in Sicherheit zu bringen – ich finde das nicht die plausibelsten Voraussetzungen für ihr Staunen in Hy-A6b über einen Kunstgriff des Gottes, der den Vater gerettet haben soll; weiteres zu dieser These unten n. 385. 285 Vgl. 3.4.4.
178
3. Die Stadt der Frauen mit nach Kolchis. Danach entdecken die Lemnierinnen den versteckten Thoas und werfen ihn in einer Kiste ins Meer. Hypsipyle flieht an den Strand und wird von Seeräubern aufgegriffen.
Was in Nemea geschehen ist, gehört nicht mehr zum Stoff dieser Untersuchung. Tatsächlich liegt der Gedanke nahe, dass die nemeische Hypsipyle einmal eine Figur aus einer ganz unabhängigen Geschichte war, die erst aufgrund einer zufälligen Namensgleichheit mit jener aus Lemnos gleichgesetzt wurde286. Die relativ verwickelte Intrige, mit der die Heldin von der Insel in die Argolis gebracht wird, ist diesbezüglich ebenso verdächtig wie dass die meisten Varianten der lemnischen Geschichte nicht auf jene von Nemea hinauslaufen. Ob die Kombination erst ein Werk des Euripides ist oder doch – wie man auch schon angenommen hat287 – auf älteren Quellen fusst, wäre dann anhand unseres Materials schwer zu entscheiden. Bei näherer Betrachtung fällt allerdings auf, dass die Sage vom Festland enge Motivbezüge zur lemnischen Mythologie aufweist. So erscheint die Hypsipyle von Nemea als einfache Umkehrung jener von Lemnos: Rettet diese mit Absicht den alten Mann, den sie töten sollte, so tötet diese versehentlich das männliche Kind, das ihr zu schützen anvertraut ist. Das Werkzeug der Rettung ist im ersten Fall das tote Holz der Kiste und das Ende allen Wassers, das Meer, das Werkzeug des Todes im zweiten die grünende Staude und der Ursprung des Wassers, die Quelle; und schliesslich führen sowohl der lemnische Mord wie das Unglück von Nemea zur Einrichtung von athletischen Wettkämpfen: die nemeischen Spiele zu Opheltes’ Gedächtnis und der Agon der Argonauten auf Lemnos, der in einem Teil der Quellen als Leichenspiel für Thoas erscheint288. Noch merkwürdiger ist, dass hier auch Motive aus einer anderen lemnischen Geschichte eingekreuzt scheinen: das Heer auf dem Kriegszug, das etwas Wichtiges sucht, der eine, der dazu den Weg zu weisen versteht und dabei vom Unglück in Gestalt einer Schlange heimgesucht wird – das ist der Stoff, aus dem gewisse Varianten von Philoktets Verwundung gemacht sind. Insgesamt sind es also zu viele Parallelen, um zufällig zu sein. Über ihr Zustandekommen ist schwieriger zu urteilen. Erinnern wird man sich daran, dass Nemea unmittelbar neben Argos liegt und, wie sich im Folgenden zeigen wird, zwischen der lemnischen Mythologie und jener von Argos noch andere dichte und wahrscheinlich sehr alte Beziehungen bestehen289. Dennoch bleibt auffällig, dass 286 So etwa OCD3 793, s.v. Hypsipyle [H. J. Rose/K. Dowden], Collard/Cropp/Gibert, Euripides 2, 177 mit n. 12. 287 So etwa LIMC 8 (Suppl. 1997) s.v. Hypsipyle I, 646 [C. Boulotis]. Robert 1909, 399f sprach dagegen noch entschieden von einer Erfindung des Eur., ebenso Salottolo 1997–98, 370 n. 5, vorsichtiger Doffey 1992, 192. Ausführlich und teilweise sehr spekulativ zu dieser Frage Aélion, Euripide I, 188–192, die eines der Vorbilder in dem Drama Nemea des Aischylos vermutet, von dem wir nicht mehr als den Titel kennen. 288 Vgl. unten p. 194. 289 Vgl. 3.4.5. Zu Nemea und seinen Spielen NP 8 (2000) 815f s.v. Nemea [3], Decker, Sport, 55–59. Letztere gelten seit 573 als panhellenisch, doch ging wohl ein lokaler Kult voran. Die archäologischen Fundschichten reichen bis ins 8. Jh. zurück, vgl. Miller 1988, 142. Die Spiele stehen zu Beginn unter der Leitung von Kleonai, spätestens im 4. Jh. dann unter jener von
3.3. Lemnisches Unheil
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die Parallelen zur Philoktetsage am engsten an die Variante Ph3 (und vielleicht die davon teilweise abhängige Variante Ph8) anschliessen, die ebenfalls auf ein Drama des Euripides zurückgeht. 3.3.2. d) Geschichtsschreiber und Verwandtes Der erste Prosaautor, der das Verbrechen der Lemnierinnen erwähnt, ist in der 2. Hälfte des 5. Jh.s Herodot: Hy-A8290 Nach ... der Tat, welche die Frauen begangen haben, als sie ihre Männer unter Thoas töteten, ist es Brauch geworden, in ganz Griechenland alle schrecklichen Untaten "lemnische Taten" zu nennen.
Zwei Dinge sind hier bemerkenswert: Zum einen scheint die Formulierung des Herodot anzudeuten, dass Thoas zusammen mit den Männern der Insel in der Mordnacht ums Leben gekommen ist291; zum anderen belegt die Stelle, dass im 5. Jh. die Redewendung vom "lemnischen Unheil", den Lemnia kaka im Umlauf ist. Belege dafür sind auch sonst nicht selten292, und unser nächstes Zeugnis für die Mordnacht von Lemnos ist sogar in einem Lexikon als Erklärung zu diesem Begriff überliefert: Hy-A9293 Dreinschauen wie das lemnische Übel: Dies bezieht sich auf den schlechten Geruch, von dem Kaukasos sagt, dass er die Lemnierinnen erfasst habe, weil sie Aphrodite vernachlässigten.
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Argos, vgl. Miller 1988, 144. Den Tod des Archemoros kennt schon Simon. Frg. 553 Page, die Gründung der Nemea als Totenspiele für den von einer Schlange Getöteten durch die Sieben bei Bakchyl. Epin. 9.10–24, allerdings ohne Nennung der Hypsipyle, vgl. Doffey 1992, 190f. Das wahrscheinliche Heroon des Archemoros/Opheltes in Nemea ist erst hellenistisch, doch ein archaischer Vorgängerbau nachweisbar, vgl. Miller 1988, 143. Hy-A8 = Hdt. 6.138.4; zum Zusammenhang, in dem diese Notiz steht unten 3.4.4. Schol. Eur. Hek. 887 bietet eine falsche Abfolge, wonach die pelasgische Vesper vor der Mordnacht von Lemnos liegt (vgl. unten n. 353), scheint aber sonst direkt an Hy-A8 anzuschliessen. τοὺς ἅµα Ѳόαντι ἄνδρας heisst die Männer, die unter Führung des Thoas standen, vgl. Thuk. 7.57.6 ἐπὶ Λακεδαιµονίους τοὺς ἅµα Γυλίππῳ ... ὅπλα ἔφερον (sie zogen gegen die Spartaner unter Führung des Gylippos in den Kampf). Eine Übersetzung zur Zeit des Thoas, wie man sie schon versucht hat, um Hdt. der verbreiteteren Fassung der Sage anzupassen, ist unwahrscheinlich, vgl. Macan, Herodotus 4/5/6:1, 393, Nenci, Erodoto VI, 318, McQueen, Herodotus VI, 230. Genau besehen scheint die sprichwörtliche Wendung bereits der Formulierung von Hy-A4b zugrunde zu liegen. Nach dem 5. Jh. fehlen allerdings weitere Belege; bei Lib. Epist. 25.2, Or. 61.19 ist der Ausdruck eine aus Sprichwörtersammlungen angelernte attizistische Floskel, belegt etwa bei Schol. Eur. Hek. 887, Schol. Aristoph. Lys. 298, Schol. Lukian. Dial. Meretr. 13.4, Zenob. 4.91, Diogenian. 6.2/10, Apostol. 10.65, Macar. 5.60, Gregor. Cypr. (cod. Mosq.) 4.13, Hesych. s.vv. Λήµνια / Ληµνίᾳ χειρι / Λήµνιον κακόν, Eusth. Hom. Il. 1.594 [158.16–20]. Hy-A9 = Kaukalos FGrHist 38 F 2 = Phot./Suid. s.v. Λήµνιον κακὸν βλέπων; vgl. Paus. Att. λ 16 Erbse; im Text κατασχεῖν ‹λέγει› Καύκασος ist λέγει Zusatz von Jacoby.
3. Die Stadt der Frauen
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Der hier als Quelle genannte Autor Kaukasos ist völlig unbekannt, und die Herausgeber nehmen an, es liege ein Fehler der Überlieferung vor, gemeint sei eigentlich Kaukalos von Chios, ein Redner, von dem immerhin berichtet wird, dass er eine Lobrede auf Herakles geschrieben habe und ein Bruder des Historikers Theopomp gewesen sei, der in der Mitte des 4. Jh.s arbeitete294. An dieser Stelle ist also erstmals eindeutig von jenem üblen Geruch die Rede, dessen Spur ich bereits in Hy-A7d vermutet hatte und dessen Funktion in unserer Geschichte wir noch genauer untersuchen müssen295. Noch etwas älter als dieses Zeugnis ist wahrscheinlich ein Fragment des Herodoros von Heraklea, eines gelehrten Geschichtensammlers, der in der Zeit um 400 geschrieben hat. Ich verzichte darauf, ihm eine Nummer zu geben, weil es keine Besonderheiten enthält, die bei der Analyse der Varianten eine Rolle spielen würden296: Dass die Argonauten sich mit den Lemnierinnen vereinigten, erzählt auch Herodoros in den Argonautika.
Auch hier also ein Hinweis auf einen verlorenen Text über die Argonautensage, nur dass sich über die Gestalt, welche unsere Episode darin hatte, nichts mehr sagen lässt297. Das nächste Zeugnis wird von unseren Quellen auf Asklepiades von Tragilos zurückgeführt, einen Autor, der im 4. Jh. ein Werk verfasste, worin die von den Tragödiendichtern behandelten Mythen gesammelt waren, die sogenannten Tragodumena: Hy-A10298 Indem die Lemnier Aphrodite ihre hergebrachten Opfer nicht darbrachten, verurteilten sie sich selbst zum Tode. Es heisst, dass die Göttin aus Zorn den Männern ein Verlangen nach thrakischen Frauen eingeflösst habe und dass sie ihre eigenen vernachlässigt und in Ruhe sitzen gelassen hätten. Sie setzten also nach Thrakien über und umwarben [die Frauen von dort und schliefen mit ihnen und fielen folgendem Anschlag anheim299]. Die lemnischen Frauen befiel ein sonderbarer Wahnsinn, so dass sie beschlossen, sie alle wollten ihre Männer töten, und der Anschlag glückte. Nachdem die Männer diesem Unglück zum Opfer fielen, soll Iason mit der Argo angekommen sein und sich mit der vornehmsten von allen, Hypsipyle, vereinigt
294 295 296 297
Vgl. Athen. 10.2 [412b]. Vgl. 3.3.3.b. Herodor. FGrHist 31 F 6 = Schol. Ap. Rhod. 1.769–73. Herodor. hat die Argonautensage vielleicht im Zusammenhang seines Werkes über Herakles behandelt, vgl. RE 8 (1912) s.v. Herodoros 4), 985f [F. Jacoby]; zu Herodor. auch NP 5 (1998) 469 s.v. Herodoros [F. Graf]. 298 Hy-A10 = Asklepiad. Trag. FGrHist 12 F 14 (= Schol. Hom. Il. 7.467). 299 Der Text der Handschriften διέβαινον οὖν εἰς τὴν Ѳράικην περιέποντες καὶ †σηµώµενοι τα† ἐνταῦѳα ist an dieser Stelle sinnlos und die auch bei FGrHist 12 F 14 aufgenommene übliche Verbesserung σεβόµενοι τὰ (sie pflegten das dort drüben) ergibt keinen befriedigenden Sinn. In der Übersetzung habe ich deshalb jenen Text eingefügt, der als Marginalie (aus einer anderen Handschrift?) neben Schol. Hom. Il. 7.467 steht: συµµιγνύµενοι ταῖς ἐνταῦѳα καὶ δὴ τῆς ἐπιβουλῆς ταύτης ἐπιτυχεῖν.
3.3. Lemnisches Unheil
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haben; davon, heisst es, sei Euneos geboren worden. Diese Geschichte steht bei Asklepiades in den Tragodumena.
Für den in Hy-A9 erwähnten üblen Geruch der Lemnierinnen findet sich eine andere Begründung bei Myrsilos von Lesbos, der im 3. Jh. eine Lokalgeschichte seiner Insel schrieb, also bereits Zeitgenosse des Apollonios von Rhodos war: Hy-A11300 Myrsilos sagt im ersten Buch der Lesbiaka, dass Medea im Vorüberfahren aus Eifersucht ein Zaubermittel auf Lemnos geworfen habe, und dass die Frauen deshalb ein übler Geruch erfasst habe; und es gebe bis heute jedes Jahr einen Tag, an dem die Frauen wegen des üblen Geruchs Mann und Söhne von sich fernhielten.
Für die in diesem Abschnitt ausgebreiteten älteren Nachrichten sind, wenn man sie einmal zu überblicken versucht, zwei Dinge kennzeichnend: Zum einen erzählt ausser Hy-A10 keine von ihnen die Geschichte der Lemnierinnen vollständig; es sind immer nur Bruchstücke, die sich nicht recht zu einer geschlossenen Variante vereinigen und Hy-B im Vergleich gegenüberstellen lassen. Zum andern ist selbst von diesen kurzen Nachrichten keine ganz mit dem ihr in Hy-B entsprechenden Glied der Erzählung zur Deckung zu bringen. Schon das macht eine letzte Nachricht auffällig, welche uns die antiken Kommentare zu Hy-B überliefern, wo die Rettung des Thoas geschildert wird301: Nach Oinoie gerettet: Er hat diese Geschichte von Theolytos übernommen. Sikinos ist eine Insel vor Euboia, die früher Oinoie hiess, weil sie mit Weinstöcken bewachsen ist. Ihre Umbenennung erwähnt auch Xenagoras, der sagt, dass sie nach Sikinos, dem Sohn des Thoas und der Nymphe Oineis302 umbenannt wurde. Dass Thoas dorthin gerettet wurde, erzählt auch Kleon von Kurion, ebenso Asklepiades von Myrleia, der nachweist, dass Apollonios alles von Kleon übernommen hat.
Hier wird also auf eine Diskussion um die Quellen des Apollonios verwiesen, wobei als Gewährsmann Asklepiades von Myrleia zitiert wird, der als Historiker, vor allem aber als Kommentator Homers und der hellenistischen Dichter zu Beginn des 1. Jh.s in Rom und in Spanien gewirkt und offenbar auch über das Epos des Apollonios geschrieben hat303. Von den drei angeblichen Quellen, welche die 300 Hy-A11(a) = Myrsil. FGrHist 477 F 1a (= Schol. Apoll. Rhod. 1.609–19e); vgl. Hy-A11(b) = F1b (= Antig. Mir. 117f): „Myrsilos von Lesbos sagt ..., die Lemnierinnen seien übelriechend geworden, als Medea mit Iason ankam und ein Zaubergift auf die Insel warf; und zu einer gewissen Zeit, und besonders in jenen Tagen, wo Medea auf der Insel gewesen sein soll, würden sie so übelriechend, dass sich ihnen keiner mehr nähere“; sowie Hy-A11(c) = F 1c (= Phot./Suid. s.v. Λήµνιον κακόν βλέπων): „Der üble Geruch, von dem Myrsilos sagt, dass er die Lemnierinnen wegen der Eifersucht der Medea auf Hypsipyle erfasst habe“; zur Stelle vgl. Jackson, Myrsilus, 15–25, Dognini 2003, 17. 301 Schol. Apoll. Rhod. 1.623–26a = Asklep. Myrl. FGrHist 697 F5 = Xenag. FGrHist 240 F 31 = Kleon SH Frg. 339 [b] = Theolyt. FGrHist 478 F 3. Auch Et. M. s.v. Σίκινος basiert wohl auf dieser Stelle; verkürzter dann Plin. Nat. 4.70, Steph. Byz. s.v. Σίκινος. 302 Der Name der Nymphe ist in den Handschriften wohl verderbt, man liest dort Νηίδος νύµφης ἐν Οἰνοίη oder νύµφης Οἰνοίης, vgl. Wendel, Überlieferung, 45f, dessen Vorschlag νύµφης Οἰνηίδος ich oben aufgenommen habe. 303 Zu Asklep. Myrl. vgl. Pfeiffer, Geschichte, 329f, NP 2 (1997) 92 [F. Montanari].
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3. Die Stadt der Frauen
Stelle nennt, ist Xenagoras ein gelegentlich zitierter Verfasser eines Werkes namens Chronika und eines anderen Über die Inseln, woraus die vorliegende Stelle stammen dürfte304; er gehört sicher bereits in die hellenistische Zeit und ist damit nicht unbedingt älter als Apollonios von Rhodos selbst. Unter dem Namen des Kleon von Kurion ist ein Werk mit dem Titel Argonautika bezeugt, und es gibt Hinweise, dass auch er ein Dichter war305. Von Theolytos von Methymna schliesslich besitzen wir Verse aus einem Bakchischen Epos, die von Glaukos und Ariadne handeln – da Ariadne, wie gleich zu zeigen sein wird, mit den lemnischen Geschichten in Zusammenhang steht, ist es gut möglich, dass auch unsere Stelle aus diesem Werk stammt306. Sowohl Kleon wie Theolytos sind, nach dem Stil ihrer Verse zu urteilen, Autoren der hellenistischen Epoche wie Apollonios von Rhodos selbst. Damit wird aber der Verdacht genährt, dass wir in den vorgeblichen Quellenangaben unserer Stelle nicht viel anderes fassen als Spuren der damals üblichen Literatenpolemik, die ab und zu solche scheinbaren urheberrechtlichen Fragen wälzte307. Solange wir all diese Autoren zeitlich nicht genauer einordnen können, ist nichts davon nachprüfbar, und hilft uns die Stelle nicht, das Alter der in Hy-B erzählten Geschichte zu bestimmen. Inhaltlich bringt sie sowieso nichts Neues. 3.3.3. Echoräume 3.3.3. a) Familienbande Ich wende mich nun zur Darstellung der Geschichte von Hypsipyle in Texten, die später als das Epos des Apollonios Rhodios abgefasst wurden, halte dabei allerdings die Bestandesaufnahme weniger vollständig. Es gibt ja aus dieser jüngeren Zeit eine Reihe von Hinweisen, die gegenüber dem Bisherigen keine zusätzlichen Informationen bringen308. 304 So schon RE 9A (1967) s.v. Xenagoras 1), 1414 [F. Gisinger]; dafür, wie dort vorgeschlagen, Theolyt. als Quelle für Xenag. und Apoll. Rhod. anzusehen, fehlt leider jeder Hinweis in den Quellen. 305 Zum Titel Argonautika vgl. SH Frg. 339 [a] = Schol. Apoll. Rhod. 1.587; als Dichter würde ihn das Distichon SH Frg. 340 ausweisen, wenn es ihm wirklich zugehört; vgl. d’Alessio 2000, 92f. 306 So schon RE 5A (1934) 2033 s.v. Theolytos [E. Diehl]. 307 So schon RE 11 (1921) 719 s.v. Kleon 9) [W. Weinberger], vgl. Jacoby, Historiker III:b, 382, Vian, Apollonios I, 24f und 256. Bisher weitgehend übersehen wurde offenbar das Zeugnis von IG XII Suppl. Nr. 183, 5f, wo Sikinos als α δε Ѳοαντος / [νασος] (auch die [Insel] des Thoas) bezeichnet wird. Die betreffende Versinschrift stammt offenbar erst aus dem 2. Jh. doch immerhin von der Insel selbst; ob sie nur den Einfluss der hellenistischen Dichter spiegelt oder alte Lokalüberlieferung, ist damit nicht zum Vornherein klar. 308 Dazu gehören Paraphrasen und Anspielungen, die einfach Teile von Hy-B wiederholen (Schol. Pind. Pyth. 4.449, Schol. Apoll. Rhod. 1.620–21, Ov. Met. 13.399f, Mela 2.106, Lukian. Am. 2, Orph. Argon. 471–483 [vgl. 578], Drac. Or. 432–434), Hinweise auf die
3.3. Lemnisches Unheil
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Andere Stellen bieten vor allem Ergänzungen zur Genealogie des lemnischen Königshauses: Thoas ist danach ein Sohn von Dionysos und Ariadne, die auf Naxos zurückgelassen wurde, nachdem sie Theseus aus Kreta entführt hatte. Es heisst sogar einmal, der Gott habe seine Braut von Naxos nach Lemnos gebracht und erst dort das Beilager mit ihr vollzogen309. Weiter werden Brüder des Thoas genannt, wobei die erhaltenen Listen unterschiedliche Namen anführen. Einigermassen regelmässig erscheinen darauf Staphylos und Oinopion310. Der letztere stellt für uns als Urkönig von Chios eine einigermassen klar umrissene Gestalt dar – bekannt ist etwa seine Rolle in der Geschichte von der Blendung des Orion311. Staphylos hingegen ist ein Name, der im Umkreis der Dionysos-Mythologie verschiedenen Figuren zugeordnet wird, wobei immerhin der Bruder des Thoas ebenfalls in einigen Geschichten Profil gewinnt312. Nur ein einziges Mal erscheint als ein weiterer Bruder Peparethos313, doch ist irritierend, dass als mythischer Gründerkönig der vor der Halbinsel von Magnesia gelegenen Sporadeninsel Peparethos sonst Staphylos genannt wird314, während sich eine mythische Person namens Peparethos ausser an der zitierten Stelle nirgends findet. Der Gedanke liegt nahe, dass dieser dritte Bruder des Thoas lediglich einem Missverständnis der Kommentarliteratur sein Dasein verdankt. Nun gibt es noch andere erweiterte Listen: Einmal treten neben Thoas, Oinopion und Staphylos noch Latramys, Euanthes und Tauropolis315; von diesen kennen wir nur Euanthes aus anderen Quellen, und hinter dem Namen Tauropolis möchte man eine weibliche Gestalt sehen, auch wenn der Text dafür keinen An-
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Genealogie des Euneos entsprechend Hy-A1 (Hesych. s.v. Εὔνεως) oder bloss auf die Verbindung von Hypsipyle und Iason (Nonn. Dion. 30.205) u.ä. Apollod. Epit. 1.9. Der Gedanke ist ausgesprochen verführerisch, dass dies im Prolog von Eur. Hyps. so dargestellt war (vgl. Eur. Frg. 752). Zu Thoas als Sohn von Dionysos und Ariadne auch Ov. Her. 6.114–116, Quint. Smyrn. 4.381–393, ausserdem P.Hamb. 118b (= Eur. Hyps. Frg. 752a), der vielleicht zum Prolog von Eur. Hyps. gehört, vgl. Bond, Hypsipyle, 157–160 [H. Lloyd-Jones], Görschen 1966, 298–301, Cockle, Hypsipyle, 53, Jouan/Van Looy, Euripide VIII.3, 165; vgl. unten n. 310. In Andeutungen vorausgesetzt ist Ariadne als Mutter des Thoas wohl schon bei Apoll. Rhod. 4.423–434. Zu den Verwandtschaftsverhältnissen auf Lemnos ausführlich RML 5 (1916–24) s.v. Thoas, 803–805 [O. Immisch], auch LIMC 4 (1988) s.v. Euneos et Thoas, 59f [G. Berger-Doer]. Beide bei Schol. Apoll. Rhod. 3.997–1004a, Apollod. Epit. 1.9 und wahrscheinlich schon in Eur. Hyps. Frg. 752a, wo Σταφ- und anschliessend Πεπάρηѳον gerade noch zu lesen ist und neben Thoas und Lemnos auch Chios vorkommt, was auf Erwähnung des Oinopion zu deuten scheint; Staphylos erscheint als Bruder des Thoas auch bei Satyr. FGrHist 631 F 1. Zu den Söhnen des Dionysos allgemein Preller-Robert, GH 688f. Über ihn RML 3 (1897–1909) 791–798 s.v. Oinopion 1) [E. Wörner], LIMC 8 (Suppl. 1997) 920–922 s.v. Oinopion [O. Touchefeu-Meynier]. Zu den verschiedenen Staphylos-Gestalten RE 3A (1927) 2145–2149 s.v. Staphylos 1) [V. Gebhard], LIMC 7 (1994) 807f s.v. Staphylos [L. Parlama]. Apollod. Epit. 1.9. Skymn. 579–583, Diod. 5.79.2, vgl. Eur. Hyps. Frg. 752a und dazu oben n. 310. Schol. Apoll. Rhod. 3.997–1004a.
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3. Die Stadt der Frauen
halt liefert316; so ist daraus nicht viel zu gewinnen. Immerhin erkennen wir bei Staphylos und Oinopion noch deutliche Anklänge an die lemnische Mythologie, und so ist es vielleicht kein Zufall, dass die drei Inseln, an welche diese Gestalten geknüpft scheinen – Lemnos, Chios und Peparethos –, ein grosses Dreieck um das fast inselfreie mittlere Ägäisbecken bilden317. An anderer Stelle erfahren wir den Namen der Mutter der Hypsipyle: Es ist die Tochter des Kretheus, Myrina, die der zweiten Stadt der Insel den Namen gegeben hat318. Kretheus gilt als Erzeuger des Aison, der hinwiederum der Vater des Iason ist319, womit Hypsipyle als Kusine des Iason erscheint. Der Führer der Argonauten heiratet also mit der Tochter der Vaterschwester eine Kreuzkusine320. Noch in einer anderen Richtung erweitern diese späteren Nachrichten die lemnische Genealogie: Sie leiten von Euneos, dem Sohn des Iason, das Geschlecht der Euneiden ab, das als Tänzer, Kitharaspieler oder Herolde bei Prozessionen eine besondere Rolle in den Kulten der Stadt Athen spielte. Aus Inschriften wissen wir, dass die Euneiden das Priesteramt des Dionysos Melpo316 Zu Euanthes vgl. Diod. 5.79.2, Schol. Hom. Il. 9.197; ein Sohn des Oinopion ist er bei Paus. 7.4.8. Der Name Latramys ist ganz dunkel, doch vgl. Wilamowitz, Pindaros, 17 n.1. Zu Tauropolis unten 3.4.2. Satyr. FGrHist 631 F 1 gibt eine Liste der zur Phyle des Dionysos gehörenden Demen der Stadt Alexandreia in Ägypten, die allesamt nach Mitgliedern der Familie des Gottes benannt sind, vgl. Fraser, Alexandria I, 44 und II, 120 f n.48. Dabei sind zwei Gruppen erkennbar, von denen die eine über Thestios, Althaia und Deianeira die mythische Linie angibt, über die sich das Königshaus der Lagiden auf Dionysos zurückführte. In der anderen erscheinen als Namengeber Ariadne und eine Reihe von als Söhne des Dionysos bezeichneten Gestalten – man darf wohl annehmen, dass sie allesamt Ariadne zugeordnet sind, auch wenn dies nur vom letzten in der Reihe, von Maron, ausdrücklich gesagt wird (bei Schol. Hom. Il. 9.197 ist Maron ein Sohn des Euanthes); neben diesem erscheinen Thoas, Staphylos sowie ein wohl verderbt geschriebener Eunoos; man hat dafür verschiedene Lösungen vorgeschlagen, wobei Meinekes Verbesserung Euneos mehr Herausgeber überzeugt hat als Müllers Euanthes. Dass man damit unnötigerweise eine mythologische Singularität konjiziert (Euneos ist sonst als Sohn der Hypsipyle immer bloss der Urenkel, niemals ein Sohn des Gottes), nehmen die um paläographische Plausibilität besorgten Herausgeber in Kauf (die ganze Passage ist textlich auch sonst gestört, so dass man aus allem wohl nicht zuviel machen sollte, vgl. den Apparat zu dem das Frg. des Satyr. überliefernden Text Thphl. Ant. Autol. 2.7.4f bei Marcovich, Ad Autolycum, 48). 317 Zur Geschichte von Staphylos und Rhoio sowie zu Thoas und Oinopion und ihren Bezügen zur lemnischen Mythologie vgl. 3.4.3; die Beziehungen der Sage von der Blendung des Orion zur lemnischen Mythologie zu untersuchen, würde hier leider zu weit führen. 318 Schol. Apoll. Rhod. 1.601–04a; ohne Nennung des Vaters Kretheus auch bei Hekat. FGrHist 1 F 138c, Et. M. s.v. Μυρίννα. Ob Dion. Chalcid. Frg. 2b FHG [= Crameri Anecd. Ox. 4.271.10–12], wo eine Amazone Myrina erscheint, sich auf die Mutter des Thoas bezieht, ist (gegen RE 16 (1935) 1096 s.v. Myrina 4b) [H. Treidler] und NP 8 (2000) 596 s.v. Myrina 1) [A. Külzer]) zweifelhaft, auch wenn der Autor anderswo die lemnische Stadt genannt zu haben scheint (Dion. Chalcid. Frg. 2a FHG [= Harp. s.v.῾Ηφαιστία]). 319 So schon Hom. Od. 11.258f. 320 Die verschiedenen Personen ihrer Verwandtschaft, die Hypsipyle bei Stat. Theb. 5.218–239 aufzählt, sind wohl eine ad hoc-Erfindung des Dichters; und nur bei Acro Hor. Carm. 1.17.23 wird der Beiname des Bacchus Thyoneus irrtümlich zu seinem Sohn, als dessen Sohn dann wiederum Thoas erscheint.
3.3. Lemnisches Unheil
185
menos innehatten321. Das Geschlecht in Athen ist damit demselben Gott zugeordnet wie seine mythischen Vorfahren auf Lemnos, und so überrascht es kaum, dass der Name Thoas auch für Nebengestalten in der attischen Mythologie auftaucht322. Lemnos und Athen rücken dadurch in enge Nachbarschaft, eine Tendenz, die sich in unseren Geschichten wohl bereits angedeutet findet, wenn die von dem Athener Theseus entführte Ariadne auf Naxos von Dionysos übernommen wird und ihm danach den Lemnier Thoas gebiert323. Die Ausarbeitung solcher Bezüge steht sehr wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit der Insel zu Athen und gehört damit erst dem 5. Jh. an324. Die lemnischen Sagen als solche freilich sind mit Sicherheit älter.
321 Zu den Euneiden Poll. 8.103, Harp. (= Lys. Frg. 115 Thalheim) / Hesych./ Phot. Lex. / Et. M. s.v. Εὐνεῖδαι, Eusth. Hom. Il. 23.740–747 [1327.40–43]; vom Inhalt der Komödie Euneidai des Kratin. (Frgg. 71f) ist leider nichts mehr kenntlich, ebenso ist ein mögliches altes inschriftliche Zeugnis zu zerstört, um aussagekräftig zu sein (IG I3.2, Nr. 768 [um 500– 480?]: lesbar nur Ευνε-), weiteres bei Burkert 1994, 46 = 2006, 114f; zu Dionysos Melpomenos Paus. 1.2.5, IG III.1 Nrr. 5056, 5060, II/III2.1 Nr. 1348; vgl. Toepffer, Genealogie, 181– 206, Bond, Hypsipyle, 20, Maass, Prohedrie, 125f. Bei LIMC 4 (1988) s.v. Euneos et Thoas, 60 [G. Berger-Doer], Doffey 1992, 192, Salottolo 1997–98, 375 und Collard/Cropp/Gibert, Euripides 2, 178f wird vermutet, der Bezug auf die Euneiden habe schon in Eur. Hyps. eine Rolle gespielt – wofür leider jeder Beleg fehlt; eine Beziehung zu Orphischem vermutet Burkert 1994. 322 Ein Sohn des Ikarios, der den Wein des Dionysos in Attika einführte, soll Thoas geheissen haben (Apollod. 3.10.6, vgl. 3.14.7). Ausserdem erscheinen bei Plut. Thes. 26.3 drei Brüder aus Athen namens Euneos, Thoas und Soloeis, die den Theseus auf dem Zug gegen die Amazonen begleiten (wobei die Amazonen ja, wie noch zu zeigen sein wird, in gewissen Punkten an die Lemnierinnen erinnern, vgl. unten 3.4.2); als Quelle nennt er die Geschichte der Stadt Nikaia in Bithynien eines Menekrates, der nicht sicher zu identifizieren ist (vgl. Ampolo/ Manfredini, Plutarco/Teseo, 241f). Hier heissen gleich zwei Figuren wie solche aus den lemnischen Geschichten, erscheinen Euneos und Thoas als Brüder wie in der zuerst bei Hy-A6 fassbaren Version der Sage, vgl. Toepffer, Genealogie, 201f, RML 1 (1884–1890) 1404 s.v. Euneos [H. Steuding] sowie RML 5 (1916–24) s.v. Thoas, 813 [O. Immisch]. Als wirklicher Personenname begegnet Thoas im ganzen griechischen Gebiet ab und zu, wobei neben einer Häufung in Attika (7x LGPN) eine zweite in der Kyrenaika auffällt (5x LGPN), vielleicht im Zusammenhang mit der indirekten Herkunft der Gründer von Kyrene aus Lemnos, vgl. unten p. 191, ausserdem ein paar Belege auf den Inseln (Delos, Euboia, Lesbos, Rhodos); Euneos als Personenname ist nur auf den Inseln belegt (Chios, Naxos). 323 Ein anderes Beispiel für den verstärkten Einbezug insularer Gestalten in die athenische Mythologie im 5. Jh. (aus durchsichtigen politischen Gründen) ist etwa, wie Oinopion und Staphylos nach gewissen Quellen von Söhnen des Dionysos zu solchen des Theseus werden, vgl. Plut. Thes. 20.2 nach Ion Frg. 96 Leurini, und dazu RML 5 (1926–24) s.v. Thoas, 804 [O. Immisch], RE 2B (1937) s.v. Thoas 2), 298f [A. Modrze]. 324 So schon Preller-Robert, GH 852. Eine derartige nachträgliche Verbindung halte ich für entschieden wahrscheinlicher, als dass die ganze Passage Hom. Il. 7.465–482 eine attische Interpolation sein sollte, wie Von der Mühll, Hypomnema, 142f annahm.
3. Die Stadt der Frauen
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3.3.3. b) Das Parfum Eine Reihe von Texten erzählt von der Mordnacht mit der wichtigen Ergänzung, dass der Zorn der Göttin, der die Lemnierinnen befällt, in Gestalt eines schlechten Geruchs auftritt, der dysodia. Diese bildet den Grund, dass die Lemnier von ihren Frauen nichts mehr wissen wollen. So liefert Hy-C1a325 einen Abriss der ganzen Geschichte (Vernachlässigung und Zorn der Aphrodite, dysodia, Mord an den Männern, Ankunft der Argonauten), Hy-C1b326 hingegen bloss die erste Hälfte bis zum Mord, mit deutlichem Anschluss an Hy-B. Bei einem anderen Beleg ist schwieriger zu beurteilen, ob er eine eigenständige Variante spiegelt. Der Text stammt aus den Kommentaren zu den Dialogen des Lukian. Diese wurden in der uns vorliegenden Form erst in byzantinischer Zeit zusammengestellt, doch hat man dabei älteres Material verwendet, heute verlorene Handbücher und Lexika der Spätantike ebenso wie frühere Kommentare: Hy-C1c327 Aphrodite wurde zornig auf die Frauen von Lemnos und indem sie diese übelriechend machte, zwang sie dieselben, ihre Männer ausserhalb schlafen zu lassen.
Auch hier finden wir also den üblen Geruch als Rache der Aphrodite und die Trennung von Männern und Frauen, doch wenden sich nicht die Männer von den Frauen ab, sondern diese werfen jene aus dem Haus. Damit entsteht der Eindruck, als ob alles gar nicht auf die Mordnacht hinausliefe, sondern auf eine vergleichsweise friedliche Trennung der Frauen von ihren Gatten. Man kann zwar nicht ausschliessen, dass hier ein dem üblichen Schema folgender Bericht so verkürzt wurde, dass ein irreführender Eindruck entstand, doch immerhin ist dies nicht das einzige Zeugnis, das die Geschichte so eher harmlos ausgehen lässt: Der nächste Text stammt aus den Fragmenten des Nikolaos von Damaskos, der in der 2. Hälfte des 1. Jh.s eine Universalgeschichte schrieb: Hy-C2328 ... Die Argonauten fuhren nach Kolchis und kamen dabei nach Lemnos, das damals von Frauen bewohnt war; Hypsipyle herrschte über die Insel (die Männer hatten die Frauen verlassen, der Eifersucht wegen, weil sie sich mit Thrakerinnen vereinigt und jene [d.h. ihre Gattinnen] verlassen hatten); Hypsipyle verhandelt dann mit Iason, und indem sie ihm Geschenke gibt, überredet sie ihn dazu, mit ihr zu schlafen und die anderen [Argonauten] dazu zu überreden, mit den übrigen [Frauen] ins Bett zu gehen, damit sie Kinder mit ihnen zeugen. Dieser liess sich überreden, und die Argonauten schliefen mit den Lemnierinnen; und Hypsipyle hatte als Sohn den Euneos. Und sie blieben eine kurze Zeit und fuhren dann wieder ab.
325 Hy-C1a = Schol. Pind. Pyth. 4.88b. 326 Hy-C1b = Schol. Apoll. Rhod. 1.609–19. 327 Hy-C1c = Schol. Lukian. Am. 2. Zur Geschichte der Lukianscholien RE 13 (1926) s.v. Lukianos, 1775f [K. Helm], Bompaire, Lucien I, cli–clvi. 328 Hy-C2 = Nikol. Damask. FGrHist 90 F 11 (= Exc. de virt. I p. 337.4).
3.3. Lemnisches Unheil
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Auch hier ist nicht von einem Mord an den Männern die Rede, sondern wird angedeutet, dass diese die Insel verlassen haben. Die Absicht der Darstellung ist leicht zu erraten: Es geht darum, das Ungeheure, Schreckliche der Sage zu beseitigen und durch eine plausible, alltäglich klingende Geschichte zu ersetzen, gleichsam den Mythos zur Historie umzudeuten329. Merkwürdig ist nun, dass diese Umdeutung sich genau mit dem trifft, was Hypsipyle in ihrer Trugrede bei Apollonios dem Iason erzählt330. Wenn das Zusammentreffen kein Zufall ist, müssen wir annehmen, dass der Historiker tatsächlich diese Rede ernst genommen hat, oder – eher wahrscheinlich – dass die Umdeutung nicht seine Erfindung ist, schon im 3. Jh. ähnliche Versuche umliefen und die Trugrede in den Argonautika die den Mythos zurechtbiegende Manier der Geschichtsschreiber bereits milde parodiert331. Für die im Fehlen der Mordnacht so ähnliche Variante Hy-C1c kann man freilich zur Erklärung nicht ebenso auf die rationalisierende Neigung der Geschichtsschreiber zurückgreifen, denn dort sind mit dem Zorn der Aphrodite und dem üblen Geruch zwei in Hy-C2 beseitigte wichtige Motive des Wunderbaren beibehalten. Auffallend ist daran vor allem das Zusammentreffen mit Hy-A11, wo der üble Geruch zu einer Trennung der Geschlechter führt. Da gerade Hy-A11 in einem Scholion zum Argonautenepos des Apollonios überliefert ist, liegt der Gedanke nahe, dass Hy-C1c die Information des Scholions mit der Grundidee der Trugrede der Hypsipyle kombiniert. Doch mindestens ebenso möglich ist es, dass in Hy-C1c ein Rest einer anderen Überlieferung steckt, die wir noch genauer betrachten müssen332. Ergiebiger als diese Bruchstücke ist der Bericht aus dem schon oft erwähnten mythologischen Buch, das unter dem Namen des Apollodoros überliefert ist: Hy-C3333 Diese [Argonauten] stiessen unter der Führung des Iason in See und landeten in Lemnos. Auf Lemnos gab es damals keine Männer, und es herrschte Hypsipyle, die Tochter des Thoas. Der Grund dafür war der folgende: Die Lemnierinnen ehrten Aphrodite nicht; diese schickte ihnen einen üblen Geruch, und deshalb nahmen ihre Ehemänner kriegsgefangene Frauen aus dem 329 Jacoby ad loc. übersieht diese Tendenz, setzt nach „Hypsipyle herrschte über die Insel“ eine Crux und ergänzt dazu im App. „und die Frauen hatten die Männer schon getötet“, wozu er bemerkt „unklarheit infolge starker verkürzung der vorgeschichte“. 330 Hy-B, vgl. Apoll. Rhod. 1.793–826. 331 Meist wird die Trugrede nur im Hinblick auf ihre Funktion innerhalb der Erzählung interpretiert (Fränkel, Noten, 111f, Levin, Argonautica, 74–78, George 1972, 58f, Hunter, Argonautica, 111–113, Clare, Path, 62–66) oder man findet in den Untertönen von Hypsipyles Rede, dass sie unwillentlich doch die Wahrheit verrät (Stoessl, Apollonios, 41–43, Fränkel, Noten, 108, Margolies De Forest, Apollonius, 91f). 332 Vgl. 3.5.2; W. Burkert hat mich auf die Merkwürdigkeit aufmerksam gemacht, dass der Anfang des Textes von Hy-C1c (ταῖς Ληµνίαις γυναιξὶν ἔγκοτος Ἀφροδίτη γενοµένη) aussieht wie ein Bruchstück eines jambischen Trimeters (ergänze z.B.: ταῖς Ληµνίαις γυναιξὶν ἔγκοτος [ѳεά]). Beruht das Schol. Lukian. (vielleicht auf Umwegen) auf einem alten Lexikon mit Zitaten der attischen Komiker? 333 Hy-C3 = Apollod. 1.9.17/3.6.4. Zum Verhältnis der Stelle zu möglichen Quellen auch Söder, Quellenuntersuchungen, 140f.
3. Die Stadt der Frauen
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nahen Thrakien und gingen mit ihnen ins Bett. Die Lemnierinnen fühlten sich entehrt und töteten ihre Väter und Männer. Allein Hypsipyle rettete ihren Vater Thoas, indem sie ihn versteckte. Als [die Argonauten] auf dem von Frauen beherrschten Lemnos landeten, vereinigten sie sich mit den Frauen. Hypsipyle aber schlief mit Iason und gebar die Söhne Euneos und Nebrophonos. ... Als die Lemnierinnen später merkten, dass Thoas gerettet war, töteten sie ihn und verkauften Hypsipyle [in die Sklaverei]; deshalb diente sie verkauft bei Lykurgos.
An diesem Bericht fällt auf, dass er sich weitgehend mit dem deckt, was für die Hypsipyle des Euripides vorauszusetzen ist. Hinzugekommen ist in erster Linie die dysodia als Grund für die Abwendung der Lemnier von ihren Frauen – ob in Hy-A6 diesbezüglich ein Verlust in der Überlieferung vorliegt, oder ob das Motiv bei Euripides wirklich nicht vorkam, können wir nicht wissen. Bei der Rettung des Thoas und dem späteren Schicksal der Hypsipyle fallen hingegen ein paar Vergröberungen auf: Das Motiv des Kastens, in dem Thoas eingeschlossen wird, ist weggefallen; während in Hy-A6c der Kasten ins Meer gestossen wird und das Schicksal des Königs offen bleibt, wird er hier einfach getötet – ob das bloss eine missglückte Verkürzung ist oder wissentlich der Zustand von Hy-A8 wiederhergestellt wird, bleibt unentscheidbar. Wenn jedoch nachher die Bindeglieder von der Flucht der Hypsipyle und ihrer Begegnung mit den Seeräubern ausfallen und die Thoastochter einfach in die Sklaverei verkauft wird, so spricht dies wohl eher für das erstere. Klar von allem bisherigen abweichend ist allein der Name des zweiten Sohnes des Iason, Nebrophonos334. Auch die nächste Variante stammt aus einer Quelle, die uns schon mehrfach beschäftigt hat, dem Geschichtenbuch des Hygin: Hy-C4335 Auf der Insel Lemnos brachten die Frauen der Venus einige Jahre keine Opfer dar; aufgrund des Zornes der Göttin nahmen ihre Männer thrakische Frauen und verschmähten die früheren. Aber auf Anstiftung derselben Venus verschworen sich die Lemnierinnen und töteten alles, was dort von männlichem Geschlecht war, ausser Hypsipyle, die ihren Vater Thoas heimlich in ein Schiff setzte336; ihn trug ein Sturm zur Insel Tauris337. Unterdessen fuhren die Argo334 Er fügt sich insofern gut in das Geschlecht des Thoas ein, als er einen Anklang an Dionysos enthält: νεβρός (nebros) bezeichnet das Hirschkalb, dessen abgezogenes Fell, die νεβρίς, zur Tracht des Dionysoskultes gehört; damit zusammengesetzte Beiwörter finden sich öfter und fast ausschliesslich mit Bezug auf diesen Gott (vgl. νεβροφόνος Nonn. Dion. 44.198, ausserdem νεβροχίτων Nonn. Dion. 26.28, νεβριδόστολος Orph. Hymn. 52.10, νεβρώδης und νεβριδόπεπλος AP 9.524.14). Als Kompositum bedeutet Nebrophonos soviel wie derjenige, der das Hirschkalb tötet; damit verweist der Name auch auf das Thema der Jagd (vgl. Nebrophonus für einen Jagdhund bei Ov. Met. 3.211, Hyg. Fab. 181.3), also auf das Reich der Artemis (vgl. Nebrophone als Nymphe im Gefolge der Diana bei Claud. Carm. Min. 24.250, ausserdem νεβροφόνος als Name für eine Adlerart Aristot. Hist. An. 9.32 [618b18– 22]) – so scheinen sich in dem Namen gleich zwei wichtige lemnische Gottheiten zu begegnen. 335 Hy-C4 = Hyg. Fab. 15. 336 Vgl. Hyg. Fab. 254.2: „Welches die frömmsten Frauen waren: ... Hypsipyle die Tochter des Thoas ihrem Vater gegenüber, den sie am Leben liess.“ 337 Vgl. Hyg. Fab. 120.1: Orest erhält den Rat: „dass er ins Taurerland zu König Thoas, dem Vater der Hypsipyle gehe“.
3.3. Lemnisches Unheil
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nauten an Lemnos vorbei und landeten. Als die Türhüterin Iphinoe sie sah, meldete sie es der Königin Hypsipyle; dieser gab Polyxo, die schon in fortgeschrittenem Alter war, den Rat, dass sie diese an ihr gastliches Haus binden solle338. Hypsipyle gebar von Iason die Söhne Euneus und Deipylus339. Nachdem sie dort mehrere Tage zurückgehalten worden waren, wurden sie von Herkules ausgeschimpft und gingen weg. Nachdem die Lemnierinnen aber merkten, dass Hypsipyle ihren Vater gerettet hatte, versuchten sie, sie zu töten; diese flüchtete. Räuber griffen sie auf, brachten sie nach Theben und verkauften sie dem König Lycus in die Sklaverei340. Alle Lemnierinnen jedoch, die von den Argonauten empfangen hatten, gaben ihren Söhnen die Namen derselben.
Hygins Geschichten geben uns mit ihren Eigenwilligkeiten immer wieder Rätsel auf, doch diesmal ist die Lage einigermassen klar: Diese Variante stellt einen Versuch dar, Euripides (Hy-A6) und Apollonios (Hy-B) zusammenzubringen. Bis zur Abfahrt der Argonauten folgt sie Hy-B; selbst Nebenfiguren kommen wieder vor, wie Polyxo und Iphinoe, die bloss von der Botin zur Türhüterin mutiert. Danach wird die Fortsetzung von Hy-A6 angeschlossen. Bei der Rettung des Thoas zeigt sich ausserdem eine wahrscheinliche Zwischenquelle für den Bericht: Die Fahrt des Königs ins Taurerland, d.h. die Gleichsetzung des lemnischen mit dem taurischen Thoas, findet sich sonst nur noch bei Valerius Flaccus (Hy-C6), dessen Gestaltung der Geschichte ich gleich zu behandeln habe341. Daneben bietet der Text – bei diesem Autor kaum eine Überraschung – gewisse Besonderheiten wie einen dritten Namen für den zweiten Sohn der Hypsipyle, Deipylus342, und die 338 In den Handschriften folgt hier noch „und sie in ihre Gastfreundschaft einladen“; die Wendung wird heute als unnötige Doppelung gestrichen (vgl. Marshall, Hyginus, 33) – bei der allgemein zweifelhaften stilistischen Qualität des Werkes nicht unbedingt zwingend. 339 Vgl. die Liste der ersten sportlichen Agone bei Hyg. Fab. 273.6: „Als neunter Agon wurde jener in Nemea veranstaltet, zum Andenken an Archemorus, den Sohn des Lycus und der Eurydike; abgehalten wurde er von den sieben Führern, die zur Belagerung von Theben auszogen; in diesen Spielen gewannen nachher im Wettlauf Euneus und Deipylus, die Söhne der Hypsipyle.“ 340 Dass Hypsipyle hier nach Theben gebracht wird, ist wohl einfach ein Lapsus, durch den das Ziel des Zugs der Sieben und der Ort ihres Zusammentreffens mit Hypsipyle durcheinander geraten; vgl. die genauere – und korrekte – Darstellung bei Hyg. Fab. 74.1: „Die sieben Führer, die zur Belagerung von Theben auszogen, kamen nach Nemea, wo Hypsipyle, die Tochter des Thoas in der Sklaverei den Knaben Archemorus oder Ophites, den Sohn des Königs Lycus aufzog“; ausserdem die dort anschliessend nacherzählte Handlung von Eur. Hyps. Auch Lact. Plac. Stat. Theb. 5.29, wo der Text im Schlussabschnitt weitgehend wörtlich auf Hy-C4 beruht, korrigiert diesen Irrtum, wie er überhaupt die aberranten Namen der Vorlage durch die üblichen ersetzt. 341 Vgl. unten 3.3.3.c; Frings, 1998, 267 vermutet, dass Hyg. und Val. Fl. auf derselben Quelle fussen; mindestens ebenso wahrscheinlich ist (wie auch Spaltenstein, Valérius Flaccus, 374 vorschlägt) angesichts der späten Entstehung des Hyg. dessen direkte Abhängigkeit von Val. Fl., auch wenn Dräger, Argonautika, 42–45 dies aufgrund seiner veralteten Vorstellungen über das Verhältnis von Griechischem und Römischem bei Hyg. bestreitet; zum Verhältnis von Hyg. und Apollod. auch Söder, Quellenuntersuchungen, 140f. 342 Andere Personen desselben Namens bei Hom. Il. 5.325 und Hyg. Fab. 109; ausserdem Deipyle für die Mutter des Diomedes (Apollod. 1.8.5 u.a.). Von der Bedeutung her (derjenige, der das Tor [πύλη] verheert [δηιόω]) liegt ein typischer epischer Kriegername vor – wenn er neben den Namen Euneus tritt, hat man fast den Eindruck, als habe jemand Land- und See-
3. Die Stadt der Frauen
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Verkürzung Lycus für den König Lykurgos von Nemea. Vom üblen Geruch der Lemnierinnen ist hier so wenig die Rede wie in Hy-B. Dennoch ist es nun Zeit, die Stellung dieser dysodia in unserer Geschichte etwas genauer zu betrachten. Sie hat in den neueren Deutungen des Mythos eine zentrale Rolle gespielt, vielleicht nicht ganz zu Recht; denn kaum jemand hat sich dabei klar gemacht, wie die Dinge in der Überlieferung eigentlich aussehen343. Nachzutragen ist dabei zunächst eine weitere Stelle344, eine der wenigen, wo wir Genaueres über den Sitz des üblen Geruchs erfahren. Es handelt sich um eine Bemerkung des Redners Dion Chrysostomos: Hy-C5345 ... Wie es heisst, dass Aphrodite aus Zorn den Frauen von Lemnos die Achselhöhlen verdorben habe346 ...
Sodann ist die Rolle zu klären, die dieses Motiv im Ablauf der Geschichte spielt. Man stellt dabei fest, dass es in einer ganzen Reihe von Quellen fehlt, insbesondere findet sich im gesamten älteren Material kein Beleg: Noch für Hy-A7 ist nicht mehr möglich als eine sehr vage Vermutung, und auf festem Boden sind wir erst in Hy-A9 aus dem 4. Jh. und Hy-A11 aus dem folgenden. Von den späteren Texten fehlt das Motiv in Hy-B und, wie zu zeigen sein wird, in den an Apollonios Rhodios orientierten römischen Epikern sowie den von ihnen abhängigen Texten347. Bezüglich des Ursprungs dieser dysodia sind die späteren Quellen einmütig: Sie ist die Rache der vernachlässigten Aphrodite und führt dazu, dass die Lemnier ihre Frauen sitzen lassen (so Hy-C1a/b, Hy-C3, Hy-C5); derselbe Zusammenhang
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streitkräfte symbolisch nebeneinanderstellen wollen; daneben mag auch der Anklang an Hypsipyle eine Rolle spielen. Vgl. Welcker, Trilogie, 248–50, Bachofen, Mutterrecht, [1861] 85 = [1948] 265f, Dumézil, Crime [1924] 33–41 = [1998] 66–73, Burkert 1970, 7 (vgl. Burkert, HN 215), Detienne, Jardins, 172–184, der sogar aufgrund dieses Elements die Insel dem Lévi-Straussischen Bereich des monde pourri zurechnet; Weiteres bei Delcourt, Héphaistos, 185f, Gras, Trafics, 621, Moreau 1985, 73–75, Leclercq-Neveu, Crime, 31f. Ausserdem wäre zu zitieren: Schol. Apoll. Rhod. 1.609–19e: „während die anderen erzählen, die Lemnierinnen seien wegen des Zornes der Aphrodite übelriechend geworden...“ (es folgt als Gegensatz Hy-A11). Hy-C5 = Dion. Chr. 33.50; zu diesem Autor oben 2.2.1.c. Ebenso zu verstehen wohl Schol. Stat. Theb. 5. 29 odorem misit hircinum („Sie schickte ihnen einen Bocksgestank“): Der Geruch des hircus sitzt unter den Achseln (Plaut. Poen. 871–873, Pseud. 737f, Catull. 71.1, Hor. Epod. 12.5) und kann vom Mundgeruch deutlich unterschieden werden (Dig. 21.1.12.4). Mart. Epigr. 12.59.5 te pilosus hircoso premit osculo colonus („Dir nähert sich der haarige Bauer mit seinem nach Bock stinkenden Kuss“) ist vielleicht als kühne Synästhesie gemeint. Spätere Quellen allerdings sprechen von Mundgeruch (Eusth. Hom. Il. 1.594 [158.16f]), und schliesslich gibt es eine Variante, wonach der üble Geruch in der Scham sitzt; sie steht allerdings in einem Schol. der byzantinischen Zeit von zweifelhaftem Quellenwert (Schol. Eur. Hek. 887 Dindorf nach dem Codex Florentinus 59); sehr weitgehende Deutungen bei Detienne, Jardins, 176. Val. Fl. (Hy-C6), Stat. Theb. (Hy-C7), dann Hyg. (Hy-C4), Drac. Or. 432–434, und im alles Wunderbare beseitigenden Hy-C2; vgl. oben n. 250.
3.3. Lemnisches Unheil
191
liegt wohl auch bei der ersten Erwähnung des Motivs in Hy-A9 vor. Allein der Bericht des Myrsilos (Hy-A11) weicht davon ab, indem der üble Geruch als Folge eines Zaubergifts der eifersüchtigen Medea erscheint348. Damit stellt sich die Frage, wie die lemnischen Geschichten in die Argonautensage einzubauen sind, denn Medea kann ja auf der Fahrt nach Kolchis unmöglich schon dabei gewesen sein. Nun haben wir bei Pindar einen Bericht gefunden (Hy-A3a), wonach die Argonauten erst auf der Heimfahrt in Lemnos Halt machten, doch spricht einiges dafür, dass es sich dabei um eine Erfindung erst dieses Dichters handelt, der das lemnische Abenteuer der Argonauten als abschliessenden Höhepunkt seines Liedes berichten wollte, weil seine Auftraggeber, die Könige von Kyrene, die eigene Abstammung von der Verbindung von Lemnierinnen und Argonauten herleiteten349. Tatsächlich führt diese Konstruktion ja auf beträchtliche Probleme: 348 Man hat vermutet, es habe sich dabei um die Raute (πήγανον = ruta graveolens L.) gehandelt und daraus auf einen Gebrauch dieses Mittels in den lemnischen Ritualen geschlossen (so, der Anregung von Jacoby, Historiker III:b, 379 folgend, Burkert 1970, 10 n.7, und nach diesem wieder Detienne, Jardins, 177f, der ausführliche Interpretationen daran knüpft; unkritisch übernommen von Moreau 1985, 88f n. 68 und Mythe, 89f, Bowie, Aristophanes, 186f n. 34). Nahegelegt wurde diese Deutung durch eine FGrHist 477 F 1b im Apparat zitierte Randglosse; doch diese gehört nicht hierher, sondern in der Handschrift des Antig., woher das Fragment stammt, erst zum folgenden Abschnitt, wo wirklich von der Raute die Rede ist (vgl. Antig. Mir. 118 und 119). Es handelt sich offensichtlich um einen Missgriff Jacobys bei der Benutzung des an dieser Stelle unübersichtlichen kritischen Apparats von Keller, Scriptores, 29 (vgl. das Fehlen der entsprechenden Randglosse bei Jacoby am Ort, wo sie eigentlich hingehört, FGrHist 115 F 181 b = Antig. Mir. 119). Die Raute hat mit den lemnischen Frauen nichts zu tun. Zu einfach macht es sich Kirk, Nature, 244f mit Hy-A11, der behauptet, diese Variante sei unimportant ... a mere piece of learned variation. 349 So schon Schol. Pind. Pyth. 4.447b; vgl. Braswell, Commentary, 347f (zu Pind. Pyth. 4.252 (a).); tiefer liegende poetische Absichten mögen mitgespielt haben, vgl. Calame, Mythe, 75– 77, O’Higgins 1997, 123f. Ausführlich zur älteren Diskussion auch Dräger, Argo, 246–249. Gegen Rizzo/Martelli 1988–89, 38f, Gentili, Pitiche, 107 n. 1 und 497f, Dognini 2003, 17 liefert die etruskische Bucchero-Olpe aus dem 7. Jh. (vgl. oben p. 169) keinen Beleg für eine lemnische Landung der Argonauten auf der Rückreise. Die Darstellung der Medea auf dieser Vase gehört klar in ein anderes Bildfeld als die möglicherweise lemnischen Szenen (der Bildausschnitt bei Gentili, Pitiche, tavola 2 [c] ist irreführend, auch wenn die Fehldeutung bei LIMC 8 (Suppl. 1997) s.v. Hypsipyle 648f [C. Boulotis] übernommen wird; vgl. dagegen Lordkipanidzé 2002, 305). Auch das Vasenbild auf einem Krater aus Gravina, das man schon als Darstellung einer Landung der Argonauten in Lemnos auf der Heimreise mit Medea gedeutet hat (vgl. Schmidt 1980, 211–215) ist letztlich unklar und stammt sowieso erst aus der Zeit nach 400, vgl. LIMC 8 (Suppl. 1997) s.v. Hypsipyle 647 (Nr. 1) [C. Boulotis]; Vermutungen über eine mögliche weitere archaische Darstellung auf einem boiotischen Pithos des mittleren 7. Jh.s bei Lordkipanidzé 2002, 304–306. In Ph3a entsteht der Eindruck, Iason habe den Altar, an dem später Philoktet von der Schlange gebissen wird, im Beisein der Medea errichtet (vgl. 2.2.1.c). Möglich ist hier sowohl eine ungenaue Ausdrucksweise wie Abhängigkeit von der Darstellung bei Pind. Ein Zusammenhang von Hy-A11 mit der Sagenversion von Pind. (den Jacoby, Historiker III:b, 379 noch für selbstverständlich hielt) wird auch von Jackson, Myrsilus, 16f abgelehnt, der allerdings 17 und 22 doch wieder Fassungen zu konstruieren versucht, welche Hy-A11 mit der Mordnacht-Sage harmonisieren.
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3. Die Stadt der Frauen
Kommt Iason erst auf der Heimfahrt mit Medea nach Lemnos, so staunt man, wie er sich mit Hypsipyle verbunden haben soll, ohne die Eifersucht seiner Begleiterin zu erregen. Pindar erwähnt die lemnische Prinzessin deshalb gar nicht und umschifft so die Klippe recht elegant – den Spass, Hypsipyle von Medea wissen zu lassen und die Frauen gegeneinander auszuspielen macht sich erst Ovid350. Doch auch abgesehen von den grundsätzlichen Problemen, die eine Verbindung der Argonauten mit den Lemnierinnen auf der Rückreise stellt – der genaue Wortlaut der Quellen, die den Geruch für ein Werk der eifersüchtigen Medea ausgeben, deutet seltsamerweise darauf hin, dass es darin gar nicht um die Episode von der Vereinigung der Argonauten mit den Lemnierinnen geht. Denn die eine [HyA11(b)] sagt, die Frauen von Lemnos seien übelriechend geworden, als Medea mit Iason ankam und ein Zaubergift auf die Insel warf,
während die andere [Hy-A11(a)] ausdrücklich vermutet, dass Medea im Vorübersegeln aus Eifersucht ein Zaubergift auf Lemnos geworfen habe und dass davon die Frauen übelriechend geworden seien.
Wenn man die Dinge überhaupt zusammendenken darf, ist der Eindruck also der, dass die Begegnung von Iason und Hypsipyle auf der Hinfahrt nach Kolchis stattfindet, Medea aber später, bei der Heimkehr, aus rückwirkender Eifersucht, sei es im Vorübersegeln, sei es bei einer kurzen Landung, der Insel etwas Böses antut351. Sicher ist, dass der üble Geruch damit in die Geschichte von der Mordnacht nicht mehr hineinpasst: Wäre er der Auslöser der Entfremdung von Männern und Frauen, so müssten bei der Ankunft der Argonauten die Männer noch leben352. Selbst Pindar geht aber davon aus, dass der Mord vorher geschehen ist (Hy-A3a). Nimmt man trotzdem an, die Frauen von Lemnos hätten ihre Männer da bereits beseitigt gehabt, so wird unklar, welchen Sinn es noch haben soll, sie mit einem Männer vertreibenden Geruch zu bestrafen, und vor allem fehlt, wenn der Geruch erst auf die Ankunft der Argonauten folgt, der sinnvolle Fortgang der Geschichte, der den ihre alten, lästigen Männer los gewordenen Lemnierinnen am Ende anziehende neue zuführt. Nun darf man von griechischen Sagen restlos rational durchkonstruierte Erzählabläufe zwar kaum erwarten – wenn indes an zwei Geschichten so gar nichts zusammenpasst wie hier, dann sollte man sie gleichwohl nicht einfach ineinander wursteln353. 350 Ov. Her. 6.19f, 75, 125–130, 149–164, vgl. unten p. 194; Dräger, Argo, 247 verkennt (wie viele vor ihm, vgl. seine n. 295) die erzähltechnische Relevanz von Pind.s Schweigen zu diesem Punkt; vgl. aber Vian, Apollonios I, 20. 351 Tatsächlich gibt es Berichte, nach denen die Heimfahrt der Argonauten entgegen der Hauptüberlieferung denselben Weg führt wie die Hinfahrt: Soph. Frg. 547 = Kallim. Frg. 9 = Schol. Apoll. Rhod. 4.282–91b; Eur. Med. 432–434, 1262–1264, Herodoros FGrHist 31 F 10 = Schol. Apoll. Rhod. 4.259. Für ein blosses Vorübersegeln Detienne, Jardins, 176f, Moreau, Mythe, 64 n.19. 352 Vgl. die entsprechenden Rekonstruktionsversuche zu Eur. Hyps. oben p. 176. 353 Es gibt einzelne Quellen, welche die Eifersucht der Medea mit der Mordnacht koppeln, doch spiegeln sie eine Überlieferung, welche die pelasgische Vesper (dazu 3.4.4) dem Verbrechen
3.3. Lemnisches Unheil
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Offensichtlich gab es also mindestens354 β) eine Geschichte von der Mordnacht, in welcher der Geruch keine Rolle spielt (Hy-B u.a.). α) eine Geschichte, wo die Mordnacht mit dem Geruch begründet wird (HyA9, Hy-C1, Hy-C3 u.a.). γ) eine Geschichte über den Geruch, worin dieser nicht die Rolle eines Auslösers der Mordnacht spielt (Hy-A11). Von diesen drei Erzählungen kann γ nur auf der Heimreise von Kolchis spielen, während man bei β und α die Argonauten sinnvollerweise nur auf der Hinfahrt nach Lemnos kommen lassen kann. Entscheidend ist aber, dass β und α zwei eng zusammen gehörende Varianten derselben Geschichte sind, während wir in γ wohl eine ganz andere lesen355. Tatsächlich fahren unsere Quellen damit fort, dass sie auf den jährlich wiederkehrenden Anlass verweisen, bei dem die Lemnierinnen sich von ihren Männern trennen – dafür liefert diese Geschichte eine Begründung, die von der Mordnacht von Lemnos weitgehend unabhängig ist. Ein letzter Hinweis muss noch angebracht werden: Auf Lemnos gibt es noch einen anderen üblen Geruch, jenen, den nach den weniger diskreten Erzählungen die Wunde des Philoktet verströmt356. Auch diese stammt ja nach manchen Berichten von der Rache einer Gottheit her, aber zum Unterschied im Geschlecht der betroffenen Person gesellen sich zwei weitere Umkehrungen, zumindest, wenn auf die Quellen etwas zu geben ist, die den üblen Geruch der Lemnierinnen unter den Achseln oder aus dem Mund entspringen lassen: Ein oberer wird zu einem unteren Körperteil, eine natürliche Körperöffnung zu einer künstlich herbeigeführten, einer Wunde357. Dennoch hat der üble Geruch in beiden Fällen für die Betroffenen die gleichen Folgen: das Herausfallen aus der Gemeinschaft, in die sie eigentlich gehören. So fassen wir mindestens ein Element, über das sich die beiden Sagenkreise auch inhaltlich in Beziehung setzen lassen. Wir haben gesehen, dass bei den Lyrikern des 6. und 5. Jh.s noch ein anderes Thema eine Rolle gespielt hat: die sportlichen Wettkämpfe der Argonauten bei der Ankunft in Lemnos (Hy-A2, Hy-A3). Auch dazu gibt es in der späteren Literatur ergänzende Angaben: So heisst es, bei diesem Agon habe es sich um Leichenspiele gehandelt, Wettkämpfe also, die zu Ehren von Verstorbenen abge-
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der Lemnierinnen zeitlich voranstellt, vgl. Phot./Suid. s.v. Λήµνιον κακὸν βλέπων (vgl. HyA9), und besonders Apostol. 10.65, wo Thoas dann auch noch der Mann der Hypsipyle ist usw. – hier liegen wohl keine Mythenvarianten mehr vor, sondern bloss verworren zusammenkopierte Fetzen aus zweiter und dritter Hand; vgl. auch Schol. Eur. Hek. 887 und dazu oben n. 290. Zu den verwendeten Siglen unten 3.4.1. So klar fast nur bei RE 9 (1914) s.v. Hypsipyle 1), 438 [O. Jessen], während sonst Myrsilos meist mit der Begegnung von Argonauten und Lemnierinnen durcheinander geworfen wird (vgl. etwa LIMC 8 (Suppl. 1997) s.v. Hypsipyle I, 646 [C. Boulotis]). Ph8, Ph9, Soph. Phil. 876, 890f, 1032 [=Ph1], Apollod. Epit. 3.27 [=Ph11]; Hinweise auf diese Analogie bei Dumézil, Crime, 39f [1924] = 73f [1998], Detienne, Jardins, 181. Bei Quint. Smyrn. 9.372f strömt der üble Geruch von den Wangen des Philoktet, also wohl vom ganzen Körper, aus – wir kommen damit den Frauen von Lemnos noch näher.
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3. Die Stadt der Frauen
halten werden, und zwar je nachdem zu Ehren der ermordeten Männer oder des toten Thoas358. Die Seltsamkeit, dass Hypsipyle damit ihren Vater, dem sie nach Hy-B das Leben gerettet hat, als Toten ehren lässt, ist schon den antiken Kommentatoren aufgefallen und als Beispiel für die Gestaltungsfreiheit des Dichters hingestellt worden359. Weil die Fahrt der Argo für die Griechen in die früheste Zeit ihrer Vorgeschichte gehörte, verband man damit auch jene beliebte Art von Geschichten, die eine Antwort auf die Frage gaben, wer dies oder jenes erfunden hätte. So heisst es, dass zur Zeit, als die Argo fuhr, beim sportlichen Agon noch alle Disziplinen einzeln gewertet worden seien, doch Iason habe für den Wettkampf auf Lemnos als erster den klassischen Fünfkampf zusammengestellt: Ringen und Diskuswerfen, Speerwerfen, Weitsprung und Wettlauf. Dies habe er dem Peleus zuliebe getan, der in allen Disziplinen der zweite gewesen sei, im Ringen aber der beste, und so im Fünfkampf obenaus geschwungen habe360. 3.3.3. c) Römische Erzähler Der Hypsipyle-Stoff hat bei den römischen Dichtern einige Aufmerksamkeit gefunden: Nicht weniger als drei ausführliche Gestaltungen sind überliefert. Die älteste ist die für uns am wenigsten ergiebige: In seinen Heroides, fiktiven Briefen von mythologischen Heldinnen, bringt Ovid auch ein Schreiben der Hypsipyle an Iason. Da diese als verlassene Liebende die Sympathie der Leser erwecken soll, wird die Mordnacht nur diskret angedeutet361. Das Hauptgewicht liegt auf der Begegnung mit den Argonauten, wobei der Römer im Umriss der Erzählung des Apollonios folgt362. So erfahren wir von den anfänglichen Zweifeln der Königin, ob die Argonauten nicht besser abgewiesen werden müssten. Dazu treten Hinweise auf die Söhne, die Hypsipyle dem Argonautenführer geboren hat, ausserdem nennt Ovid als Dauer des Aufenthalts mehr als zwei Jahre, während Apollonios diesen Punkt im Dunkel liess363.
358 Beide Varianten bei Schol. Pind. Pyth. 4.450a; nur die Spiele für Thoas bei Schol. Pind. Ol. 4.29d, 4.31c, 4.32c, Apostol. 7.95. Die Skepsis von Leclercq-Neveu, Crime, 48 mit nn. 2f sowie 49 mit n. 2 gegen diese Überlieferungen scheint mir übertrieben. 359 Schol. Pind. Ol. 4.31b; weiteres unten p. 196. 360 Philostr. Gym. 3, Schol. Aristeid. Panathen. 195.18 [III.339 Dindorf]; zum Ursprung des Pentathlons auch Decker, Sport, 93. 361 Ov. Her. 6.53. 362 Über das Verhältnis Ovids zu seinen Quellen und zur möglichen Rolle des Varro At. als Vermittler: Knox, Heroides, 170f und 196. 363 Zweifel der Königin: Ov. Her. 6.51–54; Söhne: 119–130; Dauer des Aufenthalts: 56f. Die römischen Autoren neigen bei diesem letzten Punkt dazu, Ov. in der Genauigkeit mit Variationen zu folgen: Stat. Theb. 5.459f nennt ein Jahr, Val. Fl. 2.367f wahrscheinlich etwa anderthalb Monate (zur Deutung der schwierigen Stelle Poortvliet, Valerius, 206, Liberman, Valerius I, 199f), Hyg. Fab. 15.4 spricht von „mehreren Tagen“.
3.3. Lemnisches Unheil
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Die beiden anderen römischen Gestaltungen des Stoffes stehen bei epischen Dichtern der flavischen Zeit364: Statius bringt in seinem Epos über den Zug der Sieben gegen Theben auch die Begegnung mit Hypsipyle in Nemea, weitgehend nach Euripides, und lässt die Heldin dabei ausführlich die Geschehnisse in Lemnos erzählen365. Das Gedicht des Valerius Flaccus hingegen behandelt die Argonautensage, in den Hauptzügen Apollonios Rhodios folgend, wobei der Autor jedoch den Stoff anreichert und rhetorisch aufbläht, so dass der Text viel umfangreicher wird als die Vorlage. Gerade bei der lemnischen Episode erscheint die Vorgeschichte der Mordnacht breit ausgewalzt, anderes hingegen eher verkürzt366. So oder so zeichnen sich diese Schilderungen, verglichen mit den knappen Hinweisen bei Ovid, durch eine erzählerische Fülle aus, die auf den ersten Blick dazu verführt, sich von ihnen neuen Aufschluss über die lemnischen Überlieferungen zu erwarten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich indes, dass der Reichtum dieser Berichte nur auf ihrer romanhaft detaillierten Ausschmückung beruht und sie unserer Kenntnis der Varianten des lemnischen Mythos wenig hinzufügen367. Die wichtigsten Neuigkeiten erfahren wir aus diesen Texten über die eigentliche Mordnacht und insbesondere darüber, was mit Thoas geschehen ist. Ehe ich diese Abweichungen untersuche, empfiehlt es sich, einen Überblick über die Dar364 Der Vergleich der beiden analogen Erzählungen ist eine literaturwissenschaftliche Übung, die immer wieder und mit unterschiedlichem Ertrag unternommen wird, vgl. etwa Götting, Hypsipyle, 79f, Aricò 1991. 365 Stat. Theb. 5.49–485; zur Stellung dieser Erzählung im Werk als Ganzem: Götting, Hypsipyle, 63–86. Zur Nachwirkung von Stat. Gestaltung des Stoffs etwa Lact. Plac. Stat. Theb. 4.721, 4.740–741, 4.771–772, 5.29 (wo aber das Motiv des üblen Geruchs eingefügt wird), 5.58–59, 5.239, 5.403, 5.486, Acro Hor. Carm. 1.17.23. 366 Val. Fl. 2.77–427; zur Verschiebung des Schwerpunktes der Erzählung gegenüber Apoll. Rhod. etwa Adamietz, Komposition, 31, Aricò 1991, 199f, 204f. 367 Ziemlich sicher ist, dass in beiden Fällen verbreitete Texte wie Eur. Hyps. und Apoll. Rhod. als Quellen benutzt wurden, wahrscheinlich mit gegenüber dem uns Erhaltenen noch ausführlicheren Scholl., vgl. zu Val. Fl. und den Scholl. Apoll. Rhod. etwa Bessone 1991; gerade Apoll. Rhod. gilt auch in Rom spätestens seit dem 1. Jh. als Klassiker, vgl. NP 1 (1996) s.v. Apollonios [2 Rhodios] 878 [R. Hunter]. Dass Val. Fl. wie Cameron, Mythography, 63f annimmt, statt der Kommentare nur ein apollonisches Mythenkompendium benutzt haben soll, scheint mir unplausibel, zumal der Autor bei der Arbeit am Apoll. Rhod. ja auch auf andere als mythographische Probleme stiess, so dass der Rückgriff auf einen alles zugleich klärenden Kommentar wesentlich wahrscheinlicher ist. Eine auffallende Erweiterung gegenüber den beiden Hauptvorlagen ist der kriegerische Empfang, den die Lemnierinnen den Argonauten bei Stat. Theb. 5.335–430 bereiten (vgl. auch Ov. Her. 6.51f, Val. Fl. 2.313f) und der sich mit dem trifft, was wir über die Darstellung der Episode bei Aischyl. und Soph. wissen (auch hinsichtlich des dabei herrschenden Sturmes); allerdings stammen unsere Angaben über diese Dramen verdächtigerweise eben aus den Scholl. zu Apoll. Rhod. (vgl. Hy-A4a und Hy-A5), so dass sich nicht zwingend auf die Benutzung des Originaltexts der älteren Tragiker durch den Römer schliessen lässt (auch wenn diese zur Zeit des Stat. keineswegs eine ausgefallene und entlegene Lektüre darstellten, vgl. auch unten n. 379) Die Anlehnung des Stat. an die Landung der Troianer bei Karthago in Verg. Aen. erklärt jedenfalls wohl nicht alles (dies gegen Vessey, Statius, 177, 182f, Lesueur, Stace II, 140 n.24); zum Verhältnis des Val. Fl. zu Apoll. Rhod. und anderen griechischen Quellen allgemein Hershkowitz, Valerius, 38–63, bes. 58f.
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3. Die Stadt der Frauen
stellung dieser Episode in den bisher vorgelegten Varianten zu gewinnen368. Es dürfte ja bereits aufgefallen sein, dass eine ganze Reihe von Quellen von der Rettung des Thoas nichts weiss, obwohl sie ansonsten die Geschichte der Frauen von Lemnos einigermassen zusammenhängend erzählen (z.B. Hy-A10, Hy-C1a). Das braucht noch nicht viel zu heissen, doch mindestens eine Variante spricht eindeutig vom Tod des Thoas (Hy-A8). Nun haben wir eben eine Reihe von Stellen gesehen, die Leichenspiele für Thoas erwähnen369 – doch leider sind diese kein klarer Beleg für den Tod des Königs, denn gerade die römischen Epiker haben dafür eine andere Lösung: Bei Statius veranstaltet Hypsipyle ein scheinbares Begräbnis für den in Wahrheit geretteten Vater370. Ob die Leichenspiele für Thoas in irgendeiner älteren Fassung der Geschichte einer ähnlichen Intrige gedient haben, ist für uns nicht mehr festzustellen371. Bemerkenswert scheint jedenfalls, dass damit ein Element, das vielleicht einmal zu einer bestimmten Fassung der Geschichte vom Verschwinden des Königs gehört hat, zu einem Element des Trugs in einer anderen wird – ein Verhältnis, das an jenes zwischen dem Bericht des Nikolaos von Damaskos (Hy-C2) und der Trugrede erinnert, die Hypsipyle bei Apollonios Rhodios vor Iason hält. Den ältesten Beleg für die Rettung des Thoas haben wir bei Euripides gefunden (Hy-A6). Diese Variante gipfelt sogar in der Rückkehr des Königs auf die Insel, doch bietet sie für sein Entkommen einen seltsam komplizierten, zweistufigen Ablauf: Der König wird von Hypsipyle zuerst versteckt und erst später von den anderen Frauen in seiner Kiste ins Meer geworfen. In einer weiteren Fassung kann dies so umgedeutet werden, dass der König dabei doch zu Tode kommt (Hy-C3). Einfacher scheint demgegenüber die Variante, nach der Hypsipyle selbst ihren Vater gerade dadurch rettet, dass sie ihn in einer Kiste dem Meer anvertraut372. Diese findet sich bei Apollonios Rhodios (Hy-B) und bei den römischen 368 Vgl. das Material bei RE 9 (1914) s.v. Hypsipyle 440f [O Jessen], RML 5 (1916–24) s.v. Thoas, 805–807 [O. Immisch], RE 2A (1937) 297–299 s.v. Thoas 2) [A. Modrze], Usener, Sintfluthsagen, 105f, Binder, Aussetzung, 145f. Relativ wenig zu bedeuten haben wohl bei der Schilderung der Mordnacht die Unterschiede, was den Kreis der Opfer betrifft, welche die Mordnacht fordert: Einige Quellen sprechen wirklich nur von den Ehemännern (Hy-A7a, HyA8, Hy-C3, Drac. Orest. 432f, Orph. Arg. 473, vielleicht auch Hy-C1a), andere halten ausdrücklich fest, dass die Frauen alle Männer, nämlich aus Furcht vor späterer Rache auch Brüder, Söhne und Väter umgebracht hätten (Hy-B [Apoll. Rhod. 1.617–619], ebenso Hy-A6c, Hy-C4, Val. Fl. 2.229f, Stat. Theb. 5.206–240, Schol. Stat. Theb. 5.29). 369 Vgl. oben p. 194. 370 Stat. Theb. 5.314–319. 371 Auf eine Erfindung des Stat. könnte deuten, dass Scheintote und Scheinbegräbnisse auch dem zu derselben Zeit entstehenden kaiserzeitlichen Roman einen beliebten rührenden Stoff boten, vgl. die klassische Materialsammlung bei Kerényi, Romanliteratur, 24–43. Vessey, Statius, 176 weist ausserdem auf die Entsprechung des Motivs zum Scheiterhaufen der Dido in Verg. Aen. 4 hin (was allerdings trotz der allgemeinen Nähe im Aufbau von Theb. und Aen. – vgl. unten n. 381 – keine sehr starke Analogie ist). 372 Frings 1998, 264 vermutet, die Verwendung der Lade habe damit zu tun, dass damals die Argo, die nach gewissen Überlieferungen das erste Schiff war (dazu unten. 3.4.5) noch nicht gebaut gewesen sei. So wird allerdings der mythologische Zusammenhang missverstanden, in
3.3. Lemnisches Unheil
197
Epikern, in Kommentaren zu diesen Autoren373 und bei Hygin (Hy-C4). Betrachtet man den literaturgeschichtlichen Zusammenhang dieser Texte, so drängt sich der Gedanke auf, dass die Variante ihren Ruhm vor allem der Tatsache zu verdanken hat, dass sie bei Apollonios stand – über ihr Alter und ihre Herkunft ist damit allerdings nichts gesagt374. Statius gibt nun einen ziemlich ausführlichen Bericht375: Er beschreibt, wie Hypsipyle ihren Vater in der Mordnacht auf geheimen Umwegen aus der Stadt führt und ihnen dabei unterwegs Bacchus entgegentritt und den Weg ans Meer weist. Den Schluss berichtet sie so: Hy-C7a376
Wohin er das Zeichen gibt, folge ich; in einem gekrümmten Einbaum eingeschlossen 377, anvertraue ich den Vater den Göttern der See, den Winden und dem ägäischen Meer, das die Kykladen umschliesst
Später spricht es sich herum, dass Thoas gerettet wurde: Hy-C7b378 Ein Gerücht verbreitet sich in den Häfen, Thoas sei übers Meer gefahren, er herrsche im brüderlichen Chios, ich hätte am Verbrechen nicht teilgenommen und der Scheiterhaufen habe leer gebrannt.
In den äusseren Handlungsrahmen des Euripides (Hy-A6) eingespannt379, finden wir hier also im Wesentlichen dieselbe Episode wie bei Apollonios (Hy-B). Die gewichtigste Neuerung ist das direkte Eingreifen des Gottes in Gestalt einer Er-
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den das Motiv gehört: Die Geschichte vom ersten Schiff hat mit der lemnischen Mythologie nichts zu tun und spielt auch bei Apoll. Rhod. keine Rolle – sonst stellte sich ja die Frage, ob die Lemnier ihre Thrakerinnen schwimmend vom Festland herübergebracht haben. Schol. Apoll. Rhod. 1.623–626a, Lact. Plac. Stat. Theb. 5.28. Zur Diskussion um mögliche direkte Quellen des Apoll. Rhod. oben p. 181; weiteres zu Thoas in der Kiste unten 3.4.3. Stat. Theb. 5.240–291; eine gründliche literarische Analyse bei Vessey, Statius, 170–187. Das zeitliche Verhältnis der Texte von Stat. und Val. Fl., die teilweise nebeneinander gelebt haben, ist nicht mehr mit Sicherheit zu bestimmen; die Priorität des Val. Fl. gilt allgemein als wahrscheinlicher, vgl. Vessey, Statius, 178f, Hershkowitz, Valerius, 66f (und schon Legras, Étude, 64 n. 3); aus Gründen der Übersichtlichkeit stelle ich hier gleichwohl Stat. voran. Hy-C7a = Stat. Theb. 5.287–289. Zu dieser Übersetzung von curvo robore clausum vgl. die Erklärung von Lact. Plac. Stat. Theb. 5.287: „Im krummen Eichenstamm: gemeint ist ein Flussboot, das im Innern eines Eichenstamms ausgehöhlt ist.“ Hy-C7b = Stat. Theb. 5.486–488. Vessey 1970, 48–51 verweist auf den sehr freien Umgang des Stat. mit Eur. Hyps., wie er sich auch bei der Verwendung von Eur. Phoin. für Stat. Theb. 12 beobachten lässt; angesichts des weitgehenden Fehlens wörtlicher Parallelen bezweifelt er sogar, dass Stat. den Text des Eur. benutzt habe. Doch das darf man bei einem Autor dieser Periode wohl einfach voraussetzen, auch wenn er versiert genug ist, seine Vorbilder nicht plump zu zitieren – und das Handlungsmuster stammt so oder so aus Eur. Hyps., eine andere Quelle für diese Sagenvariante gab es nie. Auch Salottolo 1997–98, 369f überschätzt das Gewicht der Unterschiede. Ausserdem gibt es doch einige deutliche Anklänge des Stat. an Eur. vgl. Aricò 1961, 61–67, Götting, Hypsipyle, 26f, 98 (n. 35) und 126f.
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3. Die Stadt der Frauen
scheinung vor seinem zur Flucht verurteilten Nachkommen, wo aber der Anschluss an die entsprechenden Auftritte der Aeneis so deutlich ist, dass man diese Szenen zuverlässig als Erfindung des Römers betrachten kann380. Inhaltlich wird damit zur ausführlichen Erzählung entwickelt, was in älteren Fassungen nur angedeutet wird, etwa in Hy-A6b, wo es heisst, dass Thoas seine Rettung Dionysos verdankt381. Statius hat ausserdem die Kiste des Apollonios durch einen „gekrümmten Einbaum“, ein simples Boot, ersetzt und lässt den geretteten Thoas nach Chios kommen. Das knüpft an jene schon genannten Überlieferungen an, welche die Verwandtschaft des Thoas schildern und auf seinen Bruder Oinopion hinweisen382. Noch weit merkwürdiger als die Schilderung dieser Episode bei Statius ist allerdings jene (Hy-C6) bei Valerius Flaccus383: Hier verbirgt Hypsipyle ihren Vater über Nacht im Tempel des Bacchus, verkleidet ihn am folgenden Morgen als den Gott selbst und führt ihn auf einem Prozessionswagen in einem bakchischen Umzug, den sie selber als Mänade anführt, aus der Stadt, angeblich um das von der Mordnacht befleckte Kultbild im Meer zu reinigen; tatsächlich verbirgt sie ihn im Wald, und erst als sie nach einer Weile keinen anderen Ausweg mehr sieht und fürchtet, entdeckt zu werden, lässt sie ihn in einem kleinen Boot aufs Meer hinaus, wo er im Land der Taurer angetrieben wird und die Aufsicht über das schaurige Heiligtum der Diana übernimmt. Das Gewicht, das Valerius Flaccus dieser Episode zumisst, wird besonders deutlich, wenn er Hypsipyle die Szene auf den Mantel sticken lässt, den sie Iason zum Abschied schenkt384. Die Ausführlichkeit und Eigenwilligkeit dieser Schilderung hat dazu geführt, dass man darin Züge archaischen lemnischen Rituals hat bewahrt sehen wollen, ohne den hochgradig literarisch-artifiziellen Charakter des Arrangements zu beachten385: Zunächst wiederholt der Bericht offensichtlich die Intrige aus der Tau380 So bereits Lact. Plac. Stat. Theb. 5.265; vgl. bes. Verg. Aen. 2.588–621, auch 2.268–297, 2.771–794; ferner Legras, Étude, 63f, Lesueur, Stace II, 139 nn. 17–19, Aricò 1991, 208. 381 Zu weniger offensichtlichen Verweisen auf Dionysos in den verschiedenen Rettungsberichten unten 3.4.3. Vessey, Statius, 175f weist darauf hin, dass die Hypsipyle-Erzählung im Aufbau der Theb. die Stelle der Aeneas-Erzählungen in der Aen. vertritt; die Rolle des Bacchus bei der Rettung führt er auf das Vorbild des Val. Fl. zurück. 382 Zur Familie des Thoas oben p. 183. 383 Hy-C6 = Val. Fl. 2.242–303. Eine gründliche literarische Analyse der lemnischen Episode bei Val. Fl., insbesondere ihrer Nähe zu Verg. Aen., bei Hershkowitz, Valerius, 136–146, ferner Garson 1964, 272–276, Adamietz, Komposition, 31–36, Schenk, Studien, 342–355. 384 Val. Fl. 2.410–413, vgl. Adamietz, Komposition, 35f, Hershkowitz, Valerius, 142f. Es ist üblich, darauf hinzuweisen, dass die ausführlich geschilderte Rettung des Thoas von Val. Fl. als Gegensatz zu der vorausgehenden, von Venus angestachelten Raserei der Lemnierinnen angelegt ist, vgl. Garson 1964, 272f, Adamietz, Komposition, 33f, Vessey, 1984–85, 335f, Nyberg, Unity, 151–157, Schenk, Studien, 347f n. 32. 385 Zum archaischen Ritual Dumézil, Crime [1924] 42–44 = [1998] 77–79 und Burkert 1970, 7f, vgl. Burkert, HN 213; in deren Nachfolge Bowie, Aristophanes, 190f; als Hauptvariante gilt Hy-C6 auch bei RML 5 (1916–24) s.v. Thoas, 806 [O. Immisch], vgl. RE 6A (1937) s.v. Thoas 298 [A. Modrze]; ein ‚athenisches’ Ritual vermutete Megas 1933, 416 n. 8. Für eine späte Konstruktion hielt Hy-C6 dagegen schon Preller-Robert, GH 854f, und für eine Erfin-
3.3. Lemnisches Unheil
199
rischen Iphigenie des Euripides: Wie diese ihren Bruder, so rettet Hypsipyle ihren Vater, indem sie ihn erst im Tempel unterbringt, dann das angeblich vom Mord befleckte Kultbild zum Meer bringen und reinigen, tatsächlich aber zu Schiff entführen lassen will386. Indem er seinen Thoas zu den Taurern gelangen lässt, verweist der Dichter ausdrücklich auf dieses Vorbild, anscheinend in der Erwartung, der Leser verstehe den feinen Witz zu würdigen, dass sich der König hier mit demselben Kunststück rettet, mit dem er dort betrogen wird387. Auffallend ist weiter, dass die Rettung des Thoas in zwei Stufen erfolgt, deren erste darin besteht, dass er versteckt wird, während er in der zweiten die Insel übers Wasser verlässt. Genau das ist der Ablauf, den ich für die Hypsipyle des Euripides wahrscheinlich zu machen versucht habe (vgl. Hy-A6), nur dass dort im ersten Glied der Sequenz Hypsipyle die Handelnde ist, im zweiten die übrigen Lemnierinnen. Wir haben nun bereits gesehen, wie Statius in seine auf Euripides aufbauende Handlung die Rettung des Thoas nach dem Muster des Apollonios einbaut. Hier scheint nun das Umgekehrte zu geschehen: Valerius Flaccus erweitert die Erzählung des Apollonios mit Elementen aus der euripideischen Hypsidung des Val. Fl. Vessey 1984–85, 336–338, dessen Anstösse an der Handlungslogik man freilich angesichts einer gewissen Eigengesetzlichkeit der poetischen Gattung nicht zu teilen braucht, vgl. Dominik 1997, 38f. Den weitgehend literarischen Charakter des Textes versucht Frings 1998 mit einer Analyse zu erhärten, die drei verschiedene Quellen für Val. Fl. ausmacht, leider mit nicht durchweg überzeugenden Argumenten, vgl. oben nn. 341, 372 und unten n. 387; unentschieden Spaltenstein, Valérius Flaccus, 374 und 378. Die Bezüge zu Eur. Iph. Taur. untersucht eingehend auch Jordan 2003, 5f, der sich dafür ausspricht, Hy-C6 auf Eur. Hyps. zurückzuführen und im Wesentlichen für eine Erfindung des Eur. zu halten; vor allem sein Hinweis auf das Motiv des verhüllten Hauptes des Thoas, das bei der Flucht des Orestes und Pylades funktionslos und wie eine Reminiszenz an das andere Stück wiederkehrt (Eur. Iph. Taur. 1207, vgl. Jordan 2003, 3), ist bemerkenswert. Dennoch glaube ich, dass insgesamt die im Folgenden vorgetragenen Überlegungen gegen eine Rückführung von Hy-C6 ins 5. Jh. sprechen; vgl. auch oben n. 284. 386 Vgl. Eur. Iph. Taur. 1029–1051. 387 So Garson 1964, 275. Frings 1998, 265–267 versucht nachzuweisen, dass für Val. Fl. der lemnische Thoas, der nach Tauris kommt, nicht derselbe ist, wie jener von Eur. Iph. Taur.; das scheint mir allerdings eine Spitzfindigkeit, die kein antiker Leser merken konnte, und zerstört die Pointe der Geschichte. Die von Frings angeführten sagenchronologischen Probleme stellen sich nur für die Verfasser mythologischer Handbücher, für alle anderen, zumal die Dichter, sind Genealogien und Chronologien ein offenes, verformbares System. Die Deutung, mit der Frings 1998, 266f, aus Val. Fl. 2.302f „Hier machst du ihn zum Vorsteher des düsteren Altars, Göttin, / und gibst ihm ein Schwert“ herausliest, dass der lemnische Thoas in Tauris nur Priester und nicht König wird, scheint mir erzwungen; die Formulierung verwischt wohl im Gegenteil bewusst den Unterschied (Poortvliet, Valerius, 176 [ad loc.] spricht ebenfalls von Thoas als priest-king). Ebensowenig nachvollziehbar ist mir die Behauptung, die Bezeichnung der taurischen Artemis als dea Thoantea u.ä. müsse auf den lemnischen Priester-Thoas verweisen, weil „der Taurerkönig in keiner Beziehung zum Kult der Göttin steht“ (so Frings 1998, 267). Die Wendung begegnet zuerst Ov. Ib. 384 und hat dort klar Bezug auf die Grausamkeit der sagenhaften Opfer an diesem Altar, wozu die Nennung des Barbarenkönigs gerade passt (ähnlich Sil. 4.769). Zum Verhältnis von lemnischem und taurischem Thoas ausführlich RML 5 (1916–24) s.v. Thoas, 814–816 [O. Immisch], ausserdem Spaltenstein, Valérius Flaccus, 374f und 390f.
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3. Die Stadt der Frauen
pyle. Auch die Angst der Hypsipyle vor der Entdeckung des Geretteten erweist sich damit als ein aus Euripides entlehntes Motiv, während der Bericht am Ende, als Hypsipyle den König ins Boot setzt, wieder zur Version des Apollonios zurückbiegt. Für den Verkleidungstrug, der in der ersten Phase der Rettung angewandt wird, lassen sich ebenfalls verschiedene Vorbilder namhaft machen. Geschichten über ähnliche Intrigen mit als Göttern verkleideten Menschen laufen in Griechenland schon seit klassischer Zeit um; bei Herodot ist sogar das Motiv des Prozessionswagens schon vorgebildet388. Deutlich scheint indessen auch hier der Bezug zum Spätwerk des Euripides, wo es für den König, der in dionysischer Verkleidung aus der Stadt in den Wald geführt wird, im Pentheus der Bakchen eine berühmte Entsprechung gibt389. Allerdings standen dem flavischen Epiker gewisse Szenen aus den augusteischen Dichtern wohl noch näher390: Wie Hypsipyle veranstaltet die Latiner-Königin Amata bei Vergil einen bakchischen Umzug, in dessen Verlauf sie ihre Tochter im Wald verbirgt, um sie dem Bräutigam Aeneas zu entziehen391, und ähnlicher List bedienten sich Helena und Ovids Prokne392. Unübersehbar ist weiter, dass sich die Darstellung des Römers mit Sinn zu füllen beginnt, sobald wir sie auf dem Hintergrund seiner eigenen Zeit betrachten: Im Bürgerkrieg des Vierkaiserjahrs hatte sich der junge Domitian mit seinem Onkel auf das Kapitol geflüchtet; als dann die Gegner eindrangen und der Tempel in Flammen stand, verbrachte er die Nacht versteckt bei dem Tempelhüter und flüchtete am Morgen, als Isispriester verkleidet, mitten in der Schar der Opferdiener393. Für einen Dichter der Kaiserzeit kann der blosse Hinweis auf die Rettung des Königs aus den bürgerkriegsähnlichen Zuständen auf Lemnos genügt haben, das mythische Ereignis entsprechend dem Beispiel aus der neueren Geschichte auszumalen, vielleicht unter Beizug ähnlicher bekannter Fälle394. Damit wird die Rettung des Thoas bei Valerius Flaccus zur verschlüsselten Huldigung an 388 389 390 391 392 393
Hdt. 1.60.4f. Eur. Bakch. 810–846, 912–975. Dazu besonders Poortvliet, Valerius, 159 (zu Val. Fl. 2.265f) und Frings 1998, 262–264. Verg. Aen. 7.385–405. Helena: Verg. Aen. 6.515–530, Prokne: Ov. Met. 6.587–600. Tac. Hist. 3.74.1, Suet. Dom. 1.2; zu dieser Parallele auch Burkert 1970, 7f n. 4 und Poortvliet, Valerius, 159 (zu Val. Fl. 2.265f). 394 Die Geschichte wurde durch das Kaiserhaus selbst verbreitet, das sie in einem an der Stelle des Verstecks errichteten Heiligtum (gleich nach Vespasians Regierungsantritt sacellum für Iupiter Conservator, nach Domitians eigenem ein Tempel des Iupiter Custos, vgl. Suet. Dom. 5) in Marmor hauen liess (Tac.). Die wunderbare Rettung sollte so als Beweis für die Bestimmung des Domitian zu Höherem gelten. Bei der Stilisierung der Erzählung mochte die damals berühmte Geschichte von der Rettung des M. Volusius aus den Proskriptionen des Jahres 43 mitgespielt haben, der ebenso in den Kleidern eines Isisanbeters entkam (Val. Max. 7.3.8, App. Civ. 4.47, Ael. Frg. 121 Hercher). Eine biblische Parallele bietet die Rettung des Joas vor dem Wüten der Athalja, der auch vom Weib eines Priesters im Tempel versteckt wird (2. Kön. 11.1–3 = 2. Chron. 22.10–12); zur Stellung dieses Berichts im Umkreis ähnlicher altorientalischer Erzählungen: Liverani, Myth, 147–159.
3.3. Lemnisches Unheil
201
das Kaiserhaus, erhält die pietas der Hypsipyle, die mehrfach hervorgehoben wird395, die Bedeutung von Treue zur Monarchie. Der Dichter verdeutlicht diese Bezüge zusätzlich, wenn er am Ende der Episode eine Verbindung zum Kult der Diana Nemorensis von Aricia und damit zur italisch-römischen Mythologie herstellt396, und vor allem, indem er schon am Anfang die Erwartung der Leser unmissverständlich in die richtige Bahn lenkt: Dort ruft er nämlich aus, Hypsipyles Ruhm werde leben, solange Rom „und der Palast einer so bedeutenden Herrschaft“ Bestand hätten397. Alles zusammengenommen ergibt sich, dass die Rettung des Thoas bei Valerius Flaccus keine abweichende Sagenvariante spiegelt, sondern Resultat eines literarischen tour de force ist, wie er für einen Dichter, der sein Publikum in den Kreisen des flavischen Hofes sucht, charakteristisch sein mag: ein virtuoses Spiel mit literarischen Vorlagen und zeitbedingten Anspielungen, in denen die damaligen Leser ihre eigene Welt gespiegelt sehen konnten. Im Kern bestätigt sich damit, dass es für die geglückte Rettung des Thoas durch Hypsipyle eigentlich nur die beiden Fassungen von Euripides (Hy-A6) und Apollonios (Hy-B) gegeben hat, oder anders ausgedrückt, dass die römischen Epiker wahrscheinlich keine anderen Quellen benutzt haben, als diese beiden Dichter398. Sie selber sind damit als Quelle wertlos. Ernst zu nehmen bleiben sie als Versuche, die Sage durch Nacherzählung neu zu verstehen und in den damals noch reichen und lebendigen Zusammenhang der Geschichten einzuordnen. Auf die Verdeutlichungen, die sich diesen Texten abgewinnen lassen, müssen wir deshalb gelegentlich zurückkommen. 3.4. HYPSIPYLE UND IHRE SCHWESTERN 3.4.1. Zweimal Hypsipyle Es ist nun an der Zeit, die Einzelbeobachtungen der vorangehenden Kapitel zusammenzufassen und eine Vorstellung vom inneren Zusammenhang der Zeugnisse über die Sage von Hypsipyle zu gewinnen. Ich stelle auch hier die wichtigsten Nachrichten in der zeitlichen Folge der sie übermittelnden Quellen zusammen: 395 Val. Fl. 2.243, 249, 264. 396 Val. Fl. 2.304f. 397 Vgl. Val. Fl. 2.244–246: „Von meinem Lied besungen, werden dich keine / Jahrhunderte mehr auslöschen, solange sie bloss in den latinischen Fasten aufgezeichnet werden / und die Hausgötter der Trojanersprösslinge und der Palast einer so grossen Herrschaft dauern.“ Zur Stelle auch Spaltenstein, Valérius Flaccus, 376. Bemerkenswert übrigens, wie Vessey 1984– 85, 335 und 338 die Sonderstellung dieser römischen Anspielungen klar sieht, doch zugleich meint, es handle sich um allusions ... the purpose of which remains obscure; auch Hershkowitz, Valerius, 136f weist darauf hin, dass die zweite Stelle im Werk des Val. Fl. singulär ist: The most explicit instance of Romanization in the Argonautica. 398 Zu ihrer Verwendung der antiken Kommentare oben n. 367.
3. Die Stadt der Frauen
202 Variante Hy-A1 Hy-A2 Hy-A3 Hy-A4 Hy-A5 Hy-A8 Hy-A6 Hy-A7 Hy-A9 Hy-A10 Hy-A11 Hy-B Hy-C1 Hy-C2 Hy-C6 Hy-C7 Hy-C5 Hy-C3 Hy-C4
Älteste Quelle Homer, Ilias Simonides Pindar Aischylos Sophokles Herodot Euripides Aristophanes Kaukalos von Chios Asklepiades von Tragilos Myrsilos von Lesbos Apollonios von Rhodos Scholien zu Pindar Nikolaos von Damaskos Valerius Flaccus Statius Dion Chrysostomos Apollodoros: Bibliothek Hyginus: Fabulae
Datum 1. Hälfte 7. Jh. um 500 462/452 1. Hälfte 5. Jh. 2. Hälfte 5. Jh. 2. Hälfte 5. Jh. Ende 5. Jh. Ende 5. Jh. Mitte 4. Jh. 4. Jh. 3. Jh. 1. Hälfte 3. Jh. hellenistisch 2. Hälfte 1. Jh. Ende 1. Jh. n. Chr. Ende 1. Jh. n. Chr. Ende 1. Jh. n. Chr. 2. Jh. n. Chr.? 2. Jh. n. Chr.
Es ist klar, dass diese Nachrichten von sehr ungleichem Gewicht sind: Ausführliche Erzählungen stehen da neben blossen Hinweisen auf einzelne Punkte. So kann ich im Folgenden nicht jeder Textstelle einen sicheren Platz auf einem Stammbaum der Varianten zuweisen, sondern muss mich darauf beschränken, einen groben Umriss ihrer Zugehörigkeit zu entwerfen. Dennoch lässt das Material einen narrativen Kern hervortreten, der sämtlichen Varianten gemeinsam ist. Auch die in den früheren Kapiteln untersuchte Sage von Philoktet hatte ja einen solchen festen Mittelpunkt, mag er sich auch am Ende als ziemlich dürr erwiesen haben: Philoktet wird durch die Schlange unheilbar verletzt und auf Lemnos zurückgelassen – wobei man natürlich festhalten muss, dass die Schlange in einer späten Variante ebenfalls verschwinden konnte399. Der invariable Kern der Geschichte von Hypsipyle [Ω] umfasst offensichtlich zwei Elemente der Handlung: (A) Die Lemnierinnen töten die Männer, von denen sie verschmäht werden. (B) Später landen die Argonauten auf der Insel, die Frauen nehmen sie auf und lassen sich von ihnen Kinder zeugen. Freilich gibt es selbst hier Varianten, in denen die Mordnacht von Lemnos nicht erwähnt wird – zum Teil sind die Gründe dafür jedoch noch durchsichtig400. Weitere Elemente erscheinen nur in einem Teil der Überlieferung, ohne an der Kernsequenz etwas zu ändern, oder sich in Varianten zu spalten: (a) Das Zerwürfnis von Lemnierinnen und Lemniern äussert sich darin, dass sich die Männer thrakischen Beutefrauen zuwenden. (b) Bei der Ankunft der Argonauten wird ein sportlicher Agon veranstaltet. 399 Vgl. 2.3.1 und 2.3.6 zu Ph 8. 400 Zu Hy-C1c und Hy-C2 vgl. 3.3.3.b.
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
203
(c) Die Lemnierinnen haben nach der Beseitigung der Männer eine Königin, Hypsipyle, die Tochter des Thoas. (d) Diese verbindet sich mit Iason, dem Anführer der Argonauten. (e) Von den Söhnen aus dieser Verbindung trägt der eine den bei späteren Quellen durch die Autorität Homers (Hy-A1a) festgelegten Namen Euneos. Ein zweiter wird nur gelegentlich und mit wechselnden Namen genannt (Thoas: Hy-A6/Hy-C7, Nebrophonos: Hy-C3, Deipylus: Hy-C4). Einzelne Berichte sind zu knapp, um eines dieser Elemente zu enthalten (Hy-A5, Hy-A8, Hy-A11, Hy-C5), für die anderen gebe ich eine Übersichtstabelle: a A1 A2
b
c
d
e
+
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A3 A4
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A6 A7 A9 A10
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+
+
B C1
+ +
+
+
C2 C3 C4
+ + +
+ + +
+ + +
+ + +
C6 C7
+ +
+ +
+ +
+
+
Der Wert einer solchen Übersicht, die nur Entsprechungen, doch keine Unterschiede auflistet, ist natürlich beschränkt. Dass die Anzahl der Elemente pro Variante stetig zunimmt (am vollständigsten ist ein sehr später Text, Statius [Hy-C7]), sagt nur etwas über den Charakter der überliefernden literarischen Werke, nicht über die Geschichte, die ihnen zugrunde liegt. Auffallend ist allerdings, wie häufig die schon bei Homer vorgegebenen Motive (c/d/e) auftauchen, während sich für (a) keine vorklassischen Belege finden – aber das reine Fehlen eines Elements braucht ja eben nicht viel zu heissen. Stärker markiert sind die Varianten vor allem in zwei Punkten: beim schlechten Geruch der Lemnierinnen und bei der Rettung des Thoas. Hier zeigen sich schon bei den einzelnen Elementen der Sequenz Unterschiede. Die wichtigsten sind: (f) Die Begründung des Zerwürfnisses zwischen Lemnierinnen und Lemniern durch den Zorn der Aphrodite (f: +) oder der Medea (f: –). (g) Der schlechte Geruch, der daraus folgt. (h) Der Bericht über die Rettung (h: +) oder Tötung (h: –) des Thoas. Bei diesem letzten Element (h) die Differenzen zwischen sämtlichen einzelnen Fassungen zu berücksichtigen, lohnt sich in diesem Augenblick noch nicht, weil
3. Die Stadt der Frauen
204
sie zu zahlreich sind und sich kaum Gruppen bilden lassen401. Zunächst also eine Übersicht, wobei auffällt, dass diese Motive, nicht nur in einer späteren (Hy-C2), sondern vor allem in sämtlichen alten Varianten (Hy-A1–Hy-A5) fehlen: A6 A7 A8 A9 A10 A11 B C1 C3 C4 C5 C6 C7
f (+/–)
G
?
(+)
+ + – + + + + + + +
+
h (+/–) + –
+ + + +
– +
+ + +
Auch dieses zweite Tableau muss mit Vorsicht gelesen werden, weil unsere Texte derart lückenhaft sind. Dennoch ist eines klar: Von diesen drei Elementen finden sich in den meisten Berichten höchstens zwei. Dabei erscheinen sie bloss in zwei verschiedenen Kombinationen, nämlich f/g und f/h, oder anders ausgedrückt: Nur in einer einzigen Quelle (Hy-C3) wird das Motiv des üblen Geruchs (g) mit einem besonderen Bericht über Hypsipyle und Thoas (h) verknüpft, wobei ausgerechnet hier der König nicht wie in den fünf anderen Fällen gerettet, sondern getötet wird402. Keine einzige Quelle verbindet, wie dies in den Nacherzählungen, die heutige Forscher ihren Deutungen zugrunde legen, durchweg geschieht, den üblen Geruch mit der Rettung des Königs403. Vergleicht man ausserdem dieses zweite Tableau mit dem ersten, so lässt sich beobachten, dass alle Varianten vom Typus f/h (Hy-B, Hy-C3, Hy-C4, Hy-C6, Hy-C7) zusätzlich Element a enthalten, ausserdem c/d. In den Varianten des Typus f/g hingegen fehlt meistens das Element a (Hy-A9, Hy-C1, Hy-C5), d.h. die Zuwendung der Lemnier zu den Thrakerinnen und der üble Geruch erscheinen als grundsätzlich alternative Begründungen für das Zerwürfnis zwischen Männern und Frauen404. Damit ergeben sich für die Ge401 Dazu 3.4.3. 402 Hy-C3 zeigt im Übrigen Spuren gestörter Überlieferung, vgl. 3.3.3.b. 403 Tatsächlich findet sich ein solcher kombinierter Bericht erst im 5. Jh. n. Chr. bei Lact. Plac. Stat. Theb. 5.29. Die Scholien des Lact. Plac. erzählen jedoch die Geschichte vom Verbrechen der Lemnierinnen mehrfach und halten an anderer Stelle die Sache sauber auseinander: So folgt Lact. Plac. Stat. Theb. 5.58–59 der Variante α (unter Einbezug des Motivs der Thrakerinnen, wohl nach Hy-C1b, vgl. unten n. 4044), während Lact. Plac. Stat. Theb. 4.721 dem Muster β folgt. Die Kombination kann sehr gut erst innerhalb dieses spätantiken Textes entstanden sein, denn die verschiedene Quellen von Lact. Plac. Stat. Theb. 5.29 (darunter HyC4) sind im erhaltenen Text noch klar zu unterscheiden, vgl. auch oben 3.3.3.b. 404 Die Ausnahmen sind auch hier Hy-C3 und Hy-C1b, wo die Variante mit dem üblen Geruch dazu dient, Hy-B zu erklären, wo sich das Motiv der Thrakerinnen findet – also auch hier wohl eine Kontamination im Rahmen der Kommentarliteratur. Ob mit dem ausserhalb
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
205
schichte zwei Basisvarianten, aus denen sich die uns vorliegenden Erzählungen ableiten lassen: α) f – g – A – B Die vernachlässigte Aphrodite schickt den Lemnierinnen einen schlechten Geruch, der ihnen die Männer abspenstig macht; aus Rache töten die Frauen die Männer; später vermählen sich die Lemnierinnen mit den vorübersegelnden Argonauten.
β) f – a – A – h – c – B – d Die vernachlässigte Aphrodite veranlasst die Lemnier, sich thrakischen Gefangenen zuzuwenden statt ihren Ehefrauen; aus Rache töten die Frauen die Männer, allein Hypsipyle, die Tochter des Königs Thoas, versucht, ihren Vater zu retten; später vermählen sich die Lemnierinnen mit den vorübersegelnden Argonauten und Hypsipyle mit ihrem Anführer Iason.
Die Untersuchung der vollständigen Sequenzen bestätigt also weithin jene erste Einteilung der Varianten, die ich anhand des Motivs des üblen Geruchs allein vorgenommen habe405. Zugleich zeigt sich, wie die Einengung des Blicks auf einen solchen einzelnen Abschnitt der Sage den Zusammenhang verunklärt, am deutlichsten bei der Einordnung der Variante Hy-C3, die – wenn man bloss auf die dysodia schaut – mit den Geschichten vom Typus α zusammenzugehören scheint, während wir jetzt sehen, dass sie – sobald man sie als ganze betrachtet – jenen der Gruppe β viel ähnlicher ist. Ein einzelnes Element kann ja relativ leicht von einer Variante in die andere übertragen werden, während das übergreifende Verlaufsmuster einer Erzählung weit prägender ist und stets eine deutliche Botschaft in sich trägt. Tatsächlich verhalten sich gerade in unserem Fall die beiden Basisvarianten nicht nur zueinander wie Amplifikation und Diminution, sondern sie setzen auch verschiedene Akzente: Die Variante α spricht von Kollektiven – den Lemnierinnen, ihren Männern, den Argonauten – und lässt nur die eine Göttin Aphrodite eine Rolle spielen; β hingegen erzählt die Geschichte zweistimmig, indem dem Kollektiv das Schicksal eines einzelnen Geschlechts kontrapunktisch entgegengesetzt wird und sich dieses über die Figur des Thoas mit einer zweiten Gottheit, mit Dionysos, verknüpft406. Dazu tritt in β eine Öffnung des Blicks über die Insel hinaus, hinüber nach Thrakien, wo die Nebenfrauen herkommen, was jenen Motiven entspricht, welche die Rettung des Thoas, sofern sie gelingt, an seine Fahrt zu einer anderen Insel knüpfen. Festzuhalten ist, dass wir diese amplifizierte Variante nicht voreilig für jünger ansehen dürfen als α407. Betrachtet man die Reihe der Hy-A-Zeugnisse, d.h. all schlafen der Männer in Hy-C1c deren Zuwendung zu den Thrakerinnen gemeint ist, bleibt offen. 405 Vgl. 3.3.3.b. 406 Dies schon deutlich gesehen von Toepffer, Genealogie, 200f. 407 Es ist üblich, das Motiv des schlechten Geruchs unhinterfragt für ‚archaisch’ und alt zu halten, vgl. Delarue 1970, 449f und schon die Herleitung als Aitiologie eines uralten rituellen Survivals bei Dumézil, Crime [1924] 38 = [1998] 71f. Bereits die Analyse dieses Motivs allein könnte jedoch ein Modell nahelegen, wonach es nachträglich aus Geschichten, in denen es isoliert vorkam [γ], in die Sagen von der Mordnacht [β] übertragen wurde, wodurch erst
206
3. Die Stadt der Frauen
jene, welche älter sind als Hy-B, so fällt auf, dass sich dort von Anfang an Hinweise auf ein besonderes Hervortreten von Hypsipyle, Thoas und Iason finden, wie es für β kennzeichnend ist (vgl. Hy-A1a/b, Hy-A3b, auch Hy-A6, Hy-A7a). Dies aber heisst, dass Apollonios Rhodios, als er den Text von Hy-B arrangierte, nicht einfach aus Gründen der Dezenz das unappetitliche Motiv der dysodia weggelassen hat408, sondern sich für eine Variante des Mythos entschied, die vielleicht ebenso alt ist wie jenes und mindestens genauso ernst genommen werden soll. Ich lege deshalb meiner Untersuchung im Folgenden vor allem die Variante β zugrunde. 3.4.2. La belle dame sans merci Geht man die Elemente der Erzählsequenz der Reihe nach durch, so fällt auf, dass es Aphrodite ist, die mit der Bestrafung der Lemnierinnen die Handlung in Gang bringt – sonst wird nämlich diese Göttin kaum mit der Insel verknüpft. Schon die Zeugnisse für ihren Kult auf Lemnos sind eher dürr, und mit den mythischen Geschichten steht es kaum besser409. Selbst ihre durch Homer verbürgte Ehe mit dem auf Lemnos wohnhaft gedachten Hephaistos hat nicht dazu geführt, dass sie hier in andere Geschichten hineingezogen wurde: Gerade bei ihrem Ehebruch mit Ares ist Lemnos nicht der Schauplatz, sondern nur der Ort, wohin Hephaistos von zu Hause weggeht, und dabei kehrt er um, bevor er sein Ziel erreicht hat410. Das Auftreten der Göttin im Bericht über die Mordnacht steht hiermit ziemlich allein. So neigt man dazu, sich für das Verständnis ihrer Rolle an das Bild zu halten, wie man Aphrodite aus anderen Quellen kennt. Solche Umrisse von Gottheiten sind zwar eine Konstruktion des heutigen Betrachters, vereinfachen vieles und schliessen anderes willkürlich aus. Dennoch ist es mitunter hilfreich, einen Götternamen an allgemeine Vorstellungen und Begriffe zu knüpfen, die man danach durch die Betrachtung ihrer Funktion innerhalb einer bestimmten Geschichte zusätzlich eingrenzen kann. In rhetorischen Begriffen liesse sich sagen, die Götter seien für die Lektüre solcher Geschichten eine Art Topos (locus communis), weil die Variante α entstand; vgl. die in dieser Richtung weisenden Überlegungen von Jacoby, Historiker I, 487. 408 So etwa das Bild bei Dumézil, Crime, [1924] 13f [= 1998, 47], Burkert 1970, 18 (noch deutlicher Burkert, HN 212 n. 3), Pavlock, Eros, 50f, Dräger, Argonautika, 71, Schmakeit, Apollonios, 207 n. 35. Richtig hebt hingegen Delarue 1970, 442–447 den eigenständigen Charakter der Varianten ohne das Motiv des schlechten Geruchs hervor; vgl. Jackson, Myrsilus, 21f. 409 Vgl. 3.1.5.b. Allerdings war der Aphroditekult an den meisten Orten nicht über die Polis organisiert und trug eher privaten Charakter; der geringe Niederschlag in Inschriften und Dokumenten kann deshalb trügerisch sein, vgl. unten p. 208. Robertson 1985, 278f versucht – ohne wirkliche Belege – Aphrodite zur Hauptgöttin des lemnischen Feuerfests zu machen, wobei sie zugleich mit Kabeiro, Bendis und der Grossen Göttin Lemnos identisch sein soll; damit fällt man in jene beliebigen Gleichsetzungen zurück, wie sie bei der Suche nach der Grossen Muttergöttin einst allgemein üblich waren. 410 Hom. Od. 8.283f, 293f, 301.
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
207
sie einen Umkreis angeben, in dem sich der Sinn der Erzählung bewegt. Der Aphrodite etwa ordnen wir gemeinhin den Bereich zu, den man heute Sexualität nennt411. In unserer Geschichte zerstört dementsprechend, nachdem die Göttin beleidigt wurde, ihre Rache die Bindung der Männer von Lemnos an ihre Frauen, und dann, in einem zweiten Schritt, die Männer selbst. Darüber, wie die vernachlässigte Aphrodite sich rächen konnte, gibt es auch andere Geschichten, und es scheint die Regel zu sein, dass sie genau an diesem Punkt ansetzt412. Am bekanntesten ist wohl die Sage von Hippolytos, der ihr zuwenig Ehre zollt und deshalb durch das irregeleitete Begehren seiner Stiefmutter Phaidra zugrunde gerichtet wird413. Daneben steht die Überlieferung, dass auch Tyndareos es versäumt habe, der Aphrodite Opfer darzubringen, und deshalb seine Töchter zu Ehebrecherinnen geworden seien414. Ebenso unterlässt es Hippomenes, der himmlischen Schutzherrin der Liebe Dankopfer für die Gewinnung seiner Braut Atalante darzubringen; deshalb treibt die Göttin das Paar dazu, im geheiligten Bezirk eines Tempels Verkehr zu haben, worauf sie in Löwen verwandelt werden415. Myrrha schliesslich wird für ihre Vernachlässigung der Aphrodite mit einer inzestuösen Liebe zu ihrem Vater Kinyras bestraft416, während die Schönheit des Mädchens Psyche im Kunstmärchen des Apuleius dazu
411 Übersichten zum Bild der Aphrodite bei Burkert, GR 152–156, NP 1 (1996) 838–843 s.v. Aphrodite [V. Pirenne-Delforge] und die Synthese bei Pirenne-Delforge, Aphrodite, 469–471, welche die force d’union zur primären Kraft der Göttin erklärt, aus der sich sowohl ihr Bezug zur Sexualität wie ihr Auftreten als Schutzherrin des Gemeinsinns in der Polis (in ihrer bekannten Rolle als Aphrodite Pandemos u.ä.) ableiten lassen. Zu fragen wäre, ob es nicht für das Verständnis der griechischen Mentalität hilfreicher wäre, die sublimierten Metaphern vom konkreten Bezug der Göttin aufs Sexuelle her zu denken als umgekehrt. 412 Übersichten zu diesen Mythen bei NP 1 (1996) s.v. Aphrodite, 842 [V. Pirenne-Delforge], LIMC 2 (1984) s.v. Aphrodite 3f [A. Delivorrias], Gantz, EGM 99–105. 413 Quellen und Literatur bei Gantz, EGM 285–288 und NP 5 (1998) 601f s.v. Hippolytos [F. Graf], ausserdem LIMC 2 (1984) s.v. Aphrodite 146 (Nr. 1528) [A. Delivorrias]. Schon die übertriebene Tierliebe von Phaidras Mutter Pasiphae wird einmal darauf zurückgeführt, dass sie der Venus nicht die gebührenden Opfer dargebracht habe (Hyg. Fab. 40.1). Häufiger belegt ist das Motiv, dass der Göttin Zorn Pasiphae und ihre Kinder als Nachkommen des Helios trifft, weil dieser den Ehebruch mit Ares an Hephaistos verraten hat (vgl. Hom. Od. 8.270f, 302): Sosicr. Hist. FGrHist 461 F 6 (= Schol. Eur. Hipp. 47), Ov. Her. 4.53f, Sen. Phaedr. 124–128, Lib. Narr. 21, Serv. Verg. Ecl. 6.47 [SD], Serv. Verg. Aen. 6.14. 414 Hes. Frg. 176, Stesich. Frg. 223 Page, beide bei Schol. Eur. Or. 249; zum möglichen Zusammenhang dieser Überlieferung mit dem seltsamen Kultbild der Aphrodite Morpho in Sparta (Paus. 3.15.10f) vgl. RML 5 (1916–1924) s.v. Tyndareos, 1409f [J. Schmidt], RE 7A (1939) s.v. Tyndareos, 1765 [W. Brandenstein]. 415 Ov. Met. 10.681–704, Hyg. Fab. 185.5f, Serv. Verg. Aen. 3.113 [SD]; ausserdem Gantz, EGM 336. 416 Apollod. 3.14.4, Schol. Theokr. 1.109a, Plut. Mor. 310f, Hyg. Fab. 58, Ps. Lact. Plac. Fab. Ov. 10.9; vgl. Gantz, EGM 729–731, NP 8 (2000) 602 s.v. Myrrha [R. E. Harder] und unten n. 434.
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3. Die Stadt der Frauen
führt, dass die Menschen ihr statt der Göttin opfern, was diese veranlasst, ihr einen Monstergatten in die Arme zu treiben417. Diese Geschichten decken sich zumindest teilweise mit der Mordnacht von Lemnos: Fast überall ist es die Vernachlässigung ihres Kultes, welche die Göttin zur Rache veranlasst418. Diese besteht allerdings meist in einer Art Liebe, die ungeheuerlich oder für die Betroffenen peinlich ist, sei sie nun inzestuös wie bei Hippolytos und Myrrha, ehebrecherisch wie bei den Töchtern des Tyndareos, finde an einem verbotenen Platz statt wie bei Hippomenes oder gelte einem Ungeheuer wie bei der armen Psyche – kennzeichnend ist jedenfalls, dass sich all diese Beziehungen durch ein Übermass an sexueller Intimität kennzeichnen. Auf Lemnos hingegen müssen die Frauen der Liebe ganz entsagen. Statt in zu grosse Nähe umzuschlagen, wird also durch die göttliche Rache ihre Distanz zum Reich der Aphrodite noch vergrössert419. Auffällig ist an der lemnischen Geschichte darüber hinaus, dass die Strafe der Gottheit ebenso ins Verderben der Männer führt, wie in jenes der Frauen, gegen die sie eigentlich gerichtet ist420. Doch genauso opfert die rächende Aphrodite bei Euripides die unschuldige Phaidra mit, um Hippolytos zu bestrafen421. Muss man dazu erwähnen, dass selbst die Liebe der Göttin die betroffenen Männer meist auf die eine oder andere Weise mit Unglück schlägt? Adonis liegt am Ende tot422, Anchises wird blind oder gelähmt423, Hephaistos zum Hahnrei und Ares als Ehebrecher blossgestellt424. Der misstrauische Zug der Aufmerksamkeit, welche die Griechen dem Reich der Aphrodite zuwendeten, mag sich darin ebenso spiegeln wie eine andere, für die lemnische Sage wichtigere Seite der Göttin: Die Kulte der Aphrodite wurden meist nicht von der Polisgemeinschaft getragen, sondern hatten 417 Apul. Met. 4.28–31. Dass ausserdem der Wahnsinn der Proitiden auf die Rache der Aphrodite zurückgehen soll, ist eine nicht sehr gut bezeugte Nebenvariante der Sage, vgl. Plut. Mor. 777d, Ael. Var. Hist. 3.42, Lact. Plac. Stat. Theb. 2.220; zur Proitidensage jetzt Dorati 2004. 418 Man denkt an die Rache der nicht eingeladenen Fee im Märchen, etwa bei Dornröschen, vgl. Bolte/Polivka, Anmerkungen I, 434–436, 439f. 419 Ähnlich schon Detienne, Jardins, 172f über das Verhältnis der Lemnierinnen zu Myrrha. 420 Man liest bisweilen, dass bei den Geschichten, die dem Muster β folgen, die Schuld für die Vernachlässigung der Aphrodite bei den Männern von Lemnos liege, bei α hingegen bei den Frauen (so noch Delarue 1970, 447–449, Aélion, Mythes, 127, Moreau, Mythe, 89, Dräger, Argonautika, 71). In den Texten hat diese Auffassung keine Stütze: Tatsächlich überwiegt die Schuldzuweisung an die Frauen bei weitem (Hy-A9, Hy-C1a/b, Hy-C3, Hy-C4, Hy-C5, HyC7); wenn in Hy-A10 von den Lemniern die Rede ist, liegt wohl lediglich ein ungenauer Ausdruck vor. 421 Vgl. Eur. Hipp. 47–50. 422 Ov. Met. 10.709–739, Apollod. 3.14.4 u.a. 423 Blind nach Serv. Verg. Aen. 1.617; die Lähmung angedeutet bei Soph. Frg. 373, Verg. Aen. 2.647–649 und vielleicht schon Hymn. Hom. Aphr. 286–290; ausführlich dann Serv. Verg. Aen. 2.649 [SD]; sogar getötet wird Anchises bei Hyg. Fab. 94; vgl. LIMC 2 (1984) s.v. Aphrodite 147f (Nrr. 1543–1548) [A. Delivorrias], Gantz, EGM 102. 424 Vgl. Hom. Od. 8.266–366. Weniger klar sind die Fälle von weiteren Geliebten der Aphrodite: Phaethon wurde nach einer Variante der Sage von der Göttin entführt (Hes. Theog. 986–991); über Boutes Diod. 4.83, Hyg. Fab. 260; zu den Geschichten über Phaon LIMC 2 (1984) s.v. Aphrodite 148 [A. Delivorrias].
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
209
privaten Charakter, wobei eigentliche Frauenkulte eine grosse Rolle gespielt haben müssen; in klassischer Zeit jedenfalls sind in ihrem priesterlichen Dienst fast ausschliesslich Frauen belegt425. Entsprechend erscheint das Bild des Männlichen in den dieser Gottheit zugehörigen Geschichten durchgestrichen oder zumindest geschwächt. Freilich schlägt das Motiv der Trennung von Frauen und Männern die Brücke noch zu einer anderen Gruppe von Sagen: Vergleichbare Episoden finden wir in den Geschichten über die Amazonen, jenes sagenhafte Volk von Kriegerinnen, das weitgehend ohne Männer auskam426. Gelegentlich wird die Entstehung des Amazonenvolkes nämlich so erklärt, dass die Frauen zwar ursprünglich Männer gehabt hätten, doch seien sie einmal von diesen beleidigt worden; da hätten sie gewartet, bis die meisten in den Krieg gezogen waren, die wenigen zu Hause gebliebenen getötet und den andern bei der Rückkehr den Eintritt verwehrt427. Hier sind also gewissermassen die Elemente einer Geschichte, wie sie Hypsipyle in Hy-B dem Iason als Trugrede erzählt (die Ausschliessung der aus dem Krieg heimkehrenden Männer), mit jenen der Mordnacht (Tötung der Männer) zusammengelegt, oder anders gesehen, erscheinen Wahrheit und Lüge in der lemnischen Geschichte als paradigmatische Spaltung der Amazonensage. Nach anderen Berichten verlieren die Frauen im Krieg den grössten Teil ihrer Männer, müssen sich selber verteidigen und töten danach auch die übrigen, damit alle Frauen gleich gattenlos seien428. All diese Erzählungen verbindet mit der lemnischen Geschichte, dass eine Vernachlässigung oder Abwendung der Männer von ihren Frauen dazu führt, dass diese einen radikalen Schnitt vollziehen und sich völlig von ihnen trennen. Wie die Lemnierinnen besorgen sich dann auch die Amazonen Männer von auswärts, um Nachkommen zu erzeugen.
425 Zum Aspekt des Frauenkultes und zur Priesterschaft NP 1 (1996) s.v. Aphrodite, 839f und 842 [V. Pirenne-Delforge], sowie Pirenne-Delforge, Aphrodite, 393–403, 471. 426 Zu diesen Parallelen Martin 1987, 84f, Bowie, Aristophanes, 188f und schon RE 17 (1914) s.v. Hypsipyle, 436f [O. Jessen]. Zu den Amazonen allgemein LIMC 1 (1981) 586–653 s.v. Amazones [P. Devambez/A. Kauffmann-Samaras]. 427 Ephor. FGrHist 70 F 60a = Schol. Apoll. Rhod. 2.965. Komplizierter Steph. Byz. s.v. Ἀµαζόνες, wo die Amazonen vom Volk der Sarmaten stammen, dessen Männer im Krieg umgekommen sind; nach einer Textlücke hören wir von herangewachsenen Söhnen der Frauen (und ihrer Sklaven?), welche sich gegen die Herrschaft der Mütter auflehnen und von ihnen in einen Wald getrieben werden, wo sie umkommen; darauf zerschlagen die Frauen den zurückgebliebenen jüngeren Söhnen die Beine, so dass sie gelähmt bleiben (vgl. RE 1 (1894) s.v. Amazones I, 1755 [J. Toepffer]). Das Motiv des Endes der Männer im Wald erinnert an die Geschichte von Telesilla und den Frauen von Argos, vgl. unten 3.4.5. Zu Analogien in Nachrichten über die Skythen u.ä. vgl. Blok, Amazons, 85–87; in diesen (Hdt. 4.1, Iust. 2.5 u.a.) geht es um den klassischen Albtraum aller Krieger, dass sich die Frauen (wie in Le diable au corps) während ihrer Abwesenheit im Felde mit niedriger gestellten Männern (hier meist Sklaven) zusammentun und Bastarde in die Welt setzen; zum Motivbezug von Frauenund Sklavenherrschaft, der in der Sage von Telesilla ebenfalls wiederkehrt: Vidal-Naquet 1981. 428 Trog. Frg. 36 Seel = Iord. 7, Iust. 2.4 u.a.
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3. Die Stadt der Frauen
Angesichts solcher Ähnlichkeiten überrascht es kaum mehr, dass auch die Lemnierinnen gelegentlich amazonenhaft, als Kriegerinnen geschildert werden. Schwer zu entscheiden ist allerdings, ob es etwas bedeutet, dass die ersten Zeugnisse dafür aus der dramatischen Dichtung des 5. Jh.s stammen, einer Zeit, in der auf Vasenbildern und auf anderen künstlerischen Darstellungen das vorher eher lokal beschränkte Motiv der Amazonen sich im ganzen griechischen Kulturgebiet auszubreiten beginnt429. Wahrscheinlich weist uns jedoch die Nähe zwischen Lemnierinnen und Amazonen noch in eine andere Richtung, auf Artemis, eine Göttin, die in der Sage von der Mordnacht von Lemnos gerade am äussersten Rande Platz findet. In Hy-C4 und Hy-C6 erfahren wir, dass Thoas, nach Tauris gerettet, dort die Aufsicht über das Heiligtum der Diana übernommen habe. Wir werden weiter sehen, dass in einigen verlorenen Quellen die Geschichte von Hypsipyle Anlass zu Anspielungen auf den Kult der Artemis in Attika, namentlich in Brauron, gegeben hat430. Die Amazonen indessen werden von allen Gottheiten am meisten mit Artemis in Verbindung gebracht, gerade auch mit jener Artemis Tauropolos, deren Beiwort unter den Namen von König Thoas’ Geschwistern einen deutlichen Anklang findet431. Doch selbst wenn die amazonenhaften Züge der Lemnierinnen diesen Bezug zu Artemis mit andeuten – da, wo die Göttin selbst genannt ist (Hy-C4, Hy-C6), wird sie fern der Insel, ja ausserhalb der eigentlichen Geschichte gedacht. Hält man dagegen, wie fest Artemis im Kult von Lemnos verankert ist, wirkt das zunächst befremdlich432. Wenn allerdings zugleich Aphrodite, die in der Religion der Insel eher am Rand steht, in diesen Geschichten in den Mittelpunkt rückt, so ist es, als zeichneten diese mit Absicht das Bild einer verkehrten Welt – doch ich will nicht dem Ausblick auf das Verhältnis der lemnischen Mythen zum lokalen Kult vorgreifen, das uns noch beschäftigen wird433. Als letztes muss ich auf die engen Beziehungen hinweisen, welche der Mythos von der lemnischen Mordnacht mit den Geschichten von Adonis unterhält. Diese scheinen durch einen ganzen Komplex von mythologischen Vorstellungen vermittelt, die in Griechenland an gute und üble Gerüche geknüpft sind, und wurden schon von anderen gründlich untersucht. So kann ich mich auf wenige ergän-
429 Zu den Lemnierinnen als Kriegerinnen Hy-A4a, Hy-A5, Hy-B (Apoll. Rhod. 1.627–639), HyC7 (Stat. Theb. 5.335–430); zur Ausbreitung des Amazonenmotivs im 5. Jh. vgl. LIMC 1 (1981) s.v. Amazones, 636f [P. Devambez/A. Kauffmann-Samaras]. 430 Zum Zusammenhang der mit der Mordnacht von Lemnos verwandten Geschichte über die pelasgische Vesper mit dem Artemisheiligtum von Brauron unten 3.4.4. 431 Zum Namen Tauropolis in der Familie des Thoas vgl. 3.3.3.a. Die Amazonen und der Kult der Artemis Tauropolos bei Diod. 2.46.1, weiteres bei RE 1 (1894) s.v. Amazones I, 1764 [J. Toepffer]; besonders häufig werden sie in Zusammenhang mit der Artemis von Ephesos gebracht, vgl. RML 1 (1884–90) s.v. Amazonen, 274 [A. Klügmann]. 432 Vgl. 3.1.5.b. 433 Vgl. 3.5.
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
211
zende Bemerkungen beschränken434. Auch in der Adonissage wird ja wie auf Lemnos die Rache der Aphrodite mit dem Motiv des Geruchs verknüpft: Myrrha, die Mutter des Adonis, verwandelt sich am Ende in einen Baum, der ein wohlriechendes Harz hervorbringt435. Dazu erscheint der in den α-Varianten genannte Gestank der Lemnierinnen nicht nur als Umkehrung436, sondern als auch als Krebs, denn das Motiv steht nicht am Anfang sondern am Ende der Sequenz. Doch die Analogien gehen noch weiter, vor allem, wenn man den Blick auf die Rettung des Thoas in der Kiste wirft: Aus dem Holz des Baumes, in den Myrrha verwandelt wurde, wird Adonis geboren und danach übergibt Aphrodite den schönen Knaben in einer Lade an Persephone437. Adonis erhält also sein Leben aus dem grünenden, mütterlichen Holz und wird hernach ins tote Holz der Lade eingeschlossen. Wir finden damit – über das blosse Motiv der Kiste hinaus – innerhalb ein und derselben Erzählsequenz jenen Gegensatz zwischen dem toten Holz und der lebendigen Pflanze wieder, welcher die Beziehung zwischen den Geschichten über Hypsipyle auf Lemnos und in Nemea mitbestimmte. Was diesen Doppelaspekt des Holzes und das Motiv der Kiste angeht, bieten demnach die beiden Hypsipyle-Geschichten im Vergleich mit dem Adonismythos das Bild einer paradigmatischen Spaltung – doch damit sind wir schon beim nächsten wichtigen Motiv unserer Erzählung angelangt. 3.4.3. Götter, Helden und Kisten Ich habe bereits angetönt, dass die Rettung des Thoas, die der Variante β der Mordnacht von Lemnos zugehört, in so vielen Untervarianten erscheint, dass ich sie gesondert untersuchen muss. Fassen wir deshalb zuerst zusammen, was wir über diese Episode in unseren Texten erfahren: Nach mindestens einer Quelle wird der König mit den anderen Männern zusammen getötet (Hy-A8), dann wieder versteckt ihn Hypsipyle, um ihn zu retten (Hy-C3, Hy-C6), und zwar in einem Koffer (Hy-A6c). Daran schliesst sich das Motiv der Meerfahrt des Königs, denn die Sache fliegt auf, und die Kiste wird von den anderen Frauen ins Meer gewor434 Vgl. die klassische Analyse von Detienne, Jardins, 172–184. Zu den Quellen LIMC 1 (1981) 222–229 s.v. Adonis [B. Servais-Soyez], LIMC 2 (1984) s. v. Aphrodite, 148f (Nrr. 1552– 1558a) [A. Delivorrias], Gantz, EGM 102f, vgl. oben n. 416. Der Artikel NP 1 (1996) 120– 122 s.v. Adonis [G. Baudy] wird leider von seinem Verfasser fast ausschliesslich benutzt, um seine eigenen nicht unproblematischen Ansichten zu verbreiten, und gibt keinen Begriff vom Stand der Diskussion (auf Detienne etwa wird nur knapp hingewiesen als missdeutet – als ob man Interpretationen eines Mythos so simpel nach richtig und falsch unterscheiden könnte). 435 Auch die letzte Prüfung der Psyche bei Apul., das Herbeiholen der wunderbaren Schönheitssalbe der Proserpina, könnte in diesen Zusammenhang gehören (Apul. Met. 6.16–21). Bei Apul. fehlen allerdings ausdrückliche Hinweise auf den Duft der Salbe. 436 Vgl. Detienne, Jardins, 172f. 437 Panyas. Frg. 27 Bernabé = Apollod. 3.14.4; nur die Geburt aus dem Baum bei Ov. Met. 10.503–518, Hyg. Fab. 58.3, Serv. Verg. Ecl. 10.18 [SD], die Geburt vor der Baumverwandlung bei Ant. Lib. 34.4f.
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3. Die Stadt der Frauen
fen; der König kommt dabei um, wie in Hy-C3, oder wird gerettet, wie in HyA6b; oder Hypsipyle ist es, die ihren Vater aufs Meer hinauslässt, sei es in dem Koffer (Hy-B), sei es in einem anderen Gefährt (Hy-C4, Hy-C7, Hy-C6), um ihn zu retten. Bei der Meerfahrt sind also Absicht und Wirkung auseinander zu halten: Die Absicht kann der Tod sein, die Wirkung trotzdem die Rettung, oder die beiden Dinge fallen zusammen – auch hier der klassische Fall einer paradigmatischen Spaltung438: Hy-A6b Thoas soll getötet werden und wird gerettet
Hy-C3 Thoas wird getötet
Hy-B, Hy-C4, Hy-C7, Hy-C6 Thoas wird gerettet
Die Flucht des Thoas wird nun in verschiedener Weise mit Dionysos verknüpft: Entweder greift der Gott selber hilfreich ein (Hy-A6b, Hy-C7), liefert der Bakchos-Kult den Vorwand für die rettende Intrige (Hy-C6), oder der Ort, wo er sich hinrettet, ist mit dem Wein verknüpft. Da ist nämlich zum einen die Insel Sikinos, die früher Oinoie, Weininsel (zu oinos = Wein) geheissen haben soll (Hy-B) – wobei schon der Name Sikinos selbst mit seinem Anklang an die Sikinnis, den Tanz der Satyrn, deutlich ans Reich des Dionysos erinnert439. Zum andern ist die 438 Eine Dionysoslegende von Brasiai (Paus. 3.24.3f, vgl. unten p. 214) drückt die Doppeldeutigkeit der Fahrt in der schwimmenden Kiste anders aus: Hier heisst es, Semele habe den Dionysos geboren und sei dann mit ihm von Kadmos zur Strafe in die Kiste geschlossen und ins Meer geworfen worden. In Brasiai habe es diese an Land gespült; Semele sei da schon tot gewesen und man habe sie ehrenvoll bestattet, den noch lebenden Dionysos jedoch aufgezogen. Auch hier wirkt die Fahrt in der Kiste zugleich tötend und rettend, indessen werden die beiden Aspekte nicht wie in Lemnos auf zwei Geschichten mit derselben Hauptperson, sondern umgekehrt auf zwei Personen in derselben Geschichte aufgeteilt. Diese wird auch mit einem etymologischen Wortspiel über den Namen Brasiai verbunden (zu ἐκβράσσω: auswerfen, an den Strand werfen, Paus. 3.24.4), vgl. ausserdem RE 22 (1954) s.v. Prasiai 1), 1694f [F. Bölte], Wide, Kulte, 163f, Usener, Sintfluthsagen, 99f, Binder, Aussetzung, 127f; letzterer folgt in wichtigen Punkten Laager, Geburt, 122f, dessen historistische Vermutungen (Abhängigkeit des Berichts von der Danae-Sage und Hintergrund im Kult eines „vorgriechischen göttlichen Kindes“) dem Zusammenhang der Mythengruppe zu wenig Rechnung tragen. Zum Motiv des in einer Kiste zur See fahrenden Dionysos vgl. die Geschichte von Eurypylos und seinem Dionysosbild in einer Kiste, die ebenfalls zu Schiff transportiert wird (Paus. 7.19.6–9, 9.41.2 und zu den Bildquellen LIMC 4 (1988) 111 (Nrr. 1f) s.v. Eurypylos [D. Gondicas]), sowie den Bericht, nach dem Ino und ihre Schwestern den neugeborenen Dionysos in eine Truhe schlossen und diese zu Schiff nach Euboia übersetzten (Opp. Kyn. 4.230–319). 439 Oinoe als Beiname für Sikinos auch bei Plin. Nat. 4.(23).70, Steph. Byz. s.v. Σίκινος, beide nicht sicher unabhängig von Hy-B. Die Münzen von Sikinos zeigen dionysische Sujets (Köpfe von Dionysos und Silen, Weintrauben), vgl. RE 2A (1921) s.v. Sikinos 1)–2) 2525 [L. Bürchner]. Zum Bezug Sikinos/Sikinnis vgl. Vian, Apollonios I, 256; der Name oder eine Ableitung davon erscheint öfter für Satyrn o.ä. auf Vasenbildern, vgl. LIMC 7 (1994) 761 s.v. Sikinnis, Sikinnos [A. Kossatz-Deissmann]. Zu sagen, dass Thoas eine Erscheinungsform des
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
213
Rede von Chios, dem Reich von Thoas’ Bruder Oinopion, dessen Name ebenfalls den Wein enthält (Hy-C7). Aus der Reihe tanzen nur jene Varianten, die ihn nach Tauris, zu Diana, also zu Artemis gelangen lassen (Hy-C4, Hy-C6). Während Sikinos von Lemnos aus weit im Süden liegt, jenseits von Naxos unter den südlichen Kykladen, wird hier also die Orientierung der Distanz umgedreht und Thoas in ein fabelhaftes Land im fernen Norden befördert. Chios liegt wesentlich näher als beide, und der Entscheid für diese Insel bei einem kaiserzeitlichen Römer Autor mag damit zu tun haben, dass die Geschichte an äusserer Wahrscheinlichkeit gewinnt. Überblickt man diese flimmernde Vielfalt von Varianten, so ist ihnen allen eines gemeinsam: Der König ist gerettet oder tot, er ist im Koffer oder im Wald versteckt, von der Insel vertrieben oder was immer – auf jeden Fall ist er seit der Mordnacht verschwunden und spielt in der Polis keine Rolle mehr440. Diese grundlegende Tatsache erhält also in jeder Variante eine eigene Gestalt. Zunächst gehorcht damit die Rolle des Thoas einer inneren Gesetzmässigkeit der Erzählung: Wie aus der gesichtslosen Gruppe der mörderischen Frauen eine einzelne, die Königstochter Hypsipyle herausgehoben wird, erhält auch auf der Gegenseite, bei den getöteten Männern, eine Gestalt einen Namen und ein ausführlich erzähltes Schicksal. In Bezug gesetzt werden die beiden als König und nachfolgende Königin zum einen, als Vater und Tochter andererseits. Die erste Stelle im Frauenstaat rechtfertigt sich damit über die väterliche Linie der Herkunft, d.h. patrilinear. König und Königin sind freilich in solchen Geschichten nicht zuletzt Träger der Werte und Ordnungen der Gemeinde. Vergessen wir nicht, dass Thoas als Sohn des Dionysos erscheint und diesem eine Schlüsselrolle bei seiner Rettung zugeschrieben wird: Dionysos ist ein geselliger Gott, ja vielleicht derjenige, in dem sich die Polis als Gemeinschaft von gleichberechtigten Bürgern am deutlichsten verkörpert sieht. So ist es kaum ein Zufall, dass er in unserer Erzählung als Schutzherr des Königs und seiner Tochter auftritt441. So gesehen erweist sich die Stadt der Frauen nicht als selbständiger Gegenentwurf zur Wirklichkeit, sondern als ein Ort, der sich auf die von den Männern bestimmten Ordnungen bezieht, sich gewissermassen noch innerhalb derselben
Dionysos selbst ist, wie man in der älteren Forschung ab und zu liest (Wide, Kulte, 163f, Usener, Sintfluthsagen, 106, Gruppe GMR, 225f, RE 6A (1937) s.v. Thoas 2), 298 [A. Modrze] u.a.), vereinfacht indes die Sache in unzulässigem Mass. 440 Wenn Orion, auf Lemnos von seiner Blendung geheilt, nach Chios zurückkehrt, um an König Oinopion Rache zu nehmen, der ihn geblendet hatte, wird auch dieser Bruder des Thoas in einem unterirdischen Gemach versteckt (Hes. Frg. 148a = Eratosth. Kat. 32, Schol. Arat. 322, Schol. Nik. Ther. 15a, Apollod. 1.4.3, Hyg. Astr. 2.34). Hier verbindet sich also die Stunde der Rache wie bei der Mordnacht von Lemnos mit dem Verschwinden des Königs. 441 Zu Dionysos als Gott der Polisgemeinschaft NP 3 (1997) s.v. Dionysos I, 656f [R. Senff], Bruit/Schmitt, Religion, 141, Seaford, Reciprocity, 235–280. Spuren von Kult für Dionysos auf Lemnos im Umkreis der Kabiren, in deren lemnischen Mysterien der Wein nachweislich eine Rolle spielte, vgl. unten 4.3.3.
214
3. Die Stadt der Frauen
befindet442. Er bildet ein Zwischenreich, welches das Verschwinden des Königs und die Geburt der Söhne der Hypsipyle trennt, von denen einer wie der Grossvater Thoas heissen wird – zu schweigen von jener Fassung, nach welcher der alte König selbst nach Lemnos zurückkehrt (Hy-A6b). Erzählt werden muss damit, wie die Werte der Gemeinschaft überleben, auch wenn man die Männer, die ein im engsten Sinn des Wortes bestimmender Teil von ihr sind, vorübergehend beseitigt. König Thoas ist tot, und er ist es nicht, er ist verloren zugleich und gerettet, er erscheint ins Innerste oder Äusserste gebannt, seine Gestalt wird durchgestrichen – doch sie lässt sich nicht auswischen, ohne eine Spur zu hinterlassen, die seine Rückkehr ankündigt. Damit liegt hier wohl ein deutliches Beispiel dafür vor, wie bisweilen erst das Schwanken einer Erzählung zwischen den Varianten ihren Sinn auffächert. Das vielleicht auffallendste Motiv bei der Rettung des Thoas ist die Kiste, die larnax443, in welcher der König dem Meer übergeben wird. Nun kennt die griechische Mythologie eine ganze Reihe von Geschichten, die nach ähnlichem Muster ablaufen. In diesen ist es allerdings meistens ein Vater, der seine Tochter zusammen mit einem – nicht auf gesetzmässige Art empfangenen – Kind in die larnax einschliesst; seine Absicht ist dabei, die beiden zu töten, doch werden sie gerettet444. So macht es Akrisios mit Danae und Perseus, Aleos mit Auge und Telephos, Staphylos mit Rhoio und Anios, und schliesslich, nach einer Geschichte aus Brasiai an der Ostküste Lakoniens, Kadmos mit Semele und Dionysos445. Mit
442 Der Aspekt des ‚Frauenstaates’, der ‚Frauenherrschaft’ auf Lemnos wird in unserer Überlieferung zuerst bei Apoll. Rhod. 1.627–630 (Hy-B) hervorgehoben; in Hy-C3 heisst es dann, die Insel sei bei der Ankunft der Argonauten γυναικοκρατουµένη (von Frauen beherrscht) gewesen, ebenso Plut. Mor. 755bf. Es ist allerdings – trotz fehlenden Belegen – wenig wahrscheinlich, dass sich die attischen Komiker diesen Aspekt der Sache haben entgehen lassen, vgl. Martin 1987, bes. 102f und 82 mit n.17. Zum Begriff der Gynaikokratie bei den Griechen vgl. Borgeaud, Mythologie, 17–28, und bes. 27 seine Wertung der lemnischen Sage, die sich von einer anderen Seite her mit der oben vorgetragenen trifft. 443 Der Ausdruck λάρναξ (larnax) nur bei Hy-B (Apoll. Rhod. 1.622), vgl. κιβωτός (kibotos) bei Hy-A6c; zur Deutung des Motivs auch Huys, Tale, 198–201 und insbesondere 239–246 zur darin angelegten Ambivalenz von Tötung und Rettung. 444 Von den älteren Behandlungen dieser Sagengruppe immer noch lesenswert die Analyse von Usener, Sintfluthsagen, 80–114 (der etwa auch Robert 1909, 400f bei der Wertung der ThoasEpisode folgt), ausserdem Cosquin 1908, bes. 371–395, Hertel 1909, Schick, Corpus, 251– 268, Holley 1949, Redford 1967. Die gründlichste Materialsammlung bei Binder, Aussetzung, 125–250 und mit Ergänzungen Huys, Tale, 377–394; vgl. ausserdem EdM 1 (1977) 1048–65 s.v. Aussetzung [G. Binder], Edmunds, Oedipus, 26–29, Bremmer 1987, 27–30. Dass die Geschichte von Thoas und Hypsipyle das Muster der meisten anderen umkehrt, bemerkt auch Nyberg, Unity, 122 n. 346; ausserdem vgl. Clauss, Best, 111–113. 445 Zu Danae Pherekyd. FGrHist 3 F 10 = Schol. Ap. Rhod. 4.1091; Apollod. 2.4.1; Hyg. Fab. 63.2f, vgl. Gantz EGM, 299–303 und für die Bilddarstellungen LIMC 3 (1986) s.v. Danae 331–334 (Nrr. 41–70) [J.-J. Maffre], ausserdem Huys, Tale, 228–230; zu Auge Strab. 13.1.69, Paus. 8.4.9, vgl. Gantz EGM, 428f und für die Bilddarstellungen LIMC 3 (1986) s.v. Auge 49 (Nrr. 25f) [C. Bauchhenss-Thüriedl]; zu Rhoio Diod. 5.62.1f; Tzetz. Lyk. Alex. 570; zu Semele Paus. 3.24.3f und oben n. 438; zu der ebenfalls ähnlichen Geschichte von Tennes
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
215
den beiden letzten Geschichten geraten wir sogar in unmittelbare Nähe zu Thoas, denn Dionysos ist ja sein Vater und Staphylos sein Bruder446 – diese Art von Vorfällen scheint gleichsam in der Familie zu liegen oder anders ausgedrückt: Wieder einmal überschneiden sich Motivverwandtschaft und Genealogie. Die lemnische Sage weicht indessen in verschiedenen Punkten vom diesen Geschichten gemeinsamen Muster ab, sicher am deutlichsten, wie schon angedeutet, in der verwandtschaftlichen Stellung der beteiligten Personen. Aber noch etwas fällt anderes auf: In all diesen Sagen soll die Aussetzung der Vernichtung der in die Kiste Eingeschlossenen dienen, was dann glücklicherweise missrät. Das sind genau die Verhältnisse, die wir in Hy-A6b finden (ich bezeichne das fortan als Untervariante β-β′); in der Mehrzahl der anderen Berichte dient die Aussetzung des Thoas auf dem Wasser von Anfang an seiner Rettung (Hy-B, Hy-C4, Hy-C7, Hy-C6: im Folgenden Untervariante β-α′), weshalb wohl die späteren Fassungen allesamt die schwimmende Kiste durch ein zu diesem Zweck plausibleres Gefährt ersetzen. Die Frage stellt sich, ob wir es bei β-α′ mit einer Vereinfachung der Sage zu tun haben, die erst die späteren Dichter vollziehen447, oder ob sie eine gleichwertige Variante darstellt. Das Motiv der Aussetzung in der schwimmenden Kiste findet sich indes nicht nur in griechischen Sagen, sondern auch im alten Orient448: Ein babylonischer Text, der vielleicht vom Ende des 8. Jh.s stammt, legt dem grossen König Sargon von Akkad, der um 2300 regierte, eine Erzählung in den Mund, wie seine Mutter, eine Priesterin, ihn heimlich gebar und in einem Korb aussetzte, den sie einem
und Hemithea unten n. 454. Das Motiv wurde mit Abwandlungen auch von Iambulos in seinem fabelhaften Reisebericht verwertet, vgl. Diod. 2.55.3f. 446 Vgl. 3.3.3.a. 447 Dies scheint zunächst das oben p. 212 gegebene rein beschreibende Schema nahezulegen. 448 Zu den beiden folgenden Geschichten auch West, EFH 439f. Die Osirislegende, die in diesem Zusammenhang immer wieder angeführt wird (etwa bei Holley 1949, 42–45, Binder, Aussetzung, 161f) scheint mir zu problematisch, um als Parallele verwendbar zu sein. In ihrer berühmt gewordenen Gestalt ist sie erst bei Plut. Is. 13.356b–d bezeugt, d.h. in einem griechischen Text, dem mehrere Jahrhunderte kulturellen Austauschs zwischen Griechen und Ägyptern vorausgehen. Ich zweifle sehr, ob sich daraus etwas über die alten Überlieferungen ableiten lässt: In einzelnen ägyptischen Texten treibt Osiris zwar im Wasser des Nils, doch stets als offener Leichnam, und in anderen erscheint er als Der in der Kiste, d.h. im Sarg, als Verkörperung des Toten, doch dann niemals im Wasser; die Verbindung dieser Motive zur Fahrt in der schwimmenden Kiste findet sich erst bei Plut. (vgl. Hopfner, Isis, 38–42, Gwyn Griffiths, De Iside, 311 mit n. 4). Die Gleichsetzung von Osiris mit Dionysos war schon im 5. Jh. vollkommen geläufig (vgl. Hdt. 2.42.2 u.ö.) und so verwundert es kaum, dass die OsirisGeschichte bei Plut. dem Muster bekannter Dionysos-Sagen folgt – im äussersten Fall könnte sogar das Motiv der Fahrt in der schwimmenden Kiste von hier eingedrungen sein (zu deren dionysischer Tendenz oben p. 215). Ebensowenig ziehe ich all jene Sagen aus Indien, Persien usw. bei, die dasselbe Motiv enthalten (vgl. das Material bei Binder, Aussetzung, 175–250): Keine dieser Erzählungen ist vor der hellenistischen Zeit schriftlich aufgezeichnet worden, und so lässt sich nicht ausschliessen, dass sie ihrerseits von Vorlagen aus dem griechischen oder semitischen Raum beeinflusst sind (vgl. 5.1.3). Zu einer unsicheren – und ebenfalls späten – ägyptischen Parallele für die Aussetzung des Moses vgl. Propp, Exodus, 156.
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3. Die Stadt der Frauen
Fluss anvertraute449, und in der Bibel wird dieselbe Geschichte über Moses erzählt450. Es gibt allerdings auf den ersten Blick einen klaren Unterschied zwischen fast allen griechischen Geschichten einerseits und jenen aus dem alten Orient anderseits: In den griechischen Legenden sind drei Generationen an der Handlung beteiligt (Vater/Tochter/Enkel), in den orientalischen nur zwei (Mutter/Sohn). In dieser Hinsicht scheint die lemnische der einfacheren Geschichte von Sargon näher zu sein: Sie steht mit ihr in einer klaren und einfachen Transformationsbeziehung, die sich durch eine Umkehrung der Funktionen definiert, die den Generationen zugeteilt werden (die Tochter spielt die Rolle der Mutter, der Vater jene des Kindes); zweitens bildet die lemnische Episode, was ihre Stellung im Ablauf einer grösseren Erzählung angeht, den Krebs zu der altorientalischen Geschichte (berichtet wird nicht mehr die Geburt eines Königs, sondern das Ende seiner Herrschaft). Noch enger wirken die Beziehungen, wenn man die Mosessage genauer betrachtet. Zum einen lassen sich die Parallelen vermehren: So wurde der kleine Moses auf dem Fluss ausgesetzt wurde, weil der Pharao den Befehl gegeben hatte, alle jüdischen Knaben zu töten, die Mädchen indessen am Leben zu lassen451, hielt die Mutter des Moses ihn eine Weile versteckt und setzte ihn erst aus, als sie ihn nicht mehr verbergen konnte, und schliesslich wurde Moses ausgerechnet durch die Tochter des Königs gerettet452. Die Motivanalogien zur Mordnacht von Lemnos sind so unübersehbar, dass die Vermutung sich aufdrängt, die lemnische Sage hänge – vielleicht über Zwischenglieder, die wir nicht kennen – mit solchen Erzählungen aus dem Alten Orient zusammen. Versucht man, diesen Zusammenhang genauer zu bestimmen, so bemerkt man wohl zuerst, dass in der Mosesgeschichte die Aussetzung im Körbchen eine List zur Rettung des Knaben ist, genau entsprechend zum Verlauf der lemnischen Variante β-α′. Schon dieses Zusammentreffen stellt klar, dass β-α′ keine sekundäre Vereinfachung von β-β′ darstellen kann, sondern eine eigenständige alte Fassung der Geschichte sein muss. Jener Variantentyp der Aussetzung in der larnax, der sich in den meisten griechischen Erzählungen ausser auf Lemnos findet, könnte dadurch zustande gekommen sein, dass die Figuren der ‚orientalischen’ Variante (Mutter und Sohn) mit jenen der ‚lemnischen’ (Vater und Tochter) in dasselbe erzählerische System integriert wurden453. Das beiden Varianten gemeinsame Ziel449 Englische Übersetzungen bei ANET, 119, Foster, Muses, 803f; Weiteres bei Edmunds, Oedipus, 26; zur Datierung unten p. 225. 450 Ex. 2.1–10; die ausschmückende Nacherzählung bei Ios. Ant. Iud. 2.210–227 belegt, wie auch hier die Phantasie am Stoff weitergearbeitet hat. Zum Verständnis im Einzelnen Propp, Exodus, 142–160, und zur Berechtigung antiker Deutungen des Namens Mose als der aus dem Wasser gezogene Thissen 2004. 451 Ex. 1.16/22; Propp, Exodus, 141 weist darauf hin, dass die Unterscheidung der üblichen Behandlung Kriegsgefangener im AT entspricht, vgl. Num. 31.15–18, Deut. 20.13f u.a. 452 Vgl. Ex. 2.2f (auffallend hier die Nähe zu Hy-A6, Hy-C3 und Hy-C6) und 2.5–9. 453 Man könnte versucht sein, dieses Modell zu komplizieren, indem man auf die Zweiteiligkeit der Mosesgeschichte hinweist: [1] die Mutter des Moses setzt ihn unter dem Druck des königlichen Befehls aus (genauso wie Hypsipyle unter dem Druck des Kollektivs der Frauen
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
217
motiv wurde dabei umgekehrt: Statt um die Rettung geht es um die Vernichtung der Ausgesetzten454. Das bedeutete wohl, dass die ‚griechische’ Variante jünger sein müsste, als die anderen. Die lemnische Untervariante β-β′, die das Vernich– tungsmotiv auf Thoas überträgt, würde dann eine Angleichung an die Mehrzahl der griechischen Fassungen darstellen und wäre das jüngste Element der Reihe. Ω β 7. Jh.
Hy-A1 β-β′
5. Jh.
β-α′
Hy-A3 Hy-A4 Hy-A8 γ α Hy-A6
4. Jh.
Hy-A9 Hy-A10
3. Jh.
Hy-A11 Hy-B Hy-C1
1. Jh. n. Chr.
Hy-C5 Hy-C6 Hy-C7
2. Jh. n. Chr.
Hy-C3 Hy-C4
von Lemnos handelt); [2] es folgt die Rettung des Knaben, wo wir bereits dieselbe Trias von König, Tochter und Kind finden, wie in den Legenden ‚griechischen’ Typs – nur geht es eben nicht um die Aussetzung des Kindes, sondern um seine Auffindung. Weil nicht Tochter und Kind in die Kiste kommen, sondern das Kind allein, könnte man hier von einer Gliederungsverschiebung sprechen (Siglen: =: Analogie / (=): eingeschränkte Analogie / %: Umkehrung): ‚lemnisch’ (Frauen) Tochter Vater Aussetzung (Rettung)
(=) % % = =
Mose [1] (König) Mutter Sohn Aussetzung (Rettung)
Mose [2] Vater (König) Tochter Kind (Sohn) Auffindung (Rettung)
= (=) = % %
‚griechisch’ Vater Tochter Sohn Aussetzung (Tötung)
Die Schwierigkeit bei einer solchen Lesart ist, dass damit Teile der Sagen miteinander verglichen werden, die in der Sequenz nicht parallel stehen, d.h. man müsste zuerst einmal die Rettung des Moses der Auffindungssequenz der griechischen Sagen gegenüberstellen. Da bei der Thoasepisode das Material dünn ist, will ich diesen Weg nicht weiterverfolgen. 454 Einer gesonderten Untersuchung bedürfte die Mythologie der Insel Tenedos. Dort findet sich eine ungewöhnliche Variante der Aussetzung in der larnax, bei der drei Personen im Spiel sind (wie in den ‚griechischen’ Varianten), doch nur zwei Generationen (Kyknos, der Vater, und seine beiden Kinder Hemithea und Tennes), vgl. Paus. 10.14.1–3; Konon Narr. 28; Schol. Hom. Il. 1.38b. Tenedos, eine sehr kleine Insel, liegt am Rand der archaischen griechischen Welt vor der troischen Küste, gerade gegenüber von Lemnos – so erstaunt es kaum, dass wir hier eine ‚gemischte’ Variante finden.
218
3. Die Stadt der Frauen
Der Versuch, die Varianten unserer Geschichte zu ordnen, hat damit bereits den Beizug von Material notwendig gemacht, das ausserhalb der Überlieferungen über die Mordnacht von Lemnos steht. Da dies in den folgenden Abschnitten noch stärker der Fall sein wird, ist nun wohl der Augenblick, zusammenzufassen was sich aus den vorstehenden Überlegungen über die Entwicklung dieser Sage ergibt. Nicht alles lässt sich dabei in die Übersicht eingliedern, und neben Beziehungen, die sich nach dem Bisherigen einigermassen zwingend ergeben, treten etliche schwächere, die man nur aufgrund vager Anzeichen vermuten kann; sie sind deshalb bloss mit gestrichelten Linien eingetragen. Immerhin tritt deutlich hervor, wie die mit dem Text des Apollonios (Hy-B) verwandten Zeugnisse eine einigermassen geschlossene Gruppe bilden, während sich auf der ganzen anderen Seite des Spektrums eine Vielfalt breitmacht, die wohl nur noch einen kleinen Rest von dem darstellen dürfte, was einst an Varianten vorhanden war. 3.4.4. Von Müttern und Sprachen Bereits erwähnt habe ich die Redensart von den Lemnia kaka, dem lemnischen Unheil, zu welcher die Mordnacht von Lemnos Anlass gegeben hat455. Schon Herodot weist indessen darauf hin, dass sich dieses Wort nicht auf die Geschichte von Hypsipyle allein bezieht, sondern noch auf eine zweite, in deren Zusammenhang er überhaupt erst auf Thoas und die Frauen von Lemnos zu sprechen kommt. In dieser gibt es keine Namen mythologischer Helden mehr, sondern nur solche von Volksgruppen, die ihr einen täuschenden Anstrich von Geschichtlichkeit geben. Herodot berichtet nämlich Folgendes456: Die Pelasger von Lemnos, unter denen dieser Autor offenbar die tyrrhenische Bevölkerung der Insel versteht, wohnten eine Zeit lang in Attika und übersiedelten erst auf die Insel, als sie von dort vertrieben wurden457. Dann fährt er fort: Damals lebten diese Pelasger auf Lemnos und wollten sich an den Athenern rächen. Weil sie die Feste der Athener sehr wohl kannten, beschafften sie sich Fünfzigruderer und lauerten den 455 Vgl. 3.3.2.d. 456 Hdt. 6.138f; vgl. 4.145.2; der Bericht wird wieder aufgegriffen von Philoch. FGrHist 328 F 100f (= Schol. Hom. Il. 1.594, Schol. Lukian. Cat. 25), Schol. Eur. Hek. 887, Plut. Mor. 247a, 296b, Zenob. 4.91; gegen Ruschenbusch 1995, 143f n. 9 ist bei Philoch. Abhängigkeit von Hdt. ebenso wahrscheinlich wie die Benutzung derselben Quelle. Nach Plut. Mor. 247df besassen die Pelasger später ein aus Brauron geraubtes Kultbild der Artemis. Als Quelle für Hdt. hat man Pherekyd. vermutet (Ruschenbusch 1995, 142–145, Rausch 1999, 12), was die Festlegung der Geschichte auf die uns vorliegende Form ebenfalls in den Anfang des 5. Jh.s rücken würde. Zu einer merkwürdigen Sonderfassung des Berichts bei Schol. Ael. Arist. 13.111.1f vgl. Sourvinou-Inwood 2004, 174f. 457 Zu diesem ersten Teil der Sage Sourvinou-Inwood 2003, 132–140 und 2004, 148–151. Deren Ansatz, die Pelasger als rein fiktive Grösse zu betrachten, ist grundsätzlich richtig, doch gerade im Fall von Lemnos, wo der Name ausnahmsweise (wenn auch mit fragwürdigem Recht) eine wirkliche Volksgruppe bezeichnet, nicht ohne Probleme.
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
219
Frauen der Athener auf, die das Fest der Artemis auf Brauron feierten. Von dort raubten sie viele von ihnen, fuhren übers Meer wieder weg, brachten sie nach Lemnos und hielten sie als Nebenfrauen. Als diese Frauen immer mehr Kinder bekamen, lehrten sie ihnen Sprache und Sitten der Athener. Die Kinder aber wollten sich nicht mit jenen der pelasgischen Frauen zusammentun, und wenn eines von ihnen von einem pelasgischen geschlagen wurde, kamen ihm alle zu Hilfe und sie verteidigten einander. Diese [attischen] Kinder hielten es sogar für Recht, über die anderen zu herrschen, und gewannen bei weitem die Übermacht. Als die Pelasger dies merkten, überlegten sie gemeinsam, und indem sie berieten, kam ihnen ein erschreckender Gedanke: Wenn die [attischen] Kinder schon beschlössen, einander gegen die Kinder der Hauptfrauen zu helfen und bereits versuchten, über sie zu herrschen – was würden sie dann erst tun, wenn sie zu Männern heranwüchsen? So beschlossen sie, die Kinder der attischen Frauen zu töten. Und sie führten diesen Beschluss aus und brachten zugleich mit ihnen auch die Mütter um. Nach dieser Tat und nach jener früheren, welche die Frauen begingen, als sie ihre Männer unter Thoas töteten, ist es Brauch geworden, in ganz Griechenland alle schrecklichen Untaten “lemnische Taten” zu nennen 458. Und nachdem die Pelasger ihre Kinder und Frauen getötet hatten, trug weder die Erde Frucht, noch brachten die Frauen und die Herden Nachwuchs zur Welt wie vordem.
Angesichts dieser Unfruchtbarkeit suchten die Pelasger Rat beim Orakel von Delphi, das ihnen empfahl, den Athenern Genugtuung zu leisten. Warum es nicht dazu kam, erzählt Herodot als Vorgeschichte zur athenischen Eroberung der Insel, ohne zu erklären, wie die Pelasger das Problem dieser Unfruchtbarkeit schliesslich gelöst haben459. Dass diese Erzählung bei einem Geschichtsschreiber steht, bedeutet, wie bereits gezeigt, noch lange nicht, dass die berichteten Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben460. Dennoch sieht nicht alles darin gänzlich erfunden aus, passt einiges recht gut zu dem, was sich über die Geschichte von Lemnos am Ende der archaischen Zeit vermuten lässt: Da ist die Rede von einer tyrrhenischen Oberschicht, die vielleicht auch Seeräuberei betreibt; daneben gibt es eine griechische oder hellenisierte Bevölkerung, die schlechter gestellt und unzufrieden ist; wir erfahren vom Nebeneinander verschiedener Sprachen – so erhält man den Eindruck, als hätten die Erfinder dieser Geschichte durchaus einen Begriff gehabt von den lemnischen Zuständen rund hundert Jahre vor ihrer Niederschrift461. Die Handlung selbst jedoch, diese eigentliche pelasgische Vesper, wirkt als historischer Bericht nicht besonders überzeugend, weniger ihrer grotesken Grausamkeit wegen (nichts spricht dafür, dass solche Verbrechen im frühen Altertum seltener waren als in besser bezeugten Epochen der europäischen Geschichte), als weil einerseits, wie gezeigt, äusserst unwahrscheinlich ist, dass es jemals einen Bruch in der griechischen Besiedlung der Insel gegeben hat, und zweitens weil auf Anhieb zu erkennen ist, dass mindestens die zweite Hälfte der Geschichte nach dem Muster jener von Hypsipyle und den Frauen von Lemnos erfunden ist. Aus all diesen Gründen hat man immer wieder festgestellt, dass die pelasgische 458 459 460 461
Vgl. Hy-A8. Hdt. 6.139.2–140.2. Vgl. 3.1.4. Weitere Hinweise auf mögliche Spuren wirklicher Erinnerung an die unlängst vergangene lemnische Geschichte bei Gras, Trafics, 617–619.
3. Die Stadt der Frauen
220
Vesper jene Gestalt, in der sie Herodot uns erzählt, in Athen erhalten haben muss und dass sie vor allem dazu dienen sollte, die Eroberung von Lemnos durch Miltiades zu rechtfertigen462. Schon die Führernatur der attischen Knaben nimmt ja die künftige Herrschaft der Athener über die Insel vorweg. Dies braucht noch nicht die ganze Wahrheit zu sein. So wird sich zeigen lassen, dass für den ersten Teil der Erzählung Motive verwendet wurden, die noch in eine andere Richtung deuten. Allein, man sollte sich nicht mit solchen allgemeinen Feststellungen begnügen, sondern die Geschichten von der Mordnacht von Lemnos und von der pelasgischen Vesper einem näheren Vergleich unterziehen. Die Querbeziehungen gehen nämlich bis ins Detail: Mordnacht von Lemnos d′
a b c d
e
e′ Zerwürfnis zwischen lemnischen Männern a′ und Frauen. Die Frauen töten die Männer und ihre b′ Söhne. Unfruchtbarkeit. c′ Die Frauen von Lemnos verbinden sich mit Griechen, die selber freiwillig auf die Insel kommen. Sie haben Kinder.
Pelasgische Vesper Die Männer von Lemnos verbinden sich mit Griechinnen, die sie von auswärts mit Gewalt herbeiholen. Sie haben Kinder. Zerwürfnis zwischen lemnischen und griechischen Kindern. Die Männer töten die Frauen und ihre Söhne. Unfruchtbarkeit.
Die einzelnen Glieder der Erzählkette sind also teilweise gleich, etwa bei e/e′ und auch bei c/c′; denn die Sorge um die fehlenden Nachkommen wird ausdrücklich als Grund genannt, dass die Frauen von Lemnos die Argonauten aufnehmen sol462 So bereits Stein, Herodotos V/VI, 229 und Macan, Herodotos IV/V/VI, 393 (der die Sage im übrigen als Reflex der angeblichen urtümlichen Sitte des Brautraubs deutet), weiter Dumézil, Crime [1924], 10f = [1998] 44, Popov 1980, 206f, Ruschenbusch 1995, 144f; etwas übertrieben wohl Rausch 1999, 12, der die Geschichte „Teil der staatlichen Propaganda Athens“ nennt, offensichtlich ohne sich zu fragen, was der Begriff „staatliche Propaganda“ in einem Gemeinwesen wie dem klassischen Athen überhaupt bedeuten soll. Sourvinou-Inwood 2004 versucht dagegen nachzuweisen, dass diese ‚politische’ Deutung des Mythos moderne Vorurteile projiziert und die Sage im Kern älter ist. Problematisch erscheint mir ihr Anspruch, ihre eigene Deutung könne avoid the danger of culturally determined judgements, and ensure that we do not produce a culturally determined construct which reflects modern concerns (146); gerade das Gewicht, das sie auf die Themen Frau, Heirat und Geschlechterbeziehungen legt, ist nicht weniger von den modern concerns der Forscherin gelenkt als die Zugänge der älteren Historiker. Nach Sourvinou-Inwood, 2004, 162–166 kommen die lemnischen Motive in die Pelasger-Erzählung, weil Lemnos der Hypsipyle-Sage wegen im griechischen Imaginären als Ort für transgressive marriages gelte – mir scheint das nicht wirklich genügend, umso mehr, als damit die Wahrnehmung der Hypsipyle-Sage auf die erste Hälfte verkürzt erscheint. Dass etliche Motive der Pelasger-Erzählung – wie auch Sourvinou-Inwood annimmt – bereits vor dem 5. Jh. in der Mythologie des Heiligtums von Brauron eine Rolle gespielt haben könnten, hat man allerdings längst gesehen, vgl. Meyer, Forschungen, 18f.
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
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len463, und der Bericht von der zweiten Mordnacht hebt deutlich hervor, dass „weder die Erde noch Frucht trug, noch die Frauen und die Herden Nachwuchs zur Welt brachten wie vordem“. Bei anderen Gliedern liegt hingegen eine direkte Umkehrung vor, deutlich bei b/b′, ebenso bei d/d′ wo mit der Rolle der Geschlechter zugleich die Aktionsart der Handlung vertauscht wird. Am merkwürdigsten bleibt aber die Verwandlung des Elementes a/a′. Sie lässt sich nur im Hinblick auf die veränderte Abfolge der Glieder verstehen464: Die Geschichte von der Mordnacht beginnt mit einem Zerwürfnis und endet mit der Vereinigung, während bei der pelasgischen Vesper die umgekehrte Reihenfolge, der Krebs zur Mordnacht vorliegt. In beiden Fällen wurzelt der Konflikt in einem fundamentalen Unterschied zwischen den Akteuren: Bei der Mordnacht geht es um die Differenz zwischen Männern und Frauen, in der andern Erzählung um die zwischen Pelasgern und Athenern. Der Geschlechterdifferenz steht damit der Unterschied zwischen Völkern gegenüber465. Dem griechischen Denken liegen diese Dinge näher beieinander als für uns, hat es doch einen Hang, die Geschlechter als verschiedene Volksgruppen zu betrachten, oder anders gesagt, zwischen Volksgruppe und Geschlecht nicht immer klar zu unterscheiden; bekanntestes Beispiel dafür ist der doppeldeutige Gebrauch des Wortes phylon466. Indem die Elemente der Erzählkette vertauscht werden, wird zugleich die Moral der Geschichte auf den Kopf gestellt: Im Fall der Mordnacht kommt es zum Zerwürfnis zwischen endogamen, d.h. beidseits lemnischen Ehegatten, welches in eine Katastrophe mündet, deren Folge die Unfruchtbarkeit ist. Dieses Problem wird mittels einer exogamen Heirat, mit den Argonauten, gelöst. Demgegenüber erscheint die Geschichte der pelasgischen Vesper als Ausdruck einer nationalistischen Ideologie, die zu beweisen versucht, dass die Exogamie in eine endgültige Katastrophe führt467. 463 Apoll. Rhod. 1.681–696. 464 Bei der Voranstellung von d′ in der pelasgischen Vesper sollte man wohl mitdenken, wie das Zerwürfnis der Gatten vor der Mordnacht in den β-Varianten gerade darin besteht, dass sich die Männer den aus Thrakien herbeigeholten Nebenfrauen zuwenden, vgl. Sourvinou-Inwood 2004, 164: auch unter diesem Blickpunkt ist allerdings eine die oben vorgetragene Deutung stützende Umkehrung am Werk, indem an die Stelle der Barbarinnen, die von Lemniern geraubt werden, von barbarischen Pelasgern entführte Griechinnen treten. 465 Genauso beobachtet auch von Sourvinou-Inwood 2004, 164, die aber darüber hinwegsieht, dass dieses Umspringen des Brennpunkts doch einen Verweis auf den ‚politischen’ Charakter der Pelasgischen Vesper birgt. 466 Vgl. Hom. Il. 2.840 mit 9.130/272, Hes. Theog. 1021 u.a.; ins Tierreich übertragen werden solche Vorstellungen etwa, wenn bei Ael. Nat. Anim. 10.9 das Männchen und das Weibchen der Viper zwei verschiedenen Tierarten zugerechnet werden. Zum Verhältnis der Begriffe Geschlecht, Rasse und Volksstamm im Griechischen Loraux 1981, 90–94. 467 Vgl. Vidal-Naquet 1981, 283f, der vermutet, dass diese Tendenz einen spezifisch attischen Zug darstellt, und als Kontrast eine andere, den lemnischen Überlieferungen nahestehende Geschichte danebenhält, jene von den Nachkommen der Argonauten und der Lemnierinnen, welche durch die Pelasger von der Insel vertrieben und später in Sparta sesshaft wurden, bis sie sich mit den Spartanern überwarfen und, von diesen gefangen gesetzt, nur mithilfe ihrer Frauen freikamen (dies führt dann zur Kolonisation von Thera, vgl. Hdt. 4.145–148, Pind.
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3. Die Stadt der Frauen
Vielleicht verbirgt sich hier ein weiterer Hintergedanke: Ich habe darauf hingewiesen, dass die Geschichte von der pelasgischen Vesper nicht zuletzt dazu erzählt wurde, die athenische Eroberung der Insel zu rechtfertigen, bei der die tyrrhenischen Siedler vertrieben wurden. Damit wird den Pelasgern zum Vorwurf gemacht, was die Athener ihnen selbst angetan hatten, die ethnische Säuberung. Es herrscht also jene Logik der Gewalt, durch welche die Opfer im Nachhinein zu Tätern gestempelt werden468. Dass die Unfruchtbarkeit der Insel in der Geschichte merkwürdig ungelöst bleibt, ist so vielleicht mehr als bloss Folge davon, dass der Zusammenschluss der Motive aus der Geschichte von der lemnischen Mordnacht mit dem Thema der Eroberung der Insel nicht völlig geglückt ist: Sie bärge nämlich einer jener Sprachfehler, in denen sich die heimlichen Wünsche der Sprecher Ausdruck verschaffen, etwa, die Pelasger möchten aufgehört haben, sich fortzupflanzen und auf natürliche Weise ausgestorben sein; denn das hätte den Athenern die üble Erinnerung an ihre Austreibung erspart, deren Verhüllung und Beschwichtigung die Sage von der pelasgischen Vesper dient469. Das Gewicht welches diese Erzählung dem Thema der Heiratsverbindung zumisst, tritt noch deutlicher hervor, wenn man sie neben eine andere Überlieferung hält: hymenaios ist die griechische Bezeichnung für das Hochzeitslied oder die Hochzeit überhaupt, und dieser Ausdruck, der den Griechen selbst so wenig durchsichtig war wie den modernen Sprachforschern, wurde mit verschiedenen Geschichten erklärt. Nach einer davon war Hymenaios ein Jüngling aus Athen. Als einst eine Bande pelasgischer Räuber athenische Mädchen entführte – nach gewissen Berichten von einem Götterfest –, soll dieser Hymenaios die Verfolgung aufgenommen und seine jungen Mitbürgerinnen heimgeführt haben470. Das ist dem Anfang unserer Geschichte so ähnlich, dass ein direkter Zusammen-
Pyth. 4.249–262; die Geschichte wurde oft nacherzählt, vgl. Apoll. Rhod. 4.1755–1764, Schol. Pind. Pyth. 4.88b [= Hy-C1a], Val. Max. 4.6. ext.3, Plut. Mor. 247a–e, 296b–d, Polyain. Strat. 7.49). Eine eingehende Untersuchung der Analogien zwischen dieser Erzählung und den lemnischen Sagen ist im vorliegenden Rahmen leider nicht möglich, vgl. Dumézil, Crime [1924], 51–53 = [1998], 88–90, Calame, Mythe, 128–130. 468 Auch in der eben zitierten Erzählung von den Nachkommen der Argonauten (vgl. oben n. 467) wird den Pelasgern die Vertreibung dieser früheren griechischen Bevölkerung zugeschrieben, vgl. Hdt. 4.145.2. 469 Zu den Problemen dieses Schlusses der Erzählung ausführlich Sourvinou-Inwood 2004, 167– 173; diesen Teil hält auch sie für einen erst nach der athenischen Eroberung von Lemnos erfundenen Zusatz. 470 Don. Ter. Ad. 5.7.6, Serv. Verg. Aen. 1.651, Prokl. Chr. 64 Severyns (= Phot. Bibl. 239 [321a22–24]), Tzetz. Chil. 13.593–597; nach Schol. Hom. Il. 18.493 kam er aus Argos (ebenso Eusth. Hom. Il. 18.493 [1157.21–23]). Das Götterfest erscheint in der reich ausgeschmückten Erzählung bei Serv. Verg. Aen. 4.99 [SD], Lact. Plac. Stat. Theb. 3.283, und zwar als Feier für Ceres in Eleusis. Zur diesen Nachrichten Schmidt, De Hymenaeo, 12–15, Severyns, Recherches, 199f, Sourvinou-Inwood 2004, 142f, 155f, 167; zur schwierigen Etymologie von ὑµέναιος Chantraine, 1156. Das Erzählmotiv, dass Frauen von ihrer Versammlung zu einem Frauenfest geraubt werden, spielt auch Hdt. 6.16.2 eine Rolle; Weiteres bei Sourvinou-Inwood 2004, 151f.
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
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hang bestehen muss – vielleicht dass bei der Erfindung der pelasgischen Vesper auch auf die Sage von Hymenaios zurückgegriffen wurde. In denselben Bereich führen weitere Motive, welche die Mordnacht von Lemnos und die pelasgische Vesper enger verbinden. So fällt etwa auf, dass die Pelasger ihre Nebenfrauen ausgerechnet von Brauron rauben: In diesem Heiligtum der Artemis bereitete sich ein Teil der athenischen Töchter auf die Heirat vor, wobei zu den Ritualen auch eine Art Tanz gehörte, bei dem sie die Rolle von ‚Bärinnen’ spielten. Die Pelasger finden also auf Brauron genau, was sie suchen. Eine spätere Quelle präzisiert denn auch, dass die geraubten Mädchen solche ‚Bärinnen’ gewesen seien471. Weiter gab es eine Überlieferung, nach der Brauron der Ort war, wo Iphigenie bei ihrer Rückkehr von Tauris mit dem Xoanon der Artemis an Land ging, wo sie später Priesterin wurde und ihr Grab liegt472. Das erinnert unmittelbar daran, wie sich der aus Lemnos vertriebene Thoas in den Schutz der taurischen Artemis rettet (Hy-C4, Hy-C6), jedoch auch an ein paar seltsame Hinweise am Rande unserer lemnischen Überlieferungen: In den Lemniai des Aristophanes wurde genau dieser Name erwähnt, den die Mädchen von Brauron im Kult trugen, arktoi, Bärinnen473, und derselbe Ausdruck begegnete auch in der Hypsipyle des Euripides474. Da wir nicht das Geringste über den Kontext wissen, in dem das 471 So Philoch. FGrHist 328 F 100 = Schol. Lukian. Kat. 19. Nach einem anderen Zeugnis nannte derselbe Autor sie κανηφόρους παρѳένους, d.h. Mädchen, die in der Prozession den heiligen Korb tragen (Philoch. FGrHist 328 F 101 = Schol. Hom. Il. 1.594). Gelegentlich heisst es, der Dienst als κανηφόρος für Artemis sei Mädchen vorbehalten, die unmittelbar vor der Heirat stehen (Schol. Theokr. 2.66a/b, vgl. auch NP 6 (1999) 245 s.v. Kanephoroi [F. Graf]); die beiden Zeugnisse deuten also in dieselbe Richtung, vgl. Sourvinou-Inwood 2004, 144f und 154f. Zu Heiligtum und Kult in Brauron vgl. Müller, Griechenland, 639–641, Travlos, Attika, 55–80, NP 2 (1997) 762–764 s.v. Brauron [H. Lohmann] und die neueren Forschungen bei Gentili/Perusino, Orse, Ekroth 2003, Faraone 2003, der die übliche Deutung des brauronischen Kultes als Initiationsritual in Frage stellt. 472 Zur Landung bei Brauron Paus. 1.33.1, vgl. 3.16.7f, 8.46.3; zu Iphigenies Priestertum und Grab Eur. Iph. Taur. 1462–1464, vgl. Euphor. Frg. 91 Powell = 95 Van Groningen (= Nonn. Dion. 13.186); die Opferung der Iphigenie wird nach Brauron statt nach Aulis verlegt von Schol. Aristoph. Lys. 645. Auf einem Relief von Brauron wird eine Darstellung der Iphigenie vermutet, und Reste einer architektonisch ausgebauten Höhle in Brauron hält man gewöhnlich für ihr Grab, vgl. zu beidem Themelis 2002, 109–112. Begründete Zweifel an der Identifikation dieses Iphigeniengrabs bei Ekroth 2003, 69–94, und zum Relief 72 mit n. 66. Ekroth schiesst indessen wohl übers Ziel hinaus, wenn sie (bes. 94–101) die Verbindung der Heroine mit Brauron überhaupt erst für eine Erfindung des Eur. hält. Deutlich überschätzt sie vor allem das Gewicht der Tatsache, dass Eur. die Verbindung für uns als erster erwähnt – bei der Spärlichkeit unserer Quellen lässt sich ex silentio nicht argumentieren; und dass Eur. neben dem Mythos auch den Kultbrauch, in Brauron die Gewänder der im Kindbett gestorbenen Mädchen zu weihen, frei erfunden haben soll (Eur. Iph. Taur. 1464–1467), ist kaum glaubhaft – hinter einer solchen Annahme steht ein grundsätzliches Missverständnis, sowohl was das Verhältnis von Theater und Publikum betrifft, wie dessen, was ‚erfinden’ für einen Dichter dieser Zeit heisst. Auch dass der von Eur. geschilderte brauronische Kultbrauch nirgends direkte Parallelen zu haben scheint, spricht deshalb (gegen Ekroth 2003, 94–97) eher für als gegen Echtheit der Nachricht (woher sollte der Autor denn sonst die Idee haben?). 473 Aristoph. Frg. 386, vgl. Hy-A7. 474 Eur. Frg. 767, vgl. Hy-A6.
3. Die Stadt der Frauen
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Wort vorkam, lassen sich daraus keinerlei Schlüsse ziehen475. Ich habe indessen bereits auf jenes Zeugnis hingewiesen, nach dem sich unter den Geschwistern des Thoas auch ein oder eine Tauropolis befand, ein Name, der auffällig an den Beinamen der Artemis Tauropolos anklingt476. Damit bildet sich ein Netz von Bezügen zu der für die lemnischen Kulte so wichtigen Artemis. Die Geschichte von der pelasgischen Vesper gibt diesen ein höheres Profil, indem sie nicht mehr nur in Anspielungen am Rand der Geschichte erscheinen, sondern eine Kultstätte der Göttin zum Schauplatz eines Teils der Handlung wird. Allerdings bleibt dieser immer noch ausserhalb der Insel und erhält, wie wohl auch bei Euripides und Aristophanes, mit dem Namen Brauron eine ausgesprochen attische Färbung. Übersehen wir schliesslich nicht, dass wir damit am Ausgangspunkt der Geschichte von der pelasgischen Vesper Motive wiederfinden, die bei den Römern (Hy-C4, Hy-C6) am Ende der Mordnacht stehen – ein weiterer Hinweis auf jenes Krebsverhältnis, das die beiden Geschichten verbindet477. Noch merkwürdiger ist, dass sich die um Artemis gelagerten Motive in den beiden Geschichten Punkt für Punkt im Umkehrsinn parallel lesen lassen: Mordnacht von Lemnos Die Tochter (= blutsverwandte Frau aus der folgenden Generation) bringt einen Mann übers Meer zu Artemis hin in einem einsamen Gefährt und zwar zu seiner Rettung (= wohlwollende Handlung mit Blick auf die Zukunft)
Pelasgische Vesper Ehemänner (= nicht blutsverwandte Männer aus der gleichen Generation) bringen viele Frauen übers Meer von Artemis weg auf bemannten Schiffen und zwar aus Rache (= übelwollende Handlung mit Blick auf die Vergangenheit)
Hier zeigt sich, dass die Geschichte von Hypsipyle eine Beziehung der Solidarität zwischen den Generationen definiert, während bei der pelasgischen Vesper dieses Element verschwindet und nicht mehr von der Deszendenz sondern nur noch von der Allianz die Rede ist. Diese Umkehrung der erzählerischen Achse kündigt von Beginn weg an, dass die Geschichte mit der Unfruchtbarkeit und der endgültigen Katastrophe der pelasgischen Gesellschaft enden wird. 475 Zu diesen Stellen auch Martin 1987, 104. Die noch von Salottolo 1997–98, 389f und Sourvinou-Inwood 2004, 145 vertretene Meinung, in Eur. Hyps. müsse deshalb die pelasgische Vesper vorgekommen sein, ist haltlos; es genügt – etwa in einem Chorlied – ein allgemeines Eingehen auf die Thematik des Artemiskultes, um einen solchen Gedankensprung nach Brauron zu ermöglichen; vgl. auch Görschen 1969, 9. 476 Schol. Ap. Rhod. 3.997–1004a, vgl. 3.3.3.a. Dem Kult der Artemis Tauropolos diente allerdings ein anderes Heiligtum in Halai, unweit von Brauron (vgl. etwa Strab. 9.1.22), doch brachte schon Eur. beides in Verbindung, vgl. Eur. Iph. Taur. 1449–1466, ausserdem Graf 1979, Travlos, Attika, 211–215, Cropp, Iphigenia, 53–55. 477 Dies könnte auch ein Argument dafür sein, dass Hy-C6 und Hy-C4 in einzelnen Punkten doch auf Quellen beruhen, die wir nicht mehr kennen.
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
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Fassen wir die bisherigen Beobachtungen zusammen, bevor wir weiter gehen: Ich habe versucht, das Verhältnis der Geschichte vom Verbrechen der Lemnierinnen zu zwei anderen Erzählkomplexen zu untersuchen, nämlich zu den Aussetzungserzählungen und der Sage von der pelasgischen Vesper. Bei dieser zweiten liegt es aufgrund ihrer gesamten Sinnrichtung nahe zu denken, dass sie nach dem Vorbild des Hypsipyle-Mythos ausgestaltet wurde, und zwar in Athen, zur Zeit der Eroberung der Insel am Anfang des 5. Jh.s. Schwieriger ist das Verhältnis der lemnischen Sage zu den ersteren. Die oben vorgelegten Beispiele sollten indessen gezeigt haben, dass das griechische Material allein nicht ausreicht, die Besonderheiten der lemnischen Geschichten zu erhellen, dass man dazu vielmehr auf solches aus dem Alten Orient zurückgreifen muss. Damit stellt sich die Frage nach dem Zeitpunkt, an dem ein derartiger Austausch von Erzählmustern als wahrscheinlich anzusehen ist. Man muss ihn sicher in eine Periode setzen, als der kulturelle Verkehr zwischen Griechenland und dem nahöstlichen Raum eng war, doch heisst gerade dies, dass die sich anbietende Spanne ziemlich weit wird. Gut bekannt ist zwar vor allem die orientalisierende Epoche um 700, von welcher die Forschung der letzten Jahrzehnte deutlich gemacht hat, wie wichtig sie gerade für die Entwicklung der mythischen Vorstellungswelt des archaischen Griechentums gewesen ist, doch reichen die engen Kontakte nach Osten bis in die Bronzezeit zurück und haben auch später niemals aufgehört478. Vielleicht kann man trotzdem eine Hypothese wagen: Ich habe darauf hingewiesen, wie dicht die Parallelen des lemnischen Mythos vor allem zur Mosessage sind, welche sich ihrerseits bis ins Detail mit dem Text über die Geburt des Sargon deckt. Dies wird besonders auffällig, wenn man die Chronologie der Überlieferung betrachtet: Man kann den Sargontext wohl in die Zeit Sargons II von Assyrien setzen, (721–705), der schon mit seinem Namen an den grossen König der Vorzeit anzuknüpfen suchte479. Die Textredaktion des biblischen Buches Exodus, gerade in den die Moseserzählung betreffenden Abschnitten, setzt man nun aber gemeinhin in die Jahre kurz nach 721, also etwa in die gleiche Zeit wie den Sargontext480. Dieses Zusammenfallen muss man natürlich vorsichtig werten: Weder die eine noch die andere Geschichte dürften gerade im Moment der Niederschrift erfunden worden sein; bemerkenswert ist eher, dass man beide zur selben Zeit würdig befand, schriftlich weitergegeben zu werden – 478 Vgl. zum Einfluss des Nahen Ostens in archaischer Zeit die klassische Analyse von Burkert, Epoche; reiches Material auch bei West, EFH, der 625 eine erste Blüte der Beziehungen schon zwischen dem 15. und 13. Jh. annimmt, als die mykenischen Griechen in engem Kontakt mit Ägypten und den Staaten der Levante standen, und dann wieder um 1100, wenn die griechische Besiedlung Zyperns und der südanatolischen Küste einsetzt. 479 Dass die Analogie zwischen Sargon- und Mosestext bis ins Detail geht, betont Propp, Exodus, 155f: So ist etwa die Mutter des Sargon Priesterin, während jene des Moses dem Stamm Levi, der künftigen Priesterkaste angehört, die Väter sind in beiden Geschichten inaktiv oder abwesend usw.; zur Datierung des Sargontextes auch Foster, Muses, 803f. 480 Zur Redaktion von Ex. vgl. Propp, Exodus, 49f, der 158 einen direkten Zusammenhang von Moses- und Sargonerzählung erwägt; ausserdem ordnet er 145f die Mosesgeschichte der jahwistischen Quelle zu (ähnlich Coats, Exodus, 27), doch ist diese Frage umstritten.
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3. Die Stadt der Frauen
gerade eine solche Geschichte und nicht eine andere von den vielen, die es auch gegeben haben dürfte (vergessen wir nie, wie bruchstückhaft unsere Überlieferung ist). Nun habe ich bereits gezeigt, dass von den beiden Hauptzweigen der Sage von der Mordnacht von Lemnos in der Ilias jener vorausgesetzt scheint, in dem Thoas und Hypsipyle besonders hervortraten, und damit wahrscheinlich auch die Rettung des Thoas. Da die Gesänge der Ilias in der ersten Hälfte des 7. Jh.s ihre endgültige Gestalt gewannen, heisst das, dass auch die Sage von der Rettung des Thoas bereits um 700 bekannt gewesen sein müsste – wir kommen also wieder in auffallende zeitliche Nähe zu den beiden anderen Geschichten. Dass der Einbau des Motivs in seiner jetzigen Gestalt in die lemnische Mythologie also doch in die orientalisierende Epoche fällt, ist damit zumindest nicht unwahrscheinlich. Ich erlaube mir, hier eine Spekulation anzuschliessen, die zwar weit über das Belegbare hinausschiesst, im Grundsätzlichen indessen lehrreich ist. Die SargonGeschichte ist uns in Gestalt eines eigentlichen Schultextes überliefert, war also wohl Bestandteil der Herrscherpropaganda des neuassyrischen Reiches. Damit ergibt sich für die Redaktoren des Exodus-Buches eine durchsichtige Motivation, die Geschichte von Moses’ Aussetzung in das Bild aufzunehmen, das sie vom ersten Führer des Volkes Israel zeichnen wollten: Dieser rückt damit in eine Reihe mit grossen Herrschern der Vorzeit wie Sargon von Akkad481. Die lemnische Geschichte, wo in der schwimmenden Kiste statt des noch kindlichen Herrschers der Zukunft ein vorgestriger Greis vor einer Horde wildgewordener Weiber in Sicherheit gebracht wird, wirkt daneben seltsam grotesk. Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, dass dies vielleicht tatsächlich genau so gemeint war: als parodistische Umkehrung von etwas, das anderswo ernsthaft erzählt wurde – denn Elemente der verkehrten Welt, von Travestie und Karneval, fänden wir damit nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal im Umkreis der Mordnacht von Lemnos. 3.4.5. Die Töchter des Danaos Die Geschichte von der pelasgischen Vesper ist indessen nicht die einzige, welche dem Mythos von Hypsipyle ähnelt. Schon die Griechen selbst verglichen diesen gelegentlich mit der Sage von den Danaiden482. Auch diese Geschichte war berühmt, ja ebenso sprichwörtlich wie die von Lemnos483: Es gab ein archaisches 481 Diesen Aspekt von Herrschermythologie der Mosessage betont Propp, Exodus, 155–158. 482 Eur. Hek. 886f, Lukian. Dial. Meretr. 13.4 und Schol. ad loc. Zu den Analogien zwischen Lemnierinnen und Danaiden auch Dumézil, Crime, [1924] 48–51 = [1998] 84–87, Burkert 1970, 12, Graf, Eleusis, 116, Auffarth 1999, 43f, Sourvinou-Inwood 2004, 163, ausserdem Moreau 1985, 71–75, dessen Versuch, auch das Motiv der dysodia auf die Danaiden zu übertragen, jeder Grundlage entbehrt. Die Geschichte hat zahlreiche Nachfolgerinnen in neuzeitlichen Märchen und Sagen vgl. EdM 2 (1979) 887–902 s.v. Brüder suchen Schwestern [U. Masing], ausserdem Bonner 1900 und 1902, 149–154, Megas 1933. 483 Man beachte den ziemlich genau den Λήµνια κακά entsprechenden Ausdruck Λέρνη κακῶν („ein ganzes Lerna voller Unheil“) u.ä., vgl. Strab. 8.6.8, Diogenian. 6.7, Zenob. 4.86,
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
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Epos darüber, die Danais, und später unter anderem eine tragische Tetralogie des Aischylos, aus der uns eines der Stücke erhalten ist, die Hiketiden. So würde es den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, sämtliche Varianten einzeln zu besprechen484. Der Ablauf der Handlung ist in den Grundzügen bekannt: Danaos und Aigyptos stritten sich um die Herrschaft über Ägypten. Am Ende erbaute Danaos ein Schiff und flüchtete mit seinen Töchtern nach Argos. Die Söhne des Aigyptos verfolgten ihre Cousinen nach Argos und wollten sie dort zur Heirat zu zwingen. Danaos musste schliesslich dem Wunsch der Neffen willfahren, doch er stiftete seine Töchter dazu an, in der Hochzeitsnacht die Bräutigame zu erstechen. Alle gehorchten ihm, bis auf Hypermestra, die dem Lynkeus zur Flucht verhalf, nach den meisten Berichten, weil er in jener Nacht ihre Jungfräulichkeit nicht antastete. Danaos liess sie diesem Ungehorsam zufolge einsperren und vor Gericht bringen, doch dank der Fürsprache der Aphrodite sprach man sie frei. Um für seine Töchter andere Ehemänner zu finden, veranstaltete Danaos später einen sportlichen Agon, einen Wettlauf, in dem jeder Läufer eine der Danaiden als Siegespreis gewinnen konnte. Von den Ergänzungen, die sich in abweichenden Varianten unserer Überlieferung finden, will ich bloss drei anführen: 1) Für die Entzweiung von Danaos und Aigyptos werden verschiedene Ursachen genannt, meist ein Streit um die Herrschaft über Ägypten485, doch gibt es darüber hinaus vereinzelt Hinweise, dass Aigyptos schon daheim die Danaiden für seine Söhne gefordert hat und Danaos genau davor flieht486. 2) Warum der Vater indessen so abgeneigt war, seine Töchter zu verheiraten, berichten die meisten Erzähler erst später: Er hatte durch ein Orakel erfahren, dass sein Schwiegersohn ihn töten werde487. Daran knüpft sich ein zweiter Punkt: Nach
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Apostol. 10.57, Greg. Cypr. 4.23; Hesych., Phot., Suid. s.v. Λέρνη ѳεατῶν (Kratin. Frg. 392), Hesych. s.v. Λερναία χολή, vgl. Dumézil, Crime, [1924] 49 = [1998] 85. Wichtige Quellen für die Sage sind Pind. Pyth. 9.112–16, Aischyl. PV 853–69, Schol. Hom. Il. 4.171c, Hor. Carm. 3.11.25–52, Ov. Her. 14, Apollod. 2.1.4, Hyg. Fab. 168 u.a.; die wichtigste ältere Arbeit Bonner 1902, dort zu den Quellen 129–137, weiteres RE 4 (1900–01) 2087–2091 s.v. Danaïdes und 2094–2098 s.v. Danaos [O. Waser], Gantz, EGM 203–208, Garvie, Aeschylus’ Supplices, 163–174, Keuls, Water Carriers, 47–51, 61f, Friis Johansen/Whittle, Suppliants I, 44–50; zu den Bildquellen LIMC 3 (1986) s.v. Danaïdes, 337–341, bes. 338f (zu Nrr 5f) [E. Keuls]; zum Verständnis Auffarth 1999, Brillante 2004; Bachofen, Mutterrecht, 92–95 = Werke 2, 280–287 sah auch in dieser Geschichte den Übergang vom Mutterrecht zur Herrschaft der Männer gespiegelt (vgl. Bonner 1902, 145), eine Deutung, die etwa noch bei Pestalozza 1956 weitgehend ungebrochen übernommen wird; eine spekulative ritualistische Deutung bei Dowden, Death, 157–161. So etwa Apollod. 2.1.4. Hyg. Fab. 168.1, Lact. Plac. Stat. Theb. 2.222. Schol. Hom. Il. 1.42, Schol. Aischyl. Prom. 853, Schol. Eur. Or. 872 u.a.; vgl. Bonner 1902, 130f, 159 und sehr ausführlich Sicherl 1986, Rösler 1993, 4–7; die Rolle des Danaos als Anstifter hebt auch Graf, Eleusis, 117 hervor. Weiteres unten p. 233 mit n. 505.
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3. Die Stadt der Frauen
einigen Berichten kehrt Lynkeus später zurück und rächt seine Brüder, indem er Danaos und seine mörderischen Töchter umbringt488. 3) Als dritte Besonderheit erhalten wir Hinweise, dass die Danaiden eine Art Kriegerjungfrauen gewesen seien489. Auch dies legt den Gedanken nahe, dass ihr Erzeuger vielleicht gar nicht daran gedacht hat, sie je zu verheiraten490. Es gibt nun eine ganze Reihe von offenkundigen Analogien zwischen der Geschichte von den Danaiden und jener von Hypsipyle: Da ist eine Gruppe von Frauen im Streit mit ihren Männern (a), was darauf hinausläuft, dass sie jene töten (b); nur eine rettet einen der Männer und verhilft ihm zur Flucht (c). Es folgt eine Zwischenperiode, in der die Frauen allein sind, und an deren Ende sie mit neuen Männern vermählt werden (d). In diesem letzten Punkt gehen die Ähnlichkeiten bis ins Einzelne: Auch auf Lemnos erhalten wir ja Nachrichten über einen sportlichen Agon bei der Ankunft der Argonauten, und auch dort gehörte ein Wettlauf dazu491. Ein weiteres Motiv, das die Sagen verbindet, ist jenes der Ankunft mit dem Schiff (e), wobei in beiden Fällen gewisse Quellen behaupten, vom ersten Schiff überhaupt zu erzählen, nämlich bei der Argo und bei dem, womit die Danaiden fliehen492. Auch die Söhne des Aigyptos kommen natürlich zu Schiff ins Land. Damit bezieht sich dieses Motiv allerdings bei den Danaiden auf die ersten Ehegatten, bei den Lemnierinnen auf die zweiten493. Betrachtet man bloss die Abfolge der wichtigsten Motive, so scheint sich damit die Danaidensage unmittelbar neben die pelasgische Vesper zu stellen, wo auch die Verbindung mit den Männern von jenseits des Wassers vor der Mord488 Schol. Eur. Hek. 886, Serv. Verg. Aen. 10.497 [SD]. 489 Danais Frg. 1, Melanipp. Frg. 757 Page. 490 Zu den amazonenhaften Zügen der Danaiden ausführlich Moreau 1985, 62–68, und Moreau, Eschyle, 195–202, ausserdem Graf, Eleusis, 116 mit n. 9, Keuls, Water Carriers, 49, Detienne 1988, 163. 491 Vgl. 3.3.2.a und 3.3.3.b; auch Ikarios soll (nach Paus. 3.12.1, 3.13.6) unter den Freiern der Penelope einen Wettlauf veranstaltet haben, den Odysseus gewann, vgl. Dowden, Death, 161. Als späte Zutat versuchte noch Bonner 1902, 160–164 diesen Teil des Mythos zu erweisen – gegen die Belege dafür schon in unseren ältesten Quellen; vgl. auch Moreau, Eschyle, 300f. 492 Die Argo gilt als das erste Schiff bei Catull. 64.11, Ov. Am. 2.11.1f, Stat. Ach. 1.64f, Schol. Arat. 342, Apostol. 3.60c, vgl. auch Diod. 4.41.1; das Schiff des Danaos soll das erste überhaupt oder doch der erste 50-Ruderer gewesen sein nach Apollod. 2.1.4, Schol. Hom. Il. 1.42c, Schol. Aischyl. Prom. 853; die beiden Überlieferungen wurden schon in der Antike miteinander in Beziehung gesetzt, vgl. Phaedr. 4.7.6–20, Plin. Nat. 7.206f, Schol. Eur. Med. 1, Schol. Apoll. Rhod. 1.1–4e, Schol. Strozz. German. Arat. 347–55 (172f Breysig). Zum Schiff der Danaiden auch Auffarth 1999, 46f, der darin einen Verweis auf mögliche Bezüge dieses Mythos zum westsemitischen Raum sieht. 493 Eine weitere Querverbindung entsteht dadurch, dass Polyxo, die alte Amme, die bei Apoll. Rhod. 1.667–696 den Lemnierinnen zur Aufnahme der Argonauten rät (ebenso Val. Fl. 2.316–325), denselben Namen trägt wie nach gewissen Überlieferungen die Najade Polyxo, welche die Mutter von 12 der Danaiden ist, vgl. Apollod. 2.1.5. Bei Stat. Theb. 5.90–142, 326–329 erscheint Polyxo dann als Hauptanstifterin für die Mordnacht – gibt es hier einen Zusammenhang? Der Name Polyxo begegnet bei mythologischen Frauengestalten allerdings ab und zu, vgl. RML 3.2 (1902–09) 2745–2747 s.v. Polyxo 1)–8) [O. Höfer].
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
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nacht stattfindet. Genauer könnte man sagen, es gebe in allen drei Geschichten zwei Motive, die in ihrer Abfolge unverändert bleiben (den Zwist (a), welcher der Mordnacht (b) vorangeht), während das dritte, die Verbindung mit den von jenseits des Wassers ankommenden Männern (e), durch sämtliche möglichen Positionen hindurchwandert: Pelasger Danaiden Lemnos
e–a–b a–e–b a–b–e
Jenseits solcher Parallelen, welche die Geschichte als Ganze betreffen, gibt es Entsprechungen bei einzelnen Gliedern der Sequenz. So entschliessen sich weder die Danaiden noch die Lemnierinnen aus eigenem Antrieb, ihre Ehemänner zu töten. Die Danaiden werden vielmehr von ihrem Vater angestiftet, die Lemnierinnen von Aphrodite. Doch die Gestalt der Aphrodite ist auch in der Danaidensage gegenwärtig: Sie ist es, welche die einzige Frau beschützt, welche an der Mordtat nicht teilgenommen hat494. Ebenso finden wir auch in Lemnos die Gestalt des Vaters: Er ist es, der von der einzigen Frau beschützt wird, die sich von der Mordtat ferngehalten hat. Auch dies ist eine jener doppelten, sich gegenseitig ergänzenden Umkehrungen, die so oft das Verhältnis zweier Mythen bestimmen495: Anstiftung der Mörderinnen Schutz der Nichtmörderin
Lemnos Aphrodite Vater (Objekt)
Argos Vater Aphrodite (Subjekt)
Die Geschichte von den Danaiden war in Argos an zahlreiche Besonderheiten von Landschaft, Heiligtümern und Kulten geknüpft, die ich hier nicht im Einzelnen verfolgen will496. Indessen gibt es eine andere Merkwürdigkeit, in der sich die Danaidensage mit der Mordnacht von Lemnos trifft. Ich habe gezeigt, wie sich der Mythos von Hypsipyle in der Sage von der pelasgischen Vesper einen Doppelgänger erzeugt hat, den die erzählende Weltordnung der Griechen in die nahe, geschichtlich erinnerte Vergangenheit verlegte. Dieselbe Wirkung scheint die Danaidensage in Argos gehabt zu haben. Wir hören Folgendes497: Als der Spartaner494 Zu diesem Aspekt der Geschichte Pirenne-Delforge, Aphrodite, 424–426. 495 Weniger sicher bleibt die Parallele in einem bemerkenswerten Detail: Bei den Danaiden ist es ein fest etabliertes Motiv, dass sie ihren Männern die Köpfe abschlagen, bald um sie im See von Lerna zu versenken (Zenob. 4.86, Apostol.10.57, Hesych. s.v. Λερναία χολή; zu einem möglichen rituellen Hintergrund unten 3.5.2), bald um sie dem Vater zum Beweis ihrer Tat vorzuweisen (Paus. 2.24.2); in Hy-A6a wollen die Lemnierinnen Hypsipyle bestrafen, weil sie „das graue Haupt des Vaters nicht abschlug“ – es bleibt unklar, ob das einfach ein anderer Ausdruck für töten ist, oder hier ein der Danaidenlegende analoges Motiv hereinspielt; immerhin scheint dasselbe bei Stat. Theb. 5.236–239 wiederaufgenommen, wo es genau der Anblick ist, wie Alcimede ihren eigenen Vater enthauptet, der Hypsipyle zur Rettung des Thoas bewegt; vgl. Bond, Hypsipyle, 129f, Jouan/Van Looy, Euripide VIII.3, 213 n. 84. 496 Paus. 2.19.3–7, 2.20.7, 2.21.1, 2.24.2, 2.25.4, 2.37.2, 2.38.4; vgl. Bonner 1902, 142–148, 155–158, Piérart 1992, Marchetti 1993, Auffarth 1999, 43–45. 497 Plut. Mor. 223bf, 245c–f (= Telesill. Test. 3 Campbell = Socr. Arg. FGrHist 310 F 6), Paus. 2.20.8f (= Telesill. Test. 4 Campbell), Polyain. Strat. 8.33; vgl. Hdt. 6.76–83. Zum Ganzen
230
3. Die Stadt der Frauen
könig Kleomenes in den ersten Jahren des 5. Jh.s seinen grossen Feldzug zur Niederwerfung von Argos führte, besiegte er die Argiver in der entscheidenden Schlacht von Sepeia, schloss deren Heer in einem heiligen Hain ein und liess dort die Männer zum Teil niedermachen, zum Teil mit dem Gehölz verbrennen. Darauf versammelte die Dichterin Telesilla die Frauen von Argos. Diese bewaffneten sich, zogen zum Kampf gegen die Spartaner und wehrten sie von der Stadt ab. Als Ersatz für die Gefallenen vermählten sie sich später mit Männern aus dem Kreis ihrer Hintersässen. An der Geschichtlichkeit der einzelnen Elemente dieser Sage, etwa ihrer Hauptpersonen, des Königs, der Dichterin oder der Schlacht von Sepeia, kann sowenig ein Zweifel sein wie an jener der pelasgischen, d.h. tyrrhenischen Bevölkerung von Lemnos. Allerdings scheint einiges chronologisch nicht ganz zusammenzupassen498, und vor allem erkennen wir hier das Grundmuster dieser ganzen Gruppe von mythischen Geschichten wieder, wobei sich lemnische Motive mit solchen der Amazonensagen mischen: Tod der Männer, eine Zeit, in der die Frauen die Stadt und damit deren Rolle übernehmen (ich erinnere an die Darstellung der Danaiden als Kriegerjungfrauen), am Ende die Verbindung mit neuen Männern. Daneben stehen allerdings gewichtige Umkehrungen: Der Zwist, in dem die Männer den Tod finden, ist aus dem Innersten der Gemeinschaft an ihre äussersten Grenzen gewendet, und entsprechend ist das Verhalten der Frauen nun nicht mehr eine Bedrohung der Stadt sondern ein Beitrag zu ihrer Rettung. Eine weitere Umkehrung erzeugt ein Motiv, dessen Bedeutung sich erst noch zeigen wird: Während in den anderen Sagen die Männer vom Wasser her auftreten, verschwinden sie hier im Feuer. Welche Rolle das Feuer gerade für das Verständnis der lemnischen Mythologie spielt, werden wir noch genauer betrachten müssen499. Wenn damit die argivische Danaidensage und der lemnische Mythos von Hypsipyle inhaltlich in enge Verwandtschaft rücken, so scheint sich ein Kreis zum zweiten Mal zu schliessen, auf den ich schon einmal hinzuweisen hatte: Wie immer es mit den Quellen stehen mag, aus denen Euripides den Stoff für sein Schauspiel über die nemeische Hypsipyle abgeleitet hat – das Tal von Nemea liegt gleich nördlich von Argos, und gehörte seit der Mitte des 5. Jh.s zu dessen Herrschaftsbereich. War dem Tragiker, für den Nemea und Argos eng zusammengehören500, daran gelegen, seine Hypsipyle in eine Gegend zu bringen, wo sie auf ihr verwandte Gestalten treffen konnte? RE 5 (1934) s.v. Telesilla, 385 [P. Maas], Van Compernolle 1975, 362f, Vidal-Naquet 1981, 273–275, Graf 1984, 246–250, Loraux, Expériences, 279–282, Campbell, Lyric IV, 70–77, Pirenne-Delforge, Aphrodite, 154–160, Auffarth 1997 und 1999, 43, Sauzeau 1999; zum Zusammenhang mit dem Fest der Hybristika unten 3.5.2. Mit den Danaiden zusammengestellt wurde die Episode schon von Clem. Alex. Strom. 4.19.120.3f; zum Verhältnis der beiden Sagen auch Thomson, Aeschylus, 286. 498 Vgl. Graf 1984, 246–248; Wilamowitz, Textgeschichte, 76–80 hielt den Vorfall noch für historisch; interessantere Vermutungen zum Hintergrund bei Herzog 1912, 17–22. 499 Vgl. unten 3.5. 500 Vgl. Eur. Hyps. 46–48.
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
231
3.4.6. Vor Sonnenaufgang Der Vergleich der bisher behandelten Mythen liesse sich gewiss vertiefen. An dieser Stelle ziehe ich es vor, eine letzte Geschichte einzuführen, nicht einen griechischen Mythos, sondern einen Text aus den Tontafelarchiven des Hethiterreichs in Anatolien. Diese haben ja auch zahlreiche Stücke mythologischen oder mindestens sagenhaften Charakters bewahrt. Unsere Geschichte muss aus der ersten Zeit des Reiches stammen, etwa von der Mitte des 2. Jt.s; sie verläuft wie folgt501: Die Königin der Stadt Kaneš im inneren Anatolien hatte in einem und demselben Jahr dreissig Söhne geboren. Da sprach sie: “Was ist das für eine Horde, die ich in die Welt gesetzt habe!” legte die Knaben in verpichte Körbe und setzte sie auf dem Fluss aus. Das Wasser trug sie hinunter nach Zalpuwa in der Nähe des Schwarzen Meeres, wo die Götter sie retteten und aufzogen. Nach einigen Jahren gebar dieselbe Königin dreissig Mädchen; diese behielt sie bei sich und zog sie auf. Wieder etliche Jahre später kamen die unterdessen herangewachsenen Knaben von Zalpuwa zurück nach Kaneš und im Gespräch mit den Bewohnern der Stadt erfuhren sie, dass die Königin dieser Stadt dreissig Töchter hatte. Als sie dies hörten, merkten sie, dass die Königin ihre Mutter war. Doch die Götter machten die Söhne wohl unkenntlich (an dieser Stelle wird der Text schwer verständlich), und ihre Mutter merkte nicht, wer sie waren. So schlug sie vor, ihre Töchter mit den dreissig Jünglingen zu verheiraten. Die Söhne waren damit einverstanden, bis auf den jüngsten, welcher sagte: “Wollen wir wirklich unsere Schwestern heiraten? Es ist sicher nicht richtig, wenn wir mit ihnen schlafen.” An dieser Stelle ist die Tontafel, die uns den Text überliefert, abgebrochen. Nach einer Lücke ist auf späteren Tafeln desselben Dokumentes in einer stark zerstörten Partie davon die Rede, wie die Stadt Zalpuwa gedeiht, wie es dann zu Auseinandersetzungen mit dem Hethiter-Reich kommt, zu Verträgen, die gebrochen werden, zum Tod einer hethitischen Prinzessin, zur Rebellion unter Führung eines hethitischen Prinzen, und schliesslich wird, in einer erneut vollständig lesbaren Partie, berichtet, wie der König der Hethiter das Heer von Zalpuwa schlägt und die Stadt nach zweijähriger Belagerung erobert und zerstört. Die Verknüpfung dieser Erzählung mit den historischen Quellen der Zeit ist nicht ganz einfach, doch spiegeln se wahrscheinlich die Auseinandersetzungen zwischen dem Hethiterkönig Hattušili I (um 1650–1620) und seinen Söhnen502. Vor allem im ersten Teil dieser Erzählung finden sich ebenso Elemente, die an die Geschichte von Hypsipyle erinnern wie solche aus der Danaidensage: Wie 501 Auf die Analogie zwischen diesem Text und der Danaidensage hat zuerst Burkert 1982, 719 hingewiesen; das Thema wiederaufgenommen bei Burkert 1991, 534; vgl. Edmunds, Oedipus, 26f, Huys, Tale, 384 (§136), West, EFH 439, 446f. Eine englische Übersetzung des hethitischen Texts bei Beckman/Hoffner, Myths, 81f (Nr.19). Zur Geschichte der Stadt Kaneš vgl. Bryce, Kingdom, 22–24, 35–42, NP 6 (1999) 245f s.v. Kaneš [G. Kryszat]. 502 Eine Übersetzung dieses die Mythenerzählung fortsetzenden Textes bei Otten, Erzählung, 8– 13; zum historischen Kontext Bryce, Kingdom, 90, und zu literaturgeschichtlichen Aspekten Singer 1995, 124.
3. Die Stadt der Frauen
232
auf Lemnos treffen wir das Motiv des ausgesetzten Kindes, und zwar in jener Form, wie sie vielleicht die Grundlage der Transformation zur Rettung des Thoas geliefert hat503. Sodann erscheint die Sage von der Heirat der Brüder und Schwestern als Einleitung zu einem geschichtlichen Bericht über Auseinandersetzungen zwischen dem Reich der Hethiter und der Stadt Zalpuwa, bei denen es letztlich um den Zugang zum Schwarzen Meer geht. Damit bilden die beiden Teile der Zalpuwa-Erzählung den Krebs zur Danaidensage, wo der Streit zweier Könige um die Herrschaft über ihr Land nicht das Ende sondern den Anfang der Geschichte bildet. Bezieht man ein, dass der hethitische Bericht – wie gleich zu zeigen sein wird – mit der Danaidensage und jener von Lemnos mehr als nur oberflächlich zusammengehört, so muss man auch darauf hinweisen, wie die pelasgische Vesper zur Einleitung für den Bericht über die Eroberung von Lemnos durch die Athener wird. Allerdings ist natürlich der Einsatz solcher mythischer Projektionen zur Begründung realer Kriegshandlungen keine Besonderheit dieser kleinen Gruppe von Geschichten allein, vielmehr scheint (weit über das klassische Altertum hinaus) die Legitimierung eines Krieges immer gewisser märchenhaft-fiktionaler Scheingründe zu bedürfen. Die hervorstechende Analogie zwischen der Legende von Zalpuwa und der Danaidensage betrifft sicher das Motiv der endogamen Heirat: In Zalpuwa geht es um eine Vermählung zwischen Brüdern und Schwestern, welche dieselbe Mutter haben, bei den Danaiden zwischen Cousins und Cousinen, deren Väter Brüder sind, also um patrilineare Parallelcousins504: Zalpuwa
Danaiden Grosseltern
Mutter
Söhne
Töchter
Vater A
Vater B
Söhne
Töchter
Bei den Hethitern involviert die Geschichte also zwei Generationen, bei den Griechen deren drei – ich erinnere daran, dass derselbe Unterschied zwischen den griechischen Aussetzungssagen und jenen des Alten Orients besteht.
503 Darin, dass die Königin von Kaneš die Knaben aussetzt und die Mädchen bei sich behält, hat man eine Entsprechung zur Amazonensage sehen wollen, vgl. Beckman/Hoffner, Myths, 81; das führt zwar in die Nähe der lemnischen Geschichten, allein wir haben ja in der Mosessage dasselbe Motiv gefunden, vgl. 3.4.3. 504 Die bei den Danaiden gegenüber den 30 Söhnen und Töchtern von Kaneš gesteigerte Fünfzigzahl scheint in griechischen Erzählungen zur Bezeichnung einer Schar von Söhnen oder Töchtern besonders beliebt gewesen zu sein, vgl. die 50 Töchter des Nereus (Hes. Theog. 263f, Pind. Isthm. 5.5 u.a.), des Thespios (Diod. 4.29.2, Paus. 9.27.6, Apollod. 2.4.10 u.a.), des Endymion (Paus. 5.1.4), und die 50 Söhne des Priamos (Hom. Il. 6.242–250, 24.495 u.a.), des Lykaon (Apollod. 3.8.1), des Pallas (Plut. Thes. 3.11, Apollod. Epit. 1.11) u.a.; vgl. Roscher, Zahl 50, 9–20, 54–66, Dowden, Death, 157f.
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
233
Weiter gibt es in jeder Erzählung zwei Reisesequenzen: In der ersten werden Söhne und Töchter getrennt, in der zweiten wieder zusammengeführt. In Zalpuwa sind es die Knaben, welche die erste Reise machen, bei den Danaiden die Mädchen; in beiden Geschichten ist allerdings die zweite Fahrt eine Sache der Knaben. Zusammenfassend kann man also sagen, dass die narrative Struktur des Mythos bis zu diesem Punkt aus zwei Sequenzen besteht: Abstammung und Reise. Jede von diesen umfasst ihrerseits zwei Elemente: im ersten Fall Eltern und Kinder, im zweiten Trennung und Wiedervereinigung. Die Beziehung zwischen den Geschichten von den Danaiden und von Zalpuwa wird dadurch geregelt, dass im jeweils ersten Element beider Sequenzen die Geschlechterrollen umgekehrt werden:
1. Element verwandelt 2. Element identisch
Zalpuwa Eltern: Kinder Mutter Söhne und Töchter
Trennung: Vereinigung Reise der Knaben Reise der Knaben
Danaiden Eltern: Kinder Väter Söhne und Töchter
Trennung: Vereinigung Reise der Mädchen Reise der Knaben
Dieselbe Umkehrung bestimmt auch die Beziehung zwischen den beiden Geschichten im weiteren Verlauf: In Zalpuwa ist es die Mutter, welche verlangt, dass ihre Töchter die Söhne heiraten, und es ist einer der Jünglinge, welcher diese fragwürdige Verbindung zurückweist; bei den Danaiden ist es der Vater, welcher die Heirat verhindern will, und es ist eine der Töchter die nicht an dem Verbrechen teilnimmt, welches sich daraus ergibt. Dass die Beziehungen zwischen den beiden Geschichten einer so klaren und einfachen Gesetzmässigkeit gehorchen, hängt vielleicht mit Unterschieden zwischen den Verwandtschaftssystemen in der Welt der Hethiter und im archaischen und klassischen Griechenland zusammen505. Tatsächlich wissen wir, dass eine eheliche Verbindung zwischen Brüdern und Schwestern, wie die Königin von Zalpuwa sie arrangieren will, bei den Hethitern verboten war, ja mit dem Tod bestraft wurde. Das ergibt sich nicht nur aus den Worten des jüngsten Bruders in unserer Geschichte, sondern auch aus anderen Quellen. Zugleich wussten die Hethiter, dass die Geschwisterheirat bei einzelnen ihrer Vasallenvölker üblich war, 505 Die Bedeutung von verwandtschaftsethnologischen Fragen für das Verständnis dieser ganzen Gruppe von Mythen wird etwa bezüglich der Danaiden von Moreau 1985, 67 und Detienne 1988, 162 mit n. 9 deutlich unterschätzt, während bereits Thomson, Aeschylus, 289–291 und Benveniste 1949 die Lösung grundsätzlich in der richtigen Richtung suchten (obwohl gerade letzterer die griechischen Heiratsregeln verkehrt herum deutet). Eine ausführliche Übersicht über die älteren Meinungen, weshalb die Danaiden ihre Vettern nicht heiraten wollten, bei Sicherl 1986, 82–88. Seaford 1987, 110–119, fragt ausserdem, inwiefern sich in der Haltung der Danaiden für die Stellung der griechischen Braut typische Probleme spiegeln. Die von Dowden, Death, 154 vertretene Auffassung, die Abneigung der Danaiden gegen ihre Cousins sei einfach vorauszusetzen, damit die Geschichte läuft, und weiteres Fragen deshalb unnötig, scheint mir voreilig und oberflächlich.
234
3. Die Stadt der Frauen
und wir besitzen Zeugnisse, die darauf hindeuten, dass eine solche Heirat bei ihnen dementsprechend als Zeichen einer barbarischen Lebensweise galt506. Im Gegensatz dazu herrscht in Griechenland überall eine starke Tendenz zu endogamen Heiraten, vielleicht mit Ausnahme der Aristokratie der archaischen Zeit. Am besten bekannt ist die Situation in Athen, wo der berühmte Brauch der EpiklerosHeirat keineswegs eine isolierte Erscheinung darstellt: Eine ganze Reihe von Hinweisen bei den attischen Rednern bestätigt, dass als Präferenzheirat jene mit dem Vaterbruder gilt, oder dann die mit dem patrilinearen Parallelcousin. Wir kennen sogar Äusserungen, nach denen es als fragwürdiges Verhalten galt, eine solche Verbindung zu behindern507. Während die Königin von Kaneš also eine barbarische Hochzeit zu erzwingen versucht, behindert Danaos etwas, das in Griechenland als normale Verbindung betrachtet wurde. Beide stellen sich auf ihre Weise in Widerspruch zu den Regeln der menschlichen Kultur. Als positiver Held erscheint hingegen jenes eine Kind, das sich weigert, an dem Verbrechen teilzunehmen. Die Danaidensage und jene von Zalpuwa drücken also einen analogen Gedanken auf entgegengesetzte Weise aus, weil sie ihn der sozialen Grammatik der Gesellschaft anpassen, in welcher die Geschichte erzählt wird. In der Geschichte von den Danaiden wird das Thema der Endogamie noch von einem anderen Gedanken überlagert: Ich habe bereits auf jene Überlieferungen hingewiesen, nach denen Danaos im Grunde seine Töchter gar niemandem zur Frau geben will, weil er ein Orakel erhalten hat, dass sein Schwiegersohn ihn töten wird508. Er rückt damit in eine Reihe mit anderen berüchtigten Gestalten der Sage, die als restriktive Frauengeber bekannt sind. So soll der Thraker Diomedes die Freier seiner Töchter jeweils erschlagen haben509, und bei den verschiedenen Fassungen der sonst in vielen Punkten ähnlichen Sage von Oinomaos wechselt sogar als Ursache des Geizens mit der Tochter das Motiv eines jenem des Danaos genau entsprechenden Orakels mit dem des Vater-Tochter-Inzests; ein 506 Dazu Beckman/Hoffner, Diplomatic Texts, 27 (Nr.3 §25f). Die erhaltenen hethitischen Gesetze enthalten keine Angaben zur Geschwisterehe; ausdrücklich verboten ist in den das Sexualleben regelnden Vorschriften (§§ 187–200, vgl. Hoffner, Laws, 148–158) nur der Inzest mit Mutter, Tochter und Sohn (§ 189) einschliesslich der Stiefkinder (§ 195a). Auffallend ist bei der Beurteilung von unerlaubten Verbindungen das Gewicht, das der Frage zugemessen wird, ob die daran beteiligten am selben Ort wohnen oder nicht (§§ 191, 196) – hängt die Bedeutung des Reisemotivs in der Geschichte von Zalpuwa auch damit zusammen? Vgl. auch RlAss 2 (1938) s.v. Ehe d) 293f [V. Korošec]. 507 Zur Präferenzheirat etwa Lys. 32.4; Dem. 43.22/24, 43.74, 44.9f; für das Zurückweisen einer solchen Verbindung Is. 7.11f; vgl. Leduc 1991, 304f über die Präferenzheirat in Athen. Es handelt sich hierbei nicht um eine bloss attische Tendenz: über eine Parallele zur EpiklerosHeirat und zur Bevorzugung der Endogamie in den Gesetzen von Gortyn vgl. Leduc 1991, 288–291; weiteres bei NP 3 (1997) 117f s.v. Epikleros [G. Thür]. Ein Zeugnis für endogame Neigungen in archaischer Zeit etwa Hes. Erg. 700; zu den möglichen politischen Hintergründen der abweichenden Praxis bei der Aristokratie vgl. NP 3 (1997) s.v. Ehe. II. Griechenland, 894f [B. Wagner-Hasel]. 508 Vgl. oben p. 227. 509 Eusth. Hom. Il. 10.530f [822.23–28], Schol. Aristoph. Ekkl. 1029, Hesych. s.v. ∆ιοµήδειος ἀνάγκη; zum Vergleich mit den Danaiden Bonner 1900, 153.
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
235
solches Verhalten scheint zum Tyrannen, zum Gewaltherrscher schlechthin zu gehören510. Wenn der verschonte Lynkeus am Ende die Herrschaft in Argos übernimmt – sei es indem er Danaos beseitigt oder auf sanftere Art – und zum Ahnherrn des argivischen Königshauses wird511, so legitimiert die Erzählung von den Danaiden eine sogenannt gerechte Herrschaft, indem sie ihr die Beseitigung einer früheren ungerechten zuschreibt. Die Vermutung ist wohl nicht abwegig, dass in der Überlieferungslücke der Zalpuwa-Erzählung die Geschichte eine ähnliche Wendung nahm. Nimmt man die Sage von Zalpuwa und den Danaidenmythos zusammen und vergleicht beide mit der Mordnacht von Lemnos, so stösst man auf eine Reihe von Übereinstimmungen. In allen dreien bilden zwei Paare von Elementen das Rückgrat der Erzählung: Das erste besteht aus der Trennung und der anschliessend erzwungenen Fahrt übers Wasser (A1), worauf die Ankunft der Gruppe der Männer bei den Frauen folgt (A2). Das zweite Paar besteht aus einem Verbrechen, das mit der Heirat zusammenhängt (B1), und darin, dass eine der Personen sich davon fernhält (B2). In der Danaidensage folgen sich diese Elemente in genau derselben Weise wie in der Geschichte von Zalpuwa (A1/2–B1/2), während die Reihenfolge in der lemnischen Sage (B1/2–A1/2) umgekehrt scheint512: Unfreiwillige Fahrt übers Wasser Ankunft der Gruppe der Männer bei den Frauen Verbrechen mit Bezug auf die Heirat Eine der Personen enthält sich
A1
Danaiden Lemnos 1. Flucht der Danai- 3. Rettung des Thoas den
Zalpuwa 1. Aussetzung der Knaben
A2
2. Landung der Söhne des Aigyptos
4. Landung der Argo- 2. Reise der Brüder nauten zu den Schwestern
B1
3. Mord
1. Mord
3. Barbarische Hochzeit
B2
4. Hypermestra
2. Hypsipyle
4. Der jüngste der Brüder enthält sich
Auch hier lässt sich die Analyse durch Detailbeobachtungen vertiefen: – Das Verbrechen besteht in diesen Geschichten darin, eine ungesetzliche Verbindung herzustellen (wie in Zalpuwa) oder eine legitime Verbindung zu zerreissen (wie bei den Danaiden). In diesem Punkt (B1a) geht der lemnische Mythos, wo
510 Das Orakel bei Diod. 4.73.2, Hyg. Fab. 84.1, Schol. Apoll. Rhod. 1.752–58a; das Inzestmotiv bei Nikol. Dam. FGrHist 90 F 10, Lukian. Charid. 19, Hyg. Fab. 253, Schol. Eur. Or. 990, Tzetz. Lyk. Alex. 157; beide Varianten nebeneinander bei Apollod. Epit. 2.4. Dass der König mit der Vergabe seiner Töchter geizt, weil er sie selbst liebt, ist noch in der Herrschersage des Mittelalters ein beliebtes Motiv, vgl. Einh. Karol. 19, Grimm DS Nrr. 181, 483. 511 Aischyl. Prom. 869, Apollod. 2.2.1, Paus. 2.16.1f u.a. 512 Die Rekonstruktionsversuche, die für Eur. Hyps. (Hy-A6) eine Landung der Argonauten vor der Mordnacht ansetzen (vgl. 3.3.2.c), stellen unabsichtlich den Zustand jener Vorlagen wieder her, von denen die lemnische Sage sich gerade abzuheben versucht.
3. Die Stadt der Frauen
236
die Ehe der Lemnierinnen zerstört wird, offensichtlich mit den Danaiden zusammen. – Die Person, die zu dem Verbrechen anstiftet, ist bei den Danaiden ein Mann, der Vater, in Zalpuwa hingegen eine Frau, die Mutter und Königin. Auf Lemnos ist es eine weibliche Gottheit – in diesem zweiten Punkt (B1b) stehen also die Lemnierinnen auf der Seite der Zalpuwa-Legende. – Genauer zu betrachten ist auch, wie in all diesen Erzählungen das Motiv der Reise stets zu einer Trennung (A1a) und einer Wiederbegegnung (A2a) verdoppelt wird: bei den Danaiden mit der Flucht der Töchter und den Cousins, die ihnen hinterherfahren, in Zalpuwa, indem die Söhne zuerst von Kaneš nach Zalpuwa kommen und danach wieder zurück wandern. In der lemnischen Sage ist die Sache komplizierter: Die Trennungsreise finden wir, wenn Thoas in einem Kasten aufs Meer gelassen wird, und die Ankunft, wenn die Argonauten landen. Ich habe allerdings zu zeigen versucht, dass die Episode der Rettung des Thoas mit den vorderorientalischen Aussetzungssagen zusammenhängt, unter die sich nun auch die Sage von Zalpuwa einreiht: Wie bei Thoas treffen wir in dieser die Fahrt in der schwimmenden Kiste. Während in Zalpuwa jedoch die Männer bei der zweiten Reise auf dem Landweg kommen, finden wir bei der Ankunft der Argonauten, genauso wie bei den Söhnen des Aigyptos, das Motiv des Schiffes. Auch hier macht eine tabellarische Übersicht die Verhältnisse am raschesten klar und verdeutlicht abermals die Mittelstellung der Hypsipyle-Sage: A1a A2a B1a B1b
Danaiden – – – –
Hypsipyle + – + –
Zalpuwa + + + +
A1a: schwimmende Kiste = + / Schiff = – A2a: Landweg = + / Schiff = – B1a: Anstifter: weiblich = + / männlich = – B1b: Heirat = + / Mord = –
Aufschlussreich ist es schliesslich, die Geschichte von der pelasgischen Vesper ebenfalls in dieses Gitter von Merkmalen einzuordnen: Bei dieser finden wir das Motiv der doppelten Reise, mit der Vertreibung der Pelasger aus Athen nach Lemnos (A1) und ihrer Rückkehr zum Raub der Frauen von Brauron (A2); erst dann folgt das Verbrechen mit dem Mord an den Athenerinnen und ihren Kindern (B1), wobei das Motiv des einen, der sich enthält, nicht genutzt wird. Nun gehört dieses Ausnahmemotiv (B2) auch bei der Hypsipyle-Sage nur den Varianten vom Typ β an, während es in der α-Gruppe fehlt, so dass die Sage von der pelasgischen Vesper vielleicht gerade an diese anknüpft. Zum anderen ist unübersehbar, dass mit der Motivfolge A1/2–B1 die für die Mordnacht von Lemnos kennzeichnende Konstruktion aufgegeben wird und eine Rückkehr zum Muster von Danaiden- und Zalpuwasage erfolgt. Betrachtet man weiter, dass auch die Pelasger mit dem Schiff von Athen nach Lemnos gefahren sein müssen (A1a), so erhält man den Eindruck einer deutlichen Angleichung des lemnischen Schemas an jenes der Da-
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
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naidensage, wobei bloss die Geschlechterrollen der Täter bei der Mordnacht sowohl im Vergleich zu Hypsipyle wie zu den Danaiden umgekehrt wird. Damit ist wohl der Augenblick gekommen, die einzelnen Beobachtungen zusammenzufassen und eine Hypothese zu formulieren, die sie in einen sinnvollen Rahmen stellt. Ich gehe dabei von zwei unabhängigen, doch parallelen Überlegungen aus: Zum einen haben wir festgestellt, dass es möglich ist, die Beziehungen zwischen der Geschichte von Zalpuwa und dem Danaidenmythos anhand von einfachen und direkten Umkehrungen und Transformationen zu beschreiben. Dies erweckt den Eindruck, als ob die beiden Sequenzen in einem unmittelbaren, nicht durch ein drittes Element vermittelten Dialogverhältnis stünden. Andererseits steht die Sage von den Lemnierinnen sowohl in Kontrast mit der Grundstruktur der Geschichte von Zalpuwa wie mit jener der Danaidensage; dies zeigt sich besonders deutlich in der Umkehr der Sequenz A/B zu B/A, aber etwa auch in der beidseitigen Abgrenzung, welche sich in den Detailmotiven zeigt (A1a, A2a, B1a, B1b). Damit liegt der Gedanke nahe, dass man nicht eine langsame Wanderung der Sage von Osten nach Westen ansetzen sollte, wobei Lemnos die Rolle einer vermittelnden Zwischenstation gespielt hätte, sondern dass sich in einem entscheidenden Moment die Zalpuwa-Sage und der Danaidenmythos so gegenüberstanden, dass sie sich ohne vermittelndes Dazwischen über eine Grenze hinweg unmittelbar spiegeln. Dies würde bedeuten, dass die Legenden von Zalpuwa und von den Danaiden älter sind als der lemnische Mythos und ihren Ursprung in einer Zeit haben, in welcher ein direkter Kontakt zwischen der griechischen Welt und den Kulturen Anatoliens möglich war. Man kann sich in diesem Zusammenhang an gewisse Hinweise erinnern, die sich in hethitischen Dokumenten seit dem 15. Jh. finden und in denen von Konflikten mit einem Volk die Rede ist, das an der Westgrenze des Hethiterreichs siedelt und den Namen der Ahhiyawa trägt. Die Vermutung ist nicht neu, es könnte sich dabei um mykenische Griechen gehandelt haben513. Gerade Argos war, auch das ist bekannt, eines der wichtigen Zentren der mykenischen Kultur – und just dort spielt die Sage von den Danaiden. Ausserdem ist bereits in der Ilias gut belegt, dass man die Griechen überhaupt Danaoi nennen konnte514, und auf ägyptischen Inschriften des 15.und 14. Jh.s findet sich der Name Ta-na-ja (oder Ta-na-ju) zur Bezeichnung einer Gegend in Griechenland515. Selbst wenn man 513 Vgl. Lehmann 1991, 110–114, Bryce, Kingdom, 59–63, Latacz, Troia, 151–160. 514 Hom. Il. 1.42, Od. 1.350 etc.; der Name fehlt in den – wahrscheinlich vor der Ilias schriftlich fixierten – echten Werken des Hes.; im Myken. findet sich ein männlicher Personenname dana-jo (KN Db 1324.B); dessen Beziehung zu Danaos ist unklar, vgl. DMic s.v. da-na-jo. 515 Vgl. Burkert 1991, 534, der ebenfalls mit einem mykenischen Ursprung der Danaidensage rechnet. Der Name Ta-na-ja ist einmal auf einer Listennotiz in den Annalen Thutmosis’ III bezeugt (um 1437) und dreimal auf Inschriften von Amenophis III (um 1390–1352), vgl. Helck, Beziehungen, 29–32, Lehmann 1991, 107–110, Latacz, Troia, 160–165, und zum aktuellen Stand der Diskussion West, EFH 5f, Cline 1998. Der Einwand von LFE s.v. Danaoi col. 217 [G. Steiner], wonach Ta-na-ja nicht Land der Danaoi bedeuten könne, weil das Griechische kein von Danaos abgeleitetes Toponym kenne, ist offenkundig gegenstandslos, es geht ja um einen Text in altägyptischer Sprache – dass Toponyme, die sich von Γραικός
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3. Die Stadt der Frauen
nicht ausschliessen möchte, dass die mythologischen Danaidenschwestern nachträglich nach dem Namen der Landschaft benannt wurden, müsste das doch heissen, dass dies in beträchtlich früher Zeit geschehen wäre, als dieser seit der archaischen Epoche nicht mehr nachzuweisende Name noch lebendig war. Und ohnehin liegt es näher zu denken, dass der Name der Gegend und jener der Schwestern schon immer zusammengehört haben. Damit hat die Annahme einiges für sich, dass der Danaidenmythos in seinen Grundzügen bis in die Bronzezeit zurückreicht. Nun habe ich als Vermutung vorgeschlagen, dass die Sage von Hypsipyle in der Auseinandersetzung mit diesen beiden anderen Erzählkomplexen entstanden sein könnte. Auch dies könnte nur zu einer Zeit geschehen sein, wo die Kulturen, in denen diese beiden andern lebendig waren, in der Nordägäis noch eine besondere Bedeutung hatten. Der lemnische Mythos müsste also vor der Zerstörung des Hethiterreichs um 1200 entstanden sein. Eine solche Vermutung hängt nicht im luftleeren Raum, sondern passt auffallend gut zu allem, was ich als Profil für die ältere Geschichte der Insel Lemnos habe ausmachen können: eine Schlüsselrolle im Austausch zwischen Ost und West, Anwesenheit mykenischer Griechen auf der Insel in der Bronzezeit und Hinweise auf eine bemerkenswerte kulturelle Kontinuität über die dunklen Jahrhunderte hinweg516. Wenn der Mythos wirklich so alt sein sollte, schliesst das natürlich spätere Umgestaltungen und Erweiterungen nicht aus. So könnten, wie angetönt, die Motive der Aussetzungssagen, die sich in Lemnos bei der Rettung des Thoas finden, wie immer sie in früherer Zeit ausgesehen haben, erst in der orientalisierenden Epoche ihre endgültige Form gefunden haben, als die Aufmerksamkeit der Lemnier erneut auf jene Kulturen gelenkt wurde, die in dem Raum im Osten entstanden waren, den vor Zeiten einmal das Hethiterreich einnahm. Tatsächlich scheint die bei der Aussetzung nur zwei Generationen involvierende ‚lemnische’ Fassung unmittelbar der ebenso aufgebauten orientalischen zu entsprechen und die ‚griechische’ eine komplexere Fortentwicklung darzustellen. Dies könnte beim betreffenden Teil der Geschichte eher auf eine schrittweise Wanderung der Motive von Osten nach Westen deuten. Vielleicht hängt die ungewöhnliche Vielfalt, die sich unter den Varianten dieser Rettungsepisode ausmachen lässt, ebenfalls damit zusammen, etwa in dem Sinne, dass wir darin noch die Spur einer narrativen Diskussion sehen sollten, die erst nach und nach zur Verfestigung der Sage in einer einheitlichen Gestalt führte. Vieles muss hier offen bleiben, denn solche Herleitungen tragen immer stark hypothetischen Charakter. Auf der letzten Stufe der Entwicklung jedenfalls leitet sich aus der Geschichte von der Mordnacht von Lemnos jene von der pelasgischen Vesper ab, in der sich die Erzählung wieder stärker an das ältere griechische Muster der Danaiden angleicht und gewisse hätten ableiten lassen, ebenso ungebräuchlich waren, hat die Römer nicht gehindert, Graecia zu sagen. Dennoch sollte man nicht in den naiven Euhemerismus von Faure 1969 zurückfallen, der zu beweisen versuchte, dass die Danaidensage tatsächliche historische Ereignisse der Bronzezeit spiegle. 516 Vgl. 3.1.4.
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
239
Besonderheiten der lemnischen Erzählgestalt verloren gehen. So versuche ich abschliessend ein Schema zu entwerfen, das die mutmassliche Entstehungsgeschichte dieser ganzen Gruppe von Mythen zusammenfasst: Festlandgriechenland 15./14. Jh.
Inseln
Danaiden
Anatolien
Vorderer Orient
Zalpuwa
14./12. Jh.
Hypsipyle ^^^^^^^ Moses
8./7. Jh.
6./5. Jh.
Sargon
Hypsipyle/Thoas
Pelasger
3.5. FRAUENLIEBE UND LEBEN 3.5.1. Lesarten Ich habe schon mehrfach angetönt, dass die Geschichte vom Verbrechen der Lemnierinnen durch die Autoren des Altertums mit gewissen Kultbräuchen der Insel in Verbindung gebracht wurde und dass die Forscher der Neuzeit diese Andeutungen aufgegriffen und die lemnischen Erzählungen zu einem Modellfall gemacht haben, um den Zusammenhang zwischen Mythos und Ritual zu erläutern517. Einzelne haben sogar hier einen der ganz wenigen Fälle zu finden gemeint, wo deren Spiegelverhältnis sich zuverlässig nachweisen lasse518. Dennoch habe ich bis hierhin darauf verzichtet, unser Wissen über die lemnischen Kulte zur Erklärung der Mythen beizuziehen, und mich darauf beschränkt, sie mit verwandten Erzählungen zu vergleichen. Es finden sich ja in mancher Geschichte Motive, die sich mit dem oder jenem Ritual verbinden lassen – dennoch sollte man der Versuchung solcher Gleichsetzungen nicht vorschnell nachgeben 517 Vgl. oben 3.2.1. 518 So das Urteil von Kirk, Nature, 246; Burkert 1970, 6 meinte: there is almost complete correspondance in outline and in detail; auf derselben Linie Versnel, Transition, 74, Faraone, Talismans, 55. Eine enge Parallele von Fest und Mythos zieht auch Detienne, Jardins, 178– 181. Der Bezug der Mythen auf das Feuerfest wurde allerdings schon von Welcker, Trilogie, 247–276 und Bachofen, Mutterrecht, 91 = Werke 2, 277f verwertet.
3. Die Stadt der Frauen
240
und nicht einzelne Elemente einer Fabel erklären wollen, ehe man ihren inneren Zusammenhang erfasst. Nachdem ich dies in den vorangehenden Kapiteln versucht habe, ist nun Zeit zu fragen, was sich von der Seite des Rituals für das Verständnis unserer Geschichten gewinnen lässt. Ich will nicht alles wiederholen, was darüber schon geschrieben wurde, und beschränke mich auf eine Durchsicht der Zeugnisse, die helfen soll, das Sichere vom bloss Vermuteten zu trennen. Zu den lemnischen Riten haben sich bloss zwei eindeutige Nachrichten erhalten. Die ältere ist jene des Myrsilos von Lesbos aus dem 3. Jh., die ich bereits als Hy-A11 angeführt habe; sie sei hier ausnahmsweise wiederholt: Hy-R1519 Myrsilos sagt im ersten Buch der Lesbiaka, dass Medea im Vorüberfahren aus Eifersucht ein Zaubermittel auf Lemnos geworfen habe, und dass die Frauen deshalb der üble Geruch erfasste; und es gebe bis heute jedes Jahr einen Tag, an dem die Frauen wegen des üblen Geruchs Mann und Söhne von sich fernhielten.
Der zweite Bericht stammt von Flavius Philostratos, einem Autor, der im ersten Drittel des 3. Jh.s n. Chr. arbeitete. Er stammte aus Lemnos, und in seinen Schriften finden sich gelegentlich Hinweise auf seine genaue Kenntnis der Insel. In seinem Heroikos, einem Dialog über Homer und die Verehrung der Heroen, kommt er auch auf ein lemnisches Ritual zu sprechen: Hy-R2520 Aufgrund der Tat, die auf Anstiftung der Aphrodite einst von den lemnischen Frauen gegen die Männer vollbracht wurde, wird Lemnos jedes Jahr521 gereinigt und das Feuer auf der Insel 519 So Hy-A11(a), vgl. 3.3.2.d; vgl. die kaum variierte Mitteilung von Hy-A11(b): „Myrsilos von Lesbos sagt ..., die Lemnierinnen seien übelriechend geworden, als Medea mit Iason ankam und ein Zaubergift auf die Insel warf; und zu einer gewissen Zeit, und besonders in jenen Tagen, wo Medea auf der Insel gewesen sein soll, würden sie so übelriechend, dass sich ihnen keiner mehr nähere.“ 520 Philostr. Her. 53.5–7 [207.26–208.7 Kayser]; vgl. Beschorner, Helden, 204, Berenson Maclean/Bradshaw Aitken, Heroikos, 154–157 (dies., On Heroes, ist nur eine weitgehend identische Neuauflage unter verändertem Titel) ; zu Philostrats Kenntnis der lemnischen Verhältnisse 3.1.3 und 4.2.2. 521 Der Text καѳ’ ἕκαστον ἔτος wurde lange angezweifelt. Da ein Teil der Überlieferung statt dessen ein sprachlich fragwürdiges καὶ καѳ’ ἕνα τοῦ ἔτους o.ä. hat, hielt man ihn für eine Humanistenkonjektur, und so hat Wilhelm 1939, 44 vorgeschlagen καѳ’ ἑνάτου ἔτους (jedes neunte Jahr) zu lesen, was für das Fest einen völlig anderen Rhythmus ergibt. Burkert 1970, 3 mit n. 2 weist auf die sprachliche Fragwürdigkeit dieser Verbesserung hin und schlägt vor zu lesen: και καѳ’ ἕνα τοῦ ἔτους (zu einem gewissen Zeitpunkt im Jahr). Zu anderen Verbesserungen (etwa Devrekkers κατ᾿ ἐνιαυτὸν) vgl. de Lannoy 1973, der eine überzeugende Verteidigung von καѳ’ ἕκαστον ἔτος vorlegt und zeigt, dass es sich dabei nicht um eine sekundäre Korrektur sondern um gut bezeugten überlieferten Text handelt. Follet 1994, 116–119 (gefolgt etwa von Leclercq-Neveu, Crime, 125 n. 2) kehrt dennoch mit dem Vorschlag καὶ δι᾿ἐνάτου ἔτους zu den paläographischen Spekulationen der älteren Forschung zurück; das von Burkert 1970, 3 zu Recht hervorgehobene Problem des an dieser Stelle sinnlosen καί wird damit nicht gelöst. Die Stelle hat wohl insgesamt eher zuviel Aufmerksamkeit gefunden, wobei man die willkürliche Beliebigkeit der Argumentation, mit der Wilhelm 1939, 42 den Text anzweifelte, kaum beachtet hat: „Ist es aber glaublich, dass eine so ge-
3.5. Frauenliebe und Leben
241
für neun Tage gelöscht; dann bringt ein Pilgerschiff Feuer von Delos, und wenn es vor den Opferriten ankommt, fährt es nirgends auf Lemnos in einen Hafen ein, sondern treibt auf der Flut vor den Vorgebirgen, bis es rituell erlaubt ist einzulaufen. Denn während sie derweil unterirdische, geheime Götter anrufen, bewahren sie meines Erachtens auf dem Meer das Feuer rein. Wenn aber das Pilgerschiff eingelaufen ist und sie das Feuer für den sonstigen täglichen Gebrauch und insbesondere für die mit Feuer befassten Handwerke verteilt haben, von da an beginnen sie ein neues Leben.
Stark vereinfacht lässt sich sagen, dass Hy-R1 von einem Ritual berichtet, bei dem sich die Frauen für eine gewisse Zeit von den Männern trennen, Hy-R2 von einem, bei dem überall auf der Insel die Feuer gelöscht werden. Die erste Frage ist also, ob beide Riten demselben Fest zugehören oder ob es um zwei verschiedene Dinge geht522. Dass beide Berichte ihren Brauch auf dieselbe mythische Geschichte zurückführen, braucht ja für eine Einheit des Anlasses nichts zu heissen, ebensowenig kann der Mangel an Überschneidungen bei der Schilderung der Rituale in den beiden Texten dagegen sprechen: Da kann es sich einfach um verschiedene Aspekte oder Phasen desselben Festes handeln523. Nun liegen allerdings zwischen den Texten, die uns diese beiden Nachrichten überliefern, gegen fünfhundert Jahre. Zwar kann sich der lemnische Kult über so lange Zeit unverändert gehalten haben, aber sicher ist das keineswegs. Beim einzigen lemnischen Kult, für den uns mehr Zeugnisse vorliegen, den Kabirenmysterien im Heiligtum auf Chloi, finden wir Hinweise, dass es bei aller Kontinuität gelegentlich Neuerungen gegeben hat524. Auch die Lemnier lebten jedenfalls nicht ausserhalb der Geschichte. Doch um hier Klarheit zu schaffen, bräuchte man natürlich dichtere Belege. wöhnliche Wendung in der Überlieferung entstellt worden sei?“ Bei einer so weiten Fassung des Prinzips der lectio difficilior lässt sich wohl jeder noch so plausible Text zu etwas Komplizierterem umkonjizieren. 522 Für ein einziges Fest Dumézil, Crime [1924] 15 = [1998] 49 und ihm folgend Burkert 1970, für zwei verschiedene Delcourt, Héphaistos, 173, Leclercq-Neveu, Crime, 111f, Capdeville, Volcanus, 277f. Das Hauptargument für die Trennung der Anlässe, der angebliche Neunjahresrhythmus in Hy-R2 gegenüber dem jährlichen Rhythmus von Hy-R1 (vgl. die Spekulationen zur Bedeutung des Neunjahreszyklus bei Wilhelm 1939, 46, Delcourt, Héphaistos, 176f), ist freilich meist die zweifelhafte Konjektur von Wilhelm, vgl. oben n. 521. Für eine Trennung der Feste aus anderen Gründen Jackson, Myrsilus, 20f. Über die Frage entscheidet letztlich wohl das Zeugnis Hy-C1c, das bisher anscheinend von niemand beigezogen wurde (vgl. unten p. 251). Delcourt, Héphaistos, 178f verband das Feuerfest auch mit dem Kabirenkult, ebenso Robertson 1985, 279, der die unterirdischen, geheimen Götter von Hy-R2 mit den Kabiren gleichsetzt – nach allem, was wir über sie aus lemnischen Quellen wissen, nicht sehr wahrscheinlich. Vorsichtiger sucht Burkert 1970, 9f eine ähnliche Verbindung, ausserdem auch mit dem Graben der Lemnischen Erde am Berg Mosychlos; all das geht wohl zu weit, und ich behandle diese anderen Kulte gesondert, vgl. 4.2.1 und 4.3.3. 523 Sachliche Widersprüche zwischen den beiden Berichten gibt es nicht. Zwar spricht Hy-R2 von einem neuntägigen Ritual, während Hy-R1 [Hy-A11(a)] von nur einem Tag spricht, doch wird dies von Hy-R1 [Hy-A11(b)] wieder korrigiert zu einem auf längere Festdauer deutenden „in jenen Tagen, wo Medea auf der Insel gewesen sein soll“. 524 Vgl. unten 4.3.3.
3. Die Stadt der Frauen
242
Man hat deshalb versucht, die Belege um Texte zu vermehren, deren Bezug weniger offen liegt, jene Stellen nämlich, die zwar nicht klar vom Feuerfest, aber doch immerhin von einem berühmten lemnischen Feuer sprechen und die in der älteren Forschung zu der Vorstellung von Vulkanen und Erdfeuern auf der Insel geführt haben525: Sophokles kommt in seinem Philoktet gleich zwei Mal darauf zu sprechen. An der einen Stelle schreit der vom Schmerz der Wunde geplagte Philoktet: hy-r1a526
Mit diesem lemnischen Feuer, das man heraufruft527, verbrenne mich!
An der anderen ruft er das Feuer zum Zeugen an, als ihm Unrecht geschieht: hy-r1b528 O lemnisches Land und allmächtiger Feuerglanz, von Hephaistos geschaffen, ist das erträglich, wenn der da mich mit Gewalt von dir wegreisst?
Der dritte Zeuge, vielleicht zwei Generationen jünger als Sophokles, ist Antimachos von Kolophon, ein epischer und elegischer Dichter der ersten Hälfte des 4. Jh.s, von dessen Werken sich bloss Fragmente erhalten haben. Eines davon bringt folgenden Vergleich: hy-r2529 Der Flamme des Hephaistos gleich, die der Gott zuoberst auf der Höhe des Berges Mosychlos erzeugt
Das lemnische Feuer, so erfahren wir aus diesen Stellen, wurde dem Gott Hephaistos zugeschrieben, was nicht viel mehr als eine gebräuchliche poetische Metapher sein müsste530, stünde daneben nicht der Hinweis auf den Berg Mosy525 Zu den folgenden Stellen Burkert 1970, 5f, Young Forsyth 1984, 6–8; weitere Hinweise auf das sprichwörtliche lemnische Feuer bei Aristoph. Lys. 299 (dazu Martin 1987), Lyk. Alex. 227, Cic. Tusc. 2.10.23, vgl. oben 3.1.3. 526 hy-r1a = Soph. Phil. 800f. Bemerkenswert übrigens, dass Philoktet bei Soph. auf der Insel kein Feuer hat und es aus Steinen selbst schlagen muss, vgl. Soph. Phil. 295–297; dazu Morin 2003, 406–408. 527 Die Stelle ist in der Deutung umstritten: Jebb, Philoctetes, 130f (ad loc.) verstand die Konstruktion als ἀνακαλεῖν mit doppeltem Akkusativ (wie Soph. El. 693, Thuk. 1.3.3 u.a.) und übersetzte „dieses Feuer, das man das lemnische nennt“; englischsprachige Kommentatoren folgen dieser Interpretation meist bis heute. Hier eher an ein Feuer zu denken, das berufen, hervorgerufen wird, hat zuerst Radermacher, Philoktetes, 86f (ad loc.) vorgeschlagen; übernommen etwa von Dain/Mazon, Sophocle III, 39, Burkert 1970, 5; vgl. unten n. 532. 528 hy-r1b = Soph. Phil. 985–987. 529 hy-r2 = Antim. Ep. Frg. 46 Wyss = 52 Matthews; vgl. das wohl unmittelbar daran anlehnende Eratosth. Frg. 17 Powell. 530 Den Namen des Hephaistos zur näheren Bezeichnung seines Elements, des Feuers, zu verwenden, ist ein seit dem frühgriechischen Epos verbreiteter Sprachgebrauch, z.B. bei Hom. Il. 2.426, 9.468, Od. 24.71, Archil. Frg. 9.10f West, Pind. Pyth. 3.39f, Aischyl. Ag. 281, Soph. Ant. 123, 1007 u.a.; vgl. Graz, Feu, 200–206, 349f.
3.5. Frauenliebe und Leben
243
chlos, auf den Hephaistos nach anderen bei seinem Sturz vom Olymp gefallen sein soll531. Am merkwürdigsten freilich ist, dass dies ein Feuer sein soll, das man heraufruft (hy-r1a). Der hier verwendete Ausdruck wird sonst für Rituale gebraucht, bei denen man unterirdische Gottheiten heraufbeschwört532. Mit etwas Phantasie lässt sich danach vermuten, dass auf dem Berg Mosychlos in einem nicht näher bestimmbaren Ritual die wunderbare Flamme erzeugt wurde, die man am Ende der neun feuerlosen Tage in die Häuser verteilte. Als Schwierigkeit erweist sich dabei, dass in Hy-R2 ausdrücklich steht, das neue Feuer sei zu Schiff von Delos gebracht worden. Nun sind diese zusätzlichen Textstellen (hy-r1a/b, hy-r2) rund 600 Jahre älter als Hy-R2 – doch bevor wir historische Vermutungen anstellen, gilt es abermals, die Reihe der Zeugnisse zu vervollständigen. Einer der wichtigsten Texte ist dafür nämlich noch nie gründlich ausgewertet worden: das epische Gedicht des Apollonios Rhodios (Hy-B). Das liegt wohl an seinem literarischen Charakter, entstammt es doch einer Epoche, deren Literatur auf eine damals neue Art von Lektüre ausgerichtet ist, die sich, stark vereinfachend, etwa so beschreiben lässt: Im homerischen Epos oder im klassischen Drama wird der innere Zusammenhang eines poetischen Textes durch die Logik des Erzählablaufs verbürgt, und von da her soll man ihn auch verstehen. Wenn Sophokles eine Tragödie Philoktetes schreibt, so öffnet sich der Zugang zum Verständnis des Werks am sinnvollsten über die Geschichte des Philoktet, die auf der Bühne vor uns abläuft. Bei Apollonios ist das nicht mehr so: Wer die Argonautika als Geschichte der Fahrt von Iason und seinen Leuten nach Kolchis zu lesen versucht, wird sich bloss abwechselnd ärgern und langweilen. Irgendwie will da nämlich nichts zusammenpassen, manches ist seltsam breit ausgewalzt, anderes bis zur Unverständlichkeit gerafft, kurz – und Urteile, die in dieser Richtung gehen, findet man in alten Literaturgeschichten nicht selten533 – der Eindruck ist der, dass Apollonios nicht erzählen kann. Tatsächlich hat er das wohl gar nicht gewollt, ist ihm die Geschichte, die er erzählt, vor allem Anlass für die Entfaltung eines Gewebes von Sprachklängen und Bildern, die sich bald aufeinander, bald auf Texte anderer Autoren beziehen und als Gegenstimmen den Verlauf der Handlung in vielfältiger Weise spiegeln und umspielen. Ich möchte zeigen, dass eine der Parallelstimmen, die der Dichter neben seinem Bericht von der Landung der Argonauten auf Lemnos herlaufen lässt, auf das Feuerfest der Insel verweist.
531 Vgl. unten 4.2.1. 532 Diese Bedeutung des Wortes ist bei den Tragikern häufig (Aischyl. Pers. 621, Soph. Trach. 910, OK 1376 u.a., vgl. auch Plut. Aem. 17.7f). Ältere Forscher dachten an die Heraufbeschwörung eines Erdfeuers, vgl. oben n. 527, wobei Radermacher, Philoktetes, 86f auf den Bericht bei Gratt. 430–460 über eine Kulthöhle des Vulcanus auf Sizilien hinwies, aus der angeblich das Feuer ‚hervorgerufen’ wurde (ähnlich bei Solin. 5.22.24, weiteres bei Verdière, Cynegeticon, 385–388); ähnlich wieder Young Forsyth 1984, 13f, während sonst die neueren Forscher an leichter machbare Rituale denken, vgl. Dumézil, Crime [1924] 27 = [1998] 60. 533 Ein Beispiel für viele sei Christ, Geschichte, 534: „Sein Gedicht ermangelt vor allem des einheitlichen Mittelpunktes, so dass es sich in eine Menge mehr äusserlich zusammengereihter als innerlich zusammenhängender Scenen auflöst.“
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3. Die Stadt der Frauen
Ich beginne am Ende des betreffenden Abschnitts bei Apollonios: d) Als die Argonauten in die Stadt der Frauen einziehen, lässt Aphrodite süsse Sehnsucht über sie kommen, ihrem Gatten Hephaistos zuliebe, damit Lemnos auch künftig bevölkert bleibe534, und es kommt zu einem grossen Opferfest535: Und gleich jauchzte die Stadt von Tänzen und Festschmäusen überquellend vom Rauch fetten Opferdampfs; und vor den andern Unsterblichen taten sie Heras berühmtem Sohn und auch ihr selbst, der Kypris, mit Gesängen und Opfern Süsses.
Hier ist die am Anfang der Geschichte zornige Aphrodite nicht nur versöhnt, sondern wird sogar zusammen mit ihrem Gatten Hephaistos genannt. Und zu diesem Auftritt des Gottes im Text brennen die Feuer, auf denen das Opferfleisch geröstet, das Opferfett verbrannt wird. Geht man zurück zur ersten Begegnung der Lemnierinnen mit den Argonauten, so stösst man auf ein merkwürdiges Gleichnis, an dem sich die Kommentatoren oft gestossen haben536: a) Als die Lemnierinnen die Argo herankommen sehen, ziehen sie ihre Waffenrüstung an und stürzen an den Strand, und zwar537: ... gleich rohes Fleisch verzehrenden Thyiaden.
Thyiaden ist ein anderer Name für Mänaden oder Bakchantinnen, die Frauen im Gefolge des Dionysos. Der Dichter zitiert also deren in vielen Geschichten erwähnten Brauch, in kultischer Raserei Opfertiere lebend zu zerreissen und ihr Fleisch roh zu verzehren538. Damit erscheinen die Lemnierinnen vor der Landung der Argonauten als Frauen, die rohes, nicht auf dem Feuer zubereitetes Fleisch essen – ein offenkundiger Gegensatz zur vorher zitierten von Bratenduft erfüllten Szene d). Indessen beschränken sich die Anspielungen auf das Feuerfest bei Apollonios nicht auf diese beiden Stellen. Sie bilden bloss einen Rahmen, der die Aufmerksamkeit der Lesenden auf die verschlüsselten Hinweise lenken soll, die den dazwischen stehenden Text durchziehen. Betrachtet man nämlich die ganze Partie 534 Apoll. Rhod. 1.850–852. 535 Apoll. Rhod. 1.857–860, vgl. Detienne, Jardins, 174f. 536 Vgl. Vian, Apollonios I, 257 (ad loc.); noch für Natzel-Glei, Apollonios I, 155 n. 62 ist der Vergleich „unpassend und unerklärlich“; Fränkel, Noten, 92f und viele nach ihm versuchten es mit psychologischen Deutungen, vgl. Pavlock, Eros, 46f, Nyberg, Unity, 122, Clare, Path, 180f; Schmakeit, Apollonios, 210–212 deutet die Stelle dagegen als spielerische Irreführung des Lesers, weil der Thyiadenvergleich die vom Erzähler nachher enttäuschte Erwartung kämpferischer Verwicklungen wie bei Aischyl. und Soph. erwecke. Mit Mänadenmotiven arbeitet auch Val. Fl. bei der Schilderung der Rettung des Thoas, vgl. Hy-C6. 537 Apoll. Rhod. 1.636. 538 Die Vorstellung wurde geprägt durch Schilderungen wie Eur. Bakch. 138, 735–747, Frg. 472.12, Clem. Alex. Protr. 2.12.2 u.a.; zum gemessen an der rituellen Realität weitgehend fiktionalen Charakter solcher Darstellungen vgl. Henrichs 1978, 150–152, Hughes, Sacrifice, 88f.
3.5. Frauenliebe und Leben
245
zwischen der Landung der Argonauten und dem Fest zu ihrem Willkommen, so stellt man zwar fest, dass darin Hephaistos nirgends erwähnt wird: Der für das Feuer zuständige Gott, der zugleich der Hauptgott der Insel ist, tritt wirklich erst in der abschliessenden Festszene in Erscheinung. Hingegen erwähnt der Text das Feuer zweimal, freilich nicht als eines, das wirklich brennt, sondern beide Male nur als merkwürdig indirekten Verweis: b) Da ist zunächst der Herold Aithalides, den die Argonauten bei ihrer Ankunft zu den Lemnierinnen schicken539. Sein Name ist durchsichtig: Er leitet sich von aithalos oder aithale ab, dem Wort für Russ, heisst also etwa Sohn des Russes. Hinter aithale steht das Verbum aitho, welches brennen bedeutet. Über diese Gestalt gab es auch andere Geschichten540, sie ist also keine Erfindung des Apollonios, und man hat vermutet, sie habe etwas mit dem lemnischen Ritual zu tun, mit einer Person oder Gruppe, die das neue Feuer in die Stadt bringt541. Doch ehe man sich auf solche unsicheren Rekonstruktionen einlässt, sollte man festhalten, was eindeutig ist: dass Apollonios der Gestalt, die den Kontakt zwischen den landenden Argonauten und den Rohes essenden Lemnierinnen herstellt, einen Namen gibt, der an Russ und Feuer anklingt, und dass dies genau dem Bericht von Hy-R2 entspricht, wonach das neue Feuer vom landenden Schiff in die Stadt gebracht wird. c) Etwas später geht Iason zu Verhandlungen mit Hypsipyle in die Stadt und zieht dazu einen prächtigen Mantel an, den Athene ihm geschenkt hat. Dieser ist mit sieben mythologischen Szenen geschmückt, denen der Dichter eine ausführliche Beschreibung widmet542. Solche Schilderungen von mit Bildern geschmückten Gegenständen haben im griechischen Epos Tradition543, und Apollonios als raffinierter hellenistischer Dichter baut seine Schilderung so auf, dass sich vielfältige Bezüge auf die Haupthandlung des Gedichts ergeben. Die Erschliessung dieser versteckten Querverweise gehört zu den beliebteren Fragen der Apollonios-Forschung, und meine Betrachtung beschränkt sich im Folgenden auf den uns hier interessierenden Aspekt; alle anderen möglichen Lektüren der Passage sollen davon unberührt bleiben544. 539 Apoll. Rhod. 1.640–652, die Figur tritt ebenso auf Apoll. Rhod. 1.53–56, 3.1172–1175; vgl. RML 1 (1884–90) 198 s.v. Aithalides 1) [W. H. Roscher], RE 1 (1894) 1093 s.v. Aithalides 1) [K. Wernicke], Fränkel, Noten, 93–96, Vian, Apollonios I, 80f n. 3, Margolies De Forest, Apollonius, 82–90, Nishimura-Jensen 1998, Clare, Path, 271–273, Schmakeit, Apollonios, 203–206. 540 Vgl. Pherekyd. FGrHist 3 F 109 = Schol. Apoll. Rhod. 1.645. 541 So Burkert 1970, 9f. 542 Apoll. Rhod. 1.721–767. 543 Bekanntestes Beispiel ist der Schild des Achilleus bei Hom. Il. 18.478–608. 544 Vgl. zur ganzen Mantelschilderung Peschties, Quaestiones, 6–34, Fränkel, Noten, 100–103, Levin 1970, Levin, Apollonius, 69–71, George 1972, 48–52, Shapiro 1980, Fusillo 1983, 83– 96, Newman, Tradition, 76–80, Pavlock, Eros, 24–39, Clauss, Best, 107–110, Hunter, Argonautica, 52–59, Margolies De Forest, Apollonius, 92–97, Knight, Renewal, 165–167, Bulloch 2006, 57–64; leider fast rein kompilatorisch die Behandlungen von Gummert, Erzählstruktur,
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3. Die Stadt der Frauen
Das erste Bild auf Iasons Mantel zeigt die Schmiede der Zyklopen545: Darauf waren die Kyklopen, über ihr unzerstörbares Werk gebeugt, wie sie dem Herrscher Zeus einen Blitz schmiedeten; der war schon sehr weit in seinem ganzen Glanz vollendet, es fehlte ihm nur noch ein einziger Strahl; den trieben sie mit eisernen Hämmern, während er vom Gluthauch zerstörerischen Feuers sprühte.
Die Flammen, von denen in dieser Szene erzählt wird (keine wirklichen Flammen, sondern bloss abgebildete), sind also die einer Schmiedewerkstatt – und auch dies erinnert an einen Hinweis in Hy-R2, nämlich dass das neue Feuer insbesondere für die mit Feuer befassten Handwerke verteilt wird. Vielleicht kann man noch weiter gehen: Ordnet man die bisher besprochenen Textstellen so, wie sie einander bei Apollonios folgen, ergibt sich eine Sequenz, die genau jener von Hy-R2 entspricht: a) Feuerlosigkeit – b) Ankunft des Schiffes und Einzug des Sohns des Russes – c) Feuer für die Schmiedewerkstätten – d) Opferfest und neues Leben für die Insel. Die Passagen, welche diese Sequenz herstellen ergeben sich – mit Ausnahme des Auftritts von Aithalides – nicht aus der Handlung, sondern sind – besonders deutlich bei a) und c) – vom Dichter künstlich eingefügt. Dies lässt vermuten, dass er nicht nur von der Sage sondern auch vom lemnischen Fest Kenntnis hatte, und den kundigen Leser an diesen Zusammenhang erinnern wollte, der ihm ebenso vertraut war wie 500 Jahre später dem Lemnier Philostratos. Hat man diesen Rahmen herausgearbeitet, so fallen noch weitere Dinge auf: In der ganzen lemnischen Passage spielt Apollonios mehrfach mit dem Verborgensein des Hephaistos, den er beim versöhnlichen Finale sichtbar auftreten lassen wird546. Schon die unter c) angeführte Szene von Iasons Mantel mit den schmiedenden Kyklopen ist ja merkwürdig: Diese galten nach einem Teil der Überlieferung als Gehilfen des Hephaistos, und dass der Gott gerade in einem Text über Lemnos in einer solchen Szene nicht einmal erwähnt wird, ist zunächst überraschend547. Nicht anders nennt der Dichter allerdings schon gleich am An102–109, Manakidou, Beschreibung, 102–142, Thiel, Erzählung, 36–89. Speziell zur Zyklopenschmiede Pavlock, Eros, 31–36. Einen ausführlichen Deutungsversuch des Mantels überliefert schon Schol. Apoll. Rhod. 1.763–64a: Der antike Kommentator sah in den Bildern Vorgänge in der polis gespiegelt – eine Fragestellung, die in den rein literarisch oder psychologisch ausgerichteten heutigen Deutungen meist vernachlässigt wird. Vielleicht hilft der Blick auf das Ritual, etwas von diesem den antiken Lesern stets teuren Aspekt wiederzugewinnen. 545 Apoll. Rhod. 1.730–734. 546 Auf die versteckte Wirksamkeit des Hephaistos im Hintergrund der lemnischen Episode hat bereits Fränkel, Noten, 89f, 114 hingewiesen. 547 Vgl. Kallim. Artem. 46–61, Verg. Georg. 4.170–175, Aen. 8.416–453; die erhaltenen bildlichen Darstellungen sind allesamt kaiserzeitlich, vgl. LIMC 6 (1992) s.v. Kyklops, Kyklopes, 157f (Nrr. 32–41) [O. Touchefeu-Meynier]. Die Kyklopenszene bei Apoll. Rhod. weist ausserdem in Aufbau und Vokabular enge Parallelen zum Besuch der Thetis in der Schmiedewerkstatt des Hephaistos Hom. Il. 18.368–380 auf (bes. Apoll. Rhod. 1.731–733 neben Hom. Il. 18.378f) – auch hier also ein versteckter Hinweis auf den Gott (und natürlich zugleich auf
3.5. Frauenliebe und Leben
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fang der lemnischen Episode die Insel das felsige Lemnos der Sintier548, und bezeichnet sie damit – ohne den Gott selbst zu nennen – mit dem Namen eines Volksstamms, der seit Homer dem Hephaistos aufs engste zugeordnet wird549. Dieses Spiel beschränkt sich in der Mantelbeschreibung nicht auf das Bild mit den Kyklopen: Die dritte Szene ist eine Darstellung der Kythereia, die sich im Schild des Ares spiegelt550. Ausser dass der Dichter damit auf einen bekannten Typus von Aphroditestatuen verweist551, ist das natürlich eine Anspielung auf die aus der Odyssee berühmte Geschichte, wie Aphrodite ihren Gatten Hephaistos mit dem Schlachtengott betrügt – doch gerade von Hephaistos ist an der Textstelle des Apollonios mit keinem Wort die Rede. Noch indirekter ist der Bezug bei der fünften Szene auf dem Mantel: Diese zeigt das Wagenrennen zwischen Oinomaos und Pelops, bei dem dieser Hippodameia zur Braut gewann552. Durch ein kunstvolles Arrangement des Textes ist genau der mittlere der sieben Verse dem Wagenlenker des Oinomaos, Myrtilos, gewidmet, der sich von Pelops bestechen liess, am Gefährt seines Herrn die Radnaben zu sabotieren, so dass dieses während des Rennens auseinanderfiel; erst so wurde der Sieg des Helden möglich. Pelops hat später diesen Wagenlenker getötet, und nach einer recht gut bezeugten Tradition war es gerade Hephaistos, der ihn von der Mordtat entsühnte553. Für sich genommen erscheint jeder einzelne dieser Verweise auf einen versteckten Hephaistos vielleicht weit hergeholt, doch in ihrer Reihung und im Zusammenhang mit den vorher angeführten Stellen ist schwer zu bezweifeln, dass das Arrangement geplant ist. Hephaistos kommt schliesslich nicht in so vielen Mythen vor, dass sich bei einer bloss zufälligen Auswahl automatisch Bezüge von solcher Dichte ergeben würden. Eine letzte Passage bei Apollonios kommt hinzu: Ich habe bereits darauf hingewiesen, wie Aphrodite bewirkt, dass die Argonauten mit den Lemnierinnen
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das literarische Vorbild für die Mantelbeschreibung). Dass der auf dem Bild nicht dargestellte Hephaistos gewissermassen mitgedacht werden muss, ist auch Hunter, Argonautica, 54 aufgefallen. Apoll. Rhod. 1.608. Vgl. 4.3.1; Clauss 1989, 201–204 zeigt sogar, wie Apoll. Rhod. 1.601–610 bis in einzelne Formulierungen hinein auf den Himmelssturz des Hephaistos bei Hom. Il. 1.590–594 Bezug nimmt. Apoll. Rhod. 1.742–746. Wichtigstes Vorbild war wohl ein Aphroditebild aus der 2. Hälfte des 4. Jh.s (des Skopas oder Lysipp?) in Korinth, vgl. LIMC 2 (1984) s.v. Aphrodite, 71–75 (Nrr. 627–643, 657–659) [A. Delivorrias/G. Berger-Doer/A. Kossatz-Deissmann]; heute bekannteste Vertreterin des Typus ist die Venus von Milo (Nr. 643); die älteste Darstellung, auf welcher der Schild der Göttin sichtbar ist, scheint eine Gemme des 3. Jh.s zu sein (Nr. 658); weiteres bei Peschties, Quaestiones, 19–22, Vian, Apollonios I, 258 (ad v. 746), Manakidou, Beschreibung, 106 mit n. 19; zur Deutung der Passage auch Newman, Tradition, 78, Pavlock, Eros, 36–39. Apoll. Rhod. 1.752–758. So Schol. Eur. Or. 990, Apollod. Epit. 2.9, Tzetz. Lyk. Alex. 156 und zur Sage allgemein LIMC 6 (1992) 693–696 s.v. Myrtilos [I. Triantis], Vian, Apollonios I, 258 (ad v. 758), Gantz, EGM 541–543; die Bedeutung des unausgesprochenen Motivs der Entsühnung in der Szene hat schon Hunter, Argonautica, 58 bemerkt; weiteres bei Newman, Tradition, 79f.
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3. Die Stadt der Frauen
Kinder zeugen, um die Insel des Hephaistos nicht unbevölkert zu lassen. Wenn die Amme Polyxo im Rat der Lemnierinnen ebenso für die Beschaffung von Nachwuchs mittels der Ankömmlinge spricht554, vertritt sie also die Interessen des lemnischen Gottes. Dass die alte Frau gewissermassen als Geheimagentin des Hephaistos agiert, verdeutlicht Apollonios durch ein merkwürdiges Detail, als er ihren Auftritt schildert555: auf vom Alter verschrumpelten Füssen humpelt sie daher, auf einen Stock gestützt
Das Wort, mit dem hier die Füsse der Amme bezeichnet werden, rhiknos (etwa: geschwächt, geschrumpft) ist an sich schon ziemlich selten, und es auf Füsse zu beziehen, eine eher gewagte Verbindung. Vor den Argonautika kommt sie in uns erhaltener griechischer Literatur nur ein einziges Mal vor: Im homerischen Apollonhymnus sagt Hera über Hephaistos, dieser sei an den Füssen verschrumpelt556. So wird durch ein dem geübten Literaturkenner bemerkbares Zitat die Figur der Polyxo mit Hephaistos in Verbindung gebracht – gerade dies eine für die Dichter der hellenistischen Zeit überaus kennzeichnende Technik. Alles in allem finden wir damit die Verweise auf das lemnische Feuerfest bei Apollonios zwei Linien entlang gereiht: Zum einen gibt es eine Sequenz, die offensichtlich dem von Hy-R2 geschilderten Ritual folgt [a)–b)–c)–d)], zum andern eine Folge von Hinweisen, welche diese Zeit des Festes vor der Rückkehr des Feuers dadurch bezeichnen, dass Hephaistos auf seltsame Weise aus dem Bereich der Sichtbarkeit verbannt, gleichsam verborgen, und dennoch jene Figur ist, um die es eigentlich geht. 3.5.2. Folgerungen Anhand des bis hierhin ausgebreiteten Materials sind mehrere Folgerungen möglich: Aus unserer Lektüre der Argonautika ergibt sich, dass das lemnische Feuerfest schon zur Zeit des Apollonios in der Weise gefeiert wurde, in der es uns fünfhundert Jahre später in Hy-R2 entgegentritt. Nun liegen die Argonautika zeitlich relativ nahe bei Hy-R1 und so ist es kaum möglich, die Unterschiede zwischen den beiden Ritualberichten als Folge von Veränderungen im Kult zu erklären. Zweitens fällt auf, dass die Argonautika dem Hephaistos besondere Aufmerksamkeit schenken. Daraus darf man wohl schliessen, dass dieser Gott beim lemnischen Fest eine herausgehobene Rolle spielte. In diesem Punkt geht Hy-B mit hyr1b und hy-r2 zusammen, den Zeugnissen des 5./4. Jh.s. Anders als in diesen älteren Quellen finden wir bei Apollonios jedoch keinen Hinweis, dass das neue Feuer vom Berg Mosychlos käme, vielmehr legt der Auftritt des Aithalides nahe, 554 Apoll. Rhod. 1.667–696. 555 Apoll. Rhod. 1.669f. 556 ῥικνὸς πόδας: H. Hom. Ap. 317; die Wendung auch Apoll. Rhod. 2.198, ausserdem Leon. AP 16.306.6.
3.5. Frauenliebe und Leben
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dass der Dichter bereits an die Herbeiführung des Feuers vom Meer dachte, wie in Hy-R2. Das führt auf ein weiteres Problem: Man hat schon lange vermutet, dass das Einholen des Feuers von Delos nicht die älteste Form des Ritus sei, sondern erst in einer Zeit aufkommen konnte, als die Insel Aussenposten der Athener und damit Teil des ionisch-attischen Seebundes war, der in Delos sein kultisches Zentrum hatte. Der Gedanke lag deshalb nahe, dass die Herbeiholung des Feuers vom Berg Mosychlos den älteren Zustand spiegelt557. Wenn dieser noch in hy-r2, also bei Antimachos zu Anfang des 4. Jh.s, geschildert ist und bei Apollonios rund hundert Jahre später bereits der jüngere, wird der Zeithorizont für eine Reform des Rituals auf einmal präziser. Ich werde nun zeigen, dass die archäologischen Funde im Kabeirion von Chloi auf eine Neuorganisation jenes Kultes mit gewissen Veränderungen in der ersten Hälfte des 5. Jh.s hindeuten, also nach der athenischen Eroberung der Insel558. Allerdings wäre es wohl eher befremdlich, wenn hy-r1b und hy-r2 bloss antiquarische Verweise wären: Gerade die Anspielung bei Sophokles muss doch auf einen Kult gehen, der dem Athener Publikum noch geläufig ist. Die Chronologie dieser Zeugnisse für das Feuerfest spricht damit deutlich gegen den zunächst wahrscheinlichsten Zeitpunkt für die Neuausrichtung des Rituals im 5. Jh. Indessen ist dieser nicht der einzig mögliche: Am Ende des Peloponnesischen Krieges wurde Lemnos den Athenern weggenommen, kam aber nach der Seeschlacht von Knidos 394 erneut in ihren Besitz, und genau dasselbe Schicksal widerfuhr auch der Insel Delos – durchaus denkbar, dass man nach der Neubegründung der athenischen Seemacht und des delischen Bundes im ersten Viertel des 4. Jh.s die Zusammengehörigkeit der Überseedepartemente durch das Ritual bekräftigen wollte559. So plausibel sich die bruchstückhaften chronologischen Hinweise zusammenfügen lassen – unübersehbar bleibt, dass damit das ritualistische Denkmuster, welches der üblichen Deutung der lemnischen Sage zugrunde liegt, in Schieflage gerät: Seine Kraft beruht auf der Parallelität von mythischer Erzählung und Ritualsequenz, wozu auch die Analogie zwischen Argonauten- und Feuerschiff gehört. Wäre das Feuer ursprünglich auf dem Berg Mosychlos bereitet worden, so hiesse dies, dass man im Nachhinein das Ritual an den Mythos angeglichen hätte, vielleicht sogar erst im 4. Jh. Grundsätzlich unmöglich ist das nicht – man erinnere sich, wie viele scheinbar tief verwurzelte europäische Volksbräuche nachweisbar fiktionale Rekonstruktionen von Folkloristen des 19. Jh.s sind, und auch in Grie557 So etwa Fredrich 1906, 74f, Dumézil, Crime [1924] 26f = [1998] 59f, Delcourt, Héphaistos, 173, Burkert 1970, 4f. 558 Vgl. 4.3.3. 559 Lemnos wie Delos gingen den Athenern erst um 318/314 erneut verloren; Lemnos kam 307 zurück, während Delos erst 166 durch die Römer wieder athenischer Verwaltung unterstellt wurde; eine so späte Anpassung des Rituals würde natürlich mit unseren Zeugnissen nicht zusammengehen. Zur Geschichte von Delos vgl. Lauffer, Griechenland, 181–185 s.v. Delos [H. Kaletsch] und zu Lemnos in dieser Zeit Lauffer, Griechenland, s.v. Lemnos, 378f [W. Günther], ausserdem die Zusammenstellung der Quellen bei Fredrich IG XII.8, 3–5.
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chenland sind schliesslich Neugründungen und Reorganisationen von Kulten immer wieder gut zu belegen560. Allerdings beruhten die älteren ritualistischen Deutungen durchwegs auf der Annahme, dass das rituelle Tun der erzählenden Reflexion vorangeht, und auch neuere Ansätze stellen die beiden immerhin als gleichberechtigte Ausdrucksformen für dasselbe gesellschaftliche Bedürfnis nebeneinander561. Allerdings steht damit Hypothese gegen Hypothese, und so möchte ich vorsichtiger sein und zunächst bloss die Fragezeichen sammeln, die bei der Deutung unseres Materials in die eine oder andere Richtung bleiben: Das Ritual, bei dem das Feuer auf dem Mosychlos erzeugt wurde, ist nirgends wirklich bezeugt; die kultische und die politische Organisation müssen nicht zwingend parallel laufen562; und das Verhältnis von Mythos und Ritual ist vielleicht auch auf Lemnos nicht so eingleisig, wie manche älteren Deutungen es gerne haben möchten. Schwer zu bestreiten ist jedenfalls, dass zwischen den frühen Zeugnissen über das lemnische Feuer (hy-r1, hy-r2) einerseits und den im 3. Jh. einsetzenden Berichten über das Feuerfest sowie den alten Mythen anderseits ein Widerspruch klafft, für den wir aus dem wenigen, das wir wissen, keine überzeugende Lösung ableiten können. Es bleibt die Frage, ob das Löschen der Feuer (Hy-R2) und die Trennung der übelriechenden Frauen von ihren Männern (Hy-R1) zum selben Fest gehören oder nicht. Zuerst ist dazu wohl festzuhalten dass es durchaus Argumente gibt, die für eine Trennung der beiden Anlässe sprechen: So erhält man den Eindruck, die mythische Geschichte, die hinter Hy-R1 steht, sei verschieden von der üblichen Sage über die lemnische Mordnacht, indem in Hy-R1 der schlechte Geruch nicht von Aphrodite, sondern von Medea verursacht wird, weshalb die Argonauten die Insel auf der Rückfahrt von Kolchis angelaufen haben müssen563. Die Übertragung der dysodia in die Sage von der Mordnacht wäre dann eine Sache allein der Erzählungen und hätte keine Entsprechung auf der Ebene des Rituals. Dem gegenüber stehen Hinweise, dass die Mordnacht von Lemnos bereits von den Griechen selbst als Metapher für die zeitweise Trennung von Männern und Frauen angesehen wurde564. Den einen haben wir bereits in Hy-B gefunden, wo Hypsipyle in ihrer Trugrede die Sache so schildert, als seien die Männer gar nicht getötet sondern bloss aus der Stadt ausgeschlossen worden und nach Thrakien 560 Zwei Beispiele aus dem Umfeld der in dieser Studie behandelten Themen: die Einführung des Bendis-Kultes (vgl. 3.1.5) und die Reorganisation der Hephaistosverehrung im letzten Viertel des 5. Jh.s, beide in Athen (vgl. 4.1.1). 561 Für einen solchen differenzierteren Ansatz etwa Graf, Mythologie, 55–57, Waldner, Geburt, 12–18; weiteres vgl. 3.5.3. 562 Vgl. Burkert 1970, 4f, der zeigt, dass die Rolle von Delos als religiösem Zentrum wesentlich älter ist als der erste attische Seebund. Für alt hält die Herbeiholung des delischen Feuers auch Robertson 1985, 279f, verbindet sie aber mit dem auch für Delos belegten Kult der Kabiren. Vermutungen über einen mit diesem delischen Feuer verknüpften Symbolismus bei Detienne, Jardins, 181–183. 563 Vgl. 3.3.3.b. 564 Diese Sichtweise beherrscht letztlich auch die modernen Deutungen der Sage, vgl. Dumézil, Crime [1924] 48 = [1998] 82f, Delcourt, Héphaistos 172f, Burkert 1970, 6f.
3.5. Frauenliebe und Leben
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übergesiedelt. Diese Rede ermöglicht vielerlei Deutungen565, aber vielleicht gehört es auch zu ihrem doppelbödigen Humor, dass in der mythischen Erzählung als Lüge erscheint, was der Wirklichkeit des lemnischen Rituals nahe kommt – gerade auch im Sinne eines merkwürdig schrägen Kommentars zu dem bekannten Vorurteil der Philosophen, dass die Mythen allesamt Lügen seien566. Ein zweites Zeugnis ist in der bisherigen Forschung unbeachtet geblieben. Es ist der bereits vorgestellte Text Hy-C1c, nach dem die erzürnte Aphrodite die Lemnierinnen übelriechend machte, so dass sie ihre Männer „ausserhalb schlafen“ lassen mussten. Ich habe darauf hingewiesen, dass man versucht sein könnte, diese Darstellung als missverständliche Verkürzung ausführlicherer Fassungen zu verstehen. Dennoch vermag eine solche Erklärung nicht ganz zu befriedigen. Der Schluss nämlich stimmt auffallend genau mit dem überein, was Hy-R1 für das lemnische Fest berichtet: die Trennung der Männer von den Frauen wegen des üblen Geruchs. Es ist als ob hier jenes fiktive Überschiessen des Mythos, welches die zeitweilige Trennung zur Mordnacht ausdichtet, auf die wirklichen Verhältnisse des Rituals zurückgenommen wäre. Den Rahmen bildet allerdings, wie in der Hauptfassung der Mordnacht-Sage, die Rache der Aphrodite, die zum Feuerfest gehört. Damit legen es die Quellen doch nahe, dass Trennung der Geschlechter und Feuerfest zusammengehören. Insgesamt erhält so der für die Feier längst vorgeschlagene Ablauf eine hohe Wahrscheinlichkeit567: Einmal im Jahr erinnern sich die Frauen auf Lemnos, dass sie ihrer Göttin längst ein Fest schulden; sie fühlen sich wegen dieser Versäumnis mit einem üblen Geruch bestraft, der wohl vor allem eine Metapher für jene rituelle Verfassung ist, in die sie geraten sind, und dafür sorgt, dass sie ihre Männer ein paar Tage von sich fernhalten müssen568. Deshalb ziehen die Frauen aus ihren Familien aus und die Feuer werden gelöscht – so verdeutlicht das Ritual auch das Erlöschen aller familiären und erotischen Beziehungen in der seltsamen Zwischenzeit des Festes569. Nun bilden die Frauen eine eigene Gemeinschaft, gleichsam einen Staat ausserhalb der gewohnten Welt, opfern unheimlichen unterirdischen Mächten, bis der Segler mit dem Feuer ankommt. Dieses wird feierlich
565 Vgl. 3.3.2.d. 566 Zu dieser Abwertung des Mythos vgl. 5.1.1. 567 Zusammenfassungen dieses mutmasslichen Verlaufs etwa bei Dumézil, Crime [1924] 15, 56f = [1998] 49, 92f, Robertson 1985, 278f. 568 Vgl. Dumézil, Crime [1924] 33–38 = [1998] 66–72. Welcker, Trilogie, 248–250 wollte den üblen Geruch mit rituellen Räucherungen in Zusammenhang bringen, für die er Hinweise in Nachrichten über die thrakischen Sintoi zu finden glaubte, vgl. 4.3.1. Kirk, Myth, 18 und Nature, 246 verweist, wie schon Dumézil, Crime [1924] 39f = [1998] 73f, auf die Wiederkehr des Motivs vom üblen Geruch bei Philoktet, vermutet anders als dieser jedoch, der Bezug auf das Ritual der Geschlechtertrennung sei nicht die ganze Wahrheit. Zu den Vermutungen von Burkert und Detienne, dass der Geruch durch den Verzehr von Raute hergestellt wurde, vgl. 3.3.3.b. 569 Vgl. Burkert 1970, 7.
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3. Die Stadt der Frauen
in die Stadt gebracht und in die Häuser und Handwerkerbuden verteilt570; dabei kehren auch die Frauen heim und das Leben beginnt gewissermassen von neuem. Man hat sicher zu Recht darauf hingewiesen, dass ein solches Ritual in nicht wenigen Zügen an das in ganz Griechenland vielerorts belegte Fest der Thesmophoria erinnert: Auch da ziehen die Frauen für mehrere Tage aus den Häusern aus, bilden abseits in Hütten oder Zelten eine eigene Gemeinschaft, fasten und vollziehen unheimliche, unterirdische Riten, die berühmten Versenkungsopfer mit Ferkeln, und am Ende steht ein gemeinsames Mahl. Das Fasten, dem sie sich an diesem Fest unterwerfen, ist ausserdem eine Praxis, die für die Griechen an einen besonderen, üblen Körpergeruch geknüpft ist571. Zu diesen Verbindungen passt auch, dass eine andere Geschichte aus unserer Mythengruppe, jene von den Danaiden, die in Argos ihre Bräutigame töten, an die Einführung der Thesmophorien geknüpft ist, welche die Töchter des Danaos ins Land gebracht haben sollen572; und schliesslich verbindet sich in Argos die Rettung des Lynkeus durch Hypermestra mit einem Feuerritual, was ebenfalls an die lemnischen Verhältnisse erinnert573. So enge Parallelen von Mythos und Ritual haben tatsächlich etwas Beeindruckendes. Fragwürdiger ist, ob man die durch unsere Ritualberichte nicht abge570 Aufgrund dieser Verteilung hat man eine besondere Rolle von Handwerkergilden bei dem Fest vermutet, vgl. Delcourt, Héphaistos, 177f, Burkert 1970, 9f. 571 Zur Vorstellung vom „Fastengeruch“ vgl. Aristot. Probl. 13.7 (908b11–19); zum Ablauf des Festes allgemein Detienne, Jardins, 151–157, Parke, Festivals, 82–88, Burkert GR, 242–246, Bremmer, Religion, 76–78, NP 12/I (2002) 440f s.v. Thesmophoria [R. Parker]. Eine Schlüsselrolle spielt der Vergleich der lemnischen Überlieferungen mit den Thesmophorien sowie mit den Skira (wo die Frauen Knoblauch essen, um die Männer fernzuhalten, vgl. Philoch. FGrHist 328 F 89 = Phot. Lex. s.v. τροπηλίς) in der Analyse von Burkert 1970, 10–12; vgl. auch Burkert, HN 215f. Robertson 1985, 277 verweist ausserdem auf Parallelen zu den Panathenaia. 572 Hdt. 2.171.2f; vgl. schon Bonner 1902, 155–158, der auch für das Versenken der abgeschlagenen Köpfe der Aigyptos-Söhne (vgl. 3.4.5) einen rituellen Hintergrund vermutete und damit das Versenkungsopfer an den Thesmophoria verglich, während Dumézil, Crime [1924] 49f = [1998] 85f zu diesem Punkt eher an Parallelen aus dem neueren osteuropäischen Brauchtum dachte. Dowden, Death, 163f versucht, die Hdt.-Tradition über die Thesmophoria als wertlos zu erweisen. Worauf sein Argument zielt, ist mir unklar – es behauptet ja niemand, das Fest stammte wirklich aus Ägypten, und nur darauf kommt es an, dass es in der Vorstellung des Hdt. mit den Danaiden zusammenpasst, vgl. Lloyd, Herodotus II, 209f, ausserdem Kirk, Nature, 245, Moreau, Eschyle, 299f, Baconicola-Ghéorgopoulou 1997, 46–50. 573 Paus. 2.25.4; dazu Bonner 1902, 159f, RE 13 (1926) 2471f s.v. Lynkeus 2), Dowden, Death, 162f; auch Nilsson, Feste, 470f stellte das lemnische und das Feuerfest von Argos unmittelbar zusammen; vgl. weiter Sourvinou-Inwood 2004, 165. Ich verzichte hier auf eine Diskussion der gelegentlich angeführten Parallelen aus dem Feuerbrauchtum anderer Völker, dazu Fredrich 1906, 74f, Dumézil, Crime [1924] 25–27 = [1998] 57–59, Wilhelm 1939, 41f, Burkert 1970, 4. Als Ritualparallele zu Mythen dieser Gruppe ist noch darauf hinzuweisen, wie Waldner, Geburt, 250 versucht, für das Motiv der Amazone eine kultische Entsprechung vorzuschlagen, die in den Bereich der Artemisverehrung und des Einbezugs der Mädchen in die Polis führt.
3.5. Frauenliebe und Leben
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deckten Besonderheiten des Mythos und die Analogien anderer Rituale nutzen darf, um weitere Details für Lemnos zu erschliessen574. So habe ich darauf hingewiesen, wie im Mythos von der Mordnacht die für die Insel bedeutende Artemis nicht erwähnt wird und stattdessen die eher randständige Aphrodite in den Mittelpunkt rückt. Das könnte zu jenen Motiven der ‚verkehrten Welt’ gehören, welche die Ausnahme- oder Zwischenperiode eines solchen Rituals kennzeichnen. Sehr deutlich wird letzteres im Fall der Hybristika von Argos, einem Fest, bei dem Männer und Frauen die Rollen tauschen. Dessen Einführung wird nämlich mit der Geschichte von Telesilla und ihren Kriegerinnen begründet, die ja zu den Parallelgeschichten der Hypsipyle-Sage gehört575. Eine letzte Frage wäre dann, ob sich aus meinen Vermutungen über die Entstehung des Mythos etwas über das Alter des lemnischen Kultes ableiten lässt. Hier gelangt man freilich schnell in einen Bereich, wo aus Mangel an Belegen schwer über willkürliche Vermutungen hinauszukommen ist. So halte ich es, gerade im Hinblick darauf, was sich über die Geschichte der Insel im früheren 1. Jt. vermuten lässt, nicht grundsätzlich für unwahrscheinlich, dass das lemnische Fest bereits in irgendeiner Form gefeiert wurde, als in der Ilias die ersten Hinweise auf den lemnischen Mythos auftauchen576; belegen lässt sich das freilich nicht. Was dahinter liegt, muss offen bleiben. Einiges hängt davon ab, welches Alter man dem Thesmophorienfest zuzugestehen gewillt ist. Wenn man dieses auf die minoisch-mykenische Zeit oder noch weiter zurückführt577, so könnte es durchaus sein, dass die mykenischen Siedler bereits Elemente von Ritual und Mythos nach Lemnos mitgebracht und dort fortentwickelt haben. Das würde grundsätzlich mit meinen auf die Erzählungen allein gestützten historischen Analysen nicht schlecht zusammenpassen. Indessen habe ich auch gezeigt, wie sich wichtige Motive und Baumuster der lemnischen Sagen weit über die Grenzen des griechischen Kulturraums hinaus zurückverfolgen lassen, bis in eine Weltgegend, wo die Kulte nach allem, was wir wissen, ziemlich anders organisiert waren. Hier stossen wir wohl zum zweiten Mal auf eine Grenze, an der die sinnstiftende Kraft der ritualisti574 Das problematische Verfahren wird sehr ausgiebig angewendet von Burkert 1970 und Robertson 1985, 276–280. 575 Vermutungen über die Rolle der Aphrodite im lemnischen Kult auch bei Robertson 1985, 278f. Es scheint keine Nachrichten über die Hybristika ausserhalb der Telesilla-Sage zu geben, vgl. RE 9 (1914) 33 s.v. Ὑβριστικά [P. Stengel]; zur ‚verkehrten Welt’ in diesen Überlieferungen Graf 1984, 245f, Sauzeau 1999, 143–146, 159–161, Pirenne-Delforge, Aphrodite, 157; letztere vermutet 158–160, auch bei dem Fest von Argos habe Aphrodite im Mittelpunkt gestanden. 576 Das hat man immer wieder betont, vgl. Burkert 1970, 14, Robertson 1985, 277, Parker 1994, 345, Sourvinou-Inwood 2004, 162–165. 577 Das ist eine öfter gehörte Anschauung, vgl. Burkert GR, 13, Parke, Festivals, 82, Dietrich, Tradition, 57f und 51 mit n.63. Sie stützt sich indessen allein auf die Verbreitung des Brauches in ganz Griechenland sowie auf gewisse Vorurteile darüber, wie ‚altertümliche’ Rituale angeblich beschaffen sind (das Versenkungsopfer der Ferkel etwa wird meist unhinterfragt so eingestuft); konkrete Zeugnisse für die Bronzezeit oder das Neolithikum scheint es keine zu geben.
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3. Die Stadt der Frauen
schen Erklärmodelle endet und sich klar zeigt, dass Mythen niemals blosse Nacherzählungen des Ritus sind, auch wenn sie sich gelegentlich damit überschneiden. 3.5.3. Querlesen So ist es höchste Zeit, eine Problem etwas heller zu beleuchten, über das man bei der Behandlung von Mythos und Ritual auf Lemnos meist hinweggesehen hat: Unsere Kenntnis des lemnischen Rituals beruht genauso auf einem narrativen Text wie jene des zugehörigen Mythos. Der Ritus, der auf der Insel wirklich vollzogen wurde, bleibt jenseits unseres Horizonts. Grundsätzlich ist das beim Studium der antiken Religion immer so: Wir können uns nicht mit einer Videokamera unter die Frauen am Thesmophorienfest einschmuggeln wie eine moderne Ethnologin; aber da und dort – im Folgenden etwa beim Kult für die Kabiren im Heiligtum von Chloi – treten neben die literarischen Zeugnisse immerhin ein paar Inschriften und archäologische Funde, gelegentlich sogar Bilddarstellungen. Für das lemnische Feuerfest gibt es nichts dergleichen. Wer jedoch Material untersucht, das nicht nur aus Texten, sondern aus verschiedenartigen Medien stammt, stellt in der Regel fest, dass sich die Dinge nur selten nahtlos zur Deckung bringen lassen. Das liegt letztlich daran, dass jede Art von Aufzeichnung ihre eigenen Gesetze mit sich bringt und die Wahrnehmung des Wirklichen verformt. Man sollte also der Frage nicht ausweichen, ob allenfalls das Muster der mythischen Erzählung seinerseits darauf zurückgewirkt hat, wie das Ritual uns in den Quellen entgegentritt. Ich möchte diesen Punkt an einem Fallbeispiel erläutern, das aufgrund seiner Ähnlichkeiten zu den Geschichten über Lemnos von besonderem Interesse ist. Der Text, von dem ich ausgehe, entstammt einem ganz anderen Zusammenhang: Strabon, der Geograph der Augustuszeit, erzählt in seiner Beschreibung von Gallien den seltsamen Brauch eines dortigen Stammes, von dem er aus den Schriften des Philosophen und Historikers Poseidonios Kenntnis hat. Dieser arbeitete in der ersten Hälfte des 1. Jh.s. Der Name des Stammes ist in den Handschriften verzerrt überliefert, doch macht der Text des Geographen klar, dass er ihn sich an der Mündung der Loire denkt578: Er [d.h. Poseidonios] sagt, dass es im Ozean eine kleine Insel gebe, die nicht weit im Meer draussen vor der Mündung des Flusses Ligeros [d.h. der Loire] liegt. Auf dieser sollen die Frauen der Samniter579 wohnen, die von Dionysos besessen sind und diesen Gott in Mysterien und anderen heiligen Handlungen gnädig stimmen. Kein Mann betrete diese Insel und die Frauen führen selbst von dort mit dem Schiff, um sich mit den Männern zu vereinigen, und kehrten wieder zurück. Sie hätten auch den Brauch einmal im Jahr das Heiligtum abzudecken
578 Strab. 4.4.6 = Poseidon. Frg. 276 Edelstein-Kidd = Frg. 34 Theiler = FGrHist 87 F 56. 579 Gemeint sind natürlich nicht die italischen Samniten, sondern ein kleiner gallischer Stamm dieses Namens, vgl. Ptol. Geogr. 2.8.6, 2.8.8, Marcian. Peripl. 2.38, und RE 1A (1914) 2132f s.v. Samnitai [J. B. Keume]; die Verbesserungen der Herausgeber (Namniten: Tyrwhitt, Namneten: Korais) sind unnötig; Dionys. Periheg. 571 spricht von Amniten.
3.5. Frauenliebe und Leben
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und am selben Tag vor Sonnenuntergang wieder einzudecken, wobei jede ihr Bündel dazu beiträgt580. Wenn eine allerdings ihr Bündel verlöre, so werde sie von den anderen in Stücke gerissen; und dann trügen sie dieselben mit rituellem Jubelruf um das Heiligtum herum, und sie hörten nicht damit auf, ehe auch ihre Raserei ein Ende nehme; und es geschehe jedes Mal, dass es einer passiere und ihr so ergehe.
Diese Schilderung steht nicht völlig allein. Das in hadrianischer Zeit entstandene geographische Gedicht des Dionysios Perihegetes berichtet aus derselben Gegend von den Frauen der Amniten, welche fern von ihren Männern mit Efeu bekränzt dem Bakchos heilige nächtliche Opfer darbringen, wozu sie helle Kultrufe lärmen581. In diesem Bericht sind offensichtlich alle aussergewöhnlichen Züge beseitigt zugunsten der klassischen griechischen Vorstellung von Mänaden und ihren Kulten. Im Text von Poseidonios und Strabon finden wir nun eine ganze Reihe von lemnischen Motiven wieder. Es lohnt sich, diese genauer zu betrachten: a) Beide Male geht es um eine Insel am Rande der bewohnbaren Welt (der für einen Autor des 1. Jh.s bloss etwas weiter weg liegt als für einen frühgriechischen Epiker). Diese wird ausschliesslich von Frauen bewohnt, welche dem Einfluss einer Gottheit unterworfen sind. Der Zustand, in den sie dadurch geraten, ist einer der Raserei, kultische Raserei der Mänaden bei den Samniterinnen, im Falle von Lemnos ein mörderischer Furor582. b) Diese Frauen haben normalerweise keinen Umgang mit Männern, sie treffen sich mit ihnen nur, um Kinder zu zeugen – an beiden Orten also das klassische Motiv der Amazonensage583. Die Begegnung der Frauen mit den Männern wird zu Schiff arrangiert, wobei im Fall der Samniterinnen die entsprechenden Szenen aus Lemnos und aus der Danaidensage umgekehrt erscheinen: Auf Lemnos kommen die Männer per Schiff zu den Frauen, was hier genau umgekehrt ist, und nach Argos sind die Danaiden vor den Männern geflohen, während die Samniterinnen die Männer freiwillig aufsuchen. c) Auf der Insel gibt es ein jährliches Ritual, das von den Frauen allein vollzogen wird. An beiden Orten besteht dieses darin, ein zentrales Element des Kultes zu zerstören und wiederherzustellen: bei den Samniterinnen den Tempel mit seinem Dach, auf Lemnos das Feuer, das beim Opfer niemals fehlen darf. Zugleich lässt sich diese Zerstörung metaphorisch lesen, nämlich als Auflösung und Neubegründung der ersten sozialen Einheit der Polis, des oikos, der Einheit von Haus und 580 Wahrscheinlich ist an ein gallisches Strohdach zu denken, vgl. Strab. 4.4.3; es handelt sich allerdings um eine singuläre Stelle, weil bei den Kelten sonst für die vorrömische Zeit keine überdachten Heiligtümer bezeugt sind, vgl. Green, Goddesses, 143. 581 Dionys. Periheg. 570–579. 582 Vgl. schon Apoll. Rhod. 1.616; das furor-Motiv ist von den flavischen Epikern ziemlich ausgewalzt worden, vgl. Val. Fl. 2.80, 102, 163, 191, 200, 239, 294 u.a., und dazu Hershkowitz, Valerius, 178f; Stat. Theb. 5.30, 33, 74, 91, 148, 245, 281, 298, 350 u.a., vgl. Vessey, Statius, 172f. 583 Vgl. 3.4.3.
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3. Die Stadt der Frauen
Familie: Einem Haus ohne Herdfeuer fehlt der Mittelpunkt, es ist geradeso unbewohnbar wie eines ohne Dach; der Ritus verweist damit deutlich auf die Erneuerung des Lebens, eine Art Neujahrsfest584. d) Und schliesslich geschieht auf dieser Insel, zufolge der Raserei der Frauen, eine grässliche Bluttat. Im Rahmen derselben ist das Schicksal der Gruppe als ganze von demjenigen eines bestimmten Individuums zu unterscheiden: An beiden Orten ist es die Gruppe, welche die Bluttat vollzieht; die eine herausgehobene Person hingegen enthält sich der Tat, wie Hypsipyle, oder sie wird Opfer derselben wie bei den Samniterinnen. Vielleicht geht die Parallele noch weiter: Das Opfer der Zerreissung ist in Gallien jene Frau, die ihr Bündel nicht bis zum Tempel zu tragen vermag, die ihren Beitrag zum Werk der Gruppe nicht leistet. Genauso soll auch Hypsipyle nach einem Teil der Berichte getötet werden, nachdem sie es nicht fertig gebracht hat, ihren Vater Thoas umzubringen, also das ihre zum bösen Werk der Gemeinschaft beizutragen. Damit sind die Ähnlichkeiten erstaunlich dicht. Die erste Frage, die man stellen muss, ist dennoch jene nach der Perspektive des Berichterstatters. So behauptet etwa der Text von Strabon und Poseidonios, ein Ritual zu beschreiben. Betrachtet man indessen die Analogien zum lemnischen Material, so beziehen sich diese nur zum Teil auf den Ritus, wie bei c), teils hingegen dem Mythos, wie bei b) und d), teils ist, wie bei a), das Verhältnis doppeldeutig585. Nun ist es nichts Seltenes, dass Nachrichten über Rituale, die angeblich ein Menschenopfer enthielten, sich bei näherer Prüfung weitgehend als mythisch-fiktive Erzählungen erweisen, d.h. dass sie einen Aspekt der Religion schildern, der weitgehend dem Imaginären angehört586. Entsprechend dürfte auch der Bericht von Strabon und Poseidonios mehr die Imagination dieser Autoren als eine kultische Realität spiegeln. Überhaupt scheint er zweistimmig angelegt: Was er schildert, ist kein griechisches Ritual, sondern ein gallisches, der Gott, der hier Dionysos heisst, ist mit Sicherheit eine andere, indigene Gottheit. Die griechischen Autoren erzählen also fremde Riten, die sie wohl nur vom Hörensagen kennen, in vertrauten Begriffen und bringen die ihnen zugänglichen Fragmente des Fremden mittels griechischer 584 Im Fall des Kultes der Samniterinnen spricht Birkhan, Kelten, 921 von einem „kosmischen – wahrscheinlich jahreszeitlichen – Erneuerungsritus“; ähnlich schon De Vries, Religion, 218. Zur Symbolik des Dachs ausführlich Detienne, Dionysos, 69–72, 81f; eher fragwürdig allerdings sein Versuch (73f), diesem Motiv jenes des Fusses gegenüberzustellen, weil der Fehler der Frau, die zerrissen wird, in einem Straucheln bestehe. Von einem Stolpern ist im Text ja nicht die Rede, sondern von einem Fallenlassen des Bündels; ἐµπίπτειν ist nur abgeblasste Metapher wie unser hineinfallen. 585 Bezeichnend auch das Schwanken von Green, Goddesses, 142, ob ein echter Ritualbericht oder ein Mythos vorliegt. 586 Vgl. Bonnechere, Sacrifice, bes. 311–318, und zu unserer Strab.-Stelle Hughes, Sacrifice, 231 n. 69, Green, Goddesses, 143. Im keltischen Bereich scheint es allerdings einzelne, nicht sehr gefestigte archäologische Hinweise zu geben, dass Menschenopfer tatsächlich vollzogen wurden, vgl. De Vries, Religion, 220f, Brunaux, Religions, 118–121, Birkhan, Kelten, 799– 802, 817–827, NP 7 (1999) s.v. Menschenopfer III. Klassische Antike [J. Scheid].
3.5. Frauenliebe und Leben
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Muster von Mythos und Ritual in einen Zusammenhang, entwerfen einen griechischen Kult in einen Raum, der für sie bis auf wenige Andeutungen leer ist. Amazonen- und Bakchantinnensagen sowie die altberühmte Fabel von den Weibern von Lemnos werden so zu einem Erzählfaden verquickt, der die griechischen Erwartungen an eine Schilderung des schauerlich Fremden erfüllt587. Es ist das bekannte Problem, dass der Ethnologe am Gegenstand seiner Studien gerade einmal das sieht, was seine Deutungsbegriffe ihn erfassen lassen, wie reich auch immer die Wirklichkeit sonst sein mag, die ihn umgibt. Für einen Bericht des Poseidonios über einen Kult der Gallier ist man wohl leicht bereit, eine solche Sichtweise zuzulassen. Viel unangenehmer ist die Frage, ob die griechischen Autoren wirklich verlässlicher sind, wenn sie über die Riten ihres eigenen Volkes sprechen. Selbst dann sind ja für uns die dromena, die kultischen Handlungen – mindestens wo die Basis unserer Kenntnisse so ausschliesslich aus literarischen Texten besteht wie im Fall unseres Feuerfestes – zunächst einmal legomena, Erzählungen. Damit gilt, dass ein Schriftsteller auch über das, was er selber gesehen und erlebt hat, nicht anders berichten kann, als mithilfe jener Erzähl- und Denkmuster, die ihm durch Sprache und Bildung geläufig sind. Im Einzelnen mag ihm da und dort eine philosophische oder rhetorische Theorie die Leitlinien geben, die Methode der Allegorese, später bei christlichen Autoren ihre jeweiligen theologischen Modelle – allein das wichtigste Muster, was eine Erzählung ist, bot für die ganze Antike der Mythos. Vergessen wir nicht, dass die Ilias allenthalben erste Lektüre der Schüler war, der Begriff des Narrativen sich bei jedem einzelnen Leser vor allem bei der Begegnung mit diesem Text ausgebildet hat. Wenn wir Mythen aus einem Hintergrund von Ritualen zu erklären versuchen, laufen wir also geradewegs in eine Schere aus zwei nur scheinbar entgegengesetzten Schwierigkeiten: Zum einen betreiben wir eine armchair-anthropology, für die unsere Zeugnisse noch mangelhafter sind, als sie einem – sagen wir – Erforscher Brasiliens zur Verfügung stünden, der sich allein auf Jean de Léry stützen müsste. Zum andern riskieren wir den Versuch, unser Verständnis der Erzählungen durch die Projektion eines Musters zu erweitern, das weniger einen über diese hinaus weisenden Horizont öffnet als eine Replik der betreffenden Erzählung selbst darstellt. Die Interpretation, die sich daraus ergibt, droht dann gerade deshalb so durchschlagend und überzeugend zu werden, weil sie tautologisch ist. Konkreter gesprochen: Wenn – wie eingangs zitiert – die lemnischen Mythen als Musterfall dafür erscheinen, wie der Mythos das Ritual spiegelt, so kann das allenfalls auch an einer optischen Täuschung liegen, nämlich dass Myrsilos und 587 Dass Poseidon. den Kult nicht selbst gesehen hat, betont Malitz, Historien, 181 zu Recht. Zur griechischen Überformung des Berichts De Vries, Religion, 217f, Green, Goddesses, 142f, Birkhan, Kelten, 921. Zu einfach macht es sich Detienne, Dionysos, 69, der diesen Gott ohne nähere Diskussion einfach als trop hellénique pour être baptisé “celtique” bezeichnet. Indessen stellt es ein gewisses Problem, dass es im keltischen Pantheon keine Gottheit zu geben scheint, die in der Antike üblicherweise mit Dionysos gleichgesetzt worden wäre, vgl. De Vries, Religion, 30–91, Lantier 1973, 132–140, 159–161.
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3. Die Stadt der Frauen
Philostratos das Ritual selber bereits durch die Brille der lemnischen Erzählungen betrachtet haben. Damit beginnt die scheinbar von unseren Texten und Zeugnissen so klar festgehaltene Grenze zwischen Mythos und Ritual zu verfliessen. Gerade in unserem lemnischen Material wird das deutlich: Gemeinhin hält man fest, dass der Mythos die Zerstörung der häuslichen Gemeinschaft als Mordnacht, als Töten der Männer schildert, während das Ritual bloss eine zeitweilige Trennung der Geschlechter ins Werk setzt. Je nachdem kann man sagen, dass das Imaginäre das Reale übertreibt oder dass es sichtbar macht, was an verborgenen Wünschen dahintersteht – Mythos und Ritual verhalten sich dann wie Traum und Wachleben. Doch gerade diese scheinbar distinktiven Motive schwanken in den Quellen: Zum einen haben wir gesehen, wie in den mythischen Erzählungen gelegentlich das Motiv der Geschlechtertrennung an die Stelle der Mordnacht tritt (Hy-B [Trugrede], Hy-C1c), zum andern zeigte sich, wie in einem Parallelfall, im Bericht von Strabon und Poseidonios über die Samniterinnen, das mythischen Motiv des Menschenopfers in einen vorgeblich realistischen Ritualbericht eingeschrieben wird. Das alles heisst nun keineswegs, dass man auf die Betrachtung der Rituale verzichten sollte, wenn man die Mythen verstehen will. Im Gegenteil bleibt eine Lektüre mangelhaft, die sich die Beleuchtung, die von hier auf die Geschichten fällt, entgehen lässt. Indessen müssen wir uns bewusst sein, dass wir damit in einen Zirkel eintreten, der sich nicht an einem beliebigen Punkt anhalten lässt, auf ein Spiegelkabinett, aus dem es letztlich kein Entrinnen gibt: Mythos wie Ritual kennen wir bloss als gegenseitig bezogene Erzählungen, und je nachdem, von welcher Seite wir die Sache ansehen, erscheinen sie wieder anders, ohne dass wir sagen könnten, welche von beiden zuerst dagewesen ist.
4. DER HINKENDE GOTT 4.1. WER DEN WUCHT’GEN HAMMER SCHWINGT 4.1.1. Ein Fremder im eigenen Haus Hephaistos, der Gott der Schmiede und Handwerker, gilt als Schutzherr der Insel Lemnos schlechthin1: Eine ihrer beiden Gemeinden trug seinen Namen, auf lemnischen Münzen erschien sein Bild, und in der Kaiserzeit hören wir von Heiligtümern in Myrina und Hephaistia, sowie einem Fest Hephaisteia zu seiner Ehre2. Schon bei dem lemnischen Feuerfest, das unsere antiken Quellen mit Hypsipyle und ihren Frauen verbinden, muss er im Hintergrund halb verdeckt eine wichtige Rolle gespielt haben; im Kreis der Philoktetgeschichten schliesslich gibt es solche, welche die Heilung des verwundeten Heros mit dem Gott verbinden3. Unsere Nachrichten über Hephaistos lassen sich in drei Gruppen gliedern: Erstens jene über den Himmelssturz des Gottes; zweitens eine Reihe von bruchstückhaften Nachrichten über Randfiguren, die in unseren Berichten jeweils als Gruppe auftreten und die Züge von Schmieden tragen: Sintier, Kabiren und verwandte Gestalten. Bei der dritten Serie von Zeugnissen handelt es sich um Erzählungen, die mit Hephaistos und seiner Insel nur sehr lose verbunden sind, auf uns novellenhaft wirken, jedoch in einzelnen Motiven an unser Material anknüpfen. Dazu gehört das Lied des Demodokos in der Odyssee, das den Ehebruch der Gattin des Hephaistos, der Aphrodite, mit Ares erzählt4, oder die Erzählung vom Trug an Zeus, die sogenannte Dios Apate5. In dieser sehen wir zwar nicht Hephaistos, aber seine Mutter Hera auf Lemnos intrigieren, wobei mehrfach auf
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Nach Hom. Od. 8.283 ist dem Gott die Insel lieber als alle anderen (vgl. Morin 2003, 405), in der hellenistischen Dichtung bezeichnet man sie als ihm besonders geweiht (Nik. Ther. 458, vgl. Schol. Apoll. Rhod. 1.850f, Dion. Periheg. 522), und in dem Bruchstück eines antiken mythologischen Handbuchs PapOx 4306, Frg. I.i.13f wird daraus der Schluss gezogen, dass sie ihm als erste geopfert habe. Wenn Lemnos dem Gott gehört, heisst dies noch nicht, dass er nur hier und sonst nirgends Heimatrecht hätte. Ihn einfach als den Lemnier angeredet haben erst die Augusteer (Verg. Aen. 8.454, Ov. Met. 2.757, 4.185, vgl. Ov. Fast. 3.82), im griechischen Bereich häufiger erst Nonnos (Nonn. Dion. 5.579. 30.65 u.ö.); es sollte misstrauisch machen, dass beides aus dem Bereich hinaus führt, in dem der griechische Kult lebendig ist. In der Kenning Lyk. Alex. 462, wo lemnisch für feurig steht (ὁ Λήµνιος πρηστὴρ ᾿Ενυοῦς: Feuerblitz des Krieges), liefert nicht der Feuergott das tertium comparationis sondern das lemnische Feuer (vgl. Lyk. Alex. 227: Ληµναίωι πυρί und Schol. ad loc., weiter oben 3.1.3). Vgl. 3.1.5. Vgl. 4.2.2 zu HPh2, HPh2a, HPh3. Hom. Od. 8.266–366. Hom. Il. 14.153–353.
260
4. Der hinkenden Gott
Lemnisches und auf die Hephaistosgeschichten verwiesen wird6. Um meine Untersuchung überschaubar zu halten, verzichte ich auf eine ausführliche Behandlung dieser Erzählungen. Ein paar allgemeine Bemerkungen über den Gott von Lemnos muss ich gleichwohl voranstellen. Hephaistos stand bei den Historikern und Philologen der Neuzeit nie im Mittelpunkt des Interesses: Die Zahl der ihm gewidmeten Monographien blieb jedenfalls beschränkt. Die moderne Forschung beginnt mit den Arbeiten von Wilamowitz und Ludolf Malten7. In diesen erscheint Hephaistos einerseits als Herr des Feuers, doch ebenso als Gott der Handwerker (ein moderner, den gesellschaftlichen Blickpunkt einbeziehender Ansatz, wie er sich bei Wilamowitz nicht selten findet); drittens wird hier, ganz im Geist des 19. Jh.s nach dem Ursprung des Gottes gesucht. Malten fand diesen in Kleinasien, in Lykien, jenseits der Grenzen der griechischen Welt und setzte damit das folgenreiche Klischee von Hephaistos als nichtgriechischem, exotischem Gott in Umlauf. Es dauerte eine ganze Weile, bis Marie Delcourt in ihrer Studie mit dem programmatischen Titel Héphaïstos ou la légende du magicien neue Wege einschlug. Der Gott erscheint bei ihr nicht mehr bloss als Schutzherr der Töpfer und Schmiede, sondern als grosser Zauberer, als Herr der Fesseln und des magischen Banns. Dieses wegweisende Buch hat kaum unmittelbaren Einfluss ausgeübt. Neben dem für viele Leser damals ungewohnten vergleichend anthropologischen Ansatz mag dazu beigetragen haben, dass es bei allem Reichtum des für seine These vorgelegten Materials doch gewisse Mängel in der philologischen Behandlung der Quellen aufweist8. Zu breiterer Wirkung gelangten die Ideen von Delcourt indes, als Jean-Pierre Vernant und Marcel Detienne sie in ihrem Buch über die Mètis der Griechen aufgriffen; durch sie wurde das Bild des Hephaistos als Magier kanonisch und beherrscht auch neuere Arbeiten wie die von Christopher A. Faraone9. 6
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Zum novellenhaften Zug dieser Geschichten Friedländer 1934, 209. Zu Hera Delcourt, Héphaistos, 105f, weiteres bei Janko, Iliad IV, 168–172, vgl. unten p. 271. Hera wird auch in der Geschichte von Alkimache bei Nonn. Dion. 27.326–330, 30.192–208 in die lemnische Mythologie einbezogen. Über das Verhältnis des Demodokos-Liedes zu der Ilias-Szene, wo Hephaistos seinen Sturz erzählt, vgl. Burkert 1960, 134–137, und zur Dios Apate 137f; ausserdem 133f zum Verhältnis der Erzählung zum Kult; dazu auch Delcourt, Héphaistos, 76– 84; Wilamowitz, 1895, 224–226 = KS 5.2 (1937) 12–14 hielt He2 (dazu unten 4.1.3) für älter als das Demodokos-Lied; weiteres bei Heubeck, Odyssey I, 363–372 Garvie, Odyssey, 293– 312, Pötscher 1990, De Jong, Commentary, 206–209, Schmidt 1998. Wilamowitz 1895 = KS 5.2 (1937) 5–35, vgl. Glaube I, 320 n. 1 und Glaube II, 141–143; Malten, 1912, eine übersichtlichere Kurzfassung RE 8 (1913) 311–366 s.v. Hephaistos [L. Malten]. Unter den älteren Materialsammlungen zu nennen RML 1 (1884–90) 2036–2074 s.v. Hephaistos [A. Rapp], Farnell, Cults V, 374–395, Cook, Zeus III, 188–237. Typisch für die reservierte Aufnahme Rose 1959, dort 56 eine Auswahl von sachlichen Irrtümern, dazu auch Vian 1959, 75–77. Noch das Kapitel über Hephaistos bei Nilsson, Geschichte I, 526–529 stützt sich fast nur auf Wilamowitz und Malten; ein erster Versuch, Delcourts Auffassungen einzubeziehen bei Séchan/Lévêque, Divinités, 254–256. Detienne/Vernant, Ruses, 244–306; vgl. Faraone, Talismans, bes. 18–21, 133–135; auch Ogden, Kings, bes. 35–37.
4.1. Wer den wucht’gen Hammer schwingt
261
Kurz nach Erscheinen der Studie von Vernant und Detienne hat Frank Brommer die literarischen und archäologischen Zeugnisse über Hephaistos ein weiteres Mal gesammelt. Seine umfängliche Arbeit, die einiges neue Material beibringen konnte, konnte nachweisen, wie wenig die von Malten behauptete lykische Herkunft des Gottes in den Quellen Rückhalt hat10. Freilich änderte Brommer, trotz seiner erweiterten Quellenbasis, gegenüber Malten nichts an der Fragestellung oder der Art ihrer Lösung. Er versucht nämlich zu zeigen, dass der Gott ursprünglich aus Lemnos selbst stamme, und verweist ihn so ein weiteres Mal in den Randbereich der griechischen Welt, womit er, wie bei Malten, ein exotischer Gott bleibt. Die heute gebräuchlichen Handbücher und Untersuchungen spiegeln diesen Stand der Forschung11. Bloss eine der neusten Zusammenfassungen geht darüber hinaus, indem sie anzweifelt, dass sich das Wesen des Hephaistos aus seiner angeblich exotischen Herkunft ableiten lasse, sei sie lykisch oder lemnisch; vielmehr müsse man seine Ansiedlung auf Lemnos als Ausdruck der Marginalität des Gottes zu verstehen12. Das wirkt auf den ersten Blick gescheit, allein auf den zweiten erkennt man, dass die Formulierung nicht mehr leistet, als die alten Vorurteile unter dem Schleier einer strukturalistisch angehauchten Diktion zu verhüllen. Denn was bedeutet überhaupt eine uns marginal scheinende Lage im archaischen Griechenland, in einer Zeit, als das Kulturleben noch viel weniger auf das eine Zentrum Athen ausgerichtet war als später im 5. Jh.? Muss man sich wirklich vorstellen, dass die Bürger von Hephaistia, wenn sie sich zum Opfer für den Gott ihrer Stadt versammelten, ihre Lebenssituation als marginal empfanden? Zu fragen wäre doch vielmehr, ob unsere Vorstellung von der Marginalität des arbeitenden Gottes wirklich der Sichtweise der Griechen entspricht oder bloss der des wilhelminischen Bürgertums, aus welchem die Forscher stammten, die den Gott zuerst ins ferne Morgenland verbannt haben, als dessen Kindeskinder sich gerade
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Brommer, Hephaistos; zur Widerlegung Maltens bes. 1–3; Zweifel an dessen Herleitungen schon bei Wilamowitz, Glaube I, 320 n. 1, Nilsson, Geschichte I, 528, Delcourt, Héphaistos, 225–229. Vgl. Simon, Götter, 213–228, Burkert, GR 167f; weiteres bei Séchan/Lévêque, Divinités, 253–267, Stella, Tradizione, 117–125, Robertson 1983, 274f, Erbse, Untersuchungen, 76f, LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos, 628 [A. Hermary/A. Jacquemin], Muth, Einführung, 116– 119, Loucas-Durie 1989, 122f, Graf 1990, 69–76, Morris, Daidalos, 358, Shapiro, Art, 6f, Parker 1994, 346, Capdeville, Volcanus, 271–287. Hingegen arbeitet Lücke, Mythologie, 317–343 vor allem die allegorischen Deutungen des Gottes seit der Antike (bes. 327–331) und die ikonographische Rezeption bis in die Neuzeit auf (bes. 334–343). Caldwell, Origin, 170–185 bietet dagegen eine freudianische Deutung der Hephaistosgestalt, die insofern unbefriedigend bleibt, als sie den kulturellen Kontext der mythischen Erzählungen weitgehend vernachlässigt. NP 5 (1988) s.v. Hephaistos II. Kult [F. Graf] 354: „Doch darf man ... aus der Vielzahl der Münzen und theophoren Eigennamen in Kleinasien nicht auf aussergriechische Herkunft schliessen ... Vielmehr geht die Verbindung mit Lemnos mit der Marginalität des Gottes zusammen.“
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4. Der hinkenden Gott
die Athener, insofern sie Nachkommen ihres Urkönigs Erechtheus waren, stets verstanden13. Um in der Frage, welches die Bedeutung des Gottes in der archaischen Periode gewesen sein mag, festeren Boden unter die Füsse zu bekommen, versuche ich deshalb zunächst, die seine Person betreffenden Belege in dieser Epoche zu mustern. Eine solche Zusammenstellung allein kann auf die Frage nach Herkunft und Ursprung des Gottes keine zuverlässige Antwort geben; dazu sind unsere Kenntnisse zu lückenhaft. Vielleicht kann sie jedoch anregen, einen Pfad einzuschlagen, der von den herkömmlichen Meinungen weg und eines Tages in gesichertes Gelände führt. Tatsächlich ist es nicht ganz leicht, sich ein Bild von den frühen Stätten der Hephaistosverehrung zu machen, denn die direkten Zeugnisse setzen grösstenteils erst in nachklassischer Zeit ein14; selbst für Lemnos liegen in archaischer Zeit bloss indirekte – wenn auch ziemlich deutliche – Hinweise vor15. In Athen kommen wir kurz vor der Mitte des 5.Jh.s auf festen Boden, mit dem Bau des Hephaistostempels, wo zwischen 421 und 415 das erste belegte Kultbild des Gottes Aufstellung fand, und dann wieder mit einer auf 421/20 datierten Inschrift, welche von einer Neuordnung seines Festes berichtet16. Einen Altar für Hephaistos gab es ausserdem im Erechtheion, und da dieser zum ursprünglichen baulichen Bestand zu gehören scheint, muss er aus derselben Periode stammen17. 13
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Wie der Handwerkergott zur Projektionsfläche der Ressentiments von bürgerlichen Modernisierungsverlierern wird, tritt besonders in dem knappen Abriss bei Otto, Götter, 202 hervor, wo es heisst, dass es „ein Gott wie Hephaistos überhaupt zu keiner Würde bringen konnte, er sei bei Homer nichts als der kunstreiche Metallhandwerker, worüber er im Grunde auch später niemals hinausgekommen ist, er bedeutet ... für die homerische Religion so gut wie gar nichts, und spielt eine entschieden unvornehme, ja lächerliche Rolle“. Kritisch zur angeblichen Marginalität des Hephaistos auch Shapiro, Art, 9f. Übersichten zu den Kulten bei RE 8 (1913) s.v. Hephaistos 311–327 [L. Malten]; LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos, 630 [A. Hermary/A. Jacquemin], Delcourt, Héphaistos, 171–203, Brommer, Hephaistos, 157–190, NP 5 (1998) 354f s.v. Hephaistos II. Kult [F. Graf]. Zu Lemnos RE 8 (1913) s.v. Hephaistos 315f [L. Malten], Delcourt, Héphaistos, 171–187, Brommer, Hephaistos, 161–163, Steinhart 2000, 382–385. Dass der Kult des Gottes auf der Insel nicht erst im 5. Jh. von Athen aus eingeführt sein kann, belegen weniger die Stellen bei Hom., welche Hephaistos mit Lemnos verbinden (vgl. He1 und oben n. 1), als der Name der Stadt Hephaistia, vgl. unten p. 263; archäologische Belege allerdings fehlen für die Zeit vor der athenischen Eroberung völlig. IG I3 82 = LSCG Nr. 13. Zu Athen auch RE 8 (1913) s.v. Hephaistos 311–313 [L. Malten], Delcourt, Héphaistos, 191– 203, Brommer, Hephaistos, 157f, Simon, Götter, 226–228, Burkert, GR 167f, Robertson 1985, 269–281, Shapiro, Art, 1–5, Parker, Religion, 154, NP 5 (1998) s.v. Hephaistos II. Kult, 354 [F. Graf]. Zur gleichzeitigen Konjunktur von Darstellungen der Rückkehr des Hephaistos auf Vasenbildern unten p. 289. Einen archaischen Vorgängerbau scheint der Hephaistostempel an der Stelle nicht gehabt zu haben, vgl. Travlos, Bildlexikon, 261; zum Kultbild des Alkamenes Brommer, Hephaistos, 75–90, LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos, 634– 636 (Nrr. 67–81) [A. Hermary/A. Jacquemin]. Zum Hephaistosaltar im Erechtheion Paus. 1.26.5, Travlos, Bildlexikon, 213f, 218; archäologische Spuren gibt es keine. Ob die Anrufung des Hephaistos an dem alten – den ionischen Griechen gemeinsamen – Fest der Apaturien in
4.1. Wer den wucht’gen Hammer schwingt
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Verbreiteter bezeugt ist der Kult des Hephaistos erst in hellenistischer Zeit: In Mylasa in Karien wird damals ein Priester des Hephaistos genannt, auf Samos gibt es im 2. Jh. einen Fackellauf zu Ehren des Gottes, und auf Rhodos hören wir von einem Kultverein von Hephaistosverehrern18. Weniger sicher sind zwei andere Hinweise: In Epidauros gibt es Hinweise auf dem Hephaistos gehörendes Tempelgut19, und auf Naxos wird ein Hochzeitsbrauch mit dem Gott verknüpft20. Alle übrigen Belege stammen erst aus der Kaiserzeit. Vervollständigen lässt sich das Bild mit Hilfe der indirekten Zeugnisse: Wenn der Gott an einem Ort in Namen oder auf Münzbildern vorkommt, liegt es nahe zu denken, dass er daselbst auch Verehrung fand. Was die Ortsnamen angeht, so ist allein jener der Stadt Hephaistia auf Lemnos bereits in spätarchaischer Zeit belegt, nämlich gegen Ende des 6. Jh.s bei dem ionischen Geographen Hekataios21, und später wieder bei Herodot, und zwar für eine Zeit, die etwa an die Wende vom 6. zum 5. Jh. zurückführt22. Personen, welche den Gott im Namen tragen, finden wir bis ins 5. Jh. auf Chios, mehrmals auf Samos sowie in Milet und, auffällig genug, in seinen Kolonien Olbia und Sinope, endlich in Athen23. Im 4. Jh. werden die Belege im ionisch-attischen Gebiet dichter (Euboia, Melos, Delos u.a.), doch kommt nun auch Dorisches hinzu (Kyrene, Herakleia in Unteritalien) und Einzelnes sogar an der Peripherie der griechischen Welt (Pella u.a.). In hellenistischer Zeit häufen sich die Belege vor allem im südwestlichen Kleinasien, aber auch auf Rhodos, ausserdem in Boiotien, während sich ansonsten in Festlandgriechenland und im Grossgriechischen Westen nach wie vor wenige oder überhaupt keine finden lassen24.
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Athen (vgl. Istros FGrHist 334 F 2 = Harp. s.v. λαµπάς; weiteres, ziemlich Unsicheres, bei Farnell, Cults V, 380) etwas über das Alter des Kultes aussagt, wie Simon, Götter, 215 annimmt, muss offen bleiben; hier kann es sich auch um eine nachträgliche attische Neuerung handeln, vgl. Nilsson, Feste, 463f, Deubner, Feste, 232–234, Jacoby, Fragmente 3b (Suppl.) I, 628, Parke, Festivals, 88–92. Priester in Mylasa: IK 34 [Mylasa] Nr. 123 = Suppl.EG 29 (1979) 178: 3./2. Jh.; Kultverein auf Rhodos: Suppl.EG 30 (1980) 1004: 2./1. Jh.; zum Fackellauf auf Samos: Dunst 1967, Brommer, Hephaistos, 166, zu Samos allgemein Capdeville, Volcanus, 281f; Fackelstafetten für Hephaistos waren üblich (Hdt. 8.98.2), auch an den Hephaisteia in Athen, vgl. Farnell, Cults V, 378–384, Deubner, Feste, 213, Delcourt, Héphaistos, 200–203, Brommer, Hephaistos, 141, Robertson 1985, 281–288, Sfyroeras 1993, 2–5. Zuerst IG IV.1269: 3. Jh.; Späteres: IG IV.932.34, IV.1067. Schol. Hom. Il. 14.296a; zu Hephaistos auf Naxos RE 8 (1913) s.v. Hephaistos 315 [L. Malten], Brommer, Hephaistos, 164. FGrHist 1 F 13b = Steph. Byz. s.v. Ἡφαιστία. Vgl. 3.1.4. Chios: Hephaistos; Samos: Hephaistion (2x), Hephaistopolis; Milet: Hephaistion; Olbia: Hephaistodoros; Sinope: Hephaistios; Athen: Hephaistodoros (3x). Die Liste nach LGPN; vgl. auch Sittig, De nominibus, 96–100. Auf eine Auswertung der Belege aus dem hellenistischen Ägypten habe ich verzichtet, da sie für den griechischen Kult nicht unbedingt etwas aussagen: Hinter manchem Hephaistion mag sich dort ein Ptahotep oder etwas Ähnliches verstecken. Bedeutsam wären auch von dem Gott abgeleitete Monatsnamen, doch sind alle Belege erst kaiserzeitlich (Magnesia: IG IX.2 Nr. 1118, Lesbos [?]: IG XII Suppl. Nr. 29).
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4. Der hinkenden Gott
Auf Münzbildern erscheint der Gott überhaupt nicht vor dem 4. Jh., und zwar zuerst nach der Jahrhundertmitte in Methana in der Argolis und auf der westgriechischen Insel Lipara. Es folgt im sizilischen Hinterland die Stadt Mytistratos, endlich um 300 Lemnos. In der Kaiserzeit ist der schmiedende Gott in den Städten des griechischen Kleinasien eines der häufigsten Sujets auf Münzen25. Neben diese Zeugnisse treten die Sagen über den Gott, immer unter der Voraussetzung, dass Geschichten, die an einen ausdrücklich genannten Ort anknüpfen, an demselben möglicherweise einem Kult zugehört haben. Auf die lemnischen Erzählungen konnte ich bereits hinweisen: Sie sind in der Ilias vorausgesetzt, reichen also mindestens in die erste Hälfte des 7. Jh.s zurück und ich werde zeigen, dass sie wahrscheinlich einiges älter sind26. In Athen hingegen erscheint Hephaistos besonders eng mit Athene verbunden: Im Tempel des 5. Jh.s standen die beiden Gottheiten unmittelbar nebeneinander; sie wurden auch am Fest der Chalkeia gemeinsam verehrt27. Dazu scheint die Geschichte zu gehören, dass Hephaistos versucht habe, die Göttin zu vergewaltigen, wobei sein Samen zu Boden gefallen sei und der Knabe Erichthonios entstand. Diese Sage war offenbar auf dem Thron von Amyklai, einem verlorenen Bildwerk aus der 2. Hälfte des 6.Jh.s dargestellt28. Dazu kommt eine Stelle in den Elegien 25
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Zu Hephaistos auf Münzen: Brommer, Hephaistos, 67–71, LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos 632–636 [A. Hermary/A. Jacquemin]: Methana: Nr. 87; Lipara: Nr. 83, vgl. Nrr. 47–50, 84f, 241; Mytistratos: Nr. 86. Zur Münzprägung von Lemnos Head HN 262; das Einsetzen kurz vor 300 mag mit der vorübergehenden Unabhängigkeit zusammenhängen, vgl. 3.5.2. Vgl. 4.1.2f. Vgl. Suid. s.v. Χαλκεία; weiteres bei Deubner, Feste, 35f, RE 3 (1897) 2067f s.v. Chalkeia 4) [V. v. Schoeffer], Cook, Zeus III, 211–213, Delcourt, Héphaistos, 195f, Parke, Festivals, 92f, Simon, Götter, 215f, Burkert, GR 220, Robertson 1985, 271, Morris, Daidalos, 235, 359, Shapiro, Art, 13f, Sfyroeras 1993, 12–15; ausserdem Camassa, 1984, 837–839, 844–853 auch über mögliche Beziehungen zu den römischen Volcanalia; seine Vermutungen (847–853) über eine Parallele zum römischen Fischopfer an diesem griechischen Fest stützen sich leider auf zu wenige Belege, auch wenn damit gerade an rituellen Parallelen zu den Mythen einiges gewonnen wäre. Auf einer zweiten, mehr intellektuell abgeleiteten Ebene kann die Verbindung von Hephaistos und Athena als Wesensverwandtschaft gedeutet werden, etwa bei Plat. Prot. 321d, Kritias 109c u.a. So Paus. 3.18.13 (zu diesem Thron auch unten n. 116), ferner Eur. Frg. 925, Kallim. Frg. 260.18ff, Antig. Mir. 12.2 (= Amelesagoras FGrHist 330 F 1), Apollod. 3.14.6, Hyg. Astr. 2.13, Hyg. Fab. 166.3, Lact. Inst. 1.17.12f, Et.M. s.v. Ερεχѳεύς u.a. Eine Reihe von Quellen berichtet diese Geschichte als Fortsetzung der noch zu besprechenden Variante He2, vgl. unten p. 288. Weiteres bei RE 8 (1913) s.v. Hephaistos 348–352 [L. Malten], Cook, Zeus III, 218–223, Burkert, HN 170f, GR 143, Robertson 1983, 286–288 und 1985, 272f, LIMC 4 (1988) 923–951 s.v. Erechtheus [U. Kron], Gantz, EGM 77f, Capdeville, Volcanus, 283–285, Pötscher 1996–97, 313–316. Die älteste Anspielung, welche die Sage voraussetzt, ist die Anrede der Athener, die für Nachkommen des Erichthonios gelten, als Kinder des Hephaistos (παῖδες ῾Ηφαίστου) bei Aischyl. Eum. 13. Anspielungen auf den Kult des Erechtheus als solchen und seine Verbindung mit Athene gibt es bereits in der frühgriechischen Epik: Hom. Il. 2.546–551, Od. 7.78– 81 (vgl. Danais Frg. 2 Bernabé). Schon in der Antike hat man die Echtheit solcher Stellen gelegentlich angezweifelt (als sogenannte attische Interpolationen, vgl. Schol. Hom. Od. 7.80), doch so oder so führt die Überlieferung mindestens ins 6. Jh. zurück, vgl. Latacz, Ilias
4.1. Wer den wucht’gen Hammer schwingt
265
des Solon aus den Anfängen des 6. Jh.s, worin Hephaistos zusammen mit Athene als Schutzherr der Handwerkskünste erscheint29. Vielleicht spielt auch der Athener Staatsmann und Dichter auf zu seiner Zeit im Kult der Stadt wohlbekannte Verbindungen an30. Eine dritte aufschlussreiche Geschichte hören wir von der Insel Naxos31: Hephaistos, heisst es, habe dort bei Kedalion das Schmiedehandwerk gelernt32. Dazu erhalten wir Andeutungen über einen Wettstreit zwischen Dionysos und Hephaistos um die Insel33, und erfahren von einem goldenen Becher, den der göttliche Schmied, als er auf Naxos bei Dionysos einkehrte, diesem geschenkt hat34. Letztere Geschichte zitieren unsere Quellen aus dem Stesichoros, also einem Dichter vom Anfang des 6. Jh.s35.
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II, 175f, Heubeck/West/ Hainsworth, Odyssey I, 325f. Indessen hat die Zuversicht, mit der bes. Garvie, Homer, 178f annimmt, der Verfasser von Hom. Od. 7.78–81 habe Kenntnis der attischen Lokalverhältnisse im späten 7. Jh., in den wenigen, sehr allgemein gehaltenen Andeutungen dieser Verse kaum eine Stütze. Offenbleiben muss auch, ob die Sage von der Zeugung des Erichthonios nicht am Ende ein Stück sehr alter, bis auf einen gemeinindoeuropäischen Kern zurück zu verfolgender Mythologie enthält. Von allen Parallelen am merkwürdigsten ist die ossetische Legende von der Entstehung des Sozryko/Soslan aus dem Stein, auf den der Same eines Hirten fällt, der vom Anblick der Satanoj/Sætænæ erregt wurde, der unglaublich schönen und klugen Führerin des kriegerischen von den drei Nartenclans (vgl. Dumézil, Légendes, 75–77): Neben die Übereinstimmung im Hauptmotiv tritt hier eine Parallelität im Charakter der weiblichen Hauptfigur sowie ein reichlich irritierender Anklang in deren Namen (Athene/ Sætænæ). Sol. Frg. 13.49f; vgl. Hymn. Hom. 20.1f, das vielleicht ebenfalls aus Athen stammt, vgl. Morris, Daidalos, 360. Ältere Verbindungen der beiden Gottheiten bieten Hes. Theog. 571–584, wo die innere Logik der Handlung ebenso viel Gewicht haben mag wie ein allfälliger kultischer Hintergrund (in der Parallelstelle Hes. Erg. 60–68 steht die Verbindung von Hephaistos und Athene ohne eigenen Wert in einer ganzen Gruppe von an der Schaffung der Pandora beteiligten Göttern, aber vgl. Hes. Theog. 924–929), danach die jüngeren Textschichten des homerischen Epos (das Gleichnis Hom. Od. 6.232–235 = 23.159–162: attischer Einfluss? Zu der Stelle auch Morris, Daidalos, 229). Entsprechende Hinweise in orphischen Texten (Orph. Frgg. 178–180) stammen wohl erst aus dem 2. Jh. n. Chr., vgl. NP 9 (2000) s.v. Orphik, Orphische Dichtung, 61f [C. Calame]. Ähnlich schon Malten 1912, 243f. Ob der Bericht bei Plat. Krit. 112b über ein Heiligtum von Hephaistos und Athene auf der Akropolis in Athens grauer Vorzeit nicht einfach eine ideologische Konstruktion des Philosophen ist, wie etwa Delcourt, Héphaistos, 193 annahm, sondern echte Erinnerungen an ältere Kulte bewahrt, ist wohl unentscheidbar; vielleicht zu optimistisch Verrall/Harrison, Mythology, 120, vorsichtiger Séchan/Lévêque, Divinités, 259f, Capdeville, Volcanus, 283. Insgesamt überwiegt m. E. der Eindruck, dass der prächtige Tempel des 5. Jh.s nicht aus dem Nichts kommt. Sicher falsch ist die von Wilamowitz, Glaube II, 142 und vereinzelt noch in neueren Arbeiten (wie Robertson 1983, 288) vertretene Auffassung, Hephaistos sei erst nach der Eroberung von Lemnos in Athen eingeführt worden. Vgl. RE 16 (1935) s.v. Naxos 5) 2085 [R. Herbst], Delcourt, Héphaistos, 34–38, 189, Capdeville, Volcanus, 278–281. Schol. Hom. Il. 14.296a. Schol. Theokr. 7.149. Schol. Hom. Il. 23.92c. Vgl. Stesich. Frg. 234 Page.
4. Der hinkenden Gott
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Am wenigsten Sicheres ist aus der Nachricht zu gewinnen, derzufolge es Hephaistos war, welcher bei der Geburt der Athene das Haupt des Zeus mit einem Axthieb spaltete36. Entsprechende Bilder erscheinen seit dem Ende des 7. Jh.s auf Bilddarstellungen, vor allem auf Vasen, an verschiedenen Orten in der griechischen Welt. Die erste literarische Quelle für die Szene, Pindar, lässt in einem 464 geschriebenen Gedicht bei dieser Gelegenheit einen Goldregen über Rhodos niedergehen, bringt das Ereignis also mit dieser Insel in Verbindung37; spätere Quellen nennen dann allerdings zahlreiche andere Schauplätze. Fasst man den hiermit ausgebreiteten Stoff zusammen, so ergibt sich mindestens für fünf Orte eine bemerkenswerte Überschneidung der Erstbelege: Lemnos Athen Naxos Samos Rhodos
Kult kaiserzeitl. 5. Jh. hellenist. 2. Jh. 2./1. Jh.
Mythos 7. Jh. 6. Jh. 6. Jh. – 5. Jh.
Namen 6. Jh. 5. Jh. – 6. Jh. 3. Jh.
Münzen ~300 – – – –
Geht man davon aus, dass Mythen, theophore Namen und Münzprägung allesamt Aspekte jenes einen fait social total spiegeln, das der Kult einer griechischen Gottheit immer war, so drängt sich auf, den jeweils frühesten Beleg als ausschlaggebend für das Alter des Ganzen anzusehen, auch wenn der Kult im engeren Sinn erst viel später bezeugt ist. Das aber heisst, dass wir Hephaistos auf Lemnos zuerst im 7. Jh. fassen, seit dem 6. Jh. in Athen, auf Naxos und Samos, und im 5. Jh. auf Rhodos. Da es sich bei all diesen Daten bloss um termini ante quos handelt, sollte man sich hüten eine historische Ausbreitung von einem Zentrum her daraus abzuleiten. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist, dass der Kult des Gottes an all diesen Orten spätestens seit der Herausbildung der betreffenden polis eine gewisse Rolle gespielt hat38. Man sollte ja auch das Auftreten des Gottes in der frühgriechischen Dichtung ernst nehmen: Hesiod, der bald nach 700 in Boiotien und auf Euboia gearbeitet haben muss, ist mit ihm bestens vertraut39, und wenig danach spielt er in Ilias und Odyssee eine nicht zu vernachlässigende Rolle40. Daran schliessen sich Nennun36
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Vgl. RML 1 (1884–1890) s.v. Hephaistos, 2060–2063 [A. Rapp], RE 8 (1913) s.v. Hephaistos, 347f [L. Malten]. Für die Vasenbilder LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos 646f (Nrr. 188– 202) [A. Hermary/A. Jacquemin]; ältester Beleg ist Nr. 202, ein Paar Schildbänder aus Olympia (7./ 6. Jh.), das älteste Vasenbild (Nr. 188: um 570) allerdings stammt aus Theben. Pind. Ol. 7.34–39, vgl. unten n. 48. Einen zusätzlichen Beleg von ausserhalb Griechenlands liefert das attische Vasenfragment mit der Darstellung der Rückführung des Hephaistos, das auf dem Volcanal in Rom gefunden wurde; es belegt, dass schon im mittleren Drittel des 6. Jh.s eine Analogie zwischen Vulcanus und Hephaistos hergestellt wurde – auch dies setzt eine breite Bekanntheit des Hephaistoskultes voraus; vgl. Capdeville, Volcanus, 416 mit n. 5. Vgl. Hes. Theog. 866, 927, 945, Erg. 60. Zur Rolle des Hephaistos bei Hom. die Zusammenfassungen bei Schrade, Götter, 78–96, Townsend Vermeule, Götterkult, 90f, LFE s.v. Ἥφαιστος 949–951 [B. Mader], LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos 628f [A. Hermary/A. Jacquemin], Latacz, Ilias Prolegomena, 121f
4.1. Wer den wucht’gen Hammer schwingt
267
gen in den kleineren Epen und bei Autoren des 7. Jh.s wie Archilochos, Mimnermos, Alkaios und etwas später, wie erwähnt, bei Solon41. Man hat vor allem in der Darstellung der Ilias den Ausdruck persönlicher Überzeugungen Homers sehen wollen: Der Dichter habe sich in der Person des Künstlergottes wiedererkannt und ihm eine Rolle zugeteilt, die jene, die Hephaistos im wirklichen Leben spielte, weit überstieg42. Das ist wohl eine Deutung, die Tiefsinn nur vortäuscht, indem sie die Kunstideologie des bürgerlichen Zeitalters in eine völlig andere Gesellschaft zurückprojiziert. Ziemlich sicher erwartete das Publikum des 7. Jh.s von einem Epensänger etwas anderes als den Ausdruck persönlicher ästhetischer Programme, dazu noch in Metaphern, die religiöse Meinungen ausdrückten, welche von denen der Mehrheit der Zuhörer abwichen. Man erinnere sich an die Reaktion des Athener Publikums, als Euripides dreihundert Jahre später begann, sich mit derartigen kleinen Provokationen zu verlustieren. Aus dem Hervortreten des Hephaistos bei den frühen Dichtern ist im Gegenteil kaum ein anderer Schluss möglich, als dass das Publikum eines Sängers in dieser Zeit mit dem Namen etwas anfangen konnte, wo auch immer er seine Lieder vortrug. So ergibt sich, dass Hephaistos und sein Kult bereits im 7. Jh. keineswegs eine marginale oder exotische Angelegenheit waren. Eine Ausbreitung seiner Verehrung von Lemnos her müsste also noch weiter zurückliegen, im 8., vielleicht im 9. Jh. Unmöglich ist das keineswegs: Vergessen wir nicht, welch wichtige Rolle die Insel an den Handelswegen nach Nordosten spielte, und nicht die beträchtliche Strahlkraft eines Kultzentrums wie des Kabeirions von Hephaistia43. Gerade für letzteres setzt der archäologische Befund allerdings die formative Periode – wie für manche anderen Charakteristika der archaischen Kultur der Insel – erst in die Mitte des 7. Jh.s. Dazu kommt, dass die Vorstellung von der Herkunft des Gottes aus Lemnos immer mit seinem angeblich nichtgriechischen Charakter verknüpft wird, weil man sich die Insel von einem urtümlichen Pelasgerstamm besiedelt denkt. Wie gezeigt, handelt es sich bei den lemnischen Tyrrhenern jedoch kaum um die Urbevölkerung von Lemnos sondern eher um relativ späte Ankömmlinge auf einer bereits teilweise griechischen Insel44.
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[F. Graf]. Offen bleiben muss, ob der Hom. Il. 5.9f erwähnte Kult des Hephaistos in Ilion eine Entsprechung in der zeitgenössischen Wirklichkeit hatte; diesbezüglich naiv optimistisch Malten 1912, 233f und RE 8 (1913) s.v. Hephaistos 321 [L. Malten]. Vgl. Il. Parv. Frg. 29.3 Bernabé, Phoron. Frg. 2.5 Bernabé, Hes. Frg. 141.4, Archil. Frgg. 9.11, 108 West, Mimn. 12.6 West u.a.; zu Alk. unten p. 284. Nicht als wörtliche Zitate überliefert sind die wahrscheinlichen Erwähnungen des Hephaistos bei Kypr. Frg. 3 Bernabé, Danais Frg. 2 Bernabé, Teleg. Frg. 4 Bernabé, Ibyk. Frg. 300 Page (= Schol. Aristoph. Nub. 1050) und Simon. Frg. 552 Page (= Schol. Theokr. 1.65–66) u.a.; zu den frühen literarischen Belegen auch Brommer, Hephaistos, 4–9. Marg, Homer 11957, 36 (=21971, 43); der Gedanke aufgenommen etwa bei Simon, Götter, 213f, Burkert, GR 168, Erbse, Untersuchungen, 76. Wir wissen aus späterer Zeit, dass sich die Verehrer der Götter von Lemnos gerade auf Rhodos zu einem Verein zusammengeschlossen hatten: Eine Inschrift aus dem 1. Jh. nennt dort Ληµνιασται (IG XII.1.43). Hephaistos galt als Vater der Kabiren, doch fand man bisher im Kabeirion von Hephaistia keine archäologischen Hinweise auf den Gott, vgl. 4.3.3. Vgl. 3.1.4.
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4. Der hinkenden Gott
Man kann versuchen, die Vorgeschichte des Gottes bis in die Bronzezeit zu verlängern, doch wirkt das Material leider nicht sehr beweiskräftig. So ist schon die Existenz eines von Hephaistos abgeleiteten Personennamens in mykenischer Zeit problematischer als man meist meint45. Auch eine plausible Etymologie für den Namen Hephaistos hat bislang niemand gefunden, doch scheint das bei den griechischen Göttern gewissermassen der Normalfall46. So hat man in dieser Frage Zeugnissen aus dem nahöstlichen Raum ein besonderes Gewicht zugemessen: Bronzezeitliche Texte aus Ugarit kennen einen Schmiedegott namens Kotar, der in der Gesellschaft der dortigen Götter eine ähnliche Rolle spielt wie Hephaistos auf dem Olymp. Nach einer Stelle soll dieser Kotar im Lande Kaphtor seinen Wohnsitz haben, womit sehr wahrscheinlich das damals mykenische Kreta gemeint ist, und deshalb hat man vermutet, dass in Ugarit ein kretischer Schmiedegott bekannt gewesen sein müsse47. Bei einer solchen Ableitung bleiben natürlich viele Unsicherheiten; dennoch fällt auf, dass die frühen Zeugnisse für Hephaistos, wie gezeigt, hauptsächlich in 45
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Vgl. a-pa-i-ti-jo KN L588. Die Deutung als -ijo-Ableitung vom Namen des Gottes wird meist unhinterfragt akzeptiert (auch bei Stella, Tradizione, 121, DMic s.v. a-pa-i-ti-jo, Ilievski 1999, 307, vorsichtiger Gérard-Rousseau, Mentions, 34f; älteres bei Brommer, Hephaistos, 3). Das Fehlen der Aspiration (a- statt erwartetem a2-, vgl. Bartonek, Handbuch, 143) müsste dann bloss Sache der Schreibung sein; die von Ruijgh, Études, 157 n. 309 vertretene Auffassung, der Name habe als Folge der Grassmannschen Hauchdissimilation mykenisch die Aspiration verloren und jene der klassischen Form sei postmykenischen Ursprungs, rechnet damit, dass hier der seltene Fall einer sekundären nicht-lautgesetzlichen Aspiration vorliegt (vgl. Lejeune, Phonétique, 280f [§ 320] n. 1 zu ἵππος); allerdings ist nicht klar, ob das Grassmannsche Gesetz in mykenischer Zeit bereits wirksam war, vgl. Bartonek, Handbuch, 147f. Merkwürdig auch, dass der Beleg aus Knossos stammt: Gerade auf Kreta fehlt später jeder Hinweis auf Hephaistos, skeptisch deshalb Brommer, Hephaistos, 161, Camassa 1984, 838 n. 74, Capdeville, Volcanus, 271 n. 2; und irritierend ist der auf den Knossostafeln mehrfach zuverlässig belegte sehr ähnliche Personennamen pa-i-ti-jo/pa-i-ti-ja (Phaistios/Phaistia), abgeleitet von der kretischen Siedlung Phaistos (vgl. DMic s.vv. pa-i-tijo, pa-i-ti-ja, Bartonek, Handbuch, 418). Dass a-pa-i-ti-jo vom Namen des Gottes kommt, sollte man unter solchen Umständen nicht als gesicherte Tatsache hinstellen. Unklar ist schon die Rolle der Nebenform Ηεφαστος, ohne -i-, die etwa auf attischen Inschriften begegnet, vgl. Schwyzer, Grammatik I, 276, Chantraine 418 s.v. Ἥφαιστος. Noch Kretschmer 1943, 115 hielt sie für ursprünglich, der mykenische Beleg würde sie als sekundär erweisen (vgl. oben n. 45). Bei der Form mit dem -i- klingt wenigstens die Endung recht brav griechisch und könnte auf Herkunft von einer superlativischen Epiklese deuten – aber was soll ein Stamm hapha- bedeuten? Parallelen zur Bildung bieten ebenso dunkle Ortsnamen wie Phaistos oder, gleichfalls mit einem in der Überlieferung schwankenden -i-, das euboische Geraistos; in letzterem versucht Schwyzer, Grammatik I, 66 indes eine illyrische Endung zu sehen. Den simplen Ausweg, Hephaistos – wie es Cook, Zeus III, 190–200, Kretschmer loc. cit. oder Carnoy 1954, 359f noch bona fide tun konnten – einfach für pelasgisch, tyrrhenisch oder karisch zu erklären, sollte man (gegen LFE s.v. Ἥφαιστος 949 [B. Mader], weitere unten n. 49) heute nicht mehr einschlagen. Eine Zusammenstellung älterer Deutungen bei RE 8 (1913) s.v. Hephaistos 341 [L. Malten]. Für Kotar in Kaphtor: ANET 138, auch Caquot/Sznycer/Herdner, Textes, 178; zur Deutung der Stelle Wiesner 1968, Stella, Tradizione, 121–123, Graf 1990, 74, Morris, Daidalos, 73– 100, bes. 92–95.
4.1. Wer den wucht’gen Hammer schwingt
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den ionischen Raum weisen, während die dorischen Gebiete des Nordwestens lange zurückstehen48. Mit Athen und Lemnos sind ausserdem unter den Kultzentren zwei Orte, wo es an Zeichen einer besonderen Kontinuität über die dunklen Jahrhunderte hinweg nicht fehlt: Ist Hephaistos allenfalls wirklich ein alter südgriechischer, d.h. mykenischer Gott49? Solche Überlegungen wirken notgedrungen spekulativ. Sehr wahrscheinlich ist jedoch, dass in Griechenland niemand den Gott als Fremdling empfand und er dort ein weit älteres Heimatrecht besitzt, als die Forschung des vergangenen Jahrhunderts wahrhaben wollte. 4.1.2. Zwischen Himmel und Amboss Eine der am frühesten belegten Geschichten über Hephaistos behandelt seinen Sturz vom Olymp. Die Quellen erzählen sie in zwei Fassungen. Die erste lässt der Dichter der Ilias den Gott selbst berichten. Am Ende des ersten Gesangs will Hephaistos nämlich seiner Mutter Hera abraten, sich dem Willen des Zeus zu widersetzen, indem er sie an seine eigenen schlechten Erfahrungen erinnert, als er ihr einst gegen den Vater helfen wollte: He1a50 Denn schon ein andermal, als ich dir helfen wollte, packte er mich beim Fuss und schleuderte mich von der Schwelle der Götter, und den ganzen Tag trieb es mich hin, und zugleich mit der niedertauchenden Sonne fiel ich nieder auf Lemnos, und nur wenig Leben war noch in mir; dort kümmerten Männer der Sintier sich gleich um mich, als ich hinfiel.
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So auch Simon, Götter, 215. Die Belege für das dorische Rhodos sind in vieler Hinsicht seltsam: Pind. schrieb die betreffende Ode für die Aristokratenfamilie des Diagoras, die Herren der Stadt Ialysos, auf deren Akropolis ein Tempel der Athene Polias stand. Ialysos gehörte damals dem attischen Seebund an, und in diesem Umfeld wirkt es merkwürdig, wenn Athene und Hephaistos so eng verbunden werden – nach attischem Vorbild? Für eine Konkurrenz von rhodischen und attischen Mythen gibt es vielleicht gerade zu jener Zeit politische Gründe, vgl. Sfyroeras 1993, 20–23. Ob Pind. die Dinge schon in dem bei ihm wiedergegebenen Arrangement vorfand oder dieses selbst herstellte, muss offen bleiben. Als rhodische Schmiedegestalten treten sonst die Telchinen auf, vgl. 4.3.2. Allgemein scheint noch im 4. Jh. das Auftreten des Gottes ausserhalb des ionischen Bereichs hauptsächlich an Stätten vulkanischer oder bodenthermischer Aktivität geknüpft (zu Methana und Lipara: Delcourt, Héphaistos, 164, 190, Brommer, Hephaistos, 164, 171; vgl. Farnell, Cults V, 376f, Stella, Tradizione, 118f), und selbst in hellenistischer Zeit verdichten sich die Zeugnisse vor allem in einem begrenzten Gebiet an der Südwestküste Kleinasiens. Aus der Reihe tanzt bloss Mytistratos, offenbar eine Siedlung von Ureinwohnern im sizilischen Hinterland: Hier könnte die griechische Umdeutung einer indigenen Gottheit vorliegen. So etwa Stella, Tradizione, 121–123; Simon, Götter, 215 hält den Gott für ‚pelasgisch’ und ursprünglich in Athen ansässig (ähnlich schon Farnell, Cults V, 388f, Levin 1959, 332f); vgl. noch Séchan/Lévêque, Divinités, 260–262, Burkert, GR 167, Erbse, Untersuchungen, 77 n. 2, LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos, 628 [A. Hermary/A. Jacquemin], Muth, Einführung, 116f, Capdeville, Volcanus, 286f u.a., dazu oben n. 46. He1a = Hom. Il. 1.590–594; zu den Reflexen dieser Passage bei Apoll. Rhod. oben 3.5.1.
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Die Ursache des Streits zwischen Zeus und Hera, der zu diesem Sturz des Hephaistos führte, wird an zwei Stellen im 14. und 15. Gesang der Ilias ausführlicher erzählt51. An der einen ruft Zeus selbst seiner ewig aufmüpfigen Gattin in Erinnerung, wie er sie einst hat bestrafen müssen: He1b52 Oder erinnerst du dich nicht, als du von da droben herabhingst? An die Füsse hatte ich dir zwei Ambosse gehängt und um die Arme eine Fessel gelegt, aus Gold, unzerreissbar, und du, im Luftraum, zwischen den Wolken hingst du. Die Götter indes auf dem grossen Olymp wurden zwar sauer, lösen konnte dich keiner, ich liess ihn nicht ran, und wen ich erwischte, den packte ich, schleuderte ihn von der Schwelle, dass er, kam er hinab auf die Erde, sich ziemlich schwach fühlte. Mir jedoch, nicht einmal so liess mir das Herz in Ruhe die pausenlose Qual um Herakles, den göttlichen. Du hattest ja mit Boreas, dem Wind, die Sturmböen beschwatzt und jenen über das brausende Meer verschickt, mit fiesen Hintergedanken, und ihn hernach auf das prächtig bewohnte Kos abgetrieben. Dem hab ich von dort weggeholfen und ihn heimgeführt, von neuem nach Argos, wo die Rosse weiden, soviel er auch durchmachen musste.
Dass das Opfer, welches der zornige Zeus vom Olymp schleudert, Hephaistos gewesen sein muss, wird aus wörtlichen Anklängen an He1a deutlich, auch ohne dass der Name genannt wird. Über die Landung des Herakles auf Kos schliesslich, bei welcher der Heros mit den Ureinwohnern der Insel in Kämpfe geriet und ihre Stadt zerstörte, sind wir nur aus Quellen ausserhalb der homerischen Gedichte unterrichtet53. Auch an unserer dritten Stelle dient die Geschichte als Warnung für Hera. Diesmal ist es Hypnos, der Gott des Schlafes, der sie erzählt, weil Hera ihn für eine Intrige gegen Zeus zu gewinnen versucht. Ihm ist anscheinend ebenso unvergesslich geblieben, wie es seinerzeit ausging: He1c54 Denn schon ein andermal war mir ein Auftrag von dir eine Lehre, an dem Tag, wo dieser Dings, der hochmütige Zeussohn, wegfuhr von Ilion, nachdem er die Troerstadt geplündert hatte55.
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Dass dieselbe Geschichte an zwei verschiedenen Stellen berichtet wird, ist im Epos nicht unüblich, vgl. Hom. Il. 5.638–42/648–51/7.452f/21.441–457, 20.89–96/188–194, 21.57– 59/76–82 u.a.; zu ähnlichen Gewaltdrohungen des Zeus gegenüber Hera (Hom. Il. 1.565–567, 8.401–408, 415–424) Synodinou 1987. Diese kritisiert 18f die herkömmliche Betonung des burlesken Aspekts solcher Szenen, weil Hera selbst die Sache absolut nicht lustig finde; damit erliegt sie wohl einem grundsätzlichen Irrtum über die Natur des Komischen: Findet etwa Graf Almaviva lustig, was Susanna und die Gräfin mit ihm anstellen? He1b = Hom. Il. 15.18–30. Eine weitere Andeutung bei Hom. Il. 2.676–679 (vgl. Schol. ad loc.); ausserdem Hes. Frg. 43.61–64, Pind. Nem. 4.25–7, Isthm. 6.31–33 und weiteres bei Janko, Iliad IV, 191f (zu 14.250–61), Visser, Katalog, 635–638. He1c = Hom. Il. 14.249–261.
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Da schläferte ich Zeus den Verstand ein, dem Geissenfellschüttler, schloss ihn sanft in die Arme. Und du, fiese Absichten gegen ihn im Herzen, hast angestachelt von garstigen Winden auf dem Meer ein Geblas, und ihn hernach auf das prächtig bewohnte Kos abgetrieben, weit ab von all seinen Leuten. Und als der andere aufwachte, geriet er ins Toben, boxte die Götter im Haus in alle Ecken, und mich mehr als jeden sonst suchte er, und hätte wohl mich spurlos aus dem Luftraum ins Meer versenkt, wenn nicht Nacht, die Götter- und Menschenbezwingerin, mich gerettet hätte. Zu ihr hab ich mich geflüchtet, und der andre gab auf, auch wenn er noch grollte, denn er traute sich nicht zu tun, was der hurtigen Nacht wider den Strich ging.
Hier droht dem Gott des Schlafes dasselbe Schicksal, wie es Hephaistos tatsächlich ereilt hat, mit dem Unterschied, dass der Himmelssturz nicht auf eine Insel sondern in die Tiefen des Meeres führt; das erinnert bereits an die anschliessend zu besprechende Variante He2 der Hephaistossage. Die Ähnlichkeiten zwischen dem Fall des Hypnos und den beiden Geschichten über den Schmiedegott verdichten sich noch, sobald man das Umfeld betrachtet, in dem die zitierte Passage steht56: Das Gespräch zwischen Hera und Hypnos findet auf Lemnos statt, die Göttin verspricht dem Schlaf für seine Hilfe eine Charitin zur Frau, genauso wie Hephaistos in der Ilias mit einer Charis verheiratet ist, und vorher ist als Bestechungsgeschenk von einem durch Hephaistos verfertigten Sessel die Rede – wir werden sehen, dass ein solcher in He2 eine verhängnisvolle Rolle spielt57. Verbindet man diese drei Textabschnitte zu einer geschlossenen Erzählung, so entwickelt sie sich in drei Abschnitten: A: Das Schiff des Herakles wird auf der Heimfahrt von Troia durch einen Sturm abgetrieben. B: Zeus bestraft Hera, indem er sie am Himmel aufhängt. C: Hephaistos versucht, ihr zu helfen, und wird aus dem Olymp geworfen. Alle drei Elemente finden sich nur vereinzelt so verbunden58, doch während die Verknüpfung von [A] und [B] schon durch He1b/c vorgegeben wird, gibt es immerhin Texte, die wie He1a ausdrücklich [B] und [C] zusammenhängen59. Der Schluss drängt sich auf, dass der Dichter der Ilias die Sage vom Himmelssturz des Hephaistos in Form einer zusammenhängenden Erzählung kennen gelernt hat. Ebenso nahe liegt die Annahme, es habe sich dabei um ein Gedicht gehandelt, welches das Leben des Herakles oder mindestens seinen Feldzug gegen Troia mit
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Zum diesem ersten Troiazug des Herakles Hom. Il. 5.640–642, vgl. Scodel, Listening, 141– 149, Gantz, EGM 400–402. Üblich ist, daraus abzuleiten, dass die Hypnosepisode vom Dichter nach dem Vorbild der Hephaistossage erfunden sei, vgl. Malten 1912, 252 n. 2, Von der Mühll, Hypomnema, 223, Janko, Iliad IV, 192 (zu 14.256–61); zur Problematik solcher Schlüsse unten p. 282. Hera und Hypnos: Hom. Il. 14.229–232; Charitin für Hypnos 14.267f; Hephaistos’ Gattin 18.382f; der Sessel 14.238–241. Die Parallelen gehen nach anderen Quellen noch weiter: auch Hypnos soll, als Sohn der Nacht, vaterlos geboren sein (Hes. Theog. 212f, 758f), und es gab von ihm offenbar Darstellungen mit verdrehten Füssen (Paus. 5.18.1). Apollod. 1.3.5, Schol. Hom. Il. 1.590. Scholl. Hom. Il. 1.591b, 15.18, Val. Fl. 2.82–93.
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4. Der hinkenden Gott
einer gewissen Ausführlichkeit berichtete60. Der Epiker hätte danach seine Kenntnis von der Herabkunft des Hephaistos nach Lemnos nicht unmittelbar aus der Lokaltradition der Insel bezogen, sondern aus einem Werk, das sich bereits an ein weniger begrenztes Publikum richtete. Diese Überlegung macht klar, dass es vor der Ilias mindestens zwei aufeinander folgende Textstufen des Mythos gegeben haben muss: die lokale Legende und das Epos über Herakles. Über die Lebensdauer solcher Versionen und darüber, wie schnell sich ihre Kenntnis ausbreitete, wissen wir nichts. Dennoch wird man annehmen dürfen, dass die Geschichte vom Himmelssturz des Gottes auf der Insel Lemnos selbst und wohl auch anderswo, spätestens in der zweiten Hälfte des 8. Jh.s bekannt war. Anderseits ist gut möglich, dass die Fabel bei ihrer Verbreitung in einem weiteren Raum von Elementen gereinigt wurde, denen bloss lokales Interesse zukam. Vielleicht stammt sogar das eine oder andere Detail, das in der späteren Überlieferung die Erzählung der Ilias ergänzt, aus solchen alten Quellen61. Natürlich nicht alle, denn ein Teil besteht lediglich darin, dass Züge aus der Variante He2 eingemischt werden62. Interessanter sind Berichte, die der unsanften Landung des Gottes eine Folge zuschreiben, die Homer nicht ausdrücklich nennt: dass Hephaistos deswegen verstümmelte Füsse habe63. Das sieht nun zunächst nach einem Versuch aus, die Verkrüppelung des Gottes und die Sturzgeschichte zusammen zu einem vernünftigen Ende zu denken. Indessen werde ich bei der Variante He2 zeigen, dass dort dasselbe Körpermerkmal nicht Folge sondern Ursache des Sturzes ist: 60
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So Kullmann, Wirken, 29–33; vgl. Janko, Iliad IV, 191f (zu 14.250–61). Scodel, Listening, 149 mahnt zur Vorsicht, weil im Zusammenhang einer Heraklesdichtung die Episode von Hephaistos [C] nicht zwingend ebenfalls habe erzählt werden müssen; das stimmt zwar, doch umgekehrt lässt sich der Sturz des Gottes ohne diesen Vorspann von Ursachen kaum sinnvoll berichten, so dass die Sequenz (von hinten gelesen) trotzdem unauflösbar ist. Auch Erbse, Untersuchungen, 77–79 meinte (teils nach Reinhardt, Ilias, 100–106), Hephaistos könne in der Heraklessage nicht vorgekommen sein, weil erst Hom. den Gott zum Olympier aufgewertet habe – ein Zirkelschluss, vgl. unten p. 282. Die einzige erhaltene bildliche Darstellung vom Sturz des Hephaistos ist ein römischer Relieffries aus Ostia (2. Jh. n. Chr.), vgl. LIMC 8 (1997) s.v. Vulcanus 289 (Nr. 69) [E. Simon]. Da dort über dem Stürzenden sowohl Zeus wie Hera aus den Wolken blicken und der Gott als Erwachsener in Arbeitskleidern dargestellt ist, muss man wohl (gegen LIMC loc. cit.) eher an He1 als an He2 zu denken, wo Hera jeweils allein ist. Bei Myth. Vat. 1.125 heisst es zwar, dass Hephaistos „von seinen Eltern, d.h. Iupiter und Iuno“ geworfen wurde, doch das ist wohl eine Vermischung der Varianten infolge einer für die späte Handbuch- und Kommentarliteratur typischen Verkürzung. Weiteres auch bei Schefold/Jung, Göttersage, 126f, auch Cook, Zeus III, 228f n. 8 mit Abb. 146, Lücke, Mythologie, 334. Ausserdem haben die Herausgeber vorgeschlagen, eine beschriftete Graffitoskizze aus dem Theater von Ephesos auf den Sturz des Hephaistos zu beziehen (Merkelbach/Nollé, IK 16.VI, 65–67 [Nr. 2091]); kaum richtig: Statt Ηρα{κλ} (Hera) und Ηφαιστος (Hephaistos) ist auf diesen Beischriften ziemlich sicher zweimal der Name des Herakles zu lesen (nämlich einmal als Ηρακλ und das andere Mal als Ηρακλς). Vgl. 4.1.3. Apollod. 1.3.5, Lukian. Sacr. 6, Schol. Hom. Il. 1.590, vgl. Val.Fl.2.92f.
4.1. Wer den wucht’gen Hammer schwingt
He1: He2:
Sturz Lähmung
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Lähmung Sturz
In diesem Punkt erscheint He2 demnach als Krebs von He1. Damit entsteht zwischen den Geschichten bereits eine Beziehung, die über die mechanische Kontamination zweier Quellen hinausgeht64. Eine merkwürdige Sonderform der Sage liegt schliesslich vor, wenn bei Valerius Flaccus die Fesselung der Hera nicht mit ihrer Intrige gegen Herakles begründet wird, sondern damit, dass Zeus in einer frühen Phase seiner Herrschaft, als er sich von Aufruhr umgeben wähnte, ein Exempel für seine Macht statuieren wollte65. Hier dürfte weniger eine verhüllende Schilderung von Heras Verhalten gegenüber Herakles vorliegen, als eine gezielte Umdeutung jener anderen Stelle in der Ilias, wo von einer beinahe erfolgreichen Meuterei der Götter gegen Zeus die Rede ist66. Mit der Episode bei Homer verglichen, kehrt sich bei dem römischen Epiker freilich das Verhältnis zum Weiblichen um: Wird dort die Herrschaft des obersten Gottes durch die Hilfe einer Göttin gerettet, der Thetis, ist es hier die Erniedrigung einer Frau, welche sie befestigen soll. Einmal mehr steht eine solche Geschichte bei diesem flavischen Dichter, dessen virtuoses Jonglieren mit der mythischen Tradition wir schon ebenso haben bestaunen können wie die Bereitwilligkeit, mit der er sich zum Propagandisten autoritärer Herrschaft macht67. Über solche mehr literarischen Variationen hinaus weisen zwei andere Nachrichten: Die antiken Kommentare zu Homer ergänzen He1b um zwei Verse, die
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Bei Eusth. Hom. Il. 1.591f [158.30f] erscheint die Verstümmelung der Füsse als Folge des Wurfs aus dem Olymp durch Hera, eindeutig ein später Irrtum, der He1 und He2 durcheinanderbringt. Die verkrüppelten Füsse des Gottes zu deuten versuchen Malten 1912, 252–256, Delcourt, Héphaistos, 110–122, 130–132, Detienne/Vernant, Ruses, 256–259, Stella, Tradizione, 119 mit n. 160, Ogden, Kings, 35–37, Lücke, Mythologie, 325f, 328; Graf 1990, 70f sieht darin eine Spiegelung der angeblichen ‚Marginalität’ des Gottes, Edwards, Iliad V, 192f (zu Hom. Il. 18.394–405) einen Hinweis auf sexuelle Impotenz, Faraone, Talismans, 133f hingegen deutete die verdrehten Füsse apotropäisch als Versuch, den gefährlichen Gott in seiner Wirksamkeit zu hemmen; weiteres bei Dasen, Dwarfs, 165f, 194–200; die naturalistische Lesart der Lähmung von Rosner 1955 – als Spur eines später aufgegebenen Gebrauchs von Arsen zur Bronzehärtung im 3. Jt. mit Vergiftungsfolgen – erklärt nicht, warum das Motiv bis in klassische Zeit tradiert wurde. Die reichlich beliebige Vielfalt von Deutungen zeigt, wie man niemals einzelne Motive sondern immer nur zusammenhängende Geschichten interpretieren sollte, um zu einigermassen diskutablen Resultaten zu kommen. Man hat ausserdem öfter, in nicht immer glücklicher Weise versucht, den beinlahmen Hephaistos mit dem am Fuss verletzten Philoktet zu verbinden, zu diesen Vermutungen unten 4.2.2. Val. Fl. 2.82–85. Hom. Il. 1.396–406, vgl. Schol. Hom. Il. 1.400b; weiteres bei Poortvliet, Valerius, 75–77. Vgl. 3.3.3.b. In einer anderen Richtung geht die spätere Umdeutung an den gerade bei dieser Geschichte nicht seltenen Stellen, wo sie als naturkundliche Allegorie gedeutet wird, etwa Cornut. Theol. Graec. Comp. 19, Herakleit. All. Hom. 26f, Serv. Verg. Aen. 8.414, 8.454, Fulg. Myth. 1.3 [19.1 Halm], weiteres bei Buffière, Mythes, 115–117, 165–168, Lücke, Mythologie, 328.
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nicht in den Handschriften stehen, und die man heute allgemein für spätere Zusätze hält68: He1b′ ... bevor ich dich aus den Fesseln löste und die Metallklötze in Troia niederwarf, damit sie auch den Künftigen kundig seien
Der Kommentator fügt an, dass die Klötze in Troia von den Fremdenführern gezeigt würden. Diese Stelle verbindet also den Text der Ilias mit der Wirklichkeit der Troas und zeigt, wie das Interesse der antiken Reisenden am Schauplatz des Epos dazu führte, dass die man Gegend zur homerischen Landschaft umdeutete. Anderseits erscheint damit das Motiv des Himmelssturzes vom Schmiedegott auf sein Werkzeug übertragen – doch dazu gleich mehr. Seit hellenistischer Zeit schliesslich finden wir Berichte über den Ort auf Lemnos, wo Hephaistos hingefallen sein soll: Es war ein Hügel bei Hephaistia, an dem ein Tempel des Gottes lag und wo die lemnische Sphragis gegraben wurde69. Die an diese heilkräftige Erde geknüpften Traditionen werde ich noch ausführlicher behandeln; hier geht es bloss darum, dass in diesen Berichten, ebenso wie bei dem über die Ambosse in Troia, die alte Sage mit einer Einzelheit des lokalen Kultes verbunden wird. Bezeichnend für diese Zusätze aus der Nebenüberlieferung ist, dass sie Elemente einführen, die wir auch in anderen Geschichten wiederfinden. Der Fall des Hephaistos steht ja keineswegs allein, wir kennen vielmehr eine ganze Reihe von Sagen über Himmelsstürze. Es würde zu weit führen, diese hier gründlich zu behandeln; gleichwohl können ein paar Hinweise den Zusammenhang verdeutlichen, in den unsere Legende gehört. Am nächsten liegt sicher die Geschichte, wie Ate, die als weibliche Gottheit gedachte Verirrung und Verblendung der Menschen, durch Zeus vom Olymp geschleudert wird, denn auch dies wird schon in der Ilias erzählt70: Als Herakles geboren werden sollte, heisst es, habe Hera ihren Gatten gebeten, jenem, der an dem Tag zur Welt käme, die Herrschaft zu verleihen. Zeus stimmte zu, und da verzögerte sie die Geburt des Herakles und liess Eurystheus zuerst kommen. Als Zeus dies merkte, packte er Ate, von der er sich genarrt fühlte, zornig am üppig gelockten Haupt und schleuderte sie aus dem Himmel; seit da treibt sich die Göttin unter den Werken der Menschen herum.
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Hom. Il. 15.21a–b = Schol. Hom. Il. 15.21d. Die Verse waren wohl bestimmt, 15.22–30 zu ersetzen, die man als Wiederholung von He1c empfand; zu den sprachlichen Anzeichen später Entstehung: Janko, Iliad IV, 231 (zu 15.21–2). Zur Diskussion der antiken Homerphilologie um die Stelle auch Van Thiel, Iliaden, 100f. Zuerst Acc. Trag. 569–571 R, dann Gal. 12.170/173, Philostr. Her. 28.5 = HPh3, vgl. 3.1.5 und 4.2.1f. Hom. Il. 19.91–131; zum Begriff der Ate bei Hom. vgl. Hershkowitz, Madness, 128–132, dort 129 n. 12 die ältere Literatur. Zu Ate als mythologischer Figur auch RE 2 (1896) 1898– 1901 s.v. Ate [K. Wernicke]. Ich gebe bei der folgenden Serie von Geschichten sowohl Quellen wie Sekundärliteratur nur in knappster Auswahl.
4.1. Wer den wucht’gen Hammer schwingt
275
An dieser Fabel fällt auf, dass wir dasselbe Personal wiederfinden wie beim Himmelssturz des Hephaistos: Hera und Zeus, der für die Behinderung seines liebsten Sohnes Herakles Rache nimmt, indem er eine Helferin seiner Gattin bestraft. Ate scheint ausserdem in Ähnlichkeiten und Kontrasten eng auf Hephaistos bezogen71: Auch sie vermag die Menschen zu fesseln, mit ihren Irrtümern nämlich, und wie Hephaistos hat sie besondere Füsse, allerdings nicht verkrüppelte, sondern ausgesprochen flinke. Eine andere Umkehrung betrifft die Stelle, wo Zeus sein Opfer angreift: So packt er Hephaistos an den Füssen, Ate hingegen am Haupthaar. Das ist schon den antiken Kommentatoren aufgefallen, so dass sie sich Gedanken darüber machten und zum Schluss kamen, es wäre unziemlich gewesen, wenn Zeus eine weibliche Gottheit bei den Füssen gepackt hätte72. Sodann finden wir, nicht anders als bei Hephaistos, in der nachhomerische Überlieferung den Sturz der Ate mit einem Element der Landschaft verbunden: Sie soll auf den Hügel gefallen sein, wo später Troia gegründet wurde, und der deshalb Hügel der Ate hiess73. Natürlich ist man versucht, bei soviel Entsprechungen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den zwei Geschichten zu vermuten, sei es, dass der Iliasdichter beide im selben Zusammenhang, etwa in einem Heraklesepos, kennen gelernt hat, sei es dass er die eine nach dem Vorbild der anderen selber ersonnen hat74. Allerdings greift man wahrscheinlich zu kurz, wenn man Ate bloss als ad hoc erfundene Personifikation eines abstrakten Begriffs versteht. Nicht nur die Art, wie sie in die homerische Landschaft eingeschrieben wird, spricht dagegen, sondern auch dass sie schon bei Hesiod als eine der Töchter der Eris, des Streits, erschienen ist, also schon vor der Ilias ein gewisses Eigenleben hatte75. Besser erfasst man die Stellung der Figur wohl, wenn man sie den Sondergöttern zuordnet, d.h. als eine Gestalt versteht, die noch nicht ein so klar umrissenes Profil gewonnen hat wie die Olympier, aber schon mehr als eine für einen einmaligen Gebrauch erfundene Verkörperung ist76. Dazu passt, dass sie sich zusammen mit dem Hephaistosmythos in eine ganze Gruppe von analogen Geschichten einfügt. Die Überschneidungen zwischen dem Sturz der Ate und He1 können zu einem guten Teil Folge dieser Zugehörigkeit zu einem ähnlichen mythologischen Para71 72 73
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Zur Beschreibung der Ate Hom. Il. 9.505–507, 19.91–94. Schol. Hom. Il. 19.126; den getöteten Lykaon packt Achilleus bei Hom. Il. 21.120 ebenfalls am Fuss, um ihn in den Fluss zu schleudern, vgl. Reinhardt, Ilias, 103f. Zum Ate-Hügel Hellanik. FGrHist 4 F 25a (= Tzetz. Schol. Lyk. Alex. 29), Lyk. Alex. 29, Schol. Hom. Il. 19.131, Apollod. 3.12.3, Steph. Byz. s.v. Ἰλιον, Hesych. s.v. Ἄτης λόφος, Eusth. Hom. Il. 1.591 [157.5f], 19.129 [1175.60–62]; vgl. auch Macar. 2.58 = Arsenius 6.5, Diogenian. Vindobonensis 1.85. Möglich aber nicht sicher ist, dass die phantastische Bezeichnung der Welt, wo die Seelen herumwandern, bei Empedokl. Frg. B 121 DK als AteWiese (Ἄτης ... λειµῶνα) den Namen des realen Ate-Hügels bereits voraussetzt. Letzteres ein häufig vertretene Auffassung, vgl. Kullmann, Wirken, 26, Van Thiel, Iliaden, 480, Erbse, Untersuchungen, 11–17. Hes. Theog. 230. Vgl. auch Panyass. Frg. 18 Bernabé, Aischyl. Ag. 1433. Zum Begriff der Sondergötter vgl. besonders auch Usener, Götternamen, 76f, Cancik/Gladigow/Kohl, Handbuch, 75f s.v. Sondergötter [B. Gladigow].
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digma sein77. Mindestens vier weitere mythologische Figuren werden nämlich mit einem Himmelssturz verknüpft: Helle, Bellerophon, Ikaros und Phaethon. Helle zunächst, die Schwester des Phrixos, soll auf der Flucht des unglücklichen Geschwisterpaars vor der bösen Stiefmutter von ihren wunderbaren fliegenden goldenen Widder ins Meer gestürzt und dabei ums Leben gekommen sein78. Der schlimme Ausgang, den diese Geschichte nimmt, erinnert daran, wie selbst die vom zornigen Zeus geschleuderten Götter nur knapp mit dem Leben davonkommen, und den Sturz ins Meer werden wir ebenso in der zweiten Fassung der Hephaistosgeschichte treffen (He2). Nach einer Nebenüberlieferung soll Helle nicht umgekommen, sondern von Meergöttern gerettet worden sein79 – auch das entspricht genau dem, was mit Hephaistos in He2 geschehen wird. Und schliesslich haben nach dem Sturz der Helle ebenfalls Elemente der Landschaft ihren Namen erhalten: die Meerenge des Hellespontos und das sogenannte Grab der Helle, vielleicht eine markante Erhebung am Meeresufer von der Form eines Grabhügels80. Gleich zwei Himmelsstürze knüpfen sich wie bei Hephaistos an den Namen des Bellerophon. Nach der einen Geschichte rächte er sich an der verleumderischen Stheneboia, indem er ihr die Ehe versprach, sie mit dem Flügelpferd Pegasos in die Lüfte entführte und bei Melos ins Meer warf, wodurch sie ums Leben kam. Diese Geschichte, die vor allem durch die Tragödie Stheneboia des Euripides bekannt war81, entspricht ein Stück weit genau der von Phrixos und Helle (das Paar auf dem fliegenden Reittier, tödlicher Sturz des weiblichen Teils). Anders verläuft eine zweite Sage, in der Bellerophon selbst den Sturz erleidet: Aus purem Hochmut wollte der Heros den Himmel von oben betrachten und versuchte, mit dem Pegasos in den Himmel aufzusteigen; aber Zeus schickte dem Pferd eine stechende Bremse, so dass es den Reiter abschüttelte, und dieser stürzte 77
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Zum Vergleich von Ate und Hephaistos auch Delcourt, Héphaistos, 41, 119. Man wollte auch Ate von der babylonischen Krankheitsdämonin Lamaštu ableiten, die vom obersten Gott Anu aus dem Himmel verstossen wurde, vgl. West, EFH 390; doch die Übersetzung der betreffenden babylonischen Texte ist sehr unsicher, vgl. RlAss 6 (1980–83) 439–446 s.v. Lamaštu. So Apollod. 1.9.1, auch Diod. 4.47, Hyg. Fab. 3.2 u.a., vgl. Gantz, EGM 183f, LIMC 7 (1994) s.v. Phrixos et Helle 401f (Nrr. 27–44) [P. Bruneau], Luck-Huyse, Traum, 84–91; erster literarischer Beleg für den Sturz ist Apoll. Rhod. 1.256–258, bereits aus dem 4. Jh. stammt eine Darstellung auf einem Vasenbild (LIMC s.v. Phrixos et Helle Nr. 27). Eratosth. Kat. 19 = Hyg. Astr. 2.20 [805], Steph. Byz. s.v. ᾿Αλµοπία; vgl. Ov. Fast. 3.874, Val. Fl. 2.601–607. Der Name Hellespontos begegnet seit Hom. Il. 2.485, Od. 24.82 u.a.; dass der erste Teil als Name einer Person abgetrennt wird, ist jedoch erst seit dem 5. Jh. belegt (Aischyl. Pers. 70, 722, 799, 875). Zum Grab der Helle: Hdt. 7.58.2 und Lukian. Dial. Mar. 6.1 mit den genaueren Angaben über den Ort ihres Sturzes (Hellanik. FGrHist 4 F 127 = Schol. Apoll. Rhod. 2.1144, vgl. Apostol. Cent. 11.58); eine mögliche Identifikation des Ortes bei Müller, Kleinasien, 827f, 895f. Hypoth. Eur. Stheneb, vgl. Eur. Frgg. 669–671; auch das einzige Vasenbild mit diesem Thema ist wohl von Eur. abhängig, vgl. Gantz, EGM 314, LIMC 7 (1994) s.v. Stheneboia 811 (Nr. 7: um 420–400) [C. Lochin], weiteres bei Collard/Cropp/Lee, Euripides I, 79–97, Jouan/ Van Looy, Euripide VIII.3, 1–27; auch Luck-Huyse, Traum, 77–84.
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auf dem Aleion-Feld nieder, wobei er verstümmelt wurde – ein Teil der Quellen präzisiert, dass er fusslahm geworden sei82. Auch diese Geschichte war später vor allem in der Gestalt berühmt, die Euripides ihr gegeben hatte (in seiner Tragödie Bellerophon), doch sie lässt sich bis ins 7. Jh. zurückverfolgen83. In ihr sind vor allem die Entsprechungen zu He1 und He2 deutlich: Zeus als Verursacher, Sturz aufs Festland und – wie bei Hephaistos – Lähmung des Helden an den Füssen; dazu wird auch diese Sage an einen Ort geknüpft, wo der Stürzende niedergegangen sein soll84. Weniger dicht sind die Parallelen bei der berühmten Geschichte vom Sturz des Ikaros: Daidalos, von König Minos gegen seinen Willen auf Kreta zurückgehalten, entkommt durch die Luft, indem er für sich und seinen Sohn Ikaros Flügel konstruiert; allein dieser fliegt zu hoch, gerät zu nahe an die Sonne, welche das die Federn zusammenhaltende Wachs schmilzt, und stürzt bei der Insel Ikaria ins Meer85. Dieses letzte Motiv verbindet Ikaros sowohl mit Stheneboia wie mit He2, doch ebenso merkwürdig ist, dass diese Sturzgeschichte mit Daidalos verknüpft scheint, einem wunderbar kunstreichen Handwerker der Vorzeit, nicht unähnlich dem Hephaistos selbst86. Phaëthon schliesslich, der Sohn des Helios, erbat von seinem Vater, einen Tag den Sonnenwagen zu lenken, verlor die Herrschaft über das Fahrzeug und verbrannte die halbe Welt, bis Zeus seiner Irrfahrt ein Ende setzte und ihn mit einem 82 83
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Zum Ganzen etwa Asklepiad. Trag. FGrHist 12 F 13 = Schol. Hom. Il. 6.155; die Lähmung der Füsse bei Schol. Pind. Ol. 13.130a, Scholl. Aristoph. Pax 147a und Ran. 846 u.a. Ältestes literarisches Zeugnis ist Pind. Isthm. 7.44–47, vgl. Gantz, EGM 314; der Bericht über das Leben des Bellerophon Hom. Il. 6.155–205 erwähnt den Sturz nicht, wohl aber 201f das Herumirren des Heros auf dem Aleion-Feld. Indessen zeigen Reliefbilder von Vasen etwa aus der Zeit der Niederschrift der Ilias wahrscheinlich den gestürzten Bellerophon unter dem geflügelten Pferd, vgl. LIMC 7 (1994) s.v. Pegasos 229 (Nr. 241.a.–c.) [C. Lochin]. Zur Tragödie Eur. Frgg. 306–310, 312 und die Parodien Aristoph. Ach. 426–429 und Pax 124–148, vgl. Collard/Cropp/Lee, Euripides I, 98–120, Jouan/Van Looy, Euripide VIII.2, 1–35. Eine orientalische Herleitung der Geschichte versucht White 1982, vgl. West, EFH 122. Die Lage dieses Aleion-Feldes wird bei Hom. Il. 6.201 nicht festgelegt (vgl. Strab. 12.3.27). Spätere Quellen schwanken zwischen Troia (Strab. 14.5.21), Kilikien, wo bei der Stadt Tarsos auch ein Huf niedergegangen sein soll, das der Pegasos bei der Gelegenheit verlor (Dion. Periheg. 869–873, vgl. Dion. Thr. FGrHist 512 F 1 = Steph. Byz. s.v. Ταρσός), und Lykien, wo es in der Stadt Tlos für Bellerophon Heiligtum und Grab (Quint. Smyrn. 10. 162f) und gemäss den Inschriften (TAM II.548a13/b12, 590.4) einen nach ihm benannten Bezirk gab; vgl. LIMC 7 (1994) s.v. Pegasos 227 (Nr. 204) [C. Lochin]. In der Regel gilt Bellerophon sonst als korinthischer Heros, vgl. Paus. 2.2.4, 2.3.5. Am bekanntesten ist die doppelte Behandlung der Geschichte durch Ov. Ars 2.83–96 und Met. 8.223–235; der älteste Hinweis darauf bei Xen. Mem. 4.2.33. Bilddarstellungen des eigentlichen Sturzes gibt es erst in der Kaiserzeit, wohl unter Einfluss des Ov. (vgl. LIMC 3 (1986) s.v. Daidalos et Ikaros 318f (Nrr. 35–45) [J. E. Nyenhuis]). Zum Ganzen Holland 1902, Delcourt, Héphaistos, 157–162, Frontisi, Dédale, 151–167, Gantz, EGM 274f, LuckHuyse, Traum, 39–72, Wenzel 1998, Jouan/Van Looy, Euripide VIII.2, 316f. Merkwürdig auch, dass über Daidalos erzählt wird, er habe seinen Neffen Talos ermordet, indem er ihn von der Athener Akropolis warf (Diod. 4.76.4–7, Ov. Met. 8.241–255), vgl. Frontisi, Dédale, 121–130, 159–167, Gantz, EGM 262.
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Blitz in den Eridanos stürzte87. Wieder ist hier Zeus der Verursacher des Sturzes, doch im Unterschied zu allen anderen knüpft sich die Geschichte nicht an einen Ort in der griechischen Welt sondern an eine Fabelgegend; denn der Fluss Eridanos bedeutet wenig mehr als eine Chiffre für den äussersten Westen der Welt88. Indessen scheint Phaëthon als Gestalt vor allem nach Rhodos zu gehören: Dort gab es – sonst eine Seltenheit – einen wichtigen Kult für Helios, und der Gott empfing jährlich das Opfer eines Viergespanns, das man für ihn ins Meer stürzte. Man kann darin durchaus eine rituelle Parallele zum Schicksal des Phaëthon sehen89. Diese ganze Gruppe von Geschichten lässt sich wohl nicht loslösen von jenen Berichten, wo nicht mehr eine Person vom Himmel stürzt, sondern ein Gegenstand. Auffällig sind vor allem die Sagen über aus der Höhe gefallene Götterbilder, deren bekanntestes das Palladion von Troia ist, jenes wunderbare Bild der Athene, das zu besitzen die Herrschaft über die Stadt garantierte. Ilos, der Urvater der Troianer, soll bei der Gründung der Stadt zu Zeus um ein Zeichen gebetet haben, und am anderen Morgen fand er vor seiner Hütte das vom Himmel gestürzte Palladion. Es heisst auch, dieses habe Athene selbst verfertigt zur Erinnerung an ihre Gefährtin Pallas, die sie versehentlich beim Spiel getötet hatte; später habe die Atlastochter Elektra, als Zeus sie vergewaltigen wollte, bei dem Bild Zuflucht gesucht, und da habe der Gott es ins Troerland hinabgeworfen90. Gerade diese zweite Geschichte, die das Palladion an die Mythen von Samothrake knüpft91, erinnert an das Erzählmuster von He1: Wieder treffen wir eine Frau, die sich dem Willen des Zeus widersetzt, eine Hilfe, bei der sie Zuflucht sucht, und die Rache des Zeus, die zum Himmelssturz führt. Eine letzte merkwürdige Stelle findet sich bei Hesiod. Dort wird der Abstand zwischen Himmel, Erde und Unterwelt durch die Zeit ausgedrückt, die ein fallender Amboss benötigt, ihn zu durchmessen: Neun Tage und Nächte fällt er vom 87
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Die Zeugnisse für den Mythos setzen im 5. Jh. ein, als er in verschiedenen verlorenen Tragödien behandelt wurde (Aischyl. Heliades, Eur. Phaëthon), vgl. Gantz, EGM 31–34; wie diese den Sturz schilderten, ist uns nicht mehr kenntlich, vgl. Collard/Cropp/Lee, Euripides I, 197, Jouan/Van Looy, Euripide VIII.3, 241f. Für den langanhaltenden Ruhm der Geschichte sorgte v.a. Ov. Met. 1.750–2.332, zu Späterem auch Nocita 2000, 98–100, MacCoull 2004. Eine ausführliche kommentierte Quellensammlung bei Diggle, Phaethon, 3–32, 180–204, zur Deutung Wilamowitz 1883, Hillgruber 1995, Rudhardt 1997, Luck-Huyse, Traum, 73–77. Vgl. Hes. Theog. 338 und Frg. 150.23f mit Hdt. 3.115. In einem Teil der Überlieferung heisst die Mutter des Phaëthon Rhode oder Rhodos (Hellanik. FGrHist 4 F 137= Scholl. Pind. Ol. 7.131f, Schol. Hom. Od. 17.208). Zum Sonnenkult auf Rhodos Diod. 5.56.4, Xen. Eph. 5.11.2 u.a.; zum Versenken des Viergespanns Fest. s.v. October equus [190.28–30 Lindsay], vgl. in der Inschrift LSCG Suppl. 94.8 aus Kameiros auf Rhodos den Festnamen Hippokathesia ( Ἵπποκαѳέσια = Pferdeversenken), ausserdem Nilsson, Feste, 427f. Apollod. 3.12.3, vgl. Lyk. Alex. 363f, Ov. Fast. 6.419–421, Dict. 5.5, Quint. Smyrn. 10.358– 360, Serv. Verg. Aen. 2.166 [SD] u.a.; das troische Palladion als solches ist schon in den kyklischen Epen erwähnt, vgl. Il. Parv. Frg. 25, Il. Pers. Frg. 1 Bernabé; weiteres bei NP 9 (2000) 192f s.v. Palladion [F. Prescendi]. Vgl. unten 4.3.4.
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Himmel und erreicht am zehnten die Erde, und ebenso lange dauert es von da in den Tartaros92. Das erinnert an die Ambosse der Hera, die nach He1b′ in Troia niedergeworfen werden. Noch merkwürdiger ist der Zusammenhang, in dem diese Verse bei Hesiod stehen: Es ist die Erzählung, wie die Götter die besiegten Titanen in den Tartaros werfen und dort in Fesseln legen93 – auch das ein Motiv, das an He1 erinnert. Dass Ambosse vom Himmel fallen, ist übrigens nicht so widersinnig, wie es zunächst scheint: Eine mehrfach bezeugte Überlieferung will, dass der Vater des Himmelsgottes Uranos eben Akmon, der Amboss, geheissen habe. Sprachwissenschafter haben darauf hingewiesen, dass das griechische akmon mit dem altindischen asma (Stein) und asmara (steinern) zusammengehört, dem ein gleichbedeutendes germanisches *hamaraz entsprach, wovon sich u.a. deutsch der Hammer herleitet. Zugleich bedeutet indisch asma auch den Himmel, ja das deutsche Himmel soll – mit einem anderen Suffix abgeleitet – zu derselben alten Wurzel gehören. Dass solche Vorstellungen etwas mit Meteorsteinen zu tun haben, die bisweilen in der Antike kultische Verehrung fanden, ist ein naheliegender Gedanke94. Es wäre reizvoll, diese Berichte ausführlicher zu untersuchen und mit den Überlieferungen über sogenannte Donnersteine zu verbinden, die man angeblich an vom Blitz getroffenen Orten fand, mit möglichen Anregungen aus dem Orient oder mit dem berühmten Mythologem vom steinernen Himmel, das vielleicht den Hintergrund dieses ganzen etymologischen Zusammenhangs bildet95. Hier soll es genügen festzustellen, dass der Himmelssturz des Hephaistos in einer ganzen Serie von Erzählungen steht, mit denen er wesentliche Motive teilt. So finden wir in mehreren Geschichten, dass es Zeus ist, der ein übermütiges, aufbegehrendes oder widersetzliches Gegenüber aus dem Himmel schleudert (Ate, Bellerophon, Phaëthon, ähnlich das Palladion von Troia); wir treffen die Motive des Ambosses, der Fesseln (Ate und die Titanen), der gelähmten Füsse (Bellerophon); wir hören, dass der Ort des Sturzes mit dem Namen einer Insel bezeichnet wird (Stheneboia, Ikaros), dass er auf einen Hügel führt wie in He1 (Ate, das Palladion) oder ins Meer, wie es uns bei He2 begegnen wird (Helle, Stheneboia, Ikaros). Überhaupt 92 93 94
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Hes. Theog. 722–725. Hes. Theog. 717f, 726–735. Am frühesten belegtes Beispiel ist der heilige Stein von Delphi, Hes. Theog. 497–500, Paus. 10.14.6. Der Meteor von Aigospotamoi (gefallen 467/6, vgl. Marm. Par. FGrHist 239 A 57, Plin. Nat. 2.149, Silenus Calact. FGrHist 175 F 1 = Diog. Laert. 2.11f) wurde noch in der Kaiserzeit gezeigt (Plin. Nat. 2.(59).149) und von der lokalen Bevölkerung verehrt (Plut. Lys. 12.1f). In mythischer Vorzeit sollen die in Orchomenos im Heiligtum der Chariten verehrten Steine vom Himmel gefallen sein (Paus. 9.38.1). Zur Verehrung solcher Steine Nilsson, Geschichte I, 201–207. Zu den Ambossen als Zeichen für einen kosmologischen Hintergrund in He1 weiteres bei Janko, Iliad IV, 229f (zu 15.18–31), doch sind die entsprechenden Deutungen bei Whitman 1970, 39–42 eher gewagt. Über die Donnersteine Plin. Nat. 37.(51).135/(55).150/(65).176 u.a.; zum steinernen Himmel mit seinen Motivparallelen im ganzen eurasischen Raum und darüber hinaus Reichelt 1913, Harmatta 1998.
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4. Der hinkenden Gott
sind die Orte, an welche diese Sagen sich knüpfen, merkwürdig. Einige liegen in der nordöstlichen Ägäis nahe beisammen: Samothrake (das Palladion), Troia (Ate, das Palladion), der Hellespontos (Helle). Nimmt man Lemnos hinzu, so bildet sich eine Linie von Landmarken, die dem Fahrweg der alten Händler in Richtung zum Schwarzen Meer folgt. Auffallend ist, dass die übrigen Erzählungen mit Örtlichkeiten verbunden scheinen, die genauso eine Linie nach Osten zeichnen, allerdings durch die südliche Ägäis: Korinth (Bellerophon), Melos (Stheneboia), Ikaria (Ikaros), Rhodos (Phaëthon), Lykien und Tarsos (Bellerophon). Was sich über Herkunft und Bedeutung dieser Art von Sagen daraus ableiten lässt, ist hier nicht der Ort zu ergründen. Stattdessen will ich nochmals zur Variante He1 zurückkehren und versuchen, ihren inneren Zusammenhang klarer hervortreten zu lassen. Überblickt man sie in ihrem Ablauf96, so fällt auf, dass darin ein paar Motive verdoppelt erscheinen: So finden wir zwei Inseln, Kos und Lemnos, zweimal ist von Füssen die Rede, von jenen der Hera, woran die Ambosse gehängt werden, und von jenen des Hephaistos, an denen Zeus ihn packt und die beim Sturz verletzt werden; und schliesslich gibt es den aither, der zugleich den Raum bildet, wo Hera aufgehängt wird und den Hephaistos in seinem Sturz durchmisst. Der erste und der dritte Teil der Fabel (A und C) entsprechen ausserdem demselben Handlungsmuster: Die Hauptperson wird durch den stürmischen Zorn einer erbosten Gottheit aus ihrer Bahn geworfen und landet auf einer Insel. Im ersten Fall trifft dieses Schicksal Herakles, den geliebten Sohn des Zeus und einer Frau, die nicht seine Gattin Hera ist, im zweiten Fall Hephaistos, den Sohn, den Hera ohne die Hilfe eines Mannes hervorgebracht hat97. Hera verabscheut Herakles, der jedoch wirksame Unterstützung von Zeus erhält, während Hephaistos vergeblich versucht, seiner Mutter zu helfen und sich den Zorn des Zeus zuzieht. Zwischen A und C wird also die Ordnung von Ursache und Wirkung auf den Kopf gestellt, und wir finden jene schon öfter beobachtete Erscheinung, dass die Vorzeichen sich umkehren, wenn eine Geschichte zuerst in der einfachen Reihenfolge, dann von hinten nach vorn erzählt wird, also den Krebs bildet. Bei dieser Art von Krebsumkehrung wird männlich zu weiblich, Affirmation zu Negation, Aktiv zu Passiv. So finden wir in A:
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Zur Interpretation auch Muth, Götterburleske, 22, Lücke, Mythologie, 317–319, und bereits Welcker, Trilogie, 206f und Delcourt, Héphaistos, 84f und 133–136, wo beim Vergleich mit der schamanistischen Initiation leider die Varianten durcheinander geworfen werden; zu Vermutungen über einen Zusammenhang von He2 mit Initiationen vgl. auch unten n. 137. Dass Hephaistos der Sohn der Hera allein sein soll, ist seit Hes. Theog. 927–929 eine feste Überlieferung, vgl. Hymn. Hom. Apoll. 317 (= He2a), Hes. Frg. 343.1f; merkwürdige Details zur Art seiner Hervorbringung bei Myth. Vat. 1.173, 2.48. Nach Schol. Hom. Il. 1.609 wurde er von Zeus und Hera vor ihrer Heirat gezeugt; einfach nur Sohn der beiden ist er bei Hom. Il. 1.577f, Od. 8.312, doch stellt auch Hom. sein Verhältnis zur Mutter als das engere dar, vgl. LFE s.v. Ἥφαιστος 951 [B. Mader]; weiteres Material bei RML 1 (1884–90) s.v. Hephaistos 2048f [A. Rapp], Gantz, EGM 74.
4.1. Wer den wucht’gen Hammer schwingt
Ursache a Die Stiefmutter hasst Herakles und vertreibt ihn.
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Folge b Der Vater kann dem Sohn helfen.
In der Krebsumkehrung von C verläuft die Handlung dagegen wie folgt: Ursache b′ Der Mutter kann nicht vom Sohn geholfen werden.
Folge a′ Der Stiefvater hasst Hephaistos und vertreibt ihn.
Dieses Arrangement von Gegensätzen wird bei der Ankunft der beiden Hauptpersonen auf der Insel fortgeführt: Hephaistos wird von den Sintiern freundlich aufgenommen, die sich um ihn kümmern und ihn in ihrer Gemeinschaft aufnehmen, während Herakles auf Kos ein feindliches Volk vorfindet, dessen Stadt er erobert und zerstört: der Integration in die Gruppe steht die Aggression an ihren Rändern gegenüber. So scheint unsere Geschichte zwei verschiedene Personentypen zu definieren: Vatersohn steht gegen Muttersohn, der hinkende Handwerker, der sein Leben im Haus verbringt, gegen den Heros, der Grenzen überschreitet und die Welt erobert. Dieser Kontrast zeigt sich nicht neutral, sondern wird mit einem klaren Werturteil verknüpft: Herakles rettet sich, denn er steht unter dem Schutz des obersten Gottes, Hera und Hephaistos hingegen trifft die Strafe des Zeus, der keine Rache zu befürchten hat. Die Vaterseite ist offensichtlich die stärkere98. So musste der Gott der Töpfer und Schmiede wohl aus der Sicht der landbesitzenden Kriegeraristokratie des geometrischen Zeitalters erscheinen: Für sie ist der Handwerker eine untergeordnete Figur, die nur von der Gnade der Herren lebt99. Entsprechend hat Zeus die Macht, Hera zu fesseln und über die Ambosse des Schmieds nach Belieben zu verfügen, ohne dass Hephaistos etwas dagegen tun kann, dabei wäre doch eigentlich er der Herr der Fesseln und die Ambosse sein ureigenstes Werkzeug100. 98
Einen Gegensatz zwischen hephaistischem Tellurismus und herakleischem Lichtprinzip entwickelte in etwas anderem Zusammenhang schon Bachofen, Mutterrecht II, 651f. Die Kritik an der Übermacht des Vaters bei Synodinou 1987 spiegelt dagegen mehr heutige Empfindlichkeiten in der Geschlechterfrage. 99 Zu Hephaistos als Schmied aus der Sicht der frühgriechischen Aristokratie: Graf 1990, 70f, NP 5 (1998) s.v. Hephaistos 353 [F. Graf]; ausserdem den schlechten Ruf der Schmiedewerkstatt bei Hes. Erg. 493 und zur Stellung des Schmieds in der homerischen Gesellschaft Eckstein, Handwerk, 27–29; weiteres zum Handwerkerstand unten p. 292. 100 Zu Hephaistos als Herrn der Fesseln oben p. 260; anderseits hat schon Wilamowitz 1895, 234f = KS 5.2 (1937) 23–25 die Fesselung der Hera mit Kulten in Verbindung gebracht, in denen Götterbilder, zumal jenes der Hera, gefesselt wurden; dazu ausführlich Heckenbach, de nuditate, 69–122, Delcourt, Héphaistos, 97–109, Merkelbach 1971, 19, Faraone, Talismans, 74–81.
4. Der hinkenden Gott
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4.1.3. Alle Räder stehen still Die Besonderheiten dieser Erzählung treten noch deutlicher hervor, sobald man sie mit der zweiten Variante vom Sturz des Hephaistos vergleicht. Auch diese findet sich bereits in der Ilias, und zwar im 18. Gesang, als Thetis zu Hephaistos kommt und ihn bittet, dass er neue Waffen für ihren Sohn Achilleus verfertige. Hephaistos geht auf ihren Wunsch ein, weil er sich an Wohltaten erinnert, die ihm die Göttin einst erwiesen hat: He2101 Da hab ich doch eine furchtbare und ehrwürdige Göttin im Haus! Sie war’s, die mich rettete, als das Weh mich einholte und ich weit herabfiel, weil meine Mutter es so wollte, das Hundsgesicht, die versuchte, mich zu verstecken, weil ich lahm war. Da hätte ich wohl Weh gelitten im Herzen, wenn nicht Eurynome und Thetis mich in ihrem Gewandbausch aufgenommen hätten, Eurynome, die Tochter des rückflutenden Okeanos. Bei denen schmiedete ich neun Jahre lang viele Kunststücke, Spangen und gebogene Armbänder, Zierknöpfe und Halsketten, in der gewölbten Höhle. Und ringsum floss der Strom des Okeanos, schäumte und brauste ungeheuerlich, und kein anderer wusste davon, weder von den Göttern noch von den sterblichen Menschen, sondern nur Thetis und Eurynome wussten es, die mich gerettet hatten.
Die Unterschiede zu He1 sind deutlich: Nicht Zeus wirft den Hephaistos aus dem Olymp, sondern Hera. Während der Gott seiner Mutter in He1 zu Hilfe eilen will, hat er hier also ein gespanntes Verhältnis zu ihr; und am Ende gelangt er nicht zu den Sintiern auf Lemnos sondern in die Tiefe des Meeres. All dies ist den Forschern längst aufgefallen, und sie haben nach Erklärungen dafür gesucht. Häufig wurde aus den scheinbaren Widersprüchen erschlossen, dass hier verschiedene Autoren am Werk seien, und versucht, die homerischen Gedichte in mehrere Textschichten zu scheiden102. Gelegentlich dringt dabei 101 He2 = Hom. Il. 18.394–405. Im poetischen Aufbau des Abschnitts versucht Edwards, Iliad V, 192 (zu 18.394–409) eine Ringkomposition nachzuweisen. 102 Typisch etwa Robert, Ilias, 468f. Meist hielt man dabei He2 für die primäre Fassung, He1 für eine sekundäre Erfindung, denn nur der Wurf durch Hera berühre „das Wesen der Hephaistosgestalt, insofern er das Hinken erklärt“ (so Kullmann, Wirken, 30–33, vgl. Kullmann 1965, 19f = Motive 180f und ähnlich schon Robert, Ilias, 441f). Die mythographische Nebenüberlieferung zeigt allerdings, dass letzteres in He1 ebenso der Fall ist, so auch Muth, Götterburleske, 22. He2 für sekundär hält Edwards, Iliad V, 193 (zu 18.394–409) nach Braswell 1971, 20–22, gemäss dem ausser He1 auch der Meersprung des Dionysos eine der Vorlagen gewesen sein soll (vgl. unten n. 137); allerdings ist gerade bei Braswell die Ordnung der Beziehungen zwischen den Stellen reichlich willkürlich. Interessant hingegen Van Thiel, Iliaden, 90f, welcher He1 der ersten Generation der Dichtung zuordnet (vgl. 139–142), die Stellen in der Dios Apate einer mittleren Stufe (vgl. 98–104, bes. 100f) und He2 der dritten und jüngsten Generation (vgl. 462–473, bes. 464f); auch dieses Modell wird wohl den komplexen Bezügen zwischen den Passagen nicht gerecht (vgl. oben p. 271 und unten p. 290), doch bemerkenswert der Kommentar (91): „Dieses Spiel der Variationen und Beziehungen setzt voraus, dass die Werke [d.h. die Einzellieder, aus denen später das Epos entstanden sein soll] nebeneinander lebendig und bekannt waren, d.h. vorgetragen
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durch, dass man die Geschichten nicht für originale Bestandteile des Werks halten will, weil Fesselung und Verprügelung der Hera nicht zum vertrauten Bild von der bürgerlichen Wohlanständigkeit des Klassikers passen103. So erklärte man je nachdem beide Episoden für späte Erfindungen ohne mythischen Hintergrund, wobei man ganz allgemein die Gestalt des Hephaistos, angeblich unter den Olympiern ein zugezogener Neuling, für eine junge Zutat im Epos erklärte104. Gerade dies widerspricht allerdings der nicht unbedeutenden Rolle des göttlichen Schmieds schon bei dem wohl älteren Hesiod. Überhaupt ist es kennzeichnend für diese Deutungen, dass sie die Ilias isoliert betrachten, alle anderen Himmelssturzgeschichten nicht einmal erwähnen und damit unterschätzen, wie voraussetzungsreich die homerische Dichtung auch in ihren einzelnen Erzählmotiven ist. Sinnvoller erscheint mir jene Auffassung der neueren Forschung, nach welcher der Ependichter aus einem breiten Repertoire traditioneller Geschichten stets jene auswählt, die ihm der jeweiligen Erzählsituation angepasst erscheint105. Dies wird gerade bei He2 besonders wahrscheinlich, sobald man die ausserhomerische Überlieferung des Stoffs betrachtet. Im Wesentlichen gleich erzählt Hera zunächst selber die Geschichte im homerischen Apollonhymnos. Dabei deutet sie an, dass die Lähmung des Hephaistos vielleicht damit zu tun hat, dass sie ihn allein, ohne Hilfe des Zeus hervorbrachte: He2a106 Aber der ist gebrechlich geboren unter allen Göttern, mein Sohn Hephaistos mit verschrumpelten Füssen, den ich aus eigener Kraft gebar 107
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wurden“. Das ist auf der Ebene der Dichtertexte eine ähnliche Vorstellung von einander antwortenden Varianten, wie sie meinen Mythenanalysen zugrunde liegt. Besonders deutlich bei Von der Mühll, Hypomnema, 30f, 227; zu ähnlichen Problemen schon der antiken Hom.-Philologen: Whitman 1970, 37f, Janko, Iliad IV, 231 (zu 15.21f). In umgekehrter Richtung wirkt dasselbe Vorurteil, wenn Schäfer, Götterstreit, 42f beide Himmelsstürze für alt erklärt, weil Hom. Götterkampfmythen allgemein als ‚archaisch’ empfunden haben soll. Schon Webster, Art, 63f, der die Fesselung in Frazerscher Tradition als Fruchtbarkeitskult deutete (ebenso Webster 1958), versuchte, die Geschichte deswegen weit in die mykenische Zeit zurückzuführen; solche Schlüsse sind ziemlich beliebig. Dazu auch oben n. 60. Für diese neuere Sicht etwa Kirk, Iliad I, 113 (zu 1.586–594), Pulleyn, Homer, 270f (zu 1.590–4), Milanezi 2000, 29f. He2a = Hom. Hymn. Apoll. 316–320. Die schädliche Einwirkung der Hera führt auch bei Aphrodite zur Geburt eines missgestalteten Kindes, des Priapos, der dann von der Mutter verworfen wird, vgl. Schol. Apoll. Rhod. 1.932–33a, Suid. s.v. Πρίαπος, Et.M. s.v. ᾿Αβαρνίδα, Steph. Byz. s.v. Ἄβαρνος, Tzetz. Schol. Lyk. Alex. 831 und dazu Herter, De Priapo, 65–71, Dasen, Dwarfs, 209f, Milanezi 2000, 31. Der Ort Abarnis, an den die Geschichte geknüpft wird, liegt bei Lampsakos am Hellespont, gerade gegenüber von Paktye – seltsam genug kommen wir damit wieder in die Gegend der Himmelsstürze. Bei Lukian. Dial. Deor. 18.1 versucht übrigens Hera, der Lähmung ihres Sohnes etwas Positives abzugewinnen; bei Schol. Hom. Il. 1.609 wird die Lähmung wohl als Metapher für den Makel der ausserehelichen Geburt verstanden. Delcourt, Héphaistos, 42f, 116f weist darauf hin, dass die Hephaistossage in dem Punkt ein typisches Motiv der Aussetzungssagen aufgreift. Diese Deutung ist nach der starken Betonung, die auf der Formulierung παῖς ἐµὸς ... ὃν τέκον αὐτὴ liegt, die einzig sinnvolle. Die meisten Kommentatoren sehen ein Problem darin,
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4. Der hinkenden Gott und ihn schleuderte, indem ich ihn mit den Händen aufhob und ins breite Meer warf; aber Thetis, die Nereustochter mit den glänzenden Füssen, nahm ihn auf und brachte ihn zu ihren Schwestern.
Die Geburt des Hephaistos erscheint damit, wie schon bei Hesiod, als Parallelaktion zur Geburt der Athena aus dem Haupt des Zeus, einer anderen wichtigen Patronin der Handwerker108. Bereits Wilamowitz hat in seiner Untersuchung über Hephaistos nachgewiesen, dass He2 Bruchstück einer Geschichte ist, die vollständig in einem verlorenen homerischen Hymnus erzählt wurde109. Sicher bezeugt sind ausserdem verlorene Lieder des Alkaios und des Pindar, sowie eine Komödie des Epicharm über dasselbe Thema. Dazu kommen nicht wenige bildliche Darstellungen, welche sogar den Hauptharst an Darstellungen des Hephaistos im griechischen Al-
dass Hera etwas später Zeus vorwirft, Athene ohne ihre Mithilfe in die Welt gesetzt zu haben (Hom. Hymn. Apoll. 323f) und meinen, das könne sie nicht, wenn sie selber Hephaistos ebenfalls allein hervorbringe, vgl. Càssola, Inni, 505f (zu 317); allerdings kann sich zum einen der Zorn der Hera auch darauf beziehen, dass das τεκέειν Sache der Frauen ist und Zeus damit seine Kompetenzen überschreitet, zum andern sollte man wohl gerade die Kohärenz dieses Textes nicht überschätzen, der auch sonst verschiedene Traditionen nicht immer geschickt zusammenschustert, vgl. Zanetto, Inni, 250. Der Wortlaut ist ausserdem an dieser Stelle syntaktisch befremdlich, so dass man nach Hom. Hymn. Apoll. 317 auch schon eine Lücke angesetzt hat, vgl. West, Hymns, 94. 108 Vgl. Hes. Theog. 924–929. 109 Wilamowitz 1895, 219–223 = KS V.2, 7–11, vgl. RE 8 (1913) s.v. Hephaistos 343–346 [L. Malten]; dieser vermutete noch einen Hymnos auf Hephaistos, seit Eisenberger, Mythos, 31f und Snell 1958 rechnet man mit einem auf Dionysos, vgl. Merkelbach 1971, 550 (nur Krumeich/Pechstein/Seidensticker, Satyrspiel, 517 n. 5 halten an der Idee eines HephaistosHymnus fest); zu beachten die Differenzierungen von Hedreen 2004, 44, der die Wirkung des Mythos nicht nur von diesem einen Text abhängig machen will. Ein Bruchstück des Hymnos vermutet man in dem hexametrischen Frg. PapOx. 670 (vgl. Coll. Alex. Ep. adesp. Frg. 7 Powell), doch ist der Text zu zerstört, um zur Wiederherstellung der Geschichte viel beizutragen, vgl. Merkelbach 1973, West, Hymns, 6f, 26–31. Weiteres bei Delcourt, Héphaistos, 86–99, Webster, Art, 62–64, Simon, Götter, 218–223, Burkert, GR 168, Robertson 1983, 273f, Janko, Iliad IV, 192 (zu 14.256–61), Muth, Götterburleske, 22–24, Gantz EGM 75f, Krumeich/Pechstein/Seidensticker, Satyrspiel, 516–518, Lücke, Mythologie, 324f, 334f, 342f, West 2001. Gelegentlich hat man der Geschichte eine Schlüsselrolle in der Vorgeschichte der griechischen Komödie zugeschrieben wollen, vgl. Webster 1958 und Production, 28–31, 133f, Pickard-Cambridge, Dithyramb, 171–173, Wiesner 1969, 535f, Merkelbach 1971, 550f; über Beziehungen zum Satyrspiel: Halm-Tisserant 1986, 8; vorsichtiger Hedreen 2004, 58– 60, der eher einen Zusammenhang mit Rituellem ausmachen will. Hingegen versucht Erbse, Untersuchungen, 79–82 zu erweisen, dass der Hymnos erst nach dem Demodokos-Lied in Hom. Od. entstanden sein könne und trennt zu diesem Zweck den Meersturz des Hephaistos von der Fesselung der Hera, die eine spätere Zudichtung sein soll. Aus der Nichterwähnung einer Geschichte bei Hom. darf man jedoch niemals schliessen, dass er sie nicht gekannt habe, und gerade hier reisst man damit eine sinnvolle Erzählung mutwillig auseinander; ausserdem hat man, wenn Hera dem Hypnos einen von Hephaistos verfertigten Sessel verspricht (dazu oben p. 271), den Eindruck, dass bereits die Dios Apate auf den Fortgang von He2 anspielt, vgl. Von der Mühll. Hypomnema, 223.
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tertum überhaupt ausmachen110. Zusammenhängende Nacherzählungen finden wir allerdings erst im 2. Jh. n. Chr. bei Pausanias111 und am ausführlichsten in einem Werk aus der Rhetorenschule der Spätantike, den Erzählungen, die unter den Werken des Libanios überliefert sind112. Anspielungen und Fragmente finden sich jedoch in der griechischen Literatur allenthalben, und ein grosser Teil dieses Materials ist sehr einheitlich. Ich biete deshalb nebeneinander die beiden ausführlichen Berichte bei Libanios und Pausanias, sowie daneben geschaltet die ergänzenden Zeugnisse: He2c: Den Hephaistos warf Hera aus dem Himmel, weil sie sich der Lahmheit des Kindes schämte, doch dieser machte von seiner Kunst Gebrauch. Und von den Meergöttern im Meer gerettet verfertigte er als Handwerker vielerlei anderes – gewisse Dinge für Eurynome, gewisse für Thetis, von denen er gerettet worden war – doch vor allem machte er einen Sessel als Geschenk für die Mutter, auf dem unsichtbare Fesseln waren, und schickte ihn ihr. Diese freute sich sehr über die
He2b: [Beschrieben wird ein Gemälde im Tempel des Dionysos Eleuthereus beim Theater in Athen113]: Unter den Gemälden dort ist auch Dionysos, der den Hephaistos in den Himmel hinauf führt. Denn auch dies wird von den Hellenen erzählt, dass Hera den neugeborenen Hephaistos fortwarf, dass dieser aber es ihr nachtrug und ihr als Geschenk einen goldenen Sessel schickte, auf dem unsichtbare Fesseln waren,
Schol. Hom. Il. 1.591b: Es gibt zwei Würfe des Hephaistos, der frühere, gleich nach der Geburt, durch Hera114 ...
Plat. Rep. 378d115: ... die Fesselung der Hera durch ihren Sohn ...; Pind. Frg. 283 ...
110 Vgl. Brommer, Hephaistos, 10–17, 35f, Halm-Tisserant 1986, Schöne, Thiasos, 24–47, LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos, 637–645 (Nrr. 103–172) [A. Hermary/A. Jacquemin], LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos/Sethlans 655f (Nrr. 8–13); weiteres bei Froning, Dithyrambos, 67– 74, Wiesner 1969, 532–538, Hoffmann 1987, Shapiro, Art, 7–11, Krumeich/Pechstein/ Seidensticker, Satyrspiel, 519–521, Lücke, Mythologie, 331–343, Pouyadou 2001, 171f, Hedreen 2004. 111 He2b = Paus. 1.20.3. 112 He2c = [Liban.] Narr. 7 [38f Förster]. 113 Vgl. LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos 638 (Nr. 123) [A. Hermary/A. Jacquemin]; die archäologischen Spuren dieses Heiligtums gehören in die Zeit nach der Mitte des 4. Jh.s (vgl. Travlos, Bildlexikon, 537), doch man vermutet – mit mässig überzeugenden Gründen – die Wiederverwendung eines älteren Gemäldezyklus und datiert das Bild meist ins Ende des 5. Jh.s, vgl. Robertson 1972, 47f. 114 Vgl. Eusth. Hom. Il. 1.591f [158.30f]) und Dosiad. AP 15.26.8 µατρόριπτος ([Hephaistos als] der von der Mutter geschleuderte). Auf die Lähmung des Hephaistos verwies vielleicht auch PapOx. 670.10–12. 115 Im Original: Ἥρας ... δεσµοὺς ὑπὸ ὑέος. Nach der von Erbse, Untersuchungen, 82–85 aus der Nebenüberlieferung aufgenommenen Lesart ὑπὸ ∆ιός bezöge sich die Stelle auf He1; die Lesart wurde allerdings schon von der antiken Philologie abgelehnt (Suid. s.v. Ἥρας δεσµοὺς ὑπὸ υἱέος) und hat auch bei neueren Herausgebern keinen Gefallen gefunden, vgl. Slings, Respublica, ad loc. Vielleicht erscheinen die Fesseln auch in PapOx. 670.5. 116 Zum Thron von Amyklai LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos 638f (Nr. 124) [A. Hermary/ A. Jacquemin]; er galt als Werk des Bathykles von Magnesia, vermutlich aus der 2. Hälfte des 6. Jh.s, vgl. NP 2 (1997) 493 s.v. Bathykles [R. Neudecker].
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4. Der hinkenden Gott
Gabe, setzte sich und war und dass diese, nachdem sie sogleich gefesselt, und da gab sich gesetzt hatte, gefesselt es keinen, der sie lösen war, konnte. (2) So hielten die Götter eine Versammlung ab darüber, wie Hephaistos in den Himmel herauf gebracht werden könnte;
Denn er allein vermöchte sie auch wieder zu lösen.
Als nun alle anderen schwiegen und ratlos waren, versprach Ares [es zu tun], brachte aber, als er hinkam, nichts zustande und wurde schändlich davongejagt, weil Hephaistos ihn mit Feuerbränden einschüchterte. Als es Hera nun aber sehr schlecht ging, versuchte Dionysos es mit Wein und erreichte durch die Trunkenheit,
dass Hephaistos ihm folgte.
denn bei Pindar wird sie von Hephaistos auf dem von ihm verfertigten Sessel gefesselt ... (= Phot. Lex. & Suid. s.v. Ἥρας δεσµοὺς ὑπὸ υἱέος); Paus. 3.18.16 116 [Bild auf dem Thron von Amyklai]: ... und wie man von Hera erzählt, dass sie von Hephaistos gefesselt wurde. Alk. Frg. 349b117: ... dass von den olympischen Göttern keiner [sie] lösen konnte ausser ihm. Alk. Frg. 349d: Und Ares sagt, dass er Hephaistos mit Gewalt herbeibringen wolle.
und dass von den übrigen Göttern Hephaistos keinem gehorchen wollte, dass aber Dionysos – am meisten stand nämlich dieser mit Hephaistos im Vertrauen – ihn betrunken gemacht
Achae. TrGF 20 Frg. 17118 (aus dem Satyrspiel Hephaistos): [Dionysos:] Als erstes werden wir dich mit einem Schmaus erfreuen: Er ist schon bereit. [Hephaistos:] Und womit wirst du mich als zweites bezaubern? [D.:] Ich will dir den ganzen Leib mit wohlduftender Myrrhe salben [H.:] Und gibst du mir vorher kein Wasser um die Hände zu waschen? [D.:] Erst wenn der Tisch beiseite geschafft wird. Aristeid. Bacch. 41(4).6 (2.331.19ff Keil): ... und auch Hera soll er als einziger von den Göttern mit ihrem Sohn versöhnt haben, indem er den Hephaistos gegen seinen Willen [vgl. vielleicht Epich. Frg. 74 (aus: Die Zechbrüder oder Haphaistos): ... Ich bin sogar dagegen, dass du [mich?] nur und in den Himmel geführt anrührst ...] in den Himmel habe. führte, und zwar indem er ihn
117 Zum Hymnus des Alkaios auch Privitera, Dioniso, 108f, Liberman, Alcée II, 152f. Das Motiv des Lösens vielleicht in PapOx. 670.6. 118 Zur Rolle der Wohlgerüche in diesem Frg. vgl. Detienne, Jardins, 118f; Allgemeineres bei Krumeich/Pechstein/Seidensticker, Satyrspiel, 518f, dort 521–523 auch ein Versuch zur Wiedergewinnung der Handlung des Stücks. Dionysos erscheint ebenso PapOx. 670.22.
4.1. Wer den wucht’gen Hammer schwingt
(3) Dieser kam
und löste die Mutter und machte Dionysos so zum Wohltäter der Hera. Diese vergalt es ihm, indem sie die himmlischen Götter davon überzeugte, dass auch Dionysos einer der himmlischen Göter sein solle.
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auf einen Esel setzte119. Alk. Frg. 349c120: Die unsterblichen Götter lachen [beim Einzug von Dionysos und Hephaistos?]. Paus. 3.17.3121 [auf einem Bronzerelief in Sparta]: ... darauf ist auch Hephaistos, der die Mutter aus den Fesseln löst.
Alk. Frg. 349e: einer der zwölf [olympischen Götter?]
Der Anfang dieser Geschichte deckt sich weitgehend mit dem, was Hephaistos in der Ilias erzählt. Dort endet er allerdings mit dem Hinweis, dass niemand seinen Aufenthalt gekannt habe, als er bei Thetis verborgen war, und sagt nicht, wie er aus seinem Versteck wieder herauskam. Wenn allerdings in die homerischen Epen eingeschobene Erzählungen den jeweiligen Umständen angepasst werden, so kann das gerade an solchen Gelenkstellen leicht zu kleinen Beugungen und Verschleifungen führen. Es liegt also auch hier wahrscheinlich kein Widerspruch vor. Weitere Zeugnisse vermischen diesen Bericht mit der schon behandelten ersten Geschichte von Hephaistos’ Himmelssturz (He1): Einmal heisst es, Zeus habe ihn vom Himmel geworfen, als er Hera zu Hilfe kommen wollte, und als er auf Lemnos gefallen sei und sich die Füsse verstaucht habe, hätte ihn Thetis gerettet122, ein andermal, er sei von Iuno wegen seiner Missgestalt hinab geschleudert worden und auf Lemnos gestürzt123. Hier sind Ursachen oder Verursacher und Folgen des Sturzes durcheinander geraten, doch mehr als die Unachtsamkeit von Handbuchverfassern braucht nicht vorzuliegen, zumal bereits die antiken Homerkommentatoren mahnend den Zeigefinger gegen die Verwechslung der 119 Dieses Detail wird durch zahlreiche Vasenbilder bestätigt, vgl. LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos, 638–644 (Nrr. 114–121, 129–167) [A. Hermary/A. Jacquemin]; zur Rolle des Esels auch Wiesner 1969. 120 Die Stelle wohl übersehen bei Muth, Götterburleske, 23. Eine ganz andere Rolle spielt das Lachen in einer Fassung der Geschichte, die nur in einem spätantiken Vergilkommentar überliefert ist, bei Philarg. Verg. Ecl. 4.63: „Als Iuno sich setzte, soll sie festgeklebt sein; als sie bat, man möge sie lösen, verlangte jener, dass sie ihm seine Eltern zeige, und Iuno soll gelacht haben, wodurch er die Mutter erkannte“. 121 Vgl. LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos 639 (Nr. 128) [A. Hermary/A. Jacquemin]; als Künstler gilt Gitiades, ein lakonischer Bronzebildner wohl des 6. Jh.s, vgl. NP 4 (1998) 1076 s.v. Gitiades [R. Neudecker]. 122 So Apollod. 1.3.5; gegen Söder, Quellenuntersuchungen, 29f bieten Schol. Hom. Il. 1.590 und Val. Fl. 2.88–98 keine analoge Kontamination der beiden Varianten. 123 Serv. Verg. Aen. 8.454 „weil er, von Iuno wegen seiner Missgestalt fortgeworfen, auf die Insel Lemnos fiel“, wobei SD vor von Iuno einfügt: von Iupiter gestürzt, also ein Stück der korrekten Version He1 bewahrt hat; vgl. Serv. Verg. Aen. 8.414.
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beiden Stürze erhoben haben124. Dennoch bringt selbst der sonst so scharfsinnige Eustathios beim Abschreiben dieser Kommentarstelle die Dinge durcheinander und behauptet, Hephaistos sei von Hera hinab geworfen worden und habe sich als Folge davon die Füsse gestaucht125. Weniger einfach wirkt der Fall einer lateinischen Fassung der Geschichte126: Vulcanus, heisst es da, habe für Jupiter und die anderen Götter Sessel aus Gold und Stahl gemacht127, und als Iuno sich darauf setzte, schwebte sie plötzlich in der Luft; danach schickte man nach Vulcanus, damit er die Mutter löse, die er gefesselt hatte, doch der antwortete, er habe keine Mutter. Als Liber ihn indessen betrunken in die Versammlung der Götter zurück führte, konnte er gleichwohl nicht umhin, sie zu lösen, und erhielt von Jupiter dafür die Erfüllung eines Wunsches zugestanden. Auf Anstiftung Neptuns verlangte er Minerva zur Gattin. Weitergeführt wird die Erzählung mit einer Variante der Geschichte von der Zeugung des Erichthonios128. Zum einen scheint hier der Anfangsteil mit dem Himmelssturz weggefallen, aber doch irgendwie vorausgesetzt indem Vulcanus die Mutter verleugnet, die ihn misshandelt hat. Die plötzlich in der Luft schwebende Iuno erinnert dann an die gefesselt aufgehängte Hera von He1129, während der Schluss eine Verbindung zu einer ganz anderen Geschichte schlägt. Für diese merkwürdigen Umgestaltungen lassen sich nirgends weitere Belege finden, und doch scheint es einmal mehr, sie gingen über bloss mechanische Anschlüsse und Harmonisierungen hinaus. Eher gewinnt man den Eindruck einer poetischen Bearbeitung, vielleicht in einem verlorenen Satyrspiel oder einem Kleinepos hellenistischer Zeit – sollte nicht doch eine jener eigenwilligen Umgestaltungen vorliegen, die vielleicht auf das Konto des Urhebers dieser Mythensammlung gehen. Trotzdem bleibt die Versuchung gross, die Antwort des Vulcanus in die oben zusammengestellte Hauptgeschichte zurück zu übertragen, und zwar in der Weise, dass die Götter zuerst einen Boten schicken, den Schmied mit guten Worten zu bewegen, dann erst Ares mit Gewalt und als dritten Dionysos mit dem Wein. Immerhin spricht der Kurzbericht des 124 125 126 127
Schol. Hom. Il. 1.591b, vielleicht auch Serv. Verg. Aen. 8.454 [SD]. Eusth. Hom. Il. 1.591f [158.30f]. Hyg. Fab. 166.1–3. Die Handschrift, auf der unser Text beruht, sprach (Hyg. Fab. 166.1) offensichtlich von soleas aureas ex adamante (goldenen Sandalen aus Stahl [?]). Das passt nicht dazu, dass die Fesseln erst in Wirkung treten, als Iuno sich setzt, und ist auch in sich selbst ein Unsinn. Eine tiefer greifende Korrektur wie solia ex auro et adamante liegt deshalb näher, als die Annahme einer Textlücke, in welcher der Sessel eingeführt worden wäre (was Boriaud, Hygin, 119 in den Text setzt [solia aurea, ex adamante] kann – wenn es überhaupt Latein sein sollte – unmöglich heissen, was er übersetzt [des sièges d’or d’acier]). Delcourt, Héphaistos, 88 und Lücke, Mythologie, 325 nehmen die Überlieferung wohl zu ernst – man soll die Merkwürdigkeiten bei Hyg. nicht um jeden Preis vermehren. 128 Belegt ist auch deren Anknüpfung an die Hilfe für Zeus bei der Geburt der Athena, vgl. Lukian. Dial. Deor. 13, Et.M. s.v. ᾿Ερεχѳεύς; in der Kombination bei Hyg. ersetzt also Hilfe für die Mutter jene für den Vater – das ist Variation auf einer Achse, die auch in unseren Geschichten eine Schlüsselrolle spielt. 129 So Delcourt, Héphaistos, 89.
4.1. Wer den wucht’gen Hammer schwingt
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Pausanias von einem Auftrag, den Gott zu überreden, und man gewänne damit auch die in volkstümlichen Erzählungen so häufige Struktur des Dreiteilers mit Achtergewicht wieder. Doch angesichts der Unsicherheit des Wegs, der zwischen den alten Geschichten und dem Bericht des Hyginus liegt, sind solche Überlegungen natürlich Spekulation130. Die schon erwähnten bildlichen Darstellungen der Geschichte, stammen fast ausnahmslos von Vasen der archaischen und klassischen Zeit und sind in weit über hundert Exemplaren erhalten. Nur selten ist darauf die ganze Geschichte zu sehen, einschliesslich der gefesselten Hera, doch erscheint sie vollständig gleich auf einem der ältesten Bilder, der sogenannten François-Vase131. Auf späteren Darstellungen finden wir meist lediglich die Rückkehr, wobei der Gott, auf einem Esel sitzend132, in einem dionysischen Umzug heimgeführt wird, oft von Satyrn oder ähnlichen Gestalten umringt; vor allem ab der Mitte des 6. Jh.s wird diese Art Bilder vorherrschend. In der attischen Vasenmalerei des 3. Viertels des 5. Jh.s erlebt das Thema nochmals eine Blüte, was man wohl zu Recht in Zusammenhang mit denselben Tendenzen gebracht hat, die sich auch im Bau des Tempels neben der Agora und der Neuordnung des Athener Hephaistos-Festes spiegeln133. Aus dem 4. Jh. sind nur noch vereinzelte Beispiele bekannt. Die grosse Mehrzahl dieser Darstellungen befindet sich auf Wein- und anderen Gefässen für den Gebrauch beim Symposion134, und das passt natürlich dazu, wie Hephaistos in der Geschichte mit dem Wein zusammengebracht wird. Etwas weniger augenfällig ist die Nähe des Schmiedegottes zum Gewächs des Dionysos auch in He1 nachweisbar, nämlich im Kontext, worin jene andere Variante in der 130 Zum Dreiteiler mit Achtergewicht Lüthi, Märchen, 30. Simon, Götter, 220f schlug vor, dass in der ursprünglichen Geschichte Hephaistos von den Kabiren zurückgeholt wurde; dafür fehlt jeder Beleg, und zu dem, was wir über die lemnischen Kabiren wissen, will diese Rolle nicht recht passen, vgl. 4.3.3. Noch schwieriger einzuordnen sind die Abweichungen, mit welchen die Sage in einigen frühmittelalterlichen lateinischen Sammelwerken erscheint (Philarg. Verg. Ecl. 4.63 und Mythogr. 1.125, 1.173, 2.48); deren Quelle ist wohl ein verlorener Vergilkommentar, vgl. Zorzetti/Berlioz, Mythographe, xxvi und 96 n. 508 (zu Myth. Vat. I, 2.74). 131 Um 670–565: LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos 638 (Nr. 114) [A. Hermary/ A. Jacquemin]. 132 Darstellungen reitender Gottheiten sind im archaischen und klassischen Griechenland eher unüblich: Neben dem auf Pferden oder Meerwesen reitenden Poseidon begegnet das Motiv fast nur bei Dionysos (seit etwa 540, vgl. LIMC 3 (1986) s.v. Dionysos Nrr. 392–403 [C. Gasparri/A. Veneri) und bei Aphrodite (LIMC 2 (1984) s.v. Aphrodite 95–101 [A. Delivorrias/G. Berger-Doer/A. Kossatz-Deissmann]); die Herkunft des Bildtypus aus dem Syrisch-Mesopotamischen Raum, wo das Stehen auf Tieren regelmässiges Attribut von Gottheiten ist (vgl. das Material bei Pritchard, Ancient Near East in Pictures, 163–170 [Syrien], 177–181 [Mesopotamien/Anatolien]) lässt sich im Fall der Aphrodite belegen, vgl. LIMC s.v. Aphrodite 95 und 99 [zu Nr. 899]. Der reitende Hephaistos wäre dann vielleicht eine ähnlich karnevalistische Umformung eines aus dem Osten stammenden Motivs wie der alte Thoas in der schwimmenden Kiste (dazu oben 3.4.4). 133 Vgl. Halm-Tisserant 1986, 8, Schöne, Thiasos, 24–47; deren Vermutungen 45f über ein reales Vorbild in einem Kultzug für Dionysos unterschätzen wahrscheinlich die Autonomie des Imaginären in solchen Darstellungen. 134 LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos 637–645 (Nrr. 103–172) [A. Hermary/A. Jacquemin].
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Ilias erzählt wird: Nachdem Hephaistos seinen Himmelssturz berichtet hat, bringt er Hera einen Becher und spielt den Mundschenk für die ganze Versammlung der Olympier, indem er auch den anderen den Wein kredenzt135. Diese brechen angesichts der Geschäftigkeit des humpelnden Gottes in Gelächter aus, genauso wie in He2 beim Einzug des göttlichen Schmieds auf dem Esel136. So erhält man den Eindruck, der Dichter der Ilias habe bei der Formulierung von He1 auch das Ende von He2 schon im Kopf gehabt137. Betrachten wir abschliessend die zweite Geschichte vom Himmelssturz des Hephaistos als Ganze, so gliedert auch sie sich in drei Abschnitte: Sturz des Gottes, Fesselung der Hera und Rückkehr des Verstossenen auf den Olymp. Hinsichtlich der Erzählmotive haben zwei dieser drei Teile (Sturz und Fesselung) Entsprechungen in He1, doch wird ihre Abfolge umgekehrt: Der Sturz steht nicht am Ende, sondern am Anfang, so dass sich statt A–B–C der Krebs C–B–A ergibt. 135 Hom. Il. 1.595–600; das Motiv des Hephaistos als Mundschenk wieder aufgegriffen bei Lukian. Dial. Deor. 8; Dumézil, Crime [1924] 32 = [1998] 65 versuchte, einen Zusammenhang zum Weinbau auf Lemnos herzustellen; vgl. Simon, Götter, 214, Burkert, GR 168. Bei den Kelten ist übrigens der Schmiedegott Goibniu auch Herr über den Met des ewigen Lebens, vgl. de Vries, Religion, 89. 136 Zum Lachen in diesen Szenen auch Friedländer 1934, 211f, 216f, Muth, Götterburleske, 21f. Reinhardt, Ilias, 99f weist darauf hin, dass der Aussenseiter als Spassmacher zu den typischen Figuren der Symposionkultur gehört, bis hin zu den Parasiten der Neuen Komödie. Mit Gelächter reagieren die Götter Hom. Od. 8.326f auch auf die List, mit der Hephaistos seinen Nebenbuhler Ares bei Aphrodite fängt – hier scheint also ein allgemeiner Charakterzug des Gottes vorzuliegen. Die von Schäfer, Götterstreit, 44 aufgeworfene Frage, ob Hephaistos das Gelächter der andern freiwillig erregt, ist irrelevant, vgl. oben n. 51; es geht allein um die Funktion der Figur in der Erzählung; und gegen Milanezi 2000, 13–21, 36f brauchen sich auch eine komische Rolle des Gottes und seine Funktion als Versöhnungsstifter nicht zu widersprechen. 137 Eine weitere Analogie zwischen Hephaistos und Dionysos besteht darin, dass Dionysos nach Hom. Il. 6.135f ins Meer springt, als Lykurgos ihn verfolgt, wobei er von Thetis aufgenommen wird (vgl. oben n. 104, auch Van Thiel, Iliaden, 240, 464f), nach Eumel. Frg. 11 Bernabé = Schol. Hom. Il. 6.131 sogar, wie Hephaistos, von Thetis und Eurynome. Der Vorfall soll sich bei Samothrake, also unfern von Lemnos zugetragen haben (Schol. Hom. Il. 6.133). Dieses ganze Material stammt offenbar aus dem Umkreis des frühgriechischen Epos, vgl. Hom. Od. 24.73–75 mit Stesich. Frg. 234 Page (= Schol. Hom. Il. 23.92); weiteres bei Delcourt, Héphaistos, 118f, Burkert, HN 197f, Gantz, EGM 113f. Burkert 1963, 828 versteht den Sturz des Hephaistos ins Meer als Spiegelung eines Schmiederituals, wo das Eintauchen des glühenden Metalls ins Wasser eine Rolle spielte, ähnlich Lücke, Mythologie, 320f, Latacz, Prolegomena, 122 [F. Graf]; für die zahlreichen anderen ins Meer stürzenden Gestalten des Mythos ist damit nichts gewonnen, vgl. 4.1.2. Für Graf 1990, 71 spiegelt sich die angebliche ‚Marginalität’ des Gottes auch in seiner Beziehung „zum Meer, dem ganz anderen“ – aber spricht aus einer solchen Auffassung des Meeres nicht eher der binnenländische Schweizer Philologe? Die Spekulationen von Capdeville, Volcanus, 274– 277 über einen Zusammenhang mit angeblichen altkretischen Initiationen sind willkürlich. Einen Bezug der Geschichte zu Initiationen suchte auf andere Weise auch Merkelbach 1971, 551. Morris, Daidalos, 77 schliesslich sah in dem Aufenthalt des Hephaistos in der Seehöhle eine Spiegelung der ältesten Phase der Metallarbeit in der Ägäis, die oft in Höhlen stattgefunden habe; aber wie soll dies damit zusammengehen, dass Hom. sich seine Höhle in der Tiefe des Meeres gedacht hat?
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Dennoch gehorchen die beiden Geschichten demselben erzählerischen Muster: Eine Missetat der Göttin wird durch eine Fesselung bestraft, und anschliessend versucht jemand – zunächst vergeblich – sie zu befreien. Ebenso gleicht sich das Vergehen der Hera in den zwei Geschichten: Einen Sohn, den sie nicht mag, hat sie vertrieben, beide Male auf dem Meer, nämlich den Herakles, indem sie ihn in die Irre gehen liess (also in der Horizontalen), und Hephaistos, indem sie ihn von der Höhe des Olymps in die Tiefen des Meers warf (also in der Vertikalen). Sodann kehrt der Sturz des Gottes infolge der Krebsbildung seine narrative Funktion um: Im ersten Fall ist er die Folge, im zweiten der Grund für die Fesselung der Hera. Ebenso werden Ursache und Wirkung vertauscht, wenn es um seine verkrüppelten Füsse geht: In He1 erscheinen sie als Konsequenz, in He2 als Anlass seines Sturzes. Neben solchen Umkehrungen im tragenden Gerüst der Geschichte gibt es auch kontrastierende Parallelen in den Nebenmotiven: So wird der Gott etwa in He1 von seinem Vater geschleudert und in der Tiefe von den Männern der Sintier in Empfang genommen. In He2 wirft ihn die Mutter, und es sind weibliche Gottheiten, die ihn aufnehmen. Im ersten Fall stürzt er auf den lemnischen Berg Mosychlos, im zweiten in die Tiefen des Meers. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass der Mosychlos eine Kultstätte war138; ebenso befand sich an der Seeseite von Hephaistia ein Kultort, mit dem Heiligtum der Kabiren auf dem Vorgebirge von Chloi, wobei die Kabiren ja als Kinder des Hephaistos galten und in ihrem Kult der Wein eine Schlüsselrolle gespielt haben muss139. Auch wenn He2 nirgends von Lemnos spricht, sind diese Entsprechungen dennoch von Interesse: Es ist, als wäre die Gestalt des Gottes von Hephaistia – durch Kult wie Mythen – an zwei Orte geknüpft, die für einen Bewohner der Stadt eine Grenze, einen Sichthorizont bezeichneten: das Vorgebirge mit dem Meer im Norden, die Anhöhe des Mosychlos im Süden140. Wichtiger noch ist, dass Hephaistos in der zweiten Geschichte als die viel stärkere Figur erscheint: In He1 ist er unfähig, seine Mutter zu befreien, in He2 ist er der einzige, der sie loszubinden vermag. In der ersten wird er bloss aus der Gemeinschaft der Götter vertrieben, in der zweiten wieder in sie integriert und beauftragt, ein Problem zu lösen, mit dem die Olympier überfordert sind. Auch die Mittel, die eingesetzt werden, um Hera zu fesseln, sind vielleicht bedeutsam: in He1 gehören dazu die Ambosse, also Werkzeuge, mit denen der Schmied arbeitet, in He2 ist es ein Thron, eines der Erzeugnisse seiner Handwerkskunst, und wir erfahren nebenbei, dass er in der Tiefe des Meeres vielerlei Schmuck für die Göttinnen herstellt. Statt des Produktionsmittels rückt damit das Erzeugnis der handwerklichen Arbeit in den Brennpunkt. Während die Ambosse das Bild eines Gottes ins Gedächtnis rufen, der sich, von Schweiss und Russ bedeckt, über seine Arbeit beugt, verbindet ihn die zweite Geschichte mit den schönen Dingen, die er 138 Vgl. 3.1.3; Weiteres unten 4.2.1. 139 Vgl. unten 4.3.3. 140 Das Verstecken des Hephaistos im Meer erinnert auch an das Verborgensein des Königs Thoas in gewissen Fassungen der Mordnacht von Lemnos, vgl. 3.4.3.
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hervorbringt. In dieselbe Richtung deutet eine weitere Einzelheit: In He1 empfangen Hephaistos die Sintier, von denen wir sehen werden, dass sie auch als Schmiede gelten, während er in der zweiten zu Meergöttinnen kommt, für die er Geschmeide herstellt141. Gestalten von Handwerkern stehen damit die Abnehmer ihrer Erzeugnisse gegenüber. Auch so rückt statt der Tätigkeit des Mannes an der rauchenden Esse der Wert seiner Arbeit für die Gemeinschaft in den Blick. Wahrscheinlich kann man noch weiter gehen: He2 scheint demselben narrativen Schema zu folgen wie die Geschichten von Melampus und Philoktet: Ein Mann mit besonderen Fähigkeiten durchlebt eine Phase der Marginalität und wird dann von neuem in eine Gruppe integriert, die seiner Begabung bedarf. Den Eintritt in die Gesellschaft der Olympier verdankt Hephaistos ausserdem Dionysos, der uns damit, wie so oft, als Schutzherr der Gemeinschaft, des sozialen Miteinanders begegnet. Was die beiden Varianten unterscheidet, ist also zunächst die soziale Aufwertung der Arbeit des Handwerkers in He2 gegenüber He1. Die alte Sage vom schmutzigen Schmied, der aus der guten Gesellschaft der leicht lebenden Götter vertrieben wird, erscheint in He2 in einer Art neu gelesen, die es erlaubt, die Frage nach der Stellung der Handwerker in der Polis zu stellen. Damit werden wir in eine Zeit geführt, in der in Griechenland Menge und Qualität der hergestellten Handwerksgüter gegenüber den dunklen Jahrhunderten wuchs und entsprechend die Zahl der mit ihrer Herstellung beschäftigten Gewerbetreibenden zunahm. Diese neuen sozialen Gruppen sammelten sich vor allem in den seit damals wieder entstehenden städtischen Siedlungen142. Dass sie sich zusammenschlossen und eigene Kulte und Feste pflegten, zeigt sich später gerade in Athen, wo das Fest der Chalkeia von den Handwerkern, besonders den Schmieden ausgerichtet wurde143. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das wachsende Selbstbewusstsein einer neuen gesellschaftlichen Gruppe sich auch in einer Umgestaltung der überkommenen mythischen Geschichten spiegelte144. Vielleicht 141 Die Beziehung von Hephaistos und Thetis versuchen Detienne/Vernant, Ruses, 136–138 von einer allgemeine Affinität von Meergottheiten und Schmiedegestalten her zu deuten. 142 Bemerkenswert hierzu, dass der kurze Hom. Hymn. 20 auf Hephaistos gerade das Verdienst des Gottes preist, den früher wie Tiere in Höhlen wohnenden Menschen den Bau von Häusern beigebracht zu haben. Zur Entwicklung des Handwerkerstandes im 8./7. Jh. vgl. Starr 1982, 428–432, 437. Zur Soziologie der Handwerker, wie sie in den homerischen Gedichten erscheinen, Eckstein, Handwerk, 17–38, 42f; er kommt zum Schluss, dass die Epen mehrere Formen handwerklicher Existenz nebeneinander zeigen, zu denen einerseits – als ältere, vielleicht mykenische Verhältnisse fortsetzende Figur – der abhängige Hofhandwerker gehört, anderseits der selbständig tätige, ausgebildete Spezialist, der ein gewisses Ansehen geniesst und bereits auf einen neuen Stand von besitzenden Gewerbetreibenden verweist. Die freiere Stellung des homerischen Schmieds gegenüber den abhängigen Palasthandwerkern der orientalischen oder mykenischen Kultur hebt auch Graf 1990, 74f hervor. 143 Vgl. oben n. 27; zur engen Verbindung von Hephaistos mit den Handwerkern auch Sol. Frg. 13.49 West, Plat. Leg. 920d; Zeugnisse aus späterer Zeit bei Diod. 5.74.3, Suppl.EG 42 (1992) Nr. 273bis (Argos); vielleicht etwas zu weit geht Graf 1990, 71 in seinen Vermutungen über die Rolle von Schmiedebünden in archaischer Zeit. 144 Zur mythopoietischen Kraft des Handwerkermilieus Jeanmaire 1956, 30f mit n.2. Deutungen von He2 als Zeichen eines wachsenden Selbstbewusstseins dieser Schicht wurden bisher vor
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hängt es auch mit diesem Hintergrund zusammen, dass von unseren beiden Geschichten He2 die Griechen in nachhomerischer Zeit weit mehr interessiert hat und die Zeugnisse reicher sind als für He1. Die grosse Verbreitung von Bildern mit der Rückführung des Hephaistos auf griechischen Vasen fällt jedenfalls kaum zufällig in eine Zeit, in der die polis ihre erste grosse Blüte erlebt und breitere Milieus sich der aristokratischen Kultur des Symposions bemächtigen. Ebensowenig ist es wohl Zufall, dass sie am Ende des 5. Jh.s zu verschwinden beginnen, als deren Institutionen an eine krisenhafte Grenze stossen. Dennoch möchte ich festhalten, dass der Mythos vielleicht ein gesellschaftliches Thema in erzählbare Bilder fasst, aber keine Partei ergreift: Gerade sein Ausgang ist ja in zwei Richtungen deutbar, einerseits als Sieg der gehobenen Stände, die den kurligen Gesellen mit überlegener List nach Hause schleppen, wobei sie ihr Gaudi an ihm haben, oder als Triumph des Schmiedes, der seine Rückkehr in den Olymp durchsetzt und noch die eine oder andere Belohnung dazu erhält. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass gerade ein so entschiedener Vertreter des aristokratischen Standpunkts wie Alkaios eine wichtige Darstellung dieser Fassung hat liefern können. Mit solchen wechselnden Gewichtungen der Geschichte gelangt man bereits in jenen Bereich der deutenden Freiheit der jeweiligen Sänger und Erzähler, der über dem einfachen Muster der Erzählung liegt. Es ist wohl nicht zuletzt diese Duktilität der Mythen, die ihr Funktionieren als Verständigungsmittel für die Gemeinschaft gewährleistet: Jeder erzählt auf seine Weise, aber indem alle doch im Kern dasselbe erzählen, bleibt der Diskurs für alle zugänglich. Nur scheinbar stösst die hier vorgeschlagene Deutung auf eine Schwierigkeit, indem beide Fassungen der Legende schon in der Ilias nebeneinander als bekannt vorauszusetzen sind. Ich habe bei der Behandlung von He1 darauf hingewiesen, dass der Zusammenhang, in dem sie uns entgegentritt, mindestens zwei Generationen vorausgegangener Textgestalten voraussetzt. Bei He2 drängt sich ein vergleichbarer Schluss nicht ebenso auf: Unmittelbar hinter der Ilias scheint hier vielmehr eine in sich abgeschlossene Geschichte zu liegen, die noch nirgends in die Architektur eines grossen epischen Zyklus eingebaut ist. Gut möglich also, dass sie eine Textgeneration jünger ist als die erste. Die Stelle reiht sich mithin an jene nicht wenigen anderen, in denen die Ilias nicht mehr ein unverfälschtes Abbild der Welt des 9. oder 8. Jh.s bietet, sondern schon deutlich die Spuren der Zeit ihrer Niederschrift gegen die Mitte des 7. Jh.s hin trägt145.
allem hinsichtlich der Häufung des Themas auf Vasenbildern u.ä. vorgetragen, vgl. Wiesner 1969, 532–538, Hoffmann 1987, 27 und 30, Musti/Torelli, Pausania III, 229 (zu 3.17.3); kritisch gegen solche Modelle Shapiro, Art, 9f. Vielleicht ist es bloss ein hübscher Zufall wenn Hdt. 2.167.2 berichtet, in Korinth seien die Handwerker von ganz Griechenland am besten angesehen, und die ältesten erhaltenen Vasenbilder mit der Rückführung des Hephaistos ausgerechnet aus Korinth stammen (vgl. LIMC 4 (1988) s.v. Hephaistos 639 (Nrr. 129–131) und 653 [A. Hermary / A. Jacquemin]). 145 Zur Datierung der Ilias vgl. die Zusammenfassungen bei West 1995 und 2003, 11–14.
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4. Der hinkenden Gott
4.2. DER HEILENDE GOTT 4.2.1. Lemnische Erde 4.2.1. a) Aus dunklem Altertum An dieser Stelle bietet es sich an, einem Seitenweg der Hephaistos-Sagen zu folgen, an dem sich zeigt, wie nahe die lemnischen Geschichten einander gelegentlich liegen. Ich habe bereits mehrfach auf die heilkräftige Erde hinweisen müssen, die auf Lemnos gegraben wurde146. Mindestens zweimal wird in unseren Quellen der Ort, wo sie gewonnen wird, mit Hephaistos verknüpft: Genau dort sei der Gott bei seinem Sturz hingefallen, auf jenen Hügel bei Hephaistia. Der ausführlichste Bericht steht bei Galen, dem berühmten Arzt aus dem 2. Jh. n. Chr.147. Er beschreibt die Stätte wie folgt148: Und [die lemnische Erde] unterscheidet sich von ihm [dem gewöhnlichen Rötel] auch hinsichtlich [ihrer Herkunft von] dem Hügel auf Lemnos, der von Farbe ganz braungelb ist und auf dem es weder einen Baum gibt noch einen Fels noch irgendein Gewächs, sondern nur diese Erde [...] Und was das Wort des Dichters über Hephaistos angeht, dass er „in Lemnos niederfiel“149, so muss man den Mythos wohl in Bezug auf die Natur des Hügels verstehen. Er scheint nämlich einem verbrannten ganz ähnlich, sowohl bezüglich seiner Farbe wie auch weil nichts darauf wächst.
Den Himmelssturz des Gottes deutet Galen demnach als Allegorie auf Natur und Landschaft: Der Berg sieht aus, als sei das Feuer über ihn gekommen. Der Gott wird zur Metapher für das Element150. Die Wirkung der lemnischen Erde war schon lange vor Galen bekannt. Wir finden den ersten Beleg in Nikandros’ Gedicht über die Gifttiere: „für alle Leiden ein Besänftigungsmittel“ nennt er sie151. Doch erst aus den medizinischen und naturkundlichen Schriftstellern der Kaiserzeit erfahren wir Genaueres, auch wenn in der wirren Vielfalt der vorgeschlagenen Verwendungen nicht leicht ein Zusammenhang auszumachen ist. Jedenfalls scheinen die Empfehlungen vor allem in zwei Richtungen zu gehen: Am häufigsten genannt wird der Gebrauch als Gegengift, einerseits gegen den Biss von giftigen Tieren, insbesondere Schlangen, anderseits gegen verschlucktes Gift, und zwar sowohl vorbeugend wie zur nachträglichen Behandlung. Häufig ist auch die Anwendung bei Blutungen, und das hat mit dem Einsatz bei Verdauungsbeschwerden vielleicht gemeinsam, dass der lemnischen Erde eine austrocknende Wirkung zugeschrieben wird. Neben so viel 146 Die wichtigsten Untersuchungen zur lemnischen Erde sind Hasluck, Christianity, 671–688 (erweiterte Fassung von Hasluck 1909–10), Raby 1995 und Marganne 1997, 158–164. 147 Der Sturz des Gottes in die lemnische Erde auch bei Philostr. Her. 28.5 (= HPh3); Acc. Trag. 529–531 R. erwähnt die lemnische Erde nicht, spricht aber von einem Hügel, auf den Hephaistos stürzt und zu dessen Füssen ein Tempel des Gottes steht. 148 Gal. 12.170/173. 149 Hom. Il. 1.593. 150 Zur Bedeutung der Naturallegorie in der antiken Mythendeutung unten 5.1.1. 151 Nik. Ther. 864f; vgl. Schol. Nik. Ther. 864a.
4.2. Der heilende Gott
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ganz Praktischem überrascht in diesen medizinischen Texten der Hinweis, diese Erde sei „für die Mysterien“ gebraucht worden152. Am aufschlussreichsten sind aber jene Berichte, die nicht nur Rezepte bieten, sondern auch etwas über die Gewinnung der lemnischen Erde lehren. Dioskurides, ein Arzt, der um die Mitte des 1. Jh.s n. Chr. ein grosses Handbuch über Medikamente zusammengestellt hat, berichtet Folgendes153: Die sogenannte lemnische Erde wird aus einer höhlenartigen Mine gefördert154 und mit Ziegenblut vermischt; die Leute von dort pressen sie in Formen, siegeln sie mit dem Bild einer Ziege und nennen sie Sphragis.
Wesentlich ausführlicher ist der Bericht, den Galen rund hundert Jahre später gegeben hat155 und der sich ausdrücklich gegen den Verdacht des Dioskurides wendet, der Erde werde Ziegenblut beigemischt. Seine Kenntnisse bezieht er zum Teil aus einem Werk, das ein nicht namentlich genannter lemnischer Autor über die Wirkkraft der Sphragis verfasst haben soll, doch mindestens ebenso sehr aus eigener Anschauung, denn er hat die Insel selbst besucht156. So berichtet er, dass auf Lemnos drei Arten von Erde gegraben wurden: zum einen eben die heilige und heilkräftige, sodann ein eigentlicher Rötel, der vor allem vom Baugewerbe gebraucht wurde157, und drittens eine reinigende Erde, die man zum Waschen von
152 Gegen Gifttiere: Diosk. Mat. Med. 5.97.2, Gal. 12.174f (dazu gehörend wohl der Einsatz gegen die Tollwut, vgl. Gal. 12.175); gegen Schlangen: Plin. Nat. 35.33f, Gal.; gegen verschlucktes Gift: Plin. Nat. 29.104, 35.33, Schol. Nik. Ther. 864a, Diosk., Gal., Paul. Aig. 5.28.2, 5.29.3, 7.3.3, 7.11.5; gegen Blutungen: Plin. Nat. 35.33, Gal. 10.329, 12.174–179, Aret. 6.2.13, Paul. Aig. 6.30.2, 7.3.3; gegen Verdauungsbeschwerden: Diosk., Gal. 10.298f, 12.179, Paul. Aig. 7.3; austrocknende Wirkung: Gal. 12.177, Paul Aig. 7.3; „für die Mysterien“ (εἰς τελετάς): Diosk. 5.97.2; eine Wirkung als Gegengift scheint sich effektiv nachweisen zu lassen, vgl. Raby 1995, 313 mit dem Verweis auf Black 1956. 153 Diosk. Mat. Med. 5.97.1. 154 In einer Reihe von Handschriften, die einen erweiterten Dioskurides-Text bieten, ist an dieser Stelle Folgendes eingefügt: „... auf der Insel Lemnos, wo sich eine sumpfige Gegend befindet; und von dort wird sie herausgeschafft ...“ Diese sogenannten interpolierten Handschriften gehören dem 14./15. Jh. an, und die darin eingearbeiteten Zusätze stammen teilweise erst aus dem Mittelalter, vgl. Wellmann, Materia 3, 68 mit 2, v und xiif, ausserdem RE 5 (1905) s.v. Dioskurides 12), 1141f [M. Wellmann]. Arabische Autoren nennen die Sphragis seit dem 9. Jh. gelegentlich „Erde aus dem kleinen Sumpf“, ein ähnlicher Hinweis auch in dem Bericht bei van Ghistele, vgl. unten n. 177 und Raby 1995, 310 mit n. 24. Auf eine an der modernen Grabungsstelle entspringende perennierende Quelle weist Sealy 1918–19, 165 hin. Spiegelt dieser Gegensatz zwischen der Beschreibung bei Diosk. und in der nachantiken Überlieferung einen Wechsel des Grabungsortes (vgl. unten p. 300)? 155 Gal. 12.169–179. 156 Gal. 12.171–174, vgl. die Anspielung auf die Reise Gal. 12.216; Galen besuchte die Insel in den Jahren nach 160 n. Chr. zweimal; erst beim zweiten Besuch fand er die Sphragis. Zum Problem der genauen Datierung Nutton 1973, 166–170; Moraux, Galien 75 mit n.2. 157 Auf diese zweite Art beziehen sich wohl die Erwähnungen eines als besonders gut geltenden lemnischen Rötels (µίλτος) bei Theophrast (Theophr. Lap. 52: die älteste Erwähnung der lemnischen Erde überhaupt) und Vitruv (Vitr. 7.7.2), die beide die Heilkraft nicht erwähnen; für die Geschichte der heilenden Erde sollte man diese Stellen also wohl (gegen Marganne
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Textilien verwendete158. Die Herstellung der heilkräftigen Erde beschreibt er wie folgt159: Diese Erde gewinnt die Priesterin [der Artemis] mit einem lokalen Ritual, wobei man keine Tiere tötet, sondern dem Boden Weizen und Gerste als Gegengabe darbringt; dann führt sie diese in die Stadt, vermischt sie mit Wasser, stellt so einen nassen Schlamm her, und lässt diesen, nach kräftigem Umrühren, sich setzen; dann giesst sie zuerst das obenauf schwimmende Wasser ab und nimmt darunter den fetten Teil der Erde, wobei sie nur die den Bodensatz bildenden stein- und sandartigen Bestandteile zurücklässt, die ja nutzlos sind; diesen fetten Schlamm trocknet sie soweit, bis er die Konsistenz von weichem Wachs angenommen hat, nimmt dann von diesem kleine Stückchen, presst das heilige Siegel der Artemis darauf und lässt [die Stückchen] schliesslich im Schatten trocknen, bis sie ihre Feuchtigkeit gänzlich abgegeben haben und dadurch zu dem allen Ärzten bekannten Heilmittel geworden sind, der lemnischen Sphragis. So nennen sie nämlich, wie gesagt, einige, wegen dem daraufgestempelten Siegel, einige aber wegen der Farbe lemnischen Rötel. Nun gleicht zwar in der Farbe dem Rötel, unterscheidet sich indessen von ihm dadurch, dass sie anders als jener nicht färbt, wenn man sie berührt ...
Ein Stück weiter unten fährt er fort160: Zu diesem Hügel [wo die Erde gewonnen wird] begibt sich die Priesterin gerade zu der Zeit, wo ich selber die Insel besuchte161, wirft eine bestimmte Menge Weizen- und Gerstenkörner in die Erde und vollzieht noch andere Dinge, welche dem heiligen Brauch der Gegend entsprechen, und danach füllt sie ein ganzes Fuhrwerk mit dieser Erde. Und indem sie dieses, wie ich schon berichtet habe, in die Stadt führt, bereitet sie die vielberedete lemnische Sphragis.
Für das Verständnis dieser Stellen sind wohl zunächst zwei rein geschichtliche Fragen zu klären: erstens warum die Gewinnung des Stoffes bei Dioskurides und Galen so unterschiedlich geschildert wird, zweitens wie alt dieser Brauch überhaupt ist. Versucht man, die beiden Berichte über den Abbau der lemnischen Erde so übereinander zu legen, dass sich die gemeinsamen Grundlinien zeigen, so ergibt sich nicht viel mehr als dass aus Lemnos eine heilkräftige, rötlich gefärbte Erde stammte, die mit einem Siegel gekennzeichnet war162. Es stimmt misstrauisch, dass das genau so viel ist, wie ein Betrachter ausserhalb der Insel ohne Benutzung weiterer Quellen wahrnehmen konnte. Im übrigen liefern die Texte nicht bloss verschiedene, sondern teilweise widersprüchliche Nachrichten, am deutlichsten bei Galens Einwänden gegen die Sache mit dem Ziegenblut. Doch auch die bei Dioskurides geschilderte Förderung unter Tage, aus einer höhlenartigen Mine,
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1997, 161) besser nicht verwenden. Zur Unterscheidung des Rötels von der Sphragis auch Gal. 14.80 und allgemein RE 15 (1932) s.v. Minium, 1851–1853 [W. Kroll]. Gal. 12.170f. Gal. 12. 169f. Gal. 12.173. Galen bestimmt diesen Zeitpunkt nicht näher; da er davor schon eine längere Reise zurückgelegt hat (er kam von Rom: Gal. 12.172), dürfte es nicht gleich zu Beginn der Schiffahrtssaison gewesen sein, sondern frühestens gegen den Sommer, wie schon Fredrich 1906, 73 n. 1 und 76 n. 1 vermutete; weiteres unten p. 301. Zur Herstellung dieser Art von Medikamenten Marganne 1997, 155–157.
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will nicht recht zu den Zeremonien passen, die uns Galen beschreibt163. Überhaupt ist es merkwürdig, dass Dioskurides, obwohl er die kultische Verwendung des Stoffes erwähnt164, nicht den geringsten Hinweis auf Religiöses gibt, wenn er seine Gewinnung schildert. Diese ist bei ihm ein rein handwerklicher Vorgang, und selbst die Mischung mit dem Ziegenblut wirkt weniger als Zeugnis für ein sonst nicht belegtes Ziegenopfer denn als ein, vielleicht durch das Siegelbild angeregter, Versuch, die rote Farbe der Sphragis zu erklären. Nicht unähnlich munkelt Plinius etwas von einer Beimischung von Mennige (minium), wodurch der Urstoff verfälscht werde165. Kein Widerspruch besteht immerhin zwischen den Angaben von Galen und Dioskurides über den Stempel auf der Sphragis: Es ist gut möglich, dass das Siegel der Artemis das Bild einer Ziege trug166. Auch damit reicht allerdings der Text des Dioskurides nicht über das hinaus, was man fern der Insel anhand der gesiegelten Tabletten vermuten konnte. Die Schilderung bei Galen hingegen stimmt auffallend gut mit allem Übrigen überein, was wir von den Kulten der Insel wissen, nicht zuletzt in der Schlüsselrolle, die sie der Artemis und dem Hephaistos zuteilt. Insgesamt kommt man nicht um den Eindruck herum, dass die Unterschiede zwischen den beiden Texten weniger eine Veränderung des Brauchtums in den dazwischen liegenden etwas mehr als hundert Jahren anzeigen als einen verschiedenen Kenntnisstand ihrer Verfasser167. Wesentlich schwieriger ist die Frage, seit wann die Sphragis gegraben wurde. Die frühesten Quellen, welche auf die am lemnischen Berg gewonnene Erde hin-
163 Und ebenso wenig zu der „sumpfigen Gegend“ der späteren Zusätze zum Dioskurides, vgl. oben n. 154. 164 Diosk. Mat. Med. 5.97.2. 165 Plin. Nat. 35.(14).33. Nach Higgins, Companion, 124f ist die Sphragis in Wirklichkeit a form of ochre, a material rich in hydrated iron oxides, das als Verwitterungsprodukt früherer Quellen entstand (vgl. die Zusammenstellung älterer Vermutungen bei Marganne 1997, 159 n. 26 und die Analyse bei Black 1956, 883). Zum Ziegensiegel als Anregung für Dioskurides Marganne 1997, 162. 166 Vgl. Marganne, 162 mit n.41; Artemis wird verschiedentlich mit den Ziegen verknüpft, etwa indem sie solche als Opfertiere erhält (vgl. Sext. Emp. Pyrrh. Hyp. 3.221, Drac. Orest. 96), wie nach gewissen Berichten im Artemisheiligtum von Munichia in Athen (Paus. Att. ε 35 Erbse, vgl. Deubner, Feste, 205) und an den Brauronia (Hesych. s.v. Βραυρωνίοις, vgl. Deubner, Feste, 208); zu Delos und Ephesos: Bodson, Zoia, 131 n. 86. Öfter erscheint die Göttin mit dem Beinamen Artemis Agrotera, so beim Ziegenopfer der Athener zum Gedenken an die Schlacht von Marathon (Xen. An. 3.2.11f, Plut. Mor. 862bf, Ael. Var. Hist. 2.25, vgl. Deubner, Feste, 209) oder beim bekannten spartanischen Opfer für Artemis Agrotera vor der Schlacht (Xen. Hell. 4.2.20 u.a.). Ins Erzählerische gewendet ist der Bezug, wenn die Bewohner von Aigeira an der Stelle ein Heiligtum für Artemis Agrotera bauen, wo sich die Leitziege der Herde niederlässt, welche die Gemeinde vor den Sikyoniern gerettet hat (Paus. 7.26.2–4). Gelegentlich finden sich auch bildliche Darstellungen der Göttin mit Ziegen (LIMC 2 (1984) s.v. Artemis [L. Kahil] Nrr. 615, 621 u.a.). Nichtgriechische Göttinnen, die mit Artemis identifiziert und denen Ziegen geopfert werden, sind erwähnt bei Arr. Anab. 7.20.3, Arr. Cyn. 34.1–3; vgl. auch Ant. Lib. 13.6; ausserdem RE 2 (1896) s.v. Artemis 2) [Wernicke] 1440, RE 2.10A (1972) s.v. Ziege [W. Richter] 426f. 167 Raby 1995, 307 rechnet dagegen mit Veränderungen des Brauchs.
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deuten, stammen aus dem 2. Jh.168. Das bedeutet noch nicht zwingend, dass die betreffende Überlieferung nicht wesentlich älter sein kann: Plinius behauptet, die Erde sei „von den alten Schriftstellern viel gerühmt“ worden169, und auch die von Dioskurides erwähnte kultische Verwendung des Stoffes weist darauf, dass man mindestens zu seiner Zeit dem Gebrauch der lemnischen Erde ein ehrwürdiges Alter zuschrieb – wobei natürlich auch dies nicht sehr viel zu heissen braucht170. Wenn aber, was uns Galen über die Gewinnung des Stoffes berichtet, so gut zu allem passt, was wir über die Kulte der Insel wissen, deutet das wohl in dieselbe Richtung. Dazu erscheint Lemnos in der Geschichte von Philoktet sowie in derjenigen von der Blendung des Orion als ein Ort der Pflege und Heilung171, auch wenn die Hinweise mehrdeutig bleiben: So scheint etwa schon bei Sophokles eine bekannte Fabel gewesen zu sein, dass Orion auf Lemnos bei Hephaistos Heilung suchte172, während wir umgekehrt bei der Philoktetsage den Eindruck erhalten, dass die Heilung des Helden mit der Sphragis zu einer der jüngsten Fassungen der Geschichte gehört173. Noch unklarer bleibt das Verhältnis zur lemnischen Sphragis bei einer letzten Geschichte174: Amphiretos, der auf Lemnos von Seeräubern gefangen gehalten wurde, trank miltos, um einen Blutsturz vorzutäuschen. Dies könnte sich bloss auf den zu Bauzwecken verwendeten Rötel beziehen, anderseits scheint die in der medizinischen Literatur eine gewichtige Rolle spielende Verwendung der Sphragis gegen innere Blutungen ein merkwürdiges Echo zu dieser Episode zu geben175. Selbst dann bleibt der Bericht für unsere Frage wenig aussagekräftig, weil wir nirgends einen Hinweis auf seine zeitliche Einordnung finden. Immerhin wird man eine Geschichte, in der Lemnos als Seeräubernest erscheint, kaum in der hohen Zeit des römischen Friedens unter den Kaisern ansiedeln, sondern spätestens in den Wirren der zerfallenden hellenistischen Staatenwelt und der römischen Bürgerkriege176. Was sich der Geschichte abgewinnen lässt, ist also höchstens 168 Vgl. Nik. Ther. 864f; offen bleibt, ob nicht der Hinweis bei Acc. Trag. 529f R., dass der Gott auf den bekannten Berg gestürzt sei, schon die Bekanntheit der lemnischen Erde voraussetzt. Von den bei Galen zitierten Quellen für Rezepte von Heilmitteln, in denen Sphragis verwendet wird, scheint der Arzt Apollonios Mys die älteste zu sein, der frühestens in der 2. Hälfte des 2. Jh.s gewirkt hat, vgl. Gal. 13.279, 14.147 und dazu Marganne 1997, 163f. Das läuft auffallend parallel zu den Belegen bei Nik. und vielleicht Acc. Messineo 2000, 92 verbindet ein grosses Stück rötlichen Fussbodens im archaischen Heiligtum von Hephaistia mit der heiligen roten Sphragis; aber solche punktuellen Vergleiche sind immer willkürlich. 169 Plin. Nat. 35.(14).33. 170 Gegen Marganne 1997, 160 mit n.31 ist darauf hinzuweisen, dass nicht alles, was die antiken Autoren für heilig und althergebracht halten, deswegen wirklich alt sein muss. 171 Vgl. 3.4.3 und 4.2.2. 172 Soph. Kedalion Frgg. 328–333. 173 Vgl. unten 4.2.2. 174 Polyain. Strat. 6.54. 175 Vgl. die Belege oben n. 152. 176 Polyain., dem wir diese Nachricht verdanken, hat sein Buch über Kriegslisten im Jahr 162 n. Chr. den Kaisern Marcus und Verus gewidmet. Die Geschichte von Amphiretos steht in einem Abschnitt, der vor allem Episoden enthält, die mit griechischen Tyrannen von der archai-
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eine vage Bestätigung dessen, was wir aus den anderen Quellen wissen. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die in Lemnos gegrabene Sphragis sicher spätestens im 2. Jh. weit herum bekannt war, während sich Hinweise auf die heilende Kraft des lemnischen Hephaistos etwa bis ins 5. Jh. zurückverfolgen lassen. b) Licht aus der Neuzeit? Der Ruhm der wunderbaren Erde von Lemnos erlischt mit dem Ende des Altertums keineswegs für immer. Sobald in der frühen Neuzeit die Quellen reichlicher fliessen, wird es bei den Reisenden geradezu ein Klischee, wenn sie die Insel erwähnen, auch auf die Sphragis hinzuweisen, um derentwillen sie berühmt ist. Man pflegt deshalb, unser Wissen durch die Benutzung dieser nachantiken Quellen zu vervollständigen177. Allerdings können wir nicht sicher sein, dass die Sphragis die ganze byzantinische Epoche hindurch ununterbrochen gefördert wurde. Bis ins 8. Jh. n. Chr. wird sie zwar von den Medizinschriftstellern zur Anwendung empfohlen, doch danach fehlt es bis ins Spätmittelalter an glaubhaften Belegen178. Natürlich beweist dies noch nicht, dass die lemnische Erde in jener Zeit unbekannt war: in diesen Jahrhunderten spiegelt sich die materielle Kultur ja mitunter bloss stark gefiltert in den spärlichen literarischen Quellen. Wichtig ist deshalb die genaue Betrachtung eines Berichts aus dem Spätmittelalter: ein armenischer Arzt, Amirdovlat von Amasya, verfasste um 1482 ein stark auf antiken Quellen fussendes Wörterbuch der Arzneimittel mit dem ironischen Titel Nutzloses Buch für Unwissende. Darin wird berichtet, wie sich die Fachleute im Jahre 1479/80 für die Erde von Lemnos zu interessieren begannen. Auf Geheiss des Sultans Mehmet II, der die Insel eben den Venezianern abgenommen hatte, machte zuerst ein sarazenischer Arzt sich nach Lemnos auf, fand dort aber nur einen Ton, den die Ärzte als den falschen erkannten, weil er die Farbe verlor. Darauf schickte man drei andere Experten, einen Perser, einen Griechen und vielleicht einen Venezianer, die zur Insel fuhren, die Ältesten befragten und viele Bücher über die Sphragis lasen.
schen bis in die frühhellenistische Zeit zu tun haben (vgl. Schettino, Introduzione, 252f); überhaupt fällt die jüngste datierbare List, die in dem Werk zitiert wird, ins Jahr 43 (Polyain. Strat. 8.24.7), was die oben vorgetragene Überlegung bestätigt, vgl. RE 21 (1952) s.v. Polyainos 8), 1433f [F. Lammert], Schettino, Introduzione, 273f. 177 Der erste Westeuropäer, der als Augenzeuge über die Grabung der lemnischen Erde berichtete, scheint Joos van Ghistele gewesen zu sein, der die Insel 1485 besuchte, vgl. Hasluck, Christianity, 674. Die klassische Behandlung des Schicksals der Sphragis in der Neuzeit bei Hasluck Christianity, 673–687 ist heute weitgehend durch Raby 1995 ersetzt und in einigem korrigiert; dort ausführlich die Quellen zu allem Folgenden. 178 Koder, Pelagos, 96 nennt als letzte Quellen frühbyzantinische Medizinschriftsteller: Paul. Aig. (vgl. oben n. 152): 1. Hälfte 7. Jh. n. Chr., Metrodora 59 (§ 4/6): wenig später, Paul. Nik. 42.37: vor 9./10. Jh.; vgl. Koder, Pelagos, 202, 207.
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So machten sie den Ton ausfindig, brachten ihn ihrem Padischah, und die Fundstelle wurde mit einer Einzäunung geschützt179. Man darf nicht so naiv sein zu glauben, dieser Bericht schildere realistisch die Wiederentdeckung der lemnischen Erde: Dass es etwa, um die Sphragis zu finden, zwei Reisen nach Lemnos brauchte, darf man vielleicht als Anlehnung an das Vorbild Galens verstehen, dem es ebenso erging180. Auch die vielen Bücher, welche die Experten auf Lemnos angeblich fanden, und die Befragung der Ältesten der Insel kommen bei Galen schon vor181. Gewiss: Wenn diese Ältesten noch etwas gewusst haben sollen, so kann es nicht Jahrhunderte her gewesen sein, dass die Sphragis gegraben wurde – aber wenn diese Befragung vor allem ein topisches Erzählmotiv darstellt, hat dieses Argument wenig Gewicht. Tatsächlich wurde die lemnische Erde während der Türkenzeit vor allem von dem zuinnerst am Golf von Pournias gelegenen Hafenort Kotsinas aus vertrieben, seit byzantinischer Zeit die nach Myrina wichtigste Siedlung der Insel und mit einer Burg gesichert; das alte Hephaistia war damals aufgegeben und vergessen. Der Name des neuen Ortes ist seit dem 12. Jh. belegt, und gelegentlich leitet man ihn von der roten Siegelerde ab (kokkinos = rot) – angesichts der Häufigkeit ähnlicher Ortsnamen in Griechenland nicht unbedingt zwingend182. So bleibt wohl das Hauptproblem bestehen, dass der Ort der Grabung in der Neuzeit sich nicht am alten Berg Mosychlos bei Hephaistia befindet183. Der Gedanke liegt deshalb nahe, dass die Experten Mehmets II das Kotsinas ihrer Zeit für das alte Hephaistia hielten, und dort in der Nähe forschten, bis sie meinten, gefunden zu haben, was sie suchten184. So wird man es nicht mehr als ungebrochenes Fortleben des antiken Brauches ansehen, wenn das, was wir über die Gewinnung der Sphragis in der Neuzeit erfahren, sich weitgehend mit den antiken Berichten deckt185: Auch in der Neuzeit 179 Der Text auf deutsch bei Vardarjan 1993, 203, auf englisch bei Raby 1995, 325f, 180 In Amirdovlat Amasyazis eigenem Resumé von Galens Forschungen ist allerdings nur von einer einzigen Reise des römischen Arztes die Rede, vielleicht nach einer arabischen Vorlage, vgl. Vardarjan 1993, 202f. Man wird den Einfluss einer griechischen Quelle in einer Geschichte, die unter den Ärzten von Konstantinopel erzählt wurde, dennoch nicht ausschliessen. 181 Gal. 12.173f. 182 Zum Erstbeleg für den Ortsnamen Koder, Pelagos, 201f; schon auf Lemnos selbst heisst heute auch eine Strandbucht im Südwesten Kokkina. 183 Zur Lage des Mosychlos oben 3.1.3. 184 Raby 1995, 321–323 und 338 rechnet – ohne die Identität des Grabungsortes anzuzweifeln – damit, dass die Sphragis in byzantinischer Zeit nicht vergessen war, aber durch die Forschungen des 16. Jh.s einen neuen Aufschwung nahm. Einzelne türkische Quellen vertreten ausdrücklich die Auffassung, dass die Sphragis vor Mehmet II völlig vergessen war; vgl. Raby 1995, 326 und 336. 185 Schilderung und Quellen bei Raby 1995, 305f. Man liest oft, dass der Brauch heute erloschen sei: Die letzten Berichte stammen vom Anfang des 20. Jh.s, vgl. etwa Fredrich 1906, 72, Hasluck Christianity, 683f und Sealy 1918–19, 165, der ausdrücklich vermerkt, dass die Grabungszeremonie 1918 noch stattfand (ibid. auch Fotos von Berg und Grube; im übrigen zur Grabungsstelle Lehmann, Inseln 4, 463); Raby 1995, 321 mit n. 90 zitiert einen Zeugen, der
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wurde in feierlichem Rahmen und nur einmal jährlich nach der Erde gegraben, und zwar am 6. August, dem Tage der Verklärung Christi. Man begann mit einem Gottesdienst in der Erlöserkirche nahe dem Hügel, wo gegraben wird, unter Teilnahme des Inselgouverneurs und der lokalen Notabeln, erliess eine feierliche Proklamation und opferte ein Schaf, von dem allerdings nur die Türken assen, da die griechischen Christen zu dieser Zeit, kurz vor Mariä Himmelfahrt, ein Fasten hielten. Die eigentliche Grabung betrieb man in den frühen Morgenstunden, was im August in Griechenland das einzig Vernünftige ist. Danach wurde die Erde gereinigt und gesiegelt. Etwas Weniges wurde an die bei der Feier Anwesenden verteilt, während das meiste unmittelbar an den Sultan in Istanbul ging, der das Monopol auf dem kostbaren Stoff innehatte. Neu gegenüber dem Bericht bei Galen ist hier vor allem der deutlich sichtbare Wille der türkischen Verwaltung, das Geschäft zu kontrollieren: Der Gouverneur ist anwesend, die Siegelerde gehört dem Padischah. In diesem Punkt setzt sich fort, was mit den von Amirdovlat Amasyazi geschilderten Expeditionen begonnen hat. Auch die übrigen Einzelheiten des Berichts lassen sich keineswegs so einfach zur Ergänzung unseres Wissens über die antiken Grabungsbräuche nutzen, wie man, in der unkritischen Annahme einer ungebrochenen Tradition, oft gemeint hat. Schief zu den antiken Quellen steht etwa schon das geschlachtete Schaf, das weder zu dem unblutigen Opfer bei Galen noch zu dem bei Dioskurides angedeuteten Bezug zur Ziege passt. Hier liegt einfach der Opferbrauch des Kurban vor, der im islamischen Bereich ebenso verbreitet war wie in der griechischen Orthodoxie186. Nicht viel besser steht es mit den Nachrichten zum Datum der Grabung, worüber die antiken Quellen nichts sagen. Ein Tag im August könnte zwar einigermassen zum vermuteten Termin von Galens Anwesenheit auf der Insel passen, ausserdem hat man darauf hingewiesen, dass die Feiern im Kabeirion von Chloi ungefähr in dieselben Tage des Jahres zu fallen scheinen und es auch in anderen griechischen Gemeinden Feste in dieser Zeit gibt187. Bei der allgemeinen Dichte der antiken Festkalender braucht das freilich nicht viel zu heissen, und die Zeremonie in den 20er Jahren als erloschen bezeichnet, Brommer, Hephaistos, 163 einen Informanten von 1971, der den Ritus als Kind noch erlebt haben will und meint „seit ca. 50 Jahren gäbe es keine Kulthandlungen ... mehr“. Raby 1995, 336f weist darauf hin, welche Rolle bei der Neuordnung des Ritus in der osmanischen Zeit das Interesse der Herrscher spielt, türkische und griechische Repräsentanten friedlich zusammenzuführen. Bis jetzt hat man jedoch kaum darauf aufmerksam gemacht, dass umgekehrt das Erlöschen des Brauchs zeitlich mit dem Frieden von Lausanne und den grossflächigen ethnischen Säuberungen im Ägäisraum zusammenfällt. Nicht dass der Fortschritt der Medizin die Sphragis entwertete, hat also wohl den Ritus verschwinden lassen, sondern eine missglückte gesellschaftliche Modernisierung, die ihn seiner Funktion beraubte. Allerdings hat mir David Jordan mündlich mitgeteilt, dass heute zu gewissen Tagen Leute von Lemnos nach Athen kämen und Lemnische Erde auf dem Markt feilböten; vgl. auch Higgins, Companion, 124: it ... is still used locally. Nutzung des Vorkommens setzt wohl nicht mehr zwingend das Ritual der Grabung voraus. 186 Auffallend ist, dass schon arabische Paraphrasen des Galentexts aus dem 9. Jh. von einem Opfer an der Grube sprechen, vgl. Raby 1995, 328; zum Kurban allgemein Hasluck, Christianity, 258–261. 187 Vgl. Burkert 1970, 10.
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trotz Dioskurides’ Hinweis auf eine Verbindung der Sphragis zu den Mysterien kann man sich fragen, ob man wirklich alle lemnischen Kulte zu einem einzigen Festival zusammenziehen soll, oder ob es nicht auch hier verschiedene religiöse Anlässe gegeben haben kann. So muss in diesem Punkt wohl ebenfalls das meiste offen bleiben: Der Tag, an dem in der Antike die Sphragis gewonnen wurde, ist nicht mehr zu bestimmen188. Was die Verwendung der Lemnischen Erde angeht, spiegeln sich in den Schriften der frühen Neuzeit vor allem die antiken Quellen, doch es fehlt nicht an auffälligen Abweichungen189. So gilt der Stoff zwar noch immer als Gegengift, doch angewendet wird er nun in Form von aus dem wunderbaren Ton gebrannten Bechern, von denen es heisst, dass sie bei der Berührung mit Gift in tausend Stücke splittern190. Die Wirkung der Sphragis erhält damit einen Zug ins Wunderbare, und entsprechend übersteigert scheint die Wertschätzung, die sie geniesst: Gut belegt ist etwa, dass der Sultan gelegentlich ausländischen Gesandten Tabletten von dieser Substanz als Geschenk überreicht hat. Damit geraten wir aus der Welt der medizinischen Wirkungen, in welcher sich die antiken Ärzte bewegten, in jene der magischen Kräfte, wo ein ziemlich alltäglicher Werkstoff Teil eines Zaubers wird, welcher der Selbstdarstellung der Macht zugehört. Der mirakulöse Becher beschützt das Leben des Padischahs, und dessen überwältigende Grösse spiegelt sich auch darin, dass sie den Ambassador des französischen Königs veranlasst, ein Stücklein mystischen Drecks als kostbare Gabe willkommen zu heissen191. Blickt man von hier nochmals zurück auf die Nachrichten, die uns über die lemnische Erde aus dem klassischen Altertum überliefert sind, und versucht man, sie mit den Göttern und Mythen der Insel in Bezug zu bringen, so fällt auf, dass sich eine Spaltung wiederholt, auf die ich schon einmal habe hinweisen müssen192: In den Mythen ist die lemnische Erde allein mit Hephaistos verknüpft, doch die Berichte über Kult und Brauch, welche dazu gehören, sprechen von Artemis, von dem Gott aber mit keinem Wort. Aus einem solchen Befund etwas Si188 Trotz seiner berechtigten Skepsis gegen eine Kontinuität des Grabungsrituals bis ins Spätmittelalter sucht Raby 1995, 338–341 als Spuren einer mündlichen Tradition Analogien zwischen antikem Hephaistoskult und dem Ritus der Neuzeit, insbesondere auch dem Fest der Verklärung Christi. Allerdings bilden dabei nicht die antiken Quellen zur Grabung den Ausgangspunkt, sondern die nicht unproblematische Rekonstruktion eines alle lemnischen Traditionen zusammenfassenden Festes von Burkert 1970, und die Parallelen bleiben schwach. 189 Zum Folgenden Raby 1995, 312–314. 190 Immerhin könnte man hier daran erinnern, dass der in die wunderbare Erde gestürzte Hephaistos auch Schutzherr der Töpfer war. 191 Zur Sphragis als Geschenk Raby 1995, 316f. Ohne antike Vorgänger ist auch die in arabischen Quellen seit dem 8. Jh. n. Chr. auftauchende Nachricht, dass die lemnische Erde ein Mittel gegen die Pest sei, nach Raby 1995, 313f eine analoge Übertragung von der sog. Armenischen Erde. Seltsam aber, dass wir damit Lemnos mit einem Motiv verbunden sehen, das auch einer andern Insel zugehört, an welche die Verwundung des Philoktet geknüpft wird: Es war schliesslich auf Tenedos im Heiligtum des Apollon Smintheus, des Pestgottes, wo Philoktet die Schlange traf (vgl. oben 2.3.2.) 192 Vgl. oben 3.4.2.
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cheres zu gewinnen, ist angesichts der Lückenhaftigkeit unserer Zeugnisse schwierig, gerade auch wenn man der Versuchung widerstehen will, die offenen Stellen in unserem Wissen über die Rituale durch aus den Mythen gesogene Erfindungen auszufüllen193. Galen jedenfalls hat den Hügel mit der lemnischen Erde zuerst in Myrina in der Gegend des Hephaistosheiligtums gesucht194 – allerdings (und das ist doch merkwürdig) vergeblich. Aber vielleicht lässt sich das Nebeneinander dieser beiden Gottheiten als sinnvoll begreifen195: Ich erinnere daran, dass man die Artemis von Lemnos auch als die Inselgöttin schlechthin ansehen darf. Die Erde, der man die Sphragis entnimmt, erscheint damit als ihr besonders zugehörig, was sich in der Anwesenheit ihrer Priesterin bei der Grabung zeigt. Was nun Hephaistos, die männliche Gottheit, betrifft, so definiert er, wie schon angetönt196 in der Umgebung der Stadt Hephaistia zwei Orte, die vom Mittelpunkt der Polis, von der städtischen Siedlung aus gesehen, als Grenzorte erscheinen: die Klippe von Chloi als fernstes Vorgebirge über dem Meer, die Hügelkette, aus welcher der Mosychlos hervorwächst, als südlichen Horizont, wo das Gelände in den Himmel übergeht. Gegenüber einer Artemis-Lemnos, welche das Binnenreich des Inselbodens regiert, erscheint Hephaistos damit als Herr des Äusseren, all dessen, was hinter den Rändern des Sichtbaren liegt: So manifestiert er sich an jenen Stellen, wo das Jenseits auf die nahe Wirklichkeit des Erdbodens trifft, gewissermassen der Gott auf den Inselberg stürzt. Dass sich an solchen Stellen ein Kult ansiedelt, der durch das Aufsuchen der Grenzen den Zusammenhalt der Gemeinde im Innern befestigt, ist keine überraschende Erscheinung. Von hier aus lässt sich auch die Entstehung der Fabel von der heilkräftigen Erde denken: dass die Teilnehmer einer Kulthandlung von der Stätte des frommen Geschehens ein Erinnerungsstück mit sich nehmen, den Zweig eines Baumes, einen Stein oder dergleichen, ist eine vielerorts geübte Praxis, ebenso, dass diesem Andenken eine heilbringende Wirkung zugeschrieben wird197. So mag auch die ursprüngliche Rolle der später berühmten lemnischen Erde ausgesehen haben. Die Frage nach dem Ursprung ihrer Grabung verschiebt sich damit, dass wohl eher zu fragen wäre, unter welchen Umständen der Brauch auf den Weg gebracht wurde, der von der frommen Teilhabe am Reich der Göttin über den gewerbsmässigen Reliquienhandel zur pharmazeutischen Industrie führt.
193 Bei dem Bericht über die Heilung des Philoktet mit der Sphragis HPh3 (vgl. 4.2.2) wird den Priestern des Hephaistos eine bedeutende Rolle zugeschrieben – ehe man das für eine Projektion uns unbekannter Bräuche bei der Gewinnung der Erde hält, muss man sich klar sein, dass wir damit wieder im Bereich der Sage sind, wo Hephaistos regelmässig mit der Erde verknüpft wird. 194 Gal. 12.172. 195 Fredrich 1906, 74 zog eine Parallele zum angeblichen Erdfeuer am Mosychlos und sah in der rötlichen Erde die Vermählung von Feuerdämon und Erdgöttin. 196 Vgl. 4.1.3. 197 Ähnlich die eisernen Ringe von Samothrake, vgl. 4.3.4.a; weitere Parallelen v.a. aus dem islamischen Bereich bei Hasluck, Christianity, 684f.
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4.2.2. Der geheilte Philoktet Von besonderem Interesse ist die Lemnische Erde für uns dadurch, dass sie mit der Heilung des Philoktet verknüpft wird. Um diese Nachrichten verständlich zu machen, will ich auch hier zuerst die Überlieferung zu der Episode zusammenstellen198. Die betreffenden Zeugnisse lassen sich vier Varianten zuordnen. Der ausführlichste Bericht zur ersten lautet wie folgt: HPh1199 Dionysios sagt, dass Philoktet auf einen Orakelspruch des Apollon hin badete und sich danach schlafen legte, und dass Machaon das ganz verfaulte Fleisch der Wunde entfernte, diese mit Wein spülte und danach ein Kraut darauf streute, das Asklepios von Cheiron erhalten hatte, und dass der Held auf diese Weise geheilt worden sei.
So wird die Sache von einem Pindarscholion berichtet, das uns auch seine Quelle nennt: Dionysios von Samos200, einen Schriftsteller hellenistischer Zeit, von dem wir ein einziges Werk noch in Fragmenten fassen können, den Ring der Geschichten (kyklos historikos), eine Art mythologisches Handbuch. Der Kern dieses Scholions ist später in die Masse der Kommentare zu Lykophrons Alexandra eingegangen, wobei der betreffende Text bei demselben Vers steht wie die Variante Ph10b der Geschichten über den Schlangenbiss201. Auch im Troiaepos des Quintus von Smyrna wird die Heilung des Philoktet nach der Rückkehr von Lemnos geschildert, wobei die Behandlung stark an HPh1 anklingt, nur dass als Arzt Machaons Bruder Podaleirios erscheint: HPh1b202 stark und gesund machte ihn rascher als ein flinker Gedanke der den Himmlischen gleiche Podaleirios, der in trefflicher Weise viele Heilmittel über die Wunde streute und ebenso trefflich den Namen seines Vaters anrief.
Eine Reihe von kürzeren Hinweisen stimmt mit dieser ersten Gruppe von Zeugnissen im Wesentlichen überein. In Sophokles Philoktetes etwa erhalten wir Andeutungen, dass der Held nach Troia zurückkehren und ihn die Asklepios-Söhne, also Machaon und Podaleirios, dort heilen sollen, wobei auch der Gott selber es 198 Die brauchbarste Sammlung der Textquellen bei RML 3 (1902) s.v. Philoktetes, 2319, 2321– 2323 [G. Türk]; auch Robert, GH 1214f; Gantz EGM 635–638; einiges Material bei Edelstein, Asclepius I und Avezzù, Ferimento, 87–172; eine kurze Gesamtanalyse bei Müller, Kommentar 427f. Die Belege für bildliche Darstellungen (vgl. RML s.v. Philoktetes, 2342; LIMC s.v. Philoktetes 72–77) sind höchst zweifelhaft, vgl. 2.2.5. 199 HPh1 = Schol. Pind. Pyth. 1.109a. = Dionysios von Samos FGrHist 15 F 13 = T 174 Edelstein = 8.2.19/19a Avezzù. 200 Oder von Rhodos, vgl. FGrHist 15 T 1 und T 2 mit F 4a)/b); auch RE 5 (1905) 932f s.v. Dionysios 110) [E. Schwartz]. 201 HPh1a = Tzetz. Lyk. Alex. 911: „Nach anderen und Dionysios hat ihn Apollon in Schlaf versetzt, nachdem er gebadet hatte, und Machaon ihn so geheilt, indem er [die Wunde] schnitt, mit Wein spülte und ein Kraut auflegte.“ 202 HPh1b = Quint. Smyrn. 9.461–465 = T 201 Edelstein.
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nicht an Hilfe fehlen lassen wird203. Vielleicht war diese Heilung in Sophokles’ Philoktetes in Troia sogar Teil der Handlung204. Bei dem Römer Properz lesen wir knapp, dass Machaon das Bein des Philoktet geheilt habe205, und schliesslich gibt es noch den Hinweis in der Zusammenfassung der Kleinen Ilias in der Chrestomathie des Proklos, dass Philoktet bei seiner Ankunft in Troia von Machaon geheilt wurde206; die Epitome des Apollodor schreibt die Heilung unter denselben Umständen wieder dem Podaleirios zu207. Das wichtigste Zeugnis zur zweiten Variante der Heilung des Philoktet schliesst unmittelbar an eine Stelle in den Homerscholien an, die ich schon für den Schlangenbiss zitiert habe208: HPh2209 ... einer unheilbaren Wunde anheim gefallen [wurde Philoktet] dortselbst [d.h. auf Lemnos] von den Griechen zurückgelassen; denn sie wussten, dass die Priester des Hephaistos die Opfer von Schlangenbissen behandelten.
Weitgehend wörtlich übernommen wurde dies von Eustathios210. Auffallend ist nun die Ähnlichkeit des Berichts in der Nacherzählung des Troianischen Kriegs des sogenannten Diktys von Kreta, die ich bei den Geschichten vom Schlangenbiss als Variante Ph5 eingeführt habe: HPh2a211 ... und nicht viel später wurde Philoktet mit wenigen Gefährten zur Heilung nach der Insel Lemnos geschickt, denn die Leute in jener Gegend behaupteten, dass sie dem Vulcanus heilig sei und auf ihr Priester des Gottes wohnten, welche gewohnt waren, Vergiftungen dieser Art zu heilen.
Die Übereinstimmung mit HPh2 ist so gross, dass die beiden Texte eng zusammenhängen müssen. Nachdem wir gesehen haben, wie der Verfasser des DiktysRomans seine Geschichte aus Bruchstücken geläufiger literarischer Vorlagen konstruiert und wie er dabei die Ilias benutzt212, so drängt sich der Schluss auf, dass er sie mit einem jener Kommentare gelesen hat, aus denen auch HPh2 letztlich herstammt. 203 HPh1c = Soph. Phil. 915–920, 1329–1335 (= T 152 Edelstein), 1344–1347, 1423f, 1437f (= T 92 Edelstein); vgl. Ph1 und besonders Schol. Soph. Phil. 1326; ausserdem Aristeid. Asklepiadai [Or. 38] 10 [315.15K] ; zur Darstellung bei Soph. auch Müller, Beiträge, 253f n. 201 und Kommentar, 428. 204 Darauf, dass der Held darin noch krank auftrat, weisen die Frgg. 697–699; vgl. dazu Avezzù, Ferimento, 146–151 und Gantz, EGM 637. 205 HPh1d = Prop. 2.1.59 = T 86/175 Edelstein, ebenso das Ostrakon Milne 1908 Nr. X. 206 HPh1e = Prokl. Chr. Hypoth. Il. Parv. = 74.7f Bernabé = T 173 Edelstein = 8.2.7 Avezzù; vgl. Ph9. 207 HPh1f = Apollod. Epit. 5.8 = T 202 Edelstein = 8.2.9 Avezzù; vgl. Ph11. 208 Vgl. 2.2.4 zu Ph10. 209 HPh2 = Schol. Hom. Il. 2.722. 210 Eusth. Hom. Il. 2.724 [330.10f] wie Ph10a. 211 HPh2a = Dict. 2.14. 212 Vgl. 2.3.3.
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Das Motiv einer fürsorglichen Pflege auf der Insel wird noch in anderen Berichten aufgegriffen. So sagt das mythologische Buch des Hyginus nichts über eine Heilung des Helden, erzählt aber über seinen Aufenthalt auf Lemnos: HPh2b213
ihn nährte ein Hirte des Königs Aktor namens Iphimachus, Sohn des Dolopion214.
Und nicht unähnlich behauptet Ptolemaios Chennos, dass Philoktet auf Lemnos von einem gewissen Pylios, Sohn des Hephaistos, ärztlich versorgt wurde, der dafür von ihm die Kunst des Bogenschiessens lernte215. Die dritte Variante dieser Heilungsberichte steht beim älteren Philostrat, der in seinem Dialog Heroikos auch eine eigene, mitunter eigenwillige Erzählung vom Leben des Philoktet gibt. Der Sprecher der folgenden Passage beruft sich auf den Heros Protesilaos als seinen Gewährsmann, der am troianischen Krieg teilnahm und richtiger darüber Bescheid weiss als die homerischen Epen: HPh3216
Auch über seine Krankheit und diejenigen, die ihn geheilt haben217, gibt er einen anderen Bericht: Philoktet nämlich sei zwar auf Lemnos zurückgelassen worden, doch nicht verlassen von Pflegern und ausgestossen aus dem griechischen Heer; denn viele von den Bewohnern 213 HPh2b = Hyg. Fab. 102.2 = 8.2.27 Avezzù; vgl. Ph4. 214 Beachtet man, wie gleich zu zeigen sein wird, die Nähe dieses Zeugnisses zu den Darstellungen des Eur. und des Euphor., mutet einem der Text (quem expositum pastor regis Actoris nomine Iphimachus Dolopionis filius nutrivit) einiges an Befremdlichem zu: Aktor hiess bei Eur. offenbar die Person, die sich um Philoktet kümmerte, bei Euphor. kommt ein Sohn des Dolopion ums Leben, und der Name Iphimachus erscheint in unserer Überlieferung sonst nirgends – was nicht weiter erstaunt, da er auch hier bloss durch Konjektur hergestellt ist. Noch merkwürdiger wirkt freilich, dass sich die Geschichte über die aus der Ilias bekannte Tatsache hinwegsetzt, dass zur Zeit des troianischen Kriegs Euneos, der Sohn von Iason und Hypsipyle, König von Lemnos war. Die bisher vorgeschlagenen Umstellungen im Text, die auch von Avezzù, Ferimento, 171 unterstützt werden (z.B. pastor regis Iphimachi Dolopionis filii nomine Actor [Schneidewin] oder pastor regis Iphimachi nomine Actor Dolopionis filius [Milani]), lösen gerade dieses Problem nicht, und so möchte man die Sache mit wesentlich weiter gehenden Eingriffen in den Text in Ordnung bringen, etwa: quem expositum pastor regis Actor[is] nomine, [Phimachus] Dolopionis filius, nutrivit (Ihn nährte nach der Aussetzung ein Hirt des Königs mit Namen Actor, Sohn des Dolopion). Oder besteht ein Zusammenhang mit der in HPh2c eingeführten Gestalt des Pylios, vielleicht über eine schwere Korruptel der zwischen den beiden Texten liegenden Überlieferung (die beiden Namen sind in Majuskel nicht ganz unähnlich: Π-ΥΛ-ΙΟΣ/ΦΙ-ΜΑ-ΧΟΣ)? Allerdings sind die Sonderbarkeiten bei Hyg. so zahlreich, dass sie kaum allein durch Mängel der Überlieferung entstanden sein können und man im Zweifelsfall besser beim Text der Handschriften bleibt. 215 HPh2c = Ptol. Chenn. bei Phot. Bibl. 152b13f; Zu Ptol. Chenn. vgl. 2.2.3. 216 HPh3 = Philostr. Her. 28.4f = 8.2.20 Avezzù; dazu auch Beschorner, Helden mit dem Kommentar 183f und 229f. 217 Irritierend ist die deutsche Wiedergabe der Stelle bei Beschorner, Helden, 120: „Die Ereignisse auf der Insel aber und die von seiner Heilung“, welche den Eindruck erweckt, dem Autor läge eine Lesart νήσου statt νόσου vor, welche er allerdings nirgendwo nachweist. Unmöglich ist allerdings auch seine Übersetzung „von seiner Heilung“ für das Partizip im Plural mit Akkusativobjekt τῶν ἰασαµένων αὐτὸν; vgl. die richtige Deutung bei Avezzù, Ferimento, 164.
4.2. Der heilende Gott
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von Meliboia seien mit ihm zurückgeblieben (er war ja deren Anführer), und den Achaiern seien die Tränen gekommen, als der Mann sie verliess, der so kampftüchtig war und viele andere aufwog. Geheilt worden sei er unverzüglich 218 mit der lemnischen Erde, in die Hephaistos gefallen sein soll: Diese vertreibt nämlich den Wahnsinn, hält hervorbrechendes Blut zurück und heilt unter den Kriechtieren nur den Biss der Natter.
Das wichtigste Zeugnis zur letzten Variante liefert ein Lehrgedicht über die Heilkraft der Steine aus der späteren Kaiserzeit, die sogenannten Orphei Lithika219. Den Wunderstein Echitis preist dieses Werk mit folgenden Worten: HPh4220 Auch dich, göttlicher Stein, will ich sogleich erwähnen, echte Schwester der grauen Viper und den gleichen Namen tragend wie sie; du hast ja die neunjährige Schmach des Philoktet rasch kraftlos gemacht durch die Kunst des Machaon. denn schon längst hoffte der Sohn des Poias in seinem Herzen nicht mehr dieser grausamen Krankheit zu entgehen, auch wenn er es ersehnte. aber Machaon hatte von seinem das Übel abwehrenden Vater eine Hilfe gelernt, legte einen Stein als Heilmittel auf das Bein, wo es faulte221, und liess so den Mann gegen die Troer los, der Alexandros töten sollte: dass der je wieder mit geraden Füssen in den Kampf ziehen würde, konnte selbst Paris, der Sohn des Priamos, noch als er im Sterben lag, kaum glauben.222
Auch Johannes Tzetzes hat an zwei Stellen auf diese Fassung zurückgegriffen, von denen die eine, in der schon mehrfach zitierten Kommentarnote über Philoktet (vgl. Ph10b, HPh1a), eine seltsame Abweichung bringt:
218 Die sofortige Wirkung des Heilmittels ist bei von einem Gott veranlassten Heilungen, die Züge des Wunderbaren tragen, topisch, vgl. Aristeid. Or. 47.66 Keil, und regelmässig in den Heilungsberichten des Asklepieions von Epidauros, etwa IG IV.951.3f usw. 219 Zu diesem Text die Einführung bei Halleux/Schamp, Lapidaires, 3–78; gegen deren Datierung (51–57) ins frühe 2. Jh. n. Chr. hat Livrea 1992, 205f wieder entschieden das Umfeld des Julianus Apostata, also das 4. Jh. n. Chr., als Entstehungszeit des Textes vertreten. 220 HPh4 = Orph. Lith. 346–356 = T 176 Edelstein; zum Zusammenhang, in dem diese Passage steht Halleux/Schamp, Lapidaires, 38f, sowie 100f und 310 den betreffenden Kommentar, ausserdem Appel 1987. 221 Ich folge in diesem Vers der Konjektur und Übersetzung von Livrea 1992, 208 (ὅπηι κε πύѳοιτο), gegen die unverständlichen Lesungen der Handschriften (ὅτις κε πύѳοιτο, πίѳοιτο, oder πόѳοιτο) und gegen die von Halleux/Schamp aufgenommene, stärker in den Text eingreifende Konjektur Herrmanns (ὅτις κ’ ἀκέοιτο); µηρός meint hier wohl (gegen Appel 1987, 22) keine Verlegung der Wunde an die Hüfte, sondern steht metonymisch für den Fuss oder den Unterschenkel (vgl. zur Stelle der Verwundung auch 2.4.4.d). 222 Ein weiteres Zeugnis HPh4a = Orph. Kerygm. 15 stammt aus einem wohl byzantinischen Steinbuch, das teilweise auf den Orph. Lith. basiert (vgl. Halleux/Schamp, Lapidaires, 134– 139), und bietet eine stark vereinfachte Kurzfassung des Berichts: „Dessen [d.h. des vorangehenden Ostrites] nächster Verwandter ist der Echitis, der nach der Viper benannt ist; dieser soll auch das Bein des alten Philoktet geheilt haben, was die langjährige unheilbare Wunde betrifft, indem er häufig [in Pulverform] darüber gestreut wurde“; zu Text und Übersetzung der Stelle: Halleux/Schamp, Lapidaires, 156.
4. Der hinkenden Gott
308 HPh4b223
Von den Griechen aus Lemnos zurückgerufen, wurde Philoktet nach Orpheus von Machaon mit dem Stein Ophietis geheilt.
Obwohl damit HPh4 sogar ausdrücklich als Quelle angegeben wird, ist hier doch ein anderer Name für den Stein genannt224. Schon aus dieser Übersicht wird klar, dass HPh1 oder HPh2 ganze Gruppen von Zeugnissen umfassen. Die beiden anderen Varianten (HPh3 und HPh4) sind hingegen spärlich belegt, haben viel weniger Spuren in der Überlieferung hinterlassen. Betrachtet man den Inhalt aller Berichte genauer, so zeigen sich vor allem drei Punkte, in denen sie sich unterscheiden: der Ort, an dem Philoktet geheilt wird, die Personen, die ihn behandeln, und das Mittel das dabei eingesetzt wird. Etwas vereinfacht und die einzelnen Zeugnisse unter den genannten Hauptvarianten zusammengefasst, verteilen sich die Motive wie folgt: HPh1 HPh2 HPh3 HPh4
Ort Troia Lemnos Lemnos Troia
Mittel Wein/Pflanzen Lemnische Erde Magischer Stein
Personen Machaon/Podaleirios Hephaistospriester oder andere Lemnier (Lemnier?) Machaon
Die Texte, welche als Ort der Heilung das Feldlager der Griechen vor Troia annehmen, sind nun sehr zahlreich225, während bloss eine einzige Stelle klar von einer Heilung auf Lemnos selbst spricht (HPh3). Immerhin eine Behandlung des Helden auf der Insel, meist ohne Angaben über deren Erfolg, setzt hingegen die Gruppe von Belegen voraus, die ich unter der Sigle HPh2 zusammengefasst habe (HPh2, HPh2b, HPh2c). Nur in einem Zeugnis dieser Reihe, im Roman des Diktys (HPh2a), erhalten wir im weiteren Verlauf der Erzählung den Hinweis, dass Philoktet bei seiner Rückkehr nach Troia noch immer geschwächt und nicht sicher auf den Füssen gewesen sei226. Entsprechend fehlt in allen Zeugnissen, die zur Variante HPh2 gehören, ein Hinweis auf die Art und Weise, wie Philoktet behandelt wurde. Am ausführlichsten sind über diesen Punkt die Zeugnisse zu HPh1: Da wird der Held vor Troia durch einen Arzt geheilt, meist durch Machaon, der die Wunde schneidet, mit Wein auswäscht, Kräuter auflegt und dabei den Beistand der Götter
223 HPh4b = Tzetz. Lyk. Alex. 911; zwei andere Stellen, die gegenüber HPh4 keine Neuerungen bringen: Tzetz. Posthom. 580–583, Lyk. Alex. 1048 (vgl. T 176 Edelstein). 224 Zu diesem Wechsel unten n. 243. 225 Vgl. HPh1, HPh1a, HPh1b, HPh1c, HPh1d, HPh1e, HPh1f, HPh4, HPh4a, HPh4b. 226 Vgl. Dict. 2.47 (= 8.2.28 Avezzù). Schon laut Pind. Pyth. 1.50–55 (= 8.2.17 Avezzù) griff Philoktet nach seiner Rückkehr von Lemnos trotz andauernder Krankheit siegreich in den Kampf ein. Man hat längst darauf hingewiesen, dass Pind. mit dieser eigenwilligen Gewichtung auf einen Vergleich des Helden mit dem ebenfalls kranken Hieron hinaus will, dem das Gedicht gewidmet ist, vgl. Schol. Pind. Pyth. 1.101a, 1.109a–c, ausserdem Gantz, EGM 635 und Müller, Kommentar, 31f.
4.2. Der heilende Gott
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anruft227. Grundsätzlich ist das eine Szene ohne wunderbare Züge: Hier wird einfach ein Stück Alltagsleben in die Erzählung eingeblendet, wie das im frühgriechischen Epos oft geschieht228. Nun nennt HPh1e die Kleine Ilias als Quelle für die Heilung durch Machaon, und so liegt es nahe zu prüfen, ob sich die ausführlicheren Berichte ebenfalls auf diese Quelle zurückführen lassen (HPh1, HPh1a, HPh1b). Tatsächlich spielt Machaon schon in der Ilias im Heer der Griechen die Rolle des Wundarztes, und in den kyklischen Epen scheint es ähnlich gewesen zu sein229. Das in HPh1 beschriebene Verfahren gehört zudem ganz gewöhnlich zur Verarztung von Kampfverletzungen, gelegentlich fehlt dabei auch das Kraut des Cheiron nicht230. Eigentümlich und neu ist in HPh1 nur, dass es das Eingreifen des Apollon braucht, um die Heilung auf die rechte Bahn zu leiten: Hier hat der Erzähler offensichtlich eine Überhöhung eingefügt, einerseits wohl um zu begründen, dass diese einfache und natürliche Behandlung nicht schon viel früher durchgeführt wurde, sondern erst jetzt, wo nach dem Willen des Schicksals Troias Fall bevorsteht; anderseits wird damit der Bogen zurück geschlagen zur Verwundung des Helden, die ja nach der im alten Epos gängigen Geschichte in Tenedos am Altar des Apollon geschah231. In einzelnen zu dieser Variante gehörenden Berichten (HPh1b, HPh1f) erscheint nicht Machaon, sondern Podaleirios als Arzt232. Man pflegt dies darauf 227 Vgl. HPh1, HPh1a, HPh1b; zu dieser Variante auch Severyns, Cycle, 333. Dass bei Eur. Philoktet schon unmittelbar nach der Verwundung ein erstes Mal von Machaon verarztet wurde, hat Müller, Beiträge, 79–81, 150–156 aus den Bildquellen abgeleitet. 228 Zum ‚realistischen’ Charakter der Szene, z.B. in der Verwendung von Wein als Desinfektionsmittel: Laser, Medizin, 100 mit n. 268, Preiser 2001, 280. 229 Vgl. Hom. Il. 4.193–219 (= T 164 Edelstein), 11.504–520 (= T 165 Edelstein), weiteres unten n. 230; Machaon als Wundarzt ist für die Iliou persis sicher bezeugt durch Schol. Hom. Il. 11.515 = Iliou persis Frg. 4 Bernabé. Zu Machaon und Podaleirios im frühgriechischen Epos auch Severyns, Cycle, 358–361; Kullmann, Quellen, 114–116 und Laser, Medizin, 97–100; die Zeugnisse zur Heilung des Philoktet durch Machaon auch bei RML 2.2 (1894–97) s.v. Machaon 2229 [O. Höfer]; der Artikel LIMC 8.1 (Suppl. l997) 777–780 s.v. Machaon [I. Leventi/D. Pandermalotis] ist leider in der Behandlung der Textzeugnisse ungenügend. 230 Zur Verarztung von Wunden Hom. Il. 11.515, 11.829f, 11.844–848, auch 4.401f, 4.899–904, 15.393f; zum Kraut des Cheiron Hom. Il. 4.217–219, 11.830–32, vgl. Laser, Medizin, 96. Kräuter legt Philoktet zur Linderung seiner Schmerzen auch bei Soph. auf, vgl. Soph. Phil. 44, 649f, 698. 231 Vgl. 2.3.2. Eine Parallele bietet das Schicksal des Teiresias, der durch die Begegnung mit einem Schlangenpaar zur Frau wird und erst, als er dieselben Schlangen später wiedersieht, die Rückverwandlung vollziehen kann (Ov. Met. 3.324–331, Apollod. 3.6.7 u.a., vgl. Brisson, Mythe, 12–21, 46–77); auffallend ist, dass Philoktet damit wieder in die Nachbarschaft einer dem Melampus ähnlichen Gestalt rückt. Zum engen Bezug von Verwundung und Heilung unten p. 311 mit n. 241. 232 Über Podaleirios RML 3.2 (1902–09) 2586–2591 s.v. Podaleirios [G. Türk]; RE 41 (1951) 1131–1136 s.v. Podaleirios [H. Kenner]. In einem Teil der Überlieferung werden die Rollen von Machaon und Podaleirios unterschieden, indem Machaon als Urbild des Chirurgen erscheint, während Podaleirios die Behandlung anderer Krankheiten zugeschrieben wird (so zuerst Iliou persis Frg. 4 Bernabé). Ob das eine erst nachträglich aus dem starken Zurücktreten des Podaleirios in der vor allem zu Wundverarztungen Anlass bietenden Ilias entwickelt ist oder eine schon vorhomerische Tradition spiegelt, lässt sich nicht mehr bestimmen, vgl. etwa
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zurückzuführen, dass Machaon nach gewissen Quellen schon vor der Rückkehr des Philoktet getötet wurde und andere Erzähler diesen Widerspruch ausglichen, indem sie den überlebenden Bruder an seine Stelle setzten. Offen bleibt, ob dies schon irgendwo im frühgriechischen Epos geschah oder in einer der zahlreichen späteren Bearbeitungen des Stoffes233. Aus alledem ergibt sich, dass HPh1 und die daran anschliessenden Berichte auf die Darstellung der Heilung des Philoktet in der Kleinen Ilias zurückgehen. Dieser aber liegt wohl nicht eine besondere Geschichte über die Heilung des Philoktet zugrunde, sondern lediglich eine typische Szene aus dem Repertoire der epischen Dichtung: HPh1 erweist sich damit als Erzeugnis der dichterischen Technik des frühgriechischen Epos234. In dieser Fassung der Geschichte bleibt die Rolle der Insel Lemnos eine rein negative: Sie ist ein Ort der Krankheit und Verwahrlosung, einsam und ereignislos. Demgegenüber verfolgen HPh2 und die zugehörigen Berichte (HPh2a, HPh2b, HPh2c) ein doppeltes Ziel: Einerseits wird die erzählerische Leere von Philoktets zehnjährigem Verbleiben auf der Insel mit einer Andeutung von Handlung gefüllt, anderseits wird dieser Aufenthalt umgewertet von einer blossen Zeit des Leidens zu einer Stufe auf dem Weg zur Heilung, und rückt damit in ein positiveres Licht. Zugleich erscheint die Zurücklassung des Helden durch die Griechen weniger verdammungswürdig, denn alle Berichte widerlegen die Behauptung, Philoktet sei auf der Insel einsam gewesen, indem sie ihm andere Personen beigeben, die ihn pflegen und umsorgen. Schon Euripides hat das offenbar mit einer Figur namens Aktor angedeutet235. Da sich der Name auch in HPh2b wiederfindet, muss diese Variante, die freilich nur am Rande an die Heilung des Helden rührt, ebenfalls von Euripides abhängen, möglicherweise über Zwischenstufen wie das Hexametergedicht Philoktetes des Euphorion, in dessen einzigem erhaltenem Fragment neben Philoktet ein Dolopionide, d.h. Sohn des Dolopion, erwähnt wird236. In den drei anderen Fällen werden die Pfleger des Helden in die Nähe des Hephaistos gerückt, wobei nicht nur, wie schon gezeigt, HPh2a von HPh2 abhängig sein dürfte, sondern auch der sogenannte Schwindelautor Ptolemaios
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die gegensätzlichen Stellungnahmen von Severyns, Cycle, 358–361, Kullmann, Quellen, 114 und Laser, Medizin, 97–99. Vielleicht nach der Aithiopis kam Machaon vor der Rückkehr des Philoktet durch Penthesileias Hand ums Leben (vgl. Apollod. Epit. 5.1 [= T 179 Edelstein] mit Prokl. Chrest. Hypoth. Aithiop. 67.4f Bernabé), nach der Kleinen Ilias erst nachher durch Eurypylos (Paus. 3.26.9 = T 186 Edelstein); vgl. Severyns, Cycle, 333. Für die Herleitung der Heilung Philoktets durch Podaleirios vgl. die gegensätzlichen Auffassungen von Schnebele, Quellen, 44–49, 170 (frühgriechisches Epos) und Müller, Kommentar, 428 (hellenistisch) – beide ohne wirklich zwingende Gründe. Zum Begriff der typischen Szene oben 2.3.2; in der älteren Forschung gilt HPh1 dagegen oft als „später ... ausgemalt“ (so Robert, GH 1215) und noch bei Müller, Kommentar, 428 als hellenistisch. Vgl. Dion. Chr. 52.8; zur allgemeinen Tendenz dieser Varianten auch Mandel, Philoctetes, 25–32. Euphor. Frg. 44 Powell; dazu Avezzù, Ferimento, 171.
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Chennos, dem wir HPh2c verdanken, seine Inspiration wohl im Wesentlichen aus dem Homerscholion HPh2 bezieht. Wir kommen also mit den Belegen für diese Gruppe von Varianten mindestens bis in die spätere hellenistische Zeit zurück, dürfen aber wahrscheinlich Euripides, wo eben Aktor mit der Pflege betraut war, als Quelle für einmal ausschliessen. Interessant ist nun, wie diese Motive in HPh3 erscheinen: hier wird die Heilung mit der lemnischen Erde vollzogen, was nur an dieser Stelle so dargestellt ist. Zugleich erwähnt HPh3 drei weitere Verwendungen des Stoffs, wobei auffällt, dass zwei davon auch in der medizinischen Literatur genannt werden237, nämlich die blutstillende Wirkung und jene gegen den Biss von Gifttieren; nur die Anwendung gegen den Wahnsinn steht hier allein. Der Autor, dem wir diese Schilderung verdanken, Philostrat, stammte von der Insel, und es ist deswegen keine gewagte Vermutung, dass er vom medizinischen Gebrauch der Sphragis Kenntnis hatte, sei es durch eigene Anschauung, sei es durch Schriften wie jenes lemnischen Autors, den auch Galen als Quelle zitiert238. Dazu kommt, dass man den Eindruck gewinnt, die Erwähnung einer Pflege des Helden im Umkreis des Hephaistos in den meisten an HPh2 anschliessenden Zeugnissen sei nicht unabhängig von der Vorstellung einer heilenden Erde, deren Kraft auf den Sturz des Gottes zurückgeführt wird – jedenfalls wäre es sehr merkwürdig, wenn Philostrat der erste gewesen wäre, der hier die nahe liegende Verbindung zog. Besteht allenfalls auch ein Zusammenhang zwischen der Heilung des Helden mit der gesiegelten Erde von Lemnos und dem häufigen Auftauchen seines Bildes auf Siegelringen239? Jedenfalls scheint es kein Zufall, dass die ersten Belege für seine Pflege bei Hephaistos etwa in die gleiche Zeit zurückführen wie diejenigen für die Heilwirkung der Sphragis, nämlich in den mittleren oder späteren Hellenismus240. Unter der rational medizinischen Erklärung, welche diese Geschichten für die Heilung des Helden zu liefern scheinen, zeigen sich damit die Grundlinien einer Erzählung, die ganz anderen Gesetzen gehorcht: Durch den Sturz in die lemnische Erde ist Hephaistos an den Füssen lahm geworden, und Philoktet, am Fuss verletzt, wird mit der Sphragis geheilt. Verletzung und Heilung werden durch eine Entsprechung aufeinander bezogen, die an jene verbreitete Art von Geschichten erinnert241, für welche Telephos das bekannteste Beispiel liefert, dessen Wunde nur der Speer wieder heilen konnte, der sie geschlagen hatte. Nebenbei sei be237 Vgl. oben p. 294. 238 Gal. 12.174, vgl. 4.2.1; zu Philostrats Lokalkenntnis auch Berenson/Bradshaw, Heroikos, lxxiif und lf. 239 Ich danke François Lissarrague für diese Anregung. 240 Dass der lemnische Hephaistos bei einer Heilung helfen konnte, ist allerdings, wie die schon zitierte Geschichte von der Blendung des Orion (Apollod. 1.4.3 u.a.) zeigt, ein viel älteres Motiv, vgl. 4.2.1. 241 Zur engen Bezogenheit von Verwundung und Heilung oben p. 309 mit n. 231. Vgl. Eur. Frg. 724 mit Hyg. Fab.101, Apollod. Epit. 3.20 u.a.; für die Behandlung des Philoktet mit dem Schlangenstein Echitis (HPh4) wurde die Analogie schon bemerkt von Appel 1987, 21; vgl. Untersteiner, Filottete, 128f und 137, der in der Heilung mit der Sphragis den ‚chthonischen’ Charakter der verwundenden Schlange gespiegelt sieht.
4. Der hinkenden Gott
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merkt, dass dies die einzige Verbindung ist, welche die antiken Quellen zwischen Hephaistos und Philoktet ausdrücklich namhaft machen242. Die Fassung HPh4 schliesslich erscheint wie eine Verknüpfung der Fassungen HPh1 und HPh3: Für den äusseren Rahmen der Heilung, den Ort, Troia, und den Arzt, Machaon, ja auch für die Einzelheit, dass dieser das Mittel von seinem Vater Asklepios erhalten hat, greift sie eindeutig auf die altepische Variante HPh1 zurück; darin aber, dass sie die Gesundung des Philoktet zum Anlass nimmt, ein bestimmtes Heilmittel zu propagieren, schliesst sie sich an HPh3 an. Auch hier besteht eine ähnliche Entsprechung zwischen Verletzung und Heilmittel: Die Rettung kommt vom Echitis, einem Stein, der den Namen der Viper trägt, jenes Tiers, das nach einer anderen Stelle desselben Dichters die Wunde des Helden verursacht hat243. Der Gedanke, dass diese Variante erst erfunden wurde, als ihre beiden Vorlagen in Umlauf waren, hat viel für sich. Damit kann man über die Geschichten von der Heilung des Philoktet zusammenfassend Folgendes sagen: Am Anfang steht eine Schilderung, die sich als unmittelbar aus den poetischen Konventionen des frühgriechischen Epos entsprungen verstehen lässt und damit wohl mindestens bis ins 7. Jh. zurück reicht (HPh1). Ihr tritt ein Bericht gegenüber, welcher eine Aufwertung der Rolle der Insel Lemnos anstrebt, indem er die Heilung mit Hephaistos verknüpft. Diese Geschichte erscheint in zwei Fassungen, von denen die erste vor allem Gewicht auf die Pflege des Helden legt (HPh2), während die zweite diese Tendenz verstärkt und klar von einer Heilung redet (HPh3); keine von beiden lässt sich über die hellenistische Zeit zurück verfolgen. Als letztes entsteht eine Fassung, in der, vielleicht erst in der späteren Kaiserzeit, die vorherigen zu einer neuen Einheit zusammengeführt werden (HPh4): 7. Jh.
HPh1
Hellenismus
HPh2 HPh3
Kaiserzeit
HPh4
242 Dies wirft ein eher zweifelhaftes Licht auf die alten Deutungen, nach welchen Philoktet ursprünglich dieselbe Person wie der lemnische Feuergott gewesen sein soll, vgl. Marx 1904, 683–685, Pettazzoni 1909, 176–180 und noch die Nachwirkungen solcher Überlegungen bei Morin 2003, 403–417. 243 Vgl. Orph. Lith. 392f. Der Wechsel zum allgemeineren Steinnamen Ophietis (Schlangenstein) in HPh4b könnte grundsätzlich damit zusammenhängen, dass in der betreffenden Stelle verschiedene andere Schlangen genannt sind, aber nicht die Viper (vgl. Ph10b). Wahrscheinlicher ist aber ein Missverständnis des Textes der Orph. Lith., wo der Ophietis mit Namen genannt ist (341), während kurz danach der Echitis nur mit einer Umschreibung eingeführt wird (347); vgl. Appel 1987, 20f mit Anm. 7.
4.2. Der heilende Gott
313
Selten ist der Ursprung einer Geschichte von so wenig Geheimnis umgeben wie hier: die Kunstformen der poetischen Technik bei HPh1, ein lokalpatriotisches Interesse bei den folgenden Varianten, ja vielleicht schon die Werbung für ein Erzeugnis des heimischen Gewerbes, die Sphragis, endlich ganz unverhüllt die Bekanntmachung einer neuen Heilmethode, der mit den Steinen. So durchsichtig diese Erfindungen wirken, so brechen sie doch nicht mit jener Ordnung der Dinge, die in allen hier untersuchten Mythen wirksam ist, weder im Einzelnen – wie sich insbesondere bei HPh3 gezeigt hat – noch als ganze Gruppe. Tatsächlich lassen sich die Heilmittel, die jeweils auf die Wunde angewandt werden, als eine Reihe lesen, die vom Feuchten, Weichen und Organischen zum Harten, Trockenen und Anorganischen führt, von Wein und Pflanze über Erde zu Stein. Das sind dieselben Gegensätze, nach denen auch die Schlangen geordnet sind, die Philoktet ge bissen haben sollen244, und seltsamerweise macht es den Eindruck, als ob die Heilmittel dabei mindestens an Anfang und Ende der Reihe den Schlangen durchaus regelmässig entsprechen würden: Dem feuchten hydros im frühen Epos antwortet so die Heilung durch Feuchtes, Wein und Pflanze, dem trockenen echis jene durch den trockenen Stein. Dazwischen – auch in den Nebenvarianten – steht eine Fülle von wechselnden Verbindungen, von denen es wohl zu weit führen würde, ihnen eine strenge Regelmässigkeit aufzwingen zu wollen. 4.3. DIE KLEINEN LEUTE 4.3.1. Thrakisches Eisen Bei der Untersuchung der Geschichten vom Himmelssturz des Hephaistos haben wir uns bislang vor allem um den Gott selbst gekümmert, um die Ursachen seines Hinauswurfs vom Olymp und um seine Rückkehr. Demgegenüber vernachlässigten wir gleichsam die untere Hälfte der Erzählung und haben kaum etwas gesagt über die Leute, zu denen er bei seinem Sturz hinabgelangt, oder über die Umgebung, in welcher er uns auf der Insel entgegentritt. In diesem Bereich findet man allerdings kaum zusammenhängende Geschichten, sondern nur einzelne lose Überlieferungen, die auch im Altertum kaum je im Mittelpunkt des Interesses gestanden haben. Man kann sie zusammenfassend als Schmiedegeschichten bezeichnen, denn es sind Sagen, die in die Werkstatt des Gottes und zu seinen Gesellen führen245. Neben Hephaistos treten dabei ganze Gruppen von Gestalten. Zweien will ich mich im Folgenden ausführlicher zuwenden: den Sintiern und den Kabiren. Von Lemnos aus gesehen, öffnet sich dabei der Horizont in andere Richtungen als bisher: nach dem nördlichen Festland und dem nahen Samothrake. 244 Vgl. 2.3.1. 245 Unklar bleibt, ob auch der Hinweis auf einen lemnischen Statuengiesser namens Glaukos in diesen Zusammenhang gehört. Das einzige Zeugnis (Steph. Byz. s.v. Αἰѳάλη) scheint ihn mit der bekannteren Gestalt des Glaukos von Chios, dem Erfinder des Eisenlötens (Hdt. 1.25.2 u.a.), zu überlagern, vgl. RE 7 (1912) 1421–1423 s.vv. Glaukos 46) und 48) [C. Robert].
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4. Der hinkenden Gott
Für die Frage, wer die schon mehrfach erwähnten Sintier gewesen sind, ist von den frühesten Erwähnungen dieser Leute auszugehen. Sie stehen in den homerischen Epen und haben die Diskussion in der Antike weitgehend beherrscht246. In der Ilias erzählt Hephaistos selbst, wie er halbtot vom Himmel auf Lemnos niedergestürzt sei und schliesst seinen Bericht mit dem Hinweis: „dort haben sich, als ich fiel, die Männer der Sintier sogleich um mich gekümmert“247. In der Odyssee lädt die ungetreue Aphrodite ihren Geliebten Ares mit dem Hinweis ein, ihr Gatte sei nicht zu Hause: „er ist weggegangen nach Lemnos zu den Sintiern, die wilde Laute von sich geben“248. Betrachtet man nur diese beiden Stellen, so ergibt sich für die Sintier, dass sie besonders eng zu Hephaistos gehörende Männer auf Lemnos waren, und wildtönend (agriophonoi) dazu. Den nächsten Hinweis auf diese Sintier finden wir erst mehr als zweihundert Jahre später249, am Ende des 5. Jh.s, in einem Fragment des Geschichtsschreibers Hellanikos von Mytilene250: Sintier wurden die Lemnier genannt251 wie Hellanikos in seinem Buch Über die Gründung von Chios schreibt, und zwar folgendermassen: „Von Tenedos aus gingen sie in die Schwarze Bucht252 und kamen dabei zuerst nach Lemnos. Die dortigen Bewohner waren Thraker, nicht viele Leute, und sie waren Halbgriechen. Diese nannten die Umwohnenden Sintier, weil es unter ihnen einige Handwerker gab, die Waffen für den Krieg herstellten. Mit diesen siedelten sie durchmischt zusammen, als sie dort hinkamen, und liessen fünf Schiffe zurück.“
Neben diesem Fragment – besonders wertvoll, weil es eine Passage des Hellanikos im Originalwortlaut zitiert – sind die beiden folgenden anzuführen, die einzelne Stellen aus seinem Werk bloss nacherzählen und sich dabei vielleicht – wie sich zeigen wird – gewisse Unschärfen erlauben253: Auf Lemnos wurden zuerst das Feuer und die Waffenherstellung erfunden, wie Hellanikos in dem Buch Über die Gründung von Chios erzählt. Hellanikos berichtet, dass die Lemnier Sintier genannt wurden, weil sie als erste Kriegswaffen herstellten, denn damit verletzten und schädigten sie ihre Nachbarn.
Das erste dieser Zeugnisse handelt offensichtlich von der Besiedlung der Insel Lemnos durch die Tyrrhener oder Pelasger und stellt die Sintier als ein thrakisch246 247 248 249
250 251
252 253
Übersicht über die Zeugnisse bei Detschew, Sprachreste, 445f s.v. Σίντιες. Hom. Il. 1.594, vgl. He1. Hom. Od. 8.294. Die Erwähnung der Sintier bei Hekat. FGrHist 1 F 138a (= Steph. Byz. s.v. Λῆµνος) stammt nicht aus Hekat., sondern aus dem von Steph. Byz. gleich im Anschluss an diesen zitierten Strab. 12.3.20. Hellanik. FGrHist 4 F 71 a = Schol. Hom. Od. 8.294. Einfach als Lemnier bezeichnet werden die Leute, die Hephaistos aufnehmen, auch bei Lukian. Sacr. 6, wahrscheinlich eine direkte Wirkung der Deutungstradition, die sich auch in Schol. Hom. Od. 8.294 spiegelt. Gemeint ist der Melas Kolpos an der Rückseite der thrakischen Chersones, vgl. Müller, Kleinasien, 880. Hellanik. FGrHist 4 F 71 b = Schol. Lyk. Alex. 227/462 und FGrHist 4 F 71 c = Schol. Apoll. Rhod. 1.608; Weiteres unten n. 273.
4.3. Die kleinen Leute
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griechisches Mischvolk dar, welches die Insel vor deren Ankunft besessen haben soll. Eine Besiedlung der Insel durch die Pelasger-Tyrrhener müsste, wie gezeigt254, irgendwann in den Dunklen Jahrhunderten stattgefunden haben. Somit ist es höchst zweifelhaft, ob Hellanikos am Ende des 5. Jh.s noch irgendwelche Zeugnisse für die Zeit vor ihrer Ankunft auftreiben konnte. Hingegen könnten ihm einzelne Überlieferungen über die Verhältnisse auf der Insel vor der athenischen Eroberung durchaus zugänglich gewesen sein. Als er schrieb, lag diese gerade ein knappes Jahrhundert zurück, und was er an dieser Stelle sagt, kann man nur so verstehen, dass damals die Sintier nicht von den Tyrrhenern getrennt siedelten. Man fragt sich sogar, ob sie vom Rest der Bevölkerung noch zu unterscheiden waren: Führt Hellanikos die Sintier am Ende nur ein, um seine Geschichte in Übereinstimmung mit den allgemein bekannten Stellen in Ilias und Odyssee zu bringen? Tatsächlich scheint sich fast alles, was er über sie weiss, aus den beiden Homerstellen ableiten zu lassen: die Schmiedetätigkeit aus ihrer besonderen Nähe zu Hephaistos, die Herstellung von Kriegswaffen auf das etymologische Spiel, welches den Namen Sinties von dem Verbum sinomai ableitet, welches schädigen oder berauben bedeutet; und wenn die Sintier als bloss halbe Griechen bezeichnet werden, könnte die gleich ausführlicher zu behandelnde Tatsache mitspielen, dass es in Thrakien einen Stamm gab, der Sintoi hiess255. So erhält man fürs erste den Eindruck, dass schon Hellanikos über das Urvolk der Sintier etwa gleichviel wusste, wie wir heute, nämlich nichts. Doch vielleicht muss man nicht ganz so misstrauisch sein. Wenn eine bei älteren Autoren erwähnte Volksgruppe später nicht mehr auffindbar war, so redeten die antiken Geschichtsschreiber ja meist von Namenswechseln – Beispiele werden gleich folgen – oder sie erzählten eine Geschichte, die mit Vertreibung und Ausrottung endet – gerade das Studium der lemnischen Überlieferungen hat uns dafür eindrückliche Beispiele geliefert256. Da Hellanikos die Sache bei den Sintiern anders darstellt, liegt also der Gedanke nahe, dass er es tat, weil sich auf der Insel zur Zeit der athenischen Eroberung – und vielleicht auch noch später – durchaus Sintier identifizieren liessen. Sie bildeten offenbar keine geschlossene Gruppe, sondern siedelten unter den andern Bewohnern, und man schrieb ihnen eine besondere Beziehung zum Schmiedehandwerk zu. Damit scheint aus der Volksgruppe zugleich ein Berufsstand zu werden: Tatsächlich hätte es ja einiges für sich, wenn der vom Himmel stürzende göttliche Schmied nicht in die Hände einer halbwilden Barbarenhorde fiele, sondern zu Leuten käme, die sein Handwerk pflegen und ihn in Ehren halten. Schwierig wird damit allerdings der Hinweis auf die wilden Laute, welche die Sintier von sich geben sollen, und so müssen wir diese Frage gründlicher untersuchen.
254 Vgl. 3.1.4. 255 Übersicht über die Belege bei Detschew, Sprachreste, 446f s.v. Σιντοί; auch RE 3A (1927) 258f s.v. Sintoi [E. Oberhummer], NP 11 (2001) 588 s.v. Sintoi [I. v. Bredow]. 256 Vgl. 3.4.4; ein ähnliches Problem zeigte sich bei den Berichten über versunkene Städte und Inseln, vgl. 3.1.2.c.
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4. Der hinkenden Gott
Aufschlussreich für die Bewertung des Zeugnisses des Hellanikos ist der Vergleich mit der nächsten nachweisbaren Erwähnung der Sintier. Wir finden sie bei Philochoros, einem Historiker des beginnenden 3. Jh.s, der vor allem für seine Beiträge zur athenischen Lokalgeschichte berühmt war. In einem nicht mehr genau zu bestimmenden Werk hatte er offensichtlich einen längeren Abschnitt der pelasgischen Vesper auf Lemnos gewidmet; wobei es heisst257: Männer der Sintier: Philochoros sagt, dass sie Pelasger gewesen seien und so genannt wurden, weil sie nach Brauron fuhren und die Mädchen raubten, die kanephoroi258 waren; Rauben (sinesthai) nennt man nämlich das Schädigen.
Die beiden Hauptfragen, die auch bei Hellanikos gestellt werden, nach der Herkunft des Namens und dem Verhältnis zu den Pelasgern oder Tyrrhenern, werden hier also anders beantwortet: Für den Namen wird eine allen bekannte Geschichte aus dem Werk des Herodot beigezogen und die bei diesem genannte vorathenische Bevölkerung mit jener aus den homerischen Gedichten gleichgesetzt – wir sind also ganz nahe an der sonst üblichen Lösung aller Rätsel durch den Ansatz von Namenswechseln. Offenkundig schneidet hier jemand Klassikerlektüren zusammen, der von den wirklichen Verhältnissen in der archaischen Zeit keine Vorstellung mehr hat. Gerade dass Hellanikos einen weniger einfachen Weg geht, dass er die Sintier von den Pelasgern getrennt hält und für die Erklärung des Namens auf das vielleicht nicht ganz so nahe liegende Schmiedehandwerk ausweicht, stärkt den Verdacht, dass er doch noch mehr wusste als Philochoros hundert Jahre nach ihm259. Unter solchen Voraussetzungen mag es nicht besonders verheissungsvoll scheinen, den Rest der Zeugnisse zu mustern, die durchweg aus noch späteren Autoren stammen. Aber wenn wir aus ihnen über das was die Sintier vor dem 6. Jh. einmal gewesen sein mögen, kaum mehr etwas erfahren können, so sind sie doch aufschlussreich für den Platz, den die Griechen der mit diesem Namen bezeichneten Gruppe in ihrer Vorstellungswelt später zuwiesen. Da erscheinen die Sintier nämlich als die frühesten Bewohner der Insel, sei es dass sie als eigentlich autochthon gedacht wurden, sei es dass sie als erste Siedler hingekommen sein sollen, allenfalls vom gegenüberliegenden Festland aus260. Daraus ergibt sich die Frage nach ihrem Verhältnis zu anderen Völkern, für das vor allem zwei Lösungen vorgeschlagen werden. Die eine ist jene Gleichsetzung mit den Pelasgern, die Philochoros vorgeschlagen hat, die aber offenbar kaum über den Homerkommentar hinausgedrungen ist, der uns das betreffende Zeugnis
257 Philochor. FGrHist 328 F 101 = Schol. Hom. Il. 1.594, vgl. F 99 – F 101, ausserdem Hdt. 6.137–139; vgl. den Kommentar von Jacoby, Historians of Athens I,405–419. 258 Trägerinnen des heiligen Korbes in der Prozession, vgl. 3.4.4. 259 Kinzl, Miltiades-Forschungen, 121f geht also vielleicht zu weit, wenn er alle nachhomerischen Nachrichten über die Sintier für rein fiktiv hält; zum Wert des Zeugnisses des Hellanik. auch Heurgon 1988, 27–30. 260 Autochthonie: Eusth. Hom. Od. 8.294 [300.22f]; erste Siedler: Steph. Byz. s.v. Λῆµνος, Schol. Apoll. Rhod. 1.608; Herkunft vom Festland: Eusth. loc. cit.
4.3. Die kleinen Leute
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überliefert261. Immerhin verweist auch Eustathios zur Erklärung des Charakters der Sintier auf Herodot, also auf die Pelasgersage, und nennt ein weiterer antiker Kommentar sie auch Tyrrhener, d.h. mit dem anderen Namen der Pelasger262. Hier mag freilich schon die Verbindung der Sintier mit dem Motiv der Seeräuberei die Oberhand haben. Die Auffassung des Hellanikos hingegen, die Sintier seien eigentlich Thraker gewesen, hat man später durch eine ganze Reihe von Gleichsetzungen genau zu fassen versucht: Die Sintier seien dieselben, wie der auf dem Festland ansässige Stamm der Sintoi, die später Saoi und schliesslich Sapaioi geheissen hätten. Diese Reihe scheint sich mindestens bis zu Poseidonios in der ersten Hälfte des 1. Jh.s zurückverfolgen zu lassen und begegnet von da an gelegentlich in geographischen Texten263. Daneben steht der Verweis auf die thrakischen Sintoi allein oder allgemein auf die Zugehörigkeit der Sintier zu den Thrakern264. Wenn man diese Nachrichten zu bewerten versucht, sollte man sich als erstes klar machen, dass keiner dieser Autoren je einen lemnischen Sintier lebend gesehen haben dürfte. Besonders verdächtig ist dafür jene Stelle, die ausdrücklich sagt, dass die Sintier bei der Übersiedlung aufs thrakische Festland den Namen zu Sintoi geändert hätten265: Hier wird also vorausgesetzt, dass es auf Lemnos keine mehr gab, und zugleich drängt sich der Verdacht auf, dass letztlich eine Gleichsetzung mit jenen Pelasgern mitgedacht wird, die von den Athenern vertrieben, auf dem gegenüberliegenden Festland neue Siedlungen gründeten266. Fasst man diese Überlieferungen zusammen, ohne die Frage nach ihrem Wahrheitsgehalt zu stellen, so haben die späteren Autoren sich die Sintier, welche den stürzenden Hephaistos aufnehmen, als Gestalten am Rand der hellenischen Welt gedacht, als Angehörige jener grossen Gruppe von Stämmen, die sie unter dem Namen der Thraker zusammenfassten und welche die schlecht bekannte, bedrohliche Welt hinter dem nördlichen Rand des befahrbaren Meeres bewohnten, oder sie haben sie mit jenen Pelasgern oder Tyrrhenern verbunden, deren wichtigster Charakterzug ihr Hang zur Seeräuberei war267. 261 Philochor. FGrHist 328 F 101 = Schol. Hom. Il. 1.594. 262 Vgl. Eusth. Hom. Il. 1.594 [158.11f] mit Schol. Apoll. Rhod. 1.608. 263 Vgl. Poseid. Frg. 51 = Strab. 12.3.20 mit Strab. 10.2.17; nicht ganz vollständig bei Steph. Byz. s.v. Λῆµνος, und mit Sapai statt Sapaioi bei Eusth. Dion. Periheg. 767. 264 Sintoi: Strab. 7 Frg. 46, Schol. Thuk. 2.98.1, Eusth. Hom. Il. 1.594 [158.20f]); Thraker: Hesych. s.v. Σίντιες. 265 Schol. Thuk. 2.98.1. 266 Hdt. 1.57.1f, Thuk. 4.109.4, vgl. oben 3.1.4. 267 Ein weiteres sehr altes Zeugnis zu den Sintiern ist leider nur durch Konjektur wiederhergestellt: jenes des Dichters Anakreon aus dem 6. Jh., also der Zeit vor der athenischen Eroberung von Lemnos. In Frg. 159 PMG (126 Gentili) = Schol. Hom. Od. 8.294 steht in den Handschriften τί µοι τῶν ἀγκύλων τόξων φιλοκιµέρων καὶ Σκυѳῶν µέλει; Das heisst so viel wie gar nichts, und man verbessert deshalb zu τί µοι τῶν ἀγκυλοτόξων, ὦ φίλε, Κιµµερίων Σιντιέων τε µέλει; (so Schneidewin, also: „Was kümmern mich, mein Freund, die Kimmerier, die krumme Bogen haben, und die Sintier?“). Man sollte nicht übersehen, dass die Eingriffe in den überlieferten Text dabei stark und willkürlich sind. Doch selbst wenn die Verbesserung stimmen sollte, bliebe immer noch vom griechischen Wortlaut her of-
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Nicht viel genauer ist leider das Wenige was sich den Nachrichten über die Sprache der Sintier entnehmen lässt. Auszugehen ist dabei von dem Vers in der Odyssee über die Sintier, die wilde Laute von sich geben268. Der antike Kommentar zu der Stelle deutet dieses Wort agriophonos einfach als barbarisch und die Bezeichnung der Sintier als Barbaren ist von daher ganz allgemein geworden269. Nun gibt es in den homerischen Epen nur wenige Verweise auf fremde Sprachen sprechende Stämme, aber einmal begegnet dabei zur Bezeichnung der im südlichen Kleinasien beheimateten Karer das Wort barbarophonos, das genau gleich gebildet ist wie das agriophonos der Sintier270. Wieder ist es auffallend, dass Hellanikos nicht den einfachsten Weg geht und seine Sintier ebenfalls als Barbaren vorstellt, sondern sie als mixellenes, wörtlich als Mischgriechen einführt. Dieses Wort begegnet auch später gelegentlich zur Bezeichnung von Barbaren, die mit Griechen zusammengelebt und Teile ihrer Kultur übernommen haben, und das heisst wohl auch: Griechisch sprechen271. Wieder entsteht der Eindruck, dass Hellanikos als einziger nicht einfach Homer deutet, sondern noch etwas weiss, und zwar dass es zu der Zeit, von der er noch Erinnerung hat, auf der Insel eine Bevölkerung gab, in der Griechen und Sintier, so sehr sie einander schon angeglichen sein mochten, gerade noch zu unterscheiden waren. Der dritte Strang der Überlieferung verknüpft den Namen der Sintier über das schon genannte Verb sinesthai mit einer Beschäftigung, welche dieses Volk besonders kennzeichnet272. Die meisten Stellen nennen zwei schädliche Tätigkeiten und stellen sie als mögliche Erklärungen gleichberechtigt nebeneinander: Waffenschmieden und Räuberei. Das erste setzt offensichtlich die Linie des Hellanikos fort, nach dessen Wort unter den Sintiern „Handwerker waren, welche Waffen für
268 269 270 271 272
fen, ob neben den Kimmeriern auch die Sintier krumme Bogen haben (d.h. man kann sicher nicht aus der Stelle ableiten, die Sintier seien eigentlich v.a. als Bogenschützen berühmt gewesen, wie Delcourt, Héphaistos, 175 behauptet). Wichtig wäre aber, dass sie mit einem anderen barbarischen Volk aus dem Norden zusammengestellt würden, den Kimmeriern, die in den homerischen Epen nur einmal genannt sind (Hom. Od. 11.14), aber noch eine oder zwei Generationen vor dem Dichter mit ihren Überfällen und Plünderungszügen eine Bedrohung für die Griechenstädte Kleinasiens waren. Eine Übersicht über die Rolle der Thraker in der griechischen Frühgeschichte in CAH 3.1, 836–839 [R. A. Crossland], auch Oppermann, Thraker, bes. 46–48, 71f; die neueren historischen Beiträge bei Frings, Thraker, sind leider hinsichtlich der Frühzeit mit grosser Vorsicht zu geniessen: Sie alle behandeln beispielsweise die angebliche Teilnahme der Thraker am „Troianischen Krieg“ im 13. Jh. v. Chr. als historische Tatsache! Σίντιας ἀγριοφώνους: Hom. Od. 8.294. Zu βάρβαρος in Schol. Hom. Od. 8.294 vgl. Apion Gloss. Hom. Frg. 120 Neitzel = Apollon. Lex. s.v. Σίντιες [141.32f], Schol. Apoll. Rhod. 1.608. Fremdsprachige Stämme: Hom. Od. 1.183; βαρβαρόφωνος (über die Karer: Hom. Il. 2.867) ist in dem Vers über die Sintier aus metrischen Gründen unbrauchbar. Zu µιξέλληνες vgl. Polyb. 1.67.7, Hld. 9.24.2; besonders für sprachliche Mischbildungen bei Eus. Praep. Ev. 3.11.43. Vgl. allgemein Apion Gloss. Hom. Frg. 120 Neitzel = Apollon. Lex. s.v. Σίντιες [141.28ff], Schol. Apoll. Rhod. 1.608. Merkwürdig ist Et. Gud. s.v. Σίντιες, wo dieses Wort, ebenfalls von σίνεσѳαι ausgehend, als Ausdruck für eine Art offenbar schädlicher Würmer in den Seen (λίµνιοι σκώληκες) erklärt wird.
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den Krieg herstellten“. Die spätere Überlieferung erhebt sie dann einstimmig zu den Erfindern dieses verderblichen Gewerbes273. Für die zweite Erklärung, ist zunächst daran zu erinnern, dass ein Name Sintis für ein griechisches Ohr ganz einfach Räuber hiess274. Am vollständigsten und kürzesten steht diese zweite Erklärung in den Wörterbüchern der byzantinischen Zeit: „Man konnte sich der Insel nicht nähern, weil darauf die Sintier wohnten, die Piraten waren“275. In den Kommentaren zu Homer, aus denen dies stammt, sind die Sintier nicht namentlich genannt, sondern es heisst ganz allgemein, die Insel sei „unbetretbar ... wegen ihrer Bewohner, die wild sind und tierhaft und ein räuberisches Leben führen“276. Das Wort wild ist dabei aber dasselbe, das auch in der Bezeichnung der wilde Laute von sich gebenden Sintier steckt, agrios. Tyrannisch heissen die Sintier deshalb auch einmal, und immer wieder wird ihr schlechter Ruf auf ihre Piraterie zurückgeführt, denn – so heisst es – „sie nahmen Schiffe und raubten die Vorbeifahrenden aus“, und einmal wird auch dieser üble Beruf als ihre eigentliche Erfindung bezeichnet277. Von einem solchen Bild aus mag die Gleichsetzung mit den Pelasgern oder Tyrrhenern leicht gewesen sein278. Merkwürdig werden diese Berichte aber nicht zuletzt durch einen Seitenblick auf das Feuerfest von Lemnos, 273 Porph. bei Schol. Hom. Il. 1.594, Eusth. Hom. Il. 1.594 [185.2f], Schol. Hom. Od. 8.294, Eusth. Hom. Od. 8.294 [300.21f], Et.M. s.v. Σιντηίδα Λῆµνον ἵκοντο, Tzetz. Lyk. Alex. 227/462; auffallend ist ausserdem Schol. Apoll. Rhod. 1.608, das als einziges Räuberei und Waffenherstellung nicht als zwei verschiedene Erklärungen nebeneinander stellt, sondern miteinander verbindet. Diese Stelle sowie Tzetz. loc. cit. sind damit wahrscheinlich als Zeugnisse für Hellanik. (vgl. FGrHist 4 F 71 b/c) mit Vorsicht zu verwenden. 274 So zu Σίντις schon Fick, Ortsnamen, 66. In der Regel erscheint dafür σίντης (zuerst Hom. Il. 11.481 u.ö.) oder seltener σίνις (Epig. Frg. 8 [Fragmentum falsum] = Soph. Frg. 242). 275 Et. Gud. s.v. ἀµιχѳαλόεσσα, vgl. Et.M. s.v. ἀµιχѳαλόεσσα. Et. Gen. s.v. ἀµιχѳαλόεσσαν erwähnt hingegen nur, dass die Insel wegen der Sintier, die sie bewohnten, unbetretbar war, und begründet mit dem Zitat von Hom. Od. 8.294. 276 Schol. Hom. Il. 24.753. 277 Tyrannis und Piraterie: Et.M. s.v. Σιντηίδα Λῆµνον ἵκοντο, vgl. Schol. Hom. Od. 8.294, Eusth. Hom. Il. 1.594 [158.11f], Schol. Apoll. Rhod. 1.608; Erfindung der Piraterie: Schol. Hom. Il. 1.594. 278 Die Deutung der Sintier nicht als Thraker, sondern als Räuber und damit ihre Gleichsetzung mit den Tyrrhenern hielt etwa noch Kretschmer 1943, 117 für die wahrscheinlichste; so noch Chantraine 1005 s.v. σίνοµαι, Burkert 1970, 14f und 15 n.1; ähnlich schon Choiseul-Gouffier, Voyage II, 133 und noch Brommer, Hephaistos, 162; auch von Bredow 1984, 150 neigt zu einer solchen Lösung, rechnet aber mit einer Überlagerung des redenden Namens mit dem eines thrakischen Stammes. Hingegen wendet sich schon Welcker, Trilogie, 207f gegen diese Etymologie, identifiziert die Sintier als Thraker und trennt sie klar von den Tyrsenern, heute ebenso Gras, Trafics, 623, Heurgon 1988, 25, De Simone, Tirreni, 43f u.a.. In der weniger sprachwissenschaftlich als historisch orientierten Literatur ist die Auffassung der Sintier als Thraker aber fast das übliche, vgl. Wilamowitz 1895, 230f, Fredrich IG XII.8, 2, RE 3A (1927) s.v. Sintoi 258 [E. Oberhummer], CAH 3.1, 837 [R. A. Crossland]. Beschi 1994, 48f, 1996–97, 26 und 1998, 50f hält die Sintier zwar ebenfalls für Thraker, verlegt aber ihre Ankunft auf Lemnos, unter fragwürdiger historisierender Ausdeutung der Mythologie, in den Beginn der Bronzezeit, sicher zu Unrecht, denn das Eindringen von Thrakern in Nordgriechenland gehört wahrscheinlich erst dem Ende des 2. Jts. an, vgl. CAH 3.1, 837f [R. A. Crossland].
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während dessen die Bewohner von Lemnos ein Leben ohne Feuer, also ein gewissermassen wildes, geführt haben, wobei die Insel in jener Zeit unnahbar war279. Nur eine der Stellen über die Sintier weicht von diesen Hauptlinien ab und bereichert das Bild um einen zusätzlichen Aspekt: Eratosthenes, der hellenistische Universalgelehrte, soll behauptet haben, dass die Sintier „Zauberer waren und schädliche Gifte erfunden hatten“280. Man hat anhand dieser Quellen immer wieder versucht zu erschliessen, wer die bei Homer genannten Sintier in Wirklichkeit gewesen seien. Je nach Neigung folgte man dabei einer der Hauptlinien, welche die antiken Berichte vorgeben: die Sintier waren demnach die Pelasger-Tyrrhener, oder Thraker, oder dann eine Art kultisches Schmiedesyndikat. Es ist die unausweichliche Tücke solcher Erklärungen, dass man die Eindeutigkeit, die man mit der jeweiligen Gleichsetzung gewinnt, mit der Vernachlässigung aller anderen in der Überlieferung angedeuteten Pisten bezahlt. Freilich sollte man deswegen nicht in den gegenteiligen Fehler verfallen und alle Nachrichten in einem verschwommenen Imaginären harmonisieren, ohne zu überprüfen, ob nicht hier und da ein Brocken historischer Tatsachen in unsere Geschichten mit eingewickelt ist. Betrachten wir zunächst die Form des Namens: Diesbezüglich werden die thrakischen Sintoi eigentlich immer von den lemnischen Sintiern klar geschieden. Diese heissen Sinties in der Mehrzahl und in der Einzahl Sintis281, wovon sich zwei Adjektive der Bedeutung zu den Sintiern gehörend ableiten lassen, zum einen sintios, was auch als Beiname des Hephaistos bezeugt ist282, während für die Insel poetischer sinteis erscheint283. Sintios kann dann aber auch einfach den Bewohner von Lemnos bezeichnen und wird damit zu einem Wechselwort für Sintis284. Die Thraker hingegen heissen Sintoi, lateinisch Sinti285. Die Ableitungen davon überschneiden sich nur teilweise mit jenen von Sintis: Sintike heisst eine Gegend in der Nähe der Sintoi, und nur der Name der Gemeinde Sintia könnte grundsätzlich auch von einem lemnischen Sintis/Sintios abgeleitet sein286. Wo die thrakischen Sintoi zu Hause sind, wird schon durch ihre erste Erwähnung im 5. Jh. einigermassen klar festgelegt und durch die gesamte Antike hindurch erhalten wir keinen Hinweis auf eine Veränderung: Es ist der mittlere Lauf 279 Vgl. oben 3.5.1. 280 Eratosth. FGrHist 241 F 41 = Schol. Hom. Il. 1.594; zu der Stelle vgl. auch Delcourt, Héphaistos, 46. 281 Σίντιες: Hom. Il. 1.594 usw.; zum Akzent auf der ersten Silbe Hdn. Prosod. 3,1.104.20. Σίντις: Epim. Hom. 594a1. 282 Σίντιος: Anecd. Stud. 1.268 (Anon. Laur. XII deorum epitheta 6.7), 1.275 (Nicetae Rhythmi de XII deorum epithetis 3), 1.283 (Nicetae XII deorum epitheta 12). 283 Σιντηίδα Λῆµνον: Apoll. Rhod. 4.1759 usw. 284 Schol. Thuk. 2.98.1, Epim. Hom. 594a1, Et.M. s.v. Σιντηίδα Λῆµνον ἵκοντο, vgl. Hdn. Prosod. 3,1.216.21. 285 Σίντοι: Thuk. 2.98.1f, Strab. 7a 1.46 usw.; hingegen mit Akzent auf der letzten Silbe bei Steph. Byz. s.v. Σιντία. Sinti: Liv. 42.51.7, Ov. Trist. 4.1.21 usw.; zu Bildeweise und sprachlicher Vorgeschichte des thrakischen Namens Van Soesbergen 1979, 33–37. 286 Sintoi: Diod. 31.8.8, Liv. 44.46.1f, Ptol. Geogr. 13.12.27 usw.; Sintia: Eud. Frg. 308 = Steph. Byz. s.v. Σιντία, Liv. 26.25.3 usw.
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des Strymon, etwas oberhalb des Prasiassees287. Ihre Nachbarstämme sind die Maidoi weiter oben und die Bisaltes weiter unten am Fluss, der Schwerpunkt ihres Siedlungsgebietes liegt also rund 60 bis 80 km landeinwärts288. Durch die Entfernung vom Meer sind die Sintoi von den lemnischen Sintiern ebenso deutlich getrennt wie durch die Unterscheidung ihrer Namen. Dabei bleibt letztlich unklar, ob die Gleichsetzungen mit Saoi und Sapaioi auch dazu beitragen sollten, diese Lücke zu überbrücken. Sehr geglückt wäre der Versuch jedenfalls nicht: Die Saoi kamen in den Gedichten des Archilochos um die Mitte des 7. Jh.s vor; kein späterer Autor scheint von ihnen anders Kenntnis zu haben als aus dieser einen Stelle289. Manche setzen sie sogar mit den ebenfalls bei Homer erwähnten Kikonen gleich290. Ganz offensichtlich sind wir hier in einem Bereich, wo die antiken Texterklärer sich in freier Spekulation üben, ohne über wirkliche Nachrichten zu verfügen291. Man kann also nicht, wie es die ältere Thrakerforschung getan hat, die Autoren, welche die Reihe Sinties – Sintoi – Saoi – Sapaioi aufstellen, als Zeugen dafür nehmen, dass die thrakischen Sintoi vom Strymongebiet über jenes der Saoi und Sapaioi nach Lemnos gewandert sind292; ganz abgesehen davon, dass man, wenn man schon die Zeugnisse ernst nehmen will, nicht das Umgekehrte von dem daraus ableiten sollte, was eigentlich drinsteht. Die Sapaioi übrigens sind zwar ein in geschichtlicher Zeit gut bezeugter Thrakerstamm, aber sie wohnen im Hinterland von Abdera, wiederum rund 130 km östlich von den Sintoi, und von den Inseln liegen ihnen Thasos und Samothrake wesentlich näher als Lemnos293. Nach all dem wird man den antiken Quellen, welche die Gleichsetzung von Sintiern und Sintoi lehren, nicht mehr allzuviel Gewicht beimessen dürfen: Alles was die beiden Stämme geteilt haben, ist wohl der Name gewesen. Man muss sich darüber im klaren sein, dass damit noch nicht bewiesen ist, dass es unter den Bewohnern von Lemnos keine Thraker gab. Erstens lässt sich so etwas natürlich gar nicht beweisen, und zweitens gerieten wir so auch in Widerspruch zum Zeugnis des Hellanikos, der die Sintier ebenfalls zu Thrakern gemacht hat. Wenn die Sinties und die Sintoi vielleicht auch nicht die gleichen Leute sind, 287 Zu Thuk. 2.98.1; vgl. auch Hammond, History, 196–201 mit map 17, Papazoglou, Villes, 366–376 und allgemeiner Müller, Griechenland, 89f, 104–107, 163f. 288 Strab. 7 Frg. 36, vgl. App. Mithr. 224f, Eud. Frg. 308 = Steph. Byz. s.v. Σιντία. 289 Archil. Frg. 5.1f West, vgl. Strab. 10.2.17, 12.3.20, Plut. Mor. 239B, Vita Arati 7, Schol. Aristoph. Pax 1298, Eusth. Dion. Periheg. 533. 290 Hesych. s.v. Σάϊοι, vgl. Hom. Il. 2.846 u.ö. 291 Vgl. RE 1A (1914) 1757 s.v. Saii 1) [E. Oberhummer]. Völlig offen muss auch bleiben, ob der Name des Stammes mit dem nur lateinisch belegten Titel Sai für die Priester auf dem benachbarten Samothrake zusammenhängt, vgl. Serv. Verg. Aen. 2.325 [SD]. Angesichts der Häufigkeit von mythologischen Namen, die von σάος/σῶς (gesund, heil) abgeleitet sind (vgl. RML 4 (1909–15) s.vv. Sao, Saon, Saos, Sosis, Soso, Soson u.a.), ist eine Zufallsähnlichkeit am wahrscheinlichsten; vgl. Hemberg, Kabiren, 119f, Burkert, GR 285. 292 So etwa ausführlich Danov, Altthrakien, 97f, 132, 134, nach dem (257) auch die lemnischen Pelasger eigentlich Thraker sein sollen; vgl. schon Danov 1971, 276. 293 Vgl. Hdt. 7.110, Strab. 7 Frgg. 43 und 47, Ov. Fast. 1.389f, Plin. Nat. 4.(18).40, App. Civ. 4.11.87 und 4.13.102–104, Ptol. Geogr. 3.11.6; vgl. auch RE Suppl. 6 (1935) 647f s.v. Sapaioi [G. Kazarow], Müller, Griechenland, 96f.
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so bezeichnen sie sich doch mit fast demselben Namen, und betrachtet man dies unter dem Blickwinkel der Sprachwissenschaft, so liegt es nahe, von einer Art lemnisch-thrakischen Isoglosse zu sprechen294. Nun verfügen wir gewiss nicht über sehr viel Sprachmaterial, das sich mit unserer Insel zuverlässig verbinden lässt, ein halbes Dutzend Namen vielleicht, und die meisten sind leicht durchsichtige griechische Bildungen. Sieht man aber das wenige an, was übrig bleibt, so ist es doch auffällig, dass sich neben den (1) Sinties//Sintoi noch zwei andere ernsthafte Anwärter auf den Titel einer lemnisch-thrakischen Isoglosse finden: (2) Erginos//Erginos/Agrianes und (3) Mosychlos//Mossyn. Zu diesen beiden sind noch ein paar Ergänzungen nötig: (2) Der Argonaut Erginos tritt in der Geschichte vom Aufenthalt der Argonauten auf Lemnos zum ersten Mal hervor: An den Wettkämpfen, die Hypsipyle als Leichenspiele für Thoas veranstaltet, nimmt er am Waffenlauf teil. Dabei hat Erginos, obwohl noch ein junger Mann, schon graue Haare, wird deshalb von den zusehenden Lemnierinnen ausgelacht und verspottet; allein er siegt über alle, sogar über Kalais und Zetes295. Später gehört er zu denen, die sich um die Nachfolge des verunglückten Steuermannes der Argo, Tiphys, bewerben, ja nach einzelnen soll wirklich er das Schiff gelenkt haben296. Zu den Schwierigkeiten mit dieser Gestalt gehört es, dass ihre Umrisse mit denen von anderen verschwimmen: Schon unser ältestes Zeugnis setzt ihn mit Erginos, dem Sohn des Klymenos, König von Orchomenos gleich, der später von Herakles getötet wird297. Eine andere Linie der Überlieferung lässt ihn als Sohn des Poseidon aus Milet kommen, und man wird so den Eindruck nicht los, dass jener Erginos, der zu den Leichenspielen für Thoas gehört, eigentlich eine lemnische Gestalt ist, die durch diese Gleichsetzungen von zweiter Hand mit anderen Geschichten verflochten wird298. Merkwürdig ist allerdings die Nebengeschichte, nach welcher jener andere Erginos von Orchomenos nicht getötet wurde, sondern spät, als sehr alter Mann mit einer jungen Frau nochmals Kinder gezeugt haben
294 Übersichten zur Sprache der Thraker und weiterführende Literatur bei CAH 3.1,876–885 [E. C. Polomé] und Brixhe/Panayotou 1997. Heurgon 1988, 16 hat auch bei dem Namen Tavarsio auf der Stele von Kaminia thrakische Herkunft vermutet; vgl. dagegen auch De Simone, Tirreni, 24f. 295 Vgl. Pind. Ol. 4.19–27, Schol. Pind. Ol. 4.29d/e, 31c, 32c, 34c, Kallim. Frg. 668, Apostol. 7.95, auch Eusth. Hom. Il. 16.572 [1076.25f]; vgl. oben 3.3.2.a. 296 Bewerbung: Apoll. Rhod. 2.898f, Schol. Pind. Pyth. 4.61; Übernahme des Amtes: Herodor. FGrHist 31 F 55 = Schol. Apoll. Rhod. 2.895. 297 Pind. Ol. 4.19. 298 Als König von Orchomenos erscheint Erginos ferner Schol. Pind. Ol. 4.29d, Apostol. 7.95, Eusth. 16.572 [1076.25f]; zur Tötung durch Herakles: Apollod. 2.4.11, Diod. 4.10.3–5, Paus. 9.37.2f; Erginos als Poseidonsohn aus Milet bei Apoll. Rhod. 1.187–189, Apollod. 1.9.16, Orph. Arg. 152f; Schol. Apoll. Rhod. 1.185–88a, wo er vom Sohn zum bloss indirekten Nachkommen des Poseidon gemacht wird, ist wohl ein Versuch, die beiden Traditionen zu harmonisieren; vgl. zum Ganzen RML 1 (1884–1890) 1301–1303 s.v. Erginos 1) und 2) [R. Engelmann], RE 6 (1909) 433f s.v. Erginos 2) [E. Bethe] sowie LIMC 3.1 (1986) 818f s.v. Erginos [R. Vollkommer].
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soll299 – wie bei dem lemnischen Läufer überlagern sich bei ihm also der äussere Anschein des Alters und die der Jugend zugeschriebene Kraft. Ich erinnere daran, dass auch die Geschichte von der lemnischen Hypsipyle im griechischen Mutterland in der Hypsipyle von Nemea eine Spiegelung hat, in der sich ihr Name mit einzelnen, stark transformierten Motiven ihrer Geschichte verbindet und die schon von den alten Erzählern zur selben Gestalt verschmolzen wurde300. Solche Fernbeziehungen gibt es gelegentlich, doch sollte man sich hüten, sie historisch auszudeuten, solange nicht einmal über das Verhältnis von Geschichten, die auf weit unmittelbarere Weise zueinander gehören, grössere Klarheit gewonnen ist. Man hat aber auch versucht, den lemnischen Erginos mit dem Gott der Insel in Bezug zu setzen: Die alt und lächerlich scheinende Gestalt, die doch gewitzter ist als alle anderen, ist tatsächlich merkwürdig ähnlich mit dem Hephaistos, den wir aus der Geschichte von der Fesselung der Hera kennen, nur dass die grosse Behendigkeit der Füsse des Erginos als direkte Umkehr der Lähmung des Gottes erscheint301. Ausserdem hat hier der verführerische Klang des Namens gewirkt: Erginos scheint sich für ein griechisches Ohr von ergon herzuleiten, dem Wort für das Werk, die Arbeit, was so sehr an das Handwerkertum des Hephaistos anklingt, dass man versucht ist, seinen Namen als Handwerker oder etwas Ähnliches zu übersetzen – auch wenn dabei Fragen bezüglich der Wortbildung offen bleiben302. Wie im Falle der Sintier steht auch hier neben der innergriechischen Ableitung eine Entsprechung im Thrakischen: Ein Nebenfluss des Hebros in Thrakien trug offenbar genau denselben Namen, Erginos303. Weisse Haare304 und schneller 299 Paus. 9.37.3–5. 300 Vgl. 3.3.2.c. 301 Eine nicht unähnliche Umkehr war schon zwischen Hephaistos und Ate zu beobachten, vgl. 4.1.2. 302 Der erste Beleg von Erginos als Personenname ist laut LGPN attisch (um 410) und bezeichnet einen Töpfer, was den Anklang zu stützen scheint. Ab dem 4./3. Jh. begegnet der Name, ausser in Athen (2x), in Amorgos, Nisyros, Samos, in Thessalien (Larisa u.a.), später auch in Messenien (Abia) usw. Eine -no-Ableitung von einem Substantiv ist jedenfalls kein Nomen Agentis. Die Denominativa auf -îno- (mit langem -î-) bilden im Griechischen unter anderem zwei grössere Gruppen von Bezeichnungen, die beide dem umgangssprachlichen Bereich zuzuordnen sind: Tiernamen (vor allem Fische: γυρῖνος, κορακῖνος u.a.) und Spottnamen (γελασῖνος, ἐλεγξῖνος u.a.), von wo die nicht seltene Verwendung zur Bildung familiärer Kurznamen auszugehen scheint (Καλλῖνος, Κρατῖνος u.a.). Gerade zu diesem letzteren Aspekt scheint die komische Gestalt des weisshaarigen Läufers Erginos nicht schlecht zu passen. Inhaltlich nahe steht in unserem Fall ausserdem der Beiname der Athene Ergane, der Arbeiterin; vgl. zur Bildeweise des Wortes Chantraine, Formation, 203–206 (§158f), auch Risch, WBhom, 100f (§35e). 303 Vgl. Apoll. Rhod. 1.217, Schol. ad loc., Plin. Nat. 4.(18).47, Mela 2.(2).24; die andere Form des Namens Ἀγριάνης (Agrianes: Hdt. 4.90.2) ist demgegenüber vielleicht eine griechische Umdeutung im Anklang an ἄγριος (wild); vgl. Strab. 7 Frg. 49 Theophyl. Simok. 1.7.3; ausserdem Detschew, Sprachreste, 5, s.v. Ἀγριάνης und Müller, Kleinasien, 770f. 304 Georgiev, Introduzione, 138 und 370 leitet allerdings den Flussnamen von der Wurzel *ereguab, die dunkel bedeutet (vgl. griech. ἔρεβος u.a.); vgl. Duridanov, Sprache, 29 s.v. Erginos und 77 s.v. erg-, ergin-. Meuli, Odyssee, 22 vermutete wegen der weissen Haare in Erginos einen ursprünglichen ‚Herrn des Frostes’.
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Lauf passen auch zu einem Flussgott, aber damit lässt sich natürlich im Grunde gar nichts anfangen. Gleichwohl sollte man nicht übersehen, dass sich hier eben doch eine zweite Parallele zwischen Thrakischem und Lemnischem findet. (3) Für den Namen des Berges Mosychlos wurden noch kaum brauchbare Erklärungen vorgeschlagen305. Seltsam genug hat auch hier die erste Hälfte des Wortes den einzigen näheren Anklang in einem Wort, das man auch schon dem Thrakischen zugeschlagen hat: mossyn/mosyn, das einen Turm, eine Hütte oder einen Wehrbau aus Holz zu bezeichnen scheint306. Am bekanntesten ist das Wort als Teil des Namens des Stammes der Mossynoikoi, der Bewohner von mossynes, der allerdings nicht in Thrakien, sondern im nördlichen Kleinasien seinen Sitz hat307. Seltsam ist dabei bloss, dass dieses barbarische Volk einen Namen hat, an welchem die Bildeweise und die zweite Worthälfte gut griechisch sind. Damit ist es möglich, dass hier ein ganz anderer Name aus der Sprache der Eingeborenen griechisch umgedeutet wird. So ist es auch nicht mehr zwingend, dass der erste Teil unbedingt aus der Sprache der Mossynoikoi selbst stammen muss308; es genügt völlig, dass es sich um ein Wort handelt, das für die griechischen Sprachforscher barbarisch konnotiert war. Nun gibt es gerade in Thrakien nebst ein paar anderen anklingenden Namen309 eine Stadt Mossynon, die an einem See liegt, der so fischreich ist, dass man dort sogar das Vieh mit Fischen füttert, was ganz ähnlich schon Herodot über den Prasiassee berichtet hat310. Genau dort liegt nach anderen eine Stadt Xylopolis, also Holzstadt, was ganz nach einer griechischen Übersetzung für Mossynon aussieht311. Dass mossyn ein gut thrakisches Wort war, ist unter diesen Bedingungen keine völlig abwegige Vermutung312. Freilich lässt sich die zweite Hälfte des Namens Mosychlos aus dem wenigen, was wir über das 305 Belegt bei Antim. Frg. 46, Nik. Ther. 472, Schol. ad loc., Eratosth. Frg. 17, Hesych. s.v. Μόσυχλον, Schol. Lyk. Alex. 78. Pape, Eigennamen s.v. Μόσυχλος, deutete den Namen als Metathese zu Μόσχυλος (von µόσχος: Schössling, Spross); dazu fehlt umso mehr jeder Grund, als Μόσχυλος/Μόσχιλος in unveränderter Form mehrfach als Personenname bezeugt ist (Athen: 2.Jh., Apollonia (Illyrien) und Epidamnos: 3. Jh.); dagegen war für Fick, Ortsnamen, 66 Μόσυχλος einfach „ganz fremdartig“. Zur Lokalisierung des Berges in der lemnischen Landschaft oben 3.1.3. 306 Zu µόσσυν/µόσυν Xen. Anab. 5.4.26 u.a., Ain. Takt. 33.3, Apoll. Rhod. 2.379–381b, Schol. Apoll. Rhod. 2.381, Dion. Hal. 1.26.2, Strab. 12.3.18, Dion. Periheg. 766f, Hesych. s.vv. µόσσυν, µόσσυνες, Phot. Lex. s.v. µόσσυνες, Et.M. s.v. µόσυν, Tzetz. Lyk. Alex. 433, 1432; vgl. auch Chantraine 714 s.v. µόσσυν, Detschew, Sprachreste, 311f, s.v. µόσσυν, Velkova, Glosses, 120. 307 Hekat. FGrHist 1 F 185, 204f, Hdt. 3.94.2, 7.78, Xen. Anab. 5.4.2 u.a.; vgl. RE 16 (1935) 377–379 s.v. Mossynoikoi [F. Schachermeyr]. 308 Trotz Schol. Xen. Anab. 5.4.2! 309 Μωσσης/Μοσσης als Personenname und Μωσυπηνοί als Name eines Stammes, vgl. Detschew, Sprachreste, 325, s.vv. Μωσσης, Μοσσης und Μωσυπηνοι, ferner Duridanov, Sprache, 35 s.v. Mósypa und 79 s.v. musas (allerdings mit einer anderen Herleitung). 310 Vgl. Athen. 8.35 [345e] mit Hdt. 5.16.4. 311 Ptol. Geogr. 3.12.33. 312 Die Annahme von Kretschmer 1934, 112, es handle sich um ein vorindoeuropäisches Wort, das auf dem Balkan wie in Kleinasien verbreitet war, ist also keineswegs zwingend.
4.3. Die kleinen Leute
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Thrakische wissen, nicht ebenso leicht erhellen, und so muss offen bleiben, was der Berg mit einem solchen hölzernen Wehrbau zu tun gehabt haben könnte313. Die hier ausgebreiteten Zeugnisse mögen zweifelhaft sein: Drei halbe Isoglossen ergeben bestimmt noch keine ganze. Aber nimmt man sie zusammen mit dem Bericht des Hellanikos und dem Hinweis des Homer auf die wilde Sprache der Sintier, und bedenkt man die Spärlichkeit und Dürre der Zeugnisse, auf die wir uns in diesen frühen Zeiten überhaupt stützen müssen, so halte ich die Vorstellung nicht für abwegig, dass irgendwann in den dunklen Jahrhunderten die Wanderungsbewegung der Thraker aus dem Innern des Balkans auch eine ihrer Gruppen auf die Insel Lemnos gespült hat314. Dass diese lemnischen Sintier ‚dieselben’ gewesen seien (was immer das heissen mag) wie ihre Namensvettern am mittleren Lauf des Strymon, braucht man deshalb nicht anzunehmen; zumal ja – sofern immer an unseren Zeugnissen etwas Wahres ist – diese thrakischen Ankömmlinge noch vor der Ankunft der Pelasger/Tyrrhener mit der griechischen Bevölkerung der Insel zu einem Ausgleich gefunden haben müssen, was sie von den Festlandthrakern ‚verschieden’ gemacht haben dürfte. Auf diesem Hintergrund ist wohl die merkwürdigste Nachricht zu bewerten, die uns über das Gebiet der festländischen Sintier überliefert wird: Dort gebe es einen Fluss Pontos, der Steine mit sich führe, mit denen es umgekehrt ginge wie bei der Holzkohle; angefacht erlöschen sie und mit Wasser besprengt lodern sie auf und geben einen beissenden Geruch von sich, der alle Kriechtiere vertreibt315. Hier verbinden sich mit dem halblemnischen Namen der Sintoi zwei Motive aus den Geschichtenkreisen der Insel: der üble Geruch zum einen, und wenn man unbedingt will, kann man vielleicht den Stein, der Schlangen vertreibt, mit der Schlangenbisse heilenden lemnischen Erde zusammenbringen. Daraus freilich einen Zusammenhang zwischen der Religion der Sintoi und jener der Sintier abzuleiten, ist nach dem, was ich bisher über das Verhältnis der beiden Gruppen gesagt habe, mindestens waghalsig: Dem thrakischen Zeugnis wird man gewiss sein Gewicht zugestehen, wenn es um Vorstellungen vom Ausräuchern von Schlangen allgemein geht, für das Verständnis der lemnischen Geschichten gibt es kaum etwas aus. 313 Die Lautfolge -klo- o.ä. ist in den thrakischen Sprachresten selten, am nächsten steht Genukla (Γένουκλα) als Name eines dakischen Kastells (Cass. Dio 51.26.5), vgl. Detschew, Sprachreste, 101. 314 Die Kulte der Insel liefern leider nur einen weiteren halben Beleg für die Anwesenheit von Thrakern, denn der Kult der thrakischen Göttin Bendis lässt sich auf Lemnos in archaischer Zeit vermuten, doch nicht nachweisen, vgl. 3.1.5.b. 315 Aristot. Mirab. 841a27–b2, vgl. Ael. Nat. An. 9.20, Schol. Nik. Ther. 45–47, Steph. Byz. s.v. Σιντία. Diese Brandsteine wurden bes. von Welcker, Trilogie, 248f herangezogen, um das Motiv des schlechten Geruchs in der Geschichte der Lemnierinnen zu erklären; zur Kritik daran Dumézil, Crime, 72. Die Fortsetzung der Stelle Aristot. Mirab. 841b2–8 berichtet, dass es bei den Sintoi auch ein wunderbares Gerstenfeld gebe, dessen Frucht für die Menschen essbar sei, während die Tiere davon stürben, ja selbst wenn sie mit dem Kot von Menschen in Kontakt kämen, die davon gegessen haben; diese Nachricht hat keine der ersten vergleichbare Karriere in der Forschung gehabt.
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4. Der hinkenden Gott
Spielte schliesslich diese halbgriechische Schicht der Sintier, wie es uns die antiken Quellen nahelegen, eine besondere Rolle in einer frühen Blüte des Schmiedehandwerks auf der Insel? Vorsicht ist bei solchen Schlüssen angebracht: Für die Autoren vom 5. Jh. an sind die Sintier keine fassbare ethnographische Wirklichkeit mehr. Diese Schriftsteller beginnen deshalb, sie in einer Art aufzufassen und zu schildern, die von der Erinnerung an andere vergleichbare Ursiedler geprägt ist, umso mehr als eine solche Gruppe, die Kabiren, wie schon mehrfach angedeutet, auch auf Lemnos selbst eine Rolle spielte. Sind die Kabiren aber für uns rein mythologische Gestalten, so überformt ein ähnliches Bild im Falle der Sintier wohl einen Namen, der einmal geschichtliche Wirklichkeit besessen hat. Neben den Mythos tritt so im zweiten Grade seine Abspiegelung in eine schon halb historisch erinnerte Welt – es ist dasselbe Muster, das uns etwa auch im Verhältnis von Hypsipyle und ihren Frauen zur Geschichte von der pelasgischen Vesper begegnet ist316. Die Wirksamkeit dieses Mechanismus ist ein guter Beleg dafür, wie innerhalb der griechischen Vorstellungswelt der Mythos unentwegt neue Geschichten gezeugt hat und die alten Erzählungen immer wieder dazu dienen, die Welt und die Geschichte neu zu ordnen und zu verstehen. Alles in allem sind also die Sintier nicht eine mit Hephaistos besonders verbundene kultische Gruppe gewesen, zum Beispiel ein Schmiedebund, sondern in Ilias und Odyssee noch als wirkliche Volksgruppe gemeint, in den späteren Autoren schon eine rein literarische Erscheinung. Dieses gewissermassen sekundäre Bild der Sintier gilt es deshalb in den Rahmen jener Vorstellungen einzuordnen, die es massgeblich geprägt haben. An Berichten über ähnliche Gruppen fehlt es ja in Griechenland nicht: Wir hören von Kureten und Korybanten, von Kabiren und Telchinen, manchmal zählt man auch noch die Kyklopen hinzu. Dabei schimmert hinter den im einzelnen durchaus verschiedenen Geschichten immer wieder, wie schon den antiken Erzählern aufgefallen ist, ein ähnliches Muster durch, zu dem meist die Vorstellung von einem Urvolk, der Bezug zu einer Insel und zur Metallarbeit gehören317. Es würde zu weit führen, diesen Zusammenhang hier bis ins Einzelne zu verfolgen, zumal man diesen Gestalten ihrer scheinbaren Urtümlichkeit wegen in der Forschung bereits eine fast übertriebene Aufmerksamkeit geschenkt hat, nicht ohne gelegentlich den Blick auf die Quellen mit eigenen Vorstellungen mehr zu verdecken als zu klären318. Dennoch muss ein Bild der Insel Lemnos unvollständig bleiben ohne wenigstens ein paar Hinweise auf jene andere Richtung, in der sie über diese Motive zu ihrer Umgebung ins Gespräch tritt. 316 Vgl. 3.4.4. 317 Vgl. Strab. 10.3.7. 318 Übersichten über solche Göttergruppen bei Hemberg, Kabiren, 328–354; Gantz, EGM 147– 149; LIMC 8.1 Suppl. (1997) 820–828 s.v. Megaloi Theoi [D. Vollkommer-Glökler]. Burkert, GR 173f versteht solche Societies of Gods generell als Spiegelungen von Kultgruppen, insbesondere Kabiren, Daktylen, Telchinen und Zyklopen als Projektionen von Schmiedegilden. Ein besonderes Interesse an dieser Art von scheinbar archaischen Gestalten zeigt immer wieder die psychologisch orientierte Mythendeutung, etwa Caldwell, Origin, 176f, Bischof, Kraftfeld, 476–479.
4.3. Die kleinen Leute
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4.3.2. Vom Bösen Blick Das besonders lehrreiche Beispiel der Telchinen stelle ich voran. Diese seltsamen Wesen verdanken ihren Ruhm vor allem den Dichtern, welche die betreffenden Sagen dargestellt hatten: Pindar und Bakchylides ebenso wie später Kallimachos; von all diesen Texten sind nur spärliche Fragmente erhalten. Ich gebe deshalb die zwei ausführlichsten Zeugnisse, beides Übersichten aus gelehrten Handbüchern des Altertums, die anhand verschiedener Quellen zusammengestellt wurden319. Die erste steht in dem Geschichtswerk des Diodor aus augusteischer Zeit320: Die Insel, die Rhodos heisst, bewohnten als erste die sogenannten Telchinen. Diese waren, wie die Sage geht, die Söhne der Thalatta321 und man erzählt über sie den Mythos, dass sie zusammen mit Kapheira, der Tochter des Okeanos, den Poseidon aufgezogen hätten, nachdem Rhea ihnen das Kleinkind übergab. Sie seien auch die Erfinder gewisser Künste und hätten noch andere Dinge eingeführt, die für das Leben der Menschen nützlich sind. Kultbilder der Götter sollen sie als erste hergestellt haben ... Man sagt auch, sie seien Hexer gewesen und hätten nach Belieben Wolken und Regen und Hagel aufziehen lassen und in gleicher Weise auch den Schnee herbeigerufen; man berichtet, sie hätten das gemacht wie die Magier. Sie hätten auch ihre Gestalt verwandelt und seien sehr neidisch gewesen im Lehren ihrer Künste322. ... In späterer Zeit hätten die Telchinen das Aufkommen der Sintflut vorausgesehen, die Insel verlassen und sich zerstreut323.
Der zweite Text entstammt dem griechisch geschriebenen Werk Über die Schimpfwörter des römischen Grammatikers und Biographen Sueton324:
319 Zu Pind. und Bakchyl. unten n. 336, zu Kallim. Wimmel, Kallimachos, 72f. Die gründlichste Sammlung des Materials zu den Telchinenmythen ist RE 5A (1934) 197–224 s.v. Telchinen [H. Herter], dort auch die ältere Literatur; ferner Hemberg, Kabiren, 349–351, Delcourt, Héphaistos 168–170, Detienne/Vernant, Mètis, 244–255, Dasen, Dwarfs, 196–198, Brillante 1993b, Gantz, EGM 149, NP 12/1 (2002) 86f s.v. Telchines [A. Ambühl]. Faraklas 1998, 76– 78 deutet die Telchinensage als Erinnerung an Schmiedebünde der Dunklen Jahrhunderte, ähnliche Hinweise bei Burkert, GR 173f; nachweisen lässt sich nichts. Die Kommentare von Benedetto zu Withof, Callimaco widmen sich ausschliesslich der Forschungsgeschichte und sind für die Frage nach den Telchinen selbst unergiebig. 320 Diod. 5.55.1–56.1; Quelle war wohl Zenon von Rhodos, ein Lokalhistoriker des 2. Jh.s (FGrHist 523 F 1), vgl. Brillante 1993b, 7 mit n. 2. 321 D.h. der Verkörperung des Meeres, vgl. Simm. Frg. 11; andere Genealogien (als Söhne der Nemesis [der Vergeltung], der Ge und des Pontos [also von Erde und Meer], oder eine Entstehung aus den Blutstropfen bei der Kastration des Kronos) bei Bakchyl. Frg. 52 Maehler [= Tzetz. Hes. Theog. 80]; vgl. Brillante 1993b, 8. 322 Der Neid der Telchinen ist Topos, vgl. Kallim. Ait. 1.1f, Nikol. Damask. FGrHist 90 F 114, Nonn. Dion. 14.36, 30.226, Lact. Plac. Stat. Theb. 2.274–276; weiter RE 5A (1934) s.v. Telchinen 206f [H. Herter] und die anregende Deutung von Brillante 1993b, 30–42, welche den φѳόνος der Telchinen und ihren starr machenden bösen Blick (dazu unten n. 340) mit der µίµησις der von ihnen erfundenen Bildkunst zusammenbringt. 323 Von den Göttern ersäuft wurden sie nach Ov. Met. 7.365–367 (wobei Lact. Plac. Ov. Met. 7.11 ergänzt, dass der Hass der Iuno dafür den Anlass bildete), nur vertrieben hingegen auch nach Nonn. Dion. 14.42–45; vgl. Caduff, Sintflutsagen, 158f und unten n. 332. 324 Suet. Blasph. 92 Taillardat, vgl. Eusth. Hom. Il. 9.529 [771.56–772.4].
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4. Der hinkenden Gott Telchinen: so nennt man die Neidischen, die Tadelsüchtigen, die Hexer und Giftmischer. Stesichoros hat die Totengeister und Finsternisse Telchinen genannt325. Es heisst, dass es zwei Arten von ihnen gab, die einen Handwerker und kunstfertig, die anderen alles Schöne befleckend. Man hält sie meist für Kinder des Meeres326, aber Armenides sagt327, sie seien aus den Hunden des Aktaion entstanden, die Zeus in Menschen verwandelt habe, und das, weil sie wild sind und Blitze schicken können und einen Trank zu haben scheinen, in welchem sie Wurzeln eingemischt und nach Hexerart damit Giftzauber betrieben haben. Man schreibt ihnen auch die Anfertigung der Sichel des Kronos zu328, mit der er den Vater Uranos entmannte. Andere sagen, es sei der Name für die Bewohner von Rhodos, weshalb die Insel auch Telchinia geheissen habe329, einige aber, zu denen auch Simmias gehört, für die Bewohner von Kreta. Es gibt welche, die führen auch die Herstellung von Götterbildern und die Entdeckung der Metalle auf sie zurück und sagen, sie seien amphibischer Natur und von wandelbarer Gestalt gewesen: Bald seien sie Göttern, bald Menschen, bald Fischen oder Schlangen ähnlich geworden; einige von ihnen hätten weder Hände noch Füsse, aber alle seien blauäugig und mit grossen Brauen und scharfblickend und besässen Häute zwischen den Fingern wie die Gänse. Wieder andere sagen, dass sie drei seien, und bringen als ihre Namen Gold, Silber und Erz330, gleichnamig mit dem Werkstoff, den jeder von ihnen gefunden haben soll331. Sie sollen zugrunde gegangen sein, indem sie Zeus mit Regen überschwemmte332 oder Apollon mit dem Bogen erschoss333. Manche nennen sie auch Thelginen, abgeleitet von thelgein (= behexen 334).
325 Dieses Stelle (= Stesich. Frg. 88 PMG = Eusth. Hom. Il. 1.394 [772.3f]) ist der älteste Beleg für die Telchinen; zum Verständnis Brillante 1993a. 326 Vgl. oben n. 321. 327 Armenides FGrHist 378 F 8. 328 Ebenso Strab.14.2.7; auch der Dreizack des Poseidon (Kallim. Del. 31) und das unheilvolle Halsband der Harmonia (Stat. Theb. 2.273–275) gelten als Werke der Telchinen. 329 Oder Τελχινὶς, vgl. Strab. 14.2.7. 330 Nach Suid. s.v. Τελχῖνες sind es zwei namens Simon und Nikon, neun Telchinen nach Strab. 10.3.19; zu Anzahl und Namen RE 5A (1934) s.v. Telchinen 199–201 [H. Herter]. 331 Strab. 14.2.7 nennt sie als Erfinder der Bearbeitung von Eisen und Erz. 332 Bezieht sich wohl auf dieselbe rhodische Überlieferung wie Diod. 5.56.1, vgl. oben n. 323; für den ganz ähnlichen Untergang der Telchinen auf Keos unten n. 336. 333 Nach Serv. Verg. Aen. [SD] 4.376f hat er sie in Wolfsgestalt getötet; zum Ende der Telchinen Brillante 1993b, 27–29. 334 Vgl. u.a. Suid. s.vv. ѳέλγειν, Τελχῖνες; Ableitung von τήκω bei Hesych. s.v. Τελχῖνες (weitere Belege bei Brillante 1993b, 34f mit n. 111); eine andere Deutung bei Tzetz. Hist. Var. 12.832–834. Die Etymologien des 19. Jh.s sind kaum besser (vgl. RE 5A (1934) s.v. Telchinen 198f [H. Herter]): versucht wurden Anschlüsse an anord. dvergr/ahd. twerc (d.h. Zwerg, dagegen unten n. 338) oder an χαλκός, beides lautlich unmöglich, vgl. Chantraine, s.v. χαλκός 1244. Unberücksichtigt geblieben ist bisher anscheinend eine äusserst ansprechende, schon im 17. Jh. von Bochart vorgeschlagene Herleitung aus dem Semitischen (vgl. Withof, Callimaco, 102 n. 66), und zwar von der Wurzel, die etwa hebr. als vxl (lchš) erscheint, der Bedeutung (magisch) beschwören, vielleicht ursprünglich Schlangen beschwören. Mit dem bei der Bildung von Nomina geläufigen ta-Präformativ liesse sich daraus *tlchš ableiten, mit je nach Idiom und Bedeutung verschiedener Vokalisierung. Die meisten dieser Ableitungen ergeben Abstrakta, doch gibt es gerade mit dem Vokalismus *talchîš- im Akkad. auch Personenbezeichnungen etwa talmîdu (Lehrling), targîqu (Übeltäter) u.a. (vgl. von Soden, Grundriss, 68 [§ 56l]). Von der Form her kommen wir so auffallend nahe an den Singular Τελχίς – und was die Bedeutung angeht, so würde der Zauberer damit schon im Namen der Telchinen stecken.
4.3. Die kleinen Leute
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Es ist offensichtlich, dass in diesem zweiten Text mehrere Geschichten zusammengeflossen sind, die man auseinandertrennen und ihren Quellen, d.h. verschiedenen lokalen Traditionen zuweisen müsste. Einzelne Motive lassen sich ja, wie gezeigt, aus anderen Texten parallelisieren und ergänzen. Zu bemerken ist insbesondere, dass es neben dem Bericht über das Ende der Telchinen auf Rhodos eine gut bezeugte, nur in Einzelheiten anders verlaufende Sage gibt, die berichtet, wie sie auf Keos von Zeus mit einem Blitz vernichtet wurden. Damit bestätigt sich, wie schon angedeutet335, dass solche Göttergruppen gerade in insularen Mythen recht häufig auftauchen336. Dennoch sollte man die Erfolgsaussichten eines Versuchs zur Lokalisierung dieser Geschichten nicht überschätzen, und jedenfalls wäre dazu eine eigene Untersuchung nötig. Ich will deshalb hier, wo es nur um den Vergleich mit den Sintiern geht, den in diesen beiden Texten enthaltenen Stoff als eine in sich geschlossene Erzählung über die Telchinen behandeln, auch wenn dabei viele Fragen offen bleiben. Darüber hinaus, dass die Telchinen ebenfalls einer Insel zugehören, sind die Ähnlichkeiten mit den Sintiern in diesem Material unübersehbar: Da ist zum einen das Handwerkertum337, wobei die Telchinen allerdings nützliche Dinge erfinden, nicht schädliche wie die waffenschmiedenden Sintier. Auch die Telchinen sind aber die Entdecker des Schmiedens von Erz und Eisen und deswegen schreibt man ihnen auch die Sichel des uralten Gottes Kronos zu338. Wie die Sintier sind 335 Vgl. 4.3.1. 336 Die keische Sage ist fassbar schon im 5. Jh. bei Pind. Paian. 4.40–45, Bakchyl. Epin. 1, Xenomedes FGrHist 442 F 1 [= Kallim. Ait. Frg. 75.50–75], auch F 4a/b; ausserdem bei Nik. Frg. 116 Schneider [= Schol. Ov. Ib. 475], Nonn. Dion. 18.35–38; vgl. Maehler, Bakchylides, 5–8 (gegen dessen Auffassung, dieser Mythos verweise auf eine Naturkatastrophe in prähistorischer Zeit vgl. oben 3.1.2.c), weiter Flückiger-Guggenheim, Gäste, 42–44, Caduff, Sintflutsagen, 196f, Faraklas 1998, 74, 76–78, die alle versuchen, die Sage an mykenische Ruinenstätten zu knüpfen, was m.E. nichts zu ihrem Verständnis beiträgt. Zur Frage der Lokalisierung der Telchinensagen: RE 5A (1934) s.v. Telchinen 216–223 [H. Herter]; neben Rhodos und Keos weisen die Verbindungen nach Zypern (Nikol. Damask. FGrHist 90 F 114 u.a.) Sikyon (Steph. Byz. s.vv. Σικυών, Τελχίς, Eusth. Hom. Il. 2.572 [291.28]), auf die Peloponnes, vielleicht Argos (Apollod. 2.1.1f, Hier. Chron. a. Abr. 230, Oros. Hist. 1.7.1f, Tzetz. Lyk. Alex. 177) u.a.; zu Kreta unten p. 330. 337 Brillante 1993b, 17 bestreitet, dass die Telchinen den Charakter von Handwerkern hätten; er stützt sich dabei einseitig auf jene Stelle bei Suet., nach der sie weder Hände noch Füsse besässen, und übersieht, dass das nur eine von mehreren Gestalten ist, in denen sie erscheinen (vgl. unten n.343); im übrigen gerät er so in Widerspruch zum ganzen Rest seiner Deutungen, wo die Telchinen als Erfinder der Bildkunst im Mittelpunkt stehen. 338 Problematisch ist, wenn den Telchinen deswegen immer wieder Zwergengestalt zugeschrieben wird, so etwa bei Hemberg, Kabiren, 350 und noch bei Dasen, Dwarfs, 197, NP 12/1 (2002) s.v. Telchines 87 [A. Ambühl] u.a.; kritisch dagegen Brillante 1993b, 10 n. 23. Die Vorstellung verdankt sich allein der Phantasie von v.a. deutschen Forschern des 19. Jh.s (entscheidend der Einfluss von Wilamowitz, Glaube I,279), die mit den Kinder- und Hausmärchen aufgewachsen sind und ein ihnen nur zu vertrautes Bild in die Antike projizierten – damit wird leider die Sache bloss verfälscht, denn in unseren Texten fehlt jeder Hinweis auf eine Zwergengestalt der Telchinen (zu einem ähnlichen Problem bei den Kabiren unten 4.3.3).
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auch sie von einer merkwürdigen moralischen Doppeldeutigkeit, die im zweiten Text sogar dazu führt, dass man sie, nach dem geläufigen Verfahren der antiken Gelehrsamkeit, in zweierlei Gestalten spaltet. Sie teilen diese Ambivalenz mit einer den Menschen ebenso nützlichen und hilfreichen Gestalt wie Daidalos, auch er Erfinder von praktischen Dingen und Götterbildern und zugleich Mörder seines Neffen339: Geradeso eifersüchtig wie er wachen die Telchinen über ihre Kunst und wollen sie nicht weitergeben. Verschärft wird dieser Zug durch ihre Eigenart als Hexer. Dabei erscheinen sie als Wettermacher und Giftmischer, aber auch der Schadenzauber auf den Äckern gehört zu ihrem Geschäft, und dann wieder ist von ihrem Bösen Blick die Rede. Ich erinnere aus den lemnischen Geschichten dazu an jene eigenwillige Stelle, die auch die Sintier zu üblen Hexern gemacht hat340. Dem entgegen steht ein anderer Aspekt: Dass sie einen Gott zur Pflege aufnehmen, für den zeitweise höher oben kein Platz mehr ist, die Telchinen den neugeborenen Poseidon, den seine Mutter vor der Kinderfresserei des Kronos in Sicherheit bringen muss, die Sintier den Hephaistos. Damit läuft ihre Geschichte parallel zu einem anderen Urvolk, den Kureten von Kreta, die ebenso den kleinen Zeus beschützten. Wieder haben schon die antiken Erzähler die Entsprechung auf ihre Weise in eine Geschichte umgesetzt, indem sie sagten, die Kureten seien von Rhodos nach Kreta hinüber gewanderte Telchinen oder umgekehrt341. In enger Beziehung zu Poseidon stehen letztere weiter, indem sie ihm den Dreizack schmieden342, und überhaupt sind sie dem Meer besonders nahe: Neben der Mutter Thalassa, dem Meer schlechthin, steht eine Schwester Halia, die Frau vom Meer, und gelegentlich verwandeln sie sich in Fische, haben Schwimmhäute zwischen den Fingern oder scheinen gar im Meer zu wohnen343. Auch ihr Ende wird mit dem Wasser verknüpft, sei es, dass sie einer Überschwemmung vorausahnend entgehen, sei es, dass sie gerade durch diese umkommen. Ich erinnere daran, dass auf Lemnos neben dem Sturz des Hephaistos zu den Sintiern eine Variante derselben Geschichte steht, wo er in die Tiefen des Meeres stürzt. Wieder einmal ist also, was hier in einer Geschichte beisammensteht, anderswo durch eine paradigmatische Spaltung in deren zwei aufgeteilt worden344. 339 Vgl. 4.1.2; zur Ambivalenz der Telchinen Wimmel, Kallimachos, 73 und Caduff, Sintflutsagen, 233f (auch 186), der auf ähnliche Koboldgestalten in Volkssagen aus den Alpenländern hinweist. 340 Zum Schadenzauber Strab. 14.2.7, Suid. s.v. ѳέλγειν, Nonn. Dion. 14.46–48, Lact. Plac. Stat. Theb. 2.274–276, vgl. Brillante 1993b, 11–13; Zum bösen Blick Ov. Met. 7.365f, vgl. Brillante 1993a, 55 und ausführlich Brillante 1993b, 14–24; zu den Sintiern oben 4.3.1. 341 Vgl. Strab. 10.3.19 mit Strab. 14.2.7, Nikol. Damask. FGrHist 90 F 114. 342 Vgl. oben n. 328. 343 Halia: Diod. 5.55.4; Schwimmhäute usw.: Nonn. Dion. 14.36f. Detienne/Vernant, Mètis, 246–254 haben ausserdem aus der bei Suet. gegebenen Beschreibung recht plausibel Bezüge der Telchinen zur Robbe abgeleitet. Bei Brillante 1993b, 9–11 wird daraus, dass die Telchinen Robbengestalt gehabt hätten; das ist wohl vergröbert, denn sie waren ja wandelbarer Gestalt, und die bei Suet. genannten Einzelzüge müssen nicht unbedingt zusammengehören (vgl. oben n. 337). 344 Die Affinität zwischen Meer- und Schmiedegöttern haben Detienne/Vernant, Mètis, 136–138, 255–259 gründlich untersucht. Charakteristisch für den vielerorts noch immer ratlosen Um-
4.3. Die kleinen Leute
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4.3.3. Die Nächte des Kabirions Noch näher zu den Sintiern als bei den Telchinen kommen wir mit den Kabiren – zumindest geographisch: Sie sind, wie mehrfach angedeutet, auch auf Lemnos selber zu Hause. Anders als bei den Sintiern allerdings, die nur nach Lemnos gehören, und den Telchinen, die sich trotz ein paar Hinweisen auf andere Orte vor allem mit der Insel Rhodos verknüpfen, finden wir allerdings die Zeugnisse für die Kabiren über ein breites Gebiet verstreut. Ihr Kult ist in einzelnen Städten an der Westküste von Kleinasien gut belegt, vor allem in Pergamon und Milet, in Makedonien, vor allem in Thessalonike, und für Theben. Mitten in diesem weiten Küstenbogen liegen die drei Inseln, auf denen wir von Kabiren hören, Lemnos, Imbros und Samothrake. Deutlicher als bei den Telchinen erkennen wir hier dank reicheren Belegen, wie sich an die verschiedenen Orte jeweils eigene Überlieferungen knüpfen, ja diese sind teilweise so unterschiedlich, dass sie sich höchstens mit Gewalt in ein einheitliches Bild bringen lassen345. Ich will deshalb den Rahmen der Untersuchung möglichst eng stecken und mich zunächst auf die lemnischen Kabiren beschränken. Erst in einem zweiten Schritt soll dann ein Blick zu den Nachbarn gewagt werden, nach Imbros und Samothrake. Es wird sich zeigen, dass trotz der räumlichen Nähe dieser Inseln die Analogien schmal bleiben, und Entfernteres beizuziehen, scheint mir auch deswegen nicht sinnvoll346. gang mit solchen Gestalten ist dagegen der Deutungsversuch bei NP 12/1 (2002) s.v. Telchines 87 [A. Ambühl]: „Unklar ist, ob die Telchinen als zu bösen Dämonen gewordene vorgriechische Gottheiten im Kontext kleinasiatischen vorderorientalischen Metallhandels oder als Erinnerung an prähistorische Erdbeben zu deuten sind“. Bemerkenswert ist hier (neben der Vermengung von funktionaler Deutung und Frage nach der Herkunft) vor allem das Kuddelmuddel, zu dem ‚Vorgriechisches’ und ‚Vorderorientalisches’ mit einem pseudogelehrt klingenden im Kontext verwurstelt wird. 345 Die grundlegende Sammlung allen damals bekannten Materials zum Kabirenkult ist Hemberg, Kabiren, dort zu Lemnos 160–170 – was das Archäologische angeht, natürlich heute überholt; auch Burkert, GR 281–285, Gantz, EGM 148, EAA 2o Suppl. 1 (1994) 798–801 s.v. Cabiri [L. Beschi], LIMC 8.1 Suppl. (1997) 820–828, s.v. Megaloi Theoi [D. VollkommerGlökler], NP 6 (1999) 123–127 s.v. Kabeiroi [F. Graf]; eine einführende Übersicht bei Daumas, Cabiriaca, 11–14; problematisch hingegen Musti 2001, vgl. unten nn. 375 und 392. 346 Der optimistische Befund von Daumas 1997, 201 bezüglich der Ergiebigkeit der samothrakischen Traditionen für das Verständnis des Kabirenkultes von Theben lässt sich für Lemnos höchstens in einzelnen Punkten bestätigen, vgl. Cole, Theoi, 1f. Auf die Frage nach dem Ursprung des Kabirenkultes will ich mich hier nicht einlassen; sämtliche bisherigen Vorschläge sind rein hypothetisch; vgl. etwa über Beziehungen zum Vorderen Orient die trotz grossem Aufwand nicht sehr erhellende Studie von Collini 1990, für einen thrakischen Ursprung Gočeva 1991, zur tyrrhenischen Hypothese von Beschi 1996–97, 27 unten n. 371. Von der Frage nach der Herkunft des Kultes ist jene nach der des Namens Kabeiroi getrennt zu halten; eine Übersicht über verschiedene Vermutungen bei De Simone, Tirreni, 45; für beinahe unwiderstehlich gilt angesichts der Anrede der Kabiren als Grosse Götter (vgl. unten p. 338) die Ableitung von der semit. Wurzel rbk (kbr), der Bedeutung gross sein, vgl. Collini 1990, 240f, West, EFH 58. Bestritten wird diese Herleitung von Beekes 2004; sein ‚linguistisches’ Hauptargument (weil die ursprüngliche Form καβειρ- und nicht καβιρ- laute, sei eine Herleitung von semit. ‚kabīr’ unmöglich, vgl. 469 und 474) verrät allerdings weder Verständnis
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Ich beginne mit den literarischen Quellen zu den lemnischen Kabiren und schreite dabei von den sicheren Zeugnissen allmählich zu jenen voran, die sich der Gruppe bloss mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit zuweisen lassen347. So findet man den ersten eindeutigen Hinweis im Philocteta des römischen Tragödiendichters Accius, wo es heisst: Kab1348 Da ist Lemnos, ein ödes Gestade, und da hast du der Kabiren hohes Heiligtum und die uralten Mysterien, die in reinen Weihen empfangen wurden.
Auf Lemnos am Meer gab es ein bedeutendes altes Heiligtum mit Mysterien der Kabiren, heisst es hier – doch darüber hinaus erfahren wir aus diesen Versen gerade so wenig wie in einem zweiten Zeugnis (Kab2), das aus augusteischer Zeit stammt und wo es heisst, dass die Kabiren auf Lemnos und Imbros am meisten geehrt würden349. Aussagekräftiger ist ein Hinweis bei einem christlichen Autor des beginnenden 3. Jh.s n. Chr., Hippolytos von Rom: Kab3350 Lemnos gebar das schöne Kind Kabiros in einer unaussprechlichen heiligen Handlung.
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für die Funktionsweise des Vokalismus in semitischen Sprachen noch für das Problem des Transfers von Phonemen zwischen zwei Sprachen. Auch Beschi 1996–97, 13–50 bietet eine Zusammenstellung der literarischen Zeugnisse zum lemnischen Kabirenkult, kommt allerdings nicht wie ich im Folgenden auf ein gutes halbes Dutzend Nummern, sondern auf deren fünfzig. Die meisten halten einer näheren Prüfung nicht stand, sondern gehören überhaupt nicht zu den Kabiren oder nach Samothrake. Zwischen dem wenigen, was wir Sicheres über die samothrakischen und lemnischen Kulte wissen, sind die Ähnlichkeiten aber so spärlich, dass man gegen derartige Querbeleuchtungen nicht misstrauisch genug sein kann. Ich gebe dennoch im Folgenden auch die Zählung der Zeugnisse bei Beschi 1996–97, wobei [1–50 Be.] die literarischen Quellen bezeichnet, [A1– A35 Be.] die griechischen Inschriften auf Stein, [B1–B116 Be.] die archaischen, d.h. tyrrhenischen Graffiti, [C1–C128 Be.] die griechischen; zum übrigen archäologischen Material auch Beschi 1998b. Kab1 [14 Be.] = Acc. Trag. 525–528 R; Beschi 1996–97, 31 ist wohl zu zuversichtlich, dass diese Beschreibung aus einem attischen Vorbild des 5. Jh.s stammt (etwa von Aischyl.): Die Beschreibung der celsa Cabirum delubra meint entweder das hoch auf der Klippe gelegene Heiligtum oder den hochragenden Bau selbst (vgl. etwa celsae ... turres bei Hor. Carm. 2.10.10f) – wenn das nicht einfach poetische Floskel sein sollte, passt es auffallend gut auf das hellenistische Telesterion (vgl. unten p. 337). Bagordo 2003 versucht hingegen, mehrere Acc.-Fragmente zu einer geschlossenen Sequenz zusammenzukleben (Acc. Trag. 525–528 [Kab 1] – Trag. Inc. 71f [Kab 1a] – Acc. Trag. 529–531R.), wodurch das Kabirenheiligtum in einen Wald und gleich neben den Berg zu liegen kommt, auf den Hephaistos gefallen ist; das passt alles auf die realen lemnischen Verhältnisse überhaupt nicht – und darf man deren Kenntnis bei einem Römer in der Zeit des Acc. wirklich ausschliessen? Kab2 [23 Be.] = Strab. 10.3.21 = Samotracia E4 bei Scarpi/Rossignoli, Religioni II, die unter den Zeugnissen zu den Kulten von Samothrake auch (fälschlich) einiges lemnische Material bringen, vgl. oben n. 347 und unten n. 412. Kab3 [27 Be.] = Hippol. Haer. 5.7.4.
4.3. Die kleinen Leute
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Vielleicht ist dies ein Bruchstück eines Mythos über die lemnischen Kabiren. Zwei weitere Zeugnisse kommen aus der epischen Dichtung der Spätantike: In dem sogenannten orphischen Argonautenepos findet sich eine lange Aufzählung von Mysterien, und darunter folgender Hinweis: Kab4351 ... die glänzenden Gaben der Kabiren und die unaussprechlichen Orakel der Nacht um den Fürsten Bakchos und das hochgöttliche Lemnos und das im Meer gelegene Samothrake.
Als zweites ist das grosse Epos des Nonnos über Dionysos zu nennen (Kab5), wo sich zu dem Heer des Dionysos auch zwei Krieger aus Lemnos gesellen, nämlich die beiden Kabiren, Alkon und Eurymedon, welche die Thrakerin Kabeiro dem Hephaistos geboren hatte352. Die zwei letzten Nachrichten kommen aus Wörterbüchern; die erste lautet: Kab6353 Kabiren: Krebse. Diese werden auf Lemnos als Götter sehr geehrt, und sie sollen die Kinder des Hephaistos sein 354.
Und die zweite: Kab7355 Kabiren: Gottheiten, die aus Lemnos ausgewandert sind wegen der Untat der Frauen; sie sind aber in Wirklichkeit Hephaistoi oder Titanen.
Auf der Grundlage dieser Angaben lassen sich ein paar weitere Zeugnisse mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit auf die lemnischen Kabiren beziehen. Das erste ist ein Bruchstück aus dem mythologischen Buch des Pherekydes von Athen noch aus der ersten Hälfte des 5. Jh.s: Kab2a356 Pherekydes sagt, von Apollon und Rhetia stammten neun Kyrbanten und sie wohnten auf Samothrake; von Kabeiro, der Tochter des Proteus, und Hephaistos aber drei Kabiren und drei Kabirennymphen, und beide hätten einen Kult.
Diese Stelle zitiert der Geograph Strabon unmittelbar vor Kab2, und auch die Verbindung mit der Erwähnung von Samothrake (wie in Kab4) deutet darauf hin, dass es um die Kulte in der Nordägäis geht. Vor allem passt die angegebene Abstammung der Kabiren genau zu dem, was in den sicheren Belegen steht: Ihre
351 Kab4 [35 Be.] = Orph. Arg. 28–30. 352 Kab5 = Nonn. Dion. 14.17–22 und weitere Stellen, vgl. weiter Beschi 1996–97, 20–22 [29– 34 Be.] und Samotracia E21 Scarpi. 353 Kab6 [43 Be. = Samotracia A16 Scarpi] = Hesych. s.v. Κάβειροι. 354 Kinder des Hephaistos sind auch die ‚Kabiren’ bei Hdt. 3.37.3 [6 Be.], der mit diesem Ausdruck allerdings ägyptische Götter unter griechischen Decknamen beschreibt, sh. unten p. 341. 355 Kab7 [49 Be.] = Phot. s.v. Κάβειροι. 356 Kab2a [9 Be. = Samotracia A15 Scarpi] = Pherekyd. FGrHist 3 F 48 = Strab. 10.3.21.
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Eltern sind Hephaistos und Kabeiro wie in Kab5 und Kab6. So ist kaum zu zweifeln, dass auch in Kab2a die lemnischen Kabiren gemeint sind. Die nachfolgende Stelle nennt umgekehrt zwar die Insel, aber nicht den Namen der Gottheiten: Kab1a357 Ich übergehe das heilige und erhabene Eleusis, „wo man die Leute selbst von äussersten Gestaden weiht“358, Ich lasse Samothrake beiseite und all das was auf Lemnos „heimlich verehrt wird mit nächtlichem Zutritt umgeben von dichtem Waldesdickicht“359.
Hier geht es offenbar um Mysterienkulte, und Cicero, dem wir diese Stelle verdanken, zitiert dazu Verse aus Dichtern, die er nicht mit Namen nennt. Nun wissen wir nicht nur auf Lemnos von keinen anderen Mysterien als denen der Kabiren, sondern die Verse über die Insel stehen auch im gleichen Versmass, wie die schon angeführte Beschreibung der Insel aus dem Philocteta des Accius (Kab1); es wird sich also auch hier um ein Zitat aus derselben Passage handeln. Damit ist die Reihe der einigermassen zuverlässig auf die Kabiren von Lemnos zu beziehenden Zeugnisse schon erschöpft. Von den zweifelhaften sind mindestens noch zwei weitere anzuführen. Das erste erscheint als Nachricht aus dem mythologischen Buch des Akusilaos aus der Zeit um 500: [Kab2b]360 Und Akusilaos von Argos sagt, dass von Kabeiro und Hephaistos Kamillos geboren sei, und von diesem drei Kabiren, und mit diesen seien drei Kabirennymphen geboren.
Wir finden hier also wie in Kab2a, Kab5 und Kab6 eine Abstammung der Kabiren von Hephaistos und Kabeiro, nur hat man als zusätzliche Generation einen Kamillos eingeschoben361. Für diesen fehlt jede Bestätigung auf Lemnos, während
357 Kab1a [19 Be.] = Cic. Nat. Deor. 1.(42).119. 358 Trag. inc. 43 Ribbeck 359 Trag. inc. 71f Ribbeck; ich lese in 71 wie üblich nocturno aditu occulta coluntur, der Versuch von Bagordo 2003, 92–95, statt aditu ein adytu zu setzen, hat mich nicht überzeugt; zweifelhaft ist insbesondere seine Deutung von adyton als telesterion, für die er keine brauchbaren Parallelen beibringen kann. 360 Kab2b [4 Be. = Samotracia A13 Scarpi] = Akus. FGrHist 2 F 20 = Strab. 10.3.21: Ἀκουσίλαος δ’ ὁ ᾿Αργεῖος ἐκ Καβειροῦς καὶ ῾Ηφαίστου Κάµιλλον λέγει· τοῦ δὲ τρεῖς Καβείρους, οἷς συγγενέσѳαι τρεῖς νύµφας Καβειρίδας. So die Wiederherstellung des Textes von Jacoby; die Strab.-Handschriften bieten bloss οἷς νύµφας Καβειρίδας. Andere lesen viel einfacher καὶ νύµφας Καβειρίδας (= und die Kabirennymphen), oder ὧν νύµφας Καβειρίδας (= von denen die Kabirennymphen abstammen), was zwar ebenso einfach ist, aber zu einem Widerspruch mit Kab2a führt; man könnte sich allerdings fragen, ob nicht, entsprechend der Einführung des Kamillos auch hier in Kab2b die Genealogie um eine weitere Generation verlängert wird. 361 Steph. Byz. s.v. Καβειρία [47 Be.] bietet einen krausen Zusammenschnitt der Auffassungen, die bei Strab. 10.3.21 zitiert sind, v.a. Kab2a und Kab2b; als Mutter der Kabeiro erscheint ausserdem Anchinoe; schon Jacoby, Genealogie, 406 (zu Pherekyd. FGrHist 3 F 48) be-
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fast der gleiche Name, Kasmilos, auch für einen der samothrakischen Götter genannt wird. Es könnte also sein, dass hier ein erster Versuch vorliegt, die Überlieferungen über die Kabiren von Lemnos und jene von Samothrake zu harmonisieren362. Etwas anders ist die Schwierigkeit bei dem verlorenen Satyrspiel des Aischylos, das den Titel Kabeiroi trug ([Kab0]): Da hier sicher die Argonauten auftraten fühlt man sich an deren Aufenthalt auf Lemnos erinnert363. Die Argonauten haben zwar auch auf Samothrake haltgemacht, doch ist diese zweite Landung in der Nordägäis wohl eine relativ späte, vielleicht erst hellenistische Erweiterung der Sage364. Allerdings sind die Fragmente, nach denen es in dem Stück Personen gab, welche alle Weinkrüge leerten365, nicht so sichere Hinweise auf den lemnischen Kult mit seinem Bezug zu Dionysos, wie man ab und zu gemeint hat, gehören tüchtige Fress- und Saufszenen doch zum Grundbestand des Satyrspiels. Versucht man zusammenzufassen, was aus diesen Zeugnissen hervorgeht, erhält man etwa folgendes Bild: auf Lemnos gibt es unweit der Küste ein Heiligtum, wo Mysterien stattfinden. Dies sind die Weihen der Kabiren (Kab1), die als Götter gelten (Kab6, Kab7) und für deren Kult Lemnos eines der wichtigsten Zentren ist (Kab2, vgl. Kab6). Die Weihen fanden wahrscheinlich bei Nacht statt (Kab1a, vgl. Kab4), und entweder lag das Heiligtum in einem Wald oder ein Teil der Riten wurde in der Wildnis vollzogen (Kab1a). Dionysos muss dabei eine Rolle gespielt haben (Kab4, vgl. auch Kab0), so dass man sich die Kabiren auch in seinem Heer denken konnte (Kab5). In den über sie erzählten Geschichten ging es um die geheimnisvolle Geburt eines Kabirs366, wobei die Inselgöttin Lemnos als seine Mut-
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merkte den stark synthetischen Zug dieser Darstellung; zur Genealogie der Kabiren allgemein Hemberg, Kabiren, 163f Zu Kasmilos Schol. Apoll. Rhod. 1.917 [39 Be.] = Mnaseas Patr. Frg. 17 Cappelletto, vgl. unten n. 427; zum sekundären Charakter seiner Einfügung an dieser Stelle auch Hemberg, Kabiren, 166; unkritisch die Behandlung der Passage bei Beschi 1996–97, 13 n.1 und 28. [Kab 0] [= 7 Be.] = Aischyl. Frg. 47a und Athen. 10.33 [418f], vgl. oben 3.3.2.b. Zur Landung der Argonauten auf Samothrake Apoll. Rhod. 1.915–921 und unten 4.3.4.a; die Kabeiroi des Aischyl. nach Lemnos verlegt etwa von Dumézil, Crime, 63 und 101, Burkert 1970, 9, LIMC 8.1 Suppl. (1997) s.v. Megaloi Theoi 821 [D. Vollkommer-Glökler], NP 6 (1999) s.v. Kabeiroi, 126 [F. Graf]; nach Samothrake von Vian/Delage, Apollonios I, 260f, Gantz, EGM 346. Zum vermeintlichen Bezug auf Dionysos Delcourt, Héphaistos, 179. Aischyl. Frgg. 96f. Auf einem Vasenbild aus dem Kabeirion von Theben erscheint eine Figur, die durch eine Beischrift als Πρατολαος bezeichnet wird. Üblicherweise deutet man sie als den Urmenschen (eine analoge Gestalt soll nach Hippol. Haer. 5.8.9f auch auf Samothrake eine Rolle gespielt haben) und ordnet die Geburt des lemnischen Kabirs in diesen Zusammenhang ein (so Hemberg, Kabiren, 293, auch 203f mit 204 n.1, Burkert, GR 282; vgl. auch LIMC 7.1 (1994) 504 s.v. Pratolaos [S. Bonomi], Dasen, Dwarfs, 197f, Daumas, Cabiriaca, 39f u.a.). Das ist wohl eine falsche Fährte: Erstens ist der Kabir kein Urmensch, sondern eine der Gottheiten im Kult, und zweitens ist schon die übliche Deutung der Pratolaos-Figur in Theben sicher irrig. Πρατόλαος/ Πρωτόλαος/ Πρωτόλεως/ Πρατόλας kommt vor allem in äolisch oder dorisch sprechenden Gebieten relativ häufig als Personenname vor (über 30 Belege LGPN), und zwar weil es als Erster [=Bester] unter den Kriegern verstanden wird (λαός bezeichnet nicht Menschen allgemein, sondern das Kriegsvolk im Kontrast zu seinen Führern, vgl. Chantraine 619f
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ter galt (Kab3). Sonst ist allerdings von mehreren Kabiren die Rede, offenbar waren es drei367, denen drei Kabirennymphen zur Seite stehen368, die gleichfalls Verehrung genossen (Kab2a, vgl. Kab2b). Als Mutter von allen wird Kabeiro369 (Kab5, vgl. Kab2b), die Tochter des Proteus (Kab2a), und als Vater Hephaistos genannt (Kab2a, Kab5, Kab6, vgl. Kab2b). Man konnte die Kabiren deshalb Hephaistoi nennen (Kab7). Eine andere Anrede ist die als Titanen, und schliesslich mochten sie auch als Krebse gelten (Kab6). Mit den anderen Geschichten über die Insel treten sie in Verbindung, wenn es heisst, sie hätten wegen der Greueltat der Frauen um Hypsipyle die Insel verlassen (Kab7). Die Archäologie liefert weitere Anhaltspunkte370: Da ist zunächst die schon mehrfach erwähnte Kultstätte der Kabiren, auf einem abgeschiedenen, der Stadt Hephaistia hinter einer breiten Bucht gegenüberliegenden Vorgebirge, das steil ins Meer abfällt, etwa so, wie wir es nach Kab1 erwarten. Von der Stadt aus war es vor allem zu Schiff zu erreichen, eine in den Fels gehauene Treppe vom Wasser hinauf zur bebauten Fläche ist noch heute deutlich zu erkennen. Ein erster Bau
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s.v. λαός, LfrgrE s.v. λαός 1634–1636 [M. Schmidt]). Die Wortbildung von Πρωτόλαος bleibt leider unklar. Möglich ist eine Deutung als Hypostase zu πρῶτος λαῶν (so Kamptz, Personennamen, 68f [§20c]), oder als verbales Rektionskompositum (VRK), indem das nominale Vorderglied verbal umgedeutet wird; darauf könnte auch der formale Anschluss an die VRK vom Typ τερѱίµβροτος deuten, den die Nebenform Πρωτεσίλαος vollzieht, eine wohl aus metrischen Gründen erfolgte Erweiterung (Hom. Il. 2.698 u.a., Risch, WBhom, 192 [§71]); vgl. jüngere Bildungen wie πρωτόκοσµος = Vorsitzender der κόσµοι , πρωτόχορος = Chorführer u.ä.. Da das thebanische Vasenbild somit anders gedeutet werden muss, fragt man sich, ob allenfalls auch der ἀρχάνѳρωπος bei Hippol. Haer. 5.8.9f einfach ein christliches Interpretament ist. Zur Genealogie der Kabiren auch Beschi 1996–97, 28f und 1998b, 49; gegen diesen muss es nicht unbedingt etwas heissen, dass es in Kab5 nur zwei Kabiren sind. Die Namen, die dort angegeben werden, sind in der Bildung durchsichtige Heldennamen (Alkon = der Wehrkräftige, auch bei Apoll. Rhod. 1.97 mit Schol. ad loc., Eurymedon = der weithin Waltende, als Personennamen bereits mehrfach im frühgriechischen Epos, vgl. Hom. Il. 4.228, 8.114/11.620, Od. 7.58), die gelegentlich für solche Randfiguren benutzt werden und so auch hier erst von diesem Dichter eingesetzt sein können. Merkwürdig ist allerdings, dass in Milet die Einführung des Kabirenkultes an zwei Jünglinge, Onnes und Tottes, geknüpft war (Nikol. Dam. FGrHist 90 F 52). Undurchsichtig bleibt leider deren Verhältnis zu den Meernymphen bei Soph. Phil. 1470 [13 Be.], vgl. Beschi 1998b, 57, und zu den lemnischen Nymphen (Νύµφαι Λήµνιαι), denen Medea nach Schol. Pind. Ol. 13.74g geopfert haben soll, um Korinth von einer Hungersnot zu befreien (vgl. Beschi 1996–97, 29). Besteht allenfalls ein Zusammenhang mit jenen Fassungen der Geschichte vom Verbrechen der Lemnierinnen, wonach auch Medea auf der Insel war (vgl. oben 3.3.3.b)? Zu den Projektionen der älteren Forschung über eine Grosse Muttergöttin (etwa bei Hemberg, Kabiren, 165) vgl. 3.1.5.b. Als Frauennamen gibt es Kabeiro oder Kabiro in Boiotien ab dem 4./3. Jh. (3x); dort befinden wir uns natürlich in der Nähe des thebanischen Kabirenheiligtums, wo von diesen Gottheiten abgeleitete Namen, anders als im übrigen Griechenland, nichts seltenes sind, vgl. LGPN IIIB, 214. Übersichten zu den Ausgrabungen im Kabeirion von Chloi bei EAA 4 (1961) s.v. Lemno 543f [L. Bernabò-Brea] und 2o Suppl. (1995) s.v. Lemno 331f [L. Beschi], Acheilara/ Archontidou, Λήµνος, 39–41 [A. Benvenuti], Beschi 2000.
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scheint um die Mitte des 7. Jh. errichtet worden zu sein, eine einfache, gedeckte Halle von rund 14 auf 6 Metern Grundfläche, das sogenannte Telesterion. Den Innenwänden entlang lief eine steinerne Bankreihe, auf der die Teilnehmer der Mysterienfeier Platz nehmen konnten. Diese Art von Kultbau hat in jener Epoche enge Verwandte im archaischen Heiligtum von Hephaistia und an verschiedenen anderen Orten371. Dieses sich in einen Felsenwinkel duckende archaische Telesterion, das aus der Ferne kaum sehr gut zu sehen gewesen sein dürfte, wurde um 200 durch eine rund viermal so grosse, dreischiffige Basilika mit einer Säulenvorhalle ersetzt, die weiter draussen auf dem Felssporn angelegt, als weithin sichtbares, ragendes Monument gewirkt haben dürfte. Der Prunkbau zeigt allerdings Spuren davon, dass es in der Bauzeit einen Unterbruch gab und er nachher hurtig und unsorgfältig fertiggestellt wurde. Um 200 n. Chr. ist dieses hellenistische Telesterion eingestürzt oder niedergebrannt, und stattdessen wurde – wieder an der Stelle des archaischen Baus – eine neue, wesentlich bescheidenere Halle mit ähnlichem Grundriss errichtet. Im Umfeld dieser Bauten fanden sich reiche Depots von Keramikscherben aus klassischer und archaischer Zeit, die wieder zusammengesetzt eine grosse Zahl von Trinkgefässen ergeben haben. Viele weisen Graffiti auf, die sie als Votivgabe an die Kabiren bezeichnen372 – offenbar spielte das Weintrinken im Kabirenkult eine wichtige Rolle, was zu den bereits bemerkten mythologischen Bezügen zu Dionysos passt. Seit dem 5. Jh. kommen Bruchstücke von Öllampen hinzu, womit sich die Nachricht über die nächtlichen Weihen bestätigt, ferner grosse Platten und Speisegeschirr, die wohl auf die Bedeutung des gemeinsamen Opfermahls auch in diesem Kult hinweisen, und Fragmente von Blasinstrumenten, sogenannten auloi, welche eine gewisse Rolle der Musik im Kult belegen373. Gefunden hat man weiter rund zwei Dutzend Inschriften, mehrheitlich Weihungen und Ehrungen, die von der Mitte des 5. Jh.s v. Chr. bis ins 3. Jh. n. Chr. reichen374. Die Gottheiten des Heiligtums werden darauf genannt, als Kabeiroi375, 371 Vgl. 3.1.4 und Beschi 2000, 77. Beschi 1996–97, 27 leitet aus dem archäologischen Auftauchen des Kabirenkultes im 7. Jh. ab, dieser sei damals durch die Tyrrhener eingeführt worden; doch der Einsatz von Traditionen in der Zeit um 700 ist in der ganzen griechischen Welt eine häufige Erscheinung und man sollte nicht wieder anfangen, wie im 19. Jh. bei jeder gesellschaftlichen Veränderung gleich eine Völkerwanderung zu vermuten. Das Kabirenheiligtum von Lemnos scheint übrigens älter zu sein als die Bauten von Samothrake und ist sicher früher als das Kabeirion von Theben, vgl. EAA 2o Suppl. I (1994) s.v. Cabiri 799f [L. Beschi]. 372 Einzelne solche Kritzeleien datieren noch vor der athenischen Eroberung und sind in tyrrhenischer Sprache verfasst, vgl. Beschi 1996–97, 72–74 [B1–B10 Be.]. 373 Vgl. Beschi, 2000, 77–79 und 2001a, 175f. 374 Ausgabe der Inschriften bei Accame 1941–43; zu Beschi 1996–97 oben n. 347. Im Kabeirion fanden sich auch Inschriften welche die Freilassung von Sklaven bezeugen (vgl. Beschi 1996–97, 46–66 [A25 Be.] und Accame Nrr. 14–16 [A14–16 Be.]). Es war in Griechenland allgemein üblich, Freilassungen in Heiligtümern zu vollziehen oder sie mit einer dort aufgestellten Inschrift publik zu machen, vgl. Calderini, Manomissione, 251–253, 257–265, und zur daraus entwickelten ‚sakralen Form’ der Freilassung NP 4 (1998) s.v. Freilassung 653 [G. Schiemann].
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als Herren376, als Grosse Götter377 oder einfach als Götter378; das Heiligtum selbst heisst ausdrücklich das Kabeirion379. Hinweise auf andere Gottheiten sind in diesen Inschriften nur durch Ergänzung wiederzugewinnen, kaum überraschend finden wir Dionysos darunter, der den Beinamen des spielenden oder scherzenden Gottes trägt380, ausserdem Aphrodite381. Über die zu den Kabiren gehörenden Geschichten erfahren wir aus diesen Inschriften nichts weiteres. Dafür erhalten wir Andeutungen zum Kult, darunter mehrere Hinweise auf Opfer, die sich mit dem Namen eines Festes, den Horaia, verknüpfen382. Besonders wichtig ist ausserdem eine Inschrift, die offenbar einen Brief des makedonischen Königs Philipp V (221–179) an die attischen Siedler auf Lemnos wiedergibt. Der König bekundet darin sein Interesse, sich zum Beweis seiner Frömmigkeit im Kabirenheiligtum weihen zu lassen. Dabei benutzt er Ausdrücke, die klar den Mysteriencharakter des lemnischen Kabirenkultes bezeichnen: Er will kommen, um sich ins Heilige einweihen zu lassen, oder auch um das Heilige bei euch zu sehen – vielleicht ein Hinweis, dass in der Mysterienfeier auch hier geheime heilige Gegenstände gezeigt wurden383. Der Brief ist ausserdem angesichts seiner durchsichtigen politischen Absicht, die Lemnier für den König zu gewinnen, ein bemerkenswertes Zeugnis für die Bedeutung des Kabirenkultes in der Gemeinde und für seine Strahlkraft in der ganzen Region. Man hat wohl zu recht vermutet, dass der prunkvolle hellenistische Neubau des Telesterions mit diesem Interesse des Antigoniden zusammenhing, sei es dass die Athener den Bau für einen bevorstehenden Staatsbesuch errichteten, sei es dass er eine Stiftung des Königs selbst war. Der Unterbruch in der Bautätigkeit könnte dann damit zusammenhängen, dass König Philipp V nach der Niederlage von Kynoskephalai gegen die Römer im Jahr 197 die Kontrolle über die Insel verlor und somit das Geld für die Fertigstellung fehlte384.
375 Accame Nrr. 3.5 [A3 Be.], 5.7 [A5 Be.], beide 3. Jh.; aus unerfindlichen Gründen behauptet NP 6 (1999) s.v. Kabeiroi 124 [F. Graf] trotzdem, dass „auf Lemnos ... der Name nie inschriftlich erscheint“. Die Belege aus dem 3. und. 1. Jh. zeigen auch, dass die Behauptung von Musti 2001, 143–145, jeder Grundlage entbehrt, der Name Kabeiroi habe ‚obszöne’ Assoziationen gehabt, sei deshalb im 4. Jh. unmöglich geworden und in hellenistischer Zeit durch Megaloi Theoi ersetzt worden. 376 ανα[κες]: ergänzt in Suppl.EG 12 (1955) 399 [A22 Be.], 2. Jh. 377 ѳεοι µεγαλοι: Accame Nrr. 11.7f [A11 Be.], 5. Jh., 17.6 [A17 Be.], 1. Jh. 378 ѳεοι: Accame Nr. 10.1 [A10 Be.], 5.Jh., u.a. 379 Καβειριον: Accame Nr. 6.4 [A6 Be.], 1. Jh. 380 Accame Nr. 20.5 [A20 Be.]: παρ]απα[ι]ζο[ντι, 1./2. Jh. n. Chr.; zu dieser Inschrift Follet 1974, 32–34. 381 Accame Nr. 12.3f [A12 Be.]: Αφροδι]|τει Ѳρα[ικιαι], 3. Jh. 382 Accame Nr. 3.5 (3. Jh.): für das Kabirenopfer an den Horaia; Opfer ebenso in Nr.6.7 (1. Jh.), Nr. 19.10 (2. Jh.), der Festname auch Nr. 16.7 (1. Jh.). 383 Suppl.EG 12 (1955) 399 [A22 Be.]): z. 11f ινα ... τ[ο] θ[ε]ιον [µυ]ηθ[ω und z. 7f ιδειν [τα] παρ υµιν ιερα. 384 So Beschi 2000, 81; zum Verhältnis des Projekts zum Ausbau von Samothrake in hellenistischer Zeit vgl. 4.3.4.a.
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Ansonsten entsteht aus unseren Inschriften das typische Bild einer Kultorganisation in der sich die demokratischen Gepflogenheiten einer hellenischen Polis spiegeln: Es gibt eine Versammlung der Geweihten385, die über die Geschäfte entscheidet und Beamte für die Verwaltung von Kult und Gütern bestellt. Die Bezeichnungen dieser Ämter wechseln, und angesichts der langen Zeitspanne, über die sich die Inschriften erstrecken, ist wohl mit gelegentlichen Reorganisationen und Umbenennungen zu rechnen, so dass man besser nicht versuchen sollte, die Namen alle zu einem Bild zusammenzufassen386. Näher an den Kult geraten wir mit dem Amt des Rindereinkäufers387, und natürlich wenn von einem Opfer mit dem Priester und dem Seher im Kabeirion die Rede ist388. Noch mehrdeutiger als die schriftlichen Zeugnisse sind naturgemäss die Reste von Bilddarstellungen, welche die Ausgrabungen im Kabeirion zu Tage gefördert haben389: Aus klassischer und hellenistischer Zeit stammen Skulpturfragmente von den Dioskuren und von Hermes, was vielleicht doch im Zusammenhang damit zu sehen ist, dass diese Gestalten auch auf den nahen Samothrake und Imbros eine wichtige Rolle spielten390; ausserdem scheint es Mädchenfiguren gegeben zu haben, die man gerne mit den kabirischen Nymphen in Beziehung bringen möchte, sowie zwei steinerne Schlangenköpfe. Letzteres erinnert an ähnliches Dekor in einem der archaischen Heiligtümer von Hephaistia, doch ist aus derart isoliertem Material bei der grossen Verbreitung von Schlangenbildern in sakralen Kontexten wohl nicht viel zu machen. Von Hephaistosbildern fehlt im Kabeirion von Chloi bisher jede Spur391. 385 Accame Nr.2.3 [A2 Be.] (4./3. Jh.): εκκλησια [των] τετελεσ[µε]|νω[ν, ebenso Nr. 4.4f [A4 Be.] (3. Jh.); vgl. auch die Gemeinde der Geweihten (του δηµου των τετελεσµενων: Nr. 11.6f [A11 Be.], 4.Jh., vgl. Nr.3.14f [A3 Be.], 3. Jh., vgl. Nr.4.9 [A4 Be.]). Zur Organisation des lemnischen Kultes auch Beschi 1996–97, 32f. 386 Nach Verwaltungsämtern klingen etwa der hieromnemon (Accame Nr. 1.2f [A1 Be.], 5./4. Jh.), der Aufseher der heiligen Güter (τ[αµι]ας των ιερων χρηµατων: Nr. 2.12 [A2 Be.], 4./3. Jh.) oder der kosmetes (Nr. 17.5 [A17 Be.],1. Jh.), alles Titel, die auch aus anderen Städten und Kulten gut belegbar sind. Schwierig zu deuten sind ein paar archäologische Indizien für Veränderungen im Kult, etwa dass Speisegeschirr und Lampenscherben sich erst seit dem 5. Jh. finden (vgl. oben p. 337 mit n. 373) – wurden vor der athenischen Eroberung Fackeln verwendet oder gehen die Neuerungen noch tiefer? 387 βοωνης Accame Nr. 11.2 [A11 Be.], 4. Jh. 388 µε[τ]α του ιερεως και του µαντεως εѳυσαν: Accame Nr. 6.4f [A6 Be.], 1. Jh. 389 Ausführliche Beschreibungen bei Beschi 1998b, 51–57. 390 Vgl. unten 4.3.4, und zu Hermes auf Lemnos oben 3.1.3 und 3.1.5.a. 391 Als Zeugnis für den Kabirenkult wird bisweilen (vgl. Dumézil, Crime, 63, Hemberg, Kabiren, 166f, Burkert, HN 218, Beschi 1998b, 49–51 u.a.) auch die Münzprägung der Stadt Hephaistia gedeutet, auf der seit hellenistischer Zeit Symbole auftauchen, die man mit den Kabiren in Verbindung bringen möchte, etwa Fackeln, Hammer und Zange, Filzkappen (sog. piloi), oder Rebenzweige mit Trauben (Head, HN 262f). Neuere Arbeiten lehnen diese Deutungen ab, vgl. LIMC 8.1 Suppl. (1997) s.v. Megaloi Theoi 823 [D. Vollkommer-Glökler]. Tatsächlich ist das Problem, dass die Kabiren als solche so gut wie keine eigenständige Ikonographie entwickelt haben (auch in der an sich reichen Bilddokumentation des Kabeirions von Theben sind Darstellungen der Gottheiten selbst oft unsicher, vgl. Daumas 1997, 201f,
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Das Bild, das durch eine solche Übersicht entsteht, hat, verglichen mit den Hinweisen, mit denen man üblicherweise den lemnischen Kabirenkult darzustellen versucht, etwas geradezu beunruhigend Nüchternes: kein Wort von ekstatischen Tänzen, archaischem Maskentreiben oder der Initiation von Schmiedebünden – ganz einfach, weil von alledem in den Quellen nichts, aber auch gar nichts steht. Die Hauptschwierigkeit liegt wohl darin, dass die Zeugnisse so bruchstückhaft sind, dass bei einer Zusammenschau, wie immer man sie zu erstellen versucht, die Umrisse des Bildes mehr durch das Vergleichsmaterial bestimmt werden müssen, das man beizieht, als durch das, was man von Lemnos selber wissen kann392. Trotz dieser Gefahr, will ich versuchen, die lemnischen Kabiren mit jenen Überlieferungen zu verbinden, deren Umfeld ich bis dahin ausgemessen habe. Als erstes ist es vielleicht überraschend, wie schwach die Verbindungen zu den Sintiern bleiben: keine einzige antike Quelle bringt die beiden Gruppen in Zusammenhang – was freilich nicht allzuviel heissen muss. Was sie verbindet, ist aber gewiss einmal die gemeinsame Nähe zu Hephaistos393. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass sich die Richtung dieses Bezugs umkehrt: Die Kabiren sind die Kinder des Hephaistos, Hephaistos wird von den Sintiern gepflegt, spielt also ihnen gegenüber selbst eher die Rolle des behüteten Kindes. Ausserdem sind die Sintier durch das Schmiedehandwerk mit dem Gott verbunden, worauf es bei den Kabiren keine direkten Hinweise gibt. Allerdings kann man vielleicht die Bezeichnung als karkinoi, also Krebse, in dieser Richtung deuten (Kab6), denn der
204–206), sondern sich meist an Dionysos, die Dioskuren oder Hephaistos anlehnen, so dass auf sie bezogene Symbolik immer mit guten Gründen auch anders gelesen werden kann (vgl. LIMC 8.1 Suppl. (1997) s.v. Megaloi Theoi 827f [D. Vollkommer-Glökler]). Am häufigsten erscheint als ihr Kennzeichen offenbar der pilos (auch in Theben und auf Delos, vgl. Daumas 1997, 206 und Cabiriaca, 44f), der aber auch zu Hephaistos, den Dioskuren oder Odysseus gehören kann, ohne dass man diese wegen des einen Merkmals einfach alle zu Kabiren machen dürfte – solche Zeichen bedeuten immer nur in einem ganzen Kontext etwas. 392 Gerade das farbige Bild bei Burkert 1970, bes. 9f (auch Burkert, HN 216–218) ist vor allem durch Projektion der Mythen und typologische Vergleiche gewonnen; vorsichtiger und näher am Belegten Burkert, GR 281. Für Fredrich 1906, 77–80 übrigens waren die Kabiren einfach Vegetationsdämonen (ähnlich dann Dumézil, Crime, 63, Delcourt, Héphaistos, 179, Hemberg, Kabiren, 167), wofür sich in den Zeugnissen selbst weniger Anhaltspunkte finden als in der damals verbreiteten Auffassung von archaischer Religion. Die Vorstellung wird seltsamerweise wiederbelebt von Beschi 1998b, 49 und Musti 2001, der dem Kabirenkult einen carattere vitalistico (Musti 2001, 142) zuschreibt, weil die Kabiren seiner Meinung nach ithyphallischen Wesens sind; als einzigen Beleg nennt er Hdt. 2.51.1f (vgl. aber Kallim. Frg. 199 mit Dieg. VIII.33–39, Hippol. Haer. 5.8.9f, Plot. 3.6.19, vielleicht auch Cic. Nat. Deor. 3.(22).56; vgl. Collini 1990, 269–271, Burkert 1993, 181–183), wo allerdings von Samothrake und von Hermes die Rede ist, nicht von lemnischen Kabiren – ganz abgesehen davon, dass die Deutung des Sexuellen in solchen Bildern als Ausdruck von ‚Vitalismus’ wohl ein Missverständnis ist. 393 Zum Verhältnis von Kabiren und Hephaistos auch Delcourt, Héphaistos, 180–183, sowie das interessante ikonographische Zeugnis, das Daumas 2001, 132f beibringt; zu den Kabiren als Schmieden Hemberg, Kabiren, 168f.
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Krebs hat Zangen wie das Schmiedewerkzeug, ja die Zange eines Schmiedes konnte auf Griechisch einfach karkinos genannt werden394. Dichter werden die Bezüge, sobald man nicht mehr Verbindungen zwischen Sintiern und Kabiren sucht, sondern die beiden Motivketten über eine dritte vermittelt, zum Beispiel über die Geschichten von den Telchinen. Auf die Motive, welche diese mit den Sintiern teilt, habe ich schon hingewiesen. Auffallend ist nun, dass sie in anderen Punkten mit den Kabiren zusammenpassen. Die Telchinen haben dem Titanen Kronos die Sichel geschmiedet, während die Kabiren selbst Titanen heissen: Beides verweist diese Gestalten in eine als urtümlich gedachte Zeit vor der Zeit. Auch die Telchinen haben aber später, nicht anders als die Kabiren, in einem gefährlichen Moment der Geschichte ihre Insel verlassen. Und vor allem haben sie gleichfalls eine enge Beziehung zu bestimmten Tieren, ja selber Tiergestalt: als Schlangen und Fische kommen sie daher, oder sie ähneln Gänsen, indem sie Schwimmhäute zwischen den Fingern haben; in jedem Fall werden wir damit in die Nähe des Wassers geführt, wozu ja auch ihre Abstammung passt. Wenn die Kabiren Krebse heissen, so sind wir ebenfalls bei einem Wassertier, und man erinnere sich auch daran, dass ihre Mutter eine Tochter des Meergottes Proteus gewesen sein soll395. Darüber hinaus hat man schon vorgeschlagen, die eigentümliche Fortbewegungsweise der Krebse mit den beschädigten Füssen des Vaters der Kabiren, Hephaistos, in Zusammenhang zu bringen396, doch ist natürlich, solange wir keine zusammenhängenden Geschichten über die Kabiren haben, schwierig zu sagen, welche mit dem Krebs verknüpften Vorstellungen für sie allenfalls noch von Bedeutung waren. Ein letzter Punkt, in dem man Kabiren und Telchinen zu vergleichen pflegt, ist hingegen fragwürdig: Es wird immer wieder behauptet, man habe sie sich wie die Telchinen in Zwergengestalt gedacht397. Man verweist dafür auf eine Stelle bei Herodot, wo dieser ein Heiligtum in Ägypten beschreibt, das vom Perserkönig Kambyses bei der Eroberung des Landes übel zugerichtet wurde398: Das Kultbild des ‚Hephaistos’ ist den phönizischen Pataikoi sehr ähnlich, welche die Phönizier auf dem Bug ihrer Schiffe mit sich führen. Für jene, die sie noch nie gesehen haben, will ich’s erklären: es ist die Darstellung eines Mannes von Zwergengestalt. Und er [der König]
394 So AP 6.92.3 [Philippos], Ath. 10.84 [456d] u.a.; die Verbindung des Kabirennamens mit dem Krebs scheint so eng gewesen zu sein, dass dieses Tier noch im unteritalienischen Griechisch des Mittelalters κάβουρος heissen kann, vgl. Rohlfs, Lexicon, 192. 395 Zu Kabiren und Meer: Hemberg, Kabiren, 169f und Detienne/Vernant, Mètis, 136–138. 396 Zur Fortbewegungsweise Detienne/Vernant, Mètis, 255–258. 397 Energisch verteidigt von Hemberg, Kabiren, 281f, dann auch Graf 1990, 71, Dasen, Dwarfs, 194–196, Daumas 1997, 202; kritisch dagegen schon RE 10 (1917) s.v. Kabeiros und Kabeiroi 1447f [O. Kern]. Dasen, Dwarfs, 195 bringt auch den Bezug zum Krebs mit dieser angeblichen Zwergengestalt der Kabiren zusammen, weil Krebse wie Kleinwüchsige einen überproportionierten Rumpf und kurze, gebogene Beine haben (vgl. wie Aristoph. Pax 781–790 die Söhne des Karkinos u.a. als Zwerge verspottet werden). Eine Darstellung eines Krebses fand man übrigens auch im Kabeirion von Theben, vgl. Dasen, Dwarfs, 195 mit n. 138. Zur angeblichen Zwergengestalt der Telchinen oben 4.3.2. 398 Hdt. 3.37.3 [6 Be.].
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4. Der hinkenden Gott betrat auch das Heiligtum der ‚Kabiren’; ... diese Kultbilder ... sind jenem des ‚Hephaistos’ ähnlich, und man sagt, dass sie seine Kinder seien.
Zunächst ist klar, dass Herodot hier nichts Griechisches beschreibt, sondern die Bilder ägyptischer Götter, vielleicht von Ptah und den Khnumu, denen er griechische Namen gibt, die er gerade passend findet399. Die Analogie, welche seine Wahl der Namen bestimmt, muss allerdings keineswegs in der ähnlichen Gestalt ägyptischer und griechischer Bilder liegen – üblich ist ja etwa auch die Gleichsetzung von Osiris mit Dionysos400, obwohl sich beide rein äusserlich überhaupt nicht gleichen. Liest man nämlich die Herodotstelle als ganzen Zusammenhang, so wird deutlich, dass es auch hier nicht so gemeint ist: Mit den zwergengestaltigen Pataikoi verglichen wird zunächst nur der ägyptische ‚Hephaistos’, und erst in einem zweiten Schritt die ägyptischen ‚Kabiren’ mit diesem letzteren. Für eine Darstellung des Hephaistos als Zwerg fehlt nun aber in der griechischen Ikonographie jeder Beleg401, und so ist nicht einzusehen, warum die Übertragung, die für ihn nicht stimmt, für die nachher mit ihm verglichenen Kabiren zutreffen sollte. Und wenn die griechischen Kabiren zwergengestaltig gewesen wären, warum hätte Herodot dann überhaupt die phönizischen Pataikoi einführen müssen, um klarzumachen, wie der ägyptische ‚Hephaistos’ aussieht? Es ist damit meines Erachtens eindeutig, dass der Geschichtsschreiber, wenn er den ägyptischen Göttern hier griechische Namen gibt, nicht von solchen Bildvorstellungen ausgeht. Das zweite oft angeführte Argument für die Zwergengestalt der Kabiren sind die Vasenbilder, die im Kabirenheiligtum von Theben ausgegraben wurden: Darauf finden sich Szenen aus Mythologie und Alltagsleben, die von grotesken, zwergenhaften Figuren dargestellt werden; auf den mythologischen Bildern erscheinen sie dabei in den Rollen von Odysseus, Kirke, Herakles und anderen. Dass mit ihnen die Kabiren selbst gemeint seien, ist somit höchst unwahrscheinlich402, zumal es Fälle gibt, wo mitten unter den grotesken Kleinmenschen die Gestalt eines würdevollen grossen Symposiasten auftaucht, die an Dionysos erinnert und als Kabiros beschriftet ist403. Die Zwergenkarikaturen sind also primär 399 Vgl. Collini 1990, 247; es ist mir schleierhaft, wie Daumas 1997, 202 (und ebenso Cabiriaca, 25f) aus der Stelle herauslesen kann que les Cabires protègent les marins du péril de la mer et que leur culte est d’origine phénicienne. 400 Vgl. oben 3.4.3. 401 Vgl. LIMC 6.1 (1988) 627–654 s.v. Hephaistos (A. Hermary/A. Jacquemin); der Versuch von Dasen, Dwarfs, 198f, einzelne archaische Vasenbilder entsprechend zu deuten, ist erzwungen und überzeugt nicht. 402 Vgl. die Übersicht über die Themen der figürlich bemalten Kabirenkantharoi bei Braun/ Haevernick, Keramik, 27–29, auch EAA 2o Suppl. I (1994) 801–804 s.v. Cabirici vasi [K. Braun], Daumas, Cabiriaca, 28–30. 403 LIMC 8.1 Suppl. (1997) s.v. Megaloi Theoi 824 (Nrr. 25 und 26) [D. Vollkommer-Glökler]; Daumas 1997, 201f mit Abb. 1, 204 mit Abb. 3, und Daumas, Cabiriaca, 27f, 96–104. Für die Zwergengestalt führt Hemberg, Kabiren, 281 noch Paus. 10.38.7 an, der darüber rätselt, welcher Natur die Anaktes paides (d.h. Herrscher-Kinder) seien, die in Amphissa einen Kult haben, und vermutet, sie seien Dioskuren, Kureten oder Kabiren (aber weder sind Kinder einfach Zwerge, noch ermuntert der Rest dieser – im übrigen rein spekulativen – Reihe zu solcher Gleichsetzung), während Dasen, Dwarfs, 195f noch eine Sanskrit-Etymologie für den
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Ausdruck einer (wiederum dem Dionysoskult nahen) fasnächtlich komischen Stimmung, die im Umkreis der Gottheit herrscht, und lehren nichts über ihre Gestalt404. Von der Vorstellung der Kabiren als Zwerglein ist also Abschied zu nehmen – ganz abgesehen von der Schwierigkeit, sie mit ihrer inschriftlich gut bezeugten Anrede als Grosse Götter zusammenzudenken405. Als letztes müssen wir fragen, ob es Verbindungen zwischen den Kabiren und den anderen Geschichten aus Lemnos gibt. Man wird sich dabei freilich vor jenen in der älteren Forschung gelegentlich anzutreffenden vorschnellen Gleichsetzungen hüten, die Hephaistos oder Philoktet einfach zu einem Kabiren machen406. Ich habe auf die meisten der folgenden Punkte schon im Verlauf der Einzeluntersuchungen hingewiesen und fasse sie hier bloss zusammen. Mit der Philoktetsage zunächst lässt sich wenig anfangen, denn das abgelegene Heiligtum von Chloi wird kaum hinlänglich sein, einen Zusammenhang mit der Absonderung des kranken Philoktet zu begründen, und nur weil Chryse als Nymphe bezeichnet wird, muss sie noch nicht unbedingt mit den Kabirennymphen zu tun haben. Allenfalls über den Krebs lässt sich – wenn auch um sieben Ecken herum – ein weniger allgemeiner Bezug herstellen: ein Krebs war es, der Herakles während dem Kampf mit der Hydra in den Fuss zwickte407, und dass Philoktet gerade auch in seiner Begegnung mit der Schlange bisweilen als kleinerer, geschwächter Herakles erscheint, habe ich schon mehrfach hervorgehoben408. Mit den Frauen von Lemnos verbindet indes schon die antike Überlieferung die Kabiren, wenn sie sagt, dass sie ihretwegen die Insel verlassen haben. Dass die Kabiren als männliche Wesen auf der Fraueninsel nichts mehr zu suchen haben, scheint einleuchtend409, aber sonst bleiben die Bezüge schwach: Aphrodite ist auf den Inschriften im Kabeirion vielleicht erwähnt, und sie ist es zugleich, welche die Frauen von Lemnos bestraft; aber mehr lässt sich daraus wohl nicht machen. Etwas ergiebiger ist der Vergleich im Fall des Hephaistos: wenn im Kult seiner Kinder, der Kabiren, Dionysos und das Weintrinken nachweisbar eine grosse Rolle spielten, so drängt es sich auf, die Parallele zu ziehen zu der Verbindung von Dionysos und
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Namen Kabeiroi angibt, welche diese allenfalls mit einem zwergengestaltigen indischen Gott verbinden würde. Daumas, Cabires, 25 sieht ausserdem bei den Figuren auf den Kabirenvasen caractères négroïdes des visages und sieht darin einen Verweis auf die ‚Fremdheit’ dieser Götter. Zieht man allerdings zum Vergleich etwa komische oder Satyrmasken derselben Epoche bei (was Daumas unterlässt), so zeigt sich, dass die Gesichter eher in einer solchen Tradition des Grotesken stehen; ihre Deutung als négroïde ist wohl ganz einfach eine optische Täuschung, weil es sich um schwarzfigurige Vasen handelt. Zum ‚Komischen’ im Kabirenkult auch Burkert, GR 281f. Auch in Theben seit der Kaiserzeit belegt, vgl. Hemberg, Kabiren, 191, LIMC 8.1 Suppl. (1997) s.v. Megaloi Theoi 821 [D. Vollkommer-Glökler]. Vgl. oben n. 391. Panyas. Frg.6 PEG, Hellanik. FGrHist 4 F 103 = Schol. Plat. Phaid. 89c u.a.; LIMC s.v. Herakles Nrr. 2004, 2015, 2037 [alle erstes Viertel 5. Jh.] Vgl. 2.3.4f. Vgl. Dumézil, Crime, 48, 71 und 75; ob auch Hippon. Frg. 78 die Kabiren mit einer feuerlosen Zeit verband, ist nicht klar, vgl. Burkert, HN 233.
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Hephaistos in der Geschichte von der Rückführung des letzteren auf den Olymp (He2). Die humoristischen Züge dieser Geschichte erinnern aber auch daran, dass Dionysos im Kabeirion als der scherzende Gott eingeführt wird410. Das ist alles in allem nicht sehr viel an Querbezügen, auch wenn es nur der Rest eines einst vielleicht reicheren Zusammenhangs sein mag. Dennoch bestätigt wohl dieser Befund, dass man sich über das Verhältnis der lemnischen Kulte zueinander durchaus Gedanken machte, dass diese aber nicht in einem einzigen grossen Stadtfest zusammenfielen, sondern ihre jeweiligen Anlässe, Zeitpunkte und vielleicht auch unterschiedliche Gruppen von Teilnehmern hatten. Wir gewinnen damit insgesamt drei sichere Punkte im lemnischen Festkalender, auch wenn wir über ihr genaues Datum nichts sagen können: die Grabung der lemnischen Erde, das Feuerfest und eben die Kabirenweihe im Telesterion auf der Klippe vor Hephaistia411. 4.3.4. Die ungleichen Schwestern 4.3.4 a) Samothrake Lemnos gegenüber, von seinen Anhöhen aus bei klarem Wetter gut zu sehen, liegt gegen Nordosten, in einer Richtung, der ich bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe, die Insel Samothrake. Auch auf dieser gab es Mysterien, die mit den Kabiren verbunden werden. Sie waren in späterer Zeit weit berühmter als die lemnischen und haben entsprechend reichere literarische und archäologische Zeugnisse hinterlassen. Trotzdem sind die Vorgänge im Kult und ihr Zusammenhang mit den noch fassbaren mythischen Geschichten nicht viel klarer als auf Lemnos, und so will ich gar nicht erst versuchen, eine umfassende Übersicht über die Traditionen dieser neuen Insel zu geben, sondern beschränke mich darauf, jene einzelnen Punkte hervorzuheben, die für den Vergleich mit Lemnos von besonderem Interesse sind412. 410 Zur Nähe von Kabiren und Dionysos allgemein Burkert, HN 218. 411 Vgl. 4.2.1 und 3.5. 412 Die aufwendigste Quellensammlung ist Lewis/Fraser/Lehmann, Samothrace; ich gebe im Folgenden auch deren Zählung der Zeugnisse und Inschriften an, wobei [1 Sa.] die literarischen Zeugnisse bei Lewis, Samothrace (Volume 1) bezeichnet, [2.1.1 Sa.] die Steininschriften bei Fraser, Samothrace (Volume 2.1), [2.2.1 Sa.] die Graffiti bei Lehmann, Samothrace (Volume 2.2). Von den Untersuchungen zum Kult wichtig Cole, Theoi; neuere Übersichten zum Stand der Diskussion bei Burkert 1993, Mari 2001; zum Heiligtum in römischer Zeit Cole 1989; weiteres bei Collini 1990, LIMC 8.1 Suppl. (1997) s.v. Megaloi Theoi 821f, 824 [D. Vollkommer-Glökler], NP 11 (2001) 27–29 s.v. Samothrake II. Religion [C. Tsochos], Blum 2000, Gočeva 2002; fragwürdig Musti 2001, der Lemnos und Samothrake durcheinanderwirft (vgl. oben 4.3.3); dasselbe Problem in der neueren Auswahl von Zeugnissen bei Scarpi/Rossignoli, Religioni II, 5–99, welche die samothrakischen Mysterien unkritisch mit anderen Kabirenkulten vermengen und in merkwürdiger Verkennung der Verhältnisse in archaischer Zeit mutmassen (vgl. 8), der lemnische Kabirenkult sei von Sa-
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Auf Samothrake hat man verschiedene Sakralbauten ausgegraben, deren Hallen man mit eher zweifelhaftem Erfolg den verschiedenen Riten der Weihe zuzuordnen versuchte. Sicher ist, dass der Kult auch hier bis ins 7. Jh. zurückreicht, doch erst in der zweiten Hälfte des 5. Jh.s scheint ein grösserer Bau errichtet worden zu sein, eine Art Theater, von dem man vermutet, es habe der Versammlung der Festgemeinde gedient. Jene monumentalen Gebäude, deren Ruinen heute das Bild des Heiligtums prägen, wurden sogar erst seit der zweiten Hälfte des 4. Jh.s errichtet, als die makedonische Oberschicht ein besonderes Interesse an diesem Kult zu nehmen begann413. Man gewinnt so den Eindruck, dass bis dahin das lemnische Heiligtum das bedeutendere war und die makedonische Förderung von Samothrake in Konkurrenz zum Kult auf dieser athenischen Insel steht. Wenn im Kabirenheiligtum von Lemnos am Ende des 3. Jh.s ebenfalls Monumentalbauten in bisher ungekannter Grösse errichtet werden, so ist das wohl auch eine Antwort auf den vorangehenden Ausbau von Samothrake. Neben den baulichen Resten stehen literarische Nachrichten und Inschriften, und schon dabei zeigt sich eine Sonderbarkeit, die wir auf Lemnos so nicht getroffen haben: Während unsere literarischen Quellen die Gottheiten von Samothrake immer wieder Kabiren nennen414, verschweigen uns die offiziellen Steininschriften diesen Namen hartnäckig. Wie auf Lemnos ist hier seit hellenistischer Zeit gelegentlich von den Grossen Göttern die Rede415 und auf Keramikkritzeleien findet sich öfter ein Κ- oder Ka-, was man ebensogut auf die Kabeiroi wie auf den schon erwähnten Kadmilos beziehen kann, der im Kult eine Rolle spielte416. Dass das kein Zufall ist, merken wir, wenn wir in den literarischen Texten gelegentlich Anspielungen auf eine Diskussion finden, ob nun die Götter von Samothrake wirklich Kabiren gewesen seien417. Voraussetzung einer solchen
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mothrake aus eingeführt; ich verweise trotzdem im Folgenden auf die Zählung der Textzeugen in dieser handlichen Sammlung als [A1 Scarpi] usw. Das hat sich in Inschriften (IG 12.8.156 [2.1. App. I Sa.] und 227 [2.1.10 Sa.], SEG 29 [1979] 800, SEG 46 [1996] 1185 u.a.), aber auch in verschiedenen Anekdoten bei den Historikern niedergeschlagen (Polyb. 28.21 [104 Sa.], Liv. 44.45–45.6 [vgl. 108–127 Sa.], Plut. Alex. 2.2 [193 Sa. = D6 Scarpi], Philostr. VA 2.43 [209 Sa.], Iust. 24.3.9 [102 Sa.]), vgl. Cole, Theoi, 16–25, Burkert 1993, 179–181, 185, Daumas 1997, 209, EAA 2o Suppl. 1 (1994) s.v. Cabiri 799f [L. Beschi], Mari 2001, 165f, NP 11 (2001) s.v. Samothrake II. Religion, 27 [C. Tsochos], Gočeva 2002, 311f; weiteres unten n. 419. Zuerst bei Hdt. 2.51.2 [5 Be. = 140 Sa. = D2 Scarpi], vgl. Gočeva 2002, 310. 2.1.9–11, 13–15, 18 Sa, vgl. C17 Scarpi [= 2.1.10 Sa.]. Vgl. 2.2.246–248 Sa. Strab. 7 Frg. 50 [162 Sa.], 10.3.20 [= Demetr. Scepsius. Frg. 61 Gaede = 163 Sa. = A14 Scarpi]; Strab. 10.3.7 [22 Be. = 214 Sa. = C18 Scarpi] verweist auf eine Auffassung, die zwischen Lemnos und Samothrake eine enge Verwandtschaft sieht διὰ τὸ τοὺς προπόλους λέγεσѳαι τοὺς αὐτούς (Weil die Diener [der Gottheit] denselben Namen tragen); dabei bleibt unklar, ob mit den πρόπολοι bestimmte Priester oder die Kabiren selbst, als dem Hephaistos untergeordnete Götter, gemeint sind, vgl. Hemberg, Kabiren, 96 n.1; wenig hilfreich die Deutung bei Scarpi/Rossignoli, Religioni II, 436. Zu den Nachrichten über Namen und Identifikation der einzelnen Gottheiten von Samothrake Cole, Theoi, 1–4, Burkert 1993, 186; sie sind für einen Vergleich mit den Verhältnissen auf Lemnos unergiebig; vgl. unten n. 427.
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4. Der hinkenden Gott
Kontroverse dürfte einerseits das Schweigegebot sein, dem sich zu unterwerfen hatte, wer sich in Samothrake weihen liess418, anderseits dass man die Kulte der beiden Inseln als eng zueinander gehörig betrachtete: So ist belegt, dass wer an einem Kult teilnahm, oft auch dem anderen nahestand419. Stellung zu nehmen zur Frage von Gleichheit und Verschiedenheit der jeweils im Mittelpunkt stehenden Götter, war damit eine Art zu sagen, wie man sich das Verhältnis der beiden Nachbarkulte, vielleicht der Inseln überhaupt dachte. Dass es auch auf der Gegenseite Spuren solcher Überlegungen gibt, habe ich schon angedeutet420. Die samothrakischen Mysterien versprachen in erster Linie Schutz in der Seenot421, in Lemnos hingegen erfahren wir nichts über einen Zweck der Weihen. Was den Ablauf des Kultes betrifft, sind die Angaben auf Lemnos wie auf Samothrake derart mager, dass sich kaum etwas über Parallelen sagen lässt. Mindestens ein Punkt ist aber bemerkenswert: Wer in Samothrake war, scheint als Andenken und wohl auch zum Zeichen, dass er unter dem Schutz der Grossen Götter stand, einen eisernen Ring getragen zu haben. Davon sprechen nicht nur die antiken Schriftsteller öfter422, man hat auch bei den Ausgrabungen im Heiligtum solche Ringe gefunden. Zum einen erinnern diese in ihrer Funktion an die wunderbare Erde von Lemnos, in die Hephaistos gefallen ist: Auch sie wird an einem Götterfest gewonnen und gewährt wunderbaren Schutz das ganze Jahr hindurch. Zum andern gehören eiserne Ringe auch zu den häufigen Funden im Kabeirion von Hephaistia – auch dies wohl ein Zeichen dafür, wie nahe sich die Weihen der beiden Inseln standen423. Es ist nicht sehr üblich, die samothrakische Mythologie zu den lemnischen Geschichtenkreisen in Bezug zu setzen. Dennoch gibt es ein paar Entsprechungen, 418 Vgl. Apoll. Rhod. 1.919–921 [229 Sa. = E13 Scarpi], Diod. 3.55.9 [31 Sa. = E8 Scarpi], 5.48.4 [142 Sa.], Val. Fl. 2.433 [229e Sa.], Tert. Apol. 7.6 [224 Sa.]; das ist natürlich in Mysterienkulten sowieso das Übliche, vgl. Cole, Theoi, 32 mit n. 257, Burkert, GR 283. 419 Derselbe Makedonenkönig Philipp V, der sich für die lemnischen Mysterien interessierte, hat auch Samothrake mit Stiftungen bedacht (Suppl.EG 29 [1979] 795). Auf einer späthellenistischen Inschrift aus Rhodos werden die Kultvereine der Samothrakefahrer und der Lemnosfahrer gekoppelt (IG 12.1 Nr.43.15f/18f· Σαµοѳρακιασταν και Ληµνιασταν το κοινον). Nach spätantiker Meinung liess sich auch Pythagoras auf Imbros, Lemnos und Samothrake in die Mysterien einweihen (Iambl. Vita Pyth. 28.151 [28 Be. = 210 Sa.]). 420 Vgl. oben n. 416 und 4.3.3 zu [Kab2b]. 421 Alex. Frg. 183 [238 Sa.], Theophr. Char. 25.2 [227 Sa.], Kallim. Epigr. 47a [228 Sa.]; vgl. die berühmte Anekdote über Diagoras von Melos bei Cic. Nat. Deor. 3.(37).89 [230 Sa.], Diog. Laert. 6.2.59 [231 Sa.]; auch Burkert 1993, 183, Scarpi/Rossignoli, Religioni II, 451, die diesen konkreten Zweck der Weihe gegenüber angeblichen ‚mystischen’ Aspekten unzulässig herunterspielen; weiteres unten p. 349 mit n. 436. 422 Vgl. Lucr. 6.1044 [212 Sa. = C15 Scarpi], Plin. Nat. 33.(6).23 [213 Sa.], Isid. Orig. 19.32.5 [30 Sa.]; zweifelhaft ist der Bezug auf die Ringe bei Et.M. s.v. Μαγνῆτις [20 Sa.]; zur Deutung Cole, Theoi, 30, Burkert 1993, 187, Blum 2000, 29. Die Vorstellung, dass Ringen eine besondere Schutz- oder Heilkraft innewohnt, ist auch sonst verbreitet, vgl. Aristoph. Plut. 883–885, Antiph. Frg. 175, Lukian. Nav. 42f oder auf einer Weihinschrift von Epidauros bei Herzog, Wunderheilungen, Nr. 62.115. 423 Die Ringfunde von Hephaistia bei Beschi 1998b, 52 mit n. 46; zur Sphragis oben 4.2.1.
4.3. Die kleinen Leute
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von denen jede für sich vielleicht nicht sehr aussagekräftig ist, doch in ihrer Gesamtheit auf einen Austausch zwischen den Inseln auch auf dieser Ebene deuten. Nach einer dieser Geschichten soll die Amazonenkönigin Myrina auf einem siegreichen Feldzug in der Ägäis vom Sturm überrascht und nach Gebeten zur Mutter der Götter an einer unbewohnten Insel angetrieben worden sein424. Einem Traumgesicht gehorsam, gründete sie der Gottheit einen Altar, weihte ihr die Insel und gab dieser den Namen Samothrake. Nachdem die Amazonen abgereist waren, besiedelte die Göttin die Insel mit den Korybanten, mit denen man die samothrakischen Kabiren gelegentlich gleichsetzte, und richtete die Mysterien ein425. Wie Lemnos in der Geschichte von Hypsipyle wird also Samothrake eine Zeit lang von männerlosen Frauen beherrscht, die dann von Männern abgelöst werden. Insofern sie zu Schiff ankommen, übernehmen die Amazonen jedoch selber die Rolle der Argonauten426, und dann vernachlässigen sie nicht den Kult einer Göttin, sondern sie richten, auf himmlische Zeichen achtend, einen neuen ein: ein Muster an Frömmigkeit, das vielleicht absichtlich, als polemisches Gegenbild zu den Freveln bei den grausamen Schwestern auf der Insel nebenan gemeint ist. Die Hauptlinie der samothrakischen Mythologie verfolgt das Schicksal der Tochter des Atlas, Elektra, und der drei Kinder, die sie dem Zeus gebiert427. Die Grundzüge dieser Erzählung begegnen uns zuerst in der nachhesiodeischen Katalogdichtung428, und weil sie in die Troiasage und damit in die römische Ur424 Diod. 3.55.8f [31 Sa. = E8 Scarpi]; man hat im Motiv der Altargründung nach Rettung aus Seenot auch eine Anspielung auf die aus Stürmen rettenden Mysterien gesehen und die Geschichte mit der (bei Diod. 5.37.5 erzählten) Errichtung von Altären durch die Ureinwohner der Insel nach der Rettung aus der samothrakischen Sintflut verglichen, vgl. Cole, Theoi, 6 mit n. 49. 425 Vgl. Strab. 10.3.19 [163 Sa. = A14 Scarpi]. 426 Zu erinnern ist daran, dass bei den Danaiden die Ankunft im Schiff ebenfalls an die Frauen geknüpft ist, vgl. 3.4.5f. 427 Die bisherigen Deutungsversuche dieser Mythen führen leider nicht sehr weit: Prinz, Gründungsmythen, 189–193 versuchte zu zeigen, dass alle Gestalten ursprünglich von woanders stammen und erst sekundär nach Samothrake übertragen wurden; beunruhigend ist dabei leider die Willkür, mit der argumentiert wird (Elektra soll etwa zur Atlastochter geworden sein, weil Kalypso, die Hom. Od. 5.125–129 eine der Geschichten über Iasion erzählt, bei Hom Od. 1.52 als Tochter des Atlas bezeichnet wird u.ä.). Cole, Theoi, 3f sieht in der samothrakischen Heroenmythologie eine Spiegelung der Göttergruppe der Mysterien, für die ein berühmtes Zeugnis ebenfalls vier Namen bietet (Axieros, Axiokersa, Axiokersos und Kasmilos: Mnaseas Frg. 17 Cappelletto = 27 Müller (FHG III 154) = Schol. Apoll. Rhod. 1.916–18b [150 Sa. = A12 Scarpi], auch Et.M. s.v. Κάβειροι [150d Sa.]; vgl. den Kommentar bei Cappelletto, Mnasea, 191–197), doch sind die wenigen Angaben über diese Gestalten zu widersprüchlich, um einen vergleichbaren Zusammenhang erkennen zu lassen. Burkert 1993, 179f sieht in den Geschichten eine Selbstdarstellung des Kultzentrums, weil die Insel als Begegnungsort von Göttern und Menschen erscheint – es dürfte schwierig sein, einen mythischen Ort zu finden, auf welchen diese Beschreibung nicht zutrifft. Weiteres zu diesen Überlieferungen bei Burkert, GR 284, Caduff, Sintflutsagen, 133f, Enc.Virg. 1 (1984) 998–1000 s.v. Dardano [D. Musti], 2 (1985) 195f s.v. Elettra [M. Scarsi], 886 s.v. Iasio [R. Rocca], NP 11 (2001) s.v. Samothrake II. Religion, 28 [C. Tsochos]. 428 Hes. Frg. 177, vgl. 170 Sa.
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4. Der hinkenden Gott
sprungsgeschichte mündet, hat sie sich in eine Vielzahl von Varianten entfaltet, die wir vor allem in Notizen der Historiker und Kommentarschreiber fassen. Dass sie spätestens seit hellenistischer Zeit auch Gegenstand selbständiger Dichtungen geworden war, ist bezeugt429. Von den drei Kindern der Elektra schlägt Harmonia über ihre Heirat mit Kadmos den Bogen zu den Anfängen von Theben430, während Dardanos auf das kleinasiatische Festland hinübergeht und zum Ahnherrn der Troianer wird431. Der andere Sohn Eetion trägt in der jüngeren Überlieferung den Namen Iasion432, woraus man öfter einen Bezug zu Iason hat ableiten wollen, der mit der Argo auf dem benachbarten Lemnos gelandet ist433. Leider führen solche Namensanklänge auch hier in die Irre: Erstens werden Namen wie Iasos/Iasios/ Iasion in einer ganzen Reihe von mythischen Geschichten immer wieder für verschiedene Gestalten eingesetzt434, zweitens erweist sich bei genauerer Betrachtung, dass für das griechische Sprachgefühl nicht alle diese Namen so eng zusammengehören, wie uns das moderne Schriftbild vorspiegelt. Vor allem Iason und Iasion haben offenkundig nichts miteinander zu tun435. Die scheinbare Analogie hat vor allem deswegen 429 Vgl. die Ehreninschrift für einen Dichter Herodes von Priene, der ein Epos über Dardanos, Aetion, Kadmos und Harmonia geschrieben hatte bei Hiller, Priene, 66f (Nr. 69.3–8). 430 Diod. 5.48.5 [32 Sa. = A8 Scarpi], Schol. Apoll. Rhod. 1.916–18a [70a Sa.] u.a. 431 Hes. Frg. 177, Il. Pers. Frg. 1 PEG = Dion. Hal. 1.68.2 [168 Sa. = A9 Scarpi] u.a. 432 Als erster Beleg für den Namen wird meist Hellanik. FGrHist 4 F 23 genannt; die betreffende Stelle stammt aber aus Schol. Apoll. Rhod. 1.916 und ist bloss Paraphrase, wobei die Einführung des Namens Iasion mit der Wendung „Eetion, den man auch Iasion nennt“ sehr nach einem erklärenden Zusatz des Kommentators klingt. Die älteste Stelle mit dem Namen, die wie Originalwortlaut wirkt, ist wohl im 3. Jh. bei dem Periegeten Mnaseas von Patara, Frg. 41 Cappelletto [= 28 Müller (FHG III.154) = Steph. Byz. s.v. ∆άρδανος = 65 Sa.], einem Autor, der auch sonst in Sachen Samothrake mit der Kenntnis ausgefallener Namen glänzt, vgl. oben n. 427. 433 Vgl. etwa Burkert HN, 217. 434 Verschiedene Figuren sind a) Iasos, König von Argos, Vater der Io: Apollod. 2.1.3, vgl. Paus. 2.16.1, Schol. Eur. Or. 932; b) Iasos/Iasios, Vater der Atalante: Theogn. 1288, Apollod. 3.9.2, Kallim. Artem. 216; c) Iasos, Führer der Athener vor Troia Hom. Il. 15.332/337f; d) Iasos (v.l. Iasios) als einer der Idaioi Daktyloi bei Paus. 5.7.6. Eine Reihe von epischen Helden trägt das Patronym Iasides (Sohn des Iasos/Iasios), nämlich Amphion von Orchomenos (Hom. Od. 11.283f), Dmetor von Kypros (Hom. Od. 17.443f), Chairesilaos (Hes. Frg. 251a11), Iapyx (Verg. Aen. 12.391f), Palinurus (Verg. Aen. 5.843). Als wirklicher Personennamen ist Iasos nach LGPN nur einmal belegt (Athen, um 400). 435 Dass die Endungen der Gruppe Iasos/Iasios/Iasion Varianten sind, die in den Quellen oft bei derselben Gestalt durcheinandergehen, hat schon Usener, Götternamen, 18 zu Recht betont; vgl. LFE s.v. Ἴασος. Schwieriger ist, dass die anhand der Prosodie des frühgriechischen Epos überprüfbare Phonologie der ersten beiden Vokale die Namen in zwei Gruppen scheidet: solche mit |–∪| wie Ἰασίων/ Ἴασος und davon abgeleitet Ἰασίδης (vgl. die Belege oben n. 434), denen konsequent |∪–| gemessenes ᾿Ιήσων (Hom. Il. 7.469, 21.41, Od. 12.72) mit der Ableitung ᾿Ιησονίδης gegenübersteht (Hom. Il. 7.468/471, 23.747). Dazu kommen mykenische Formen: Iwasjoi (i-wa-so: PY An 519.8 u.ö., vgl. PY Cn 655.6) und davon abgeleitet Iwasiotai (i-wa-si-jo-ta: PY Cn 3.5, vgl. Leukart, Nomina, 186 [§ 127a]), beide zur Bezeichnung einer bestimmten Art von Truppen. Die vorgeschlagenen Herleitungen sind unterschiedlich: bemerkenswert etwa der ingeniöse Vorschlag von Risch 1958, 49 [421], es analog zu Hippa-
4.3. Die kleinen Leute
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Aufmerksamkeit gefunden, weil es eine Überlieferung gibt, nach der sich die Argonauten auf Samothrake weihen liessen. Diese findet sich zuerst bei Apollonios von Rhodos, also im 3. Jh. und nach dem grossen Ausbau des Kultes durch die Makedonen; sie scheint sich auch, anders als die lemnische Landung der Kolchisfahrer, nicht zu einer richtigen Geschichte entwickelt zu haben. Dass sie sekundär ist, ein Versuch, das aufstrebende Heiligtum in dieselben alten Geschichten einzubauen wie das altberühmte bei den Nachbarn, ist ein nicht sehr fern liegender Gedanke436. Näher zu den lemnischen Geschichten kommen wir mit jenen Überlieferungen, welche die mythische Familie von Samothrake mit einem Himmelssturz in Verbindung bringen, jenem des Palladions von Troia437. Dieses wunderbare Bild der Athene, garantierte seinem Besitzer die Herrschaft über die Stadt, weil es nach der bekanntesten Geschichte bei ihrer Gründung für Ilos vom Himmel gefallen sein soll, nachdem er zu Zeus gebetet hatte. Über die Vorgeschichte dieses Bildes erzählt unsere Hauptquelle dann weiter438, dass Athene es zur Erinnerung an ihre Gefährtin Pallas gemacht hat, die sie aus Versehen beim Spielen tötete, später aber:
sos (Besitzer vieler ἵπποι (Pferde) = Reiter) zu deuten als Besitzer vieler iwoi (ἰοί = Pfeile), also als Bogenschütze; meist wird allerdings eine Ableitung von einem Ortsnamen Iwasos angenommen, von dem sich wahrscheinlich in der singulären epischen Fügung Ἴασον Ἄργος (Hom. Od. 18.246, nach dem Zusammenhang der Stelle so etwas wie das ganze Land der Argeier) eine Erinnerung bewahrt hat, vgl. Leukart, Nomina, 163 (§ 115b). Damit scheint es gut möglich, dass der Ortsname oder die Bezeichnung der Kriegergruppe Iwas joi später den Namen Iasos zur Bezeichnung epischer Helden geliefert hat. Ein Problem für sich wäre in dem Fall der Name des Argonauten Iason: Ob für diesen die vermutete Ableitung von ἰάοµαι (heilen) tragfähig ist, die schon Usener, Götternamen, 156–158 mit wie üblich scharfsinnigen mythologischen Argumenten zu untermauern versuchte (vgl. Mackie 2001), muss offenbleiben, vgl. García-Ramón 1986, 499 mit n. 10, Braswell, Commentary, 370 (zu Pind. Pyth. 4.270b); sie würde ihn von den Namen der Gruppe Iwasos/Iasos trennen: Die Etymologie von ἰάοµαι ist umstritten; einer der plausibleren Vorschläge verweist auf ἰαίνω, (