Ein Hülferuf aus Sachsen [Reprint 2022 ed.]
 9783112687987

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Ein

Hülferuf aus Sachsen.

Mit unsrer Macht ist nichts gethan, Wir sind gar bald verloren.

Berlin.

Druck und Verlag von Georg Reimer.

1866.

I. Die schleSwig-holsteinsche Frage, die nach einem Jahrzehnte lan­ gen Kampfe ihrer nationalen Lösung entgegengeht, ist für alle politisch denkenden und strebenden Deutschen die Quelle ernster Erfahrungen, die Schule politischer Arbeit gewesen; sie hat die Lehre vor Augen ge­ führt, daß das Volk die Bedeutung eines Ereignisses, wie der Tod Friedrich's VH. von Dänemark war, richtig erkennen, in der Ausnutzung des Ereignisses aber einen schweren Irrthum begehen kann. Jedermann weiß den Irrthum, nicht wenige haben den Mannesmuth offen zu ge­ stehen: wir haben geirrt; wir selbst gesellen uns gern in ihre Reihen. Auch im politischen Leben wird die Wahrheit ohne Ueberwindung des Irrthums nicht gefunden. Je schwerer der politische Irrthum eines Volkes wiegt, desto noth­ wendiger ist es, die aus ihm gezogene Lehre treu und gewissenhaft zu nutzen, Fehler, die einmal gemacht wurden, bei dem nächsten Anlaß zu meiden. Das gebietet ebenso die Pflicht gegen die Gesammtheit wie die Pflicht gegen den Theil des Volks, welcher unter der falschen Einsicht zu leiden, von der rechten zu gewinnen hat. Ehre und Vortheil bedingen dieses Verhalten in gleichem Grade. Das Wiederauftreten der sächsischen Frage, die 1815 umgangen, nicht erledigt wurde, giebt unerwartet rasch dem deutschen Volke Gele­ genheit an der Entscheidung mitzuarbeiten, die in der schleswig-holsteinschen Frage ohne seine Mitwirkung herbeigeführt werden mußte. Wieder bewegt sich der Kampf der entgegenstehenden Meinungen und Interessen um die Alternative, ob das Land nach Maßgabe der Februarbedin­ gungen dem norddeutschen Bundesstaate angeschlossen oder mit Preußen vereinigt werden soll; wieder sammelt der Partikularismus seine Ge­ treuen und sucht durch Eifern gegen einzelne Bedingungen die gestellte *

4 Alternative selbst vergessen zu machen; wieder ist für das deutsche Volk der Augenblick gekommen, um entscheidenden Antheil an der richtigen Lösung einer nationalen Frage zu nehmen. Und wo ist das Volk, das in der schleswig-holsteinischen Frage

mit jugendlicher Begeisterung

seine Stimme erhob?

mühen wir uns diese Stimme zu hören.

Vergebens be­

Das Volk schweigt, wo es

laut sprechen, wo es mit äußerster Energie die Anerkennung des Rechts

zu bestehen, zu athmen, sich zu einigen durchsetzen sollte. Wäre das Schweigen ein absichtliches, lebte im deutschen Volke nicht das Bewußtsein von der Bedeutung der sächsischen Frage, dann

bedürfte

es

statt

dieser Worte nur

der stillen Ergebung,

Sachsen seit Jahrzehnten geübt haben.

die

wir

Allein dies Schweigen kann

kein absichtliches sein, ist kein absichtliches und deshalb erheben wir den Hülferuf, der von Schleswig-Holstein und Kurhessen nicht ver­ gebens erging, deshalb führen wir hier vor, warum das deutsche Volk die Lösung der sächsischen Frage fordern kann und fordern muß, welche in Sachsen eine mit jedem Tage wachsende Parthei fordert — die Ver­

einigung des Landes mit Preußen.

II.

Werfen wir eineu Blick in die Vergangenheit Sachsens, um die

jetzige Lage der Dinge zu verstehen Die Geschichte Sachsens ist die Geschichte des deutschen PartikulariSmus, die Geschichte seiner Siege und Niederlagen, seiner Vorzüge

und Fehler.

Kein

deutsches Land weist

dies in

gleich sprechender

Weise auf.

Durch die Lage seines Gebiets, durch den Fleiß und die Betrieb­ samkeit seiner Bewohner, durch die Politik seiner ersten Fürsten nahm

Kursachsen unter den deutschen Territorien die erste Stelle ein, und war berufen für Deutschland die Mission zu erfüllen, welche Branden­

burg zu Nutzen und Frommen der Nation erfüllt hat.

Die Gelegenheit zur Entfaltung

einer thatkräftigen, nationalen

Politik bot sich mit der Reformation, dem unvergänglichen Glanzpunkte der sächsischen Geschichte.

Hätte ein Heinrich VIII. von England den

Kurhut Sachsens getragen, die deutsche religiöse Bewegung hätte viel-

5 leicht einen ähnlichen politischen Charakter erhalten wie die englische, aber für die Nation und

gewinnen gewesen.

ihre staatliche

Einigung

wäre Großes zu

Die Gelegenheit ging ungenutzt voriiber.

Kurfürst

Moritz suchte vergeblich wieder zu erringen, was seine Borgänger von

der Hand gewiesen hatten.

Der Niedergang

der sächsischen Politik

begann.

Der 30jährige Krieg brachte dem Lande mit der Lausitz noch eine

Gebietserweiterung, aber begründete auch jene Hinneigung zu den Gegnern der nationalen Einigung, die so ernste Folgen haben sollte. Mit dem Aufstreben Brandenburgs entwickelte sich die Eifersucht gegen das Heranwachsen des

nördlichen Nachbars.

Während dieser

die Grundlage seiner Macht durch kluge Erweiterung der Stammlande und

sorgsame Förderung der Volkswohlfahrt legte und mit Unter­

werfung der Schweden den ersten nationalen Lorbeer erwarb, richtete

Kursachsen sein Augenmerk auf die polnische Königskrone und leitete damit die Epoche ein,

niemand verkennt.

deren unseligen Einfluß auf das Land heute

Der Religionswechsel der fürstlichen Familie wurde

nicht bloß zu einem Bruch mit der überlieferten Politik, sondern zu

einem Gegenstände unablässigen Mißtrauens für das Volk, das seine heiligsten Gefühle bedroht und gefährdet sah.

Das Interesse Polens

verwickelte das Land in einen europäischen Krieg, der schwere Opfer kostete und keinen Gewinn brachte. welche zur Verherrlichung

Die ungeheure Verschwendung,

der königlichen Ehren

einriß, zehrte am

Marke der Volkskraft und entzog dem Staate die Mittel, die zu der­

selben Zeit König Friedrich Wilhelm I. von Preußen mit geschichtlich gewordener Sparsamkeit aufsammelte, ein werthvolles Capital in der

Hand seines großen Erben.

Die Kriege Friedrich's des Großen setzten zum ersten Male den

sächsischen Antagonismus gegen Preußen in Action und führten zu der er­ sten großen Niederlage in dem Widerstreite gegen das Emporwachsen des

stärkeren festeren Nachbars.

det.

Die Uebermacht Preußens wurde begrün­

Aufgabe der sächsischen Politik wäre es nun gewesen, durch rück­

haltlosen Anschluß an den unüberwindlich gewordenen Gegner der Macht

der Thatsachen sich zu unterwerfen.

6 Mein der zweite große Aufschwung, welchen Preußen in den Be­ freiungskriegen nahm, fand Sachsen wieder auf der Seite deS Gegners

und Erzfeindes der Nation und die zweite Niederlage wäre die letzte geworden, wenn rein deutsche Interessen die Entscheidung mitbewirkt hätten.

Das Land büßte die Folgen der falschen Politik mit einer Thei­

lung, die dem neugekräftigten Nachbar die Hälfte des Gebiets zuführte und

dem

mit

der Königskrone belasteten

Staate bloß die ärmere

Hälfte ließ. Die Periode, welche nun begann, war gesegnet durch die Wohl­

thaten des Friedens, aber sie verführte auch wieder dazu sich mit dem

äußerlich ebenbürtigen nun frisch gehaßten Nachbar zu messen. derstrebend wurde der Zollverein eingegangen.

Nur wi­

Der politische Rück­

halt wurde wieder da gesucht, wo ihn das Volksinteresse nicht fand, und in

unsern Tagen

kam der Antagonismus gegen Preußen zum

dritten Male zu gewaltsamem Ausbruch, um zum dritten Male unglück­

lich zu enden.

Das ist die Lage Sachsens im Zusammenhangs der geschichtlichen

Ereignisse. Soll das

dreimal verlorene Spiel zum Schaden Sachsens und

Deutschlands sich immer und immer wiederholen?

III. Die Entstehungsgeschichte des Prager Friedensartikels über Sach­ sen*) ist noch nicht aufgeklärt.

Der Einfluß Frankreichs, die Für­

sprache Oestreichs für oen treuen Bundesgenossen sollen die sogenannte

Integrität des Landes zu Wege gebracht haben.

Graf Bismarck hat

dem Abgeordnetenhause eine etwas andere Erklärung gegeben, indem *)

„Auf den Wunsch Sr. Majestät des Kaisers von Oesterreich erklärt Sr. Ma­

jestät der König von Preußen sich bereit, bei den bevorsiehenden Veränderungen in

Deutschland den gegenwärtigen Teritorialbestand des Königreichs Sachsens in seinem bisherigen Umfange bestehen zu lassen, indem er sich dagegen vorbehält, den Beitrag

Sachsens zu den Kriegskosten und die künftige Stellung des Königreichs Sachsen innerhalb des norddeutschen Bundes durch einen mit Sr. Majestät dem Könige von Sachsen abzuschließenden besonderen Friedensvertrag näher zu regeln."

7 er bemerkte, daß man bei Erwägung

der Annexionsfrage in

Folge

früherer ungünstiger Erfahrungen von Gebietstheilungen abgesehen habe. Halten wir uns an die Thatsache, so ist die Integrität des Landes

Was bedeutet diese Integrität? Der Frie­

von Preußen zugestanden.

densvertrag bedient sich der Wendung „Bestehen lassen des gegenwärti­

gen Territorialbestands des Königreichs in seinem bisherigen Umfange", also Zusammenhalten der 272 Geviertmeilen und der darauf lebenden

23 Hunderttausend Seelen.

Alles übrige bleibt der Vereinbarung mit

der Majestät von Sachsen vorbehalten, mit andern Worten — dem guten Willen und der Gnade Preußens.

In der That, die Partikularisten sind

genügsam geworden, die in diesem Zugeständnisse Preußens das finden,

was sie suchen und erstreben, die in

dieser Nachgiebigkeit Preußens

den Triumph östreichisch-mittelstaatlicher Politik erblicken!

Sie hätten

Recht, wenn der Tag von Olmütz nicht hinter uns läge, wenn Erfahrun­

gen wie die von 1848 uns erst bevorstünden. das

andere

ist der Fall — was

Aber nicht das eine noch

bedeutet also die Integrität des

Landes?

Wenn man einem Menschen die Füße festbindet und sagt: du darfst nur das thun, was ich will, dann läßt man ihm freilich das Leben,

aber man unterwirft ihn einem Drucke, der an dem Leben zehrt und ein schlimmerer Tod ist als der augenblicklich tödtende.

Der Mensch

bleibt Mensch, er hat seine Integrität; aber jeder wird mitleidig auf

ihn

blicken

und

sagen:

Armer Mann! Lieber todt als solch ein

Schicksal!

Und das ist Sachsens Loos, das man bejubelt und preist, das die Parthei der Partikularisten dem sofortigen Aufgehen in dem preußisch-deut­ schen Staate vorzieht! Das ist der Lohn, mit dem Oestreich treue Bundes­

genossenschaft, die unzähligen Opfer an Gut und Blut lohnte! Es ist Wahrung der Integrität des Landes statt Wahrung der Integrität des

Staates, es ist Preisgeben der Interessen des Volkes für Erhaltung

der dynastischen Interessen.

Jede Unterordnung ist besser als dieser

Anschluß, so muß der unbefangene Beurtheiler, die Einverleibung ist

gegen diese Scheinselbständigkeit ein Glück, so muß der Sachse sagen. Und warum diese Pseudointegrität des Landes?

Warum diese

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Schonung, da die Politik Sachsens gefährlicher als die jedes ande­ ren deutschen Staates war? Manche schreiben sie dem Einflüsse Frankreichs zu. Die Hin­ neigung zu diesem Lande, an welches sich für Sachsen die trau­ rigsten und unheilvollsten Erinnerungen knüpfen, soll also neu belebt, das Gespenst des Rheinbundes wieder heraufbeschworen, der Einfluß Frankreichs im Herzen Deutschlands erhalten werden! Denn die Gerüchte, über die Wunderthaten der Rothhosen, welche in die niedern Kreise des sächsischen Volks geworfen werden, zeigen, wie man noch immer dem napoleonischen Zauber vertraut, wie die Sympathie für den Fremden noch immer ein bedeutender Factor in gewissen politischen Berechnun­ gen ist. Und entäußert man sich der nationalen Empfindung, wiegt man sich in dem Gefühle einer sächsischen Nationalität, träumt man sächsische Großmachtsträume, dann ist der Blick nach Westen, da die Combinationen im Osten durch die politische Entwicklung unmöglich ge­ worden sind, ebenso natürlich wie richtig. Als Rheinbundspolitik ist die Anlehnung an Frankreich vollkommen korrekt. Aber die Tage der Rheinbundspolitik sind zum Segen für Sach­ sen und Deutschland vorbei. Was man früher rechtfertigen und ver­ herrlichen konnte, ist jetzt fluch- und verdammungswürdig, was früher ein Gebot der Selbsterhaltung schien, ist jetzt ein Verbrechen gegen die endlich zu ihren Rechten kommende Nation. Deutschland befreit sich in unsern Tagen von der Oberherrschaft des Auslandes, es bestimmt seine Geschicke selbst und verlangt Einfügung der Theile in das Ganze. Das Recht der Nichtintervention, das gegen Italien zur Anwen­ dung kam, dieses völkerrechtliche Evangelium der Neuzeit gilt auch für uns Deutsche, es stellt unsere Einigungsbestrebungen unter den Schutz einer von Europa sanctionirten Idee. Und Frankreich, das dieser Idee im nordamerikanischen Bürgerkriege gerecht wurde, folgt ihr wenngleich mit Widerstreben auch gegenüber Deutschland. Der Staats­ mann an der Seine, unter dessen Leitung sich Europa erneuert, würdigt das Recht unserer von ihm so wohl verstandenen Nation und bestrebt sich sein Volk von jener Krankheit des „Rheinatismus" zu heilen, die das Wohlsein Europas gefährdet.

9 Frankreich kann gute Wünsche für ein Land hegen, dessen Söhne

in seinem Dienste kämpften und fielen, es kann dabei aber nicht in

Widerspruch treten mit der von ihm noch jetzt feierlich verkündeten Politik. IV. Oestreich hat die Integrität Sachsens nach dem Wortlaute des

Prager Friedens gewünscht.

Oestreich ist der unmittelbare Urheber des

Zustands, welchem das Land entgegen gehen soll.

Es ist hier nicht der Ort, Abrechnung mit Oestreich zu halten.

Mag man die Wendung der Dinge noch so sehr willkommen heißen, mag man die neue fürchterliche Niederlage des Kaiserstaats als ein Glück

für Deutschland und Europa erkennen, das menschliche Mitgefühl muß sich bei dem Anblicke regen, welchen das heutige Oestreich der Welt bietet.

Wir können nicht vergessen,

daß

in diesem unberechenbaren Umbil-

dnngsprozesse deutsche Stämme leiden,

daß ein

kostbarer Theil von

Deutschland getrennt und der befruchtenden Einwirkungen verlustig ist,

welche die Neubildung des deutschen Staats auf die übrigen Stämme ausüben wird. Das Mitgefühl mit dem Lande und unsern Landsleuten darf aber

nicht hindern, hier daran zu erinnern, daß die Politik Oestreichs das

Unglück Sachsens und Deutschlands war, daß Oestreichs Wünsche und die Wünsche der Nation sich stets gegenüberstanden.

Die Integrität mag manchen als der Freundschaftsdienst erscheinen, welchen Oestreich dem einzigen treuen Bundesgenossen leistet: ist sie nicht noch etwas anderes? Behält Oestreich nicht wieder die Hand im deutschen Norden?

Gewinnt es nicht im neuen Bunde eine Stimme, die

dem Lebensretter die Schuld der Dankbarkeit abtragen wird? Giebt es nicht vielleicht bloß die Abschlagszahlung einer Summe, die einmal auf

Kosten des preußisch-deutschen Staats gezahlt werden soll?

Und wäre die Integrität das nicht in den Augen Oestreichs, wäre sie das Erste und Letzte, was Oestreich für Sachsen thun konnte

und thun wollte,

wird sie in den Augen derer, die in ihr gegen­

wärtig einen Triumph der Staatskunst über Preußen erblicken, nicht etwas anderes sein? Wird man nicht wieder die alten Wege gehen und

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den Stützpunkt seiner Interessen wieder da suchen, wo man ihn seither suchte? Sind die Erfahrungen der letzten Monate groß genug gewesen,

um auch die nun sehend zu machen, die bis jetzt nicht sehen wollten? Die Gefahren,

welche die Integrität Sachsens um Oestreichs

willen in sich schließt, liegen zu Tage und mahnen, den neuen Zu­ stand der Dinge vor einem Schaden zu bewahren, der jede kräftige Entwicklung gefährdet.

verkannt und man

Diese Gefahren werden ohne Zweifel nicht

hätte sie, wenn nicht die Besorgniß vor den Übeln Folgen einer Gebiets­ theilung gewesen wäre, durch eine Verminderung der materiellen Be­ deutung Sachsens gewiß abzuschwächen gewünscht.

Allein man glaubte

nicht das Ganze nehmen zu können, weil die Machterweiterung Preußens

vor allem in anderer Richtung geboten war, man glaubte durch die neuge­

schaffene politische Constellation den Einfluß Sachsens aufgehoben oder neutralisirt zu sehen und wählte das kleiner scheinende Uebel, die soge­ nannte Integrität, die staatliche Mediatisirung des Landes.

Mit Achselzucken sieht man, wir sind es überzeugt, auf das, was ein Experiment genannt worden ist, und betrachtet mit skeptischer Ruhe

den Ausgang der staatsrechtlichen Procedur, die neu und pikant zugleich ist.

Und die Procedur ist das nicht weniger für das Land, welches

von ihr betroffen werden soll; aber freilich wie anders neu und pikant! Sachsen weiß, was ein Experiment bedeuten will.

1815 experimentirte

man an ihm die Gebietstheilung und gesteht 1866, daß das Experiment mißlungen fei.

Ist es mit dem einen nicht genug?

Soll Sachsen

immer der Experimentirfrosch sein?

Man weist

auf

Oberhessen als den Genossen des Uebels und

es ist wahr, daß das Schicksal der darmstädtischen Provinz viel Aehnlichkeit, sogar eine Aehnlichkeit zum Schlimmeren hat.

Das Ländchen

bleibt bei dem Hauptlande, es behält seinen Fürsten und seine staat­ liche Selbständigkeit, aber es tritt in den norddeutschen Bund, wäh­

rend das Hauptland außer demselben stehen muß.

Der Zustand ist

schlimmer als der Sachsens, weil das Ländchen zwischen Berlin und Darmstadt hin und hergezogen wird.

Vergleich ziehen?

Will man aber im Ernste den

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Hier eine einzelne Provinz, welche unter den Provinzen Deutsch­ lands höchstens auf der Mittelstufe steht, gleichsam nur das Pfand in der Hand Preußens, um Darmstadts Zusammengehen mit dem nord­ deutschen Bunde zu sichern, und dort ein ganzes Land von hervorragen­ der Wichtigkeit, ein Staat, welchen die königlichen Ehren schmücken, ein Volk, welches seinem Fleiße und seinen Gaben eine Entwicklung, einen Wohlstand, eine Bedeutung dankt, die der Stolz der Nation sind! Soll der Vergleich wirklich gezogen werden? In der That, die Aehnlichkeit zwischen der Lage Sachsens und Oberhessens ist bloß die, daß beide dem gleichen Experimente unter­ liegen. Die Gefahren, Unbequemlichkeiten, Mißlichkeiten des Experiments wachsen mit der Größe des Objects; sie steigern sich demnach für Sach­ sen bis ins unerträgliche! Man würde Oberhessen das Beispiel von Sachsen vorhalten können, nicht Sachsen das Beispiel von Oberhessen. Eine Erinnerung möge hier noch ihren Platz finden, da in Augen­ blicken wie der jetzige alles gesagt werden muß: es ist die Erinnerung an den Undank Sachsens gegen Preußen, an den Undank von 1849. Im Mai wurde das Land durch preußische Waffen aus den Gefahren des Bürgerkriegs gerissen, in demselben Monat schloß die Regierung das Dreikönigsbündniß und wenige Monate später, als die Wasser verlaufen waren, trat dieselbe Regierung unter Vorwänden, die alles eher als den Muth der Undankbarkeit verrathen, von dem Bündniß zurück und trug wesentlich zum Mißlingen der preußischen Unions­ bestrebungen bei. Man scheint in Berlin an diese Erstlingsfrüchte des Ministeriums Beust nicht zu denken oder nicht denken zu wollen, man scheint zu glauben, daß in Dresden unter dem Anblick der preußischen Schanzen die Gesinnung von 1849 verschwunden ist oder verschwinden wird. Und die Partikularisten bemühen sich mit erstaunlichem Geschick die Preußen­ feindlichkeit Sachsens hinwegzuescamotiren, die nach ihren Aeußerun­ gen ebenso in das Reich der Fabel gehört wie die Feindlichkeit Oestreichs gegen Preußen und Deutschland; sie lachen über den Vorwurf der Preußenfeindlichkeit: erschrecken sie nicht vielleicht wie Franz Moor über ihr eigenes Lachen?

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Wie alle, die nichts lernen und nichts vergessen, rechnen die Parti-

In ihren Augen ist die Inte­

kularisten auf die preußische Schwäche.

grität des Landes die hoffnungsvolle Gewähr künftiger besserer Tage.

V.

Die Sachsen haben das was sie wollen, sie bekommen das was sie verdienen.

Diesen Gedanken begegnet man vielfach. schlechte

Gewissen, es ist die Abwälzung

Es ist der Trost für

gemeinsam verdienten Ta­

dels aus die Schultern des einen büßenden Mitschuldigen, es ist die schlimmste Art Gleichgültigkeit, welche ein Volk äußern kann — die

Gleichgültigkeit gegen das Ergehen

seiner Angehörigen.

Und leider

ist diese Gleichgültigkeit den Deutschen so recht eigen: je größer sie war,

je kleiner war die Nation.

Unter ihr hat Schleswig-Holstein lange

Jahre gelitten: warum also nicht auch Sachsen?

Niemand wird behaupten, daß der Zustand, welchen der Anschluß

Sachsens schafft, ein erträglicher, geschweige ein ersprießlicher sei.

Es

ist der Zustand des Compromisses, der niemanden befriedigt, der keinem genug giebt um glücklich zu sein, allen genug nimmt, um unglücklich zu

werden.

Ein Krieg verheert das Land, verschlingt Millionen, entzieht

Tausende kräftiger Arbeiter und führt den Staat an den Rand des Ver­ derbens.

Aber mit dem Frieden kehrt die Blüthe des Landes zurück,

Millionen

aufs neue,

werden

wieder

gewonnen,

arbeitsame

Hände

entstehen

der Staat kommt nach überwundener Krisis zu höherer

Entwicklung, echterer Gesundheit. ist sein Friede?

Sachsen hat den Krieg gehabt: wo

Das Land ist wie zuvor;

Heimstätten und Felder

sind unversehrt geblieben: aber das Land ist nicht mehr dasselbe.

Die

Menschen werden arbeiten wie sonst: Arbeit ist ihnen Lust und Le­

ben, nicht Last und Qual; sie werden die Wunden zu heilen, die zu

den alten neu hinzukommenden Leistungen zu erfüllen suchen, sie wer­ den zu sein streben, was sie waren.

Allein vergebens wird ihr Be­

mühen sein, die Gegenwart zur Vergangenheit zu machen, vergebens

werden sie vergessen und verschweigen wollen, was nicht zu vergessen

und zu verschweigen ist.

Die Freudigkeit, welche allein der Arbeit

13 den Segen verleiht, wird vergehen und mit ihr langsam, nicht jedem

Ange sichtbar, der Wohlstand schwinden.

Der Unternehmungsgeist wird

die Stätten suchen, wo freudiger wohnen ist: das Land wird an dem Uebel kranken, von dem Kurhessen jetzt genesen soll, an dem Uebel der übermäßigen Auswanderung.

Es mag zu düster scheinen, was wir hier sagen, und mancher wird

des falschen Propheten

Die Partiknlaristen pochen ans die

spotten.

Vergangenheit und denken, daß das, was trotz des Partikularismus

war, auch trotz des Partikularismus wiederkommen wird.

Lassen wir

ihnen den Glauben, den schönen Wahn, der ihr Thun entschuldigen,

nicht rechtfertigen kann! Hat das Befinden Sachsens aber nicht auch

Einfluß auf das übrige Deutschland? Die Gegenwart rühmt sich

der lebendigen

volkswirthschaftlichen

Erkenntniß und es steht fest, daß ohne sie die nationale Wiedergeburt

unserer Tage unmöglich gewesen wäre.

Man folge der Erkenntniß denn

auch jetzt, man denke nicht, daß das, was Chemnitz und Glauchau an

Gewerbfleiß und Fabrikthätigkeit, Leipzig und Dresden an Handel und

Wandel einbüßen, Elberfeld und Berlin, Magdeburg und Halle zu­ wachsen wird!

Je größer die Mitwerbung in der Nation, je größer

die nationale Arbeit; je allgemeiner die wirthschaftliche Entwicklung, je allgemeiner die wirthschaftliche Kraft und das wirthschaftliche Wohler­

gehen

der Nation.

Kurhessens Rückstand wirkte empfindlich auf die

Nachbarländer ein: Irlands Krankheit zehrt an dem strotzenden Körper Großbritanniens. Die Sachsen haben was sie wollen, sie bekommen was sie ver­

dienen!

Es ist wahr, daß vor nicht langer Zeit die Annexionsidee

wenig Anhänger hatte, daß die Liebe zu dem altgewohnten und her­

gebrachten weit verbreitet ist. Wilhelm an

Man hegt die Gefühle, welche König

den Hannoveranern

anerkannte;

man

ist unter einer

Regierung, die mit der von Toskana verglichen werden konnte, nicht

mit den Gesinnungen der Venetianer erfüllt worden; man zweifelt an der Lebensfähigkeit des norddeutschen Bundes und der von ihm zu er­ wartenden Neugestaltung Deutschlands.

Es wäre unklug und unwahr,

14 die Gesinnung eines Theils der sächsischen Bevölkerung übersehen oder verleugnen zu wollen. Vergebens sucht das Auge aber im Osten und Westen, im Norden

und Süden des Landes nach einer Vendöe und den entsprechenden Bre­

tagnern.

Wir sehen Augen, in die beim Gedanken an den Abschluß

der Vergangenheit eine Thräne der Wehmnth tritt, Lippen, die kein Willkommen und Hoch rufen, Hände, die sich in den Taschen ballen, aber wir sehen keine Männer, die für den alten Zustand mit Leib und

Leben einzutreten bereit sind. Und man vergesse nicht die sichere Gewähr, welche das Recht zu der Annexion bildet — das Deutschthum und die deutsche Gesinnung der Sachsen, die nach nationaler Größe und Einheit lechzen, die für die

Träume von 1848 schwer genug büßten!

Die deutsche Gesinnung wird

die rechte Erkenntniß da, wo sie fehlt, bald hervorbringen: wenige

Jahre und man wird die Wendung der Dinge als ein Glück preisen, die

im Augenblick der Ungewißheit und des UebergangS ein Opfer scheint. Rasch werden die Bande sich wieder knüpfen, die seit 1815 die Sachsen

trennen, rascher als die schwerbeweglichen Holsteiner und Hannoveraner wird das leichtlebige Volk die neue Ordnung sich und sich der neuen

Ordnung anpassen.

Der staatenbildende

Geist

Preußens wird an

Sachsen eine frohe und dankbare Aufgabe haben. Man räumt 1866 ein, daß 1815 mit der Theilung Sachsens ein schwerer Fehler begangen wurde.

Jetzt, wo langjähriges Unrecht ge­

sühnt, lange mißkanntes Recht anerkannt wird, jetzt ist es Zeit, auch den an den Sachsen begangenen Fehler wieder gut zu machen, ihr

Recht auf Theilnahme an der nationalen Gemeinschaft zur vollen An­ erkennung zu bringen.

plomatie werden.

Sachsen darf nicht wieder ein Opfer der Di­

Sachsens Glück ist Deutschlands Glück, Sachsens

Unglück Deutschlands Unglück.

VI. So geht denn

unser Hülferuf hinaus in die Lande, wo deutsche

Herzen schlagen.

Großes ist für Deutschland aus Sachsen hervorgegangen.

Die

hohe nationale That der Reformation, jener erste gewaltige Schnitt,

15 welcher den von

einem

Germanismus

von

dem

Romanismus ablöste,

sächsischen Manne auf sächsischer Erde vollzogen.

wurde

AIS

es vor 100 Jahren eine andere Befreiung des deutschen Geistes galt, da erschien Lessing und schuf in Minna von Barnhelm, das unsterbliche

Muster des

Nationaldramas.

Als dann am Anfang dieses Jahr­

hunderts der Volksgeist vom Bann nnd Druck des Fremden zu be­

freien war,

redete der Sachse Fichte zu der Nation und lehrte sie

die Macht, welche im Wollen liegt.

Und als sich die Macht bewährte,

als König Friedrich Wilhelm III. das Volk zu den Waffen rief, da

nahm Theodor Körner Leier und Schwert und wurde der Dichter­

held der Nation.

Sachsen hat seinen vollen Theil an der Arbeit des

deutschen Geistes gethan nnd die Zeitgenossen wirken treu weiter im Sinne der großen Vorgänger. Mit der nationalen Richtung des geistigen Lebens befindet sich

der politische Zustand des Volks in schroffem Widerspruch.

Der Partikularismus, das haben die Vorgänge der letzten Monate gezeigt, vermag nicht sich selbst zu überwinden; er ist und bleibt antinatio­

nal, er wächst und fällt wie die nationale Strömung steigt und sinkt, er denkt an sich allein nnd ist sich selbst der höchste Zweck.

Der beste

Wille erlahmt unter seiner bestrickenden Gewalt, die beste Kraft ver­ zehrt sich unter seiner Herrschaft.

So war es während der langjährigen Blüthe des Partikularis­ mus, so wird es wieder werden, wenn er wieder zum Leben kommt.

Keine Vorsätze, keine Betheurungen, keine Friedensartikel können das umwandeln, was in Natur und Wesen tief begründet ist.

Das Wohl

der Nation und das Gedeihen des Partikularismus stehen sich für im­

mer feindlich gegenüber. Diese Einsicht gewinnt im Lande mehr und mehr Boden.

Man

sieht der Alternative, welche Sachsen gestellt ist, offen ins Auge und

erkennt, daß das eigene Interesse die Vereinigung mit Preußen gebietet, daß die Vertagung der sächsischen Frage Sachsen und Deutschland zum Unsegen gereicht, daß die ersehnte nationale Einigung nur im Ein­

heitsstaate ihren dauernden Ausdruck findet.

-

16 —

Die Zukunft des kau des ist noch nicht entschieden.

Frieden hat keine wirkliche Grundlage geschaffen.

Der Prager

Noch ist es Zeit die

Stimme zu erheben, die Rechte der Nation zur Geltung zu bringen.

Wie die partikularistische Bewegung

Schleswig-Holsteins ihren

Rückhalt im deutschen Bolke fand, und als dieses sich von ihr abwandte, in nichts versank, so wird die nationale Bewegung Sachsens verkümmern,

wenn das deutsche Volk die Pflicht, welche es gegen alle seine An­ gehörigen hat, versäumt; so wird sie siegreich durchdringen, wenn Deutsch­ land die Sache Sachsens zu der seinigen macht.

Deutsches Volk, höre den Hülferuf aus Sachsen!

Im Verlage von Georg Reimer in Berlin sind erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:

Preußische Jahrbücher. Herausgegeben von

Heinrich v. Treitschke. Achtzehnter

Band.

Erstes Heft. Juli

1 8 6 6.

Inhalt: Der preußische Beamtenstaat. (C. Twesten.) — Die Privathülfe der im Felde verwundeten und erkrankten Krieger und das Central-Comits der HülfSvereine in Preußen. (Von einem Arzt.) — Land und Leute in Rumänien. — Kaiser­ lich königliche Geschichtschreibung. (A. Springer.) — Politische Correspondenz.

Zweites Heft. August

1 8 6 6.

Inhalt: Der Preußische Beamtenstaat. (Schluß.) (C. Twesten.) — Ueber die antike Kunst im Gegensatz zur modernen. (Vortrag, gehalten bei Niederlegung des Protectorats zu Königsberg am 15. April.) (Prof. Dr. Friedländer.) — Das Princip der Communalsteuern. (Dr. A. Meyer.) — Würtemberg und die Bundeskatastrophe. — Die Lage in den norddeutschen Mittelstaaten. — Julius Königer aus Darmstadt, der „deutsche Officier" der „Preußischen Jahrbücher". (Dr. Hundeshagen.) — Politische Correspondenz.

Drittes Heft. September

186 6.

Inhalt: Die Siege der Union im Winter 1864—65 und die Friedensversuche. (Julius Königer.) — Deutschlands wirthschaftliche Neugestaltung. (Victor Böhmert.) — Aus der Blüthezeit mittelstaatlicher Politik. (Heinrich von Treitschke.) — Die An­ nexionen und die Tonkunst. (Bernhard Scholz.) — Zustände am Ober- und Nieder­ rhein. — Politische Correspondenz.

Preis für den Band von sechs Heften 3 Thlr.

Die Zukunft

der norddeutschen Mittclstaaten. Von

Heinrich v. Treitschke. Zweite Auflage.

Broch. 3 Sgr.

Die Albertinische Dynastie und Norddeutschland. Ein deutsches Wort zu den Parlamentswahlen Sachsens von

Ferd. Fischer. Broch. 5 Sgr.