Dynamiken des Liminalen: (Diskurs)linguistische Annäherungen an das Phänomen Grenze [1 ed.] 9783737015226, 9783847115229


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Dynamiken des Liminalen: (Diskurs)linguistische Annäherungen an das Phänomen Grenze [1 ed.]
 9783737015226, 9783847115229

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Andersheit – Fremdheit – Ungleichheit Erfahrungen von Disparatheit in der deutschsprachigen Literatur

Band 14

Herausgegeben von Paweł Zimniak und Renata Dampc-Jarosz

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Mariusz Jakosz / Joanna Szcze˛k (Hg.)

Dynamiken des Liminalen (Diskurs)linguistische Annäherungen an das Phänomen Grenze

Mit 19 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Diese Publikation wurde von der Schlesischen Universität in Katowice und von der Universität Wrocław finanziell unterstützt. Diese Publikation ist peer-reviewed. Begutachter: Prof. Dr. habil. Waldemar Czachur, Universität Warszawa © 2022 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Rosen, »Wittgenstadt« Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-7487 ISBN 978-3-7370-1522-6

Inhalt

Mariusz Jakosz (Katowice) / Joanna Szcze˛k (Wrocław) Das Phänomen Grenze und ihre Facetten als Gegenstand linguistischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Grenzen der Sprache – Grenzen der Forschung Roman Sadzin´ski / Witold Sadzin´ski (Łódz´) »…damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.« Der gefährdeten Conditio humana den Grenzen der Sprache zum Trotz Abhilfe leisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Linguistische Annäherungen an das Phänomen Grenze in der Literatur Heinz-Helmut Lüger (Koblenz-Landau) Grenzziehungen bei Theodor Fontane. Soziale Selbstund Fremdpositionierungen im Stechlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Claudia Wich-Reif (Bonn) Die Sprache von Berlin-Gropiusstadt in Felix Lobrechts Roman Sonne und Beton als Ausdruck der Ein- und Abgrenzung . . . . . . . . .

61

Vida Jesensˇek (Maribor) Ein- und Ausgrenzung durch die Sprache bei Alma M. Karlin . . . . . . .

83

Textuelle, diskursive und terminologische Grenzziehungen Anna Dargiewicz (Olsztyn) Facetten des Impf-Diskurses im Corona-Kontext. Zu (neuen) Wortbildungen in der medialen Berichterstattung zum Thema Impfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

6

Inhalt

Małgorzata Derecka (Olsztyn) Corona-Weltuntergang von Frei.Wild. Ironie und Pathos auf einer diachron gespaltenen Zunge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Roman Opiłowski (Wrocław) Individualisierung als multimodale Praktik in städtischen Pandemie-Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Katalin Gyuricza (Budapest) Neue Formen der Kommunikation in der eingegrenzten Welt der Pandemie. Eine linguistische Textsortenanalyse . . . . . . . . . . . . 155 Małgorzata Ewa Płomin´ska (Katowice) An den Grenzen der Phraseologie. Pragmatische Phraseologismen in der deutschen und der polnischen Rechtssprache . . . . . . . . . . . . 171

(Kommunikative) Grenzgänge aus linguistischer Sicht Marcelina Kałasznik (Wrocław) Sprachliche Konstruktion von Vertrauen als Teil der Selbstdarstellung von Medizinern. Möglichkeiten und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Iwona Wowro (Katowice) Kiwiauslöffler und Dorftrottel. An der Grenze von Ironie und Beleidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

Grenzerfahrungen im Flüchtlingsdiskurs Krystian Suchorab (Wrocław) Grenzen setzen oder Grenzen überschreiten? Zum Bild des Flüchtlings in der deutschen und polnischen Boulevardpresse . . . . . . . . . . . . . 233 Mariusz Jakosz (Katowice) Integration von jungen Geflüchteten in Deutschland durch Bildung am Beispiel der Bildungspolitik des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen . . . 259

Fachdidaktische Annäherungen an das Phänomen Grenze Federico Collaoni (Rom) »Als ich eines Morgens aufwachte, fand ich, dass sich die ganze Welt verwandelt hatte«. Zum literaturdidaktischen Transfer der Verwandlung Kafkas in der Ära der Eingrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Inhalt

7

Judith Baße (Baden-Baden) Grenzen – Bov Bjergs Roman Auerhaus thematisch mit Schüler:innen lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Autorinnen und Autoren des Bandes

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Mariusz Jakosz (Uniwersytet S´la˛ski, Katowice) / Joanna Szcze˛k (Uniwersytet Wrocławski, Wrocław)

Das Phänomen Grenze und ihre Facetten als Gegenstand linguistischer Forschung

1

Einleitende Bemerkungen

Grenzen kann man sichern, bewachen, überschreiten, verletzen, passieren, ziehen, berichtigen, über die Grenze kann man jmdn. abschieben, Grenze kann verlaufen oder etwas kann eine Grenze bilden. Auf der anderen Seite kann man jemandem Grenzen setzen, jmd. kann an seine Grenzen anlangen oder man kann sich in Grenzen halten oder bewegen. Diese einige wenige Beispiele für sprachliche Ausdrücke mit der Komponente Grenze zeigen zum einen viele semantische Dimensionen und die Vielfalt in der Anwendung des hier zu charakterisierenden Begriffs. Zum anderen werden in den oben angeführten Äußerungen semantische Charakteristika des Lexems Grenze manifestiert. Nach Duden werden folgende Bedeutungen dieses Lexems angegeben: 1. a) (durch entsprechende Markierungen gekennzeichneter) Geländestreifen, der politische Gebilde (Länder, Staaten) voneinander trennt; b) Trennungslinie zwischen Gebieten, die im Besitz verschiedener Eigentümer sind oder sich durch natürliche Eigenschaften voneinander abgrenzen; c) nur gedachte Trennungslinie unterschiedlicher, gegensätzlicher Bereiche und Erscheinungen o. Ä.; d) Begrenzung, Abschluss[linie], Schranke.1

Eines ist aber allen Bedeutungsebenen gemeinsam: Es handelt sich nämlich um eine Trennlinie. Ob aber diese Trennlinie und deren Folgen in Form von Be-, Ab- und Ausgrenzungen in der linguistischen Forschung anwesend sind, lautet die Frage, auf die die Autorinnen und Autoren der Beiträge im vorliegenden Band zu antworten versuchen. Die Wissenschaft kennt nämlich keine Grenzen. Im vorliegenden Beitrag präsentieren wir einen Überblick über die Konzeptualisierung der Grenze in der bisherigen (linguistischen) Forschung und das mit

1 Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Grenze / letzter Zugriff am 6. 03. 2022.

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Mariusz Jakosz / Joanna Szcze‚k

dem Ziel, mögliche Forschungsfelder und -perspektiven aufzudecken sowie auf einige Forschungslücken hinzuweisen.

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Morphosyntaktische und semantische Eigenschaften des Lexems Grenze

Das Lexem Grenze tauchte im 13. Jahrhundert im Mittelhochdeutschen in folgenden Formen: greniz(e), graniza, graenizen, greniz auf.2 In der einschlägigen Literatur wird angegeben, dass es aus dem Slawischen entlehnt wurde, eigentlich aus dem Altpolnischen, von granica, gran´ca ›Grenzzeichen, Grenzlinie‹ (poln. granica). Kluge führt an, dass »[das Wort] seine Aufnahme in die Hochsprache dem Gebrauch von Luther [verdankt].«3 In Bezug auf den Gebrauch des Lexems und dessen Vorkommenshäufigkeit gibt Roberta Rada im Kontext des von ihr gesammelten Korpus Folgendes an: »Im deutschen Diskurs steht das Lexem Grenze (auch unterschiedliche Flexionsformen des Simplex inbegriffen) im Ranking des Wortvorkommens mit 6468 Treffern an der 251. Stelle.«4 Darunter gibt es viele Komposita mit dem behandelten Lexem entweder in der Funktion eines Bestimmungswortes, oder einer Basis. DWDS notiert über 100 gebräuchliche Komposita mit der Komponente Grenze als Erst-, und ebenso viele als Letztglied. Auch im Bereich der Derivate findet man viele Möglichkeiten. Bei Augst werden folgende Kombinationen mit dem Basislexem Grenze aufgelistet5: Grenz grenz grenz Grenz Grenz ab grenz Ab grenz an grenz be grenz be grenz

e en en los en los er en ung en en t

igkeit

1 2 3 4 x x x x x x x x x x x x x x x

2 Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin: De Gruyter 2012, S. 372 und DWDS https://www.dwds.de/wb/Grenze / letzter Zugriff am 6. 03. 2022. 3 Ebd. 4 Rada, Roberta V: Die Konzeptualisierung von Grenze im deutschen und ungarischen Mediendiskurs über die Migration im Jahre 2015. In: Drewnowska-Vargáné, Ewa/Kappel, Péter/ Modrián-Horváth, Bernadett/Rauzs, Orsolya (Hg.): »vnd der gieng treulich, weislich vnd mëndlich mit den sachen vmb«: Festschrift für Péter Bassola zum 75. Geburtstag. Szeged: Institut für Germanistik der Universität Szeged 2019, S. 116–137, hier S. 122. 5 Vgl. Augst, Gerhard: Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Berlin: De Gruyter, S. 508.

Das Phänomen Grenze und ihre Facetten als Gegenstand linguistischer Forschung

(Fortsetzung) Grenz un be grenz Un be grenz Be grenz ein grenz um grenz Um grenz

e t t heit ung en en ung

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1 2 3 4 x x x x x x x x

Abb. 1: Ableitungen von dem Lexem Grenze nach Augst6

Das Lexem Grenze bindet auch bestimmte Verben an sich und kommt im Satz in verschiedenen Funktionen vor. Es handelt sich um folgende7: – als Subjekt von verschwimmen, überschreiten, verwischen, verlaufen, erreichen, verschieben, setzen, markieren, auflösen, liegen, zerfließen, aufzeigen, verschwinden, aufheben, überwinden, ziehen, öffnen, existieren, trennen, abstecken. – als Akkusativobjekt von überschreiten, überqueren, kennen, sprengen, aufzeigen, passieren, verwischen, markieren, überwinden, setzen, ziehen, ausloten, öffnen, anerkennen, festlegen, durchbrechen, schließen, austesten, respektieren, erreichen. Am Beispiel des Kookkurrenzgraphs (Abb. 2) im Leipziger Korpus ist es auch ersichtlich, welche signifikanten Kookkurrenten Grenze hat:

Abb. 2. Signifikante Kookkurrenten des Lexems Grenze8

6 Ebd. 7 URL: https://www.dwds.de/wb/Grenze / letzter Zugriff am 6. 03. 2022. 8 Ebd.

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Mariusz Jakosz / Joanna Szcze‚k

Wie vielfältig der Gebrauch des Lexems Grenze ist, zeigen die Sachgebiete, in denen es die Anwendung findet9: Erkenntnistheorie, Logik, Bauwesen, Begrenzungen, Computer, Druckwesen, Erkenntnistheorie, Logik, literarische Motive, Stoffe, Gestalten, Metaphysik, Motive, Technik. Es werden auch folgende Synonyme aufgelistet10: Begrenzung, Grenzlinie, Landesgrenze, Staatsgrenze, Mark, Grundstücksgrenze, Demarkationslinie, Schranke, Einfassung, Douane, Umrandung, Umrahmung, Scheide, Abzäunung, Umgrenzung, Schwelle, Grenzgebiet, Rand, Gemarkung, Schlagbaum, Zoll, Bande, Abgrenzung. Auch im phraseologischen Bestand findet man eine Reihe von Wendungen, in denen das Lexem Grenze Hauptkomponente ist und die das Verständnis des Lexems Grenze wesentlich bereichern, wie etwa: an der Grenze des (guten Geschmacks / des Möglichen) sein / liegen, bis zur äußersten Grenze gehen, über die grüne Grenze gehen, schwarz über die Grenze gehen, alles hat seine Grenzen, etw. überschreitet alle Grenzen, sich seiner Grenzen bewusst sein, seine Grenzen kennen, innerhalb seiner gesteckten Grenzen bleiben, die Grenzen einhalten, die Grenzen des Erlaubten überschreiten, jmdm. / einer Sache sind enge / keine Grenzen gesetzt, die Grenzen der Geduld erreichen, sich in Grenzen halten, sich an die einem gesteckten Grenzen halten, keine / seine Grenzen kennen, jmdm. Grenzen setzen, an Grenzen stoßen, an die Grenzen … kommen / gelangen / stoßen, Grenzen überschreiten, jmdn. in seine Grenzen verweisen. Der hohe Anteil der Ausdrücke mit der Komponente Grenze im deutschen Wortschatz sowie deren Vorkommenshäufigkeit lassen die von Roberta Rada formulierte These bestätigen, dass »Grenze im deutschen Diskurs zu den inhaltlich relevanten Wörtern gehört.«11

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Zum Konzept Grenze in der linguistischen Forschung

Die oben angegebenen Bedeutungen des Lexems Grenze bleiben nicht ohne Einfluss auf dessen Konzeptualisierung. Das im menschlichen Denken immer anwesende und manifeste Konzept bezog und bezieht sich in erster Hinsicht auf die geographische Dimension. Mit Grenzen wurden und werden Gebiete markiert und voneinander getrennt, wobei in der Zeit der zunehmenden Globalisierung auch dieses Konzept unter dem Einfluss von politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren großen Wandel vollzog und immer vollzieht. Zu 9 Vgl. Leipziger Korpus. URL: https://corpora.uni-leipzig.de/de/res?corpusId=deu_news_2020 &word=Grenze / letzter Zugriff am 6. 03. 2022. 10 Vgl. ebd. 11 Rada, Roberta V.: Die Konzeptualisierung von Grenze, S. 122.

Das Phänomen Grenze und ihre Facetten als Gegenstand linguistischer Forschung

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Recht stellen demgemäß Opiłowska et al. Folgendes fest: »Grenze ist ein multidimensionales Konzept, das von verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann und einem ständigen Wandel unterliegt.«12 Die Anfänge des Konzepts Grenze reichen in das 16./17. Jahrhundert zurück und sind angeblich mit den Prozessen der sich bildenden Staatlichkeit verbunden.13 Die ersten wissenschaftlichen Studien diesbezüglich sind Lucien Fèbvre zu verdanken.14 Wie Opiłowska/Opiłowski anführen, hat er das Konzept Grenze »mit zwei Prozessen verbunden: mit den Anfängen des modernen Staates in der Frühen Neuzeit und mit der Ausbildung ›militarisierter‹ Nationalkulturen nach der französischen Revolution.«15 Der zivilisatorische Fortschritt und die Entwicklung der modernen Staaten haben dazu beigetragen, dass die ursprüngliche Bedeutung von Grenze als ›Trennlinie‹ und ›Zone‹ und das damit verbundene statische Konzept aufgehoben wurden und man eher global an Grenze dachte. Der Einsatz von neuen Medien diverser Art beeinflusste auch die deutliche Wahrnehmung der Grenze als ein dynamisches Phänomen. Wie Opiłowski/Opiłowska bemerken, »[wurden] Grenzen nun weniger als statische Trennlinien, sondern als soziale Prozesse von bordering verstanden.«16 Wie das Konzept Grenze in der gegenwärtigen Forschung betrachtet wird, thematisiert Roberta Rada17 in ihrem Beitrag zur Konzeptualisierung dieses Konzepts im Mediendiskurs. Aufgrund der international und interlingual (Deutsch und Ungarisch) durchgeführten Analyse der Migrationsdiskurse in beiden Ländern deckt sie folgende Konzepte und Begriffsinhalte des Lexems Grenze im deutschen Migrationsdiskurs auf 18:

12 Opiłowska, Elz˙bieta et al.: Studia nad granicami i pograniczami. Leksykon. Warszawa: Scholar 2020. 13 Vgl. Baramova, Maria: Grenzvorstellungen im Europa der Frühen Neuzeit. In: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010– 12–03. URL: http://www.ieg-ego.eu/baramovam-2010-deURN:urn:nbn:de:0159-2010092151 / letzter Zugriff am 6. 03. 2022. 14 Vgl. Opiłowski, Roman/Opiłowska, Elz˙bieta: Grenze: Der neue Diskurs über ein altes Konzept: Am Beispiel eines deutschen und polnischen Online-Berichtes im Zeitalter des Coronavirus. In: »Moderna språk« 2/2020, S. 37–53, hier S. 38. 15 Ebd., zit. nach Medick Hans: Grenzziehungen und die Herstellung des politisch-sozialen Raumes. Zur Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Frühen Neuzeit. In: Eigmüller, Monika/ Vobruba, Georg (Hg.): Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2016, S. 31–46. 16 Ebd., zit. nach Kolossov, Vladimir/Scott, James W.: Euborderscapes. Selected Conceptual Issues in Border Studies. In: »Working Paper« 4/2013. URL: http://www.euborderscapes.eu/fi leadmin/user_upload/Working_Papers/EUBORDERSCAPES_Working_Paper_4_Kolosov_a nd_Scott.pdf / letzter Zugriff am 3. 03. 2022. 17 Vgl. Rada, Roberta, V.: Die Konzeptualisierung von Grenze. 18 Ebd., S. 125.

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Mariusz Jakosz / Joanna Szcze‚k

– politische Dimension: die Grenze als Linie oder Geländerstreifen, die/der politische Gebilde, jedoch nicht nur Länder, Staaten, sondern auch von Verbunden von Ländern (wie Europäische Union) voneinander trennt; – Verwaltungsdimension, Dimension der Administration: der Grenzbetrieb; – technische Dimension: die Anlagen, die an den Grenzen teils zum Zwecke der Markierung teils zum Zwecke der Durchführung der administrativen Aufgaben an den Grenzen errichtet werden; – Beschränkung, Begrenzung: in erster Linie bezogen auf die Zahl der Flüchtlinge und auf die beschränkte Aufnahmefähigkeit des Landes. Wie man sieht, kann Grenze heutzutage als ein komplexes, dynamisches und vieldimensionales Phänomen betrachtet werden, das ständigen Änderungen unterliegt. Es findet auch im Bereich der Wissenschaft – hier in der Sprachwissenschaft – seine Anwendung, was die im vorliegenden Band gesammelten Beiträge bezeugen, in denen das Konzept Grenze aus vielen linguistischen Blickwinkeln thematisiert wird.

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Thematisches Spektrum der Studien zum Phänomen Grenze

Der vorliegende Sammelband besteht aus der Einführung und sechs thematischen Teilen, die Einblicke in die Vielfalt der linguistisch orientierten Forschungsperspektiven und der methodologischen Herangehensweisen an das Phänomen Grenze gewähren. Den ersten Teil »Grenzen der Sprache – Grenzen der Forschung« eröffnet der Beitrag von Roman Sadzin´ski und Witold Sadzin´ski. Ihr Augenmerk richtet sich auf die schöngeistige Sprachkunst, vor allem die Lyrik, in der sie die Möglichkeit erblicken, der Vergänglichkeit der menschlichen Spezies zumindest auf symbolische Art und Weise entgegenzutreten. Die Autoren untersuchen literarische, symbolträchtige Diskurse um die Conditio humana, denen die ästhetische Wirkungsmacht immanent sei, die Grenzen der Sprache als Grenzen des Menschlichen zu transzendieren. Dies wird an gewählten Werken der deutschen, polnischen und englischen Literatur veranschaulicht, wobei (sprach-)philosophische Reflexe die wechselseitige Bedingtheit der empirischen und poetischen Wirklichkeit sinnfällig machen. »Linguistische Annäherungen an das Phänomen Grenze in der Literatur« lautet der Titel des nachfolgenden thematischen Teils, der drei Beiträge umfasst, in denen literarische Welten aus sprachwissenschaftlicher Sicht erkundet werden. Heinz-Helmut Lüger befasst sich beispielsweise mit Selbst- und Fremdpositionierungen im Roman Stechlin von Theodore Fontane. Er zeichnet einige der für den Stechlin charakteristischen Aus- und Abgrenzungen nach und wirft einen

Das Phänomen Grenze und ihre Facetten als Gegenstand linguistischer Forschung

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Blick auf das Gesellschaftsbild Fontanes. Ein spezielles Augenmerk gilt dabei dem jeweiligen Sprachverhalten, das sich vor allem in der Figurenrede widerspiegelt. Claudia Wich-Reif analysiert den modernen Roman Sonne und Beton von Felix Lobrecht im Hinblick auf verschiedene Ausprägungen von Sprache, die Merkmale nicht nur für die geschriebene Standardsprache, sondern auch für das Berlinische als Dialekt/Stadtsprache, für Jugendsprache(n) und das Kiezdeutsche als Jugendsprache Berlins aufweist. Im Fokus ihres Beitrags stehen die nichtstandardsprachlichen Varietäten und (Sprech-)Stile, die vom Autor des Werks dazu verwendet werden, um den »Slang« der Hauptfigur und deren Peergroup schriftlich wiederzugeben und damit Ein- und Abgrenzung literarisch umzusetzen bzw. zu inszenieren. Vida Jesensˇek geht zuletzt dem Verständnis von Sprache/Sprachen bei der slowenischen Reiseschriftstellerin Alma M. Karlin nach. Anhand der funktionalstilistischen Analyse ihrer literarischen Autobiographie wird gezeigt, welchen Stellenwert sie der Sprache an sich einräumte und inwiefern Sprachen bei ihr als handelsmächtiges Instrument eingesetzt wurden. Die Sprache erweist sich bei Karlin als Mittel zu Selbstfindung und Selbstausdruck, als Mittel zur ökonomischen Verselbstständigung und gleichermaßen als Mittel zur Ausgrenzung aus der Enge der einheimischen kleinbürgerlichen Gesellschaft jener Zeit. Im dritten Teil »Textuelle, diskursive und terminologische Grenzziehungen« sind fünf Beiträge versammelt, in denen die Autorinnen und Autoren die Konzeptualisierung der Grenze in unterschiedlichen zeitaktuellen Fachdiskursen darstellen. Anna Dargiewicz fokussiert auf den Impf-Diskurs in der Corona-Zeit. Sie lenkt ihre Aufmerksamkeit darauf, welche unterschiedlichen Einstellungen mithilfe der im Impf-Diskurs genutzten Wortbildungen ausgedrückt werden. Die Autorin verweist auf die informationsverdichtende, sprachökonomische und reihenbildende Funktion dieses Verfahrens, dank dem wir uns sprachlich mit allen kommunikativen Kontexten effektiv auseinandersetzen können. Małgorzata Derecka konzentriert sich auf den Perspektivenwechsel, der sich in zwei sprachlichen Varianten des Songs Corona Weltuntergang der DeutschrockBand Frei.Wild äußert. Sie werden auf der Sprachebene miteinander verglichen und ausgewertet, um die Dynamik der erfolgenden Veränderungsprozesse der Sprache zu verdeutlichen, die sich nicht nur aus der Corona-Wirklichkeit ergeben, sondern auch mit eigenen Erfahrungen und Erlebnissen der Pandemiezeit untermauert werden. So bietet sich die Möglichkeit, über die psychische, durch die Pandemie-Einschränkungen und Ängste hervorgerufene Abgrenzung zu siegen. Roman Opiłowski thematisiert die Individualisierung der multimodalen Kommunikation über die Pandemie, die auf den Straßen von großen und kleinen Städten sichtbar wurde. Am Beispiel der gewählten, im Juni und Juli 2021 in Warschau, Berlin und Luxemburg aufgenommenen Stadttexte wird ein Versuch unternommen, multimodale Vollzugsmöglichkeiten der Individualisierung zu

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Mariusz Jakosz / Joanna Szcze‚k

verdeutlichen. Besonderes Augenmerk gilt dabei der kommunikativen Kreativität im öffentlichen Raum, die als individuelle und einzigartige Auswahl und Anwendung von multimodalen Mitteln im Prozess der Textgestaltung zum Ausdruck kommt. Katalin Gyuricza analysiert gewählte internetbasierte und mit digitaler Technik verwirklichte Textsorten aus textlinguistischer Perspektive. Sie veranschaulicht, wie die neuen Textsorten der heutigen online Kommunikation linguistisch adäquat erforscht werden können, wobei insbesondere die spezifischen Eigenheiten der semiotisch komplexen Texte berücksichtigt werden. Małgorzata Ewa Płomin´ska untersucht die in deutschen und polnischen Gesetzestexten vorkommenden pragmatischen Phraseologismen, die unter formalem und insbesondere funktionalem Aspekt typologisiert werden. Da Phraseologismen dieses Typs die »klassischen« Phraseologizitätskriterien der Polylexikalität, der Stabilität und der Idiomatizität nicht (ganz) erfüllen, werden sie aus dem Kernbereich der Phraseologie an deren Grenzen verschoben. Aufgrund ihrer Häufigkeit, Signifikanz und zahlreicher Funktionen sowohl in dem Sprachsystem als auch in der allgemeinsprachlichen und fachlichen Kommunikation sowohl in der Alltags- als auch in der Fachkommunikation bilden sie aber ein wichtiges Forschungsfeld nicht nur der allgemeinsprachlichen, sondern auch der fachsprachlichen Phraseologie. Der vierte Teil »(Kommunikative) Grenzgänge aus linguistischer Sicht« setzt sich aus zwei Texten zusammen, die die Grenzphänomene im sprachlichen Kommunikationsverhalten offenlegen. Marcelina Kałasznik analysiert sprachliche und stilistische Mittel, mit deren Hilfe Vertrauen in den Vorstellungstexten von Medizinern auf Arztbewertungsportalen konstruiert wird. Außerdem verdeutlicht sie, welche sprachlichen Mittel die Vertrauensbildung unterstützen können und inwiefern die Vertrauenskonstruktion auf den Profilen von Ärzten deren Selbstdarstellung im Netz beeinflusst. Das Anliegen der Reflexionen von Iwona Wowro besteht darin, die allgemeinen Relationen zwischen Ironie und Beleidigung zu besprechen und sie am Beispiel von ironisch-beleidigenden Personenbezeichnungen, der so genannten Warmduscherbezeichnungen, darzustellen. Sie zeichnen sich durch semantische, pragmatische und expressive Komponenten sowie durch inhärente Ironiemechanismen aus, die es im Allgemeinen zu besprechen gilt. Ihr pragmatischer Mehrwert ergibt sich aus dem Kontext, in dem sie funktionieren, d. h. sie sind als eine spezifische Ausprägung mit intrakulturellen Zügen zu betrachten, als ein Phänomen, das über die Grenzen der Sprache hinausgeht. Politische Resonanzen territorialer Grenzziehungen stehen im Fokus der Beiträge des fünften Teils mit dem Rahmenthema: »Grenzerfahrungen im Flüchtlingsdiskurs«. Krystian Suchorab untersucht Presseartikel der deutschen und polnischen Boulevardpresse, die verschiedene Themen in Bezug auf Flüchtlinge berühren. Das Ziel der Analyse ist zu ergründen, welche Motive sich

Das Phänomen Grenze und ihre Facetten als Gegenstand linguistischer Forschung

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beim Kreieren des Bildes des Flüchtlings in der untersuchten Presse finden lassen. Der Autor geht auch der Frage nach, wie viele positive, neutrale und negative Bilder des Flüchtlings unterschieden werden können. Die Analyse lässt feststellen, ob die Presseartikel und darin präsentierte Motive dazu beitragen, die Grenzen in der Darstellung der Flüchtlinge zu setzen oder sie zu überschreiten. Mariusz Jakosz geht auf die Bildungspolitik des Bundeslandes NordrheinWestfalen im Lichte der gegenwärtigen Migrationspolitik der Bundesrepublik Deutschland ein. Er behandelt konkrete Maßnahmen der Landesregierung, die geflüchteten Kindern und Jugendlichen das Erlernen der deutschen Sprache und den erfolgreichen Abschluss der schulischen Bildung gewährleisten. Hervorhebung verdienen in diesem Zusammenhang alle Förderinitiativen der Behörden, die für eine gelungene Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in die Aufnahmegesellschaft und eine perspektivenreiche berufliche Zukunft in Deutschland besonders ausschlaggebend ist. Der Sammelband wird mit dem Teil »Fachdidaktische Annäherungen an das Phänomen Grenze« abgerundet, der zwei Beiträge beinhaltet, die in die Methoden der Didaktisierung der literarischen Grenzmotive einführen. Federico Collaoni präsentiert die Lehrziele und -phasen sowie die Ergebnisse einer experimentellen didaktischen Einheit über Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung mit Fokus auf Begriffe wie Eingrenzung, Entfremdung und soziale Isolierung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie. Solche Aspekte sowie Ausschnitte aus den schriftlichen Produktionen, die in der Übungs- und Bewertungsphase verfasst wurden, stehen im Mittelpunkt der Ausführungen, um aufzuzeigen, wie die literarischen Motive von den DaF-Lernenden angesichts ihrer selbst erlebten Eingrenzungen sprachlich bearbeitet wurden. Judith Baße stellt ein in der Schulpraxis erprobtes didaktisches Konzept eines Literaturunterrichts vor, in dem der Roman Auerhaus von Bov Bjerg behandelt wird. Als richtungsweisend für den Didaktisierungsvorschlag erweisen sich die Probleme der Grenze und der Grenzüberschreitung, mit denen die jugendlichen Figuren des Romans konfrontiert werden, sowie die curricularen Anforderungen, die die Lehrkraft im Umgang mit dem zeitaktuellen Werk erfüllen muss. Resümierend ist zu bemerken, dass die im Band versammelten Beiträge aufschlussreiche Erkenntnisse liefern, die neue Sichtweisen auf das Phänomen Grenze aus linguistischer Perspektive eröffnen. Vielfältige Themen, interdisziplinäre Zugänge und unterschiedliche Forschungsmethoden zeugen eindeutig von der raschen Entwicklung der Linguistik und dem Bedarf an der Erkundung neuer Forschungsfelder sowie der Erweiterung der Grenzen der Sprachwissenschaft.

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Mariusz Jakosz / Joanna Szcze‚k

Literatur Augst, Gerhard: Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Berlin: De Gruyter 2009. Baramova, Maria: Grenzvorstellungen im Europa der Frühen Neuzeit. In: Europäische Geschichte Online (EGO), hrsg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010–12–03. URL: http://www.ieg-ego.eu/baramovam-2010-deURN:urn:nbn:de:0159-2 010092151 / letzter Zugriff am 6. 03. 2022. Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Grenze / letzter Zugriff am 6. 03. 2022. DWDS. URL: https://www.dwds.de/wb/Grenze / letzter Zugriff am 6. 03. 2022. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin: De Gruyter 2012. Kolossov, Vladimir/Scott, James W.: Euborderscapes. Selected Conceptual Issues in Border Studies. In: »Working Paper« 4/2013. URL: http://www.euborderscapes.eu/fileadmin /user_upload/Working _Papers/EUBORDERSCAPES_Working_Paper_4_Kolosov_an d_ Scott.pdf / letzter Zugriff am 3. 03. 2022. Leipziger Korpus. URL: https://corpora.uni-leipzig.de/de/res?corpusId=deu_news_2020& word=Grenze / letzter Zugriff am 6. 03. 2022. Medick, Hans: Grenzziehungen und die Herstellung des politisch-sozialen Raumes. Zur Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Frühen Neuzeit. In: Eigmüller, Monika/Vobruba, Georg (Hg.): Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2016, S. 31–46. Opiłowska, Elz˙bieta et al.: Studia nad granicami i pograniczami. Leksykon. Warszawa: Scholar 2020. Opiłowski, Roman/Opiłowska, Elz˙bieta: Grenze: Der neue Diskurs über ein altes Konzept: Am Beispiel eines deutschen und polnischen Online-Berichtes im Zeitalter des Coronavirus. In: »Moderna språk« 2/2020, S. 37–53. Rada, Roberta V: Die Konzeptualisierung von Grenze im deutschen und ungarischen Mediendiskurs über die Migration im Jahre 2015. In: Drewnowska-Vargáné, Ewa/Kappel, Péter/Modrián-Horváth, Bernadett/Rauzs, Orsolya (Hg.): »vnd der gieng treulich, weislich vnd mëndlich mit den sachen vmb«: Festschrift für Péter Bassola zum 75. Geburtstag. Szeged: Institut für Germanistik der Universität Szeged 2019, S. 116–137.

Grenzen der Sprache – Grenzen der Forschung

Roman Sadzin´ski / Witold Sadzin´ski (Uniwersytet Łódzki, Łódz´)

»…damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.« Der gefährdeten Conditio humana den Grenzen der Sprache zum Trotz Abhilfe leisten

Umbruchzeiten, nicht zuletzt auch die der COVID-Pandemie, rufen erst recht die Conditio humana1 auf den Plan – allen voran die Vergänglichkeit alles Menschlichen: Der Versuch der Verständigung, die nie auszusetzende Aufforderung, die gemeinsame menschliche Situation zur Sprache zu bringen, das ist es, was der Schlüsselbegriff Condicio humana anzeigt [fett von RS/WS], weit bedeutsamer als alle essenzielle Festlegung, vordringlich gegenüber jedweder gegenständlicher Erkenntnis. Im Fokus steht das Gespräch, das wir sind. […] Was Menschen aneinander haben, wie sie darüber reden, das darf nicht aus dem Blickfeld geraten. Schwindet das Zutrauen in die Möglichkeiten der Selbstbehauptung, versickert der Diskurs der Humanität, so wächst umso mehr die Herausforderung dessen, was im Menschen das Menschliche ausmacht.2 Liebe zur Weisheit besagt, um [das] Kontingente so gut wie um das Inkommensurable bemüht zu bleiben und die Verständigung ohne Einschränkung und Fixierung offen zu halten.3

Der Mensch lebt in zwei Dimensionen – in Kultur und Zivilisation – die interlingual oft ambig in Erscheinung treten, was von Elias4 und Tatarkiewicz5 wie folgt disambiguiert wird:

1 Hier wird die heute übliche Transkription des klassischen Lateins verwendet, während im nachstehenden Zitat [von Hans Peter Balmer: Condicio humana oder Was Menschsein besage. Moralistische Perspektiven praktischer Philosophie. Münster: readbox unipress 2018] die klassische Form beibehalten wird. 2 Ebd., S. 1 [Vorwort]. 3 Balmer, Hans Peter: Verstehen, Verständigen, Anerkennen. Ein Versuch zur Sprachlichkeit des Daseins. München: Universitätsbibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität 2018 [Abstract]. Nicht im wissenschaftlichen Diskurs, sondern im literarischen Text wird die Conditio humana von André Malraux in seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman »La Condition humaine« hinterfragt. Vgl. Malraux, André: La Condition humaine. Paris: Collection Le Livre de Poche (1946 [¹1933]). 4 Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, S. 2. 5 Tatarkiewicz, Władysław: Parerga. Warszawa: PWN 1978, S. 81.

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Vor allem zwischen dem englischen und französischen Gebrauch dieses Wortes [Zivilisation] auf der einen, dem deutschen Gebrauch auf der anderen Seite besteht ein großer Unterschied: Dort fasst der Begriff den Stolz auf die Bedeutung der eigenen Nation, auf den Fortschritt des Abendlandes und der Menschheit in einem Ausdruck zusammen. Hier, im deutschen Sprachgebrauch, bedeutet ›Zivilisation‹ wohl etwas ganz Nützliches, aber doch nur einen Wert zweiten Ranges, nämlich etwas, das nur die Außenseite des Menschen, nur die Oberfläche des menschlichen Daseins umfasst. Und das Wort, durch das man im Deutschen sich selbst interpretiert, durch das man den Stolz auf die eigene Leistung und das eigene Wesen in erster Linie zum Ausdruck bringt, heißt ›Kultur‹.6 ›Ministerium für Kultur‹ heißt zu Recht so, denn wenn es ein Ministerium für Zivilisation wäre, müsste es auch das Flugwesen bzw. den Straßenbau mit umfassen, weil sie doch ebenfalls mit in die Zivilisation gehören; die Aufgabe des Ministeriums für Kultur ist hingegen die Pflege der Kultur der Bürger, die es zu realisieren versucht, indem künstlerische Darbietungen und aufklärende öffentliche Vorführungen veranstaltet werden, die dem Lesehunger, der anspruchsvollen Literatur und der bildenden Kunst dienlich sind7 [a. d. Poln. von RS/WS].8

Während man im zivilisationsorientierten Überbau der Kultur dem Analyseobjekt im Regelfall empirisch beizukommen versucht, greift die Kultur hingegen vorzugsweise zum symbolischen Denken. Mit anderen Worten: Im ersteren Fall geht man daran direkt heran. Andernfalls bedient man sich der Symbole9, wie dies Blaise Pascal in seinen »Pensées« auf den Punkt gebracht hat10: La figure a été faite sur la vérité, et la vérité a été reconnue sur la figure. Anders gesagt: Figuren/Symbole werden auf der Folie der Wahrheit etabliert, aber die Wahrheit [Veritas: adaequatio rei et intellectu] wird ihrerseits nach der Figur/dem Symbol erkannt.11 Symbolisches Denken berührt sich weiterhin aufs Engste mit der

6 Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation, S. 2. 7 Tatarkiewicz, Władysław: Parerga, S. 81. 8 Polnischer Originalwortlaut: »›Ministerstwo kultury‹ jak najsłuszniej […] tak sie˛ nazywa; gdyby było ministerstwem cywilizacji, musiałoby swoimi agendami obja˛c´ lotnictwo czy budowanie autostrad, gdyz˙ sa˛ one niewa˛tpliwie składnikami cywilizacji; ministerstwa kultury zadaniem jest zas´ podnoszenie kultury obywateli, które usiłuje wypełnic´ m. in. przez popieranie odpowiednich widowisk, pokazów, lektur, przez piele˛gnowanie dobrej literatury czy malarstwa«. 9 Symbole verstehen sich nicht zuletzt etymologisch als verkappte Metaphern: Symbol < lat. symbolum < gr. sýmbolon ›Zusammengefügtes‹ – nach dem zwischen verschiedenen Personen vereinbarten Erkennungszeichen, bestehend aus Bruchstücken (z. B. eines Ringes), die zusammengefügt ein Ganzes ergeben (vgl. duden.de). 10 Zit. nach Stewart, H. F. (Hg.): Pascal’s Apology for Religion. Extracted from the ›Pensées‹. First paperback edition. Cambridge/New York [et al.]: Cambridge University Press 2013, S. 169. 11 Vgl. auch Sadzin´ski, Roman: ›Durch die hindurch man ins Leere kommt‹, die Sprache. Zur Sprachskepsis und deren Ausprägung bei Mauthner und Wittgenstein. In: Dorota Kaczmarek et al. (Hg.): Texte im Wandel. Łódz´: Wydawnictwo Uniwersytetu Łódzkiego 2014, S. 83–94, hier S. 93f.

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»sozialen Repräsentanz« (›social representation‹) im Sinne von Moscovici12, die u. a. wie folgt exemplifiziert wird: »We have only to compare God to a father and what was invisible instantly becomes visible in our minds as a person to whom we can respond as such.«13 Ggf. können allerdings die beiden Zugriffe auch abwechselnd gehandhabt werden. So können Menschen, die sonst auf dem festen Grund und Boden der Fakten treten, u. U. zur symbolischen Ausdrucksweise greifen. Man denke etwa an den polnischen Arztdichter und Medizinprofessor Krzysztof Boczkowski (1936–2018), der täglich empirisch mit Krankheit und Tod zu tun hatte, aber seinen eigenen Tod mit einem symbolischen Syllogismus zu verdrängen suchte: Mein Tod ist sicher / Wie zwei mal zwei ist vier. / Also ist eine Abstraktion.14 In etwa analog ging auch Goethe in seiner Autobiographie vor, deren Titel – »Dichtung und Wahrheit«15 – jeweils auf Gedankendunst bzw. auf greifbare empirische Tatsachen anspielt. Allerdings sind der Kombination vom Symbolischen und Empirischen auch Grenzen gesetzt, was Jorge L. Borges’ travestierende Parabel »Von der Exaktheit in der Wissenschaft«16 über die empirische »Vervollkommnung« der Landkarte, die nunmehr so groß wie das zu versinnbildlichende Land sein sollte, veranschaulichen mag.

12 Moscovici, Serge: Foreword. In: Herzlich, Claudine: Health and Illness: A Social Analysis (= European Monographs in Social Psychology. Series editor: H. Tajfel). London (UK) and New York: Academic Press 1973, S. IX – XIV, hier S. X: [Social representation] »is a system of values, ideas and practices with a twofold function; first, to establish an order which will enable individuals to orient themselves in their material and social world and to master it; and secondly to enable communication to take place among the members of a community by providing them with a code for social exchange and a code for naming and classifying unambiguously the various aspects of their world and their individual and group history« [mehr dazu in Moscovici, Serge: Social Representations. Explorations in Social Psychology. Cambridge (UK): ed. by Gerard Duveen 2000, S. 22f.]. Zur Affinität von sozialer Repräsentanz und Metaphorik vgl. Sadzin´ski, Witold: Vergleichskollokationen und generierungsoffene Kreativität. Eine Analyse anhand der »Hundejahre« von G. Grass. In: Gondek, Anna/Jurasz, Alina/Staniewski, Przemysław/Szcze˛k, Joanna (Hg.): Deutsche Phraseologie und Parömiologie im Kontakt und Kontrast I, Beiträge der 2. internationalen Tagung zur Phraseologie und Parömiologie in Wrocław/Polen, 23.–25. Mai 2019 (= Studia Phraseologica et Paroemiologica, Band 2). Hamburg: Verlag Dr. Kovacˇ 2020, S. 67–83, hier S. 75. 13 Moscovici, Serge: Social Representations, S. 49. 14 Im polnischen Originaltext (Boczkowski, Krzysztof: Szkielet Boga. Wiersze z lat 1975–2012. Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 2020): Moja ´smierc´ jest pewna / Jak dwa razy dwa jest cztery / A wie˛c jest abstrakcja˛. 15 Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 3 Bde. Stuttgart/ Tübingen: Cotta 1811–1814. 16 Borges, Jorge Luis: Powszechna historia nikczemnos´ci [aus dem Spanischen von Andrzej Sobol-Jurczykowski und Stanisław Zembrzuski; Originaltitel: Historia universal de la infamia (¹1935)]. Warszawa: PIW 1976, S. 103.

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Die berühmte These 5.6 von Wittgenstein17, der zufolge der natürlichen Sprache Grenzen auferlegt seien, über die hinaus keine bildhafte bzw. bildliche Erschließung18 der außersprachlichen Wirklichkeit mit Hilfe sprachlicher Weltbilder – d. h. »in der Sprache enthaltene[r] Wirklichkeitsinterpretation, die sich als Menge von Denkmustern über die Welt, Menschen, Gegenstände und Ereignisse erfassen lässt«19, also jeweils als (bildhafte) »Evozierung einer sinnlichen Vorstellung, eines Vorstellungsbildes« resp. (bildliche) »Konzeptualisierung abstrakter Sachverhalte mit Hilfe konkreter, d. h. einer metaphorischen Beziehung zweier Konzepte«20 – in Frage kommt, nimmt auf die Kultur Bezug. Wenn es darauf ankommt, können diese Grenzen von der Sprache selbst – von sich aus ebenfalls Emanation der Kultur – signalisiert werden, was von Bierwisch wie folgt auf den Punkt gebracht wurde: »Bedingungen dafür, daß die Sprache etwas nicht ausdrücken kann, sind in der Sprache selbst ausdrückbar. Dies macht die eigentliche, uneinholbare Sonderstellung der natürlichen Sprache aus.«21 Bierwisch mag nicht zuletzt etwa an anfallende metasprachliche Lexeme gedacht haben. So stehen bspw. die Adjektive beschreibbar bzw. erklärbar in kontingenter Opposition zu unbeschreibbar resp. unerklärbar – aber gleichzeitig in exklusiver 17 »5.6 Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt«; Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998 [¹1921]. 18 Wie sonst üblich: »People do not speak in words, they speak in phrasemes« (Mel’cˇuk, Igor A.: Phrasemes in Language and Phraseology in Linguistics. In: Everaert, Martin et al. (Hg.): Idioms. Structural and Psychological Perspectives. Hillsdale: MI 1995, S. 167–232. – zit. beipflichtend in Chlebda, Wojciech: Frazeologiczne zaplecze je˛zykowego obrazu ´swiata. In: Rak, Maciej/Mokienko, Valerij M. (Hg.): Słowian´ska frazeologia gwarowa. Bd. II. Kraków: Ksie˛garnia Akademicka 2020, S. 63–72, hier S. 66, Anm. 6. Dies stellen erst recht die biblischen Gleichnisse unter Beweis – und ohnehin bereits Aristoteles: »the greatest thing by far is to be a master of metaphor: It is the one thing that cannot be learnt from others; and it is also a sign of genius, since a good metaphor implies an intuitive perception of the similarity in dissimilars« (Aristoteles’ Poetik – zit. nach Lichy, Marta: Metaphor and Proximisation in the Analysis of the Discourse of Indirect Threat – A Study of the US Rhetoric on the Russia-Ukraine Conflict. Kraków: AGENT PR 2015, S. 18). 19 Bartmin´ski, Jerzy: Der Begriff des sprachlichen Weltbildes und die Methoden seiner Operationalisierung. In: »tekst i dyskurs – text und diskurs« 5/2012, S. 261–289, hier S. 266. In: Czachur, Waldemar: Diskursive Weltbilder im Kontrast. Linguistische Konzeption und Methode der kontrastiven Diskursanalyse deutscher und polnischer Medien. Wrocław: ATUT 2011, S. 144f. heißen sie »diskursive Weltbilder«. 20 Kapus´cin´ska, Anna: Bildhaft oder bildlich? Kleiner Unterschied mit großer Wirkung. In: Weigt, Zenon et al. (Hg.): Deutsche Sprache in linguistischen Ausprägungen (= Felder der Sprache, Felder der Forschung. Lodzer Germanistikbeiträge). Łódz´: Wydawnictwo Uniwersytetu Łódzkiego 2014, S. 33–40, hier S. 34. 21 Bierwisch, Manfred: Bedeuten die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt? In: Kämper, Heidrun/ Eichinger, Ludwig M. (Hg.): Sprache – Kognition – Kultur. IDS-Jahrbuch 2007. Berlin: Walter de Gruyter 2008, S. 323–355, hier S. 21. URL: https://www.leibnizzas.de/fi leadmin/Archiv2019/mitarbeiter/bierwisch/14_Bierwisch_2008_Grenzen_Sprache.pdf / letzter Zugriff am 12.10. 2021.

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Relation zu unbeschreiblich resp. unerklärlich. Mit anderen Worten: Die ansonsten beschreibbaren bzw. erklärbaren Analyseobjekte können u. U. unbeschreibbar/unerklärbar sein. Demgegenüber sind unbeschreibliche resp. unerklärliche Analyseobjekte unbeschreibbar/unerklärbar schlechthin. Demzufolge gibt es für die Letzteren übrigens auch keine affirmativen Pendants: *beschreiblich/*erklärlich.22 Sprachliche Weltbilder sind wichtige Elemente der Kultur, aber die Zivilisation als deren komplementärer Überbau und Inbegriff des technischen sowie wissenschaftlichen Fortschritts hat zusätzliche Mittel zur Erschließung der außersprachlichen Wirklichkeit. Dem erzielten zivilisatorischen Vorsprung verdanken wir – selbst von der spektakulären bemannten Mondlandung und der Exploration des Weltraums überhaupt einmal abgesehen – nicht zuletzt die Entdeckung des Heliozentrismus anstelle des Geozentrismus und mithin die Einsicht, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt sowie den Nachweis dafür, dass etwa der Morgen- und der Abendstern ein und dasselbe außersprachliche Denotat haben – und zwar nicht einen Stern, sondern den Planeten Venus. Wohlgemerkt – die Entdeckung des Heliozentrismus, die doch zeitlich ziemlich weit weg zurückliegt, hat die althergebrachten sprachlichen Weltbilder keineswegs tangiert: Wir sprechen doch nach wie vor vom Sonnenaufgang und -untergang sowie vom Morgen- und Abendstern.23 Hinzu kommt, dass Sonnenaufgang und -untergang in gutem Einvernehmen mit der beobachterzentrierten Relativitätstheorie bleiben. Selbst Wittgenstein räumt ein: »Die Philosophie darf den tatsächlichen Gebrauch der Sprache in keiner Weise antasten, sie kann ihn am Ende also nur beschreiben«24 – auch wenn er einige Paragraphen früher weitaus prinzipieller war: »Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.«25 Wie zählebig – ungeachtet des Zivilisationsfortschritts – die Elemente der Kultur sein können, davon zeugt nach Malraux »die Erfindung am Morgengrauen der Menschheit der letzten Ruhestätte als siegreichen Wettstreits mit der Zeit. […] darin offenbart sich die Antwort auf die Frage, die von dem Menschen

22 Vgl. in diesem Sinne auch den Titel einer Fallstudie von Mario Wandruszka: Sprachen – vergleichbar und unvergleichlich. München: R. Piper & Co. Verlag 1969. 23 Vgl. Putnam, Hilary: Znaczenie wyrazu ›znaczenie‹. In: Ders.: Wiele twarzy realizmu i inne esseje. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe PWN 1998, S. 93–184, hier S. 112f., 150 [aus dem Engl. von Adam Grobler; engl. Original: The Meaning of ›Meaning‹. In: Ders.: Mind, Language and Reality. Philosophical Papers. vol. 2. Cambridge, Mass. 1975, S. 215–271]. 24 Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Kritisch-genetische Edition. Hrsg. von Joachim Schulte. Frankfurt am Main: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001 [¹1953], § 124. 25 Ebd., § 109; Zum weiterführenden Kommentar vgl. Sadzin´ski, Roman: ›Durch die hindurch man ins Leere kommt‹, die Sprache, S. 87f.

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innewohnenden Ewigkeitsteilchen seit je gestellt wird«26 [a. d. Poln. von RS/WS]. Daran hat sich bis heute so gut wie nichts geändert. Der Tod wird nach wie vor zum Bindeglied zwischen dem dahinscheidenden Leben und einem zu erwartenden Nachleben. Demgegenüber verortet Wittgenstein den Tod – vom zivilisationsorientierten und das Jenseits tabuisierenden Leitgedanken ausgehend – außerhalb des Lebens: »Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.«27 Der Tod wird offenbar dem Leben entfremdet, um es [das Leben] aus der Perspektive des zumindest seit Friedrich Nietzsche im Werdegang begriffenen Homo Deus28 umso mehr triumphieren zu lassen. Desgleichen wird im Hinblick auf die aus der Relativitätstheorie resultierende hypothetische Unzeitlichkeit29 ewiges Leben in Aussicht gestellt: »Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.«30 Ob denn das tatsächlich eine für die Conditio humana (hic et nunc) hinreißende Perspektive ist, mag dahingestellt bleiben, zumal sie ohnehin – wenn überhaupt – allenfalls bei Weltraumexploration mit Lichtgeschwindigkeit in Frage käme – vom elitären Exodus in den interstellaren Kosmos ganz zu schweigen. In der Kulturgeschichte werden Leben und Tod oft abwechselnd unterschiedlich gewichtet. Es sei nur das ausgehende 19. Jh. erwähnt, das bald als Belle Époque (›schöne Epoche‹) und mithin Lebensaffirmation, bald wegen dekadenter Stimmung kurz vor dem Jahrhundertwechsel bis hin zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges – historisch womöglich gar der faktischen Schlussklammer des 19. Jh.31 – als Fin de Siècle (›Jahrhundertende‹) und sinngemäß gleichsam 26 Malraux, André: Przemiana Bogów. Nierzeczywiste. Warszawa: Krajowa Agencja Wydawnicza 1985, S. V. [aus dem Französischen von Joanna Guze; franz. Original: La Métamorphose des Dieux. L’Irréel, Paris: Gallimard 1977]. 27 Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung, 6.4311. 28 Diese Idee wird rück- wie ausblickend in Yuval Noah Harari’s, Professor für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, weltweit derzeitigem gleichnamigem Sachbuchbestseller (2018) vor Augen geführt. Vgl. Harari, Yuval Noah: Homo Deus. Krótka historia jutra. 1. Aufl., aus dem Englischen von Michał Romanek. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2018 [dt. Fassung: Homo deus. Eine Geschichte von Morgen. 1. Aufl., aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn, München: C. H. Beck 2017]. 29 Aus einem Interview Albert Einsteins: »Menschen, die wie wir an die Physik glauben, wissen, dass die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine besonders hartnäckige Illusion ist« [URL: https://www.buboquote.com/de/zitat/353-einstein-die -unterscheidung-zwischen-vergangenheit-gegenwart-und-zukunft-ist-nur-eine-besonders / letzter Zugriff am 12. 10. 2021]. 30 Wittgenstein, Ludwig: Logisch-philosophische Abhandlung, 6.4311. 31 »Viele Historiker nutzen für ihre Periodisierungen nicht die kalendarischen Einteilungen, sondern berufen sich bei der Festlegung von Zäsuren auf politische, soziale oder kulturelle Aspekte. Weit verbreitet ist die These vom ›Langen 19. Jahrhundert‹, das bis zum Beginnn des Ersten Weltkriegs (1914) andauerte«. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/20._Jahrhundert / letzter Zugriff am 12. 10. 2021.

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Weltuntergang in Erscheinung tritt. Der todgeweihten Gesellschaft von damals – in etwa eingedenk des Willens zum Tode Arthur Schopenhauers – darunter vor allem den Betuchten und Mächtigen, ist der große Zeitroman Thomas Manns »Der Zauberberg« (1952) gewidmet. Der Protagonist des Romans, Hans Castorp, ist zum Sterben ins Sanatorium auf dem Zauberberg (Davos in der Schweiz) gekommen – als einer von denen, die es sich leisten konnten: Es sind die drei Wochen, die Hans Castorp ursprünglich dort zu verbringen gedenkt, und aus denen für ihn die sieben Märchenjahre seiner Verzauberung werden. […] Es ist eine Art von Lebens-Ersatz, der den jungen Menschen in relativ kurzer Zeit dem wirklichen, aktiven Leben vollkommen entfremdet. Luxuriös ist oder war alles dort oben, auch der Begriff der Zeit. Es ist heute zu Ende oder so gut wie zu Ende damit. Der »Zauberberg« ist zum Schwanengesang dieser Existenzform geworden [S. 9f., Vorwort].32

Weiterhin heißt es dazu: Sie [diese Existenzform] war gedacht als ein Satyrspiel zu der tragischen Novelle [gemeint ist »Der Tod in Venedig« – RS/WS], die ich eben beendete. Ihre Atmosphäre sollte die Mischung von Tod und Amüsement sein, die ich an dem sonderbaren Ort hier oben erprobt hatte. Die Faszination des Todes, der Triumph rauschhafter Unordnung über ein der höchsten Ordnung geweihtes Leben, die im »Tod in Venedig« geschildert ist, sollte auf eine humoristische Ebene übertragen werden.33

Das Credo, die Botschaft oder gar Mahnung, die Hans Castorp hinterlassen will, wird von Thomas Mann wie folgt auf den Punkt gebracht: Was er begreifen lernt, ist, daß alle höhere Gesundheit durch die tiefen Erfahrungen von Krankheit und Tod hindurchgegangen sein muß, sowie die Kenntnis der Sünde eine Vorbedingung der Erlösung ist. »Zum Leben«, sagt einmal Hans Castorp zu Madame Chauchat, »zum Leben gibt es zwei Wege: der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod und das ist der geniale Weg«. Diese Auffassung von Krankheit und Tod, als eines notwendigen Durchgangs zum Wissen, zur Gesundheit und zum Leben, macht den »Zauberberg« zu einem Initiations-Roman (initiation story).34

Hans Castorp ist nach sieben Jahren Aufenthalt auf dem Zauberberg an dem »Weltfest des Todes« – wie der Erste Weltkrieg in dem Roman heißt – umgekommen. Es wäre hämisch zu fragen, ob er denn auf seine Kosten gekommen sei. Vielmehr sollte man sagen, dass Menschengenerationen einen Staffellauf zu bestreiten haben – Irrwege mit inbegriffen – um voneinander zu lernen und 32 Mann, Thomas: Der Zauberberg. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH 1952 [¹1924], S. 9f. [Vorwort des Autors] – auch URL: http://www.cje.ids.czest.pl/biblioteka/Der%20Zaube rberg%20Mann.pdf / letzter Zugriff am 12. 10. 2021. 33 Ebd., S. 10. 34 Ebd., S. 17.

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folglich auf einen jeweils neuen, angemesseneren »Modus Operandi« von Leben und Tod hinzuarbeiten. Dies wird aber voraussichtlich nie ein Ende nehmen, sondern ggf. gar Rückschläge erfahren, denn Hans Castorps Idee des Menschen ist die Konzeption einer zukünftigen, durch tiefstes Wissen um Krankheit und Tod hindurchgegangenen Humanität. Der Gral ist ein Geheimnis, aber auch die Humanität ist das. Denn der Mensch selbst ist ein Geheimnis, und alle Humanität beruht auf Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Menschen.35

– so schließt Thomas Mann sein Vorwort ab, ursprünglich als Vortrag vor Studenten in Princeton (Mai 1939) konzipiert, indem er den Tenor seines vorausgehenden Kommentars unter Berufung auf Humanität und Unterlassung der vorhin erwähnten humoristischen Ebene sichtlich moderiert. Wer weiß, ob die Zeit für die Botschaft bzw. Mahnung Hans Castorps an die Nachkommen an der zurzeit grassierenden Pandemie nicht gerade wieder aktuell wird. Mit André Malraux zu sprechen: Der Tod ist wichtig, weil er uns über den Sinn des Lebens nachdenken lässt.36 Bevor es – behüte Gott! – so weit sein sollte, schauen wir uns an, welche Facetten das Narrativ vom Leben und Tod in der schöngeistigen Literatur der Folgezeit bzw. der Zeitgeschichte annimmt. Man darf dies in nuce wohl wie folgt vorwegnehmen: Primat des Lebens vor dem Hintergrund des Todes. Zu Beginn lassen wir Wisława Szymborska, die polnische Literaturnobelpreisträgerin von 1996, zu Wort kommen. Wie vorausgehend Wittgenstein, so betrachtet auch sie die Ewigkeit und mithin die Unsterblichkeit nicht als unendliche Zeitdauer – sie spricht vielmehr Mut zu, indem sie darauf verweist, dass das Leben es im Griff hat, den Tod immer wieder zu täuschen, zu überlisten oder gar zum Narren zu halten – man müsste sich scheinbar nur auf eine andere Definition der Untersterblichkeit einigen – ist doch die Sprache schließlich eine intersubjektive Konvention: Es gibt kein solches Leben, das nicht wenigstens für einen Augenblick unsterblich wäre. Der Tod kommt immer um diesen einen Augenblick zu spät.37 35 Ebd., S. 20. 36 Dieser Gedanke kommt bei Malraux an verschiedenen Stellen vor – z. B. in dem bereits (vgl. Anm. 3) abgerufenen Roman »La Condition Humaine«: ›On peut communiquer même avec la mort… C’est le plus difficile mais peut-être est-ce le sens de la vie‹; Malraux, André: La Condition humaine (S. 156). 37 Szymborska, Wisława: Die Gedichte [aus dem Polnischen von Karl Dedecius]. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. Polnischer Originalwortlaut: Nie ma takiego z˙ycia, / które by choc´ przez chwile˛ / nie było nies´miertelne./ S´mierc´ / zawsze o te˛ chwile˛ przybywa spóz´niona. Vgl.

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Auch wenn das Leben dem Tod immer wieder seinen Tribut zu zollen hat, zieht es gleichwohl eine positive Bilanz – wie es bereits zuvor auch Gottfried Benn u. a. in seinem Gedicht »Schleierkraut« zum Ausdruck gebracht hat38: Leben ist Brückenschlagen über Ströme, die vergehn.

Es gibt viele Facetten des Mutzuspruchs für ein zielbewusstes und angstfreies Leben – die Todesangst hin oder her. In seinem Gedicht »Cuarteta« (›Viervers‹) aus dem Band »El hacedor« schöpft Jorge L. Borges39 Trost daraus, dass der Tod einzig und allein in die Vergangenheit verbannt bleibt, sodass man getrost der Zukunft entgegenblicken könne40: Andere sind gestorben, aber das ereignete sich in der Vergangenheit, die (wie alle wissen) dem Tod am zuträglichsten ist. Ist es möglich, dass ich, der Untergebene Jakob Al-Mansura’s, sterben sollte wie die Rosen und Aristoteles?

Der Tod (genauer gesagt: der Todesinstinkt) kann aber sogar – so paradox es auch anmuten mag – dem Leben zuträglich sein und es vor einer Tragödie retten. Dies kann an der Parabel »Der Leopard vom Kilimandscharo«, die den gleichnamigen, unübersehbar Affinitäten zu Ernest Hemingways »Schnee am Kilimandscharo« (1952) aufweisenden Roman von Olga Larionowa41 abschließt, veranschaulicht werden – wie sie bereits an anderer Stelle42 abgerufen und kommentiert wurde: Hemingways Protagonist, der Schriftsteller Harry Street, klettert zusammen mit seiner Frau Helen auf den Kilimandscharo, um herauszubekommen, wieso seinem Onkel Bill zufolge am Gipfel des Berges das Skelett eines Leoparden gefunden wurde und was er dort zu suchen hatte. Olga Larionowa lüftet das Geheimnis parabelhaft mit dem Hinweis darauf, dass das Tier tödlich verunglückte, weil es – von seinem angestammten Habitat verdrängt – um jeden Preis ums Überleben ringend seine angeborene Todesfurcht einbüßte, die sein Leben vor dem Tod zu schützen hatte. Der Tod ereilt uns halt nicht zuletzt deshalb, weil wir keinen Respekt mehr vor ihm haben: ›Über den steilen Abhang kletterte ein Leopard in die Höhe. Er war dem Tode nahe, doch er kroch immer

38 39 40 41 42

Szymborska, Wisława (1996): Widok z ziarnkiem piasku. Poznan´: Wydawnictwo a5 1996, S. 111. Benn, Gottfried: Schleierkraut. In: Gesammelte Gedichte. 2. Auflage. Wiesbaden: Limes Verlag 1956, S. 126. Borges, Jorge Luis: El hacedor. Madrid: Alianza Editorial, S.A. 1998 [¹1960]. URL: http:// www.anffos.cl/Descargas/BIB / letzter Zugriff am 12. 10. 2021. Spanischer Originaltext: Murieron otros, pero ello aconteció en el pasado, / que es la estación (nadie lo ignora) más propicia a la muerte. / ¿Es posible que yo, súbdito de Yakub Almansur, / muera como tuvieron que morir las rosas y Aristóteles? Larionowa, Olga: Der Leopard vom Kilimandscharo [aus dem Russischen von Aljonna Möckel]. Berlin: Neues Leben 1974. Sadzin´ski, Witold: Auch das Beschimpfen ist eine Art, miteinander zu reden. In: »Linguistische Treffen in Wrocław«, 16, 2019 (II), S. 161–176, hier S. 166.

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vorwärts, getrieben von dem unbändigen Willen weiterzuleben, einem Willen, mit dem ihn der Mensch anstelle des verlorengegangenen Todesinstinktes ausgestattet hatte‹.43

Im Anschluss daran sei darüber hinaus an postmortales hic gaudet mors succurrere vitae erinnert, das noch an Prosekturen zu prangen kommt und anderen Gesundheit oder gar Lebensrettung in Aussicht stellt. Heutzutage ist der Tod voll und ganz zum Tabu geworden und die Thematisierung des Todes – gar zur Provokation. Der natürliche Umgang mit dem Tod ist verloren gegangen: Früher wußte man (oder vielleicht man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen großen. Die Frauen hatten ihn im Schooß und die Männer in der Brust. Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und einen stillen Stolz.44

– so sinniert Malte Laurids Brigge in Rilkes »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« über den veränderten Umgang mit dem Tod. Hinzu kommt auch die nachstehende, oft zitierte Passage mit dem sonst der Diathese unfähigen Verb sterben, das hier im entpersonifizierenden und entfremdenden oder den Sterbenden/Toten gar verleugnenden Passivsatz begegnet45: Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig [fett von RS/WS]. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er 43 Larionowa, Olga: Der Leopard vom Kilimandscharo, S. 252. 44 Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. 1875, S. 4. URL: http:// www.digbib.org/Rainer_Maria_Rilke_1875/Die_Aufzeichnungen_des_Malte_Laurids_Brig ge_.pdf / letzter Zugriff am 12. 10. 2021. 45 Wenn man im Umgang mit dem Sterben und Tod seiner Nächsten kaum Empathie bekundet, wird man diesbezüglich den Fremden gegenüber offenbar erst recht indifferent bleiben. Und nichts ist für Todgeweihte schrecklicher als fehlende menschliche Anteilnahme und Handreichung. Dies trifft aber ebenfalls auf die – wie man früher sagte – vom bürgerlichen Tod Betroffenen zu, die aus heutiger Perspektive von Zygmunt Bauman »die Ausgegrenzten der Moderne« genannt werden – vgl. dessen Fallstudie Verworfenes Leben (Hamburg: Hamburger Edition 2005) mit dem gleichnamigen Untertitel: »Baumans These trifft den Kern der neuzeitlichen Rationalität: Ein – wenn nicht sogar das zentrale – Ergebnis von Modernisierungsprozessen besteht in der Exklusion von Menschen aus den sozialen, nationalstaatlichen und kulturellen Zusammenhängen. Ortlose Migranten, Flüchtlinge und für ›überflüssig‹ gehaltene Menschen – in ihrem Schicksal manifestiert sich die Tatsache, dass die Entwicklung der modernen Gesellschaften in ökonomischer und politischer Hinsicht nicht etwa in der Integration aller besteht. Ganz im Gegenteil: Die Moderne wirkt sich höchst selektiv aus; Deprivation ist ihr besonderes Kennzeichen. Bauman zeigt auf, wie Exklusion mit der Modernisierung und Globalisierung einhergeht« [ebda, Klappentext].

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wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott; das ist alles da. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen oder man ist dazu gezwungen: nun, keine Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur. Man stirbt, wie es gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehört, die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt, weiß man auch, daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen nichts zu tun).46

In diesem Zusammenhang sei darüber hinaus Rilkes Gebet aus seinem »Stundenbuch« abgerufen, das eine Harmonie zwischen dem Leben und dem Tod (wieder) herzustellen herbeiwünscht47: O Herr, gib jedem seinen eignen Tod. Das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not. Denn wir sind nur die Schale und das Blatt. Der große Tod, den jeder in sich hat, das ist die Frucht, um die sich alles dreht.

Wie ein postumer Dialog mit dem Dichter bzw. Widerhall seines Gebets mag das Bühnenstück »Der Tod im alten Dekor« des mehrfachen polnischen Nobelpreiskandidaten Tadeusz Róz˙ewicz angesehen werden.48 Sein Protagonist träumt sein Leben lang von einer Reise nach Italien, um der mondänen Kunst in ihrem Originaloutfit hautnah zu begegnen.49 Es ist gut möglich, dass er dort am Stendhal-Syndrom gestorben ist. Der Regisseur Konrad Swinarski, der dieses Theaterstück aufgeführt hat, hat dies in einem Interview wie folgt auf den Punkt gebracht: Das Stück ende zwar mit dem Tod des Protagonisten, aber man müsste es einmal wieder rückwärts gesehen haben – dann führt es zum Leben zurück. Halten wir also fest: Er starb seinen eigenen Tod, der eine folgerichtige Ergänzung seines Lebens war – wie es halt Rilke und Róz˙ewicz ebenfalls gutheißen würden. Der Reigen von Leben und Tod und wiederum Leben und… – Martin Heidegger würde, seinem Hauptwerk »Sein und Zeit« nachempfunden, sagen: das Zittern des ›und‹ in der Zeit – hört nie auf. Thomas S. Eliot bringt es im 4. Teil

46 Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, S. 4. 47 Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch. Das Buch von der Armuth und vom Tode. Leipzig: Insel-Verlag 1918 [¹1903], S. 87. URL: https://www.gutenberg.org/cache/epub/24288/pg2428 8-images.html / letzter Zugriff am 12. 10. 2021. 48 Róz˙ewicz, Tadeusz: S´mierc´ w starych dekoracjach. Warszawa: PIW 1969. 49 Vgl. Górska, Irena: »S´mierc´ w starych dekoracjach«, czyli »aesthesis« według Tadeusza Róz˙ewicza [Death in the Old Decorations, i. e. aisthesis, according to Tadeusz Róz˙ewicz]. In: »Przestrzenie Teorii« 21. Poznan´: Adam Mickiewicz University Press 2014, S. 181–194, hier S. 187.

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Roman Sadzin´ski / Witold Sadzin´ski

(»Little Gidding«) seines Zyklus »Four Quartets«50 wie folgt bildlich zum Ausdruck51: What we call the beginning is often the end And to make an end is to make the beginning. The end is where we start from. […] We shall not cease from exploration And the end of all our exploring Will be to arrive where we started And know the place for the first time.

Dasselbe wurde von Goethe in seiner Ballade »Der Fischer« hingegen bildhaft zum Ausdruck gebracht52 (Fettmarkierung der beiden anfallenden spiegelbildseitenverkehrten Verse von RS/WS): Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, Ein Fischer saß daran, Sah nach dem Angel ruhevoll, Kühl bis ans Herz hinan. Und wie er sitzt und wie er lauscht, Teilt sich die Flut empor: Aus dem bewegten Wasser rauscht Ein feuchtes Weib hervor. Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm: ›Was lockst du meine Brut Mit Menschenwitz und Menschenlist Hinauf in Todesglut? Ach wüßtest du, wie’s Fischlein ist So wohlig auf dem Grund, Du stiegst herunter, wie du bist, Und würdest erst gesund. Labt sich die liebe Sonne nicht, Der Mond sich nicht im Meer? Kehrt wellenatmend ihr Gesicht

50 Zit. nach http://www.davidgorman.com/4Quartets/4-gidding.htm / letzter Zugriff am 12. 10. 2021. 51 Vgl. auch Sadzin´ski, Roman: Zur Übersetzung prägnanter schöngeistiger Texte. Mit einer exemplarischen Analyse polnischer Translate der Ballade Der Fischer von J. W. Goethe. In: Lipczuk, Ryszard et al. (Hg.): Sprache und Meer/und mehr. Linguistische Studien und Anwendungsfelder (Reihe: Stettiner Beiträge zur Sprachwissenschaft, Bd. 6). Hamburg: Verlag Dr. Kovacˇ 2015, S. 123–138, hier S. 133. 52 Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke. Kritisch durchgesehene Ausgabe mit Beifügung aller Lesarten. Bd. 2 (Gedichte), hrsg. von Heinrich Kurz. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts 1832, S. 189f.

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Nicht doppelt schöner her? Lockt dich der tiefe Himmel nicht, Das feuchtverklärte Blau? Lockt dich dein eigen Angesicht Nicht her in ew’gen Tau?‹ Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, Netzt’ ihm den nackten Fuß; Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll Wie bei der Liebsten Gruß. Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm; Da war’s um ihn geschehn; Halb zog sie ihn, halb sank er hinUnd ward nicht mehr gesehn.

Der Fischer glaubt, es sei eine bildschöne Wassernymphe, indes sieht er im Wasserspiegel sich selbst und will zu seinem Alter Ego ’rüber, um mit ihm eins zu werden. Davon zeugt die spiegelbildseitenverkehrte Folge Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm zu Beginn der 2. Strophe und Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm mitten in der 4. Strophe. Und das Wasser – das Wasser ist Fruchtwasser, wie bereits an anderer Stelle hinterfragt und auf Approximation hin überprüft: Der Fischer erlebt gleichsam ein pränatales Déjà-vu im Fruchtwasser und kann sich naturgemäß unmöglich wiedererkennen, kann aber auch dem genetisch und molekular memorierten Behaglichkeitszustand nicht widerstehen [›Lockt dich dein eigen Angesicht / Nicht her in ew’gen Tau?‹]. Unser (platonisches) Urbild, unser Archetyp ist ein Noumen ›Ding an sich‹ im phänomenologischen Sinne Edmund Husserls, das im Unterschied zum Phänomen nicht direkt erkennbar ist – man kann es allenfalls ahnen. Der Fischer hat es geahnt, auch wenn er nach außen hin einer Sirene in die Falle gegangen ist.53

Zum Schluss sei nun die linke Satzklammer des der zu steigernden Entropie halber abgebrochenen Titelzitats wieder hergestellt. Der vollständige Wortlaut heißt »Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen« – und kommt von keinem Geringeren als Friedrich Nietzsche.54 In dem vorausgehenden Text wurde es zwar nur auf die schöngeistige Sprachkunst – vorzugsweise die Lyrik – abgesehen, aber die Sprachkunst hat anderen Künsten voraus, dass sie auf jene seit der Antike in Form einer Ekphrasis einen kommentierenden 53 Sadzin´ski, Roman: Zur Übersetzung prägnanter schöngeistiger Texte, S. 133. 54 Nietzsche, Friedrich: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. Werke in drei Bänden, Band 3. München 1954, S. 830–838, hier S. 830. Der namhafte polnisch-britische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman verweist im Zusammenhang damit darauf, dass wir Nietzsche zufolge zwischen der »Wahrheit der Wissenschaft« und der »Wahrheit der Kunst« zu unterscheiden haben – vgl. Bauman, Zygmunt: Prawda nauki, prawda sztuki. In: Zeidler-Janiszewska, Anna (Hg.): O szansach i pułapkach ponowoczesnego ´swiata. Materiały z seminarium Profesora Zygmunta Baumana w Instytucie Kultury ( jesien´ 1995-wiosna 1996). Warszawa: Instytut Kultury, S. 114–129, hier S. 119.

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Roman Sadzin´ski / Witold Sadzin´ski

i-Punkt zu setzen vermag.55 Und Martin Heidegger wusste sogar, die schöngeistige Sprachkunst für die Ergründung der grundlosen Untiefen der Philosophie erfolgreich zu nutzen – zu Heideggers dichterischer Philosophie vgl. die Fallstudie von Arkadiusz Z˙ychlin´ski.56 Dichtung und Prosa sind im Grunde zwei verschiedene Realisierungen der schöngeistigen Sprachkunst, obwohl die Bezeichnungen für ihre Schöpfer – Dichter und Schriftsteller – im deutschen Sprachgebrauch oft abwechselnd zum Einsatz kommen. Dies liegt daran, dass Dichter (< lat. dictare57 ursprünglich für Schöpfer der Prosawerke stand, die wegen ihres Umfangs meist einem Sekretär diktiert wurden. Im heutigen Sprachgebrauch steht Dichter in der Regel für Schöpfer der Lyrik und schließt damit die alterungsbedingte Lücke, der sowohl ahd. Skop58 als auch mhd./fnhd. Sänger zum Opfer gefallen sind. In der Dichtung/Lyrik hat Bachtin59 zufolge das Wort/Symbol das Primat, dem der Text untergeordnet ist. Gerade umgekehrt ist es um Prosa (bis auf dichterische Prosa) bestellt, wo der Text – darunter Dialog bzw. innerer Dialog – dominant ist und das Wort darin aufgehen lässt.60 Mit anderen Worten: Prosa ist für eine kommunikative Kooperation (Interaktion) charakteristisch, wie sie auch dem empirischen Arbeitsmodus weitgehend eigen ist. Die Dichtung hingegen ist für kulturimmanentes symbolträchtiges Denken charakteristisch, wie dessen Begriffsraster bereits zu Beginn des Beitrags abgesteckt wurde.

55 Sadzin´ska, Ewa/Sadzin´ski, Witold: Über eine Ekphrasis von Alexander Kuschner. Zur Frage der Rezeption der Antike in der russischen Lyrik des 21. Jhd.s. In: »Philologia Classica« 15 (2)/ 2020, S. 354–370. Auch URL: https://doi.org/10.21638/spbu20.2020.21 / letzter Zugriff am 12. 10. 2021. 56 Z˙ychlin´ski, Arkadiusz: Unterwegs zu einem Denker. Eine Studie zur Übersetzbarkeit dichterischer Philosophie am Beispiel der polnischen Übersetzung von Martin Heideggers ›Sein und Zeit‹. Wrocław–Dresden: Neisse Verlag 2006. 57 Vgl. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Aufl. Berlin/ New York: Walter de Gruyter 1989, S. 142 [unter dichten]. 58 Mettke, Heinz: Älteste deutsche Dichtung und Prosa. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun 1976, S. 21. 59 Bachtin, Michaił: Problemy literatury i estetyki [aus dem Russischen von Wincenty Grajewski]. Warszawa: Czytelnik 1982, S. 101–131, insbes. 113. 60 Vgl. in diesem Sinne auch Stelmaszczyk, Barbara: Istniec´ w dwoistym ´swiecie…Model człowieka i obrazy Boga w poezji Bolesława Les´miana. Łódz´: Wydawnictwo Uniwersytetu Łódzkiego 2009, S. 24.

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Roman Sadzin´ski / Witold Sadzin´ski

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Roman Sadzin´ski / Witold Sadzin´ski

Z˙ychlin´ski, Arkadiusz: Unterwegs zu einem Denker. Eine Studie zur Übersetzbarkeit dichterischer Philosophie am Beispiel der polnischen Übersetzung von Martin Heideggers ›Sein und Zeit‹. Wrocław–Dresden: Neisse Verlag 2006.

Linguistische Annäherungen an das Phänomen Grenze in der Literatur

Heinz-Helmut Lüger (Universität Koblenz-Landau)

Grenzziehungen bei Theodor Fontane. Soziale Selbstund Fremdpositionierungen im Stechlin

1

Einleitung

Ein wichtiges Anliegen in den Romanen Fontanes besteht nicht zuletzt darin, die beteiligten Figuren auch bezüglich ihrer Stellung im gesellschaftlichen Umfeld zu charakterisieren. Welchem Milieu, welcher Schicht, welcher Lebenswelt lassen sich die Protagonisten zuordnen? Welche Wertschätzung erfahren sie, inwieweit unterscheiden sich Selbst- und Fremdpositionierungen? Welche Kriterien spielen bei der sozialen Stratifikation eine Rolle? Ein spezielles Augenmerk gilt dabei dem jeweiligen Sprachverhalten, dies vor allem in der Figurenrede (Gebrauch fremdsprachiger Einsprengsel, dialektaler oder regionalspezifischer Ausdrücke, Umgang mit Redewendungen und geflügelten Worten, Formen verbaler Höflichkeit, Vorkommen sprachreflektierender Äußerungen). Im Folgenden soll versucht werden, einige der für den Stechlin charakteristischen Aus- und Abgrenzungen nachzuzeichnen und einen Blick auf das Gesellschaftsbild Fontanes zu werfen.

2

Fontane und seine Nähe zur Sprache

Es zeichnet den Sprachgebrauch in den Romanen Fontanes aus, Annäherungen an Varietäten der Alltagskommunikation anzustreben. Das gilt besonders für die zahlreichen Gesprächspassagen. Die Anpassung an die Sprechweisen bestimmter Gruppen oder Milieus, die Charakterisierung einzelner Figuren in Abhängigkeit von ihrer regionalen Herkunft, ihrer Schichtzugehörigkeit, ihrem Bildungsstand, ihren Aufstiegsbemühungen, von ihrer emotionalen Befindlichkeit, all das gehört ohne Frage zu den typischen Merkmalen der Darstellungskunst Fontanes.1 1 Vgl. hierzu bereits aus unterschiedlichen Perspektiven: Mittenzwei, Ingrid: Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen. Bad Homburg u. a.: Gehlen 1970; Loster-Schneider, Gudrun: Der Erzähler Fontane. Seine politischen Positionen in den Jahren

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Heinz-Helmut Lüger

Und damit dürfte schließlich auch das sprachwissenschaftliche Interesse an Fontane-Texten zusammenhängen.2 Trotz der offenkundigen Annäherung an Alltagssprachliches bleibt jedoch eines zu bedenken: Es kann sich immer nur um fingierte Alltagssprache oder um simulierte Mündlichkeit handeln. Auch wenn in literarischen Texten nicht von vornherein alle Kommunikationsregeln aufgehoben sind, würde etwa die Wiedergabe bestimmter Gesprächsstrukturen als unangemessen gelten; Sequenzen parallelen Sprechens, Selbstkorrekturen, Verzögerungsphänomene oder Hörersignale kommen von daher in literarischen Dialogen normalerweise nicht vor. Und natürlich können Paraverbales (z. B. Prosodie) und Extraverbales (Gestik, Mimik) nicht adäquat reproduziert werden. Auf der anderen Seite sorgt die Abkoppelung von der alltagsweltlichen Bezugswelt auch für neue Freiräume, so können sich z. B. hinsichtlich der Lexik oder der Wortbildung – und darüber hinaus – andere und kreative Möglichkeiten ergeben. »Man disqualifiziert sich wohl nicht als Fiktionstheoretiker, wenn man die Kompensation von lebensweltlich Versagtem, Entbehrtem, von ungestillten Bedürfnissen als Faktor fiktionaler Wirklichkeitsdarstellung in Anschlag bringt.«3 Das betrifft ebenso die verbalen Mittel und Verfahren, mit denen bei Fontane Ab- und Ausgrenzungen intendiert werden. Dies sei im Folgenden weiter konkretisiert. Ausgehend vom Konzept der ›Positionierung‹ (Kap. 2) konzentriert sich die Aufmerksamkeit vor allem auf Möglichkeiten der sprachlichen Umsetzung. Dabei stehen vier Bereiche im Vordergrund: der Einsatz verschiedener Varietäten, der Gebrauch fester Wortverbindungen, sog. »wiederholter Rede«, Formen verbaler Höflichkeit und metakommunikative Kommentare (vgl. Abb. 1). Als Textbasis für die Untersuchung dient der Roman Der Stechlin, Fontanes letztes, 1898 erschienenes Werk. Zur Veranschaulichung werden Beispiele herangezogen, die vier markante Personengruppen betreffen (Kap. 3).

1864–1898 und ihre ästhetische Vermittlung. Tübingen: Narr 1986; Warning, Rainer: ›Causerie‹ bei Fontane. In: Ehlich, Konrad (Hg.): Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 295–306. 2 Verwiesen sei z. B. auf: Gauger, Hans-Martin: Sprachbewußtsein im »Stechlin«. In: Schnitzler, Günter (Hg.): Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhart Baumann. München: Fink 1980, S. 311–323; Lüger, Heinz-Helmut: Ut vir, sic oratio – Wiederholte Rede und »Geistreichigkeitssprache« bei Fontane. In: Merten, Stephan/Pohl, Inge (Hg.): Texte. Spielräume interpretativer Näherung. Festschrift für Gerhard Fieguth. Landau: Knecht 2005, S. 377–393; Burger, Harald/Zürrer, Peter: Plurilinguale Phraseologie bei Theodor Fontane und ihr zeitgeschichtlicher Hintergrund. In: Lenk, Hartmut E.H./Richter-Vapaatalo, Ulrike (Hg.): Sie leben nicht vom Verb allein. Beiträge zur historischen Textanalyse, Valenz- und Phraseologieforschung. Berlin: Frank & Timme 2015, S. 91–117. 3 Preisendanz, Wolfgang: Zur Ästhetik des Gesprächs bei Fontane. In: Stierle, Karlheinz/Warning, Rainer (Hg.): Das Gespräch. München: Fink 1984, S. 473–487, hier S. 485.

Grenzziehungen bei Theodor Fontane

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Abb. 1: Grenzziehungsverfahren bei Fontane

3

Selbst- und Fremdpositionierung

Die Position, die Romanfiguren relativ zu anderen Handlungsbeteiligten einnehmen oder innehaben, ist weder a priori vorgegeben noch liegt sie ein für allemal fest; sie ist vielmehr ständig revidierbar und unterliegt den jeweiligen Entwicklungen im Textverlauf. Entscheidend sind die Maßnahmen, die Äußerungen, mittels derer die Beteiligten aufeinander einwirken. Hierfür sei der Terminus ›Positionierung‹ reserviert; er bezeichnet alle Aktivitäten eines Protagonisten, die darauf abzielen, jemandes Stellung in einer gegebenen Personenoder Figurenkonstellation zu beeinflussen, also zu bestätigen oder zu verändern.4 Es geht hier nicht um ein wie auch immer geartetes psychologisches Konzept, sondern um zuschreibbare Akte oder Handlungen, mit denen bestimmte Positionsmerkmale »in Kraft gesetzt« werden. Einige Dialogausschnitte mögen das illustrieren. (1) [Graf Barby:] »Und glaubst Du nicht auch (denn warum käme er sonst so oft), daß er was vorhat?« → [Jeserich:] »Glaub ich auch, Herr Graf.« »Na, was glaubst du?« → »Gott, Herr Graf…« 4 Vgl. Spitzmüller, Jürgen et al.: Soziale Positionierung: Praxis und Praktik. In: »Wiener Linguistische Gazette« 81/2017, S. 1–18. – ›Positionierung‹ ist zumindest partiell vergleichbar mit dem Kontextualisierungs-Begriff, wie er für natürliche Dialoge bestimmt wird von Auer, Peter: Kontextualisierung. In: »Studium Linguistik« 19/1986, S. 22–47, hier S. 40f. (»Wie stehen wir (gerade) zueinander?«).

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»Ja, Jeserich, du willst nicht raus mit der Sprache. Das hilft dir aber nichts. Wie denkst du dir die Sache?« → Jeserich schmunzelte, schwieg aber weiter […]. (XI, 130f.)5

In (1) liegt eine Situation vor, in der der Hausdiener Jeserich sich an Mutmaßungen seines Herrn Graf Barby beteiligen soll. Diese betreffen jedoch einen sehr persönlichen Bereich aufseiten der »Herrschaft«, nämlich das Liebesverhältnis zwischen Armgard, der Tochter Barbys, und Woldemar von Stechlin. Vor diesem Hintergrund ist Jeserich nicht bereit, seine angestammte Position zu verlassen und sich auf ein für ihn möglicherweise gefährliches Terrain zu begeben. Als Diener enthält er sich jeder persönlichen Stellungnahme und antwortet auf die Suggestivfrage zunächst nur mit einer allgemeinen Zustimmungsformel, verbunden mit einer Titelanrede, die die vorhandene Hierarchie klarstellt (und die asymmetrische Anrede akzeptiert). Auch die insistierende Nachfrage Barbys führt nur zu einer ausweichenden Reaktion (»Gott, Herr Graf…«), und selbst die anschließende massive Aufforderung zu einer Meinungsäußerung löst lediglich Schmunzeln und Schweigen aus. Das Gesprächsverhalten Jeserichs kann man insofern als eine Form konsequenter Selbstpositionierung betrachten; er verbleibt auf seinem vertrauten Territorium und entzieht sich standhaft jeder Grenzveränderung. Umgekehrt laufen die in ihrer Intensität gesteigerten Einwirkungsversuche Barbys bei seinem Bediensteten auf eine (allerdings nicht erfolgreiche) direkte Fremdpositionierung hinaus. Der Sprecher ist bemüht, sein Gegenüber gleichsam als Gesprächspartner zu gewinnen und zumindest für die gegebene Kommunikationssituation einen Austausch auf Augenhöhe zu initiieren. Dabei bedient er sich verschiedener nähesprachlicher Mittel6: Auffällig ist z. B. die Prokopierung, der Wegfall von Wortanfangslauten (was < etwas, raus < heraus); hinzu kommen das vertrauliche, frageeinleitende na (»Na, was glaubst du?«), die Verwendung informeller Redewendungen wie sich die Sache denken, mit etw. raus wollen und schließlich der Gebrauch einfacher syntaktischer Kurzformen. In Fortsetzung der in (1) wiedergegebenen Sequenz gibt Barby sein Fremdpositionierungs-Bemühen keineswegs auf und versucht, mit einer forcierenden Fragebatterie sein Ziel doch noch zu erreichen:

5 Zitiert wird nach der Reclam-Ausgabe von 1973; in Klammern sind jeweils Kapitel und Seiten angegeben. 6 Im Sinne von Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf: Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch. Tübingen: Niemeyer 1990, hier S. 8ff.; ausführlich mit Bezug auf Fontane: Buffagni, Claudia: Weibliche und männliche Dienerfiguren im ›Stechlin‹: Soziale Identitäten in der Kommunikation. In: Fischer, Hubertus/Mugnolo, Domenico (Hg.): Fontane und Italien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 23–47.

Grenzziehungen bei Theodor Fontane

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(1a) [Graf Barby:] »Also du hast doch auch so was gesehen. Alles dreht sich immer um die. Wie denkst du dir nun den Rittmeister? Und wie denkst du dir die Damen? Und wie steht es überhaupt? Ist es die oder ist es die?« [Jeserich:] »Ja, Herr Graf, wie soll ich darüber denken? Mit Damen weiß man ja nie – vornehm und nicht vornehm, klein und groß, arm und reich, das ist all eins. […]« (XI, 131)

An der unbeirrbaren Haltung Jeserichs, seiner klaren Grenzziehung scheitert auch der letzte Versuch: Mit der ausweichenden, absolut nichtssagenden Antwort wird erneut ein Festhalten an der zuvor erklärten Selbstpositionierung bekundet. Während man die Fremdpositionierungs-Bemühungen Barbys als direkt bezeichnen kann, da im Austausch mit dem Gesprächspartner ausgehandelt, finden sich im Roman ebenso (gelegentlich auch im Erzählertext) Beispiele für indirekte Fremdpositionierungen: (2) [Dubslav:] »[…] Das sind natürlich Gundermanns; die kommen immer zu früh. Der arme Kerl hat mal was von der Höflichkeit der Könige gehört und macht jetzt einen zu weitgehenden Gebrauch davon. Autodidakten übertreiben immer.« (II, 23)

Gundermann, ein Holzhändler und Mühlenbesitzer, gehört im Stechlin zu den Personen, die gerade bei Vertretern des traditionsorientierten Adels keine besondere Wertschätzung genießen; er gilt als »Klutentreter«, Mann »öder Redensarten« und als erzkonservativer Parvenü, der allein schon vom Sprachverhalten her auf große Ablehnung stößt. Von daher ist es wenig überraschend, wenn auch Dubslav negativ über ihn redet und seine Einschätzung u. a. mit einer Anspielung auf ein aus dem Französischen stammenden geflügelten Wort zum Ausdruck bringt: Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige.7 Zusätzlich verstärkend wirkt der Gemeinplatz Autodidakten übertreiben immer. Damit findet praktisch eine doppelte Grenzziehung und indirekte Fremdpositionierung statt: eine bildungsmäßige (wegen mangelnder historischer Verankerung des Protagonisten) und eine sozialpolitische (wegen plumper, ausschließlich rückwärtsgewandter politischer Bewertungen). Diese Ausgrenzung aus der Commeil-faut-Gemeinschaft wird von verschiedenen Romanfiguren geteilt und – zum Amüsement des Leserpublikums – an mehreren Textstellen entsprechend entfaltet.

7 Gemeint ist der Ludwig XVIII. (1814/15–1824) zugeschriebene Ausspruch L’exactitude est la politesse des rois – so auch Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes. Frankfurt/M. 351986, hier S. 331.

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4

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Ab-/Ausgrenzung und Stereotypenbildung

Wie schon angedeutet, spielen Abgrenzungen und Positionierungen bezüglich bestimmter gesellschaftlicher Gruppen im Stechlin eine für den Roman geradezu konstitutive Rolle – diese erfahren je nach Figuren-Konstellationen, sozialem Milieu und je nach Kommunikationssituation eine unterschiedliche Ausgestaltung.

4.1

Toujours perdrix

Das Verhältnis zum Hauspersonal folgt keinem schematischen Muster. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch bei Dubslav und seinem Diener Engelke; hierzu zwei Beispiele: (3) Engelke griente. […] [Dubslav:] »Da müssen sie also die Nacht über schon in Cremmen gewesen sein. Auch kein Spaß.« [Engelke:] »Aber Cremmen ist doch so weit ganz gut.« Negativbewertung abschwächen [Dubslav:] »[…] Haben wir denn was?« [Engelke:] »Ich denk doch, gnäd’ger Herr. […]« Bedenken zerstreuen [Dubslav:] »[…] Was meinst du, ob die Gundermanns wohl können?« [Engelke:] »Ach, die können schon. Er gewiß, und sie Bedenken zerstreuen kluckt auch bloß immer so rum.« (I, 12f.)

Den Austausch zeichnet eine deutliche Informalität aus: Beide Sprecher begegnen sich in vertrauens- und verständnisvoller Weise, das hierarchische Gefälle ist, sieht man von der asymmetrischen Anrede ab, kaum erkennbar. Die entspannte Situation deutet sich bereits, wie es im Erzählertext heißt, mit dem »Grienen« Engelkes an.8 Dennoch ist ihm seine inferiore Position, die Begrenztheit seiner Möglichkeiten durchaus gegenwärtig. Als typisch für seine Selbstpositionierung kann man bereits das Spektrum seiner sprachlichen Handlungen betrachten: Dissensvermeidung um jeden Preis, das scheint die erste Devise zu sein; Engelke konzentriert sich vor allem darauf, Bedenken seines Herrn zu relativieren, ihm Alltagssorgen abzunehmen und ihm seine Unterstützung anzubieten. Und auf der Formulierungsebene fallen besonders die elementare Syntax und der Hang zu umgangssprachlichen Ausdrucksformen (so weit ganz gut, bloß immer so rumklukken) auf; erwähnt seien ebenso der Partikelgebrauch (aber, doch, schon), 8 Hierzu wie auch zur detaillierten Analyse des herangezogenen Ausschnitts vgl. Buffagni, Claudia: Dienerfiguren im ›Stechlin‹ (wie in Anm. 5), S. 33–37.

Grenzziehungen bei Theodor Fontane

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die Interjektion ach und die Elisionen (Prokope: rum < herum, Synkope: gnäd’ger < gnädiger; Apokope: denk < denke). Als komplementär zu dieser Sprechweise kann man zudem – im Sinne einer Fremdpositionierung – das Sprachverhalten Dubslavs einstufen; er ist sichtlich bemüht, sich an die Ausdrucksweise seines Bediensteten anzupassen. Eine etwas andere Intention ist dagegen mit dem folgenden Beispiel verbunden: (4) Dubslav, das Arrangement musternd, nickte Engelke zu, zum Zeichen, daß er’s getroffen habe. Dann aber nahm er die Mittelschüssel und → sagte, während er sie Rex reichte: »›Toujours perdrix.‹ Das heißt, es sind eigentlich Krammetsvögel, wie schon gestern abend. Aber wer weiß, wie Krammetsvögel auf französisch heißen? Ich wenigstens weiß es nicht. […]« (VI, 72)

⇒ Dubslav: Selbstpositionierung (Aufwertung des eigenen positiven Image) ⇒ Engelke: Fremdpositionierung (Signalisierung von Statusüberlegenheit, Imagegefährdung)

Die Wahl des französischen phraseologischen Ausdrucks Toujours perdrix ›Immer nur Rebhuhn‹9 erfolgt hier nicht zufällig. Gegenüber seiner Tischgesellschaft erweist sich Dubslav als jemand, der den Konversationston des Salons beherrscht, damit seine Verbundenheit mit einer von der bürgerlichen Oberschicht und der Aristokratie gepflegten Tradition10 bekundet und so seine Gruppenzugehörigkeit markiert. Die Äußerung Dubslavs ist hier jedoch zweifachadressiert: Für den noch präsenten Engelke ist der französische Ausspruch gleichbedeutend mit der Signalisierung von Nichtzugehörigkeit und Ausgrenzung. Ein ähnliches Beispiel der Fremdpositionierung, obgleich jetzt in direkter Form, enthält der folgende Dialogausschnitt: (5) [Graf Barby:] »[…] Du bist überhaupt ein Menschenkenner. Wo du’s bloß her hast? Du hast so was von ’nem Philosophen. Hast du schon mal einen gesehen?« [Jeserich:] »Nein, Herr Graf. Wenn man so viel zu tun hat und immer Silber putzen muß.« (XI, 131)

Mit seinen Prokopen deutet Barby zwar eine Annäherung an die Sprechweise seines Dieners an, doch gerät das vermeintliche Kompliment (»Du bist über9 Nach Hugo Aust (Hg.): Theodor Fontane: Der Stechlin. Stuttgart: Reclam 1978, handelt es sich um eine »Überdrußformulierung«, die auf den französischen König Heinrich IV. anspielt: »Daß man auch des Besten überdrüssig werden kann, wenn die Abwechslung fehlt, mußte der Beichtvater Heinrich IV. von Frankreich erfahren, der, nachdem er dem König die wechselnden Liebschaften vorgeworfen hatte, als Belehrung täglich Rebhühner vorgesetzt bekam.« (S. 20) 10 Allerdings geht der Gebrauch des Französischen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zugunsten des Englischen zurück; vgl. Schorneck, Hans-Martin: Fontane und die französische Sprache. In: »Fontane-Blätter« 11/1970, S. 172–186; Burger, Harald/Zürrer, Peter: Plurilinguale Phraseologie (wie in Anm. 2), S. 100–105.

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haupt ein Menschenkenner…«) mit der anschließenden Frage nach einem Philosophen schnell zu einem ironisch gemeinten Kommentar. Jeserich scheint die Doppelbödigkeit durchaus zu spüren und demonstriert mit der Thematisierung seiner Arbeitsbedingungen, wie wenig die sprachliche Anpassung bei ihm verfängt und in welchem Maße er noch mit beiden Füßen auf dem Boden der Realität steht. Die Abkehr vom überkommenen Herr-Diener-Stereotyp könnte kaum deutlicher sein. Einem Merkmal wurde bisher noch keine Aufmerksamkeit geschenkt: dem dialektalen Sprachgebrauch. So wird etwa das Niederdeutsche eingesetzt, um die Milieuzugehörigkeit bestimmter Personen aufzuzeigen: (6) [Dubslav:] »[…] Ja, mit mir is nich mehr viel los, Buschen. […] Habt Ihr Courage, mich in die Kur zu nehmen? Ich zeig Euch nicht an. Wenn einem einer hilft, is das andre alles gleich. Also nichts davon. Und es soll Euer Schaden nicht sein.« [Buschen:] »Ick weet joa, jnäd’ger Herr … Se wihren joa nich. Un denn de Lüd’, de denken ümmer, ick kann hexen un all so wat. Ick kann awer joar nix un hebb man blot en beten Liebstöckel un Wacholder un Allermannsharnisch. Un alles blot, wie’t sinn muß. Un de Gerichten können mi nix dohn.« (XXXVIII, 394)

Auch an dieser Stelle ist natürlich zu bedenken: Es handelt sich immer nur um nachempfundenes, simuliertes Sprachverhalten, nicht um authentisches Niederdeutsch (und bei der Formulierung »wie’t sinn muß« liegt zweifellos eine fehlerhafte Übertragung vor). Der schwerkranke Dubslav sieht in Buschen und ihren unkonventionellen Methoden gleichsam seine letzte Rettung. Der Standesunterschied drückt sich hier wiederum in asymmetrischen Höflichkeitsformen aus: Während die Buschen durchgängig die respektvolle Anrede mit jnäd’ger Herr und pronominal mit Se wählt, entscheidet sich Dubslav für das Ihrzen, immerhin eine distanziertere Form als die du-Anrede seinem Bediensteten gegenüber. Mit der dialektalen Beschränkung geht die Festlegung auf ein soziales Milieu einher, in dem die Teilhabe an der Welt der Hochdeutschsprecher ausgeschlossen ist. Außerdem deuten gemeinplatzartige Feststellungen wie Un hebben wi ihrst de Mittel, denn finnen sich ook de Weg oder Dat Woater nimmt dat Woater weg an, was es mit der medizinischen Seriosität der vorgesehenen Maßnahmen auf sich hat. Die metasprachliche Kennzeichnung als »Hexenspruch« (XXXVIII, 396) bringt die Positionierung Buschens schließlich auf den Punkt.

Grenzziehungen bei Theodor Fontane

4.2

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Abgedudelte Phrasen

Klare Grenzziehungen gibt es im Fontane-Roman ebenso innerhalb aristokratischer Kreise. Auf die Gundermann-Figur und ihre Anpassungsprobleme wurde bereits in Kap. 2 hingewiesen. Zur Diskussion stehen dabei die Rolle und das Verhalten von Vertretern des »Neuadels aus Industriekreisen« einschließlich ihrer Aufstiegs- und Profilierungsbemühungen.11 Gundermann fungiert in dem Zusammenhang als Musterbeispiel für unfreiwillige negative Selbstpositionierungen (wie in (7)) und sorgt dementsprechend für diverse abfällige Bewertungen (vgl. (8a, b)): (7)

[Gundermann:] »[…] Wer mit sich reden läßt, ist nicht stramm, und wer nicht stramm ist, ist schwach. Und Schwäche (die destruktiven Elemente haben dafür eine feine Fühlung), Schwäche ist immer Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie.« → (IV, 41) (8a) [Czako über Gundermann:] »[…] Geschmacklosigkeiten hat er und öde Redensar→ ten. Dreimal hab ich ihn sagen hören: ›Das wäre wieder Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie.‹ […]« (VI, 79) (8b) [Söderkopp über Gundermann:] »Ja, dieser Gundermann, den kenn ich. Brettschneider und Börsenfilou; jeder Groschen is zusammengejobbert. Sieben Mühlen → hat er, aber bloß zwei Redensarten, und der Fortschritt ist abwechselnd die ›Vorfrucht‹ und dann wieder der ›Vater‹ der Sozialdemokratie. […]« (XIX, 219)

In (7) ist es vor allem die pseudologische Diktion mit der allseits bekannten und mechanisch wiederholten Rede vom »Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie«, die Ablehnung und eben auch Verachtung hervorruft. Auch Nichtanhänger der bei Wahlen zunehmend erfolgreichen Sozialdemokraten halten die stereotypen Aussagen für niveaulos und nicht akzeptabel. So äußert sich z. B. der Pastor Lorenzen: »Der alte Stechlin hat aber mehr Schneid als sieben Gundermanns. Gundermann ist ein Bourgeois und ein Parvenü, also so ziemlich das Schlechteste, was einer sein kann.« (XVIII, 203) In eine ähnliche Richtung gehen die Stellungnahmen in (8a, b): Für den Offizier Czako ist es vor allem das Geschmacklose der mehrfach wiederholten Redensart, was ihn empört. Der Sozialdemokrat Söderkopp geht in seiner Kritik noch einen Schritt weiter: Mit seiner Wortwahl (»Börsenfilou«, »jeder Groschen is zusammengejobbert«) deutet er an, Gundermann sei nur durch Spekulation und undurchsichtige Geschäfte zu sei-

11 Vgl. Gauger, Hans-Martin: Sprachbewußtsein (wie in Anm. 2); Sagarra, Eda: Theodor Fontane: »Der Stechlin«. München: Fink 1986, S. 23–40. Eine deutliche Parallele liefert auch der Roman Frau Jenny Treibel von 1892; vgl. Lüger, Heinz-Helmut: Phraseme und translatorisches Gratwandern. Phraseologie, Bourgeoisierung und »Geldsackgesinnung« bei Fontane. In: Gondek, Anna/Jurasz, Alina/Szcze˛k, Joanna (Hg.): Deutsche Phraseologie und Parömiologie im Kontakt und im Kontrast I. Hamburg: Dr. Kovacˇ 2020, S. 33–51.

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nem Reichtum gekommen. Ein weiterer Angriffspunkt ist für ihn die Anbiederung an den Sprachgebrauch Bismarcks (vgl. »Vorfrucht für den Sozialismus«). Insgesamt führen die vielen Negativbewertungen zu einer allgemeinen Abwehr, zur Ausgrenzung Gundermanns als politisch borniert, unbelehrbar und dünkelhaft. Auch die Beurteilung seiner Frau fällt nicht unbedingt positiver aus; schon bei einer Unterhaltung, wo es um die Beschreibung von Häusern in einer ihr gut bekannten Straße geht, kann sie offensichtlich nicht mitreden, weil sie mit der Bezeichnung œil-de-bœuf nichts anzufangen weiß: (9) [Czako:] »[…] Ich kenne da beinah jedes Haus, kleine, nette Häuser, immer bloß → Beletage, höchstens mal ein Œil-de-Bœuf.« [Frau von Gundermann:] »Wie? Was?« [Czako:] »Großes rundes Fenster ohne Glas. Aber ich liebe diese Häuser.« (III, 35)

Könnte man hier aus der Sicht ihres Dialogpartners noch von fehlender Detailkenntnis sprechen (Czako versucht sogar, durch eine thematische Umfokussierung der Gundermann einen Gesichtsverlust zu ersparen), entpuppt sich diese letztlich als ungebildet und reichlich naiv. Mit ihren belanglosen Gemeinplätzen über Kindererziehung (Wer Kinder hat, der hat auch immer Sorgen; man ist auch einmal jung gewesen…), und mit ihrem Unvermögen, metaphorisch Gemeintes und Sarkastisches als solches wahrzunehmen, versetzt sie ihre Gesprächspartner »abwechselnd in Verlegenheit und stille Heiterkeit«. Bezeichnend ist eine Passage, wo sie sogar die Lieblings-Redensart ihres Mannes kopiert: »Und die Geschichten, sagt er, seien bloß dummes Zeug und bloß Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie.« (III, 34) Kritische Kommentare und entsprechende Fremdpositionierungen lassen nicht lange auf sich warten. Die Gundermanns erfüllen somit alle Negativerwartungen, wie sie mit dem Stereotyp von in erster Linie materiell interessierten Emporkömmlingen verbunden sind.

4.3

Viel Krittikk

Im Stechlin ist Sprachliches, so viel dürfte deutlich geworden sein, ein entscheidendes Mittel, wenn es um die (Selbst-)Positionierung von Personen oder Personengruppen geht. Dies scheint in besonderem Maße auch für einige Künstlerfiguren zu gelten, die in einer eher karikaturenhaften Weise dargestellt werden. Ein Beispiel, das das Skurrile im Kommunikationsverhalten illustriert: (10) [Armgard zu Woldemar:] »[…] Aber trotzdem, Herr von Stechlin, ich kann das Frondieren nicht leiden. Frondeur ist doch immer nur der gewohnheitsmäßig Unzufriedene, und wer immer unzufrieden ist, der taugt nichts. […]«

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[Wrschowitz:] »Sehr warr, sehr warr, gnädigte Komtesse«, verbeugte sich Wrschowitz. »Aber, wollen verzeihn, Komtesse, wenn ich trotzdem bin für Frondeur. Frondeur ist Krittikk, und wo Guttes sein will, muß sein Krittikk. Deutsche Kunst viel Krittikk. Erst muß sein Kunst, gewiß, gewiß, aber gleich danach muß sein Krittikk. Krittikk ist wie große Revolution. Kopf ab aus Prinzipp. Kunst muß haben ein Prinzipp. Und wo Prinzipp is, is Kopf ab.« Alles schwieg […]. (XIII, 151f.)

Wrschowitz gehört zu einer Figurengruppe, in der Diskussionen sehr leidenschaftlich und keineswegs konsensorientiert ausgetragen werden. Der verbale Austausch zeugt von einer Streitkultur, die wenig gemein hat mit der auf Gesichtsschonung, gegenseitigen Respekt und Unterhaltsamkeit bedachten Salonkonversation. Die Teilnehmer betreiben eine Art der negativen Selbstpositionierung, die sie nicht unbedingt als gesellschaftlich treibende Kraft in Szene setzt: Daß aber die Künstler an ihrer schiefen Lage mitschuldig sind, scheint durch Wort und Gebärde der fiktiven Gestaltung auch als Meinung des Autors deutlich zu werden. […] So kann die Stimme des Künstlers nicht zu einer Quelle produktiver Kritik in der Gesellschaft werden, sondern bietet bloß Kritik als Selbstzweck […].12

Anknüpfungspunkt für Wrschowitz in (10) ist ein Redebeitrag von Armgard, der sich eigentlich an Woldemar von Stechlin, ihren späteren Verlobten, richtet. Das hindert den Sprecher jedoch nicht, in der ihm eigenen Art zu intervenieren und eine belehrende Stellungnahme abzugeben. Und, das sei hinzugefügt, Wrschowitz begnügt sich nicht mit einer kurzen Unterbrechung, sondern reißt gleich das ganze Gespräch an sich, was zu einem irritierten Schweigen der Beteiligten führt. Die Sprechweise, die Aussprache, die gesamte abgehackte Diktion von Wrschowitz, all das korrespondiert mit seiner dogmatischen und engstirnigen Haltung; die abschließende aberwitzige Folgerung »Und wo Prinzipp is, is Kopf ab« löst nur noch Befremden aus, das Ganze wird als peinlicher »Zwischenfall« registriert und gerät für den Sprecher zu einer unfreiwilligen Selbstausgrenzung. Einen vergleichbaren Effekt hat eine spätere Äußerung, als derselbe Sprecher im Laufe einer hitzigen Debatte verkündet: »Ich bin Tscheche. Weiß aber, daß es ein deutsches Sprichwort gibt: ›Der Deutsche lüggt, wenn er höfflich wird.‹« (XXXIV, 356) Damit exponiert sich Wrschowitz mit seinem Verhalten in mehrfacher Hinsicht, und zwar als Kontrast zu den im Stechlin vorgestellten Gepflogenheiten der Salonkultur. Zunächst einmal stellt der Redebeitrag eine klare Dissens-Eskalierung dar, sozusagen eine Forcierung des gegebenen Streits. Dann präsentiert sich der Sprecher als jemand, der seine Gefühle nicht unter Kontrolle hat, seine Formulierung wirkt stark emotionsgesteuert. Zudem wird ein Satz als Sprichwort ausgegeben, der in Wirklichkeit ein geflügeltes Wort ist, 12 Sagarra, Eda: Der Stechlin (wie in Anm. 10), S. 50.

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nämlich zurückgehend auf Goethe.13 Der Versuch, sich damit als gebildet und schlagfertig zu profilieren, kann also nicht gelingen. Darüber hinaus sorgt die Modifikation (»im Deutschen« > »der Deutsche«) beim Adressaten für eine Zuspitzung, für eine klare Verstärkung der kränkenden Aussage. Schließlich bewirkt auch die Aussprache eine entstellende und lächerliche Wiedergabe des vorgeprägten Satzes. Speziell im Stechlin spielen Zitate bzw. geflügelte Worte eine wichtige Rolle; wie bereits von verschiedener Seite ausgeführt, erscheint das Wie des Gesagten oft wichtiger als das Was des Gesagten. Das Verfügenkönnen über Zitate gilt gerade für Figuren aus dem bildungsbürgerlichen Milieu als Ausweis für Bildung und soziale Position: Die Bildung wird nicht mehr, wie noch in der Goethezeit, als der dynamische Prozeß organischer Persönlichkeitsentfaltung verstanden, sondern eher als ein fester Zustand oder genauer noch als ein fester Vorrat, aus dem man beliebig schöpfen kann.14

Fontane wäre nicht Fontane, würde er diese Tendenz gänzlich kommentarlos übernehmen. Von daher zeichnen sich positiv dargestellte Personen durch einen flexiblen Umgang mit Zitaten und allgemein mit vorgeprägten Ausdruckseinheiten aus. Es geht um ein souveränes Zitierenkönnen, das kontextbedingte Abwandlungen ebenso vorsieht wie eine geschickte Integration in den jeweiligen Redezusammenhang. »Gerade durch diese Abweichung vom Wortlaut wird das Zitat zum lebensechten Konversationselement«, um noch einmal Meyer zu zitieren.15 Im Vergleich dazu bietet eine Figur wie Wrschowitz ein absolutes Kontrastprogramm. Sein Sprachverhalten widerspricht allen etablierten Normen, wodurch er sich als Teil einer Außenseitergruppe positioniert und durchweg – dies nicht nur auf der Figurenebene – auf breite Ablehnung stößt.

4.4

Der Pferdefuß

Die Grenzziehung zwischen verschiedenen sozialen Gruppen ist im StechlinRoman ein omnipräsentes Thema. Zusätzliche Brisanz gewinnt dies, wenn es um die Darstellung der beteiligten jüdischen Figuren geht. Zugespitzt lautet die zentrale Frage: Kann man in diesem Fontane-Roman von einem Antisemitismus 13 »Mephistopheles (gemütlich). Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob du bist? Baccalaureus: Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.« (Faust II, V. 6770f.) – Vgl. Büchmann, Georg: Geflügelte Worte (wie in Anm. 7), S. 111. 14 Meyer, Herman: Das Zitat als Gesprächselement in Theodor Fontanes Romanen. In: »Wirkendes Wort« 10/1960, S. 221–238, hier S. 230f.; vgl. Aust, Hugo (Hg.): Theodor Fontane (wie in Anm. 9), Lüger, Heinz-Helmut: Wiederholte Rede (wie in Anm. 2). 15 Meyer, Herman: Das Zitat (wie in Anm. 14), S. 235.

Grenzziehungen bei Theodor Fontane

53

der Figurenzeichnung sprechen? Einige Autoren bejahen das; mit Blick auf den Stechlin heißt es etwa bei Jannidis/Lauer: »Die Verwendung antisemitischer Stereotype findet sich auch in Fontanes poetischem Werk.«16 Eine bedeutsame Episode ist in dem Zusammenhang der Besuch Baruch Hirschfelds, eines jüdischen Tuchhändlers und Privatbankiers, bei Dubslav von Stechlin; vordergründig dient der Besuch der Erkundigung nach dem gesundheitlichen Befinden Dubslavs, doch der eigentliche Zweck besteht wohl darin, Dubslav dazu zu bewegen, eine neue Hypothek aufzunehmen. Wie der Leser aus einem früheren Kapitel jedoch weiß, zielen die Geldangebote nur darauf ab, die Verschuldung Dubslavs zu erhöhen, um schließlich dessen Besitzungen übernehmen zu können: »Und wenn er kippt, nu, da haben wir das Objekt: Mittelboden und Wald und Jagd und viel Fischfang«, so Baruch Hirschfeld zu seinem Sohn (I, 10). Das Kreditangebot sorgt bei Dubslav für eine tiefe Verstimmung, wie er seinem Diener anvertraut: (11) [Dubslav:] »Engelke, mit Baruch is es auch nichts. Ich dachte wunder, was das für ein → Heiliger wär’, und nun ist der Pferdefuß doch schließlich rausgekommen. Wollte mir da Geld auf Hypothek beinah aufzwingen, als ob ich nicht schon genug davon hätte… […]« (XXXVII, 373)

Der als freundschaftlich angekündigte Besuch stellt sich für Dubslav als kalkuliertes, hinterlistiges Geschäftsgebaren heraus; der Verweis auf den Pferdefuß, das althergebrachte Erkennungsmerkmal des Teufels, macht deutlich, wie sehr sich für ihn das Gefühl einer alten Freundschaft als naiv erwiesen hat und wie sehr nur das finanzielle Interesse im Vordergrund stand. Dubslav ärgert sich über sich selbst, zumal es vonseiten des Polizisten Uncke bereits eine entsprechende Andeutung gegeben habe. Die Reaktion von Dubslav ließe sich nun in der Tat als stereotype Eigenschaftszuschreibung, als Koppelung von Geldgier, Unaufrichtigkeit und jüdischer Herkunft in der Gestalt von Baruch Hirschfeld auffassen. Aber ist eine solche Figurendarstellung bereits als antisemitisch zu bezeichnen? Als entscheidendes Kriterium hierfür bestimmen Jannidis/Lauer: Antisemitisch soll eine Figurendarstellung dann genannt werden, wenn sie einer Figur, neben dem Merkmal Jude zu sein, auch negative Merkmale zuschreibt, die bereits in der Semantik des zeitgenössischen Antisemitismus formuliert sind. Außerdem muß durch die spezifische Form der Zeichenbildung des Textes die Einzelfigur zum Repräsentanten der sozialen Gruppe der Juden werden.17

16 Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard: »Bei meinem alten Baruch ist der Pferdefuß rausgekommen« – Antisemitismus und Figurenzeichnung in ›Der Stechlin‹. In: Ehlich, Konrad (Hg.): Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 103– 119, hier S. 115; dort auch weitere Literaturhinweise. 17 Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard: Antisemitismus (wie in Anm. 16), S. 106.

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Heinz-Helmut Lüger

Das erste Kriterium wäre zweifellos erfüllt. Fraglich erscheint jedoch das Kriterium der Generalisierbarkeit: Wird Baruch Hirschfeld im Stechlin zum »Repräsentanten der sozialen Gruppe der Juden«? Eine Klärung der Frage kann nur eine Prüfung der betreffenden Textstellen liefern. Eine erste Antwort ist möglicherweise dem folgenden Auszug aus einem Gespräch Dubslavs mit dem Superintendenten Koseleger zu entnehmen: (12) [Koseleger:] »[…] Und dann heißt es ja auch, der Major von Stechlin habe mehr oder → weniger einen philosemistischen Zug.« [Dubslav:] »Den hat der Major von Stechlin auch wirklich, weil er Unchristlichkeiten nicht leiden kann und Prinzipienreitereien erst recht nicht. Ich gehöre zu denen, die → sich immer den Einzelfall ansehn. Aber freilich, mancher Einzelfall gefällt mir nicht. […] Und auch mein alter Baruch Hirschfeld, den der Herr Superintendent mutmaßlich kennen werden, auch der gefällt mir nicht mehr so recht. Ich hielt große → Stücke von ihm, aber – vielleicht daß sein Sohn Isidor schuld ist – mit einem Mal ist der Pferdefuß rausgekommen.« »Ja«, lachte Koseleger, »der kommt immer mal raus. Und nicht bloß bei Baruch. Ich → muß aber sagen, das alles hat mit der Rasse viel, viel weniger zu schaffen als mit dem jeweiligen Beruf. […]« (XXXVII, 380f.)

Wenigstens drei Aspekte sind hier hervorzuheben. Dubslav geht offenbar gerade nicht der Ruf voraus, antisemitische Ideen zu vertreten, so zumindest die Aussage Koselegers über die Reputation seines Gesprächspartners. Zum andern betont Dubslav ausdrücklich, wie wichtig für ihn die Einzelfall-Betrachtung sei. Und ebenso explizit wird (mit nahezu identischen Worten) der Fall des Baruch Hirschgeld als Einzelfall bezeichnet, wenn auch als enttäuschender Einzelfall. Die Betrachtung als Einzelfall findet eine zusätzliche Bestätigung bei der dritten Pferdefuß-Äußerung Dubslavs: »Bei meinem alten Baruch ist der Pferdefuß rausgekommen, aber bei meinem alten Krippenstapel ist er nicht rausgekommen […]« (XXXVII, 382). Schließlich bringt die Reaktion Koselegers noch eine weitere Klarstellung, so als wäre das Reden von dem plötzlich wahrgenommenen Pferdefuß schon als antisemitische Haltung interpretierbar: Der eventuell antizipierten Deutung, die Kritik am Verhalten Baruch Hirschfelds wäre gleichbedeutend mit rassistischen Vorurteilen, soll also von vornherein der Boden entzogen werden. Erinnert sei ebenso an eine frühere Aussage Dubslavs, die einem Brief an seinen Sohn Woldemar entnommen ist: (13) [Dubslav:] »[…] gestern war Baruch Hirschfeld hier und in allem willfährig; die Juden → sind nicht so schlimm, wie manche meinen […].« (XXVI, 288)

Die diskutierte Äußerung »nun ist der Pferdefuß doch schließlich rausgekommen« erfährt, richtet man den Blick auf einen größeren Textzusammenhang, eine

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Grenzziehungen bei Theodor Fontane

Rahmung, die es erlaubt, die vom Sprecher ausgedrückte moralische Wertung in einem differenzierteren Licht erscheinen zu lassen (vgl. Abb. 2). [Dubslav:] „[…] die Juden sind nicht so schlimm, wie manche meinen.“ (d)

[Dubslav:] „Engelke, mit Baruch is es auch nichts. Ich dachte wunder, was das für ein

nun ist der Pferdefuß doch schließlich rausgekommen. Wollte mir da Geld auf Hypothek beinah aufzwingen, als ob ich nicht schon genug davon hätte…“ [+ Hinweis v. Uncke]

[Koseleger:] Dubslav = Philosemit [Dubslav:] „Ich gehöre zu denen, die sich immer den Einzelfall ansehen. […] mit einem Mal ist der Pfer-

defuß rausgekommen“

(a) (b)

[Koseleger:] „Das alles hat mit der Rasse viel, viel weniger zu schaffen als mit dem jeweiligen Beruf.“ (c)

FESTST

ZIEL:

(Figurenebene)

moralische BEWneg

FESTST/BEH

FESTST

Übernahme der Bewertung

Abb. 2: Determination einer zentralen Bewertungshandlung

Das Schaubild soll vor allem zeigen, wie die erste Pferdefuß-Äußerung kontextuell eingebettet – und folglich verstanden werden kann. Ohne Frage wird mit dieser Aussage Dubslavs eine moralische Negativbewertung bezüglich des Verhaltens von Baruch Hirschfeld vollzogen, verbunden mit dem Ziel, beim Adressaten eine zustimmende Reaktion, eine Übernahme der Bewertung auszulösen. Gestützt wird diese sprachliche Handlung durch den Hinweis auf die quasi aufgezwungene Hypothek, eine frühere nicht beachtete Warnung und auch durch die Wiederholung der Bewertung in einem anschließenden Gespräch (vgl. die drei gleichgerichteten Pfeile). Wie nun diese zentrale Sprachhandlung einzuordnen ist, wird in mehreren subsidiären Handlungen nahegelegt bzw. näher bestimmt: a) durch die Feststellung, Dubslav sei wegen seiner philosemitischen Einstellung bekannt, b) durch die Behauptung/Feststellung Dubslavs, ihm gehe es immer nur um die Bewertung des Einzelfalls, c) die relativierende Feststellung Koselegers, die Einschätzung Dubslavs habe nichts mit der Rasse, sondern nur mit dem jeweiligen Beruf zu tun, d) durch das Zitieren einer schon etwas zurückliegenden brieflichen Notiz, wonach Dubslav ausdrücklich bestehenden Vorurteilen gegenüber Juden widerspricht. Folgt man einer solchen, eng am Text orientierten Lektüre, dann wäre die Positionierung Dubslavs als Antisemit sicher unberechtigt. Derartige Interpretationen erscheinen nur dann plausibel, wenn sie sich auf isolierte Textäußerungen stützen, ohne den weiteren Kontext einzubeziehen.

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Heinz-Helmut Lüger

Nützlich erscheint hier, als Betrachtungsebene ebenfalls die Autor/Text-LeserKommunikation einzubeziehen. Denn angesichts des in der wilhelminischen Gesellschaft weit verbreiteten Antisemitismus mag in der Zeit eine besondere Bereitschaft bestehen, die einigen Romanfiguren zugeordneten Negativmerkmale stärker zu betonen und andere Passagen eher auszublenden. Insofern brauchen bei der Rezeption des Romans, auch unabhängig vom zeitgeschichtlichen Hintergrund, divergierende Lesarten nicht zu überraschen (vgl. Abb. 3).

FONTANE

Distanzierung von antisemitischer Einstellung

LESER

Propagierung antisemitischer Einstellung

Abb. 3: Divergierende Lesarten

Ist es angemessen, jenseits der Figurenebene am Beispiel von Baruch Hirschfeld von einer antisemitischen Personendarstellung zu sprechen? Anders ausgedrückt: Wie steht es um die »Hochrechnung vom Einzelfall auf die soziale Gruppe«?18 Nimmt man die diesbezüglichen Textaussagen beim Wort, wird das unstreitige Vorhandensein stereotyper Figurenmerkmale in einer Weise relativiert, die eine solche »Hochrechnung« kaum rechtfertigt (vgl. Abb. 2). Ob man deshalb auf einen fundamentalen Widerspruch im Roman schließen sollte, erscheint ebenso wenig zwingend: Der Gesellschaftsroman operiert mit zeitgenössischen Typisierungen – und eben auch durchaus zustimmend mit antisemitischen –, und gleichzeitig wird in ihm die Forderung nach individueller Moral laut. Dieser Widerspruch gehört zum grundlegenden Bauprinzip des Romans.19

Noch weniger plausibel ist es, die Aussagen einzelner Romanfiguren, z. B. von Dubslav, mit dem Autor selbst, also mit Fontane, zu identifizieren. Die Behauptung eines »rassisch eingefärbten Weltbilds« auf der Basis eines literari18 So die Formulierung bei Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard: Antisemitismus (wie in Anm. 16), S. 106. 19 Ebd., S. 117.

Grenzziehungen bei Theodor Fontane

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schen Textes mag bisweilen üblich sein, überzeugend ist das jedoch nicht, zumal, wie Walter Müller-Seidel zu Recht moniert, »die kategoriale Unterscheidung zwischen biographisch-privater Aussage und literarischem Text weithin eingeebnet« wird.20

5

Fazit

Der Stechlin-Roman ist reich an Beispielen, die mehr oder weniger wirksame Grenzziehungen demonstrieren. Selbst- und Fremdpositionierungen markieren hierarchische Beziehungen, initiieren Zugehörigkeiten und Distanzierungen, signalisieren Wert- oder Geringschätzung und tragen so zur Etablierung der jeweiligen Figurenkonstellation bei. Die Sprechweise der sog. Dienerfiguren zeichnet sich meist durch eine einfache Syntax, umgangssprachliche Lexik, Partikeleinsatz und Elisionen aus; auch der Dialektgebrauch ist reserviert für das Milieu der »kleinen Leute«. Andererseits wird nicht selten versucht, das hierarchische Gefälle vonseiten der Vorgesetzten durch nähesprachliche Signale zu reduzieren. Die Profilierungsbemühungen gesellschaftlicher Emporkömmlinge scheitern leicht an unangemessenem Sprachgebrauch und enden dann in negativen Selbstpositionierungen; insbesondere der stereotype Einsatz bestimmter Redewendungen und Gemeinplätze gilt als ungebildet und wird mit Verachtung sanktioniert. Einige Künstlerfiguren erfahren ebenfalls eine karikaturenhafte Zeichnung. Durch den Verzicht auf alle Höflichkeitsnormen, eine dogmatisch-engstirnige Rechthaberei und durch emotionsgesteuerte Verbalattacken geraten ihre Positionierungsversuche zu einer unfreiwilligen Selbstdemontage. Bezüglich der Darstellung jüdischer Figuren im Roman ergibt sich die Frage, wie die Zuschreibung stereotyper Merkmale letztlich einzuordnen ist. Zugespitzt formuliert: Positioniert sich etwa die Hauptfigur des Romans als Antisemit? Mit der Einbeziehung eines größeren Kontexts werden Argumente diskutiert, die für eine andere Position plädieren lassen.

20 Müller-Seidel, Walter: Fremde Herkunft. Zu Fontanes erzähltem Personal und zu Problemen heutiger Antisemitismusforschung. In: Ehlich, Konrad (Hg.): Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 120–156, hier S. 137. Für eine erweiterte Perspektive plädiert ebenfalls Anderson, Paul Irving: Der Stechlin. Eine Quellenanalyse. In: Grawe, Christian (Hg.): Fontanes Novellen und Romane. Stuttgart: Reclam 1991, S. 243–274.

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Heinz-Helmut Lüger

Literatur Anderson, Paul Irving: Der Stechlin. Eine Quellenanalyse. In: Grawe, Christian (Hg.): Fontanes Novellen und Romane. Stuttgart: Reclam 1991, S. 243–274. Auer, Peter: Kontextualisierung. In: »Studium Linguistik« 19/1986, S. 22–47. Aust, Hugo (Hg.): Theodor Fontane: Der Stechlin. Stuttgart: Reclam 1978. Büchmann, Georg: Geflügelte Worte. Der Zitatenschatz des deutschen Volkes. Frankfurt/M.: Ullstein 351986 (11864). Buffagni, Claudia: Weibliche und männliche Dienerfiguren im Stechlin: Soziale Identitäten in der Kommunikation. In: Fischer, Hubertus/Mugnolo, Domenico (Hg.): Fontane und Italien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 23–47. Burger, Harald/Zürrer, Peter: Plurilinguale Phraseologie bei Theodor Fontane und ihr zeitgeschichtlicher Hintergrund. In: Lenk, Hartmut E.H./Richter-Vapaatalo, Ulrike (Hg.): Sie leben nicht vom Verb allein. Beiträge zur historischen Textanalyse, Valenz- und Phraseologieforschung. Berlin: Frank & Timme 2015, S. 91–117. Gauger, Hans-Martin: Sprachbewußtsein im »Stechlin«. In: Schnitzler, Günter (Hg.): Bild und Gedanke. Festschrift für Gerhart Baumann. München: Fink 1980, S. 311–323. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard: »Bei meinem alten Baruch ist der Pferdefuß rausgekommen« – Antisemitismus und Figurenzeichnung in ›Der Stechlin‹. In: Ehlich, Konrad (Hg.): Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 103–119. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf: Gesprochene Sprache in der Romania: Französisch, Italienisch, Spanisch. Tübingen: Niemeyer 1990. Loster-Schneider, Gudrun: Der Erzähler Fontane. Seine politischen Positionen in den Jahren 1864–1898 und ihre ästhetische Vermittlung. Tübingen: Narr 1986. Lüger, Heinz-Helmut: Ut vir, sic oratio – Wiederholte Rede und »Geistreichigkeitssprache« bei Fontane. In: Merten, Stephan/Pohl, Inge (Hg.): Texte. Spielräume interpretativer Näherung. Festschrift für Gerhard Fieguth. Landau: Knecht 2005, S. 377–393. Lüger, Heinz-Helmut: Phraseme und translatorisches Gratwandern. Phraseologie, Bourgeoisierung und »Geldsackgesinnung« bei Fontane. In: Gondek, Anna/Jurasz, Alina/ Szcze˛k, Joanna (Hg.): Deutsche Phraseologie und Parömiologie im Kontakt und im Kontrast I. Hamburg: Kovacˇ 2020, S. 33–51. Meyer, Herman: Das Zitat als Gesprächselement in Theodor Fontanes Romanen. In: »Wirkendes Wort« 10/1960, S. 221–238. Mittenzwei, Ingrid: Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen. Bad Homburg/Berlin/Zürich: Gehlen 1970. Müller-Seidel, Walter: Fremde Herkunft. Zu Fontanes erzähltem Personal und zu Problemen heutiger Antisemitismusforschung. In: Ehlich, Konrad (Hg.): Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 120–156. Preisendanz, Wolfgang: Zur Ästhetik des Gesprächs bei Fontane. In: Stierle, Karlheinz/ Warning, Rainer (Hg.): Das Gespräch. München: Fink 1984, S. 473–487. Sagarra, Eda: Theodor Fontane: »Der Stechlin«. München: Fink 1986. Schorneck, Hans-Martin: Fontane und die französische Sprache. In: »Fontane-Blätter« 11/ 1970, S. 172–186.

Grenzziehungen bei Theodor Fontane

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Spitzmüller, Jürgen/Flubacher, Mi–Cha/Bendl, Christian: Soziale Positionierung: Praxis und Praktik. In: »Wiener Linguistische Gazette« 81/2017, S. 1–18. Warning, Rainer: ›Causerie‹ bei Fontane. In: Ehlich, Konrad (Hg.): Fontane und die Fremde, Fontane und Europa. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 295–306.

Claudia Wich-Reif (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn)

Die Sprache von Berlin-Gropiusstadt in Felix Lobrechts Roman Sonne und Beton als Ausdruck der Ein- und Abgrenzung

1

Einführung

In den letzten Jahren wurde das so genannte Kiezdeutsch1 als Substandard von Jugendlichen2 im multiethnischen Berliner Stadtteil Berlin-Kreuzberg, in dem »viele mehrsprachige Sprecher/innen leben«3, eingehend untersucht. In den Erläuterungen zum »KiezDeutsch-Korpus« wird Kiezdeutsch auch als multiethnische Jugendsprache bezeichnet.4 Im Jahr 2017 erschien der Roman Sonne und Beton, in dem es um eine Gruppe um die 16 Jahre alter männlicher Jugendlicher aus Berlin-Gropiusstadt, einem ähnlich wie Kreuzberg strukturierten Kiez, geht. Auf der Webseite von Deutschlandfunk Kultur wird ein Gespräch mit dem Autor Felix Lobrecht wiedergegeben.5 Dieser sagte, dass ihm die Sprache seines Werks besonders wichtig gewesen sei, und er wird mit dem Satz »Das ist

1 Bezeichnung nach Heike Wiese; vgl. z. B. Wiese, Heike: Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht. München: Beck 2012; Wiese, Heike/Freywald, Ulrike: Regionalsprachliche Merkmale in jugendsprachlichen Praktiken im multilingualen urbanen Raum. In: Herrgen, Joachim/Schmidt, Jürgen Erich (Hg.): Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation. Bd. 4: Deutsch (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 30.4). Berlin/ Boston: De Gruyter Mouton 2019, S. 995–1012; Cirkel, Philipp/Freywald, Ulrike: In Stadt und Stadt: Berlin und Ruhrgebiet im Vergleich. In: »Linguistik online« 110/2021, S. 193–227. 2 Wiese, Heike/Freywald, Ulrike/Schalowski, Sören/May, Katharina: Das KiezDeutsch-Korpus. Spontansprachliche Daten Jugendlicher aus urbanen Wohngebieten. In: »Deutsche Sprache« 40/2012, S. 97–123. 3 Wiese, Heike: Kiezdeutsch, S. 13. Vgl. auch Wiese, Heike: Die Konstruktion sozialer Gruppen: Fallbeispiel Kiezdeutsch. In: Neuland, Eva/Schlobinski, Peter (Hg.): Handbuch Sprache in sozialen Gruppen (Handbücher Sprachwissenschaft 9). Berlin/New York: De Gruyter 2018, S. 331–351, hier S. 333. 4 Wiese, Heike u. a.: KiezDeutsch-Korpus, S. 97; vgl. auch die Informationen zum Webauftritt des Korpus: KiDKo. Das Kiezsdeutschkorpus: URL: https://www.kiezdeutschkorpus.de/kidko-ho me.html / letzter Zugriff am 30. 11. 2021. 5 Meyer, Frank: Felix Lobrechts Debütroman »Sonne und Beton«. Aufgewachsen als blonder Deutscher in Berlin-Neukölln. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/felix-lobrechts-de buetroman-sonne-und-beton-aufgewachsen-100.html / letzter Zugriff am 30. 11. 2021.

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der Slang [sic] mit dem ich aufgewachsen bin.« zitiert.6 Ein kursorischer Blick in das Buch zeigt, dass Lobrecht sich als Romanschriftsteller nicht anders als andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller verhält: Er bedient sich der (geschriebenen) Standardsprache und versieht diese, um seine Figuren sprachlich zu charakterisieren, mit salienten Merkmalen, die sich je nach Forschungsinteresse und Perspektive der Jugendsprache, dem Kiezdeutschen, dem Berlinischen und anderen Ausprägungen von Sprache zuordnen lassen. Die Sprache von Berlin-Gropiusstadt, die in dem Werk Sonne und Beton ihren Ausdruck findet, ist die des Ich-Erzählers Lukas. Durch ihn wird auch die Sprache der anderen, seien es Jugendliche oder Erwachsene, die in unterschiedlichen Beziehungen zu Lukas stehen, vermittelt. Lukas und seine Freunde bilden eine Peergroup als Ingroup, deren Mitglieder Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund sind. Sie verwenden einen we-Code, der sich von anderen Gruppen mit je eigenen they-Codes unterscheidet7, von anderen Peergroups, von Älteren und insbesondere auch von Personen, mit denen sie in institutionellen Kontexten, insbesondere im schulischen Umfeld (sprachlich) agieren. Der vorliegende Beitrag zeigt auf, welche Strategien Lobrecht verwendet, um den »Slang« der Peergroup, zu der der Protagonist gehört, schriftlich wiederzugeben und damit Ein- und Abgrenzung literarisch umzusetzen bzw. zu inszenieren. Im Text gibt es Äußerungen, die als charakteristisch für das o.g. Kiezdeutsch gelten8, das Berlinische, Jugendsprache, die geschriebene Standardsprache und weitere sprachliche Erscheinungen, die Teil der Jugendsprache, des Kiezdeutschen, aber auch der Standardsprache sind, wie etwa Codeswitching als multilinguale Praktik.9 Insofern ist es notwendig, im theoretischen Teil begriffliche Klärungen unterschiedlicher sprachlicher Ausprägungen vorzunehmen (Abschnitt 2), bevor in knapper Form Felix Lobrecht und der Roman Sonne und Beton vorgestellt werden (Abschnitt 3). Der Text wird im Anschluss in Bezug auf verschiedene Ausprägungen von Sprache als Ausdruck der Ein- und Abgrenzung hin analysiert und bewertet (Abschnitt 4). Im Fazit wird einerseits zusammenfassend dargestellt, welche Elemente der Sprache der Autor für das Werk Sonne und Beton relevant setzt, wenn er den »Slang« der Hauptfigur und deren Peergroup für eine breitere Leserschaft aufbereitet, und es wird anderer6 Ebd. 7 Terminologie nach Gumperz, John J.: Discourse strategies. Cambridge: Cambridge University Press 1982. 8 Die Diskussion, ob Kiezdeutsch ein Dialekt ist, wurde bereits andernorts geführt und soll hier nicht aufgenommen werden. Vgl. dazu u. a. Wiese, Heike: Konstruktion sozialer Gruppen, S. 331–351. 9 Vgl. dazu z. B. Petkova, Marina: Code-switching und Gruppenkonstellationen. In: Neuland, Eva/Schlobinski, Peter (Hg.): Handbuch Sprache in sozialen Gruppen (Handbücher Sprachwissenschaft 9). Berlin/New York: De Gruyter 2018, S. 218–232, hier S. 218.

Die Sprache von Berlin-Gropiusstadt in Felix Lobrechts Roman Sonne und Beton

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seits darüber reflektiert, welche linguistischen Teildisziplinen und Begrifflichkeiten möglich bzw. nötig sind, um diesen »Slang«, aber auch die Sprache anderer Figuren angemessen zu beschreiben (Abschnitt 5).

2

Realisierungsformen von Sprache neben/mit der Standardvarietät

Wie bereits mit der Überschrift »Realisierungsformen von Sprache neben/mit der Standardvarietät«10 angedeutet, gehe ich von der Grundvoraussetzung, dass die Standardsprache als eine Varietät neben weiteren Varietäten der deutschen Sprache angesehen wird, und damit von einem engen Varietätenbegriff aus.11 Eine Varietät wird als Subsystem, als »Sprache in der Sprache«12 verstanden. Stephan Elspaß beschreibt Varietäten mit Bezug auf Jens Lanwer als Variantenkonfigurationen, die sich durch die Rekurrenz bestimmter Kombinationsmuster innerhalb von Äußerungseinheiten fortlaufend (re-)konstituieren und sich gegen andere habitualisierte Variantenkonfigurationen im Repertoire der betreffenden Sprechgemeinschaft (z. B. vertikal) und/oder gegen Variantenkonfigurationen im Sprachgebrauch anderer Sprechgemeinschaften (z. B. horizontal) abgrenzen lassen.13 Typische Varietäten des Deutschen sind Dialekte, aber auch »die in den deutschsprachigen Ländern regional und national verschieden ausgeprägten Formen der Standardsprache, die als Standardvarietäten bezeichnet werden.«14 Sie sind demzufolge Varietäten in der (Standard-)Varietät. Innerhalb einer Varietät kann es unterschiedliche Ausdrucksformen für einen Inhalt, also Variation15 geben, wie z. B. die kausalen Präpositionen wegen und aufgrund oder die beiden Verben anfangen und beginnen in der Stan10 Die Standardsprache wird z. T. auch als die anderen Varietäten überdachend klassifiziert, so bei Dittmar, Norbert: Reflexionen über das Entstehen eines deutschen Dialekts am Beispiel multiethnisch geprägter jugendsprachlicher Stile in Großstädten. In: Schneider-Wiejowski, Karina/Kellermeier-Rehbein, Birte/Haselhuber, Jakob (Hg.): Variation, Vielfalt und Stellung der deutschen Sprache. New York: De Gruyter 2013, S. 195–207, hier S. 202; Bahlo, Nils/Becker, Tabea/Kalkavan-Aydın, Zeynep/Lotze, Netaya/Marx, Konstanze/Schwarz, Christian/S,ims,ek, Yazgül: Jugendsprache. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2019, S. 202. 11 Anders als etwa Eugenio Coseriu, der mit Varietät »die sprachliche Variation als solche« bezeichnet; vgl. z. B. Coseriu, Eugenio: Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens. 2. Aufl. Tübingen: Narr Francke Attempto 2007. 12 Linke, Angelika/Voigt, Gerhard: Sprachen in der Sprache. Soziolinguistik heute: Varietäten und Register. In: »Praxis Deutsch« 18, H. 110/1991, S. 12–20. 13 Elspaß, Stephan: Sprachvariation und Sprachwandel. In: Neuland, Eva/Schlobinski, Peter (Hg.): Handbuch Sprache in sozialen Gruppen (Handbücher Sprachwissenschaft 9). Berlin/ New York: De Gruyter 2018, S. 87–107, hier S. 93. 14 Ebd. 15 Vgl. ebd., bes. S. 88.

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Claudia Wich-Reif

dardvarietät, die über die Kontexte und mit dem Konzept der Nähe- und Distanzsprachlichkeit zu erklären sind.16 In einem literarischen Werk ist zu erwarten, dass sich Nähesprachlichkeit insbesondere in der Figurenrede findet. In Abgrenzung zu Varietäten werden Stile, wie etwa die Jugendsprache, als »Variantenkonfigurationen begriffen, die durch Sprecherinnen und Schreiber in der Interaktion konstruiert und entsprechend flexibel eingesetzt werden können.«17 Die klare Einteilung in Varietäten und Stile spiegelt sich in den Bezeichnungen derselben nicht wider: Das Zweitelement Sprache in entsprechenden Komposita bedeutet entweder ›Art des Sprechens; Stimme, Redeweise‹ (Verwendungsbeispiele: u. a. der Sprache nach stammt sie aus Berlin), z. B. Standardsprache und Stadtsprache oder ›Ausdrucksweise, Stil‹ (Verwendungsbeispiele: die Jugend hat ihre eigene Sprache), z. B. Studentensprache und Jugendsprache.18 Beim Terminus Kiezdeutsch liegt der Fokus auf einer, nämlich der deutschen Sprache, was stimmig ist, wenn man das Kiezdeutsche als Unterbegriff zu (Multi-)Ethnolekten sieht. Im Folgenden werden auf Basis der Forschungsliteratur in gebotener Kürze Ausprägungen von Sprache beschrieben, die für den Roman Sonne und Beton relevant sind, also Charakteristika des Kiezdeutschen, der Jugendsprache, des Berlinischen als Stadtsprache und der Standardsprache, und gleichzeitig die Frage der Zuordnung problematisiert. Die Charakteristika sind die Basis der Analyse und Bewertung der Sprache im Roman Sonne und Beton (Abschnitt 4).

2.1

Kiezdeutsch

Kiezdeutsch wird als »eine neue Variante des Deutschen, die sich im sprachlich besonders dynamischen Kontext des mehrsprachig geprägten urbanen Raums entwickelt hat«19, definiert, die »vielschichtige[ ] kontrastive[ ] Bezüge zum Standarddeutschen und seinen Dialekten samt den [sic] zugehörigen Hochdeutsch«20 zeigt. Charakteristisch für das Kiezdeutsche ist die »diskursive[ ] Aushandlung von Gruppenidentitäten und den hiermit verbundenen An- und Aberkennungsprozessen sprachlicher Eigentümerschaft und Legitimation«21,

16 Vgl. dazu Elspaß, Stephan: Sprachvariation und Sprachwandel, S. 88f. 17 Ebd., S. 94. 18 Die Verwendungsbeispiele aus dem Duden online sind beigegeben, weil sie genau dies illustrieren; vgl. Duden online: https://www.duden.de/woerterbuch / letzter Zugriff am 30. 11. 2021. 19 Wiese, Heike: Kiezdeutsch, S. 332. 20 Ebd. 21 Ebd.

Die Sprache von Berlin-Gropiusstadt in Felix Lobrechts Roman Sonne und Beton

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was u. a. mit einer vulgären Ausdrucksweise verbunden ist.22 Damit dient die Sprache in Berlin-Gropiusstadt – wie die Sprache in Berlin-Kreuzberg, die von Wiese u. a. untersucht wurde23 – sowohl der Ein- wie auch der Abgrenzung. Die genannten Kriterien gelten für das Kiezdeutsche, aber auch für die Jugendsprache; dazu kommt die Einordnung als (Sprech-)Stil.24 Als salientes Merkmal des Kiezdeutschen wird u. a. die Koronalisierung des palatalen Frikativs [ç] zu [ʃ] genannt, das jedoch kein exklusives Merkmal des Kiezdeutschen oder auch anderer Multiethnolekte ist, sondern seit dem 19. Jahrhundert, in dem sich die Koronalisierung als vergleichsweise junges regionales Phänomen etabliert hat, auch charakteristisch für rheinische Dialekte.25 Die Koronalisierung als ethnolektaler Marker in urbanen Zentren, wie z. B. Berlin, ist »auf dem Weg vom Marker zum Stereotyp«26, so Elspaß, was u. a. an der Adaption in Sprechweisen bestimmter Jugendszenen ersichtlich sei. Auch weitere Merkmale, die Wiese nennt, sind nicht nur charakteristisch für das Kiezdeutsche: Die Integration von Wörtern aus Fremdsprachen, v. a. aus dem amerikanischen Englischen, dem Türkischen und dem Arabischen,27 ist auch für Jugendsprache(n) charakteristisch. Entlehnungen aus dem Englischen spielen zudem für Fachsprachen wie auch für die gesprochene und geschriebene (Alltags-)Sprache ganz allgemein eine große Rolle. In Kombination mit anderen Merkmalen wie spezifischen evaluativen Ausdrücken oder neuen Anredeformen lässt sich das Kiezdeutsche als Stadtteilsprache jüngerer Bewohner beschreiben, als »emergent[e], höchst fluktuierend[e] (und noch NICHT gefestigt[e]) jugendsprachlich[e] Verwendungsweisen, die auf jeden Fall KEINE generationsübergreifende Stabilität besitzen.«28 Diese lassen sich mit anderen Stadtteilsprachen einer Stadt vergleichen, aber auch mit Stadtteilsprachen anderer Städte in Deutschland und anderswo. Werden Wörter aus anderen Sprachen verwendet, so könnte berücksichtigt werden, wer sie in welchen Kontexten gebraucht. Sind es Nicht-Muttersprachler, ist es Codeswitching29, hier der Wechsel zwischen der Zweitsprache als Basis22 23 24 25 26 27 28 29

Ebd., S. 227, 229. Vgl. auch Anm. 1 und 2. Vgl. Dittmar, Norbert: Reflexionen, S. 49f. Vgl. Elspaß, Stephan: Sprachvariation und Sprachwandel, S. 93; vgl. auch Wiese, Heike: Kiezdeutsch, S. 38. Ebd. Vgl. die Beispiele in Wiese, Heike: Kiezdeutsch, S. 39–41; vgl. aber auch Bahlo, Nils u. a.: Jugendsprache, S. 103, 166. Dittmar, Norbert: Reflexionen, S. 198 [Hervorhebungen im Original, CWR]. Vgl. dazu z. B. Wich-Reif, Claudia: Lateinisch-deutsches Codeswitching in mittelalterlichen Bibelhandschriften. In: Glaser, Elvira/Prinz, Michael/Ptashnyk, Stefaniya (Hg.): Historisches Codeswitching mit Deutsch. Multilinguale Praktiken in der Sprachgeschichte (Studia Linguistica Germanica 140). Berlin/Boston: De Gruyter 2021, S. 139–173, hier S. 141f.

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sprache der Verständigung und der Erstsprache, die bewusst eingesetzt wird, um z. B. Sachverhalte auszudrücken, die in der Zweitsprache mehr Aufwand erfordern würden.

2.2

Jugendsprache

Ähnlich wie das Kiezdeutsche wird Jugendsprache als Ausprägung von Sprache beschrieben, die mit der Standardsprache in Bezug gesetzt wird. Eva Neuland bezeichnet die Sprache von Jugendlichen als (subkulturellen) Stil.30 Dieser zeigt sich insbesondere in einem spezifischen Gebrauch von Lexik und Syntax, der dazu dient, eine soziale Identität innerhalb einer milieugeprägten Peergroup auszubilden und sich gleichzeitig von anderen (Peer-)Gruppen abzugrenzen, u. a. mittels Vulgarismen.31 Als sprachliche Merkmale, die zur Konstruktion bzw. Festigung von Gruppenidentität dienen, aber auch als Abgrenzungssignale fungieren können, gelten spezifische Intensivierer, idiomatische Wendungen, Gesprächswörter und Anredeformen sowie Fremdwörter aus dem Englischen wie auch aus dem Türkischen und Arabischen, außerdem Reduktionsformen wie Apokopen, Synkopen und Kontraktionen. Jede Anredeform, jedes Fremdwort und auch jede andere sprachliche Ausprägung hat das Potential, in den allgemeinen Sprachgebrauch übernommen zu werden, indem Erwachsene diese von Jugendlichen übernehmen (z. B. geil ›toll‹32 oder krass ›sehr, besonders‹) oder indem Jugendliche sie als Erwachsene weiterverwenden. Typische Intensivierer sind echt, voll, total, ein typisches Gesprächswort ist ey, typische Anredeformen sind (Ey,) Alter und Digga bzw. Dicker. Die Fremd- bzw. Lehnwörter aus dem Englischen können unmarkiert sein, so z. B. cool, chillen, covern und Connection, aber auch markiert, so z. B. fuck oder bitch.33 Als türkische und arabische Entlehnungen werden zumeist arab. wallah ›bei Gott‹, yallah ›los‹ und türk. lan ›Typ, Mann‹ genannt.34 Reduktionsformen und Apokopen bzw. Synkopen zeigen sich z. B. bei hasse ›hast du‹ und (wir) haben > (wir) habn > (wir) habm > (wir) ham.35 Sie sind charakteristisch für alle Formen gesprochener Sprache und spiegeln sich zum Teil auch in der Schriftsprache wider.

30 31 32 33 34 35

Vgl. Neuland, Eva: Jugendsprache. Eine Einführung. Tübingen/Basel: utb 2018. Vgl. Bahlo, Nils u. a.: Jugendsprache, S. 58. Ebd., S. 56, 59, 65. Ebd., S. 57f. Vgl. Anm. 27. Vgl. Elspaß, Stephan: Sprachvariation und Sprachwandel, S. 101.

Die Sprache von Berlin-Gropiusstadt in Felix Lobrechts Roman Sonne und Beton

2.3

67

Berlinisch

Berlinisch als Stadtsprache wird als durch das Ostmitteldeutsche überschichtetes Niederdeutsch beschrieben.36 Damit wird es auf den Dialekt(verbund) zurückgeführt, der in den einzelnen Ortsteilen von der alteingesessenen Bevölkerung gesprochen wird. Es bezeichnet also die areale (horizontale) Dimension sprachlicher Variation. Phonologisch(-graphematisch)e Merkmale sind die Plosive p, t, k, die wie im Hochdeutschen verschoben sind, im Gegensatz zum Niederdeutschen, wo sie unverschoben erhalten sind, wie z. B. in water, open und maken. Die unverschobenen Plosive in Kleinwörtern wie ick, wat und det sind sprachliche Relikte des Niederdeutschen. Das Phänomen findet sich auch in anderen Regionen, so unverschobenes t in wat, dat und et in den nördlichen Regionen des westmitteldeutschen Sprachraums (dat-das-Linie, auch: Bacharacher Linie). Auch die Palatalisierung der velaren Spirans /g/ zu /j/ ist nicht nur im Ost-, sondern auch im Westmitteldeutschen belegt. /a/ erscheint gehoben zu /ı/, z. B. in dit (›das‹), der Langvokal /o:/, wo in der Standardvarietät /au/ erscheint, der Langvokal /e:/, wo in der Standardsprache /ei/ erscheint. Berlinisch dient der Interaktion im Ortsteil als Raum und auch der räumlichen wie sozialen Gruppen- bzw. Milieubildung.37

2.4

Standardsprache als Basisvarietät und ihre Relation zu anderen Varietäten und (Sprech-)Stilen

Gesprochene Standardsprache ist die mündliche Realisierung der Schriftsprache, ohne dass die Artikulationsnorm der Hochlautung erreicht wird. In phonetischer Hinsicht erscheint sie großräumig differenziert. Als Varietät mit der größten kommunikativen Reichweite aller Systemschichten gilt sie im öffentlichen bis offiziellen Gebrauch in der Schule als Zielsprache im Unterricht, in der Kirche und bei öffentlichen Anlässen.38 Die Standardsprache ist überregional, ihr liegen festgelegte Normen zugrunde, die sich in Grammatiken und Wörterbüchern manifestieren. Damit gilt sie als relativ stabil und wenig von außen beeinflussbar. Standardsprache und (Basis-)Dialekt können als Eckpunkte eines sprachlichen Kontinuums gelten, »in dem viele vorfindliche Sprachäußerungen ihren Platz

36 Schlobinski, Peter: Stadtsprache Berlin. Eine soziolinguistische Untersuchung. Berlin/New York: De Gruyter 1987, hier S. 7. 37 Vgl. Christen, Helen: Dialekt und soziale Gruppen. In: Neuland, Eva/Schlobinski, Peter (Hg.): Handbuch Sprache in sozialen Gruppen (Handbücher Sprachwissenschaft 9). Berlin/New York: De Gruyter 2018, S. 385–400, hier S. 395; s. auch Anm. 36. 38 Schlobinski, Peter: Stadtsprache Berlin, S. 6.

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finden«39, so u. a. Stadt- bzw. Stadtteilsprachen. Die Standardsprache ist Basis für Kiezdeutsch und Jugendsprache, zwei (Sprech-)Stile, die aufgrund der Tatsache, dass jeweils junge Menschen im Austausch miteinander stehen, viele Gemeinsamkeiten zeigen. Jugendsprache ist frequenter als Kiezdeutsch, weil sie eine größere kommunikative Reichweite hat, nämlich den gesamten Sprachraum. Im Gegensatz zum Kiezdeutschen, das nur auf Stadtteile mit einer ganz spezifischen Einwohnerstruktur bezogen wird40, sind Dialekte und die Standardsprache in den einzelnen Regionen (besonders Nord-Süd-Kontrast) und Lebensräumen (z. B. Land-Stadt-Kontrast) wie die Jugendsprache(n) für den gesamten deutschen Sprachraum relevant. Es wäre zu fragen, ob Kiezdeutsch als eine Teilmenge von Jugendsprache klassifiziert werden kann.

3

Felix Lobrecht und sein Roman Sonne und Beton

Auf dem hinteren Buchdeckel des Romans Sonne und Beton wird mit den folgenden Worten geworben: »Ein heißer Sommer. Vier Jungs in den Hochhausschluchten der Großstadt. Eine folgenschwere Entscheidung.« Die Inhaltsangabe auf Seite 2 ist stimmig dazu: Ein heißer Sommer in der betonharten Gropiusstadt. Gino, Julius und Lukas kiffen, chillen, saufen, glotzen Mädchen hinterher. Bis Sanchez in ihr Leben tritt mit seiner charmanten und echt coolen Art. Er überredet die Jungs zu einem Einbruch. Sie ziehen das Ding völlig dilettantisch durch, aber es funktioniert. Nur wie vertickt man geklaute Computer, wenn man erst 15 ist und keine Hehlerkontakte hat? Sanchez macht eine Türken-Connection klar. Doch es kommt alles anders als geplant.

Der Roman handelt vom Leben Jugendlicher in einem Berliner Stadtteil um die Jahrtausendwende. Die drei schlagzeilenartigen nominalen Äußerungen auf dem hinteren Buchdeckel situieren den Text in Zeit und Raum. Die Wahl des Plurals Jungs (und nicht Jungen) weist sowohl auf den mittel- und norddeutschen Sprachraum41 wie auf den Substandard hin, der (auch) im Buch zu erwarten ist. Mit Gropiusstadt ist die um 18.500 Wohnungen (90 % davon Sozialwohnungen) 39 Ebd., S. 7. 40 Vgl. Anm. 1–3. 41 Vgl. Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Junge / letzter Zugriff am 30. 11. 2021. Im Variantenwörterbuch des Deutschen werden diese Pluralformen für Deutschland als »Grenzfälle des Standards« eingeordnet; vgl. Ammon, Ulrich/Bickel, Hans/ Lenz, Alexandra N. Lenz (Hg.): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. Von den HerausgeberInnen und AutorInnen Ulrich Ammon, Hans Bickel und Alexandra N. Lenz sowie den AutorInnen Juliane Fink u. a. unter Mitarbeit von Jakob Ebner u. a. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin/ Boston: De Gruyter 2016, S. 357.

Die Sprache von Berlin-Gropiusstadt in Felix Lobrechts Roman Sonne und Beton

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umfassende, von Walter Gropius geplante, 1975 fertiggestellte Trabantenstadt im Süden Neuköllns gemeint, die schnell als sozialer Brennpunkt galt.

Abb. 1: Lage von Berlin-Gropiusstadt, ©TUBS42

Abb. 2: Berlin-Gropiusstadt, ©Sansculotte, CC BY-SA 3.043

Der 1988 geborene Autor Felix Lobrecht, der auch als Stand-Up-Comedian und Podcaster Bekanntheit erlangt hat, wuchs in Berlin-Neukölln auf, sodass er sicherlich zu Recht von sich behaupten kann, dass er den dort gesprochenen

42 Berlin Neukölln Gropiusstadt. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Gropiusstadt / letzter Zugriff am 30. 11. 2021. 43 Gropiusstadt in Berlin, Ansicht von Süden. URL: https://commons.wikimedia.org/w/inde x.php?curid=3715566 / letzter Zugriff am 30. 11. 2021.

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»Slang« kennt (vgl. Abschnitt 1). In seinem Roman Sonne und Beton ist es gleich der Beginn, der die Leserinnen und Leser in das Milieu versetzt, indem ein Gespräch zwischen dem Protagonisten Lukas und dem Hausmeister (s)einer Schule wiedergegeben wird: (1) »Mann, is dein Ernst? Lass mich doch mal rein jetzt, Alter. Ich bin seit vier Jahren hier auf dieser bekackten Schule. Du kennst mich. Wir haben uns schon tausendmal gesehen, ja. Ohne Spaß …«, sage ich. Der Security-Typ am Eingang zur Schule reagiert nicht. »Alter, ich hab nur heute einmal diesen scheiß Ausweis vergessen, wirklich. Sonst hab ich den immer dabei, Mann. Immer. Lass mich doch einfach rein jetzt.« Der Typ verzieht keine Miene und zieht an seiner Kippe, ohne mich anzugucken. »Kein Schulausweis, dann kommt nicht rein«, sagt er. (SuB, K. 1, 7)

Der Anfang – eine Szene am Eingang einer Schule – gibt einen guten Eindruck von der Sprache des Romans, insbesondere auch von der Figurenrede. Lukas, Hauptfigur und Erzähler, hat seinen Ausweis vergessen, ohne den ihn ein Security-Mitarbeiter nicht hineinlässt. Lukas adressiert ihn mit Mann und duzt ihn. Aufgrund der Figurenkonstellation in der Redesituation lässt er das Subjekt weg und realisiert die Verbform in der Allegroform is in Verbindung mit der Routineformel Poss.pron. 2. Sg. + N Ernst.44 Der folgende Aufforderungssatz enthält die für die Mündlichkeit typischen Kurzformen mal und rein, eine nachgeschobene Temporaladverbiale ( jetzt) und erneut eine Anredeform, diesmal Alter. Im folgenden Satz ist das Adjektivattribut bekackt mit übertragener Semantik auffällig, das vom Duden-Wörterbuch mit dem Symptomwert derb gekennzeichnet ist. Die Sätze »Du kennst mich.« und »Wir haben uns schon tausendmal gesehen, ja.« sind standardsprachlich und gewissermaßen ›zeitlos‹. Die Anredeformen weisen auf eine Art von Bekanntheit der Kommunikationspartner hin. »Ohne Spaß« könnte auch mit Komma an den vorausgehenden Satz angeschlossen sein. Die drei Punkte sind m. E. nicht interpretierbar: Sie mögen eine Pause andeuten; diese ist aber schon mit der fehlenden Reaktion des »Security-Typs« abgedeckt. Zu den beschriebenen Strategien, die Sprache eines Jugendlichen aus einer bestimmten Gegend im Roman abzubilden, kommt in der Eingangspassage nichts Neues hinzu, außer der Symptomwert umgangssprachlich für die Lexik (Kippe, angucken).45

44 Die zumeist als Frage formulierte Wendung (Is[t]) mein/sein/dein/euer Ernst kommt insgesamt 31-mal im Roman vor; vgl. auch Abschnitt 4.2. 45 Der Terminus Umgangssprache wurde in Abschnitt 3 nicht gesondert behandelt. Üblicherweise wird er insbesondere für lexikalische Zuweisungen relevant gesetzt. Bei Bahlo u. a.: Jugendsprache, S. 26 dient er als nominaler Kern der Phrase Berliner Umgangssprache und wird nicht definiert. Auch in anderen Publikationen wird der Begriff z. T. mit unterschiedlichen Bedeutung(snuanc)en verwendet, aber nicht definiert, z. B. bei Wiese, Heike: Kiez-

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Die Sprache als Ausdruck der Ein- und Abgrenzung: eine quantitative und qualitative Analyse

Der Roman Sonne und Beton enthält insgesamt etwa 49.450 Wortformen.46 Die häufigsten Wortformen des Deutschen kommen auch hier besonders oft vor: der bestimmte und der unbestimmte Artikel, die Präpositionen in, zu, von und mit, die Konjunktion und sowie die Verben sein, haben und werden.47 In Ergänzung zur pauschalen Vorkommenshäufigkeit werden hier die Vorkommen ausgewählter Flexionsformen mit angegeben. Manche sind wenig aussagekräftig, so der bestimmte Artikel die, der bei mehreren Genera, für mehrere Kasus und bei beiden Numeri vorkommen kann. Stilistisch relevant sind das geringe Vorkommen von (klar zuweisbaren) Genitiv-Singular-48 und das Fehlen von GenitivPlural-Formen beim bestimmten Artikel. Wie in der Einleitung, den Abschnitten 2.1, 2.2 und insbesondere 2.4 angedeutet, ist es schwierig, Kiezdeutsch und Jugendsprache klar voneinander abzugrenzen. Auch für die Analyse des Romans erweist es sich als ergiebiger, die Merkmale des Kiezdeutschen und der Jugendsprache gemeinsam zu behandeln.

4.1

Merkmale des Kiezdeutschen und der Jugendsprache in Sonne und Beton

Die Koronalisierung des palatalen Frikativs [ç] zu [ʃ], die über den wissenschaftlichen Bereich hinaus als typisches Kennzeichen für Ethnolekte als (Sprech-)Stil in urbanen Zentren angesehen wird, kommt im Roman Sonne und Beton nur einmal vor, und zwar in dem Sinn, den Stephan Elspaß unter anderem mit der Koronalisierung in Verbindung bringt, nämlich der Übernahme und Karikierung »durch sogenannte ›Comedians‹«49:

46 47 48

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deutsch und in mehreren Beiträgen des von Eva Neuland und Peter Schlobinski herausgegebenen Bandes Handbuch Sprache in sozialen Gruppen. Die Anzahl kann etwas schwanken wegen auseinander geschriebener Komposita, Trennungen am Zeilenende u. ä. Die Zahlen wurden mit den Häufigkeitsangaben im Dudenkorpus abgeglichen: URL: https:// www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/Die-haufigsten-Worter-deutschsprachigen-Te xten / letzter Zugriff am 30. 11. 2021. Diese kommen nicht nur in der Handlungsbeschreibung vor (z. B. SuB, K. 4, 81: »Abdul hebt einen kleinen Tisch an und läuft damit in die Mitte des Klassenzimmers.«), sondern auch in der Figurenrede (z. B. SuB, K. 1, 26: »Yallah, kommt ma schneller! Bahn is da …«, ruft einer. Fuck. Sind das die Leute von eben? Der U-Bahnhof Lipschitzallee ist ja direkt bei dem vorderen Eingang des Parks. Die Stimmen werden lauter. »Scheiße, […].«). Elspaß, Stephan: Sprachvariation und Sprachwandel, S. 93.

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(2) »Mann, hör auf mit diesem Marco-Gangstergequatsche, ey. Ich kann’s nicht mehr hören. Ich bin selber hier aufgewachsen, ich weiß, was hier los ist. Diese ganze Bushido›Ey, isch stech dich ab‹- und ›Motherfucker‹-Scheiße immer …« (SuB, K. 6, 139)

Der Vater von Lukas regt sich über den Sprachgebrauch des jüngeren Sohns auf und vergleicht diesen mit dem Sprachgebrauch des älteren Sohns, Marco, mit dem er kein gutes Verhältnis (mehr) hat. Marco wird an einer anderen Stelle als »einziger deutscher Kanake« (SuB, K. 1, 19) charakterisiert.50 Die übliche Form für das Personalpronomen in der 1. Pers. Sg. ist das standardsprachliche ich; sie kommt 1.257-mal vor. Englische Entlehnungen sind z. B. das Adjektiv fresh und das Verb skippen, die aber nur zwei- bzw. einmal vorkommen: (3) Egal, ich laufe weiter, skippe zwei Lieder vor auf »Heavy Metal Payback« von Bushido und Fler und rappe leise mit. (SuB, K. 1, 9) (4) »Da find ick unsern Spruch aber fresher.« (SuB, K. 2, 48)

Auch Wörter aus anderen Fremdsprachen werden sehr sparsam verwendet. Einmal kommt türk. Amenakoyum (SuB, K. 3, 63) (amina koyim ›ich mach dich fertig‹) vor, einmal das türkische Grußwort selam ›hallo‹, das aus dem Arabischen entlehnt ist, dreimal türk. cüs ›oha; krass‹ jeweils in der graphischen Realisierung ‹cüüüs› zum Ausdruck von Erstaunen, zweimal arab. lak ›ey‹ vor, siebenmal arab. shu ›was; du‹, sechsmal arab. yallah ›lass uns gehen‹, 33-mal arab. wallah ›bei Gott‹; hier zwei Beispiele: (5) Momo guckt auf die Uhr. »Wallah, voll vergessen, ja. Ich muss zum Anwalt jetz. Dings, wir sehen uns morgen, Lukas.« Er gibt mir die Hand und joggt los. »Hau rein«, rufe ich ihm hinterher. (SuB, K. 2, 40)

Wallah ist ein Lexem, das nicht nur von Cem, sondern von mehreren Figuren verwendet wird, von Momo, der viermal sitzengeblieben und der einzige in der Schule ist, mit dem Lukas befreundet ist,51 und dem türkischstämmigen Mitschüler Osman, von Lukas’ Bruder Marco und seinen Freunden Samuel und Ali sowie von nicht näher identifizierten Jugendlichen. Der Gebrauch ist unterschiedlich einzuordnen; Cem ist Araber, er wechselt/switcht zwischen dem Deutschen als Zweit-, aber hier Basissprache, und dem Arabischen, seiner Muttersprache, die anderen haben das Wort übernommen. In der Schule werden mit dem (Nicht-)Gebrauch Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund voneinander abgegrenzt, Marco und seine Freunde bilden eine Peergroup junger 50 Diese Klassifizierung wird im Verlauf des Romans immer wieder untermauert: So begrüßt Marco Vater und Bruder mit »Salem Aleikum, Familie!« (SuB, K. 3, 56). 51 SuB, K. 2: »Er ist der Einzige hier auf der Schule, mit dem ich einigermaßen befreundet bin. Aber auch nur hier.«

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Erwachsener; Marco gehört als »einziger deutscher Kanake« (SuB, K. 1, 19) dazu. Auch hier ist der Gebrauch des Lexems Signal für Ein- wie auch Abgrenzung. (6) »Wat? Welchen Araber? Die hier vorne aus den Park oder wat? Lak ey, wenn die dit waren, ick schwöre, wir ficken die, ja.« Cem reißt die Augen auf. »Wallah, warn die dit?« (SuB, K. 1, 18)

Lukas sagt über die Figur Cem, er sei »der einzige Ausländer, der berlinert, zumindest kenne ich sonst keinen« (SuB, K. 1, 18). Lobrecht inszeniert dies, indem Cem die charakteristischen und frequenten Kurzwörter mit unverschobenem t bzw. k verwendet, hier wat und dit sowie ick oder icke als Personalpronomen der 1. Pers. Sg., aber auch saliente Wörter aus dem Arabischen als Erstsprache. Er verwendet nicht nur Arabismen, die typisch für das Kiezdeutsche (bzw. die heutige Jugendsprache) sind, sondern auch weniger geläufige, wie lak,52 wobei Cem lak und die deutsche Übersetzung neben-/hintereinander gebraucht. Auch Wallah wird in gewisser Weise übersetzt, wenn Cem in derselben Äußerung ick schwöre sagt. In derselben Szene verwendet Cem wallah und ich schwöre verstärkend zusammen: (7) »Diese scheiß Araber. Verkaufen hier ihr gestrecktes Piss-Ott, boxen mein Kunden und nennen mich Hurensohn? Sind die wahnsinnig, Alter? Wallah, ich schwöre, sind die behindert? Was los mit denen? Ick fick die, ja. Die wissen doch, wer ick bin? Wollen die ganz S44 gegen sich? Ein Anruf, und hier stehen fünfzig Leute, aber die richtig kaputten …« (SuB, K. 1, 19)

Dieser wie auch viele weitere Textausschnitte des Romans sind Belege für diskursive Aushandlungen von Gruppenidentitäten, was u. a. mit Vulgarismen geschieht,53 z. B. dem als Attribut verwendeten scheiß, das insgesamt 68-mal verwendet wird, dem Präfix Piss-, dem Substantiv Hurensohn und dem Verb ficken.54 Piss- dient hier ebenso der negativen Bewertung wie das Adjektiv bekackt (das allerdings nur einmal in Sonne und Beton vorkommt, und zwar in der ersten Szene).55 Als evaluativer Ausdruck neben scheiß dient u. a. krass (insgesamt 26mal): (8) »Keine Ahnung, ich kenn ihn nich. Aber gab’s nich ma irgendein Mehmet hier, über den’s so ’ne krasse Story gibt?« (SuB, K. 3, 60)

Neue Grußformeln sind die schon thematisierten Arabismen wallah und shu ey und hey. Ey (insgesamt 36-mal belegt) und hey (5-mal) werden von vielen, auch 52 Ein weiteres Mal wird lak von Sertac, einem türkischstämmigen Mitschüler von Lukas, gebraucht (SuB, K. 2, 39). 53 Vgl. Abschnitt 2.1. und Anm. 22. 54 Der Stamm fick- erscheint insgesamt 48-mal, das Verb zumeist in der Bedeutung ›hart herannehmen‹, selten in der Bedeutung ›mit jemandem Geschlechtsverkehr haben‹. 55 Vgl. Abschnitt 3.

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von älteren Romanfiguren verwendet, von den türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen z. T. in Kombination mit wallah und shu: (9) »Ähm, hey, äh, Entschuldigung, aber solche Worte wollen wir hier nicht hören«, sagt der Vertretungslehrer leise. (SuB, K. 2, 38) (10) »Mann, Mann, Mann«, murmelt mein Vater und fährt los. […] »Wieso lässt du dich immer wieder auf diese Scheiße ein, hier mit den ganzen Idioten? Mann, ey …« (SuB, K. 2, 43)

Als Anredeformen werden besonders häufig Alter, Mann ( je 120-mal) und Dicker (64-mal) gebraucht, und zwar von allen jugendlichen Romanfiguren, von türkischstämmigen Jugendlichen auch Moruk ›Alter‹: (11) »Selam, wie jeht’s, Dicker? Allet klar oder wie?« (SuB, K. 1, 18) (12) »Ja, keine Ahnung, was mit Sari ist, Alter. Er geht nicht an sein scheiß Telefon. Vielleicht hat er nix, ja. Außerdem ist mein scheiß Akku gleich leer … Ich fick so was.« (SuB, K. 1, 11) (13) »Lass ihn doch, Moruk. Er ist sechzehn, Mann. Er denkt bestimmt an irgendwelche Mädels, ja!«, sagt Ali. (SuB, K. 3, 62)

Neben neuen Gruß- und Anredeforme(l)n integriert Lobrecht auch neue Routineformeln, das schon genannt ich schwöre56, aber z. B. auch Poss.pron. + Subst. Ernst (insgesamt 38-mal)57 und ohne Spaß (6-mal).58 Reduktionsformen und Apokopen bzw. Synkopen zeigen sich in vielen der Figurenreden, in den Belegen (1) bis (12) wird t und l am Wortende weggelassen: (1) is, (4) jetz, (7) nich und ma. Eine Allegroform ist so ’ne (7). Apokopen liegen vor bei kenn (7), Synkopen bei warn (5) und intressiert.59 Klisen erscheinen bei den’s (7) und jetzt’s (10). Ganz allgemein entscheidet sich der Autor Lobrecht eher für die standardsprachliche Form, so bei der Formel ich schwöre (6). Mit den Belegbeispielen ist dokumentiert, dass viele Charakteristika des Kiezdeutschen auch Charakteristika von Jugendsprache sind. Unterschiede im Gebrauch zeigen sich bei Jugendlichen deutscher, arabischer und türkischer Herkunft, insbesondere beim Gebrauch von arabischen bzw. türkischen Wörtern. Diese können demzufolge nicht klar als Entlehnungen bewertet werden, da es sich auch um Codeswitching60 handeln kann. In anderer Hinsicht zeigen sich Unterschiede im Gebrauch von Gruß- und Anredeformen: Die arabisch- und türkischstämmigen Jugendlichen verwenden auch arabische bzw. türkische Grußformeln, die deutschstämmigen Jugendlichen gebrauchen deutsche Gruß56 57 58 59 60

Vgl. Abschnitt 4.1. Vgl. die Beispiele (1) und (13). Vgl. Beispiel (1). Die Form intressiert wird von Lukas, Julius und Sanchez gebraucht. Vgl. Abschnitt 1.

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formeln bis auf Lukas’ Bruder Marco, der Mitglied einer Peergroup ist, zu der außer ihm nur junge Erwachsene mit Migrationshintergrund gehören. Die deutschen Gruß- und Anredeformen werden zum Teil auch von Eltern und Lehrern, also älteren Figuren verwendet.

4.2

Merkmale des Berlinischen in Sonne und Beton

Berlinisch verwenden jüngere und ältere Figuren. Im (Nicht-)Gebrauch des Berlinischen manifestieren sich Unterschiede zwischen dem Süden und dem Osten Berlins, aber auch zwischen älteren und jüngeren Figuren. Hochfrequent sind die Kurzwörter dit, wat und ick bzw. icke. Während allgemein das Nebeneinander von ich und ick für das Berlinische als Stadtsprache charakteristisch ist61, wird ick in Sonne und Beton von wenigen Figuren konsequent gebraucht, von Cem, dem »einzigen Ausländer, der berlinert« (s. o.), und von Sanchez und seiner Mutter. Mit dit ist auch die Hebung des /a/ belegt, mit ooch (insgesamt 6mal belegt)62 ein mittlerer hinterer Langvokal, wo in der Standardvarietät ein Diphthong aus tiefem /a/ und hohem hinterem /u/ erscheint, mit weeß der Langvokal /e:/, wo in der Standardsprache /ei/ erscheint.63 Dass das Berlinische als Varietät eine andere Qualität hat als das Kiezdeutsche bzw. die Jugendsprache als (Sprech-)Stile, zeigt sich in der Figurenrede von Gabi, Sanchez’ Mutter. Auch wenn das Berlinische stilisiert und zugunsten der Verständlichkeit für die Leserinnen und Leser des Romans im Vergleich zum realen Sprachgebrauch reduziert ist, so finden sich deutlich mehr Merkmale in einer Figurenrede als im Kiezdeutschen bzw. der Jugendsprache, deren Basis die Standardsprache ist. Im folgenden Ausschnitt sind Lukas und Sanchez bei Sanchez zuhause: (14) »Lukas heißt du, wa?«, sagt sie. »Kennste dit?« Sie sieht mich an und zeigt auf den Topf. Was meint sie? Ob ich Nudeln mit Sauce kenne, oder verarscht sie mich? Ich gucke zu Sanchez, er zuckt mit den Schultern. »Ob ich Nudeln mit Sauce kenne?«, sage ich leise. Sie lacht. »Na, Nudeln mit Sauce wirste ja wohl kennen. Ick meine, ob du schon ma Würstchensauce gegessen hast? Is ’n DDR-Gericht, weeß ick ja nich, ob ihr dit hier ooch esst …« Sie nimmt meinen Teller und klatscht drei Kellen Nudeln drauf. »Ach so … Nee, Würstchensauce hab ich noch nie gegessen. Mein Vater macht meistens Bolognese, oder ich ess die einfach mit Ketchup …«, sage ich.

61 Vgl. Schlobinski, Peter: Stadtsprache Berlin, S. 7. 62 Gloob bzw. gloobe 3-mal (von Gabi und Sanchez), verkoofen bzw. verkooft 5-mal (von Cem und Sanchez). 63 keen, keene bzw. keener 16-mal (von Sanchez, häufig in Verbindung mit dem Substantiv Hit), kleener bzw. Kleene 3-mal (von Sanchez).

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»Dicker, dein Ernst? Alter, Würstchensauce is dit beste überhaupt.« Sanchez fuchtelt mit den Armen. Ich esse die erste Gabel. (SuB, K. 10, 201f.)

Der Ausschnitt zeigt bei Gabi neben phonologisch-graphematischen Merkmalen des Berlinischen (die Gesprächspartikel wa64) Reduktionsformen (ma, is’n, nich; auch: dasset ›dass es‹65) und Klisen in Verbindung mit reduziertem Vokal (Kennste, wirste), die Charakteristika gesprochener informeller Sprache sind. Sanchez berlinert auch, kombiniert dies aber mit Anredeformen und Formen, die typisch für Jugendliche und junge Erwachsene sind. Beide verwenden wa als Gesprächspartikel, aber nur Sanchez gebraucht die Form auch als 1. Pers. Pl. des Personalpronomens ›wir‹ (insgesamt 40-mal); allerdings gibt es nur diese eine Szene mit Gabi, während Sanchez eine der Hauptfiguren des Romans ist und mit dem Pronomen immer wieder auf seine Peergroup referiert. Der Sprachgebrauch von Gabi und Lukas ist klar voneinander abgegrenzt. Lukas verwendet ausschließlich die Standardvarietät, wobei mit dem Leise-Sagen verbunden ist, dass er wohl nicht nur wegen der Inhalte – die ganz alltäglich sind –, sondern auch wegen der Sprache Gabis verunsichert ist. Hier noch zwei weitere Beispiele für die Sprache von Sanchez: (15) »Also Lukas, komm! Vom Rumsitzen wird’s ooch nich besser.« Sanchez hält mir seine Hand hin. (SuB, K. 7, 151) (16) »Wer soll dich denn durchsuchen? Ick renn da kurz alleene runter, und jut is«, sagt Sanchez. (SuB, K. 3, 72f.)

Palatalisiertes /g/ kommt insbesondere bei kurzen Wortformen vor: jut bzw. juten (20-mal), janz bzw. janzen (8-mal, von Gabi und Sanchez), jibs (3-mal)66, aber auch etwa bei jesiezt (1-mal) eingangs der Szene, zu der der Ausschnitt von Beispiel (13) gehört. Sanchez berlinert mehr als alle anderen Figuren im Roman. Er ist aus Hellersdorf zugezogen, »ein[em] Wohngebiet mit ähnlichen sozioökonomischen Indikatoren wie Kreuzberg […] (hinsichtlich durchschnittlichem Haushaltseinkommen, Arbeitslosenquote u. ä.), andererseits aber relativ monoethnisch, das heißt, es hat einen sehr niedrigen Bevölkerungsanteil nicht-deutscher Herkunft.«67 64 65 66 67

Diese erscheint immer am Ende der Äußerung, insgesamt 11-mal. Nicht datet; nur das Pronomen zeigt unverschobenes t, nicht die Konjunktion. Aber ‹g› /g/ in gegessen, Beispiel (13). Wiese, Heike: Kiezdeutsch, S. 23. Wiese u. a. vergleichen im Kiezdeutsch-Projekt die Sprache Kreuzberger Jugendlicher mit der Sprache Hellersdorfer Jugendlicher. Die Hellersdorfer Jugend berlinert, die Kreuzberger Jugend verwendet auch Berlinisch, aber mit einem deutlich geringeren Vorkommen und damit auch Gewicht; zu den unterschiedlichen Jugendsprachen größerer und kleinerer Peergroups, vgl. Neuland, Eva: Sprachgebrauch in Jugendgruppen, S. 279–281.

Die Sprache von Berlin-Gropiusstadt in Felix Lobrechts Roman Sonne und Beton

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Abb. 3: Lage von Berlin-Hellersdorf, ©TUBS68

Abb. 4: Berlin-Hellersdorf, © Andreas Steinhoff 69

Sanchez ist neu in Berlin-Gropiusstadt. Er will dazugehören und übertreibt sowohl in seinen Handlungen wie auch sprachlich, was sich z. B. in der Äußerung (17) »Booom, Alter. Juten Appetito, ihr Opfer.« (SuB, K. 3, 51)

zeigt, die eine Bricolage aus Kiezdeutsch/Jugendsprache (Interjektion Booom; Anredeform Alter; Substantiv Appetito) und Berlinisch (Juten) ist und das in einem ungewöhnlichen Kontext verwendete Substantiv Opfer enthält, das ei-

68 Berlin Hellersdorf. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Berlin_Marzahn-Hellersdorf_ Hellersdorf.svg / letzter Zugriff am 30. 11. 2021. 69 Berlin – Blick vom Kienberg nach Südosten nach Hellersdorf und Kaulsdorf-Nord. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Hellersdorf#/media/Datei:Hellersdorf_and_KaulsdorfNord_from_Kienberg.jpg / letzter Zugriff am 30. 11. 2021.

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gentlich zur Abgrenzung als Bezeichnung für die anderen verwendet wird und nicht zum we-Code gehört.70

5

Fazit

Nichtstandardsprachliche Varietäten und (Sprech-)Stile fallen im Roman Sonne und Beton, der wie typische deutsche Romane in der Standardsprache/-varietät geschrieben ist, auf, weil der Text viele dialogische Situationen enthält. Aufgrund des Milieus – Berlin-Gropiusstadt – werden in den Dialogen saliente Merkmale für das Berlinische als Dialekt/Stadtsprache, für Jugendsprache(n) und das Kiezdeutsche als Jugendsprache Berlins verwendet. Keines der für eine Varietät oder einen (Sprech-)Stil charakteristischen Elemente wird exhaustiv verwendet, wie die quantitative Analyse ganz deutlich zeigt. Dies ist nicht verwunderlich, ist der Roman doch an eine breite(re) Leserschaft gerichtet. Die sprachlichen Einheiten, die nicht standardsprachlich sind, werden ganz gezielt in den Roman eingebaut. Sie sind Signale für Ein- wie auch für Abgrenzung. Die Sprache jeder einzelnen Figur zeigt, dass eine je unterschiedliche Mischung von Elementen, die spezifischen Varietäten und (Sprech-)Stilen zugeordnet werden kann, dazu dient, die Beziehungsgestaltung zwischen den unterschiedlichen Figuren(gruppen) darzulegen. Die Sprache einzelner Figuren (Cem und Marco) ist Thema des Romans, weil mit einem spezifischen Sprachgebrauch auch stets bestimmte Erwartungen verbunden sind, die gebrochen werden können. Dies lässt sich auch im Roman Sonne und Beton gut begründen: Cem ist arabischstämmig, aber in Berlin aufgewachsen. Er hat auch die Sprache seiner Umwelt aufgenommen.71 Marco ist deutschstämmig, gehört aber zu einer Peergroup mit Mitgliedern mit Migrationshintergrund und passt sich der Mehrzahl der Gruppenmitglieder sprachlich an. Auch außerhalb der Gruppe verwendet er für die In-group charakteristischen Ausdrucksweisen und grenzt sich damit von den anderen, auch seiner Familie, ab. Sanchez ist umgezogen und will zu einer neuen Peergroup dazugehören. Der Integrationsprozess spiegelt sich in seinem Sprachgebrauch wider. Inszenierte Dialoge bilden reale Dialoge nach: Die regionalen Ausdrucksformen sind auch hier

70 Üblich wäre eine Verwendung, wie sie in Wiese, Heike: Kiezdeutsch, S. 59 wiedergegeben ist: »Said: Er hat ihn geschubst – Tom: Ja, Opfer, Alter. Und der Schiedsrichter sieht nix, Mann.« 71 Dies muss nicht so sein, wie mit der Figur Lukas demonstriert wird, die zwischen den Rollen als Erzähler und als Romanfigur wechselt. Seine Sprache als Romanfigur grenzt ihn eigentlich von den anderen ab, was der Erzähler Lukas nicht zum Thema macht.

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den Sprecher/inne/n gewissermaßen in die Wiege gelegt worden […]. Demgegenüber handelt es sich bei Register- und Stil-Markern um solche, die erst im späteren Verlauf der Sprachsozialisation erworben werden, und die es den Sprecher/inne/n eben erlauben, je nach Bedarf und je nach Situation ein bestimmtes ›Register zu ziehen‹ oder durch die Verwendung eines Stils in eine gewisse Rolle zu schlüpfen. Dazu kann dann auch zählen, dass man aus-gewählte Schibboleths oder Stereotype (auch die eines Dialekts) bewusst zur Erzielung bestimmter Handlungszwecke verwendet.72

Die Romanfiguren werden, wie im Stadtteil Berlin-Gropiusstadt zu erwarten, nicht als »flexible Sprecher«73 konstruiert, also als Charaktere, die ihren Sprachgebrauch je nach Situation anpassen können: Sanchez’ Mutter Gabi spricht auch in Berlin-Gropiusstadt das Berlinische aus Hellersdorf, das ihr »in die Wiege gelegt worden ist«, Cem das Berlinische von Gropiusstadt, in das Arabismen der Sprache seiner Familie einfließen. Julius und andere Jugendliche ohne Migrationshintergrund verwenden ihre Jugendsprache, und zwar konsequent, ohne einen Unterschied zwischen inoffiziellem und offiziellem Sprachgebrauch zu machen; die Sprache in der Schule entspricht der zuhause und unterwegs; Ali und andere Jugendliche mit Migrationshintergrund verhalten sich entsprechend, verwenden aber (auch) Wortformen aus dem Arabischen und Türkischen. Marco hat sich der Sprache seiner Peergroup angepasst und diese verwendet er konsequent. Sanchez, der in gewisser Weise beweglich scheint, ist in der Lage, Sprachliches aus der neuen Wohngegend aufzunehmen, dieses verwendet er aber ziemlich unreflektiert; im Grunde bleibt er aber der Berliner aus Hellersdorf. Gewissermaßen aus der Rolle fallen nur Lukas und sein Vater. Der Vater will »normal«74 mit seinen Kindern reden, und das bezieht sich nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Sprache. Lukas grenzt sich, wie das für Jugendliche typisch ist, von seinem Vater und anderen Erwachsenen ab, und doch spricht er im Umgang mit ihnen oft leise, lächelt und äußert sich standardnah, so wie sein Vater.

Literatur Primärliteratur SuB = Lobrecht, Felix: Sonne und Beton. Berlin: Ullstein 2017.

72 Elspaß, Stephan: Sprachvariation und Sprachwandel, S. 104. 73 Zum Terminus vgl. Macha, Jürgen: Der flexible Sprecher. Untersuchungen zu Sprache und Sprachbewußtsein rheinischer Handwerksmeister. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1991. 74 Vgl. SuB, K. 6, 140.

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Sekundärliteratur Ammon, Ulrich/Bickel, Hans/Lenz, Alexandra N. Lenz (Hg.): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. Von den HerausgeberInnen und AutorInnen Ulrich Ammon, Hans Bickel und Alexandra N. Lenz sowie den AutorInnen Juliane Fink u. a. unter Mitarbeit von Jakob Ebner u. a. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin/Boston: De Gruyter 2016. Bahlo, Nils/Becker, Tabea/Kalkavan-Aydın, Zeynep/Lotze, Netaya/Marx, Konstanze/ Schwarz, Christian/S,ims,ek, Yazgül: Jugendsprache. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2019. Cirkel, Philipp/Freywald, Ulrike: In Stadt und Stadt: Berlin und Ruhrgebiet im Vergleich. In: »Linguistik online« 110/2021, S. 193–227. Coseriu, Eugenio: Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens. 2. Aufl. Tübingen: Narr Francke Attempto 2007. Dittmar, Norbert: Reflexionen über das Entstehen eines deutschen Dialekts am Beispiel multiethnisch geprägter jugendsprachlicher Stile in Großstädten. In: Schneider-Wiejowski, Karina/Kellermeier-Rehbein, Birte/Haselhuber, Jakob (Hg.): Variation, Vielfalt und Stellung der deutschen Sprache. New York: De Gruyter 2013, S. 195–207. Duden online. URL: https://www.duden.de/woerterbuch / letzter Zugriff am 30. 11. 2021. Elspaß, Stephan: Sprachvariation und Sprachwandel. In: Neuland, Eva/Schlobinski, Peter (Hg.): Handbuch Sprache in sozialen Gruppen (Handbücher Sprachwissenschaft 9). Berlin/New York: De Gruyter 2018, S. 87–107. Gumperz, John J.: Discourse strategies. Cambridge: Cambridge University Press 1982. KiDKo. Das Kiezdeutschkorpus. URL: https://www.kiezdeutschkorpus.de/kidko-hom e.html / letzter Zugriff am 30. 11. 2021. Linke, Angelika/Voigt, Gerhard: Sprachen in der Sprache. Soziolinguistik heute: Varietäten und Register. In: Praxis Deutsch 18. H. 110/1991, S. 12–20. Macha, Jürgen: Der flexible Sprecher. Untersuchungen zu Sprache und Sprachbewußtsein rheinischer Handwerksmeister. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1991. Meyer, Frank: Felix Lobrechts Debütroman »Sonne und Beton«. Aufgewachsen als blonder Deutscher in Berlin-Neukölln. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/felix-lobre chts-debuetroman-sonne-und-beton-aufgewachsen-100.html / letzter Zugriff am 30. 11. 2021. Neuland, Eva: Jugendsprache. Eine Einführung. Tübingen/Basel: utb 2018. Neuland, Eva: Sprachgebrauch in Jugendgruppen. Zur Bedeutung sozialer Vergemeinschaftungsformen für Jugendliche. In: Neuland, Eva/Schlobinski, Peter (Hg.): Handbuch Sprache in sozialen Gruppen (Handbücher Sprachwissenschaft 9). Berlin/New York: De Gruyter 2018, S. 276–292. Niebaum, Hermann/Macha, Jürgen: Einführung in die Dialektologie des Deutschen. (Germanistische Arbeitshefte 37). 3., überarb. und erw. Aufl. Berlin/New York: De Gruyter 2014. Petkova, Marina: Code-switching und Gruppenkonstellationen. In: Neuland, Eva/Schlobinski, Peter (Hg.): Handbuch Sprache in sozialen Gruppen (Handbücher Sprachwissenschaft 9). Berlin/New York: De Gruyter 2018, S. 218–232.

Die Sprache von Berlin-Gropiusstadt in Felix Lobrechts Roman Sonne und Beton

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Vida Jesensˇek (Universität Maribor, Maribor)

Ein- und Ausgrenzung durch die Sprache bei Alma M. Karlin1

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Einleitung

Das Leben und Werk der deutsch schreibenden slowenischen Autorin, Weltreisenden, Theosophin und ethnologischen Sammlerin Alma Maximiliane Karlin (1889–1950) rücken seit der Jahrtausendwende stärker ins gesellschaftliche, wissenschaftliche und kulturell-künstlerische Bewusstsein jener europäischen Länder, nämlich Slowenien, Österreich und Deutschland, die das Leben und das literarische und publizistische Werk Karlins wesentlich bestimmt haben.2 In Slowenien überwiegen biographische, ethnologische, künstlerische Perspektiven, aus denen man sich dieser höchst interessanten Frau widmet; ihr Leben und Wirken wurden bisher in einem Roman, in mehreren Comics, in Film und Theater sowie in etlichen biographischen Schriften dokumentiert. Seit einigen Jahren erscheinen slowenische Übersetzungen ihrer auf Deutsch verfassten literarischen und autobiographischen Arbeiten. Das verstärkte Forschungs- und Übersetzungsinteresse gilt dem Bekanntmachen einer zum Teil vergessenen bzw. bislang nur in vereinfachender Form zur Kenntnis genommenen Existenz. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger, auch feministisch und gendertheoretisch geprägter Literaturtheorien, erfährt Karlin als deutsch schreibende Autorin slowenischer Herkunft einerseits und als politisch handelnde Person andererseits eine Bewertung bzw. Neubewertung in akademischen Abschlussarbeiten und literarischen Abhandlungen.3 Ihre umfangreiche ethnologische Sammlung als 1 Der Beitrag entstand im Rahmen der Forschungsgruppe P6–0372 (Slovenska identiteta in kulturna zavest v jezikovno in etnicˇno sticˇnih prostorih v preteklosti in sedanjosti), finanziert von der slowenischen Forschungsagentur (ARRS). 2 Vgl. Jesensˇek, Vida/Ehrhardt, Horst (Hg.): Sprache und Stil im Werk von Alma M. Karlin = Jezik in slog v delih Alme M. Karlin = Language and style in the work of Alma M. Karlin. Maribor: Univerzitetna zalozˇba Univerze v Mariboru 2019. 3 Vgl. u. a. Sˇlibar, Neva: Alma Kolumbus auf Weltreise. Problematik und Potenzial der geobiographischen Bücher und Erzählungen der »Staatsbürgerin eines fremden Staates«. In: Osolnik, Viktorija/Hudelja, Niko/Sˇetinc Salzmann, Madita (Hg.): Transkulturell = Transkulturno. Berlin – Ljubljana – Zabocˇevo. Ljubljana: Oddelek za germanistiko, Filozofska fakulteta 2006,

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Folge ihrer Weltreise wird zusammen mit Dokumenten ihres Lebens neu gesichtet, interpretiert und gezeigt.4 Als in der Habsburger Monarchie Geborene erfährt Alma M. Karlin auch in Österreich Beachtung, so durch die Aufnahme in zentrale Nachschlagewerke (z. B. in das Österreichische Biographische Lexikon 1815–1950). Sie wird, vor allem als Verfasserin von Reisetexten, auf überwiegend biografisch-beschreibende Weise in die Reihe der bemerkenswerten Autorinnen und Autoren eingeordnet.5 Neulich wird ihr mehr Interesse auch im Kärntner Verlag Drava (Klagenfurt) gewidmet. In Deutschland, wo Karlin in den 1930er und 1940er Jahren des 20. Jahrhunderts zu den viel gelesenen Autorinnen gehörte, wurden in der Nachkriegszeit relativ wenige Texte wiederaufgelegt.6 Seit Mitte der 1980er Jahre werden die S. 319–337; Sˇlibar, Neva: Alma M. Karlins Erzählen als Überlebungsstrategie und Identitätskonstruktion, dargestellt anhand von Texten über die Mühen des Überlebens im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg. In: Kondricˇ Horvat, Vesna (Hg.): Nekocˇ se bodo vendarle morale sesuti okostenele pregrade med ljudstvi = Die starren Grenzen zwischen den Völkern werden in Zukunft sicherlich fallen. Ljubljana: Znanstvena zalozˇba FF 2007, S. 100–127; Sˇlibar, Neva: Literarna dela in avtobiografski spisi Alme M. Karlin: tematiziranje obdobja 1940–1945. In: Pocˇivavsˇek, Marija (Hg.): Almine meje in margine. Celje: Muzej novejsˇe zgodovine 2009, S. 44– 61; Borovnik, Silvija: Alma Karlin, svojevrstna pisateljska osebnost. In: »Slavia Centralis« 7/1/ 2014, S. 86–94; Borovnik, Silvija: Avtobiografija, potopis, avtobiografska potopisna in fiktivna proza Alme Karlin. In: »Slavia Centralis« 11/1/2018, S. 11–32; Virant, Sˇpela: Lichteffekte und Tarockpartien. Zu Alma Karlins Stück »Die Kringshäusler«. In: »Germanoslavica« 25/2/2014, S. 165–179; Virant, Sˇpela: Alma Karlin in dramatika. In: Kramberger, Petra/Samide, Irena/ Zˇigon, Tanja (Hg.): »Und die Brücke hat gezogen, die vom Ost bis West schwingt«. Literarische, kulturelle und sprachliche Vernetzungen und Grenzüberschreitungen. Ljubljana: Znanstvena zalozˇba Filozofske fakultete 2017, S. 83–93; Bodrova, Anna G.: Gender-Aspekte von Reiseberichten Alma Maximiliane Karlins. In: Polubojarinova, Larissa/Kobelt-Groch, Marion/Kulishkina, Olga (Hg.): Phänomenologie, Geschichte und Anthropologie des Reisens. Kiel: Solivagus 2015, S. 158–166; Bodrova, Anna G.: Sama sem hodila kot belka skozi divjo dezˇelo: iskanje identitete v ustvarjanju in biografiji Alme M. Karlin. In: »Dialogi« 54/9/2018, S. 35–34; Bodrova, Anna G.: Ali je lahko zˇenska Kolumb? Nekateri vidiki preucˇevanja potopisov Alme Karlin. In: »Slavia Centralis« 13/1/2020, S. 153–164; Jezernik, Jerneja/Dvorˇak, Bosˇtjan: Dedicˇi lucˇi: prva pesnisˇka zbirka Alme M. Karlin. Ljubljana: Zalozˇnisˇtvo J. Jezernik 2019. 4 Vgl. u. a. Sˇlibar, Vlado/Sˇmitek, Zmago: Zbirka Alme Karlinove. Maribor: Obzorja 1982; Trnovec, Barbara: Kolumbova hcˇi. Zˇivljenje in delo Alme M. Karlin. Celje: Pokrajinski muzej 2015; Trnovec, Barbara: Kolumbova hcˇi – Columbus’ Daughter: Alma M. Karlin. Kulturna, zgodovinska in antropolosˇka razstava, 21. september 2017–14. januar 2018. Ljubljana: Cankarjev dom; Celje: Pokrajinski muzej 2017; Trnovec, Barbara: Die endlose Reise der Alma M. Karlin: Leben, Werk, Nachlass. Celje: Pokrajinski muzej; Ljubljana: Znanstvena zalozˇba Filozofske fakultete 2020. 5 Mückler, Hermann: Von Celje nach Ozeanien: Alma Karlin in der Südsee. In: Mückler, Hermann (Hg.): Österreicher in der Südsee. Forscher, Reisende, Auswanderer. Wien: LIT-Verlag 2012. 6 Vgl. z. B. Karlin, Alma M.: I Tschaos jüngstes Enkelkind. Eine Kurzgeschichte aus China. Leipzig: Max Möhring 1948 und die jugendliterarischen Texte von Karlin, z. B. Karlin, Alma M.: Vier Mädchen im Schicksalswind. Eine Südseegeschichte. Lengerich/Westf.: Kleins Druck- und

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Berichte und Beschreibungen der Weltreise Karlins genutzt, um ihre Leistungen – nicht nur die reiseliterarischen – in die ab Ende des 18. Jahrhunderts zu verfolgenden Aktivitäten von Frauen einzuordnen, die mit ihren Reisen und Reisereflexionen in eine Männerdomäne eindrangen; auch hier dominiert ein feministischer Ansatz.7 Der Herausgabe und Reflexion autobiographischer und Reiseliteratur Karlins wendet sich in den letzten Jahren AvivA Verlag Berlin – mit der Erstausgabe ihrer Autobiographie8 sowie mit historisch, sozialwissenschaftlich und interkulturell kommentierten Ausgaben zweier umfangreicher Reiseberichte.9 Einzelne sprachgestalterische Auffälligkeiten von geobiographischen und teilweise auch belletristischen Texten Alma M. Karlins werden erst seit wenigen Jahren auch linguistisch beschrieben, darunter Ehrhardt,10 Wolff/Ehrhardt11 und die Beiträge zu Sprache und Stil im Sammelband von Jesensˇek/Ehrhardt.12 Auch der vorliegende Beitrag verfolgt eine stilistisch-linguistische Auseinandersetzung mit dem literarischen Werk Karlins. Anhand der funktionalstilistischen Analyse ihrer literarischen Autobiographie mit dem Titel Ein Mensch wird. Auf dem Weg zur Weltreisenden, verfasst 1931 und posthum erschienen erst 2018, wird gezeigt, welchen Stellenwert sie der Sprache an sich einräumte und inwiefern Sprachen bei ihr als handelsmächtiges Instrument eingesetzt wurden. Methodisch-methodologisch wird den Postulaten der funktionalen Stilistik nach B. Sandig13 gefolgt,14 zusätzlich werden die Aussagen Karlins biographisch erläutert.

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Verlagsanstalt o. J. [1956]; Karlin, Alma M.: Gefangene der Kopfjäger. Bergisch Gladbach: Bastei-Verlag o. J. [1965]. Vgl. Schnieder, Heiderose: Alma Karlin 1889–1950. Aufbruch und Abenteuer. In: Potts, Lydia (Hg.): Frauen-Reisen um die Welt ab 1785. Berlin: Orlando Frauenverlag 1988, S. 126–140. Karlin, Alma M.: Ein Mensch wird. Auf dem Weg zur Weltreisenden. Berlin: AvivA Verlag 1931/2018. Karlin, Alma M.: Einsame Weltreise. Berlin: AvivA Verlag 2020; Karlin, Alma M.: Im Banne der Südsee. Berlin: AvivA Verlag 2020a. ˇ uden, Ehrhardt, Horst: Personenbenennungen bei Alma M. Karlin. In: Valencˇicˇ Arh, Ursˇka/C Darko (Hg.): V labirintu jezika = Im Labyrinth der Sprache. Ljubljana: Znanstvena zalozˇba FF 2015, S. 67–82. Wolff, Patrick/Ehrhardt, Horst: Zum Reflex mitteleuropäischen Denkens im Phraseologismengebrauch bei Alma M. Karlin. In: Jesensˇek, Vida (Hg.): Germanistik in Maribor. Tradition und Perspektiven. Maribor: Univerzitetna zalozˇba Univerze v Mariboru 2017, S. 217–234. Jesensˇek, Vida/Ehrhardt, Horst (Hg.): Sprache und Stil im Werk von Alma M. Karlin = Jezik in slog v delih Alme M. Karlin = Language and style in the work of Alma M. Karlin. Maribor: Univerzitetna zalozˇba Univerze v Mariboru 2019. Sandig, Barbara: Textstilistik des Deutschen. Berlin/New York: de Gruyter 2006. Folgende Prämissen liegen der Überlegung zugrunde: Stil ist Wahl; Stil hat bedeutsame Gestalt; Stil hat Funktionen; Stil ist relational. Ausführlicher dazu Jesensˇek, Vida: Sprache und Stil der Selbstdarstellung in der Autobiographie Ein Mensch wird von Alma M. Karlin. In: Jesensˇek, Vida/Ehrhardt, Horst (Hg.): Sprache und Stil im Werk von Alma M. Karlin = Jezik in slog v delih Alme M. Karlin = Language and style in the work of Alma M. Karlin. Maribor: Univerzitetna zalozˇba Univerze v Mariboru 2019, S. 107–137, hier S. 110–113.

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Alma Maximiliane Karlin (1889–1950)

Folgt man dem äußerst bewegten, beeindruckenden, jedoch auch sehr ungewöhnlichen und dementsprechend schwierigen Lebensweg Karlins, muss man feststellen, dass sie immer Grenzgängerin zwischen verschiedenen Welten, Sprachen, Kulturen, Künsten und Lebensweisen war. Eingeboren in eine kleinbürgerliche, ethnisch, nationalpolitisch und sprachlich zweigeteilte Familie in der altösterreichischen, heute slowenischen Kleinstadt Celje (Vater und Mutter waren slowenischer Herkunft, sprachlich und nationalpolitisch jedoch deutschorientiert), von Geburt her leicht gelähmt und Einzelkind geblieben (wegen Mutters Eitelkeit und ständigen Bemühungen, die körperliche Behinderung zu mindern und vor allem zu verbergen, musste sie in den jugendlichen Jahren unfassbare orthopädische Torturen erdulden und suchte Trost in der Phantasie und Literatur), im Alter von neun Jahren den heißgeliebten und beschützenden Vater verloren und so der übereifrig ambitionierten und emotional kalten Mutter überlassen – das waren Determinanten ihrer Kindheit und Jugend, welche ihren späteren Lebensweg entscheidend mit geprägt haben. Dieser war gekennzeichnet durch außergewöhnliches Interesse am Sprachenlernen, durch Sehnsucht nach fremden Ländern, Menschen und Kulturen, durch Begabung für Literatur und bildende Kunst. Die eiserne Arbeitsdisziplin und der unaufhaltsame Wunsch nach Eigenständigkeit, Freiheit und Austritt aus dem einheimischen kleinbürgerlichen Milieu resultierten zunächst in einem längeren Aufenthalt in London, wo sie eifrig Fremdsprachen lernte, in einer neunjährigen Weltreise, während der sie zwischen 1919 und 1927 als alleinreisende Frau Amerika, Asien, Australien und Ozeanien bereiste und einer außergewöhnlich hohen publizistischen und literarischen Produktivität – sie schrieb reiseliterarische Sachprosa, Romane und Kurzprosa, Poesie, Autobiographisches, Kinderliteratur. Beeindruckt von den fremden Kulturen und andersartigen Lebensauffassungen wurde sie zu einer passionierten ethnologischen Sammlerin und Anhängerin der theosophischen Bewegung. Ihre bewegte Biographie weist auf eine für ihre Zeit völlig untypische Frau hin: Sie war eine polyglotte und gut gebildete Autorin, Weltreisende, unkonventionell in sozialer, sprachlicher, literarischer, ideologischer und sogar politischer Hinsicht. Vor und während des Zweiten Weltkrieges stand sie als deutsch schreibende Autorin in der Heimatsstadt Celje ständig unter Verdacht, in Ungnade fiel sie auch bei den Nachkriegsbehörden im ehemaligen Jugoslawien und starb schließlich in Armut. Obgleich in Deutschland der 1930er Jahre viel gelesene Autorin – ihre literarischen Werke publizierte sie ausschließlich bei deutschen Verlagen und während der Weltreise belieferte sie viele deutsche Zeitungen regelmäßig mit Reiseberichten – äußerte sie sich doch entschieden gegen nationalsozialistische Ideen und Praxen, weswegen sie einem Konzentrationslager kaum entfliehen konnte.

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Spannung und Provokation einerseits und familiär-gesellschaftliche Ignoranz andererseits waren somit ihre ständigen Lebensbegleiter. Sie war eine wahrhaft imponierende Frau, die aber einem traurigen Schicksal nicht entkommen konnte.

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Das Verständnis von Sprache/Sprachen bei A. M. Karlin

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts war die gesamte Region um Celje (Cilli), die Geburtsstadt Karlins, durch national-politische und sprachliche (deutsch-slowenische) Spaltung geprägt. In der altösterreichischen Untersteiermark betrug der slowenische Bevölkerungsanteil ca. 30 Prozent, die Volkszählung 1880 wies gut 70 Prozent der Bevölkerung von Celje als Deutsche aus. So waren nationalistische Konflikte prädestiniert, Celje stellte eine der deutschen Sprachinseln im slowenisch geprägten Umland dar. Auch die Familie Karlins war ethnisch, national und sprachlich zweigeteilt. Der enge Familienkreis, also Eltern, waren deutschorientiert. Zumal beide slowenischer Abstammung waren, scheint ihre Haltung in erster Linie opportunistisch-pragmatischer Natur zu sein. Mutter Karlins war Tochter des ersten slowenisch amtierenden und nationalbewussten Notars in Celje Martin Miheljak, sonst aber fast vierzig Jahre Lehrerin an einer deutschen Mädchenschule in der Stadt. Vater war pensionierter Major der altösterreichischen Armee und beharrlicher Bewunderer der Monarchie, der die damalige Zeit mit auftauchenden Nationalitätsfragen nicht akzeptieren wollte und der sich entschlossen weigerte, am politischen Leben in irgendeiner Hinsicht teilzunehmen: Im Tagebuch meines Vaters […] ist über seine nationale Einstellung nichts geschrieben, doch bediente er sich […] ausschließlich der deutschen Sprache. Aus meiner frühesten Kindheit erinnere ich mich nur, immer gehört zu haben: »Ein österreichischer Offizier hat keine Nationalität! Sein Leben gehört seinem Kaiser und seinem Vaterlande!«15

In der Verbundenheit zum Deutschtum sahen die Eltern bestimmt bessere Aussichten für die soziale Situation und den guten Ruf der Familie in der überwiegend deutschen Provinzstadt, wo die deutsche Sprache und Kultur als eine Art Statussymbol des Bürgertums gegenüber dem ländlichen Bauernmilieu slowenischer Provenienz angesehen wurde. Mütterlicherseits versprach man sich dadurch aber auch bessere Chancen für die Tochter, die sie eingeheiratet in eine gutbürgerliche Familie sehen wollte. Im breiteren Familienkreis sprach man sowohl Deutsch als auch Slowenisch und war zum Teil auch den slowenischen nationalpolitischen Ideen geneigt. Karlins Onkel Lovro Basˇ (1849–1924), ange15 Karlin, Alma M.: Ein Mensch wird, S. 41.

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sehener Jurist, Politiker nationalslowenischer Orientierung und Publizist, war lange Zeit der einzige slowenisch amtierende Notar in Celje und nach dem Vaters Tod auch ihr Vormund.16 So war Karlin in ihrer Kindheit und Jugend im ständigen Kontakt mit beiden Sprachen, allerdings war Deutsch in jeder Hinsicht präferiert. Deutsch war die einzelne Verkehrssprache in der Familie, auch die Sprache ihrer frühen Ausbildung und lebenslang die einzelne Sprache ihrer literarischen und publizistischen Tätigkeit: Da wir daheim […] nur deutsch sprachen, meine Mutter […] nahezu vierzig Jahre Lehrerin an der deutschen Schule war und ich deutsch erzogen wurde, einen deutschen Verkehr hatte, und selbst im Hause meiner slowenischen Tante mit mir nie anders als deutsch gesprochen worden war, darf mir mein Zugehörigkeitsgefühl dem deutschen Volke und der natürliche Umstand, daß meine Studienergebnisse und meine schriftstellerischen Leistungen eben diesem Volke in erster Linie zufallen, kein Vorwurf gemacht werden. Ein Mensch ist die Frucht seiner Erziehung.17

Über ihre Slowenischkenntnisse ist man sich nicht einig, anhand ihrer eigenen knappen autobiographischen Aussagen dazu ist allerdings nachvollzuziehen, dass sie nur einer einfachen alltäglichen Kommunikation auf Slowenisch mächtig war und dass sie ihr schlechtes Slowenisch – insbesondere mit Rückblick auf ihr auffallendes Polyglottentum – auch selbst bereute. Karlins Aussagen über die Sprachen deuten zudem darauf hin, dass die deutsche Umgangssprache in der Familie nicht nur als Mittel zur alltäglichen Kommunikation verstanden wurde. Sie war viel mehr, nämlich Inbegriff der deutschen Kultur, in der man erzogen wird und sie hatte eine ethnische Dimension (mein Zugehörigkeitsgefühl dem deutschen Volke), mit Hilfe deren man sich mit einer nationalen Menschengruppe identifizieren kann. Bereits in frühen Jugendjahren zeigte Alma M. Karlin großes Interesse am Sprachenlernen. Als einsames Mädchen las sie unaufhörlich und nahm offensichtlich bereits mit zehn Jahren wahr, dass Sprachen den Zugang zu anderen, fremden Menschen, Orten, Welten verschaffen (können). Sehr früh wurde auch klar, dass Mutter, wohl aus der Perspektive einer langjährigen Lehrerin, mit dem Sprachenlernen ihrer Tochter, welches sie wohl unterstützte, vor allem pragmatische Ziele verfolgte: Als ich […] noch nicht zehn Jahre alt geworden war, hatte ich Mutter beschworen, mich Latein lernen zu lassen (etwas in jenen Tagen höchst Ungewöhnliches) […] doch mit Anfang des Schuljahres sagte sie mir: »Was willst du mit einer toten Sprache? Lerne Französisch, das kann dir später nützen« […]. Ich lernte bei einer geborenen Französin und machte ganz nette Fortschritte …18 16 Vgl. u. a. Cvelfar, Bojan: Slika mesta se naglo izpreminja. In: »Dialogi« 9/2018, S. 119–132. 17 Karlin, Alma M.: Ein Mensch wird, S. 42. 18 Ebd., S. 60–61.

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Außer Französisch lernte Karlin sehr früh auch Englisch. Die Aussagen dazu illustrieren eine weitere Dimension von Sprachen bei Karlin: Sie sind möglicherweise Medium der »Erinnerung« und Vermittler längst bekannter Inhalte und Empfindungen, in denen sie sich wohl und geborgen fühlt und die ihr eigenes Leben zu ersetzen vermochten: […] und da ich für Sprachen wachsendes Interesse entwickelte, durfte ich nach einigen Kämpfen (aber was ging kampflos in meinem Sein?) auch englischen Unterricht nehmen, und obwohl mir die Amerikanerin nicht halb so sympathisch als Mme P. war, lernte ich ungeheuer schnell, da ich beim Englischen das Empfinden hatte, nicht zu lernen, sondern nur etwas Längstgekanntes wieder aufzufrischen.19 Alles war mir wie ein seliges Erinnern und englisches Denken das meine. Ich reiste mit Francis Drake und war am Hofe Elisabeths mit Walter Raleigh, doch der Philosoph Francis Bacon mehr noch als Shakespeare begeisterte mich. Ich lernte, träumte und las, während neben mir die Menschen lebten.20

Die Beobachtung, dass Sprachen bei Karlin eine Art Zuflucht vor Nichtverstandenwerden und Unzufriedenheit im Alltag ihrer Kinder- und Jugendjahre darstellten, zeugt davon, welches Potential ihnen zugesprochen wurde und welche Auswirkung sie auf ihren weiteren Lebenslauf hatten: Frau Pervanje [Französischlehrerin – V. J.] war eine heitere, lebenskluge Frau mit gefestigtem Wissen und wenn ich in den beiden folgenden Jahren weder Selbstmord beging noch auf andere Weise verunglückte, so verdankte ich es ihr. Die Stunden waren ein Grund. Sie rissen mich auch immer wieder aus einer Atmosphäre heraus, in der ich in mehr als einer Hinsicht zu ersticken drohte, und sie eröffneten mir Wege zu Kenntnissen, die an und für sich schon trostbietend waren, denn von ihr geführt drang ich immer tiefer in die französische Literatur ein, ja lebte so mit, daß ich mich erst Zeitgenossin des Sonnenkönigs, später eine Kämpfende anseiten Voltaires und dann in Romantik versunken neben Victor Hugo glaubte. Die Leiden der französischen Revolution wurden meine Leiden […] Selbst das Auswendiglernen unzähliger Grammatikregeln und die vielen Seiten Übersetzungsarbeit hatten ihren heimlichen Reiz. Dabei behandelte mich Mme. P. ganz und gar als erwachsen und besprach offen alle Lebenskundgebungen mit mir […] und mir war es wie dem Wanderer, der lange über Schütt und Geröll geklettert ist und nun den weichen kühlen Waldweg findet. Ich merkte, daß ich endlich die richtige Bahn gefunden hatte […].21

Das Fremdsprachenlernen war in damaliger Zeit stark literatur- und kulturorientiert; die Fremdsprachenkenntnisse boten dadurch Einsichten in andere Lebensräume, Kulturen, Welten. Sprachenlehrerinnen und -lehrer wurden lebenslang zu Karlins Vertrauenspersonen und das innige Verhältnis zu ihnen 19 Ebd., S. 93. 20 Ebd., S. 109. 21 Ebd., S. 92–93.

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ersetzte offensichtlich das bedauernde Misstrauen und fehlende Verständnis der Mutter, mit der sie nach dem Vaters Tod allein lebte. Sprachen waren Wegweiser und Orientierung, von den Sprachkenntnissen erhoffte sich Karlin den Weg in ein eigenständiges Leben. Nach einem Streit mit der Mutter wegen der geplanten orthopädischen Rehabilitation, welcher Karlin kräftig widersprach, kam es zum eindeutigen Ausdruck ihrer künftigen Lebenspläne: Kein Mensch kann mich zwingen, wenn ich es nicht will […], doch will ich dir einen gütlichen Vorschlag machen. Heute wünschest Du, daß ich gehe! Gib mir dein Ehrenwort, daß du mich gehen lassen wirst, wenn ich es will, ohne Widerstand, ohne Einmengung eines Vormunds, sobald ich imstande bin, mich selbst zu erhalten? […] Wenn ich verdienen kann, werde ich gehen…22

Die Fähigkeit, sich selbst zu erhalten, sah sie eindeutig verbunden mit ihren Sprachkenntnissen. Im Jahre 1907, zu ihrem 18. Geburtstag, bestand sie in Görz (heute Gorica, ital. Gorizia) ihre erste Staatsprüfung in Französisch, kurz danach auch in Englisch. Sehnsucht nach fremden Ländern sowie Unruhe und Unzufriedenheit mit heimischer Umgebung führten sie nach England. Ihr Aufenthalt in London zwischen 1908 und 1914 war durch die harte tägliche Arbeit als Übersetzerin und intensives Sprachenlernen geprägt: Von zehn Uhr früh bis halb sieben Uhr abends war ich im Amt, mußte aber mit einer Möglichkeit von Überzeit rechnen und setzte daher alle Stunden [Sprachstunden – V. J.] auf acht Uhr fest. Montag hatte ich Norwegisch, Dienstag Französisch (denn ich wollte auch die Handelsseite der Sprache und Sprachgeschichte sowie die oft sehr verwickelte Satzanalyse lernen, für die ich bis dahin wenig Vorliebe gezeigt hatte); Mittwoch Englisch mit eifrigem Zurückgreifen auf das Angelsächsische und die Einflüsse des Normannischen sowie des Kirchenlateins; Donnerstag Dänisch; Freitag zuerst Italienisch in der Sprachschule und hierauf Schwedisch […]; Samstag […] und Sonntag Vormittag von zehn bis zwölf Spanisch, hierauf rasch einen Imbiß […] und dann Fahrt […] zu meinem russischen Lehrer, […], bei dem ich den Nachmittag und Abend verlebte und russische Volkslieder, russische Speisen und russische Art kennen lernte. Noch war das alles: Montag nach der norwegischen Stunde […] hatte ich Unterricht in Sanskrit und jeden Morgen, während ich mich ankleidete, lernte ich ein Gedicht auswendig. Immer in der jeweiligen Tagessprache.23

Ihre übermäßige Strenge zu sich selbst nannte sie Selbstzucht; dazu wurde sie auch von den Kollegen im Übersetzungsbüro zum Sprachenlernen motiviert: […] erst heute sehe ich ganz klar, daß ich im Grunde zeitlebens sehr streng gegen mich war. So hatte ich mir zu jener Zeit fest vorgenommen, täglich zehn Wörter oder, in bekannteren Sprachen, zehn neue Redensarten zu lernen, und zwar sie tagsüber zu 22 Ebd., S. 84–85. 23 Ebd., S. 204–205.

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sammeln, wozu sich in einem Übersetzungsamt Gelegenheit genug ergab, und sie abends in ein dazu bestimmtes Heft einzutragen. Ob mir wohl war oder nicht, […], diese zehn Wörter in jeder Fremdsprache mußten erlernt werden.24 »Wenn Sie so viel Begabung für Sprachen besitzen, lernen Sie doch Schwedisch! Die Literatur ist wunderschön und der Klang so ein lieblicher.« Nun wäre ich selbst wohl nie auf eine so wenig gesproche Sprache verfallen, aber da er mir anbot, mich in den freien Minuten unserer Bürozeit unentgeltlich zu unterrichten, willigte ich gerne ein und machte schnelle und gute Fortschritte.25

Nach den knapp sechs Jahren intensiver Beschäftigung mit verschiedenen Sprachen, darunter sogar mit Chinesisch und Sanskrit, folgten anspruchsvolle, aber auch absolut erfolgreiche Sprachprüfungen zu acht Sprachen an der Londoner Royal Society of Arts: An meinem Außenmenschen (ich kleidete mich netter, gewohnte mich mehr an Ordnung, trug mit Stolz einen Teddybärenmantel) und an meinem Innenmenschen arbeitend, verbrachte ich den Winter 1913/1914, studierte auf Leben und Tod und glitt dem Frühjahr und den vielen Prüfungen entgegen.26 Die Fragen umfaßten alle Gebiete des Sprachwissens – Entwicklungsgeschichte der Sprache, Redensarten, technische Ausdrücke, Handelskorrespondenzen und einen Aufsatz […]. Auch wurde eine Kenntnis von Erdkunde und Geschichte des Landes, über das man eine Prüfung ablegte, vorausgesetzt […].27 Als ich an einem Mittwoch zur ersten Prüfung antrat, war der Direktor der Anstalt ganz erstaunt, eine Ausländerin zu sehen, da die höchste Prüfung aus englischer Sprache nur für Engländer bestimmt war […]. Ich war indessen nicht zu entmutigen und beantwortete auch all die gestellten Fragen. […] Am folgenden Tage fand die schwedische Prüfung statt und dann die norwegische und die dänische. […] Nach der dänischen Prüfung kam es mir zum Bewußtsein, daß ich doch ›ein fescher Kerl‹ war und damals […] trug ich meinen Minderwertigkeitskomplex feierlich unter Gesang zu Grabe. Was winselte ich denn gegen das Geschick? Hatte ich nicht all die Sprachen, die sich wie Schwestern über mich neigten? Waren das nicht alles Volksseelen, die mein eigen geworden […] Ende Mai wurde mir das Prüfungserlebnis mitgeteilt, das mir die Auszeichnung in allen Sprachen zuerkannte […].28

Man sieht: Karlin verband das Sprachenlernen und die Sprachkenntnisse mit persönlichem Mute und dem Glauben an sich selbst, aber auch mit Stolz auf das Geleistete. Die vielen erfolgreich bestandenen Sprachprüfungen empfand sie als Gegensatz zur Ungemütlichkeit in der eigenen Familie. Traurige und zerfressende Gefühle wie Nichtverstandenwerden, Einsamkeit, Selbstunzufriedenheit 24 25 26 27 28

Ebd., S. 158. Ebd., S. 137. Ebd., S. 207. Ebd., S. 208. Ebd., S. 208–211.

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Vida Jesensˇek

versuchte sie zu kaschieren – mit einer langjährigen brutalen Arbeitsdisziplin, mit Selbstverleugnung und Aufopferung für künftige Lebensziele, die hauptsächlich darin bestanden, als Schriftstellerin sich zu betätigen und fremde Menschen, Länder und Kulturen zu erleben. Nach der Rückkehr nach Celje gründete sie eine eigene Sprachschule. Die arbeitsintensiven Jahre 1918 und 1919 verstand sie als Vorbereitung auf die geplante Weltreise. Diese sollte sie allein unternehmen und somit absolute Freiheit erreichen – befreit von Mutter und Familie, wollte sie sich dem Fremden entgegenstellen: Weil man indessen nicht ohne Geld um die gute alte Kugel rollt, entschloß ich mich, fieberhaft zu arbeiten, um mir dieses Geld selbst zu ersparen. […] Ich würde von meinen Ersparnissen in die Freiheit fremder Erdteile hineinfahren und Völkerseelen zu ergründen trachten, wie es bisher von meinem Lande aus noch kein Schriftsteller getan hatte. Die Engländer hatten Kipling, Haggard, Robert Louis Stevenson; ich würde alles aufbieten, meinem Volke etwas Ähnliches zu werden.29 Um das Geld rasch zu verdienen, eröffnete ich eine Sprachschule. Es meldeten sich bald mehr und mehr Schüler, so daß ich gezwungen war, von sieben bis zwölf und von eins bis sieben zu unterrichten, und sogar nicht selten Sonntag vormittags. […] Diese meine Sprachschule war indessen nicht in erster Linie eine Quelle notwendiger und ersehnter Einnahmen, sondern vor allem auch für mich eine Schule, eine Quelle des Wissens, denn bis dahin war ich mehr mit Büchern und fremden Ländern als mit Menschen in ihrer innersten Eigenart zusammen gewesen; nun stand ich in engster Fühlung mit der Jugend, dem Glanz damaliger Jugend beider Nationalitäten, und gewann den Einblick in die verschiedensten Anschauungen und die entgegengesetztesten Ideale.30

Im Mittelpunkt dieser Aussagen steht eine sehr ambitionierte Frau, die sich in die Reihe erfolgreicher europäischer Reiseautoren eingeordnet sehen wollte. Bevor sie aber die Reise im November 2019 antrat, musste sie sich mit dem Zerfall der Monarchie am Ende des Ersten Weltkrieges auseinandersetzen. Ihre sprachliche, nationale und kulturelle Gebundenheit an das Altösterreich musste sie der neuen politischen und sprachlichen Realität gegenüberstellen und schließlich resigniert feststellen, dass sie wieder zu einer Außenseiterin wurde: Meine Gefühle waren sehr geteilt: Ich hing mit ganzer Seele an Österreich und es schmerzte mich zu denken, daß man hier, wo ich aufgewachsen war, eine fremde Sprache sprechen, eine fremde Flagge wehen, ein fremdes Volk herrschen würde. […] Natürlich fühle ich mich, dem deutschen Volke verbunden – es wäre Feigheit, etwas anderes zu behaupten – doch macht mich diese Liebe, die sich nie in Politik umsetzt, trotzdem nicht zu einer schlechten Untertanin des Staates, in dem weiterzuleben ich

29 Ebd., S. 280. 30 Ebd., S. 280–281.

Ein- und Ausgrenzung durch die Sprache bei Alma M. Karlin

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mich entschlossen habe. In fast jedem Staate Europas gibt es heute fremdsprachige Minderheiten …31

4

Schlussfolgerung

Anhand ausgewählter autobiographischer Zitate wird im Beitrag dem Verständnis von Sprache/Sprachen bei der slowenischen Reiseschriftstellerin Alma M. Karlin nachgegangen. Die Sprache/Sprachen definieren und beeinflussen die soziokulturelle Position Karlins als Kind, Jugendliche, Reisende, Schriftstellerin, Sprachlehrerin, Übersetzerin. Die Sprache erweist sich bei ihr als komplexes und mehrfunktionales Instrument. Die Sprachkenntnisse ermöglichen ihr den Zugang zu Welten, die für eine beharrliche, gut gebildete und nach Eigenständigkeit strebende junge Frau aus der altösterreichischen Provinzstadt Celje am Anfang des 20. Jahrhunderts sonst größtenteils verschlossen blieben. Über die Sprache/ Sprachen erzählt sie beschreibend-bewertend-erörternd-argumentierend; an der Art, wie sie sich dazu äußert, werden Funktionen von Sprache/Sprachen interpretierbar.32 Dementsprechend ist/sind Sprache/Sprachen für Karlin Mittel zur persönlichen Eingrenzung, i. e. Selbstfindung und Selbstausdruck, Mittel zur ökonomischen Verselbstständigung und Mittel zur Ausgrenzung aus der (einheimischen) Gesellschaft. Die berühmte These Wittgensteins Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt sowie die Erklärung Heideggers, die Sprache sei das Haus des Seins, spiegeln sich offensichtlich auch im Verständnis von Sprache/Sprachen bei Alma M. Karlin wider.

Literatur Bodrova, Anna G.: Gender-Aspekte von Reiseberichten Alma Maximiliane Karlins. In: Polubojarinova, Larissa/Kobelt-Groch, Marion/Kulishkina, Olga (Hg.): Phänomenologie, Geschichte und Anthropologie des Reisens. Kiel: Solivagus 2015, S. 158–166. Bodrova, Anna G.: Sama sem hodila kot belka skozi divjo dezˇelo: iskanje identitete v ustvarjanju in biografiji Alme M. Karlin. In: »Dialogi« 54/9/2018, S. 35–34. Bodrova, Anna G.: Ali je lahko zˇenska Kolumb? Nekateri vidiki preucˇevanja potopisov Alme Karlin. In: »Slavia Centralis« 13/1/2020, S. 153–164. Borovnik, Silvija: Alma Karlin, svojevrstna pisateljska osebnost. In: »Slavia Centralis« 7/1/ 2014, S. 86–94. Borovnik, Silvija: Avtobiografija, potopis, avtobiografska potopisna in fiktivna proza Alme Karlin. In: »Slavia Centralis« 11/1/2018, S. 11–32.

31 Ebd., S. 287–288. 32 Vgl. Sandig, Barbara: Textstilistik; Jesensˇek, Vida: Sprache und Stil der Selbstdarstellung.

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Vida Jesensˇek

Cvelfar, Bojan: Slika mesta se naglo izpreminja. In: »Dialogi« 9/2018, S. 119–132. Ehrhardt, Horst: Personenbenennungen bei Alma M. Karlin. In: Valencˇicˇ Arh, Ursˇka/ ˇ uden, Darko (Hg.): V labirintu jezika = Im Labyrinth der Sprache. Ljubljana: C Znanstvena zalozˇba FF 2015, S. 67–82. Jesensˇek, Vida: Sprache und Stil der Selbstdarstellung in der Autobiographie Ein Mensch wird von Alma M. Karlin. In: Jesensˇek, Vida/Ehrhardt, Horst (Hg.): Sprache und Stil im Werk von Alma M. Karlin = Jezik in slog v delih Alme M. Karlin = Language and style in the work of Alma M. Karlin. Maribor: Univerzitetna zalozˇba Univerze v Mariboru 2019, S. 107–137. Jesensˇek, Vida/Ehrhardt, Horst (Hg.): Sprache und Stil im Werk von Alma M. Karlin = Jezik in slog v delih Alme M. Karlin = Language and style in the work of Alma M. Karlin. Maribor: Univerzitetna zalozˇba Univerze v Mariboru 2019. Jezernik, Jerneja/Dvorˇak, Bosˇtjan: Dedicˇi lucˇi: prva pesnisˇka zbirka Alme M. Karlin. Ljubljana: Zalozˇnisˇtvo J. Jezernik 2019. Karlin, Alma M.: I Tschaos jüngstes Enkelkind. Eine Kurzgeschichte aus China. Leipzig: Max Möhring 1948. Karlin, Alma M.: Vier Mädchen im Schicksalswind. Eine Südseegeschichte. Lengerich/ Westf.: Kleins Druck- und Verlagsanstalt o. J. [1956]. Karlin, Alma M.: Gefangene der Kopfjäger. Bergisch Gladbach: Bastei-Verlag o. J. [1965]. Karlin, Alma M.: Ein Mensch wird. Auf dem Weg zur Weltreisenden. Berlin: AvivA Verlag 1931/2018. Karlin, Alma M.: Einsame Weltreise. Berlin: AvivA Verlag 2020. Karlin, Alma M.: Im Banne der Südsee. Berlin: AvivA Verlag 2020a. Mückler, Hermann: Von Celje nach Ozeanien: Alma Karlin in der Südsee. In: Mückler, Hermann (Hg.): Österreicher in der Südsee. Forscher, Reisende, Auswanderer. Wien: LIT-Verlag 2012. Sandig, Barbara: Textstilistik des Deutschen. Berlin, New York: de Gruyter 2006. Schnieder, Heiderose: Alma Karlin 1889–1950. Aufbruch und Abenteuer. In: Potts, Lydia (Hg.): Frauen-Reisen um die Welt ab 1785. Berlin: Orlando Frauenverlag 1988, S. 126– 140. Sˇlibar, Neva: Alma Kolumbus auf Weltreise. Problematik und Potenzial der geobiographischen Bücher und Erzählungen der »Staatsbürgerin eines fremden Staates«. In: Osolnik, Viktorija/Hudelja, Niko/Sˇetinc Salzmann, Madita (Hg.): Transkulturell = Transkulturno. Berlin – Ljubljana – Zabocˇevo. Ljubljana: Oddelek za germanistiko, Filozofska fakulteta 2006, S. 319–337. Sˇlibar, Neva: Alma M. Karlins Erzählen als Überlebungsstrategie und Identitätskonstruktion, dargestellt anhand von Texten über die Mühen des Überlebens im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg. In: Kondricˇ Horvat, Vesna (Hg.): Nekocˇ se bodo vendarle morale sesuti okostenele pregrade med ljudstvi = Die starren Grenzen zwischen den Völkern werden in Zukunft sicherlich fallen. Ljubljana: Znanstvena zalozˇba FF 2007, S. 100–127. Sˇlibar, Neva: Literarna dela in avtobiografski spisi Alme M. Karlin: tematiziranje obdobja 1940–1945. In: Pocˇivavsˇek, Marija (Hg.): Almine meje in margine. Celje: Muzej novejsˇe zgodovine 2009, S. 44–61. Sˇlibar, Vlado/Sˇmitek, Zmago: Zbirka Alme Karlinove. Maribor: Obzorja 1982. Trnovec, Barbara: Kolumbova hcˇi. Zˇivljenje in delo Alme M. Karlin. Celje: Pokrajinski muzej 2015.

Ein- und Ausgrenzung durch die Sprache bei Alma M. Karlin

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Trnovec, Barbara: Kolumbova hcˇi – Columbus’ Daughter: Alma M. Karlin. Kulturna, zgodovinska in antropolosˇka razstava, 21. September 2017–14. Januar 2018. Ljubljana: Cankarjev dom; Celje: Pokrajinski muzej 2017. Trnovec, Barbara: Die endlose Reise der Alma M. Karlin: Leben, Werk, Nachlass. Celje: Pokrajinski muzej; Ljubljana: Znanstvena zalozˇba Filozofske fakultete 2020. Virant, Sˇpela: Lichteffekte und Tarockpartien. Zu Alma Karlins Stück »Die Kringshäusler«. In: »Germanoslavica« 25/2/2014, S. 165–179. Virant, Sˇpela: Alma Karlin in dramatika. In: Kramberger, Petra/Samide, Irena/Zˇigon, Tanja (Hg.): »Und die Brücke hat gezogen, die vom Ost bis West schwingt«. Literarische, kulturelle und sprachliche Vernetzungen und Grenzüberschreitungen. Ljubljana: Znanstvena zalozˇba Filozofske fakultete 2017, S. 83–93. Wolff, Patrick/Ehrhardt, Horst: Zum Reflex mitteleuropäischen Denkens im Phraseologismengebrauch bei Alma M. Karlin. In: Jesensˇek, Vida (Hg.): Germanistik in Maribor. Tradition und Perspektiven. Maribor: Univerzitetna zalozˇba Univerze v Mariboru 2017, S. 217–234.

Textuelle, diskursive und terminologische Grenzziehungen

Anna Dargiewicz (Uniwersytet Warmin´sko-Mazurski, Olsztyn)

Facetten des Impf-Diskurses im Corona-Kontext. Zu (neuen) Wortbildungen in der medialen Berichterstattung zum Thema Impfen Die sprachliche Bewältigung der sich ständig verändernden Umwelt des Menschen fordert einen ununterbrochenen Ausbau des Wortschatzes. Neue Dinge und Erscheinungen des täglichen Lebens müssen bezeichnet werden, neue Gedanken ihre sprachliche Fassung erhalten; neue Termini werden mit dem Fortschreiten der Wissenschaft nötig.1

1

Einleitendes

In der Sprache existieren keine Grenzen, vor allem nicht im Bereich der Wortbildung. Seit über einem Jahr steht die Sprache unter dem ständigen Einfluss des mit der Corona-Pandemie verbundenen Weltgeschehens. Die Pandemie und ihre aufeinander folgenden Phasen (= Wellen) hinterlassen deutliche Spuren in unserem Wortschatz. Die Alltagssprache ist geprägt von neuen bzw. semantisch neu besetzten bereits existierenden Begriffen. Coronazeit-Bildungen spiegeln das Leben in den Zeiten der Unsicherheit wider, erklären und bewerten die sich wie in einem Kreis um das Corona-Problem drehende Realität. Sie lassen auch verschiedene Facetten der mit der Pandemie verbundenen Probleme und der diesbezüglichen Diskussion erkennen. Eine dieser Facetten ist der mit der weltweiten Impfkampagne verbundene Diskurs. Da die Wissenschaft davon ausgeht, dass die Menschheit bis auf Weiteres mit dem Coronavirus SARS-CoV2, seinen Mutationen und der Krankheit Covid-19 leben muss, erweist sich eine weltweite Impfkampagne als der einzige Weg, der aus der aktuellen Pandemie hinausführt, zukünftig weitere Infektionswellen verhindern und mehr oder weniger die Rückkehr zur Normalität ermöglichen kann. In Rekordzeit wurden die inzwischen vorhandenen, gegen das Corona-Virus wirksamen Impfstoffe entwickelt. Seit Ende 2020 lässt sich die Welt gegen Covid-19 impfen. Die größte Weltimpfaktion aller Zeiten dauert an. Diese globale Herausforderung ist Ursache des facettenreichen medialen Diskurses, dessen Teilnehmer nach neuen, 1 Fleischer, Wolfgang: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Niemeyer 1982, S. 9.

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ausdrucksvollen, die Komplexität des Impfverfahrens wiedergebenden Bildungen greifen, um sowohl seine Licht- als auch Schattenseiten publik zu machen. Die vorliegende Studie hat sich zum Ziel gesetzt, zu belegen, dass es zum großen Teil dank der Ressourcen der Wortbildung uneingeschränkt möglich ist, inhaltsreiche und aussagekräftige Benennungen zu produzieren, dank denen die Sprachbenutzer mit den Herausforderungen der Pandemiesituation umgehen und die Wirklichkeit zeitgemäß kreieren können. Vor allem dem Wortbildungsprozess der Komposition ist die Vielfalt der Korpusbelege zu verdanken.

2

Der Verbstamm impf- als Kompositabestandteil

2.1

Verb-Nomen-Komposition

»Die Verb-Nomen-Komposition ist deutlich weniger eingeschränkt als die Adjektiv-Nomen-Komposition. Die Norm lässt hier weitaus mehr zu.«2 In die nominale Komposition mit Verben werden differente Verbstämme einbezogen: ein- und mehrsilbige (Impfwille, Sammelbezeichnung), abgeleitete und zusammengesetzte3 (Bestellnummer, Spritzgießmaschine), einheimische und entlehnte (Backofen, Mixbecher).4 Die finiten Verbformen sind selten Bestandteile der nominalen Komposita, außer einiger Modal- bzw. Kopulaverben: Kann-Beschreibung, Iststärke.5 In Verb-Nomen-Komposita sind Fugenelemente eine strittige Frage. Nach Donalies6 wird das -e- in einigen Bildungen (Bindeglied, Lesesaal) als Element des Stammes betrachtet, wobei Fleischer/Barz7 in solchen Fällen doch von Fugenelementen sprechen. Unter den analysierten Korpusbelegen mit dem Infinitivstamm impf- wurden keine Fugenelemente festgestellt. Der Infinitivstamm des schwachen Verbs impfen → impf- zeichnet sich nach der Tilgung der Infinitivendung durch eine große Wortbildungsaktivität aus, die kaum irgendwelchen formal-strukturellen Einschränkungen unterliegt.

2 Donalies, Elke: Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick. Tübingen: Günter Narr Verlag 2002, S. 72. 3 »Koppelungen mehrerer Verbstämme als Erstglied sind sehr selten; sie finden sich – von poetisch-expressiven Wortbildungen abgesehen – allenfalls in der Terminologie der Technik: Mischsortierverfahren« (Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4. völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin/Boston: De Gruyter Studium 2012, S. 161). 4 Donalies, Elke: Die Wortbildung, S. 72. 5 Vgl. dazu Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild: Wortbildung, S. 159 und Donalies, Elke: Die Wortbildung, S. 73. 6 Donalies, Elke: Die Wortbildung, S. 73. 7 Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild: Wortbildung, S. 159.

Facetten des Impf-Diskurses im Corona-Kontext

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Unter dem semantischen Gesichtspunkt zeichnen sich die Zusammensetzungen mit verbaler Erstkonstituente durch Vielfältigkeit aus und lassen sich verschiedenen semantischen Mustern anpassen, »die sich aus der Ausrichtung der vom Verb bezeichneten Tätigkeit ergeben.«8 In dem analysierten Impfkorpus sind nach Fleischer/Barz9 folgende semantische Muster vertretbar (wobei A für das Erstglied und B für das Zweitglied des Kompositums stehen): 1. final – ›B ist geeignet/bestimmt für A‹: Merkblatt; im Korpus: Impfstoff, Impfdosis; 2. aktivisch – ›B tut A‹ (hier gehören die Zweitglieder zum großen Teil den Personen- bzw. Personengruppenbezeichnungen und Tierbezeichnungen10 an): Putzfrau, Lieferbetrieb; im Korpus: Impfteam, Impftruppe, Impfmannschaft, ImpfärztInnen11; 3. passivisch – a) ›A wird mit B getan‹, am häufigsten habituell: Umhängetasche; keine Vertreter im Korpus; b) ›A ist mit B getan worden‹: Bratkartoffeln; keine Vertreter im Korpus; 4. referenziell – ›A ist thematischer Bezugspunkt von B‹: Maltalent, Sehvermögen; im Korpus: Impfbereitschaft, Impfberechtigung; 5. lokal – ›B ist Ort/Raum für A‹: Bastelraum, Kochecke; im Korpus: Impf-Zug12, Impfstelle, Impfort, Impffront, Impf-Basar13; 6. explikativ – ›A expliziert B‹ (B besteht darin, dass jemand das durch A ausgedrückte ausführt): Ausweichmanöver, Schmelzprozess, Suchaktion; im Korpus: Impfaktion, Impfkampagne/ Impf-Kampagne, Impfprozess; 7. temporal – ›B gibt Zeitpunkt/Zeitraum an‹: Backtag, Sendetermin; im Korpus: Impftermin, Impfstart, Impfstopp/Impf-Stopp; 8. kausal – a) ›A erzeugt/verursacht B‹: Kratzwunde, Auffahrunfall; im Korpus: Impfrisiko, Impfreaktionen, Impffolgen, Impfnebenwirkungen; 8 9 10 11

Donalies, Elke: Die Wortbildung, S. 73. Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild: Wortbildung, S. 162–163. Im besprochenen Korpus nicht vertreten. »Zu Beginn des Jahres war die Aufregung groß. 130 Euro in der Stunde für ImpfärztInnen (plus Fahrtkosten), 30 bis 50 Euro für die Pflegefachkraft (ohne Fahrtkosten).« URL: https:// www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/521/die-kasse-klingelt-7394.html / letzter Zugriff am 25. 03. 2021. 12 »Per Impf-Zug durch Irkutsk und Burjatien« (betrifft Russland: ein Zug nach, mit dem im Frühjahr 2021 die Impfstoffe gegen das Coronavirus zu den Menschen in entlegenen Regionen Sibiriens gebracht wurden). URL: https://de.euronews.com/2021/04/07/sibirien-perimpf-zug-durch-irkutsk-und-burjatien / letzter Zugriff am 12. 04. 2021. 13 »Italienisches Luxushotel-Team lässt sich in Münchener Hilton impfen und empört Politiker: ›Kann nicht sein, dass Deutschland zum Impf-Basar wird.‹« URL: https://www.businessinside r.de/wirtschaft/impftourismus-in-muenchen-italienisches-hotel-team-wird-im-hilton-geim pft/ / letzter Zugriff am 12. 07. 2021.

102

Anna Dargiewicz

b) ›B verursacht A‹: Lachreiz, Niespulver; im Korpus: Impfzwang, Impfschutz, Impfneid, Impfanreiz, Impfpflicht; 9. modal – ›B hat A als Modus‹: Laufschritt, Stehbankett; im Korpus: Impftourismus, Impfstrategie, Impfgipfel. Nach Fleischer/Barz muss in Bezug auf das dokumentierte Korpus konstatiert werden, »dass sich nicht alle Wortbildungen ohne Weiteres den genannten Modellbedeutungen zuordnen lassen.«14 Man muss auch damit rechnen, dass potenzielle Mehrfachzuordnungen auftreten können.

2.2

Verb-Adjektiv-Komposition

Obwohl adjektivische Komposita mit dem verbalen Stamm als Determinans nichts Ungewöhnliches sind, fällt im analysierten Korpus ihre Zahl im Vergleich zu der Zahl der substantivischen Komposita mit der verbalen Erstkonstituente impf- relativ bescheiden aus. Die hierzu aus dem Impfdiskurs gewonnenen Beispiele gehen jedoch auf sehr interessante Inhalte zurück. Die Beobachtung bezüglich der relativ geringeren Zahl der Verbstamm-Adjektiv-Komposita stimmt mit den bisherigen diesbezüglichen Studien überein.15 Verbindungsfähig mit dem Verbstamm sind vor allem die Adjektive: fähig, fest, sicher, kundig, tüchtig, bereit, faul, würdig, reif, wirksam.16 Viele von ihnen gehen mit den verbalen Stämmen okkasionelle Beziehungen ein und werden kontextabhängig vor allem im Bereich der technischen Fachsprache (zerreißfest, tragfähig, pressdicht), in der Sprache der Werbung (kaufbereit, knitterfest, werbewirksam) und in der Lyrik (brüllkomisch, tränetreibend) gebildet.17 Betrachtet man die semantischen Beziehungen zwischen dem adjektivischen Determinatum des Kompositums (A) und dem verbalen Determinans (B), kann man nach Kienpointner18 folgende Verhältnisse differenzieren: 1. konsekutiv (Folge angebend) – ›X (Bezugssubstantiv) ist so B, dass A‹: treffgenau (z. B. treffgenaue Schätzung); im Korpus: impffähig, impfwillig, impfbereit, impfberechtigt (z. B. impfberechtigter/impffähiger Patient); 2. limitativ-relational – ›X ist B in Bezug auf A‹: werbewirksam (z. B. werbewirksame Mittel); im Korpus: impfstark, impfschwach, impfkritisch (z. B.

14 Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild: Wortbildung, S. 164. 15 Vgl. Donalies, Elke: Die Wortbildung, S. 81 und Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild: Wortbildung, S. 328. 16 Vgl. Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild: Wortbildung, S. 328. 17 Vgl. ebd. 18 Vgl. nach ebd.

Facetten des Impf-Diskurses im Corona-Kontext

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impfstarke Länder, impfschwache Regionen, impfkritische Stimmen/ Kollegen); 3. kausal-modal (Ursache angebend) – ›X ist B wegen A‹ – lachheiß (z. B. lachheiße Wangen); im Korpus: impfkritisch (z. B. impfkritische Stimmen/ Kollegen). Im Falle der deadjektivischen Komposita mit dem Verbstamm als Erstglied lassen sich ebenfalls nicht alle Bildungen den definierten semantischen Gruppen zuordnen. Man muss sich darüber hinaus dessen bewusst sein, dass es auch hier zu potenziellen Mehrfachzuordnungen kommen kann.19

3

Zum Korpus

Das der im Folgenden beschriebenen linguistischen Analyse zugrunde liegende 240 Belege umfassende lexikalische Korpusmaterial umfasst den Zeitraum zwischen November 2020 und Juli 2021 und wurde infolge der gezielt durchgeführten Recherche der deutschsprachigen Online-Ressourcen exzerpiert. Gezielt, weil sich die Autorin dieses Beitrags darauf konzentriert hat, die Bildungen mit der Einheit impf- aus dem die globale Impfherausforderung betreffenden Diskurs herauszufiltern. Die Auswahl dieses Zeitrahmens fällt auf die Zeit der Coronavirus-Pandemie, in der die Welt zunächst voller Hoffnung auf den die Welt erlösenden Impfstoff gewartet hat, bis dann der von der Menschheit ersehnte Augenblick endlich gekommen ist. Der Impfstoff gegen die Krankheit Covid-19 wurde zugelassen und den Menschen zur Verfügung gestellt. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, sagte an dem historischen Tag, dem 21. Dezember 2020, zu den Europabürgern: Heute schreiben wir ein weiteres wichtiges Kapitel einer europäischen Erfolgsgeschichte. Wir haben den ersten sicheren und wirksamen Impfstoff gegen COVID-19 zugelassen und weitere Impfstoffe werden folgen. Der heute zugelassene Impfstoff wird allen EU-Mitgliedstaaten zur selben Zeit und unter denselben Bedingungen zur Verfügung stehen. Der Beginn der Impfkampagne wird ein großer Moment europäischer Geschlossenheit sein. Ein schönes Ende eines schwierigen Jahres und hoffentlich auch der Anfang vom Ende der Pandemie. Wir sitzen alle in einem Boot.20

Die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides fügte gehoben hinzu: Heute ist ein großer Tag für Europa. Heute sehen wir gelebte europäische Solidarität. Nach monatelangen Bemühungen trägt unsere EU-Impfstrategie Früchte: Alle Mit19 Vgl. ebd., S. 164. 20 URL: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_2466 / letzter Zugriff am 14. 07. 2021.

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gliedstaaten bekommen zur selben Zeit Zugang zu einem sicheren, wirksamen und erschwinglichen Impfstoff. Heute sehen wir, was wir gemeinsam erreichen können, wenn wir in einer starken europäischen Gesundheitsunion zusammenarbeiten. Ein Europa, das sich kümmert und das unterstützt. Ein Europa, das keine Mühen scheut.21

Wie die Menschen dann der globalen Impfherausforderung die Stirn boten (und auch weiterhin bieten), zeigen die folgenden Monate, in denen unterschiedliche Facetten der weltweiten Impfkampagne ans Tageslicht kommen. Wie passt sich der Wortschatz an die sprachlichen Kontexte an, die mit dieser historischen Entdeckung verbunden sind?22 Nach welchen sprachlichen Mitteln die Sprachbenutzer greifen, um sich mit der sich dynamisch ändernden Impfwirklichkeit auseinanderzusetzen, wird anhand des manuell zusammengestellten Korpus veranschaulicht. Die ausgewerteten Korpusbelege stammen von den Webseiten der deutschsprachigen Online-Medien und stellen einen unbestreitbaren Beweis dafür dar, dass sich die Sprachbenutzer mit außergewöhnlicher Kreativität auszeichnen, wodurch das sich rund um sie herum Abspielende in adäquate Worte gefasst werden konnte. Für die Analyse wurde das Lexikalische sowohl aus den allgemein zugänglichen kostenlosen impfbezogenen Beiträgen als auch aus ihren Titeln miteinbezogen. Es wurden auch thematische Ansagen berücksichtigt, denen diese Artikel zugeordnet wurden. Artikel, die vom Leser einen gebührenpflichtigen Zugang zum Weiterlesen erfordern, wurden nicht in die Recherche aufgenommen. Die gewonnenen Korpusbelege, mit denen sich die Sprachbenutzer in der Zeit des Kampfes gegen die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 mit der Impfrealität auseinandersetzen, sind großenteils Komposita. Es handelt sich dabei vorrangig um substantivische und adjektivische Zusammensetzungen, die nach dem Muster gebildet werden: – Verbstamm impf- + Substantiv (unabhängig davon, ob hier als Grundwort ein Simplex (indigen bzw. fremd), komplexes Wort oder ein Derivat erscheint23): Impfbuch, Impfpass, Impf-Rekord, Impf-Tagesrekord, Impf-Reisegruppe, Impfauffrischung, Impfpriorisierung, Impf-›Drive-In‹. Weitere komplexere Wortbildungen, für die das nach diesem Muster gebildete substantivische Impfkompositum als Grundwort bzw. Bestimmungswort dient, 21 URL: https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_20_2466 / letzter Zugriff am 14. 07. 2021. 22 Vgl. dazu auch Klosa-Kückelhaus, Anette: Neue Wörter in der Coronakrise – von Social Distancing und Gabenzaun. In: »Sprachreport« Nr. 1, Jg. 36/2020a, S. 1. 23 Vgl. »Die substantivischen Zweitglieder können neben Simplizia auch Wortbildungen sein: Abziehbildchen, Abwehrbereitschaft, Einsteigebahnhof, Kochanweisung« (Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild: Wortbildung, S. 161).

Facetten des Impf-Diskurses im Corona-Kontext

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stehen hier ebenfalls im Fokus des Interesses. Hier werden sowohl zusammengesetzte als auch derivierte Begriffe berücksichtigt: Corona-Impfneid, Einmalimpfstoff, Corona-Impfstoff-Hersteller, Impfstoffvergabe, Corona-Impfterminrechner, Impfstoffbeschaffung, Anti-Impf-Partei, Antiimpfbewegung, Anti-Impfpflicht-Initiative. – Verbstamm impf- + Adjektiv: impfbereit, impfberechtigt, impffähig, impfstark, impfschwach, impfgerecht24, impffrei.25 Verzeichnet wurden darüber hinaus substantivische Ableitungen, für die das adjektivische Impfkompositum als Basis dient: Impffähigkeit, Impfbereitschaft, Impfberechtigung, Impfgerechtigkeit, Impfstärke, Impfkritik, Impf-Freiheit.26 Auch substantivierte, nach dem oben beschriebenen Muster zusammengesetzte Adjektive finden sich im Korpus: der/die Impffähige/n, der Impfwillige, der Impfberechtigte/n. Unter den zusammengestellten Bildungen zur Impfthematik erscheinen zudem solche Zusammensetzungen, für die das vom Verb impfen abgeleitete Substantiv Impfung als Grundwort gilt: Massen-Impfungen, Corona-Impfung, Coronavirus-Impfung, Neu-Impfung, Kinder-Impfung, AstraZeneca-Impfung, Einmalimpfung, Erstimpfung, Auffrischimpfung, Auffrischungsimpfung, Gruppenimpfung, Zwangsimpfung. Die angeführten Korpusvertreter dokumentieren, dass das Impfthema keine neue Erscheinung ist. Allerdings kann eindeutig festgestellt werden, dass im aktuell andauernden Coronadiskurs eine neue Sichtweise auf die Phänomene der Impfproblematik geschaffen wird.

24 »VBB rüstet für Impfwillige auf. Außerdem hat der VBB seinen Begleitservice erweitert: Ältere, bewegungs- oder auch seheingeschränkte Menschen können den Service neuerdings auch für die Begleitung zum Impftermin nutzen. Gleichzeitig hat der VBB sein Onlineangebot impfgerecht aufgerüstet: Damit Berliner und Brandenburger schnell den Weg zum Impfzentrum finden, wurden die entsprechenden Standorte in die VBB-Fahrinfo eingearbeitet.« URL: https://www.rbb-online.de/supermarkt/themen/gesundheit/corona-covid-19-impfen-i mpfung-das-sind-die-wichtigsten-infos-fuer-berlin-und-brandenburg.html / letzter Zugriff am 15. 07. 2021. 25 »GEIMPFT ODER NICHT GEIMPFT? Neues Jobportal für ›impffreie‹ Stellen aus dem Querdenker-Milieu« »Ebenso gesucht: eine Modeverkäuferin in Teilzeit, die ›zielstrebig, zuverlässig und gerne auch impffrei‹ ist.« »Die Jobinserate sind drei von über 90 ausgeschriebenen Positionen auf dem Jobportal impffrei.work (Stand Freitag 2. Juli 2021). Dort können Unternehmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz seit Anfang Juni ›impffreie Arbeitsstellen‹ kostenlos inserieren.« URL: https://www.derstandard.de/stor y/2000127910162/neues-jobportal-fuer-impffreie-stellen-aus-dem-querdenker-milieu / letzter Zugriff am 14. 07. 2021. 26 Es muss allerdings übereinstimmend mit Fleischer/Barz darauf Aufmerksamkeit gelenkt werden, dass hier Doppelmotivation auftreten kann: z. B. Impffähigkeit kann auch als -keitDerivat des deadjektivischen Kompositums impffähig erklärt werden. Vgl. Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild: Wortbildung, S. 161.

106

4

Anna Dargiewicz

Analyseergebnisse

Die semantischen Gruppen der exzerpierten Korpusbelege können als Widerspiegelung der aufeinander folgenden Phasen der globalen Coronavirus-Impfkampagne gelten. An ihnen lässt sich deutlich erkennen, dass die seit Ende 2020 andauernde Impfkampagne ihre Höhen und Tiefen zu verzeichnen hat. Mit der Sprache als einem dem Menschen eigenen und den Entwicklungstendenzen der Gesellschaft folgenden Kommunikationsmittel werden sie fortlaufend registriert, wodurch auch die in der Gesellschaft herrschenden Stimmungen widergespiegelt werden.

4.1

Semantische Gruppen der Impfbildungen = Phasen des Impfdiskurses

Folgende Hauptthemenkomplexe und ihnen untergeordnete Themenmotive sind anhand des exzerpierten sprachlichen Materials zu differenzieren27: I.

Vorbereitung(sphase) und Zulassung des Impfstoffes (Zeit der Entwicklung und Herstellung des Impfstoffes gegen das tödliche Virus: Wartezeit, Zeit der Unsicherheit; Impfung als große globale Herausforderung und Verantwortung)

der Corona-Impfstoff, der Impfstoff, die Impfstoff-Forschung/ Impfstoffforschung, die Impfstoffstudie, der Impfstoff-Kandidat, die Impfstoff-Zulassung, die Impfstoffzulassung, der mRNA-Impfstoff, der Vektor-Impfstoff/e, der Curevac-Impfstoff, die Impferlösung/Impf-Erlösung II.

Verlauf des Impfprozesses (Priorisierung, neue Lösungen zwecks schneller Impfstoffverabreichung)

die Corona-Impfung, die Coronavirus-Impfung, die Impfkampagne/ Impf-Kampagne, die Corona-Impfkampagne, die Impfreihe, die Impf-Priorisierung, der Impf-Zug/Impfzug28, die Impf-Warteliste, die Impf-Daten/Impfdaten, die Impfquote, der Corona-Impfrechner, der Corona-Impfterminrechner, der Impftermin/ e, das Impfprogramm, der Impffortschritt, die Impf-Hotline, der Impfplan, die 27 Alle Korpusbelege werden in der Originalschreibung präsentiert. 28 »Langsam kommt der Impf-Zug durch unser Land in Fahrt.« (= in Schwung kommen) URL: https://www1.wdr.de/radio/wdr4/wort/zur-sache/kommentar-impfen-macht-euphorisch-10 0.html / letzter Zugriff am 10. 04. 2021; »In Deutschland kommt der Impfzug nur langsam auf Touren.« URL: https://www.waz.de/politik/corona-impfung-laender-usa-israel-biontech-mo derna-id232042725.html / letzter Zugriff am 20. 04. 2021.

Facetten des Impf-Diskurses im Corona-Kontext

107

Impf-Infoline, der Impfmotor, der Impfstart, der Impfstopp/s/Impf-Stopp, der AstraZeneca-Impfstopp/ Astra-Zeneca-Impfstopp, der AstraZeneca-Impfstoff, die AstraZeneca-Impfung, der BioNTech-Impfstoff, der Biontech-Pfizer-Impfstoff, die Impfdosis, die Impf-Dosen, die Impf-Prioritätenliste, die Impfpriorität, die Impfreihenfolge, der Impfneid, der Corona-Impfneid, die Impfstatistik, der Impfengel29, der Einmalimpfstoff, der Einmal-Impfstoff, die Einmalimpfung, der Impfschutz, die Impfstoffvergabe, der Impfabstand, das Impfintervall, die Zweitimpfung, die Erstimpfung, die Impffront, die Covid-19-Impffront30, die Impfmathematik, impfberechtigt, der/die Impfberechtigte/n31, die Impfberechtigung, die Impfstärke32, die Impfverordnung, die Coronavirus-Impfverordnung, die Impfaktion, die Impfspritze, die Impfpriorisierung, der Einzeldosis-Impfstoff, der Durchimpfungsgrad, die Impfkonzepte, der Impfprozess, das Impf-Info/s, die Extra-Impfdosen33, die Zusatz-Impfdosen, impfschwach34, die Impfdiskussion/ Impf-Diskussion, Covid-19-Impfstoffe, der Impfstoffnationalismus35/ Impfstoff-

29 »Schöne Geste: Einen ganzen Schwung ›Impfengel‹ hat Tanja Kühr für die Mitarbeitenden des Impfzentrums Münster gebastelt«. URL: http://www.presse-service.de/data.aspx/static/1062 839.html / letzter Zugriff am 24. 01. 2021. 30 »Und so sieht es an der ›Covid-19-Impffront‹ bislang aus: Bis 12. Februar wurden in Deutschland: 3,8 Millionen Impfungen mit dem Vakzin von Biontech/Pfizer; knapp 87.000 Impfungen mit Moderna; gut 31.000 Impfungen mit Astrazeneca«. URL: https://www1.wd r.de/nachrichten/nebenwirkungen-impfstoffe-paul-ehrlich-institut-100.html / letzter Zugriff am 18. 02. 2021. 31 »In ganz Italien sind 55,7 Prozent der Impfberechtigten einmal geimpft.« URL: https://www.fa z.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/corona-impfungen-in-suedtirol-kampf-g egen-impfskeptiker-17419406.html / letzter Zugriff am 13. 07. 2021. 32 »Als vollständig geimpft zählt dabei eine Person, wenn 14 Tage nach dem vollen Erhalt der Impfstärke […] vergangen sind.« URL: https://www.fr.de/politik/jens-spahn-urlaub-bundes rat-lockerungen-geimpfte-genesene-entscheidung-gesetz-deutschland-sommerferien-zr-90 497261.html / letzter Zugriff am 20. 05. 2021. 33 »Weil Arztpraxen nach Pfingsten zu wenig Impfstoff bestellt hatten, bekommt die Landesregierung jetzt einen Ausgleich. Die Extra-Impfdosen sind bereits verplant.« URL: https:// www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/baden-wuerttemberg-bekommt-kurzfristig-m ehr-impfstoff-100.html / letzter Zugriff am 15. 06. 2021. 34 »Zusatz-Impfdosen für ›impfschwache‹ Kreise« URL: https://www.swr.de/swraktuell/baden -wuerttemberg/baden-wuerttemberg-bekommt-kurzfristig-mehr-impfstoff-100.html / letzter Zugriff am 15. 06. 2021. 35 »UN-Generalsekretär António Guterres war immer Optimist. […] Zweitens bin ich besonders besorgt über den verbreiteten Impfstoffnationalismus. Da sind natürlich die entwickelten Länder, die sich darum sorgen, ihre Bevölkerungen zu schützen, das verstehe ich. Aber der Impfstoff muss überall zur Verfügung stehen und überall erschwinglich sein – als globales öffentliches Gut.« URL: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-12/antonio-guterres-un-ge neralsekretaer-coronavirus-pandemie-klimawandel-vereinte-nationen / letzter Zugriff am 17. 12. 2020.

108

Anna Dargiewicz

Nationalismus, der Impfnationalismus, der Impfvorrang, die Corona-Impfungen, die Corona-Schutzimpfungen, die Teil-Impfpflicht36, der Impfstoff-Wettlauf 37 A. am Impfprozess beteiligte Personen die Impfkommission, das Impfteam, das Kreisimpfzentrum (KIZ), die Impftruppe38, der Impfarzt, die ImpfärztIn/nen, die Impfmannschaft B. Plätze, die mit dem Impfprozess verbunden sind der Impf-Zug, das Pop-up-Impfzentrum/ das Pop-Up-Impfzentrum, die Pop-upImpfzentren, das Impfzentrum, das Impf-›Drive-In‹, die Impfstraße39, der Impfort, die Impfstelle III.

Erfolgreiches/schnelles Impfen

die Impfbereitschaft, impfbereit, der Impf-Rekord, der Impf-Tagesrekord, der Impf-Champion/s, das Impftempo, der Impf-Gewinner, der Impf-Spitzenreiter, die Massen-Impfungen, der Impfbefürworter, die Impfwelle40, der Impfturbo41, impfgerecht, impfstark42, die Impfstrategie, impfwillig, impffähig, der/die Impf36 Ministerpräsident Markus Söder erwägt eine Teil-Impfpflicht für bestimmte Personen – und entfacht so die Debatte neu. Söder sprach […] über seine Forderung einer Impfpflicht für Pflegekräfte in Alten- und Pflegeheimen. »Wir müssen uns überlegen, ob wir für die besonders hochsensiblen Bereiche, das sind die Alten- und Pflegeheime, den Schutz besonders erhöhen.« URL: https://www.fr.de/panorama/neue-debatte-ueber-teil-impfpflicht-bestimm te-personen-betroffen-90165951.html / letzter Zugriff am 12. 01. 2021. 37 »KAMPF GEGEN CORONA: EU holt im Impfstoff-Wettlauf auf« URL: https://www.faz.ne t/aktuell/wirtschaft/kampf-gegen-corona-wie-die-eu-im-impfstoff-wettlauf-aufholt-1681 4631.html / letzter Zugriff am 15. 06. 2020. 38 »Modellprojekt im Corona-Brennpunkt: Steht die mobile Impftruppe von Köln-Chorweiler vor dem Aus?« URL: https://www.spiegel.de/panorama/corona-in-koeln-chorweiler-stehen -die-mobilen-impfengel-vor-dem-aus-a-34f18452-7686-4984-8015-973c84f 74e93?sara_ecid =soci_upd_j5FMWycn2aPum0F4COc40xUTUf Lybp&fbclid=IwAR1r5Zn9CEa8CYaEJFs_a Q1p7z1RamrmXNWxPJWCJWwsf9iACNYurxAvHMU / letzter Zugriff am 10. 05. 2021. 39 »Im Impfzentrum in Landkern wurde eine sogenannte ›Impfstraße‹ eingerichtet. Diese Impfstraße durchlaufen alle Personen, die zum Impftermin kommen.« URL: https://www.co chem-zell.de/kv_cochem_zell/Unsere%20Themen/Gesundheitsamt/Informationen%20zum %20Impfzentrum/Ablauf%20der%20Impfstra%C3%9Fe/ / letzter Zugriff am 12. 07. 2021. 40 »Coronavirus im Landkreis München: Die Impfwelle rollt an.« URL: https://www.sueddeut sche.de/muenchen/landkreismuenchen/impftage-unterfoehring-1.5223622 / letzter Zugriff am 04. 03. 2021. 41 »Denn seit bekannt wurde, dass Österreich aus einer vorgezogenen Lieferung von 50 Millionen Impfdosen Biontech/Pfizer an die EU, die eigentlich erst im Herbst hätten kommen sollen, noch vor Juni eine Million erhält, spricht Sebastian Kurz von einem Impfturbo.« URL: https://noe.orf.at/stories/3099735/ / letzter Zugriff am 16. 04. 2021. 42 »Die Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe ist unbestritten, auch nach Auswertung von Realwelt-Daten in impfstarken Ländern.« URL: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland

Facetten des Impf-Diskurses im Corona-Kontext

109

fähige/n, die Impffähigkeit, der Impfwillige, die Impf-Offensive, das Impfkonzept/ e, die Impfallianz, die Impfreihenfolge43 IV.

Kampf um Impftermine (ungeduldige Impfkandidaten; vorzeitiges Impfen gegen Covid-19/Impfen entgegen der Priorisierung = Vordrängen; unfaires Impfen; Impfskandale)

der Impfskandal, die Impf-Gerechtigkeit44, der Impfdrängler, der Impfvordrängler/ Impf-Vordrängler, die Impfvordränglerinnen45, die Sonderimpfaktion46, die Impf-Reisegruppe47, der Impftourismus, die Gruppenimpfung, der Impf-Basar, der Impf-Service48, die Impfprivilegien49

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48 49

/corona-impfung-wann-muss-zum-immunschutz-nochmal-geimpft-werden-17347478. htm / letzter Zugriff am 20. 05. 2021. »Die Impfungen gegen Covid-19 gehen in Deutschland schnell voran und werden mit der Einbeziehung der Betriebs- und Privatärzte zum 7. Juni weiteren Schwung erhalten. An jenem Tag entfällt auch die Impfreihenfolge nach Risikogruppen, die sogenannte Priorisierung.« URL: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/corona-in-deutschland-jede-sekunde-werden-a cht-personen-geimpft-17353475.html / letzter Zugriff am 22. 05. 2021. »Impfgerechtigkeit: Bitte kein Kampf der Generationen. […] Immer wieder wurde während der Pandemie Solidarität gefordert. Inzwischen haben die Jüngeren offenbar die Nase voll: Sie wollen nicht, dass die Älteren ihnen den guten Impfstoff wegnehmen.« URL: https://www.spie gel.de/politik/corona-impfgerechtigkeit-bitte-kein-kampf-der-generationen-kommentar-a5875d746-5bae-4cb0-90d5-157f1a3aa7b8 / letzter Zugriff am 15. 07. 2021. »Impfvordränglerinnen gelten als unsolidarisch und sollen bestraft werden. Zwei junge Frauen erzählen, warum sie es trotzdem gemacht haben.« URL: https://www.zeit.de/cam pus/2021-04/impfvordraengler-corona-impfung-solidaritaet-bestrafung-motivation / letzter Zugriff am 12. 04. 2021. »Am 21. Mai kam es demnach am Flughafen zu einer Art Sonderimpfaktion. Während eines Tagestrips wurde die große Reisegruppe aus Italien gegen Covid-19 geimpft, womöglich mit Biontech.« URL: https://www.tagesspiegel.de/politik/erst-den-piks-dann-bayerisches-bier-it alienisches-luxusresort-laesst-100-angestellte-am-muenchner-flughafen-impfen/27277194. html / letzter Zugriff am 13. 07. 2021. »Ein Fall von Impftourismus in München erhitzt aktuell die Gemüter. Wie die »Süddeutsche Zeitung« (SZ) berichtet, flogen mehr als 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des italienischen Luxusressorts Fort Village am 21. Mai in die süddeutsche Großstadt und ließen sich dort impfen. Kurz darauf ging es wieder nach Hause.« URL: https://www.busine ssinsider.de/wirtschaft/impftourismus-in-muenchen-italienisches-hotel-team-wird-im-h ilton-geimpft/ / letzter Zugriff am 12. 07. 2021. »Das Hotel habe für den Impf-Service in Deutschland bezahlt.« URL: https://www.br.de/nach richten/bayern/weiter-wirbel-um-corona-impfung-von-italienern-in-bayern,SaKBSNH / letzter Zugriff am 05.06. 2021. »Trainer Christian Streich vom SC Freiburg hält nichts von einer bevorzugten CoronaImpfung von Profifußballern. ›Impfprivilegien sollte es nicht geben. Es soll selbstverständlich der Reihe nach gehen, in einer gesundheitlich verantwortbaren Reihenfolge‹.« URL: https:// www.zeit.de/news/2021-02/18/coach-streich-gegen-impfprivilegien-von-fussballern / letzter Zugriff am 18. 02. 2021.

110 V.

Anna Dargiewicz

Komplikationen bei Lieferung der Impfstoffe (Verzögerungen bei Lieferungen; zwischenmenschliche und zwischenstaatliche Spannungen)

die Impfstoffbeschaffung, der Impf-Recherche-Chor50, das Impfsüppchen51, das Impfangebot, der Impfstoffhersteller/Impfstoff-Hersteller, der Corona-ImpfstoffHersteller, der Impfstoffmangel, die Impf-Verzögerung52, das Impf-Ultimatum53, der Impfstreit, der Corona-Impfstreit, der Impfkrieg, der Impfstoffkrieg54, der Impfkampf, die Impfstoffmengen, die Impfstoff-Lieferübersicht, der ›Impfstoffpolster‹55, die Impfstoff-Mafia56, die Impfstoff-Transporte57

50 »Frankfurt: Jetzt stimmt auch der »Hart aber fair«- Moderator Frank Plasberg (ARD) in den Impf-Recherche-Chor ein, und zwar mit Fokus auf die Europäische Union. Es geht um eine kritische Rückschau darauf, ob es richtig war, der EU-Kommission die Vertragsverhandlungen zu überlassen.« URL: https://www.fr.de/kultur/tv-kino/hart-aber-fair-ard-frank-plas berg-jan-fleischhauer-focus-coronavirus-impfstoff-eu-tv-kritik-90196616.html / letzter Zugriff am 15. 02. 2021. 51 »Was wäre, wenn alle Mitgliedsstaaten ihr eigenes Impfsüppchen gekocht hätten?« URL: https://www.fr.de/kultur/tv-kino/hart-aber-fair-ard-frank-plasberg-jan-fleischhauer-focuscoronavirus-impfstoff-eu-tv-kritik-90196616.html / letzter Zugriff am 15. 02. 2021. 52 »Impf-Verzögerung: Lehrer und Erzieher warnen vor Schließungen.« URL: https://www.br.de /nachrichten/deutschland-welt/verzoegerung-bei-corona-impfung-lehrer-und-erzieher-war nen-vor-schliessungen,STEfLXZ / letzter Zugriff am 02. 04. 2021. 53 »Fleischmann, die kürzlich mit einem Impf-Ultimatum an die Staatsregierung für Wirbel gesorgt hatte, richtete im Namen der Lehrerinnen und Lehrer erneut eine deutliche Forderung an die Politik: ›Wenn wir unseren Fuß nach den Osterferien in die Schulen setzen sollen, brauchen wir Impfangebote.‹« URL: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-wel t/verzoegerung-bei-corona-impfung-lehrer-und-erzieher-warnen-vor-schliessungen,STEfL XZ / letzter Zugriff am 02. 04. 2021. 54 »Droht ein Impfkrieg zwischen der EU und Großbritannien?« URL: https://www.luzernerzei tung.ch/international/exportverbot-eu-vs-astrazeneca-eskaliert-der-streit-zum-impfstoff-kr ieg-mit-grossbritannien-ld.2091846 / letzter Zugriff am 28. 01. 2021. 55 »Den Liberalen stößt auf, dass die Länder ›Impfstoffpolster‹ ansammeln, während die Lieferungen an Vertragsarztpraxen begrenzt werden«. URL: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/a strazeneca-biontech-moderna-vier-millionen-impfdosen-ungenutzt-17291586.html / letzter Zugriff am 15.04. 2021. 56 »Überfälle auf Transporter, Fälschungen, Panscherei: Interpol warnt vor Impfstoff-Mafia« URL: https://www.bild.de/news/inland/news-inland/ueberfaelle-faelschungen-panscherei-in terpol-warnt-vor-impfstoff-mafia-74559714.bild.html / letzter Zugriff am 21. 12. 2020. 57 »Wir werden Diebstähle und Lagereinbrüche sehen und Überfälle auf Impfstoff-Transporte. Ein Virus breitet sich von Asien über alle Kontinente aus – und ihm folgt eine Kriminalitätswelle, sozusagen eine Parallel-Pandemie des Verbrechens.« URL: https://www.bild.de/ne ws/inland/news-inland/ueberfaelle-faelschungen-panscherei-interpol-warnt-vor-impfstoffmafia-74559714.bild.html / letzter Zugriff am 21. 12. 2020.

Facetten des Impf-Diskurses im Corona-Kontext

VI.

111

Enttäuschung/ Verzweiflung/ steigende Impfskepsis (Impfreaktionen und unerwünschte Nebenwirkungen nach der Impfung)

die Impfnebenwirkungen, die Impfreaktion/en, die Impffolge/n, die Corona-ImpfDebatte, die Impfskepsis, der Impf-Skeptiker/Impfskeptiker, die Impf-Kritik, die Impfanreize58, das Impfrisiko59, der Impfdetektiv/e60, der Impfgipfel61, die Impfpflicht, der Impfwille62 VII.

Kritik des Impfens/ der Impfkampagne (›Wir impfen uns nicht‹-Haltung)

der Impfmuffel63, die Impfverweigerung, der Impf-Verweigerer/ Impfverweigerer, die Impfverweigerin64, der Impfgegner, impfkritisch, die Impfkritik, die Impfokalypse65, der Impf-Unsinn66, die Antiimpfbewegung/ Anti-Impf-Bewegung, der

58 »Deutsche halten Impfanreize für unfair. Soll man Menschen, die beim Impfen zögern, mit Prämien locken?« URL: https://www.spiegel.de/gesundheit/corona-umfrage-mehrheit-haelt -impfanreize-fuer-unfair-a-66097f4c-80d7-4370-968b-a7391be4893f ?sara_ecid=soci_upd_j 5FMWycn2aPum0F4COc40xUTUfLybp&fbclid=IwAR2HE95nkMiK6ISA0Ne28HPmh5tNO HLIZemFrQQTNwdQmGU2wnM_g19uzUM / letzter Zugriff am 08. 07. 2021. 59 »Unsicherheit bei Astra-Zeneca: Freiwillig ins Impfrisiko?« URL: https://www.faz.net/aktuell /wirtschaft/impfstoff-von-astra-zeneca-die-unsicherheit-sorgt-fuer-unmut-17248542.html / letzter Zugriff am 16. 03. 2021. 60 »Nebenwirkung bei Astra-Zeneca?: Die Suche der Impfdetektive […] Geht von dem AstraZeneca-Impfstoff wirklich eine ungewöhnliche Gefahr aus? Die Suche nach den medizinischen Ursachen wird schwierig. Experten sagen: Das Problem hätte auch ohne Impfung auftreten können.« URL: https://www.faz.net/aktuell/wissen/nebenwirkung-bei-astrazeneca -impfstoff-spurensuche-bei-der-ema-17247571.html / letzter Zugriff am 16. 03. 2021. 61 »Dann ist Freitag Impfgipfel, wo wir unter den 16 Ländern gemeinsam beraten. Wegen möglicher Gesundheitsrisiken sind Impfungen mit dem Astra-Zeneca-Stoff in Deutschland seit Montag ausgesetzt.« URL: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavi rus/laschet-fordert-nach-astrazeneca-impfstopp-schnellere-impfung-17249075.html / letzter Zugriff am 17. 03. 2021. 62 »Impfwille lässt deutlich nach. Herausforderung für Impfzentren: Feste Impftermine werden immer öfter nicht wahrgenommen.« URL: https://www.swr.de/swraktuell/baden -wuerttemberg/suedbaden/impfzentren-freiburg-und-waldshut-impfwille-laesst-deutlich -nach-100.html / letzter Zugriff am 15. 07. 2021. 63 »Um Atem ringende Frau: Australien will mit Schockvideo Impfmuffel aufrütteln.« URL: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/corona-impfungen-in-aust ralien-drastisches-video-soll-aufruetteln-17433866.html / letzter Zugriff am 12. 07. 2021. 64 »An dieser Stelle argumentieren Impfverweigerer mit dem Zwang durch sozialen Druck. Sie fühlen sich ausgegrenzt, geradezu geächtet. Dazu meine ich persönlich: Es ist ganz allein meine Sache, ob ich eine Impfverweigerin zur Begrüßung küssen will. So wie ich auch selbst entscheiden darf, ob ich meine Freizeit mit Fußballfans, Kunstliebhaberinnen oder Hobbyköchen verbringen möchte.« URL: https://www.higgs.ch/wer-wird-zur-covid-impfung-gezw ungen/43387/ / letzter Zugriff am 30. 06. 2021. 65 »Lügen über Covid-19: Wie Facebook die Impfokalypse verhindern will.« URL: https://www. sueddeutsche.de/digital/facebook-corona-impfung-desinformation-1.5202750 / letzter Zugriff am 15. 06. 2021.

112

Anna Dargiewicz

Impfzwang, die Zwangsimpfungen, die Anti-Impf-Kommentare, die Anti-ImpfPartei67, das Anti-Impfzwang-Volksbegehren, die Anti-Impfpflicht-Initiative, die Impf-Freiheit, impffrei, die Impffeindlichkeit VIII.

Die Eintrittskarte zur Freiheit – Grüner Pass

das Impfregister, das Impfheftchen, das Impfheft, der Impfpass, der EU-Impfpass, der Impfausweis, der Impfnachweis, der Corona-Impfnachweis, das Impfbuch/ Impfbücher, die Impfnachweis-App/s, das Impfzertifikat, der Impfanreiz68, der Impfstatus, das Impfprotokollierungssystem69, Corona-Impfprivilegien70 IX.

Aussichten für die Zukunft (Schwangere- und Kinderimpfungen)

die Impfempfehlung71, die Impfstoffkonzentration, die Kinder-Impfungen, der Kinderimpfstoff, der Kinder-Jugendimpfstoff, die Neu-Impfung72, die Impfauffrischung, die Auffrischimpfung, die Auffrischungsimpfung73, Impf-Auffrischung, das Impfziel74

66 »Instagram ist immer noch voller Impf-Unsinn. Wer dort nach ›vaccine‹ sucht, bekommt an prominenter Position etliche Accounts angezeigt, die Lügen verbreiten und Panik schüren.« URL: https://www.sueddeutsche.de/digital/facebook-corona-impfung-desinformation-1.520 2750 / letzter Zugriff am 13. 02. 2021. 67 »Die Anti-Impf-Partei: […] ›Die Impfkampagne muss sofort beendet werden!‹« URL: https://www.fr.de/meinung/kolumnen/die-anti-impf-partei-90847641.html / letzter Zugriff am 14. 07. 2021. 68 »Die Regierung in Bozen hofft, dass der zu Monatsbeginn europaweit eingeführte Green Pass ein zusätzlicher Impfanreiz ist.« URL: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesu ndheit/coronavirus/corona-impfungen-in-suedtirol-kampf-gegen-impfskeptiker-174194 06.html / letzter Zugriff am 13. 07. 2021. 69 »Dem Ministerium zufolge werden alle digitalen Impfnachweise ›nur temporär im Impfprotokollierungssystem erstellt und anschließend gelöscht‹.« Eine dauerhafte Speicherung sei »›nur dezentral auf den Smartphones der Nutzer vorgesehen‹.« URL: https://www.br.de/nachrichten /bayern/digitale-corona-impfnachweise-ausgabe-in-apotheken-startet,Sa7hfBh / letzter Zugriff am 15.06. 2021. 70 »Corona-Impfprivilegien: Freiheit aus der Spritze. Falls Geimpfte nicht mehr ansteckend sind, kann der Staat kaum noch in ihre Grundrechte eingreifen. Privatunternehmen können sowieso privilegieren.« URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-01/corona-impfpri vilegien-verfassung-arbeitsrecht-impfpflicht / letzter Zugriff am 09. 01. 2021. 71 »Die aktuelle Impfempfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) stammt von Anfang April und empfiehlt die Impfung für Schwangere nicht generell – schließt sie aber auch nicht ausdrücklich aus.« (Stand 8.05.21) URL: https://www.zeit.de/gesundheit/zeit-doctor/2021-0 5/corona-impfung-schwangere-babys-geburtshelferin-priorisierung?utm_content=zeitde_r edpost_zon_link_sf&utm_referrer=facebook&utm_campaign=ref&utm_term=facebook_z onaudev_int&utm_source=facebook_zonaudev_int&wt_zmc=sm.int.zonaudev.facebook.re f.zeitde.redpost_zon.link.sf&utm_medium=sm&fbclid=IwAR0Z5mYo03sjPMptfOi1VZfPm bopE36oc9ax4Nio1-1Jy7B1nJonewT_T9c / letzter Zugriff am 08. 05. 2021.

Facetten des Impf-Diskurses im Corona-Kontext

113

Ein Teil der aufgelisteten Impfbildungen wurde zwecks besserer Rezeption mit einer Anmerkung versehen, in der der bestimmte Begriff im Kontext präsentiert wurde. Dies sollte auch darüber Klarheit verschaffen, warum der konkrete Begriff in die jeweilige semantische Gruppe eingeordnet wurde.

4.2

Interpretation der Analyseergebnisse

In der von dem Impfthema beherrschten Medienberichterstattung begegnet man immer wieder auffallenden – öfter ad hoc geformten – Wortbildungen, die ihren Autoren erlauben, bestimmte Phasen der weltweit durchgeführten CoronaImpfungen in Worte zu fassen. Davon, dass es sich im Falle des analysierten Korpus häufig um Gelegenheitsbildungen handelt, zeugt u. a. ihre nicht normierte Schreibweise. Viele Korpusbelege (die sogar aus demselben Text exzerpiert wurden) fallen durch eine doppelte Schreibweise auf: der Impfvordrängler/ Impf-Vordrängler, Impfstoffnationalismus/ Impfstoff-Nationalismus, Impferlösung/ Impf-Erlösung, Antiimpfbewegung/ Anti-Impf-Bewegung, Impf-Verweigerer/ Impfverweigerer. Sie werden situationsabhängig geschaffen, über ihre graphische Form entscheiden ihre Gestalter. Durch die Bindestrichschreibung wird die Neuartigkeit und Auffälligkeit des Kompositums sowie seine Aussage hervorgehoben. Dadurch gewinnt die Zusammensetzung an Transparenz, was kommunikativen Zwecken dient. Ihre Rezeption ist dadurch auch leichter.75 Anhand der angeführten Korpusbelege wurden neun semantische Gruppen der Impfbildungen definiert, die sich als Phasen des Impfdiskurses identifizieren lassen. Nach der Vorbereitungs-Zulassungsphase, die die Welt in Atem hielt, kam die Impferlösung/Impf-Erlösung. Die Welt stürzte sich folglich in den Impfpro72 »Ein wahrscheinliches Szenario ist, dass es die Notwendigkeit einer dritten Dosis geben wird, irgendwo zwischen sechs und zwölf Monaten, und danach eine jährliche Neu-Impfung, aber all das muss noch bestätigt werden.« URL: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesund heit/coronavirus/corona-impfungen-in-australien-drastisches-video-soll-aufruetteln-17433 866.html / letzter Zugriff am 12. 07. 2021. 73 »Auffrischungsimpfung laut Pfizer und BioNTech wahrscheinlich nötig« URL: https://www.zei t.de/wissen/2021-07/coronavirus-impfstoff-pfizer-biontech-auffrischungsimpfung / letzter Zugriff am 13. 07. 2021. 74 »RKI setzt Impfziel: Hohe Impfquote wegen Delta nötig« – (RKI (Robert Koch-Institut) ist die zentrale Einrichtung der Bundesregierung auf dem Gebiet der Krankheitsüberwachung und -prävention.) URL: https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-rki-setzt-impfzielhohe-impfquote-wegen-delta-noetig-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210705-99-26290 6 / letzter Zugriff am 05. 07. 2021. 75 Vgl. Dargiewicz, Anna: Fremde Elemente in Wortbildungen des Deutschen: Zu Hybridbildungen in der deutschen Gegenwartssprache am Beispiel einer raumgebundenen Untersuchung in der Universitäts- und Hansestadt Greifswald. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang Verlag 2013, S. 250–253.

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Anna Dargiewicz

zess, der seine verschiedenen Facetten zum Vorschein kommen ließ. Von der Begeisterungsphase in Bezug auf die Corona-besiegende Impfaktion geriet die Welt in die Problemphase. Zunächst erlässt man die Impfverordnung, gestaltet das Impfprogramm, führt die Impf-Priorisierung ein, wodurch die Impfreihenfolge bestimmt werden kann, kämpft tüchtig an der Impffront, unterstützt mit Zusatz-Impfdosen impfschwache Regionen, organisiert Impfzentren, Pop-upImpfzentren, Impf-›Drive-Ins‹ und Impfstraßen, schlägt Impf-Tagesrekorde im hohen Impftempo, schaltet sogar den Impfturbo ein, dank dessen Impf-Champions und Impf-Spitzenreiter verzeichnet werden können. Nach dem Motto »Wir müssen ›die Impfwelle vor die Infektionswelle bringen‹«76 wird in die Impf-Offensive umgeschaltet. Nur durch Impfbereitschaft, Massen-Impfungen und mit starker Impfmannschaft macht man Impffortschritt und wird zum Impf-Gewinner. Mit der Zeit verflog aber der Elan der ersten Stunde. Der Kampf um Impftermine, ungeduldige Impfdrängler/Impfvordrängler, immer wieder ausbrechende Impfskandale, Komplikationen bei Lieferung der Impfstoffe, Verbreitung des Impfstoffnationalismus, der zum Impfstreit und Impfstoffkrieg führe, Enttäuschung wegen Impf-Verzögerungen, Verzweiflung und steigende Impfskepsis wegen der Impfreaktionen und der unerwünschten Nebenwirkungen nach der Impfung haben verursacht, dass sich kritische Stimmen in Bezug auf die Impfstoffsicherheit, -wirksamkeit und Impfstrategie mehren. Der Impfwille, freiwillig das Impfrisiko einzugehen, hat deutlich nachgelassen. Die Diskussionen über eine mögliche Impfpflicht gegen das Coronavirus verursachen, dass die Zahl der Anti-Impf-Kommentare im medialen Diskurs regelmäßig steigt. Impfgegner und Impf-Verweigerer üben starke Impfkritik an der Corona-Impfkampagne. Ausdrücke wie Impfokalypse, Impfzwang, Zwangsimpfungen ermuntern die Impfmuffel nicht dazu, auf ihre Impf-Freiheit angesichts der aufs Neue anrollenden nächsten (genau vierten) Corona-Welle im Herbst 2021 zu verzichten. Während dieser Skepsis- und Kritikphase erscheint wie eine Oase der Grüne Pass – der EUImpfpass. Mit dem digitalen Nachweis in Form eines Impfzertifikats schafft man sich die Eintrittskarte zur Freiheit. Und das ist die Phase, in der sich die Menschen gerade befinden. Angespornt von Corona-Impfprivilegien wollten viele ihren Impfstatus unbedingt nachweisen und das im letzten Jahr Verpasste nachholen. Wie sind die Zukunftsaussichten? Auf der Tagesordnung stehen die Impfempfehlung für Schwangere – es wurde bislang keine generelle Impfempfehlung für Schwangere ausgesprochen – Studien für einen Kinder-Jugend-

76 URL: https://www.ardmediathek.de/phoenix/video/phoenix-vor-ort/wir-muessen-die-impf welle-vor-die-infektionswelle-bringen/phoenix/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLTEzMz Q5ZDk5LThlZWEtNGY5OC05NzI3LWE4MWNjYzJlN2Q3ZA/ / letzter Zugriff am 02. 03. 2021.

Facetten des Impf-Diskurses im Corona-Kontext

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impfstoff, Impfauffrischung/Drittimpfung bzw. Neu-Impfung.77 Das aus dem medialen Diskurs zu ersehende Impfziel ist klar gesetzt und ernst zu nehmen: »Hohe Corona-Impfquote wegen Delta nötig.«78 Aus diesem Grund wirbt auch der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer am 14. Juli 2021 veröffentlichten Videobotschaft ausdrücklich für Covid-19-Impfungen: […] Jeden Tag, mit jeder Impfung befreien wir uns ein Stück mehr aus den Fängen der Pandemie und holen uns unser Leben zurück. Die Mehrheit in unserem Land hat die erste Impfung schon erhalten. Viele konnten den Impftermin kaum erwarten, so wie ich selbst. Manche haben mit sich gerungen und sich dann doch dafür entschieden. Dafür danke ich Ihnen. Jetzt kommt es darauf an, dass möglichst viele Ihrem Beispiel folgen. Deshalb bitte ich all diejenigen, die noch unsicher sind: Lassen Sie sich impfen! Lassen wir nicht nach! […] Zeigen Sie Verantwortung für sich und für andere. Lassen Sie sich impfen! 79

Der Impfprozess dauert an. Das Virus mutiert und es tauchen immer neuere Varianten auf. Der Anteil der Delta-Variante, die wesentlich ansteckender als die bislang verbreiteten Coronavirus-Varianten ist, nimmt rasch zu. Somit ist bezüglich der Impffrage noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es werden weitere Phasen folgen, die sprachlich bewältigt werden müssen. Man wird dann weiterhin an der Sprache den emotionalen Zustand, die Stimmung und die Gesinnung ihrer Nutzer ablesen können.

5

Resümee80

Im Beitrag sollte die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden, welch unterschiedliche Einstellungen mithilfe der im Impfdiskurs genutzten Wortbildungen ausgedrückt werden. Überdies wird verwiesen auf die unverkennbare Rolle der Wortbildung – dem durchaus produktivsten und kreativsten Feld der deutschen Sprache – bei der sprachlichen Erfassung der uns umgebenden, fortwährend variierenden Wirklichkeit. Immer wenn die dringende Notwendigkeit 77 »Auffrischungsimpfung laut Pfizer und BioNTech wahrscheinlich nötig« URL: https://www. zeit.de/wissen/2021-07/coronavirus-impfstoff-pfizer-biontech-auffrischungsimpfung / letzter Zugriff am 13. 07. 2021. 78 URL: https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Hohe-Corona-Impfquote-wegen-Delta-noetig421082.html / letzter Zugriff am 18. 07. 2021. 79 URL: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/07/21071 4-Videobotschaft-Impfaufruf.html / letzter Zugriff am 15. 07. 2021. 80 The publication was written as a result of the author’s internship in Greifswald (at the University of Greifswald), co-financed by the European Union under the European Social Fund (Operational Program Knowledge Education Development), carried out in the project Development Program at the University of Warmia and Mazury in Olsztyn (POWR.03.05.0000-Z310/17).

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Anna Dargiewicz

entsteht, der neuen Realität sprachlichen Ausdruck zu verleihen, hat man die Wortbildungsregeln parat. Dank der informationsverdichtenden, sprachökonomischen und auch reihenbildenden Funktion dieses Verfahrens können wir uns sprachlich mit allen kommunikativen Kontexten effektiv auseinandersetzen. Die Korpusbeispiele zeigen nur einen kleinen Auszug der Möglichkeiten. Egal, in welcher Phase der Pandemie sich die Welt befindet, man muss mit dem Weltgeschehen sprachlich Schritt halten. Die Alternativlösungen, die den Sprachbenutzern die Wortbildung diesbezüglich zur Verfügung stellt, sind unschätzbar. Insofern will die vorliegende Untersuchung auch einen Beitrag zur Erforschung der von der neuen (Ab)normalität81 erzwungenen Sprachwandelprozesse hinsichtlich Umfang und Dynamik leisten.

Literatur Dargiewicz, Anna: Fremde Elemente in Wortbildungen des Deutschen: Zu Hybridbildungen in der deutschen Gegenwartssprache am Beispiel einer raumgebundenen Untersuchung in der Universitäts- und Hansestadt Greifswald. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang Verlag 2013. Donalies, Elke: Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick. Tübingen: Günter Narr Verlag 2002. Fleischer, Wolfgang: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Niemeyer 1982. Fleischer, Wolfgang/Barz, Irmhild: Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4. völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin/Boston: De Gruyter Studium 2012. Klosa-Kückelhaus, Anette: Neue Wörter in der Coronakrise – von Social Distancing und Gabenzaun. In: »Sprachreport« Nr. 1, Jg. 36/2020a, S. 1–5. Misik, Robert: Die neue (Ab)normalität. Unser verrücktes Leben in der pandemischen Gesellschaft. Wien: Picus Verlag 2021.

Weiterführende Literatur Barz, Irmhild/Schröder, Marianne/Fix, Ulla (Hg.): Praxis- und Integrationsfelder der Wortbildungsforschung, Sprache – Literatur und Geschichte, Bd. 18. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2000. Dargiewicz, Anna: Wie die Deutschen wortbilden. Zur Bindestrichzusammensetzung als populärem Wortbildungsverfahren der modernen deutschen Sprache. In: »Studia Niemcoznawcze (Studien zur Deutschkunde)« L/2012, S. 643–653.

81 Vgl. Misik, Robert: Die neue (Ab)normalität. Unser verrücktes Leben in der pandemischen Gesellschaft. Wien: Picus Verlag 2021, Titelseite.

Facetten des Impf-Diskurses im Corona-Kontext

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Dargiewicz, Anna: Metaphorische Komposita mit den Komponenten ›Asylant‹ und ›Flüchtling‹ im deutschen medialen Flüchtlingsdiskurs. In: »Prace Je˛zykoznawcze« XX/ 3/2018, S. 19–42. Dargiewicz, Anna: Frames und ihre Wirkung. Eine Analyse am Beispiel des Migrationsdiskurses. In: »Prace Je˛zykoznawcze« XXII/1/2020, S. 5–26. Dargiewicz, Anna: Emotionale Wirkung(en) von Medienframes. In: »Linguistische Treffen in Wrocław« Vol. 19/2021 (I), S. 37–52. Donalies, Elke: Basiswissen. Deutsche Wortbildung. Tübingen/Basel: A. Francke Verlag 2007. Eichinger, Ludwig M. (Hrsg.): Wortbildung heute. Tendenzen und Kontraste in der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2008. Elsen, Hilke: Neologismen. Formen und Funktionen neuer Wörter in verschiedenen Varietäten des Deutschen. Tübingen: Gunter Narr 2004. Erben, Johannes: Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin: Schmidt 2006 [1975]. Grucza, Franciszek: Je˛zyk, ludzkie włas´ciwos´ci je˛zykowe, je˛zykowa zdolnos´c´ ludzi [Sprache, menschliche Spracheigenschaften, sprachliche Fähigkeiten von Menschen]. In: Piontek, Janusz/Wiercin´ska, Alina (Hrsg.): Człowiek w perspektywie uje˛c´ biokulturowych [Der Mensch in der Perspektive biokultureller Aufnahmen]. Poznan´: Wydawnictwo Naukowe UAM 1993, S. 151–174. Grucza, Sambor: Sprache(n) – Fachsprache(n) – Fachsprachendidaktik. In: »Studia Germanica Gedanensia« 22/2010, S. 31–46. Heller, Klaus: >Binde-Strich< und >Zergliederungs-Sucht