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German Pages [246] Year 2009
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Christoph Möller (Hg.)
Drogenmissbrauch im Jugendalter Ursachen und Auswirkungen
Mit 10 Abbildungen und 9 Tabellen 3., ergänzte Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-46228-7 © 2009, 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Layout, Gestaltung, Satz und Litho: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier
Inhalt
Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort von Michael Schulte-Markwort . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rainer Thomasius Drogenabhängigkeit bei Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Wolfgang Poser Zur Pharmakologie der Jugenddrogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gerald Hüther Kurzfristige Wirkungen und langfristige Folgen der Einnahme von Psychostimulanzien und Entaktogenen auf das sich entwickelnde Gehirn von Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Christoph Möller Stationäre und ambulante Therapieangebote für drogenabhängige Jugendliche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Amelie Welge, Birger Dulz, Nima Forouher Borderline-Persönlichkeitsstörung und Drogenabhängigkeit bei Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Heinz Häfner Cannabis- und Alkoholmissbrauch als Risikofaktoren für Ausbruch und Verlauf der Schizophrenie . . . . . . . . . . . . . 104
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Inhalt
Lutz Ulrich Besser Psychotraumata, Gehirn und Suchtentwicklung . . . . . . . . . . . 124 Annette Streeck-Fischer Adoleszenz – Delinquenz, Drogenmissbrauch . . . . . . . . . . . . 168 Udo Schneider Cannabisabhängigkeit bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Christoph Möller Internetsucht / Computersucht bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Für Kirsten, Laura und Anna
Vorwort des Herausgebers
Der Drogenkonsum ist gegenwärtig eines der größten Risiken für die altersgerechte Entwicklung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Alle Personen, die sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen, müssen sich mit der Problematik des Drogenmissbrauchs und deren Folgen auseinander setzen. Hier besteht ein erheblicher Informationsbedarf. In den letzten Jahren mehren sich Berichte über Kinder und Jugendliche, die drohen, sich in der Welt des Internet und der Computerspiele zu verlieren. Der Problematik sogenannter »Internet- und Computersucht« ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Der Drogenmissbrauch im Kindes- und Jugendalter kann nicht unabhängig von entwicklungspsychologischen Aspekten dieses Lebensabschnitts betrachtet werden. Durch den Drogenkonsum wird die Gehirnentwicklung und die psychosoziale Entwicklung gravierend beeinflusst. Bei vielen drogenabhängigen Jugendlichen finden sich in der Vorgeschichte schwere Traumatisierungen – psychischer, physischer und sexueller Natur. Trauma und Drogenmissbrauch werden in der Literatur und der Behandlungspraxis häufig getrennt behandelt. Einem Drogenmissbrauch oder einer Abhängigkeit im Jugendalter liegt in der Regel eine schwere Grundstörung in Form seelischer Fehlentwicklungen oder komorbider Störungen zugrunde, was Auswirkungen auf die Behandlungspraxis hat. Die Thematik des Drogenmissbrauchs ist so komplex, dass es sinnvoll erschien, Fachleute für die jeweiligen Unterthemen zu gewinnen. An dieser Stelle sei den Autoren herzlich für ihre spontane Bereitschaft gedankt, sich mit einem Beitrag am Zustandekommen dieses Buches zu beteiligen.
Vorwort von Michael Schulte-Markwort
Die aktuellen Entwicklungen sind dramatisch: Der Drogenmissbrauch – insbesondere von Nikotin, Cannabis und Alkohol – hat unter Jugendlichen in Deutschland drastisch zugenommen. Kaum ein anderes Land in Europa geht mit der körperlichen und seelischen Gesundheit seiner Kinder in Bezug auf Drogen derart nachlässig um wie wir. Die jahrelange Bagatellisierung des Cannabiskonsums bei gleichzeitiger einseitiger Konzentration auf die so genannten »harten« Drogen (»harte« und »weiche« Drogen sind zynische Begriffe angesichts der gesundheitlichen Folgen aller Drogen) sowie die Unfähigkeit der deutschen Politik, sich gegen die NikotinLobby zu stellen, zeitigen unverzeihliche Folgen. Darüber hinaus wird auch im klinisch-versorgenden Bereich deutlich, dass sich zu wenige Einrichtungen und Institutionen – etwa aus dem kinderund jugendpsychiatrischen Bereich – für die Versorgung drogenabhängiger Jugendlicher zuständig fühlen. Umso wichtiger ist es, dass sich Vertreter aus Klinik und Wissenschaft zu Wort melden, um mindestens der Fachöffentlichkeit Wissen und Mittel an die Hand zu geben, mit denen wir alle auf den Drogenkonsum im Kindes-(!) und Jugendalter reagieren können – und müssen. Das Jugendalter ist eine hochsensible und auch vulnerable Phase der Entwicklung. Jugendliche haben vielfältige komplexe psychische Aufgaben zu lösen und bewegen sich im Rahmen ihrer Suchbewegungen häufig an den Grenzen zu schädigendem und selbstschädigendem Verhalten. Die Aufgabe der Erwachsenen um sie herum ist es, einen Rahmen vorzugeben und zu halten, in dem das grenzüberschreitende Verhalten nicht nachhaltig schädigend werden kann. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um Jugendliche
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handelt, die psychisch vorgeschädigt sind und nicht mit den normalen Ressourcen in die Pubertät starten können. Alle emotional, körperlich oder sexuell misshandelten Jugendlichen sind es, denen unser besonderes Augenmerk in diesem Zusammenhang gelten muss. Deshalb muss der Sekundärprävention zukünftig sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden als bisher. Aus klinischen und wissenschaftlichen Erfahrungen wissen wir ausreichend, welche Risikofaktoren zu vermehrtem gefährdenden Verhalten und schlechten Prognosen nach der Etablierung von Suchterkrankungen und den dazu gehörigen komorbiden Störungen führen. Primärprävention stärkt die sowieso schon starken Kinder und Jugendlichen und erreicht die gefährdeten in der Regel nicht. Daher muss das Augenmerk mehr auf die Sekundärprävention und die Behandlung verlegt werden. Das Risiko der Suchtstoffe Nikotin, Alkohol und Cannabis für die weitere psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist in den letzten Jahren unterschätzt worden. So schlicht die Erkenntnis ist, dass Jugendliche, die nicht rauchen, auch nicht Cannabis rauchen, so schlicht könnten Maßnahmen umgesetzt werden, die es Kindern und Jugendlichen erleichtern, gar nicht erst mit dem Rauchen zu beginnen. Dieses Buch zum Drogenmissbrauch im Jugendalter schlägt einen Bogen von den Grundlagen der Hirnforschung und der Pharmakologie hin zur Drogenabhängigkeit mit allen komorbiden Facetten. Dieser Bogen wird ermöglicht durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Professionen, die ihre Felder zu dem Gesamtpuzzle zusammensetzen, mit dem man erst begreift, wie das Phänomen des Drogengebrauchs und -missbrauchs im Jugendalter zu verstehen und zu behandeln ist. Welche differenzierten stationären und ambulanten Behandlungsmöglichkeiten vorgehalten werden sollten und, wie das Beispiel »Teen Spirit Island« aus Hannover zeigt, auch umgesetzt werden können, beschreibt in seinem Beitrag Christoph Möller, dessen Verdienst es ist, dass dieses Buch entstehen konnte. Es wird deutlich, dass fundierte professionelle Erfahrungen vorliegen, die andernorts »nur« umgesetzt werden müssten. Wer dieses Buch gelesen hat, wird die vielfältigen Ursachen der Drogenabhängigkeit im Jugendalter besser verstehen können, er
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wird den Jugendlichen besser erklären können, in welcher Form sie sich schädigen, und er wird Perspektiven aufzeigen können, wie ein Weg aus der Abhängigkeit aussehen kann. Ich wünsche dem Buch eine große Verbreitung und Nachfolger, damit ein Thema, das man zurzeit gar nicht weit genug verbreiten kann, den notwendigen Stellenwert erfährt – für eine bessere psychische und körperliche Gesundheit unserer Kinder.
Rainer Thomasius
Drogenabhängigkeit bei Jugendlichen
In den letzten Jahren weisen Untersuchungen in Deutschland und anderen Ländern der EU weisen seit Jahren hohe Steigerungsraten beim Konsum legaler und illegaler Suchtmittel (Tabak, Alkohol, Cannabis, Ecstasy, Amphetamine, Kokain) durch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus. Einzig beim Cannabiskonsum sind in den letzten Jahren sinkende Prävalenzen zu verzeichnen (BZgA 2007; Hibell et al. 2009; Kraus et al. 2008). Junge Menschen geraten immer früher mit Suchtmitteln in Kontakt, das Einstiegsalter sinkt. Aus Beratungs- und Behandlungsstellen wird von besonders intensivem Konsum dieser Substanzen durch Jugendliche berichtet. Riskante Konsumformen sind mit teilweise erheblichen gesundheitlichen Folgen verbunden. So werden bei manchen jungen Konsumenten Entwicklungsstörungen infolge eines Substanzmissbrauchs beobachtet (ungünstige Auswirkungen des Substanzmissbrauchs auf die Persönlichkeitsentwicklung, Leistungsfähigkeit, Motivation etc.), des Weiteren psychische Störungen (depressive Störungen, Angststörungen, Psychosen etc.) und körperliche Erkrankungen (Hirnleistungsstörungen, Infektionen, Vergiftungen etc.). Heute stellen die Suchtstörungen eines der zahlenmäßig größten Risiken für die altersgerechte Entwicklung und Gesundheit im Kindes- und Jugendalter dar. Aus der klinischen Arbeit mit betroffenen Kindern und Jugendlichen ist bekannt, dass die Gründe für die Zunahme der Suchtstörungen in dieser Altersgruppe auf mehrere Einflüsse zurückzuführen sind: gestiegene Griffnähe (Konsumangebote in Freundeskreis und Nachbarschaft), veränderte Einstellungen und Erwartungshaltungen (»Spaßkultur«), konsumierende Peers, nachlassende
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soziale Kontrolle (gesellschaftliche und familiäre Funktionen), Substanzmissbrauch der Eltern sowie schwere seelische Traumatisierungen und Störungen im Kindes- und Jugendalter. Dieser Beitrag gibt eine kurz gefasste Darstellung über den aktuellen Forschungs- und Kenntnisstand zur Epidemiologie, Symptomatik, Komorbidität, Ätiologie und Pathogenese der Drogenabhängigkeit bei Jugendlichen sowie zu deren Behandlung und Verlauf.
Epidemiologie Zum Zeitpunkt der letzten Befragung der BZgA 2004 hatten in Deutschland 28 % der 12- bis 25-Jährigen Cannabis genommen. Männliche Jugendliche (35 %) hatten mehr Cannabiserfahrung als weibliche (27 %). Die Lebenszeit-Prävalenzen für andere illegale Drogen lagen deutlich niedriger (für psychoaktive Pflanzen oder Pilze 4 %, Ecstasy 4 %, Amphetamine 4 %, LSD 2 %, Kokain 2 %, Heroin 0,3 %, Crack 0,2 %). Seit Anfang der 1990er Jahre bis 2004 stieg der Anteil Drogen erfahrener Jugendlicher stetig an (von 17 % in der Zeit von 1973 bis 1989 auf 32 % im Jahr 2004). Im selben Zeitraum nahm auch der Anteil konsumbereiter Jugendlicher deutlich zu. 1993 sagten 26 % der Jugendlichen, man könne Cannabis probieren, 2004 waren dies 47 % (Ecstasy 4 % vs. 8 %, Amphetamine 6 % vs. 10 %, LSD 3 % vs. 5 %). Der aktuelle Drogengebrauch liegt in dieser Altersgruppe (nach einer vorübergehenden Steigerung auf das Doppelte der Werte in den 1990er Jahren) wieder bei 5 % (BzgA 2004). In jüngster Zeit wird europaweit ein rückläufiger Trend beim Cannabiskonsum beobachtet, der sich auch auf die Gesamtprävalenzen auswirkt (Hibell et al. 2009): In Deutschland ging der Anteil an Schülerinnen und Schüler der 9. und 10. Klasse, die angaben, jemals in ihrem Leben irgendeine illegale Droge (Cannabis, Amphetamine, Ecstasy, LSD, Kokain, Crack oder Heroin) probiert zu haben, seit 2003 zurück (32,7 % vs. 27,8 %). Die Lebenszeitprävalenz des Konsums illegaler Drogen außer Cannabis hat sich in dieser Gruppe hingegen seit 2003 kaum verändert. Für männliche Jugendliche und Gymnasiasten ist der Anteil derer mit Lebenszei-
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terfahrung von illegalen Drogen außer Cannabis statistisch signifikant gestiegen (Kraus et al. 2008). Die Wahrscheinlichkeit, Drogen auszuprobieren, nimmt mit dem Alter zu. Der Anteil 12- und 13-jähriger Jungen, die mit Cannabis Erfahrung aufweisen, liegt einer Umfrage der BZgA zufolge bei 0,7 %. Unter den 18- bis 19-jährigen sind dies 18,6 % (BZgA 2007). Eine besonders anfällige Gruppe für Drogenkonsum sind Jugendliche, die Tanzveranstaltungen besuchen. Die Lebenszeitprävalenzen liegen in Untersuchungen dieser Szenen je nach Substanz um das 4- bis 10-fache höher als in der altersgleichen Bevölkerung (vgl. Petersen u. Thomasius 2002). Europaweit lässt sich zudem beobachten, dass Drogenkonsum und andere Risikoverhaltensweisen insbesondere bei Jugendlichen mit niedrigem sozioökonomischen Status gehäuft auftreten (EMCDDA 2008). Epidemiologische Studien, die über eine Ermittlung der Häufigkeit des Rauschmittelkonsums hinausgehen und Aussagen zur Prävalenz von Missbrauchs- und Abhängigkeitsdiagnosen erlauben, sind mit einem hohen Aufwand verbunden und wurden bisher nicht bundesweit durchgeführt. Schätzungen gehen davon aus, dass aktuell 2,4 % der 12- bis 25-Jährigen in Deutschland mindestens ein ICD-10-Abhängigkeitskriterium erfüllen (Pfeiffer-Gerschel et al. 2008). Caldeira et al. (2008) diagnostizierten in ihrer Stichprobe amerikanischer College-Studenten zwischen 17 und 20 Jahren 4 % der Untersuchten eine Cannabisbhängigkeit und 5,4 % einen -missbrauch nach DSM-IV. In einer längsschnittlich angelegten Untersuchung von 3021 zufällig ausgewählten Probanden im Alter von 14 bis 24 Jahren aus dem Großraum München (Early Developmental Stages of Substance Problems) fand sich in der ersten Erhebungswelle (Perkonigg et al. 1997) ein Anteil von 2,9 % mit einer Missbrauchssymptomatik und ein Anteil von 2 % mit einer Abhängigkeitssymptomatik für illegale Drogen. 2,7 % erhielten die Diagnose Cannabismissbrauch und weitere 1,4 % die Diagnose Cannabisabhängigkeit (Kokain 0,3 % / 0,3 %, »Stimulanzien« 0,3 %/0,2 %). Bei der dritten Erhebung erfüllten 5,5 % die Kriterien eines Lebenszeit-Cannabismissbrauchs und 2, 2 % für eine Cannabisabhängigkeit (Stimulanzien 1,0 %/0,6 %, Kokain 1,0 %/0,5 %) (Sydow et al. 2002). Epidemiologische Angaben über
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das Ausmaß der Opioidabhängigkeit liegen in Deutschland nicht vor. Es ist davon auszugehen, dass die Prävalenz in der Gesamtbevölkerung deutlich unter 1 % liegt.
Symptomatik Unterscheidung zwischen Substanzgebrauch und -missbrauch In der Studie Early Developmental Stages of Substance Problems wurden die Diagnosen nach Kriterien der Internationalen Klassifikation für psychische Störungen ICD-10 (Dilling et al. 1993) erhoben. Die Brauchbarkeit dieser Kriterien ist für Jugendliche umstritten. Newcomb und Bentler (1989) haben für das Kindes- und Jugendalter vier entwicklungsbezogene Kriterien definiert, mit deren Hilfe der Substanzgebrauch vom Substanzmissbrauch abgegrenzt werden kann. – Substanz und Konsumumstände: Missbrauch liegt vor, wenn Substanzen mit hohem gesundheitlichen Risikopotential konsumiert werden. Außerdem ist der Konsum großer oder mittlerer Mengen über längere Zeit oder kleiner Mengen in unangemessenen Situationen (in der Schule, am Ausbildungsplatz, im Straßenverkehr etc.) bei Kindern und Jugendlichen als Missbrauch zu bewerten. – Person: Missbrauch besteht immer dann, wenn persönliche und physiologische Voraussetzungen für einen verantwortungsvollen Gebrauch bestimmter psychotroper Substanzen nicht erfüllt werden oder durch den Konsum die altersgerechte Entwicklung behindert wird (regelmäßiger Konsum vor der Pubertät, Konsum ohne relevante Wissens- und Entscheidungskompetenz etc.). – Reaktion: Als Missbrauch sind Anzeichen einer körperlichen Abhängigkeit zu bewerten, substanzbedingte Einschränkungen psychosozialer Funktionen sowie das Unvermögen, den Alltag ohne Substanzkonsum zu bewältigen. – Konsequenzen: Missbrauch liegt vor, wenn die Gesundheit durch den Konsum psychotroper Substanzen beeinträchtigt
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und soziale Beziehungen negativ beeinflusst werden oder Gewalttätigkeit auftritt und Rechtsbrüche erfolgen. In dem Modell von Comerzi (1987) werden fünf aufeinander folgende Stadien des Substanzgebrauchs beziehungsweise -missbrauchs unterschieden: – Gefährdung, – Experimentalstadium, – regelmäßiger Konsum ohne Kontrollverlust, – regelmäßiger Konsum mit Kontrollverlust, – abhängiger Konsum multipler Substanzen.
Progression Epidemiologische Studien zeigen, dass die Progression des Substanzkonsums bei rund 90 % aller Adoleszenten in einer konstanten Abfolge geschieht, wobei die späten Stadien nur von einer Minderheit erreicht werden: Alkohol – Nikotin – Cannabis – Amphetamine – Ecstasy – Kokain. Im Zuge der Bewältigung normativer Lebensübergänge geben viele junge Erwachsene den Konsum illegaler Drogen wieder auf, wenn sie in das Berufsleben einsteigen, eine Familie gründen oder Ähnliches (Pederson u. Skrondal 1999; Sutherland u. Willner 1998; Bauman u. Phongsavan 1999; Höfler et al. 1999; Lewinsohn et al. 1999; Fergusson u. Horwood 2000). Eine Untergruppe Substanz erfahrener Jugendlicher steigt in einem sehr frühen Lebensalter in den Substanzmissbrauch ein, weist bald intensive Konsummuster auf und durchläuft die Progression von einer zur nächsten Substanz sehr rasch (Kandel 1978; Yamaguchi u. Kandel 1984). In klinischen Studien geben diese Jugendlichen an, dass sie durch den anfänglichen Konsum psychoaktiver Substanzen Zugang zu neuen, positiv bewerteten Erlebnisformen gefunden hätten. Von Betroffenen wird die Integration in eine Substanzen konsumierende Jugendszene bereichernd erlebt. Negative Auswirkungen auf die Gesundheit werden zu diesem (frühen) Zeitpunkt des Substanzkonsums nicht reflektiert. Einigen Jugendlichen sind die gesundheitlichen und sozialen Folgen des Substanzmiss-
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brauchs zwar bewusst, dies führt aber nicht immer zu Handlungskonsequenzen. Wenn sich aus sporadischem Substanzgebrauch ein regelmäßiger Missbrauch entwickelt, können körperliche Toleranzphänomene erhöhten und teilweise täglichen Substanzkonsum nach sich ziehen. Die Gründe für den Substanzkonsum ändern sich in dieser Phase. Neugier, Anpassungsdruck oder die Suche nach ungewöhnlichen und anregenden Reizen treten als Konsummotive immer mehr in den Hintergrund. Beim fortgesetzten Substanzmissbrauch sind die Beeinflussung von negativen Emotionen und Affekten, das starke innere Verlangen nach bestimmten Substanzen (Craving) und die Vermeidung von Entzugssymptomen wichtige Konsummotive. Fortgesetzter Substanzmissbrauch wirkt sich auf eventuelle Entwicklungsstörungen, intrapsychische und interpersonale Konflikte sowie soziale Probleme zum Nachteil der Betroffenen aus. Im Fall fortgeschrittenen Substanzmissbrauchs geben manche Jugendliche das normative Verhältnis zu Sozialsystemen endgültig auf. Gesellschaftliche Identifikations- und Statusanreize verlieren zu diesem Zeitpunkt an persönlichem Wert. Repräsentanzen tragfähiger gesellschaftlicher Normen werden nun für ungültig erklärt (vgl. Kandel 1996; Silbereisen 1995).
Hinweise auf Substanzmissbrauch und Behandlungsgründe Hinweise auf einen Substanzmissbrauch geben einige mehr oder weniger substanzunspezifische Verhaltensmerkmale und Umgebungsfaktoren: Leistungseinbußen in Schul- und Berufsausbildung; veränderte Muster in der Beziehungsaufnahme und –gestaltung, Rückzug aus sozialen Kontakten (auch im Elternhaus); Störungen des Sozialverhaltens mit Impulsdurchbrüchen, Aggressivität, Affektlabilität; Veränderung von Freizeitinteressen; Anschluss an Gleichaltrige mit einem Substanzmissbrauch; Auffinden bestimmter Zubereitungen von Tabakprodukten, alkoholischen Getränken, botanischen, halbsynthetischen und synthetischen Drogen (diverse Harze, Pflanzen, Pilze, Samen, Lösungen, Tabletten, Pulver, bedrucktes Löschpapier etc.) wie auch Applika-
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tionsutensilien (Zigarettenpapier, Silberfolie, Kerze, Löffel, Spritzenbesteck, Schlauch, Glaspfeife etc.); Auftreten von substanzinduzierten psychopathologischen Syndromen und körperlichen Folgeerkrankungen. Die Gründe für eine Überweisung des betroffenen Jugendlichen an eine Behandlungseinrichtung sind vielfältig. Konflikte mit Eltern, Lehrern und Vorgesetzten infolge des Substanzmissbrauchs sind der häufigste Vorstellungsgrund. Weitere Anlässe sind psychische Beschwerden, Leistungsstörungen, negative Rauscherfahrungen sowie substanzinduzierte psychiatrische Erkrankungen. Die Konfrontation mit justiziellen Konsequenzen oder auch körperliche Folgen und Langzeitschäden des Substanzmissbrauchs sind weitere Gründe (Wiedenmann et al. 2001).
Komorbidität In klinischen Kollektiven weisen substanzmissbrauchende Kinder und Jugendliche häufig komorbide psychische Störungen auf. In Behandlungsstichproben wird am häufigsten eine Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert. Die Prävalenzraten variieren je nach Untersuchung zwischen 28 % und 62 %. Eine weitere wichtige Gruppe bilden substanzmissbrauchende Adoleszente mit depressiven Störungen (16 % bis 61 %). Bei etwa 12 % bis 38 % der substanzmissbrauchenden Jugendlichen findet man Hinweise für das Bestehen aller drei Komorbiditätsdiagnosen (Substanzmissbrauch, Verhaltensstörung, affektive Störung). Vergleichsweise deutlich niedriger – aber immer noch signifikant erhöht gegenüber nicht substanzmissbrauchenden Gleichaltrigen – liegen die Prävalenzraten für Angststörungen, sozialphobische Störungen, Essstörungen (insbesondere Binge-Eating/Purting-Typ und Bulimia nervosa), beginnende Borderline-Persönlichkeitsstörungen, drogeninduzierte Psychosen (Cannabis, Ecstasy, Amphetamine, Kokain, LSD) und schizophrene Psychosen (Clark et al. 1995; Holderness et al. 1994; Hovens et al. 1994; Strober et al. 1996; Clark u. Neighbors 1996; Kaminer 1996). Einzelnen Berichten aus deutschen stationären Behandlungseinrichtungen zufolge, hat der Anteil junger Substanzabhängi-
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ger mit solchen schweren psychischen Begleitstörungen in der Vergangenheit zugenommen (Huck 1993; Jung 2000). In einer Untersuchung im stationären Drogenentzug wurden komorbide psychische Störungen bei Jugendlichen in mehr als 60 % der Fälle diagnostiziert (Thomasius 1996). Die komplexen Zusammenhänge zwischen Substanzmissbrauch und komorbiden psychischen Störungen sind für das Jugendalter weitgehend unerforscht. Bereits die Frage, ob komorbide Störungen dem Substanzmissbrauch vorausgehen und dessen Auftreten begünstigen oder ob der Substanzmissbrauch das Auftreten von komorbiden Störungen begünstigt oder ob ein dritter Faktor für beide Störungen verantwortlich ist, lässt sich nicht sicher beantworten. Familien-, Adoptions- und Zwillingsstudien sowie andere Untersuchungen, die Aufschluss über den Einfluss genetischer und umweltbedingter Belastungen geben, sind bei Jugendlichen mit einem Substanzmissbrauch nur sehr selten durchgeführt worden. Empirisch gut belegt ist lediglich der Umstand, dass einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung, die im Erwachsenenalter eng mit einem Substanzmissbrauch assoziiert ist (vgl. Driessen u. Hill 1998; Thomasius 1998), häufig eine Störung des Sozialverhaltens im Kindesalter vorausgeht (Robins u. Ratcliff 1979; Mannuzza et al. 1993). Bei jungen Frauen mit einer vorausgegangenen Verhaltensstörung im Jugendalter werden häufiger depressive Störungen oder Angststörungen diagnostiziert (Zoccolillo 1992), die wiederum geschlechtsspezifisch mit dem Substanzmissbrauch korrelieren (Übersicht bei Maier et al. 1999). Des Weiteren begünstigt wahrscheinlich die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindesalter späteren Substanzmissbrauch. Offenbar ist ADHS nur in jenen Fällen ein wichtiger Prädiktor für Substanzmissbrauch, wenn primäre Symptome des Syndroms (Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität, Hyperaktivität) die Adoleszenz überdauern und bis in das Erwachsenenalter fortbestehen oder wenn sich die hyperkinetische Störung in späteren Lebensabschnitten in Gestalt einer dissozialen Störung manifestiert (Caroll u. Rounsaville 1993; DeMilio 1989; Mannuzza et al. 1993; Chilcoat u. Breslau 1999).
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Ätiologie und Pathogenese Nicht jeder Konsum von illegalen Drogen (oder von Alkohol und Tabak) mündet zwangsläufig in Substanzabhängigkeit. Das Risiko, süchtig zu werden, ist von vielen Faktoren abhängig. Gefährdet sind vor allem jene Jugendliche, die bereits in ihrer Kindheit besonderen inneren und äußeren Belastungen ausgesetzt gewesen waren. In Folgenden werden die für die Erklärung des Drogenmissbrauchs Jugendlicher besonders wichtigen Modelle – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – diskutiert (Übersicht bei Thomasius 2004).
Multifaktorielles Ätiologiemodell Die verschiedenen Erklärungsmodelle über die Entstehung von Substanzstörungen richten sich stark am zugrunde liegenden Forschungsansatz (biologisch, psychobiologisch, psychologisch, sozialpsychologisch, sozialwissenschaftlich), den untersuchten Substanzen und Konsumkontexten und der rekrutierten Teilpopulation aus. Ein allgemein gültiges Ätiologiemodell der Substanzstörungen steht bis heute aus. Daher versucht man, unter dem Begriff eines multifaktoriellen Bedingungsgefüges verschiedene Befunde zu einer vorläufigen Hypothese über die Ätiologie der Substanzstörungen zu integrieren. Im Hinblick auf eine Anwendbarkeit auf das Jugendalter sind die Modelle in jeweils unterschiedlichem Maß brauchbar. In der aktuellen biologischen Suchtforschung werden vorwiegend diese Ansätze verfolgt (vgl. Rommelspacher 2009): – Tiermodelle zu positiven und negativen Verstärkermechanismen, – Modelle zum Alkohol- und Drogenverlangen (Craving), – Modelle zum mesolimbischen Belohnungssystem, – Modelle zur Aufrechterhaltung der Abhängigkeit (Sensitivierung, Entzugssyndrom, Rolle des endorphinergen Systems und weiterer Rezeptoren und Schaltkreise). Es werden außerdem verschiedene psychologische Modelle he-
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rangezogen: entwicklungspsychologische (s. unten), persönlichkeitspsychologische, tiefenpsychologische und familienpsychologische. Die Bedeutung einiger sozialpsychologischer Modelle (vgl. Fuchs 1998) wurde durch Längsschnittuntersuchungen bestätigt: Sie fokussieren mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung den Stellenwert von Problemverhalten, Selbstbeeinträchtigung, Drogensubkulturen, Entwicklungsstadien und psychosozialen Gleichgewichten. Die sozialwissenschaftlichen Ansätze (vgl. Degkwitz 1998) verfolgen die Einflüsse von Entwicklungsaufgaben, Handlungskompetenzen, Identität, Rollen, Peers, Werte, Verhaltensnormen und abweichendem Verhalten auf den Substanzkonsum und -missbrauch. Des Weiteren spielen Problemdispositionen, soziale Indikatoren (Alter, Schicht, Milieu), Lebensereignisse, Statuspassagen, epochale gesellschaftliche Entwicklungen und ökonomische Einflüsse (Verfügbarkeit, Griffnähe) bei der Entwicklung eines Substanzmissbrauchs wichtige Rollen. Das Modell von Edwards et al. (1981) verbindet verschiedene der hier genannten Dimensionen unter Einbeziehung des Entwicklungsaspekts und ist deshalb zur Modellbildung der Suchtstörungen für das Jugend- und junge Erwachsenenalter besonders gut geeignet. Hinsichtlich der Manifestation von Substanzstörungen wird zwischen personalen/familiären und sozialen Vulnerabilitätsfaktoren einerseits und modifizierenden proximalen Risikofaktoren andererseits unterschieden. Die personale/familiäre Vulnerabilität wird durch folgende Faktoren vermittelt: – Alter, – Geschlecht, – Persönlichkeit, – Temperament, – genetische Vulnerabilität, – familiäre Faktoren, – frühe psychische Störungen. Die soziale Vulnerabilität wird übertragen durch – Gesellschaft, – Familie, – soziales Netz, – Einstellungen,
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– Werte, – Normen, – Bildungsvariablen. Zu den eher proximal ansetzenden modifizierenden Variablen werden folgende Faktoren gezählt: – substanzspezifische Wirksamkeitserwartungen, – Aktualbelastungen, – Life skills, – Verfügbarkeit von Substanzen, – Substanzkonsum unter Peers. Substanzmissbrauch entwickelt sich, wenn eine Vulnerabilität für Substanzstörungen vorhanden ist und proximale Risikofaktoren zu einer Manifestation beitragen. Das Modell von Edwards et al. ist auch die theoretische Grundlage für die bereits erwähnte deutsche prospektive Verlaufsstudie Early Developmental Stages of Substance Problems (Übersicht bei Wittchen u. Nelson 1998). In frühen Stadien des Cannabiskonsums haben sich in dieser Studie folgende Einflussfaktoren als signifikant erwiesen: familiäre Belastung mit einer Substanzstörung, niedriges Selbstwertgefühl, leichte Verfügbarkeit von Drogen, mangelnde Überzeugung, zukünftig keine Drogen zu nehmen, Drogenkonsum im persönlichen Umfeld, Nikotinabhängigkeit und Alkoholstörung (Höfler et al. 1999; Lieb et al. 2000).
Entwicklungspsychologisches Modell Das entwicklungspsychologische Modell postuliert zwei getrennt verlaufende Entwicklungspfade (Silbereisen 1995; 1999): Während der Substanzgebrauch vor allem durch soziale Erfahrungen in der Jugendzeit beeinflusst wird, spielen beim fortgesetzten Missbrauch psychische und psychopathologische Merkmale eine dominierende Rolle. Problematische Formen des Alkohol- und Drogengebrauchs werden mit der Übernahme von Erwachsenenrollen (Familiengründung, Berufsausübung etc.) in jenen Fällen beendet, wenn keine psychischen und sozialen Beeinträchtigungen aus
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der Kindheit die Akzeleration behindern und soziale Netzwerke als Protektionsfaktoren wirken. Demgegenüber droht anhaltende Belastung durch Alkohol- und Drogengebrauch für jene Jugendliche, bei denen lebensgeschichtlich frühe Risikofaktoren mit problematischen Formen des Substanzkonsums im Jugendalter zusammentreffen. Häufig ist in diesen Fällen der Alkohol- und Drogengebrauch mit anderem Problemverhalten assoziiert. Die Konsequenzen für die psychosoziale Entwicklung dieser Jugendlichen sind durch beschleunigte Übergänge zu Erwachsenenrollen und mangelhafte Ausbildung eigener Identität charakterisiert. Neben dem Scheitern jugendtypischer Entwicklungsaufgaben werden soziale Fertigkeiten, Bewältigungsmechanismen und Entscheidungsstrategien als Voraussetzungen für eine positive Entwicklung nicht oder nur unzureichend erworben. Moffitt (1993) geht davon aus, dass etwa 10 % der Population lebensgeschichtlich lang anhaltende Anpassungsstörungen mit Alkohol- und Drogenmissbrauch aufweisen (»life-course-persistent«). Bei diesen Jugendlichen ist eskalierendes Problemverhalten bis in die Kindheit zurückzuverfolgen und durch Aggressivität, Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität und Frustrationsintoleranz gekennzeichnet. Bei der Mehrheit der Jugendlichen, die mit Alkohol- und Drogenproblemen belastet sind, bestehen derartige Hintergründe nicht (»adolescence-limited«). Hier sind vielmehr strukturelle Aspekte der Jugendphase für den problematischen Substanzkonsum verantwortlich, beispielsweise frühe sexuelle Entwicklung bei zeitgleich verlängerten Ausbildungszeiten oder soziale Statusprobleme.
Schutz- und Risikofaktoren Schutz- und Risikofaktoren-Konzepte dienen der Aufdeckung korrelativer Zusammenhänge zwischen bestimmten Merkmalen und dem Auftreten von Substanzmissbrauch. Dabei sind Risikofaktoren »solche Bedingungen, welche das Risiko erhöhen, später einen Substanzkonsum, einen schädlichen beziehungsweise missbräuchlichen oder abhängigen Konsum aufzuweisen«, während Schutzfaktoren solche Bedingungen sind, »die bei Vorliegen eines
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Risikofaktors das Risiko senken, später einen Substanzkonsum, einen schädlichen beziehungsweise missbräuchlichen oder abhängigen Konsum aufzuweisen« (zit. nach Jordan u. Sack 2009). Hier werden nur jene persönlichen, familiären und sozialen Schutzund Risikofaktoren angesprochen, die sich in Studien jüngeren Datums als evident erwiesen haben. Langzeitstudien belegen, dass Jugendliche mit einem Substanzmissbrauch bereits im Kindergartenalter hohe Ausprägungsgrade folgender Eigenschaften aufweisen (Donohew et al. 1999; Fergusson et al. 2007); Hawkins et al. 1992; Kaplow et al. 2002; Masse u. Tremblay 1997): – sensation seeking, – aggressiv-expansive Verhaltensmerkmale (Impulsivität, Frustrationsintoleranz, unüberlegtes Handeln, Defizite in sozialadaptiven Funktionen). – Personale Schutzfaktoren sind soziale Kompetenz, Religiosität (Beyers et al. 2004), ein größeres Selbstbewusstsein und eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung (Schmidt 1999). Die familiären Risikofaktoren für den Substanzmissbrauch sind vergleichsweise recht gut belegt. Wenn Eltern oder Geschwister antisoziales Verhalten oder geringe Konventionalität aufweisen oder wenn sie kaum Einflussnahme ausüben und wenig Unterstützung geben, dann unterliegen Jugendliche einem erhöhten Risiko für den Substanzmissbrauch (Übersichten bei Baumrind 1991; Küfner 1999; Thomasius 2000). Dagegen wirkt ein autoritativer Erziehungsstil protektiv (Masten u. Reed 2002). Als Risikofaktoren sind weiter zu nennen (vgl. Thomasius 1996; Lachner u. Wittchen 1995; Davis u. Wood 1999; Vogeltanz et al. 1997; Kilpatrick et al. 2000; Wille et al. 2008): – Inkonsequenz im Verhalten der Eltern, – Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit für emotionale und materielle Belange der Kinder, – überprotektive Erziehungsstile, – Alkohol- und Drogenmissbrauch der Eltern und Geschwister, – Trennung oder Scheidung der Eltern, – früher Verlust eines Elternteils, – sexuelle Missbraucherfahrungen in der Kindheit,
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– Zeugenschaft von Gewalt in der Familie, – konfliktreiches Familienklima Ein weiterer gut gesicherter sozialer Risikofaktor ist Substanzgebrauch in der Peergroup (Beyers et al. 2004). In gezielten Befragungen weisen bestimmte Gruppen von Jugendlichen höheren Drogenkonsum als die altersgleiche Bevölkerung auf. Es handelt sich um Jugendliche mit folgenden sozialen Merkmalen (Swadi 1998; Petraitis et al. 1999; Morral et al. 2002): – Schulverweigerung/Schulverweis, – Kriminalität, – Straffälligkeit, – Wohnungslosigkeit.
Behandlung Störungs- und Altersspezifität Die Behandlung des Substanzmissbrauchs erfordert im Kindesund Jugendalter ein hohes Maß an störungs- und altersspezifischer Ausrichtung. Sie muss die besonderen psychosozialen und suchtmedizinischen Umstände und Auswirkungen des Missbrauchs psychoaktiver Substanzen ebenso berücksichtigen wie die entwicklungspsychologischen und -psychopathologischen Besonderheiten des Kindes- und Jugendalters. Dem Umstand, dass einschlägige Behandlungskonzepte für süchtige Erwachsene nicht ohne weiteres auf betroffene Kinder und Jugendliche übertragen werden können, liegen eine ganze Reihe alterskorrelierter Eigenarten zugrunde (Brömer 1991; Junge 1991): – Im Jugendalter wird der Behandlungswunsch sehr viel häufiger durch die Angehörigen vorgetragen als durch die Betroffenen selbst. – Zu Behandlungsbeginn weisen Jugendliche mit einem Substanzmissbrauch häufig familiäre Konflikte auf. – Im Behandlungsprozess sind die Bedürfnisse nach elterlicher Unterstützung hoch. – Die Anforderungen an pädagogische Förderung sowie schuli-
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sche und berufliche Qualifikation sind in dieser Altersgruppe ungleich größer als bei erwachsenen Patienten.
Behandlungsebenen und -Spektrum Bei der Behandlung der Störungen durch Substanzmissbrauch müssen drei unterschiedliche Ebenen berücksichtigt werden (vgl. Bühringer u. Ferstl 1998): – Behandlung der körperlichen Auswirkungen des Substanzmissbrauchs: körperliche Abhängigkeit psychoaktiven Substanzen (Entzugssymptomatik); körperliche Begleit- und Folgeerkrankungen des Substanzmissbrauchs (Infektionskrankheiten, Haut- und Geschlechtskrankheiten, Magen- und Darmerkrankungen, Zahnerkrankungen, Polyneuropathien; kognitive Störungen etc.). – Behandlung der psychischen Funktionsstörungen: psychopathologische Auswirkungen des Substanzmissbrauchs (Angststörung, depressive Störung, drogeninduzierte psychotische Störung); Wahrnehmungsstörungen (Verlangen nach psychoaktiven Substanzen); Problemlösungsstörungen (zwanghaft eingeengtes Denken hinsichtlich Beschaffung und Einnahme psychoaktiver Substanzen); Ausdrucksstörungen (szenebezogenes Sprachrepertoire, defizitäre emotionale Ausdruckfähigkeit); emotionale Störungen (impulsives Verhalten, rasch wechselnde Stimmungslagen); Motivationsstörungen (geringe Begeisterungsfähigkeit, geringe Frustrationstoleranz, anhedonistische Haltungen); Störungen der Psychomotorik (agitiert oder verlangsamt). – Behandlung der Entwicklungsstörungen: entwicklungspsychopathologische Syndrome und Defizite; fehlende Schul- und Berufsausbildung; substanzmissbrauchende Bezugsgruppe; fehlende Lebensperspektiven. Die meisten Behandlungseinrichtungen für suchtgefährdete und süchtige Kinder und Jugendliche setzen neben medizinischen Interventionen und pädagogischen Fördermaßnahmen ein breites Spektrum an psycho- und soziotherapeutischen Verfahren ein.
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Üblicherweise werden eklektische Ansätze vertreten. In den stationären Einrichtungen findet man folgende Therapieelemente: Einzel- und Gruppentherapie, Entspannungsverfahren, Selbstsicherheitstraining, soziales Training, Rückfallmanagement, Arbeits- und Beschäftigungstherapie, Unterrichtsprogramme (Schule, Berufsorientierung, Suchtkunde), soziale Hilfen sowie freizeitpädagogische Aktivitäten. Wochenendbeurlaubungen, Angehörigengruppen und Familiengespräche fördern im fortgeschrittenen Behandlungsverlauf die Kontakte mit der Außenwelt. In Deutschland werden die Prinzipien der therapeutischen Wohngemeinschaft (gemeinsame Gestaltung des Tagesablaufs, Verantwortungsübernahme für bestimmte Organisationsabläufe) häufig mit typischen Strukturmerkmalen klinischer Einrichtungen (Weisungsbefugnis der Mitarbeiter gegenüber den Patienten, Verantwortung für Konzeption und Einhaltung von Haus- und Stationsregeln) kombiniert. Die Behandlungsprogramme orientieren sich im Idealfall an den individuellen Bedürfnissen und Erfordernissen des einzelnen Patienten. Hinsichtlich der Behandlungsdauer haben sich zwei Varianten durchgesetzt: Kurzzeittherapien mit einer Behandlungsdauer von drei bis sechs Monaten und Langzeittherapien mit 12- bis 18-monatiger Behandlungsdauer. Bei jüngeren Patienten mit erheblichen Entwicklungsdefiziten ist eine Langzeitbehandlung üblich (vgl. DGKJPP et al. 2000). Die Wahl des geeigneten Behandlungssettings ist unter anderem von folgenden Voraussetzungen seitens des Patienten abhängig: – Vorhandensein medizinischer Komplikationen und Folgen des Substanzkonsums, – Art und Ausprägung von psychischen Funktionsstörungen und Entwicklungsstörungen, – Vorhandensein einer Behandlungsmotivation, – Rückfallpotential, – Umgebungsfaktoren. Die Indikation für eine stationäre Rehabilitation in einer spezialisierten Behandlungseinrichtung wird in aller Regel gestellt, wenn der Substanzmissbrauch des Jugendlichen im Vordergrund des klinischen Bildes steht. Die Behandlungsdauer variiert je nach
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Einrichtung zwischen drei und zwölf Monaten. Wichtige Behandlungsziele sind die Suchtmittelabstinenz, die Befähigung zur drogenfreien Alltags- und Freizeitgestaltung, die schulische oder berufliche Integration und die Einleitung einer ambulanten Psychotherapie. Demgegenüber sollte einer jugendpsychiatrischen Behandlung beziehungsweise Jugendhilfemaßnahme der Vorzug gegeben werden, wenn bestimmte psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters oder pädagogische Problematiken als vorrangig gegenüber der Suchtstörung bewertet werden. Die Angebote der Jugendhilfe für substanzmissbrauchende Jugendliche hängen in Art und Umfang stark von den jeweiligen regionalen Gegebenheiten ab (Moos et al. 2000). Bei fortgeschrittenen Erkrankungsverläufen ist in manchen Fällen eine stationäre Jugendhilfemaßnahme (Fremdunterbringung) angezeigt. Die pädagogischen Konzepte und Hausordnungen dieser Einrichtungen sind nicht einheitlich, sie verfolgen aber gemeinsam das Ziel, den Abstinenzwunsch des Jugendlichen zu unterstützen. Des Weiteren kommt für manche Jugendliche mit einem Substanzmissbrauch eine sozialpädagogische Intensivbetreuung in Betracht. Die konsumakzeptierenden Ansätze der szenenahen niederschwelligen Angebote und der Streetworker zielen vor allem auf sozial depravierte Kinder und Jugendliche, bei denen wenig Krankheitseinsicht und Behandlungsmotivation vorhanden ist. Die meisten Behandlungsprogramme verfügen über eine schulische Beratung beziehungsweise bestimmte Formen des Schulunterrichts und der berufsfindenden, berufsberatenden und berufsanbahnenden Maßnahmen sowie der Rechtsberatung. Juristische Behandlungsauflagen wirken sich in manchen Fällen auf die Behandlungseinsicht des Patienten sehr förderlich aus und sie können die therapeutischen und sozialintegrativen Bemühungen der Behandlungseinrichtung unterstützen (Hirschberg 1996). Eine kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung unter geschlossenen Rahmenbedingungen mit vorübergehendem Freiheitsentzug ist bei akuter Suizidalität, erheblicher Eigengefährdung infolge vorzeitiger Beendigung einer Entgiftungsbehandlung und bei (drogeninduzierten) psychotischen Syndromen mit erheblicher Eigen- oder Fremdgefährdung erforderlich.
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Der Elternarbeit ist bei den Suchtstörungen im Kindes- und Jugendalter eine sehr hohe Bedeutung beizumessen, da bestimmte familiäre Gewohnheiten (Umgang mit Suchtmitteln) wie auch Bindungs- und Erziehungsstile den Substanzmissbrauch fördern und zum Rückfall beitragen können. Die Einbindung der Eltern in den Behandlungsprozess dient der Förderung von Einsicht, der Modifikation von Erziehungsstilen sowie der Entlastung und Anleitung der Eltern (Sack u. Thomasius 2002). Angehörigengruppen unterstützen vor allem Eltern von unbehandelten und uneinsichtigen Jugendlichen und geben für die eigene Lebensgestaltung, aber auch für den Umgang mit dem süchtigen Jugendlichen Anregungen (Mann et al. 1995).
Behandlungserfolg Allgemein gilt im Suchtbereich die Haltequote – als Maß für eine regulär beendete Therapie – als bester Indikator für langfristigen Erfolg. Roch et al. (1992) fanden im internationalen Gesamtmittel, das heißt über Behandlungsformen, Suchtstörungen und behandelte Altersgruppen hinweg, eine Haltequote von 22 %. In Europa liegt die Haltequote mittlerweile bei 25 bis 60 % (Sonntag u. Künzel 2000). Speziell bei jugendlichen Patienten liegen die internationalen Haltequoten über alle Behandlungsformen hinweg bei 60 bis 65 % (Williams et al. 2000), in Familientherapien sind sie am höchsten, nämlich bei 70 bis 90 % (Liddle u. Dakof 1995; Ozechowsky u. Liddle 2000). In jüngeren Sekundäranalysen ergeben sich international für familienbasierte Therapien mit drogenmissbrauchenden Jugendlichen bei Behandlungsende Abstinenzquoten von 54 bis 73 %. EinJahres-Katamnesen zeigen eine Abstinenzquote von 38 % (nach Williams et al. 2000), und speziell für Europa ergeben sich 30 bis 50 % (Crome 1999). Einer Studie zum «12-Steps Minnesota«Programm (Winters et al. 2000) kommt insofern besondere Bedeutung zu, als deren jugendliche Patienten eindeutig als abhängig nach DSM-III diagnostiziert wurden. Die dortige Abstinenzquote lag bei 19 % nach einem Jahr. Das höchste Rückfallrisiko besteht in der ersten Zeit nach Behandlungsende. So fanden Wagner und
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Tarolla (2002), dass 50 % der Patienten in den ersten drei Monaten rückfällig werden. In Übereinstimmung mit den oben genannten Risikofaktoren für Substanzkonsum erhöht sich das Rückfallrisiko, wenn Mitglieder der Familie oder des Freundeskreises konsumieren, sozialer Druck entsteht und Substanzen leicht zugänglich sind. Nach der Metaanalyse von Brewer et al. (1998), in die Studien zum Therapieerfolg alters- und schulenübergreifend eingingen, sind folgende Therapiekomponenten für den Erfolg ausschlaggebend: – reguläres Therapieende, – geringer Substanzkonsum bei Therapiebeginn, – protektiv wirkende psychosoziale Faktoren (abstinente Peers, unterstützende Familiensituation, Ausbildungs- bzw. Berufsperspektive), – keine komorbide psychiatrische Störung. Zu vergleichbaren Indikatoren kommen Williams et al. (2000) sowie Sonntag und Künzel (2000) aufgrund von Sekundäranalysen. Sie ergänzen folgende Merkmale: – Intensität und Strukturiertheit der Therapie, – Flexibilität in Hinblick auf Patientenbedürfnisse, – Inanspruchnahme von Nachsorgeangeboten, – gute Therapeut-Patient-Beziehung, – Erfahrung des Therapeuten. Patientenmerkmale – wie Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status – erlauben keine Vorhersage des Behandlungserfolgs (Roch et al. 1992; Brewer et al. 1998).
Verlauf Die Verlaufsprognose der Substanzstörungen ist speziell für das Kindes- und Jugendalter noch wenig erforscht. In einzelnen Untersuchungen korreliert das Vorhandensein einer oder mehrerer folgender Merkmale mit einer ungünstigen Verlaufsbeeinflussung: begünstigende gesetzliche Regelungen, Verfügbarkeit von psycho-
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aktiven Substanzen, extreme ökonomische Deprivation, negative Peer-Rollenvorbilder, inadäquate Beschulung, desorganisierte Nachbarschaftsverhältnisse (Hawkins et al. 1992; Petraitis et al. 1999). Des Weiteren wirken sich komorbide psychische Störungen ungünstig auf den Verlauf aus. Substanzmissbrauch und psychische Störungen der Eltern haben auf den Substanzmissbrauch des Jugendlichen ebenfalls ungünstigen Einfluss (Luthar et al. 1998; Petraitis et al. 1999). Demgegenüber haben folgende Merkmale auf die Verlaufsprognose des Substanzmissbrauchs Jugendlicher einen günstigen Einfluss: Angst vor negativen Folgen des Substanzkonsums, Selbstvertrauen, psychosoziale Kompetenz, Abwesenheit komorbider psychischer Störungen, abstinente Peers, emotionale Unterstützung durch die Eltern (Höfler et al. 1999). Für weibliche Teenager stellt eine Schwangerschaft eine Chance dar, den Drogenmissbrauch aufzugeben (Flanagan u. Kokotailo 1999). Jugendliche, die sich mit einer primären psychiatrischen Erkrankung und einem Substanzmissbrauch in Behandlung befinden, weisen eine ungünstigere Prognose auf als in Behandlung befindliche Jugendliche mit einer substanzinduzierten psychischen Störung, gemessen an dem Ausmaß an Behandlungsbereitschaft, Resozialsierung und negativen Folgen des Substanzmissbrauchs.
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Wolfgang Poser
Zur Pharmakologie der Jugenddrogen
Zahlreiche Stoffe können süchtiges Verhalten beim Menschen hervorrufen; diese werden Suchtstoffe (oder Suchtmittel) genannt. Ihre Einteilung richtet sich auf Vorschlag der Systematik der Weltgesundheitsorganisation nach dem hauptsächlich beteiligten Neurotransmittersystem im Gehirn. Einige dieser Stoffe werden bereits von Jugendlichen genommen; schädlicher Gebrauch (Abusus) und Abhängigkeit von diesen Substanzen kommen oft schon vor dem 18. Lebensjahr vor. Diese werden dann Jugenddrogen genannt. Sie sind ausnahmslos Suchtstoffe, die dann im Erwachsenenalter weiter genommen werden. Somit ist die Bezeichnung »Jugenddroge« nur auf den Beginn der Suchtkrankheit zu beziehen. Viele Suchtkrankheiten (»psychoactive substance use disorder« nach DSMIV) entwickeln sich aus dem Konsum. Bei einigen Betroffenen wird der Konsum zu schädlichem Gebrauch und schreitet weiter fort zur Abhängigkeit.
Systematik der Suchtstoffe Eine Übersicht über die Stoffe, die zu schädlichem Gebrauch oder zur Abhängigkeit führen können, gibt Tabelle 1.
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Tabelle 1: Klassen von Suchtstoffen (angelehnt an die WHO- und ICD-10Klassifikationen) 1. Opioide (μ-Rezeptor-Agonisten) a) rein m-Rezeptor-agonistische Opioide (z. B. Morphin, Heroin, Kodein, Methadon) b) gemischt agonistisch-antagonistische Opioide (z. B. Pentazocin, Buprenorphin) 2. GABA-Rezeptor-Agonisten a) Ethanol b) Barbiturate und Barbiturat-ähnliche Stoffe (z. B. Phenobarbital, Clomethiazol = Distraneurin, Chloralhydrat) c) Tranquillanzien, speziell Benzodiazepine (z. B. Diazepam, Lorazepam) und benzodiazepinähnliche Stoffe (Zolpidem, Zopiclon) d) Gamma-Hydroxy-Butyrat (GHB) 3. Inhalanzien = Schnüffelstoffe (z. T. deutliche GABA-Wirkung) a) Gase (z. B. Lachgas) b) Dämpfe (z. B. Ether, Feuerzeugbenzin, Klebstoffe, Farbstoffverdünner) 4. Psychostimulanzien-Gruppe (komplexe Dopamin-Agonisten) a) Kokain b) Amphetamine und Ephedrine (z. B. Khat, Methamphetamin, Ephedrin, Methylphenidat) c) Entactogene (MDMA, MDA, MDE) d) Levodopa 5. Xanthine a) Koffein (Suchten extrem selten!) b) koffeinhaltige Mischanalgetika 6. Cannabinoide (CB1-Rezeptor-Agonisten) Δ-9-Tetrahydrocannabinol (THC), Nabilon 7. Halluzinogene Meskalin, LSD, Psilozybin 8. Analgesierende Halluzinogene (NMDA-Rezeptorantagonisten) Phenzyklidin = PCP, Ketamin 9. Cholinomimetika (Agonisten am zentralen Nikotinrezeptor) Nikotin, Arekolin (wirksamer Inhaltsstoff von Betel) 10. Cholinolytika (Antagonisten am zentralen Muskarinrezeptor) zahlreiche Nachtschattengewächse mit Atropin und Skopolamin (Tollkirschen), Biperiden 11. sonstige zentrale Missbrauchsstoffe (Suchtmechanismus unbekannt) z. B. Kava-Kava, Glucocorticoide, Clonidin und Anabolika 12. Missbrauchsstoffe ohne zentrale Wirkung z. B. Laxanzien, Diuretika, einige weitere Dopingmittel (STH)
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Alle diese Stoffe (mit Ausnahme der peripheren Substanzen) führen letztendlich zu einer Aktivitätszunahme im zentralen mesolimbischen, dopaminergen System, dem »reward system«. Manche tun dies sofort (Psychostimulanzien), bei anderen ist eine monate- bis jahrelange Initiation erforderlich (Benzodiazepine). Ohne Dopamin2-Rezeptoren im Gehirn sind Suchtentwicklungen rudimentär bis fehlend, wie Experimente mit Knockout-Mäusen zeigen (Maldonado et al. 1997). Zwischen Stoffen einer Gruppe bestehen Kreuzabhängigkeit und Kreuztoleranz. Nach Stoffen aus den beiden ersten Gruppen entwickelt sich nach dem Absetzen bei Abhängigkeit ein relativ einheitliches Entzugssyndrom.
Von Jugendlichen bevorzugte Suchtstoffe Suchtkrankheiten kommen schon im Kindesalter vor, aber selten. Schon Neugeborene können gelegentlich (einzelne) Suchtsymptome aufweisen, wenn die Mutter in der Schwangerschaft kontinuierlich abhängig gewesen ist (alle zentral wirksamen Suchtstoffe passieren die Plazentarschranke und exponieren Embryo beziehungsweise Fetus, wenn die Mutter sie in der Schwangerschaft nimmt). Solche Fälle bleiben aber Ausnahmen, ebenso wie Alkoholabhängigkeit oder Heroinsucht im Kindesalter. Im Jugendalter dagegen entwickeln sich Suchtkrankheiten mit erheblicher Häufigkeit. Die dabei bevorzugten Substanzen sind nach epidemiologischen Beobachtungen in Deutschland: – Nikotin, – Cannabis, – Alkohol, – Entactogene, – »Liquid Ecstasy« (GHB).
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Nikotin Nikotin in Form von Zigaretten ist im Jugendalter meistens der erste Suchtstoff. Eine Nikotinabhängigkeit entwickelt sich bei rauchenden Jugendlichen recht schnell. Ob diese »Einstiegsdroge« anderen Suchtstoffen nur sozial oder auch pharmakologisch den Weg bahnt, ist nur in Ansätzen bekannt. Die suchtmäßige Inhalation von nikotinhaltigen Zigaretten ist die Voraussetzung für die Fähigkeit, Cannabinoide aus Rauchtabak zu extrahieren. Mit anderen Worten: Nur wer regelmäßig Zigaretten inhaliert, kann Haschisch oder Marihuana so intensiv rauchen, dass THC ausreichend für eine pharmakologische Wirkung in den Körper aufgenommen wird. Nichtraucher müssen nur schrecklich husten und spüren nichts. Nikotin führt auch bei Jugendlichen zu einer entspannten Wachheit, in der alle Genüsse etwas intensiver erlebt werden. Es macht friedlich und konzentriert, Lernen wird erleichtert. Gewichtszunahme wird verhindert, Nikotin wirkt leicht abführend (»Verdauungszigarette«).
Cannabis Cannabis mit seinem wirksamen Inhaltsstoff Δ-9-Tetrahydrocannabinol (THC) ist ein interessanter Suchtstoff, da es unphysiologischer Ligand eines körpereigenen Rezeptorsystems (CB1-Rezeptor) ist. Seit einigen Jahren sind diese Cannabisrezeptoren im Zentralnervensytem bekannt. Als physiologische Liganden dienen die so genannten Endocannabinoide, vor allem Anandamid und 2-Arachidonoylglycerol, zwei Arachidonsäureabkömmlinge. Beide wirken sehr kurz, THC extrem lang. THC ist wenig toxisch, seine behauptete mutagene Wirkung ist Panikmache. Trotzdem weist THC eine erhebliche Verhaltenstoxizität auf. In einer großen australischen Zwillingsstudie konnte gezeigt werden, dass die Hinzunahme weiterer Suchtstoffe durch Cannabis deutlich wahrscheinlicher wird, ohne dass ein genetischer Einfluss besteht. Cannabis ist in diesem Sinn sehr wohl eine »Einstiegsdroge«, ohne dass der Mechanismus bekannt ist. Hoch dosierter, lang dauernder Cannabiskonsum führt zu sub-
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tilen neuropsychologischen Defiziten (Gonzalez et al. 2002). Ob diese permanent werden können, etwa bei Jugendlichen, ist nicht bekannt und schwer zu untersuchen. Eine Autorengruppe glaubt Hinweise für eine besondere Empfindlichkeit der Jugendlichen gegenüber Cannabis gefunden zu haben (Ehrenreich et al. 1999). Bedrohlich sind Psychosen beim Cannabis-Dauerkonsum. Cannabis wird heute allgemein als psychosefördernde Substanz angesehen, allerdings nicht im Sinne einer Eins-zu-eins-Relation, sondern im Sinne der Förderung einer vorhandenen Neigung (Dalmau et al. 1999). Orthostatische Blutdruckabfälle und Panikattacken treten eher beim Erstkonsum auf.
Alkohol Manche Jugendliche beginnen bereits im Jugendalter mit dem regelmäßigen oder intermittierenden Alkoholkonsum, sicherlich ermutigt durch die Allgegenwart von Alkohol, Alkoholreklamen, trinkenden Erwachsenen wie auch Gleichaltrigen. Meist handelt es sich um Kinder von Alkoholikern. Sie beschreiben die Alkoholwirkung als schwach, weshalb sie große Mengen benötigen. Überhaupt sollen bei künftigen Suchtkranken Suchtstoffwirkungen eher schwach sein, weshalb manche Autoren von einem »reward deficiency syndrome« sprechen, das auf einem defekten D2-Rezeptor-Allel beruhen soll (Blum et al. 2000). Das frühe Trinken der Jugendlichen heilt keineswegs aus, sondern geht in einem erheblichen Teil der Fälle in eine Alkoholabhängigkeit mit besonders malignem Verlauf über (Ellickson et al. 2003).
Entactogene (»Ecstasy«) Entactogene (MDMA, MDA, MDE und einige weitere Substanzen) haben unter dem Szenenamen »Ecstasy« weite Verbreitung gefunden. Es handelt sich um substituierte Amphetamine mit Dopamin- plus Serotoninausschüttungswirkung im Zentralnervensystem. Sie werden überwiegend intermittierend auf Rave-Partys benutzt. Vorherrschende Wirkungen sind psychische Stimulation,
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Bewegungsdrang, fehlende Ermüdbarkeit, fehlender Hunger, Euphorie und das Gefühl großer Nähe zu sich selbst und zu anderen. Die biochemischen und molekularbiologischen Wirkungen im Gehirn sind gut bekannt (s. den Beitrag von G. Hüther in diesem Band). Entactogene können unter bestimmten Umständen sehr toxisch werden. Diese Umstände sind Überdosierung, MDA-haltiges Ecstasy, Hyperthermie, Hypertonie, Tachykardie, Exsiccose, Bewegungssturm und zusätzlicher Konsum anderer Stimulanzien. Todesfälle sind bekannt.
»Liquid Ecstasy« (GHB) Gamma-Hydroxybuttersäure (= Gamma-Hydroxybutyrat, GHB) und sein Präkursor Gamma-Butyrolacton haben pharmakologisch mit Entactogenen nichts zu tun. Die Substanz wird als illegaler Suchtstoff gedealt, oft mit dem Hintergedanken, Frauen damit bewusstlos zu machen, um sie leichter zu missbrauchen oder zu vergewaltigen (»rape dates«). Das legale Arzneimittel Somsanit® mit dem gleichen Inhaltsstoff ist dagegen bisher nicht als Suchtstoff bekannt geworden. Die Wirkung besteht für die Einnahme vor allem in Enthemmung, Minderung von Leidensgefühlen und Schläfrigkeit. Bei hohen Dosen kommt es zu Bewusstseinstrübung und Atemstörungen, vor allem bei Einnahme von GHB zusammen mit Alkohol (GHB ist ein Narkosemittel!). Nach lang dauernder schwerer Abhängigkeit entwickelt sich ein Entzugssyndrom, das dem nach Alkohol ähnelt (Miotto et al. 2001)
Seltene Süchte bei Jugendlichen Methylphenidat (Ritalin®) ist in Deutschland keine Jugenddroge, da es ganz überwiegend als Arzneimittel gegen ADHD (attention deficit hyperactivity disorder, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom) eingesetzt wird. Die Substanz selbst hat aber von ihrer kokainähnlichen pharmakologischen Wirkung her das Potential, als stimulierender Suchtstoff missbraucht zu werden. Das
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ist auch gelegentlich der Fall; dem Autor sind einige Fälle von Methylphenidatmissbrauch bekannt, bei denen gesunde Geschwister von ADHD-Kindern die Tabletten selbst genommen oder in der Drogenszene verkauft hatten. So erklärt sich der Szenename »Kinderkoks«. Die Behandlung des ADHD mit Methylphenidat führt bei den Betroffenen selbst nicht zur Abhängigkeit, sofern die Indikation stimmt und die Behandlung korrekt durchgeführt wird. Das ist umso erstaunlicher, als ADHD-Kranke eine erhebliche Suchtneigung haben. Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Schnüffelstoffen (Inhalanzien) beginnen ebenfalls bevorzugt im Jugendalter. Sie sind anscheinend derzeit in Deutschland so selten, dass sie kein großes Problem darstellen. Sie unterliegen aber starken zeitlichen Schwankungen, so dass jederzeit neue Epidemien von »Schnüffeln« möglich sind.
Zur generellen Suchtdisposition von Jugendlichen Die besondere Suchtdisposition Jugendlicher wird durch viele Faktoren bestimmt, von denen manche auch pharmakologischer Natur sind. Entwicklungspsychologische Aspekte: Das jugendliche Zentralnervensystem reagiert auf Suchtstoffe anders als das erwachsene. Außerdem sind Jugendliche neugieriger und risikobereiter, deshalb probieren sie gern einmal, was Freunde oder Dealer »empfehlen«. Wenn es ein potenter Suchtstoff war, bleibt der Jugendliche dabei, er ist »hooked« (hängt am Stoff wie am Angelhaken). Mit anderen Worten: Bei manchen Suchtstoffen sind Jugendliche empfindlicher, oder die Wahrscheinlichkeit des Ausprobierens ist höher. Psychologische Aspekte: Die besonderen psychischen Probleme Jugendlicher werden mit besonderen Suchtstoffen »selbst behandelt«. Suchtspezifische Aspekte: Die Entwicklung mancher Abhängigkeiten benötigt viele Jahre; deshalb werden sie erst bei Erwachsenen oder gar Alten sichtbar, obwohl sie vielleicht in der Jugend leise begonnen haben.
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Therapie von Suchtkrankheiten mit Arzneimitteln Da Suchtstoffe im Zentralnervensystem bevorzugt über Neurotransmitter wirken, sind im Fall der Abhängigkeit eine Rückfallprophylaxe oder gar Therapie mit anderen Stoffen, die Suchtstoffwirkungen oder Neurotransmittersysteme verändern, denkbar und werden bei Erwachsenen realisiert. Bei Jugendlichen sind diese Therapieverfahren weniger geläufig. Wünschenswert wäre eine verstärkte Evaluation getrennt für Jugendliche und Erwachsene. Im Einzelnen handelt es sich um: – Substitution der intravenösen Heroinabhängigkeit mit Methadon – Rückfallprophylaxe der Opioidabhängigkeit mit Naltrexon – Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit mit Disulfiram – Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit mit Acamprosat – Entwöhnungstherapie der Nikotinabhängigkeit mit Bupropion Bupropion (Zyban®) zur Nikotinentwöhnung ist bei Erwachsenen wirksam und nach Ausschluss bestimmter Kontraindikationen sicher. Der Autor hat eine größere Zahl von Nikotinabhängigen damit behandelt, davon war keiner unter 30 Jahre alt. Auch für die klinischen Prüfungen vor der Markteinführung hatten sich überwiegend Erwachsene und Ältere gemeldet. Anscheinend ist diese Denkweise (»ein Medikament zur Verminderung der Gier, bis man selbst stark genug ist«) Jüngeren eher fremd. Jugendliche sind auch für klinische Prüfungen nur in Ausnahmefällen zugelassen; allerdings resultiert aus diesen klinischen Prüfungen dann auch eine Indikationsliste, die Jugendliche ausschließt. Bei den Arzneitherapien von Suchtkrankheiten sind weitere Neuentwicklungen in Prüfung, zum Beispiel die Behandlung der Opioidabhängigkeit mit Ibogain (Glick u. Maisonneuve 2000) und die Rückfallprävention der Cannabinoidabhängigkeit mit Cannabinoid-Antagonisten (D’Souza u. Kosten 2001).
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Fazit Suchtkrankheiten im Kindesalter sind Raritäten. Nur wenige der zahlreichen Suchtstoffe werden bereits im Jugendalter genommen. Diese Jugenddrogen sind vor allem Nikotin, Cannabis, Alkohol und Entactogene (»Ecstasy«). Gamma-Hydroxybuttersäure (GHB) ist eine hochgefährliche neue Substanz, die neuerdings unter dem Szenenamen »liquid ecstasy« auftaucht. Jugendliche bieten nicht nur soziale und psychische, sondern auch pharmakologische Besonderheiten, die bei ihnen die Suchtverläufe modifizieren können. Auch im Jugendalter ist Polytoxikomanie verbreitet.
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Gerald Hüther
Kurzfristige Wirkungen und langfristige Folgen der Einnahme von Psychostimulanzien und Entaktogenen auf das sich entwickelnde Gehirn von Kindern und Jugendlichen No drugs, no future … eine hintergründige Einleitung Bereits in den fünfziger Jahren stellte der Philosoph Günter Anders die Frage nach dem »Verbleib der Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution« (Anders 1956). Könnte es nicht sein, fragt Anders, dass die damit einhergehenden Veränderungen unserer Lebenswelt »etwas Übertriebenes von uns verlangt, etwas Unmögliches; und uns durch ihre Zumutung in einen kollektiven pathologischen Zustand hineintreiben?« Wir haben eine Welt geschaffen, »mit der Schritt zu halten wir unfähig sind und die zu ›fassen‹, die Fassungskraft, die Kapazität sowohl unserer Phantasie wie unserer Emotionen wie unserer Verantwortung absolut überfordert«. Dieser Zustand einer permanenten Überforderung hat bei all jenen, die davon am stärksten betroffen sind – bei den in diese Welt hineinwachsenden Jugendlichen –, das Verlangen nach Hilfsmitteln in Form von psychoaktiven Substanzen sukzessive wachsen lassen. Schon in den sechziger Jahren begannen sie ein neues Selbstverständnis im Umgang mit psychoaktiven Drogen zu artikulieren. Der demonstrative Konsum von Cannabis und LSD, aber auch von Heroin und Kokain wurde zu einem festen Bestandteil der Protestkultur jener Jahre. In den achtziger und neunziger Jahren besorgte die Technokultur – angetrieben von den schnellen Beats ihrer Musik und getragen von einer Welle neuer synthetischer Drogen auf der Basis von Amphetaminen – wortlos und scheinbar spielerisch die Anpassung der damals nachwachsenden Generation an die Geschwindigkeit und Orientierungslosigkeit des anbrechenden digitalen Zeitalters. Seither ist alles, was den Lebenslauf von Menschen und ihre sozialen Beziehungen struk-
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turierte, weiter in Auflösung begriffen. Die Entrhythmisierung des Arbeitsablaufs, die Zerschlagung gewachsener und verinnerlichter Zeitstrukturen, der Ruf nach noch mehr Flexibilität und Mobilität, die Auflösung sozialer Beziehungsgefüge und der Mangel an emotionalen Bindungen verursachen bei vielen der in diese, von Erwachsenen geschaffenen, Verhältnisse hineinkommenden Jugendlichen ein Ausmaß an Verunsicherung, dem sie nicht gewachsen sind. Wer dem Tempo der Maschinenprozessoren folgen und sich in einer Welt schwindenden Vertrauens zurechtfinden, nicht auf der Verliererseite enden will, muss prinzipiell bereit sein, sich mit allen verfügbaren Mitteln anzupassen – und die damit einhergehenden Folgen in Kauf zu nehmen. Aber wie biegsam ist der Mensch? Und wie lässt sich diese Biegsamkeit und Anpassungsfähigkeit auf psychoemotionaler Ebene noch weiter steigern? Seit Beginn der neunziger Jahre suchen nun auch die Produktdesigner der Pharmaindustrie nach Antworten auf diese Fragen. Heute werden bereits rund 3 Millionen Kinder mit Anpassungsschwierigkeiten und der Diagnose »ADHS« in den USA mit Psychostimulanzien (Aderall , Ritalin ) behandelt, weltweit könnten es nach Schätzungen der Uno-Drogenaufsichtsbehörde inzwischen 10 Millionen sein. Eine Fortsetzung der Medikation auch noch im Erwachsenenalter wird empfohlen. Ihre Wirkungen entfalten diese Substanzen durch Hemmung der Wiederaufnahme von Dopamin. Durch die Hemmung der Wiederaufnahme eines anderen Transmitters, Serotonin, lassen sich insbesondere angstlösende, stimmungsaufhellende antidepressive Wirkungen auslösen. Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI-s, Prozac , Fluctin etc.) werden mittlerweile mehr als 35 Millionen amerikanischen »Patienten« verschrieben. Die therapeutische Qualität beider Medikamente wird von den Konsumenten und Fürsprechern mit ähnlicher Leidenschaft verteidigt wie die Qualität, sprich »Unbedenklichkeit«, der »Partydrogen« Ecstasy, Speed, Crack und so weiter. Auch diese Substanzen entfalten ihre von den Konsumenten erwünschten stimmungs- und antriebsverändernden Wirkungen durch Modulation serotonerger oder dopaminerger Übertragungsmechanismen im Gehirn.
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Low social performance – high addictive risk … ein aufschlussreiches Experiment Nicht jeder Jugendliche, der Drogen einnimmt, wird davon abhängig. Offenbar muss die Einnahme psychoaktiver Substanzen einen besonders erstrebenswerten Zustand herbeiführen, der auf andere Weise nicht oder nur schwer erreichbar ist. Neuere Untersuchungen an Affen liefern aufschlussreiche Hinweise zur Klärung der Frage, wer aus welchen Gründen die durch die Einnahme psychoaktiver Substanzen ausgelösten Veränderungen der Stimmung und des Antriebs besonders positiv bewertet und deshalb besonders vulnerabel für die Ausbildung einer Suchterkrankung ist. Morgan et al. (2002) untersuchten Makaken, die zunächst für etwa eineinhalb Jahre jeder für sich unter den üblichen Laborbedingungen aufwuchsen. Danach wurde bei den Tieren eine PositronenEmissions-Tomographie (PET) durchgeführt, um die Verteilung von Dopaminrezeptoren im Gehirn abzubilden. Anschließend brachte man die Affen in 5 Gruppen zu jeweils 4 Tieren für 3 Monate gemeinschaftlich unter (»social housing«). In jeder der 5 Affengruppen bildete sich rasch eine lineare Hierarchie aus, so dass jedem Affen nach den 3 Monaten eine soziale Stellung von Rang 1 bis 4 eindeutig zugeordnet werden konnte. Eine erneute PETUntersuchung der Aktivität des dopaminergen Systems ergab, dass das soziale Leben der Tiere zu einer signifikanten Veränderung der Bindung entsprechender Radioliganden an dopaminerge Rezeptoren geführt hatte. Diese Veränderung war bei denjenigen Tieren besonders stark ausgeprägt, die den höchsten sozialen Rang innehatten. Um die Empfindlichkeit für Suchtstoffe und die Vulnerabilität für die Entwicklung einer Suchterkrankung zu untersuchen, wurde den Tieren anschließend die Möglichkeit geboten, sich selbst Kokain zuzuführen. Hierbei zeigte sich, dass diejenigen Affen am unteren Ende der sozialen Rangskala im Vergleich zu den sozial dominanten Tieren signifikant häufiger und mehr Kokain einnahmen. Damit konnten die Autoren nicht nur nachweisen, dass relativ kurzfristige Veränderungen der sozialen Umgebung von Primaten zu einer deutlichen Veränderung des dopaminergen Systems führen, sondern dass diese Veränderungen sich auch auf die suchterzeugende Wirkung von Kokain direkt auswirken.
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Schon aus frühen Studien war bekannt, dass die sozialen Lebensbedingungen bei Nagern und Primaten zu Veränderungen des Dopaminsystems führen können: Das Leben in einer Gemeinschaft ist abwechslungsreicher als das Leben allein; und das Leben im oberen Bereich einer sozialen Hierarchie ist »belohungsgeladener« als das Leben am unteren Ende der sozialen Skala (Grant et al. 1998; Hall et al. 1998).
Die akuten Wirkungen von Psychostimulanzien Psychostimulanzien (Amphetamine, Kokain) bewirken nur dann eine massive Dopaminfreisetzung im Gehirn und führen nur dann zu einer rauschartigen Antriebssteigerung, wenn sie sehr plötzlich und in großer Menge im Hirn ankommen. Das wissen alle Drogenkonsumenten. Deshalb spritzen sie sich den »Stoff« entweder direkt in die Blutbahn oder sie nehmen ihn über die gut durchblutete und enorm resorptionsfähige Nasenschleimhaut auf, indem sie ihn schnupfen (»sniffen«). Unter diesen Bedingungen werden diese Substanzen sehr rasch und hoch dosiert mit dem Blut ins Hirn gespült. Dort gelangen sie zu den dopaminergen Nervenenden und bewirken die Freisetzung des in den Speichervesikeln bereitgehaltenen Dopamins. Das auf diese Weise vermehrt freigesetzte Dopamin entfaltet dann seine stimulierenden und antriebssteigernden Wirkungen, indem es die Erregbarkeit der nachgeschalteten Nervenzellen verändert. All das geschieht, ohne dass die betreffenden dopaminergen Nervenzellen durch irgendeinen äußeren oder inneren (aufregenden) Reiz zu verstärktem Feuern angeregt werden – es handelt sich also um eine von der tatsächlichen Feuerungsrate abgekoppelte, nur durch den betreffenden »Stoff« ausgelöste Dopaminfreisetzung. Wohlgemerkt: All das geschieht nur dann, wenn der »Stoff« in ausreichend hoher Dosierung gespritzt oder geschnupft wird. Auch Methylphenidat (Ritalin ) lässt sich so verwenden und verursacht dann ähnliche Effekte wie geschnupftes oder direkt in die Blutbahn injiziertes Kokain. Das mag der Grund dafür sein, dass auf Schulhöfen eine wachsende Nachfrage für die Pillen der kleinen Zappelphilippe zu verzeichnen ist. Aber verordnet werden
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Ritalin und Amphetamine ja nicht, um den Antrieb von ADHSKindern noch weiter zu steigern, sondern um die überstarken inneren Antriebsimpulse zu unterdrücken und die damit einhergehende mangelhafte Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. Und der Arzt oder Apotheker empfiehlt auch nicht, das Medikament zu schnupfen oder zu spritzen. Es soll geschluckt werden und ganz allmählich, möglichst über einige Stunden hinweg durch den Darm in die Blutbahn und von dort ins Gehirn gelangen, also langsam und in geringer Dosierung »anfluten«, wie die Mediziner das nennen. Unter diesen Bedingungen erzeugt weder Ritalin noch Kokain oder ein anderes Amphetamin die oben beschriebene massive, impulsunabhängige Freisetzung von Dopamin durch die dopaminergen Nervenenden. Im Gegenteil! So eingenommen unterbinden all diese Substanzen jede weitere impulsgetriggerte Dopaminfreisetzung im Gehirn. Wo genau Methylphenidat und Amphetamine im Gehirn angreifen und auf welche Weise sie bei niedriger Dosierung und langsamer Anflutung die impulsgetriggerte Dopaminfreisetzung hemmen, ist in einem Übersichtsbeitrag von Seemann und Madras (1998) ausführlich beschrieben. Das Wirkprinzip ist recht einfach: Es kommt zunächst durch diese Substanzen zu einer Hemmung der Dopaminwiederaufnahme. Der daraus resultierende Anstieg der Dopaminkonzentration im synaptischen Spalt um das 5- bis 10-fache führt zu einer Aktivierung von Dopamin-Autorezeptoren an den dopaminergen Präsynapsen. Durch diese Aktivierung wird jede weitere impulsgetriggerte Dopaminfreisetzung durch diese Präsynapsen blockiert. So wird also durch die orale Einnahme von Psychostimulanzien in geringer Dosierung das für die Umsetzung von Handlungsimpulsen verantwortliche, antriebssteuernde dopaminerge System gewissermaßen abgeschaltet. Der äußere Reiz (eine aufregende Wahrnehmung) oder der innere Impuls (das Gefühl, etwas tun zu wollen) sind weiter da. Die dopaminergen Nervenzellen werden durch diese Stimuli auch ganz normal aktiviert und feuern entsprechend. Aber an den Enden ihrer Fortsätze wird nun kein Dopamin mehr freigesetzt. Der Stimulus kommt also nicht an, wird nicht in Handlung umgesetzt. Die betroffene Person – sei es ein hyperaktives Kind oder ein Erwachsener, der seine »Performance«
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durch diese Art der Einnahme von Psychostimulanzien zu verbessern versucht – verhält sich dann ruhig, erledigt, was zu erledigen ist, lässt sich nicht mehr so schnell durch irgendetwas ablenken und kann sich nun auch wesentlich länger auf eine Sache konzentrieren. Diese Wirkung beschränkt sich freilich nicht auf unruhige Kinder. Sie ist auch bei normalen Kindern und Erwachsenen durch die Einnahme einer Ritalin-Tablette auslösbar, tritt aber hier weniger deutlich zutage als bei ADHS-Kindern. Auch beobachtet man bei ADHS-Kindern, dass die betreffenden Pillen immer dann besonders auffällige Verbesserungen des Verhaltens hervorbringen, wenn sich die Kinder dort aufhalten, wo es besonders ungeordnet und unruhig zugeht (bei aufregenden Spielen oder in der aufgeheizten Atmosphäre des Klassenzimmers). Wie zahlreiche tierexperimentelle Untersuchungen gezeigt haben, führt emotionale Stimulation und Aufregung zur Aktivierung des dopaminergen Systems. Die damit einhergehende massive vermehrte Dopaminausschüttung (Anstieg der extrazellulären Konzentration um das ca. 1000-fache) erhöht die Reaktions- und Handlungsbereitschaft. Innere Impulse wurden durch diese Aktivierung des dopaminergen Systems in entsprechende Handlungsimpulse umgesetzt. Wenn die Vorstellung eines »Dopaminmangels« im Hirn von ADHS-Kindern zuträfe, dann würde eine weitere Stimulation der Doapminfreisetzung durch Ritalin wenig sinnvoll sein. Wenn man jedoch davon ausgeht, dass bei ADHS-Kindern das dopaminerge System überstark entwickelt ist, so lässt sich durch die Einnahme eines Medikaments, das die impulsgesteuerte Dopaminfreisetzung in der oben beschriebenen Weise blockiert, genau das erwarten, was immer wieder beschrieben wird: (1.) Die Wirkungen dieses Medikaments sollte bei ADHS-Kindern grundsätzlich stärker zutage treten als bei so genannten normalen Kindern und (2.) diese Wirkung auf das ADHS-spezifische Verhalten sollte immer dann besonders beeindruckend ausfallen, wenn die betreffenden Kinder besonders »aufgeregt« sind. ADHS-Kinder erleben also nach der Einnahme von Ritalin für ein paar Stunden, wie es ist, wenn ihrem überentwickelten Antriebssystem sozusagen die Puste ausgegangen ist. Sie kommen zur Ruhe, können sich endlich auf eine Sache konzentrieren und reagieren nicht auf jeden Reiz wie »von der Tarantel
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gestochen«. Sobald der Wirkstoff jedoch wieder aus dem Gehirn herausgespült und abgebaut worden ist (nach etwa vier bis sechs Stunden), ist der alte Zustand wieder erreicht und macht sich erneut entsprechend bemerkbar (Übersicht in Hüther 2001).
Die langfristigen Folgen der Einnahme von Psychostimulanzien Welche langfristigen Auswirkungen die wiederholte Einnahme von Psychostimulanzien auf das Gehirn hat, hängt – wie deren akute Wirkung – davon ab, auf welche Weise und in welchen Mengen die betreffende Substanz zugeführt wird und welches Ziel, welchen psychoemotionalen Zustand der Konsument mit der Einnahme zu erreichen versucht. Verabreicht man Versuchstieren wiederholt hoch dosiert Kokain, so schwächt sich die stimulierende Wirkung der Drogen nicht etwa ab, vielmehr reagiert das betreffende Tier von Mal zu Mal empfindlicher mit immer ausgeprägteren Aktivierungssymptomen (Sensibilisierung). Im Extremfall verliert alles, was nicht mit der Drogeneinnahme in Verbindung steht, an Bedeutung. Dopaminerge Kerngebiete im Mittelhirn werden vor allem dann aktiviert und schütten an den Enden ihrer Fortsätze in den limbischen und kortikalen Arrealen des Gehirns massiv Dopamin aus, wenn Ereignisse eintreten, die besser als erwartet ausfallen, für den Organismus also eine Belohnung darstellen. Solche Ereignisse sind informativ und sorgen über die dopaminerg vermittelte sowie vom ventralen Striatum in den frontalen Kortex erfolgende opioiderge Modulation für subjektives Wohlbefinden. In Tierversuchen lässt sich zeigen, dass diese Aktivierung Lernvorgänge bahnt (»gating«, Miller u. Cohen 2001). Wird nun die Ausschüttung von Dopamin auf pharmakologische Weise wiederholt so massiv stimuliert, wie das im Fall der hoch dosierten Einnahme und der raschen Anflutung von Amphetaminen der Fall ist, so kommt es zu einer immer stärkeren Bahnung der mit dem sich dann einstellenden Gefühl und aller anderen im Zusammenhang mit der Einnahme aktivierten Verschaltungsmuster. Verantwortlich für diese überstarken, abhängigmachenden Bahnungs-(Lern-)Prozesse ist eine von dem vermehrt
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ausgeschütteten Dopamin ausgelöste, neurotrophe beziehungsweise neuroplastische Wirkung. Dopamin wirkt auf nachgeschaltete Neuronen als Trigger für die Aktivierung tief greifender Signaltransduktionsmechanimen bis hin auf die Ebene der Genexpression. Es führt zur Induktion von »early immediate genes«, die ihrerseits über die vermehrte Synthese und Freisetzung von neurotrophen Faktoren neuroplastische Antworten auslösen, also das Auswachsen von Nervenzellfortsätzen und die Neubildung synaptischer Verknüpfungen stimulieren. Auf diese Weise werden alle beim wiederholten Konsum der Drogen aktivierten neuronalen Verschaltungen und synaptischen Verbindungen zunehmend fester und intensiver miteinander verknüpft. Gleichzeitig führt die über längere Zeit anhaltende, immer seltener werdende Aktivierung anderer – nicht mit dem Drogenkonsum in Verbindung stehender oder durch diesen Konsum sogar unterdrückter – Reaktionen und Verhaltensweisen zu einer allmählichen Destabilisierung der hierfür verantwortlichen neuronalen Netzwerke und synaptischen Verschaltungen (»use-dependent plasticity«). Während der Phase der Hirnentwicklung, so haben tierexperimentelle Untersuchungen ergeben, hängt die Intensität der Ausreifung des axonalen Projektionsbaums der dopaminergen Neuronen, das Auswachsen dopaminerger Fasern und die Bildung dopaminerger Präsynapsen davon ab, wie häufig die betreffenden Neuronen stimuliert werden (Winterfeld et al. 1998). Jede Stimulation der Dopaminausschüttung, sei es durch ein Erfolgserlebnis oder durch die Einnahme von hoch dosierten Psychostimulanzien, wirkt also als Stimulator für das Wachstum und die Ausbreitung dopaminerger Axionen und Präsynapsen. Damit wird das antriebssteigernde, dopamingesteuerte Verstärkungssystem für innere Impulse durch überhäufige Stimulation entsprechend überstark ausgebildet. Die betreffenden Jugendlichen zeigen dann immer stärkere Symptome von »sensation seeking« und neigen immer leichter zur Selbststimulation ihres übermäßig stark ausgebildeten Antriebssystems mit Hilfe dopaminfreisetzender Drogen. Völlig anders sind die Auswirkungen der Einnahme von Amphetaminen in niedriger Dosierung und bei langsamer Anflutung einzuschätzen, wie sie typischerweise im Rahmen der Behandlung von ADHS-Patienten mit Psychostimulanzien auftreten. In diesen
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Fällen wird die impulsgetriggerte Dopaminfreisetzung durch die Einnahme dieser Substanzen unterdrückt, es wird weniger Dopamin als »Wachstums- und Plastizitätsstimulator« für nachgeschaltete Nervenzellen verfügbar, Umbau- und Bahnungsprozesse werden erschwert, die Herausformung neuer Verschaltungen, Lern- und Umlernprozesse gelingen weniger leicht. Gleichzeitig führt die Hemmung der impulsgetriggerten Dopaminfreisetzung auch zu einer ausbleibenden Stimulation des Wachstums von dopaminergen Fortsätzen und der Bildung dopaminerger Präsynapsen. Mögliche Folgen sind – ähnlich wie nach der experimentellen Zerstörung der dopaminergen Projektion im Tierversuch – mangelnder Antrieb und anhedonisches Verhalten.
Wirkungen und Auswirkungen der Einnahme von substituierten Amphetaminen (Entaktogene) »Ecstasy« ist eine Szenenbezeichnung für bewusstseinsverändernde Substanzen (Psychedelika, Entaktogene) mit einem recht ähnlichen Wirkungsspektrum. Chemisch handelt es sich hierbei um substituierte Amphetamine, insbesondere 3,4-Methylendioxmethamphetamin (MDMA, »Ecstasy«, »XTC«, »E«, »adam«), Methylendioxyethylamphetamin (MDE, »eve«) und Methylendioxyamphetamin (MDA). Diese Substanzen werden über den Serotonintransporter recht selektiv in serotonerge Präsynapsen aufgenommen, verdrängen Serotonin aus seinem vesikulären Speichern und hemmen den Abbau von Serotonin durch die Monoaminooxidase. Die daraus resultierende massive Serotoninfreisetzung führt zu einer generellen Verstärkung serotonin-mediierter Einflüsse auf zentralnervöse Verarbeitungsprozesse. Die serotonergen Axone der Raphe-Kerne sind extrem weitreichend und vielfach verzweigt. Sie erreichen so alle Hirnregionen und zumindest im Kortex ist davon auszugehen, dass es kein Neuron gibt, das in seiner Aktivität nicht durch serotonerge Eingänge moduliert wird. Tagsüber feuert dieses System mit 3-5-Impulsen/ sec., während des Schlafs verringert sich diese tonische Aktivität und während des REM-Schlafs kommt sie völlig zum Erliegen. Aufgrund dieser Charakteristika ist das serotonerge System wie
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kein anderes Transmittersystem in der Lage, die Aktivität der in verschiedenen Hirnbereichen etablierten lokalen neuronalen Netzwerke zu koordinieren und zu harmonisieren. Die plötzliche, massive Serotoninfreisetzung nach der Einnahme substituierter Amphetamine führt daher zu einer extrem gesteigerten Harmonisierung der normalerweise sehr unterschiedlichen Aktivitäten in räumlich getrennten neuralen Netzen des Zentralnervensystem. Auf psychischer Ebene äußert sich dieser Effekt als eine äußerst positiv empfundene Veränderung der allgemeinen Stimmungslage (euphorische-empathische Gefühle, verstärkte Offenheit, emotionale Stabilisierung). Diese erlebte Wirkung bildet die Grundlage für die Ausbildung einer psychischen Abhängigkeit. Die für diese Wirkung verantwortliche massive Serotoninausschüttung kann unter bestimmten Umständen aber auch zum Untergang der betroffenen serotonergen Präsynapsen, insbesondere in den distalen Projektionsgebieten der Raphe-Neurone führen. Dieser Effekt ist aus der tierexperimentellen Forschung schon seit langem bekannt und wird genutzt, um selektive chemische Läsionen serotonerger Afferenzen insbesondere in kortikalen Strukturen zu erzeugen. Ebenso lange wird bereits darüber gestritten, ob die nach der Gabe substituierter Amphetamine im Gehirn von Ratten und Affen beobachtete Degenerationen serotonerger Axone und Präsynapsen auch beim Menschen und bei den in der Drogenszene gebräuchlichen Dosierungen auftreten. Inzwischen konnte der massive Untergang serotonerger Nervenendigungen im Gehirn ehemaliger Ecstasy-Konsumenten mit Hilfe bildgebender Verfahren zweifelsfrei nachgewiesen werden (McCann et al. 1998). Aus Tierversuchen ist bekannt, dass nicht die tatsächlich eingenommene Dosis, sondern die Intensität der nach der Einnahme von substituierten Amphetaminen auftretenden körperlichen Begleitreaktionen mit dem Ausmaß der Schädigung serotonerger Präsynapsen korreliert. Diese systemischen Reaktionen sind sowohl Konsumenten als auch Ärzten gut vertraut: Hyperthermie, Hyperventilation, Tachykardie, Dehydration und Hypermotilität. Die Stärke und Dauer dieser während der ersten Stunden nach der Einnahme substituierter Amphetamine auftretenden systemischen Reaktionen erlaubt Vorhersagen über das Ausmaß
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der Zerstörung serotonerger Nervenendigungen im Gehirn. Bleiben diese Symptome aus, so beträgt die Schädigung weniger als 10 %. Werden diese systemischen Reaktionen sehr stark oder gar lebensbedrohlich, steigt der Anteil abgestorbener serotonerger Nervenendigungen in der Hirnrinde auf 90 % (Hüther et al. 1997a). Verantwortlich hierfür ist eine durch die Drogen ausgelöste fatale Reaktionskette. Die in die vesikulären Speicher der serotonergen Päsynapsen aufgenommenen substituierten Amphetamine verhindern die erfolgreiche Abspeicherung des ausgeschütteten Serotonins. Die serotonergen Nervenendigungen verbrauchen deshalb sehr viel Energie bei dem vergeblichen Versuch, ihren Transmitter wieder vesikulär abzuspeichern. Es kommt so zu einer bedrohlichen Verarmung der präsynaptischen Energie(ATP, Glucose)-Reserven. Gleichzeitig lösen diese Drogen über das von ihnen freigesetzte Serotonin sowie durch die zusätzliche Freisetzung von Katecholaminen eine Reihe von systemischen Reaktionen aus, die alle dazu beitragen, die ohnehin schon problematische Energieversorgung in den serotonergen Nervenendigungen weiter zu verschlechtern. Durch die Verengung der Blutgefäße im Gehirn wird ihre Versorgung mit Glukose und Sauerstoff verringert. Der Anstieg der Körpertemperatur kann nur unter großem Energieverbrauch gedrosselt werden und der erforderliche Wärmeaustausch funktioniert umso schlechter, je wärmer es in einer Diskothek ist und je weniger getrunken wird, um den durch Schwitzen erlittenen Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Die durch die Drogen ausgelöste zum Teil extreme körperliche Aktivität beim Tanzen verstärkt diese Aufheizung und vergeudet die letzten noch vorhandenen Energiereserven. So können immer weniger Ausgangsstoffe für die Energiegewinnung im Gehirn bereitgestellt werden, und die serotonergen Nervenendigungen sind über kurz oder lang nicht mehr in der Lage, die für die Erhaltung ihrer Integrität erforderlichen Energieträger herzustellen. Sie degenerieren nicht deshalb, weil sie durch die Droge vergiftet werden, sondern weil ihnen aufgrund der durch die Droge im ganzen Körper ausgelösten Energieverschwendung der für ihren vermehrten Energieverbrauch erforderliche Nachschub ausgeht. Aus diesem Grund führt die direkte Injektion dieser Substanzen in das Gehirn
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nicht zur Zerstörung dieser serotonergen Nervenendigungen. Da die systemischen Reaktionen letztlich für ihren Untergang verantwortlich sind, lässt sich aus ihrer Intensität auch das Ausmaß der Schädigung serotonerger Nervenendigungen nach der Einnahme einer bestimmten Menge MDMA durch eine bestimmte Person abschätzen. Für die Konsumenten besonders fatal ist der Umstand, dass sich die noch einigermaßen »sichere« Dosierung für den Einzelnen nicht vorhersagen lässt. Es muss mit einer erheblichen interindividuellen genetischen Variabilität der systemischen und neurotoxischen Wirkungen substituierter Amphetamine gerechnet werden. Hinzu kommt noch, dass die aktuelle Verfassung des Einzelnen (sein Gesundheitszustand, seine Ernährungslage etc.) sowie die jeweils herrschenden äußeren Bedingungen (die Raumtemperatur, die Flüssigkeitszufuhr, die Musik als Stimulator für körperliche Anstrengung etc.) bei ein und derselben Dosierung zu unterschiedlich starken systemischen Reaktionen und damit neurotoxischen Wirkungen führen kann. Es ist davon auszugehen, dass die zunehmende Zahl von Jugendlichen, die wegen der Schwere der körperlichen Reaktionen nach der Einnahme von Ecstasy notärztlich versorgt werden müssen, nur die Spitze des Eisbergs darstellt und dass es bei EcstasyKonsumenten wesentlich häufiger als bisher angenommen zu schweren systemischen Reaktionen und damit zum Untergang serotonerger Afferenzen im Gehirn kommt. Immer mehr Jugendliche scheinen somit auf ihrer Suche nach Harmonie und einem kurzen Glücksgefühl genau das System in ihrem Gehirn zu zerstören, das für die Generierung dieser Empfindungen notwendig ist. Die psychischen Auswirkungen sind im Einzelfall schwer abschätzbar. Durch den Verlust des serotonergen »Puffersystems« wäre eine Akzentuierung bestimmter psychischer Anlagen und Grundstrukturen zu erwarten, die als anhaltende Veränderungen bestimmter Persönlichkeitsmerkmale zutage tritt. In Abhängigkeit von der individuellen Prädisposition kann es daher zur Manifestation atypischer Psychosen (Affektverflachung, Kontaktstörung, Denkstörungen), paranoider Psychosen (Verfolgungswahn, Beziehungswahn), depressiver Syndrome, zu Angst- und Panikerkrankungen, Depersonalisationssyndromen, verschiedenartigsten Verhaltensauffälligkeiten, Schlafstörungen und generellem An-
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triebsverlust kommen (detaillierte Übersicht und Zitationen der Originalarbeiten zum Thema »Ecstasy« siehe Hüther et al. 1997a, 1997b).
So what? … Argumente und Ansatzpunkte für die Suchtprävention So viel ist klar: Die Einnahme psychoaktiver Substanzen, wie hier am Beispiel der Psychostimulanzien und der Entaktogene gezeigt, hat Auswirkungen auf das Gehirn, kurzzeitige (von Konsumenten meist gewünschte Effekte) und langfristige (von Konsumenten nicht erwünschte, auch nicht sofort spürbare, aber letztlich in Kauf genommene, meist irreversible Folgen). Aber ebenfalls unbestreitbar ist: Nicht jeder junge Mensch macht sich auf die Suche nach Drogen, die seinen Antrieb und seine Stimmung verändern. Und nicht jeder findet den akuten Zustand, in den er durch die Einnahme derartiger Substanzen versetzt wird, so ungeheuer erstrebenswert, dass er ihn in der Folgezeit immer wieder auf die gleiche Weise zu erreichen trachtet. Wir haben es also beim Missbrauch psychoaktiver Substanzen immer mit einem Phänomen zu tun, das nur dann auftritt, wenn zwei Wirkungen zusammentreffen: einerseits die auslösende Wirkung des psychoaktiven Suchtstoffs mit seiner besonderen Fähigkeit, ganz bestimmte neuronale Regelkreise und Transmittersysteme in ihrer Aktivität zu verändern und auf diese Weise einen bestimmten inneren, psychoemotionalen Zustand zu erzeugen; andererseits die anziehende Wirkung, die all diese durch den Stoff ausgelösten Effekte für denjenigen hat, der ihn einnimmt. Die immer genauere Kenntnis der molekularen, synaptischen und neuronalen Mechanismen über die psychoaktive Stoffe ihre Wirkungen entfalten, hat in den letzten 50 Jahren lediglich dazu geführt, dass immer effektiver und spezifischer wirksame Substanzen entwickelt worden sind. Ein noch besseres Verständnis all dieser Mechanismen wird auch in Zukunft kaum dazu beitragen, den zunehmenden Missbrauch solcher Substanzen einzudämmen und die wachsende Zahl jugendlicher Drogenkonsumenten zu verringern. Stärker als bisher muss daher die Frage in den Mit-
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telpunkt aller suchtpräventiven Maßnahmen gestellt werden, wie und unter welchen Voraussetzungen die Bereitschaft von Kindern und Jugendlichen zur Einnahme psychoaktiver, ihre Stimmung und ihren Antrieb verändernde Substanzen verringert werden kann. Wie, so lautet die entscheidende Frage also, kann man Kindern und Jugendlichen helfen, zu autonomen, verantwortungsbewussten, psychosozial und psychoemotional kompetenten Persönlichkeiten heranzuwachsen, die – ähnlich wie die dominanten Makaken in dem eingangs beschriebenen Tierexperiment – von der Verführungskraft moderner Jugenddrogen nicht angezogen werden? Die Antwort auf diese Frage ist aufgrund der in den letzten Jahren gewonnenen Erkenntnisse auf den Gebieten der Entwicklungsneurobiologie, der Säuglings- und Bindungsforschung und der Beziehungs- und Sozialisationspsychologie relativ leicht zu beantworten: Viel stärker, als bisher vermutet, werden das sich entwickelnde Gehirn und die sich dort herausbildenden neuronalen Verschaltungen und synaptischen Netzwerke durch die frühen Beziehungserfahrungen strukturiert, die ein Jugendlicher insbesondere während der Phase seiner frühen Kindheit macht (Hüther 1998; Liu et al. 2000). Das Gehirn des Menschen ist daher, zumindest in all jenen Bereichen, in denen die endgültigen Nervenzellverschaltungen erst nach der Geburt geknüpft und erfahrungsabhängig gebahnt und gefestigt werden, ein soziales Konstrukt (Eisenberg 1995; Hüther et al. 1999). Als besonders anfällig und durch negative frühe Beziehungserfahrungen (Verunsicherung, Überforderung, Vernachlässigung, Verwöhnung etc.) besonders leicht in ihrer weiteren Ausreifung beeinflussbar haben sich die monoaminergen Systeme (Auswachsen serotonerger, dopaminerger und noradrenerger Projektionen) erwiesen (Rosenblum et al. 1994; Smythe et al. 1994; Winterfeld et al. 1998). Wie solche negativen, die gesamte weitere Entwicklung eines Kindes (und seines Gehirns) beeinflussende Beziehungserfahrung entstehen und wie sie vermieden werden können, ist lange bekannt und vielfach beschrieben worden (Spitz 1967; Winnicott 1974; Stern 1992; Dornes 2001): Kinder brauchen Sicherheit bietende emotionale Bindungsbeziehungen (Gebauer u. Hüther 2001), Orientierung bietende, ihre Neugier und Lernfreude, ihren Gestaltungsdrang und ihre Begeisterungsfähigkeit lenkende Vorbilder (Gebauer u.
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Hüther 2002), und sie brauchen Räume und Gelegenheit zur spielerischen Entfaltung und Entdeckung ihrer eigenen Möglichkeiten (Gebauer u. Hüther 2003). Wenn Kinder in einer Gemeinschaft aufzuwachsen gezwungen sind, die ihnen diese Voraussetzungen für die Herausbildung eines komplex vernetzten, zeitlebens lernfähigen Gehirns nicht bietet, nicht bieten kann oder nicht bieten will, so wächst in der nachwachsenden Generation das Ausmaß an Verhaltensstörungen (Haffner et al. 1998), an Verunsicherung und Angst (Twenge 2000) und damit eben zwangsläufig auch die Zahl derjenigen Jugendlichen, die der Verführungskraft moderner Drogen (immer früher) erliegen.
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Christoph Möller
Stationäre und ambulante Therapieangebote für drogenabhängige Jugendliche
Vorbemerkung Die Erfahrungen und Konzepte aus dem Erwachsenenbereich lassen sich nicht eins zu eins auf den Kinder- und Jugendbereich übertragen. Die Eigenarten und Dynamiken des Jugendalters müssen berücksichtigt werden und die Angebote sollten störungs- und altersspezifisch orientiert sein. Im ersten Teil des Beitrags werden Besonderheiten und spezifische Anforderungen eines Angebots für Jugendliche besprochen. In einem zweiten Teil wird die Therapiestation für drogenabhängige Kinder und Jugendliche Teen Spirit Island in Hannover als ein mögliches Modell vorgestellt.
Entwicklungspsychologische Aspekte Die Adoleszenz ist eine Lebensphase, in der die bisher gewonnene Sicherheit, das Erleben der Welt, die eigenen Wertevorstellungen und die bisherigen Lebenserfahrungen erschüttert und in Frage gestellt werden. Es gilt, die Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz zu meistern, wie die Auseinandersetzung mit dem sich verändernden Körper und der sich entwickelnden Erwachsenensexualität. Die Ablösung von den Eltern, der Ansturm der Emotionen (»himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt«), die Einbindung in die Peergroup und die Auseinandersetzung mit moralischen Prinzipien sind weitere Inhalte. Das Gelingen dieser Aufgaben ist entscheidend für die Ausbildung einer stabilen und gesunden Identität sowie für das Entwickeln sozialer Fertigkeiten, Bewältigungsmechanismen und Entscheidungsstrategien (Silbereisen 1995). Die
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seelische Entwicklung vollzieht sich im Spannungsfeld von Polaritäten wie Selbst und Objekt, Autonomie und Abhängigkeit. Unter ungünstigen Bedingungen, biologischer oder psychischer Art, kann es zu einer krisenhaften Zuspitzung kommen. Bei Kindern und Jugendlichen ist eine zunehmend geringere Belastbarkeit zu beobachten. Viele Eltern fühlen sich mit den Erziehungsaufgaben überfordert und haben in der eigenen Vorgeschichte selbst wenig Bindungs- und Beziehungsfähigkeit entwickeln können. Fühlen sich die Eltern überfordert oder sind beide Eltern berufstätig, werden die Kinder oft mit Geschenken und materieller Zuwendung versorgt. Anstelle positiver Beziehungserfahrungen tritt hier frühes Konsumverhalten. Die Familie als verlässlicher Bezugsrahmen, in dem erste grundlegende Beziehungserfahrungen gesammelt werden, zerfällt zunehmend. Kinder wachsen mit mehr und häufig wechselnden Bezugspersonen auf. Die Lebensrealität der Kinder ist in den letzten Jahrzehnten schnelllebiger geworden. An die Kinder werden schon in jungen Jahren erhöhte Integrationsanforderungen gestellt. All diese Aspekte müssen bei der Behandlung drogenkonsumierender Jugendlicher berücksichtigt werden. Bei Jugendlichen mit einer Abhängigkeitssymptomatik finden sich in der Lebensgeschichte häufig Risikofaktoren wie frühe Bindungs- und Beziehungsstörungen, Frustrationsintoleranz, Aggressivität, Entwicklungsstörungen, ausgeprägtes »sensation seeking«, unzureichende Beziehungsfähigkeit und Unterstützung in der Jugendzeit. Frühe Traumatisierungen durch psychische, physische oder sexuelle Gewalt, Drogen oder Alkoholkonsum der Bezugspersonen mit ihren problematischen Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung oder psychische Erkrankungen eines Elternteils sind in den Anamnesen der Jugendlichen keine Seltenheiten. Stehen die Eltern aufgrund eigener Problematik zeitweise oder dauerhaft nicht zur Verfügung, unerträgliche Gefühle des Kindes mit ihm zu teilen oder zu »containern«, kann beim Heranwachsenden ein resignatives Grundgefühl die Lebenshaltung prägen. Die wenigsten dieser Jugendlichen stammen aus einem Umfeld, das ihnen Geborgenheit und Zuwendung in Verbindung mit klaren Erwartungen und Absprachen vermitteln konnte. Aber auch eine besorgte Haltung der Eltern, die nicht den notwendigen Freiraum für eine selbstständige Entwicklung lässt, kann sich ungünstig auf
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die Identitätsentwicklung auswirken. Hinter dem »Kiffen« und dem Anschluss an eine drogenkonsumierende Peergroup mag sich der Wunsch nach mehr Eigenständigkeit und Selbstverantwortung verbergen. Das Einbeziehen des lebensgeschichtlichen Hintergrunds, der am Entstehen einer Suchtproblematik wesentlich beteiligt ist, in den therapeutischen Prozess ist wichtig, damit der Jugendliche längerfristig auf Suchtmittel verzichten kann (Möller 2003a). Vernachlässigung, psychische und physische Traumatisierungen vor allem in der Kindheit führen zu Rückzug und Copingstrategien zur Herstellung des inneren Gleichgewichts, die auf Dauer dysfunktional sind. Diese dysfunktionale Entwicklung prägt sich bis in die Hirnstruktur des sich entwickelnden zentralen Nervensystems aus. Nähe und Bindung sind unbekannt und werden als bedrohlich erlebt. Es braucht Zeit, bis diese Erfahrungen durch reifere Strategien innerer Ordnung abgelöst werden, die inneren Engramme überschrieben sind und neue Verschaltungen im Gehirn gebahnt werden (Hüther 2001).
Der Konsum psychoaktiver Substanzen in der Adoleszenz Das Jugendalter ist wie kein anderer Lebensabschnitt mit Experimentierfreude, Neugier, Entdeckungslust und Risikobereitschaft verbunden. Erste Erfahrungen mit psychoaktiven Substanzen werden gesammelt. Die psychotropen Effekte des Substanzkonsums sprechen Jugendliche besonders an und eröffnen neue Erlebnisformen. Die Integration in eine Jugendszene kann als bereichernd erlebt werden, während die Gesundheitsfolgen des Drogenkonsums häufig nicht bedacht oder verharmlost werden. Das Alter der Erstkonsumenten verschiebt sich in immer jüngere Bereiche. Es ist davon auszugehen, dass 15 bis 20 % der Jugendlichen und jungen Erwachsenen Erfahrungen mit illegalen Drogen machen. Ein Großteil stellt den Drogenkonsum nach einer Phase des Probierens und Experimentierens wieder ein (Tossmann u. Pilgrim 2001). Von den vielen Jugendlichen, die mit Drogen experimentieren, entwickeln etwa 10 % ein manifestes Drogenproblem. Hier liegen in der Regel ungünstige Entwicklungsbedingungen zu-
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grunde. Neben den so genannten legalen Drogen Alkohol und Nikotin werden von Jugendlichen vor allem Cannabisprodukte konsumiert. Betäubende Rauschmittel, wie Heroin, sind rückläufig, während die Gruppe der Amphetamine, hier vor allem die Entaktogene mit ihrem Hauptvertreter »Ecstasy« (Wirkstoff Methylendioxymethamphetamin), sich zunehmender Beliebtheit erfreut (Thomasius 1999). Auf spezialisierten Stationen für Jugendliche mit einer Drogenproblematik macht die Gruppe der Jugendlichen, die Ecstasy und / oder Cannabis missbräuchlich oder im Sinne einer Abhängigkeit konsumieren, über 50 % aus. Heroinabhängige Jugendliche sind mit gut 30 % vertreten (Möller u. Thoms 2001). Das entspricht den Zahlen der polizeilich erstauffälligen Konsumenten harter Drogen. Traditionell haben sich die Konzepte der Drogenhilfe an den betäubenden Drogen Heroin und Alkohol orientiert. Vor allem in Bezug auf Jugendliche ist es notwendig, die sich verändernden Umweltbedingungen zu erkennen und zu verstehen. In der Adoleszenz treffen die Drogen auf ein sich noch im Entwicklungsprozess befindendes Gehirn. Über den Einfluss der toxischen Eigenschaften psychotroper Substanzen auf diese vulnerable Reifungsphase des Zentralnervensystems ist noch wenig bekannt. Bei einigen Substanzen wie Ecstasy und auch bei Cannabinoiden sind nachhaltige Schädigungen bekannt. Der fortgesetzte Substanzmissbrauch wirkt sich negativ auf eventuelle Entwicklungsstörungen, intrapsychische und interpersonelle Konflikte sowie auf Problemlagen aus. Ein anhaltender Substanzkonsum bis hin zur Entwicklung einer Abhängigkeit drohen bei Zusammentreffen vorbestehender Risikofaktoren und problematischem Drogenkonsum im Jugendalter (Thomasius et al. 2003). Viele Jugendlichen setzen die Drogen im Sinne einer Selbstmedikation ein, zur Regulierung innerer Spannung, um seelische Schmerzen zu lindern oder um ihren oft schwer aushaltbaren Alltag vergessen zu können. Ohne die Behandlung der zugrunde liegenden Konflikte und Störungen können die Jugendlichen längerfristig nicht auf den Drogenkonsum verzichten (Möller u. Thoms 2000).
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Komorbidität Substanzmissbrauchende oder -abhängige Jugendliche weisen häufig komorbide psychische Störungen auf. In der Vorgeschichte finden sich Hinweise auf Entwicklungsstörungen, schwierige Lebensverhältnisse, frühe Bindungs- und Beziehungsstörungen und vieles mehr. Ein Substanzmissbrauch wirkt sich negativ auf die physische und psychische Entwicklung des Jugendlichen aus und kann zu Entwicklungsdefiziten führen oder vorbestehende Entwicklungsstörungen ungünstig beeinflussen. Häufig findet sich eine Störung des Sozialverhaltens. Depressive Symptome, Angst-, sozialphobische und Essstörungen sind weitere häufig anzutreffende Diagnosen. Die Frage, ob Persönlichkeitsentwicklungsstörungen im Jugendalter diagnostiziert werden sollten, wird unter Fachleuten kontrovers diskutiert. Bei dieser Klientel finden sich häufig eindeutige Symptome, welche die Diagnose vor allem der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung rechtfertigen (Kernberg et al. 2001). Bei einigen Jugendlichen mit Substanzmissbrauch treten psychosenahe Symptome, manifeste Störungen aus dem psychotischen Formenkreis oder drogeninduzierte Psychosen auf. Einige Drogen wie Cannabis, Ecstasy, Amphetamine, LSD und Kokain begünstigen derartige Symptome. Die Frage, ob eine vorbestehende psychische Erkrankung den Einstieg in den Drogenkonsum auch im Sinne einer Selbstmedikation begünstigt hat oder ob umgekehrt der Drogenkonsum das Auftreten der komorbiden Störung fördert, lässt sich im Einzellfall oft nicht sicher beantworten. Denkbar ist auch, dass ein dritter Faktor, wie zum Beispiel eine Missbraucherfahrung mit den Folgen eines reduzierten Selbstwertgefühls und Autoagression, für die Entstehung beider Problematiken mit verantwortlich ist (Thomasius et al. 2003; Lehmkuhl 2003; Möller u. Thoms 2002; Essau et al. 2002).
Jugendliche und ihre Bezüge Bei jugendlichen Patienten haben wir es aufgrund der Entwicklungsphase neben dem Patienten mit vielen anderen Bezugs- und Kontaktpersonen des Jugendlichen zu tun. Neben den Eltern und
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der Familie spielen vor allem die Peergroup, die Schule und die Lehrer eine wichtige Rolle. Bei Drogenkonsumenten sind häufig die Jugendhilfe, Ärzte, Therapeuten, Beratungsstellen (vor allem Drogenberatungsstellen, aber auch Familien- und Erziehungsberatungsstellen) und die Jugendgerichtshilfe involviert. Der Jugendliche ist auf vielfältige Unterstützung angewiesen, die häufig nicht aus einer Hand geliefert werden kann. Nur den Jugendlichen ohne seine Bezugssysteme zu betrachten, würde seiner komplexen Situation nicht gerecht. Wenn so viele unterschiedliche Institutionen mit andersgelagerten Schwerpunkten zusammenarbeiten, bleiben Schwierigkeiten in der Kooperation nicht aus. Jeder beansprucht für sich, die richtige Sichtweise zu haben. Ein Beispiel: Ein drogenabhängiger Jugendlicher ist mit der Jugendhilfe, einer Drogenberatungsstelle und der Jugendpsychiatrie im Kontakt. Die Jugendhilfe wird vom Standpunkt der Erziehungshilfe, der Pädagogik auf den Jugendlichen blicken, in der Drogenberatungsstelle steht der Substanzmissbrauch im Vordergrund und die Jugendpsychiatrie wird einen Schwerpunkt im Bereich der Entwicklungsstörung sehen. Hier kann es schnell zu Verständigungsschwierigkeiten kommen. Um dem Jugendlichen gerecht zu werden, müssen die unterschiedlichen Einrichtungen miteinander kooperieren. So können sich die Angebote ergänzen und den Blickwinkel des Einzelnen erweitern (Möller 2004). Jugendliche Drogenkonsumenten sind Grenzgänger. Werte und Normen werden in Frage gestellt und das eigene Leben wird bei unkontrolliertem Konsum riskiert. Durch den Konsum psychoaktiver Substanzen suchen die Jugendlichen »Kicks« und versuchen der Realität zu entfliehen. Die Verbindung pädagogischer und therapeutischer Elemente, welche die Suche nach Grenzerfahrungen aufgreifen und in einem altersentsprechenden Rahmen ermöglichen, wie zum Beispiel das Klettern in der Kletterhalle und am Felsen, sollte Bestandteil therapeutischer Angebote speziell für Jugendliche sein.
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Versorgungsstrukturen für drogenabhängige Jugendliche Drogenmissbrauchende und -abhängige Jugendliche drohen durch das Netzwerk der psychosozialen Angebote zu fallen. Die Drogenhilfe hat sich traditionell an erwachsenen Drogenkonsumenten orientiert. Jugendliche in Einrichtungen für Erwachsene zu integrieren ist problematisch. Sie werden den Jugendlichen mit ihren altersgemäßen Bedürfnissen nicht gerecht und es können sich schwierige Konstellationen aus der Vorgeschichte der Jugendlichen wiederholen. Vor allem Jugendliche mit einem ausgeprägten Cannabis- oder Ecstasymissbrauch sind auf Entgiftungsstationen für Erwachsene nicht gut aufgehoben. Im Entzug geben die Jugendlichen durch den Drogenverzicht einen wichtigen Schutzmantel ab. Das ist die Chance, anstelle der Drogen ein haltendes, therapeutisches Beziehungsangebot zu machen. In der traditionellen Drogenhilfe erfährt dieses Beziehungsangebot durch die institutionelle Trennung von qualifizierter Entzugsbehandlung und Therapie einen Bruch (so genannte Schnittstellenproblematik) (Lehmann 1999). Das vorhandene Misstrauen und die innere Emigration der Jugendlichen werden verstärkt und es kommt häufig zu Rückfällen. In der Jugendhilfe ist Drogenkonsum häufig ein Ausschlusskriterium. Es gibt nur wenige Angebote, die sich auf diese Problematik spezialisiert haben. Auch auf vielen kinder- und jugendpsychiatrischen Stationen führt Drogenkonsum zum Ausschluss, da er Mitpatienten gefährden oder verleiten kann. Drogenkonsumierende Jugendliche üben häufig eine Faszination auf ihre Mitpatienten aus und bringen eine eigene Dynamik mit auf die Station. Auf der anderen Seite werden Unwissenheit und Unsicherheit in Bezug auf Drogen von Seiten der Mitarbeiter durch den Ausschluss dieser Jugendlichen abgewehrt. Eine Umfrage in den kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilungen hat ergeben, dass es nur wenige spezialisierte Angebote gibt und große Versorgungslücken bestehen (Thoms u. Köhler 2001). Ein früher und ausgeprägter Drogenkonsum kann schon im Jugendalter durch die Beschaffungskriminalität zu Haftstrafen führen. Die Jugendvollzugsanstalten sind überfüllt. Therapeuti-
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sche und pädagogische Angebote sind die Ausnahme. Auch die Vermittlung in therapeutische Einrichtungen (bei Vorliegen des § 35 des Betäubungsmittelgesetzes: Therapie statt Strafe) gestaltet sich aufgrund des geringen Angebots schwierig. In der ambulanten Versorgung mangelt es ebenso an entsprechenden Angeboten. Neben den Drogenberatungsstellen sind nur wenige Therapeuten bereit, diese Jugendlichen zu versorgen. Diese Patienten sind oft unzuverlässig und passen nicht in die jeweilige Praxis. Im Frühstadium einer sich entwickelnden Suchtstörung fühlt sich für die Hilfe suchenden Eltern und Jugendlichen oft keiner zuständig. Der Kinderarzt verweist auf die Drogenproblematik, in der Jugendhilfe ist der Betroffene eventuell durch seinen Cannabiskonsum entlassen worden und in der Drogenberatungsstelle hören die Eltern, ihr Kind »kiffe doch nur«. Gerade zu diesem frühen Zeitpunkt ist eine Intervention notwendig und erfolgversprechend, um das Abgleiten in eine Suchtkarriere zu verhindern. Ein familientherapeutisches Vorgehen, wenn nötig unter Einbeziehung anderer wichtiger Bezugspersonen, wie zum Beispiel Lehrern, ist sinnvoll (Thomasius et al. 2000).
Wie sollte ein therapeutisches Angebot für drogenmissbrauchende und -abhängige Jugendliche aussehen? Behandlungskonzepte für drogenabhängige Erwachsene können nicht ohne weiteres auf jugendliche Patienten übertragen werden, da die Eigenarten und Besonderheiten ihres Lebensabschnitts berücksichtigt werden müssen: – Entwicklungspsychologische Aspekte und die psychopathologischen Besonderheiten der Jugendlichen müssen mit einbezogen werden und es muss ihnen ein Erfahrungsraum geboten werden, wo Nachreifung möglich ist. – Komorbide Störungen, Entwicklungsdefizite und Fehlentwicklung müssen mitbehandelt werden, damit der Jugendliche auch längerfristig nicht auf Drogen im Sinne einer Selbstmedikation zurückgreifen muss. – Der Drogenmissbrauch kann körperliche (zum Beispiel Hepatitis und HIV) und psychische (Konzentrationsstörung, psy-
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chotisches Erleben und vieles mehr) Folgeschäden nach sich ziehen und die gesunde, altersgemäße Entwicklung des Jugendlichen nachhaltig beeinträchtigen. Viele Jugendliche finden Kiffen »cool«, haben kein Problembewusstsein und folglich wenig Eigenmotivation für eine Entgiftung und Therapie. Der Wunsch nach Veränderung geht häufig von den Angehörigen aus. Die Fremdmotivation aufgrund des Außendrucks muss im Lauf der Behandlung in Eigeninitiative umgewandelt werden, um ein längerfristiges Arbeitsbündnis mit dem Jugendlichen eingehen zu können. Im Einzelfall kann auch eine Einweisung gegen den Willen des Jugendlichen auf eine geschützte jugendpsychiatrische Station über das Familiengericht (§ 1631b BGB) sinnvoll sein. Während der Wochen ohne Drogen ist es manchem Jugendlichen möglich, sich auf ein Beziehungs- und Behandlungsangebot einzulassen. Eltern und andere Bezugspersonen müssen in den Prozess mit eingebunden werden. Eine klare, konsequente und dabei zugewandte Haltung der Eltern kann maßgeblich zum Gelingen einer Therapie beitragen. Neben den oft konflikthaften intrafamiliären Beziehungen ist das Bedürfnis der Jugendlichen nach elterlicher Unterstützung und Anerkennung groß. Auch andere Bezugspersonen wie Lehrer, Sozialarbeiter oder Drogenberater können als Unterstützung für den Jugendlichen wichtig sein. Die pädagogische und schulische Förderung ist für die Entwicklung von Lebensperspektiven unabdingbar. Ein Halt gebender und klar strukturierter Rahmen kann den Jugendlichen Sicherheit bieten und eine mangelhaft ausgebildete innere Struktur vorübergehend stabilisieren. Da Jugendliche mit vielfältigen Institutionen im Kontakt stehen, ist es notwendig, dass die einzelnen Einrichtungen miteinander kooperieren. Durch die Kooperation kann im Einzelfall eine Beziehungskontinuität gewährleistet werden, um die häufigen Beziehungsbrüche aus der Vorgeschichte nicht zu wiederholen. Drogenmissbrauchende Jugendliche sind Grenzgänger. Altersangemessene Grenzerfahrungen und »Kicks«, wie zum Beispiel das Klettern, sind wichtige Elemente, mit denen die Jugendlichen erreicht werden können.
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– Behandlungsangebote sollten abstinenzorientiert sein. Im Einzelfall kann eine vorübergehende Substitution sinnvoll sein, wenn andere Behandlungsversuche den Jugendlichen nicht erreicht haben (Möller et al. 2003). – Die Gleichaltrigengruppe sollte als therapeutisches Element durch gruppentherapeutische Angebote genutzt werden. Die Jugendlichen können sich Halt und Unterstützung geben und die Auseinandersetzung in der Peergroup ist in diesem Alter wichtig für die Identitätsbildung, Ablösung von den Eltern und vieles mehr. – Das Weglaufen vor Schwierigkeiten und Abbrechen von Beziehungen ist Teil der Lebensgeschichte vieler drogenkonsumierender Jugendlicher. Bei Therapieabbruch oder »Rückfall« ist es wichtig, die Möglichkeit des Wiederkommens zu geben. Wenn das im Rahmen der therapeutischen Beziehung bearbeitet werden kann, sind es oft konstruktive »Vorfälle«.
Die Therapiestation Teen Spirit Island Aufnahmephase Teen Spirit Island ist eine Therapiestation für drogenabhängige Kinder und Jugendliche. Sie ist Teil der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kinderkrankenhauses auf der Bult in Hannover. Auf Initiative des damaligen Oberarztes Dr. Edelhard Thoms wurde die Station im Juli 1999 eröffnet. Teen Spirit Island hat ein zweiphasiges Behandlungsmodell mit insgesamt zwölf Plätzen. Behandelt werden Jugendliche im Alter bis zu 18 Jahren. In der Aufnahmephase gibt es regulär vier Behandlungsplätze. Der Aufenthalt ist bis zu acht Wochen möglich. Schwerpunkte liegen hier in der qualifizierten Entgiftung, der Kontaktaufnahme und der Motivation für eine weiterführende Therapie. Ferner in der körperlichen (zum Beispiel Hepatitis und HIV) und neurologischen Diagnostik und psychiatrischen Abklärung, der Aufklärung über »safer sex« und »safer use« und die Vorbereitung auf einen längerfristigen therapeutischen stationären Aufenthalt. Entgiften die Jugendlichen, so fühlen sie sich anfangs »nackt« und schutzlos. Mit Hilfe
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der Drogen haben sie gelernt, Stress zu reduzieren, zu vergessen und Schmerzen zu lindern. Das fällt plötzlich weg, ohne dass der Jugendliche andere Copingmechanismen erlernt hat. In dieser vulnerablen Phase versuchen wir, dem Patienten ein tragfähiges, therapeutisches Beziehungsangebot zu machen. Für manch einen Patienten ist es schwer aushaltbar, akzeptiert und angenommen zu werden. Über Jahre haben sie sich über negative, unzuverlässige Beziehungserfahrungen definiert. Tadel und Vorwürfe sind vertrauter als Akzeptanz und Angenommenwerden. Im Einzelfall ist eine ärztlich verordnete Medikation notwendig und sinnvoll, um die Grundsymptomatik unterstützend zu behandeln. Leidet ein Patienten zum Beispiel an abendlichen »Flashbacks«, die er bisher mit Hilfe stark sedierender Drogen wie Heroin oder Benzodiazepinen stoppen konnte, so wird er ohne eine entsprechende Medikation nicht auf die Drogen verzichten können. Gerade in der Anfangsphase ist eine klare, die Therapie bejahende Haltung der Angehörigen und Bezugspersonen unerlässlich, um den zunächst fremdmotivierten Patienten das Durchhalten zu erleichtern. Auch die Angehörigen benötigen bei diesem Prozess Unterstützung und Beratung. Nicht selten brauchen die Jugendlichen mehrere Anläufe, bis sie die Kraft und den Willen aufbringen, sich von ihren alten Strukturen zu lösen. Das Weglaufen ist ihnen vertraut und als Nähe- und Distanzregulierung auch im therapeutischen Prozess manchmal notwendig. Das Wiederkommen und sich Auseinandersetzen ist etwas Neues und muss in das therapeutische Konzept miteinbezogen werden. Wenn die Entgiftung abgeschlossen ist, eine ausreichende Motivation für eine weiterführende Therapie besteht und Grundlagen einer angemessenen Auseinandersetzungsfähigkeit in der Gruppe der Gleichaltrigen erworben wurden, wechselt der Jugendliche in die Behandlungsphase. Bezugsbetreuer und Therapeuten bleiben erhalten, da sich die beiden Phasen räumlich unter einem Dach befinden.
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Behandlungsphase In der Behandlungsphase gibt es regulär acht Plätze. Der Aufenthalt ist bis zu zehn Monate möglich. Schwerpunkte sind die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung der zugrunde liegenden seelischen Störungen, Familientherapie, Schule, Wiedereingliederung und die Aufgabe, Perspektiven für ein drogenfreies Leben außerhalb der Station zu entwickeln (Thoms 1999).
Tagesablauf Der Tagesablauf auf der Station ist zeitlich und inhaltlich klar strukturiert und hat eine Halt gebende, stützende Funktion. »Freizeit« kann von den Jugendlichen anfangs nicht gestaltet werden. Sie verleitet dazu, an alte Zeiten zu denken und Drogengespräche zu führen. Das Verlangen nach Drogen und ein Therapieabbruch sind nicht selten die Folge. In der Morgen- und vor allem der Abendrunde gilt es, offen Konflikte und Spannungen anzusprechen und – soweit möglich – zu klären, um entspannt in die Nachtruhe gehen zu können.
Alltagspraktische Fähigkeiten Das sich Aneignen alltagspraktischer Fähigkeiten ist wesentlicher Bestandteil der Tagesstruktur. Die Jugendlichen putzen jeden Morgen unter Anleitung die von ihnen genutzten Räumlichkeiten. Den eigenen Wohnraum zu gestallten und ordentlich zu halten ist für viele der Patienten nicht selbstverständlich. Was anfangs unter Murren gemacht wird, bewerten viele Jugendlichen im Nachhinein positiv. Mehrmals in der Woche kochen die Jugendliche unter Anleitung selbst. Sie können für das Selbstkochen soviel Geld ausgeben, wie von der Zentralküche durch die Selbstversorgung eingespart wird. Die Zutaten werden selbst besorgt und das Essen wird in der geräumigen Stationsküche zubereitet. Das gemeinsame Essen mit den Stationsbetreuern ist nicht allen aus dem häuslichen Rahmen vertraut.
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Die von den Betreuern geleiteten Aktivitäten umfassen ein Spektrum von Gesellschaftsspielen, Basteln, künstlerischem Gestalten und Ausdrucksformen entdecken bis zu sportlichen Aktivitäten wie Beachvolleyball, Basketball, Schwimmen, Inlinerfahren, Tischtennis und Klettern. Einmal wöchentlich gehen die Jugendlichen in eine Kletterhalle. Im Sommer nehmen sie an therapeutisch-pädagogischen Kletterfahrten in einem nah gelegenen Gebirgszug teil, wo sie am Felsen zwanzig bis dreißig Meter hoch klettern können. Hier können legale und altersangemessene »Kicks« und Grenzerfahrungen gesucht werden. Der Jugendliche lernt die Möglichkeiten und Grenzen seines Körpers kennen, Erfolgserlebnisse ermöglichen Zuversicht und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und gegenüber den Sichernden.
Schule Viele der Patienten haben in den Monaten oder Jahren vor der stationären Aufnahme die Schule nicht mehr besucht. Große Wissenslücken sind die Regel. In Einzel- und Kleingruppenunterricht ist das Ziel, Unterrichtsrückstände zu verhindern beziehungsweise aufzuholen und die Eingliederung in eine Regelschule vorzubereiten. Die für erfolgreiches Lernen notwendigen Basisfähigkeiten wie Ausdauer, Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, Zuverlässigkeit und Gruppenfähigkeit können erlernt werden. Das Wieder-Heranführen an Lernen und schulischen Alltag ist wichtige Vorbereitung für die Wiedereingliederung nach der Therapie. In der zweiten Hälfte der Therapie machen die Jugendlichen ein Berufs- und Schulpraktikum. Neben dem Erproben eigener Fähigkeiten und dem Entdecken möglicher Zukunftsperspektiven geht es darum, Schritte zurück in den Alltag zu machen, sich mit Menschen auseinander zu setzen, ohne auf die allgegenwärtigen Versuchungen und Angebote des Rausches zurückzugreifen. Ein scheinbar harmloser Schulbesuch kann manchen Jugendlichen in schwere Konflikte bringen, die er in der Therapie bearbeiten kann. Zum Ende der Therapie ist die Außenorientierung wichtig, um den Jugendlichen auf die realen Bedingungen mit all ihren Versuchungen vorzubereiten. Das in der Therapie Erarbeitete
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muss in den Alltag transportiert und dort erprobt und umgesetzt werden.
Werkprojekt In einem Werkprojekt werden sinnvolle Beschäftigungs- und Lernmöglichkeiten in einem handwerklich orientierten Rahmen eröffnet. Die Jugendlichen werden durch diese Arbeitserprobung auf anfallende Alltagsanforderungen vorbereitet. Planung, Umsetzung und sichtbarer Erfolg liegen eng beieinander, was gerade Jugendliche motivieren kann. Ein handfestes Ergebnis kann am Ende des Prozesses mit nach Hause genommen werden.
Therapeutische Gestaltung der Station Die Gruppe steht als therapeutisches Medium im Mittelpunkt. In den Alltags- und Therapiegruppen soll Verbindlichkeit im Umgang miteinander und mit den Erwachsenen erarbeitet werden. Viele der Jugendlichen haben Schwierigkeiten, den anderen in seiner Andersartigkeit wahrzunehmen und ihn als Gegenüber zu betrachten, mit dem Konflikte entstehen und Kompromisse ausgehandelt werden müssen. Das Reden über sich selbst ist im Jugendalter noch ungeübt, oft beängstigend und bedrohlich. Die traumatischen Erfahrungen werden häufig vom unmittelbaren Erleben abgespalten. Oft sind diese Erfahrungen nicht als »Geschichte« verfügbar und deshalb nicht erzählbar. Vor allem in der Anfangszeit auf der Station leiden die Jugendlichen unter ihrer Sprachlosigkeit in Bezug auf ihre Erlebniswelt und ihre Lebensgeschichte. Im Rahmen des stationären Settings reinszenieren sie häufig das, was sie erfahren haben, aber in Worten nicht ausdrücken können (Streeck-Fischer 2000). Auf der Station kann nach Bedingungen gesucht werden, die den Betroffenen helfen, aus den Spannungszuständen herauszufinden, die eine gewisse Sicherheit und Ruhe vermitteln und zur Stabilisierung beitragen. Ich-Fähigkeiten können entwickelt und trainiert werden, Interessen können gesucht und Ressourcen ausgebaut werden. In den gruppen- und
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einzeltherapeutischen Sitzungen können die der Drogensucht zugrunde liegenden Konflikte aufgedeckt und bearbeitet werden. In kleinen Schritten können Mitteilungsfähigkeit oder künstlerische Ausdrucksformen erarbeitet werden. Die traumatische Reinszenierung als Ausdrucksform tritt in den Hintergrund. Auf die Drogen, zum Beispiel Opiate als auch seelische Schmerzen lindernde Substanzen, kann längerfristig verzichtet werden, wenn die erlebten Traumata bearbeitet wurden und Kraftquellen erschlossen sind. Die Gruppe kann bei diesem Prozess als stabilisierend und Halt gebend erlebt werden. In der Gruppentherapie arbeiten wir in Anlehnung an das analytisch-interaktionelle Modell. Die begleitende Einzeltherapie ist auf den jeweiligen Bedarf des Patienten zugeschnitten und orientiert sich am tiefenpsychologischen und systemischen Verstehensansatz. Das Einbeziehen der Familie und Bezugspersonen ist wichtiger Bestandteil des therapeutischen Prozesses. Die Bearbeitung von Schuldgefühlen, das Erarbeiten neuer Umgangsformen und Zukunftsperspektiven sind wichtige Inhalte.
Kooperationsnetzwerk für drogenabhängige Jugendliche Drogenabhängige Jugendliche sind bisher in den gegebenen Versorgungsstrukturen nicht gut aufgehoben. In Hannover haben wir ein Netzwerk zwischen drei kooperierenden Einrichtungen für diese Klienten entwickelt. Die Drogenberatungsstelle Prisma hat als Schwerpunkt die Betreuung drogenabhängiger Jugendlicher und die Präventionsarbeit. Eine Betreuung nach § 35a und § 41 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) ist bei Prisma möglich. In den Räumlichkeiten von Prisma findet regelmäßig eine kinder- und jugendpsychiatrische Sprechstunde für drogenkonsumierende und -abhängige Jugendliche sowie ihre Angehörigen statt. Gemeinsame Gespräche mit Mitarbeitern beider Einrichtungen sind möglich. Die Vermittlung bei spezieller Fragestellung ist kurz und unbürokratisch. Vor der Aufnahme auf Teen Spirit Island muss jeder Jugendliche mindestens einmal zu einem ambulanten Vorgespräch kommen. Hier gilt es, das Ausmaß des Drogenkonsums und der
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begleitenden psychiatrischen Störung abzuschätzen, die Motivation für eine Therapie abzuklären, Vereinbarungen zu treffen und Fragen zur Therapie zu beantworten. Im Einzelfall ist es sinnvoll, den Jugendlichen vor Aufnahme einer stationären Therapie regelmäßig zu begleiten, um ihn zu stabilisieren und die Motivation zu erhöhen. Auf der Therapiestation für drogenabhängige Kinder und Jugendliche Teen Spirit Island ist neben der qualifizierten Entgiftung eine längerfristige stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung der zugrunde liegenden Störungen möglich. Nach Beendigung der Therapie ist eine Überleitung zu StepKids (siehe unten) angedacht. Viele der Jugendlichen können nicht oder noch nicht in die alte Umgebung zurückkehren. Im Lauf der Therapie hat sich das Verhältnis zu den Bezugspersonen entspannt und neue Umgangsformen wurden erarbeitet. Innerhalb des Halt gebenden, stabilisierenden Rahmens der Station haben die Jugendlichen gelernt, Konflikte angemessen zu klären, Perspektiven zu entwickeln und den Tag zu gestalten, ohne auf Drogen als Selbstmedikation zurückgreifen zu müssen. Unterschätzt wird der Schritt nach der Entlassung von der Station zurück in den Alltag. Von einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung in die Selbstständigkeit oder in den früheren häuslichen Rahmen zu wechseln, stellt meist eine Überforderungssituation dar, in deren Folge auf alte Konfliktverarbeitungsmechanismen wie Drogenkonsum, aggressives Ausagieren, selbstdestruktives Verhalten oder alte spannungsreiche Interaktionsmuster mit den Eltern zurückgegriffen wird. In der Jugendhilfeeinrichtung StepKids kann dieser Übergang schrittweise von einer 24-stündigen Betreuung bis zum betreuten Wohnen erfolgen. Es sind weiterhin Bezugspersonen anwesend, welche die Drogenproblematik thematisieren und den Jugendlichen bei der Wiedereingliederung in Schule und Berufsleben begleiten können. Gemeinsame spezielle pädagogische Freizeitangebote der beiden Einrichtungen und Probewohnen erleichtern die Kontaktaufnahme und die Eingewöhnung. Die ambulante Nachbetreuung findet bei Bedarf über die Ambulanz von Teen Spirit Island bei den gleichen Therapeuten statt, so dass von dieser Seite Beziehungskonstanz gewährleistet ist. Die stationäre Jugendhilfeeinrichtung StepKids hat sich auf Ju-
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gendliche mit einer Drogenproblematik als Eingliederungshilfe (nach § 35a des KJHG) spezialisiert. Wiedereinstieg in die Schule, begleitende Berufsausbildung und weitere Verselbstständigung sind inhaltliche Ziele. Bei Rückfällen ist eine kurzfristige Wiederaufnahme zur Krisenintervention auf Teen Spirit Island möglich. Im Einzelfall kann der Jugendliche von der ambulanten Phase über die stationäre Therapie bis zur Wiedereingliederungshilfe ohne größere Beziehungsabbrüche betreut und behandelt werden. Verlässt ein Jugendlicher vorzeitig die stationäre Therapie, ist eine Wiederanbindung an die Ambulanz von Teen Spirit Island oder eine Weiterbetreuung bei Prisma möglich. Auch zwischen StepKids und Teen Spirit Island kann es, wenn es der Einzelfall erfordert, zu kurzfristigen Wechseln kommen. In Ausnahmen ist eine direkte Überleitung aus der Ambulanz zu StepKids möglich. Dieses Modell bietet eine hohe Beziehungskontinuität und eine bedarfsgerechte, unbürokratische Zusammenarbeit unterschiedlich spezialisierter, sich ergänzender Einrichtungen. Regelmäßige Kooperationsgespräche sind notwendig, um die unterschiedlichen Schwerpunkte zu vernetzen und aufeinander abzustimmen.
Abbildung 1: Kooperation von spezialisierter Vorsorge, Nachsorge und stationärer Behandlung.
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Borderline-Persönlichkeitsstörung und Drogenabhängigkeit bei Jugendlichen
Vorbemerkungen Da bei Drogenmissbrauch bei Jugendlichen oft noch weitere psychische Störungen vorliegen, ist eine frühest mögliche umfangreiche kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik und Therapie notwendig, um weitere Fehlentwicklungen zu verhindern. So konnten bei Jugendlichen mit Drogenabusus und zusätzlichen psychopathologischen Symptomen schlechtere Behandlungserfolge nachgewiesen werden (O’Neill et al. 2003). Darüber hinaus kann ein Nichterkennen von Komorbiditäten bei Drogenabhängigkeit zu falscher Behandlung und schlechterer Prognose führen (Agosti et al. 2002). Auch aus unserer Arbeit mit jungen Erwachsenen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung wird immer wieder deutlich, dass die Patienten schon früh mit verschiedenen Symptomen auffällig und unterschiedliche Störungen diagnostiziert worden waren, bis schließlich die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gestellt wurde. So berichtete mir beispielsweise die Patientin A., dass sie nach kinder- und jugendpsychiatrischer und -psychotherapeutischer Behandlung, unterschiedlichsten Therapien der langjährigen Essstörung wie auch langen, wenig erfolgreichen suchttherapeutischen Behandlungen erstmals mit 28 Jahren selbst feststelle, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung ihre grundlegende Störung sei. Dieser Beitrag will einen Überblick über das Krankheitsbild der Borderline-Persönlichkeitsstörung bei Jugendlichen geben unter besonderer Berücksichtigung des Drogenmissbrauchs und Abhängigkeitssyndroms.
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Definition und Klassifikation Borderline-Persönlichkeitsstörung Persönlichkeitsstörungen sind nach den Internationalen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV definiert als für ein Individuum typische stabile und wenig angepasste Verhaltensweisen, die als rigide Reaktionsmuster in unterschiedlichsten Lebenssituationen auftreten und zu persönlichen Funktionseinbußen und/ oder sozialem Leid führen. Dabei sind diese nicht direkt auf andere psychiatrische Störungen oder organische Erkrankungen, insbesondere Hirnschädigungen oder -erkrankungen, zurückzuführen. Auch Persönlichkeitsveränderungen im Zusammenhang mit chronischem Substanzgebrauch müssen davon abgegrenzt werden. Persönlichkeitsstörungen sind gekennzeichnet durch Störungen in den Bereichen Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Kognition und zwischenmenschlichen Beziehungen. Weitere Kennzeichen sind Stabilität der Verhaltensmuster, lange zeitliche Dauer und Einschränkungen sozialer Funktionen mit persönlichem Leid (s. a. Allgemeine diagnostische Leitlinien einer Persönlichkeitsstörung in: Dilling et al. 2000; American Psychiatric Association 1994: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition). Das Störungsbild wird dabei nach vorherrschenden Verhaltensweisen in spezifische Persönlichkeitsstörungen klassifiziert: paranoide Persönlichkeitsstörung, schizoide Persönlichkeitsstörung, schizotypische Persönlichkeitsstörung (nur im DSM-IV), dissoziale oder antisoziale Persönlichkeitsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung, emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (nur in der ICD-10), histrionische Persönlichkeitsstörung, narzisstische Persönlichkeitsstörung, ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung, abhängige (dependente) Persönlichkeitsstörung und Anankastische (Zwanghafte) Persönlichkeitsstörung. Im DSMIV findet sich alternativ neben der kategorialen noch eine dimensionale Einteilung in Persönlichkeitscluster A bis C, die von übergreifenden Verhaltensmustern und fließenden Übergängen ausgeht. Die Borderline-Persönlichkeitsstörung wird in der DSM-IV mit der histrionischen, narzisstischen und antisozialen Persön-
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lichkeitsstörung im Cluster B zusammengefasst, der einen Teil der Borderline-Persönlichkeitsorganisation nach Otto F. Kernberg (Kernberg 1967; 1975/1978) umfasst. Hauptmerkmale der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind vier entscheidende, tief greifende Verhaltensmuster, die in verschiedenen Symptomen zum Ausdruck kommen: – Impulsivität, – affektive Instabilität, – Instabilität in der Beziehungsgestaltung, – Identitätsstörung, (Herpertz u. Wenning 2003). Die Definition und Klassifikation der ursprünglich aus psychoanalytischen Konzepten entstandenen Borderline-Persönlichkeitsstörung erfolgt heute nach den internationalen Klassifikationssystemen, die auf empirischen Befunden basieren. Diagnostische Merkmale für die Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSMIV und ICD-10 sind aus Tabelle 1 und 2 ersichtlich. Tabelle 1: Diagnostische Kriterien für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (301.83) nach DSM-IV Ein tief greifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und manifestiert sich in den verschiedenen Lebensbereichen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein: (1) Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind. (2) Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist. (3) Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung. (4) Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, »Fressanfälle«). Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind. (5) Wiederholte suizidale Handlungen, Suizidandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.
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(6) Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z. B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern). (7) Chronische Gefühle von Leere. (8) Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z. B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen). (9) Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome.
Tabelle 2: Kriterien für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 (F60.31) als Unterform einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung Einige Kriterien emotionaler Instabilität (1–5) sind vorhanden, zusätzlich muss mindestens ein Kriterium der Unterform des Borderline-Typus (6–10) vorhanden sein. (1) Deutliche Tendenz, impulsiv zu handeln ohne Berücksichtigung von Konsequenzen. (2) Wechselnde, instabile Stimmung. (3) Geringe Fähigkeit vorauszuplanen. (4) Ausbrüche intensiven Ärgers können zu oft gewalttätigem und explosiblem Verhalten führen. (5) Dieses Verhalten wird leicht ausgelöst, wenn impulsive Handlungen von anderen kritisiert oder behindert werden. (6) Unsicherheit und Störung des eigenen Selbstbildes wie auch der Ziele und »inneren Präferenzen« (einschließlich der sexuellen). (7) Meist chronisches Gefühl innerer Leere. (8) Neigung zu intensiven, aber unbeständigen Beziehungen, die zu wiederholten Krisen führen kann. (9) Übermäßige Anstrengungen, nicht verlassen zu werden. (10) Suiziddrohungen oder selbstschädigende Handlungen (diese können auch ohne deutliche Auslöser vorkommen).
Drogenabhängigkeit Die Gruppe der psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen umfasst ein Spektrum von Störungen verschiedenen Schweregrads, das von akuter Intoxikation und schädlichem Gebrauch bis hin zu psychotischen oder hirnorganischen Störungen reicht und sich auf den Gebrauch einer oder mehrerer
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psychotroper Substanzen zurückführen lässt. Das Abhängigkeitssyndrom kann sich auf eine oder mehrere Substanzen beziehen und ist in erster Linie gekennzeichnet durch einen starken Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren. Weitere Kriterien sind verminderte Kontrollfähigkeit in Bezug auf Beginn, Menge, Beendigung des Konsums, Toleranzentwicklung und zunehmende Vernachlässigung. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie kann bei Drogenabusus mit hoher Wahrscheinlichkeit von Komorbiditäten ausgegangen werden, die bei Diagnostik und Differenzialdiagnostik zu berücksichtigen sind. Als mögliche zu explorierende Symptome der häufigsten komorbiden Störungen können Störungen des Sozialverhaltens, aggressives Verhalten, Impulsivität einschließlich Hyperkinetisches Syndrom, Suizidalität und parasuizidale Handlungen, affektive Symptome, Angststörungen, Essstörungen sowie paranoid-halluzinatorische Syndrome vorkommen. In die Diagnostik sind hirnorganische psychische Störungen, Psychosen, affektive Störungen, Angststörungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Impulskontrollstörungen, Intelligenzminderung, Entwicklungsstörungen und Störungen des Sozialverhaltens einzubeziehen (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2000; Dilling et al. 2000; American Psychiatric Association 1994).
Überblick zur Borderline-Störung bei Jugendlichen Diagnose der Borderline-Persönlichkeitsstörung im Jugendalter Insgesamt gibt es eine kontroverse Diskussion zur Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Kindes- und Jugendalter. Wiederholt kam die Frage auf, ob Borderline-Persönlichkeitsstörungen im Kindesalter überhaupt valide zu diagnostizieren seien (Bürgin u. Meng 2000). Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht werden psychische Auffälligkeiten vor dem Hintergrund der Entwicklung gesehen. Die allgemeine Definition einer Persönlichkeitsstörung mit Stabilität und Persistenz von Reaktionsmustern und Verhal-
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tensweisen impliziert, dass die Diagnose bei Jugendlichen zurückhaltend gestellt und vorrangig der Entwicklungsaspekt gesehen werden sollte. Dagegen konnten Verlaufsuntersuchungen Zusammenhänge zwischen Verhaltensauffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen und denen von Erwachsenen nachweisen. Generell wird davon ausgegangen, dass die Symptomentwicklung von Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter zumindest ihren Anfang nimmt. Auch in den internationalen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV wird auf den frühen Beginn der Persönlichkeitsstörungen hingewiesen. Laut ICD-10 beginnen Persönlichkeitsstörungen in Kindheit oder Adoleszenz und dauern bis ins Erwachsenenalter. In der ICD-10 wird davon ausgegangen, dass Persönlichkeitsstörungen sich aber erst im Erwachsenenalter manifestieren. Die Diagnose vor dem Alter von 16 oder 17 Jahren wird als »wahrscheinlich unangemessen« angesehen. Früher sollte sie nur vergeben werden, wenn alle geforderten Kriterien erfüllt werden und die spezifischen Verhaltensmuster schon in der Adoleszenzzeit und situationsübergreifend auftreten und zur Einschränkung der schulischen und sozialen Leistungsfähigkeit führen. Hervorzuheben ist, dass bei Jugendlichen Persönlichkeitsstörungen weniger mit subjektivem Leid zusammenhängen und diese häufiger als Ich-synthon erlebt werden. Im Diagnosesystem DSM-IV wird die Anwendung der Persönlichkeitskategorien etwas großzügiger gehandhabt: In Ausnahmefällen können Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen diagnostiziert werden, deren Persönlichkeitszüge tief greifend, andauernd (mindestens ein Jahr) und wahrscheinlich nicht auf eine bestimmte Entwicklungsphase oder Episode einer Achse-I-Störung begrenzt sind. Berücksichtigt werden sollte, dass Züge einer Persönlichkeitsstörung, wie sie im Kindesalter erscheinen, oft nicht unverändert bis ins Erwachsenenalter bestehen bleiben. Aus Untersuchungen zur Anwendung von Persönlichkeitskategorien und -diagnosen des Erwachsenenalters im Jugendalter geht hervor, dass in der Adoleszenz Kriterien für Erwachsene angewandt werden können. Bei stationär behandelten Jugendlichen konnten laut Becker gleiche Häufigkeiten von Borderline-Persönlichkeitsstörungen wie bei Erwachsenen und ähnliche Symptom-
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muster festgestellt werden. Die Diagnose bei Jugendlichen nach DSM-IV ist aber als kritisch zu betrachten, weil Unterschiede in der Wertigkeit der Kriterien, eine hohe Überlappung sowie eine geringe Reproduzierbarkeit zusammengehöriger Kriterien bei unterschiedlichen Verfahren nachgewiesen werden konnten. Tendenziell zeigen sie eine niedrigere innere Konsistenz und geringere diskriminante Validität. Becker et al. gehen von einer diffusen Streuung der psychopathologischen Merkmale bei Jugendlichen im Gegensatz zu Erwachsenen aus. In einer Untersuchung zur Komorbidität bei Borderline-Persönlichkeitsstörung konnte bei Jugendlichen eine größere Bandbreite komorbider Persönlichkeitsstörungen als bei Erwachsenen feststellt werden, und zwar Aspekte der Cluster A und C (Becker et al. 1999, 2000, 2002). Bürgin und Dulz (Bürgin u. Meng 2000; Dulz 2000) betrachten das Borderline-Konzept bei Kindern und Jugendlichen als brauchbar. Auch Paulina F. Kernberg (P. F. Kernberg et al. 2000/2001) plädiert für eine Diagnostizierbarkeit der Borderline-Störung bereits im Kindesalter, insbesondere im Hinblick auf einzuleitende Interventionen. Streeck-Fischer hält zwar das Borderline-Konzept für das fundierteste psychodynamische Erklärungsmodell für frühe Störungen im Kindes- und Jugendalter, befürwortet aber eine umfassendere Betrachtung mit Berücksichtigung von vergangenen und auch anhaltenden Traumatisierungen. Diskutiert werden integrative Modelle, die Folgen traumatischer Belastungen und Entwicklungsbeeinträchtigungen einschließen (StreeckFischer 2003). Allerdings ist bei der Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung im Jugendalter die Kenntnis von einer zeitlichen Instabilität der Diagnose zu beachten. In verschiedenen Untersuchungen konnte eine nur geringe Persistenz von Persönlichkeitsstörungsdiagnosen im Jugendalter festgestellt werden (Bernstein et al. 1993; Garnet et al. 1994; Meijer et al. 1998; Grilo et al. 2001).
Ätiologie Zur Ätiologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung kann an dieser Stelle nur ein kurzer Überblick gegeben werden. Hinsicht-
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lich der Ätiopathogenese wird in den letzten Jahren zunehmend von einem multifaktoriellen Modell ausgegangen. Hierzu werden als biologische Faktoren genetische Dispositionen diskutiert, die möglicherweise zu Störungen der emotionalen Informationsverarbeitung führen. Weiterhin spielen psychosoziale Belastungsfaktoren wie schwerwiegende Vernachlässigung, sexueller Missbrauch und elterliche Gewalterfahrungen in der Kindheit, chaotische und feindselige Familienatmosphäre, entwürdigender Erziehungsstil eine entscheidende Rolle. Die Affektdysregulation als grundlegendes Kriterium einer Borderline-Störung wird insgesamt als Ausdruck eines »schwierigen Temperaments« (Paris et al. 1994) oder einer primären affektiven Vulnerabilität (Linehan 1993) angesehen, die im Zusammenhang mit traumatisierenden Beziehungserfahrungen sowie mangelhaften Lernerfahrungen zur Ausbildung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung führen können. Auf der Grundlage erster Befunde wird als neurobiologisches Korrelat eine Hypersensitivität des limbischen Systems diskutiert, die dispositionell vorhanden und/oder Folge chronischer Stressbelastung sein kann (Zelkowitz et al. 2001; Herpertz u. Wenning 2003).
Diagnostik Die Diagnostik besteht aus einer detaillierten kinder- und jugendpsychiatrischen Anamnese einschließlich einer störungsspezifischen Entwicklungsgeschichte mit getrenntem Interview von Eltern und Patienten, worin Hinweise für die Borderline-spezifische Symptomatik und Begleitstörungen sowie Konstanz der Verhaltensmuster gefunden werden. Wichtig ist auch die Exploration der Familienanamnese und familiären Interaktion als für die Störung entscheidenden Rahmenbedingungen, gegebenenfalls in einem Familieninterview. Daraus können sich Hinweise ableiten lassen für mangelnde Wärme, unberechenbares und feindliches Erziehungsverhalten, frühe Trennungserfahrungen, körperliche Gewalt- und sexuelle Missbrauchserfahrungen sowie familiäre psychische Auffälligkeiten. Darüber hinaus können verschiedene psychologische Testverfahren ergänzend eingesetzt werden. Neben allgemeiner Leis-
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tungsdiagnostik und projektiven Verfahren kommen spezifische testpsychologische Diagnostikinstrumente als strukturiertes Interview oder Selbstbeurteilungsbögen zur Anwendung. Beispielsweise werden projektive Tests wie der »Rorschach-Test«, »Thematischer Apperzeptionstest« (TAT), »Satzergänzungstest« (SET) oder »Mann-Zeichen-Test« zur Erfassung struktureller Merkmale und von Persönlichkeitsprozessen eingesetzt. Da kognitive Funktionen durch emotionale Faktoren beeinflusst werden, können kognitive Tests zusätzliche Informationen liefern, bei manchen auch Schlussfolgerungen auf Auswirkungen der Persönlichkeitsstörung. Zum Erfassen der Komponenten der Persönlichkeit sowie vorherrschenden Organisations- und Copingprinzipien empfiehlt Paulina F. Kernberg besonders bei Jugendlichen das 1987 von ihr und Mitarbeitern konzipierte »Personality Assessment Interview« (PAI) (P. F. Kernberg et al. 2000/2001). Als halbstrukturierte Interviews werden »Diagnostic Interview for Borderline Patients« (DIB-R), »International Personality Disorder Examination« (IPDE) oder »Structured-Clinical-Interview for DSM-IV-Axis II Personality Disorders« (SCID-II) eingesetzt. Seltener angewandt im Bereich der Borderline-Diagnostik werden heute die mehrdimensionalen Persönlichkeitstests »Minnesota Multiphasic Personality Inventory« (MMPI) oder »Freiburger Persönlichkeitsinventar« (FPI), weil die Aussagekraft für klinische Fragestellungen zu gering ist (Clarkin u. Dammann 2000).
Differenzialdiagnose und Komorbidität Differenzialdiagnostisch zu berücksichtigen ist vor allem die juvenile Psychose, die mit ähnlichen Symptomen wie Depersonalisation, Derealisation, paranoides und pseudohalluzinatorisches Erleben im Jugendalter beginnen kann. Abzugrenzen sind ebenso die Posttraumatische Belastungsstörung und das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom, die gleichfalls auch als komorbide Störungen auftreten können. Einzelne Symptome einer Borderline-Persönlichkeitsstörung können vorübergehend im Rahmen einer Adoleszentenkrise vorkommen, wobei manchmal erst der Langzeitverlauf eine diagnostische Einschätzung erlaubt.
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Als weitere Differenzialdiagnosen kommen andere Persönlichkeitsstörungen, affektive Störungen, Störungen des Sozialverhaltens, dissoziative Störung sowie psychische Störungen durch hirnorganische Veränderungen oder durch psychotrope Substanzen in Frage. Die tief greifenden Verhaltens- und Reaktionsmuster von jugendlichen Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung äußern sich in der Regel in einer Vielfalt von Symptomen. Häufig erfüllen die Symptome die Kriterien für weitere psychische Störungen. So können zusätzlich auch dissoziale, histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörungen diagnostiziert werden. Außerdem kommen bei Borderline-Störungen gehäuft psychische Begleiterkrankungen vor wie affektive Störungen, Alkohol- und Substanzmissbrauch, Spielsucht, Essstörungen (vor allem Bulimie), das Hyperkinetische Syndrom und die Posttraumatische Belastungsstörung.
Therapie Zur psychotherapeutischen Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen bei Jugendlichen sind keine neueren Untersuchungen bekannt. Derzeit gibt es keine allgemein gültige Therapiemethode und dies ist insbesondere aufgrund der Vielfalt der Symptomatik in nächster Zeit auch nicht zu erwarten (Leitlinie Persönlichkeitsstörungen, in: Tress et al. 2002). Patienten mit Persönlichkeitsstörungen erfordern von den Therapeuten ein hohes Maß an Belastbarkeit, die nötige Distanz und Durchhaltevermögen. Durch agierendes, manipulatives Verhalten des Patienten entstehen nicht selten »Machtkämpfe«. Heutige Therapiekonzepte versuchen sich an den individuellen Bedürfnissen des Patienten zu orientieren und in einer therapeutischen Beziehung erreichbare Ziele zu formulieren. Der Umgang des Patienten ist durch ein Gleichgewicht von Akzeptanz und Forderung nach Veränderung gekennzeichnet (Linehan 1993). In diesem Abschnitt soll eine Übersicht über verschiedene methodische Ansätze gegeben werden; zu umfassenden Angaben
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muss auf weiterführende Literatur verwiesen werden (u. a. O. F. Kernberg et al. 2000; Linehan 1993; Tress et al. 2002). Nach psychodynamischen Ansätzen geht es um eine Verarbeitung traumatisierender Beziehungserfahrungen. Psychoanalytische und tiefenpsychologische Konzepte gehen von Ich-struktureller Schwäche und unreifen Abwehrmechanismen wie Spaltung, Verleugnung, Idealisierung, Abwertung, omnipotente Kontrolle, Ausagieren, projektive Identifikation (O. F. Kernberg 1975/1978) aus. In psychoanalytischen Therapien werden dem Patienten die negativen Auswirkungen seiner Abwehr auf seine Funktionsfähigkeit bewusst gemacht und allmählich durch reifere Formen ersetzt. Als spezifische Psychotherapie für Borderline-Patienten wurde die »Transference Focused Psychotherapy« (TFP) konzipiert, deren zentraler Ansatz die Analyse der Übertragung darstellt, in der sich die Konflikte des Patienten abbilden. Auch wir arbeiten nach einem tiefenpsychologischen Ansatz. In unserer stationären spezifischen systematischen Behandlung geht es darum, in »haltender Funktion« (nach Winnicott) neue Beziehungserfahrungen zu ermöglichen. Ziel der Therapie ist es, in der therapeutischen Beziehung eine Ich-strukturelle Nachreifung mit Stärkung der Ich-Funktionen im Sinne einer reiferen Impulskontrolle, mit Realitätsprüfung, Angsttoleranz und Verbesserung der Grenzsetzungen zu erreichen. Von den behavioralen Therapieansätzen hat sich die »Dialektisch behaviorale Therapie« (DPT) nach Linehan (1993) bei erwachsenen Patienten als erfolgversprechend erwiesen. Die DPT setzt sich zusammen aus einer standardisierten Gruppentherapie (»skills training«) und einer Einzeltherapie. Ziel der Behandlung ist, durch Bahnung dialektischer Verhaltensmuster ein lebenswertes Leben zu erreichen durch Verhaltenskontrolle, Selbstachtung, die Fähigkeit, ein Spektrum an Gefühlen zu erleben, sowie dauerhaftes Vermögen zur Lebensfreude. Sie setzt gezielt an spezifischen Symptomen an. In der Gruppe geht es um Training von Fertigkeiten zur Stresstoleranz und Spannungsregulation, zur Affektregulation, zur Verbesserung sozialer Kompetenzen und der frühzeitigen Wahrnehmung inneren Erlebens (»innere Achtsamkeit«). Die Einzeltherapie setzt sich aus drei Phasen zusammen. Ziele der ersten Phase bestehen in Veränderung der suizidalen und
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parasuizidalen Verhaltensweisen, Besserung der Compliance und Steigerung der Lebensqualität einschließlich Veränderung selbstschädigender Verhaltensweisen. Nach Erreichen ausreichender Verhaltenskontrolle geht es in der zweiten Phase um Reduktion posttraumatischer Stressreaktionen und Stärken der Fähigkeiten, differenzierte Emotionen zu erleben und zu verarbeiten. Die dritte Phase beschäftigt sich mit Alltagsgestaltung und Zukunftsperspektiven wie auch einer Steigerung des Selbstwertgefühls. Stationäre Behandlungskonzepte sind häufig schulenübergreifend und beinhalten neben einer Stabilisierung und Strukturierung auch eine Psychoedukation mit Aufklärung über die Erkrankung und ihren Umgang damit. Außerdem werden die Stärken und Schwächen des Patienten herausgearbeitet. Dabei geht es um ein Erkennen des ursprünglichen Sinns seiner Symptome im Zusammenhang mit früheren Traumatisierungen. Gleichzeitig soll deren Untauglichkeit im Zusammenhang mit der Lebensbewältigung in der Gegenwart aufgezeigt werden. Bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen gibt es keine medikamentöse Therapie der Grunderkrankung und in der Behandlung bislang keine zugelassenen Medikamente (Dulz u. Welge 2003; Nickel et al. 2003). Oft ist es aber unerlässlich, einzelne Symptome wie Ängste, depressives Syndrom, Spannungszustände, Pseudohalluzinationen oder diffuse körperliche Schmerzsymptome unterstützend zur Psychotherapie medikamentös zu behandeln. Besonders in Krisen mit affektiven Ausnahmezuständen und Suizidalität ist eine schnelle pharmakologische Intervention mit rascher Entaktualisierung notwendig. Eingesetzt werden unter anderem atypische Neuroleptika, Antidepressiva, stimmungsstabilisierende Medikamente wie Carbamazepin und Valproat, Schmerzmedikation. Aus unserer Erfahrung scheinen besonders atypische Neuroleptika wirksam und hilfreich zu sein. Insgesamt sind wegen der schweren Ich-strukturellen Defizite oft langjährige psychotherapeutische Behandlungen notwendig, eine kurze Borderline-Therapie gibt es nicht (Leitlinie Persönlichkeitsstörungen, in: Tress et al. 2002). Dennoch sind die Möglichkeiten einer therapeutischen Beeinflussung – in Abhängigkeit von der Schwere der Störung sowie von Therapiemotivation und Leidensdruck – nur begrenzt. Wegen der starken psychischen Insta-
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bilität werden häufig stationäre Behandlungen notwendig, insbesondere bei zusätzlichen psychischen Störungen. Bei Jugendlichen besteht vielfach unzureichender Leidensdruck; er zeigt sich eher von Seiten der Eltern und es sind meist familientherapeutische Interventionen indiziert.
Verlauf und Prognose Zu Verlauf und Prognose der Borderline-Persönlichkeitsstörung liegen bisher nur wenige Untersuchungen vor. Bei erwachsenen Patienten nimmt häufig im Lauf der Zeit die Schwere der Störung ab und es kann zu Anpassungen kommen. Auch Jugendliche stabilisieren sich oft deutlich gegen Ende der Adoleszenz; bei der Symptomatik kann es sich um ein passageres Phänomen im Rahmen einer Adoleszentenkrise handeln. Wie erwähnt, scheinen die Diagnosen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung über den Zeitraum zwischen Adoleszenz und Erwachsenenalter nicht beständig zu sein. So stellten Meijer et al. (1998) in ihrer Follow-up-Studie fest, dass nach drei Jahren nur noch zwei Patienten von 14 adoleszenten ehemaligen BorderlinePatienten erneut als Borderline-Persönlichkeitsstörung klassifiziert wurden, allerdings waren bei den anderen einige Borderlinespezifische Symptome weiterhin vorhanden. In der Untersuchung von Johnson et al. (2000) wurde eine Abnahme der Prävalenzraten von Borderline-Persönlichkeitsstörungen zwischen Adoleszenz und frühem Erwachsenenalter nachgewiesen. Im Vergleich zu anderen Persönlichkeitsstörungen konnten die Untersucher die stärkste Abnahme bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen und ängstlich-vermei-denden Persönlichkeitsstörungen feststellen. Bestätigt wurden diese Ergebnisse auch in der Untersuchung von Grilo et al. (2001). Bei Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung ist in der Regel bei zusätzlichen komorbiden Störungen eine schlechtere Prognose zu erwarten.
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Substanzmissbrauch und Drogenabhängigkeit bei Borderline-Störung Diagnostisches Verständnis Die Borderline-Persönlichkeitsstörung wird als wichtige komorbide Störung von Abhängigkeitserkrankungen angesehen. Umgekehrt ist die Suchterkrankung neben zahlreichen anderen psychischen Störungen eine bei einem Borderline-Syndrom häufig diagnostizierte Störung. Außerdem gehört in der Internationalen Klassifikation nach DSM-IV Missbrauch psychotroper Substanzen als potentiell selbstschädigende Impulshandlung zu den diagnostischen Kriterien für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Unserer Ansicht nach erscheint es bei Borderline-Störungen in der Regel wenig sinnvoll, Symptome als Komorbiditäten im Sinne von eigenständigen Krankheiten zu betrachten. Wegen der häufig und schnell wechselnden Symptome bei Borderline-Patienten sowie hohen Raten an anderen Persönlichkeitsstörungen oder Achse-I-Störungen, ohne dass jeweils mehrere Erkrankungen vorliegen, verstehen wir diese verschiedenen Symptome eher als »Kosymptomatik« der zugrunde liegenden Borderline-Persönlichkeitsstörung (Dulz 2000). Somit handelt es sich aus unserer Sicht auch beim Substanzmissbrauch bei der Persönlichkeitsstörung mehr um ein Symptom unter vielen. Unterstützt wird die These durch unsere Erfahrung, dass im Verlauf der Therapie bei Borderline-Patienten die Symptome häufig relativ schnell wechseln und so auch die Drogenprobleme mal mehr und mal weniger im Vordergrund stehen können. Außerdem zeigen Borderline-Patienten oft auffälliges Suchtverhalten mit abwechselnden Phasen von exzessivem, selbstzerstörerischem Substanzmissbrauch und Phasen von Abstinenz. Dieser Substanzmissbrauch kann bei Borderline-Patienten als eine Art von »Selbstheilungsversuch« verstanden werden mit der Gefahr eines daraus sich entwickelnden Abhängigkeitssyndroms. Mit dieser »Selbstmedikation« versuchen Borderline-Patienten, die schwer aushaltbaren Symptome wie Ängste, Alpträume, Dissoziationen, Pseudohalluzinationen und wiederkehrende Erinnerungen an traumatisierende Erlebnisse zu betäuben. Diese Patien-
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ten entwickeln in der Regel verschiedene eigene »Methoden zur Druckentlastung«. Neben Schneiden, Erbrechen und vielem anderen kann es sich auch beim Drogenabusus um einen dysfunktionalen Versuch handeln, die als bedrohlich erlebten Gefühle zu unterdrücken. Bei Borderline-Patienten kommt es beispielsweise häufig zu Missbrauch von Cannabis als Mittel gegen depressive Zustände und Angst. Die Erfahrung zeigt, dass das eine Wirkung hat, die teilweise die von atypischen Neuroleptika zu übersteigen scheint. Substanzmissbrauch kann aber, wie bekannt ist, auch einen gegenteiligen Effekt haben. Bei schwacher Ich-Struktur kann es bei Rauschzuständen, insbesondere aufgrund von Halluzinogenen wie LSD, auch zu negativen Erinnerungen oder Phantasien kommen und Abgewehrtes, Verdrängtes ins Bewusstsein gelangen, was zeitweise zu schweren psychischen Krisen führen kann. Darüber hinaus besteht für Jugendliche in der äußerst sensiblen Entwicklungsphase der Adoleszenz durch psychische Instabilität, Identitätskrisen, Unsicherheit der inneren Präferenzen und instabilen Beziehungen eine besondere Gefährdung hinsichtlich des Drogenmissbrauchs. Sie sind neugierig und neuen äußeren Einflüssen gegenüber offen. Allgemein typisch für die Entwicklungsphase ist das Probierverhalten. Außerdem verfügen Jugendliche noch über weniger Mechanismen von Problemlösungsstrategien und weniger Ressourcen als Erwachsene. Jugendliche mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung sind wie andere Jugendliche in dieser Phase vermehrt dem Angebot von Drogen ausgesetzt und dadurch in besonderem Maß gefährdet. Wie in Studien gezeigt werden konnte, verfügen jugendliche Borderline-Patienten über ein weitaus unsichereres Selbstbild und unzureichendere Identitätsbildung (Pinto et al. 1996). Welch und Linehan (2002) fanden bei Borderline-Patienten einen Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und vorangegangenem direktem oder indirektem Kontakt zu Drogen und sehen diesen Kontakt als möglichen Gefährdungsfaktor. Auch Trait-Variablen wie impulsives Verhalten stehen im Zusammenhang mit erhöhtem Risiko für Substanzmissbrauch. Längerfristig kann bei jugendlichen Borderline-Patienten ein Abhängigkeitssyndrom entstehen mit verminderter Kontrollfähigkeit des Konsums, Toleranzentwicklung und körperlichen Ent-
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zugssymptomen sowie den daraus sich entwickelnden schädlichen Folgen.
Therapie Bei Komorbidität von Drogenabusus mit weiterer Psychopathologie ist eine schlechtere Prognose nachgewiesen worden (O’Neill et al. 2003) und in der Regel ist eine stationäre Behandlung indiziert. Grundsätzlich scheint eine Unterscheidung zwischen jugendlichen Borderline-Patienten mit beziehungsweise ohne Drogenkonsum sinnvoll und notwendig, weil diese sich auf die Therapie auswirken kann. Darüber hinaus muss bei Drogenabusus differenziert werden zwischen einem schweren Abhängigkeitssyndrom und leichteren Formen ohne Entzugsymptomatik wie gelegentlichem Missbrauch. Da bei Jugendlichen in der Regel die Dauer des Suchtmittelgebrauchs deutlich kürzer war, besteht seltener eine Abhängigkeit beziehunsgweise verläuft eine Entzugssymptomatik milder. Meistens steht bei ihnen die Borderline-Persönlichkeitsstörung im Vordergrund und der Drogenkonsum ist eher eine Begleitsymptomatik. Falls eine schwere Suchtproblematik mit schädlichen körperlichen, sozialen oder psychischen Folgen vorrangig ist, steht auch bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung primär eine Suchttherapie an. Diese beinhaltet eine Entzugsbehandlung und möglichst anschließend eine Entwöhnungsbehandlung. Auch lassen klinische katamnestische Untersuchungen die Vermutung zu, dass eine Behandlung des komorbiden Substanzmissbrauchs den Verlauf einer Borderline-Persönlichkeitsstörung nachhaltig verbessern kann (Leitlinie Persönlichkeitsstörungen, Tress et al. 2002). Erst nach einer Phase der psychischen Stabilisierung scheint es sinnvoll, mit einer spezifischen systematischen Borderline-Therapie zu beginnen. Während der stationären Psychotherapie mit traumazentrierter Arbeit, die in der Regel von schweren Krisen begleitet wird, besteht bei diesen Patienten eine erhöhte Gefahr, einen Drogenrückfall zu erleiden. Im Idealfall wäre eine drogenfreie psychotherapeutische Be-
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handlung von Borderline-Patienten sicherlich wünschenswert. Im klinischen Alltag hat sich jedoch gezeigt, dass man auf individuelle Entscheidungen angewiesen ist. Es ist immer wieder schwierig, gegenüber einem Alkohol- und Drogenabusus eine klare Haltung zu bewahren und Grenzen zu setzen, dabei dennoch individuelle Aspekte zu berücksichtigen. Wir behandeln junge erwachsene Borderline-Patienten, bei denen die Borderline-Persönlichkeitsstörung im Vordergrund steht. Patienten mit einer Suchtproblematik sind nicht davon ausgeschlossen, sollten aber psychisch ausreichend stabilisiert, nicht entzügig und gegebenenfalls substituiert sein. Bei unserer stationär-psychotherapeutischen Behandlung sind Alkohol- und Drogenkonsum grundsätzlich verboten, dennoch wird bei Missbrauch von Substanzen immer individuell entschieden unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren wie psychische Verfassung und Stand des therapeutischen Prozesses. Aus psychoanalytischer Sicht kann die Symptomatik im Zusammenhang mit unreifen Abwehrmechanismen gesehen werden. Wir gehen davon aus, dass im Lauf der Therapie mit Stärkung der Ich-Funktionen dysfunktionale Verhaltensweisen wie Drogenabusus überflüssig werden. Unser Konzept wird bestätigt durch unsere Erfahrungen in der stationären Langzeittherapie. Auch die »Dialektisch behaviorale Therapie« nach Linehan (DBT), die sich in der Behandlung der Borderline-Symptomatik als sehr vielversprechend erwiesen hat, hat sich zur Reduktion des problematischen Substanzmissbrauchs auch nicht erfolgreicher als herkömmliche Therapieverfahren herausgestellt (van den Bosch et al. 2002).
Abschließende Bemerkungen Insgesamt gibt es nur wenig Untersuchungen zum Thema. Aus unserer Sicht sollte die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in Anlehnung an die Literatur aufgrund hoher Entwicklungsbezogenheit, Instabilität der Diagnose und Gefahr der Stigmatisierung bei Jugendlichen zurückhaltend gestellt und besonders vor dem Hintergrund der Entwicklung gesehen werden.
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Dennoch scheint sie klinisch relevant und nützlich, ist aber im Therapieverlauf kritisch zu überprüfen. Bei Drogenabhängigkeit ist die Diagnose einer komorbiden Borderline-Persönlichkeitsstörung sicherlich entscheidend für die »richtige« Behandlung. In Übereinstimmung mit der Literatur und aus unserer Erfahrung sehen wir als vorrangiges Ziel eine Therapie der Persönlichkeitsstörung, die auch zur Besserung der assoziierten Symptome führt. Vorab ist das Ausmaß des Drogenabusus und die Schwere der Drogenabhängigkeit festzustellen. Bei manifestem Abhängigkeitssyndrom, wie es bei Jugendlichen seltener vorkommt, ist primär die Suchttherapie (Entgiftung und Entwöhnung) vor einer spezifischen Borderline-Therapie anzuwenden.
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Heinz Häfner
Cannabis- und Alkoholmissbrauch als Risikofaktoren für Ausbruch und Verlauf der Schizophrenie
Cannabis ist eine Suchtdroge mit schmerzlindernder, stimulierender und euphorisierender Wirkung. Bei hinreichend hoher Dosierung kann Cannabis zu akuten schizophrenieähnlichen Psychosen führen, die in der Regel ohne schwere Negativsymptomatik einhergehen und nach dem Ende der Vergiftung bald wieder abklingen. Der Grund für die psychoseerzeugende Wirkung der Substanz ist ihr hochspezifischer neurobiologischer Effekt.
Abbildung 1: Dopaninerge Leitungsbahnen, die bei schizophrenen Psychosen (mit Ausnahme des Nucleus accumbens) und bei Cannabis (THC-)Konsum aktiviert sind.
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Der wirksame Bestandteil von Cannabis ist Tetrahydrocannabinol (THC). THC bindet an G-Protein gebundene Cannabinoidrezeptoren (CB-1). Auf diese Weise wirkt es über das körpereigene Cannabinoidsystem und vermittelt auf diesem Weg sowohl die therapeutischen Effekte der Schmerz- und Angstlinderung, insbesondere bei terminalen Erkrankungen, als auch das süchtige Verhalten. Die höchste Dichte der CB-1-Rezeptoren ist in Hirnarealen zu finden, die mindestens teilweise auch für die Symptome der Schizophrenie bedeutsam sind: im limbischen System, Hippocampus, in der präfrontalen Hirnrinde, in den Basalganglien und im Kleinhirn. THC fördert die Synthese und die Freisetzung von Dopamin und hemmt seine Wiederaufnahme im synaptischen Spalt. Die Funktion von THC ist bevorzugt auf Leitungsbahnen konzentriert, die auch für die Symptome der Schizophrenie funktionell bedeutsam sind (s. Abb. 1). Außerdem verstärkt THC die mesolimbische Dopaminaktivität und die Dopaminwirkung im Nucleus accumbens. Mit der letztgenannten – von den für Schizophrenie bedeutsamen Leitungsbahnen unabhängigen – Wirkung auf das Reward-System ist die Suchtpotenz von THC verknüpft. Diese Beobachtungen und die neurobiologischen Ansatzpunkte der THC-Wirkung im Gehirn legen die Vermutung nahe, Cannabis könne die Schizophrenie auslösen oder sogar erzeugen. Aus diesem Grund soll der Frage nachgegangen werden, welchen Einfluss Cannabis und im Vergleich dazu auch Alkoholmissbrauch auf das Erkrankungsrisiko, auf die Symptome und den Verlauf der Krankheit Schizophrenie haben. Cannabis und Alkohol werden als Suchtmittel – abgesehen von Nikotin, das wegen seiner unterschiedlichen Risiken hier nicht behandelt wird – von Schizophreniekranken in den westlichen Ländern mit großem Abstand am häufigsten konsumiert. In einem Überblick über alle zwischen 1990 und 1996 veröffentlichten Studien zum Cannabismissbrauch bei Schizophrenie werden von Strakowski et al. (1998) Lebenszeitprävalenzraten zwischen 8 und 42 % genannt. In einer Studie, die nur Krankenhausinsassen mit Schizophrenie befragte, hatten 86 % der Kranken angegeben, mindestens einmal im Lauf ihres Lebens Cannabis genommen zu haben (Sembhi u. Lee 1999). Die meisten Studien zur Häufigkeit von
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Alkoholmissbrauch bei Schizophrenie lieferten mit 12,3 bis 42,8 % Komorbidität ähnlich hohe Raten (Soyka et al. 1993). Diese enormen Unterschiede machen deutlich, dass die Raten von Cannabis- und Alkoholmissbrauch bei schizophren Erkrankten nicht ohne weiteres vergleichbar sind. Abgesehen davon, dass die große Zahl von Studien zu diesem Thema erhebliche Unterschiede in der Methodik und der wissenschaftlichen Qualität aufweisen, werden die Ergebnisse in beträchtlichem Ausmaß auch durch objektive Faktoren beeinflusst. Wenn den meisten Studien Lebenszeitprävalenzwerte von Missbrauch zugrunde gelegt werden, dann ist, weil dieser Indikator mit der Dauer der Risikoperiode nur stabil bleiben oder anwachsen kann, die Expositionsdauer gegenüber dem allgemeinen Risiko und damit das Lebensalter sowie die Expositionsdauer gegenüber einem erhöhten Risiko und damit die Krankheitsdauer von Bedeutung. Beide Faktoren führen dazu, dass die Lebenszeitprävalenzraten für die Komorbidität mit Cannabis oder Alkoholmissbrauch mit zunehmender Krankheitsdauer der Schizophrenie deutlich zunehmen. Beim Vergleich der Komorbiditätsraten über Ort und Zeit, das heißt über Studienergebnisse aus verschiedenen Regionen, Ländern oder Zeitperioden, sind die Verfügbarkeit der Suchtmittel, insbesondere illegaler Drogen, und die Konsumgewohnheiten in der untersuchten Bevölkerung zu berücksichtigen. Angebote und Preise illegaler Drogen variieren beträchtlich, weshalb die Prävalenzraten sowohl der Gesamtbevölkerung als der mit erhöhtem Risiko belasteten schizophren Erkrankten aus verschiedenen Zeiten und Ländern kaum vergleichbar sind. Vergleichbar ist eher das relative, auf die Missbrauchsraten der jeweiligen Bevölkerung bezogene Exzessrisiko, also die Missbrauchshäufigkeit, die über diejenige der vergleichbaren Kontrollbevölkerung hinausgeht. Studien, die vergleichbare Ergebnisse anstreben, sind deshalb auf adäquat gematchte Kontrollen aus der Herkunftsbevölkerung der Kranken angewiesen. Im Gegensatz zu den illegalen Drogen unterliegt der Missbrauch von Alkohol, abgesehen von den Ländern mit Alkoholverbot oder hoher Besteuerung von Alkohol, in geringerem Maß der unterschiedlichen Verfügbarkeit und den unterschiedlichen Preisen. Aus diesem Grund sind Studienergebnisse über Komorbiditätsraten von Al-
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koholmissbrauch bei schizophren Erkrankten, wenn auch nicht ohne Einschränkung, besser vergleichbar.
Auslösung der Krankheit durch Substanzmissbrauch Wir gehen zuerst der Frage nach, ob Cannabismissbrauch zur vorzeitigen Auslösung oder gar zur Verursachung einer autonom weiter verlaufenden schizophrenen Erkrankung führt. Die Untersuchungsdesigns, die zur Überprüfung dieser Hypothese bisher bemüht wurden, lassen sich vereinfacht in drei Ansätze gliedern: Das Studium erhöhter Prävalenzraten schizophrener Erkrankungen bei Cannabis-Usern in Bevölkerungsuntersuchungen, so genannte Gemeinde-Surveys. Ein positives Ergebnis, das heißt eine erhöhte Rate des Auftretens schizophrener Erkrankungen bei Cannabis-Usern im Vergleich zu abstinent lebenden Kontrollen, liefert Hinweise auf das Risiko eines ursächlichen Zusammenhangs. Ein Nachweis dieses Zusammenhangs lässt sich mit diesem Design allerdings nicht führen. Da mit diesem Untersuchungsdesign keine genauen Informationen über die zeitliche Abfolge von Substanzmissbrauch und Krankheitsausbruch erbracht werden können, ist eine Entscheidung über die Richtung des ursächlichen Zusammenhangs nicht möglich: Sowohl die erhöhte Anfälligkeit schizophren Erkrankter für Drogeneinnahme als auch ein erhöhtes Erkrankungsrisiko bei Drogenmissbrauch könnten zu den erhöhten Missbrauchsraten schizophren Erkrankter führen. Prospektive kontrollierte Studien mit hinreichend langer Risikoperiode sind geeignet, die zeitliche Abfolge von Missbrauch und Krankheitsausbruch zu berücksichtigen. Positive Ergebnisse solcher Studien geben deshalb starke Hinweise auf Missbrauch als mögliche Ursache eines vorzeitigen Auftretens der Psychose. Die Entscheidung zwischen vorzeitiger Auslösung und Verursachung der Krankheit erlauben sie jedoch nicht. Das dritte Design vermeidet das Fehlerrisiko, das generell bei der prospektiven Risikoerfassung berücksichtigt werden muss, nämlich dass bereits die präpsychotische Prodromalphase mit erhöhter Anfälligkeit für Substanzmissbrauch verbunden ist und deshalb bereits erhöhte Missbrauchsraten aufweist: Dieses retro-
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spektive kontrollierte Design erfasst auch die Zeitpunkte des Beginns von Missbrauch und des Ausbruchs der Krankheit und der Meilensteine ihrer Entwicklung mit genauer Analyse ihrer Abfolge. Dieses Design legten wir unserer eigenen Studie zugrunde.
Ergebnisse prospektiver Studien Zwei große prospektive Bevölkerungsstudien auf epidemiologischer Basis haben das Risiko einer schizophrenen Erkrankung nach vorausgehendem Cannabis- und Alkoholmissbrauch ermittelt (vgl. Tab. 1). Bei einer schwedischen Studie wurden 50087 Rekruten im Alter von 18 bis 20 Jahren bei Gelegenheit der Musterung nach Art und Häufigkeit des Missbrauchs befragt. Nach 15 Jahren ist das Erkrankungsrisiko mit Hilfe eines landesweiten psychiatrischen Fallregisters als Erstaufnahme wegen Schizophrenie in ein Psychiatrisches Krankenhaus registriert worden. Auf ähnliche Weise wurden in einer israelischen Rekrutenstudie junge Männer im Alter von 16 bis 17 Jahren bei der Musterung nach Cannabiskonsum befragt. Die nachfolgende Risikoperiode variierte zwischen 4 und 10 Jahren. Der Eintritt des Risikos wurde ebenfalls mittels eines landesweiten psychiatrischen Fallregisters in Form von Erstaufnahmen mit der Diagnose Schizophrenie erfasst. Tabelle 1: Prospektive Bevölkerungsstudien zum Substanzmissbrauch ohne zeitliche Erfassung des Krankheitsausbruchs Lebenszeitprävalenz von Missbrauch bei Erstuntersuchung
RR für stationäre Aufnahme wegen Schizophrenie in der Risikoperiode
Israelische Rekrutenstudie: Alter bei Einschluss: 16-17 J.; Risikoperiode: 4-15 Jahre
Drogen 2 (Cannabis): 12,4 %
Schwedische Rekrutenstudie: Alter bei Einschluss: 18-20 J.; Risikoperiode: 15 Jahre
Drogen 2 (Cannabis): 14,0 % Alkohol: 5,5 % 2
Quelle: Weiser 2003; Andreasson et al. 1988
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Die Tabelle 1 zeigt die Konsumhäufigkeit, ermittelt aus der Anzahl der Rekruten, die mindestens einmal Cannabis genommen hatten, im Vergleich zu gleichaltrigen abstinenten Kontrollen. Bei der schwedischen Studie sind auch Alkoholkonsumenten wiederum ohne Beschränkung auf eine definierte Konsummenge erfasst worden. Das relative Risiko für eine stationäre Aufnahme wegen Schizophrenie wies in beiden Kohorten ein relatives Risiko von 2 und damit die Verdoppelung des Erstaufnahmerisikos wegen Schizophrenie auf. In der schwedischen Studie wurde das Ergebnis auf konfundierende Faktoren geprüft. Unter Berücksichtigung familiärer Belastungen mit psychischer Krankheit, Scheidung der Eltern, Missbrauch von anderen Substanzen – etwa Lösungsmitteln und Alkohol – blieb das erhöhte Erstaufnahmerisiko erhalten. Gegen die Deutung dieses Ergebnisses als vorzeitige Auslösung der Schizophrenie durch den Missbrauch ist eine Reihe von Einwänden erhoben worden. Das Fehlen einer operationalisierten Erfassung von Symptomatik und Diagnose mittels eines geeigneten Instruments wurde unter Hinweis auf die Kontamination mit so genannten Cannabispsychosen ebenso moniert wie die Beschränkung der Risikoerfassung auf stationäre Aufnahmen. Im Hinblick auf die im Mittel 4,8 Jahre dauernde präpsychotische Prodromalphase der Schizophrenie (Häfner et al. 1993) haben wir darauf hingewiesen, dass sich möglicherweise ein Teil der untersuchten Rekruten bei t0 bereits in der Prodromalphase der Krankheit befand und damit ein erhöhtes Risiko sowohl für Cannabismissbrauch als für die Entwicklung einer Schizophrenie hatte. Um diesem Einwand zu begegnen, haben die schwedischen Autoren die ersten fünf Jahre der Risikoperiode nach der Musterung nicht mit in die Auswertung einbezogen und damit das erhöhte Risiko durch nicht identifizierte Prodromalphasen bei der Eingangsuntersuchung weitgehend ausgeschlossen. Das Ergebnis eines deutlich erhöhten relativen Risikos für Schizophrenie bei vorausgehendem Cannabismissbrauch blieb bei leichter Reduzierung der Risikorate erhalten. Um die Argumentation für einen kausalen Zusammenhang zu verstärken, haben Andreasson und Mitarbeiter (1989) eine Teilpopulation, nämlich 8433 Rekruten aus der Provinz Stockholm, unter Quantifizierung des Cannabismissbrauchs analysiert.
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Tabelle 2: Dosis-Wirkung-Beziehung: Teilstudie der schwedischen Rekrutenstudie: Häufigkeit von Cannabiskonsum und Schizophrenieinzidenz bei 8433 Männern aus der Provinz Stockholm Häufigkeit von Cannabiskonsum
Rekruten n ( %)
An Schizophrenie erkrankt (n)
Relatives Risiko
0
6188 (80,4)
28
1,0
1-10
911 (11,8)
5
1,2
11-50
276 (3,6)
3
2,4
> 50
320 (4,2)
6
4,1
Quelle: Andreasson et al. 1989 Unter Ausschluss der ersten 5 Jahre der Risikoperiode – um unseren Einwand der möglichen Konfundierung durch erhöhten Konsum bei nichterfassten Prodromalphasen zu entkräften – fanden Zammit et al. (2002) nur eine geringe Reduzierung der jeweiligen RRs und des Dosis-Wirkungs-Gradienten
Wie die Tabelle 2 zeigt, stellte sich ein signifikanter Dosis-Wirkungs-Effekt dar. Dieses Ergebnis ist ein starkes Argument für ursächlichen Zusammenhang im Sinne einer vorzeitigen Auslösung oder Verursachung der Krankheit Schizophrenie durch Cannabismissbrauch. Allerdings bleibt auch hier die letzte Frage nach der Richtung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Missbrauch und Krankheit unbeantwortet: eine erhöhte Empfänglichkeit für den Missbrauch psychoaktiver Substanzen bereits auf der Grundlage von Persönlichkeitsmerkmalen, die vor dem Ausbruch der Schizophrenie vorhanden war, gegenüber der Annahme, der Missbrauch habe als solcher die Krankheit in Gang gesetzt.
Analyse der zeitlichen Abfolge von Missbrauch und Krankheit Erinnert man sich der Gesetzmäßigkeiten der frühen Krankheitsentwicklung, dann ist als Krankheitsbeginn nicht erst die Krankenhausaufnahme oder der erste ärztliche Kontakt zugrunde zu legen, sondern auch der etwa ein Jahr zuvor auftretende Ausbruch der Psychose und das im Mittel weitere 4,8 Jahre früher auftretende erste Zeichen der Krankheit. Das bedeutet, dass wir zwei Hypothesen zu prüfen haben: – Cannabismissbrauch führt zur vorzeitigen Auslösung der Krank-
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heit Schizophrenie, das heißt zum vorzeitigen Auftreten ihrer ersten Symptome, einschließlich der Prodromalphase, mit Anstoß des weiteren Krankheitsverlaufs. – Cannabismissbrauch führt zum vorzeitigen Auftreten psychotischer Symptome, ohne die depressiven negativen und unspezifischen Symptome der Prodromalphase in Gang zu setzen.
Untersuchung, Stichproben, Methoden
Abbildung 2: Die ABC-Shizophreniestudie: mittelfristiger Krankheitsverlauf
Das Design unserer Analyse zeigt die Abbildung 2. Der retrospektive Teil der Untersuchung gründet auf einer bevölkerungsbezogenen Stichprobe von 232 ersten Krankheitsepisoden weit definierter Schizophrenien (ICD-9, 295, 297, 298.3 und 298.4), das entspricht 84 % der konsekutiven Erstaufnahmen im Alter von 12-59 Jahren aus einer halb ländlichen/halb städtischen deutschen Bevölkerung von etwa 1,5 Millionen (Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg, Rhein-Neckar-Kreis und Östliche Pfalz). Eine detaillierte Beschreibung dieser Stichprobe, ihrer Erhebung und Untersuchung haben wir an anderer Stelle veröffentlicht (Häfner et al. 1993). Der prospektive Teil der Erhebung, der unserer Analyse der
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Folgen von Substanzmissbrauch bei der Schizophrenie zugrunde liegt, besteht aus einer repräsentativen Teilstichprobe von 115 ersten Krankheitsepisoden der Ausgangsstichprobe, die über 6 Querschnitte in 5 Jahren ab Erstaufnahme weiter untersucht wurden. 57 Ersterkrankte wurden mit 57 alters- und geschlechtsgematchten Kontrollen verglichen, die mit Zufallsauswahl aus dem Bevölkerungsregister der gleichen Stadt (Mannheim) gezogen worden waren. Die retrospektive Erfassung der prämorbiden Entwicklung von Substanz- und Alkoholeinnahme und der weitere Verlauf von Ausbruch bis zur Erstaufnahme wegen Schizophrenie erfolgte mit dem PSE-9-Instrument (IRAOS, Häfner et al. 1992, 1999). Der Eintritt von Alkoholkonsum in den Missbrauch (= erhebliches Trinken) hat zu Problemen mit der Familie, Versäumnissen am Arbeitsplatz oder Symptome wie morgendliches Zittern (Shakes) geführt. Der Eintritt von Drogenmissbrauch wurde als Einnahme illegaler Drogen mindestens zweimal wöchentlich (Wing et al. 1974) und mindestens über die Dauer eines Monats definiert. Diese Definitionen – aus dem PSE entnommen – decken sich annähernd mit jenen der ICD-10. Der weitere Verlauf wurde mit dem FU-HSD (WHO 1980) ermittelt. Positive Symptome wurden mit PSE-9, (Wing et al. 1974), negative Symptome mit SANS (Andreasen 1981) erfasst, soziale Behinderung mit dem DAS-M (Jung et al. 1989; WHO 1988) erhoben.
Ergebnisse Von den 232 ersten schizophrenen Krankheitsepisoden wiesen – wie die Tabelle 3 zeigt – zum Zeitpunkt der Erstaufnahme 55 eine Vorgeschichte mit Alkoholmissbrauch und 33 eine Vorgeschichte mit Drogenmissbrauch auf. Die Lebenszeitprävalenzraten zu diesem Zeitpunkt betrugen 23,7 % für Alkoholmissbrauch im Vergleich mit 12,3 % der gematchten Kontrollen und 14,2 % für Substanzmissbrauch im Vergleich mit 7 % der gematchten Kontrollen. Das relative Risiko (RR) von 2, das hier für beide Missbrauchsformen zutrifft, entspricht den Komorbiditätsraten zum Zeitpunkt
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der Erstaufnahme den Ergebnissen der wenigen vergleichbaren Studien. Tabelle 3: Lebenszeitprävalenz von Alkohol- und Substanzmissbrauch bis zum Alter bei Erstaufnahme wegen Schizophrenie (Vergleich mit alters-, geschlechts- und nach Wohnort gematchten Kontrollen aus dem Bevölkerungsregister) An Schizophrenie Erkrankte n=232
Kontrollen n = 57
RR
Alkoholmissbrauch
23,7 % (n = 55)
12,3 % (n = 7)
2
Substanzmissbrauch
14,2 % (n = 33)
7,0 % (n = 4)
2
Bei der Wahl der Missbrauchssubstanzen stand Cannabis mit 88 % gegenüber Alkoholmissbrauch mit 57 % bei der Mehrzahl der einschlägigen Studien westlicher Länder im Vordergrund. Andere Drogen, insbesondere Halluzinogene, spielten mit 9 % eine zu vernachlässigende Rolle. Diese Substanzen werden gelegentlich von Personen mit Alkohol- und Cannabismissbrauch konsumiert. Die Lifetime-Prävalenz war bei Männern mit 39 % gegenüber 22 % bei Frauen, für alle Formen von Substanzmissbrauch zusammengenommen, wie bei allen einschlägigen Studien deutlich erhöht. Tabelle 4: Vorzeitige Auslösung der Schizophrenie durch Cannabismissbrauch Alter bei Ausbruch der Schizophrenie bei: Cannabismissbrauch
17,7 Jahre
Alkoholmissbrauch
21,7 Jahre
Abstinenz
25,7 Jahre
annähernd gleiche Altersdifferenz bei den nachfolgenden Meilensteinen der Krankheitsentwicklung Ausbruch der Schizophrenie bei Cannabismissbrauch: vor Beginn des Missbrauchs
27,6 %
im selben Monat
34,6 %
nach Beginn des Missbrauchs
38,1 %
Die Tabelle 4 zeigt das Alter bei Ausbruch der Schizophrenie im Vergleich der beiden Missbrauchsformen mit den Kontrollen. Hier wird deutlich, dass die Krankheit bei Patienten mit Canna-
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bismissbrauch 8 Jahre, bei Patienten mit Alkoholmissbrauch 4 Jahre früher ausgebrochen ist als bei abstinenten Patienten. Bei den nachfolgenden Meilensteinen der Krankheitsentwicklung – erstes negatives Zeichen, erstes positives Zeichen, Höhepunkt der ersten Episode und stationäre Aufnahme – finden sich annähernd gleiche Altersdifferenzen. Dieses eindeutige Ergebnis legt bereits die Vermutung nahe, Cannabis und in geringerem Maß auch Alkohol könnten die Schizophrenie vorzeitig auslösen. Um diese Hypothese exakt zu prüfen, ermittelten wir in zwei Schritten die zeitliche Abfolge des Beginns von Cannabismissbrauch und des Ausbruchs der Schizophrenie:
Abbildung 3: Abfolge des Beginns von Drogenmissbrauch und des ersten Krankheitszeichens
Abbildung 3 zeigt oben in der Mitte den Monat des Missbrauchsbeginns und zu beiden Seiten den Jahresabschnitt des Krankheitsverlaufs vor und nach diesem Monat. Der Beginn des Missbrauchs geht mit 28 % dem Monat des Ausbruchs der Krankheit voraus. Im ersten Monat des Cannabismissbrauchs findet sich dann ein hoch signifikanter Gipfel von 34,6 % der Krankheitsausbrüche. Die Graphik zeigt im unteren Abschnitt diesen Monat noch ein-
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mal, und zwar im Vergleich mit 12 Monaten vorher und nachher. Der hoch signifikante Unterschied wird in dieser Graphik auch visuell deutlich.
Abbildung 4: Abfolge des Beginns von Drogenmissbrauch und des ersten psychotischen Symptoms
Bei der Prüfung des zeitlichen Zusammenhangs zwischen Cannabismissbrauch und dem Ausbruch der psychotischen Symptome wird überraschend das Fehlen jeglichen zeitlichen Zusammenhangs deutlich (Abb. 4). Damit besteht kein Zweifel mehr, dass Cannabis in der Lage ist, eine Schizophrenie vorzeitig auszulösen. Es wird aber nicht die psychotische Episode, sondern in der Regel die Krankheit selbst ausgelöst, was mit dem signifikant jüngeren Alter bei Ausbruch der Krankheit nach vorangehendem Cannabismissbrauch gut vereinbar ist. Das erscheint im Hinblick auf die neurobiologischen Wirkmechanismen von THC und ihre Lokalisation, die eingangs dargestellt wurden, zunächst unwahrscheinlich. Bedenkt man jedoch den natürlichen Krankheitsverlauf zwischen Prodromalphase und dem Anstieg psychotischer Symptomatik, so kommt man zu der Vermutung, dass beiden derselbe pathophysiologische Prozess zugrunde liegt. Er beginnt mit der
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Prodromalphase und bringt bei weiterem Fortschreiten auch die psychotische Symptomatik und mit ihr die erste psychotische Episode hervor.
Abbildung 5: Abfolge des Beginns von Alkoholmissbrauch und des ersten Krankheitszeichens
Die Abbildung 5 zeigt den zeitlichen Zusammenhang zwischen Einstieg in den Alkoholmissbrauch und Ausbruch der Schizophrenie. Auch hier kommt es zu einer signifikanten Häufung des ersten Auftretens schizophrener Erkrankungen im Monat des Beginns von Alkoholmissbrauch, aber in wesentlich geringerem Ausmaß als bei Cannabismissbrauch. Die Erklärung liegt nahe, dass auch Alkoholmissbrauch – wenn auch seltener – zum vorzeitigen Ausbruch einer Schizophrenie führen kann, was zum einen durch die zeitliche Häufung des Krankheitsausbruchs bei Missbrauchsbeginn, zum anderen durch das wenigstens um 4 Jahre niedrigere Ersterkrankungsalter bei vorangegangenem Missbrauch angezeigt wird. Diese Erklärungshypothese lässt sich im Hinblick auf den erheblichen quantitativen Unterschied zu den Cannabiseffekten noch nicht definitiv vertreten. Hier ist die Replikation unseres Befunds gefordert.
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Mit dem eindeutigen Beleg der vorzeitigen Auslösung von Schizophrenie durch Cannabismissbrauch stellt sich auch die Frage nach der Verursachung der Krankheit bei Personen, die andernfalls nicht an Schizophrenie erkrankt wären. Die deutliche Dosis-Wirkungs-Beziehung (siehe Tab. 2) mit nahezu linear zunehmendem relativen Risiko in der zweiten schwedischen Rekrutenstudie ist ein starkes Argument für den ursächlichen Zusammenhang. Dennoch ist es kein Beweis dafür. Denn das maximale Alter für die Erfassung des Erstaufnahmerisikos betrug bei einem Untersuchungsalter von 18 bis 20 und einer Risikoperiode von 15 Jahren 33 bis 35 Jahre. Unter Berücksichtigung der mittleren Dauer des Frühverlaufs von 6 Jahren und eines Medians von 3 Jahren (Häfner et al. 2002) vor Erstaufnahme ist das erfasste Risikoalter bei Erstaufnahme noch einige Jahre früher anzusetzen. Das Risikoalter, das mit der israelischen Rekrutenstudie erfasst wurde, liegt bei maximal 28 Jahren für die Erstaufnahme, was ebenfalls eine Reduzierung der Risikoperiode um einige Jahre erfordert. Damit ist das Altersspektrum des Erkrankungsrisikos an Schizophrenie nicht abgedeckt. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass zwar die durch Cannabis vorzeitig ausgelösten Erkrankungen die Ersterkrankungsraten im jüngeren Erwachsenenalter erhöht haben. Es kann aber zugleich nicht ausgeschlossen werden, dass unter der Voraussetzung lebenslanger Risikobeobachtung das Lebenszeitrisiko für Schizophrenie bei Substanzmissbrauch und bei Abstinenz keine Unterschiede mehr aufweisen.
Die Folgen von Alkohol- und Drogenmissbrauch im Verlauf der Schizophrenie Nachdem wir uns im ersten Teil unserer Studie mit der Frage nach dem erhöhten Risiko von Substanzmissbrauch vor Krankheitsausbruch befasst haben, beschäftigen wir uns nun mit Folgen des Missbrauchs nach dem Ausbruch der Krankheit. Wegen der kleinen Zahl der Patienten in unserem Verlaufssample von 115 Erstepisoden von Schizophrenie, die wir über 5 Jahre in 6 Querschnitten untersucht haben, mussten wir die Fälle von Cannabis- und Alkoholmissbrauch zusammenfassen. Die 29
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Kranken, die diese Kriterien erfüllten, wurden mit 29 abstinenten Kranken aus demselben Sample nach Alter und Geschlecht gematcht.
Abbildung 6: Verlauf positiver Symptome über 5 Jahre nach Erstaufnahme bei schizophren Erkrankten mit und ohne Substanzmissbrauch im Frühverlauf
Die Abbildung 6 zeigt in Form der Mittelwerte des CATEGODAH-Scores, eines Maßes psychotischer Symptomatik, die beiden Gruppen in 6 Querschnitten über 5 Jahre. Das Ergebnis stimmt mit den wenigen vergleichbaren Follow-up-Studien zum Thema überein: Substanz- und Alkoholmissbrauch im Frühverlauf erhöhen nicht nur in der ersten psychotischen Episode, sondern auch über den gesamten 5-Jahres-Verlauf hinweg das Ausmaß psychotischer Symptomatik signifikant. Wir haben weiter untersucht, welche der drei Kategorien psychotischer Symptome davon besonders betroffen ist. Wir prüften dazu die Anzahl von Monaten oder Jahren, die mit dem Vorhandensein von Halluzinationen, Wahn oder psychotischen Denkstörungen in der Verlaufsperiode von 5 Jahren verbracht wurden (Abb. 7). Auch dieses Ergebnis ist eindeutig. In allen drei Kategorien ist die mit psychotischer Symptomatik zugebrachte Zeit bei der Cannabisgruppe erhöht. In zwei der drei Kategorien Halluzination und Denkstörungen werden diese Unterschiede signifikant.
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Abbildung 7: Der Einfluss von Substanzmissbrauch im Frühverlauf auf das Ausmaß psychotischer Symptome im 5-Jahres-Verlauf
Wir haben auch den Einfluss auf die Negativsymptomatik im 5-Jahres-Verlauf geprüft. Hier zeigt sich eine leichte, nicht signifikante Abnahme des SANS-Global-Scores, eines internationalen Maßes der Negativsymptomatik, über die 5-Jahres-Periode. Die Teilanalyse zeigt jedoch, dass dieser Trend weitgehend auf die Abnahme eines einzigen Symptoms, nämlich der affektiven Verflachung, zurückgeht (siehe Abb. 8).
Abbildung 8: Verlauf effektiver Verflachung über 5 Jahre nach Erstaufnahme bei schizophrenen Erkrankten mit (n = 29) und ohne (n = 29) Substanzmissbrauch
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Die Therapie-Compliance wurde auf ähnliche Weise, diesmal kumuliert über die gesamte 5-Jahres-Periode ermittelt. Die Gruppe mit Substanz zeigte im Durchschnitt 33,6 Monate und damit mehr als die Hälfte der Verlaufsperiode unzureichende oder fehlende Compliance mit den verordneten Medikamenten im Vergleich zu den Kontrollen mit nur 24,6 Monaten. Die Anzahl der Krankenhaustage pro Patient war erwartungsgemäß bei den Missbrauchsfällen mit 170 höher als bei den Kontrollfällen mit 131 Tagen, allerdings ohne dass dieser Unterschied die Signifikanzgrenze erreichte. Dennoch ist dieser Unterschied ein Hinweis auf einen höheren Bedarf an stationärer Behandlung und damit auch auf höhere Kosten der Versorgung schizophren Erkrankter mit Substanzmissbrauch. Als Indikator des sozialen Outcomes nach 5 Jahren haben wir den Beschäftigungsstatus – eingeteilt in vier Kategorien – gewählt: – berufstätig – in Ausbildung – arbeitslos – in Rehabilitation Tabelle 5: Substanzmissbrauch im Frühverlauf und beruflicher (Ausbildungs-) Status 5 Jahre nach Erstaufnahme Patienten
berufstätig
in Schule/ Berufsausbildung
arbeitslos
in Rehabilitation
mit Missbrauch
33,3 % (n = 7)
4,8 % (n = 1)
57,1 % (n = 12)
4,8 % (n = 1)
ohne Missbrauch
40,0 % (n = 10)
8,0 % (n = 2)
28,0 % (n = 7)
24,0 % (n = 6)
p = .03
Die Tabelle 5 lässt erkennen, dass bei der regulären Berufstätigkeit und im Ausbildungsstatus kein signifikanter Unterschied besteht. Arbeitslos waren jedoch 57 % der Patienten mit gegenüber 28 % der abstinenten Vergleichsgruppe. Dieser Unterschied fand eine unerwartete Teilerklärung in der Tatsache, dass 24 % der Kontrollen, aber nur 4,8 % der Missbrauchspatienten in Rehabilitation standen. Dieser Unterschied könnte einmal auf die schlechtere
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Compliance der Patienten mit Substanzmissbrauch zurückgehen, die sich nicht nur gegenüber der Pharmakotherapie, sondern auch bei Versorgungsmaßnahmen niederschlägt. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass Patienten mit Substanzmissbrauch in Rehabilitationseinrichtungen häufiger abgelehnt werden, weil diese Problematik mit einer ungünstigeren Prognose verbunden ist. Die sozialen Konsequenzen der Komorbidität von Substanzmissbrauch fallen in unserer Studie geringer aus als in den meisten Untersuchungen zu dieser Frage. Die Gründe dazu liegen im frühen Stadium der Krankheit – es handelt sich um eine epidemiologische Erstepisodenstichprobe –, im jungen Alter der Kohorte und in der kurzen Dauer des von uns untersuchten Krankheitsverlaufs.
Schlussfolgerungen Der Einstieg in den Missbrauch von Cannabis und von Alkohol ist bereits vor der Erstaufnahme wegen Schizophrenie doppelt so häufig wie bei gleichaltrigen Personen aus derselben Bevölkerung. Aber auch schon vor Ausbruch der Prodromalphase haben später an Schizophrenie erkrankende Personen ein erhöhtes Missbrauchsrisiko. Ob die Ursache dazu genetischer Natur ist oder im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen oder Vorläufersymptomen der Krankheit steht, die sich überwiegend in der Erschwerung persönlicher Kontakte und sozialer Beziehungen niederschlagen, lässt sich mit unserer Studie nicht entscheiden. Zweifelsfrei lässt sich aber zeigen, dass Cannabismissbrauch bei entsprechend disponierten Personen eine Schizophrenie vorzeitig auslösen kann. Das Ersterkrankungsalter ist bei Cannabismissbrauch um 8 Jahre niedriger als jenes von abstinenten Personen. Auch Alkoholmissbrauch scheint einen, wenn auch wesentlich schwächeren, Triggereffekt zu haben. Doch bedarf dieses zuletzt genannte Ergebnis unserer Studie noch der Replikation. Ein früher Substanzmissbrauch führt zu ungünstigen Folgen im weiteren Verlauf: Er vermehrt vor allem das Auftreten der psychotischen Symptome über den gesamten Verlauf hinweg und reduziert die affektive Verflachung. Es ist nicht unwahrscheinlich,
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dass einige Kranke Cannabis als dysfunktionale Copingstrategie benutzen, um die durch Krankheit verminderte Erlebnisfähigkeit und das unangenehme Gefühl von Abstumpfung und Gleichgültigkeit zu reduzieren. Sie nehmen dafür eine Zunahme der offensichtlich weniger belastenden positiven Symptome in Kauf. Die Frage, ob die Vermehrung positiver Symptome im Verlauf direkt über die Verstärkung der dopaminergen Neurotransmission vermittelt wird oder die Folge verminderter Compliance mit antipsychotischen Substanzen ist, konnten wir nicht exakt prüfen. Wahrscheinlich sind beide Faktoren beteiligt. Sicher ist jedoch, dass die Auslösung der Krankheit Schizophrenie durch Cannabismissbrauch nicht erst bei der psychotischen Episode ansetzt, sondern den Krankheitsprozess selbst und damit den Beginn jener dysfunktionalen neurobiologischen Veränderungen auslöst, die erst zur Prodromalsymptomatik und in ihrem Fortgang zur Psychose führen. Diese Ergebnisse legen nahe, durch geeignete Verfahren der Frühentdeckung, der Früherkennung und der Frühintervention diese offensichtlich ernsten Risiken des Substanzmissbrauchs zu vermindern.
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Lutz Ulrich Besser
Psychotraumata, Gehirn und Suchtentwicklung
Vorbemerkung In diesem Beitrag geht es um neue Erkenntnisse der Traumaforschung und der Neurobiologie. Hierbei soll der Zusammenhang von traumatischen Lebensereignissen, Traumafolgeerkrankungen (einfache und komplexe Posttraumatische Belastungsstörungen, Symptombildungen und Persönlichkeitsveränderungen) und den sich häufig in diesem Zusammenhang zusätzlich entwickelnden substanz- und nicht substanzgebundenen Abhängigkeitsstörungen und Suchterkrankungen ansatzweise deutlich gemacht werden. Um den Überblickscharakter des Beitrags nicht zu gefährden, wird auf die Zitation von umfangreichen Statistiken und vergleichenden Studien verzichtet ebenso wie auf die Darstellung klassischer multifaktorieller Modelle der Suchtentstehung, wie zum Beispiel im Bereich der Drogenabhängigkeit nach Kielholz und Ladewig. Danach lässt sich Sucht dynamisch und dialektisch verstehen. Zum Verständnis der Entwicklung von Drogenabhängigkeit aber auch ihrer Behandlungsmöglichkeiten sind psychologische und biologische Aspekte der Person des Drogenkonsumenten, das nähere soziale Umfeld, ebenso wie die umfassende ökonomisch-gesellschaftlich-kulturelle Situation sowie die spezifischen Eigenschaften der Drogen zu berücksichtigen. Nach neueren Erkenntnissen tragen jedoch bei den biographischen Aspekten vor allem auch traumatische Lebensereignisse zur Suchtentwicklung bei. Insbesondere sind Traumatisierungen durch die verschiedenen Formen innerfamiliärer Gewalt in Kindheit und Jugend dabei von Bedeutung. Der Umfang wissenschaftlicher deutschsprachiger Literatur
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zur Psychotraumatologie, Neurobiologie, Bindungsforschung und Traumatherapie ist in den letzten Jahren auf ein erstaunliches Niveau angestiegen. Bis vor kurzem standen sich Neurobiologie, Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie noch als getrennte und zum Teil opponierende Bereiche gegenüber. Sie befanden sich in wissenschaftlicher Konkurrenz um den vermeintlich »richtigen« Zugang zum Verständnis von Ursachen psychischer Störungen und deren wirksamsten Behandlungsmethoden. Diese Zeit scheint erfreulicherweise zu Ende zu gehen.
Neuroplastizität Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren überraschende Erkenntnisse gewonnen, die einen neuen Zugang zum Verständnis der gesunden und gestörten Gehirn- und Persönlichkeitsentwicklung des Menschen ermöglichen. Bis vor einiger Zeit hätte kaum jemand anzunehmen gewagt, in welch hohem Ausmaß neuronale Prozesse und Strukturen und damit psychische Funktionen, Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmale von Lebenserfahrungen bestimmt und geprägt werden. Im deutschsprachigen Raum sind es Neurobiologen und Wissenschaftler wie Gerald Hüther, Universität Göttingen, Manfred Spitzer, Universität Ulm, Gerhard Roth, Universität Bremen, Günter Schiepek, RWTH Aachen, Klaus Grawe, Universität Bern, Niels Birbaumer, Universität Tübingen, und andere, die zu Forschungsresultaten und als Autoren von zahlreichen Veröffentlichungen und Büchern zur zunehmenden Verbreitung der neuen Erkenntnisse maßgeblich beigetragen haben. Die Ausführungen zu neurobiologischen Aspekten beinhalten in diesem Kapitel in Anlehnung an diese Autoren zum Teil inhaltlich zusammengefasste Aussagen aus ihren Veröffentlichungen. Das menschliche Gehirn ist ein äußerst komplexes Organ. Es ist aus über 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) und dem zehnfachen an Stützzellen zusammengesetzt. Die Nervenzellen sind in neuronalen Systemen organisiert, um Signale aus der Umwelt zu registrieren, zu erkennen, zu verarbeiten, zu speichern und um auf diese visuellen, auditiven, olfaktorischen, gustatorischen und
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taktilen Signale sowie auf Reize aus dem Körperinneren (viszerale Signale wie Durst, Hunger, Erregung, Schmerz) sinnvoll zu reagieren. Das übergeordnete evolutionsbiologisch »sinnvolle« Prinzip der komplexen Zusammenarbeit neuronaler Netzwerke ist in erster Linie die Fähigkeit, rasch körperliche Reaktionen auszulösen und effektive Strategien zu entwickeln, die das Überleben des Organismus ermöglichen oder zumindest begünstigen. Neben diesen Verschaltungen, die der Realisierung dieser basalen Aufgaben des Gehirns dienen, sind neuronale Netzwerke zu verschiedenen Systemen verknüpft, die spezifische andere Funktionen gewährleisten. So sind sie im Hirnstamm für die Steuerung jener lebenswichtigen Vitalfunktionen, wie Atmung, Herzschlag, Blutdruck, für die Wachheit, aber auch für die Alarmbereitschaft und Mobilisation der Überlebensreaktionen zuständig. Übergeordnete Systeme wie in den limbischen Hirnregionen sind für die Generierung und Steuerung von Gefühlen, Bindungsverhalten, sozialer Interaktion, und Affektregulation verantwortlich. Die neuronalen Funktionseinheiten des Neocortex (Hirnrinde), dem evolutionär jüngsten Bereich des menschlichen Gehirns, ermöglichen abstraktes Denken, komplexe Sprachleistungen, Antizipation von Zukünftigem, motivational gesteuerte Handlungsabläufe und stellen das »Wohnzimmer« des Gedächtnisses und der individuellen Persönlichkeit eines jeden Menschen dar. Durch die neuen bildgebenden Verfahren, mit denen man in ein lebendiges Gehirn hineinschauen und feststellen kann, wo und wie es arbeitet, ist es möglich geworden, zu unterscheiden, was anlagebedingt vererbt und was später im Lauf des Lebens dann erworben wird, das heißt, wie und durch welche Einflüsse sich das Gehirn schon im Mutterleib, nach der Geburt und im weiteren Verlauf von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter entwickelt. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts hatte man zunächst ein lineares Vorstellungsmodell entworfen und ging dabei vom Denken eines Mechanikers oder Maschinenbauers aus, der viele Einzelteile, also Nervenzellen, miteinander verbindet beziehungsweise verdrahtet, die dann durch bestimmte Verschaltungen ihre spezifischen Funktionen bekommen. Ein solches Gerät, also diesen
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»Gehirnapparat«, kann man dann benutzen und im Lauf der Zeit kann dieses Gerät dann unter Umständen kaputt gehen und am Ende hat man schlimmstenfalls eine degenerative Hirnleistungsstörung. Das ist ein bildhafter Vergleich, der so aber eben nur für triviale Maschinen und auch für so komplizierte Geräte wie Computer gilt. Lebende und damit komplexe Systeme funktionieren jedoch anders. Lebendiges organisiert sich ständig in Abhängigkeit von der Art und Weise, wie es genutzt wird. In der Systemtheorie spricht man von Autopoiese. Am Beispiel von Muskulatur ist uns das sehr vertraut. Muskeln bilden sich bei notwendiger Ruhigstellung nach einem Knochenbruch zurück und können durch Bewegungs- und Krafttraining, also intensivere Nutzungsbedingungen, wieder aufgebaut, vergrößert und in ihrer Kraftentfaltung sogar über den ursprünglichen Funktionszustand hinaus verbessert werden. Diese nutzungsabhängige Plastizität trifft ganz besonders für das menschliche Gehirn zu. Ging es in der Forschung in den Jahrzehnten zuvor mehr um die immer genauere Erforschung der Struktur und des Zusammenspiels von Neurotransmittern, die Feinstruktur und Funktion der Synapsen und ihrer verschiedenen Rezeptortypen sowie die elektrochemische Signalübertragung von Nervenzelle zu Nervenzelle und deren Beeinflussbarkeit durch Psychopharmaka, so sind es nunmehr die Erkenntnisse zum sich selbst strukturierenden neuronalen Netzwerk des menschlichen Gehirns, das sich in Abhängigkeit von den Nutzungsbedingungen gesund und differenziert oder eingeschränkt oder gestört entwickelt. Bei der Entdeckung dieser Neuroplastizität, die als zentrale Begrifflichkeit die neuere Gehirnforschung zurzeit dominiert, geht es also um das nun erkannte Phänomen, dass unser Gehirn, dieses hoch komplexe Organ, über den ständigen Austausch mit seiner Umwelt geformt wird und sich selbst strukturiert. Die materielle Grundlage dieser Plastizität ist durch die fast unendlichen Möglichkeiten neuronaler Verschaltungen, Umorganisation und Autopoiese gegeben. Schätzungen gehen von einer Anzahl von ungefähr 10 hoch 10 Neuronen (10 Milliarden) in unserem Zentralnervensystems
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aus, die wiederum über synaptische Kontakte miteinander zu neuronalen Netzwerken verknüpft sind. Bei einer angenommenen durchschnittlichen Dichte von 10 000 Synapsen pro Neuron, ergeben sich damit etwa 10 hoch 14 (100 Billionen) Schaltstellen neuronaler Vernetzung, die der Informationsverarbeitung und der Regulierung von Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Verhalten und der Körperfunktionen dienen. Man spricht dabei verkürzt von Kognitions-Emotions-Verhaltens-Mustern (KEV-Mustern), die durch die enorme Anzahl von neuronalen Verschaltungsmöglichkeiten gesteuert werden. Rechnerisch geht man auch noch davon aus, dass für jedes einoder ausgehende Neuron unseres Gehirns ungefähr 100 Neuronen zur internen Verarbeitung und Neustrukturierung zur Verfügung stehen. Vom Zahlenverhältnis aus betrachtet bedeutet dies, dass unser Gehirn vor allem mit der durch Lernvorgänge vermittelten Selbstorganisation beschäftigt ist (Schiepek 2003). Der Begriff »Neuroplastizität« bezeichnet einfach ausgedrückt also die Fähigkeit von Nervenzellen, sich entsprechend ihrer Aktivierung und Nutzung anzupassen und zu verändern. Vermehrte Aktivierung und Inanspruchnahme führen zu einer Zunahme und Verbesserung der synaptischen Kontakte der Nervenzellen untereinander. Diese verbesserten Verschaltungen erhöhen dadurch den Grad ihrer Nutzbarkeit und Effektivität. Das wird derzeit als Grundlage aller Lernvorgänge angesehen. Als Analogie stelle man sich in einem naturbelassenen, unwegsamen Gelände einen schmalen Pfad vor, der nur gelegentlich zur Durchquerung dieses Gebiets von einem ortskundigen Wesen benutzt wird. Wird dieser schmale Weg nun aber immer häufiger oder gar regelmäßig benutzt, so wird die Spur breiter, übersichtlicher und leichter begehbar, bis schließlich daraus ein Trampelpfad oder gar eine befestigte Straße werden kann. Wird diese so entstandene Strasse aus irgendwelchen Gründen aber nicht mehr genutzt, so bildet sie sich zurück und wächst vielleicht sogar wieder zu, wenn sie nicht gerade besonders gefestigt, etwa zementiert worden ist (Hüther 2001). Die Hirnforscher haben also Antworten auf die zentrale Frage gefunden, wie sich die Art und Weise unserer Hirnnutzung auf die Verschaltung der Nervenzellen auswirkt, welche Nervennetze
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damit stabilisiert und welche auch wieder destabilisiert werden und wie sich damit das Funktionsniveau in die eine oder andere Richtung ändert. Je intensiver, andauernder und häufiger das Gehirn für die Aufnahme, Verarbeitung bestimmter Eindrücke und die Umsetzung in bestimmte Reaktionen genutzt wird, desto mehr prägen diese die Vorstellungen, Gefühlswelt, Denk- und Handlungsmuster und damit langfristig letztlich die Persönlichkeit des Nutzers. Es gibt natürlich auch vererbte und anlagebedingte basale Verschaltungsmuster mit unterschiedlichen Entwicklungspotentialen, aus denen komplex verschaltete Netzwerke werden können. Ob und wie diese Potentiale jedoch tatsächlich genutzt werden und welche komplexen Verknüpfungen von Nervenzellen und damit Fertigkeiten des Individuums entstehen, hängt von stabilisierenden Einflüssen ab, die auf diese neuronalen Netzwerke treffen. So fand man heraus, dass auch bei erwachsenen Menschen mit einer ausgereiften Hirnentwicklung je nach Nutzungsbedingung noch strukturelle Veränderungen des Gehirns nachweisbar sind. Neurowissenschaftler stellten fest, dass bei Taxifahrern in London in Abhängigkeit von der Dauer ihrer Tätigkeit, die ja darin besteht, sich Fahrtrouten zu merken und sich beim Fahren nach diesen inneren Bildern und Vorstellungen zu richten, die Region des Gehirns vergrößert ist, die für die räumliche Orientierung zuständig ist. Bildgebend konnte ein größerer Hippocampus nachgewiesen werden. Der Hippocampus ist jene Region im Gehirn, die unter anderem bei zeitlich-örtlicher Orientierung stark beansprucht wird. Hätte man keinen Hippocampus, so könnte man sich zeitlich, räumlich und auch in anderen Bereichen der Verarbeitung von Informationen nicht mehr richtig orientieren. Der Hippocampus nimmt an Volumen zu oder wird kleiner, je nachdem wie man ihn nutzt. Ein anderes Beispiel für die nutzungsabhängige Strukturierung des Gehirns ist die Tatsache, dass man bei Geigern und Gitarristen eine deutliche Vergrößerung der Regionen des somatosensorischen Kortex fand, die für die Repräsentation der Tastempfindungen der Fingerkuppen der linken Hand zuständig sind. Ebenfalls war im Vergleich zu Nichtmusikern der Bereich des Gehirns bei den Musikern stark vergrößert, der für die Verarbeitung akustischer Informationen zuständig ist.
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Diese Beispiele machen deutlich, dass durch die stärkere Nutzung vielmehr Verschaltungen im neuronalen Netzwerk entstehen und dass sich dadurch das Funktionsniveau verbessert. Ebenso sind jedoch auch Nutzungsbedingungen möglich, unter denen Komplexität wieder auf einfache Stufen und Funktionsniveaus zurückfallen kann, wenn entsprechende destabilisierende Einflüsse wie Reizverarmung oder extremer anhaltender Stress auftreten. Gerald Hüther geht in seinen Vorträgen (z. B. WAP, Bad Wildungen 2002) und seinen Büchern wie »Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn« (2001) der Frage nach, welche Bedingungen auftreten müssen, damit sich hoch komplexe Dinge wie Verhalten und Wesensarten von Menschen entwickeln oder ändern können und nicht nur in der Region des Hirns, die für die Tastempfindungen und die Motorik der Fingerkuppen zuständig ist, Veränderungen stattfinden. Wie und wodurch geschieht Entwicklung oder Veränderung vor allen Dingen in jenen Gehirnregionen, die für das zuständig sind, was uns als Menschen eigentlich ausmacht, der Bereich der emotionalen und sozialen Kompetenz. Damit sind jene Hirnstrukturen und Funktionen gemeint, die Menschen in die Lage versetzen, sich in andere Menschen einzufühlen, die uns unser Ich-Bewusstsein geben, uns lieben, leiden oder auch hassen lassen, die uns unsere Kompetenzen wahrnehmen und gezielt einsetzen lassen, Möglichkeiten der Antizipation von Zukünftigem ermöglichen und die uns bindungsfähig und sozial umsichtig handlungsfähig machen. Das seien die komplizierten und interessanten Bereiche des Hirns und es drängt sich die Frage auf, ob sich dort auch irgendwas verändern lässt, wenn man diese Funktionseinheiten des Hirns unterschiedlich nutzt. Hüther kommt sinngemäß zu dem Ergebnis, dass Gehirn und Persönlichkeit des Einzelnen durch den psychosozialen Erfahrungshorizont, also vor allem die in Beziehungen erworbenen optischen, emotionalen und kognitiven Abbildungen zwischenmenschlicher Interaktionen, und durch Vorbilder geformt werden. Letztlich entwickele sich auch die aus einzelnen Individuen bestehende Gesellschaft in Abhängigkeit von den Nutzungsbedingungen der Gehirne des Einzelnen insgesamt in eine positive oder destruktive Richtung. Gehen wir jedoch noch einmal zurück, zurück an den Anfang
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der Entwicklung eines Menschenkindes, um anhand der oben beschriebenen Gegebenheiten Wachstum, Entfaltung oder Beeinträchtigungen der frühen Persönlichkeitsentwicklung etwas genauer zu beleuchten. Das Gehirn von uns Menschen strukturiert sich schon im Mutterleib beginnend so, wie es genutzt wird, das heißt, je nachdem welchen Einflüssen es ausgesetzt ist. Ein Beispiel, welche Auswirkungen auch nur einmalige spezifisch traumatische – schockierende oder lebensbedrohliche – Ereignisse einer werdenden Mutter pränatal, also intrauterin, auf ein Ungeborenes haben können, werde ich weiter unten ausführen, wenn es um Traumata und die Folgen im engeren Sinn geht. Die neuronalen Verschaltungen im Gehirn des Neugeborenen und damit des größeren Teils seiner Funktionen sind bei der Geburt keineswegs von vornherein festgelegt. »Nur« das Potential und die Fähigkeit zur Vernetzung oder auch Verdrahtung neuronaler Strukturen, und somit die Lernfähigkeit, sowie basale vegetativ gesteuerte Reaktionsmuster, die die lebenserhaltenden körperlichen Funktionen steuern, sind genetisch determiniert. Das ist entwicklungsbiologisch auch sinnvoll und notwendig. Wie sollten sich Kinder in Afrika, bei den Inuit oder in den modernen Industrienationen sonst so unterschiedlich entwickeln können, dass sie sich in so andersartigen Lebensräumen und Kulturen situationsgerecht anpassen und leben könnten, wenn ihre Gehirne nicht weitestgehend »unverdrahtet« und dadurch eben hoch lernfähig zur Welt kämen? Der Frage nach angeboren oder erworben ging auch der Staufenkaiser Friedrich II. vor etwa achthundert Jahren in einem als unmenschlich zu erachtenden Versuch an zwei Neugeborenen nach. Er wollte herausfinden, wie sich das Gehirn aus sich selbst heraus entfaltet, wenn man seine Entwicklung ausschließlich den vererbten Anlagen überlässt. Er wollte die Ursprache des Menschen herausfinden, die das Gehirn selbstständig entwickelt, wenn es keinen Einflüssen von außen ausgesetzt ist. So verbot er den Ammen bei Strafe, mit den Kindern auch nur ein einziges Wort zu sprechen, sie aber sonst zu versorgen. Die Kinder begannen nicht nur keine der von Friedrich II. vermuteten Sprachen – Aramäisch, Latein oder Griechisch – zu
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artikulieren, sie sprachen überhaupt nichts, blieben in ihrer gesamten geistigen und körperlichen Entwicklung zurück und starben schließlich, vermutlich an den massiv beeinträchtigten Funktionen einer unter diesen Nutzungsbedingungen verkümmerten Version des Gehirns. Wie sich die einzelnen Neuronen (Nervenzellen) durch Aussprossung von Nervenfortsätzen (Dendriten), neuer Synapsenbildung und Verbesserung der synaptischen Signalübertragung zu immer effektiver arbeitenden Informationsnetzwerken strukturieren und sich damit die geistigen, emotionalen, körperlichen und sozialen Fähigkeiten des Individuums herausbilden, ist wie auch in diesem historischen Beispiel veranschaulicht, abhängig von den Nutzungsbedingungen, die das Gehirn des betreffenden Menschenkindes vorfindet oder, anders ausgedrückt, in die es hineingeboren wird und darin lebt. Es ist also von Anfang an der Erlebnis- und Informations-Input, sozusagen die benutzte »Software«, die die Fähigkeiten des Gehirn-Computers, also die Hardware, beeinflusst oder sogar »programmiert«. Das menschliche Gehirn ist also zeitlebens, besonders aber in der Kindheit, formbar wie eine Wachstafel. Eine positive seelische, geistige und körperliche Entwicklung des Kindes ist besonders in den ersten Lebensjahren – wie wir nun wissen – nur durch angemessene Erfahrungen innerhalb bestehender sicherer Bindungen und im sozialen Kontext möglich. Stressregulation, Selbstberuhigung, Wohl- und Missbefinden, die verschiedenen Formen von Kontaktaufnahme und die dabei entstehenden Gefühle von Freude, Zufriedenheit, Sicherheit oder auch Irritation, Schreck, Angst werden von Anfang an durch das Bindungsverhalten, das heißt durch die Beziehungsgestaltung der primären Bindungsperson gegenüber dem Kleinstkind geprägt. Im Rahmen der modernen Bindungsforschung mit den Möglichkeiten der videogestützten Mikroanalyse der Mutter-KindInteraktion lässt sich nachweisen, wie sich das Kontaktverhalten der Mutter auf das Wohlbefinden des Kindes, die stressphysiologischen Reaktionen und schließlich auf das entsprechend gesunde oder gestörte Bindungsverhalten beim Kind auswirkt. Es entstehen Bindungs- und Verhaltensmuster, die maßgeblich die weitere
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Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, des Jugendlichen und des späteren Erwachsenen beeinflussen.1 Unser Gehirn lernt also durch Strukturbildungen innerhalb neuronaler Netze. Dabei findet Lernen nach dem Prinzip von Häufigkeit, emotionaler Bedeutung und Intensität eines Reizes, einer Erfahrung und erfolgter Verstärkung durch Belohnungsreize statt. Lerntheoretisch wird das als Lernen am Erfolg oder operantes Konditionieren bezeichnet. Die Fähigkeit zur Beobachtung und Nachahmung stellt einen weiteren wesentlichen Aspekt der Hirnstrukturierung dar. Wir sprechen von Lernen am Modell oder Imitationslernen. Die innere Abbildung der Außenwelt, der Bindungspersonen und der Beziehungserfahrungen des Kindes erfolgt in der Sprache moderner psychoanalytischer Theoriebildung durch unterschiedliche Internalisierungsvorgänge in verschiedenen altersgebundenen Entwicklungsstufen des Kindes präverbal in Form von Inkorporation, dann Introjektion und später Identifikation. Die so gebildeten Erfahrungsinseln innerhalb der Persönlichkeitsorganisation werden auch als Objekt-, Subjekt- und ObjektbeziehungsRepräsentanzen bezeichnet. So wie es für Wachstum und Funktion des Körpers darauf ankommt, wie viel und welche Nahrung ihm zugeführt wird, so kommt es für die Entwicklung des Gehirns in Kindheit und Jugend darauf an, mit welcher geistigen und emotionalen Nahrung es gefüttert wird. Dabei spielen Bilder und Vorbilder eine besondere Rolle. Viele Menschen machen sich ständig Gedanken über Diätpläne für eine gesunde Ernährung. Der Gedanke an eine bekömmliche, die geistige, seelische und soziale Gesundheit fördernde Kost für Kinder- und Erwachsenengehirne ist leider noch kaum im Bewusstsein der meisten Fachleute aus Gesundheits-, Sozial- und Erziehungswesen verankert. Die Folgen der exzessiven Nutzung elektronischer Medien und 1
In diesem Beitrag kann nicht weiter auf diesen wichtigen und wissenschaftlich mit am besten untersuchten Bereich der frühkindlichen (Gehirn-)Entwicklung im Sinne der Bindungstheorie und Bindungsforschung eingegangen werden. Es sei daher auf Brisch et al. (2002) und Brisch und Hellbrügge (2003) hingewiesen.
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der damit einhergehende Konsum vieler fragwürdiger Produkte und Produktionen der Unterhaltungsindustrie durch Kinder und Jugendliche werden in den langfristigen negativen Auswirkungen auf die Gehirn-, Leistungsfähigkeit und Persönlichkeitsentwicklung noch von den meisten für die Entwicklung von Kindern Verantwortlichen (Eltern, Lehrern, Pädagogen, Erziehern, Ärzten und Psychotherapeuten, vielen Erziehungswissenschaftlern, Medien- und Sozialpolitikern) massiv unterschätzt. Die bei sehr vielen Kindern bereits sichtbaren Folgen wie Konzentrations- und Leistungsschwächen, Hyperaktivität und Beeinträchtigung sozialer Fähigkeiten, Enthemmung und steigende Gewaltbereitschaft werden bagatellisiert oder anderen Verursachungsbedingungen zugeschrieben, als ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom – deklariert und hunderttausendfach einfach und bequem mit Psychopharmaka wie Ritalin behandelt. Das kommt vielen, etwa den Medienmachern, entgegen, da sie die Qualität ihrer Produkte (Filme, Videos, Clips, Musikproduktionen, elektronische Spiele usw.) am Erfolg und das heißt anhand der Einschalt- und Verkaufsquoten bewerten. Dieser oberflächliche (Verkaufs-)Erfolg bemisst sich an der Haltung, das Profitable dem Sinnvollen überzuordnen. Wirklich auf Dauer erfolgreiches menschliches Handeln besteht jedoch in der Kunst, das Sinnvolle dem kurzfristig Gewinnbringenden und Rentablen vorzuziehen. Was passiert mit Kindergehirnen und denen von Jugendlichen, wenn sie täglich viele Stunden lang zu laut Musik hören, vor dem Fernseher »abhängen«, mit der Fernbedienung von Sender zu Sender »zappen«, einen Film nach dem anderen sehen, schnellen unzusammenhängenden Bildfolgen und permanent Bildern von Zerstörung und Gewalt ausgesetzt sind, im Internet surfen, ständig das Handy zum Telefonieren, SMS-Versenden oder Spielen benutzen und nachts in den Kinderzimmern mit der eigenen Home-cinema-Anlage unkontrolliert auch Gewaltvideos/-DVDs oder schlimmstenfalls auch gewaltdurchsetzte Pornografie konsumieren und sich häufig im Internet zu nationalen oder internationalen Tötungswettkämpfen, LAN-Partys mit »Ego-ShooterSpielen« treffen? Bei diesen weit verbreiteten Spielen – Schätzungen gehen in der BRD von mindestens 500 000 aktiven jugendlichen Spielern
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aus – geht es darum, als Schütze mit dem Finger am Abzug des Joystick möglichst viele Gegner möglichst erfolgreich mit präzisen, möglichst Kopfschüssen zu liquidieren, während Körpertreffer mit deutlich geringeren Erfolgspunkten belohnt werden. Was für Veränderungen können solche Nutzungsbedingungen in den neuronalen Verschaltungen noch unreifer Gehirne und damit im Denken, Fühlen und Handeln, also im Wesen junger Menschen auslösen? Am 26.4.2002 schritt ein 18-jähriger Gymnasiast wie die Kämpfer (Vorbilder) im besagten Computerspiel, mit einer schwarzen Mützenmaske über dem Kopf und einer großkalibrigen Pistole in Vorhalte roboterhaft durch die Flure des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt und erschoss 15 Menschen, überwiegend Lehrer, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten mit präzisen Kopfschüssen. Ein geistesgegenwärtiger Lehrer erkannte schließlich den Vermummten, sprach ihn an, bevor er selbst zum Opfer werden konnte, enttarnte ihn und holte ihn damit offensichtlich aus einem tranceähnlichen Zustand heraus. Wieder in der Realität angekommen erschoss sich der 18-jährige als 16. Opfer dieser Tragödie und unfassbar erscheinenden »Tötungsorgie«. Ich benutze diesen Begriff bewusst, um darauf hinzuweisen, dass es sich keinesfalls um einen Amoklauf oder eine Bluttat eines Wahnsinnigen handelte. Er war nicht in einem unkontrollierbaren Erregungszustand und schoss wie ein Amokläufer wild um sich, nein, er tat es geplant, gezielt und routiniert, automaten- und roboterhaft wie in Trance. So wie viele Soldaten, für die diese computergestützten Schießübungen entwickelt worden waren und die damit beeindruckende Verbesserungen ihrer Treffsicherheit auch mit der scharfen Waffe erreichten, so hatte auch Robert St. jahrelang viele Stunden täglich am PC mit dem bekanntesten und »erfolgreichsten« Tötungsspiel »Counter Strike« sein Gehirn trainiert. Immer schneller, immer präziser und somit erfolgreicher und schließlich süchtig danach hatte er am PC Töten durch Kopfschuss praktiziert. Diese Nutzungsbedingungen haben sein Gehirn so programmiert und umstrukturiert, bis er emotionslos losgehen und Spiel und Realität nicht mehr voneinander trennen konnte oder wollte und zum Attentäter wurde. Aus dem Spiel wurde für
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16 Menschen und Hunderten von überlebenden und traumatisierten Augenzeugen (Lehrer, Schüler, Familien, Einsatzkräfte) und Hinterbliebenen bitterer Ernst. Fast genauso erschreckend ist die Tatsache, dass danach in der Diskussion um die Ursachen dieser Bluttat die für Kinder und Jugendliche gefährlichen Auswirkungen von exzessiven Spiele- und Medienkonsum von den meisten Fachleuten weiter bagatellisiert werden. Es werden vielmehr Versagen der Eltern, der Schule, sein eigenes Scheitern in der Oberstufe, seine Kontaktarmut und zunehmende Isolation sowie Persönlichkeitsmerkmale und psychodynamische Aspekte als ursächliche Faktoren für das Zustandekommen des Attentats in der Diskussion angeführt und verantwortlich gemacht. Natürlich haben diese psychosozialen Faktoren die Entstehung des Desasters begünstigt; sie sind jedoch nicht die Ursache dafür. Der 18-jährige Attentäter hat »nur« das haargenau in der Realität ausgeführt, was sein Gehirn über Jahre am PC immer wieder wahrgenommen und in Handlungen umzusetzen gelernt hatte. Jene so gut ausgebauten »Trampelpfade«, also Strukturen im neuronalen Netzwerk, konnten leicht und automatisiert genutzt werden; leider nicht so konstruktiv wie bei den Taxifahrern in London, die sich entsprechend der Dauer ihrer Tätigkeit immer besser in der Millionenstadt zurechtfanden und ihre Fahrgäste immer sicherer und rascher zu deren Ziel befördern konnten, während sich ihr Hippocampus langsam vergrößerte. Neben diesem krassen und tragischen Beispiel zur enormen Bedeutung von Neuroplastizität und den Auswirkungen von undifferenziertem, süchtig machendem Medienkonsum belegen inzwischen zahlreiche Langzeitstudien, dass schon allein massiver Fernsehkonsum – in Abhängigkeit von Häufigkeit, Dauer und Intensität von Gewaltdarstellungen – die Gewaltbereitschaft erhöht. Eine Untersuchung in den USA bei 875 Kindern über einen Zeitraum von 21 Jahren ergab, dass diejenigen, die im Alter von acht Jahren überdurchschnittlich häufig Gewaltszenen im Fernsehen sahen, mit 19 Jahren eher mit dem Gesetz in Konflikt gerieten und im Alter von 30 Jahren mit größerer Wahrscheinlichkeit wegen Gewaltkriminalität verurteilt worden waren (Spektrum
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der Wissenschaft »Gehirn & Geist« Nr. 2/2002, S. 35). Der durchschnittliche amerikanische Schüler habe nach 12 Schuljahren ungefähr doppelt so viele Stunden vor dem Fernsehapparat wie in der Schule gesessen und dabei mindestens 32000 Morde und 40000 Mordversuche konsumiert. Es scheine dann auch nicht verwunderlich, dass einer Umfrage zufolge 35 Prozent aller amerikanischen Schüler im 12. Schuljahr glauben, dass sie das Rentenalter nicht erleben, da sie zuvor erschossen würden. Dass daraus beim Einzelnen auch eine höhere Bereitschaft oder geradezu eine innere Notwendigkeit entspringt, sich durch gesetzlichen, in Amerika leicht gemachten, Waffenerwerb zu schützen, sich dadurch aber die Gewaltspirale weiter hochschraubt, ist in dem eindrucksvollen Film »Bowling for Columbine« von Michael Moore dargestellt. Das in den USA ebenfalls durch einen Schüler an der Schule von Columbine angerichtete Massaker war der amerikanische Vorläufer von Erfurt. Das Spiel »Counter Strike« war in Deutschland nur für kurze Zeit als Verursacher der Katastrophe von Erfurt verdächtigt und vom Markt genommen worden. Heute füllt es als Spitzenreiter zusammen mit anderen Kriegs-, Gewalt- und Tötungsspielen meterweise die Regale der Medienmärkte und landet zu Weihnachten und an Geburtstagen sogar auf den Gabentischen von Kindern und Jugendlichen. Markige Sprüche wie »das ist doch alles nur Spiel«, »Gewalt hat es schon immer gegeben« und »aus uns ist doch auch etwas geworden« oder »das spiele ich zwar oft mit den Freunden, aber das lässt mich völlig kalt« sind im Licht moderner neurobiologischer Erkenntnisse ebenso falsch wie gefährlich. Wenn wir es weiterhin zulassen, dass unsere Kinder solchen ihre Gehirne und ihre Persönlichkeiten stark deformierenden Einflüssen ausgesetzt werden, wird sich entsprechend dieser Nutzungsbedingungen nicht nur das Gehirn des Einzelnen, sondern nach und nach die Gesellschaft weiter in Richtung vermehrter Gewaltbereitschaft, Gleichgültigkeit und Gewalttätigkeit strukturieren und gleichzeitig den fatalen Folgen gegenüber weiter abstumpfen. Es sind alle Verantwortlichen aus dem Gesundheits-, Sozial-, Bildungs- und Rechtswesen, Medienmacher, Eltern und Politiker
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gefordert, dieser Entwicklung mit allen sinnvollen zur Verfügung stehenden Mitteln entgegenzuwirken.
Traumata und die Folgen für Gehirn und Persönlichkeitsentwicklung Definition von Traumata Traumata sind Situationen, in denen Menschen von schockierenden Ereignissen überrascht werden und ihnen kurzfristig, wiederholt oder lang anhaltend ausgeliefert sind. Solche Ereignisse bewirken durch ihr plötzliches Auftreten und eine objektive oder subjektive Existenz- oder Lebensbedrohung, dass Betroffene in eine Schreck-Angst-Schock-Situation und damit in einen innerlich überfluteten Stresszustand geraten. Zu so genannten big-T-Traumata (Francine Shapiro) gehören Haus- und Verkehrsunfälle, schwere bedrohliche Erkrankungen, plötzliche Verluste vertrauter Menschen, Natur- und Verkehrskatastrophen, Entführungen, Vertreibung, Flucht, Kriegserlebnisse, Terror- und Foltererlebnisse in kriegerischen, politischen und kriminellen Zusammenhängen, vor allem aber innerfamiliäre Gewalt in ihren verschiedenen Facetten. Traumatisierend kann auch die Tatsache sein, dass jemand Augenzeuge erschreckender und erschütternder Ereignisse wird. Als Traumata im weiteren Sinn (small-t-Traumata) bezeichnet Francine Shapiro auch die scheinbar weniger katastrophalen Ereignisse, die in sozialen Kontexten mit Schreck und Angst, Demütigung in Verbindung mit einem hohen Maß an bestürzender Beschämung, Peinlichkeit, tiefer Verunsicherung, vermeintlicher oder real hervorgerufener Schuld einhergehen und mit der gleichen Unausweichlichkeit wie die »großen« Traumata den Betroffenen widerfahren. Die »traumatische Zange« (Michaela Huber) besteht für das Traumaopfer also in der Trias aus einer Bedrohung mit überflutender Angst (Schock, Kollaps, Kurzschluss mit »Es-ist-aus-Gefühl« = Todesnähe-Erleben), Hilflosigkeit (nicht entfliehen können) und Ohnmacht (nicht dagegen ankämpfen können). Es sind
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also die bei fast allen Lebewesen genetisch verankerten Reaktionsmöglichkeiten blockiert, bei Gefahr und Bedrohung durch den Alarm auslösenden Affekt Angst mit Flucht oder Kampf reagieren zu können. Diese von außen hervorgerufenen Situationen des Ausgeliefertseins – im englischen Sprachraum als »No Flight«-»No Fight«»Freeze«-Situation bezeichnet – sind durch die Überstimulierung aller Sinne und die nicht umsetzbare physiologische Erregung des Organismus so stressbeladen, dass sie unsere normalen Bewältigungsstrategien überfordern. Diese Überflutung des Gehirns mit Stress geht mit intensivem Angsterleben, extremen Gefühlen von Hilflosigkeit, Kontrollverlust oder auch Erstarrung einher. Dieser emotionale Schockzustand ist durch Verwirrung und massive Erschütterung der kognitiven, emotionalen, physiologischen und motorischen Funktionen und Regulationen gekennzeichnet. Es kommt dabei nicht nur zum Erstarren oder »Einfrieren« (Freeze) von verschiedenen Funktionen, sondern auch zum fragmentierten Speichern der sensorischen, kognitiven, emotionalen und körperlichen Erlebensaspekte des traumatischen Ereignisses im Gehirn. Die Graphik zur »Traumatischen Zange« (Abb. 1) veranschaulicht die eingefrorene sensorische Fragmentierung. Dabei steht »P« für Picture, »E« für Emotion, »S« für (Body-)Sensation, »K« für Kognition und »R« für Relationship und die »Dissoziationswolke« symbolisiert das Fragment einer häufig auftretenden »peritraumatischen Dissoziation«. Physiologisch betrachtet führt der blitzartige Anstieg der Stresshormone (Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol, ACTH und CRF, Endorphine) – ohne dass es, bedingt durch die äußere traumatische Zangenkonstellation, zum Umsetzen der nun physiologisch hoch aktivierten Flucht- oder Kampfbereitschaft kommen kann – im Organismus zu einem so hohen Stresspegel, dass es neben der Lähmung des Denkens, Fühlens und Handelns auch zum Zerreißen der Wahrnehmung des Ereignisses und seines Kontextes kommen kann. Ergänzt wird dieser Vorgang durch das »Anspringen« des körpereigenen Opiatsystems (Endorphine, Enkephaline), was zu einer betäubenden Schmerz- und Angstreduktion oder -abschaltung führt. Es handelt sich dabei um einen sehr sinnvollen Schutzmechanismus der Natur.
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Abbildung 1: Die traumatische Zange
Anders ausgedrückt kommt es zu autoprotektiven Wahrnehmungsveränderungen, die den traumatisierten Menschen im Augenblick des Schrecks und des Entsetzens weniger spüren und leiden lassen, bis hin zum Erleben von Leichtigkeit, Schmerz- und Furchtlosigkeit, ja geradezu »glückseliger« Erlebnisqualitäten in unmittelbarer Todesnähe (Endorphinwirkung). Wir sprechen in der akuten Situation von peritraumatischer Dissoziation. Diese kann sich graduell zeigen in Verwirrung, Desorientierung, Entfremdungserleben der Umgebung (Derealisation), der eigenen Person (Depersonalisation) oder der quasi erlösenden Ohnmacht/Bewusstlosigkeit und anderen Phänomenen
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bis hin zum völligen Fragmentieren des traumatischen Erlebnisses, also aller Sinneseindrücke. Dazu gehören alle visuellen, auditiven, olfaktorischen, gustatorischen, viszeralen und taktile Reize wie Berührungs-, Druck-, Temperatur-, Schmerz- und Lageempfindungen, die als afferente Signale (Informationen) zusammen mit den psychomotorischen Impulsen der willkürlichen (in der Traumasituation meist blockierten) Muskulatur und den unwillkürlich reagierenden Muskelgruppen der inneren Organe sowie den kognitiven und emotional-affektiven Aspekten des traumatischen Ereignisses zum Gehirn geleitet, bewertet und weiter verarbeitet werden müssen. Mit der PET (Positronen-Emissions-Tomographie) konnte inzwischen bildgebend gezeigt werden, dass es angesichts von traumatischen Ereignissen zu Blockaden der Informationsverarbeitung und -speicherung im Gehirn kommt. Insbesondere die Zusammenarbeit von rechter und linker Hirnhemisphäre scheint unterbrochen. Die rechte Hemisphäre ist für primärprozesshafte Wahrnehmung, Gefühlsgenerierung wie Angst, Trauer, Verzweiflung, Wut, Feindseligkeit und emotionale Kommunikation und schließlich diffuse ganzheitliche Wahrnehmungsabbildung zuständig. Die linke (bei Rechtshändern die dominante) Hemisphäre ist hingegen für sekundär-prozesshaftes Denken, Orientierung zu Zeit, Ort, Situation und Person, Sprachbildung (Narrationen bilden), sprachliche Kommunikation, insgesamt also für die rationale Verarbeitung und Generierung neuer Bilder verantwortlich. Im bildlichen Beispiels eines Symphonieorchesters sieht und hört der Konzertgast auf der rechten Seite die Kontrabasse, Celli, die tiefen Holzbläser und die Pauke. Sie erzeugen die basal unterlegte Stimmung, Atmosphäre und Rhythmus des Stücks, während die Geigen, Bratschen, hohen Holz- und Blechbläser auf der linken Seite für die Melodie, die Aussage des Stücks sorgen. Darüber hinaus gibt es in unserem Gehirn zwei parallel arbeitende Subsysteme für die rasche Informationsbewertung und Stressverarbeitung, ähnlich wie – metaphorisch gesprochen – die Musiker in einem Kammerorchester auf der rechten und linken Seite jeweils andere Instrumente beherrschen, sie jedoch zusam-
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men ihre Stücke spielen und diese erst dadurch im vollen Umfang erklingen können. Hippocampus und Amygdala sind zusammen mit dem Thalamus und Hypothalamus wesentliche Teile des limbischen Systems. Sie sind jene beiden Reizverarbeitungs- und Speichersysteme in unserem Gehirn, die wir als den »kühlen« und den »heißen« Informationsspeicher bezeichnen können. Sie verarbeiten Reize, vor allem Stresserfahrungen, in unterschiedlicher Weise. Die Amygdala ist unser »Frühwarnsystem«, das entwicklungsbiologisch früher angelegte und primitivere, der Hippocampus das später entwickelte und differenziertere System. Es bestehen enge Verbindungen zum Broca-Sprachzentrum. Das »kühle« Hippocampus-System stellt eine Art Bibliothekar, ein ordnendes Archiv dar. Es kann als »Vorzimmer des Gedächtnisses« bezeichnet werden und ist wesentlicher Teil unseres biographisch und zeitlich geordneten, expliziten Gedächtnisses. Dort werden Informationen – zuvor durch das Broca-Zentrum in Sprache gekleidet – episodisch geordnet, kognitiv überprüfbar, gut geschützt und emotional wenig antriggerbar, also moderiert verarbeitet und schließlich in frontalen und präfrontalen Regionen des Neocortex gespeichert. Unter plötzlichem oder auch anschwellendem traumatischen Stress (traumatische Zange) kommt es zu einem Kurzschluss oder Versagen der geordneten Speicher- und Abrufmöglichkeiten im Hippocampus. Der Volksmund spricht in passender Weise davon, dass jemand »den kühlen, klaren Kopf verloren« hat, wenn er unkontrolliert nur von überschießenden Affekten getrieben reagiert. Die »hitzköpfige« Seite können wir den anderen Spieler in unserem Orchester zuordnen. Das »heiße« Amygdala-System registriert radikal und emotional Erfahrungssplitter, das heißt Sinneseindrücke ungefiltert und pur. Es ist unser implizites Gedächtnis mit fragmentarischer Speicherung des komplexen »Informationsgewitters« und der dazugehörigen affektiven »Begleitmusik«, ohne Raum-Zeit-Zuordnung (also auch ohne biographische Zuordnung). Bei gleichzeitiger Suprimierung des Broca-Sprachzentrums fehlen dann auch die verbalen Ausdrucksmöglichkeiten, es fehlt ein in sich schlüssiges und abgegrenztes Narrativ vom Geschehen.
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Der Volksmund beschreibt Reaktionen auf derartige affektiv hoch aufgeladene Situationen treffend mit: »es verschlägt einem die Sprache« oder »dafür fehlen mir die Worte«, »es macht mich sprachlos«, »sprachloses Entsetzen«. Motorisch zeigt sich eine solche sprachlose Fassungslosigkeit angesichts von Bildern des Entsetzens etwa bei Katastrophen, indem Menschen die Hand vor den Mund halten und den Kopf senken oder zur Seite legen, um im Kontakt mit einem anderen Menschen, soweit vorhanden, Halt und Trost zu finden. Die so von der Amygdala registrierten Informationssplitter sind kognitiv nicht rasch genug einzuordnen und relativierbar und bleiben dadurch später immer wieder leicht durch verschiedenste Schlüsselreize triggerbar, so dass auch nach Jahren heftige »hysterische« Reaktionen »unabgekühlt« immer wieder angestoßen, nicht aber weiterverarbeitet werden können. Anders ausgedrückt handelt es sich dann um ein »übersensibilisiertes Alarmsystem«, das zum Schutz vor jeder weiteren potentiellen Gefahr dann auch zu früh und zu schnell durch konditionierte und nicht konditionierte Reize im Körper Alarm auslöst. Intrusive Erinnerungen (Flashbacks) fühlen sich auch nicht an »wie damals«, sondern als wenn es »gerade jetzt« passiert. Mit dem PET kann deutlich gezeigt werden, dass es bei Exposition mit traumatischen Sinnesreizen rechts zu einer starken Erhöhung der Aktivität im Mandelkern (Amygdala) kommt, die mit emotionaler Übererregung einhergeht, während in der linken Hirnhälfte die Aktivität in den Regionen des Broca-Sprachzentrums und des Hippocampus abnimmt oder fast ausfällt, die für die Sprachbildung und -verarbeitung sowie rationale Bewertung und Einordnung in bereits vorhandenes Wissen zuständig sind. Das heißt, dass es durch eine zu hohe Aktivität des Mandelkerns zu einer Überflutung des Gehirns mit negativen Emotionen in Form von Stress kommt und dadurch eine Abspaltung emotionaler, kognitiver und sensorischer Aspekte des Geschehens vom Bewusstsein geschieht und damit eine Integration in Gedächtnis und Identität verhindert wird. Traumafragmente werden also – metaphorisch gesprochen – wie die Splitter eines zersprungenen Spiegels oder einzelne Mosaiksteine eines zerborstenen Mosaiks isoliert und dissoziiert
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gespeichert und damit ihrer Zusammengehörigkeit und Zuordnungsmöglichkeit entkleidet. Die Weiterverarbeitung im neuronalen Netzwerk scheint blockiert oder »eingefroren« zu sein. Damit misslingt häufig die nachträgliche Integration des traumatischen Ereignisses als begrenztes und der Vergangenheit zugehöriges Geschehen in die Persönlichkeit. Es bleiben häufig szenische Details und andere Sinneseindrücke im Gedächtnis zurück, die später intrusiv als ängstigende Flashbacks oder filmartig ablaufende Erinnerungen (Hypermnesien) auftauchen. Das passiert meistens durch Schlüsselreize (Trigger), die von den Betroffenen nicht ohne weiteres erkannt oder zugeordnet werden können, so dass sie häufig an einem Wechsel von Symptomen und Phänomenen leiden. Einige Symptome und auffällige Verhaltensweisen entstehen auch aus der Vermeidung von angst-, missempfindungs- oder dissoziationsauslösenden Signalen und Situationen. Wir sprechen hier von Konstriktion. Wenn Traumata aus besagten neurobiologischen Gegebenheiten im Nachhinein also nicht zu einem ganzen Bild, zu einer »abgeschlossen Geschichte« mit Anfang–Verlauf–Ende–Bedeutung wieder zusammengefügt, reassoziiert, also wie andere Erlebnisse in unserem Leben einer hirnphysiologischen Nachverarbeitung im Hippocampus zugeführt werden können, verbleiben sie als Traumafragmente »heiß« gespeichert. Sie wirken als konditionierte Reize zusammen mit von außen neu ankommenden unkonditionierten Reizen beziehungsweise Stressoren in der Amygdala alarmauslösende und im Stammhirn stress-, das heißt die körperliche Flucht- und Kampfbereitschaft auslösend. Auch Gefühle von plötzlicher Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Sich-nicht-mehr-rühren-Können, Sich-nicht-wehren-Können oder Nicht-reagieren-Können, Depressionen, Suizidimpulse, Schmerzund andere Körpermissempfindungen tauchen so kontextentkleidet und meist unerwartet auf. Nicht integrierte traumatische Erlebnisse können auch teilamnestisch oder amnestisch als nicht konkrete Erinnerungen oder sogar fehlende Erinnerungen, analytisch gesprochen, lange Zeit im Unbewussten »schlummern« und plötzlich nach Jahren durch einen spezifischen Auslöser wieder auftauchen und erneut Stress-
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reaktionen und Symptome hervorrufen. Erleben und Verhalten werden dadurch stark beeinflusst und verzerrt, oft ohne dass derjenige die irritierenden, ängstigenden Sinneseindrücke oder Veränderungen der Wahrnehmung und Reaktionen einzuordnen und den Zusammenhang zu traumatischen Erlebnissen zu erkennen in der Lage wäre. Besonders multi- und sequentiell-traumatisierte Menschen sitzen dadurch sinnbildlich oft jahrzehntelang auf den heißen Vulkanen, das heißt Erregungspotentialen innerhalb ihrer Hirnlandschaften. Hierzu nun das angekündigte Fallbeispiel einer pränatalen traumatischen Erfahrung und den Folgen für einen Mitte fünfzigjährigen, verheirateten, berufstätigen und sozial gut situierten Ingenieur. Er litt über Jahre an Angstzuständen mit den entsprechenden vegetativen Begleitsymptomen und zunehmenden Selbstzweifeln und depressiven Verstimmungen. Auslöser für diese Panikreaktionen waren laute, vor allem aufheulende Motorengeräusche, insbesondere von Flugzeugen. Schließlich entwickelte er, sich oft umschauend und vergewissernd, Vermeidungsverhalten potentiellen Geräuschquellen gegenüber und konnte in kein Flugzeug steigen, um zu verreisen. Ihm war klar, es musste irgendwann einmal etwas passiert sein, dass diese heutigen Angstreaktionen konditioniert hatte. So sehr er auch in seinen Erinnerungen nachschaute, er konnte keine erschreckenden Ereignisse entdecken. So fragte er seine alte Mutter, ob ihm mal etwas passiert sei. Ihr fielen ebenfalls keine traumatischen Erlebnisse ihres Sohnes ein. Erst durch wiederholtes Nachfragen zu einem späteren Zeitpunkt, was ihr denn zu lauten Flugzeuggeräuschen einfalle, reagierte sie plötzlich – in einem Flashback erstarrend –, mit dem Blick diffus in die Ferne schweifend, wie in Trance minutenlang sprachlos, bis sie durch wiederholte Ansprache ihres Sohnes »Mutter, Mutter was ist los, ich bin hier …« wieder zu sich kam und ihre Worte wieder fand. Sie berichtete ihm unter Herzklopfen, dass nicht ihm, sondern ihr vor mehr als 50 Jahren etwas sehr Gefährliches zum Thema Flugzeuglärm passiert sei. 1945 sei sie im letzten Kriegsjahr auf einer Straße am Stadtrand von Berlin mit anderen Menschen spazieren gegangen und bei einem plötzlichen Tieffliegerangriff nur
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knapp mit dem Leben davongekommen. Sie sei mit ihm damals im sechsten oder siebten Monat schwanger gewesen. Er sei nach Kriegsende geboren und dann trotz der schwierigen Nachkriegszeit behütet aufgewachsen. Das für Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesreizen intrauterin schon ausreichend reife und hoch sensible Gehirn des Ungeborenen hatte den extremen akustischen Reiz und die auf Überleben abzielende stressphysiologische Reaktion (Überflutung mit Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol, Endorphinen usw.) der Mutter diaplazentar abbekommen und eine fragmentarisch nicht integrierbare »Erinnerung« abgebildet, jedoch ohne bildhafte oder kognitive Aspekte, sondern nur in Form einer körperlich-vegetativen und affektiven Gedächtnisrepräsentation. Durch die Schilderungen der Mutter konnte der erwachsene Sohn nun verstehen, was mit ihm los und geschehen war und dass er bisher »nur« an den normalen Reaktionen auf ein unnormales Ereignis gelitten hatte. Er konnte daraufhin nachträglich eine komplette in sich abgeschlossene Geschichte des lang zurückliegenden Traumas mit der für unser Gehirn zum Lernen so wichtigen Struktur einer Erfahrung mit »Anfang–Verlauf–Bedeutung– Ende« entstehen lassen. Die sekundär bildlichen Vorstellung des Geschehens, entsprechende Kognitionen, Gefühle und Körperreaktionen (Symptome) und der Beziehungsaspekt zur Mutter konnten zu einer heilsamen Geschichte zusammengefügt und integriert werden, so dass die belastenden Symptome (Traumafragmente) verschwanden. Er saß auf dem Rückflug von einer Trauma-Fortbildung im Ausland neben mir im Flugzeug und hatte mir seine Geschichte erzählt und lächelnd angefügt: »… und sehen Sie, jetzt kann ich auch endlich stress- und angstfrei im Flugzeug sitzen.« Traumata können also ein Gehirn in seiner Funktion oder gar Struktur so verändern, dass es psychische Auffälligkeiten und Störungen erzeugt. Nachweise dieser Tatsache konnten inzwischen durch die bildgebenden Verfahren (PET, SPECT, fMRT) erbracht werden. Monotraumata im Erwachsenenalter können die Gehirnfunktion im Sinne einer posttraumatischen Stresserkrankung (PTBS, s. ICD-10: F43.1) verändern, anhaltende Traumatisierungen beson-
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ders in der frühen Kindheit – so genannte Entwicklungstraumata – verändern die Hirnstruktur. Unsicheres, fehlendes, reizüberflutendes oder diffuses Bindungsverhalten der wichtigsten Bezugspersonen – meist der Mutter – und bedrohliche traumatische Erlebnisse wie Vernachlässigung, emotionale, physische oder gar sexualisierte Gewalt und andere Schockerlebnisse, auch der plötzliche Verlust von Bindungspersonen beeinflussen die Hirnentwicklung des Säuglings, des Kleinkindes, Schulkindes und auch des Jugendlichen erheblich. Schon Monotraumata in der Kindheit können zu einer stagnierenden und beeinträchtigten Persönlichkeitsentwicklung beitragen. Bei sequentiellen Traumatisierungen werden je nach Häufigkeit, Dauer und Intensität der bedrohlichen Erlebnisse, dem Ausmaß an Gewaltanwendung und fehlenden familiären und anderen protektiven Faktoren durch die damit einhergehende Überflutung des Gehirns mit extremen Stress in basalen Hirnstrukturen immer wieder physiologisch gesteuerte Anpassungsmechanismen im Sinne von »Überlebensreaktionen« ausgelöst. Diese Nutzungsbedingungen führen auf Dauer zu Veränderungen der Wahrnehmung in Form von dissoziativen Phänomenen, von körperlichen Zuständen und Reaktionen (Anspannung, Unruhe, Übererregung, Schmerz usw.), der emotionalen Gestimmtheit und den affektiven Reaktionen (Angst, Panik, Verzweifelung, Aggression usw.), im Denken (negatives Selbst- und Weltbild) und im Handeln (Resignation, Isolation, Aggressionen gegen sich selbst und andere, Impulssteuerungsschwäche, Leistungsversagen, Kontakt- und Beziehungsstörungen usw.). Schließlich bilden diese häufig auftretenden Reaktionen durch die so verstärkte Bahnung immer ausgeprägtere basale Muster und Strukturen in neuronalen Netzwerken. Das sind dann die erwähnten besonders befestigten oder gar betonierten Trampelpfade in der Hirnlandschaft. Das Gehirn strukturiert sich sozusagen »traumatoplastisch«; es hat gelernt. Im weiteren Verlauf des Leben greift es, besser gesagt der betreffende Mensch, nun oft schon bei kleinen alltäglichen Stressanlässen reflexartig auf die automatisierten Überlebensreaktionen zurück, zu denen jene erhöhte Alarmbereitschaft (Hypervigilanz),
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schnelles Anfluten von Erregung, Angst und Aggression (Stressreaktion mit Flucht- und Kampftendenzen) und Dissoziation (Abschalten, Erstarrung, Wahrnehmungsveränderungen) gehören. Die so entstandene chronische Stress- und Informationsverarbeitungsstörung ist Hauptursache für die Ausprägung vieler körperlicher (somatoforme Störungen) und psychischer Symptome im Denken, Fühlen und Handeln, der Kontakt- und Beziehungsgestaltung und schwerer Persönlichkeitsveränderungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Je früher in der Hirnentwicklung des Kindes (prä- und postnatal) solche »Programme« hirnstrukturell gebahnt und durch feste neuronale Verschaltungen organisiert werden mussten, umso schwerer sind diese »betonierten neuronalen Straßen« später zu verändern, wenn dafür im weiteren Verlauf des Lebens durch Anpassung an neue Aufgaben, Herausforderungen oder Lebenssituationen Bedarf besteht. Eigentlich könnte man die Anpassungsleistung der Psyche und des Organismus an schwere traumatische Lebenssituationen im Sinne des Überlebens als beeindruckend bezeichnen. Deshalb sollten Therapeuten in ihrer Haltung auch nicht einem Opfer, sondern respektvoll einem oder einer Überlebenden begegnen. Auf der anderen Seite sind diese so entstandenen Muster und Symptome zum Gestalten eines »normalen« Lebens mit vertrauensvollen Beziehungen, persönlicher und beruflicher Belastungs- und Leistungsfähigkeit unzureichend, meist sehr hinderlich und gehen fast immer mit Leidenswegen der Betroffenen einher. Veränderungen im Gehirn und in der Persönlichkeit bei solchen sehr früh und fest verdrahteten neuronalen Netzwerken werden nur noch dann ausgelöst, wenn über einen langen Zeitraum immer wieder wirklich etwas Wichtiges passiert. Durch emotional bedeutsame Erfahrungen ändern sich die Nutzungsbedingungen im Gehirn und damit können sich dann auch die synaptischen Verschaltungen verändern, sogar bis ins hohe Alter hinein, auch wenn das langsamer und schwerfälliger geschieht und im therapeutischen Prozess durch den Wiederholungszwang der geprägten Erfahrungen über viele Klippen führt. Jede psychische Störung hat also ihre spezifischen neuronalen Korrelate. Wenn negative Lebenserfahrungen ein Gehirn krank
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machen können, so liegt es nahe anzunehmen, dass man es durch Herbeiführung ganz bestimmter Erfahrungen zu therapeutischen Zwecken im Kontext therapeutischer Behandlungen auch wieder »gesünder« machen kann. Es gibt auch hierfür erste neuroradiologische Befunde, dass sich nicht nur beobachtbare psychische Symptome bei Menschen, sondern auch neuronale Prozesse und Strukturen ihrer Gehirne als Ergebnis bestimmter psychotherapeutischer Vorgehensweisen tatsächlich wieder verändern lassen. Psychotherapeuten könnten – so sie bereit sind, diesen neurobiologischen Erkenntnissen Rechnung zu tragen – zu Experten für emotional bedeutsame Erfahrungen im therapeutischen Kontext und damit für veränderte Nutzungsbedingungen der Gehirne ihrer Patienten werden.
Auf dem Weg in Abhängigkeit und Sucht Bevor sich jedoch jemand Hilfe insbesondere bei Psychotherapeuten holt, suchen Menschen allgemein und insbesondere Betroffene mit solchen posttraumatischen Störungen und Ängsten und dem daraus resultierenden chronischen Stress nach eigenen Bewältigungsstrategien, mit denen es gelingt, Ängste und stressvolle, destabilisierende psychischen Zustände zu überwinden und sich zumindest vorübergehend immer wieder subjektiv zu stabilisieren. Solche Kompensationen und »Selbstheilungsversuche« können sich sehr facettenreich zeigen und je nach Häufigkeit und Dauer und Einseitigkeit der Benutzung solcher Strategien wiederum zu Mustern und Abhängigkeiten im Verhalten führen. So kann man sich beispielsweise ein hohes Maß an Wissen, Kompetenz und geistiger oder körperlicher Leistungsfähigkeit aneignen, sehr viel arbeiten oder extrem viel Sport treiben und ist damit dann in der Lage, seine Ängste und Unsicherheit besser zu kontrollieren. Wenn man Wissen hat, ist das besser, als wenn man nichts weiß; wenn man sich besonders viel Kraft und Ausdauer aneignet, ist man subjektiv besser dran, als sich klein, schwach und kraftlos zu fühlen. Verpasst man seinem Körper durch ständige Strapazen wie übertriebenes Bodybuilding oder Hungern ein besonderes Ausse-
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hen, so kann man sich gesellschaftskonform suggerieren, attraktiv und begehrenswert und »ewig jung« zu sein und so Ängste vor dem Abgelehntwerden oder Alleinsein nicht mehr spüren zu müssen. Wenn man sich Macht verschafft, ist man besser gewappnet, als wenn man ohnmächtig den Dingen ausgeliefert ist. Auch Geld und Reichtum erscheinen als geeignete Mittel, um eigene Unsicherheiten und Ängste in dieser Welt besser in den Griff zu bekommen und sich zurechtzufinden. Wenn einem hingegen kein Reichtum zur Verfügung steht, kann man sich mit bestimmten Statussymbolen aufwerten. Das hilft meistens auch, Ängste und Stresserleben zu dämpfen. Auch die permanente Nutzung der inzwischen weit verbreiteten interaktiven Kommunikations- und Medienwelt mit der durch das Handy ermöglichten ständigen Überall-Erreichbarkeit kann über das Empfinden, wichtig zu sein, gebraucht zu werden oder einfach nur ständig mit jemandem verbunden und nicht allein zu sein, helfen, Unsicherheit, Einsamkeit und Ängste zu kompensieren. Besonders für Jugendliche in der verunsichernden Umbruchphase der Pubertät mit der Suche nach Halt und einer eigenen Identität ist das Multimedia-Handy eine vielseitige Miniaturwerkstatt zur Kompensation vielschichtiger Ängste, die gar nicht mehr wahrgenommen werden, entsprechend auch keine anderen Bewältigungsformen entwickelt und erprobt werden müssen. Das Gleiche geschieht über ständige Pseudokontakte in Chatrooms im Internet, wo man anonym ständig mit irgendjemand im Kontakt sein kann. Was schon unsere Großmütter ohne neurobiologische Grundkenntnisse wussten, wenn sie bei abendlichen Unruhezuständen und Einschlafschwierigkeiten ihren Kindern »Schäfchenzählen« empfahlen, fanden Stressforscher jetzt bestätigt, nämlich dass Ablenkung auch eine ausgezeichnete Strategie zur Selbstberuhigung ist. Zunächst würde man erst einmal nicht denken, dass man tiefer sitzende Ängste dadurch überwinden kann, dass man sich ablenkt. Aber es geht hervorragend. Hat jemand zum Beispiel ein schweres, belastendes Problem in einer partnerschaftlichen Beziehung, dann ist das Beste, was man zunächst einmal machen kann, Fußball oder Golf zu spielen, einkaufen zu gehen oder sich stun-
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denlang am Computer zu beschäftigen. Wenn man das oder Ähnliches tut, dann ist zumindest für die Dauer dieser ablenkenden Beschäftigung das Problem erst einmal verschwunden, auch wenn es dadurch nicht gelöst ist. Auch mit dem Herbeiführen von Aufregung funktioniert das genauso gut. Man versetzt sich angesichts einer nagenden, deprimierenden, melancholischen Stimmung, die man nicht in den Griff kriegt, künstlich in Aufregung – man initiiert eine unspezifische Aktivierung emotionaler Zentren – und dann ist das Problem besser auszuhalten. Dies ist auch durch bewusste oder unbewusste Gefahrensuche in Form von Risikoverhalten, Extremsportarten und damit einhergehenden Grenzerfahrungen bis zum exstatischen Kick zu erreichen; anstelle von Stress und Angst werden sogar Glücksempfindungen herbeigeführt. Sexualität ist eine lustvolle Energie in uns Menschen mit intensiver Erregung und anschließender Entspannung und noch dazu meist auch auf ein attraktives menschliches Gegenüber gerichtet. Mit Sex kann man sich ebenso erfolgreich von Problemen, selbst innerhalb der vielleicht gerade besonders konflikthaften Beziehungssituation, ablenken oder sich einfach nur in einen emotional ausgeglicheneren Zustand versetzen. Man kann sich auch mit Essen beruhigen oder durch Fasten. Das funktioniert auch und hängt damit zusammen, dass wir auch auf diese Weise bestimmte Systeme wie das serotonerge Transmitter- und das körpereigene Opiatsystem in unserem Gehirn aktivieren, die einen beruhigenden beziehungsweise stimmungsaufhellenden Effekt haben. Man kann selbstverständlich auch Alkohol, Medikamente oder Drogen als «Retter in der Not« zu sich nehmen. Und schließlich kann man über Bindungen, das heißt Kontaktaufnahme zu anderen Menschen, versuchen innere Ruhe und Sicherheit wiederherzustellen. Im schlimmsten Fall, bei nicht mehr zu beherrschender Beunruhigung und Verzweiflung, erscheinen Menschen die Sehnsucht nach dem Tod und die Möglichkeit, ihn selbst herbeizuführen, als manchmal geradezu verlockende Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen. Wir Menschen verfügen also über eine große Palette von Selbstberuhigungs- oder auch Betäubungsmöglichkeiten – wir be-
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zeichnen sie als Stresscopingmechanismen –, um uns in subjektiv bessere, also stressärmere und weniger ängstigende Zustände zu versetzen. Fatal wird es häufig erst dadurch, dass viele Menschen glauben, eine dieser Strategien sei die Beste, die sie nun unentwegt, ausschließlich und immer wieder anwenden, weil diese eine Strategie ihnen bisher so erfolgreich schien. Und damit wird dieses Verhalten und Erleben nun immer fester geprägt. Diese Art von Nutzung des Hirns wird immer tiefer dort eingegraben und auf diese Weise entsteht eine bis zur Abhängigkeit gebahnte Bewältigungsstrategie. Und so kann aus dem Bedürfnis, sich nicht immer so ohnmächtig zu fühlen, sondern sich Macht anzueignen, zu so etwas wie Geltungssucht und Streitsucht werden. Aus der Gewöhnung, sich mit sehr viel Arbeit abzulenken und zu stabilisieren, wird ein Mensch mit süchtigem Arbeitsverhalten, ein Workaholic. Aus dem Bemühen, reich zu sein oder sich einen bestimmten Status zu verschaffen, wird allzu leicht Angeberei und Prunksucht. Das Bemühen, seine Probleme dadurch zu bewältigen, dass man sich ablenkt, kann schnell zu Unruhe, Getriebenheit, Hyperaktivität und Vergnügungssucht werden. Die Suche nach sexueller Lust und Bestätigung, »ein toller Mann«, »eine tolle Frau« zu sein oder sich wenigstens zu spüren, kann über Promiskuität beziehungsweise Donjuanismus zur Sexsucht entgleisen, ohne wirkliche Befriedigung und Beglückung dabei zu erfahren. Die meist schon in der Kindheit nicht erfolgreichen und doch permanent fortgesetzten Versuche, innere Stabilisierung über Beziehungen zu erreichen, werden über nicht stillbare, meist ambivalente Sehnsucht nach Bindung zu Abhängigkeit, zu Beziehungssucht und schließlich zu Eifersucht. Die häufige Erfahrung, es mit selbst induzierter Aufregung zu schaffen, wird dann sehr rasch zur Spielsucht, das Essen zur Fresssucht, Fasten zur Magersucht, das häufige Erleben von Gefahr und Todesnähe wird zur Todessehnsucht. Und permanente Beruhigung und Betäubung mit Alkohol führt in die Alkoholabhängigkeit, Drogenbenutzung zur Drogensucht. Ob und welche Abhängigkeiten und Süchte ein Mensch im Lauf seines Lebens aus diesem ganzen Spektrum von Möglich-
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keiten entwickelt, beruht zum einen darauf, welche und wie viel stressvolle, vor allem traumatische Lebensereignisse ein Mensch in verschiedenen Phasen seines Lebens über sich hat ergehen lassen müssen, und hängt zum anderen davon ab, was er subjektiv als besonders hilfreich bei der Lösung seiner Probleme bewertet, was ihm also besonders gut geholfen hat, sein erschüttertes emotionales Gleichgewicht immer wieder in eine stabilere Situation zu bringen – letztlich aber um den Preis einer substanz- oder nicht substanzgebundenen Sucht mit all ihren schädlichen Nebenwirkungen. Besonders Menschen mit posttraumatischen Störungsbildern leiden neben verschiedenen dazu gehörenden Symptomen an einer chronischen Stresserkrankung, die sich im deutschsprachigen ICD-10 unter Punkt F43.1 hinter dem Begriff der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) verbirgt. Im Englischen heißt das Störungsbild treffender Posttraumatic Stress Disorder (PTSD). Diese ohne eine spezifische therapeutisch Behandlung zur Chronifizierung neigende Störung entsteht statistisch bei 20 bis 30 % von Menschen schon nach Monotraumatisierungen. Bei komplexen traumabasierten Störungen durch multi- und sequentielle Traumata wird in der neueren Psychotraumatologie-Literatur diagnostisch häufig von DESNOS (= Disorder of Extrem Stress Non Otherwise Specified) gesprochen, um den wissenschaftlichen Erkenntnissen der durch dauerhaften traumatischen Stress verursachten Veränderungen vieler Bereiche der Persönlichkeit Rechnung zu tragen. Diese umfassenden Veränderungen der Persönlichkeit zeigen sich in Form von – Störungen der Regulation von Affekten und Impulsen, – der Wahrnehmung oder des Bewusstseins, – der Selbstwahrnehmung, – Störungen in der Beziehung zu anderen Menschen, – Somatisierung, – Veränderungen von Lebenseinstellungen. Man fand sie bei Hunderttausenden von Vietnamveteranen auch noch Jahre nach ihrer Rückkehr aus dem jahrelangen traumatisierenden Kriegsgeschehen in Vietnam. Darüber hinaus entwi-
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ckelten viele zur Selbstberuhigung und Betäubung ihrer massiven PTSD-Symptomatik mit immer wieder aufblitzenden unerträglichen Flashbacks und Hypermnesien über anhaltenden Medikamenten-, Alkohol- und Drogenabusus entsprechend schwere Suchterkrankungen. Solche komplexen posttraumatischen Belastungs- (PTBS/ PTSD) und Persönlichkeitsstörungen (DESNOS) ließen und lassen sich bei erweiterter spezifischer Anamneseerhebung und richtiger diagnostischer und ätiologischer Einschätzung durch entsprechend ausgebildete Kliniker bei sehr vielen Patienten im ambulanten und stationären Behandlungsrahmen klinisch nachweisen. Diese Patienten wurden nicht im Krieg, sondern im zivilen Alltag durch Schicksalsschläge oder durch von Menschen ausgeführte emotionale, physische oder sexualisierte Gewalt schwer traumatisiert. Auch bei vielen dieser Betroffenen gehen diese Störungen mit sekundärem Substanzmissbrauch (Alkohol, Drogen, Schmerz- und Betäubungsmittel) im Sinne von Selbstheilungsversuchen dieser Stresserkrankungen einher und münden häufig in dann im Vordergrund stehende Suchterkrankungen. Untersucht man Abhängigkeitskranke in diesem Sinn genauer, so findet man meist neben den suchtspezifischen Symptomen und Verhaltensweisen häufig jene hier noch einmal systematisch aufgeführte Symptomatik der komplexen Posttraumatische Belastungsstörung »DESNOS«.
Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung DESNOS (Disorder of Extreme Stress Not Otherwise Specified) 1.
Störung der Regulation von Affekten und Impulsen a) Affektregulation b) Umgang mit Ärger c) Selbstverletzung (SVV) / Selbstbeschädigung d) Suizidalität e) Störung der Sexualität f) Exessives Risikoverhalten
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2.
Störung der Wahrnehmung oder des Bewusstseins a) Amnesien b) Vorübergehende dissoziative Episoden und Depersonalisierung
3.
Störung der Selbstwahrnehmung, Wahrnehmung/Überzeugung eigener … a) Wirkungslosigkeit b) Stigmatisierung c) Schuldgefühle d) Scham e) Isolation f) Bagatellisierung (eigener Traumata und Folgeproblemen)
4.
Störung in der Beziehung zu anderen Menschen a) Unfähigkeit zu vertrauen b) Reviktimisierung (erneute Opferrollen) c) Viktimisierung anderer Menschen (Gewalttätigkeit, Täterrolle)
5.
Somatisierung a) Somatoforme Beschwerden b) Hypochondrische Ängste
6.
Veränderung von Lebenseinstellungen a) Fehlende Zukunftsperspektive b) Verlust von persönlichen Grundüberzeugungen, Werten und Normen
Zur Dämpfung dieser chronischen Stresserkrankung mit all den belastenden symptomatischen Veränderungen scheinen den Betroffenen alle oben aufgeführten substanz- und nichtsubstanzgebundenen Selbstberuhigungs- und Betäubungstechniken »geeignet«. Am raschesten wirken dabei Alkohol, Nikotin, Medikamente und Drogen, die je nach Substanz schon nach einigen Minuten den Konsumenten ihre unmittelbare Wirkung spüren lassen. In diesem Sinn sind leichte Verfügbarkeit, schneller Wirkungseintritt und Erreichen des gewünschten Ziels zusammen mit der »Belohnung« eines zumindest vorübergehend ausgeglichenen, betäubten oder gar lustvollen Zustands, neben gesellschaftlichen Faktoren, die Hauptquelle für die weite Verbreitung von Alkohol-, Nikotin-, Medikamenten- und Drogenkonsum und -abhängigkeit. Machen wir uns noch einmal klar, dass Gewöhnung und Sucht letztlich durch die häufige Nutzung und damit Bahnung jener
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neuronalen Verschaltungen entstehen, die im Gehirn für die erfolgreich erlebte Wiederherstellung eines vorübergehenden physiologisch-emotionalen Gleichgewichts zuständig sind – einem für uns Menschen unabdingbaren Gleichgewicht im ständigen Wechsel von Unruhe und Ruhe, Angst und Sicherheit, Schmerz und Freude, Trauer und Leichtigkeit, Wut und Liebe, Anspannung und Entspannung, Erregung und Gelassenheit, Unlust und Lust, Frustration und Befriedigung und schließlich einem Gleichgewicht zwischen Unerträglichkeit und Erträglichkeit des Erlebens und Seins. Im schlimmsten Fall kann das von Betroffenen nur noch im Teufelskreis von Dämpfung und Wahrnehmungsausblendung einer immer unerträglicher und bedrohlicher werdenden Realität mit Hilfe der entgleisenden Sucht vorübergehend wiederhergestellt werden. Obwohl in Amerika schon nach Ende des Vietnamkriegs seit etwa 1975 und in der BRD verstärkt seit 1998 in Zusammenhang mit der Eschedekatastrophe und dem ersten internationalen Traumakongress auf deutschem Boden die Erkenntnisse der Traumaforschung und erfolgreiche traumazentrierte Therapieansätze auf ein breiter werdendes Interesse stoßen, bleiben posttraumatische Symptombildungen und Persönlichkeitsveränderungen von vielen Klinikern nach wie vor unerkannt und werden noch häufig anderen Entstehungsbedingungen zugeordnet. Oder wissenschaftliche Erkenntnisse werden einfach ignoriert oder in Zweifel gezogen. Ebenso werden daher viele der Abhängigkeitserkrankungen oft nicht in Zusammenhang mit ursächlichen Traumatisierungen verstanden, sondern eher anderen, wenn auch durchaus vorhandenen ätiologischen Bedingungen zugeordnet. Traumata unterliegen oft auch weiterhin noch einem historischen, politischen, gesellschaftlichen, familiären und individuellen Zwang des Vergessens, der Sprachlosigkeit und damit der Wiederholung. Hier nun ein paar statistische Zahlen zur Häufigkeit von PTBS bei Kinder und Erwachsenen. Häufigkeit von PTSD bei Kindern: 15– 43 % 3–15 %
haben mindestens ein Trauma erlebt entwickeln PTSD
Psychotraumata, Gehirn und Suchtentwicklung 100 % 70–90 % 77 % 35 %
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die Zeugen von Mord oder Vergewaltigung an den Eltern wurden die selbst Opfer sexueller oder physischer Gewalt wurden nach Erleben eines Amoklaufs oder Überfalls in der Schule nach Gewalterlebnissen im nahen Umfeld
Quellen: Jessica Hamblen, National Center for PTSD, Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, October 1998.
Häufigkeit von PTSD bei Erwachsenen: ca. 80 % ca. 50–70 % ca. 55 % ca. 39 % ca. 25 % ca. 20 % ca. 15 % ca. 7 % ca. 4 %
nach Folter bei politischen Flüchtlingen nach Vergewaltigung der Menschen, die als Soldat einen Krieg erlebt haben nach einem anderen Gewaltverbrechen bei zivilen Kriegsopfern bei Verkehrsunfällen der Zeugen von schweren Unfällen nach Naturkatastrophen
Quellen: Kessler et al. (1995): Posttraumatic Stress Disorder in the National Comorbidity Survey. Archives of General Psychiatry (6000-Personen-Untersuchung); Hofmann et al. (2001): Posttraumatische Belastungsstörung. Leitlinie und Quellentext.
Folgen für Therapieverläufe Traumatisierte Menschen erscheinen bezüglich der geschilderten komplexen Symptompalette daher auch nach jahrelangen und wiederholten psychoanalytischen / tiefenpsychologischen, verhaltenstherapeutischen und anderen humanistisch orientierten Psychotherapien häufig therapieresistent. Sie erleben sich dann selbst erneut als Versager und schuldig, weil sie »mit so viel Therapieaufwand« nicht weitergekommen oder bestimmte Symptome nicht losgeworden sind. Das ist ihnen auch nicht selten von ebenso frustrierten Therapeuten (aggressiven Gegenübertragungsphänomenen und narzisstischen Kränkungen zufolge) direkt oder indirekt vermittelt worden: Sie hätten »einen unüberwindbaren Widerstand im Erkennen der (angenommenen) frühkindlichen Konflikte« oder
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wollten tiefer liegende notwendige Veränderungen nicht realisieren oder sie seien »besonders schwer gestört« (unheilbar seelisch krank) oder gar ein »Therapeutenkiller«. Es bestehen also oft keine passenden Erklärungen für die Phänomene und ihr plötzliches Auftreten und die Therapieresistenz, da eine Spurensuche nach Realtraumata je nach psychotherapeutischem Glaubenssystem nicht oder nur unzureichend erfolgt ist oder die Bedeutung von Traumata für die Symptomgenese und der notwendige therapeutische Umgang damit vielen Therapeuten noch nicht bekannt ist. Somit bleiben diese Patientinnen und Patienten Gefangene der alten Traumatisierungen und erfahren auch auf der therapeutischen Bühne erneut die Unabwendbarkeit, das Ausgeliefertsein an ihr Schicksal, die Ohnmacht und Hilflosigkeit und auch das »Selbst-daran-schuld-Sein«, dass es so gekommen ist. Sie werden nicht selten vom »Helfersystem« sekundär traumatisiert, insbesondere wenn ihren Hinweisen auf massive Gewalterfahrungen nicht geglaubt oder deren Bedeutung kaum anerkannt wird. Es muss daher der in diesem Beitrag ausführlich begründete notwendige Paradigmawechsel im wissenschaftlichen Verständnis von Symptomentstehung und psychotherapeutischen Behandlungsansätzen weiter diskutiert werden, der den neuen Forschungsergebnissen und empirischen Berichten und Wirksamkeitsstudien über erfolgreiche und effektive traumatherapeutische Behandlungsmethoden Rechnung trägt. Dieser Prozess ist in den letzten Jahren vielerorts schon in Gang gekommen. Es gibt viele Therapeuten und Therapeutinnen mit traumatherapeutischen Zusatzausbildungen und zahlreiche Kliniken mit traumaspezifischen Behandlungsangeboten und Stationen.
Traumazentrierte Psychotherapie heute Einige bekannte Autoren wie Luise Reddemann, Ulrich Sachsse, Michaela Huber, Gottfried Fischer sprechen von einem dreiphasigen Traumatherapiemodell, zum Beispiel »PITT« (Psychodynamisch Imaginative Trauma Therapie nach Luise Reddemann).
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Ich nenne es das KReST-Modell (Körper-, Ressourcen- und Systemorientierte Traumatherapie). Es ist ein vierphasiges Modell traumazentrierter Psychotherapie und Beratung. Die Unterscheidung liegt in der Differenzierung der ersten, so genannten Stabilisierungsphase in zwei unterschiedliche Phasen sowie die Einbeziehung von psychotherapeutischen und pädagogischen Techniken, die die Entwicklung psychischer Stabilität und Heilung des Körpers mit Hilfe intensiver Arbeit an Ressourcen und motorisch-muskulär verankerten Affektschemata. Des Weiteren gilt die therapeutisch-systemische Arbeit den Bindungserfahrungen und der Unterstützung der inneren und äußeren (sozialen) Bezugssysteme (Partner, Familie, eigene Kinder und Ursprungsfamilie). Auf der »inneren Bühne« geht es durch »Ego-State-Arbeit« um Kontakt- und Empathieaufbau für »innere Kinder«, die als unverletzte oder verletzte jüngere Ich-Anteile Aufmerksamkeit, Verständnis oder Trost vom verantwortlichen erwachsenen Ich benötigen. In der Phase 3 bearbeiten ausreichend stabilisierte Patienten die erlittenen Traumata. Dabei wird die ursprünglich von Luise Reddemann und Ulrich Sachsse im Traumabereich publizierte und von mir weiter entwickelte, systematisierte Screen- oder Bildschirmtechnik zur Traumasynthese angewandt. Aus einer sicheren Beobachterposition an der Seite des Therapeuten – mit gemeinsamen Blick auf einen Screen – betrachten die Patienten die alten traumatischen Erfahrungen visualisiert an der Wand und versuchen, eine Integration von Bild, Kognition, sensorischen Körperempfindungen, Affekten und Beziehungsaspekten im Hier und Jetzt zu erreichen, um die symptomträchtigen, fragmentiert eingefrorenen »Traumastates« aufzulösen, damit sie endlich Vergangenheit werden können. Eins der am besten evaluierten Verfahren zur Traumaintegration ist das 1987–1991 von Dr. Francine Shapiro in den USA entwickelte EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing). Dabei wird durch bilaterale Hirnstimulation durch Augenbewegungen, taktile oder akustische Signale bei gleichzeitiger Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die sensorischen Details (Bilder, Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen) eines zurückliegenden traumatischen Ereignisses eine nachträgliche Verarbeitung und Integration der fragmentierten Traumaerfahrung prozessiert und ermöglicht.
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Phase 4 beinhaltet Abschied und Betrauern des Erlebten, Verlorenen oder nie in der Vergangenheit Gehabten und um Neuorientierung und weiterem Aufbau eigener Lebensgestaltungsmöglichkeiten.
Inhaltliche Systematik der einzelnen Phasen Phasische Trauma-Psychotherapie »KReST« I. Anamnese, Diagnostik, Beziehungsaufbau, Instruktion II. Stablisierungs- / Vorbereitungsphase – Ressourcenmobilisation III. Traumaexposition / Traumasynthese IV. Phase der Trauer und Neuorientierung I. Anamnese, Diagnostik, Beziehungsaufbau, Instruktion Anamnese allgemein: aktuelle Symptomatik, Problematik, Lebens-, Berufs-, Partnerschafts- und Familiensituation, Ursprungsfamilie, eigene Entwicklung, körperliche Erkrankungen, Sexualität, Suchtmittelmissbrauch, Therapievorerfahrungen, Klinikaufenthalte, Therapieerwartungen und Ziele. Traumaanamnese: speziell bei Symptomen aus dem PTBSSpektrum gezielte Exploration traumatischer Ereignisse (Big-Tund Small-t-Traumata) im Verlauf des Lebens, soweit erinnerbar, Unterscheidung von Typ-A-Traumata (Monotraumata akut/ chronisch und Typ-B-Traumata (Multitraumatisierungen akut/ chronisch) und sequentielle Traumatisierungen (akut/chronisch), selbst- oder fremdschädigendes beziehungsweise -gefährdendes Verhalten, Medikamenten-, Alkohol-, Drogenabusus, Promiskuität, Vorstrafen oder delinquentes Verhalten. Aber keine detaillierte Befragung zu sexuellen oder anderen Misshandlungstraumata, wenn es dafür verschwommene oder auch deutliche, präzise Hinweise Erinnerungen gibt, bevor nicht Stabilisierungs- und Vorbereitungsarbeit durchgeführt wurde. Diagnosestellung: Liegen traumainduzierte Symptome aus dem Bereich der posttraumatischen Belastungsstörung – PTBS/PTSD (ICD-10: F43.1) – vor und/oder klinische Symptome aus dem
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ICD-10: Kapitel F4 von F40 bis F48 (u. a. dissoziative Symptome, SSV = selbstverletzendes Verhalten usw.)? Besteht eine DIS/MPS = dissoziative Identitätsstörung/vormals multiple Persönlichkeitsstörung/Differentialdiagnose: DESNOS, »Ego-State-Disorder«, DDNOS (dissoziative Identitätsstörung nicht anders spezifiziert – nach DSM-IV)? Die Borderline-Störung (= Emotional instabile Persönlichkeitsstörung – Borderline-Typus, ICD-10: F60.3) beinhaltet eine Ansammlung von PTBS-Symptomen und wird deshalb heute als »komplexe Posttraumatische Belastungsstörung« auf dem Boden von schweren traumatischen Bindungsstörungen verstanden und ähnelt der bisher noch nicht verschlüsselbaren DESNOS-Störung. Symptome sind chronisches Gefühl von Leere (Anhedonie), launenhaftes Verhalten, Neigung zu unvorhersehbaren emotionalen Ausbrüchen und Ausagieren, verminderte Impulskontrolle, Selbstbildstörung, oft intensive, aber unbeständige Beziehungen mit Wechsel von Idealisierung und massiver Abwertung, Selbsterleben, Fremdwahrnehmung und Verhalten in den Polaritäten von schwarz und weiß, gut und böse, nah und fern, Liebe und Hass und so weiter, autodestruktives Verhalten (SVV), parasuizidale Handlungen, Suizidversuche, Suchtmittelmissbrauch, exzessives süchtiges Verhalten (Spielen, Kaufen, Promiskuität, Gefahrensuche usw.). Alternativ kann diese komplexe und chronifizierte Symptomatik auch als »Andauernde Persönlichkeitsstörung nach Extrembelastung« (ICD-10: F62.0) beschrieben werden. Instruktion, Psychoedukation: Erläuterungen der traumatherapeutischen Vorgehensweisen für den Patienten in anschaulicher Form (theoretische und praktische Konzepte in der modernen Psychotraumatologie und traumazentrierten Psychotherapie), Aufbau einer vertrauensvollen stabilen (Arbeits-)Beziehung. Der Therapeut ist dabei eher in der Rolle eines »empathischen Coaches«. Therapievertrag und -vereinbarungen, Festlegung von Regeln und Grenzen im ambulanten Therapiesetting, Krisenmanagement (z. B. stationäre Stabilisierung in traumazentriert arbeitenden Kliniken), »Gewaltverzichtsvertrag«, Alkohol- und Drogenkonsumverzicht als Ziel.
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Fokussierung auf traumaspezifische Stabilisierungsarbeit, zeitliches Minimieren oder Verschieben von sonst üblicherweise frei assoziativ wichtig erscheinenden anderen Therapiethemen und -zielen auf die Zeit nach der Traumabearbeitung (aber nicht ohne soziale Absicherung, Familiensituation beachten, Stützung durch weitere psychosoziale Hilfsmaßnahmen). Cave: Keine Traumabearbeitung bei bestehendem Täterkontakt, bei andauernder oder erneuter traumatischer Lebenssituation! Realer Opferschutz vor traumabearbeitender Psychotherapie! (psychodynamisch und sozial unterstützte Ausstiegsberatung). II. Stabilisierungs-/Vorbereitungsphase – Ressourcenmobilisation Stabilisierungsarbeit und Ressourcenmobilisation durch Imaginations- und Visualisierungsübungen (Stress-Coping): Sicherer Innerer Ort, Innere Helfer, Tresor, Fernbedienung, Lichtstromübung, Baumübung, Innerer Garten; Dissoziationsstop-, Reorientierungs- und Distanzierungstechniken, Innere-Kind-Arbeit, Screentechnik mit positiven Life-events (Erlebnissen von Zufriedenheit, Stolz und Glück), Ernährung, Schlaf, Alltagsstrukturierung, Zeitmanagement, Qigong, Bewegungstherapie, Förderung von Kreativität. Gelegentlich kann der Einsatz von geeigneten Psychopharmaka (vorübergehend) notwendig sein, ebenso kurzfristige oder längere stützende, stationäre Kriseninterventionen und zumindest stützende, aufklärende Paar- oder Familienarbeit. Konsequentes Üben und Unterstützen dieses Trainingsprogramms bis zum Beherrschen solcher intrapsychischen AffektDistanzierungs- und Ich-Stabilisierungstechniken (über Wochen und oft Monate) sind bei komplex traumatisierten Menschen erforderlich. Es handelt sich dabei um die beschriebenen notwendigen Veränderung von Nutzungsbedingungen des Gehirns im Rahmen von therapeutischen Prozessen durch positive Bilder und Erfahrungen, um durch die in unseren Köpfen vorhandene Neuroplastizität etwas positiv zu verändern und neue, hilfreiche neuronale Verschaltungen zu erzielen. Nach der Erstellung von Traumatogrammen erfolgt bei stabilisierten und motivierten Patienten die gemeinsame Planung der ersten und weiterer Traumaexpositionssitzungen (von 1 bis
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2 Stunden Dauer). Der Patient / die Patientin wird genau über Technik und Vorgehensweise, Wirkung und vorübergehende Nebenwirkungen aufgeklärt. Im Übrigen hat er oder sie in diesem ressourcenorientierten Traumatherapieansatz die Arbeit mit der Screentechnik zuvor ja schon mit positiven Ereignissen kennen gelernt und hat es nun leichter, die ergänzenden Schritte und den Umgang mit aufkommenden alten belastenden Erinnerungen und Affekten mit Unterstützung des Therapeuten zu handhaben. III. Traumaexeposition / Traumasynthese Die Traumasynthese/-integration erfolgt durch Traumaexposition. Dabei werden traumatische Erlebnisse durchgearbeitet mit: a) Screen -/ Leinwandtechnik (s. o.): Die traumatischen Erlebnisse der Vergangenheit nochmals im Hier und Jetzt in einer Sicherheit gebenden Atmosphäre und aus der Beobachterposition heraus gezielt und gesteuert möglichst detailreich auf allen Sinneskanälen wahrnehmen und sie dadurch emotional und körperlich noch einmal nachempfinden und kognitiv neubewerten und dadurch integrieren zu können und/oder mit: b) EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing nach Francine Shapiro) Prinzip der nachträglichen beschleunigten / adaptiven Informationsverarbeitung mit Hilfe bilateraler Stimulation der Hirnhemisphären durch (Augenbewegungen, oder auch bilaterale taktile Stimulation (an den Händen) oder akustische Signale. c) Körpertherapietechniken (Atmung, interne und externe Techniken zur Mobilisierung und Neugestaltung alter »affektiver Motorschemata« mit kognitiv-narrativer und emotionaler Durcharbeitung / Reorganisation). d) Verhaltenstherapie: traumaspezifisch modifizierte Therapieformen wie Expositionstechniken und Verhaltenstraining. Anzahl / Umfang der Traumaexpositionssitzungen innerhalb der Therapie: Bei eindeutigen Monotraumata und folglich übersichtlicher PTBS-Symptomatik können 3 bis 6 Sitzungen von 90 bis 120 Minuten im Abstand von je ein oder zwei Wochen oder auch einigen Tage genügen, um die Symptomatik zum Abklingen zu bringen. Cave: Schwere Störungen (massive Symptome) haben meist
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schwerwiegende (reale) Ursachen, deren Ausmaß durch amnestische Barrieren zu Beginn der Traumabearbeitungsphase nicht immer bewusst sind! Bei multi- und sequentiell-traumatisierten Menschen können daher je nach Ausmaß und Umfang der Traumatisierungen nach einer längerfristigen Phase der ressourcenorientierten Stabilisierung auch mehr als 10 bis 20 Traumaexpositionssitzungen innerhalb eines längeren Zeitraums erforderlich sein. Daneben beziehungsweise zwischen traumbearbeitenden Sitzungen ist immer wieder Stabilisierungsarbeit nötig. Je schwerer und länger die Traumatisierungen und die daraus resultierenden Symptombildungen waren und je früher sie in der Kindheit begonnen haben, desto länger ist die gesamte Therapiedauer zu kalkulieren. Mit 50 bis100 Therapiestunden ist häufig viel erreichbar. Oft ist jedoch bei komplex Traumatisierten auch darüber hinaus Therapie (insgesamt 2 bis 5 Jahre) erforderlich. Insbesondere bei der durchaus bei bis zu zwei Dritteln der Betroffenen erfolgversprechenden (fachlich kompetenten) Behandlung dissoziativer Persönlichkeitsstörungen (DIS / MPS und DDNOS und Ego-State-Disorder und Instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ) kann sich der Behandlungsverlauf auch bis zu 6 bis 7 Jahren erstrecken, zum Beispiel in Form von ambulanter und stationärer Intervalltherapie. Integrierte Trauma- und Suchttherapie: Die Ausführungen legen es nah, dass auch Abhängige und Suchtkranke, die sehr häufig unter den Folgen traumatischer Lebens- und Krankheitsgeschichten leiden und in die Sucht geraten sind, neben den suchtspezifischen Therapieansätzen, die auf Reduktion und Verzicht auf den schädlichen Substanzmissbrauch und soziale Stabilisierung gerichtet sein müssen, sowohl sucht- als auch traumaspezifisch nach dem hier vorgestellten oder einem ähnlichen Traumatherapiekonzept behandelt werden sollten. Um sich auf Dauer wirklich zu stabilisieren und nicht nur mit der erforderlichen Willenskraft gegen den zur Abhängigkeit gewordenen Suchtdruck anzukommen, brauchen Betroffene Anleitung für positive innere Bilder, Erfahrungen und beschriebene Techniken, um vor und nach Absetzen von Substanzen den wieder verstärkt spürbaren posttraumatischen Stress und den gleichzeitig
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wieder aufflackernden Suchtdruck zu bewältigen (Stabilisierungsphase). Dann müssen sie, wohl oder übel, die therapeutische Auseinandersetzung mit ihren Traumata wagen, um von Sucht und Traumafolgen freizukommen. Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit, Trauma- und Suchttherapiekonzepte ambulant und stationär zu integrieren, wird in einigen Kliniken in der BRD erkannt und bereits umgesetzt. IV. Phase der Trauer und Neuorientierung Meist bleibt nach gelungener Traumaintegration für eine Zeit lang ein Wehmutsgefühl (»es war einmal«) oder auch Wut über die verlorene Zeit beziehungsweise Kindheit zurück oder aber es kommt zu angemessener authentischer Trauer, insbesondere wenn es nicht Naturgewalten oder Schicksalsschläge, sondern (nahe) Menschen waren, die die Traumata hervorgerufen hatten und vielleicht niemals zur Rechenschaft gezogen wurden oder selbst Verantwortung übernommen haben, für das, was sie angerichtet haben, und wenigstens um Vergebung und Wiedergutmachung bemüht gewesen sind. Die Arbeit mit dem (unschuldigen) Inneren Kind, das neben der Empathie der Therapeutin vor allem durch den betroffenen, heute erwachsenen Menschen auch selbst genährt, unterstützt und zu trösten gelernt werden muss – wozu schließlich auch die Aussöhnung mit diesem verletzten und daher meist abgelehnten Inneren Kind gehört –, sind oft nochmals wichtige Schritte und Ziele in dieser Phase. Dazu gehört auch der schmerzliche Schritt der Akzeptanz als Erwachsener: »Es war, wie es war, und es ist, wie es ist – aber: Es ist vorbei!« Es gilt, »trotz allem« dem eigenen Leben wieder eine Richtung, ein Ziel und vor allem einen Sinn geben zu lernen, wenn die alten Überlebenssymptome und -strategien nicht mehr vorhanden oder nötig sind, da die Menschen nun nicht mehr von »Vulkanausbrüchen« ihrer traumatischen Vergangenheit erschüttert werden oder sich süchtig betäuben müssen, sondern Distanz zu ihren seelischen Verletzungen, ihrer Selbstbetäubung und Sucht empfinden können. Motivation und Entscheidung für wirkliche Veränderungen und die dazu erforderlichen Schritte im Leben und eine Zeit lang
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in der Therapie bleiben jedoch ungeachtet aller neuen Erkenntnisse der Neurobiologie, Trauma- und Suchtforschung in der Verantwortung eines jeden Menschen.
Literatur Brisch, K. H. (1999): Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart. Brisch, K. H.; Grossmann, K. E.; Grossmann, K.; Köhler, L. (2002): Bindung und Seelische Entwicklungswege. Stuttgart. Brisch, K. H.; Hellbrügge, T. (Hg.) (2003): Bindung und Trauma – Risiken und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Kindern. Stuttgart. Huber, M. (1995): Multiple Persönlichkeiten. Überlebende extremer Gewalt. Ein Handbuch. Frankfurt a. M. Huber, M. (2003): Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung – Teil 1. Paderborn. Huber, M. (in Vorb.): Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung – Teil 2. Paderborn. Hüther, G. (1999): Die Evolution der Liebe. Was Darwin bereits ahnte und die Darwinisten nicht wahrhaben wollen. Göttingen. Hüther, G. (1999): Biologie der Angst – Wie aus Stress Gefühle werden. Göttingen. Hüther, G. (2001): Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Göttingen. Hüther, G.; Gebauer, K. (2001): Kinder brauchen Wurzeln – Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung. Düsseldorf. Hüther, G.; Bonney, H. (2002): Neues vom Zappelphilipp – ADS: verstehen, vorbeugen und behandeln. Düsseldorf. Reddemann, L. (2001): Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart. Reddemann, L. (2004): Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie. Stuttgart. Reddemann, L.; Sachsse, U. (1997): Praxis der traumazentrierten Psychotherapie I: Stabilisierung. Persönlichkeitsstörungen PTT 2. Reddemann, L.; Sachsse, U. (1998): Praxis der traumazentrierten Psychotherapie II:Traumaexposition. Persönlichkeitsstörungen PTT 3. Reddemann, L.; Hofmann, A., Gast, U. (2004): Psychotherapie der dissoziativen Störungen. Stuttgart. Roth, G. (2001): Fühlen, Denken, Handeln – Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt a. M. Sachsse, U. (1994): Selbstverletzendes Verhalten. Göttingen u. Zürich. Schiepek, G. (Hg.) (2003): Neurobiologie der Psychotherapie. Stuttgart u. New York.
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Shapiro, F. (1998): EMDR – Grundlagen und Praxis. Handbuch zur Behandlung traumatisierter Menschen. Paderborn. Shapiro, F. (2003): EMDR als integrativer psychotherapeutischer Ansatz. Paderborn. Shapiro, F.; Silk Forrest, M. (1997): EMDR – The breakthrough therapy for overcoming anxiety, stress and trauma. New York. Shapiro, F.; Silk Forrest, M. (1998): EMDR in Aktion – Die neue Kurzzeittherapie in der Praxis. Paderborn. Spitzer, M. (1996): Geist im Netz. Modelle für Lernen, Denken und Handeln. Heidelberg u. a., 2000.
Annette Streeck-Fischer
Adoleszenz – Delinquenz, Drogenmissbrauch
Die Adoleszenz ist eine Zeit des Umbruchs. Sie geht mit einschneidenden Veränderungen im persönlichen und sozialen Umfeld des Jugendlichen einher. Drogen, Alkohol, Gewalt, Kriminalität und selbstschädigende Verhaltensweisen sind Irrwege und Auswege dieser Lebensphase, die bei inneren und äußeren Belastungen auftreten und nicht anders bewältigt werden können. Um zu verstehen, was Jugendlichen in selbst- und fremddestruktives Verhalten treibt, ist es notwendig, sich ihre faktische Realität, ihre Mitteilungen in Handlungen, die Enactments und das Acting-out zu betrachten. An Fallbeispielen von Jugendlichen mit schweren und anhaltenden Traumatisierungen soll das Ausmaß solcher komplexen neurotischen Entwicklungsstörung verdeutlicht werden.
1. Fallbeispiel Der 17-jährige B. kam zur stationären Behandlung wegen Lügen, Klauen, Heimlichkeiten, massiven Selbstwertproblemen, Beschämungsängsten, Haschischgebrauch und schweren Schulproblemen. Bereits nach kurzer Zeit musste er wieder fortgeschickt werden, weil er die Regeln der Hausordnung in einer für uns1 und das therapeutische Klima unzumutbaren Weise übertreten hatte. In demonstrativer Weise hatte er Haschisch geraucht und andere dazu verführt. Er wurde nach Hause geschickt und nach vier Wochen wieder aufgenommen. Er sah jetzt noch mitgenommener und ungesünder aus. Er hatte offenbar abgenommen. Sein Gesicht 1 Mitarbeiter der Jugendlichenstation.
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war von Akne übersät. Er hatte einen entstellenden Haarschnitt, so dass er wie ein »hässliches Entlein« wirkte, das Mitleid und Bedauern hervorruft. In der Zweitsicht2 machte er deutlich, wie wichtig es für ihn war, seine Probleme in der Schule wieder hinzukriegen und sein Leben in den Griff zu bekommen. Als ich nachfragte, wie er sich das vorstelle, blieb er sehr vage, unklar und zum Teil verwirrend. Es tauchte die Frage auf, inwieweit er – ursprünglich Gymnasialschüler – intellektuell überhaupt in der Lage war, dem Gespräch zu folgen. Er geriet in Zustände innerer Abwesenheit, die er versuchte zu überdecken. Auch schien er im Gespräch den Überblick über sich und seine Situation zu verlieren. In den vier Wochen zu Hause hatte er mehr als je zuvor geklaut, war von zu Hause abgehauen, hat sich eine Gallenblasenentzündung zugezogen und war operiert worden. Man hatte ihm die Gallenblase entfernt, obwohl die Indikation dazu fraglich war. Green (1975) hat vier Notfallreaktionen bei drohender psychischer Desintegration beschrieben: 1. die somatische Erledigung, 2. die Erledigung durch Agieren, 3. die Spaltung und 4. die Entziehung der Besetzung. B.s plötzliche Erkrankung und Gallenblasenoperation und sein massives Klauen schienen auf die ersten beiden Notfallreaktionen hinzuweisen. Es stellte sich die Frage, wie weit dieser Jugendliche sich noch sozial und körperlich ruinieren musste, um sich nicht weiter fallen zu lassen – so wie seine Eltern es offenbar schon längst getan hatten. Ihn zu halten schien von daher die erste und dringlichste Maßnahme zu sein, um seine weitere Selbstzerstörung zu verhindern – auch wenn Skepsis geboten war, inwieweit die Rahmenbedingungen der Station genügend Halt und Orientierung bieten konnten. Und so war unser erstes Ziel, ihn überhaupt halten zu können, ohne dass er sich weiter zerstören musste. B. war von jeher das Kind, das unerwünscht, fehl am Platz und zuviel war – sowohl für den Vater und die Stiefmutter, die mit ihren Selbstverletzungen an den Armen auf ihre eigene Problematik hinwies, als auch für die Mutter, die mit weiteren vier Kindern in Trennung von ihrem zweiten Mann lebte. 2 In der Zweitsicht werden gemeinsam mit dem Jugendlichen die Behandlungsbedingungen für die stationäre Psychotherapie ausgehandelt.
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B. wurde im Lauf seiner Behandlung zwei weitere Male für kurze Zeit nach Hause geschickt, weil er Haschisch geraucht und Alkohol getrunken hatte – anders als beim ersten Mal jedoch in geschütztere Bedingungen. Ansonsten gelang es ihm, sich weitgehend an die Hausregeln zu halten. Im Verlauf der Behandlung konnte er immer mehr nach innen schauen und es wurde schließlich deutlich, dass schwere Depressionen ihn veranlassten, zu Alkohol und Drogen zu greifen. Seine für uns anfänglich unklare Leistungsfähigkeit, die weit im unterdurchschnittlichen Bereich lag, war eine Folge seines persistierenden Drogenmissbrauchs und ausgeprägter Depersonalisations- und Derealisationserfahrungen. Er wurde präsenter und beziehungsfähiger und achtete im Alltag auf gerechtes und von Normen geleitetes Verhalten. Es gelang ihm, in der Schule wieder Fuß zu fassen, sich Bedingungen zu organisieren, in denen er sein Leben gestalten konnte. Und doch musste er vier Wochen vor dem Entlassungstermin, der ursprünglich ins Auge gefasst worden war, aus der Behandlung entlassen werden. Der Stationsleiter war der Meinung, man habe B.s Suchtstruktur nicht genügend gesehen und berücksichtigt, die Einzeltherapeutin sprach davon, dass er von einem jungen Erwachsenen zu einem homosexuellen Kontakt verführt worden sei. Feststellbar war, dass er wieder vermehrt Alkohol trank und damit wiederum die Hausordnung übertrat. Diese Inszenierung war eine Botschaft für eine erneute massive Belastungssituation, die er zwar in die Therapie eingebracht hatte, aber dort noch nicht genügend einbinden konnte – als einer, der von jeher sich selbst überlassen war, ein im Stich gelassener Jugendlicher, dem die sprachliche Aufarbeitung nicht selbstverständlich zur Verfügung steht. Dennoch hatte ihn die bisherige Therapie auf einen besseren Weg gebracht.
2. Fallbeispiel Der 19-jährige R. wird von der Schule verwiesen. Anlass ist eine Dokumentenfälschung. Diesem als betrügerisch angesehenen Handeln wird nicht genauer nachgegangen. Er verschwindet gleichsam aus seinem sozialen Umfeld, wird vergessen, keiner
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fragt, was mit ihm ist und was aus ihm wird. Er ist bereits sozial getötet, als er bewaffnet und maskiert die Gutenberg-Schule in Erfurt aufsucht und 16 Menschen und am Ende sich selbst erschießt. Es wird erwähnt, dass er ein mittelmäßiger Schüler gewesen sei, schüchtern und angepasst. Nur manchmal habe er großspurig gemeint, man werde schon sehen, er komme einmal ganz groß raus. Größenvorstellungen in der Adoleszenz sind nichts Außergewöhnliches. Sie sind sogar wichtig als Entwicklungsprogramm zum Großwerden. Jedoch das, was er daraus gemacht und dann angerichtet hat, ist die Verwirklichung einer immensen destruktiv-narzisstischen Größenphantasie. Im Handeln von Jugendlichen erkennen wir Botschaften. Handlungen wie die von B. und R. sind krasse Beispiele für lange unerhörte Botschaften und misslungene Dialoge in alltäglichen Beziehungen. In der Psychotherapie ist es eine Aufgabe und Herausforderung, zusammen mit den Patienten den tieferen Sinn ihrer Botschaft aufzudecken. Es sind Jugendliche, bei denen komplexe psychische, interpersonale und soziale Beeinträchtigungen vorliegen, Jugendliche mit Grenzenstörungen, die auch als Frühstörungen, ich-strukturelle Störungen, komplexe neurotische Entwicklungsstörungen, Borderline-Störungen oder chronische und komplexe PTSD (Posttraumatic Stress Disorder, dt. Posttraumatische Belastungsstörung) bezeichnet werden.3 Der Begriff der Borderline-Störung im Kindes- und Jugendalter ist umstritten. Ich habe deshalb vorgeschlagen, die verschiedenen Erklärungsmodelle wie das Traumamodell, das Borderline-Modell und biologische Entwicklungsmodelle miteinander zu verbinden (Streeck-Fischer 2000a, 2000b). Cohen (Towbin et al. 1993) hat – dem Rechnung tragend – vorgeschlagen, bei dieser Krankheitsgruppe von MCDD (Multiple Complex Developmental Disorder) zu sprechen, um die multiplen Störungen in der Affektregulation und die Beeinträchtigungen in den sozialen und kognitiven Funktionen zu berücksichtigen.
3 Auf die Problematik der Diagnostik solcher Störungsbilder wurde in einem anderen Zusammenhang eingegangen (Streeck-Fischer u. van der Kolk 2000).
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Wege und Irrwege der Adoleszenz Verschiedene psychoanalytische Theorien der Entwicklung, wie die der Objektbeziehungen und der Geschlechtsidentität gehen von Differenzierungsmodellen aus (Mahler 1975 et al.; Kernberg 1978; Fast 1991). Diesen Theorien zufolge ist die Vorstellungswelt des Menschen bei seiner Geburt undifferenziert. Im Verlauf seiner Entwicklung bildet das Kind zunehmend getrennte Vorstellungen aus von sich und anderen, von Selbst und Objekt, Männlich und Weiblich, Innen und Außen, die ihm eine eigene Identität ermöglichen. Solche Differenzierungsprozesse sind begleitet von Verlusterfahrungen. Bisherige Sicherheit spendende Beziehungen zu sich und anderen, die mit diffusen Gefühlen von Einssein und Vollkommenheit verbunden sind, müssen aufgegeben werden. Prozesse der Differenzierung und Trennung finden nicht nur in der frühkindlichen Entwicklung statt, sondern vor allem auch in der Adoleszenz (Streeck-Fischer 1994). Die reale Ablösung von den Eltern geht in dieser Zeit mit dem Verlust einer »Welt bis dahin gemeinsam geteilter Bedeutungen« (Emde 1991) und damit dem Verlust bisheriger innerer und äußerer Sicherheiten einher. Ablösungs- und Individuationsprozesse der Adoleszenz sind aber nicht nur von Trennung und Differenzierung bestimmt. Der Jugendliche sucht auch nach Möglichkeiten, Übereinstimmungen mit wichtigen Personen auf einer anderen Ebene wiederherzustellen. Das zeigt sich zu Beispiel in der Entwicklung von Ich-Idealund Über-Ich-Strukturen. Der Jugendliche distanziert sich von den Eltern und den an sie gebundenen Über-Ich- und Ich-IdealVorläufern. Sein Über-Ich entwickelt sich zu einer Instanz, die zunehmend personenunabhängig wird und handlungsanleitende Funktionen übernimmt. Auf einem abstrakteren Niveau orientiert sich der Jugendliche an den Werten der Erwachsenen. Im günstigen Fall pendelt er zwischen den Kulturen – der Kultur der Erwachsenen und der seiner Altergruppe. Verschiedene Entwicklungsaufgaben hat der Jugendliche zu bewältigen. Corey (1946) nennt davon fünf (andere betonen mehr): Er muss 1. mit den physischen Veränderungen vom kindlichen zum erwachsenen Körper fertig werden, 2. sich von den Eltern loslösen, 3. neue Beziehungen zu Gleichaltrigen aufbauen und
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sexuelle Bedürfnisse in die Beziehungen integrieren, 4. Selbstvertrauen und ein neues Wertsystem entwickeln sowie 5. eine soziale und berufliche Identität gewinnen. Diese Entwicklungsaufgaben, die durch die psychobiologischen Reifungsprozesse am Beginn der Adoleszenz eingeleitet werden, gehen mit Persönlichkeitsumstrukturierungen und -entwicklungen einher. Die Zeitspanne wird in der Regel in eine frühe, mittlere und späte Adoleszenz unterteilt mit je spezifischen Merkmalen. In der frühen Adoleszenz werden ursprüngliche Übereinkünfte des Latenzkindes mit sich selbst und seinen Eltern, die von einem Bedürfnis nach einer Welt geteilter Bedeutungen getragen sind, in der Regel infrage gestellt. Ein Wir-Gefühl, das sich beim Latenzkind im Alter von 6 bis etwa 12 Jahren auf die Eltern und auf die Familie und deren Weltsicht bezieht, löst sich allmählich auf. Die Einheit im Denken, Fühlen und Handeln zerbricht. In Verbindung mit der Transformation des Denkens von konkreten und aktuellen Feststellungen (Piaget u. Inhelder 1972) werden übergeordnete affektiv-kognitive Strukturen entwickelt, die umfassendere und eigenständige Betrachtungen in Bezug auf sich selbst und Umwelt ermöglichen. Diese veränderte Anschauungen führen zu Verunsicherungen und Infragestellungen. Die Erfahrung, anderen und sich selbst fremd zu sein und auf bisherige Bewältigungsformen nicht mehr zurückgreifen zu können, geht mit Beschämungsgefühlen und -ängsten einher. Schamgefühle haben in der Selbstdifferenzierung eine wichtige Funktion (Broucek 1991). Sie werden zumeist von Mädchen und Jungen unterschiedlich verarbeitet. Die zunehmende Ablösung von den Eltern und ihre innere Entmachtung in der mittleren Adoleszenz führt zu einer vorübergehenden Phase des gesteigerten Narzissmus der Adoleszenz (Blos 1973), der als Wegbereiter zu einer eigenen und abgegrenzten Identität dient. Dieser physiologische Narzissmus zeigt sich zum Beispiel darin, dass Jugendliche unausgeglichen sind, Stimmungsschwankungen zwischen »himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt« an den Tag legen und leicht kränkbar sind, zu SchwarzWeiß-Malereien neigen und zwischen Selbstüberschätzung, Selbstvergrößerung und Gefühlen von Unzulänglichkeit hin und her pendeln können (Blos 1973). Schöpfungs-, Rettungs- und Großenphantasien, die Ausgleich
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für real erlebte Unzulänglichkeit sind und das Selbstsystem stabilisieren, dienen in der Adoleszenz als Entwicklungsprogramm zum Großwerden (Chasseguet-Smirgel 1981). Diese Phantasien wirken sich indessen nur so lange entwicklungsfördernd aus, wie nicht die Hoffnung aktiviert wird, die Spanne zwischen dem Ich und den idealen Vorstellungen auf einem anderen Weg als dem der Entwicklung überbrücken zu können (Chasseguet-Smirgel 1981). Die Gleichaltrigengruppe hat für Jugendliche die Funktion einer Brücke, eines Übergangsraums zwischen Familie und Gesellschaft. Gleichaltrige Freunde werden zu äußeren Quellen von Selbstwert, wie zuvor die Eltern es waren. Sie übernehmen stützende Funktionen. Je nachdem, welche Bedeutung der Gruppe im Ablösungsprozess von den Eltern zukommt und welchen Kompromiss zwischen regressiven und progressiven Strebungen sie ermöglicht, hat sie als Experimentierfeld entwicklungshemmende oder -schädigende oder entwicklungsförderliche Wirkung. Gruppen etwa mit okkultistischen Praktiken, Jugendsekten, Drogenkulturen haben häufig entwicklungsschädigenden Einfluss, weil sie zu einem Abbau von Ich-Fähigkeiten und -Fertigkeiten führen und den Rückzug in Traumwelten unterstützen. Eine solche Gruppe ist dann für Jugendliche nicht mehr Übergangs- und Entwicklungsraum auf dem Weg der Ablösung, sondern sie wird zur neuen Heimat. Der Weg in die Individuation ist versperrt, stattdessen wird als Ausdruck eines regressiven Prozesses die Verwirklichung einer infantilen Rettungs- und Vollkommenheitsphantasie in der Gruppe gesucht. In der späten Adoleszenz kommt es zu einer Aussöhnung mit den realen und infantilen Elternbildern und zu einer Konsolidierung der Persönlichkeit. Wie die Adoleszenz verläuft, hängt davon ab, ob die Differenzierungsschritte zu einer besseren Organisationstätigkeit des Ich mit Ausbildung von reifen inneren Steuerungsinstanzen – Übernahme der Werte und Normen der Gesellschaft – führen oder ob der Jugendliche diese Schritte vermeidet. Die weitere Entwicklung wird beeinflusst von bereits entwickelten inneren Strukturen des Jugendlichen, aber auch durch die aktuellen Lebensbedingungen. Im günstigen Fall kann die Adoleszenz zu einer »zweiten Chance«
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(Eissler 1959) für die Entwicklung werden. Andererseits gibt es in der Adoleszenz eine Reihe von Versuchungen, progressive Entwicklungen zu vermeiden, etwa Sofort- und Ersatzbefriedigungen, die zur Folge haben, dass der Jugendliche in seiner Entwicklung stagniert oder auf frühere Stufen zurückfällt. Drogen, Alkohol, Gewalt, selbstverletzendes Verhalten sind dabei als primäre Regulatoren (bei mangelhafter Selbstregulation) und Organisatoren von Identität anzusehen. Wichtige Mitteilungen über ihre Konflikte erhalten wir bei Jugendlichen durch ihr Handeln. Die Einzigartigkeit jugendlichen Verhaltens, das in Acting-out-Mustern erscheint, ist determiniert – so Josselyn (1996) – durch die Notwendigkeit Jugendlicher zu lernen, wer sie selbst sind, Erinnerungen aufzubauen und Material zu gewinnen für symbolisches Denken. Der Raum des kindlichen Spiels, in dem mit Spielfiguren handelnd gedacht werden kann, steht nicht mehr zur Verfügung. Jugendliche drücken sich nun in »action thoughts« (Busch 1995) aus, im Handlungsdenken. Dem Handeln Jugendlicher wird gleichsam das Denken nachgetragen. Handeln ist der »Königsweg zum Unbewussten bei Jugendlichen« (Baumann, mündliche Mitteilung). Über sich selbst zu reden, ist ungeübt, aber vor allem auch infolge des gesteigerten Narzissmus in der Adoleszenz beschämend und beängstigend. Der Prozess der Dezentrierung, der eine selbstreflexive Betrachtung von sich selbst ermöglicht, bekommt in dieser Zeit eine hohe Bedeutung. Der Jugendliche mentalisiert zunehmend seine Erfahrungen und findet dafür jetzt übergeordnete Kategorien. Plaut (1979) meint, das Spiel der Jugendlichen sei ein Spiel an und mit den Grenzen. Mit Spiel verbindet er, wie Winnicott (1978), die Fähigkeit zur Kommunikation. Dieses Handeln an und mit den Grenzen macht vor allem Jugendliche zur Avantgarde der Gesellschaft (Erdheim 1993), indem sie Neues schaffen und Neues zusammendenken, Grenzen des bisher Möglichen und Ausgedrückten überschreiten: zwischen Schock und Schöpfung – kreativ oder auch destruktiv. Als Leitfaden gelten die Größenphantasien der Adoleszenz, die Räume der Entfaltung, einen Bereich der spielerischen Entfaltung von expansiven, sexuellen und schöpferischen Bedürfnissen schaffen und Ich-Ziele verankern.
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Im Gegensatz dazu münden schnelle Befriedigungen von Größenphantasien in Sackgassen, in Selbst- oder Fremdzerstörungen (siehe 2. Fallbeispiel). Solche Sackgassen der Verwirklichung von Größenphantasien als Sofortbefriedigung bieten einige militante Subkulturen, zum Beispiel als Retter, Ordnungshüter, Kämpfer. Die entwicklungsphysiologischen Sprachbarrieren gilt es zu unterscheiden von Unfähigkeiten, belastende Erfahrungen sprachlich zu fassen, die aus ungünstigen frühen Entwicklungsbedingungen resultieren (Blos 1963). Solche Erfahrungen sind nicht symbolisch repräsentiert, sondern in dissoziierter Form gespeichert und deshalb als Geschichte nicht verfügbar und somit auch nicht erzählbar. In besonders massiver Form begegnen wir dieser Sprachlosigkeit bei frühen und komplexen Störungen und Traumatisierungen. Jugendliche mit solchen schweren Störungen haben Erfahrungen auf einer präverbalen Ebene gemacht, die sich gleichsam in den Körper und das Sensorium eingegraben haben und die sprachlich nicht verfügbar sind. Umfassende diagnostische Untersuchungen von Jugendlichen mit solchen Beeinträchtigungen haben uns gezeigt, wie komplex diese Störungen sind. Ihre multiplen Verhaltensauffälligkeiten sind nicht nur Folge massiver Beziehungsstörungen, sondern resultieren auch aus kognitiven Defiziten und beeinträchtigten Wahrnehmungsmodalitäten.
Was ist normal, was ist krisenhaft? In der früheren psychoanalytischen Literatur (z. B. Laufer 1980, 1984) gibt es eine auffällige Vermeidung, sich auf normale oder pathologische Adoleszenzverläufe festzulegen. So wurden psychotisch dekompensierende Jugendliche noch im Rahmen normaler adoleszentärer Entwicklungsverläufe betrachtet. Zwar erscheint es sinnvoll, insbesondere bei Jugendlichen mit ihren krisenhaften Verläufen, eine dynamische Betrachtung beizubehalten, jedoch sollten auch die Gefährdungen in Richtung auf pathologische Verläufe benannt werden, ohne dass damit die Potentiale einer zweiten Chance in der Entwicklung außer Acht bleiben. Folgende Veränderungen im Verhalten Jugendlicher können als normal oder krisenhaft differenziert werden:
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krisenhaft
normal
Gebrauch bzw. Missbrauch von Alkohol als primärer Organisator von Identität und zentraler Regulator von Wohlbefinden und Selbstbetrachtung
gelegentliche Experimente mit Drogen in Verbindung mit Gleichaltrigenaktivitäten
promiskuöse sexuelle Beziehungen oder mangelnde Beziehungen zu Gleichaltrigen
sexuelle Experimente mit gleichaltrigen Jungen oder Mädchen, Gefühle von Schüchternheit und Unsicherheit im Umgang mit anderen
Schulverweigerung oder Verlust von Interesse an schulischen oder außerschulischen Aktivitäten
geringe Fluktuation der Interessen
Eltern hassen und basale gesellschaftliche Werte und Regeln bekämpfen
Auseinandersetzungen über Musik, Kleidung, Freizeit
Angst, überwältigt zu werden, unfähig das Leben zu genießen, gelähmt durch Depression
Unzufriedenheit, Langeweile
ungeordnetes Denken, Suizidgedanken
Eltern provozieren durch überzogenes Verhalten, Individualitätssuche
Deutlich wird an dieser Gegenüberstellung, dass Jugendliche mit krisenhaften Verläufen nicht über ausreichende innerlich verankerte gute Selbst- und Objektbilder und funktionsfähige innere Landkarten verfügen. Sie können selbstkritische, selbstbestätigende Fähigkeiten, innere Prinzipien und Steuerungen nicht entwickeln (Jacobson 1973), die ihnen helfen könnten, einen progressiven Weg zu gehen. Haben die frühen Pflegepersonen versagt oder lediglich als äußere Stützen einer defensiven und unecht integrierten Adaptation (falsches Selbst) fungiert, die bis an das Ende der Latenz eine relative Stabilität vermitteln kann, dann geraten Jugendliche mit Beginn der Adoleszenz in einen inneren Notstand, der sie mit Leere, tiefer Vereinsamung, Gefühlen von Heimatlosigkeit und Mangelhaftigkeit, Vernichtungs- und Zerfallsängsten konfrontiert. Dieser Notstand, der mit Begriffen wie »black hole« (J. Grotstein), »Ambiguität« (J. Bleger), »namenlose Furcht« (W. Bion) oder das »Nichts« (J.-P. Sartre) beschrieben wird, bringt Jugendliche in Situationen, in denen sie nach äußeren
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Stützen und Regulierungen suchen, die in der Regel mit Traumatisierungen einhergehen.
Adoleszenz und Trauma – Sucht und Delinquenz als Selbsthilfemaßnahmen Forschungsergebnisse und klinische Befunde haben in den letzten Jahren zunehmend verdeutlicht, dass es einen Zusammenhang zwischen traumatischen Belastungen und Entwicklungen zur Drogenabhängigkeit und Delinquenz gibt (z. B. Cottler et al. 2001). De Bellis (2002) weist daraufhin, dass besonders Misshandlung in der Kindheit ein erhöhtes Risiko in sich birgt, eine Suchterkrankung zu entwickeln. Dabei scheint es unterschiedliche Wege bei männlichen und weiblichen Drogenabhängigen zu geben (Cottler et al. 2001). Bei weiblichen Jugendlichen ist die Drogenabhängigkeit unmittelbar mit vorangegangenen traumatischen Belastungen verknüpft, während bei männlichen Jugendlichen der traumatischen Belastung oft der Drogengebrauch vorausgeht. Inwieweit Amnesien zu einer unsichern Befundlage geführt haben könnten, wird allerdings nicht diskutiert. So haben Untersuchungen an delinquenten Jugendlichen beispielsweise ergeben, dass erst gezielte Explorationen in Richtung auf schwere Belastungen das Ausmaß ihrer Traumatisierung verdeutlich haben (Steiner et al. 1997). Als Folge der traumatischen Belastungen treten ausgeprägte Dysregulationen in den basalen biologischen Stressantwortsystemen auf – mit ungünstigen Folgen für die Gehirnentwicklung. Chronische Misshandlungen führen zu vielfältigen Störungen, die mit chronischen posttraumatischen Belastungsreaktionen und Entwicklungsstörungen einhergehen (Gordon u. Wraith 1993; De Bellis 2002). Die Störungen umfassen die Entwicklung der Affekte, die Stressregulation, die Entwicklung des Gedächtnisses und die Aktivierung oder Ausblendung von bestimmten Hirnarealen mit ihren Verschaltungen. Bei Suchterkrankungen werden nicht nur zusätzliche hirnorganische Schädigungen gesetzt, hinzu kommt auch – was häufig nicht genügend berücksichtigt wird –, dass es zu einem Entwicklungsstillstand kommt. Eine der wichtigsten Störungen bei Kindern und Jugendlichen
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mit Traumatisierungen in der Entwicklung ist die beeinträchtigte Selbst-, Affekt- und Impulsregulierung. Diese Regulierungsfähigkeit kann aber auch durch spätere traumatische Belastungen verloren gehen. Wie ein Kind sich entwickelt hinsichtlich seiner Affekte, Kognitionen und seines Verhaltens, ist abhängig von der emotionalen Antwort seiner Umwelt, in der frühen Versorgung der Mutter. Man könnte dabei von einer selbstobjekthaften psychobiologischen Regulationsfunktion sprechen, die die Mutter zunächst übernimmt, (Schore 1994) und die zur basalen Herstellung homöostatischer Systeme erforderlich ist. Eine Wachstum verhindernde Umgebung zerstört die Entwicklung von selbstregulatorischen Systemen (vgl. Hofer 1996). Die Unfähigkeit, mit Stress und daraus folgenden Erregungszuständen umzugehen, ist dann eine unmittelbare Folge der psychotoxischen dyadischen Mutter-Kind-Interaktion, anders gesagt, der mangelnden Regulationsfähigkeit der frühen Pflegeperson. Kinder mit traumatischen Belastungen in der Entwicklung begegnen statt Halt und Unterstützung von der frühen Pflegeperson einem Zustand des Nicht-gehalten-Werdens. Diese Erfahrung führt zu einem inneren Arbeitsmodell, einer zentralen Beziehungserfahrung, bei Belastung auf sich gestellt zu sein und von außen keine regulierende Unterstützung zu finden, allein, ohne einen regulierenden Anderen zu sein – Bedingungen, die zu antisozialen und Suchtentwicklungen führen können. Im besonderen Maß haben wir es bei den komplex traumatisierten Jugendlichen mit nichtsprachlichen, verdeckten, verborgenen und inszenierten Botschaften zu tun. Die traumaspezifischen Implantationen in Körper, Seele und Geist unterliegen Wiederinszenierungsmustern. Im selbstverletzenden Verhalten, Sachzerstörungen, Drogenmissbrauch, Alkoholabusus, kriminellem Agieren und anderem mehr sind wichtige Mitteilungen, »gehandelte« Botschaften mit Selbsthilfemaßnahmen zur Suche nach Stabilisierung und Reorganisation erkennbar. Nondeklarative (unbewusste) Gedächtnisprozesse spielen eine wichtige Rolle in problematischen Wiederholungen. Das sind Formen des Handeln, die mit Seelenblindheit (Shengold 1995) einhergehen. Nondeklarative Gedächtnisprozesse sind unbewusst und können deshalb auch nicht erinnert werden. Sie müssen erst
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erkannt und in eigenen Begriffen analysiert werden. Sie können auch nicht als eine Form des Widerstands wie etwa der Verdrängung betrachtet werden und erfordern einen anderen therapeutischen Umgang. Bei mangelnden Erfahrungen von Kohärenz in der Entwicklung können deklarative (bewusste) und nichtdeklarative Gedächtnisprozesse auseinander fallen, wie wir dies bei schwereren psychischen Störungen finden. Handeln wird dann zu einer eigenen und unintegrierten Mitteilungsform, zum Beispiel wenn es in bestimmten, ansonsten abgespaltenen Kontexten auftaucht oder wenn Sprechen und Mitteilungen des Körpers völlig auseinander driften. Der Körper mit seinem Ausdruckverhalten, der als Bühne der Gefühle und als ein fundamentales Bezugssystem für alle psychischen Prozesse zu verstehen ist, ist völlig abgetrennt von der sprachlichen Beschreibung einer diffusen Befindlichkeit. Die Fähigkeit zur selbstreflexiven Betrachtung eigenen Handelns fehlt. Normalerweise wird Selbstreflexivität – so von Fonagy und Target (2001) beschrieben – durch Spiegelungen der empathisch eingestellten Bezugsperson in Antwort auf den affektiven Ausdruck des Kindes entwickelt. Die Spiegelungen zusammen mit dem eigenen Erleben werden internalisiert und bilden kognitiv zugängliche Repräsentationen initial unbewusster primären Zustände. Anders gesagt: Eine in sich kontingente, Affekt spiegelnde Umgebung erreicht durch Bespiegeln, dass eigenes Verhalten zu Selbstrepräsentanzen internalisiert wird, die die primären prozeduralen Selbstzustände des konstitutionellen oder auch seelenblinden Selbst überlagern. Das ursprüngliche oder auch konstitutionelle Selbst – so Gergely und Watson (1996) – ist vor allem prozedural repräsentiert und der bewussten Introspektion nicht zugänglich. Um dennoch Verbindungen aufrechtzuerhalten zwischen den prozeduralen Zuständen und dem selbstreflexiven Selbst, ist das Prinzip der mentalen Kohärenz von Bedeutung. Gedächtnismängel oder -lücken als Folge von vernachlässigenden, misshandelnden oder missbrauchenden Bedingungen können damit gut erklärt werden, denn in solchen traumatischen Situationen fehlt die soziale und affektive Bespiegelung. Solche traumatische Erfahrungen werden im prozeduralen Gedächtnis gespeichert und sind jedoch nicht dem Bewusstsein zugänglich,
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sondern kommen in verkörperten Botschaften und unintegrierten Handlungen zum Ausdruck. Das Konzept der traumatischen Gedächtnisspeicherung geht darüber hinaus davon aus, dass die Notwendigkeit, außergewöhnliche Erregung abzuwehren, mit einem veränderten dissoziierten Zustand des Bewusstseins einhergeht, der spezifische Merkmale bei der Speicherung von Erfahrung hat. Die sprachlichen Kanäle sind abgespalten, stattdessen reagieren die sensomotorischen Kanäle stärker. Das Ergebnis ist ein Set von primitiv enkodierten unsymbolisierten oder unflexiblen und nicht variablen Reizen, die außerhalb des Bewusstseins und der willentlichen Kontrolle liegen und automatisch durch spezielle Trigger aktiviert werden können (van der Kolk 1998). Sie tauchen multimodal oder nichtsprachlich auf und beziehen Geruchs-, Wahrnehmungs-, Gehör- und kinästhetische Komponenten mit ein. Sensitisation und Kindling unterstützen diesen Prozess.
Störungen in ihrer Selbstwahrnehmung und in der Wahrnehmung von anderen Die Beziehungen traumatisierter Jugendlicher gehen mit Grenzenstörungen einher, zum Beispiel mit mangelnder Fähigkeit, zwischen sich und anderen, zwischen Selbst und Objekt, Realität und Phantasie, Vergangenheit und Gegenwart, Grenzen zu ziehen und aufrechtzuerhalten. Aufgrund der mangelnden Erfahrung von basalem Vertrauen in Personen und Umwelt geraten sie in panische Angstzustände (Pine 1986). Sie haben korrupte Wertsysteme und brüchige Normen. Stabile Orientierungen fehlen ihnen weitgehend, da es für sie Sicherheit im Verhältnis zu Personen, zur Umwelt und in sozialen Ordnungen nicht gibt. Nicht erfassen können, wie und was man fühlt, prädestiniert zum Ausleben, statt zum Benennen. Neurobiologische Studien machen deutlich, dass frühe traumatische Erfahrungen die normale Entwicklung der Hirnrinde und des limbischen Systems beeinflussen (van der Kolk 1998). Zentren, die für die Sprache und deren Verknüpfung mit Erfahrungen bedeutsam sind, werden in
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Reaktion auf traumatische Erfahrungen mangelhaft mit Sauerstoff versorgt, während gleichzeitig andere Hirnbereiche, die mit Gefühlszuständen und autonomer Erregung in Verbindung gebracht werden, vermehrt durchblutet werden. Die Funktionsfähigkeit der linken Hemisphäre, die in die Lage versetzt, Problemlösungsaufgaben in wohl geordneten Sätzen zu organisieren und Informationen zu verarbeiten, wird mangelhaft entwickelt. Lernen und Kognition werden dadurch deutlich beeinträchtigt. Die Sprachlosigkeit dieser Jugendlichen ist somit auch ein Entwicklungsproblem.
Folgen für die Behandlung Infolge traumatischer Beziehungserfahrungen etablieren sich interaktive Verstrickungen, die die Missbrauchs- und Misshandlungsbeziehungen als Opfer oder als Täter reinszenieren. Solche destruktiven Prozesse laufen schrittweise ab. Am Ende solcher malignen Wiederinszenierungen steht die Fortführung der traumatischen Erfahrung mit Therapieabbruch und Abbruch der bisherigen Beziehungen. Solche malignen Verläufe müssen unter allen Umständen verhindert werden (Streeck-Fischer 1998). In der Behandlung kommt es häufig sehr bald zu einer Begegnung mit traumatischen Wiederinszenierungen. Diese Reinszenierungen bestimmen in der Regel nach einer kurzen Phase des »Honeymoons« die Behandlungen solcher Jugendlichen. Sie bringen sich selbst in solche Inszenierungen, in dem sie sich gefährlichen Situationen aussetzen, sie suchen sich Freunde, die sie bedrohen oder misshandeln, ihre Familie konfrontiert sie mit schweren Belastungen oder das weitere Umfeld – Schule, Jugendamt, Polizisten – übernimmt einen entsprechenden Part. Sie ziehen gleichsam Ereignisse an, die mit einer Fortführung von traumatischen Erfahrungen einhergehen. In den Beziehungen auf der Station stellen sie Interaktionen mit anderen her, die überwältigend, bedrohlich oder verfolgend sind. Das therapeutische Personal erscheint misshandelnd, übergriffig, vergewaltigend, in dem es etwa auf die Einhaltung von Regeln, auf die Hausordnung hinweist oder die betroffenen Jugendlichen vor ihren selbstschädigenden Verhaltensweisen schützt. Solche Belastungssituationen führen zum
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Rückgriff auf bisherige Selbsthilfemaßnahmen wie Drogengebrauch oder delinquentes Handeln, die den stationären Aufenthalt und die Therapie in Frage stellen. Sichere Orte und Auf- und Ausbau von Fähigkeiten der Selbstregulation und von Ressourcen sind zur weiteren Behandlung erforderlich. Vertrauen und ausreichend sichere und haltende Beziehungen sollten aufgebaut werden. Es wird gemeinsam mit dem Jugendlichen nach sicheren inneren und äußeren Orten gesucht. An der Suche und Entwicklung von solchen sicheren Orten wird in der Einzelpsychotherapie aktiv gearbeitet, so dass auf sie im Alltag zurückgegriffen werden kann. Sichere Orte und ausreichend haltende Beziehungen zu entwickeln, sind die ersten wesentliche Schritte in der stationären Psychotherapie, die zum Ziel haben zu vermeiden, dass traumatische Reinszenierungen im Zusammenleben auf der Station fortgeführt werden. Nicht das Personal, nicht das Umfeld sind in erster Linie zuständig für die Regulation der Erregungszustände. Es wird vom Jugendlichen erwartet, dass er selbst an der Regulation von Affekten und Impulsen trainiert, in dem er sich aktiv von solchen Zuständen distanzieren lernt. Sichere Orte können beispielsweise eine Brücke, das Bett, die Erinnerung an etwas Vertrautes sein. Die Station ist der Ort, wo nach Bedingungen gesucht wird, die helfen, aus Spannungszuständen herauszufinden, die eine gewisse Sicherheit und Ruhe vermitteln, zur Stabilisierung beitragen, es ist der Ort, wo Ich-Fähigkeiten entwickelt und trainiert werden, wo nach Interessen gesucht wird und Ressourcen aufgebaut werden. Die Station ist der Ort der gemeinsamen Aktivitäten wie auch der Ort, an dem auf Botschaften durch Handeln aufmerksam gemacht wird, die der Jugendliche in die Therapie bringen soll. Es sollen Kompetenzen entwickelt werden, Symbolisierungsfähigkeiten geschaffen und Sprache statt Handeln verwendet werden. Die Station wird nicht als der Ort angesehen, wo Konflikte aufgedeckt und bearbeitet werden sollten oder wo selbst- und fremddestruktives Verhalten zum zentralen Thema wird. Auf der Station sollten nicht traumatische Erfahrungen – nach Möglichkeit auch nicht vorläufig – bearbeitet werden. Solche Bemühungen enden in der Regel in fortgeführten traumatischen Inszenierungen, die Jugendliche und Mitarbeiter gleichermaßen überfordern, trauma-
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tisieren und retraumatisieren. Es werden sehr deutliche Grenzen zwischen Intimität und Öffentlichkeit, Therapieraum und Alltag aufgezeigt. Unklare Angebote schaffen Verwirrung. Auf der Station sollten deeskalations-, stabilisierungs- und ressourcenorientierte Interventionen im Vordergrund stehen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Jugendlichen hier und auch außerhalb der Station Erfahrungen von Kompetenz und »Mastery« machen können. Dazu ist eine möglichst von traumatischen Inszenierungen bereinigte Stationsatmosphäre nötig, die alle Beteiligte entlastet. In Verbindung mit einer erreichten Stabilisierung kann in der Therapie schrittweise an der Fähigkeit zur sprachlichen Symbolisierung, der Entwicklung von Spiel- und Symbolisierungsfähigkeit gearbeitet werden, die die vorsichtige Bearbeitung traumatischer Erfahrungen zulässt. Phantasiespiele, die auf der Station eingeführt werden, können hilfreich sein, um zerstörte Räume der Phantasie zu entwickeln. Da diese Jugendlichen fast immer komplexe Beeinträchtigungen mit Einschränkungen in den verschiedenen Wahrnehmungsmodalitäten und den kognitiven Fähigkeiten aufweisen, müssen andere therapeutische Ansätze in die Behandlung integriert werden. In Verbindung mit dem sensorischen »Shutdown« zeigen sie eine vermehrte Reizabschirmung auch auf der Körperebene. Ihr taktiles Empfinden, insbesondere ihre Schmerzwahrnehmung, ist eingeschränkt, ihre Körperwahrnehmung beeinträchtigt. Sie vermeiden Aktivitäten, ziehen sich zurück oder reagieren mit Unruhezuständen und sind ständig aktiv. Hier sind Erfahrungen notwendig, in denen sie ihre Körperteile positiv erfahren können, ohne von traumatischen Erinnerungen getriggert zu werden, oder Ruhe zu finden, indem sie unter einer Decke ihre Körpergrenzen spüren. Der Hinweis von Bemporad (1987), Cohen et al. (1987) und anderen, dass diese Patienten in der Regel multiple neurologische »soft signs« vorweisen, die sich auf die Entwicklung ihrer Lernfähigkeit auswirken, muss dringend beachtet werden. Die beeinträchtigte kognitive Informationsaufnahme und -verarbeitung (Streeck-Fischer 2000b) ist für die komplexen Lernstörungen verantwortlich und muss durch gezielte Trainings bearbeitet werden. Die Arbeit an den traumatischen Erfahrungen kann erst erfolgen, wenn ausreichende Ich-Fähigkeiten entwickelt wurden und
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sie auf einer symbolischen Ebene kommuniziert werden können, so dass Retraumatisierungen nicht mehr eintreten. Mit symbolischer Ebene ist die Fähigkeit gemeint, die Probleme sprachlich mitzuteilen oder sie im Spiel auszudrücken. Dieser Schritt braucht Zeit und wird unter Umständen während der stationären Behandlung nicht erreicht.
Ausblick Einstellungen Jugendlichen gegenüber, die beinhalten, »es wird sich schon richten«, übersehen die Not, die Betroffenen in der Regel handelnd zum Ausdruck bringen. Der Prozess der adoleszentären Ablösung und Individuation ist von Risiken und »zweiten Chancen« begleitet. Hier sind äußere Hilfen und Unterstützung wichtig, die insbesondere Jugendlichen mit Erfahrungen von Vernachlässigung und Gewalt vermitteln, dass ihr Platz in unserer Gesellschaft erwünscht ist.
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Geschichtliche Aspekte Nach archäologischen und botanischen Studien war die Cannabispflanze (Cannabis sativa) ursprünglich in Mittelasien heimisch und breitete sich von dort unter anderem nach China aus. Dort wurden Hanffasern zur Herstellung von Stoffen und Seilen genutzt. Außerdem fand Haschisch Verwendung als Heilmittel und der Haschischrausch wurde bereits 4000 Jahre v. Chr. in China als Bewusstseinszustand »göttlicher Transzendenz« bezeichnet. Auch von den Skythen, einem Reitervolk der eurasischen Steppe, ist Cannabis-Konsum bereits für das 4. und 5. Jahrhundert v. Chr. nachgewiesen. Cannabinoide fanden etwa im 9. Jahrhundert über die Ausbreitung des islamischen Glaubens entlang der Seidenstraße Zugang zur islamischen Welt. In der westlichen Welt war in der Arzneimittellehre des griechischen Arztes Dioscurides Cannabis erwähnt. Cannabinoide fanden aber in Mitteleuropa keinen eigenständigen Konsumweg durch das Mittelalter, auch wenn Dioscurides seit Mitte des 11. Jahrhunderts wieder Eingang in die mönchische Heilkunde fand. In der Phase des Irrationalismus des 18. Jahrhunderts wurde auch das »Phantastikum« Haschisch in Mitteleuropa »wiederentdeckt«. Im 18. Jahrhundert vollzog sich in den Kreisen der jüngeren Literaten und Intellektuellen Europas ein Traditionswechsel und der künstlerische Drogengebrauch erlangte Popularität. Die Jugendbewegung der 1960er und 1970er Jahre machte Cannabiskonsum in allen westlichen Länder unter dem Stichwort der »Bewusstseinserweiterung« populär. In Deutschland gab es zwischen 1968 und 1970 einen Anstieg des jugendlichen Canna-
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biskonsums. Damals als eine nachweisbare Subkultur vorhanden, hat sich der Cannabiskonsum seither zu einem Ritual der Jugendund Freizeitkultur gewandelt, ohne noch als eigenständige Subkultur erkennbar zu sein. Während in der frühen Phase der Kulturgeschichte der Cannabiskonsum (z. B. im islamischen Mittelalter) eine religiöse Konnotation im expliziten Zugang zu Transzendenzerfahrungen und entsprechend in asketischer Weltabwendung hatte, zeichnet er sich in der westlichen Kultur heutzutage durch eine säkularisierte Konnotation aus (Schlimme et al. 2001).
Epidemiologie Cannabis ist derzeit bei Jugendlichen die am häufigsten konsumierte illegale Droge. Die Lebenszeitprävalenz der 18- bis 39-Jährigen für Cannabiskonsum ist in der Zeit von 1990 bis 2000 deutlich angestiegen. Er betrug für Westdeutschland 1990 16,6 % und im Jahr 2000 29,1 %. In Ostdeutschland lag er 1990 bei 1 % und stieg bis zum Jahr 2000 auf 18,4 % an. Auch die 12-MonatsPrävalenz der 18- bis 39-Jährigen für den Konsum von Cannabis stieg sowohl in Westdeutschland von 4,9 % (1990) bis 10,6 % (2000) und in Ostdeutschland von 0,7 % (1990) bis 9,0 % (2000). Somit hat sich die 12-Monats-Prävalenz dieser Altersgruppe für Cannabiskonsum in Westdeutschland in den letzten 10 Jahren, in Ostdeutschland in den letzten 3 Jahren in etwa verdoppelt. In der Altersgruppe der 12- bis 25-Jährigen haben circa 26 % zumindest einmal in ihrem Leben Cannabis konsumiert. 1993 waren es noch 16 %. In der gleichen Altersgruppe hat aktuell etwa jeder achte (13 %) in den zurückliegenden 12 Monaten Cannabis konsumiert. Mit zunehmendem Lebensalter fallen die Prävalenzzahlen wieder ab (Kraus u. Augustin 2001). Laut dem »Epidemiologischen Suchtsurvey« aus dem Jahr 2003 haben 6,9 % der 18–59-jährigen Deutschen innerhalb der letzten 12 Monate Cannabi konsumiert (Kraus u. Augustin 2005). Eine Trendwende in der Häufigkeit des Cannabiskonsums in Deutschland zeichnete sich erstmals im Jahr 2007 ab. Durch eine Repräsentativerhebung der Bundesregierung im Jahr 2007 bei jungen Erwachsenen konnte ein Rückgang des Cannabiskonsums
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verzeichnet werden. Die Lebenszeitprävalenz für Cannabiskonsum insgesamt sein von 40 % im Jahr 2004 auf 32 % im Jahr 2007 gesunken und die Lebenszeitprävalenz der Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren von 22 % im Jahr 2004 auf 13 % im Jahr 2007. Nach den Daten einer aktuellen Repräsentativstudie aus dem Jahr 2000 (Kraus u. Augustin 2001) kann davon ausgegangen werden, dass die Mehrzahl (61 %) aller aktuellen Cannabiskonsumenten einen eher gelegentlichen Konsum (1 bis 5 Tage pro Monat) und etwa 20 % aller aktuellen Cannabiskonsumenten einen nahezu täglichen Konsum (20 bis 30 Tage pro Monat) betreiben. Nach einer Untersuchung aus Süddeutschland erfüllen etwa 8 bis 9 % aller Cannabiskonsumenten im Alter zwischen 14 und 24 Jahren das diagnostische Kriterium des Cannabismissbrauchs (lifetime) und etwa 4 bis 7 % die diagnostischen Kriterien einer Abhängigkeit von Cannabis (lifetime) nach DSM-IV. Cannabis ist nach Alkohol und Opiaten der dritthäufigste Anlass für eine ambulante Beratung oder Behandlung in Suchteinrichtungen. 2002 war Cannabiskonsum bei 30,5 % der wegen Drogenproblemen ambulant Behandelten der Anlass der Betreuung. Im stationären Bereich stellt sich die Situation deutlich anders dar. Dort ist der Anteil der hauptsächlich wegen Problemen mit Cannabis Behandelten bei lediglich 6,8 % im Jahr 2002. Auch im Bereich der Kriminalität spielt Cannabis eine große Rolle. Über die Hälfte aller Konsumdelikte wurden 2002 im Zusammenhang mit Cannabis begangen (Bericht des nationalen REITOX Knotenpunkt Deutschlands an die EBDD – Drogensituation 2002 vom 29.10.03). Der Preis im Straßenhandel, der 1984 bei einem Höchststand von etwa 9 Euro pro Gramm lag, betrug im Jahr 2000 6,40 Euro und ist seither annähernd stabil. Bezüglich der Cannabispreise liegt Deutschland im internationalen Vergleich im unteren Bereich. In Ländern wie Japan und Australien liegen die Preise deutlich höher (z. B. Japan 58,30 US-Dollar für ein Gramm der Hanfpflanze). Die Menge an sichergestelltem Cannabis (Hanf und Kraut) betrug im Jahr 2001 8942 kg, 2002 11133 kg. Allerdings können die Sicherstellungsmengen durch große Einzelbeschlagnahmungen deutlich schwanken. So wurden zum Beispiel 1994 und 1998 jeweils über
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20 000 kg Cannabis sichergestellt. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat in seiner letzten Untersuchung zur Drogenkriminalität darauf hingewiesen, dass die Sicherstellungsmengen bei Cannabis leicht zurückgegangen seien. Der größte Teil des geschmuggelten Cannabis werde über die Niederlande eingeführt, jedoch gebe es in Deutschland zunehmend mehr »Outdoor-Großplantagen« und »Indoor-Profianlagen«. Bei den Wirkstoffgehalten ist es in den letzten Jahren zu einer deutlichen Steigerung gekommen. Im Jahr 2002 wiesen 72 % der Drogen einen Gehalt von Tetrahydrocannabinol (THC) von 3 bis 12 % auf. 19 % der Stichproben hatten einen höheren Gehalt. In Einzelfällen wurden THC-Gehalte von über 20 % festgestellt, wobei der höchste Wert bei 39 % lag. Diese Angaben beziehen sich auf Cannabisharz. Der höchste Wirkstoffgehalt für Cannabiskraut wurde mit 40 % ermittelt. Laut W. Götz, Direktor der EU-Drogenbeobachtungsstelle (EBDD), liegt dies vor allem an Pflanzen aus dem heimischen Gewächshaus, dir durch spezielles Saatgut und durch gute Wachstumsbedingungen einen immer höheren Gehalt an THC haben.
Neurobiologie und Pharmakologie von Cannabis und dem endogenen Cannabinoid-System Die Gattung Cannabis zählt gemeinsam mit Humulus zur Familie der Cannabaceae. Bei dieser Gattung wird von mehreren Arten ausgegangen (Cannabis sativa, Cannabis indika u. a.). Synonyme für die Droge sind Begriffe wie Haschisch, Haschischkraut, Marihuana, Rauschhanf. Unter Marihuana werden in der Regel das als Cannabis herba beschriebene Cannabiskraut beziehunsgweise die Blätter verstanden. Haschisch ist überwiegend im Harz der Blütenstände der weiblichen und der männlichen Pflanze, daneben aber auch in Blüten und Blattspitzenanteilen enthalten. Haschisch aus Nepal und Afghanistan ist schwarz, das aus Pakistan ist dunkel, libanesisches ist rot oder auch grünlich und marokkanisches ist braun gefärbt. Neben Haschisch und Marihuana gibt es noch andere Zubereitungen (Haschischöl, Charas, Ganja und Bhang). Die Droge (Ganzdroge) besteht aus den getrockneten Zweigspit-
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zen weiblicher Pflanzen mit Blüten und/oder Früchten oder nur aus Blättern und Früchten. Sie besitzt einen würzigen Geruch und einen würzigen, schwach bitteren Geschmack. Bislang sind über 400 Inhaltsstoffe in Cannabis sativa charakterisiert worden, darunter 66 Cannabinoide (Elsohly 2001). Cannabinoide sind sehr lipophile 21C-Terpene. Die wichtigsten Inhaltsstoffe der Cannabispflanze sind nach derzeitigem Kenntnisstand Delta-9-Tetrahydrocannabinol (Delta-9-THC) und Cannabidiol. Während Delta-9-THC hauptsächlich für den Rauschzustand verantwortlich ist, hat Cannabidiol keine berauschende Wirkung. Nach tierexperimentellen Daten soll es jedoch antikonvulsiv, antipsychotisch und angstlösend wirksam sein. Cannabis wird in der Regel inhalativ (z. B. Zigarette, sog. Joint) oder oral (z. B. als Keks oder im Tee gelöst) konsumiert. Die Bioverfügbarkeit ist je nach Aufnahmemodus extrem variabel und soll zwischen 10 und 60 % liegen. In der Leber entstehen mehr als 20 Metabolite, der Hauptmetabolit von dem psychoaktiven Delta9-THC ist 11-OH-THC. Dieser Metabolit ist auch psychotrop. Die Eliminationshalbwertszeit aus dem Plasma liegt bei mehr als 7 Tagen. Der überwiegende Teil (65 %) der Metaboliten werden über den Darm eliminiert. Der Abbau soll bei chronischem Konsum doppelt so schnell erfolgen wie bei einmaligem Konsum. Die Absorbtion des psychoaktiven Delta-9-THC hat eine zweigipfelige Kinetik. Nach Inhalation (z. B. Joint) kommt es innerhalb weniger Minuten zu einer maximalen Konzentrationsspitze von Delta-9-THC im Plasma. Innerhalb der nächsten Stunde fällt dieser Plasma-Spiegel auf 10 % des Spitzenwertes ab. Grund dafür ist wahrscheinlich die starke Lipophilie. Delta-9-THC verteilt sich ins Fettgewebe und gelangt von dort wieder in das Plasma. Die Zeitkurve der Delta-9-Konzentration im Blut verläuft nicht parallel zur Zeitkurve der Rauschwirkung. Bei regelmäßiger Einnahme kommt es zur Kumulation insbesondere des Metaboliten THCCOOH, der nach Konsumende bei chronischem Konsum noch für Wochen im Urin nachweisbar ist. Delta-9-THC entfaltet seine Hauptwirkung im Gehirn, nach derzeitigem Kenntnisstand, über den so genannten Cannabinoid1-Rezeptor (CB1-Rezeptor) (Ameri 1999). Im Gegensatz zum Cannabinoid-2-Rezeptor (CB2-Rezeptor), der vor allem im Immun-
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system exprimiert wird, finden sich CB1-Rezeptoren überwiegend im zentralen Nervensystem (Ameri 1999). Auf den Neuronen im zentralen Nervensystem sind die CB1-Rezeptoren präsynaptisch lokalisiert. Durch Bindungsstudien mit WIN55, 212-2 und anderen an CB1-Rezeptor-Knock-out-Mäusen liegt der Verdacht nahe, dass es neben den bekannten Rezeptoren (CB1 und CB2) noch weitere Cannabinoid-Rezeptoren gibt (Breivogel et al. 2001). Sowohl die CB1- als auch die CB2-Rezeptoren sind durch Gi/oProteine negativ an Adenylatcyclase und positiv an mitogen-aktivierte Proteinkinase gekoppelt. Darüber hinaus sind CB1-Rezeptoren durch Gi/o-Proteine an Ionenkanäle gebunden (negativ an N und P/Q-Calciumkanäle und Kaliumkanäle des M-Typs sowie positiv an A-Kaliumkanäle und einwärts gerichtete Kaliumkanäle). Die CB1-Rezeptoren finden sich in besonders hoher Dichte im zentralen Nervensystem. Dort sind sie distinkt verteilt, mit einer sehr hohen Expression im Bereich des Cerebellums (Koordination von Bewegung, Balance, Haltung), des Hippocampus (u. a. wichtig für Gedächtnisprozesse) und der Basalganglien (Kontrolle der Bewegung). Innerhalb des Kortex befinden sich CB1-Rezeptoren insbesondere in frontalen und cingulären Anteilen auf pyramidalen und nichtpyramidalen Zellen der Laminae I bis VI. Die Molekularschicht des hippocampalen Gyrus dentatus repräsentiert eine sehr hohe Dichte an Rezeptoren. Darüber hinaus befinden sich Rezeptoren an den Dendriten von CA3-Pyramidenzellen sowie auf CA3-Interneuronen. Ebenfalls sehr hohe Rezeptorendichten finden sich im lateralen Putamen, Pallidum und in der Substantia nigra pars reticulata. Das mediale Putamen sowie der Nucleus caudatus zeigen dagegen eine nur mäßige Ausstattung mit Cannabinoid-Rezeptoren, die im Nucleus accumbens noch geringer ausfällt. Neben dieser sehr hohen Dichte im zentralen Nervensystem finden sich CB1-Rezeptoren auch in peripheren Organen und Geweben wie endokrinen Drüsen, Milz, Herz und Teilen des Reproduktions- und Gastrointestinalsystems. Die CB2-Rezeptoren werden insbesondere von Zellen des Immunsystems exprimiert (Leukozyten, Milz, Tonsillen etc.). Der humane CB1-Rezeptor
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weist eine 68-prozentige Homologie mit dem CB2-Rezeptor auf transmembranärer Ebene auf. Der Cannabinoid-Rezeptor gehört zu der Gruppe der Metabotropen-Rezeptoren. Die Bindung von Delta-9-THC aktiviert GProteine und bewirkt so eine Inhibition der Adenylatcyclase. An diese Inhibition sind verschiedene Effektorsysteme gebunden. So führt der Rückgang von zyklischen AMP zur Modulation spannungsabhängiger Kaliumkanäle und zu lang anhaltenden Veränderungen der Genexpression. Es konnte gezeigt werden, dass Cannabinoid-Rezeptor-Agonisten den spannungsabhängigen Kaliumstrom in kultivierten Hippocampusneuronen steigern. Insofern stehen die CB1-Rezeptoren des cannabinoiden Systems in einem antagonistischen Verhältnis zu den Beta-Rezeptoren des noradrenergen Systems, die ihrerseits eine Gi-Protein vermittelte Hemmung der langsamen Kaliumkanäle hippocampaler Pyramidenzellen bewirken. Im Ergebnis führt das zu einer negativen Kontrolle der aktivitätssteigernden modulativen Effekte der noradrenergen Afferenzen des Hippocampus durch das CannabinoidSystem. Eine wichtige Funktion des Cannabinoid-Systems scheint die Modulation verschiedener Aspekte der glutamatergen Transmission zu sein. So inhibieren CB1-Rezeptoren die synaptische Ausschüttung von Glutamat mittels des für die präsynaptische Inhibition typischen Weges der G-Protein-gekoppelten Inhibition spannungsabhängiger Calciumkanäle und Aktivierung von Kaliumkanälen. Auf diesem Weg reduzieren Cannabinoid-Rezeptoragonisten die synaptischen Potentiale der entorrhinalen Eingänge in die Molekularschicht des Gyrus dentatus und verhindern die Ausbildung der Langzeitpotenzierung (LTP) im Hippocampus. Die LTP ist ein wichtiger neurophysiologischer Prozess für die Gedächtnisbildung und könnte die Gedächtnisdefizite unter akutem Cannabiskonsum erklären. Auch Anandamid, ein »körpereigenes Cannabinoid«, gilt als endogener Messenger mit Bedeutung für Gedächtnisprozesse (Lichtman et al. 1995). Zudem ist Anandamid als potenter Inhibitor der Leitfähigkeit von gap-junctions in striatären Astrozyten bekannt. Gap-junctions dienen der Kommunikation zwischen Zellen und erlauben beispielsweise den Austausch kleiner
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Moleküle zwischen den Zellen. Die Ausschüttung von Glutamat bewirkt unter anderem einen Anstieg von Calcium in Astrozyten auf dem Weg solcher gap-junctions. Glutamaterg induzierte Calciumwellen durch Astrozyten stehen im Verdacht, vom Ort der eigentlichen Transmission entfernte Neuronen zu aktivieren. Das bedeutet, dass durch Regulation der Leitfähigkeit von gap-junctions das Cannabinoid-Systems diese Neuroglia-Interaktionen kontrollieren könnte. Damit käme dem Cannabinoid-System eine wichtige Rolle bei der Informationsweiterleitung zwischen entfernten Zellpopulationen zu. Darüber hinaus gibt es deutliche Hinweise für Interaktionen des Cannabinoid-Systems mit anderen Neurotransmittersystemen. Durch CB1-Rezeptorstimulation kann über den retrograden Signalweg die Freisetzung von Dopamin, Noradrenalin, Serotonin, GABA und Glutamat reduziert werden. Nach der Entdeckung der Cannabinoid-Rezeptoren Anfang der 1990er Jahre folgte 1992 der Nachweis der Existenz körpereigener Cannabinoid-Rezeptoragonisten (Di Marzo et al. 1998). Die wichtigsten Endocannabinoide (Affinität zu den Rezeptoren in Klammern) sind Anandamid (CB1>CB2), Palmitoylethanolamine (CB2?), (Noladinether, CB1>CB2), 2-Arachidonoylglycerol (CB1) und Virodhamine (CB2). Diese Endocannabinoide (ungesättigte Fettsäuren) entstammen dem Phospholipidstoffwechsel von Plasmamembranen und imitieren im Tierexperiment viele Wirkungen von Delta-9-THC (Ameri 1999). Endocannabinoide können offenbar als Neuromodulatoren oder Neurotransmitter wirksam werden und existieren in pmol/g-Konzentrationen im Zentralnervensystem. Sie werden durch Neurone synthetisiert, unterliegen einer depolarisationsinduzierten Freisetzung und werden rasch aus dem Extrazellularraum entfernt. Es gibt Hinweise darauf, dass Endocannabinoide als retrograde Messenger die Transmitterausschüttung an der Synapse hemmen und damit für eine Feineinstellung der Neurotransmission verantwortlich sind. Besonders gut beschrieben ist dies für glutamaterge Synapsen, zum Beispiel im Kleinhirn (Kreitzer et al. 2001) und GABAerge Synapsen, zum Beispiel im Hippocampus und im mesolimbisch-dopaminergen System (Ameri 1999).
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In einer Studie von Ralevic und Mitarbeitern (Ralevic et al. 2002) konnte gezeigt werden, dass Anandamide Vanilloid-Rezeptoren aktivieren können, die mit Cannabinoid-Rezeptoren auf sensorischen Nervenzellen koexprimiert werden. Diese Bindung führt zu Vasorelaxation und Hypotension. 2-Arachidonoylglycerol ist ein potenter Modulator des Gefäßtonus und kann Endothelin(ET1)-induzierte Vasokonstriktion vermindern. Somit ergeben sich Hinweise, dass Endocannabinoide auch in die Tonusregulation der Gefäße eingreifen. Der Vanilloid-Rezeptortyp-1 (VR1) scheint auch in die Regulation der Schmerzwahrnehmung eingebunden zu sein (Di Marzo et al. 2002). Es gibt Hinweise, dass Endocannabinoide unabhängig von der Aktivierung der VR1-Rezeptoren die Schmerzwahrnehmung beeinflussen können. Möglicherweise hat das Endocannabinoid-System eine wichtige Rolle in der Physiologie beziehungsweise Pathophysiologie der Modulation von Schmerzen (Pertwee 2001). In den peripheren Organen konnte im Uterus der höchste Spiegel von Anandamiden nachgewiesen werden. Es wird daher angenommen, dass Anandamide eine wichtige Rolle in der Fortpflanzung spielen. Dabei scheint die Implantation der Eizelle unter anderem durch Anandamide reguliert zu werden (Habayep et al. 2002). Eine weitere wichtige Funktion der Endocannabinoide liegt in der Modulation des Immunsystems. Endocannabinoide wirken sowohl immunsuppressiv als auch antiproliferativ und zytotoxisch (Parolaro et al. 2002). Cannabinoide führen zur Inhibition der TZell-Proliferation, der Freisetzung pro-inflammatorischer Zytokine und der humoralen B-Zell-Antwort. Endocannabinoide spielen auch eine sehr wichtige Rolle als neuroprotektive Substanzen. In mehreren Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Endocannabinoide sowohl in vitro als auch in vivo neuronale Zellschäden minimieren können. Dabei können exzitatorische Mechanismen über den CB1-Rezeptor reduziert werden. Endocannabinoide sind antioxidativ wirksam, reduzieren den glutamatinduzierten Calciumeinstrom in Zellen und können die Bildung des pro-inflammatorischen Zytokins TNF-alpha
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und andere zytotoxische Kaskaden blockieren (van der Stelt et al. 2002). In einer Studie von Mechoulam et al. (2002) konnte gezeigt werden, dass nach einem Schädelhirntrauma vermehrt Endocannabinoide freigesetzt werden. Die Gabe von Endocannabinoiden (Anandamid und 2-Arachidonoylglycerol) nach einem Schädelhirntrauma reduzierte deutlich die Hirnschäden (signifikante Reduktion des Hirnödems, verkleinertes Infarktvolumen, verringerte Anzahl zerstörter hippokampaler Zellen etc.). Durch Blockade der Anandamid abbauenden Enzyme konnte die Arbeitsgruppe um Kathuria et al. (2003) zeigen, dass die vermehrte Freisetzung von Anandamiden zur Anxiolyse und leichten Analgesie führt. Möglicherweise ergibt sich aus diesen bisherigen tierexperimentellen Daten ein neuer Ansatz in der Angsttherapie unabhängig von GABAergen Substanzen wie den Benzodiazepinen. In einer Übersichtsarbeit von Giuffrida und Piomelli (2000) wird ausführlich die Bedeutung des endogenen Cannabinoid-Systems und der Endocannabinoide im Hinblick auf ihre Funktion in der Kontrolle der Psychomotorik referiert. Danach sind Endocannabinoide insbesondere in die Kontrolle der Sensomotorik und in motivationale Aspekte der Motorik eingebunden. Zusammenfasssung: Endocannabinoide sind wahrscheinlich für die folgenden physiologischen Funktionen von Bedeutung (Fride 2002; Maccarrone u. Finazzi-Agro 2002): – Psychomotorik – Bewegungssteuerung – Schmerzwahrnehmung, – Lernen und Gedächtnis, – Immunsystem, – Regulation des Gefäßtonus, – Reproduktion, – Appetit/Nahrungsaufnahme, – Neuroprotektion. Daraus erklären sich auch die vielfältigen möglichen Anwendungsgebiete und der therapeutische Nutzen von exogen zugeführten Cannabinoiden, aber auch die möglichen unerwünschten Wirkungen finden hier eine Erklärung.
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Diagnostik Bei jugendlichen Cannabiskonsumenten ist eine differenzierte Sozialanamnese von besonderer Wichtigkeit. Dabei sind Informationen über soziales Netztwerk, Familie, Geschwister, Peergroup, Schulbildung, Ausbildung, frühere Verhaltensauffälligkeiten, Freizeitverhalten, Werte und Normen zu erheben. Spezifische körperliche Symptome, die auf einen akuten Cannabiskonsum hindeuten können, sind Rötungen der Konjunktiven, Hyposalivation, Tachykardie, Hypotension sowie Störungen der Feinmotorik. Bei chronischen Cannabiskonsumenten findet sich bei der körperlichen Untersuchung häufig eine Bronchitis (Taylor et al. 2002). Da sich bei Cannabisabhängigen oft eine komorbide psychische Störung findet, ist in der Anamnese der Jugendlichen auf andere psychische Beeinträchtigungen zu achten. Insbesondere diskrete kognitive Störungen, affektive Symptome, Angststörungen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, andere Abhängigkeiten sowie Zeichen einer Psychose. So konnte bei der Inanspruchnahmepopulation einer Cannabisambulanz bei 42 % der Patienten mindestens eine komorbide psychische Störung mittels SKID-Interview nachgewiesen werden (Hölscher et al. 2008). Bei Verdacht auf gelegentlichen oder regelmäßigem Cannabiskonsum sollte eine spezielle Suchtanamnese erhoben werden. Dabei sollten Informationen über das Einstiegsalter, die Konsumdauer, Intensität, Dosierung, Frequenz und soweit möglich Zusammensetzung der konsumierten Droge eingeholt werden. An Zusatzuntersuchungen sind insbesondere im Urin nach Cannabis und seinen Derivaten zu fahnden. Nach akutem und chronischen Cannabiskonsum können Delte-9-THC und seine Metabolite wie THC-COOH in der Regel über 2 bis zu 6 Wochen im Urin nachgewiesen werden. Der Nachweis von glucoroniertem THC und glucoroniertem 11-OH-THC im Urin spricht für einen regelmäßigen Konsum. In den Immuno-Essays (Drogen-Schnelltests) liegt üblicherweise der Cutoff-Wert für THC-OH bei 50 ng/ ml. In neuropsychologischen Leistungstests finden sich bei chronischen Cannabiskonsumenten häufig kognitive Defizite, deren Quantifizierung empfehlenswert ist.
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Intoxikation Cannabisprodukte (Haschisch, Marihuana, Cannabisharz etc.) werden in der Regel in selbstgedrehten Zigaretten, so genannten Joints, oder Pfeifen (Purpfeife, Wasserpfeife) geraucht. Unter Jugendlichen ist eine verbreitete Inhalationsform das so genannte »Eimer-Rauchen«. Nach Wied (2002) ist der »Eimer« die Antwort darauf, dass man Haschisch nicht spritzen kann. Die oralen Applikationen von Cannabis (Tee, Kekse etc.) sind weniger verbreitet als die inhalativen Formen. Wird Cannabis inhaliert, so tritt der Cannabisrausch innerhalb von wenigen Minuten auf. Nach oraler Aufnahme von Cannabinoiden tritt die Rauschwirkung in der Regel erst nach etwa 30 Minuten ein und kann in Einzelfällen mit bis zu mehreren Stunden Verzögerung einsetzen. Die Rauschwirkung ist von der Dosis, der Frequenz, der Applikationsform und der persönlichen Disposition des Konsumenten und dem situativen Kontext stark abhängig. Die folgenden Symptome können bei einem Cannabisrausch auftreten (Johns 2001): Euphorie (»High-Gefühl«), Entspannung und psychomotorische Verlangsamung, motorische Störungen, kognitive Störungen (insbesondere Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Reaktionszeiten betreffend), formale Denkstörungen (assoziative Lockerungen etc.), Wahrnehmungsstörungen (z. B. Synästhesien, verändertes Erleben von Raum und Zeit, Steigerung von Berührungsempfinden etc.), Depersonalisations- und Derealisationserleben, Übelkeit, Erbrechen, gesteigerter Appetit, Angst-Panik-Reaktionen bis hin zu Todesangst, situationsunangemessenes Witzeln, selten akute psychotische Reaktionen. In sehr hohen Dosen kann es auch zu einem toxischen Delirium mit Verwirrtheit, Amnesie und Halluzinationen kommen. Cannabisrauschzustände klingen in der Regel nach 3 bis 5 Stunden wieder ab. Kognitive Beeinträchtigungen können jedoch bis zu 48 Stunden nach der Intoxikation nachweisbar sein.
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Risikofaktoren für die Entwicklung eine Abhängigkeit Früheinsteiger (Konsumbeginn um das 13. Lebensjahr) stellen die Hochrisikogruppe derjenigen dar, die von einer langjährigen Schwerstabhängigkeit bedroht sind. Zu den weiteren Risikomerkmalen für die Entwicklung einer Abhängigkeit gehören: männliches Geschlecht, frühadoleszente Dissozialität, substanzmissbrauchende Peers, konfliktreiche Beziehungen zu den Eltern.
Entzugssyndrom Obwohl lange umstritten, gibt es in neueren Studien (Wiesbeck et al. 1996; Smith 2002; Bolla et al. 2008) Hinweise für das Vorliegen einer relevanten Entzugssymptomatik nach lang anhaltendem regelmäßigen Konsum. Etwa 12 Stunden nach dem letzten Konsum ist mit folgenden Symptomen für die Dauer von 1 bis 3 Wochen zu rechnen: vermehrtes Craving, Appetitminderung, Schlafstörungen, leichtes Schwitzen, Irritabilität, innere Unruhe, Angst, Dysphorie. In der Regel sind diese Symptome nicht so schwer ausgeprägt, dass sie eine stationäre Behandlung rechtfertigen.
Cannabis-Psychose Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass nach Konsum besonders hoher Mengen von Cannabis psychotische Zustände zu beobachten sind. Bereits 1933 beschrieb Stringaris die durch Haschisch induzierten psychotischen Störungsbilder. Die klinische Symptomatik der Cannabis induzierten Psychose ähnelt dabei dem Krankheitsbild einer schizophrenen Psychose mit zeitweise massiven Angstzuständen und wahnhaften Elementen, selten auch illusionären Verkennungen bis hin zu optischen Halluzinationen. Psychotische Zustandsbilder nach Cannabiskonsum sind vielfach beobachtet worden, wobei Schweregrad, Dauer und Häufigkeit der psychotischen Symptome von kulturellen und persönlichkeitsspezifischen Faktoren sowie von der Frequenz und Intensität des Cannabiskonsums abhängen (Seifert et al. 2002).
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Transiente psychotische Episode (Intoxikationspsychose): Unter diesem Krankheitsbild sollen psychotische Symptome eingeordnet werden, die nicht länger als 48 Stunden andauern. Eine neuere prospektive epidemiologische Erhebung aus Australien konnte zeigen, dass psychotische Symptome bei chronischen Cannabiskonsumenten bei etwa 1,2 % der untersuchten Personen zum Zeitpunkt der Stichprobe nachweisbar waren. Länger anhaltende assoziierte psychotische Episoden (Cannabis assoziierte Psychose): Um dieses Krankheitsbild zu diagnostizieren, muss die Symptomatik länger als 48 Stunden andauern und unmittelbar während oder innerhalb von zwei Wochen nach dem letzten Cannabisgebrauch auftreten. Im Sinne des VulnerabilitätsStress-Modells schizophrener Psychosen muss davon ausgegangen werden, dass akuter oder wesentlich häufiger und wahrscheinlicher chronischer Cannabiskonsum bei vulnerablen Personen im Sinne eines Stressors zu verstehen ist, der eine länger anhaltende Cannabis-assoziierte psychotische Episode mitbedingen kann. Diagnostisch ist bei diesen Störungen eine differenzierte zeitliche Erfassung des Substanzkonsums im Verhältnis zum prodromalen Symptomen einer schizophrenen Psychose und der aktuelle Nachweis von Delta-9-THC und seinen Metaboliten relevant, um eine genaue diagnostische Einschätzung und Differenzierung gegenüber anderen psychotischen Störungen zu ermöglichen. Nach einer aktuellen Übersichtsarbeit von Zammit et al. (2008) führt Cannabiskonsum bei Menschen mit Psychosen dazu, dass die Psychosen häufiger exazerbieren, es zu einer erhöhten Rehospitalisierungsrate kommt und die »Behandlungstreue« geringer ist.
Flashbacks (Nachhallpsychosen) Auch nach dem Konsum von Cannabis sind wie bei anderen Halluzinogenen so genannte Flashbacks beschrieben worden, die auch längere Zeit nach dem letztmaligen Konsum auftreten können (Täschner 1998). Die Auslösefaktoren für Flashbacks sind unklar. Diskutiert werden psychologische Faktoren wie emotionaler Stress oder so genannte Schlüsselreize. Eine sichere Aussage zur Prävalenz von Flashbacks nach Cannabiskonsum sind nicht mög-
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lich, da die Operationalisierung des Begriffs »Flashback« nur unzureichend ist.
Amotivationales Syndrom Das so genannte amotivationale Syndrom geht mit Lethargie, verflachtem Affekt, Passivität und mangelndem Interesse einher. Inwieweit dieses Syndrom ein Spezifikum für Cannabiskonsum ist, konnte bislang nicht eindeutig geklärt werden. Diskutiert werden auch chronische Intoxikationszustände, Defektzustände von Schizophrenen, Subsyndrome depressiver Erkrankungen oder Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, die gleichzeitig Cannabis konsumieren. Die komorbide Störung wäre dann Ursache des genannten Symptomkomplexes, der lediglich von dem Cannabiskonsum überdeckt würde. Von Bovasso (2001) wurden Überschneidungen zwischen der Negativ-Symptomatik schizophrener Störungen beziehungsweise anhedonen Symptome depressiver Störungen mit dem Symptomenkomplex des amotivationalen Syndroms beschrieben.
Kognitive Funktionen Durch eine Vielzahl von Studien konnte gezeigt werden, dass bei akutem Cannabiskonsum kognitive Funktionen, insbesondere Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsfunktionen, beeinträchtigt werden. Untersuchungen kognitiver Funktionen bei Cannabiskonsum werden dadurch erschwert, dass die Funktionseinschränkungen intra- und interindividuell sehr variabel sind. In der Regel sind die Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen nach akutem Cannabiskonsum binnen 48 Stunden abgeklungen. Das Maximum der Funktionseinschränkungen korreliert mit dem Maximum der Delta-9-THC-Plasmakonzentration. Bei chronischen Cannabiskonsumenten (mehr als 10-jähriger täglicher Konsum) finden sich in wissenschaftlichen Untersuchungen bis zu drei Wochen nach Absetzen des Cannabiskonsums noch eingeschränkte kognitive Funktionen. Unklar ist, ob diese
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Einschränkungen länger als drei Wochen nach dem Absetzen von Cannabis persistieren oder ob es zu einer restitutio ad integrum kommt (Solowji et al. 2002; Pope 2002). In einer klinischen Untersuchung von 99 Probanden mit Cannabiskonsum in der Vorgeschichte konnte gezeigt werden, dass früher Beginn (vor dem 16. Lebensjahr) mit einer Beeinträchtigung von Aufmerksamkeitsfunktionen einhergeht (Ehrenreich et al. 1999). Auch aus tierexperimentellen Studien ist bekannt, dass die Applikation von Cannabinoiden bei heranwachsenden Tieren zu kognitiven Beeinträchtigen führt, während die Gabe bei adulten Tieren keine messbaren Veränderungen zur Folge hatte (Schneider u. Koch 2003). In Bezug auf kognitive Beeinträchtigungen scheint somit neben der Frequenz und Intensität auch der Beginn des Cannabiskonsums von entscheidender Bedeutung zu sein.
Psychische Komorbidität Die psychische Komorbidität von Cannabisabhängigen ist als relativ hoch einzuschätzen (Wittchen et al. 2007). In den meisten Studien geht man von etwa 70 % aus, wobei die Mehrzahl an Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen leiden sollen. Daneben werden häufig Angsterkrankungen, Depressionen und seltener schizophrene Psychosen gefunden (Perkonigg et al. 1999; Hölscher 2008). Einzelne Autoren gehen davon aus, das Cannabiskonsum als dysfunktionales Coping zur Bewältigung unterschiedlicher komorbider Störungsbilder eingesetzt wird (Tossmann u. Gantner 1993). Demnach würden Jugendliche mit schweren Persönlichkeitsstörungen Cannabis zur besseren Affekt- und Impulsregulierung einsetzen. Ähnliches gilt für Jugendliche, die an einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom leiden (Murphy et al. 2002). Seit mehreren Jahrzehnten ist bekannt, dass die Prävalenz von Cannabiskonsum bei Schizophrenen etwa fünfmal höher ist als in der alterskontrollierten Normalpopulation. Das Risiko, eine Schizophrenie zu entwickeln, soll bis zu sechsmal höher sein, wenn über einen längeren Zeitraum häufig Cannabis konsumiert wurde
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(van Os et al. 2002). Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und dem Entstehen einer schizophrenen Psychose wird zunehmend von der Forschung bestätigt (Karwohl u. Rössler 2008; Arseneault et al. 2002). Im Sinne des VulnerabilitätsStress-Modells ist jedoch davon auszugehen, dass bei vulnerablen Menschen Cannabiskonsum zu einer Exazerbation der pschotischen Symptomatik führen kann und schizophrene Patienten, die Cannabis konsumieren, häufiger, früher und länger hospitalisiert werden als schizophrene Patienten, die kein Cannabis konsumieren. Möglicherweise wird auch hier Cannabis als dysfunktionales Coping eingesetzt, um die Negativsymptomatik zu vermindern, gleichzeitig in Kauf nehmend, dass die Positiv-Symptomatik vermehrt auftritt (Seifert et al. 2002).
Angsterkrankungen und affektive Störungen Häufig entwickeln sich bei unerfahrenen Cannabiskonsumenten Panikattacken und Angstzustände im Cannabisrausch. Ob regelmäßiger Cannabiskonsum signifikant häufiger mit depressiven Symptomen und Angsterkrankungen assoziiert ist, ist in der wissenschaftlichen Literatur derzeit noch umstritten. Prospektive longitudinale Studien über den Einfluss von Cannabis auf den Verlauf von uni- oder bipolaren affektiven Störungen oder Angsterkrankungen fehlen bisher.
Konsum anderer Drogen Nach epidemiologischen Arbeiten betreibt die überwiegende Mehrheit aller Cannabiskonsumenten einen gleichzeitigen Nikotinkonsum, aber keinen Konsum anderer illegaler Substanzen (Kraus u. Augustin 2001). Es konnte jedoch gezeigt werden, dass Cannabiskonsumenten in spezifischen Jugendszenen eine vergleichsweise hohe Prävalenz des Konsums von Alkohol, Ecstasy und anderen »Party-Drogen« aufweisen (Tossmann et al. 2001) und dass die Prävalenz des Konsums anderer illegaler Drogen mit der Frequenz des Cannabiskonsums steigt. In einer neuseelän-
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dischen Longitudinalstudie (Geburt bis 21. Lebensjahr) wies die Mehrzahl der Cannabiskonsumenten (63 %) keinen Konsum anderer illegaler Drogen auf, aber 99 % aller Konsumenten illegaler Drogen hatten auch Cannabis konsumiert. Dabei war ein hochfrequenter Cannabiskonsum mit dem Konsum anderer illegaler Drogen assoziiert (Fergusson u. Horwood 2000). In der Diskussion um die gesundheitlichen Risiken des Cannabiskonsums wird immer die Schrittmacherfunktion für den Beginn einer Drogenkarriere beziehungsweise für den Konsum »harter« Drogen angeführt. Bislang gibt es jedoch keine Longitudinalstudie, die den Einfluss von Kontext- und biologischen Variablen sicher ausschließen konnte. Es gibt eine Reihe von tierexperimentellen Daten, die zeigen, dass es eine Interaktion zwischen dem endogenen Opioidsystem und dem endogenen Cannabinoid-System gibt. So konnte bei CB1-Knock-out-Mäusen gezeigt werden, dass die positiven Verstärkereigenschaften von Morphin reduziert waren. Opiatabhängige Tiere, denen SR141617A, ein CB1-Rezeptor-Antagonist, appliziert wurde, wiesen Opiatentzugssymptome auf. Im Jahr 2003 wurde eine Zwillingsstudie publiziert, in der gezeigt werden konnte, dass Jugendliche, die bis zum Alter von 17 Jahren mit dem Konsum von Cannabis beginnen, ein um 2,1- bis 5,2-fach erhöhtes Risiko haben, von anderen Drogen beziehungsweise Alkohol abhängig zu werden. Problematisch an dieser Studie war jedoch, dass die Daten retrospektiv erhoben wurden und die Autoren letztendlich nicht ausschließen konnten, dass das erhöhte Risiko Peergroup-induziert war und nicht spezifisch durch Cannabis hervorgerufen wurde (Lynskey et al. 2003).
Somatische Komorbidität Bei chronisch inhalierenden Cannabiskonsumenten finden sich gehäuft chronische Bronchitiden, Karzinome im Respirationssystem und reversible Beeinträchtigungen der Spermiogenese. Inwieweit Cannabiskonsum bei Schwangeren fetale und embryonale Missbildungen induziert, ist unklar. Todesfälle durch reine Cannabis-Intoxikationen sind bis heute nicht bekannt (Johns 2001).
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Soziale Folgeschäden Zu den sozialen Folgeschäden der Cannabisabhängigkeit liegen nur wenige empirisch fundierte Kenntnis vor. Gelegentlicher Konsum von Cannabis zieht in der Regel keine sozialen Konsequenzen nach sich. Bei chronischem Konsum stellt sich die Situation anders dar. So zeigen mehrere Longitudinalstudien, dass ein anhaltend hohes Konsumniveau als signifikanter Prädiktor für schulische und spätere berufliche, finanzielle und familiäre Probleme einzuschätzen ist (Budney et al. 1999). Die Schwere der sozialen Folgeschäden scheint vor allem von der Schwere der psychischen Komorbidität abzuhängen, die wiederum mit dem Einstiegsalter und der Stärke des Cannabiskonsum sowie der Schwere der Abhängigkeit assoziiert ist.
Therapie Primäre Ziele einer Therapie sind zum einen die Behandlung beziehungsweise Vermeidung von Intoxikationen und schädlichem Gebrauch, die Überwindung der substanzspezifischen Abhängigkeit sowie die Identifizierung und Behandlung häufig vorliegender komorbider Störungen oder Folgeschäden. In den vergangenen Jahren konnten zunehmend mehr Präventionsprogramm in Deutschland etabliert werden. Mit unterschiedlichen Bausteinen wie Internetseiten, Elternratgebern, vielfältigen Angeboten in den Jugendszenen und speziellen Beratungsangeboten der lokalen Suchtberatungsstellen richten sich die Kampagnen an Jugendliche, Eltern und pädagogische Fachkräfte. Zusätzlich wurden an Kliniken spezielle Cannabisambulanzen aufgebaut (Hölscher et al. 2008). Bedauerlicherweise existieren für Patienten mit Cannabisassoziierten Störungen international nur wenig evaluierte Behandlungsprogramme (Copeland et al. 2001). Im deutschsprachigen Raum wurden allerdings in den letzten Jahren verschiedene regionale Angebote etabliert, evaluierte Therapiestudien fehlen aber bisher. Insbesondere scheint es erforderlich zu sein, individuelle Behandlungsprogramme für diejenigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu fordern, die früh mit dem Cannabiskonsum be-
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gonnen haben, eine größere psychiatrische Komorbidität, stärkere soziale Probleme und oft Behandlungsabbrüche haben (Dennis et al. 2002). Insbesondere scheinen kognitiv-verhaltenstherapeutische und motivationsfördernde Gruppeninterventionen sowie Social-support-Gruppen wirkungsvoll zu sein. Eine speziell mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen (unter 20 Jahren) durchgeführte Studie bestätigt die mit Erwachsenen gefundenen Ergebnisse (Dennis et al. 2002). Die Frequenz und Dauer der Gruppenintervention scheint das Outcome nicht sehr zu beeinflussen. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass solche Programme durch an Abstinenz gekoppelte Belohnungen weiter verbessert werden können. Cannabiskonsum scheint durch motivational interviewing schwerer beeinflussbar zu sein als Alkohol, Kokain oder Heroinkonsum (Baker et al. 2002). Pharmakologische Konzepte zur Rückfallprophylaxe existieren derzeit nicht. Möglicherweise spielt ein kürzlich entwickelter CB1-Rezeptor-Antagonist (SR141617A) eine Rolle als Pharmakon zur Rezidivprophylaxe. Übersichten über die Behandlungsstudien finden sich bei Zumdick et al. (2006) und Denis et al. (2006). Die alleinige Cannabisabhängigkeit wird in der Regel ambulant behandelt. Die Notwendigkeit einer stationären Behandlung richtet sich nach der Schwere des Entzugssyndroms, der Folgestörung, der Rückfallgefährdung, der ambulanten Therapieresistenz und der häufig vorkommenden komorbiden Störung. Insbesondere bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist jedoch eine stationäre Behandlung erwägenswert. Die qualifizierte stationäre Entgiftung im Sinne einer Frühintervention erscheint für diese Zielgruppe aufgrund der psychischen und sozialen Dimension der Suchterkrankung besonders geeignet. Allerdings liegen kontrollierte Studien dazu bisher noch nicht vor.
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Christoph Möller
Internetsucht / Computersucht bei Kindern und Jugendlichen1
»[…] ich heiße Sebastian, bin 17 Jahre alt und besuche ein Gymnasium, zumindest physisch, meine Gedanken schweifen meistens bei meinem Computerspiel World of Warcraft. Ich langweile mich in der Schule fast zu Tode, aber alleine der Gedanke an dieses Spiel erreicht in gewisser Weise eine Befriedigung […] Dafür wird man mit Ehrensystemen belohnt. Und natürlich durch Anerkennung anderer Spieler. Anerkennung, die mir im wirklichen Leben fehlt.« (www.onlinesucht.de) »Seit ich online bin hat sich mein Leben drastisch verändert, mein Tag verläuft nur noch so: Aufstehen, Rechner anschalten, Mails checken, Mails beantworten, Duschen, schnell was essen, Schule, dann wieder Rechner an, Hausaufgaben vorm Rechner machen, dabei ICQ chatten, danach Website verwalten, Chatten, Surfen […], bis spät in die Nacht. Vom Wochenende möchte ich erst gar nicht reden. Je mehr ich darüber nachdenke, wie das Netz und ganz besonders die Sucht mein Leben verändert hat, wünsche ich mir mein altes Leben zurück […] Meine sozialen Kontakte habe ich auf ein Minimum reduziert, dafür habe ich im Netz sehr viele Freunde. Im Chat ist es immer leichter sich zu unterhalten, man hat die Anonymität durch den Nicknamen und man kann sein wer man will. Im Grunde habe ich zwei Leben, mein Real Leben und mein Online Leben.« (www.onlinesucht.de)
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Mit freundlicher Genehmigung des Ecomedverlages. Erstveröffentlichung des Textes im Ecomedverlag in: Markus Backmund, Suchtmedizin. Internet- und Computersucht bei Kindern und Jugendlichen. 13. Ergänzungslieferung 10/2008, S. 1-22.
213 Jeder kennt sie: Kinder und Jugendliche, die stundenlang gebannt und regungslos vor ihrem Computer sitzen und in einer anderen Welt zu sein scheinen. Eltern und Lehrer, die sich Sorgen machen und keinen Zugang zu den virtuellen Welten ihrer Kinder finden. Pressemeldungen von Amokläufern und der Hinweis, dass der Täter im Vorfeld exzessiv sogenannte »Ego-Shooter« gespielt habe. In den Medien und der wissenschaftlichen Literatur wird diskutiert, ob immer mehr Kinder und Jugendliche »computer«- oder »internetsüchtig« seien. Doch liegen zu diesem Thema wenig solide Daten vor. Es fehlen einheitliche, und damit vergleichbare Diagnosekriterien und Behandlungsansätze. Vor dem Hintergrund der Computer-, Internet- und Mediennutzung unter Kindern und Jugendlichen soll die Thematik der Internet- und Computersucht dargestellt werden. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, ob die Internet- beziehungsweise Computersucht mit substanzabhängigen Süchten vergleichbar ist oder ob spezifische und neue Behandlungsansätze entwickelt werden müssen.
Internet- und Computerspiele Computer, Internet und das Handy gehören heute zur Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen. Computer- und Internetspiele erfreuen sich vor allem bei der jungen Generation großer Beliebtheit. Zu Weihnachten 2007 waren Computerspiele bei den männlichen Jugendlichen das häufigste Weihnachtsgeschenk. Computer, Internet und das Handy verändern die Kommunikation: Man ist immer erreichbar und der Austausch auch über weite Distanzen möglich. Die Jugendlichen haben Anteil an der globalen Vernetzung. Dies geschieht mit einer Selbstverständlichkeit, die vielen Eltern fremd ist. Haushalte in Deutschland, in denen ein Jugendlicher im Alter zwischen 12 und 19 Jahren lebt, haben mindestens ein Handy, 99 % haben mindestens einen Fernseher, 98 % mindestens einen Computer oder Laptop, 95 % einen Internetzugang und 63 % eine Spielkonsole. 63 % der Mädchen und 71 % der Jungen haben einen eigenen Fernseher, 61 % der Mädchen und 72 % der Jungen einen eigenen Computer, 41 % der Mädchen und 48 % der Jungen einen eigenen Internetzugang und 30 % der Mädchen und
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Christoph Möller
59 % der Jungen eine eigene Spielkonsole (JIM 2007). In Deutschland sind 56,9 % der Frauen und 68,9 % der Männer ab 14 Jahren Internetnutzer. In der Gruppe der 14- bis 29-Jährigen sind es 63 % der Frauen und 96 % der Männer. Die Gruppe der 14- bis 19-Jährigen verbringt mit dem Medium Internet beinahe gleich viel Zeit wie mit Fernsehen (102 Minuten Internet und 105 Minuten Fernsehen täglich; van Eimeren u. Frees 2007). Der Anteil der »Onliner« lag 2007 in der Gesamtbevölkerung bei 62,7 %, was 40,8 Millionen Erwachsenen ab 14 Jahren entspricht. Der Anteil der Frauen liegt bei 47 % und 27 % der Nutzer sind älter als 50 Jahre (Oehmichen u. Schröter 2007). In den nächsten Jahren wird das Internet die Straße erobern, indem es über das Handy abrufbar ist. Weil und Rosen (1997) prägten den Begriff »Technostress«. Wenn die Errungenschaften neuer Technologie nicht mehr nur zu Erleichterung und Vereinfachung führen, sondern die ständige Erreichbarkeit und Informationsflut nicht mehr bewältigt werden können und andere Bereiche des Lebens dadurch eingeschränkt werden, kann dies zu einer Überforderung (»Technostress«) führen.
Serious Games Die sogenannten Serious Games bilden die Schnittstelle zwischen Unterhaltungstechnologie und der Anwendung im institutionellen Bereich und dem Bildungssektor. In der Medizin, zur Gesundheitsaufklärung, in der Wirtschaft, in der Schule oder beim Militär wird computersimuliertes, spielerisches Vermitteln von Wissen oder der computergestützte Erwerb neuer Fähigkeiten bereits erfolgreich praktiziert. Es ist davon auszugehen, dass Computerspiele kognitive und bestimmte emotionale Kompetenzen fördern. Nach Vorderer und Bryant (2006) kann im Prinzip jedes Spiel das Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen, es sei nur unglaublich schwer, zu erreichen, dass sie wie gewünscht wirken. Wie die Spiele bei einzelnen Individuen wirken, sei schwer voraussagbar. Bei der Simulation und Wissensvermittlung werden die sogenannten Serious Games wohl an Bedeutung gewinnen. Wenn
215 man davon ausgeht, dass sie Fähigkeiten trainieren und Abläufe verinnerlicht werden, ist anzunehmen, dass dies auch bei Spielen mit gewalttätigem Inhalt geschieht.
Web 2.0 Mit dem Stichwort »Web 2.0« wird der Wandel vom reinen Konsumenten zum aktiven Mitgestalter des Internet beschrieben. Durch das Einstellen von Bildern, Musikdateien, Videos oder das Verfassen von Beiträgen (sogenannte Weblogs) können sich Jugendliche und Erwachsene aktiv in die Gestaltung des Web 2.0 einbringen. Das Onlinelexikon »Wikipedia« funktioniert zum Beispiel nach dem Prinzip des aktiven Mitgestaltens. Ein Viertel der jugendlichen Internetnutzer beteiligt sich regelmäßig aktiv am Web 2.0. Soziale Netzwerke wie »studiVZ«, »schülerVZ«, »Facebook«, »MySpace«, »Friendster« und andere dienen der Vernetzung und Kommunikation. Dabeisein ist in manchen Peergruppen wichtig, um den sozialen Anschluss nicht zu verlieren. So werden 58 % der im Internet verbrachten Zeit von Jugendlichen für Kommunikation genutzt, 23 % für Informationssuche und 18 % für Spiele, wobei der Spielanteil bei den Jungen deutlich höher ist und die Kommunikation bei den Mädchen überwiegt (JIM 2007). In der ARD/ ZDF-Onlinestudie geben 47 % aller Befragten an, das Internetlexikon Wikipedia zumindest gelegentlich abzurufen, 20 % nutzen es mindestens einmal wöchentlich. Die Gruppe der 14- bis 19-Jährigen ist mit 82 % die Hauptnutzergruppe. Private Netzwerke wie »MySpace« werden insgesamt von 15 % genutzt, der Anteil der 14bis 19-Jährigen beträgt 40 %. Videoportale wie »YouTube« werden insgesamt von 34 % aufgerufen, bei den 14- bis 19-Jährigen sind es 69 % (Gscheidle u. Fisch 2007). Bei den privaten sozialen Netzwerken legen die Benutzer eigene Profile an. Die Profile werden häufig mit eigenen Bildern oder Videos gestaltet. Bei der Preisgabe persönlicher Angaben überschauen aber gerade Kinder und manche Jugendliche nicht, wie wenig vertraulich im Internet mit persönlichen Daten umgegangen wird. Für ein Viertel der Jugendlichen hat das Internet eine hohe Glaubwürdigkeit und sie gehen davon aus, dass die Inhalte auf Richtigkeit überprüft wurden. 53 %
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wurden im Chat von Fremden nach Telefonnummer, Name oder Adresse gefragt, 15 % gaben die Daten weiter, 39 % verweigerten die Antwort (JIM 2007). In der ARD/ZDF-Onlinestudie gaben 84 % aller Befragten an, Angst vor Missbrauch und Weitergabe persönlicher Daten im Internet zu haben, bei den 14- bis 19-Jährigen waren es 71 %. Insgesamt 36 % haben selbst schon persönliche Daten im Internet weitergegeben, bei den 14- bis 19-Jährigen waren es 46 %. Die jüngeren Onliner sind sorgloser in der Weitergabe persönlicher Daten (Gscheidle u. Fisch 2007). Das Internet bietet Foren zum Austausch über unterschiedlichste Themen. Problematisch kann der Austausch zum Beispiel in »Suizidforen« sein. Die Anonymität des Internets kann dabei helfen, seine Konflikte zu formulieren. Bei ernsthaften Absichten, zum Beispiel in Bezug auf Suizid, erschwert gerade die Anonymität adäquate Hilfe (Eichenberg 2004).
Motive zur Nutzung des Internets Hauptnutzung des Internets ist die Informationsbeschaffung, gefolgt vom Spaßfaktor, vor allem in der Gruppe der Jugendlichen. Das Internet ist ein selbstverständlicher Bestandteil der Lebensrealität von Teenagern geworden. 60 % der 14- bis 19-Jährigen nutzen das Internet aus Gewohnheit, in der Gesamtgruppe der Befragten sind es nur 34 %. Zur Entspannung wird es in der Gruppe der Jugendlichen zu 42 % genutzt, während es in der Gesamtgruppe nur 24 % sind. Tabelle 1: Motive zur Nutzung des Internets 2007 Angaben in % (van Eimeren u. Frees, ARD/ZDF-Onlinestudie 2007). Gesamt 14–19 Jahre 20–29 Jahre weil ich mich dann nicht allein fühle
7
18
11
weil ich damit den Alltag vergessen möchte
7
17
10
weil ich dabei entspannen kann
24
42
29
damit ich mitreden kann
31
35
32
weil es aus Gewohnheit dazugehört
34
60
53
217 weil es mir hilft, mich im Alltag zurechtzufinden
36
48
43
weil ich Denkanstöße bekomme
49
39
56
weil es mir Spaß macht
72
90
81
weil ich mich informieren möchte
91
88
97
Belästigung von Kindern im Internet oder per Handy Das Internet eröffnet aber auch neue Formen und Verbreitungswege von Kriminalität, die insbesondere für Kinder problematisch sein können, wie die Verführung Minderjähriger in Chatrooms (das Gegenüber gibt sich zum Beispiel als Kind oder Jugendlicher aus), die Verbreitung von Kinderpornographie im World Wide Web oder das sogenannte »Happy Slapping«. Letzteres kann als »fröhliches Dreinschlagen« übersetzt werden und meint einen grundlosen Angriff auf eine Person, der mit einem Videohandy gefilmt und anschließend ins Internet gestellt wird. Jugendliche sind hier sowohl Opfer als auch Täter. 29 % der 12- bis 19-Jährigen geben an, mitbekommen zu haben, dass eine Schlägerei mit dem Handy gefilmt wurde (JIM 2007). In der KIM Studie (2006) geben 9 % der 6- bis 13-Jährigen an, schon einmal »seltsame oder unangenehme Sachen« auf ihr Handy geschickt bekommen zu haben. Bei den Mädchen waren es 11 % und bei den Jungen 7 %. Zumeist waren es Kaufangebote, gefolgt von sexuellen Angeboten. Häufig wurde auch die Aufforderungen genannt, 0190er Nummern anzurufen. Der Empfang von Gewaltbildern oder –videos wurde in der Gruppe der 6- bis 13-Jährigen nur selten benannt.
Internet und Schulleistung Mädchen nutzen das Internet überwiegend zur Kommunikation, Jungen gerne zum kampfbetonten Rollenspiel. Damit wird der für das Lernen positiv propagierte Effekt von Computern und Internet nicht von allen Jugendlichen genutzt. So wurden in Bayern 2003 die bis dahin an vielen Schulen an den Wochenenden durchgeführten LAN-Parties (Local Area Network, ein Zusam-
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menschluss privater Computer zum Spielen) verboten, weil die Schüler ihre Zeit und die mit öffentlichen Geldern angeschafften Computer dazu nutzten zu spielen und ein sinnvoller Unterricht nicht möglich war. Die Zeit, die bei exzessivem Computerspiel vor dem PC verbracht wird, fehlt für gemeinsame Unternehmungen mit Freunden und für schulische Aktivitäten, was sich negativ auf die Schulleistungen auswirkt (Cummings u. Vandewater 2007). Neuere Untersuchungen weisen darauf hin, dass häufiger Medienkonsum und der freie Zugriff auf Medien im Haushalt und im Kinderzimmer mit schlechteren Schulleistungen einhergehen (Spitzer 2005, Mössle et al. 2007, van Egmond-Fröhlich et al. 2007). In Neuseeland wurden unselektiert ca. 1000 Geburten eines Jahrganges in eine prospektive Studie aufgenommen. Diese wurden regelmäßig bis zum Alter von 26 Jahren untersucht. Es wurde unter anderem der Bildungsgrad im Alter von 26 Jahren und der Fernsehkonsum im Kindergartenalter verglichen. Das Ergebnis war, dass, je mehr TV im Kindergartenalter geschaut wurde, desto häufiger die Schule ohne Abschluss beendet wurde, desto geringer qualifiziert die Ausbildungen waren und desto weniger eine Universität besuchten (Hancox et al. 2005).
Die Internetplattform »Second Life« Millionen Menschen leben als »Avatare«, als jene Duplikate unserer selbst, in der virtuellen Welt, losgelöst von Zeit und Raum, mit frei wähl- und kaufbarem Geschlecht, Körpermaßen und unbegrenzten Fähigkeiten in der Welt des Second Life. (Avatara, Sanskrit, wörtlich: der Herabsteigende, bezeichnet im Hinduismus einen Gott, der die Gestalt eines Menschen oder Tieres annimmt.) Anfang 2007 bevölkerten mehr als 3,5 Millionen Avatare eine Fläche, die größer war als München. Das Bevölkerungswachstum betrug 600 %. Laut Betreiberfirma »Linden Lab« wurden täglich mehr als eine Million echte Dollar umgesetzt, die in die Währung »Lindendollar« umgetauscht werden können und im Netz als Zahlungsmittel gelten. Die Firma »Anshe Chung Studios« handelt mit Immobilien und Land in der virtuellen Welt und beschäftigt in der realen Welt mehr als 50 Mitarbeiter. Die Betreiberin ist die
219 erste Second-Life-Millionärin. Auch andere Firmen entdecken Second Life als große Werbe- und Verkaufsfläche und gründen Filialen, wie die Nachrichtenagentur Reuters, Adidas, Toyota oder der Avastar, eine Art »Bild-Zeitung« des Springer Verlages mit 7 Redakteuren in der realen Welt, die über die Ereignisse in der virtuellen Welt berichten. Anmelden kann man sich unter www. secondlife.com. Die Mitgliedschaft ist kostenlos, doch erst ein Premiumzugang für mindestens 6 US- Dollar im Monat ermöglicht die aktive Teilnahme. Dem »Doppelgänger«, einem Avatar, kann kostenpflichtig das gewünschte Aussehen verliehen werden. Die Avatare können laufen, fliegen oder per Mausklick in die gewünschte Erlebnisregion teleportiert werden. Gezahlt wird mit »Lindendollar«. Für einen US-Dollar erhält man rund 270 Lindendollar. Gekauft werden kann fast alles. Die Avatare besuchen Szene-, Party- oder Konsumwelten. Dort kann man einkaufen, sich kennen lernen, chatten oder »Sex« haben. Über die Tastatur werden Texte eingegeben, auch Sprache kann übermittelt werden (http://de.wikipedia.org/wiki/Second_Life 17.1.2008). Virtuelle Spielwiesen wie Second Life werden von deutschen Internetnutzern nur wenig aufgesucht. 3 % haben sie zumindest selten genutzt (in der Gruppe der 14- bis 19-Jährigen sind es 7 %) und 80 % davon haben einen eigenen Avatar erstellt. 28 % der 14- bis 19-Jährigen geben an, Interesse an solchen Angeboten zu haben (Gescheidle u. Fisch 2007). In der JIM-Studie (2007) geben 4 % an, die Parallelwelt im Internet schon einmal besucht zu haben. 38 % kennen die Plattform dem Namen nach.
Überlegungen zu Second Life Es ist anzunehmen, dass diese neue virtuelle Welt mit narzisstischen Selbstbildern bevölkert wird, die alle Grenzen unseres Seins überwinden und ewig jung, schön, potent und unsterblich sind. Was das reale Leben, die Natur versagt, hier kann es nicht nur phantasiert, sondern auch »gelebt« werden. Es ist eine komplett vom Menschen erfundene Welt. Wer teilnimmt, gestaltet diese Welt mit, kann »Gott spielen«, sich wie Prometheus fühlen. Möglicherweise scheinen hier Urbedürfnisse des Menschseins nach
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einer Befreiung aus der Begrenztheit des Daseins greifbar nahe. Second Life scheint wie ein unendlicher, globaler Maskenball, der alles ermöglicht, ohne erkannt und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Während in Literatur und Theater durch das innere Miterleben, durch das Phantasieren von Abläufen eine Katharsis vollzogen wird, kann man in Second Life real an solchen Simulationen teilnehmen und sie mitgestalten. Der innere Prozess wird in die scheinbar reale, virtuelle Welt verlagert.
Überlegungen zu Internet- und Computerspielen Im Internet- und Computerspiel herrschen klare Regeln und Vereinbarungen, die viel schärfer kontrolliert und geahndet werden, als die Spieler dies aus ihrem sozialen Alltag kennen. Hier kann man sich zugehörig fühlen, zu einer »stabilen sozialen Struktur«, mit einem geordneten, wenn auch kriegerischen Gemeinwesen. Spiele wie »World of Warcraft« fordern einen Zusammenschluss zu Gemeinschaften und »Gilden« sowie Austausch und Abstimmung, um erfolgreich zu sein. Im Extrem planen Einzelne ihre Freizeit um dieses Spiel herum. Wer nicht dabei ist und bleibt, lässt seine Gilde im Stich, verliert seine Kompetenzen und Anerkennung. Hier liegt das Suchtpotenzial dieser Spiele (Bergmann u. Hüther 2006). World of Warcraft ist ein »Massen-MultiplayerOnline-Rollenspiel«, das weltweit von mehr als 8,5 Millionen Accounts (Benutzerkonten) genutzt wird. Ein fünfzigjähriger und begeisterter World of Warcraft-Spieler berichtet, dass ein Mitspieler zu fortgeschrittener Stunde nach langem gemeinsamen Spiel mit dem Kommentar aussteigt, er müsse aufhören, weil seine Mutter komme. Auf die Nachfrage wie alt er denn sei, kommt die Antwort: 13 Jahre. Je personifizierter und realistischer die Darstellung von Computerspielen ist, desto höher ist die Identifikationsmöglichkeit. Die Faszination des Mediums Film wird hier noch übertroffen, indem der Spieler den Film gleichsam begehen und mitgestalten kann. Persönliches Engagement ist notwendig, wenn man aktiv den Part des »Tötenden« und »Folternden« übernimmt. Dies erklärt wohl auch, warum es beim aktiven Spielen zu einer stärkeren Desensi-
221 bilisierung und Reduktion der Empathiefähigkeit gegenüber Gewalt kommt, als beim passiven Betrachten entsprechender Filme (Spitzer 2005, Bergmann u. Hüther 2006). Jeder kann hier partizipieren und Erfolg haben. Das Bedürfnis, ein Held zu sein, den Tagtraum in der virtuellen Welt »Realität« werden zu lassen, wird hier bedient. Es ist eine Welt, die den Eltern meist verschlossen ist. Diese Welt ist eine der wenigen Lebensbereiche, in dem nahezu kein elterliches Reglement erfolgt, allenfalls eine zeitliche Begrenzung. Hier sind die Kinder und Jugendlichen Alleinentscheider und können ausprobieren, was ihnen in der Realität häufig untersagt ist. Am Computer ist es Kindern möglich, Gewalt zu kontrollieren. Vorstellbar ist, dass hier ein Bedürfnis nach Omnipotenz befriedigt wird, dass primitive Regungen, wie Mordlust, folgenlos ausgelebt werden können. Als Symbol der Konsequenzlosigkeit des Handelns in der virtuellen Welt könnte die Unsterblichkeit der Spielfigur stehen, die stellvertretend für die Person im Netz agiert. In der virtuellen Welt scheint man unsterblich zu sein, hat scheinbar grenzenlose Möglichkeiten, kann dem Körper entfliehen, fremde Identitäten annehmen und Schönheitsidealen gerecht werden, die in der Realität versagt sind. Die durch Medien vermittelte Vielfalt von Lebensmöglichkeiten können hier erprobt und vorübergehend gelebt werden. So können Internetnutzung und Computerspiele auch als eine Art »moderne Jugendkultur« (Feibel 2004) bezeichnet werden. Eine Welt, die vielen Erwachsenen verschlossen ist, in der der Jugendliche sich erproben und Grenzen überschreiten kann. Der Internetchat erzeugt Nähe und Vertrautheit über große Distanzen. Schnell erfolgt Austausch über Intimes. All dies geschieht im persönlichen Miteinander durch natürliche Scham, Hemmung und Distanz nicht in dieser Schnelligkeit. Der chattende Mensch hat kein reales Gegenüber, weiß nicht, ob der Andere das ist, was er vorgibt zu sein. Eine Überprüfung der Wahrnehmung ist nicht möglich. So erzeugt der Internetchat »eine Tiefe, die keine Nähe hat und umgekehrt« (Bergmann u. Hüther 2006, S. 15).
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Computersucht/Internetsucht Der Begriff »Internetsucht« wurde von dem New Yorker Psychiater Ivan Goldberg vor einigen Jahren eher scherzhaft erwähnt. Seit die New York Times 1995 das Thema Internetsucht aufgriff, mehren sich Untersuchungen und Diskussionen um diese Problematik (Eichenberg u. Ott 1999). Missbrauch und Abhängigkeit von psychotropen Substanzen stellen in Deutschland eine der größten Gruppe psychischer Störungen dar und sind empirisch gut beschrieben (Klein 2007, Thomasius et al. 2008). Das Störungsbild der Verhaltens- oder Tätigkeitssucht, das heißt nicht stoffgebundener Sucht, wie Arbeits-, Sammel-, Glücksspiel-, Computer-, Internetsucht und andere, hat bislang noch keinen Eingang in die internationalen Klassifikationssysteme psychischer Störungen ICD-10 und DSM-IV gefunden. Nur das pathologische (Glücks-)Spiel (F63.0) ist unter abnorme Gewohnheiten und Störung der Impulskontrolle aufgenommen worden (ICD-10 2008). Letztlich kann jedes menschliche Verhalten oder Interesse entgleisen und zur Sucht werden, wenn dieses exzessiv und weit über das Normalmaß hinaus ausgeführt wird und der Betroffene dadurch Schaden nimmt. Zur Beurteilung einer Computer- oder Internetsucht werden in der Regel an das exzessive Computerspiel und Internetnutzung angepasste Diagnosekriterien für Abhängigkeit (von Drogen) herangezogen. Einheitliche Diagnosekriterien fehlen. Thalemann et al. (2004) haben einen Fragebogen zum Computerspielverhalten bei Kindern (CSV-K) entwickelt, der bisher nur zu wissenschaftlichen Zwecken genutzt werden kann. Neben dem Computerspielverhalten und der mit Medien verbrachten Zeit sollte immer auch das soziale Umfeld, die Schule, die Freizeitbeschäftigung und der psychische Zustand des Kindes und Jugendlichen mit in die diagnostischen Überlegungen einbezogen werden. Bei exzessiver Computer- oder Internetnutzung steht das starke Verlangen zu spielen und eine eingeschränkte Kontrolle über das Verhalten im Vordergrund, ein Verlangen, das trotz negativer Konsequenzen fortgesetzt wird. Die Betroffenen zeigen in Bezug auf die psychische Symptomatik ähnliche Merkmale wie bei stoffgebundenem süchtigem Verhalten. Eine wichtige Rolle spielt sowohl bei substanzgebundener Sucht
223 als auch bei Verhaltenssucht das Bestreben, schnell und effektiv Gefühle im Zusammenhang mit Frustration, Ängsten oder Unsicherheiten regulieren oder verdrängen zu können. Es geht darum, das Leben erträglicher zu gestalten und eine Bewältigungsstrategie im Sinne eines Selbstregulations- oder Selbstheilungsversuches zu entwickeln (Young 2002, Grüsser u. Thalemann 2006, Möller 2007a). Unter dem Begriff »technological addiction« lassen sich das eher passive, exzessive Fernsehen und das eher aktive exzessive Computerspielen zusammenfassen. Letzteres kann in exzessives Chatten, Internetsurfen, Computerspielen, Onlinehandel, Cybersex und andere unterteilt werden. Nach Griffiths und Davies (2005) kann jede Verhaltensweise als Verhaltenssucht bezeichnet werden, welche die Hauptkriterien einer (Substanz-)Abhängigkeit erfüllt.
Merkmale und Kriterien einer Computerspiel- und Internetsucht – Einengung des Verhaltens: Computerspiel und Internet werden zur wichtigsten Aktivität und dominieren das Denken, Fühlen und Verhalten des Betroffenen. – Regulation negativer Gefühlszustände: Mit Hilfe der Medien wird das Leben vorübergehend angenehmer, unangenehme Gefühle treten in den Hintergrund und es stellt sich ein »Kick«, eine angenehme Erregung und Entspannung ein. Mediennutzung als inadäquate Stressbewältigung. – Toleranzentwicklung: Der gewünschte »Kick« kann nur durch längere und extreme Mediennutzung erzielt werden. – Entzugserscheinungen: Kann das Medium nicht genutzt werden, treten Unruhe, Nervosität, Aggressivität und vegetative Symptome auf. – Kontrollverlust: Der Medienkonsum kann vom Betroffenen zeitlich und inhaltlich nicht mehr kontrolliert werden. – Rückfall: Nach Zeiten der Abstinenz oder des kontrollierten Konsums kommt es erneut zu exzessivem, unkontrolliertem Konsum. – Anhaltender Konsum trotz schädlicher Folgen: Der Medienkon-
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sum hat negative Folgen für Schule, Ausbildung, Hobbies und Sozialkontakte. (in Anlehnung an: Grüsser u. Thalemann 2006)
Häufigkeit der Computerspielsucht und Internetsucht Es gibt bisher nur wenige Untersuchungen zur Verbreitung von Computerspiel- oder Internetsucht. Zu bedenken ist, dass es keine verbindlichen Kriterien für die Klassifikation eines exzessiven oder süchtigen Computerspielens gibt. So sind auch die Zahlen mit Vorsicht zu bewerten, da einheitliche Kriterien für die Diagnose Computerspielsucht und Internetsucht fehlen und damit die Vergleichbarkeit fraglich ist. In Deutschland geht man davon aus, dass 3,2 % der Internetnutzer als süchtig und 6,6 % als gefährdet klassifiziert werden können (van Egmond-Fröhlich et al. 2007). Bei einer Onlinebefragung von 7069 Computerspielnutzern erfüllten 11,9 % der Befragten die Kriterien einer Abhängigkeit bezüglich ihres Computerspielverhaltens (Grüsser et al. 2007). Bei einer Befragung von Schülern im Alter zwischen 11 und 14 Jahren zeigten 9,3 % exzessives Computerspielverhalten und wurden als gefährdet eingestuft (Grüsser et al. 2005). Wölfling et al. (2007) führten eine Fragebogenuntersuchung bei 221 Schülern zum exzessiven Computerspiel durch. 6,3 % der Teilnehmer, vor allem Jungen aus bildungsfernen Schichten, erfüllten die Kriterien einer Verhaltenssucht. Hahn und Jerusalem (2001) führten eine Onlinebefragung mit 7091 deutschen Befragungsteilnehmern aller Altersklassen durch. 3,2 % erfüllten das Kriterium der Internetsucht. Diese Gruppe verbrachte durchschnittlich 34,6 Stunden/Woche online im Internet. Weitere 6,6 % wurden als Risikogruppe eingestuft. Diese verbrachten durchschnittlich 28,6 Stunden/Woche online. Aus Südkorea werden extreme Einzelfälle berichtet: Das Computerspiel sei hier als Sportart anerkannt. Zwei Fernsehkanäle übertragen ausschließlich Computerspielwettkämpfe. Spitzenspieler verdienen im Jahr bis zu 260.000 Euro. Im Jahr 2005 sei es zu sieben Todesfällen aufgrund des Dauercomputerspielens gekommen (Grüsser u. Thalemann 2006).
225 Tabelle 2: Überblick der Ergebnisse aktueller nationaler und internationaler Studien zum Ausmaß der Medienabhängigkeit (Grüsser u. Wölfling, Internet/ Online- und Computerspielsucht, (http://www.onlinesucht.de, 23.1.2008) Autoren/Land
Jahr
Methodik / Stichprobe
süchtiges Verhalten
Risikoverhalten
Greenfield/USA
1999
Onlinebefragung, adaptierte DSM-IV-Kriterien pathologisches Glücksspiel / 18000 Internetnutzer
6%
4%
Anderson/USA
2001
Fragebogenuntersuchung zum Internetverhalten / 1078 Internet nutzende Studenten
9,8 %
Tsai u. Lin/Taiwan 2001
Fragebogenuntersuchung zur Internetsucht / 753 Jugendliche, Alter: 16–17 Jahre
11,9 %
Hahn u. Jerusalem/Deutschland
2001
standardisierte Onlinebefragung zur Internetsucht / 7091 deutsche erwachsene Internetnutzer
3,2 %
6,6 %
Jerusalem u. Eidenbenz/Schweiz
2001
standardisierte Onlinebefragung zur Internetsucht / 565 Schweizer Internetnutzer
2,3 %
6%
Johansson u. Götestam/Norwegen
2004
Fragebogenuntersuchung 2,7 % zur Internetsucht, repräsentative Stichprobenauswahl / 1463 Jugendliche, Alter: 12–18 Jahre
Griffiths et al./ Großbritannien
2004
Onlinebefragung, / 540 jugendliche (1) und erwachsene (2) Nutzer von Online-Rollenspielen
(1) 9,1 % (2) 2,5 %
Grüsser et al./ Deutschland
2005
Fragebogenuntersuchung zum exzessiven Computerspielverhalten / 321 Kinder, Alter: 11-14 Jahre
9,3 %
9,8 %
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Niemz et al./ Großbritannien
2005
Fragebogenuntersuchung, Skala zur pathologischen Internetnutzung / 371 Studenten
18,3 %
Grüsser et al./ Deutschland
2007
Onlinebefragung zur 11,9 % Computerspielsucht (adaptierte ICD-10-Kriterien der Substanzabhängigkeit) / 7069 erwachsene registrierte Nutzer Online-Spielmagazin
Wölfling et al./ Deutschland
2007
Fragebogenuntersuchung zum pathologischen Computerspielverhalten / 221 Jugendliche, Alter:13–16 Jahre
6.3 %
Kasuistik Exemplarisch soll eine Kasuistik aus der Praxis dargestellt werden. Die Eltern eines 16-jährigen männlichen Jugendlichen wenden sich Hilfe suchend an die Ambulanz. Ihr Sohn verschanze sich in seinem Zimmer, spiele stundenlang das Onlinespiel World of Warcraft. Die Eltern dürften sein Zimmer nicht betreten, zum gemeinsamen Essen erscheine ihr Sohn nur noch selten. Die leeren Teller stelle er vor die Tür. Die Schule besuche er nur noch missmutig, meistens unausgeschlafen, könne sich nicht konzentrieren und seine schulischen Leistungen seien im letzten Jahr schlechter geworden. An gemeinsamen Aktivitäten bestehe kein Interesse mehr und auch mit seinen Klassenkameraden sowie Jugendlichen aus der Nachbarschaft verabrede er sich nicht mehr. Die Eltern würden als weltfremd beschimpft und wenn sie den Internetzugang über den zentralen Verteiler kappten, sei es wiederholt zu massiven Gewaltandrohungen gekommen. Der Jugendliche selbst berichtet, dass er viele Freunde im Internet habe. Das Schuljahr sei wegen gefährdeter Versetzung ohnehin gelaufen, so dass er die Aufregung seiner Eltern bezüglich Schule nicht nachvollziehen könne. Wenn man ihm das Internet und World of Warcraft lasse,
227 sei er auch gesprächsbereit. Über das Internet aber wolle er nicht diskutieren. Interesse an realen Beziehungen und Mädchen wird verneint. Der Gedanke von seinen weltfremden Eltern wegzuziehen ist für den Jugendlichen keine Alternative. Zur Frequenz und Dauer seines Onlinespieles nennt er die tägliche Nutzung nach der Schule oft bis spät am Abend. So komme er an Wochentagen auf fünf bis acht Stunden, an Wochenenden oder in den Ferien können es auch bis zwölf Stunden täglich sein. Er sei ein sehr guter Spieler, habe viel Anerkennung von seinen Mitstreitern und beim Spiel fühle er sich ausgeglichen und zufrieden. In der weiteren Exploration wird deutlich, dass es der Jugendliche schon als Kind nicht leicht gehabt hat, Kontakte zu Gleichaltrigen aufzubauen. Seine beiden Freunde aus der Nachbarschaft habe er im letzten Jahr gänzlich vernachlässigt. Schon seit langem grüble er über den Sinn des Lebens nach. Er halte das Leben wie er es von und mit seinen Eltern kenne für sinnlos und habe schon überlegt, das eigene Leben zu beenden. Beeindruckt habe ihn R., der Attentäter im Erfurter Gutenberg-Gymnasium, der sich getraut habe »es der Welt zu zeigen«. Er selbst halte sich für derartige Aktionen zu feige. Neben der exzessiven Internet- und Computerspielnutzung wird eine depressive Grundstruktur erkennbar und eine ausgeprägte sozialphobische Komponente. Das als sinnlos erlebte Leben und die eigenen Unzugänglichkeiten werden in der Identifikation mit Personen wie R. in ein narzisstisches Größenselbst überhöht.
Komorbidität Bei Personen mit exzessiver Internet und Computernutzung finden sich gehäuft depressive Störungen. Te Wildt et al. (2007) fanden in einer Stichprobe von 23 Patienten mit einer Internetabhängigkeit bei 77,8 % eine depressive Diagnose. Sie empfehlen, bei Patienten mit Depression Fragen nach exzessiver Mediennutzung in die psychiatrische Diagnostik mit aufzunehmen. In einer Übersichtsarbeit von Bremer (2005) werden für depressive Störungen Häufigkeiten bis 70 % benannt und Angststörungen von 19 %. Kratzer und Hergerl (2007) fanden bei 50 % eine Angststörung.
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Andere Befunde sprechen dafür, dass sich bei exzessiver Mediennutzung gehäuft soziale Ängste, emotionale Einsamkeit und nicht zufriedenstellende soziale Beziehungen finden (Brian u. WiemerHastings 2005, Liu u. Kou 2007). Die mit exzessivem Computerspiel, Internet oder Fernsehen verbrachte Zeit steht für andere soziale Aktivitäten, wie sich mit Freunden treffen oder Zeit mit der Familie verbringen, nicht zur Verfügung. So kann übermäßiger Fernsehkonsum den Kontakt zu Klassenkameraden und damit die soziale Akzeptanz innerhalb der Klasse negativ beeinflussen. In den Medien wird ein unrealistisches Körperbild vermittelt – bei den weiblichen Models oft extrem schlank und bei den Männern sehr muskulös. Dies kann Unzufriedenheit in Bezug auf die eigene Körperlichkeit verstärken und die Jugendlichen in gestörtem Essverhalten oder übermäßigem Körperkult bestärken (van Egmond-Fröhlich et al. 2007). Es ist wahrscheinlich, dass exzessive Internet- und Computernutzung gehäuft in Verbindung mit anderen psychiatrischen Diagnosen auftritt, was bei der Exploration berücksichtigt werden sollte. Was Ursachen und was Auswirkungen exzessiven Computerspielens und Internetnutzung sind, ist noch nicht geklärt und bedarf weiterer Untersuchungen (Grüsser u. Thalemann 2006). Auf der körperlichen Seite werden muskuläre Verspannungen, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten, Schlafmangel (sowohl Quantität als auch Qualität des Schlafens werden beeinträchtigt, denn gespielt wird häufig in den Abend- und Nachtstunden), Erschöpfung, hastige und oft ungesunde Nahrungsaufnahme genannt. Die Untersuchungen zu Medienkonsum und Übergewicht beziehen sich meist auf den Zusammenhang von Fernsehen und Adipositas (Spitzer 2005, Grüsser u. Thalemann 2006, van Egmond-Fröhlich et al. 2007). Ob Gleiches auch für Computerspiel und Internetnutzung gilt, ist offen. Der Energieumsatz ist beim Spielen wahrscheinlich höher und die Hände sind nicht zum Essen frei wie beim Fernsehen. Bei exzessivem Computerspiel findet sich gehäuft ungesundes und hektisches Essverhalten, um Zeit für die Spiele zu gewinnen (Van den Bulck u. Eggermont 2006).
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Wer ist gefährdet? Jungen zeigen bei der Nutzung von Computern und Internet eine Vorliebe für Rollenspiele mit kampfbetonten Inhalten. Mädchen nutzen die neuen Medien stärker zur Kommunikation (Spitzer 2005). 44 % der 6- bis 13-Jährigen haben einen eigenen Fernseher auf dem Zimmer. 37 % der Mädchen und 49 % der Jungen besitzen eine tragbare Spielkonsole und ein Sechstel kann sich an den eigenen Computer setzen. 30 % der 6- bis 13-Jährigen beschäftigen sich fast täglich mit dem Computer, 54 % ein bis mehrmals die Woche und 16 % seltener. Die häufigste Tätigkeit am Computer in dieser Altersgruppe sind Computerspiele alleine oder mit Freunden (vor allem bei den Jungen) gefolgt von Arbeiten für die Schule und Lernprogrammen (vor allem von den Mädchen). Auf die Frage, wie lange sie an einem normalen Tag am Computer spielen, geben 31 % an bis zu 30 Minuten, 51 % 30–50 Minuten und 16 % mehr als 60 Minuten (KIM 2006). Kinder und Jugendliche machen sich diese Medien spielend zu eigen und entwickeln dabei vereinzelt erstaunliche Fähigkeiten, während manche Erwachsene sich diese mühsam erarbeiten müssen. Um negative Entwicklungen zu vermeiden sind gerade Kinder darauf angewiesen, von Erwachsenen im Umgang mit Medien begleitet und angelernt zu werden. Wenn der Umgang mit Medien in einer Umgebung stattfindet, die für die körperliche und seelische Gesundheit und Entwicklung der Kinder förderlich ist, sie in Bezug auf Medien begleitet werden und einen maßvollen Umgang erlernen, wird die psychosoziale Entwicklung durch Medien offenbar nicht negativ beeinflusst (Süss 2007). Matsuba (2006) untersuchte bei 203 Studenten, wie Internetnutzung und Dimensionen der persönlichen Zufriedenheit in Verbindung stehen. So wurde das Internet vermehrt bei Einsamkeit genutzt und wenn das Bild der eigenen Persönlichkeit noch nicht ausgereift war. Persönlichen Beziehungen wurde eine größere Bedeutung beigemessen als Onlinebeziehungen. Der Autor schlussfolgert, dass das Internet eine Bedeutung beim Entwickeln der eigenen Persönlichkeit haben könnte. Die Gefahr kann aber darin bestehen, sich bei entsprechender Grundproblematik im Internet und den virtuellen Welten zu verlieren. Man geht davon aus, dass sich bei den unter 18-Jährigen bei
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18–20 % psychische Auffälligkeiten finden, ca. die Hälfte davon ist behandlungsbedürftig (Barkmann u. Schulte-Markwort 2004). Laut einer Untersuchung des Robert-Koch-Institutes sind 15 % als übergewichtig einzustufen, wobei Kinder und Jugendliche aus niedrigen Statusgruppen deutlich häufiger betroffen sind (Kinder- und Jugendgesundheitssurvey 2006, Lampert u. Kurth 2007). Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien missbrauchen Medien besonders häufig, wodurch sich ihre Zukunftschancen weiter verschlechtern (van Egmond-Fröhlich et al. 2007). Bei vielen Menschen mit einer Internet- oder Computersucht finden sich komorbide Störungen wie Depressionen. Die Nutzung von Computern und Internet führen bei maßvollem Umgang für sich alleine nicht zu krankhaftem Verhalten. Es ist anzunehmen, dass, wenn eine entsprechende Veranlagung und ungünstige Bedingungen mit früher und exzessiver Mediennutzung zusammentreffen, sich ein einseitig überzeichnetes Verhalten mit Krankheitswert entwickeln kann. Wenn ein Kind oder Jugendlicher im Alltag wiederholt erlebt, dass er keinen Zugang zu Gleichaltrigen bekommt, er in der Schule ausgegrenzt wird, schulische Erfolge ausbleiben, er im Internetchat aber Zugang zu Gleichaltrigen findet, er in der Gilde der Mitstreiter beim Computerspielen Anerkennung bekommt und Erfolge aufweist, kann dies zu dem Wunsch nach »mehr davon« führen. Können Kinder die Anforderungen des Alltags, sei es von Seiten der Schule, der Eltern, oder von Gleichaltrigen nicht erfüllen, und stehen erwachsene Bezugspersonen nicht als Ansprechpartner und Gegenüber zur Verfügung, mag der Computer und das Internet einen »Ersatz« bieten, der Zeit hat, geheime Wünsche zumindest in der virtuellen Welt Wirklichkeit werden lässt und zu einer vorübergehenden Befriedigung und Wohlbefinden führt. Wenn diese Medien für Kinder und Jugendliche positiver besetzt sind als die reale Welt, wenn sie dort mehr Anerkennung, Bestätigung und Bedürfnisbefriedigung erfahren als in der realen Welt, besteht die Gefahr, sich in den virtuellen Welten zu verlieren. Bietet man Kindern alternative Angebote, so nimmt die mit Medien verbrachte Zeit ab. Bei einem Pilotprojekt wurde in einem von zwei Stadtteilen ein sicheres Spielplatzangebot eröffnet. Dies wurde von den Kindern gut angenommen und führte zu einer Re-
231 duzierung der mit Medien verbrachten Zeit (Farley et al. 2007). Auch Motl et al. (2006) gehen davon aus, dass es zu vermehrter körperlicher Aktivität kommt, je weniger Zeit mit Fernsehen und Computerspiel verbracht wird. Für die gesunde seelische Entwicklung ist es wünschenswert, dass Kinder und Jugendliche in ihren Familien Rückhalt, Unterstützung und Anerkennung erfahren, dass sie in ein soziales Netz eingebettet sind, in dem sie sich wertgeschätzt fühlen, und dass sie ein Ohr finden für ihre Bedürfnisse, Ängste und Nöte. Die salutogenetischen Dimensionen Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit sind sehr bedeutsam in der Ausbildung einer gefestigten und gesunden Persönlichkeit (Möller 2007). Wenn Kinder, vor allem in den ersten Lebensjahren, ohne sichere Bindungs- und Beziehungserfahrungen aufwachsen, den schulischen und gesellschaftlichen Anforderungen nicht genügen, keine Akzeptanz in der Gruppe der Gleichaltrigen erleben, ist es vorstellbar, dass die Welt der Computerspiele und des Internets ihnen Trost, Akzeptanz und Erfolg bieten. Diese virtuelle Welt, in der man all das sein und verwirklichen kann, was einem in der Begrenztheit der physischen Existenz versagt bleibt, aufzugeben zugunsten einer Welt, die kränkt, Defizite vor Augen führt und den Zugang zu einem akzeptierten sozialen Miteinander verweigert, ist verständlicherweise schwer oder nicht nachvollziehbar. So mag ein Jugendlicher es als erneuten Angriff und Verlust erleben, wenn Erwachsene ihm dies nehmen wollen. Dass Außenstehende sein Verhalten als problematisch oder süchtig erleben, ist für den Jugendlichen nicht verständlich, da er aus seiner Perspektive diese Realität als schöner, angenehmer und vorteilhafter erleben wird.
Gewalt und Medien Im April 1999 laufen zwei Jugendliche an der Columbine Highschool in Littleton USA Amok und töten 13 Menschen. Im November 1999 tötet ein 16-Jähriger in Bad Reichenhall einen Menschen mit einem Kopfschuss, verletzt vorbeifahrende Passanten, bis er sich selbst tötet. Im April 2002 erschießt ein Schüler im Gutenberg-Gymnasium in Erfurt 16 Menschen und sich selbst.
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Im November 2006 läuft ein Schüler in der Geschwister-SchollRealschule in Emsdetten Amok und tötet sich anschließend. Alle haben im Vorfeld exzessiv Computerspiele mit gewalttätigen Inhalten gespielt, vor allem die sogenannten »Ego-Shooter«, wie »Counter-Strike«, bei denen es darum geht, aus der Ich-Perspektive möglichst viele Gegner auf brutale Art zu töten. Diese und andere Fälle werfen die Frage auf nach einem Zusammenhang von medialer und realer Gewalt. Nach Schätzungen der American Medical Association hat ein Kind mit Abschluss der Grundschule bereits 8.000 Morde und >100.000 Gewalttaten im Fernsehen gesehen. Dreiviertel der Täter im Fernsehen kommen ungestraft davon, gut die Hälfte der Gewaltakte wurden ohne negative Konsequenzen dargestellt und nur in etwa 4 % der Fälle werden gewaltlose Alternativhandlungen aufgezeigt. Auch in Deutschland werden im Fernsehen pro Stunde im Durchschnitt vier schwerste Gewaltverbrechen wie Mord, und fünf schwere Gewalttaten wie körperliche Gewalt, gezeigt. Das meistgenutzte »Kinderprogramm« ist das Erwachsenenprogramm. In Deutschland sitzen um 22 Uhr noch ca. 800.000 Kinder im Kindergartenalter vor dem Fernseher. Dies ist besonders gefährlich, weil Kinder erst um das achte Lebensjahr wirklich zwischen Realität und Phantasie unterscheiden lernen. Aggression wird in den Medien oft belohnt und positiv dargestellt. Die wiederholte Darstellung von Gewalt gegenüber Menschen entstellt die Würde des Menschen und hinterlässt Spuren in der kindlichen Psyche. Nachdem das Fernsehens in den USA seit den 1950er Jahren für viele Haushalte verfügbar war wurde in den folgenden 10 bis 15 Jahren eine Verdoppelung der Tötungsdelikte beobachtet (Spitzer 2005). In der KFN-Schülerbefragung von 2005 gab jeder zweite 10-jährige Junge an, über Erfahrung mit Spielen zu verfügen, die ab 16 oder 18 eingestuft sind. Jeder fünfte der 10-Jährigen nutze diese Spiele aktuell. Bei den 14-/15-jährigen Jungen hatten 82 % Erfahrung mit Spielen, die keine Jugendfreigabe hatten. Ein Drittel gab an, diese Spiele regelmäßig zu spielen. Bezüglich der Schulleistungen ist nicht nur die mit Computerspielen verbrachte Zeit zu berücksichtigen, sondern je brutaler die Inhalte, desto schlechter fallen die Schulleistungen aus. Ob Schüler mit schlechten Schulleistungen und problematischem Hintergrund beson-
233 ders häufig zu Spielen mit gewalttätigem Inhalt greifen ist offen (Höynck et al. 2007). Es gibt Hinweise, dass die negative psychogene Auswirkung von Computerspielen auf Kinder und Jugendliche stärker ist als die problematischen Einflüsse des Fernsehens. Gewalttätiges Verhalten wird im virtuellen Raum bei den Ego-Shootern aus der IchPerspektive aktiv trainiert und eingeübt. Der Spieler ist hoch konzentriert und unterliegt selbst der virtuellen Gefahr. Empathie mit dem Opfer hindert den Spielverlauf. Das »Töten« wird im Spiel belohnt. Die ständige Wiederholung von Spielsequenzen zum Erreichen des nächsten Levels stellt eine hocheffiziente Lernsituation dar, in der neben der Perfektionierung des »mörderischen Handwerks« in dramatischer Weise eine Abstumpfung gegenüber Gewalt in der virtuellen aber auch in der realen Welt vonstatten geht. Empathie und Mitgefühl gegenüber anderen Menschen in schmerzhaften Lebenslagen nehmen ab. Die Ego-Shooter-Perspektive zwingt zur Identifikation mit der aggressiven Spielfigur. Gewalttätiges Handeln wird durch Fortkommen oder »Weiterentwicklung« in der virtuellen Welt belohnt. Dafür gibt es aus der Neurowissenschaft dringende Hinweise auf ein neurophysiologisches Korrelat: Das dopaminerge System im zentralen Nervensystem wird beim Ausführen von Gewaltspielen aktiviert, ähnlich wie dies beim Konsum von Drogen bekannt ist. Durch längerfristiges und permanentes Computerspielen kommt es zu einem »gebrauchsabhängigen Umbau des Gehirns, zum aktiven Einüben, Modelllernen, sowie zum emotionalen und sozialen Lernen von Gewalt« (Spitzer 2005, S. 241). Die amerikanische Armee wirbt mit dem Shooter-Spiel »America’s Army« junge Männer an. Gute Ergebnisse im Spiel ermöglichen einen raschen militärischen Aufstieg. Da kein Pixelblut dargestellt wird, ist das Spiel in den USA ab 13 Jahren freigegeben. In der Armee werden Computerspiele gezielt zur Desensibilisierung von Gewalt eingesetzt. Dies bleibt bei minderjährigen Nutzern nicht folgenlos (Spitzer 2005). Zahlreiche Studien belegen einen kausalen, aber nicht monokausalen Zusammenhang zwischen medialer und realer Gewalt (siehe hierzu Grossmann u. DeGaetano 2003, Pfeiffer 2004, Spitzer 2005, Browne u. Hamilton-Giachritsis 2005, Huesmann 2007). Bushman und Huesmann (2006) gehen
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davon aus, dass der kurzfristige Effekt von medialer Gewalt auf Verhalten, Einstellung und Gefühlslage bei den Erwachsenen stärker ist als bei den Kindern, während der längerfristige Effekt bei den Kindern stärker ausgeprägt ist. Bei Erwachsenen treffen die medialen Inhalte auf bereits länger ausgereifte Einstellungen, die gegebenenfalls verstärkt oder bekräftigt werden. Bei Kindern dagegen prägt die wiederholte Konfrontation mit medialer Gewalt die Haltung und Einstellung zum interpersonellen Verhalten längerfristig entscheidend mit. Neben dem exzessiven Konsum von Computerspielen mit gewalttätigem Inhalt finden sich bei jugendlichen Amokläufern häufig wenig familiärer Rückhalt, kaum soziale Bindungen, Kränkungen und Demütigungen, sowie depressive Grundstrukturen (te Wildt u. Emrich 2007). Der durch die mediale Berichterstattung von Schulamokläufen erweckte Eindruck, die Täter würden immer jünger, konnte in einer Untersuchung von Adler et al. (2006) in einem Dekadenvergleich nicht objektiviert werden. Psychiatrische Erkrankungen wie Psychosen, Wahnerkrankungen, Depressionen und Persönlichkeitsstörungen ließen sich bei 50 % der untersuchten Fälle sichern. Dem Amoklauf geht in der Regel eine lange Vorgeschichte von Fehlanpassungen voraus (Adler 2006). Die exzessive Nutzung von Computerspielen mit gewalttätigem Inhalt wird als alleinige Ursache vermutlich niemanden zum Amokläufer machen.
Medien und unsere Wahrnehmung der Welt Das Medien Tenor Institut für Medienanalyse in Bonn schreibt in dem Bericht Nr. 143: »Die Themenstruktur der Berichterstattung über Kinder und Jugendliche verdeutlicht, dass Kriminalität an vorderster Stelle steht. Gewalt, Mord und sexueller Missbrauch werden in diesem Zusammenhang am häufigsten genannt. Familien- und Bildungspolitik werden von der Sensation krimineller Aktivitäten in den Hintergrund gedrängt. Die stärkere Konzentration der Medien auf straffällig gewordene Kinder und Jugendliche beeinflusst die öffentliche Wahrnehmung. Das Bild vom Kind als Täter dominiert« (zitiert nach Feibel 2004, S. 28). Ein solch nega-
235 tives, von Erwachsenen gezeichnetes Bild beeinflusst den Umgang mit und die Haltung gegenüber Kindern und Jugendlichen. Die Medien prägen unsere inneren Bilder der äußeren Realität. Offen ist, ob der Medienkonsum alleine unser Bild beeinflusst oder ob bei einer entsprechenden Einstellung bestimmte Sendungen und Sender vermehrt frequentiert werden, die unsere Weltsicht bestätigen. Viele Menschen nehmen subjektiv eine Zunahme von Gewaltdelikten an, obwohl auf Grundlage polizeilicher Kriminalstatistik ein Rückgang der Kriminalität in wesentlichen Bereichen zu vermerken ist (Windzio et al. 2007).
Auswirkungen auf das sich entwickelnde Gehirn Das Zentrale Nervensystem zeichnet sich durch eine hohe nutzungsabhängige Plastizität und Modulationsfähigkeit aus. Die Ausdifferenzierung des Gehirns hängt davon ab, wie und wofür es genutzt wird. In den ersten Lebensjahren bildet sich ein großes Angebot von Nervenzellverbindungen, von denen dauerhaft nur erhalten bleibt, was wiederholt genutzt wird (Hüther 2006, Hüther 2006a). Bei Jugendlichen Handybenutzern, die regelmäßig SMS verschicken, findet sich eine Vergrößerung des Areals, welches die Daumensteuerung repräsentiert, wie bei einem Klavierspieler die Handrepräsentanz. Verbringt ein Kind oder Jugendlicher täglich viele Stunden vor dem Fernseher oder Computer werden einige wenige, vor allem visuelle Verknüpfungsmuster mit den damit verbundenen Emotionen, Vorstellungen, Erwartungen und Bewertungen gefestigt und trainiert. Diese Kinder haben eine enorme visuell-assoziative Kompetenz, die mit zum Erfolg der Computerspiele beiträgt (Spitzer 2005, Bergmann u. Hüther 2006). Aus den Neurowissenschaften wissen wir, dass bei »befriedigenden«, Glück hervorrufenden Tätigkeiten im Gehirn ein harmonisiertes, synchronisiertes Erregungsmuster gebildet wird und es zur Ausschüttung sogenannter Botenstoffe, wie Dopamin, kommt. Dopamin ist unter anderem mit verantwortlich für das sich einstellende Glücksgefühl und wirkt neuroplastisch. Bei wiederholter Ausführung dieser mit Glücksgefühlen assoziierten Handlungen kommt es zu einer effizienten Bahnung, Verknüpfung und Festi-
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gung der dabei beteiligten Nervenzellverbindungen (Bergmann u. Hüther 2006). Wenn ein Kind oder Jugendlicher das Gefühl des »Mit-sich-selbst-eins-Seins« nur mit Hilfe von Mediennutzung im weitesten Sinne herstellen kann, besteht die Gefahr, dass er immer wieder darauf zurückgreift und süchtiges Verhalten entwickelt (Möller 2007a). Ähnlich scheint es auch bei exzessiver Nutzung von Computerspielen, Internet, Chatten und anderer übermäßiger Mediennutzung zu sein (Bergmann u. Hüther 2006). Koepp et al. (1998) zeigten in einer Untersuchung mittels Positronenemissionstomographie, dass es beim Spielen eines Gewaltvideospiels zu einer so starken Dopaminfreisetzung kommt, wie man dies bisher nur durch Psychostimulantien hervorrufen konnte. In einer Untersuchung mit elektroenzephalographischer Aufzeichnung konnten Thaleman et al. (2007) zeigen, dass exzessive Computerspieler im Vergleich zu Gelegenheitsspielern eine signifikant stärkere emotional-motivationale Reaktion auf computerspielassoziierte Reize zeigen. Dies liefere deutliche Hinweise, dass es sich bei exzessivem Computerspiel um eine Verhaltenssucht handele, der ähnliche Mechanismen zugrunde liegen wie bei anderen Abhängigkeiten wie von Alkohol oder Cannabis. Mathiak und Weber (2006) untersuchten 13 Computerspiel erfahrene Personen zwischen 18 und 26 Jahren, die im Durchschnitt 14 Stunden in der Woche spielten. Untersucht wurden diese Personen im funktionellen Magnetresonanztomographen (fMRT), während sie ein Ego-Shooter-Spiel spielten. Die Autoren beschreiben ein Erregungsmuster, welches wahrscheinlich mit aggressiven Gedanken und Emotionen zusammenhängt. Es wird nicht untersucht, ob die während des Computerspiels beobachtbaren Erregungsmuster auch Gewalt im realen Leben hervorrufen können. Vielmehr wird die virtuelle Realität eines Ego-Shooter-Spiels als Möglichkeit gesehen, die Gehirnaktivität während dieser halbrealistischen Tätigkeit des Computerspiels zu beobachten. Kubey und Csikszentmihalyi (2002) beschreiben, dass im EEG während des Fernsehens deutlich weiniger Aktivität nachweisbar ist (es finden sich vor allem Alpha-Wellen), als wenn die Probanden lesen. Die beim Fernsehen empfunden Entspannung endet, wenn der Bildschirm ausgeschaltet wird. Ein Gefühl der Passivität und verminderter Aufmerksamkeit bleibt. Sich nach dem Fernsehen zu
237 konzentrieren sei schwieriger als vorher und die Stimmung sei die gleiche oder schlechter. Vor dem Computer kann Handlungsplanung erlernt werden. Man kann lernen, die Auswirkungen des eigenen Handelns abzuschätzen und Frustrationen auszuhalten. Inwieweit die in der virtuellen Welt erworbenen Fähigkeiten im realen Leben zur Problemlösung nutzbar sind, ist jedoch fraglich (Bergmann u. Hüther 2006).
Überlegungen zur virtuellen Realität Für eine gesunde seelische Entwicklung sind verlässliche Erfahrungen von Raum, Zeit, basale Körpererfahrungen und das SichErleben in der Begegnung mit einem zugewandten, verlässlichen Gegenüber wichtige Grunderfahrungen (Bowlby 2008). Der Erwerb der Sprache hat etwas mit Selbstfindung, mit Begreifen- und Benennenkönnen zu tun. In einem persönlichen Gespräch klingt die biographische Erfahrung gleichsam als Resonanz mit an und verleiht der Begegnung Tiefe und Bedeutsamkeit (Bergmann u. Hüther 2006). Letztlich entwickeln wir uns in der Begegnung und Auseinandersetzung mit einem Gegenüber, werden »am Du zum Ich« (Martin Buber). Diese sichere Basis ist gleichzeitig die beste Prävention. Die virtuelle Welt enthebt den Menschen diesem basalen Erleben von Raum, Zeit und Begegnung. Es eröffnen sich unbegrenzte Möglichkeiten, die jedoch keine Repräsentanzen in der realen Welt finden. Der Raum scheint unendlich. Mit einem Mausklick kann man sich in Sekunden schnell und schwerelos von einem Ort zum anderen bewegen. Der gleichzeitige Zugriff auf verschiedene »Universen«, ja die gleichzeitige Anwesenheit unterschiedlicher virtueller Stellvertreter ist möglich. Gleiches gilt für das Zeiterleben. Enorme Schnelligkeit und das Gleichzeitigkeitsprinzip prägen diese Welt. Die Jetztzeit scheint im Spiel das Entscheidende. Je mehr man sich fernab von seinen Alltagserfahrungen verliert und in der virtuellen Welt aufgeht, desto erfolgreicher wird man im Spiel. Dies kann zu einem gesteigerten Selbstgefühl führen, bei gleichzeitiger Selbstvergessenheit, gleichsam ein dem Körper
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enthobenes, transzendentes Selbsterleben, bei weitgehendem Ausschalten des Körpererlebens (Reduktion auf das visuelle Wahrnehmungssystem). Die Sprache im Netz ist einerseits hoch komplex, schnell und funktional, reduziert auf die Vermittlung von Informationen, entbehrt aber andererseits der Tiefe und Wertigkeit, wie sie in der persönlichen Begegnung mitschwingt. Mancher Jugendliche sitzt bewegungslos und selbstvergessen vor seinem Computer. Jugendliche berichten, dort im intensiven Kontakt mit ihren Freunden zu stehen, sich zugehörig zu fühlen. Und doch sitzen sie einsam zu Hause vor ihrem Computer. In der virtuellen Welt kann man sich ein Stellvertreter-Ich erschaffen, jenseits der Mühen, Kränkungen, Beschränktheiten des Alltags. Narzisstisch, hybrid übersteigert agiert dieses Stellvertreter-Ich jenseits von Zeit und Raum, ist den Beschränkungen des Alltags enthoben, ewig jung und allseits potent. Dieser Zustand der Befreiung von der Begrenztheit des Seins mag den Sog und Reiz dieser Spiele und der virtuellen Welt nachvollziehbar machen. Hier liegt aber auch die Gefahr: Wird das Leben vorwiegend als beengend, enttäuschend, kränkend oder bedrohlich erlebt, kann die virtuelle Parallelwelt als eine bessere Welt erscheinen, nach der ein starkes Verlangen entsteht. Die meisten Jugendlichen wissen zwischen realer und virtueller Welt zu unterscheiden. Mancher Jugendliche wird aber einer inneren Zerreißprobe ausgesetzt sein: Die im sozialen Alltag, in Familie und Schule vermittelten Werte mögen ihm grau und bedeutungslos erscheinen angesichts der grenzenlosen Möglichkeiten der virtuellen Parallelwelt. Verbringen Kinder und Jugendliche viele Stunden täglich in der virtuellen Welt, so sind dies, wie bei jeder anderen Tätigkeit auch, prägende Erfahrungen für die seelische Reifung, aber auch die Gehirnentwicklung. »Wer in den Strudel der virtuellen Welt eintaucht, bekommt ein Gehirn, das zwar für ein virtuelles Leben optimal angepasst ist, mit dem man sich aber im realen Leben nicht mehr zurechtfindet« (Bergmann u. Hüther 2006, S. 12).
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Behandlungsansätze Bei der Behandlung stehen wir, wie bei der Diagnostik und dem Erheben vergleichbarer Zahlen, vor der Schwierigkeit, dass es keine einheitlichen Diagnosekriterien gibt. Man orientiert sich an den Kriterien der Verhaltenssucht und der Abhängigkeit von Substanzen. Ob therapeutische Ansätze, die sich in der Behandlung Substanz missbrauchender Kinder und Jugendlicher bewährt haben, auch auf die Behandlung nicht Stoff gebundener Süchte übertragbar sind, oder ob ganz neue Ansätze entwickelt werden müssen, wird der therapeutische Alltag und die Wissenschaft zeigen. Bei Personen, die eine exzessive Mediennutzung aufweisen, finden sich gehäuft komorbide psychische Störungen wie Depressionen, Ängste und Schwierigkeiten, in Kontakt mit anderen Menschen zu treten. Manch einer dieser Personen wird die Computertechnologie gewinnbringend für sich einsetzen, um die Einsamkeit und Versagensängste nicht mehr spüren zu müssen, sondern vorübergehend Zugehörigkeit und Erfolg zu erleben. In diesen Fällen ist es hilfreich, auch die Grundproblematik in den Fokus der Behandlung zu nehmen, um auf das Medium im Sinne einer Copingstrategie längerfristig verzichten zu können. Die Schwierigkeit bei Computer und Internet ist, dass Abstinenz in unserer Berufs- und Ausbildungswelt vielfach nicht denkbar ist, so dass ein kontrollierter und selbstgesteuerter Umgang erlernt werden muss. Alternative Freizeitgestaltung und Affektregulationsmechanismen müssen im Rahmen einer Therapie erarbeitet werden. Eltern, Lehrer und andere wichtige Bezugspersonen sollten in den therapeutischen Prozess mit einbezogen werden. Wenn das Computerspiel und das Internet den Alltag derart beherrschen, dass Schule, Familienleben und Freundschaften keinen Stellenwert mehr haben und auf Versuche einer Einschränkung der Zeiten nur noch mit Aggression und Rückzug reagiert wird, muss auch eine stationäre Therapie in Erwägung gezogen werden. Da Computer und Internet integrierter Bestandteil unseres Lebens sind, mag es im Einzellfall länger dauern, bis das Verhalten als krankhaft überzeichnet erkannt wird und Hilfsangebote aufgesucht werden.
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Ausblick Moderne Medien, Computer und das Internet sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Sie eröffnen vielfältige Möglichkeiten, stellen aber auch neue Anforderungen und Herausforderungen an die Gesellschaft und jeden Einzelnen. Die Erwachsenenwelt und alle Verantwortlichen in Politik, Schule, Elternhaus, Wissenschaft und Therapie müssen sich auch mit der Problematik einer drohenden »Medienverwahrlosung« (Pfeiffer 2004) auseinandersetzen. Die Politik kann sich ihrer Verantwortung in der Regelung des Umgangs mit Medien, besonders mit Gewalt verherrlichenden Spielen, nicht entziehen. Nicht der Lobbyismus, sondern Studienergebnisse und der gesunde Menschenverstand sollten hier zielführend sein. Die Wissenschaft ist aufgefordert, die Zusammenhänge von zum Beispiel Gewalt und Medienkonsum weiter zu untersuchen und klar Stellung zu beziehen (Spitzer 2005). In der Schule ist neben verantwortungsvoller Medienerziehung das Aufzeigen von Alternativen und das Wecken von Begeisterung für alternative Freizeitbeschäftigungen wünschenswert. Kinder und Jugendliche bedürfen einer ganzheitlichen Förderung: körperlich, seelisch und intellektuell. Der maßvolle Umgang mit Computern und Medien kann hier ein Baustein sein, aber nur neben anderen. Auch Jugendliche brauchen das Interesse und die Zuwendung ihrer Eltern. Mit einem zugewandten Gegenüber können sie sich auseinandersetzen, daran wachsen. Hier erfahren sie aber auch Halt und Orientierung. Denn die Adoleszenz ist eine Lebensspanne der Um- und Neuorientierung, die Freiheit und Begleitung gleichermaßen benötigt, auch im Umgang mit Medien. Zum Abschluss sei ein persönlicher Ausblick erlaubt. Die britische New Economics Foundation (2006) sagt, dass in Vanuatu, einem Südseeinselstaat, die glücklichsten Menschen leben. In dem von Wirbelstürmen und Erdbeben gebeutelten Entwicklungsland leben 200.000 Menschen. Das Pro-Kopf-Einkommen im Jahr beträgt nicht einmal 3000 US-Dollar und die Lebenserwartung liegt bei 68,8 Jahren. Rund 80 % der Inselbewohner außerhalb der Städte leben autark. Sie fischen für den Eigenbedarf und kultivieren ihre Gärten. Die Familien sind groß, man unterstützt sich
241 gegenseitig. In vielen Dörfern gibt es kein elektrisches Licht, keinen Fernseher und kein Internet. Deutschland liegt in dem Happy Planet Index auf Platz 81 von 178 Staaten. Dies soll kein Plädoyer für historische Naturromantik sein. Es macht aber deutlich, dass unser Glück nicht allein an der Technik hängt, wie es uns die Lobbyisten der Industrie vermitteln. Kinder brauchen basale und umfassende Sinneserfahrungen, stabile und verlässliche Beziehungserfahrungen und ein Gegenüber, das Grenzen setzt und an dem sie sich orientieren, reiben und entwickeln können. Der Mensch ist von Natur aus auf Kooperation und Resonanz angelegt. »Das beste für den Menschen ist der Mensch« (Bauer 2007). Gesättigt und gestärkt mit derart grundlegenden Erfahrungen werden Kinder und Jugendliche sich selbstbestimmend mit den Medien auseinandersetzen können.
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Die Autorinnen und Autoren
Lutz Ulrich Besser, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie, ist Gründer und Ausbildungsleiter des Zentrums für Psychotraumatologie und Traumatherapie Niedersachsen (ZPTN) in Isernhagen bei Hannover. Dr. Birger Dulz ist Oberarzt in der IV. Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nord/Ochsenzoll in Hamburg. Dr. med. Nima Forouher ist Oberarzt an der Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Zentrum für Psychosoziale Medizin im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Prof. Dr. Dr. Dr. hc. mult. Heinz Häfner war Leiter der Arbeitsgruppe Schizophrenieforschung am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Gerald Hüther leitet die Abteilung für Neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und die Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim Heidelberg. Dr. med. Christoph Möller ist Oberarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Kinderkrankenhaus auf der Bult und Leiter der Therapiestation Teen Spirit Island. Prof. Dr. Wolfgang Poser, Arzt für Psychiatrie, Pharmakologie und
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Die Autorinnen und Autoren
Toxikologie – Klinische Pharmakologie, war Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Göttingen. Prof. Dr. Udo Schneider ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Krankenhauses Lubbecke. Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort ist Direktor an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Priv.-Doz. Dr. med. Annette Streeck-Fischer ist Chefärztin der Abteilung Klinische Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Tiefenbrunn mit Lehrauftrag an der Universität Göttingen. Prof. Dr. Rainer Thomasius ist Leiter Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kinder- und Jugendalter, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Dr. med. Amelie Welge ist Ärztin in der IV. Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nord/Ochsenzoll in Hamburg.