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German Pages 359 [362] Year 2015
Gabriela Lendle
Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität Zu Roberto Gerhards quixotischem Code
Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 76 Franz Steiner Verlag
Gabriela Lendle Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
Bei hef te zu m A rc h iv f ü r Mu si k w i s sen sc ha f t herausgegeben von Albrecht Riethmüller in Verbindung mit Ludwig Finscher, Frank Hentschel, Hans-Joachim Hinrichsen, Birgit Lodes, Anne Shreffler und Wolfram Steinbeck Band 76
Gabriela Lendle
Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität Zu Roberto Gerhards quixotischem Code
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11065-5 (Print) ISBN 978-3-515-11070-9 (E-Book)
VORWORT Der Impuls für die vorliegende Arbeit ging wesentlich vom Einblick in Anstreichungen und Markierungen hervor, die der Komponist Roberto Gerhard in seinen Exemplaren der Essays und Schriften des spanischen Philosophen und Don Quixote-Kenners Miguel de Unamuno (1864–1936) vorgenommen hatte. Diese Anstreichungen des Komponisten waren aufschlussreich für seine Aneignung lebensphilosophischen Gedankenguts und öffneten mir die Augen für Gerhards Fähigkeit, die Philosophie des Quixotismo für den Bereich der Musik fruchtbar zu machen. Die erkenntnistheoretische Symbolik, die Unamuno den Figuren aus Miguel de Cervantes’ Roman Don Quijote de la Mancha zuschrieb, wurde nicht nur inhaltlich relevant für die Gestaltung des von Gerhard verfassten Szenarios zu seinem Ballett Don Quixote (1940/41, 1949/50) und das darin zentrale Konzept einer doppelten Ansicht von Realität; sie wurde auch bedeutsam für die kompositionstechnischen Mittel, anhand derer Gerhard die Romanfiguren in seinem Ballett musikalisch charakterisiert. Dies betrifft vor allem die Figur des Don Quixote, dessen innere, von Phantasmen bevölkerte Vorstellungswelt musikalisch durch eine (scheinbar zwölftönige, jedoch geringerzahlige) Zwölftonreihe dargestellt wird. In seiner Verwendung der Zwölftonmethode gibt sich Gerhard als ehemaliger Schüler von Arnold Schönberg zu erkennen, der er von 1923–1928 gewesen ist. Gerhards Adaptierung der von Schönberg in spezifischer Weise entwickelten Zwölftonmethode vollzog sich nicht ohne Zweifel und innere Widerstände. Der folgenreiche Schritt, in der ersten Dekade im Exil auf die Zwölftonmethode zuzugreifen, war für Gerhards weiteres Schaffen jedoch entscheidend, denn ab 1949 wendete er sich anhaltend jener Kompositionsmethode zu. Dass sich Gerhards eigene geistige Grundlegung der Zwölftonmethode wesentlich im Zusammenhang mit seiner Arbeit am Don Quixote-Ballett ausformte, und Gerhards Handhabung der Zwölftonmethode untrennbar mit der erkenntnistheoretischen Problematik der Erschließung als präexistent angenommener Tonbeziehungen (mit Schönberg: „dem Wesen des Tons“) verbunden ist, dies soll in der vorliegenden Arbeit behauptet werden. Das spezifische Handlungsmuster, in dem Don Quixotes Abenteuer zustande kommen, führte methodisch vor Augen, wie die nicht mit Gewissheit zu beantwortende Frage nach der Existenz solcher Tonbeziehungen angegangen werden kann. Denn wirkend und handelnd, wie Don Quixote in seinen Abenteuern die von ihm visionär geschaute ‚höhere Realität‘ in Existenz bringt, konnte nur ein kompositorisches ‚In-ExistenzBringen‘ präexistierender Tonbeziehungen den Glauben an diese verifizieren (und nicht eine theoretische Beweislieferung). Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 5 (Musikwissenschaft und Musikpädagogik) der Hochschule für Musik und Tanz Köln als Dissertation angenommen und für den Druck überarbeitet. Ihre Entstehung wäre nicht möglich gewesen ohne Einsicht in unveröffentlichtes Archivmaterial aus dem Gerhard-Nachlass. Ei-
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Vorwort
nen Besuch des Gerhard-Archivs der Universitätsbibliothek in Cambridge ermöglichte dabei die finanzielle Förderung eines Kurzzeitstipendiums des DAAD. Ich danke den Mitarbeitern des Lesesaals und dem Leiter der Musikabteilung, Herrn Richard Andrewes für die geduldige Unterstützung, mit der sie mir Einsicht in die Manuskripte gewährten. Ich danke Dr. Rosemary Summers, der Eigentümerin des in Cambridge gelagerten Nachlasses, für die Erlaubnis Kopien einiger Manuskripte zu erhalten und für ihre herzliche Gesprächsbereitschaft, mit der sie persönliche Erinnerungen an das nach Cambridge exilierte Ehepaar Roberto und Leopoldine (Poldi) Gerhard lebendig werden ließ. Bei der Sichtung des Nachlasses am Institut d’Estudis Vallencs in Gerhards Geburtsort Valls (Spanien/Katalonien) war mir Frau Olga Ger bei allen meinen Anliegen in großzügiger Weise behilflich. Ich danke weiter dem Archiv der Berliner Akademie der Künste für die Möglichkeit der Einsicht in Dokumente, die mit Gerhards Lehrzeit in Schönbergs Meisterklasse an der Preußischen Akademie der Künste verbunden sind. Herr Dr. Frank Harders-Wuthenow (Boosey & Hawkes) hat den Prozess meiner Arbeit von Anfang an mit warmem Interesse und Anregungen begleitet und mir Partituren sämtlicher Werke Roberto Gerhards in unkomplizierter Weise zur Verfügung gestellt. Den Mitarbeitern des Iberoamerikanischen Instituts Berlin sei dafür gedankt, dass sie mir eine Fülle der erhältlichen Tonträger der Kompositionen Gerhards zur Verfügung stellten. Zu danken habe ich weiter Franziska Kollinger M.A., deren umsichtige und aufmerksame Korrekturen den Prozess der Umarbeitung enorm erleichtert haben. Entscheidend für das Zustande- und Fortkommen dieser Arbeit war meine Doktormutter, Frau Prof. Dr. Annette Kreutziger-Herr (Köln). Ihr wertvoller, konstruktiver Rat und ihre Unterstützung war in allen Stadien meines Dissertationsprojekts eine unerschütterliche Konstante. Ihr Vorbild hat meine Auffassung vom wissenschaftlichen Denken und vom Sitz der Wissenschaft im Leben geprägt. Frau Prof. Dr. Annegret Huber (Wien) verdanke ich die Zweitbetreuung und -begutachtung meiner Arbeit und vielfältige Anregungen hinsichtlich musikanalytischer Praktiken. Herrn Prof. Dr. Albrecht Riethmüller danke ich für die Aufnahme meiner Dissertation in die Reihe der Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft. Meinen Eltern bin ich für die großzügige Unterstützung meines Dissertationsprojekts und ihren Beistand zu größtem Dank verpflichtet. Markus und Leonard haben mich zeitweilig kaum anders erlebt, als gedanklich vertieft in Lektüre und Arbeit. Ich bin ihnen dankbar für unzählige Momente gemeinsam getragener Anstrengung, für Hilfe und Verständnis.
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort .................................................................................................................. 5 Abkürzungen ........................................................................................................... 9 Einleitung .............................................................................................................. 11 I.
Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität in Roberto Gerhards Ballett Don Quixote............................................... 34 I.1 Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität ........................................ 34 I.2 Zwölftontechnik als ars combinatoria: Der kombinatorische Möglichkeitsraum und die ‚höhere Realität‘ Don Quixotes ................... 55 I.2.1 Ohne Perspektive sieht man nichts – die Disposition der Don Quixote-Reihe ........................................................................... 71 I.3 Der methodische, ‚quixotische‘ Charakter der Zwölftontechnik............ 78 I.3.1 Erkenntnistheoretische Voraussetzungen in Schönbergs Harmonielehre: Das Risiko der Verkehrung: Tonalität als Idee und „Notbehelf“ ............ 82 I.3.2 „Leben“, und Tonalität als „Denkmethode“ und Handwerk bei Schönberg ......................................................................................... 90 I.3.3 ‚Rationale‘ und metaphysische Aspekte in Gerhards Tonalitätsreflexion 94 I.3.4 Die Tonalitätsreflexion als konzeptuelle Voraussetzung der Zwölftonmethode: Skala und Reihe als Apriori ............................. 106 I.3.4.1 Beziehungen zwischen Tönen, oder: Tonalität ohne Tonika? ............... 120 I.3.5 Natur als ‚Notwendigkeit‘ .................................................................... 132 I.4 Das Wollen als Grundlage des Realitäts- und des Tonalitätszugangs ... 148 I.4.1 Komplementäre Harmonik, Leittönigkeit: Die Don Quixote-Reihe im Kontext einer dynamistischen Vorstellung vom ‚Ton‘ .................... 162 I.4.2 Der ‚quixotische Code‘: Wollen und Methode als Aspekte von Don Quixotes Wahn .............................................................................. 170 Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett ............................................................................. 176 II.1 Unamunos Lebensphilosophie und Quixotismo ................................... 176 II.1.1 Der Antrieb des Glaubens und die glaubend erzeugten Objekte Don Quixotes ........................................................................................ 183 II.1.2 ‚Leben‘, Wollen und das Beharrungsvermögen von Wissen ................ 186 II.1.2.1 Unamunos Kritik am Intellektualisten und an der Ideenherrschaft (ideocracia)........................................................................................... 193 II.2 Ideewerdung: Unamunos pragmatischer Wahrheitsbegriff................... 198 II.2.1 Die Ideensetzung................................................................................... 198 II.2.2 Don Quixotes Abenteuer: Der pragmatische Wahrheitsbegriff ............ 202 II.
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Inhaltsverzeichnis
II.2.3 II.2.4 II.2.5 II.3 II.3.1 II.3.2 II.4 II.4.1 II.4.2 II.4.3
Rocinante: Das Festhalten am Ideal und der Realitätskontakt ............. 206 Scheitern als Sieg .................................................................................. 209 Dulcinea ................................................................................................ 211 Doppelte Realität .................................................................................. 213 Der Angriff auf die Windmühlen: Unamunos Zivilisationskritik ......... 213 Doppelte Realität und Quixotisierung .................................................. 220 Don Quixote als Chiffre für Spanien .................................................... 223 Don Quixotes Tod und das Leben als Traum ........................................ 223 Der Autor als ‚Sprachrohr‘ des Volksgeistes ........................................ 230 Das Goldene Zeitalter als soziale Utopie.............................................. 234
III. III.1 III.2 III.2.1 III.2.2
Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote .......................................... 248 Zur Entstehung des Balletts .................................................................. 248 Die Realitätsebenen in musikalischer Umsetzung ................................ 256 Die realistische Sphäre I: Der Kastilien-Topos und der intelectual...... 264 Die realistische Sphäre II: Der chacona-Tanz und der Kollektivmensch des pueblo ........................................................... 271 Don Quixotes Visionen ......................................................................... 277 Vision oder Wahrnehmungstäuschung? Der Einsatz der reiheneigenen Tonhöhendoppelungen zur Kombination ähnlicher Reihenformen ..... 277 Die Vision von Dulcineas einleitendem ‚Durchkreuzen‘ der Satzdimensionen ............................................................................. 283 Heroische locura im Interlude II: Das Phänomen der vertikalen Rotation.......................................................................... 288 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee ..... 294 Der Tod Don Quixotes .......................................................................... 294 Don Quixotes Leiden und Heroismus: Die Töne e und f...................... 307 Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter: Der Pastoral-Topos und die Utopie einer unmittelbaren ‚Schau‘ von Tonalität ................... 320 Der „Epilogue“: Schäfertum als Utopie................................................ 327 Allgemeines zur symmetrischen Gliederung des Tonraums ................. 330 (Des-)Illusion: Die Montesinos-Episode in Gerhards Ballett ............... 332 Die Tanzliedgattung der chacona als musikalischer Bestandteil der „tradición eterna“ im Sinne Unamunos .......................................... 336
III.3 III.3.1 III.3.2 III.3.3 III.4 III.4.1 III.4.2 III.5 III.5.1 III.5.2 III.6 III.6.1
Literaturverzeichnis ............................................................................................ 348 Personen- und Sachregister ................................................................................. 357
ABKÜRZUNGEN CUL IEV
Cambridge University Library, Gerhard Archive Institut d’Estudis Vallencs, Fons Robert Gerhard
TTM DTT GoM
Roberto Gerhard, Tonality in Twelve-Tone Music (1952) Roberto Gerhard, Developments in Twelve-Tone Technique (1956) Gerhard on Music. Selected Writings, hrsg. von Meirion Bowen, Aldershot: Ashgate 2000 The Roberto Gerhard Companion, hrsg. von Monty Adkins/Michael Russ, Farnham: Ashgate 2013 Arnold Schönberg, Harmonielehre (1911/31922) Miguel de Unamuno, En torno al casticismo (1902) Miguel de Unamuno, Vida de Don Quijote y Sancho (1905) Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida (1913)
RGC HL TC VDQ STV
DQ I und DQ II Erstes Romanbuch (1605) und zweites Romanbuch (1615) von Miguel de Cervantes Saavedra, El ingenioso hidalgo Don Quijote de la mancha P, I, R, RI Hex.1 Hex.2
die vier Reihenformen: Prime, Inversion, Retrograde, Retrograde Inversion erster Reihenhexachord/Reihenvordersatz zweiter Reihenhexachord/Reihennachsatz
EINLEITUNG Das Schaffen des in Katalonien geborenen Komponisten Roberto Gerhard (1896– 1970) in seinen ersten Exiljahren bis zum Ende der 1940er Jahre trage, so formulierte Frank Harders-Wuthenow, „die Züge einer Inkubationszeit, in der, parallel zu polytonalen und modalen Verfahrensweisen, die Beschäftigung mit der Dodekaphonie […] einen immer größeren Stellenwert einnimmt […].“1 Den Gebrauch der Zwölftonmethode hatte Gerhard in den Jahren vor seiner Exilierung2 weitgehend gemieden – er sollte erst in seinen ab Ende der 1940er Jahre entstandenen Kompositionen regulär mit einer Reihe arbeiten. Dazwischen lag die erste Dekade des Exils, und damit jene „Inkubations-“, „Übergangszeit“3 oder „mittlere Schaffensperiode“,4 die v. a. Gerhards Violinkonzert (1942–45), das Ballett bzw. die Orchestersuite Don Quixote (1940–41 und 1947–49) und das Großprojekt jener Jahre, die Oper The Duenna (1945–47) umfasst. In jeder dieser Kompositionen kommt, so scheint es rückblickend, noch einmal zusammen, was mit dem musikgeschichtlichen Paradigmenwechsel der Nachkriegsavantgarde rigoros in unterschiedliche Stilhöhen, Gebrauchskontexte, in eine vermeintlich ‚universelle‘ Moderne und lokale Avantgarden aufgespalten wird. So ließe sich im Nachhinein sagen, in der Ballettmusik zu Don Quixote pralle Disparates aufeinander: Eine heterogene Inhaltsästhetik, die auch die Inklusion von Folklore in Kunstmusik einschließt, wird mit der Zwölftonmethode zusammengebracht, und so mit einem hochartifiziellen, tendenziell eher formalästhetisch verpflichteten kompositionstechnischen Verfahren, das vorzugsweise an ‚absolut musikalische‘ und instrumentale musikalische Formen geknüpft zu sein scheint. Als musikalische Repräsentation der inneren Vorstellungswelt des Don Quixote kommt der Reihe in Gerhards Ballett eine repräsentative, auf die Figur verweisende Funktion zu, und auch diese dürfte der abstraktthematischen Funktion einer Reihe tendenziell eher ‚fremd‘ sein. Überdies wird die Reihe auf diese Weise mit einer Figur verknüpft, die in der spanischen Kulturtradition verwurzelt ist und in besonderer Weise als nationales Symbol herangezogen 1 2
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Frank Harders-Wuthenow, Dodekaphonisch, aber menschlich und sogar ein bisschen göttlich. Roberto Gerhards Œuvre auf internationalen Labels – ein Überblick, in: Musik & Ästhetik 2 (Oktober 1998), S. 111. Noch während des Spanischen Bürgerkriegs (1936–39) ergriffen Gerhard und seine Frau Ende 1938 – offiziell endete der Krieg am 1. April 1939 – von Warschau aus die Chance, sich in Paris, und nach kurzer Zeit in Meudon bei Paris, niederzulassen. Dort erreichte sie die Nachricht, dass Gerhard durch ein Stipendium des King’s College in Cambridge (Großbritannien) unterstützt werden könne, was das Ehepaar dazu brachte, seinen Wohnsitz im Juni 1939 nach Cambridge zu verlegen. Im englischen Exil entstand der Großteil von Gerhards kompositorischem Œuvre. Frank Harders-Wuthenow, Dodekaphonisch, aber menschlich und sogar ein bisschen göttlich, S. 111. Ebd., S. 113.
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Einleitung
wurde, während die schönbergsche Zwölftonmethode v. a. im Kanon deutsch-österreichischer Kunstmusik und in der Wiener Klassik gründet und tendenziell mit einem Universalisierungsanspruch mitteleuropäischer Moderne verknüpft wurde. Es lässt sich allerdings sehen, dass Gerhard mit der Don Quixote-Komposition zu all jenen vermeintlichen Disparatheiten auf ästhetischer Ebene eine konzeptuell schlüssige Position bezieht, die gleichwohl die Komplexität der musikgeschichtlichen und biographischen Schwellensituation festhält. Gerhards Ballett Don Quixote (in seiner späten Fassung von 1949) steht am Abschluss einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Ballettgenre, das, wie Leticia Sánchez de Andrés herausarbeitete, während der 1930er und 1940er Jahre als „key genre“5 in Gerhards Schaffen gelten muss. Don Quixote steht aber auch im Zeichen einer Vorschau: In der genannten „mittleren“ Schaffensphase vollzieht sich Gerhards späte, zunächst einzelnen musikalischen Abschnitten in einer Komposition vorbehaltene Wiederannäherung an die Methode der Komposition mit zwölf Tönen seines Lehrers Arnold Schönberg; eine Annäherung, die in die Zukunft weist, da sie Gerhards anhaltende Reflexion und Praxis der Zwölftonkomposition vorbereitet, und damit den Großteil seines im Exil entstandenen Œuvres, mit dem Gerhard in seiner Exilheimat die meiste Anerkennung erwerben sollte.6 Beginnend mit dem Flötenstück Capriccio (1949), dem 1950 entstandenen Kopfsatz des ersten Streichquartetts, den Three Impromptus für Klavier (1950) und dem Konzert für Klavier und Streichorchester (1951) entstehen nach Don Quixote Zwölftonkompositionen, in denen Gerhard seine Idee der Zwölftontechnik als neuer Form von Tonalität befestigt – dabei stets mit einer segmentierten Zwölftonreihe arbeitend und tongehaltliche Relationen von Reihen und Reihensegmenten in formbildender Weise nutzend. Für diese Art einer tongehaltlich ausgerichteten Reihenhandhabung wie auch der prinzipiellen Bindung an immer nur eine Reihe werden mit Don Quixote die Weichen gestellt. Die um 1949 vollzogene Wende hin zur Zwölftonkompo5 6
Leticia Sánchez de Andrés, Roberto Gerhard’s Ballets: Music, Ideology and Passion, in: RGC, S. 79. Weitere Entwicklungsstadien der Zwölftonreflexion markieren in den Folgejahren Gerhards vier groß angelegte Sinfonien und das Concerto for Orchestra (1965). Anerkennung erwarb sich Gerhard im Exil auch durch die von ihm komponierte funktionale Musik (v. a. für Radiohörspiele und die Theaterbühne). In diesem Rahmen griff er ab Mitte der 1950er Jahre auf das Tonband als Mittel elektronischer Klangerzeugung zu und verstand die Möglichkeiten von „sound composition“ als prädestiniert für den Gebrauch in funktionalen Kontexten von Radio, Fernsehen, Film und Bühne: „The belief that sound-montage is more readily adaptable to such techniques than music written to traditional instruments is growing into something of a conviction with me.“ (Roberto Gerhard, Concrete Music and electronic sound composition (1959), in: GoM, S. 185.) Adkins, Duque und Karman weisen aber darauf hin, dass ganz unabhängig von funktionalen Kontexten auch Konzertmusik im elektronischen Medium entstanden sei, darunter Audiomobiles (1958–63), Lament for the Death of a Bullfighter für Sprecher und Tonband (1959), Gerhards dritte Sinfonie Collages für Orchester und Tonband (1960) und das Fragment gebliebene Vox humana (1966–67). Vgl. Monty Adkins/ Carlos Duque/ Gregorio Karman, The Electronic Music of Roberto Gerhard, in: Proceedings of the International Computer Music Conference ‚Non-Cochlear Sound‘, 5.–9. September 2012 in Ljubljana, einsehbar unter: http:// quod.lib.umich.edu/cgi/p/pod/dod-idx/electronic-music-of-roberto-gerhard.pdf?c=icmc;idno= bbp2372.2012.005 (Zugang am 09.01.2015), S. 25 f.
Einleitung
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sition geht gleichzeitig einher mit einer Hinwendung Gerhards zu „bisher gemiedenen“7 Gattungen traditionell ‚absoluter Musik‘, der Sinfonie, Konzert- und Kammermusik.8 Dies bedeutet im Gegenzug, dass die Ballettgattung aus Gerhards Œuvre völlig verschwindet, und damit auch ein inhaltsästhetischer Schwerpunkt. Zunächst als Auftragsballett entstanden, nimmt Don Quixote in Gerhards Œuvre einen zentralen Stellenwert ein – dafür spricht bereits der äußere Umstand des relativ langen, rund ein Jahrzehnt umfassenden Entstehungszeitraums der Ballettkomposition, die Gerhard in mehreren Fassungen vorlegte.9 Grundlegend für Gerhards Ballettkonzept ist die Idee einer doppelten Realität, die im Ballett immer wieder als doppelte Ansicht von Realität manifest wird, so vor allem im zweifachen Aspekt Don Quixotes. Diesen repräsentierte Gerhard zum einen durch sein Don Quixote-Originalthema – einstehend für die ‚realistische‘ Außensicht auf die Figur –, zum anderen durch die aus jenem Originalthema abgeleitete Don Quixote-Reihe. Deren besondere Disposition besteht darin, dass sie nicht zwölf, sondern nur neun unterschiedliche Töne umfasst, von denen drei gedoppelt werden (so ergibt sich gewissermaßen der Anschein einer Zwölftonreihe). Für Gerhard stellte seine, wie er angibt, aus Sicht der schönbergschen Methode der Komposition mit zwölf Tönen „defiziente“ Reihe eine glückliche Wahl dar, da er jene Reihe als übereinstimmend mit der poetischen Idee der Don Quixote-Figur erkannte10 (was also aus zwölftontechnischer Sicht als Fehler gelten musste, erwies sich als ‚richtig‘ mit Blick auf das Sujet). Wie noch zu sehen sein wird, nutzte Gerhard gerade die Geringerzahligkeit und die Tondoppelungen der Reihe, d. h. ihre ‚Defizienz‘, um in der Kombination und Anordnung von Don Quixote-Reihen oder -Reihensegmenten eine ‚von innen‘ aus dem System abgeleitete Harmonik zu ermöglichen. Jener eigentümlichen Reihe und Reihenhandhabung in Don Quixote gingen Zweifel an der Zwölftonmethode voraus: In den Jahren 1923–1929 hatte Gerhard, als nicht mehr ganz junger Mann, bei Schönberg in Wien und schließlich in Schönbergs Meisterklasse an der Preußischen Akademie der Künste studiert. Ende der 1920er Jahre und in einigen während jener Lehrjahre entstandenen Kompositionen hatte er mit extrem dichter motivisch-thematischer Arbeit und auch mit der Zwölftonmethode experimentiert, dies v. a. in seinem Bläserquintett (1928), das kurz nach den Berliner Studienjahren entstand und dem er eine geringerzahlige Reihe zugrunde legte – ähnlich wie den reihengebundenen Abschnitten des rund zwölf Jahre später begonnenen Don Quixote-Balletts. (Die Reihe des Bläserquintetts umfasst allerdings nur sieben unterschiedliche Tonhöhen.) Nicht lange nach Beendigung seiner Studienzeit und mit seiner Rückkehr nach Barcelona im September 1929 7 8 9
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Frank Harders-Wuthenow, Dodekaphonisch, aber menschlich und sogar ein bisschen göttlich, S. 112. Beginnend mit dem Streichquartett Nr. 1 (1950–55), den Three Impromptus für Klavier (1950), dem Konzert für Klavier und Streichorchester (1951) oder der Sinfonie Nr.1 (1952–53). Von Interesse ist in der vorliegenden Arbeit vorrangig die späte, 1950 uraufgeführte Fassung des Balletts. Mit Blick auf frühere Stadien des Ballettkonzepts wurden aber auch frühere Stadien der Ballettszenarios und die nicht zur Bühnenaufführung gelangte Frühfassung des Balletts von 1940 herangezogen (siehe Kap.III.1.1). Die späte Fassung des Balletts liegt in edierter Form vor: Roberto Gerhard, Don Quixote, London 1991. Siehe Roberto Gerhard, On Music in Ballet: II, in: Ballet 11 (Mai 1951) Heft 4, S. 33.
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Einleitung
legte Gerhard jedoch die im Bläserquintett bereits weit gediehene Auseinandersetzung mit der schönbergschen Methode ad acta, sodass es mit Blick auf die Kompositionen der 1930er und 1940er Jahre scheint, als habe ihm der (von anderen Mitgliedern des Schönbergkreises längst vollzogene) Schritt hin zu einer flächendeckenden systematischen Tonorganisation nun doch Schwierigkeiten bereitet. Die Tatsache, dass Gerhard in Don Quixote erneut auf eine geringerzahlige Reihe zugriff und von der Zwölftonmethode darin nicht flächendeckend, sondern punktuell (in einzelnen Abschnitten) Gebrauch machte, spricht dafür, dass jene Schwierigkeiten fortbestanden. Mit Blick auf die relativ frühe Komposition des Bläserquintetts sollte Gerhard rückblickend äußern, die unorthodoxe Handhabung der Zwölftontechnik, die er für jene Komposition erfunden habe,11 sei bezeichnend für seine unangepasste Position als ‚Häretiker‘ im Schönbergkreis gewesen.12 Demgemäß wäre zu fragen, ob sich Gerhard mit Blick auf seine später erfolgte Arbeit mit der geringerzahligen Don Quixote-Reihe noch immer als Abweichler verstand und in deren besonderer Reihendisposition Vorbehalte, wenn nicht sogar eine implizite Kritik, an zwölftontechnischer Praxis zum Ausdruck kam. Hinweise auf solche Vorbehalte lassen sich im Zusammenhang mit dem (gleichfalls punktuellen) Gebrauch der Reihe in Gerhards Violinkonzert finden. Gerhard beschrieb seine eigentümliche Reihenpraxis in dieser Komposition in einem Brief an Schönberg vom 2. Dezember 1944 und gestand, er habe es bislang noch nicht als möglich empfunden, flächendeckend mit einer Zwölftonreihe zu arbeiten: „I think I had better made it clear too that I have not found it possible for me yet to work consistently with 12-tone series. I find the desire to work with poorer series insurmountable. A full series usually grows with me out of an exceptionally tone-rich feature which is thematically relevant. And I step in and out by a sort of ‚convertimenti‘ and ‚divertimenti‘, if I may call it so, taking these words very near their litteral[sic] meaning. I am quite aware that all this may only serve to increase your doubts regarding my production; all the same I thought it not possible to make a bid for your approval under the cover of ‚false pretences‘.“13
Aus Gerhards vorsichtiger, beschwichtigender Darstellung seiner eigentümlichen Praxis mit der Reihe14 geht hervor, wie wichtig für die Legitimierung der eigenen Zwölftonpraxis das Bewusstsein der Nachfolge Schönbergs bzw. Schönbergs Gutheißen jener Praxis war. Es wird darin der Zwiespalt offenbar, einerseits als Mit11 12
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Nicht nur umfasste die Reihe des Bläserquintetts lediglich sieben der zwölf Töne; auch machte Gerhard in dieser Komposition bereits von der Permutierung von Reihentönen Gebrauch, was auf seine spätere Arbeit mit segmentierten Reihen vorausweist. Siehe Anm. 79, Kapitel I.1. „The Wind Quintet is my first full-length après Schoenberg chamber-music work. It was composed in 1929 at the end of my five years apprenticeship with him. During those years I always felt a heretic in the Schoenberg circle and nothing, to my mind, could show the bias and the extent of my deviation more unambiguously than the unorthodox serial technique I invented for my Quintet.“ Roberto Gerhard, Programmhefttext zum Bläserquintett, CUL 12.27 [Unterstreichung von Gerhard]. Ders., Brief an Arnold Schönberg vom 2. Dezember 1944, ASC Wien ID 10786, http://213.185.182.229/letters/search_show_letter.php?ID_Number=10786 (letzter Zugang am 7.01.2015). Zu Gerhards besonderer Handhabung der Reihe im Violinkonzert siehe auch Michael Russ, Music as Autobiography: Roberto Gerhard‘s Violin Concerto, in: RGC, S. 131–152.
Einleitung
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glied der Schönberg-Schule gelten zu dürfen und andererseits innere Vorbehalte gegenüber der Zwölftonmethode zu hegen. Wie der Briefstelle zu entnehmen ist, erschien Gerhard der Gebrauch der Zwölftontechnik zunächst im Zusammenhang mit der sukzessiven Verdichtung eines Tonvorrats hin zur Chromatik als legitim, wobei dem verdichteten Tonvorrat zugleich die syntaktische Funktion eines Themas zukommen musste. Dahinter stand offenbar die Einsicht, dass ein Tonvorrat überhaupt nur dann chromatisch verdichtet werden konnte, wenn nicht permanent mit Zwölftonvorräten gearbeitet wurde, und dass er nur dann thematisch relevant sein konnte, wenn im Stück keine flächendeckende thematische Ableitbarkeit eines jeden Tons von der Reihe gegeben war. Gerhards Schilderung könnte demnach auf genau zwei von ihm selber erkannte Risiken einer allgegenwärtigen Zwölftönigkeit hinweisen, erstens auf die Gefahr einer Neutralisierung des Harmonischen, und zweitens auf die Aufhebung der thematischen Funktion der Reihe.15 Weiter findet sich um 1945 in Gerhards Brief an den katalanischen Komponisten Josep Valls ein Hinweis darauf, dass Gerhard eine bislang mit der Reihe verbundene, vorrangig polyphone Satzweise und damit einen Mangel an Kontrolle über entstehende Zusammenklänge, als ein Problem der zeitgenössischen Musik wahrnahm. Gerhard geht in seinem Schreiben auf seine Prägung durch Felipe Pedrell und Schönberg ein und äußert, Schönberg einerseits bis zur letzten Konsequenz gefolgt zu sein und dabei auch die Zwölftonmethode nicht ausgelassen zu haben, andererseits aber konstant der Auslöschung ‚harmonischer Kontrolle‘ („l’extenuació del control harmónic“) widerstanden zu haben.16 Solche Vorbehalte Gerhards, erstens hinsichtlich eines flächendeckenden Gebrauchs der Reihe, und zweitens hinsichtlich eines Kontrollverzichts auf der vertikal-harmonischen Satzebene, könnten dazu geführt haben, dass Gerhard in den 1930er und 40er Jahren nicht einfach ohne Überzeugung zur Zwölftonmethode ‚konvertierte‘. Weiter lässt sich feststellen, dass Gerhard die Methode seines Lehrers auch in jenen Jahren der „mittleren“ Schaffensphase keinesfalls für einen alternativlosen, geschichtlich unvermeidbaren Weg der Tonhöhenorganisation hielt. Denn noch in der Exilzeit hielt Gerhard in
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Zum Problem einer Neutralisierung der Themenfunktion siehe Kapitel I.2.1. „Encara trobo que m’es dificil d’evaluar tot el que dec a Schoenberg. Condensant em penso que podría dir: tot el que la meva técnica té de conscient i de reflexiu. D’una banda he seguit a Sch. [oenberg] fins al final, sense excleure la composició amb 12 sons. D’altra banda he resistit constantment l’extenuació del control harmónic. Evidentment, aqui hi ha un dels problems centrals de la música contemporánea i sense entrar a fons en la matèria seria inútil intentar ser més explícit.“ Roberto Gerhard, Brief an Josep Valls vom 9. Oktober 1945, CUL 14.437, S. 1.
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Einleitung
einem seiner (undatierten) Notizbücher17 fest: „-12-Ton – or, indeed, any radically new music – ought to be resisted as long as necessary.“18 Der Zugriff auf eine geringerzahlige Reihe im Don Quixote-Ballett spricht dafür, dass der Vorbehalt einer harmonischen Neutralisierungs-Gefahr weiterhin offen und relevant geblieben war – zugleich hielt die Arbeit mit der geringerzahligen Reihe im Ballett auch die Lösung für das Problem bereit. Die hinsichtlich ihrer Tongehalte unterschiedlichen, differenzierbaren Reihenformen der geringerzahligen Don Quixote-Reihe ermöglichten es, durch gezielte Auswahl und Kombinationen der Reihenformen bestimmte, im serial field der Reihe (d. h. der Gesamtheit der 48 Reihenformen) präkompositionell angelegte Tonbezüge zwischen Reihen und Reihensegmenten zu nutzen und eröffneten damit eine mit der motivischen Bezugsebene koexistierende tongehaltliche Bezugsebene der zwölf Töne (siehe Kapitel I.1). Mit den Möglichkeiten der Reihenkombination ergab sich zugleich die Chance einer klanglich-vertikalen Kontrolle zusammenklingender Reihen-Tonvorräte. So ermöglichten sowohl die Geringerzahligkeit der Don Quixote-Reihe wie auch ihre Tondoppelungen die Herstellung und Kontrolle von Tonhöhenkonzentrationen – eine Möglichkeit, die im Fall einer unsegmentiert gebrauchten, zwölf Töne enthaltenden Reihe nicht gegeben gewesen wäre. Mit der Nutzung präkompositionell vorhandener Tonbezüge im Don Quixote-Ballett (1949) und der damit entdeckten harmonischen (tongehaltlichen) Nutzung der Reihe wurde der Gebrauch der Zwölftonmethode für Gerhard offenbar erneut legitim. Er fand damit eine wegweisende Perspektive, denn das Ausschöpfen der tongehaltlichen Bezugsebene setzte er mit seinem Gebrauch segmentierter Zwölftonreihen in den seit 1949 folgenden Kompositionen fort. Gerhards Gebrauch der geringerzahligen Don Quixote-Reihe verweist auf noch etwas, das Gerhard bei seinem Gebrauch der Zwölftonreihe wesentlich und wichtig gewesen sein dürfte, sich im Rahmen einer zunehmend strukturorientierten Intervallhandhabung jedoch erübrigte: auf Tonbeziehungen, die sich als ‚energetischer‘ Zug zwischen Tönen und als hörpsychologische Erwartungs- und Erfüllungswirkung äußern. Gerhard verstand die Zwölftontechnik nicht lediglich als einen Tonalitätsersatz, sondern als essentiell eingebunden in einen fortgesetzten Prozess der Erschließung präexistenter Tonbeziehungen. Die Don Quixote-Reihe versprach 17
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Die meisten der Notizbücher des an der CUL gelagerten Gerhard-Nachlasses sind nicht datiert. Es ist allerdings bedeutsam, dass sich Gerhard die Gewohnheit des Notizbuchschreibens erst im Exil zu eigen machte. In einem Notizbuch erklärt er, diese Gewohnheit in den ersten paar Monaten seiner ersten Exilstation in Paris angenommen zu haben. Zuvor in Spanien habe er die ihn beschäftigenden Anliegen niemals niederschreiben wollen, sondern stets verbal kommuniziert, und zwar im Rahmen der regelmäßigen in Cafés stattfindenden Zusammenkünfte befreundeter Intellektueller und Künstler, welche man in Spanien „tertulias“ nennt, in Katalonien „penyas“, „[…] those daily marathon talking gatherings of a group of friends in our favourite café, (mostly of writers, poets, artists, politicians in spe and – very rarely, a musician).“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 10.102, S. 15 (Rückseite) und 16. Mit dem Exil seien jene Zusammenkünfte zu ihrem Ende gekommen: „[…] those people who had met daily, for years, had suddenly been scattered to the four winds. In time, I think that notebooks came to be a sort of penya-substitute, a communication-ersatz.“ Ebd., S. 16 [Unterstreichungen von Gerhard]. Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.109, S. 6 (Rückseite).
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nun, als ein methodisches Hilfsmittel zu fungieren, um jene inhärent dynamischen Tonbeziehungen zu ordnen und hervorzubringen. Denn das serial field der Reihe konnte als hypothetisches Abbild eines präexistierenden Tonbezugsraums verstanden werden, einer auf der Obertonreihe basierten ‚Natur des Tons‘.19 Von den im serial field der Reihe potentiell gegebenen Tonbeziehungen konnte angenommen werden, dass ihnen endliche, präexistente Tonbeziehungen zugrunde lagen. Hinter einer solchen methodischen Reihenhandhabung steht die Idee einer unter den Materialbedingungen der zwölf Töne fortgesetzten Tonalitätsreflexion. Die gedanklichen Grundlagen einer solchen Tonalitätsreflexion und eines auf dem „Wesen des Tons“20 als geschichtsteleologischer Instanz basierenden, materialweiten Tonalitätsbegriffs konnte Gerhard v. a. in Schönbergs Harmonielehre (31922) vorgeprägt finden. Während jene materialweite Tonalitätsauffassung bei Schönberg im Rahmen seiner Reflexion um den ‚musikalischen Gedanken‘ jedoch an Bedeutung verlor, hielt Gerhard an der Leitidee eines ‚Ton‘-Vorbilds fest. So entsteht die eigenartige Situation, dass sich Gerhards Rezeption der Zwölftontechnik als neuer Form von Tonalität mit und nicht gegen Schönberg vollzog, d. h. im Bewusstsein der Schönbergnachfolge und dennoch als eine – gegenüber der Schönbergs – ganz eigenständige Entwicklung. Wie bereits erwähnt, strahlte Gerhards Beschäftigung mit der Komposition und dem Stoff des Don Quixote-Balletts auf sein späteres Schaffen aus. Denn die Verbindung zwischen der Don Quixote-Figur und der Zwölftonmethode betraf nicht allein die Tatsache, dass Don Quixote in Gerhards Ballett musikalisch durch die genannte, eigentümlich disponierte und gehandhabte Reihe repräsentiert wurde. Vielmehr wurde jene Figur Don Quixotes für Gerhards grundsätzliche Auffassung von Zwölftonkomposition zentral, was sich darin manifestiert, dass der spezifische Modus des quixotischen Realitätszugangs für Gerhard zu einer Metapher wurde, um seine spätere, im Artikel Developments in Twelve-Tone Technique von 1956 formulierte Auffassung von der segmentierten Zwölftonreihe als „Code“ zur Generierung musikalischer Gestalten zu beschreiben.21 Der Metaphorik der Quixote-Figur und Gerhards Lektüre des Cervantesromans nachzugehen, ist für die vorliegende Arbeit zentral, denn jene Metaphorik wird hier als ein Schlüssel betrachtet, um erstens den Reihengebrauch und das inhaltliche Konzept des Don Quixote-Balletts zu verstehen (in Teil III), und zweitens den mit der Don Quixote-Metaphorik verbundenen gedanklichen Grundlagen von Gerhards Tonalitätsreflexion und seiner Auffassung der Zwölftonmethode nachzuspüren (in Teil I). Gerhards Lektüre des Cervantesromans ist dabei eng mit dem Quixotismo und der Lebensphilosophie des spanischen Philosophen und Schriftstellers Miguel de Unamuno y Jugo (1864–1936) verknüpft. Dessen Schaffensbiographie wurde nahezu konstant von der Figur des Don Quixote begleitet. Unamunos Quixotismo ist durch einen Anti-Historismus und eine von der Ausrichtung auf die Autorintention 19 20 21
Ähnlich wie sich Schönbergs Reihentafeln zur Suite Op. 29 als ein Versuch auffassen lassen, den einheitlich angeschauten musikalischen Raum darzustellen, siehe Kapitel I.2. Siehe Anm. 79, Kapitel I.1. Siehe Roberto Gerhard, DTT (1956), in: GoM, S. 134 f.
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befreite, ‚freie und persönliche Exegese‘22 des Cervantes-Romans gekennzeichnet. Hinter jener ‚freien‘ Exegese steht gleichwohl eine genau umrissene Vorstellung von der Symbolik der Romanfiguren und Figurenkonstellationen, die zum einen auf eine nationale Symbolebene zielt (v. a. in Unamunos frühen Aufsätzen aus En torno al casticismo, 1902), und zum anderen auf eine Verbildlichung von Unamunos Lebensphilosophie. Die Figur des Don Quixote kann dabei für ein besonderes Modell des im Innen und im Antrieb des Glaubens und Wollens entspringenden Realitätszugangs einstehen, aus dem heraus sich auch das Konzept der doppelten Realitätsansicht im Ballett erschließt. Dieses Modell basiert auf der Annahme, dass die Realität, die sich uns bietet, von der Kraft und vom Antrieb des individuellen Lebenund Unsterblichseinwollens abhängig ist; diesem Antrieb gemäß formt sich unser Realitätszugang aus. Demjenigen, dessen Lebenstrieb sich als Bedürfnis nach unmittelbarer Selbsterhaltung (und insofern als Überlebenstrieb) manifestiert (als „instinto de conservación“23), dem erschließen sich andere Realitätsaspekte als demjenigen, der vom Willen getrieben wird, sich in der Mit- und Nachwelt zu perpetuieren (diesen treibt der „instinto de perpetuación“24). Alle fortschreitende Erschließung des Außen impliziert in diesem Sinne das Freilegen jenes innersten Antriebs, des Wollens, das bei Unamuno im Kern ein Unsterblichseinwollen ist und in dieser sublimierten Form mit einer Loslösung des Selbst von materiellem Bedürfen, dem als Bedürfnis internalisierten Außen (‚Außendruck‘), einhergeht.25 Insbesondere in seiner Schrift Vida de Don Quijote y Sancho (1905) macht Unamuno die Figur Don Quixotes zu einem Mystiker, einem vom Unsterblichseinwollen ausgefüllten und getriebenen espiritual.26 Der aus dem Wollen (Unsterblichseinwollen) hervorgehende Wahn vom Rittertum (Don Quixotes locura) treibt Don Quixote 22
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26
Siehe Miguel de Unamuno, Prólogo. A la segunda edición, in: Ders., VDQ (1905), hrsg. von Alberto Navarro, Madrid 52004, S. 134. „[…] dejando a eruditos, críticos e historiadores la meritoria y utilísima tarea de investigar lo que el Quijote pudo significar en su tiempo, y en el ámbito en que se produjo y lo que Cervantes quiso en él expresar y expresó, debe quedarnos a otros libre al tomar su obra inmortal como algo eterno, fuera de época y aun de país […]. Y sustuve que hoy ya es el Quijote de todos y cada uno de sus lectores, y que puede y debe cada cual darle una interpretación, por así decirlo, mística, como las que a la Biblia suele darse.“ (Ebd., S. 133 f.) Zu der dazu kontrastierten Lesart im Sinne des von Unamuno so bezeichneten cervantismo, siehe v. a. ders., Sobre la lectura e interpretación del ‚Quijote‘ (1905), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), hrsg. von Manuel García Blanco, Madrid 21965, S. 842–860. „El conocimiento está al servicio de la necesidad de vivir, y primariamente al servicio del instinto de conservación personal.“ Ders., STV, S. 19. Ebd., S. 19. In Anspielung an die Schenke, in der Don Quixote eine Burg erkennt, äußert Unamuno mit Bezug auf die von ihm als vorbildhaft betrachteten Mystiker (etwa Theresa von Ávila), diese hätten danach gestrebt sich loszulösen von einem solchen ‚Außendruck‘ („Buscaban libertad interior bajo la presión del ambiente social y el de sí mismos […]“) und von der Getrenntheit zwischen der intelligiblen (quasi inneren) und der sinnlichen (quasi äußeren) Vorstellungswelt, einer Trennung, welche Burgen als Schenken erscheinen lasse. Sie hätten stattdessen Freiheit im Innen gesucht, indem sie sich von ihren äußerlichen Wünschen freigemacht hätten, damit der Antrieb des Wollens – bei Unamuno im Kern das Unsterblichseinwollen – sie völlig würde ausfüllen können („[…] libertad interior, desnudarse de deseos para que la voluntad quedara en potencia respecto a todo“). Ders., TC, S. 221. Zu Unamunos Identifikation Don Quixotes mit einem espiritual siehe Kapitel II.4.3.
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demnach zu großen Taten an und ist insofern heroisch, und nicht pathologisch.27 In seinem Ballett folgt Gerhard der von Unamuno (seit ca. 1905) vertretenen positiven Sichtweise auf Don Quixote als visionärem und heroischem Wahnsinnigen. Dies wird v. a. zum Schluss des Balletts deutlich, denn sowohl in der Früh- als auch in der Spätfassung desselben wird mit Don Quixotes Tod dessen Fortwirken als metaphysische ‚Idee seiner selbst‘ bzw. ein Übergehen der quixotischen locura auf Sancho eingeleitet (siehe Kapitel III.4.1). Gerhards Prägung durch Unamunos Quixotismo ist auf mehreren Ebenen manifest. Die erste Ebene betrifft die Darstellung der Don Quixote-Figur in Gerhards Ballett als eine unsterbliche ‚Idee seiner selbst‘, die sich zu Unamunos pragmatischer Wahrheitstheorie in Bezug setzen lässt; die zweite Ebene betrifft Gerhards Auffassung der Reihe als ein methodisches Hilfsmittel zur Erschließung von Tonbeziehungen und Unamunos Zivilisationskritik, und die dritte Ebene betrifft schließlich die gegenseitige Nähe zwischen Don Quixote und den Ziegenhirten in Gerhards Ballett, die zu Unamunos Erzählung von der zu erwartenden ‚Erweckung‘ des spanischen Volkes (pueblo) durch einen Heroen oder Dichter korrespondiert und auf eine Auseinandersetzung mit dem Thema des ‚authentischen‘ Spanien verweist. Der Gedanke des Unsterblichkeit erlangenden Don Quixote ist in Unamunos pragmatischer Wahrheitstheorie verwurzelt, mit der sich behaupten lässt, dass sich Don Quixote in seinem Leben und Wirken als ‚Idee seiner selbst‘ hervorbringt, und damit im eigentlichen Sinn ‚in Existenz‘ kommt. Zentral ist bei Unamuno der instrumentelle Charakter einer Idee. Unamuno greift, um diesen zu veranschaulichen, auf die Metapher des Geldes28 zu, wobei er betont, dass es sich beim Wert des Gel27
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Mit seiner anti-rationalistischen Ableitung des Realitätszugangs aus dem Wollen lässt sich Unamuno in die Schopenhauer nachfolgenden Strömungen der Lebensphilosophie einreihen. Einerseits fühlt sich Unamuno Schopenhauer und dessen „doctrina voluntarista o de personalización de todo“ (Miguel de Unamuno, STV, S. 94) verbunden (Unamuno hatte im Jahr 1900 Schopenhauers Schrift Über den Willen in der Natur (1836) ins Spanische übersetzt); Bezug nehmend auf die Frontstellung des schopenhauerschen Voluntarismus zu den Evolutionstheorien Darwins und Lamarcks, versteht auch Unamuno Prinzipien der Selektion, Adaptation und Vererbung als lediglich äußere Bedingungen der Evolution, und nicht als deren inneren und essentiellen Antrieb. (Vgl. ebd.) Andererseits aber bemängelt Unamuno einen essentialistischen Aspekt des schopenhauerschen Willens und unterscheidet von diesem sein eigenes Konzept eines Kollektivbewusstseins, d. h. eines sich historisch und an der Mitwelt manifestierenden und perpetuierenden Bewusstseins bzw. Wollens. Vgl. ebd. Betrachtet man die weitere ideelle Prägung Unamunos, dann lässt sich v. a. auf Unamunos Lektüre der Schriften von Sören Kierkegaard und von William James hinweisen. Jan E. Evans zeigte etwa, dass Kierkegaards Reflexion des ethischen und religiösen Existenzstadiums einen bedeutsamen Hintergrund für Unamunos Thema menschlicher Idee- und Selbstwerdung bildete. (Vgl. Jan E. Evans, Unamuno’s Faith and Kierkegaard’s Religiousness A: Making Sense of the Struggle, in: Hispanófila 168 (Mai 2013), S. 58–62.) Unamunos Gedanke einer im Prozess ihres Gelebtwerdens zu verifizierenden Idee (siehe v. a. Kapitel II.1.2.1) lässt seine eingehende Auseinandersetzung mit der pragmatischen Wahrheitstheorie von William James erkennen. Siehe hierzu Pelayo H. Fernández, Miguel de Unamuno y William James. Un paralelo pragmático, Salamanca 1961. Vgl. Miguel de Unamuno, La ideocracia (1900), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), hrsg. von Manuel García Blanco, Madrid 21965, S. 429 f. In einem ähnlichen Sinn greift auch William James, dessen pragmatischer Methode Unamunos Wahrheitsreflexion bedeutsame Impulse verdankt,
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des um eine Repräsentation von Wert handele, und nicht um einen feststehenden Materialwert, der etwa einem Geldstück innewohnt. Und so wie sich Funktion und Wert des Geldes nach Unamuno darin erschöpfen, einen kollektiv anerkannten Wert zu repräsentieren und auf dieser Basis Warentausch zu ermöglichen, so bestehen für Unamuno, auch Wert und Wahrheit einer Idee darin, einen kollektiven Bewusstseinswechsel hervorzubringen, sobald eine Idee zum ‚gemeinsamen Nenner‘ des Denkens geworden sei.29 Bis jene Funktion erfüllt, jener Wert eingelöst wird, ist die Idee bei Unamuno lediglich ein Mittel zur Repräsentation von Wahrheit. Hinter diesem Argument steht die Überzeugung, dass die Wahrheit einer Idee dieser niemals inhärent ist, sondern arbeitend und schaffend erwirkt werden muss. Eine Idee ist nicht etwa wahr, weil sie logisch wahr ist30 oder weil sie ein Korrespondenzobjekt in der Realität aufweist, sondern weil sie im Bewusstsein der Mit- und Nachwelt wirksam wird und Handlungen und Werke nach sich zieht. Die Metapher weiterspinnend könnte man sagen, dass sich gewissermaßen der Gegenwert einer Idee weg von einem Korrespondenzobjekt in der Realität und hin zum Prozess ihres Funktionierens, Gelebt- und Verkörpertwerdens verlagert. Derart kann für Unamuno sogar eine Fiktion oder eine Illusion ‚wahr‘ werden, wenn sie Handlungen und Werke nach sich zieht, die dazu führen, Leben zu erhalten und zu befördern. Dabei zielt Unamuno auf eine Auffassung von ‚Leben‘ im Sinne einer ‚höheren Realität‘ des Wirkens, welche im Bewusstsein der Mit- und Nachwelt erhalten und erinnert bleibt.31
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auf die Geldmetaphorik zu, wenn er etwa von dem hervorzubringenden „practical cash-value“ eines Wortes spricht: „You must bring out of each word its practical cash-value, set it at work within the stream of your experience.“ William James, Pragmatism (1907), in: Pragmatism and Other Writings, hrsg. von Giles Gunn, New York 2000, S. 28. „Las ideas, como el dinero, no son […] en última instancia, más que representación de riqueza e instrumento de cambio, hasta que, luego que nos hayan dado común denominador lógico, cambiemos directamente nuestros estados de conciencia.“ Miguel de Unamuno, La ideocracia, S. 429. Die Rede vom kleinsten gemeinsamen Nenner („común denominador lógico“) deutet dabei auf das Kursieren einer Idee als gesellschaftlich anerkannte und verbreitete hin. Dieses Konsenswerden einer Idee bewirkt demnach einen (kollektiven) Bewusstseinswandel. „Idea que se realiza es verdadera, y sólo lo es en cuanto se realiza, la realización, que la hace vivir, le da verdad; la que fracasa en la realidad teórica o práctica es falsa […].“ (Ebd., S. 434.) Unamuno erklärt, für den Fall dass das Leben einer Person von der Kenntnis des Satzes von Pythagoras abhinge und diese Person jenes Theorem zwar kenne, es aber nicht anwenden könne, dann erweise sich jener Satz für die betreffende Person als unwahr. (Siehe ebd.) Das logisch Wahre kann demnach unwahr sein, die Relevanz einer Idee wird zum Kriterium für ihre Wahrheit. Derart dem Leben förderlich hört nach Unamuno jede vermeintliche Illusion auf, eine solche zu sein. So lässt Unamuno seine Figur, den klugen, die locura des Doctor Montarco behandelnden Irrenarzt Doctor Atienza äußern: „Es muy cómodo hablar de ilusiones; pero créame usted que una ilusión que resulte práctica, que nos lleve a un acto que tienda a conservar o acrecentar o intensificar la vida, es una impresión tán verdadera como la que puedan comprobar más escrupulosamente todos los aparatos científicos que se inventen.“ Ders., La locura del Doctor Montarco (1904), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 696. Eine geglaubte Idee, die der Mitwelt als Illusion erscheinen kann, könne, so Unamunos Doctor Atienza, als notwendiger Bestandteil von locura bezeichnet werden, als ein Übergewicht des Innen über das Außen, ohne welches ein Bewusstseinsfortschritt unweigerlich zu einem Stillstand käme. Vgl. ebd.
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Unamuno hegt eine grundlegende Abneigung gegenüber der Fetischisierung objektiv für wahr gehaltener Ideen, und gegenüber Menschen, die ihr Leben durch objektivierte Ideen und Dogmen bestimmen lassen (er bezeichnet jene Ideenfetischisten als „Ideokraten“). Dem setzt er seine Vorstellung der wahren, nämlich ‚gelebten/lebendigen Idee‘ („idea viva“32) entgegen, einer durch die Kraft des Glaubens und Wollens angetriebenen und im Verlauf eines Menschenlebens realisierten Idee, die sich erst beim Abschluss desselben ganz ausformt und zu sich selbst kommt. Den Verifikationsprozess einer Idee verbildlicht Unamuno exemplarisch in Don Quixotes Leben und Ideewerdung (siehe ausführlich Kapitel II.2). Das die Ideewerdung konstituierende Grundargument lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Indem Alonso Quijano seinem Leben und Handeln verbindlich das Ideal des fahrenden Rittertums setzt, opfert er seine Vernunft und wird als Idee (nämlich als Don Quixote) neu geboren. Im Verlauf von Don Quixotes Wirken und seiner Abenteuer wird die Idee, das Rittertum-Ideal, realisiert und verifiziert sich. Zugleich wird Don Quixote zur ‚gelebten Idee‘ und als solche unsterblich. Die scheinbar wahnhafte, anachronistische Idee des Rittertums hat sich dabei als ein Instrument erwiesen, um Don Quixotes Werke und Wirken auf die Mit- und Nachwelt zustande zu bringen. So erwirkt Don Quixote durch den unerschütterlichen Glauben an sein selbst gesetztes Ideal seine Abenteuer und letztlich seine Unsterblichkeit. Auch wenn die Abenteuer oft unglücklichen und scheiternden Ausgangs sind, so ist ihr Zustandekommen doch ausschlaggebend dafür, das Ideal ‚in Existenz‘ gebracht und damit verifiziert zu haben. Daher kann das vermeintliche Scheitern Don Quixotes zum letztendlichen Sieg werden. Mit jenem Argument ist die Struktur und Funktionsweise des anscheinend wahnhaften quixotischen Realitätszugangs umrissen, die in der vorliegenden Arbeit als der quixotische Code bezeichnet werden soll – in Anlehnung an Gerhards metaphorische, im Zusammenhang mit der Zwölftonmethode vorgebrachte Rede von „Don Quixote’s code of behaviour“.33 Der quixotische Code fungiert hier erstens als ein methodisches Konstrukt, in dem sich Gerhards Rezeption von Unamunos Quixotismo bündelt, und das sich auf der Materialbasis von Gerhards Ballett bzw. Ballettszenario wie auch seiner Markierungen in Unamunos Schriften nachweisen lässt. Zweitens dient er als Untersuchungskategorie (als ein Schlüssel), mit welcher in Teil I Gerhards ‚pragmatische‘ Auffassung der Zwölftontechnik und sein materialoffener (und insofern anti-dogmatischer) Tonalitätsbegriff untersucht werden. Der zentrale Nexus zwischen Unamunos Don Quixote-Figur und Gerhards Don Quixote-Reihe lässt sich im philosophischen Begriff des Lebens finden. So erschließt Unamunos Don Quixote-Figur vermittels des Rittertum-Ideals und im Prozess der Abenteuer eine in der vorhandenen Realität verborgene ‚höhere Realität‘ des sich in Bewusstsein Erhaltenden, und damit das Leben als ewiges Leben. Analog fungiert Gerhards Don Quixote-Reihe als ein methodisches Hilfsmittel, um im Prozess der Komposition einen präexistierenden Tonbezugsraum zu erschließen. Das ‚Leben‘ ist bei Unamuno die dynamische, immaterielle, allem Schaffen und 32 33
Siehe Anm. 101, Kapitel II.1.2.1. Siehe Roberto Gerhard, DTT, S. 135 und Kapitel I.3.1.
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Existieren zugrunde liegende Realität hinter und in der gegenständlichen und augenscheinlichen Realität der Dinge – Unamuno spricht diesbezüglich vom „intramundo“34 oder der „intravida“.35 Diese potenzielle, ‚höhere Realität‘ ist dem wollenden und glaubenden Don Quixote, nicht aber dessen Widersachern zugänglich; sie hat ihren Platz allein im Innen (oder im Wollen), muss aber am Außen hervorgebracht, d. h. realisiert werden. Gewendet auf das Thema der Tonalität findet sich ‚Leben‘ in der Annahme einer Natur des Tons wieder, des Vorbilds der Obertonreihe. Diese wird ihrem Wesen nach nicht als ein äußerer, physikalisch-akustischer Gegenstand betrachtet, sondern als eine präexistente, immaterielle Bezugsordnung im ‚Ton‘, die ihren Ort im Innen menschlichen Bewusstseins hat. Auf die Annahme einer solchen quasi ‚höheren Realität des Tons‘ lässt sich Gerhards materialoffene, inklusive Auffassung von Tonalität zurückführen, einer Tonalität, die sich vermittels völlig unterschiedlicher Setzungen von Tonmaterial manifestieren kann. Jene Tonalität ließe sich nach Gerhard sowohl vermittels eines diatonischen wie auch des chromatischen Tonmaterials, vermittels einer Skala wie auch einer Reihe, erschließen. Die materialoffene Auffassung von Tonalität stellt die grundlegende Prämisse für Gerhards Verbindung von Zwölftontechnik und Tonalität dar. Sie lässt sich derjenigen Tonalitätsdefinition entnehmen, die Gerhard in Tonality in TwelveTone Music (1952) gab – bezeichnenderweise im Zusammenhang mit der Reihe. Mit der Grundannahme einer präexistenten Natur des Tons bzw. einer monistischen, immateriellen Ordnung, die sich in der Realität – als ‚Leben‘ – manifestieren muss, und damit auch materiell erscheint, wird zugleich das Risiko und die Gefahr einer materiellen Sichtweise auf Realität thematisiert. Der damit verbundene Gedankengang lässt sich folgendermaßen umreißen: Würde einem Tonmaterial zugeschrieben, inhärente tonale Eigenschaften zu besitzen, dann fände eine Verwechslung zwischen Tonalität als immaterieller Ordnung und deren Manifestation auf der Materialebene statt. Tonalität würde dann mit Dur- und Molltonarten und dem Terzaufbau von Akkorden identifiziert, exklusiv an dieses Tonmaterial gebunden, und führte in den materialengen, exklusiven Tonalitätsbegriff der Dur-Moll-Tonalität, der fälschlicherweise als Inbegriff von Tonalität verstanden würde. Ein solcher materialenger Tonalitätsbegriff würde der Fetischisierung eines bestimmten Tonmaterials oder Tonsystems Vorschub leisten und käme für Gerhard einer Verwechslung von Mittel und Zweck gleich, die dazu führen würde, den Prozess einer fortschreitenden Erschließung des ‚Tons‘ als jener präexistierenden Ordnung von Tonbeziehungen, zur Stagnation zu bringen. Die Gefahr einer Fetischisierung des materiellen Aspekts von Tonalität wird von Gerhard gebannt, indem er den Setzungscharakter von Tonmaterial betont – analog zur Ideesetzung Don Quixotes – und die Materialsetzung als präkompositionelle Angelegenheit aus dem Kompositionsprozess auslagert. Letzterer wird damit wiederum auf das Ausschöpfen relationaler Aspekte von Tonalität fokussiert. Die potentielle Gefahr einer materiellen Verfestigung von Tonbeziehungen erkannte Gerhard nicht nur im Kontext der Dur-Moll-Tonalität als relevant, sondern auch mit 34 35
Miguel de Unamuno, Sobre la filosofía española. Diálogo (1904), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), hrsg. von Manuel García Blanco, Madrid 21965, S. 745. Siehe ebd., S. 751.
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Blick auf die Zwölftonkomposition. Vor diesem Hintergrund ließ sich sehen, dass die etablierte motivisch-thematische Handhabung der Reihe diese nur irrtümlicherweise als ein Gesetz, im Sinne eines Generators und Ursprungs von Tonbeziehungen erscheinen ließ (und damit einer Materialisierung und Fetischisierung der Reihe Vorschub leistete), anstatt die Reihe als Materialsetzung und Instrument zur kombinatorischen Erschließung präexistierender Tonbeziehungen zu begreifen. Das zivilisationskritische Argument einer Zweck-Mittel-Verwechslung fand sich im Kontext der Dur-Moll-Tonalität bereits in Schönbergs Harmonielehre, einer Schrift, die für Gerhards Tonalitätsreflexion von kaum zu überschätzender Bedeutung ist (siehe Kapitel I.3.1 und I.3.2). Wie Teil II zeigen wird, ist der Aspekt der Zivilisationskritik aber auch wesentlich mit der Don Quixote-Symbolik verbunden, was sich im Zusammenhang mit dem von Unamuno als heroischem Akt gerechtfertigten Angriff Don Quixotes auf Windmühlen erkennen lässt (Kapitel II.2.1). Bei Unamuno vermag Don Quixote die gegenständliche (und etablierte) Sichtweise auf die Realität zu überwinden. Wo der Sancho-Mensch diesem Realitätsaspekt verhaftet bleibt und Windmühlen erblickt, sieht Don Quixote die dahinter stehende ‚höhere Realität‘ und erkennt in der gegenständlichen Sichtweise eine Gefahr, d. h. in den Windmühlen Riesen. Aus einem der Notizbucheinträge Gerhards ist zu ersehen, dass Gerhard Unamunos heroisierende Sichtweise auf Don Quixote prinzipiell teilte, mit Don Quixotes starkem Glaubens- und Wollensantrieb allerdings auch einen Schwachpunkt einhergehen sah. Aus Gerhards Sicht leidet Don Quixote an einem Überschuss, einem surplus an Wollen. Man kann daraus schließen, seine Visionen seien permanent gefährdet sich als Realitätsverlust zu erweisen: „Don Quijote, pren molins de vent per gegants: l’error es per magnificació i vé ‚ex abundancia‘ d‘ànim, imaginació, fé… l’anti Don Quixote, pren gegants de veritat per molins de vent: l’error es de simplista, vé ‚ex‘ pobresa d‘anim, imaginació, fé_ _ _.“36
Das Thema der Zivilisationskritik ist generell relevant für das Thema doppelter Realität im Ballett; denn während die gegenständliche Sichtweise auf Windmühlen, die Schenke, oder das Bauernmädchen Aldonza die Unabhängigkeit jener Dinge (genauer: Vorstellungen) vom Bewusstsein, d. h. deren Objektivität, betont, verweist die vom Ideal geleitete Sichtweise Don Quixotes auf Riesen, auf eine Burg oder auf Dulcinea darauf, dass jedes dieser Dinge (bzw. jede dieser Vorstellungen) seinen Ursprung in Perspektivität und Bewusstsein hat, das heißt bei Unamuno: im
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„Don Quijote[,] nimmt Windmühlen für Riesen: der Fehler besteht in der Vergrößerung [der Bedeutung der Phänomene] und er sieht [sie] ausgehend von einem Überfluss an Seele, Imaginationskraft, Glaube… Der Anti-Don Quixote[,] nimmt eigentliche Riesen für Windmühlen: der Fehler besteht in der Simplifizierung [der Bedeutung der Phänomene], er sieht [sie] ausgehend von einem Mangel an Seele, Imaginationskraft, Glaube_ _ _.“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.131. [Unterstreichung von Gerhard. Für Hilfe bei der Übersetzung dieses und aller noch folgenden Zitate aus dem Katalanischen danke ich Frau Mathilde Bachmann-Llavat.]
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Lebenstrieb des Wollens bzw. Unsterblichseinwollens, der ihnen Finalität verleiht. Angesichts jener Finalität der Dinge im Bewusstsein kommt materiellen Dingen die Funktion von Platzhaltern zu, die austauschbar sind, so lange sie ihren Zweck erfüllen. Ein letzter Nexus zwischen Unamunos und Gerhards Romanlektüre betrifft Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter (zurückgehend auf die Romanepisode DQ I/11). Als Folie hinter Unamunos Interpretation der Episode lässt sich Unamunos dreistufiges Geschichtsbild erkennen. Drei menschheitlichen Entwicklungsstadien entspricht dabei jeweils ein Menschentypus und dessen Realitätszugang (siehe Kapitel II.4.3). So korrespondiert bei Unamuno zum frühesten Entwicklungsstadium der Kollektivmensch des ‚Volkes‘ (pueblo) oder natural, zum mittleren Stadium korrespondiert der Typus des Vernunftmenschen (intelectual), und zur letzten, zukünftigen Menschheitsphase korrespondiert der neue, ‚geistige‘ Mensch (espiritual). Letzterer wird von Unamuno exemplarisch durch Don Quixote verkörpert. Die Ziegenhirten aus der besagten Romanepisode erscheinen als typische naturales, die gerade aufgrund ihrer Einfachheit empfänglich für das Vorbild Don Quixotes sind, obwohl sie sich am polar entgegengesetzten Ende der Menschheitsentwicklung befinden. Die drei von Unamuno angeführten Typen dienen uns zur Beschreibung und Entschlüsselung der Figurensymbolik in Gerhards Ballett. So findet sich die symbiotische Beziehung zwischen espiritual und naturales im nahen und symbiotischen Verhältnis zwischen Don Quixote und Sancho wieder, welcher seinem Herrn nachfolgt und zum Schluss von Ballett II sogar die quixotische locura übernimmt. Sie findet sich weiter in der Empfänglichkeit der Ziegenhirten für Don Quixotes Vision vom Goldenen Zeitalter, denn es handelt sich bei den ungebildeten Ziegenhirten in Gerhards Ballett um diejenigen Figuren aus der realen Sphäre, die Don Quixotes Rede und seiner locura gegenüber positiv eingestellt sind. In der Frontstellung und im Kampf Don Quixotes und Sanchos gegen ihre ‚Widersacher‘ lässt sich weiter das Feindbild des intelectual erkennen, dem in Gerhards Ballett v. a. die Figuren von Priester und Barbier entsprechen. Im Topos der Nähe zwischen den naturales und dem espiritual bündelt sich die in einigen Schriften Unamunos wiederkehrende Metaerzählung eines latent heroischen, den spanischen Volksgeist unbewusst verkörpernden spanischen pueblo, das durch einen Heroen zum Bewusstsein seiner selbst ‚erweckt‘ werden muss (siehe Kapitel II.4.1 und II.4.3). Jene Metaerzählung gehört in den Kontext des von spanischen Intellektuellen um 1900 diskutierten ‚Spanienproblems‘. Sebastiaan Faber identifiziert im Kulturdiskurs der spanischen Volksfront das verwandte Argument eines die Kultur unbewusst mit ihrem ‚Rohmaterial‘ versorgenden ‚Volkes‘, welches beinhaltet, dass jenes ‚Rohmaterial‘ durch den Intellektuellen verarbeitet und dem ‚Volk‘ zurückgegeben werden müsse37 – ein Argument, das gewissermaßen als 37
Faber bemerkt kritisch, obwohl der intellektuelle Diskurs der spanischen Volksfront, wie er zwischen 1935 und 1939 vorherrschte, auf einen Wandel gesellschaftlicher Strukturen gezielt habe, sei er letztlich nicht über Paradigmen eines bürgerlichen liberalen Individualismus und einer Romantisierung des ‚Volkes‘ hinausgegangen. Diese Paradigmen hätten, so Faber, erstens eine essentialisierende Sichtweise auf Kultur als transzendenter, depolitisierter Sphäre eigenen Werts umfasst, zweitens die Annahme, Intellektuelle hätten zu jener Sphäre privilegierten Zu-
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eine aktualisierte Version von Unamunos ‚Erweckungs‘-Erzählung verstanden werden kann.38 Jenes Argument war mit der im republikanischen Spanien der 1930er Jahre angestrebten Aufwertung und Neudefinition der gesellschaftlichen Rolle von Künstlern und Intellektuellen verbunden. Diese hatten sich nicht nur als politische und ideologische Wortführer der Republik verstanden, sondern auch als kulturelle Pädagogen des ‚Volkes‘.39 Über den von ihnen vertretenen Kulturbegriff bemerkt Faber kritisch, er habe auf zweierlei konfliktierenden Begriffen von Kultur basiert, einerseits auf einem progressiven (tendenziell paternalistischen), der auf die ‚Demokratisierung von Kultur‘ zielte,40 und andererseits auf einer damit koexistierenden nostalgisch-romantisierten Auffassung von Kultur als in nationaler Literatur und Kunst ausgedrücktem Volksgeist („culture as the nation’s ‚informing spirit,‘ which resides deep down in the life of the folk […]“).41 Der Widerspruch zwischen beiden Auffassungen sei in einer Logik aufgelöst worden, die es den Intellektuellen erlaubt habe, sich selber in der Rolle der Volkserzieher zu bestätigen, während sie jenen Volksgeist zelebrierten:42
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gang, und drittens eine Sichtweise auf das ‚Volk‘ als unbewusstem Produzenten des ‚Rohmaterials‘ für Kultur („[…] and of the ‚people‘ as the unconscious providers of the raw material of culture who, as such, were entitled to having this culture processed and returned to them by the intellectuals.“). Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony. Spanish Intellectuals in Mexico, 1939–1975, Nashville 2002, S. 75, siehe auch S. 87, 123 und 127. Die Parallelisierung des von Faber im intellektuellen Diskurs der 1930er Jahre analysierten Arguments mit dem Argument Unamunos (der von mir so bezeichneten ‚Erweckungs‘-Erzählung – Faber führt hierzu den Schlussabsatz in Unamunos TC, S. 269 an), entnehme ich Faber. Siehe ebd., S. 127. Siehe ebd., S. 64 und 76–78. Als leitbildhaft für den Selbstentwurf der Republik-Intellektuellen betrachtet Faber das Konzept der Volksfront (vgl. ebd., S. 58–62) wie auch die Ideen des marxistischen Kulturtheoretikers Antonio Gramsci (vgl. ebd., S. 28–36 und 62–65). Siehe ebd., S.86. „Culture is seen as something of which the masses have been deprived, and which therefore can be given back to them from above.“ Ebd. Faber bemerkt, jene RepublikIntellektuellen hätten zwar eine Überwindung der Auffassung von Kultur als Mittel zur sozialen Distinktion und Hochkultur angestrebt, letztlich seien sie aber dem idealistischen Kulturbegriff, den sie zu überwinden hofften, verhaftet geblieben. Vgl. ebd., S. 86. Der Kulturdiskurs der Republik bewahre, so Faber, die Bestimmung von Kultur zu Zwecken der Distinktion. Dabei sei versucht worden, eine vormalige Distinktion im Bereich des Sozialen in eine politische Distinktion durch Kultur umzuwandeln („[…] to use culture to allow for a distinction not between higher and lower classes but between democracy and fascism. And inasmuch as fascism is represented as a dangerous threat to culture as such, it comes to embody its very antithesis.“). Ebd., S. 85. Ebd., S. 87. Faber geht weiter auf eine idealisierende Sichtweise der Republik-Intellektuellen auf das ‚Volk‘ (pueblo) ein: „[…] Popular Frontism fueled a populist, pastoral, and ultimately paternalist representation of the ‚people,‘ accompanied by cultural pessimism, anti-industrialism, and nostalgia for premodern forms of society.“ Ebd., S. 76, siehe auch S. 65. Vgl. ebd. Noch radikaler beschreibt Faber die von ihm als widersprüchlich erkannte, sich selbsterhaltende Rolle der spanischen Intellektuellen und deren Kulturauffassung mit Blick auf die Situation des (mexikanischen) Exils. Er verweist auf die Vorstellung der ‚authentischen spanischen Kultur‘ im Sinne des Volksgeistes („[…] defined in national-popular terms as the essence of the Spanish pueblo“, ebd., S. 122) und zugleich auf die Selbstdefinition der Intellektuellen als Schöpfer und Bewahrer jener nationalen Kultur (vgl. ebd., S. 123). Zu jenem Widerspruch siehe auch ebd., S. 127 und S. 142.
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Einleitung „Over the course of history, the argument goes, the Spanish pueblo has been robbed of its own essence. Fortunately this essence has been preserved in Spanish art and literature, so it is possible for intellectuals to return to the masses what was really theirs to begin with.“43
Letztlich habe, so Fabers Schluss, jenes Argument damit nicht im Dienst der geforderten Neudefinition der gesellschaftlichen Rolle des Intellektuellen gestanden, sondern vielmehr im Dienst einer Affirmierung derselben als sozial höhergestellter und elitärer Schicht.44 Mit jener Metaerzählung wurde nicht nur eine partielle Teilhabe des ‚Volkes‘ an Kultur oder einem kulturellen Erbe behauptet. Vielmehr wurde auf Volk und Volksgeist im Sinne einer latenten, unbewussten Basis oder Essenz referiert, die der nationalen Kultur zugrunde gelegt wurde.45 Man kann sagen, dass Künstler und Intellektuelle dem pueblo zugestanden, in grundlegender Weise an der Schaffung von Kultur beteiligt und im Besitz der von ihnen benötigten und ‚zu erweckenden‘ Kultur-Essenz des Volksgeistes zu sein. Dabei blieb, worauf Faber wiederkehrend hinweist, die Verarbeitung und Veredelung derselben den Künstlern und Intellektuellen vorbehalten, und diese Verarbeitung lässt sich bei Unamuno mit der ‚Entdeckung‘ und ‚Erweckung‘ jener unbewussten, im pueblo latenten ‚Essenz‘ verbinden46 (eine ‚Erweckung‘, die annehmen ließ, dass das pueblo durch den Intellektuellen aus seiner Armut und Unbildung befreit werden und kulturell-politische Teil43 44
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Ebd., S. 87. Nach Faber wirkte ausgerechnet die im Volksfrontdiskurs zentral gewordene Rolle der Intellektuellen als ideologischer Verbündeter im Kampf gegen den Faschismus dem erstrebten Wandel hinsichtlich der gesellschaftlichen Verhältnisse und der kulturellen Produktion entgegen. Er macht dafür zwei Gründe geltend: Erstens seien die liberalen (d. h. nicht-sozialistischen und nicht-kommunistischen) Intellektuellen, die im Volksfrontprojekt aktiv waren, nicht dazu angehalten worden, ihre (konservativen) Sichtweisen auf Formen und Praktiken kultureller Produktion zu ändern. Zweitens hätten progressive sozialistische und kommunistische Intellektuelle zunehmend Schlüsselpositionen als Wortführer und Pädagogen besetzt, dabei habe das anfängliche Misstrauen der Arbeiterklasse gegenüber der ‚Intelligenz‘ in offene Bewunderung umgeschlagen (vgl. ebd., S. 74): „While, from a practical standpoint, this was perfectly understandable, it also tended to confirm and justify, rather than undo, the existing social and political hierarchy based on a division of manual and intellectual labor.“ Ebd., S. 74 f., siehe auch S. 64 f. Zu paternalistischen und tendenziell elitistischen Tendenzen in der Selbstwahrnehmung der Intellektuellen siehe weiter S. 77. Die Idee, dass Kultur ihren Platz im ‚Volk‘ habe, führt Faber auf die romantische Bewegung des 19. Jahrhunderts, insbesondere auf Herder zurück: „For the romantics, culture as associated with the folk also embodied a degree of fundamental humanism and spirituality, whose worst enemy, they believed, was modernity.“ Ebd., S. 82. Insofern auch Unamunos ‚intrahistoria‘ auf eine Kultur-Essenz abzielt, lässt sie sich als spätes Erbe jener romantischen Tradition sehen. Dennoch wird man ihr nicht gerecht, wenn man sie lediglich unter den Vorzeichen eines regressiven, anti-aufklärerischen Konstrukts versteht und dabei ihre lebensphilosophischen Implikationen ausblendet. Als jene ‚Essenz‘ lässt sich bei Unamuno die spanische ‚intrahistoria‘ erkennen. Auf die Entdeckung derselben, in welcher die Zukunft Spaniens schlummere, nimmt Unamuno bereits in TC Bezug. Die unbekannten und bislang wenig beachteten Aspekte des spanischen ‚Volks‘ können nach Unamuno nur von einem kosmopolitischen, europäisierten Spanier entdeckt werden: „¿Está todo moribundo? No, el porvenir de la sociedad española espera dentro de nuestra sociedad histórica, en la intra-historia, en el pueblo desconocido, y no surgirá potente hasta que
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habe erlangen konnte). Dieser Teil des Arguments enthält zweifellos ein Potenzial zur Ausprägung paternalistischer oder elitistischer Tendenzen, die Faber kritisiert. Doch auch wenn jenen Intellektuellen damit noch immer eine Führungsrolle zukam, so verstanden sie sich zugleich als des Volksgeistes bedürfende, und erachteten das ‚Entdecken‘ des Volksgeistes als Quelle der Inspiration für ihr Schaffen offenbar als höchst wertvoll und wesentlich. Es lässt sich außerdem annehmen, dass Intellektuelle vermittels des Anzapfens jener zu Kunst und Kultur zu verarbeitenden Essenz – in Fabers Worten: jenen ‚Rohmaterials‘, in Unamunos Begrifflichkeit: der intrahistoria47 – sich und ihrem Schaffen ein breites Publikum und eine tragende Rolle in der Gesellschaft sichern konnten. So lässt sich im Zentrum des progressiven Entwurfs von Kultur und der Solidarisierung von Intellektuellen mit dem pueblo eine Symbiose zwischen Künstlern bzw. Intellektuellen und dem ‚Volk‘ erkennen, ein Verhältnis, von dem idealerweise beide Seiten profitieren sollten,48 und
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le despierten vientos o ventarrones del ambiente europeo. […] España está por descubrir, y sólo la descubrirán españoles europeizados.“ Miguel de Unamuno, TC, S. 263. Jene im ‚Volk‘ oder Volksgeist residierende Essenz von Kultur, welcher der Künstler oder Intellektuelle zu seinem Schaffen bedarf, kann zwar in Unamunos ‚intrahistoria‘ wiedererkannt werden, einem Konzept, das mit dem des ‚Lebens‘ verwandt ist (jener ‚höheren Realität‘ von Leben, zu welcher der bei Unamuno als intelectual bezeichnete, gebildete Mensch der Mittelklasse keinen Zugang hat, sehr wohl und in unbewusster Weise aber der ungebildete Mensch des pueblo). Dabei ist allerdings zu sehen, dass Unamuno mit der ‚intrahistoria‘ – oder mit dem Terminus Leben – auf ganz und gar nicht essentialistische oder idealistische, sondern im Gegenteil auf Instanzen rekurriert, die auf ihre Realisierung und auf ihren Vollzug im Zeitlichen angewiesen sind. Denn mit seinem Modell der ‚intrahistoria‘ referiert Unamuno gerade nicht auf eine Essenz spanischer Geschichte (auf herausgehobene Personen oder Ereignisse, die nationale Identität stiften), sondern auf die im kollektiven und permanenten Lebensvollzug substanziell werdende spanische Geschichte. Es lässt sich sagen, dass sich Unamunos Begriff der ‚intrahistoria‘, ebenso wie der in Gerhards Denken zentrale Begriff des Lebens, nicht als essentialistisch, nur ungenauerweise als idealistisch, und vielmehr als immaterialistisch bezeichnen lässt. Den Gedanken einer Symbiose zwischen Künstler und Volk dokumentiert auch der folgende propagandistische Text, das einleitende Vorwort der während des Spanischen Bürgerkriegs gegründeten, monatlich erscheinenden Zeitschrift Música, von der seit Januar 1938 fünf Hefte publiziert wurden. Diese Zeitschrift wurde herausgegeben vom Consejo Central de la Música, dem auch Gerhard angehörte (Gerhard leistete zur Revista Música allerdings keinen schriftstellerischen Beitrag). In jenem Vorwort, das José Renau (auch: Josep Renau Berenguer), der Rektor der dem Volksbildungsministerium unterstellten Dirección General de Bellas Artes verfasste, wird die Gründung jenes Consejo Central de la Música als eine unverzichtbare Notwendigkeit dargestellt, um, vermittels einer Mobilisierung aller Ressourcen, Kräfte und ‚vitaler‘ Ideale der Nation, letztlich ‚den Sieg des Volkes gegen den Faschismus‘ („la victoria popular sobre el fascismo“) zu organisieren. (Vgl. José Renau, Misión del Consejo Central de la Música, in: Música 1 (Januar 1938) Heft 1, S. 7.) „Im Rahmen der durch die Kriegssituation auferlegten Notwendigkeiten“ sieht Renau die hauptsächliche Mission des Consejo Central de la Música erstens darin, die Basis des musikalischen Publikums zu erweitern, indem man den Massen des Volks Zugang zu jenem privilegierten Medium der Kunstmusik verschaffe, und zweitens darin, die schöpferische Produktion von Musik anzuregen und dabei das Zusammenleben des schöpferischen Künstlers ‚mit jenem wunderbaren‘ pueblo zu sichern, welches dem Künstler ‚die frischesten Elemente‘ für eine kontinuierliche Erneuerung seiner Kunst schenken werde („[…] de estimular la labor de creación musical, asegurando la convivencia del artista
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welches, trotz der tendenziell paternalistischen und elitären Pädagogenrolle der Künstler und Intellektuellen, auf eine egalitäre Gesellschaft zielte. Die Einsicht, dass jene Metaerzählung der ‚Erweckung‘ des ‚Volks‘ und Volksgeistes durch einen Heroen in der Figurenkonstellation von Gerhards Ballett wiederkehrt, lässt Gerhard als Anhänger der Zweiten Spanischen Republik (1931–36) und sein Don Quixote-Ballett als Monument der Erinnerung kenntlich werden – einer Erinnerung an die ehrgeizigen Reformbemühungen der Republik und politisch progressiven Vorstöße hin zu anti-elitären Formen von Kultur und einem veränderten (eben symbiotischen) Verhältnis zwischen Künstlern bzw. Intellektuellen und Volksmassen. Es lässt sich kaum bezweifeln, dass sich Gerhard in hohem Maße mit den Idealen der Republik wie auch dem Anliegen einer katalanischen Autonomie identifiziert hatte (zur Zeit der Republik war Katalonien zumindest zeitweilig der Autonomiestatus eingeräumt worden49). Gerhard war im Spanien der 1930er Jahre eine zentrale Figur des spanischen Musiklebens50 und, wie viele Intellektuelle jener Zeit, kulturpolitisch für Institutionen der Zweiten Republik und für die Region Katalonien aktiv, so für den Bereich Musik im Kulturrat (Consejo de Cultura) der katalanischen Regionalregierung (Generalitat), und während des Spanischen Bürgerkriegs (1936–39) als Mitglied des Consejo Central de la Música, einer Abtei-
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creador con ese pueblo maravilloso y pródigo que le prestará los elementos frescos para una renovación continua de su arte“). Ebd., S.7 f. Hier also kehrt die Idee einer Erneuerung des Musiklebens aus ‚Volk‘ und Volksmusik und die Idee einer Symbiose zwischen Künstler und pueblo wieder: Der Künstler schöpft Inspiration aus Volk und Volksmusik, das Volk wiederum erhält Zugriff auf ein vormals privilegiertes Medium. Jener Text kann als propagandistisch gelten, insofern er unter widrigsten Umständen des Krieges den Glauben an eine blendende Zukunft aufrechterhält und den enormen Druck, der auf der Republik aufgrund der Folgen der Nichteinmischungspolitik, militärischer Niederlagen, durch Rüstungskäufe aufgezehrter Finanzreserven des Staates und dramatischer Lebensmittelknappheit seit dem Frühjahr 1938 lastete, ausblendet. Zugleich bezeugt jener Text die von Faber hervorgehobenen außergewöhnlichen Bedingungen für eine Annäherung zwischen Künstlern bzw. Intellektuellen und ‚Volk‘, die nach Faber v. a. während der ersten Jahre des Bürgerkriegs (siehe Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S. 78 und S. 75), und insbesondere innerhalb der sogenannten Kulturmilizen, herrschten. Siehe ebd., S. 87 f. Kurz nach der Ausrufung der Zweiten Republik am 14. April 1931 (dem Ende der Diktatur unter Miguel Primo de Rivera (1923–1930) und der Exilierung des Bourbonenkönigs Alfonso XIII.) wurde zunächst provisorisch die katalanische Regionalregierung (Generalitat de Catalunya) unter Francesc Macià installiert, und im September 1932 ein katalanisches Autonomiestatut bewilligt. Das Autonomiestatut gestand Katalonien, so Walther Bernecker, „eine eigene Regierung, die Generalitat, ein Parlament und umfangreiche Selbstverwaltungsrechte […]“ zu. Walther L. Bernecker, Spanische Geschichte. Von der Reconquista bis heute, Darmstadt 2002, S. 163. Gerhard war im 1931 gegründeten Zusammenschluss katalanischer Komponisten CIC (Compositors Independents de Catalunya) aktiv sowie im Umkreis des 1932 gegründeten, kunstübergreifenden Avantgardezirkels ADLAN. Zudem war er Gründungsmitglied des Vereins Discòfils’ Associació pro Música, der Sitzungen veranstaltete, bei denen Musik auf Schallplatte gehört und fachkundig erläutert wurde (die Möglichkeiten des Mediums zur Vermittlung auch schwer zugänglicher Musik diverser Epochen ausnutzend). (Siehe Josep Mestres Quadreny, Vida i obra de Robert Gerhard, Barcelona : L’Auditori 2011, S. 244 f.) Im April 1936 organisierte Gerhard das 14. Musikfest der IGNM, für dessen Austragungsort Barcelona er sich eingesetzt hatte.
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lung der in das Volksbildungsministerium (Ministerio de Instrucción Pública) eingegliederten Dirección General de Bellas Artes.51 Gerhards katalanistische Haltung wird u. a. daran deutlich, dass in fast allen seiner Kompositionen der 1930er Jahre katalanische Sujets oder Vorlagen zu finden sind; so in den noch zur Lehrzeit bei Schönberg in Berlin entstandenen Bearbeitungen katalanischer Volkslieder für hohe Stimme und Klavier (14 Cançons populars catalanes, 1928), in den beiden Sardanas52 für cobla-Ensemble (1928/29) wie auch in der Kantate L’alta naixença del Rei en Jaume (1932) nach der Dichtung von Josep Carner La malvestat d’Oriana (1910), in der es um die Umstände der Zeugung des Königs Jaume I. (König Jakob I. von Aragon, 1208–1276) geht,53 in der Orchesterkomposition Albada, Interludi i Dansa (1936) und im unvollendet orchestrierten Ballett-Projekt Soirées de Barcelone (1936–39), dem ein von einer lokalen Festivität inspirierter Stoff und katalanische Volkstänze zugrunde liegen.54 Dass Gerhard sein künstlerisch-politisches Engagement für die Ziele des republikanischen Spanien im englischen Exil fortsetzte, lässt sich u. a. an seinem Ballett Pandora (1943/44) sehen, das als Auseinandersetzung mit dem europäischen Faschismus wie auch dem spanischen Franquismus interpretiert werden kann.55 Aber 51
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Die Kulturinstitutionen der Zentralregierung wurden nach Barcelona übergesiedelt, nachdem im Oktober 1937 der Sitz der Zentralregierung unter Juan Negrín nach Barcelona verlegt worden war. Die Mai-Unruhen 1937 in Barcelona, in denen mit Straßenkämpfen darauf reagiert wurde, dass die Regierung eine breite Reformkoalition gegen die radikale Linke neu belebte (siehe Helen Graham, Der Spanische Bürgerkrieg, Stuttgart 2008, S. 95 f.), hatten laut Graham dazu geführt, „dass die Zentralregierung dort [in Barcelona, G. L.] ihren Einfluss verstärkte, um ihre Machtbasis abzusichern.“ (Ebd., S. 145.) Die Generalitat habe damit, so Graham, „die politische Kontrolle über Katalonien und damit das Kronjuwel des ihr 1932 von der Republik gewährten Autonomiestatuts“ verloren. Ebd. Die Sardana ist der katalanische Nationaltanz. Jener König Jakob I. war ein erfolgreicher Eroberer und gilt als die dominierende Herrscherpersönlichkeit der sogenannten Krone Aragoniens, einer Staatengemeinschaft, die das Prinzipat Katalonien einschloss. „This work was about the fire-related local celebrations for the day of Saint John, as well as popular dances.“ (Josep Mestres Quadreny, Vida i obra de Robert Gerhard, S. 247.) Das dazugehörige Libretto wurde von Gerhards engem Freund Ventura Gassol, der katalanischer Bildungsminister gewesen war, unter dem Titel Les feux de Saint Jean verfasst. Eine explizit politische Deutungsebene eröffnet Julian White auch in Bezug auf Gerhards Ballett Ariel (1934). White stellt einen Nexus zwischen den blutigen Ereignissen des Spanischen Oktobers 1934 und dem Thema aus dem zweiten Satz (Adagio) von Ariel aus dem gleichen Jahr her: „The ballet’s turbulent subject matter – centred on the conflict between good an evil embodied in the free spirit Ariel and the savage Caliban – must be seen against the backdrop of the worsening situation in Spain.“ Julian White, ‚Lament and laughter‘: emotional responses to exile in Gerhard’s post-Civil War works, in: Proceedings of the 1st International Roberto Gerhard Conference, Huddersfield 2010, S. 35. Gerhards Ballettkomposition Pandora entstand während des Zweiten Weltkriegs im Auftrag der Balletttruppe des Choreographen Kurt Jooss. Es komplettiert Jooss’ Trilogie, die mit der expressionistischen Anti-Kriegs-Satire Der Grüne Tisch von 1932 (Musik von Fritz Cohen) begonnen und mit Chronica von 1938 (Musik von Berthold Goldschmidt) fortgesetzt wurde. (Siehe David Drew, Notes on Gerhard’s ‚Pandora‘, in: Tempo Nr. 184 (März 1993), S.14.) Wie Julian White bemerkt, handelt es sich bei Gerhards Ballett um eine aktualisierende Lesart des Pandora-Mythos: „[…] the ballet tells of man’s eternal struggle between material and spiritual
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auch die während der 1940er Jahre im Exil fortgesetzte Beschäftigung mit traditionell spanischen Gattungen und spanischer Folklore lässt sich im Licht der Auseinandersetzung mit dem Spanien der Republik sehen. Insofern sich in den ersten Jahren von Gerhards englischem Exil eine sogar verstärkte Hinwendung zu spanischnationalen Themen feststellen lässt, fügt sich Gerhard in ein typisches Muster spanisch-republikanischer Exil-Intellektueller. Faber hat am Beispiel nach Mexiko exilierter Intellektueller ausführlich analysiert, wie sich in deren kulturellem Schaffen ein ideologisch um das Konzept der Volksfront zentrierter, auf die Jahre der Zweiten Spanischen Republik von 1931 und des Spanischen Bürgerkriegs zurückzuführender Diskurs um die ‚authentische‘ spanische Nation aufrecht erhielt und im Exil sogar noch eine Intensivierung und idealisierende Steigerung erfuhr.56 Nach Faber lässt sich die kulturelle Produktion jener Exil-Intellektuellen unter dem Aspekt einer Verarbeitung der gescheiterten Vorstellung von der Nation verstehen („[…] as a coming to terms with […] the impossibility of the Spanish nation – or at least the nation as the different Republican factions imagined it“).57 Er resümiert, die Reaktion auf das Trauma des Bürgerkriegs sei sowohl auf der Seite der Franquisten wie auch der Republikanhänger nicht etwa ein Verstummen nationaler Mythologien, sondern im Gegenteil deren Steigerung gewesen. Träume von nationaler Größe seien so nicht nur in Franco-Spanien, sondern auch im Denken der exilierten Republikanhänger ausfindig zu machen.58 Diese stünden in scharfem Kontrast zu der machtlosen, schwachen Position der Exilanten und der exilierten Republik am Rand internationaler Politik. In Kompensation dieser schwachen Position zeigt Faber, dass sich der Exil-Diskurs um die Nation wesentlich auf kulturelles Gebiet verlegte.59 (Im Gegenzug lässt sich behaupten, dass der Begriff Kultur in jenem Diskurs ein tendenziell ideologisierter und politisierter war).60 Faber verweist auf
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forces (personified by the figures of Pandora and Psyche respectively), and is a contemporary reading of the classical myth in which the evils released from Pandora’s box take the form of machine-men, robots, go-getters and total war.“ (Julian White, National Traditions in the Music of Roberto Gerhard, in: Tempo Nr. 184 (März 1993), S. 8.) Da Gerhard hier (ebenso wie in Don Quixote und The Duenna) spanische Volksliedvorlagen einbrachte, liegt es nahe das kriegsund zivilisationskritische Thema in Gerhards Ballett auf Spanien und den spanischen Franquismus zu beziehen; White sieht Gerhards Zugriff auf Volksliedvorlagen in Pandora, möglicherweise „[…] in an attempt to relate its timeless and universal theme to the contemporary tragedy of his homeland.“ Ebd. Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S. 5 f., siehe auch ebd., S. 56. Faber versteht den nationalen Diskurs des Exils als geprägt v. a. durch die Erinnerung an die während des Spanischen Bürgerkriegs realisierte Politik der spanischen Volksfront: „And the Republican exile of 1939 can be seen in many ways as the aftermath, if not the heady hangover, of the brief but euphoric romance unifying the Western left.“ Ebd., S. 55. Ebd., S. xi (= Preface). Vgl. ebd. Ebd., S. 34, siehe auch ebd., S. 41. Faber fasst die Exilsituation als einen ‚Kampf um kulturelle Hegemonie‘ auf und äußert, für beide Seiten, sowohl das Franco-Regime als auch die Exilierten, sei der Ausgangspunkt dieses ‚Kampfes um kulturelle Hegemonie‘ ihre jeweilige Vorstellung von der Nation gewesen (vgl. ebd., S. 42). Mit Blick auf die republikanische Seite spricht Faber vom „Spanish left-wing nationalism“. Ebd., S. x (= Preface).
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den anachronistischen Charakter des im Exil aufrechterhaltenen Traums vom Volksfrontprojekt und der Republik, an dem, trotz Rückschlägen, festgehalten wurde – er nennt hier v. a. den während des Spanischen Bürgerkriegs initiierten Nichteinmischungspakt Englands, Frankreichs und der USA im August 1936, die Niederlage der Republik im Spanischen Bürgerkrieg im April 1939, v. a. aber den Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin im selben Jahr und schließlich den Anbruch des Kalten Krieges Ende der 1940er Jahre.61 „[…] this dream [the dream cherished by the Popular Front, G. L.] would continue to be the very raison d’être of Spanish Republicans who had left Spain and gone into exile. Their clock had stopped in 1936. In the context of global political developments, their unfulfilled utopian project and its rhetoric increasingly stood out as a tragic anachronism.“62
In seiner Hinwendung zu Unamuno fügt sich Gerhard in ein weiteres Muster des von Faber untersuchten spanisch-republikanischen Exildiskurses ein. Denn Faber bemerkt, dass der Diskurs der Exil-Intellektuellen hinsichtlich deren obsessiver Beschäftigung mit dem Schicksal und der Eigenart der Nation an die um das ‚Spanienproblem‘ zentrierte intellektuelle Produktion der Jahrhundertwende von Unamuno, Azorín, Maeztu, Altamira, Ganivet, Costa, und später, Ortega y Gasset angeknüpft habe – an jene Produktion also, die vom Bewusstsein eines Niedergangs der spanischen Nation, wie er in der Niederlage von 189863 endgültig manifest wurde, motiviert worden war.64 Er behauptet, das Projekt der Exil-Intellektuellen habe sich in Wenigem von dem jener Intellektuellen um 1898 unterschieden: Letztere hätten anhand der Kategorien der ‚Krankheit‘ und ‚Gesundung‘ auf eine Charakterisierung der Nation, auf eine Definition des nationalen kulturellen Erbes als gegenüber anderen Nationen sowohl verschiedenartiges wie auch wertvolles, und ultimativ auf eine Verteidigung spanischer Kultur hinsichtlich ihrer ‚universalen‘ Bedeutung 61
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Vgl. ebd., S. 55 f. Nach Faber determinierte der Kalte Krieg in zweifacher Weise die endgültige Niederlage des politischen Projekts der Republik-Spanier: Erstens habe das polarisierende Klima der 1950er Jahre zur Anerkennung Francos als Spaniens legitimes Staatsoberhaupt von Seiten der USA und der Vereinten Nationen beigetragen und die Machtansprüche der exilierten Republik-Spanier damit vollends abgewehrt. Zweitens macht Faber die bereits vor 1939 bestehende interne politische Gespaltenheit der spanischen Linken zwischen Kommunisten (Stalinisten) und Anti-Kommunisten dafür verantwortlich, an Regierungsfähigkeit eingebüßt zu haben. Vgl. ebd., S. 57 f., siehe auch S. 15 f. Ebd., S. 56. Im Jahr 1898 hatte Spanien an die USA seine letzten bedeutsamen Kolonien Kuba, Puerto Rico, Guam und die Philippinen verloren. Vgl. Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S. 43. Faber thematisiert v. a., dass der Kulturbegriff des Exil-Diskurses im intellektuellen Diskurs der Jahrhundertwende verwurzelt ist und führt als Ausgangspunkt dafür u. a. den frühen Unamuno von TC an. (Siehe ebd., S. 125–128.) Allerdings bemerkt er, dass der Kulturbegriff der Intellektuellen zur Zeit der Republik gegenüber dem des jungen Unamuno oder Azorín stärker politisiert gewesen sei. (Siehe ebd., S. 128.) Weiter weist Faber auf eine von beiden spanischen Lagern ausgehende Vereinnahmung der intellektuellen Produktion um das ‚Spanienproblem‘, der Schriftsteller der regeneración, der ‚Generation von 1898‘ und der ‚Generation von 1914‘ hin. Sie seien sowohl von republikanischer als auch von franquistischer Seite zur eigenen Legitimation angeführt worden. Vgl. ebd., S. 80.
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für die menschliche Zivilisation gezielt.65 Das Projekt der Exil-Intellektuellen charakterisiert er daneben folgendermaßen: „They were urged by moral outrage over the democratic West’s abandoning the Republic, horror over World War II, and maybe also, like their predecessors forty years before, by a sense of embarrassment brought about by military defeat. Their redefinitions and reinterpretations of national culture shared one goal: vindicating the importance of Spain, given its cultural and historical specificity, in the global concert of nations.“66
Faber verweist damit auf eine Vergleichbarkeit der beiden geschichtlichen Situationen67 und der beiden intellektuellen Diskurse. Diese Vergleichbarkeit spricht dafür, dass Unamunos Philosophie wie auch sein Bild von der Nation für Gerhard aktuell blieb oder wurde. In Bezug auf Gerhards Unamuno-Rezeption wird eine Aktualisierung des Diskurses um die spanische Nation im Weiteren nur am Rande zur Sprache kommen und hauptsächlich zu sehen sein, dass Gerhard mit den (lebens-)philosophischen und pragmatischen Aspekten von Unamunos Quixotismo vertraut war, die sich sogar in seiner Tonalitäts- und Zwölftonreflexion widerspiegeln. Für die Herleitung des quixotischen Codes aus Schriften Unamunos in Teil II wurden als Materialgrundlage v. a. die von Gerhard markierten Essays Unamunos herangezogen, von denen sich eine mehrbändige Ausgabe im Nachlass von Gerhards privater Bibliothek in Cambridge befindet. Dies soll aber nicht zu dem Missverständnis führen, dass Gerhards Gedankenwelt anhand solcher angestrichener Essays hermeneutisch erschlossen werden kann. Vielmehr sollte mit deren Hilfe eine Grundlage geschaffen werden, um eine adäquate Untersuchungskategorie für das Ballett und die Don Quixote-Metaphorik zu konstruieren. Die Vorstellung, in die Gedankenwelt eines derart komplexen und an biographischen Erfahrungen reichen Kopfes wie Gerhard quasi hineinzusteigen, ist verlockend, aber auch illusionär. Die von mir genutzte Untersuchungskategorie bildet für meinen Verstehensprozess daher eine methodische Verankerung – ein Gerüst, das den Plan meiner Arbeit gelenkt und ausgerichtet hat. Sie ist weder nur ein beliebiger Aufhänger für vielfache parallele Gedankengänge – denn die Bezüge zwischen Gerhards und Unamunos Denken erscheinen mir allzu reichhaltig, als dass sie nicht danach verlangen würden, in irgendeiner Weise systematisch vor- und dargestellt zu werden – noch funktioniert jene Kategorie im Sinne einer selbsttätigen Methode und unabhängig von dem an die Relevanz jenes Zugangs glaubenden Autorinnensubjekts und dessen Begrenzungen. Hier lässt sich an die Don Quixote-Metaphorik und an Gerhards Umgang mit der Zwölftontechnik denken: Ganz ähnlich wie sich Don Quixotes Rittertum-Ideal und sein Glaube an die Existenz Dulcineas und das Rittertum-Ideal als Hilfsmittel bei der Erschließung von Realität und für Don Quixotes Ideewerdung erweisen, und ähnlich Gerhards Äußerung, nach der präkompositionelle Vorordnungen für den Kom65 66 67
Vgl. ebd., S. 43. Ebd. Von Seiten der Historiker wird darauf hingewiesen, dass die Grundkonflikte und Kulturkämpfe, die im Spanischen Bürgerkrieg ausbrachen, bereits in der Krise von 1898 verwurzelt waren. Siehe Helen Graham, Der Spanische Bürgerkrieg, S.16–18 und Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S. 67.
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ponisten „nothing but a scaffolding that is meant to help him erect his soundedifice“68 seien, zielt die genannte Untersuchungskategorie in der vorliegenden Arbeit nicht darauf ab, ihrerseits affirmiert und nachgewiesen zu werden. Sie ist eines von vielen möglichen Hilfsmitteln, damit eine methodische Annäherung an Gerhards Komposition und deren lebensphilosophischen Kontext möglich und jener Kontext überhaupt sichtbar wird. Sie ist eine Annäherung, ohne Zugangskategorien der Willkür oder Beliebigkeit überlassen zu wollen.
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Roberto Gerhard, Functions of the Series in Twelve-Note Composition (1960), in: GoM, S. 173.
I. DER QUIXOTISCHE CODE – ZWÖLFTONTECHNIK ALS NEUE FORM VON TONALITÄT IN ROBERTO GERHARDS BALLETT DON QUIXOTE I.1. ZWÖLFTONTECHNIK ALS NEUE FORM VON TONALITÄT In der am 2. April 1955 gesendeten BBC-Sendung „Twelve-Note composition explained“, in der Roberto Gerhard1 das zuvor ins Englische übersetzte Buch Die Komposition mit Zwölf Tönen2 von Josef Rufer besprach (Composition with Twelve Notes, übersetzt von Humphrey Searle, London 1954), äußerte sich Gerhard zur schönbergschen Zwölftontechnik folgendermaßen: „In recent years the view has been gaining ground – and it is one to which Rufer subscribes – that the exclusive and specific concern of the Schoenbergian 12-note technique with matters of tonal organisation represents a new conception of the principle of tonality. Or let’s put it like this: it is being viewed by some of us, as a re-interpretation of the classical principle of tonality on a new plane. Admittedly, the view is still disputed, even among 12-note composers.“3
Gerhard räumt ein, ‚sogar‘ unter Zwölftonkomponisten sei jene Auffassung der Zwölftontechnik als Re-Interpretation des Prinzips von Tonalität umstritten. Diese Einräumung erscheint vorsichtig. Denn gerade viele Zeitgenossen Gerhards, welche die Zwölftontechnik auf eine geschichtsteleologische Grundlage stellten, hätten nicht nach der Erneuerbarkeit von Tonalität gefragt, sondern vielmehr den regressiven Charakter des Fragens nach Tonalität im Kontext der Zwölftonmusik betont. Die Erzählung von einem mit dem Schritt in die Atonalität vollzogenen Bruch mit der als ‚verbraucht‘ betrachteten Tonalität, mit welchem die Suche nach einem Substitut für die formbildenden Funktionen der Tonalität begann4, motivierte nach
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Gerhards Vorname ‚Robert‘ etablierte sich außerhalb Spaniens und spätestens im englischen Exil als ‚Roberto‘. In der vorliegenden Arbeit folge ich dieser Schreibweise, behalte aber in denjenigen Zusammenhängen, in denen von ‚Robert‘ die Rede ist, die katalanische Form bei. Ein mit Anstreichungen versehenes Exemplar von Rufers Buch befindet sich in Gerhards Nachlass im Roberto Gerhard-Archiv CUL: Josef Rufer, Die Komposition mit Zwölf Tönen, Berlin und Wunsiedel: Max Hesses 1952 (=Stimmen des XX. Jahrhunderts, Bd. 2), CUL MS.Gerhard.31.46. Josef Rufer war Arnold Schönbergs Assistent in dessen Berliner Meisterklasse an der Preußischen Akademie der Künste. Alonso Tomás nennt Josef Rufer und Adolph Weiss als enge Freunde Gerhards und Schönbergschüler, mit denen ein brieflicher Kontakt auch lange nach der gemeinsamen Studienzeit bestehen blieb. Er verweist darauf, dass Rufer und Gerhard in Berlin zeitweilig Nachbarn waren und sich den gleichen Flur teilten. Vgl. Diego Alonso Tomás, ‚Unquestionably Decisive‘: Roberto Gerhard’s Studies with Arnold Schoenberg, in: RGC, S. 30. Roberto Gerhard, Twelve-Note composition explained, BBC talk (=Radio-Skript zur Sendung am 2. April 1955), CUL 11.43. Siehe Arnold Schönberg, Composition with Twelve Tones (1) (1941), in: Style and Idea: Se-
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Schönberg die Entstehung der Zwölftontechnik5 als historisch notwendig.6 Die Auffassung von der Zwölftontechnik als ‚Kompensation‘ verlorengegangener formbildender Tendenzen der Harmonie7 thematisierte einerseits Tonalität im Zwölftonkontext, konnte andererseits aber auch dazu führen, diese als ersetzt und damit als erledigt zu betrachten. Insofern konnte sich eine Auffassung von Zwölftonmusik als atonaler Musik etablieren – verstanden als Musik, die nicht auf dem Dur-Moll-tonalen System beruht. Diese Negierung von Tonalität basierte auf einem engen Tonalitäts-Konzept: Hatte man die Bedeutung von Tonalität auf die eines (quasi syntaktischen) Mittels zur Zusammenfassung und Gliederung8 musikalischer Zusammenhänge verengt (auf eine durch „Kunstmittel“9 erzeugte Tonalität), dann ließ sich freilich behaupten, dass Tonalität in dieser Funktion durch motivische Tonbezüge ersetzt werden konnte.10 Die Frage nach einer Zwölfton-Tonalität schien vor diesem Hintergrund ausgeräumt werden zu können.11 Dennoch kam die Frage nach Tonalität oder Tonalitätsanalogien sowohl bei der Analyse schönberg-
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lected Writings of Arnold Schoenberg, hrsg. von Leonard Stein, übersetzt von Leo Black, Berkeley 1984, S. 216 f. „After many unsuccessful attempts during a period of approximately twelve years, I laid the foundations for a new procedure in musical construction which seemed fitted to replace those structural differentiations provided formerly by tonal harmonies.“ Ebd., S. 218. „The method of composing with twelve tones grew out of a necessity.“ Ebd., S. 216. Felix Wörner spricht von „Zwölftontechnik als Kompensationsmodell“. Felix Wörner, „…was die Methode der ‚Zwölftonkomposition‘ alles zeitigt…“: Anton Weberns Aneignung der Zwölftontechnik 1924–1935, Bern u. a. 2003, S. 161. In Notizen zu Schönbergs Aufsatz Probleme der Harmonie ist zu lesen: „Die Funktion der Tonalität ist a) zusammenfassend, b) gliedernd“. Arnold Schönberg, Notizen zu Probleme der Harmonie (Januar 1927), T23.03 [=Archivnummer des Nachlasses im Arnold Schönberg Center Wien (im Folgenden ASC)], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 2: Quellen, Hildesheim 2005, S. 787. Schönberg verweist darauf, dass die Bindung an eine Tonart weniger eine Angelegenheit des verwendeten Tonmaterials ist, sondern vielmehr aus aktiv hergestellten Zusammenhängen in einer Komposition resultiert: „Die Tonalität ist keine eingeborene, naturgegebene Eigenschaft eines Tonstückes, sondern eine durch Kunstmittel erzeugte.“ Ebd., S. 786. Zur Ansicht, dass die formale Einheit stiftenden Funktionen der Dur-Moll-Tonalität in der Zwölftontechnik durch Motivbeziehungen ersetzt werden, siehe etwa Ernst Krenek, ZwölftonKontrapunkt-Studien, Mainz 1952, S. 6 f. Krenek reflektiert dabei die Voraussetzung einer begrifflichen Eingrenzung des Begriffs der Tonalität „auf das System der Dur- und Molltonarten“, vgl. ebd., S. 6. Ein weiteres Argument für die Irrelevanz jener Frage fand Herbert Eimert. Er vertrat die Ansicht, die Kategorie der Tonalität sei restlos in derjenigen der Klangfarbe aufgegangen: „Schönbergs Emanzipation der Dissonanz war eins der folgenschwersten Ereignisse in der Musik unseres Jahrhunderts. Sie wurde eine der Voraussetzungen der Zwölftontechnik, von der man lange geglaubt hat – und manche glauben es heute noch –, sie würde, analog den Funktionsgesetzen der Dreiklangsverbindungen, zu einer im Hören vollziehbaren Zwölfton-‚Tonalität‘ führen […]. Heute sieht man, daß diese Zwölfton-Tonalität nicht stattgefunden hat, eine Illusion gewesen ist, und daß sich die Emanzipation der Dissonanz gradlinig in der Emanzipation der Geräuschfarben fortgesetzt hat.“ Herbert Eimert, Grundlagen der musikalischen Reihentechnik, Wien 1964, S. 13. Hier könnte man allerdings anbringen, dass Eimert die grundsätzlich unterschiedlichen Kategorien von Tonorganisation und Klangfarbe gegeneinander ausspielt.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
scher Zwölftonkompositionen12 als auch in Schönbergs eigener theoretischer13 und 12
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Von „hexachordal levels“ im Sinne ‚harmonischer Regionen‘ ist bei Ethan Haimo im Zusammenhang mit Schönbergs Nutzung tongehaltlich zusammenhängender Reihenformen (bzw. von combinatoriality) in der Sonatenhauptsatzform des Kopfsatzes von Schönbergs viertem Streichquartett op. 37 die Rede. (Siehe Anm. 41.) Mit Blick auf den wiederholten Zugriff auf jene zusammenhängenden Reihenformen zum Schluss des Satzes, wird die Rückkehr zu einem Äquivalent der Tonika behauptet: „It is entirely in keeping with the parallels Schoenberg articulated with tonal models that this quartet movement concludes by returning to the twelve-tone equivalent of the tonic – the opening complex of set forms with which the movement began […].“ Ethan Haimo, The Mature Twelve-Tone Method, in: The Arnold Schoenberg Companion, hrsg. von Walter B. Bailey, Westport Connecticut 1998, S. 154. Bei der von Haimo angebrachten Tonalitätsanalogie wird zwar unmissverständlich der Transfer einer alten Kategorie in einen neuen Kontext klar. Nicht explizit geklärt wird allerdings die Frage, ob und inwiefern bei diesem auf Gemeinsamkeit abzielenden Transfer Aspekte der alten Tonalität zum Verschwinden gebracht werden – die Analogie also möglicherweise mit einer Differenz ‚erkauft‘ wird. Weiter könnte danach gefragt werden, warum eine Tonalitätsanalogie in der Analyse bemüht wird: Wird sie v. a. im Sinne einer Vorstellungshilfe für den Rezipienten eingesetzt (quasi vermittelnd), oder wird tatsächlich auf einen zugrunde liegenden ‚Glauben‘ referiert, dass hier genau oder ‚wesenhaft‘ dieselben Tonbezüge vorliegen wie in der alten Dur-Moll-Tonalität? Und wer wäre in diesem Fall der ‚Glaubende‘, Komponist oder Analysierender? Die Einordnung der tonalitätsähnlichen oder -äquivalenten Phänomene von Zwölftonmusik in einen Tonalitätsdiskurs mag mit Bezug auf Aussagen des Komponisten zu stützen und zu legitimieren sein. Dennoch wären dabei auch die theoretischen Bedingungen der zugrunde liegenden Tonalitätsbegriffe zu klären. Wie Manuel Gervink ausführt, stand Schönberg der Frage, ob eine tonale Harmonik naturgegeben sei, und damit ein Naturgesetz darstellt, „durchaus zwiespältig gegenüber“. Manuel Gervink, Zwischen Theorie und Mystik – Arnold Schönbergs Weg zur Reihentechnik, in: Die Sprache der Musik, Festschrift Klaus Wolfgang Niemöller zum 60. Geburtstag, hrsg. von Jobst P. Fricke, Regensburg 1989, S. 203. Obwohl Schönberg dem Prinzip der Tonalität die natürliche Grundlage abspreche (Gervink verweist hier auf eine entsprechende Stelle in Schönbergs Harmonielehre, Wien 31922, S. 27.), habe er auch in späteren „Aufzeichnungen, Skizzen und Entwürfen“ immer wieder versucht, „Klarheit über das Wesen der Tonalität zu gewinnen. […] Offensichtlich ist ihm die Überwindung der Tonalität sehr viel schwerer gefallen, als man bislang angenommen hat […].“ Ebd., S. 203 f. Mit Blick auf zwei zusammenhängende Skizzenblätter (ein undatiertes, von Schönberg nachträglich auf das Jahr 1923 oder 1924 zurückdatiertes Skizzenblatt mit dem Titel „Tonalität“ und dessen Fortsetzung vom 9. August 1932) beschreibt Gervink Schönbergs Argumentationsgang folgendermaßen: „Um zu beweisen, daß die Tonalität kein Naturgesetzt sein kann, vergleicht er ihre Spezifika mit denen eines tatsächlichen Naturgesetzes und kommt dabei zu dem Ergebnis, daß in der Tonalität die Tonfolgen auch nach anderen Kriterien als denen der tonalen Harmonik geregelt werden können. Da dies bei einem Naturgesetz nicht möglich wäre, kann auch die Tonalität kein Naturgesetz sein.“ Ebd., S. 204 (Die genannten Skizzenblätter sind abgedruckt bei Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 2: Quellen, S.808 f.). Auch in Schönbergs Gedanke einer eventuell nur vorübergehenden Vermeidung tonaler Elemente in neuer Musik manifestiert sich jenes Schwanken in Bezug auf eine zu erwägende, zeitlose Gültigkeit von Tonalität. So äußerte Schönberg in Notizen zu seinem Aufsatz Probleme der Harmonie: „[d]urch meine Darlegung über die bedingte Notwendigkeit der Tonalität“ habe er nicht etwa beweisen wollen, dass „[…] tonales Komponieren (wie man es nennt; besser sollte man sagen: tonartbetonendes Kompositionsverfahren) in Zukunft ausgeschlossen sein muß. Ich kann mir im Gegenteil sehr gut vorstellen, daß die Abneigung einiger heutiger Komponisten gegen die tonalen Akkorde und Akkordfolgen nur zeitbedingt ist[,] daß auch sie nur
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kompositionspraktischer14 Tonalitätsreflexion immer wieder auf. Allzu oft wurden Tonalitätsanalogien bemüht, die sich bei genauerem Hinsehen als hinkende erweisen, sodass ein Verweis auf die grundsätzlichen Unterschiede des tonalen und des Zwölftonsystems und auf eine Inkommensurabilität beider Kategorien angemessen sein konnte.15 Im Fall Gerhards ist es allerdings unerlässlich, den zugrunde gelegten weiten Tonalitätsbegriff als Voraussetzung seines Zusammenführens jener beiden Kategorien zu reflektieren und danach zu fragen, was die Re-Interpretation von Tonalität „on a new plane“ bedeuten konnte und auf welchen konzeptuellen Voraussetzungen sie beruhte. Einen Zusammenhang zwischen Zwölftontechnik und Tonalität hatte Schönberg hypothetisch in seiner Harmonielehre aufgeworfen: „[…] atonal wird man irgend ein Verhältnis von Tönen sowenig nennen können, als man ein Verhältnis von Farben als aspektral oder akomplementär bezeichnen dürfte. Diesen Gegensatz gibt es eben nicht. Zudem ist die Frage gar nicht untersucht, ob das, wie diese neuen Klänge sich schließen, nicht eben die Tonalität einer Zwölftonreihe ist.“16
Gerhard zitiert diesen Passus in seinem 1952 erschienenen Artikel Tonality in Twelve-Tone Music (1952) (im Folgenden TTM) und kommentiert: „It is an illuminating remark. The tonality of a twelve-tone series … the two notions had never been brought together like that before. Their conjunction was entirely new and unforeseen, It amounted to what must in fact be regarded as a bold hypothesis which, some of us nowadays think, subsequent developments have proved correct.“17
Gerhards Kommentar lässt sich vor dem Hintergrund der in TTM beschriebenen Theorie und Praxis seiner Verwendung der segmentierten Reihe betrachten. Er formuliert darin die Einsicht, dass jede individuelle Reihe auf den Archetyp eines Hexachord-Paars (oder allgemein einer Segment-Anordnung) zurückzuführen ist und die spezielle‚Ansicht‘ dieses „abstract archetype“ darstellt.18 Der Archetyp ist dabei durch die Bewahrung des Tongehalts seiner Segmente gekennzeichnet, der unabhängig von der Permutierung von Segmenttönen identisch bleibt. Auch wenn
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eine Stufe auf dem Weg ist, der zu neuer Kunst führt.“ Arnold Schönberg, Notizen zu Probleme der Harmonie (Januar 1927), abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 2: Quellen, S. 794. Zu Schönbergs ‚Rückkehr‘ zur Tonalität in einzelnen Kompositionen der amerikanischen Exiljahre siehe Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“. Die Ambivalenz der Tonalität in Werk und Lehre Arnold Schönbergs, Mainz 2008. In diesem Sinne bemerkte Michael Polth: „Die Hoffnung mancher Komponisten der Wiener Schule, die Zwölftontechnik könne die Leistungen der traditionellen Tonalität ersetzen, sind – wenn man von der naiven und irrigen Auffassung absieht, die Reihentechnik sei eine Art von Tonalität – [hierbei referiert Polth auf Josef Rufer, Die Zwölftonreihe: Träger einer neuen Tonalität, in: ÖMZ 6 (1951), S. 178–182), G. L.] verständlich, insofern die harmonische Tonalität den Idealfall eines funktionalen Systems bildet […].“ Michael Polth, Dodekaphonie und Serialismus, in: Musiktheorie, hrsg. von Halga de la Motte-Haber, Laber 2005, S. 429. Siehe auch Felix Wörner, „…was die Methode der ‚Zwölftonkomposition‘ alles zeitigt…“: Anton Weberns Aneignung der Zwölftontechnik 1924–1935, S. 161 f. Arnold Schönberg, HL, 31922, Reprint Wien 2005, S. 486, Fußnote. Roberto Gerhard, TTM (1952), in: GoM, S. 116. Vgl. ebd., S. 126.
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also die Hexachordtöne einer individuellen Reihe beliebig permutiert würden, wären die so entstandenen – dem Auge nach unterschiedlichen – Reihen dennoch auf einen gleichen, ihnen zugrunde liegenden Archetyp zurückzuführen: „[…] the identity of the series will be maintained in spite of permutation, provided that this takes place exclusively within the constituent units (hexachord, tetrachord etc), in other words, as long as these constituent units maintain their identity and place.“19
(Die Vertauschung von Reihensegmenten wäre dabei nicht zulässig bzw. nicht mehr mit der Identität des zugrunde liegenden Archetypen vereinbar und auf einen anderen Archetyp zurückzuführen.) Vor dem Hintergrund des Archetypen lässt sich eine Reihengestalt zweifach bestimmen, erstens als substanzielle Gestalt, in welcher das gesamte serial field einer Reihe (die Gesamtheit ihrer meist 48 Reihenformen), und damit zugleich die Bedingungen tongehaltlicher Gemeinsamkeiten, Verwandtschaften oder Komplementarität von Reihensegmenten gewissermaßen als Information gespeichert sind. Identifizierbar wird der Archetyp einer Reihe durch die Skalenanordnung der Segmenttöne, welche so in besonders deutlicher Weise auf die substanziellen Eigenschaften einer Reihe hinweisen kann.20 Zweitens lässt sich die Reihe im Sinne einer wahrnehmbaren Themengestalt bestimmen, die auf der motivischen Bezugsebene nutzbar ist, sich jedoch mit Blick auf die substanzielle Gestalt des Archetyps als variabel betrachten lassen muss, insofern die Umstellung von Reihentönen innerhalb eines Segments die kombinatorischen Eigenschaften einer Reihe nicht berührt. Während also die Gestaltebene einer Reihe innerhalb des Segmentrahmens eine Varianz der Intervallanordnung zulässt, würde hingegen auch die kleinste Intervalländerung der Reihen-Skalenform den Archetypen und dessen kombinatorische Eigenschaften verändern und hätte somit weitreichende Konsequenzen; vergleichbar mit der Intervallanordnung eines Fugensoggettos, bei der die Änderung eines einzigen Intervalls folgenreich für dessen kontrapunktischen Gebrauch wäre (siehe Kapitel I.2). Mit der Entdeckung des Archetypen ‚hinter‘ einer Reihengestalt trat so neben die motivische Bezugsebene die Bezugsebene der tongehaltlichen Verwandtschaft von Reihen und der tongehaltlichen Identität (Invarianz) von Reihensegmenten im serial field einer Reihe. Eine bedeutsame Rolle für das von Gerhard postulierte neue Reihenkonzept spielt Schönbergs Praxis der hexachordal combinatoriality.21 Aus der Tatsache, 19 20
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Ebd. Besondere Bedeutung erhält für Gerhard dementsprechend die Skalenanordnung von Hexachordtönen in dem von ihm angeführten Notenbeispiel, den ersten Takten von Schönbergs Operneinakter Von heute auf morgen op. 32. Siehe ebd., S. 125 f. (siehe Notenbeispiel ebd., S. 115). Gerhard interpretiert jene Skalenanordnung im Sinne einer Referenz auf den Reihenarchetyp. In seinem Aufsatz Composition with twelve tones beschrieb Schönberg ein Verfahren, das, so bemerkt Christian Martin Schmidt, ab den Orchestervariationen op. 31 zur satztechnischen Norm der schönbergschen Zwölftonkomposition wurde und von Milton Babbitt unter der Bezeichnung combinatoriality genauer untersucht wurde. Christian Martin Schmidt, [Art.]. Schönberg, Arnold, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 14, Kassel u. a. 2005, Sp. 1629. Schönberg griff dabei auf einen
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dass sich im serial field einer Reihe bestimmter Bauart ein P/I-Reihenpaar finden lässt, das – bei unterschiedlicher Anordnung der Hexachordtöne – Hexachorde gleichen Tongehalts aufweist, zog Gerhard die Konsequenz der Abschwächung einer primär durch ihre „consecutive order“22 bestimmten Reihe. Jener Fall konnte dabei gleichsam als vom serial field eigens hervorgebrachte, systemimmanente Permutierung erscheinen und als solche einen rigorosen Zwang zur consecutive order schwächen, und hingegen den Archetyp als zentralen Bezugspunkt stärken. In Bezug auf das von ihm angeführte Beispiel aus Schönbergs Oper Von heute auf morgen erklärt Gerhard, die von Schönberg innerhalb der Reihenhälften der kombinatorialen Reihen P0 und I5 vorgenommenen Permutierungen wiesen darauf hin, dass Hexachorde gleichen Tongehalts von Schönberg als austauschbare behandelt würden: „He [Schönberg, G. L.] is not just taking liberties with the serial order […]. Our example goes to show that he treats either of the two halves of the series as interchangeable with its corresponding hexachord – which postulates a relation of identity between the two interchangeable units. Now this is undoubtedly correct and must be allowed to rest on the same principle in which Rameau claimed the identity of a triad and its inversion.“23
Die hier von Gerhard herangezogene Tonalitätsanalogie besagt nicht etwa, dass jene Identität von Hexachorden gleichen Tongehalts innerhalb des serial field einer Reihe genau von der gleichen Art sei wie die funktionale Äquivalenz unterschiedlicher Dreiklangsumkehrungen im System der harmonischen Tonalität. Gerhard spricht vielmehr von einem Prinzip, das beiden Formen von Identität (als etwas Drittes) zugrunde liegt. Damit legt er nahe, dass es Prinzipien der Tonbeziehungen gibt, an denen sowohl das eine als auch das andere System teilhat. Dennoch steht
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bestimmten Reihentyp zu, in dessen serial field sich eine Grund- und eine Inversionsreihe mit Hexachorden gleichen Tongehalts fand, wobei der Tongehalt des Hex.2 der Grundreihe, jenem des Hex.1 der Inversionsreihe entsprach und umgekehrt. Die beiden ersten und die beiden zweiten Hexachorde (die corresponding hexachords) von Grund- und Inversionsreihe ergeben dabei simultan übereinandergeschichtet jeweils den kompletten Bestand der 12 Töne (ein Zwölftonfeld), ohne dass Reihentöne wiederholt auftreten: „Later, especially in larger works, I changed my original idea, if necessary, to fit the following conditions: […] the inversion a fifth below of the first six tones, the antecedent, should not produce a repetition of one of these six tones, but should bring forth the hitherto unused six tones of the chromatic scale. Thus, the consequent of the basic set, the tones 7 to 12, comprises the tones of this inversion, but, of course, in a different order.“ (Arnold Schönberg, Composition with Twelve Notes, (1) (1941), in: Style and Idea: Selected Writings of Arnold Schoenberg, hrsg. von Leonard Stein, übersetzt von Leo Black, Berkeley 1984, S. 225, siehe auch Josef Rufer, Die Komposition mit zwölf Tönen, S. 89–91.) Wie Gerhard bemerkte, trifft diese combinatoriality-Relation nicht, wie von Schönberg hier geäußert, ausschließlich für den Fall des Transpositionsintervalls einer Quinte abwärts zu, sondern kann je nach Reihendisposition und serial field auch andere Transpositionsintervalle zwischen Grund- und Inversionsreihe betreffen. Gerhard verweist so auf das Transpositionsintervall einer kleinen None abwärts im Fall derjenigen Reihen, die in Schönbergs Bläserquintett op. 26 im combinatoriality-Verhältnis stehen. Vgl. Roberto Gerhard, TTM, S. 124. Gerhard spricht in Bezug auf die Intervallfixierung der Reihe von der „consecutive order“, „serial order“, oder „consecutive serial order“ der Reihentöne. Vgl. ebd., TTM, S. 126–128. Den ersten dieser Ausdrücke übernehme ich im Folgenden. Ebd., S. 126.
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damit latent die Annahme im Raum, dass unterschiedlich rotierte Hexachorde gleichen Tongehalts, und damit unterschiedliche Akkorde, eine funktional identische Harmonie repräsentieren, wie dies im Fall der Akkordumkehrungen nach der Riemannschen Funktionstheorie der Fall ist.24 Bei einer Übertragung dieser Annahme auf die Zwölftontheorie wäre von Bedeutung, dass einem unordered set zugeschrieben würde, über seine bestimmte Akkordgestalt hinaus eine Harmonie zu repräsentieren (und dies ohne das Vorhandensein einer Tonika). Für Gerhard stellte sich die neue, auf den Reihenarchetyp bezogene Konzeption als konsequente Fortentwicklung der früheren, auf die fixierte Intervallanordnung bezogenen Reihenkonzeption dar; die Lizenz zum freien Permutieren von Segmenttönen konnte als systemeigen vorgeprägt und legitimiert erscheinen.25 Die Kontinuität in der Entwicklung von der alten hin zur neuen Reihenauffassung betonend, räumt Gerhard der consecutive order auch innerhalb der neuen Reihenauffassung einen Platz ein: „From the standpoint of the permutational treatment, the original consecutive order of the series […] can be allowed a privileged position as thematically significant, and be used, as Schoenberg says, ‚in the manner of a motif‘. Thus the two treatments can go hand in hand […].“26
Demzufolge besteht nun gewissermaßen die Möglichkeit, den Stellenwert, den man der motivisch-thematischen Zusammenhangsbildung gibt, selber zu wählen.27 Gerhards Toleranz gegenüber einem ‚Hand-in-Hand-Gehen‘ von motivisch-thematischer einerseits und tongehaltlicher, durch das Segmentverhältnis der Reihe bestimmter Zusammenhangsbildung andererseits, nahm allerdings in späteren Jahren ab. In seinem Artikel DTT (1956) äußert Gerhard, die Sicherung musikalischen Zusammenhangs mittels motivischer oder thematischer Bezüge, gehöre einem Sta24
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Mit Bezug auf die riemannsche Funktionstheorie diskutiert Carl Dahlhaus die „Bestimmung des Akkords als das Präsente und der Harmonie als das Repräsentierte […]“. Vgl. Carl Dahlhaus, Terminologisches zum Begriff der harmonischen Funktion, in: Ders., Gesammelte Schriften 2. Allgemeine Theorie der Musik II: Kritik – Musiktheorie/ Opern- und Librettotheorie – Musikwissenschaft, hrsg. von Hermann Danuser u. a., Laaber 2001, S. 276–287, hier S. 277. Siehe hierzu auch den von Gerhard explizit angeführten Fall einer systemeigen hervorgebrachten Schein-Permutierung. Gerhard interpretiert ein aus Schönbergs Aufsatz Composition with twelve tones entnommenes Beispiel aus dem Rondo von Schönbergs Bläserquintett op. 26 im Sinne einer „pseudo-permutational order“. Vgl. Gerhard, TTM, S. 127 sowie den Abdruck des dazugehörigen Notenbeispiels in Schönberg, Komposition mit zwölf Tönen (1935/1941), in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtech, Frankfurt a. M. 1976, S. 85. Roberto Gerhard, TTM, S. 127. Vgl. ebd. Siehe hierzu auch die Formulierung desselben Gedankens in dem zwei Jahre zuvor verfassten Brief Gerhards an Schönberg: „Das Entscheidende, von diesem Gesichtspunkt aus, ist die Tatsache, dass keine zeitliche Ordnung der Reihenfolge der Töne innerhalbe[sic] der Hexakkorde[sic] grundlegend und definitif[sic] vorbestimmt ist. Eine beliebige Reihenfolge kann zwar als, so zu sagen, thematisch privilegiert angesehen werden oder geradezu als kompositionell absolut bindend und verpflichtend: damit ist ein Nexus hergestellt zwischen Ihrer neuen und Ihrer früheren Behandlung der Reihe, und beide sind auf eine gemeinsame prinzipielle Grundlage gestellt. Von der abstrakten Grundlage aus gesehen, dürfen aber die Töne innerhalb der Hexakkorde in beliebiger Reihenfolge erscheinen.“ Roberto Gerhard, Brief an Arnold Schönberg vom 16. Dezember 1950, ASC Wien ID 10790, http://213.185.182.229/letters/ search_show_letter.php?ID_Number=10790 (letzter Zugang am 7.01.2015).
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dium prädodekaphonen (in Gerhards persönlicher Ausdruckweise: ‚prädodekatonen‘) Denkens an,28 was vollends die Stoßrichtung einer Loslösung von der motivischen Bezugsebene anzeigt und darauf hinweist, dass Gerhard die durch ihre Intervallfixierung bestimmte Reihenkonzeption als die uneigentliche ansah. Wie Darren Sproston in Bezug auf Gerhards sinfonische Kompositionen bemerkt, manifestiert sich in Gerhards erster Sinfonie (1952–53) der weitestgehende Punkt einer Loslösung von der privilegierten Bindung an die Ausgangs-Intervallanordnung der Reihe.29 Allerdings weist Sproston darauf hin, dass die Bindung an die consecutive order im Zusammenhang mit Gerhards quasi-serieller Praxis eine neue zentrale Bedeutung erlangt. So bindet sich Gerhard etwa in seiner zweiten Sinfonie (1957– 59) erneut an die fixierte Intervallanordnung seiner Reihe, um vermittels einer aus der Reihe abgeleiteten Proportionenreihe („proportion set“30) ein „time set“31 zur Organisation zeitlicher und rhythmischer Aspekte zu gewinnen; in der zweiten Sinfonie regelt die consecutive order der Reihe u. a. die Folge von Reihen-Transpositionen, und wird demgemäß auf einer übergeordneten makrostrukturellen Ebene eingesetzt.32 Wenn an die Stelle der Reihe als Themengestalt nun der Archetyp als zentraler Bezugspunkt der Tonhöhenorganisation trat, und – unter Berufung auf eine harmonische Identität tongehaltlich identischer Reihenhexachorde eines serial field – eine generelle Lizenz zum Permutieren von Segmenttönen gegeben wurde, dann mussten sich die Möglichkeiten der Erzeugung unterschiedlicher Reihengestalten theoretisch multiplizieren. Gewissermaßen mussten neben die vier Reihenformen P, I, R und RI noch sämtliche, aus der Permutierung von Segmenttönen hervorgehende 28 29
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„The notion of securing Zusammenhang or achieving patterns of connectedness through a network of motivic or, a forteriori, thematic correspondence belongs to a pre-dodecatonic mode of thought […].“ Roberto Gerhard, DTT, S. 134. In Bezug auf die allmähliche abnehmende Bedeutung einer motivisch-thematischen Nutzung der consecutive order bemerkt Sproston, „[t]his motivic use of the underlying fixed-order series is at its least evident in Symphony No.1“. Darren Sproston, Roberto Gerhard: The Serial Symphonist, in: RGC, S. 230. Unter den nicht-sinfonischen Werken wären hier v. a. die Three Impromptus für Klavier zu nennen. „The proportion set is the steering device for all time structural operations.“ Roberto Gerhard, DTT, S. 129. Ebd. Sproston bemerkt, dass sich Gerhards in DTT theoretisch erklärte Anwendung eines „time set“ v. a. auf sein kompositorisches Vorgehen in der zweiten Sinfonie beziehen lasse: „In Symphony No. 2 the tone row is directly employed to control rhythm, the transpositional orderings (using the acrostic pattern) and the duration of these transpositions.“ Darren Sproston, Roberto Gerhard: The Serial Symphonist, S. 250, siehe auch Sprostons Analyse jenes Vorgehens, ebd., S. 250–252. Die ‚erstmalige radikale Anwendung‘ eines „proportion set“ analysierte Rachel Mitchell im dritten Satz von Gerhards erstem Streichquartett. Vgl. Rachel E. Mitchell, Roberto Gerhard’s Serial Procedures and Formal Design in String Quartets Nos.1 and 2, in: RGC, S. 194. Sie spricht dabei von Gerhards „serially derived proportion theory“ und bemerkt mit Blick auf die von Gerhard als „Code“ bezeichnete Reihe (Roberto Gerhard, DTT, S. 129), aus der ein „time set“ abgeleitet wird: „Finally, the entire code is devided into segments, usually two hexachords, the elements of which can be added together to reveal a ruling proportion, providing formal direction for the movement.“ Ebd.
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Reihengestalten treten, die alle auf den Reihenarchetyp zurückgeführt werden konnten. Mit der Bindung an den Reihenarchetyp und der gegebenen Lizenz zur freien Permutierung von Reihentönen innerhalb eines Segments ging in Gerhards kompositorischer Praxis nicht nur eine Tendenz zur Loslösung von der motivischen, sondern im Gegenzug eine verstärkte Nutzung der tongehaltlichen Bezugsebene einher, die sich in einigen reihengebundenen Abschnitten des Don Quixote-Balletts bereits ankündigt (siehe Kapitel III.3). Die Nutzung tongehaltlicher Relationen zwischen Reihen und Reihensegmenten im serial field (d. h. der combinatoriality oder invarianter Tongruppen) wurde v. a. in den ersten nach 1949 entstandenen Kompositionen prominent, in denen Gerhard die Zwölftonreihe flächendeckend gebrauchte, und denen nun eine segmentierte, alle zwölf Töne umfassende (und nicht mehr eine geringerzahlige) Reihe zugrunde lag. Gerhards Gebrauch jener Relationen legte dabei Analogien zu den formbildenden Funktionen der alten Tonalität nahe. In Bezug auf die Sonatenhauptsatzform des 1950 entstandenen Kopfsatzes von Gerhards erstem Streichquartett (1950–55) wies Rachel E. Mitchell auf das von Gerhard hergestellte „condensed network of related rows based on hexachordal relations“33 hin und bemerkte, dass die von Gerhard genutzten tongehaltlichen Bezüge zwischen Reihen-Hexachorden hier sowohl auf der combinatoriality von Reihen wie auch auf der (partiellen oder kompletten) Invarianz von zumeist nicht komplementären, sondern ‚parallelen‘ Reihen-Hexachorden (d. h. corresponding hexachords) basiere.34 Im Zusammenhang mit jenem Sonatensatz zeigte Mitchell, dass Gerhard die tongehaltlichen Verwandtschaften zwischen Reihen-Hexachorden formbildend, d. h. zur Herstellung von „large-scale tonal connections“35 einsetzte. Sie stellte heraus, dass die Themenfunktion von Haupt- und Seitenthema sowohl in der Exposition als auch in der Reprise sich nicht allein durch die Reihengestalt, sondern wesentlich durch den Tongehalt der Reihenhexachorde konstituiert, und dass Gerhard die sonatensatzübliche Tonartentransposition in der Reprise auf dieser Ebene umsetzte: Zwar behalte das Seitenthema in der Reprise mit der Reihe P7 seine originale ‚Tonart‘ („its original ‚key‘ of P7“36), übernehme also nicht die ‚Grundtonart‘ des Hauptthemas („P6, as the main ‚tonality‘“37), diese werde jedoch im Begleitsatz des Seitenthemas durch die Reihen P3, P6 und P9, einer Folge tongehaltlich eng miteinander verwandter Reihen, repräsentiert (gewissermaßen stellvertretend für die Tonika-Region).38 Dies suggeriere „a primacy of pitch class rather than melodic content in formal design. Closely related hexachords may, for 33 34 35
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Rachel E. Mitchell, Roberto Gerhard’s Serial Procedures and Formal Design in String Quartets Nos.1 and 2, S. 184. Ebd. Ebd., S. 188. Mit Wörner ließe sich sagen, dass hier also eine „Umsetzung des Relationspotentials des Zwölftonsystems“ auf formkonstitutiver, „globaler Ebene“ analysiert wurde, und nicht auf „lokaler“ Ebene. Zu dieser Unterscheidung siehe Felix Wörner, „…was die Methode der ‚Zwölftonkomposition‘ alles zeitigt…“: Anton Weberns Aneignung der Zwölftontechnik 1924– 1935, S. 165. Ebd., S. 190. Ebd. Vgl. ebd., S. 190.
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Gerhard, function in the same manner as tonal regions.“39 Mitchell legt nahe, dass Gerhards Gebrauch tongehaltlich verwandter Hexachorde dem Zugriff tonal schreibender Komponisten auf tonartliche Verwandtschaften ähnlich sei und jene Hexachorde mit ihren engen tongehaltlichen Verwandtschaften im Sinne ‚tonaler Regionen‘ funktionierten.40 In einem ganz ähnlichen Sinn wie Mitchell, nämlich mit Blick auf eine Gruppe von vier zusammenhängenden Reihenformen, die aufgrund der combinatoriality-Relation einer P- und I-Reihe Hexachorde gleichen Tongehalts beinhaltet, analysierte Ethan Haimo in Schönbergs viertem Streichquartett op. 37 (1936) „hexachordal levels“, die er im Sinn ‚harmonischer Regionen‘ auffasste und denen er ebenfalls zuschrieb, formbildend wirksam zu werden.41 Die Frage nach Tonalität – „tonality on a new plane“ – könnte mit Blick auf eine derartige Umsetzung des neuen Reihenparadigmas in Gerhards Kompositionen Anfang der 1950er Jahre ausreichend geklärt erscheinen – ohne dass zwangsläufig die Frage nach der inhaltlichen Weite des zugrunde liegenden Tonalitätsbegriffs gestellt werden müsste: Ein formbildender Einsatz der präkompositionellen Relationen zwischen Hexachord-Tongehalten ließe sich in jenem Kontext also als ‚tonal‘ bezeichnen. Und es scheint, als habe Gerhard diese formbildenden neuen Möglichkeiten 39 40
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Ebd. „Because Gerhard treats his hexachords like tonal pillars – or rather, as the thematic and harmonic material for drawing the necessary connections required of such a form [die Sonatenhauptsatzform, G. L.] – he can uphold the sonata principle by preferring to progress only among closely related hexachords. Thus his tone row’s hexachords, along with their close relations, function in much the same way as tonal regions in conventional sonata-allegro movements.“ Ebd. In Bezug auf Schönbergs viertes Streichquartett op. 37 (1936) führte Haimo aus, dass Formabschnitten eine Gruppe vier zusammenhängender Reihenformen zugrunde liegt, nämlich eine P- und I-Reihe im Verhältnis der combinatoriality (hexachordal inversional combinatoriality) samt der jeweiligen Krebsreihe. Da es sich um Reihenformen mit demselben Hexachord-Tongehalt handelt, spricht Haimo in Bezug auf eine solche Gruppe von einem „Combinatorial Complex“ (CC). Die in den Takten 1–31 des Streichquartett-Kopfsatzes ausschließlich vorkommenden vier Reihen P0, I5, R0, RI5 fasst Haimo derart als CC-0 zusammen, die in den Takten 32–41 vorkommenden Reihenformen I10, P5 und ihre Krebsreihen bezeichnet er als CC-5 (vgl. Ethan Haimo, The Mature Twelve-Tone Methode, S. 134 und 144). Solche „hexachordal levels“ konstituieren damit jeweils zusammenhängende ‚harmonische Regionen‘, von denen Haimo zeigt, dass sie auch für die Formbildung jenes Kopfsatzes relevant sind, sich also eine „large-scale progression of twelve-tone regions“ (ebd., S. 144) ausmachen lässt, wenn er etwa zum Schluss des Satzes eine Rückkehr zur Region CC-0 konstatiert, die er als „twelvetone equivalent of the tonic“ in einem Sonatenhauptsatz auffasst (ebd., S. 154). Anhand der Kategorie ‚harmonischer Regionen‘ ließe sich sicherlich auch Gerhards Zwölftonpraxis im einstimmigen Flötenstück Capriccio (1949) analysieren, die weitgehend auf der Ausnutzung der combinatoriality von Reihen basiert. Gerhard verwendet innerhalb des ersten Formabschnitts vier Reihenformen, die Hexachorde gleichen Tongehalts aufweisen, nämlich eine P- und eine I-Reihe im combinatoriality-Verhältnis samt ihrer jeweiligen Krebsreihen, sodass es sich hier anbietet, von „hexachordal levels“ im Sinne Haimos zu sprechen. Das erste „hexachordal level“ der Reihen P0, I5, RP0 und RI5 bestimmt den ersten Formabschnitt in Capriccio, bis kurz vor seinem Ende mit der Tritonustransposition P6 (Mitte von T. 33) ein neues „hexachordal level“ einsetzt: P6 und I11 samt der zugehörigen Krebsreihen. Gerhard verwendet auch im weiteren Verlauf der Komposition die combinatoriality der Reihen, d. h. die Relation P(n)/I(n+5). Dies wäre an anderer Stelle ausführlicher zu untersuchen.
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der so verstandenen Zwölfton-Tonalität v. a. an tendenziell ‚absolut-musikalischen‘ Formen instrumentaler Kammermusik und der Sinfonie erproben wollen. Doch wie erwähnt, kam tongehaltlichen Bezügen zwischen Reihen und Reihensegmenten auch bereits im Don Quixote-Ballett eine besondere Bedeutung zu. Mit dem Artikel TTM lag Gerhards Reflexion über seine Praxis eines primär tongehaltlichen Gebrauchs der Reihe bereits als theoretisch ausformuliertes Ergebnis vor, während sich die Don Quixote-Komposition als Station auf dem Weg dorthin zeigt. Im Wissen um Gerhards Stoßrichtung, hin zu einer Loslösung von motivischen Bezügen und zur tongehaltlichen Bestimmung der segmentierten Reihe, kann klar werden, warum Gerhard für sein Ballett auf seine eigentümlich disponierte, geringerzahlige und Tondoppelungen aufweisende Don Quixote-Reihe zugriff: Eine solche Reihe war geeignet, um Tonhöhenkonzentrationen herzustellen und musste daher fast zwangsläufig das Potenzial tongehaltlicher Relationen zwischen Reihensegmenten im serial field betonen.42 Anders als im Fall des genannten Streichquartettsatzes, dem das traditionelle Formmodell eines Sonatenhauptsatzes zugrunde liegt, und an welchem Mitchell die formbildende Wirksamkeit der ‚tonalen‘ Bezugsebene deutlich machen konnte, kann den innerhalb einzelner Abschnitte der Ballettkomposition stattfindenden tongehaltlichen Reihen-Operationen in eher begrenztem Maß eine formale Reichweite zugesprochen werden. Lässt sich als Anzeichen für eine formale Reichweite tongehaltlicher Reihenbezüge die Beschränkung auf einige ausgewählte, tongehaltlich eng verwandte und quasi ‚thematisch‘ eingesetzte Reihenformen aus dem serial field sehen, wie sie Gerhard in dem Flötenstück Capriccio (1949), dem ersten Streichquartett und der ersten Sinfonie43 vornahm, so finden sich in den reihengebundenen Abschnitten des Balletts zwar zuweilen wiederkehrende Reihenformen und -transpositionen,44 Gerhard scheint seine Reihenkombinationen jedoch grundsätzlich aus dem gesamten serial field der Reihe (und nicht nur aus einem begrenz42
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Die Tatsache, dass Gerhard die Arbeit mit einer geringerzahligen Reihe nicht mehr weiter verfolgen sollte und den tongehaltlich fokussierten Weg seit 1949 nun unter den Bedingungen der zwölftönigen, segmentierten Reihe fortsetzte, kann, wie bereits in der Einleitung bemerkt, darauf hinweisen, dass sich mit der Arbeit an Don Quixote die von Gerhard vormals gesehenen Probleme einer harmonisch bestimmten Anwendung der Zwölftonreihe geklärt hatten – jene Probleme, die ihn vermutlich erst zur Anwendung der geringerzahligen Don Quixote-Reihe gebracht hatten. Auch in Bezug auf den Kopfsatz von Gerhards erster Sinfonie (1952–53) beschränkte Gerhard, wie Sproston bemerkt, den Gebrauch seiner Reihenformen auf vier Reihen (P0, P8, I0 und I8), die tongehaltlich verwandte Hexachord-Kombinationen mit fünf gemeinsamen Töne ermöglichten. Vgl. Darren Sproston, Roberto Gerhard: The Serial Symphonist, S. 232. Gut durchhörbar, stets in der Oberstimme eines reihengebundenen Satzes, kehrt so die melodische Statuierung der Reihe oder Reihenallusion von P3 (Hex.1) wieder, und dies an denjenigen Stellen, die inhaltlich mit der Vision, Krönung oder Entkrönung Dulcineas verbunden sind (5 Takte vor Ziffer 2 und Parallelstelle bei Ziffer 121, vgl. Kapitel III.3.2). Siehe hierzu die besondere Rolle der Anfangstöne (a, c) von P3, diese fungieren in der Stimme der Violine 1 als Reihenallusion: bei Ziffer 118 (Agitato), T.7 f. nach Ziffer 118 (hier zugehörig zu I3), Ziffer 120, Vl. solo, bevor in der Solo-Violine der komplette Hex.1 von P3 statuiert wird (T.5–9 nach Ziffer 120). In Verbindung mit Don Quixotes Entsagung von seiner locura kurz vor seinem Tod findet sich letztmals die Statuierung der kompletten Reihe P3 (1 Takt nach Ziffer 130, Picc./Fl./
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ten Ausschnitt desselben) geschöpft zu haben. Leitend für die tongehaltlichen Kombinationen der Don Quixote-Reihe war nicht ein übergeordnetes Formkonzept, sondern vielmehr eine Betonung (und durchaus auch Hierarchie) einzelner Tonhöhenpräferenzen, v. a. der tonsymbolisch bedeutsamen, als Invarianz oder Symmetrieachse genutzten Tonhöhen e und f (vgl. Kapitel III.4.2). Weiter steht die tongehaltliche Bezugsebene im Zusammenhang mit Don Quixotes Visionen ‚höherer Realität‘. So rücken mit Gerhards Ballett verstärkt inhaltliche Implikationen seiner Zwölfton-Tonalität ins Blickfeld. Das indirekt mit der verstärkt tongehaltlichen Nutzung der Reihe verbundene, von Gerhard in DTT formulierte, neue Konzept der Reihe als ‚Code‘, von dem sich vielfältige, und nach motivischen Kriterien möglicherweise unzusammenhängend erscheinende Reihengestalten ableiten lassen, assoziierte Gerhard mit der Figur des Don Quixote. Don Quixotes „code of behaviour“45 wurde für Gerhard zur Metapher für die Wirkungsweise der Reihe (siehe Kapitel I.3). Als immaterieller, sinnlich nicht wahrnehmbarer ‚Code‘, konnte die Reihe der ‚höheren Realität‘ entsprechen, die Don Quixote in die ihn umgebende Realität hineinzusehen vermag. So wie Don Quixote diese ihn umgebende Realität in die ‚höhere Realität‘ des Rittertums quasi transformiert (und damit Abenteuer zustande bringt), so versteht auch Gerhard die aus der Reihe ableitbaren Reihengestalten im Sinne von Transformationen – er spricht von Metamorphosen – und nicht lediglich als Abspulungen einer gestalt- und intervallfixierten Reihe. In Bezug auf die aus der Reihe ableitbaren Gestalten spricht Gerhard von „[…] hidden images or (if you like) metamorphoses already of bare interval relations. The simple spelling of the twelve-tone series forwards and backwards in the correct order seems to me too much like copying the flower of my wallpaper-pattern. I attend only to its metamorphoses. To Sancho, windmills are windmills. But Don Quixote, par excellence the knight of the hidden images, sees giants where Sancho can only see mere windmills.“46
Die Vorstellung einer ‚höheren Realität‘, die sich in der mannigfaltigen und scheinbar ungeordneten äußeren Realität manifestiert, die jedoch unerkannt bleibt, wenn man sich lediglich jener Außenseite von Realität zuwendet, führt ins Herz lebensphilosophischen Denkens bei Gerhard: Im Existierenden und Sich-Ereignenden gibt es einen Grund des Unveränderlichen, der hervorgebracht werden muss und durch die wechselnden Formen, in denen er sich manifestiert, hindurch aufrechterhalten wird – ‚Leben‘, das Beständige im Wechsel. Das Bestreben, einen unaufhörlichen Strom musikalischer Gestalten zu erzeugen, in dem sich gleichwohl ein beständiger Reihenarchetyp manifestiert, ist typisch lebensphilosophisch konnotiert. Zugleich führt diese Vorstellung direkt zu Miguel de Unamunos Beschreibung des in den Windmühlen Riesen erblickenden Don Quixote. Bei Unamuno vermag Don Quixote es, die sinnlich-zugängliche Objekt-Realität zu überwinden und in diese eine gedankliche, ‚höhere Realität‘ hineinzusehen; zugleich erkennt er in der objek-
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Ob), sodass denkbar ist, dass diese Reihenform inhaltlich in besonderer Weise mit der quixotischen locura, Illusion und Desillusion, verbunden wird. Vgl. Roberto Gerhard, DTT, S. 135. Ebd., S. 135 f.
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tivierenden Sichtweise auf die Realität die Gefahr einer Verstellung jenes MehrSehens.47 Es erweist sich damit keinesfalls als Zufall, dass Gerhard im Zusammenhang mit der Reihe als ‚Code‘ immer wieder ausgerechnet auf das Thema der als Riesen zu erkennenden Windmühlen – sprich: auf eine in die Realität hineinsehbare ‚höhere Realität‘ und einer Verstellung derselben durch die Objekt-Realität – Bezug nimmt. Gerhards tongehaltlich bestimmte Sichtweise auf die Reihe lässt sich dem Konzept einer primär in motivisch-thematische Verfahren eingebundenen Reihe, wie sie Josef Rufer48 anführt, entgegenstellen; Gerhards Tonalitätsanalogie steht auf völlig anderen Füßen als die Rufers. Rufer beschrieb die Reihe als einen aus der Grundgestalt hervorgehenden „Motivkomplex“, als welcher sie „die vereinheitlichende Idee der Zwölftonkomposition schon im Bereich des motivischen Materials, der kleinsten Formeinheit also“ ,49 realisiere: „Die Reihe ist nichts anderes, als die auf ihre motivischen Intervalle reduzierte Grundgestalt des Werkes. Das gibt ihr, als Motivkomplex, zwangsläufig selbst motivischen Charakter. Motivisch besagt: öftere, organische Wiederholung. Sie ist wesentliche Voraussetzung für den inhaltlichen Zusammenhang einer musikalischen Form.“50 47 48
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Siehe Kapitel II.3.1. Im Sommer 1949 berichtete Gerhard Schönberg von einer an ihn gerichteten Anfrage der Musik-Fakultät in Cambridge, im Folgejahr einen Kurs über Zwölfton-Komposition zu halten: „Ich habe sofort mit großer Freu[d]e[sic] und, wie ich nun fürchte, mit char[a]ckteristischer[sic] Unüberlegtheit angenommen – anstatt Sie vorerst zu fragen: würden Sie dies befürworten und würden Sie mir eine solche Verantwortung anvertrauen? Ich will natürlich meine endgültige Zusage von Ihrer Zustimmung abhängig machen.“ Roberto Gerhard, Brief an Arnold Schönberg vom 20. Juli 1949, S. 2 f., ASC Wien ID 10788, einsehbar unter: http://213.185.182.229/ letters/search_show_letter.php?ID_Number=10788 (letzter Zugang am 7.01.2015). Schönberg antwortete umgehend und empfahl Gerhard, der einen Aufenthalt in Österreich plante, sich hinsichtlich theoretischer Fragen der Zwölftonkomposition an den sich zeitgleich in Wien befindenden Josef Rufer zu wenden: „Er [Rufer] wird Ihnen über die Zwölfton Komposition gute Auskünfte und Ratschläge geben. Er ist selbst an die Hochschule in Berlin berufen, um dort einen Lehrstuhl in 12 Ton Komposition anzunehmen. Er kann Ihnen also alles was an Literatur vorhanden ist sehr gut nachweisen.“ Arnold Schönberg, Brief an Roberto Gerhard vom 27. Juli 1949, ASC Wien ID 5125, http://213.185.182.229/letters/search_show_letter.php?ID_Number=5125 (letzter Zugang am 7.01.2015). Sowohl die an Gerhard gerichtete Anfrage als auch der von Rufer zu bekleidende Lehrstuhl für Zwölftonkomposition bestätigen das in der Nachkriegszeit allgemein gesteigerte theoretische Interesse an der Zwölftontechnik. Schönbergs Verweis auf Rufer bezeugt, dass die Zwölftonkomposition in der Tat keinen Unterrichtsgegenstand während Gerhards Lehrzeit gebildet hatte (siehe auch Diego Alonso Tomás, Roberto Gerhard’s Studies with Arnold Schoenberg, S. 39 f.) und Gerhard seine diesbezüglichen Reflexionen im Zeichen der Schönbergnachfolge betrachtete, auch wenn er manche Aspekte der Zwölftontechnik als problematisch erachtete. Es zeigt weiter, dass Schönberg Rufer als sein legitimes ‚Sprachrohr‘ in theoretischen Angelegenheiten betrachtete. Entsprechend hoch müssen Gerhards Erwartungen an das Buch Rufers gewesen sein, das unter der Beratung Schönbergs entstand. Und umso befremdlicher muss es für Gerhard gewesen sein, in grundlegenden Punkten von Rufers Ansichten abzuweichen. Vgl. Josef Rufer, Die Komposition mit Zwölf Tönen, Kassel u.a 21966, S. 126. Ebd. Ganz ähnlich wie Rufer beschreibt Krenek die Reihe als Garant musikalischen Zusammenhangs auf der Grundlage motivischer Beziehungen: „So ist die Reihe in ihrer Grundfunktion ein ‚Vorrat‘ an Motiven, aus dem alle besonderen Elemente der Komposition zu entwi-
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Die Behauptung, „öftere, organische Wiederholung“ sei eine wesentliche Voraussetzung für formalen Zusammenhang, müsste aus Gerhards Sicht auf die Reihe als ‚Code‘ höchst problematisch erschienen sein. Gerhards kritischer Vergleich eines „simple spelling of the twelve-tone series forwards and backwards in the correct order“ mit dem Muster einer Tapete (siehe oben) zielt genau auf jene mit häufiger Wiederholung vermeintlich gegebene Garantie für musikalischen Zusammenhang, einen Zusammenhang, der allerdings recht besehen ein tautologischer sein muss. Bezüglich der ihm prinzipiell entgegenkommenden These von der Zwölftontechnik als neuer Form von Tonalität mag Gerhard die Diskrepanz zur Position Rufers geahnt haben. So markierte er (durch einen Randstrich und einen Pfeil) in seinem Exemplar des Rufer-Buchs zwar denjenigen Passus, in dem Rufer, bezugnehmend auf die zusammenhangstiftende Wirkung der Reihe, eine Analogie zur Dur-Moll-Tonalität herstellt und explizit äußert, die Reihe repräsentiere „eine neue Form der Tonalität“ (Anfang und Ende der von Gerhard markierten Textstellen in seinem Exemplar von Rufers Buch werden im Folgenden mit * gekennzeichnet51): „Gesetz ist in der Zwölftonmusik […] die Ordnung und Einheit des musikalischen Organismus eines Werkes. Träger und Garant dieses Gesetzes […] ist die Zwölftonreihe (wie es in der Durund Molltonalität die Tonart, die Herrschaft des Grundtons ist). *Sie repräsentiert also eine neue F orm der Tonalität – wenn wir diesen Begriff einmal generell als zusammenhangund formbildendes Ordnungsprinzip auffassen.“*52
Aber die kurz darauf folgende Textstelle versah Gerhard mit einem Fragezeichen, einer geschlängelten Randlinie und einer Unterstreichung. Darin heißt es: „*Diese Vereinheitlichung resultiert aus der fortgesetzten Wiederholung der Reihe, der in ihr fixierten Intervallfolge.* Wie ein ostinates Motiv infiltriert sie das Stück vom ersten bis zum letzten Ton […].“53
Es ist offensichtlich, dass der Vorstellung der Zwölftontechnik als neuer Form von Tonalität hier unterschiedliche Grundauffassungen zugrunde lagen. Dies manifestiert sich auch in der Tatsache, dass Gerhard Reihentypologien einen hohen Stellenwert einräumte und in TTM eine Klassifizierung dreier Reihentypen unter der Gesamtzahl möglicher Reihengrundformen (d. h. der ‚archetypischen‘ Hexachordpaare) vornahm.54 Es lag sicherlich nahe, die auf kompositorischem Weg vorgenommene Erkundung tongehaltlicher Bezugsmöglichkeiten im serial field einer Reihe auf systematischem und theoretischem Weg fortzusetzen. Im Vorfeld seiner Lektüre von Rufers Buch hatte Gerhard, betraut mit der Aufgabe, den englischen Verleger Dobson für das Buch zu interessieren, brieflich gegenüber Rufer geäußert:
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ckeln sind. Kraft ihrer ununterbrochenen Wiederkehr durch die ganze Komposition erfüllt die Reihe jedoch noch ein weiteres: sie sichert die nahtlose technische Einheit des Werkes, indem sie dessen ganze Struktur durchdringt […].“ Ernst Krenek, Zwölfton-Kontrapunkt-Studien, S. 7. Zu Gerhards mit Anstreichungen versehenen Buchexemplar siehe Anm. 2. Josef Rufer, Die Komposition mit zwölf Tönen, S. 102. Ebd. [Unterstreichung von Roberto Gerhard]. Wie bereits erwähnt, werden Anfang und Ende der von Gerhard in Rufers Buch markierten Textabschnitte durch * angezeigt. Vgl. Roberto Gerhard, TTM, S. 123 f.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität „Ich persönlich hoffe auf – unter anderem – eine Typologie der 12-Ton-Reihen; auf eine Untersuchung der Gründe warum Schoenberg, mit wenigen Ausnahmen, immer denselben Typus bevorzugt (Spiegelbild der 1. Hälfte soll nur Noten des Basic Set 2. Hälfte benützen), insbesondere bin ich gespannt – wie Du Dir nach unseren Gesprächen diesen Sommer wohl denken kannst – wie Du die mehr oder weniger weitgehenden Freiheiten in der Reihenordnung interpretierst; was machst Du, z. B. aus Takten 3-4-5-am Anfang des ‚Von Heute auf Morgen‘, oder aus Takt: Ende 9–10-erste Hälfte 11 im ‚Präludium‘ op.25 oder Takt 9! in der ‚Gigue‘ ebendort. [handschriftl. eingefügt:] Die Reihe ist übrigens ein gefundenes Fressen für den Typologen!“55
Auch in dieser Hinsicht dürfte Gerhard enttäuscht worden sein; auch wenn er, der in einem weiteren Brief Korrekturvorschläge an Rufer sendete,56 generell großes Lob für Rufers analytische Grundhaltung fand.57 Rufer handelt die Frage nach Reihentypologien in einem kurzen Abschnitt seines Buches ab und bezeichnet diese als „überflüssig“, da sich bei Schönberg „das melodische Gesetz der Reihe jeweils aus dem Einfall“ ergebe:58 „Eine andere […] allgemein verbindlich zu fassende Anweisung, nach welchem Prinzip etwa die Intervalle einer Reihe einander zu folgen hätten, ist bis heute nirgends schlüssig abzulesen – aus der Musik! – und könnte nur den freien Atem des schöpferischen Prozesses abschnüren.“59
Der Schaffensprozess wird hier auf die kompositionelle Ebene eingeschränkt und die präkompositionelle Vorordnung des Tonmaterials, die mit der Wahl einer Reihe nolens volens gegeben ist, damit dem Zufall überlassen, der hier in der Ummantelung der genieästhetischen Kategorie des Einfalls auftritt. In TTM reagiert Gerhard offenbar gegen genau diese Art der Sichtweise. Er äußert, angesichts einer unüberschaubar hohen Anzahl möglicher Reihen hätten naive Lästerer angenommen, die Wahl einer Reihe müsse zwangsläufig willkürlich sein und könne folglich erwürfelt werden:60 „Few composers would admit, I suppose, that this is their own way of settling the question, yet the suggestion is by no means as ridiculous as it sounds. It caricatures, by simply showing it up in crude isolation, the inevitable element of chance which is an essential ingredient in all creative work. So much so, that to most composers, I imagine, the question of deliberate choice of a series need not arise at all, the element of chance being wrapped up in the very process of invention.“61
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Ders., Brief an Josef Rufer vom 1. Januar 1952, Staatsbibliothek Berlin, N. Mus. Nachl. 58, 115–116. Wahrscheinlich sind Gerhards (hier hinzugezogene) Markierungen in seinem Exemplar von Rufers Buch aus dem Anlass des Korrekturlesens entstanden. „[…] ich kann mich an kein anderes Buch der Musiktechnologie erinnern, das auf einem so hohen intellektuellen Niveau steht. Nur eine wirklich intelligente Analyse kennt ihre Schranken. Ihre Instrumente müssen so delikat sein, dass sie eher brechen als eine[sic] lebendiges Gewebe verletzten, wenn sie auf etwas stoßen, das noch unbekannt ist. Deine Haltung ist darin vorbildlich.“ Ders., Brief an Josef Rufer vom 22. Dezember 1952, Staatsbibliothek Berlin, N. Mus. Nachl. 58, 115–116. Vgl. Josef Rufer, Die Komposition mit zwölf Tönen, S. 104. Ebd. Vgl. Roberto Gerhard, TTM, S. 122. Ebd., S. 122 f.
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Gegenüber Rufers Ansicht einer durch die Stärkung der präkompositionellen Ebene als bedroht wahrgenommenen künstlerischen Freiheit auf der kompositorischen Ebene lässt sich jedoch Folgendes einwenden: Sofern man die mit der Reihe gesetzte Regel nicht bewusst gewählt hat, lässt sich deren Befolgung als ein gewissermaßen ‚blindes‘ Unterworfensein unter die Regel betrachten, sodass die durch den ‚Einfall‘ diktierte Regel einer Zwölftonreihe sich hinsichtlich der angeführten Freiheit des Komponisten vielmehr negativ auswirken kann. In Gerhards methodischem Konzept der Zwölftonmethode ist hingegen der Schritt, die Reihe selber zu wählen und sich während des gesamten Kompositionsprozesses an seine Wahl zu binden – sich jener Setzung also aus freiem Willen zu unterwerfen – eine entscheidende Bedingung dafür, jene Setzung positiv zu verstehen. Die mit ihr selbst auferlegte Unfreiheit – jene „quality of resistance“, die mit der Verwendung der Reihenformen und der Bindung an die consecutive order der Reihe bestehe62 – bringt für Gerhard ein Element von ‚Notwendigkeit‘ in den Schaffensprozess ein, das er im nichtmethodisch geregelten Schaffensprozess der freien Atonalität als fehlend erachtete.63 Dabei erweist sich Gerhards dialektischer Begriff von Freiheit als Notwendigkeit, d. h. Freiheit, die nicht voraussetzungslos ist, sondern auf Bindung basiert, als angeregt von der Lebens- und Existenzphilosophie Unamunos und einer entsprechenden Sichtweise auf das Leben des Don Quixote im Sinne einer Ideewerdung (siehe Kapitel II.2.1). Die Unterschiede zwischen Gerhards und Rufers Reihenauffassung kündigen eine sich ab Ende der 1940er Jahre vollziehende Auseinanderentwicklung zweier Rezeptionsweisen der Zwölftontechnik an. Der in der motivischen Reihenfunktion verwurzelte Primat struktureller Zusammenhangsbildung, der sich v. a. an der Zwölftonpraxis im Spätwerk Weberns orientieren würde und auf einer vorrangig in der linearen Satzdimension einsetzbaren Reihe unter strenger Einhaltung ihrer consecutive order basiert, etablierte sich im Umkreis der Darmstädter Ferienkurse64 und wurde als ein Phänomen der Nachkriegszeit fundamental für die Entwicklung des Serialismus auf dem europäischen Kontinent. Dem gegenüber entwickelten sich Anfang der 1950er Jahre und insbesondere im Rahmen der US-amerikanischen Musiktheorie Ansätze der Analyse, die die Relevanz von Tonbezügen auf der tongehaltlichen Ebene im Kontext der Zweiten Wiener Schule sichtbar machten. Insbesondere die Aufsätze von Milton Babbitt wurden wegweisend für eine einflussreiche Richtung der amerikanischen Musiktheorie, die sich mit dem präkompositionellen Relationspotenzial der Reihenformen im serial field wie auch mit den Rela62 63 64
Gerhard, TTM, S. 124. Siehe Anm. 421, Kapitel I.3.5. und ausführlich zur Vorstellung der ‚Notwendigkeit‘ und damit einhergehender innerer Freiheit Kapitel I.3.5. Wörner spricht im Zusammenhang mit Weberns Spätstil von einem „übermächtige[n] Rezeptionsparadigma“. (Felix Wörner, „…was die Methode der ‚Zwölftonkomposition‘ alles zeitigt…“: Anton Weberns Aneignung der Zwölftontechnik 1924–1935, S. 40.) Die Vorstellung, dass „Webern mit der Symphonie op. 21 (1927/28) einen Paradigmenwechsel in seiner kompositorischen Praxis vollzogen und seit diesem Zeitpunkt in seinem Zwölftonwerk einen konstruktiven Stil verfolgt habe, ist seit der Veröffentlichung von [René] Leibowitz’ Studien Schoenberg et son école (1947) und Introduction à la musique de douze sons (1949), in denen diese Auffassung zuerst formuliert wurde, immer wieder bekräftigt worden.“ Ebd., S. 39.
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tionen von pitch class sets in atonalen Kompositionen befasste.65 Babbitt typisierte Reihen, ihre Eigenschaft der hexachordal combinatoriality und untersuchte invariante, d. h. ihrem Tongehalt nach identische Reihensegmente im serial field von Reihen. Wie Wörner zusammenfasst, entwickelte Babbitt auf diese Weise „Beschreibungsverfahren […], mittels derer die Auswirkungen bestimmter Charakteristika einer Zwölftonreihe auf die Assoziations- bzw. Dissoziationspotenziale zwischen den 48 Reihenformen umfassend dargestellt werden können.“66 Es lässt sich sagen, dass Gerhard mit seinem Artikel TTM den insbesondere in den USA vollzogenen Umbruch des Reihenparadigmas67 mitmarkierte: von der früheren Auffassung einer primär durch ihre fixierte Intervallanordnung (consecutive order) bestimmten, unsegmentierten Reihe hin zu einer Auffassung, bei der die Reihe als „a collection of segments of specified but unordered content“ (Perle)68 zu betrachten ist – und dies in der relativen räumlichen Isolation seines Exilwohnorts in Cambridge.69 Zugleich lässt sich sehen, dass die in TTM theoretisch formulierte Praxis der Permutierung von Reihentönen innerhalb eines Segments bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt von Gerhards Auseinandersetzung mit der Zwölftontechnik eine Rolle spielte. In Bezug auf das Andantino für Klarinette, Violine und Klavier (1928–29), der letzten während der Lehrzeit bei Schönberg entstandenen Komposi65
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Zu nennen ist hier insbesondere Allen Forte. Mit seinem Buch The Structure of Atonal Music, New Haven 1973, begründete Forte das Analyseverfahren der pitch class set-theory und sah sich dabei u. a. in der Nachfolge Babbitts. Die von Forte in seinem Buch eingeführte Terminologie zur Klassifizierung von sets hat sich unter den Anhängern jener musikanalytischen Richtung weitgehend durchgesetzt. Felix Wörner, „…was die Methode der ‚Zwölftonkomposition‘ alles zeitigt…“: Anton Weberns Aneignung der Zwölftontechnik 1924–1935, S. 164. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Gerhards Aufsatz TTM kam George Perle mit Blick auf die Beobachtung, dass Reihentöne innerhalb von Segmenten häufig in einer freien, von ihrer consecutive order in der Reihe losgelösten Ordnung auftauchen, ebenfalls zu jener Auffassung der Reihe als Anordnung durch ihren Tongehalt bestimmter Segmente und stellte fest, dass jene Entwicklung innerhalb der Zwölftontechnik zu einer Annäherung der schönbergschen Reihenauffassung an die von Joseph Matthias Hauer geführt habe: „It is observable in much twelve-tone music that there is a tendency toward a weakening of the linearly premised order, so that the melodic details appear as freely linearized segments of the set. Thus a reciprocal process seems to be correlating vertical and horizontal procedures, and, incidentally, merging the Schönbergian concept with that of Hauer.“ George Perle, The Harmonic Problem in Twelve-Tone Music, in: Musical Review 15 (November 1954), S. 266. Ebd. Auf das Bewusstsein, von der theoretischen Diskussion um die Entwicklung der Zwölftonkomposition isoliert zu sein, verweist Gerhards Bedürfnis nach diesbezüglichem intellektuellen Austausch. Am Ende eines Briefs an Winfried Zillig äußerte Gerhard mit Blick auf seine Arbeit mit einer aus der Zwölftonreihe abgeleiteten Proportionenreihe (wie sie Gerhard in DTT beschreibt): „Ich habe neulich ein Streichquartett beendet und bin gerade mit einem Konzert für Cembalo, Streichorchester und 1 Mann Schlagzeug (Boyd Neel Auftrag) beschäftigt. In beiden Werken habe ich die strengere Durchführung eines formalen Prinzip’s[sic] versucht, das Gliederung im Großen und Kleinen und Rhytmik[sic] von Proportionsreihen ableitet in denen sich die Verhältnisse der 12-tonreihe wiederspiegeln. Ich möchte furchtbar gern einmal Ihre Ansicht über solche Versuche haben, ich kann hier mit niemandem diskutieren.“ Roberto Gerhard, Brief an Winfried Zillig vom 16. Januar 1956, CUL 14.287.
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tion,70 konstatiert Diego Alonso Tomás, in dieser (nicht-zwölftontechnischen) Komposition spiegele sich bereits eine starke Neigung zu permutativen Verfahren, denen in Gerhards Handhabung der Zwölftonmethode im Bläserquintett (1928) zentrale Bedeutung zukomme.71 Er bemerkt im Andantino die Verwendung aller zwölf Töne im Rahmen dreier tongehaltlich komplementärer Tetrachord-Segmente und eine freie Permutierung der Tonhöhen innerhalb der Tetrachorde (zugleich allerdings auch eine freie Permutierung der Tetrachorde innerhalb eines 12-Tonset), und damit einen tongehaltlich ausgerichteten Gebrauch des 12-Ton-set,72 der auf Gerhards spätere Praxis vorausweist. Offenbar war das Interesse einer Zusammenführung von Zwölftontechnik und Tonalität in Gerhards Denken bereits früh mit einem Aufbrechen der consecutive order der Reihentöne verbunden. Die theoretische Begründung und Legitimation einer solchen Praxis durch einen bei der Permutierung der Segmenttöne unverändert bleibenden Reihenarchetyp kam jedoch erst im Zusammenhang mit Gerhards Zwölftonpraxis ab Ende der 1940er Jahre hinzu. Dass Gerhard aufgrund seiner Praxis der Permutierung von Reihentönen in einem Klima des strengen Serialismus angegriffen wurde und aus der Sicht einer sich selber in der geradlinigen Nachfolge der Zweiten Wiener Schule verstehenden Nachkriegs-Avantgarde als Sonderweg wahrgenommen wurde, bezeugt die folgende (vermutlich um 1963 verfasste) Notiz in einem seiner Notizbücher: „My early advocating of permutational freedom in 12-note technique must have offended the idea of ‚system‘ in some – what system, heaven knows – [.] people taking offence at this strike me as commanded by words rather than commanding them.“73
Dabei mag Gerhards Rezeption der Zwölftontechnik und das von ihm postulierte neue Reihenkonzept zunächst überhaupt nicht im Sinne eines von der SchönbergNachfolge abweichenden Sonderwegs intendiert gewesen sein. Ganz im Gegenteil verstand Gerhard jenes Reihenkonzept in der Nachfolge Schönbergs und hatte die wesentlichen theoretischen Einsichten bereits zwei Jahre vor der Veröffentlichung von TTM in einem Brief an Schönberg vom 16. Dezember 1950 formuliert: die Rückführbarkeit einer singulären Reihe auf eine abstrakte Reihengrundform und die beliebige Permutierbarkeit der Reihentöne innerhalb eines Hexachords, den Gedanken, dass die consecutive order einer Reihe innerhalb jener neugewonnenen 70 71
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Vgl. Diego Alonso Tomás, ,Unquestionably Decisive’: Roberto Gerhard’s Studies with Arnold Schoenberg, S. 38, siehe auch die Übersicht der in Berlin unter Schönbergs Anleitung entstandenen Kompositionen Gerhards ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 39. Alonso Tomás verweist diesbezüglich auf Rachel E. Mitchell, An Examination of the Integration of Serial Procedures and Folkloric Elements in the Music of Roberto Gerhard (1896–1970), Ph.D diss. University of Texas 2009, S. 26 f. (www.lib.utexas.edu/etd/d/2009/mitchellr72571/mitchellr72571.pdf, Zugang am 07.08.2014). „[…] content, but not order of presentation of the elements, of a given set is pre-compositionally defined and preserved in each occurence.“ (Diego Alonso Tomás, ‚Unquestionably Decisive‘: Roberto Gerhard’s Studies with Arnold Schoenberg, S. 38.) Lediglich ein Mal, nämlich am Ende des Satzes, werde, so Alonso, die in den drei Anfangstakten vorfindliche Intervallanordnung der 12 Töne – „a particular linear ordering of pitch classes“ – wiederholt: „This twelve-tone ordering is used as a melodic theme and certainly not as a structural basis for the piece.“ Ebd., S. 38 f. Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 10.142, S. 4.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
Permutierungs-Freiheit als thematisch privilegierte Reihe bindend gemacht werden kann und die alte Reihenkonzeption damit einen Platz innerhalb der neuen findet, das Nahelegen einer neuen Form von Tonalität und die Klassifizierung aller möglichen Hexachordpaare in drei Typen. In jenem Brief scheint Gerhard sich bei Schönberg der Legitimität seiner theoretischen Einsichten zu versichern, sie gewissermaßen absegnen zu lassen. „In meinem letzten Brief erwähnte ich Klavierstücke von mir[,]74 die ihre Entstehung der Anregung Ihrer (für mich neuen Behandlung einer 12-Tonreihe in Ihrem Klavierkonzert op[.] 42 verdanken. […] Inzwischen ist mir klar geworden[,] dass diesselben[sic] Prinzipien auch in der ‚Ode to Napoleon Buonaparte‘ angewandt sind. Und weiter, dass Ansätze dazu bereits in ‚Von Heute auf Morgen[‘] zu finden sind und, vielleicht die frühesten, in der ‚Serenade‘ (Tanzscene).75 Ist diese Annahme richtig? Es sind wahrsheinlich[sic] in anderen Werken von Ihnen noch mehr Züge[,] die auf diese Entwicklung hinweisen, jedenfalls scheint sie mir absolut folgerichtig und von zwingender Logik. Ich kann mir nicht anmassen[sic] eine ‚Definition‘ dieser Prinzipien zu versuchen, die Ihnen vorbehalten sein muss. Um Ihnen aber Gelegenheit für eine Bestätigung – oder ein démenti – zu geben, darf ich Ihnen meine Auffassung exponieren?“76
Es lässt sich nicht abschließend klären, ob Gerhards Ableitung der von ihm theoretisierten Prinzipien aus schönbergschen Kompositionen sich mit Schönbergs eigenen theoretischen Ansichten deckte; ob also von Schönberg genommene Freiheiten in der Permutierung von Segmenttönen, so wie Gerhard dies annahm, durch die Vorstellung eines unveränderlichen, zugrunde liegenden Reihenarchetyps eine weitergehende theoretische Legitimierung erhielten, oder ob sie von Schönberg lediglich als eine Ausweitung und Lockerung der durch die hexachordal combinatoriality gewissermaßen systemintern gegebenen Permutierungen verstanden wurden. Denn Schönberg verfasste kein Antwortschreiben mehr zu diesem letzten an ihn gerichteten Brief seines ehemaligen Schülers.77 Mit Blick auf Gerhards eigene theoretische Reflexion erweist sich die Annahme von Reihenarchetypen, die den Permutierungsphänomenen zugrunde liegen, als bedeutsamer Hinweis auf sein grundlegendes Interesse am Thema der Tonalität, denn mit den Reihenarchetypen stützte Gerhard die Hypothese eines endlichen Tonbezugsraums und damit präexistierender Tonbeziehungen. Auf dieser Hypothese musste für Gerhard jegliche Möglichkeit von Tonbeziehungen und deren Theoretisierung im Rahmen eines Tonsystems 74 75
76 77
Es handelt sich dabei um die Three Impromptus für Klavier (1950), die Gerhard bei dieser Gelegenheit „zur ‚freundlichen Ansicht‘“ an Schönberg sendete. Gerhards Entdeckung wird bestätigt durch Perle, der in Bezug auf Schönbergs Ode to Napoleon op. 41 äußert, jene Komposition enthalte „no precompositional linear ordering whatever, the set being definable exclusively in terms of its hexachordal content.“ George Perle, Serial Composition and Atonality, Berkeley u. a. 61991, S. 94. Und auch Perle führt Abschnitte der Tanzszene aus der Serenade op. 24 als Vorläufer des in der Ode praktizierten Verfahrens an: „Here, too, a bisected set […] is employed, in which the order of the notes is freely permuted within the segment.“ Ebd. Roberto Gerhard, Brief an Arnold Schönberg vom 16. Dezember 1950, ASC Wien ID 10790, http://213.185.182.229/letters/search_show_letter.php?ID_Number=10790 (letzter Zugang am 7.01.2015)., S. 1. Die letzte Nachricht an Gerhard ist, soweit mir einsehbar, vom 11. April 1951 und nicht von Schönbergs Hand.
I.1. Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
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oder tonalen Systems basieren. Gerhard nimmt im genannten Brief explizit auf die spekulative Frage nach der Endlichkeit eines Tonbezugsraums und einer möglichen Zentrierung desselben Bezug: „Es scheint mir[,] dass diese Konzeption [im Sinn hat Gerhard die von ihm beschriebene neue Konzeption von Reihe und Reihenarchetypen, G. L.] nun endgültig die von jeher theoretisch unbequeme Idee der Atonalität abschafft. Ich meine Atonalität als absolute Negierung eines Zentrums. Die Voraussetzung einer solchen Vorstellung müsste offenbar auf die[sic] Annahme einer Unendlichkeit von Tonbeziehungen beruhen. Die absolute Negierung eines Zentrums in einem endlichen Tonsystem is[sic] offenbar unmöglich. Es ist die Idee eines Zentrums, nicht sein Bestehen, was in Frage kommt und neu gedacht werden muss.“78
Die Annahme solcher präexistierender Tonbeziehungen stand im Raum, seit Schönberg in seiner Harmonielehre dem alten System der harmonischen Tonalität das „Wesen des Tons“ und damit eine monistische Auffassung vom ‚Ton‘ entgegengesetzt und auf dieser Basis die Vorstellung von ‚Atonalität‘ als eines begrifflichen Gegensatzes zu jener inklusiven Tonalität negiert hatte.79 Gerhards Einsichten dürften generell im Bewusstsein entstanden sein, die in Schönbergs Harmonielehre aufgeworfene Hypothese von der „Tonalität einer Zwölftonreihe“80 konsequent weiterzuverfolgen. Daher knüpfte Gerhard hier an die schönbergsche Ablehnung des Atonalitätsbegriffs an, nun allerdings im Zusammenhang mit seiner neuen Reihenauffassung. Der Begriff ‚Atonalität‘ wurde hier nicht nur im Sinne einer Negierung der Dur-Moll-Tonalität betrachtet, sondern mit der „Annahme einer Unendlichkeit von Tonbeziehungen“ verknüpft, der Gerhard auf der Basis seiner neuen theoretischen Einsichten die (spekulative) Annahme endlicher Tonbeziehungen und eines zentrierten Tonsystems entgegensetzte. Und vor dem Hintergrund dieser Annahme lässt sich behaupten, dass Gerhard, sowohl mit der Anwendung der Reihe im Kompositionsprozess als auch mit den von ihm unternommenen Versuchen präkompositioneller Akkordklassifizierung und Reihentypologie, ein Interesse daran verfolgte, Regelhaftigkeiten jenes präexistierenden Tonbezugsraums zu erkunden und dessen Existenzannahme kompositorisch zu verifizieren. Im Anschluss an die Frage nach der Existenz endlicher Tonbeziehungen, lässt sich weiter die Frage stellen, ob deren Endlichkeit a) im Sinne eines begrenzten Tonmaterials mit prinzipiell unbegrenzter, oder auch begrenzter Aufeinanderbeziehbarkeit der Töne, oder b) im Sinne eines prinzipiell unendlichen Tonmaterials mit allerdings begrenzten Funktionen gedacht werden müsste. Der Fall a) scheidet aus, da die Ebene des Tonmaterials als prinzipiell unbegrenzt gelten muss (die Tonschritte einer Skala lassen sich theoretisch unendlich differenzieren). So wird klar, 78 79
80
Roberto Gerhard, Brief an Arnold Schönberg vom 16. Dezember 1950, S. 2. „Atonal könnte bloß bezeichnen: etwas, was dem Wesen des Tons durchaus nicht entspricht. […] Ein Musikstück wird stets mindestens insoweit tonal sein müssen, als von Ton zu Ton eine Beziehung bestehen muß, vermöge welcher die Töne, neben- oder übereinander gesetzt, eine als solche auffaßbare Folge ergeben. Die Tonalität mag dann vielleicht weder fühlbar noch nachweisbar sein, diese Beziehungen mögen dunkel und schwer verständlich sein, unverständlich sogar. Aber atonal wird man irgend ein Verhältnis von Tönen sowenig nennen können, als man ein Verhältnis von Farben als aspektral oder akomplementär bezeichnen dürfte.“ Arnold Schönberg, HL, S. 486, Fußnote. Ebd.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
dass die Ebene des Tonmaterials nicht als ‚Natur des Tons‘ gegeben sein kann, sondern begrenzt bzw. gesetzt werden muss. Damit lässt sich der Blick zu Fall b) hinwenden, mit dem die Frage nach einem endlichen Tonbezugsraum zugleich die Frage nach dem Wirkungsort von Tonbeziehungen im Subjekt und im psychischen Apparat aufwirft. In TTM gab Gerhard einen Hinweis darauf, dass er präexistente Tonbeziehungen im Innen, nämlich in einer Tiefenschicht des Bewusstseins verortete. Mit Bezug auf die Wirkung von Tonbeziehungen im Hörersubjekt verwies er auf das Musikhören als hochsynthetischen Vorgang: Als hochkomplexe begreift Gerhard die sich ‚in Lichtgeschwindigkeit‘ vollziehenden mentalen Operationen bei der Dekodierung eines Stroms auditiv-sensorischer Daten in „aural images“ – musikalische Gestalten.81 Dabei schreibt Gerhard tonalen Zusammenhängen zu, auf einer unbewussten Ebene des Bewusstseins wirksam zu werden.82 Hinzu kämen, so Gerhard, motivisch-thematische Tonbezüge, denen er zuschreibt, sich auf einer bewussteren Ebene zu vollziehen, als die der Tonalität. Vermittels beider Arten von Tonbezügen kann nach Gerhard die Zwölftontechnik wirksam werden. Bemerkenswert an diesen Ausführungen in TTM ist, dass sie im Zusammenhang mit dem Gedanken des Reihenarchetyps als neuer Form von Tonalität geäußert werden, und damit zugleich mit einer tendenziellen Loslösung von der Ebene motivisch-thematischer Bezüge von Reihen verbunden sind: Wo die ‚konkrete‘ Reihengestalt nur einen möglichen Aspekt des Reihenarchetyps darstellt, verlieren melodische oder motivische Gestalten (musical images,83 aural images84) ihre formbildende Verbindlichkeit. Gegenüber tonalen Tonbeziehungen verortet Gerhard die Ebene motivischen Zusammenhangs demnach auf einer eher oberflächlichen Bewusstseinsebene des Hör- und Erkenntnisapparats, nämlich auf der des bewussten (man könnte sagen: rationalen) Denkens. Allerdings räumt er ein, dass auch motivische Bezüge nicht zwangsläufig intellektuell erfasst werden müssten, um vollkommen wirksam zu werden.85 Gewissermaßen erfordern beide Tonbezugsebenen vom Hörer einen aktiven Geist. Im Fall der tonalen Bezüge müsste die geistige Aktivität nach Gerhard allerdings besonders hoch sein und sich zugleich unbewusst vollziehen. Die Idee des Unbewussten als ‚Ort‘ präexistenter und endlicher Tonbeziehungen lässt sich als Prämisse von Gerhards Tonalitätsdenken auffassen und steht zugleich zur Symbolik des Don Quixote in Bezug. Die Tatsache, dass Gerhard tonalen Zusammenhängen zuschrieb, auf einer unbewussten (quasi) Tiefenebene wirksam zu werden („at a level below the threshold of full consciousness“86), könnte ihm als Möglichkeit erschienen sein, das bewusste, dem Außen der Dinge verhaftete 81 82
83 84 85 86
Vgl. Roberto Gerhard, TTM, S. 122. „It seems natural that […] the subcutaneous net of connections, the logic and sustained consistency produced by the organizing principle of tonality, must register at a comparatively dim level of consciuosness; they would clearly throw everything out of focus if they could make themselves conspicuous and occupy for an instant the close-up plane of our attention.“ Ebd. Siehe Roberto Gerhard, On Music in Ballet: I, in: Ballet 11, Heft 3 (April 1951), S. 21. Siehe Roberto Gerhard, TTM, S. 122. Ebd. Ebd.
I.2. Zwöftontechnik als ars combinatoria
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Denken zu überwinden und mit einer Ebene des Tonalen, im Sinne einer Innenschau des Bewusstseins, in Kontakt zu kommen. Auch hier lässt sich eine lebensphilosophische Grundhaltung Gerhards erkennen: die bewussten Vorstellungen stellen darin gewissermaßen eine auf Denkgewohnheiten basierende Außenseite der Realität dar, welche eigentlich eine Realität des Bewusstseins und des Innen ist. Hierzu korrespondiert der Realitätszugang von Don Quixote als derjenige eines aktiven, sogar überaktiven Geistes, der als „Knight of the hidden images“ hinter den Augenschein der Dinge blickt. Noch ganz ohne Bezugnahme auf die Reihe hatte Gerhard in On Music in Ballet (1951) beschrieben, wie sich im Originalthema seines Balletts – jenem Originalthema, das die Don Quixote-Figur repräsentiert (siehe Kapitel III.1.1) – eine volkstümliche, mit Katalonien und mit Gerhards Geburtsort Valls verbundene Melodie verbarg, eine musikalische ‚Gestalt in der Gestalt‘. Im Zusammenhang mit dieser versteckten und hineinsehbaren Melodie äußerte er: „After all, Don Quixote is the Knight of the hidden images. Sancho could only see windmills where Don Quixote saw the giants as well.“87
Einige Jahre später, seine kombinatorische Reihenauffassung erläuternd, bezeichnet Gerhard in DTT die Figur des Don Quixote als „par excellence the knight of the hidden images.“88 Den beiden Äußerungen über „hidden images“ – im Text von 1951 im Sinne einer im Don Quixote-Originalthema versteckten traditionellen Melodie, und im Text von 1956 im Sinne von Reihengestalten, die auf einem gemeinsamen Archetyp beruhen – ist die Referenz auf eine Ebene des Verborgenen gemein, welche in das Augenscheinliche hineinsehbar ist. Dieses Thema einer ‚Realität in der Realität‘ scheint mit der Don Quixote-Figur verbunden gewesen zu sein, und sie scheint zu Gerhards Idee von Tonalität im Sinne präexistenter, und damit ge-fundener (und nicht er-fundener) Tonbeziehungen und zu einer unbewusst wirksamen Tiefenebene des Bewusstseins als quasi ‚höherer Realität von Tonbeziehungen‘ zu korrespondieren. I.2. ZWÖLFTONTECHNIK ALS ARS COMBINATORIA: DER KOMBINATORISCHE MÖGLICHKEITSRAUM UND DIE ‚HÖHERE REALITÄT‘ DON QUIXOTES Im Folgenden soll gezeigt werden, dass diejenigen reihengebundenen Abschnitte in Roberto Gerhards Don Quixote, die inhaltlich eine Vision Don Quixotes thematisieren, mit der von Schönberg eingeführten Vorstellung eines einheitlichen musikalischen Raums und eines von allen Seiten zu zeigenden „musikalischen Gedankens“ in Zusammenhang stehen. Joseph Auner wendet sich mit seiner Untersuchung schönbergscher Reihentafeln einem selten diskutierten Aspekt der Zwölftonkomposition zu. Er zeigt, wie 87 88
Ebd. Roberto Gerhard, On Music in Ballet: II, S. 32. „To Sancho, windmills are windmills. But Don Quixote, par excellence the knight of the hidden images, sees giants where Sancho can only see windmills.“ Roberto Gerhard, DTT, S. 136.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
sich Schönberg nicht einer simplen Auflistung der Reihen eines serial field bediente, sondern für Reihentafeln unterschiedliche und einfallsreiche Formate und Verfahren des Ordnens von Reihen fand, mit denen jeweils unterschiedliche Bezüge zwischen Reihen hervorgehoben wurden.89 Insbesondere verweist Auner auf eine von Schönberg für die Suite op. 29 (1925/26) konstruierte Reihentafel in Form einer 12×12-Matrix bzw. eines ‚magic square‘, welches in zwölf Zeilen und Spalten alle 48 Reihenformen sichtbar macht. Auner bemerkt, derartige Reihentafeln hätten für Schönberg eine nahezu metaphysische Bedeutung gehabt: sie verwiesen auf das unveränderliche, zeitentbundene, und damit nur indirekt fassbare Wesen des ‚musikalischen Gedanken‘.90 Zugleich konstatiert Auner, sie seien für Schönbergs Komposition von eher geringem praktischen Nutzen gewesen.91 In der bei Auner abgedruckten Reihentafel (Matrix) zu op. 2992 stehen die horizontal zu lesenden Inversionsreihen auf den Transpositionsstufen der Grundreihentöne, während die vertikal zu lesenden Grundreihen auf den Transpositionsstufen der Inversionsreihe stehen. Gewissermaßen durchkreuzen also Grund- und Inversionsreihe einander, wie dies im Fall einer P-I-Matrix üblich ist. Zudem bemerkt Auner, einfallsreicherweise habe Schönberg seiner Reihentafel Notensysteme unterlegt, die in beide Richtungen verlaufen, sodass die Tafel gedreht werden könne.93 Für Auner gilt jene Reihentafel mit ihren beidseitig ausgerichteten Notensystemen als lebendige und fassbare Repräsentation („a vivid physical representation“) der in Schönbergs Vortrag Composition with Twelve Tones geäußerten Idee von der Einheit des in zwei oder mehreren Dimensionen dargestellten musikalischen Raums94 („The Two-or-more-dimensional space in which musical Ideas are presented is a unit.“95) – jenes Raums, den sich Schönberg wie den Himmel Swedenborgs vorstellte, in dem es kein absolutes Unten, kein Rechts oder Links, Vorwärts oder Rückwärts gebe:96 „[…] his [Schoenberg’s] row table for Op. 29 presents the unity of musical space very literally with the staves moving in two directions and with the pitches on the staves retaining their relative positions so that the trichords and tetrachords in both, the prime forms and the inversions, 89 90 91 92 93
94 95 96
Vgl. Joseph Auner, Schoenberg’s Row Tables: Temporality and the Idea, in: The Cambridge Companion to Schoenberg, hrsg. von Jennifer Shaw und Joseph Auner, Cambridge 2010, S. 163. Siehe ebd., S. 166. Siehe ebd., S. 164. „While Schoenberg did use magic squares in composition, I would argue that it is precisely their mystical and atemporal aspects that limited their usefulness; we might think of the magic squares as existing in the realm of the pure Idea, of Moses.“ Ebd., S. 169. Ein Abdruck der im Arnold Schönberg Center Wien befindlichen Reihentafel findet sich in: Joseph Auner, Schoenberg’s Row Tables: Temporality and the Idea, S. 165. Auner erklärt, die Achsen der Matrix seien bei jener Reihentafel scheinbar vertauscht, mit der vertikal abwärts verlaufenden Grundreihe in der Spalte links außen (quasi P0) und der horizontal von links nach rechts verlaufenden Inversionsreihe in der obersten Zeile (I0). (In der Regel werden bei einer solchen P-I-Matrix die Grundreihen als horizontal verlaufende, und die Inversionsreihen als vertikal verlaufende dargestellt.) Dies sei aber, wie Auner bemerkt, nur scheinbar der Fall, denn man könne die Reihentafel drehen und erkenne dann die Grundreihe P0 in der untersten Zeile von links nach rechts, und die Inversionsreihe I0 in der linken Spalte von unten nach oben verlaufend. Vgl. ebd., S. 164. Vgl. ebd. Arnold Schönberg, Composition with Twelve Tones (1) (1941), S. 220. Ebd., S. 223.
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preserve their identities as musical gestures. Because of the highly symmetrical nature of the row, these segmentations are saturated with the same group of pitch classes (or invariant subsets) everywhere you look.“97
Wenn Schönberg behauptete, der musikalische Raum erfordere eine absolute und einheitliche Wahrnehmung („the unity of musical space demands an absolute and unitary perception“98), dann forderte er die Überschreitung der perspektivischen Anschauung im Erkenntnis-/ Wahrnehmungsapparat und damit dessen Angleichung an jenen einheitlichen Raum. Die von Auner angeführte schönbergsche Reihentafel lässt sich in der Tat im Sinne einer Überschreitung von horizontaler und vertikaler Satz- bzw. Raumdimension vorstellen. Auner verweist auf weitere, von Schönberg für op. 29 erstellte Reihentafeln (etwa in Form zweier übereinandergeschichteter 12×12-Matrizen, einer P- und einer I-Matrix99), was nahelegt, dass es sich bei jenen Tafeln um tendenziell unzulängliche Versuche handelte, für den ‚musikalischen Gedanken‘ eine adäquate Vor- oder Darstellung zu finden. „The various row matrices for Op. 29, with their interlocked primes and inversions teeming with a profusion of trichords and tetrachords, point us to the fundamental nature of the musical Idea as something eternal, timeless, and unchanging, but something which, for that reason, can only be indirectly grasped.“100
Von Gerhard sind keine Reihentafeln für die Don Quixote-Komposition überliefert. Aber in einem vergleichbaren Sinn, in dem die mehrfach für op. 29 angefertigten Reihentafeln für Schönberg ein Mittel waren, um sich, wie Auner behauptet, der metaphysischen Sphäre des ‚musikalischen Gedankens‘ anzunähern,101 liegt es auch in Bezug auf Gerhard nahe zu behaupten, dass das Erlangen einer Vorstellung vom einheitlichen Tonbezugsraum, der dem serial field einer Reihe zugrunde liegt, den Rang eines metaphysischen Problems erhielt. Das folgende Beispiel einer musikalischen Vision Don Quixotes aus Gerhards Ballett lässt sich, vergleichbar mit Schönbergs Reihentafel, als Exemplifikation jenes Leitgedankens der Zwölftonkomposition vom einheitlichen Raum des mehrdimensional dargestellten ‚musikalischen Gedanken‘ erkennen: In dem Tonsatz, der Don Quixotes Dulcinea-Vision einleitet (vor Ziffer 2 bzw. in der Parallelstelle bei Ziffer 121), liegt ein Reihengebrauch vor, der einen gleichermaßen polyphonen wie auch homophonen Satz herstellt. Die vertikale Satzdimension ist durch Hexachord-Segmente von P6 und RI5 97 98 99 100 101
Joseph Auner, Schoenberg’s Row Tables: Temporality and the Idea, S. 165 f. Arnold Schönberg, Composition with Twelve Tones (1) (1941), S. 223. Siehe Joseph Auner, Schoenberg’s Row Tables: Temporality and the Idea, S. 166. Ebd. Bezug nehmend darauf, dass Schönberg den ‚musikalischen Gedanken‘ in kontrapunktischen Kompositionen als Inbegriff aller Kombinationsmöglichkeiten zwischen den Stimmen versteht (siehe die weiteren Ausführungen in diesem Kapitel), äußert Auner, jene Matrizen könnten suggerieren, dass der ‚Gedanke‘ einer Zwölftonkomposition nicht mit der Reihe zu identifizieren sei, sondern mit der Gesamtheit der Bezüge der Reihenformen („the sum of all the relationships between all the manifestations of the row“): „Like the Idea, the twelve-tone row is imperceptible as a whole, but pervades all that one hears; as God says to Moses, ‚so will you perceive my message in everything.‘ That Schoenberg thought of the row tables as a way to approach this metaphysical sphere can perhaps explain in part why he prepared so many different row tables for a single work, with Op. 29 being an extreme case.“ Ebd., S. 167 f.
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akkordisch konstituiert, zugleich enthalten die zwei Oberstimmen des gleichen Satzes die Reihe P3 in einer horizontalen Schichtung ihrer beiden Hexachorde (zu den Irregularitäten bei der Segmentierung der Reihe und bei der Permutierung der Segmenttöne von P6 und RI5 siehe Kapitel III.3.2). Einander durchkreuzende Satzdimensionen in Roberto Gerhards Don Quixote, Ziffer 121 (kurz vor Don Quixotes Vision von Dulcinea/ Aldonza in Szene 5):
"
P3
P6
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RI5
#
P6
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Das Konvergieren der drei Reihen102 kann die Vorstellung eines Knotenpunkts im serial field der Reihe nahelegen. Das Überlappen gemeinsamer Töne und zugleich der beiden Satzdimensionen ist geeignet, auf eine Einheit des als Tonbezugsraums zu denkenden serial field zu verweisen, in der horizontale und vertikale Satzdimension einander kreuzen. Der hier von Gerhard beschrittene Weg, jene Einheit des Raums zu denken, führt nicht etwa zum Versuch, eine Vorstellung jenes gesamten Bezugsraums bzw. 102 Jenes Konvergieren der drei Don Quixote-Reihen wird zum einen möglich aufgrund einer Ausnutzung der gemeinsamen Töne der Reihen zur Bildung von Schnittmengen zwischen den Reihen-Tongehalten – die Reihentöne von P3 sind so angeordnet, dass sie partiell eine Schnittmenge mit denen von P6 und RI5 bilden (und eine solche Schnittmengenbildung ist nur realisierbar, da es sich bei der Don Quixote-Reihe um eine geringerzahlige Reihe handelt) –, zum anderen aufgrund der Erlaubnis, Töne innerhalb der akkordisch verwendeten Hexachord-Segmente der Reihe zu permutieren (siehe Kapitel III.3.2).
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von Tonbezügen des gesamten serial field abzubilden, wie im Fall einer ReihenMatrix. Er führt vielmehr dahin, die spezifische Zugehörigkeit einiger weniger (dreier) geringerzahliger Reihen zu jenem Ganzen – dem Tonbezugsraum, dem sie angehören – denk- und fassbar zu machen. Dieser Weg vollzieht sich, indem jene drei einzelnen Reihen des serial field zueinander kombinatorisch in Bezug gesetzt werden. Der durch die Kombination der drei Reihen entstandene Knotenpunkt (im vorliegenden Beispiel) kann dabei wie ein Ausschnitt aus jener Ordnung erscheinen, der das Ganze derselben (die Einheit des Tonbezugsraums) erahnen lässt. So lässt sich das Konvergieren der Reihen in jenem Tonsatz in Zusammenhang bringen mit dem Erdenken dessen, was sich kaum vorstellen lässt: einer Ordnung zwischen den Reihen des serial field, die auf der Gesamtheit der Bezüge zwischen Tönen überhaupt basiert – auf einer metaphysischen Entität. Es ist mitnichten ein Zufall, dass sich jener Tonsatz im Zusammenhang mit einer Vision Don Quixotes findet. Im Unterschied zu einer Reihentafel, die präkompositionelle Bezüge zwischen Reihen praktisch ‚auf einen Blick‘ sichtbar macht (wenn auch stets in unzureichender Weise), werden die Bezüge im vorliegenden Fall kompositionell und damit auch im zeitlichen Verlauf erschlossen. Dadurch, dass nicht alle Reihen des serial field involviert sind, sondern nur drei, wird der Bezugsraum durch die ihn konstituierenden Bezüge fassbar. Das In-BeziehungSetzen behält den Primat gegenüber einem Darstellungsversuch der angenommenen Einheit, der tendenziell die Gefahr birgt, die Frage nach der Denk- und Fassbarkeit jenes einheitlichen Raums etwa in der statischen Struktur einer Matrix aufgehen zu lassen und damit zum Verschwinden zu bringen. Im Rahmen Gerhards späterer serieller Praxis in seiner zweiten Sinfonie kann gesehen werden, dass Gerhard hier tatsächlich Gebrauch von einer 12×12-Matrix machte, was zeigt, dass der Idee einer Gesamtordnung aller Reihen des serial field für Gerhard zeitweilig ein hoher Stellenwert zukam. Allerdings lässt sich sagen, dass Gerhards relativ abstrakter Einsatz der Matrix für ein „transpositional ordering“ (d. h. zur Regelung der Transpositionsfolge seiner Reihen), wie ihn Darren Sproston analysierte,103 problematisch ist, weil zentrale Bezugsqualitäten der Mat103 Wie Sproston zeigt, legte Gerhard seiner zweiten Sinfonie (1957–59) eine ‚akrostische Matrix‘ zugrunde, um die Transpositionsfolge seiner Reihen zu regeln. (Vgl. Darren Sproston, Roberto Gerhard: The Serial Symphonist, S. 250–252.) In der verwendeten präkompositionellen PMatrix wiederholt sich die horizontale Folge der Grundreihentöne in der vertikal zu lesenden Folge der Transpositionsstufen der Grundreihen (siehe die Abbildung der Matrix bei Sproston, S. 251). Insofern jeder Ton in Gerhards Matrix sowohl eine horizontale wie auch eine vertikale Zugehörigkeit aufweist, lässt sich darin die schönbergsche Suche nach der Einheit des musikalischen Raums wiederfinden und die Matrix als außergewöhnliches Objekt wahrnehmen. Dabei muss allerdings eingeräumt werden, dass sich die Herstellung einer solchen Matrix kaum mehr als außergewöhnlich darstellt, wenn man sich vor Augen hält, dass keinerlei besondere Reihendisposition vorliegen muss, um jene Verschränkung der P-Reihen als Matrix zu ermöglichen: Theoretisch lässt sich aus jeder beliebigen P-Reihe eine derartige Tafel erstellen, dies gilt ebenso für eine P-I-Matrix. Es lässt sich sagen, dass Gerhard für seine durch die Matrix gewonnene Transpositionsfolge der vertikal (von oben nach unten) verlaufenden Reihen weder eine besondere Eigenheit der Reihe noch der Matrix ausnutzte. Es handelt sich bei seinem Vorgehen lediglich um eine Projektion der P0-Reihentöne (und damit der Vertikale der Matrix) auf die übergeordnete Strukturebene des „transpositional ordering“. Gerhard gewinnt jene Transposi-
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rix (namentlich ihre komplett geordnete vertikale Dimension) dabei überhaupt nicht zum Vorschein kommen. Als ein mathematisches Objekt scheint eine Matrix, wie sie Schönberg und auch Gerhard (in unterschiedlichen Zusammenhängen) gebrauchten, simpel. Auner konstatiert mit Bezug auf die genannte 12×12-Matrix zu Schönbergs op. 29, dass die Möglichkeit der Darstellung eines serial field in Form einer P-I-Matrix in der Zwölftonanalyse längst zum gängigen Standard geworden sei (dies belegt einschlägige Software zum Errechnen einer Reihenmatrix).104 Hinsichtlich eines musikalischen Gegenstandsbereichs mit geschichtlich gewachsenen Regeln der Dissonanzbehandlung ist ein nach Vorbild einer Matrix vorgestelltes Übereinkommen von vertikaler und horizontaler Satzdimension aber keinesfalls selbstverständlich oder gar trivial. Auner kritisiert, als Analysewerkzeug könne die automatisierte Anwendung einer Matrix für den Fall schönbergscher Kompositionen u. a. zu der unangemessenen Grundannahme verleiten, Schönbergs Kompositionen hätten ihren Ausgang vom präkompositionellen Vorliegen der gesamten, in der Matrix vorgeordneten 48 Reihenformen genommen, aus denen Schönberg seine Reihen wählte.105 Dementgegen verweist Auner am Beispiel einer Reihenskizze zum Chorlied Landsknechte op. 35/5 (1930), dem fünften von Schönbergs Sechs tionsfolge hier, indem er vom Reihenanfangston als Achsenton h = 0 ausgeht (demgemäß ergibt sich die Transpositionsfolge P0 , P8, P1, P7 etc., der die Anfangstöne der Reihe h, g, c, fis etc. entsprechen), während er zur Gewinnung seiner als time set eingesetzten Proportionenreihe vom Ton e, als unterstem Ton des in Skalenform („normal order“) gebrachten Hex.1 seiner Reihe, ausgeht (siehe ebd., S. 250). Dann erscheint der Anfangston der Reihe als h = 7 (in Relation zu e = 0) und als Proportionenreihe ergibt sich 7, 3, 8, 2 etc. (vgl. ebd., S. 251.) Die aufwendig über die P-Matrix gewonnene Transpositionsfolge (0, 8, 1, 7 etc.) wäre letztlich auch auf dem simplen Weg einer quinthöheren Transposition (um +7) von der ansonsten als Proportionenreihe fruchtbar gemachten Reihe 7, 3, 8, 2 etc. abzuleiten gewesen, was die Frage nach der Angemessenheit des aufwendigen Ableitungsverfahrens aufwirft. Der die Einheit des musikalischen Raums thematisierende (und als solcher gewissermaßen rätselhafte) Aspekt der Matrix, nämlich das vorliegende Ineinandergreifen von horizontaler und vertikaler Satzdimension, bleibt in dem hier vorliegenden seriellen Kontext und beim abstrakten Einsatz der Matrix für ein ‚transpositional ordering‘ letztlich unberücksichtigt. Mir scheint, die Matrix konnte ihre anfängliche Faszination einbüßen, je weiter ihr Gebrauch auf übergeordnete Konstruktionsebenen übergriff und sich von musikalischen Satzzusammenhängen loslöste. Offenbar empfand Gerhard selber einen derartigen Gebrauch jener Matrix bald als Sackgasse. Mit Blick auf die von Gerhard 1967 in Angriff genommene, und nicht mehr fertiggestellte Revisionsfassung der zweiten Sinfonie mit dem Titel Metamorphoses zeigt Sproston, dass die von Gerhard vorgenommenen Revisionen in die Richtung einer Lockerung von den konstruktiven Vorgaben der Reihe zielten, dass sie timbrische und texturale Qualitäten in den Vordergrund rückten und Gerhard damit einem Weg folgte, den er insbesondere mit seiner dritten Sinfonie Collages für Orchester mit Tonband (1960) und dem Concerto for Orchestra (1964–65) eingeschlagen hatte (vgl. ebd., S. 255). Sproston folgert: „Clearly, by returning to Symphony No. 2, Gerhard demonstrated that he was not entirely happy with it. He acknowledged that it was the resultant composition that mattered and not the methods employed to compose it, so perhaps he felt that the material had not fulfilled its formal potential.“ Ebd., S. 256 104 Vgl. Joseph Auner, Schoenberg’s Row Tables: Temporality and the Idea, S. 159 f. Auner spricht in diesem Zusammenhang auch vom Status des „magic square“ als eines „default setting in our mental apparatus“. Ebd., S. 161. 105 Vgl. ebd., S. 171.
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Stücken für Männerchor (1929–30), auf Schönbergs Vorgehen, ausgehend von einer einzelnen (quasi als Zentrum fungierenden) Reihe oder von einem combinatoriality-Reihenpaar, nach Bedarf weitere Reihenformen zu generieren.106 Außerdem beleuchtet er auch Schönbergs generell bevorzugten Gebrauch partieller Reihenskizzen, die im Vergleich zu den Reihentafeln stärker in den Kompositionsprozess eingebunden wurden.107 Lässt sich die Bedeutung des präkompositionell vorliegenden gesamten serial field im Fall Schönbergs dementsprechend einschränken, so kann mit Blick auf Gerhards Don Quixote und die Fülle der darin gebrauchten Reihen-Transpositionen allerdings herausgestellt werden, dass die Vorstellung einer im Kompositionsprozess zu erschließenden inneren Ordnung des serial field (gerade auch mit Blick auf metaphysische Implikationen eines einheitlichen Raums) tatsächlich zentral war. Dies dürfte wesentlich damit zusammenhängen, dass im serial field der geringerzahligen Don Quixote-Reihe vielfältige Tonvorräte zur Verfügung standen, die zueinander in Bezug gesetzt werden konnten und die Vorstellung von der inneren Ordnung und Einheit des Reihenbezugsraums geradezu nahelegten. Die Überlegung, dass es endliche, präexistente Tonbeziehungen gibt, die zwar polyphon oder homophon zur Darstellung gebracht werden, an sich aber die beiden Satzdimensionen transzendieren, ist für Schönbergs Konzept der Einheit des musikalischen Raums wie auch des ‚musikalischen Gedankens‘ konstitutiv.108 In einem 106 Vgl. ebd., S. 171 f. An diesem herangezogenen Beispiel des Chorlieds Landsknechte op. 35/5 (1930) bekräftigt Auner weiter die Unangemessenheit einer mit dem Vorliegen der 12×12-Matrix tendenziell suggerierten Gleichwertigkeit aller Reihen-Transpositionen, eine Vorstellung, die für ihn in Verbindung steht mit der bei vielen Analysebetreibenden vorherrschend etablierten Praxis des „fixed-do system“ (siehe ebd., S. 172). Dabei wird prinzipiell der Ton c als 0 gekennzeichnet, unabhängig vom Anfangston des ‚basic set‘; eine auf dem Anfangston b beginnende Reihe (ein ‚basic set‘) erschiene demgemäß als P10 (siehe ebd.). Eine solche Praxis platziere jenes ‚basic set‘ von Vornherein im Kontext der weiteren und – so legt Auner nahe – imaginär in einer 12×12-Matrix verfügbaren Reihenformen und suggeriere damit in gewisser Weise eine Beliebigkeit in der Wahl einer Reihen-Transposition (vgl. ebd.). Im Gegensatz dazu verweist Auner auf Schönbergs „sense of distance in musical space of the transpositions from the prime form“ (ebd.), der sich in der Praxis ausdrücke, Transpositionen und Inversionsreihen in Kategorien diatonischer Intervalle unter- und oberhalb eines ‚basic set‘ anzuordnen (und nicht als tendenziell gleichwertige Stufen). Vgl. ebd. 107 Siehe ebd., S. 168–176. „[…] the beautiful symmetries, completeness, and uniformity of the matrix for Op. 29 should also be regarded from the perspective of Schoenberg’s ambivalence throughout his life to perfect symmetry and regularity.“ Ebd., S. 169. 108 „Das Verhältnis der 12 Töne zueinander wird dadurch zum Ausdruck gebracht, dass in den beiden bis jetzt bewussten Dimensionen des musikalischen Raumes dasselbe gesagt wird.“ Arnold Schönberg, Zu: ‚Darstellung des Gedankens‘, 12.11.1925, T35.02 [=Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd.2/Quellen, S. 702. „Der Komposition mit 12 Tönen liegt als wichtigste Voraussetzung die These zugrunde: Das Zusammenklingende (Harmonien, Akkorde, Stimmführungsresultate) ist eben ein solcher Teil des Ausdrucks und der Darstellung des musikalischen Gedanken, wie das Nacheinanderklingende (Motiv, Gestalt, Phrase, Satz, Melodie etc[.] und unterliegt eben wie diese den Gesetzen der Fasslichkeit.“ Arnold Schönberg, Zu: ‚Komposition mit 12 Tönen‘, 9.5.1923, T34.10 [=Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: ebd., S. 800. Siehe auch die Concordance of terms zum Terminus ‚Musikalischer Raum‘ in: Arnold Schoenberg,
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seiner (undatierten) Notizbücher klärt Gerhard grundlegende Prämissen von Schönbergs Zwölftontechnik und nimmt dabei immer wieder direkt und indirekt Bezug auf Schönbergs Vortrag Composition with twelve tones.109 So bemerkt er, dass die Äquivalenz („logical identity“) der vier Reihenformen in Schönbergs Konzept der Einheit des musikalischen Raums begründet sei110 und zitiert und kommentiert dazu aus Schönbergs Composition with twelve tones denjenigen Passus, in dem Schönberg, das Konzept von der Einheit des Raums erläuternd, die Analogie mit dem Himmel Swedenborgs anführt sowie die zweite von Schönberg angeführte Analogie zwischen der menschlichen Vorstellungskraft und der Vorstellungskraft eines Komponisten:111 „’The two-or-more-dimensional space in which musical ideas are presented is a unit.’ It is obvious that the English phrasing does not translate Schönb[er]gs thought quite accurately. I think that the following quotation comes nearer to his thought and makes it more explicit: speaking of the unity of musical space, he says: ‚In this space, as in Swedenborg‘s heaven (described in Balzac[’]s Seraphita) there is no absolute down, no right or left, forward or backward. Every musical configuration, every movement of tones has to be comprehended primarily as a mutual relation of sounds…’ ‚Just as our mind always recognizes, for instance, a knife, a bottle or a watch, regardless of its position, and can reproduce it in the imagination in every possible posi-
The Musical Idea and the Logic, Technique, and Art of its Presentation, hrsg. von Patricia Carpenter und Severine Neff, Bloomington 2006, S. 270–272. 109 Gerhards Markierungen von Schönbergs Text sind einsehbar in Gerhards Exemplar von Arnold Schönberg, Style and Idea, hrsg. von Dika Newlin, New York 1950, CUL MRS.31.29. 110 „The use of the 3 possible inversions of the basic set postulates the logical identity of the 4 forms of the set. This requires the introduction of the concept of musical space. Schbg defines the concept in the well-known sentence: ‚The two-or-more-dimensional space in which musical ideas are presented is a unit.‘“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.127. Gerhards Zitat und Paraphrase bezieht sich auf Arnold Schönberg, Composition with Twelve Tones (1) (1941), S. 220 bzw. 225. Kurz zuvor nimmt Gerhard in seinem Notizbuch-Text bereits Bezug auf seinen Ausdruck „logical identity“, hier mit Blick auf die Reihe als einem von der konkreten Anordnung der Reihentöne im Satz getrennt zu denkenden Abstraktum: „…(logical identity = conceptual, not [eingefügt: noumenal] phenomenal identity)“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.127, S. 10/ Rückseite. In Gerhards Zugriff auf das Gegensatzpaar ‚Noumena‘ und ‚Phaenoumena‘ manifestieren sich einmal mehr erkenntnistheoretische Implikationen der Zwölftontechnik. Allerdings unternimmt Gerhard im weiteren Verlauf des Textes einen Versuch, sich von ‚visueller‘ (und damit in einem weiteren Sinn die Erkenntnis betreffender) Metaphorik loszulösen: „If you want to dispense with the metaphorical notions of ‚space‘, ‚object‘, ‚position‘, and ‚perspective‘ – which are of course derived from the visual field and used here only by analogy, the whole question could be expressed, more abstractly, in simple [eingefügt: logical or] quantitative terms.“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.127, S. 12/ Rückseite. Es folgt ein Abschnitt, in dem Gerhard offenbar anstrebt, die mit der schönbergschen Einheit des Raums begründete Äquivalenz von Reihenformen in einer analytischen, nahezu formallogischen Beschreibungsweise zu fassen (eine Bemühung, die auf das Vorherrschen strukturalistischer Denkweisen während der 1960er Jahre hindeuten kann). Die Bedeutung erkenntnistheoretischer Metaphorik braucht in Bezug auf Gerhards Zwölftonreflexion dennoch nicht gering veranschlagt zu werden. 111 Bei dem von Gerhard zitierten und kommentierten Passus handelt es sich um Arnold Schönberg, Composition with Twelve Tones 1 (1941), S. 223.
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tion, even so a musical creator‘s mind can operate subconsciously with a row of tones, regardless of their direction, regardless of the way in which a mirror might show the mutual relations, which remain a given quantity-’ his definition has been criticized as lacking in elegance and precision, Yet the Kernel or substance of the idea is sound.“112
Die zweite von Schönbergs Analogien aufgreifend, geht Gerhard genauer auf eine den Reihenformen zugrunde liegende Einheit ein und bedient sich dabei der Metaphorik von ‚Position‘ und ‚Objekt‘: „It [Schönbergs Konzept, G. L.] postulates the mutual congruence or agreement of all the possible perspectively-determined displays of one and the same object. [eingef.:] What changes with the change of position is the aspect of the object, not the object itself[.] After all, position is not a notion that could be unfamiliar to someone whose business is com-position. If we may call a 12N serie, metaphorically, an object, then there is no logical difficulty in granting that object a position.“113
Demnach lässt sich jede einzelne Reihenform des serial field als immer selbes ‚Objekt in einer bestimmten Position betrachten und bietet eine einzelne Ansicht des Objekts, ist also ist nicht identisch mit dem Objekt selbst. Die Ansichten („perspectively-determined displays“) konvergieren im Objekt, das somit als Ganzes auf der Gesamtheit der Reihenformen beruht. „Transposition is, as the word itself says, a change in position. The transposed replica is therefore, not a new object, but the same in an different position, higher up, or lower down, in the frequency field. By the same token, a change of position which results from viewing the chain of intervals back-to front, as if through a mirror, does not reveal a new object but the same object in a different perspective.“114
Gerhards Beschreibung der Reihenformen als ‚Positionen‘ im schönbergschen musikalischen Raum steht in enger gedanklicher Verbindung mit Schönbergs spezieller kombinatorischer Auffassung von Kontrapunkt. Hans-Joachim Hinrichsen verweist diesbezüglich auf die in Schönbergs unveröffentlichtem Typoskript Missverständnis des Kontrapunkts (1923) formulierte Definition des Kontrapunkts als eines „Verhältnisse[s] zwischen den Tönen“: „Natürlich handelt es sich im Kontrapunkt nur und ausschließlich um die Verhältnisse zwischen den Tönen und das Motiv ist nur ein in eine feste Form gebrachtes Verhältnis.“115
Schönberg korrigiere hier, so Hinrichsen, „das verbreitete ‚Missverständnis‘, im Kontrapunkt gehe es um Nachahmung von Motiven“, ein theoretisches Missverständnis, von dem Schönberg zugebe, es in früheren Jahren selber geteilt zu haben.116 In jenem Text von 1923 werde nun aber „die Basis kontrapunktischen Den112 113 114 115
Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.127. Ebd. Ebd. Arnold Schönberg, Missverständnis des Kontrapunkts, Typoskript vom 6.7.1923, T34.22 [=Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 2, S. 831. 116 Siehe ebd. sowie Hans-Joachim Hinrichsen, Schönberg, Bach und der Kontrapunkt. Zur Konstruktion einer Legitimationsfigur, in: Autorschaft als historische Konstruktion. Arnold Schönberg – Vorgänger, Zeitgenossen, Nachfolger und Interpreten, hrsg. von Andreas Meyer und Ullrich Scheideler, Stuttgart u. a. 2001, S. 36.
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kens unterhalb der Motive in den ‚Tonverhältnissen‘ gesucht und deren Gewährsmann ist – hinter Max Reger erkennbar – Johann Sebastian Bach. Das Motiv ist lediglich ein Spezialfall der ‚Tonverhältnisse‘.“117 In dieser bedeutsamen Unterscheidung zwischen ‚Motiv‘ und ‚Tonverhältnis‘ (bzw. einem Motiv als Tonverhältnis) lässt sich eine Korrespondenz zu Gerhards Auffassung von der motivischen Tonbezugsebene als einer Oberflächenebene (Kapitel I.1) erkennen. Motivische Gestalten können wahllos oder willkürlich erdacht werden, während etwa ein Fugen-Subjekt auf seine kombinatorischen Möglichkeiten hin disponiert wird und in der Kombination mit anderen Stimmen präexistierende Tonbezüge – „Verhältnisse zwischen den Tönen“118 – hervorbringen lässt. So wie in einem Fugen-Subjekt dessen kombinatorische Möglichkeiten potenziell inbegriffen sind, determiniert ein Fugenthema den kombinatorischen Bezugsraum, dem es angehört. Es ist ein solcher Bezugsraum, der sich als Vorgänger der von Gerhard rezipierten schönbergschen Einheit des musikalischen Raums betrachten lässt. Für den Spezialfall der kontrapunktischen Komposition gilt nach Schönberg, dass ein kontrapunktisch behandeltes Thema (etwa ein Fugen-Subjekt) nicht selbst den ‚musikalischen Gedanken‘ darstellt, sondern, wie Hinrichsen formuliert, das „Prinzip der möglichen Verteilung der einzelnen Elemente eines ‚Gedanken‘ auf verschiedene Stimmen, das Schönberg auch bei Bach erkennen zu können glaubt.“119 Dabei enthält ein Fugenthema den ‚musikalischen Gedanken‘ in gewisser Weise bereits in sich, dieser kommt aber erst im gleichzeitigen Erklingen mehrerer Stimmen zu seiner kompletten Darstellung. Als die dem kontrapunktischen Gedanken („contrapuntal idea“) gemäße Darstellungsmethode benennt Schönberg das Prinzip der Abwicklung, das er dem der Entwicklung in homophonen Kompositionen gegenüberstellt.120 Während bei der Technik der Entwicklung durch ‚entwi117 Ebda., S. 37. 118 Siehe Anm. 115. 119 Hans-Joachim Hinrichsen, Schönberg, Bach und der Kontrapunkt. Zur Konstruktion einer Legitimationsfigur, S. 37. 120 Zu den beiden genannten Gedanken-Darstellungsweisen bzw. Techniken Entwicklung und Abwicklung siehe Arnold Schönberg, Der musikalische Gedanke; seine Darstellung und Durchführung, 6.7.1925, T37.08 [Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 2, S. 718. In einem weiteren Fragment seines Gedanke-Manuskripts stellt Schönberg ebenfalls diese beiden Prinzipien einander entgegen, ohne dabei explizit die Ausdrücke ‚Abwicklung‘ und ‚Entwicklung‘ zu verwenden. Beide Spielarten des „musikalischen Gedankens“ unterscheidet er hinsichtlich ihrer Erzeugung von Themen und Gestalten („[…] by its predisposition toward a different kind of image production“). In Bezug auf den Gedanken einer kontrapunktischen Komposition äußert er: „The contrapuntal idea produces images that must differ greatly from one another in the total sound (because the same voices meet each other on different harmonies) but differ very little from one another in thematic content, because the same voices, after all, make up [the harmonies]. For a contrapuntal idea has an initial formulation that permits shifting the position of the various constituents (themes, gestalten, voices) in a kaleidoscopic manner […]. […] the basic motive produces two or more voices that are so constituted (polymorphous canon) that besides double, triple, quadruple, and x-multiple counterpoints on various scale degrees, even horizontal shifts and […] augmentation, diminution, and the mirror transformations are made possible.“ Arnold Schönberg, The Idea in the Contrapuntal Art of Composition and its Presentation, 12.6.1934,
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ckelnde Variation‘ stets neue Gestalten aus der Grundgestalt erzeugt werden, bleiben die im Fall der Abwicklung kontrapunktierten Gestalten im Verlauf der Komposition weitgehend unverändert und werden lediglich neu kombiniert (Schönberg spricht in diesem Sinne vom Verlauf eines Musikstücks als einem „einzige[n] Umgestalten einer Grundgestalt“121). Sie wandern durch unterschiedliche Stimmen, nicht ihre Gestalt selbst verändert sich, sondern ihre ‚Lagerung‘. In seiner unveröffentlichten Schrift Der lineare Kontrapunkt (1931) beschreibt Schönberg seine kombinatorische Kontrapunkt-Auffassung abgrenzend von der eines linearen Kontrapunkts:122 „1.) Der Gedanke eines kontrapunktischen Stückes ist in die Form eines Themas komprimiert, in welchem die ihn zusammensetzenden Elemente […] bei gleichzeitigem Erklingen sozusagen eine ‚Ausgangsstellung‘ einnehmen. 2. In dieser Ausgangsstellung, in diesem Thema, sind alle Möglichkeiten zukünftiger Lagerung der Elemente enthalten. […] 3. Im Verlauf des Stückes werden die durch Lagenveränderungen entstehenden neuen Gestalten (veränderte Formen des Themas, neue Klänge seiner Elemente) abgewickelt, so etwa wie ein Film abgewickelt wird. Und die Reihenfolge der Bilder (wie der ‚Schnitt‘ beim Film) ergibt die ‚Form‘.“123
Diese Ausführungen Schönbergs sind aufschlussreich für die von Gerhard geäußerte Auffassung einer Reihenform als Position, weil Schönberg mit dem Ausdruck der ‚Lagerung‘ hier auf die Position der einzelnen Stimmen im Satz, im Sinne der ‚Lagerung‘ des Elements, das einen ‚musikalischen Gedanken‘ konstituiert, zu sprechen kommt. Dabei lässt sich jene ‚Lagerung‘ nicht nur als die Lage einer Stimme im Satz verstehen – etwa im Sinne einer Ober-, Mittel- oder Unterstimme in einem Satz-Raum. Vielmehr kann ‚Lagerung‘ hier abstrakter, als Position einer kontrapunktischen Gestalt in einem präkompositionell gegebenen kombinatorischen Bezugsraum (oder auch: kombinatorischen Möglichkeitsraum), verstanden werden. Ein solcher wäre nach Schönberg mit dem ‚musikalischen Gedanken‘ eiin: Arnold Schoenberg, The Musical Idea and the Logic, Technique, and Art of its Presentation, hrsg. von Patricia Carpenter und Severine Neff, Bloomington 2006, S. 100. Siehe auch ders., Zu: ‚Komposition mit 12 Tönen‘, 9.5.1923, T34.10 [Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 2, S. 799–801. 121 Siehe Arnold Schönberg, Der lineare Kontrapunkt, Barcelona 2.12.1931, T35.22 [Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd.2, S. 837. 122 Eingehend diskutiert wird diese Gegenüberstellung sowie Schönbergs Text Der lineare Kontrapunkt, mit dessen Titel Schönberg auf Ernst Kurths Schrift Grundlagen des linearen Kontrapunkts. Bachs melodische Polyphonie (1917) anspielte, bei Hans-Joachim Hinrichsen, Schönberg, Bach und der Kontrapunkt. Zur Konstruktion einer Legitimationsfigur, S. 35–39. 123 Arnold Schönberg, Der lineare Kontrapunkt, Barcelona 2.12.1931, T35.22 [Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd.2, S. 838. Siehe hierzu Arnold Schönberg, Der musikalische Gedanke; seine Darstellung und Durchführung, 6.7.1925, T37.08 [Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: ebd., S. 718.
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nes kontrapunktischen Stückes zugleich vorgegeben und in dessen Grundgestalt latent enthalten. Auch Auner überträgt die Auffassung des ‚musikalischen Gedanken‘ als „all the possibilities for combination that obtain among the given voices“124 auf die Zwölftonreihe. Er bemerkt mit Blick auf die genannten, von ihm untersuchten Reihentafel-Matrizen Schönbergs, dass der ‚musikalische Gedanke‘ in einer Zwölftonkomposition nicht in einer einzelnen Reihe zu verorten und mit ihr zu identifizieren sei, sondern sich in der Gesamtheit der Bezüge zwischen den Reihenformen befinde: „[…] the matrices discussed above might be understood to suggest that the Idea of a twelvetone work is not the row but the sum of all the relationships between all the manifestations of the row.“125
Ebenso wie eine Stimme im traditionellen Kontrapunkt die Information über begrenzte Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Stimmen in sich trägt – wobei allerdings Stimmführungsregeln vorliegen – und deren Gesamtheit repräsentieren kann, so kann demnach auch eine einzelne Reihe für einen ganzen Bezugsraum einstehen, dem sie zugehört126 und in welchem sie, mit Gerhard gesprochen, eine bestimmte Position einnimmt. Welche Bedeutung ein kontrapunktischer Stil für Gerhard im Zusammenhang mit der Zwölftonkomposition hat, wird daran deutlich, dass der Kanon von ihm als Paradigma für die Zwölftonkomposition dargestellt wird. Zwei für das Konzept und die Entstehung der Zwölftontechnik bedeutsame Punkte führte Gerhard in TTM (1952) an: Als ersten Punkt nennt er die Intervallfixierung, die sich im strengen Kanon-Subjekt wie in der Reihe finde („[…] it is the fixed character of a given series of intervals, independently of rhythm, which constitutes the essence of strict canonic imitation[…]“127) – auf die Unverletzlichkeit intervallischer Bezüge sei die Äquivalenz der Reihenformen zurückzuführen („the essential identity of all the forms of the series“).128 Als zweiten Punkt, den Gerhard gegenüber dem ersten für noch wichtiger erachtet, nennt er den Umstand, dass ein Kanon-Subjekt seine eigene Begleitung quasi in sich trage.129 Er resümiert: 124 Patricia Carpenter/ Severine Neff, Kommentar, in: Arnold Schoenberg. The Musical Idea and the Logic, Technique, and Art of its Presentation, hrsg. von Patricia Carpenter und Severine Neff, S. 18, siehe auch Joseph Auner, Schoenberg’s row tables: temporality and the idea, S. 167. Diese von Auner aufgegriffene und von Carpenter und Neff stammende Formulierung bezieht sich auf den folgenden Passus aus dem ersten Fragment von Schönbergs GedankeManuskript: „Im Kontrapunkt handelt es sich keineswegs so sehr um die Kombination an sich […] als vielmehr um eine solche vielseitige Darstellung des Gedankens: das Thema ist so beschaffen, dass es alle diese vielen Gestalten, durch welche sie möglich wird, schon in sich birgt.“ Arnold Schönberg, Zu ‚Darstellung des Gedankens‘, 19.8.1923, T34.29 [=Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd.2, S. 698 f. 125 Joseph Auner, Schoenberg’s Row Tables: Temporality and the Idea, S. 167. 126 Siehe Anm. 101. 127 Roberto Gerhard, TTM, S. 120. 128 Ebd. 129 Vgl. ebd.
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„Taken together and generalized, the two points add up to the following notion: a fixed series of intervals (independent of metre and rhythm) as an abstract form of musical thought implying its own complete system of accompaniment. This is almost a definition of the main idea in twelve-tone technique: it shows its canonic roots and constitutes clear evidence of its kinship with strict contrapuntal style.“130
Ähnlich wie im Fall eines Kanon-Subjekts, dessen intervallfixierte Gestalt die Möglichkeiten der Kombination mit sich selbst (der gleichen Gestalt auf unterschiedlichen Transpositionsstufen) determiniert – wobei Dissonanzregeln die Einsatzabstände der Stimmen festlegen –, ließe sich demnach der Bezugsraum von Reihen verstehen, der durch deren intervallfixierte Gestalt zustande kommt. Die Kombinationsmöglichkeiten eines Kanon-Subjekts mit bestimmten Transpositionsstufen seiner selbst und bei bestimmten zeitlichen Einsatzabständen stehen präkompositionell fest, ebenso die Kombinationsmöglichkeiten der Reihenformen im serial field einer Reihe. Auch Gerhards Reihenarchetyp lässt sich wie ein kontrapunktisch-kombinatorisches Thema/ Subjekt betrachten. Durch die Auffassung der Reihe als Segmentanordnung wird zwar die Intervallfixierung der Reihe (innerhalb der Segmente) aufgebrochen, an deren Stelle tritt aber der Tongehalt der Hexachorde als eindeutiges Identifikationsmerkmal eines Reihenarchetypen. Selbst die kleinste Veränderung im Tongehalt bzw. Intervallgehalt eines Reihenhexachords (der Tongehalt des Hex.1 einer Reihe determiniert dabei auch denjenigen ihres Hex.2) würde ein verändertes serial field verfügbarer Reihenformen ergeben – und damit veränderte Möglichkeiten der Kombination. Kombinationsmöglichkeiten einer Reihe basieren daher auf einem verbindlich festgelegten Reihenarchetyp, ebenso wie die Möglichkeiten in der traditionellen Kanonkomposition auf der intervallfixierten Disposition des Kanon-Subjekts basieren. Vor diesem Hintergrund kann Gerhard äußern, dass die von ihm postulierte tongehaltlich-kombinatorische Anwendung der Reihe im Sinne einer ars combinatoria als die eigentliche Errungenschaft der schönbergschen Zwölftonmethode anzusehen sei: „[…] that the specific operations of the pitch set, considered in themselves and apart from the ‚motivic work‘ they are made to do as well, constitute in reality what is vitally new of Schoenberg’s contribution: an ars combinatoria which as a mode of sound-organization is entirely unprecedented. It has its own specific laws.“131
So wie das Thema einer kontrapunktischen Komposition demnach in komprimierter Form bereits den ‚musikalischen Gedanken‘ derselben enthält, könnte man, auf die Zwölftonkomposition übertragen, behaupten, die Reihe enthalte in komprimierter Form bereits ihr gesamtes serial field und die gesamte Fülle der Bezüge zwischen den Reihen des serial field potenziell in sich. Dabei käme dem basic set (P0) als Grundgestalt lediglich die Rolle der von Schönberg so bezeichneten ‚Ausgangsstellung‘ zu. Das basic set lässt sich gleichsam als ein ‚teilhabender Stellvertreter‘ des kombinatorischen Bezugsraums der Reihenformen auffassen. Allerdings könnte dies für jede weitere Reihenform des serial field ebenfalls gelten, da jede der Rei130 Ebd. 131 Ders., DTT, S. 134.
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hen am kombinatorischen Bezugsraum im Sinne einer unverwechselbaren ‚Position‘ teilhat. Vor dem Hintergrund der Idee, dass „der Gedanke […] von vornherein aus mehreren Stimmen“ besteht, „von der jede einen ganz bestimmten Teil desselben enthält,“132 stellt sich somit tatsächlich die Frage, warum dem basic set unter den anderen Reihen des serial field der Vorrang einer Ausgangs-‚Position‘ zugesprochen werden soll. Schönbergs Aussage, „The basic set functions in the manner of a motive“133, weist in der Tat darauf hin, dass der thematische Rückbezug auf eine Grundgestalt-Reihe zentral blieb, linear ‚entwickelnde‘ Verfahren mit ‚abwickelnden‘ koexistierten.134 Damit traten, wie Gerhard moniert, motivisch-thematische Verfahren zusätzlich zu dem kombinatorischen Gebrauch der Reihe hinzu.135 Hier geraten die zwei unterschiedlichen Spielarten des ‚musikalischen Gedanken‘ tendenziell aneinander. Gerhards Rezeption der vorrangig kontrapunktischen Spielart des ‚Gedankens‘ macht diese Differenz innerhalb von Schönbergs Konzept deutlich. Demgemäß wird die spezifische innere Vorstellungswelt des Don Quixote in Gerhards Ballett nicht durch eine einzelne, bevorzugte und thematisch behandelte Reihenform (bzw. Transpositionsstufe der Don Quixote-Reihe) repräsentiert und charakterisiert. Vielmehr manifestiert sich in den von Gerhard vermittels der Don Quixote-Reihe hervorgebrachten Tonverhältnissen und -bezügen insgesamt jene ‚höhere Realität‘ Don Quixotes, die somit als erkenntnistheoretisches Thema mit einer im Kompositionsprozess zu erschließenden imaginären inneren Ordnung der Reihen im serial field zusammenfällt. Ein weiterer Aspekt von Gerhards Auffassung des schönbergschen Konzepts lässt sich ausdifferenzieren, wenn man feststellt, dass Schönbergs einheitlicher musikalischer Raum in der Regel auf die Bedeutung eines Satz-Raums136 gebracht wird. Demnach wird er nicht mit einem präkompositionellen kombinatorischen Bezugs132 Arnold Schönberg, Zu ‚Komposition mit 12 Tönen‘, 9.5.1923, T34.10 [=Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd.2, S. 800. 133 Arnold Schönberg, Composition with Twelve Tones (1) (1941), S. 219. 134 Siehe auch Martina Sichardt, Die Entstehung der Zwölftonmethode Arnold Schönbergs, Mainz 1990, S. 130. 135 Vgl. Roberto Gerhard, DTT, S. 134. 136 In seiner differenzierenden Betrachtung unterschiedlicher Bedeutungsebenen des ‚musikalischen Gedanken‘ bei Schönberg verweist Jacob darauf, dass in Schönbergs Denken neben der seit 1923 vorherrschenden Bedeutungsebene des ‚musikalischen Gedankens‘ als Grundidee eines Werks weiterhin eine zweite Bedeutungsebene des Gedankens im Sinne einer „syntaktisch-semantischen Einheit“ aufrecht erhalten werde. (Vgl. Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 1/ Darstellung, Hildesheim 2005, S. 159.) Dies zeigt nach Jacob, dass Schönberg die traditionelle Auffassung des Gedankens als „motivisch-thematischer“ Einheit nicht insgesamt verschwinden lässt, denn „[…] negiert wird nur die traditionelle Auffassung von ‚Gedanke‘ als motivisch-thematische Einheit, die sich allein in einer musikalischen Dimension (im Allgemeinen der Melodik) abspiele“ (ebd.). Jacob bemerkt daher, der ‚Gedanke‘ erstrecke sich bei Schönberg stets nicht nur auf eine Stimme, sondern auf die gesamte Satzgestalt. Mit Blick hierauf nimmt Jacob Bezug auf das Konzept des musikalischen Raums, das er in der Betonung des Satzes als Ganzes impliziert sieht (ebd.). Auch hier wird also der musikalische Raum als Tonsatz-Raum betrachtet, und nicht als präkompositioneller Bezugsraum.
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raum identifiziert, obwohl sich mit Hinrichsen sagen lässt, dass die Gleichwertigkeit eines Reihengebrauchs in der horizontalen wie auch in der vertikalen Satzdimension bei Schönberg „im Kern kontrapunktischen Denkens begründet“137 ist. Denn vorrangig wird Schönbergs Ausbreitung des Reihengebrauchs auf beide Satzdimensionen hinsichtlich einer besonderen Anordnung von Teilreihen oder Reihentönen auf Stimmen im Satz verstanden und untersucht, und damit einer linearen oder melodischen Statuierung der Reihe gegenübergestellt. So erörtert Ethan Haimo unter dem Stichwort „Partitioning“ (oder dem Spezialfall eines „Isomorphic Partitioning“) und vor allem mit Blick auf spätere, im amerikanischen Exil entstandene Kompositionen Schönbergs – etwa dessen Violinkonzert op. 36 (1934–36) – vielfältige und kunstvolle Muster, in denen die consecutive order einer Reihe auf die Stimmen im Satz aufgeteilt oder ausgebreitet wird.138 Auch Martina Sichardt geht in ihrer Untersuchung von Schönbergs Skizzen und Kompositionen zwischen 1917 und 1923 besonders auf kunstvolle Muster der Satzbildung ein und bringt Schönbergs Vorstellung des musikalischen Raums mit einem „Durchbrechen des melodischen Ablaufs der Reihe“ in Verbindung.139 Eine aus Schönbergs kontrapunktischem Gedanke-Konzept ableitbare Bedeutung von Reihenkombinatorik und damit tongehaltlicher Bezüge im serial field der Reihe (vorfindbarer combinatoriality oder Invarianzen) spielen in den von Sichardt betrachteten Kompositionen, die die Entstehung der Zwölftonmethode vorbereiten, noch keine oder eine untergeordnete Rolle.140 137 Hans-Joachim Hinrichsen, Schönberg, Bach und der Kontrapunkt. Zur Konstruktion einer Legitimationsfigur, S. 38. 138 Siehe Ethan Haimo, Schoenberg’s Serial Odyssey. The Evolution of his Twelve-Tone Method, 1914–1928, Oxford 1992, S. 17–26. 139 Martina Sichardt, Die Entstehung der Zwölftonmethode Arnold Schönbergs, S. 75 sowie ebd., S. 79–81. 140 Mit Blick auf eines der frühesten Stadien in der Entwicklung der Zwölftontechnik, ein Skizzenblatt zu dem aus den Jahren 1914/15 stammenden Scherzo aus einer unvollendeten Sinfonie Schönbergs (einem Scherzo, dem Schönberg in späteren Jahren besondere Bedeutsamkeit mit Blick auf die Entstehung der Zwölftonmethode einräumte), verweist Martina Sichardt auf das Vorhandensein einer kleinen Reihentabelle, in der die Reihe nicht nur in der Grundform, sondern auch in den vier Ableitungsformen fixiert wurde (siehe ebd., S. 34–36). Dabei bemerkt Sichardt, es sei von besonderer Bedeutung, dass Schönberg zusätzlich zu den vier Modi die um eine große Terz abwärts transponierte Krebsumkehrung notierte, weil diese bestimmte Reihenform an der exakt gleichen Stelle wie auch die Inversion (und die Grundreihe), nämlich zwischen dem 6. und 9. Reihenton, die Tongruppe e, f, h, c (d. h. die Reihentöne in unterschiedlicher Reihenfolge) aufweise (vgl. ebd., S. 36). Es handelt sich also um eine Invarianz zwischen den Reihenformen, die Schönberg auf dem Skizzenblatt durch Markierungen kenntlich machte. Sichardt kommentiert: „Das Erforschen solcher Gesetzmäßigkeiten gehört offenbar zu den Ursprüngen der Entwicklung der Zwölftonmethode.“ (Ebd.) Damit verweist sie derartige präkompositionelle Tonbezüge in den Rahmen des Entstehungsstadiums der Zwölftontechnik. An anderer Stelle bemerkt sie, die in den Sinfonie-Skizzen gefundene „Aufstellung der vier Modi einer Reihe lasse sich hier noch „als Konsequenz thematischen Denkens bezeichnen“ (ebd., S. 71). Sie hat demnach mit einer Kombinatorik der Reihenformen noch wenig zu tun. Von „der Möglichkeit der Verwendung von Modi und Transpositionen der Reihe“ mache Schönberg erstmals im 1921 komponierten Präludium aus der Suite für Klavier op. 25 (1921–23) Gebrauch, das Schönberg immer als seine erste Zwölftonkomposition bezeichnet habe. Ebd.
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Zweifellos ist eine Durchdringung der horizontalen und vertikalen Setzrichtung und Anordnung der Reihentöne im Satz in Schönbergs Kompositionen wesentlich. Für Gerhard, der in den reihengebundenen Abschnitten seines Don Quixote-Balletts damit begann, tongehaltliche Bezüge der Reihenformen zu entdecken und die Permutierung von Reihentönen zuzulassen, verloren kunstvolle Muster der Zerteilung und Anordnung von Reihen auf den Satz bei zugleich streng befolgter consecutive order an Bedeutung. Die Zerteilung einer Reihe auf verschiedene Stimmen kommt hier zwar vor, ohne aber besonders komplex ausgeführt zu werden. (Aufgebrochen wird die lineare Statuierung der Reihe zum Beispiel in Szene 1 bei Ziffer 36: die Reihe P7 wird hier zwischen der ersten und zweiten Violine als P7 (1–3; 7–9), den Pizzicato-Tönen von Violoncello und Kontrabass als P7 (4–6) und der Fagott-Stimme als P7 (9–12) aufgeteilt. Dabei erklingen die Reihentöne der im Satz übereinandergeklappten Reihenteile allerdings niemals als gleichzeitiges Intervall, sondern stets zeitversetzt, quasi komplementär-rhythmisch, sodass ein Zusammenklingen zweier Stimmen sich allein aufgrund ausgehaltener Reihentöne ergibt, in der Art einer zweistimmigen, potenziellen „self-harmonising melody“.141) Zumeist aber erhält Gerhard eine vertikale Durchgestaltung des Satzes, indem er intakte, nicht-zerspaltene Reihen oder relativ autonom gehandhabte, tongehaltlich bestimmte Reihenhexachorde bzw. -segmente statuiert und kombiniert (siehe hierzu die Analysen in Kapitel III.3). Selbst in der Variationen-Form von Szene 5, deren thematischen Mittelpunkt die Don Quixote-Reihe bildet, und welche theoretisch eine Gelegenheit dazu hätte bieten können, eine einzelne Reihe kunstvoll auf den Satz aufzuspalten, fällt auf, dass die Don Quixote-Reihenformen oder -segmente oftmals linear und nicht zerspalten innerhalb einer Stimme auftauchen. Außerdem greift Gerhard nicht selten auf schlichte Satzarten zurück (in die Kategorie ‚Hauptstimme/ Hauptschicht mit Begleitung‘ lassen sich z. B. die reihengebundenen Sätze bei Ziffer 108–111, 114– 118 und 119 einordnen). Die Komplexität des Reihengebrauchs liegt also zu einem eher geringen Teil in der Gestaltung des Satz-Raums, und zum wesentlichen Teil in der Nutzung eines kombinatorischen Bezugsraums.142 Der von Gerhard betonte Aspekt der Teilhabe der Reihen am kombinatorischen Bezugsraum bietet eine Umwendung der landläufigen Auffassung der Reihe als Thema,143 oder sogar Gesetz, das formale Einheit und Zusammenhang in einer 141 „Self-harmonizing melody is a quasi-heterophonic technique, that results in the series being employed for melodic lines while simultaneously functioning harmonically.“ Darren Sproston, Roberto Gerhard: The Serial Symphonist, S. 234. 142 Allerdings ist zu sehen, dass Gerhard den schönbergschen Ausdruck des ‚musikalischen Raums‘ durchaus auch in seiner gängigen Bedeutung der Gestaltung eines Satz-Raums bzw. der Überwindung einer vorherrschend homophonen oder polyphonen Satzweise begriff, nämlich als „[…] a unified concept of the musical space needed to overcome the dichotomy between the horizontal and the vertical.“ Roberto Gerhard, The Muse and music today (1962), in: GoM, S. 218. 143 Die Auffassung der Reihe als aus der ‚Grundgestalt‘ hervorgehendes Quasi-Thema scheint durch, wenn die Zwölftonreihe „als vereinheitlichender Faktor in einer Zwölftonkomposition“ betrachtet wird, mit dem eine Ordnung zu assoziieren sei, „da durch sie die Tonhöhenklassen in einer für jede Komposition fixierten Reihenfolge vor-‚geordnet‘ werden […].“ (Michael
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Komposition garantiert. Erstrebt wird dagegen ein ‚Kontakt‘ mit ge-fundenen Tonbezügen, d. h. der Tiefenebene von Tonverhältnissen wo scheinbar nur Motive gegeben sind. Die Reihe darf diese nicht selber (durch ‚entwickelnde‘ Verfahren) generieren – dies käme einer Manipulation und Verstellung jener Tonbezüge gleich. Vielmehr muss sie gewissermaßen durchlässig sein, um jene Tonbezüge hervorbringen zu können – sie soll also eher beim Auffinden als beim Erfinden und Erdenken von Tonbezügen hilfreich sein. Die Reihe ist hier ein Hilfsmittel, das der Erschließung des kombinatorischen Bezugsraums dient (bzw. der ‚Darstellung‘ des schönbergschen ‚musikalischen Gedanken‘). Und insofern dieser relational, vermittels der ‚Position‘ von Reihen in jenem Raum fassbar wird, und nicht – wie eine einzelne Reihengestalt und davon abgeleitete motivische Bezüge – sinnlich zugänglich ist, lässt er sich mit der Don Quixote zugänglichen ‚höheren Realität‘ vergleichen. Diese ist Don Quixote zugänglich, weil dieser einen sinnlichen Realitätszugang zu überwinden vermag. I.2.1 Ohne Perspektive sieht man nichts – die Disposition der Don Quixote-Reihe Hinsichtlich des Reihengebrauchs im Sinne einer ars combinatoria kam Gerhards Kritik an einer motivisch-thematischen Behandlung der Reihe zur Sprache. Neben dem Einwand, die Herstellung musikalischen Zusammenhangs auf der motivischthematischen Ebene gehöre einer prädodekaphonen Denkweise an und sei insbesondere ein Erbe der Wiener Klassik,144 kritisierte Gerhard auch, Schönberg sei vor dem (für Gerhard folgerichtigen) Schritt, die motivisch-thematische Zusammenhangsbildung bei gleichzeitiger Anwendung der Zwölftonreihe aufzugeben, zurückgewichen. Dabei äußerte er das folgende Argument: „[…] he recoiled from casting aside the principle of motivic-thematic relationship which had been the soul of classical form. He was on the contrary, consciously bent on extending its range and making the principle all-pervasive, absolute. A paradoxical situation thus arises; we must come to the conclusion that where literally everything is thematic, nothing is.“145
Dies birgt ein Problem mit philosophischen Implikationen in sich: Wo beansprucht wird, alles Bestehende auf eine Substanz zurückzuführen, die durch eine Abstraktion bezeichnet ist, da tendiert jene Abstraktion, die beansprucht alles zu erfassen, paradoxerweise zur Inhaltsleere. Die Repräsentation des Alles kippt ins Nichts.146 Beiche, [Artikel] Reihe, Zwölftonreihe, in: Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans H. Eggebrecht, Stuttgart 1995 (=HmT Sonderband 1), S. 373.) Im Kontext einer kombinatorisch-kontrapunktischen Auffassung der Zwölftontechnik wäre musikalischer Zusammenhang in einem präexistenten kombinatorischen Bezugsraum begründet, welcher den Reihen des serial field zugrunde liegt und durch die intervallfixierte Reihe erschlossen, nicht aber hergestellt wird. 144 Vgl. Roberto Gerhard, DTT, S. 134. 145 Ebd., S. 134 f. 146 Diesbezüglich ließe sich sagen: Je abstrakter und allgemeiner ein Begriff ist, desto inhaltsleerer wird er, d. h. je größer der Begriffsumfang (die Extension eines Begriffs), desto kleiner der Begriffsinhalt (Intension). Die These von der Reziprozität von Inhalt und Umfang ist, streng
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Für Miguel de Unamuno besteht ein analoges Problem in Bezug auf menschliches Existieren und das von ihm als zentral und einzig postulierte Bedürfnis nach Unsterblichkeit: Die Aussicht nach dem Tod in eine (anonyme) Substanz einzugehen, stellt für den nach Unsterblichkeit dürstenden Menschen keine Option dar. Diese Aussicht käme vielmehr einer Vernichtung von Unsterblichkeit gleich, denn das individuelle Menschenleben würde dem Vergessen anheimfallen. Die einzig wahrhafte Aussicht auf Unsterblichkeit besteht für Unamuno daher im Erlangen personaler Unsterblichkeit. Lebenwollen und Unsterblichseinwollen zielen darauf ab, als ‚gelebte Idee‘147 in ein ewiges (kollektives) Bewusstsein einzugehen und darin erinnert zu werden, nicht aber in einer Substanz zu verschwinden. Monistische Weltentwürfe, die alles auf eine Substanz zurückführen, spenden insofern nur einen falschen und schwachen Trost: „No, no es anegarme en el gran Todo, en la Materia o en la Fuerza infinitas y eternas o en Dios lo que anhelo; no es ser poseido por Dios, sino poseerle, hacerme yo Dios sin dejar de ser el yo que ahora os digo esto. No nos sirven engañifas de monismo; ¡queremos bulto y no sombra de inmortalidad!“148
Der Kritikpunkt, den Gerhard angesichts einer thematischen Zusammenhangsbildung anbringt, ist im Fall eines durch die Reihe gestifteten Zusammenhangs besonders relevant. Insofern sich in einer Zwölftonkomposition kein Ton findet, der nicht auf die Grundreihe zurückgeführt werden kann, durchdringt diese die gesamte Komposition (und insofern substanziell alles). Dies birgt in Bezug auf die (alle) zwölf Töne umfassende Reihe das Problem einer permanenten Rotation desselben Tonvorrats bzw. eines Zwölftonfelds: In Bezug auf ihren Tonhöhengehalt ist die zugrunde gelegte Reihe redundant, d. h. sie beruht auf der Wiederholung des gleichen Tonvorrats: „A twelve-tone work, in Schoenberg’s system, consists of perpetually varied restatements of a twelve-tone set.“149 sprachphilosophisch gesehen, allerdings widerlegt. Albert Menne erklärt, dass jene These, die auf die Logik von Port Royal von Antoine Arnauld und Pierre Nicole (erstmals 1662 unter dem Titel La logique ou l’art de penser publiziert) zurückgehe, zwar in vielen, aber nicht in allen Fällen zutreffe. Bernard Bolzano (1781–1848) habe in seiner Wissenschaftslehre darauf hingewiesen, dass sie sich als allgemeines Gesetz nicht halten lasse und führe sogar Beispiele an, „wo durch eine Erweiterung des Inhaltes zugleich eine Erweiterung des Umfanges eintritt. Erweitere ich den Begriff: ‚Mensch, der alle europäischen Sprachen versteht‘ um den Bestandteil ‚lebend‘ zu ‚Mensch, der alle lebenden europäischen Sprachen versteht‘, so wird dadurch sicherlich der Umfang größer, da ja jetzt die Kenntnis des Lateinischen, Griechischen, Keltischen, Gotischen usf. nicht mehr vorausgesetzt wird.“ Albert Menne, Einführung in die Logik, Tübingen, Basel 51993, S. 27. 147 Siehe Anm. 101, Kapitel II.1.2.1. 148 „Nein, nicht einzugehen und aufgelöst zu werden in das große Alles, in die unendliche und ewige Materie oder Energie, oder in Gott, ist es, was ich ersehne; nicht von Gott angeeignet werden ersehne ich, sondern ihn anzueignen, selber Gott zu werden, ohne aufzuhören dasjenige Ich zu sein, das jetzt gerade zu Euch spricht. Es nutzen uns nicht die Täuschungen des Monismus; wir wollen das volle Gewicht der Unsterblichkeit, nicht ihren Schatten.“ Miguel de Unamuno, STV, S. 32 [Übersetzung G. L.]. 149 George Perle, Serial Composition and Atonality, S. 5.
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So wirkt sich etwa die Transposition einer Reihe nicht als Veränderung des Tonvorrats aus (was im Fall eines Motivs mit einer begrenzten Anzahl von Tönen eindeutig der Fall wäre). Eine Transposition stellt de facto eine bloße Umordnung der Reihentöne dar, wo der stets gesamte Tonvorrat von zwölf Tönen im Umlauf ist und die Reihe als ganze (d. h. in nicht-segmentierter Form) verwendet wird.150 Bezüge zwischen Tongehalten und deren Differenzierbarkeit lässt die Zwölftonkomposition nicht zu – die der Reihe zugeschriebene Zusammenhangsbildung ist in dieser Hinsicht inhalts- oder existenzleer. Dies stellt im Hinblick auf die Eignung der Reihe zur Erschließung präexistierender Bezüge zwischen Tönen ein gravierendes Problem dar. Die Frage nach Tonalität, aufgeworfen im Sinne der Frage, ob es endliche Bezüge zwischen Tönen gibt, kann anhand einer zwölftönigen, unsegmentierten Reihe nicht verfolgt werden. Die Tatsache, dass Gerhard für seine Don Quixote-Reihe eine geringerzahlige Reihe wählte, hat dagegen den Effekt, dass sich mit der Kombination von Reihen differenzierbare Tongehalte in Bezug zueinander setzen lassen. Die Don Quixote-Reihe enthält, wie bereits erwähnt, nur neun unterschiedliche Töne, davon werden drei der Reihentöne gedoppelt. Die geringerzahlige Don Quixote-Reihe P0 und ihre reiheneigenen Tondoppelungen an den Stellen der Reihentöne 1/6, 4/8 und 7/10:
Die folgende Betrachtung der präkompositionellen Disposition der Don QuixoteReihe soll zeigen, wie Gerhard für jenen Sachverhalt des redundanten Tongehalts in der Zwölftonkomposition, der ihm sicherlich als ein Problem von Schönbergs Methode bewusst war, eine potentielle Lösung fand. Im serial field der Don QuixoteReihe finden sich unter den P- und I-Reihen keine zwei Reihenformen, die einen identischen Tonbestand aufweisen. Die Vielfalt der Reihen bietet zahlreiche Möglichkeiten, Verbindungen vermittels gemeinsamer Töne herzustellen, die als tonge150 Detailliert beschrieb dies auch Milton Babbitt: In Bezug auf die Auffassung von Tonbeziehungen unterscheide sich Schönbergs System erheblich von denen der Vergangenheit „for relations are definied entirely by the imposition of a total linear ordering upon the pitch classes […].“ Mit diesem Prinzip habe Schönberg, ein „permutational musical system“ im Gegensatz zu den „combinational systems“ der Vergangenheit etabliert: „Given a collection of available elements, the choice of a sub-collection of these as a referential norm provides a norm that is distinguishable by content alone; such a system, and the traditional tonal system is such, is therefore combinational. But if the referential norm is the totality of elements, there is but one such norm in terms of content, and deviations from this norm cannot exist within the system.“ (Milton Babbitt, Twelve-Tone Invariants as Compositional Determinants, in: MQ 46 (April 1960) Heft 2, S. 247 f.) Babbitt fährt fort, bei allen Operationen des Zwölftonsystems sei dessen ‚permutationale‘ Wesensart zu bedenken: „As a simple example: transposition […] in a combinational system results in the adjoining of pitches which are not present in the original collection, and thus establishes a new sub-collection; transposition of a set [gemeint ist eine Reihe, G. L.] results only in a permutation of the elements.“ Ebd., S. 248.
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haltliche Verwandtschaften151 differenzierbar sind. Die maximale Anzahl gemeinsamer Töne zwischen zwei kombinierten Reihen sind dabei acht Töne. Reihenkombinationen mit acht gemeinsamen Tönen sind die folgenden Kombinationen mit P0, die hier als Referenzreihe152 fungiert: P0 – P6, I 3, 4, 9, 10. Der Bezug zwischen diesen Reihen (P-I +3, +4, +9 usw.) kann als Verwandtschaft ersten Grades bezeichnet werden. (Es überwiegen, wie man sieht, P-I-Kombinationen.) Reihen mit sieben gemeinsamen Tönen (Verwandte zweiten Grades) sind vorwiegend P-P-Kombinationen, also Transpositionen von P-Reihen: P0 – P 1, 5, 7, 11, I 2. Als eine dritte Ebene des Verwandtschaftsgrades lassen sich die Reihenkombinationen mit der höchstmöglichen Anzahl exklusiver, voneinander differierender Töne (solche mit sechs gemeinsamen Tönen) ausmachen. Diese zeigen die größte mögliche Entfernung zwischen den Tonvorräten der Reihen an: P0 – I 11, 0, 1, P 2, 3, 4, I 5, 6, 7, 8, P 8, 9, 10. Sie bilden die überwiegende Anzahl von Reihen und weisen noch immer eine relativ große Schnittmenge gemeinsamer Töne auf. Man kann der Reihendisposition der Don Quixote-Reihe attestieren, eine relativ große Vielfalt unterschiedlicher Tonbestände zu generieren, etwa gegenüber einer elftönigen Reihe. Daraus ergeben sich flexible Möglichkeiten, Tonhöhenkonzentrationen in der Komposition herzustellen und zu kontrollieren. Eine zusätzliche Möglichkeit hierzu bieten überdies die drei Tondoppelungen der Reihe. Generell spricht eine geringe Anzahl der Reihentöne (hier also neun) für eine große Vielfalt möglicher Schnittmengen und Verwandtschaften zwischen den generierten Reihen. Je mehr Töne einer Reihe zur Zwölftönigkeit fehlen, desto mehr Möglichkeiten bestehen, die fehlenden Töne durch die Kombination mit anderen Reihen, die einen oder mehrere der fehlenden Töne der Referenz-Reihe enthalten, einzubringen: Eine siebentönige Reihe ließe sich mit Reihen kombinieren, die einen bis fünf der fehlenden Töne einbringen können. Eine Kombination zweier siebentöniger Reihen mit fünf jeweils exklusiven (differierenden) Tönen hätte noch immer zwangsläufig zwei gemeinsame Töne. Bei einer achttönigen Reihe würde die Mindestanzahl gemeinsamer Töne (bzw. die weiteste Entfernung 151 Auf Gerhards Nutzung tongehaltlich verwandter Reihenhexachorde weist Rachel E. Mitchell im Zusammenhang mit der segmentierten Reihe im Kopfsatz von Gerhards Streichquartett Nr. 1 (1950). Mitchell zeigt, dass die Disposition der Reihe für jeden Hexachord zwei eng verwandte, d. h. vermittels fünf gemeinsamer Töne verbundene, Hexachorde aufweist: „While each prime-form hexachord has only one inversionally related companion that shares all six pcs [pitch classes, G. L.], there are two hexachordal transformations for every closely related sixnote segment. […] This concept of closely related hexachords is significant because, though Gerhard never writes of it in his articles or lectures, it plays an important role in his music. Building on this relationship, Gerhard moves seamlessly among row transformations by keeping at least five common tones between every connecting hexachord. As a result, he can progress through a multitude of rows while always maintaining an impression of aural similarity. Gerhard’s progression through closely related hexachords resembles, in a way, how tonal composers move through closely related keys in a tonal composition.“ Rachel E. Mitchell, Form and Function in Roberto Gerhard’s ‚String Quartet no. 1‘, in: Proceedings of the 1st International Roberto Gerhard Conference, Huddersfield 2010, S. 90, siehe auch dies., Roberto Gerhard’s Serial Procedures and Formal Design in String Quartets Nos.1 and 2, in: RGC, S. 186. 152 Die Tranpositionsstufe 0 wird hier, entgegen dem regulären Usus, nicht als c, sondern als fis gesetzt. Diese Transpositionsstufe entspricht derjenigen der Don Quixote-Reihe bei ihrem ersten Auftreten fünf Takte nach Ziffer 1 als Reihenhälfte von I0 (Hex.1) in den Posaunen.
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zwischen Reihen) durch vier gemeinsame Töne angezeigt werden, bei einer neuntönigen Reihe ergibt sich, wie am Beispiel der Don Quixote-Reihe bereits ausgeführt wurde, noch immer eine Mindest-Schnittmenge von sechs gemeinsamen Tönen (2/3 des Tonbestands wären also mindestens übereinstimmend). Bei einer größeren Anzahl von Reihentönen, etwa einer elftönigen Reihe, würde sich die Mindest-Schnittmenge zwischen den Reihen weiter vergrößern, die Vielfalt abweichender Tonhöhengehalte dagegen verringern. Es lässt sich also zusammenfassen, dass die Ebenen möglicher Verwandtschaftsgrade zunehmen, je geringerzahliger der Tonvorrat einer Reihe ist. Im Fall der Don Quixote-Reihe bestehen drei mögliche Verwandtschaftsgrade zwischen den Reihen des serial field. Bedeutsam ist, dass solche Verwandtschaftsebenen überhaupt bestehen. Dadurch kommt dem serial field dieser Reihe eine räumliche Dimension zu, die demjenigen einer zwölftönigen, unsegmentierten Reihe fehlt. Um zu veranschaulichen, wie eine Reihe oder eine Skala (ein ordered oder unordered set) zu einem räumlichen Tonbezugsraum gehörend gedacht werden kann, und wie die Struktur jenes Bezugsraums zugleich abhängig von der Struktur des gesetzten set ist, soll ein durch die drei möglichen oktatonischen Skalen konstituierter Bezugsraum der zwölf Töne als möglichst einfaches Beispiel dienen:153 Von der Oktatonik lassen sich bekanntlich nicht mehr als drei Transpositionen bilden (im Folgenden A, B und C). Jene drei Tongehalte sind nicht komplementär, sondern überlappen einander: Jede der drei Oktatoniken enthält zur Hälfte den gleichen Tongehalt wie die anderen beiden, so z. B. A zur Hälfte den gleichen Tongehalt wie B und wie C (jeweils 4 gemeinsame Töne). Jede oktatonische Skala enthält acht der zwölf Töne, und es wäre notwendig zwei Skalen zusammenzulegen (16 Töne), um den Gesamtvorrat der zwölf Töne zu komplettieren (wobei vier der Töne eine Schnittmenge ergäben (2 × 4) und vier Töne jeder der zwei Skalen exklusiv angehörten). Die Verbundenheit der drei Skalen-Tongehalte lässt sich folgendermaßen visualisieren:154 Die oktatonische Skala als Beispiel eines durch eine Tongruppe strukturierten Tonbezugsraums:
153 Von dieser begrenzt transponierbaren Skala macht Gerhard in seinem Don Quixote-Ballett im „Sancho Panza“ betitelten Abschnitt (Szene 1, Ziffer 9–14) Gebrauch. 154 Die ‚Verwandtschaften‘, und damit die Verräumlichung präkompositioneller Tonbezüge, ergeben sich aufgrund der ‚Überlappung‘ von Tongehalten. Eine Einteilung der zwölf Töne ohne Überlappungen im Tongehalt fände sich hingegen bei interval cycles, welche die Oktave in gleiche Teile teilen: chromatische Skala, zwei mögliche Ganztonskalen, drei Kleinterzzirkel, vier Großterzzirkel, sechs Tritonus-Intervalle. Hier sind die Tongehalte der entstehenden Skalen und Zirkel komplementär; der zwölftönige Vorrat wird eingeteilt, aber nicht räumlich strukturiert.
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Hiermit liegt ein sehr einfaches Beispiel für Verwandtschaftsbezüge tongehaltlicher Art vor. Man vergleiche: Im Fall der Don Quixote-Reihe sind die Möglichkeiten bedeutend vielfältiger, um durch die Kombination der Reihen die volle Zwölftönigkeit einzubringen. Ein Komplettieren des vollen zwölftönigen Vorrats auf engem Raum könnte man sowohl hinauszögern (indem man Reihen so verwendete, dass ein stets gleicher Vorrat von Tönen dabei ausgespart bliebe), als auch schnellstmöglich erreichen (mit der Kombination zweier Reihen, die nur sechs Töne gemeinsam haben und damit den am weitesten entfernten Verwandtschaftsgrad aufweisen). Am Beispiel der Oktatonik lässt sich ein entscheidender Punkt veranschaulichen: Jede einzelne der drei Skalen A, B oder C enthält implizit den gesamten Tonbezugsraum der zwölf Töne ‚in sich‘, obwohl keine der Skalen (quasi explizit) alle zwölf Töne beinhaltet. Eine Skala birgt den oben visualisierten Tonbezugsraum, indem sie ihm angehört und darin ihre eigene, unverwechselbare Position innehat. (Oder anders ausgedrückt: Jede Reihe steht in einem spezifischen Teilhabeverhältnis zum Ganzen der zwölf Töne.) Mit der Verwandtschaft zu den beiden anderen Skalen des Tonbezugsraums behauptet sie ihre Position. Der ZwölftonFundus, der den drei Skalen zugrunde liegt, wird mit der Wahl einer an ihm teilhabenden Skala zum kombinatorischen Möglichkeitsraum (einem relationalen Raum).155 Weiter lässt sich herausstellen, dass sich ohne die Setzung einer Skala mit begrenztem Tonvorrat überhaupt kein Bezugsraum konstituieren würde, der zwölf Töne umfasst. Ohne die Wahl einer Skala würde also von einer räumlichen Dimension der Zwölftönigkeit als relationalem Bezugsraum nichts ‚sichtbar‘ werden. Erst die Bindung an die Skala ermöglicht es, den Tonbezugsraum als einen (hier: einfach) strukturierten Bezugsraum zu sehen. Derart lässt sich behaupten, dass der einzelnen oktatonischen Skala hier die Rolle einer Perspektive oder Hypothese bei der Erschließung von Tonbeziehungen zukommt – und: Ohne eine Perspektive sieht man nichts. Nichts anderes geschieht prinzipiell bei der Don Quixote-Reihe: Jede der Reihen weist aufgrund ihres eigenen Tongehalts eine unverwechselbare Position im serial field auf. So wie die räumliche Struktur des Bezugsraums, der sich durch die drei Oktatoniken konstituiert, erst vorstellbar wird, indem die drei oktatonischen Skalen zueinander in Bezug gesetzt werden, lässt sich auch für die Don QuixoteReihe feststellen, dass die Position einer Reihe in dem imaginären, durch die Tonvorräte der Skalen strukturierten Bezugsraum, erst mit dem gegenseitigen In-Beziehung-Setzen der Reihen vorstellbar wird.
155 Man könnte auf die Idee kommen, in jeder der drei oktatonischen Skalen eine ‚Nachahmung‘ des kombinatorischen Bezugsraums zu sehen, dem sie zugehört. Doch ist die Sichtweise eines Abbildverhältnisses unstimmig, weil eben kein genaues Abbild vorliegt, sondern ein Zugehörigkeitsverhältnis von Teil zu Ganzem. Hier lässt sich ein Nexus spannen zu dem in Schönbergs Harmonielehre geäußerten Gedanken von der Naturähnlichkeit der Durskala. Auch sie erscheint als naturähnlich, Schönberg macht aber klar, dass jene Ähnlichkeit eine nur unzureichende und die Dur-Moll-Tonalität demnach nicht dazu geeignet ist, die natürliche Ordnung des ‚Tons‘ vollständig zu repräsentieren bzw. abzubilden (siehe Kapitel I.3.1).
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Glaubt man an eine präexistente Bezugsordnung der zwölf Töne, dann wird an diesem Sachverhalt klar, dass diese nur dann zugänglich wird, wenn man die tonmateriale Setzung eines nicht-zwölftönigen Tonvorrats vornimmt und damit einen Bezugsraum der zwölf Töne aufwirft – so wie sich etwas vom Ganzen der Realität (einer relationalen, ‚höheren‘ Realität) nur ausgehend von einer Perspektivsetzung erschließen lässt bzw. von einer hypothetisch gesetzten, ‚materialen‘ Vorstellung der Realität. Die Rolle der Perspektive oder Hypothese spielt hier eine der 48 Don Quixote-Reihen aus dem serial field. In dieser Funktion verstanden, wird womöglich deutlich, warum die Setzung einer Tonreihe für Gerhards Auffassung von Tonalität (im Sinne präexistierender Tonbeziehungen) fundamental ist. In seiner Ganzheit bleibt der Tonbezugsraum unzugänglich und wird erst dann zugänglich, wenn er ausgehend von einem seiner Bestandteile erschlossen wird. Auch hier gilt also, dass man ohne Perspektive nicht sieht, und weiter: dass man auch nur das sieht, was einem die gewählte Perspektive bietet (in diesem Zusammenhang gewinnt die präkompositionelle Wahl des Tonmaterials bzw. einer Reihe große Bedeutung156). In Analogie dazu lässt sich bemerken, dass sich Don Quixote mit seinem Rittertum-Ideal eine Idee seiner selbst, und damit eine Perspektive setzt, um vermittels seines Ideals die ‚höhere Realität‘ zu erschließen (siehe Kapitel II.2.1). Bei Unamuno ist Don Quixote zwar ein vergeistigter Mensch (espiritual), aber noch immer ein Mensch (und kein Gott). Auch er hat keinen direkten Zugang zu jener ‚höheren Realität‘, und seine einzige Chance, mit ihr in Kontakt zu kommen, besteht in der Setzung einer Idee, jenes Ideals, das ihm eine (menschliche) Vorstellung von jener ‚höheren Realität‘ ermöglicht und – noch wichtiger – ein In-Existenz-Bringen jener ‚höheren Realität‘, während er im Verlauf seiner Abenteuer am Ideal festhält. Mit dem In-Existenz-Bringen jenes Ideals wird Don Quixote als Idee seiner selbst unsterblich und entgeht damit dem Risiko Nichts zu werden, dem Risiko aller Existierenden. Dass man ohne Perspektive nichts sieht, lässt sich so als eine quixotische Devise und zugleich als Legitimierung einer methodischen Ideen- bzw. Reihenoder Skalensetzung erkennen. Für die Perspektive bedarf es eines begrenzten Tonvorrats wie im Fall der Don Quixote-Reihe. Im Fall einer zwölftönigen Reihe wird eine Strukturierung des serial field lediglich durch die Intervallstruktur der Reihe, nicht aber durch differenzierbare Tongehalte erzielt. Da in Bezug auf den Tongehalt einer zwölftönigen Reihe kein Teilhabe-Verhältnis der einzelnen Reihe zum Ganzen vorliegt, fehlt ge156 Dementsprechend kommt der Disposition der von Gerhard gewählten Reihen sowie Gerhards Praxis der Erstellung von Akkord- und Reihenklassifizierungen besondere Aufmerksamkeit in der Gerhard-Forschung zu. Siehe hierzu bspw. Michael Russ, Composing with Sets: Roberto Gerhard’s Concerto for Piano and String Orchestra, in: RGC, S. 205–226, insbesondere S. 212–217 sowie Darren Sproston, Roberto Gerhard: The Serial Symphonist, S. 230–233. Sowohl Russ als auch Sproston beschreiben und diskutieren Reihendispositionen in Gerhards Kompositionen der Exilzeit mit Referenz auf Gerhards eigene, in TTM (1952) vorgenommene Klassifizierung von Reihen (oder genauer: Reihenarchetypen) in drei mögliche Kategorien (vgl. Roberto Gerhard, TTM, S. 123 f.), v. a. aber unter Gebrauch der weitgehend etablierten Kategorien, die Allen Forte in seinem Buch The Structure of Atonal Music (New Haven 1973) zur Klassifizierung von pitch class sets einführte.
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wissermaßen die Möglichkeit einer tongehaltlichen Perspektivsetzung: Wo alle zwölf Tonhöhen thematisch sind, indem sie permanent statuiert werden, und keine nicht-thematischen Tonhöhen bestehen, da ist das Thematisierte nicht mehr als solches zu erkennen. Denn in Frage steht die Einheit des musikalischen Raums nicht als Substanz-Einheit, sondern als eine relationale Einheit. Die eingangs dieses Kapitels erwähnte, von Gerhard so bezeichnete ‚paradoxe Situation‘157 mag ihn dazu geführt haben, seine Don Quixote-Reihe als geringerzahlige Reihe zu disponieren.
„The younger generation seem to have turned their backs on the ‚metaphysics‘ of music and to take a hard look at the ‚physics‘. Very good as far as it goes. In the end it‘s of course the ‚metaphysics‘ that matters. But who can blame the young. There is something daunting in ‚ends‘ while there is something exciting, emigrating in ‚means and ways‘.“158
I.3. DER METHODISCHE, ‚QUIXOTISCHE‘ CHARAKTER DER ZWÖLFTONTECHNIK Im Folgenden soll von einem, im Vergleich mit der Don Quixote-Komposition, späteren reihentechnischen Entwicklungsstadium Gerhards als Zielpunkt ausgegangen werden, um sichtbar zu machen, in welcher Weise Gerhards Reflexion der Zwölftonmethode mit erkenntnistheoretischen Problemstellungen verknüpft war. Eines der wesentlichen Themen betraf die erkenntnistheoretische Legitimität der strengen und methodischen Nutzung einer Reihe (oder auch Skala) und zugleich deren allerdings zweischneidige Rolle als unverzichtbares Hilfsmittel zur Erschließung von Tonbezügen. Die Reihe wird von Gerhard dabei als Analogon zu Ideen oder Theorien im erkenntnistheoretischen Bereich behandelt, die – zwischen System und Methode – Hilfsmittel darstellen, um Realität (oder einen Bewusstseinsstrom) intellektuell zu ordnen. In DTT (1956) wird der methodische Charakter von Zwölftontechnik explizit formuliert. Die Folie hierfür bildet zu diesem Zeitpunkt Gerhards Praxis der seriellen Ordnung nicht nur eines pitch-set, sondern auch eines damit (vermittels einer Proportionenreihe) korrelierten time-set.159 Mit Blick auf die Ausweitung serieller Organisation auf einen weiteren Parameter stellt Gerhard die Frage, warum zu den durch Schönbergs Methode auferlegten Beschränkungen noch eine weitere hinzugefügt werden solle:
157 Siehe Anm. 145. 158 Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 10.139. 159 Ein solches hatte Gerhard erstmals im dritten Satz seines Streichquartetts Nr .1 (1950–55) verwendet. Siehe hierzu Rachel E. Mitchell, Form and Function in Roberto Gerhard’s ‚String Quartet no .1‘, S. 93–97.
I.3. Der methodische, ‚quixotische‘ Charakter der Zwölftontechnik
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„Aren’t you just stopping the last loopholes through which a certain measure of spontaneity and freedom of movement could still creep into the system? I might even be asked the following personal question: since you have argued elsewhere that ‚a certain store of randomness is vitally necessary and that we cannot risk letting it run too low‘, are you not being inconsistent when you propose a development of the Schoenbergian method amounting almost to a complete rationalization of the process of composition?“160
Die darauf folgenden generellen Ausführungen zum Wesen von Methode stellen eine Positionierung Gerhards bezüglich der Grundlagen des kreativen Schaffensprozesses dar. Gerhard räumt dabei mit der Auffassung einer mit Regellosigkeit einhergehenden Kreativität auf und gibt sich als Apologet methodischen Vorgehens zu erkennen: Je strenger die Kontrolle des methodischen Vorgehens auf der Seite des bewussten Denkens sei, desto mehr Freiheit werde auf der Seite der unmittelbaren Erfahrung verfügbar. So sei anzuerkennen, dass ein methodischer Zwang („a system of constraints“161) eine positive, und nicht, wie häufig angenommen werde, eine hemmende Funktion für das Schaffen habe:162 „It is a mistake to suppose that methods, prosodies, precepts of composition and all self-imposed rules, however stringent, are conditions of an inhibited creative activity. On the contrary, they are conditions of completeness; they are the means of asserting against the dark of the mind the other lucid side, where intelligibility begins, and without which it is questionable whether even what we call perception could take place at all.“163
Geregeltes, methodisches Vorgehen in der Komposition wird von Gerhard in Analogie zu methodischem Denken im Allgemeinen behandelt. Die bewusst gesetzten (ein-gesetzten) Werkzeuge methodischen (musikalischen) Denkens stellen sich dabei wie eine Verlängerung der (eventuell nicht bewusst gesetzten) Kategorien, 160 Roberto Gerhard, DTT, S. 132. 161 Ebd., S. 133. 162 Siehe ebd. Im Sinne einer hemmenden Beschränkung des künstlerischen Individuums hatte Theodor W. Adorno in seiner Philosophie der neuen Musik die Zwölftontechnik verstanden und kritisiert (diese Schrift besaß Gerhard in seiner privaten Bibliothek). In ihr resultiere, so Adorno, „[e]in System der Naturbeherrschung in Musik […]“ (Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik , Frankfurt a. M. 2003, S. 65). Nach Adorno wird dabei das Subjekt in der „bewusste[n] Verfügung übers Naturmaterial […]“ zum Beherrschten und Unterworfenen seiner eigenen Rationalität: „Es ist aber das unterdrückende Moment der Naturbeherrschung, das umschlagend gegen die subjektive Autonomie und Freiheit selber sich wendet, in deren Namen die Naturbeherrschung vollzogen ward.“ (Ebd., S. 66 f.) Die „Freiheit der Komponisten“ werde, „[i]ndem sie sich in der Verfügung übers Material verwirklicht, […] zu einer Bestimmung des Materials, die sich dem Subjekt als entfremdete gegenübersetzt […]. Hat die Phantasie des Komponisten das Material dem konstruktiven Willen ganz gefügig gemacht, so lähmt das konstruktive Material die Phantasie. Vom expressionistischen Subjekt bleibt die neusachliche Unterwürfigkeit unter die Technik.“ (Ebd., S. 68.) Adornos Denken unterscheidet sich in Grundlegendem von dem Gerhards. Verkürzt gesagt, basiert es auf einem Natur-Geist-Dualismus; Tonmaterial und Musik erscheinen hier als vom Subjekt getrennte, objektivierte und zu bezwingende Natur. Dagegen weist Gerhards Gedanke eines Bewusstseinsstroms („this welter of immediate experience“, Roberto Gerhard, DTT, S. 133) darauf, dass nicht etwas außerhalb des Subjekts bewältigt oder geordnet wird, sondern der Bewusstseinsstrom im Subjekt selbst (gewissermaßen Realität in Form unbewusster, bewusst zu machender Erfahrung). 163 Roberto Gerhard, DTT, S. 133.
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Ideen oder Wahrnehmungsschemata dar, die bei jeglichem Prozess des Erkennens und Wahrnehmens wirksam werden, und die Gerhard als wahrscheinlich unverzichtbare Bedingungen jeglichen Erkennens und sogar Wahrnehmens (von „perception“) betrachtet. (Als eingesetzte ‚Verlängerungen‘ können sie den Erkenntnisbzw. Ordnungsprozess methodisch machen.) Für Gerhards Denken ist es zentral, dass jene zur Methode gemachten Ordnungen gleichsam einen Widerstand für den ‚Wildwuchs‘ eines ansonsten sich selbst überlassenen, inkohärenten Bewusstseinsstroms bieten (Gerhard rekurriert explizit auf den „stream of cerebration“ bei William James164). Die Spontaneität des unaufhörlichen Bewusstseinsstroms ist für Gerhard „of the essence of mind“165, d. h. sie stellt gegenüber dem bewussten und methodischen Denken den grundlegenderen Part dar. Das bewusste Denken repräsentiere demgegenüber die Bemühung, die natürliche Inkohärenz des unmittelbaren Bewusstseinsstroms zu bewältigen166 – und dies anhand der Rigorosität methodischen Denkens. Zentral ist dabei der von Gerhard explizit auf Schönbergs Zwölftonmethode bezogene Begriff des „constraint“ („Constraint is the whole purpose, the very raison d’être of the method“167), der nahelegt, die Zwölftonmethode als den zentralen Anlass jener erkenntnistheoretischen Reflexionen zu erkennen. „I am paraphrasing [Paul] Valéry[sic] who, speaking of method in general, adds: ‚These constraints may be purely arbitrary; it suffices that they effectively hinder the natural course of spontaneous thought fortuitously propagating itself from incident to incident.‘ In short, the true purpose of method, as Valéry tersely puts it, is ‚l‘invention contrariée et bien temperée[.] ‚L‘invention contrariée’ is evidently what Schoenberg’s restrictive rules are aimed at.“168
Die von Gerhard betonte positive Funktion eines „system of constraints“169 stellt für ihn aber nur die eine Seite des Problems dar (jenes Problems, das vereinfacht ausgedrückt darauf gebracht werden kann, ob ein Mehr an rationaler Ordnung tatsächlich, wie oft vermeint, einen Verlust an Spontaneität mit sich bringen muss). Die andere Seite betrifft tatsächlich das Erhalten von Spontaneität:170 „Without question, the autonomy of conscious thought has its limits, and spontaneity is of the essence of the mind. Fresh randomness is provided unceasingly. From chance to chance and amidst the welter of inessentials […] it also presents us with the happy coincidences, the strokes of luck, the sudden flashes which, as Schoenberg once put it, are more than one could possibly have thought of. Implicit in the very effort of intellectually grasping and ordering
164 „Anyone who has the smallest experience of introspection must surely be familiar with the fact that thought, left to itself, the ‚stream of cerebration‘, as William James calls it, is in truth a fantastically erratic thing. We do not start it by an act of volition. We awake to the realization that the process is in full swing within. Conscious thought, by contrast, is the effort to stem and oppose the natural incoherence of this spontaneous generation. We have discovered that we can only achieve it by a well-organized system of obstacles, par un système de gênes bien placées, as Paul Valéry has put it.“ Roberto Gerhard, DTT, S. 132. 165 Ebd., S. 133. 166 Vgl. ebd., S. 132. 167 Ebd., S. 133. 168 Ebd. 169 Siehe ebd. 170 Vgl. ebd.
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this welter of immediate experience is, no doubt, the danger of sacrificing the irrational, the wayward to the system.“171
Gerhard spricht vom Bewusstseinsstrom als dem Eigentlichen und primär Gegebenen, dem eine intellektuelle Ordnung immer nur unzureichend gerecht werden kann. Und er spricht von dadurch permanent zur Verfügung stehender „[f]resh randomness“, einer quasi-chaotischen Zufälligkeit, in der sich hin und wieder vereinzelte Regelhaftigkeiten finden.172 Mit Blick auf einen vorausgesetzten Bewusstseinsstrom könnte man die Frage stellen, ob Gerhard „randomness“ als eine essentielle oder akzidentelle Eigenschaft desselben denkt. Dass es ihm nicht um einen Eigenwert des irrationalen Aspekts geht, sondern im Gegenteil um ein ‚tieferes Verstehen‘173 des Bewusstseinsstroms,174 wird klar, wenn er aus dem Gedächtnis aus Alfred N. Whiteheads Adventures of Ideas den Gedanken zitiert, jedes Verstehen sei mit dem Ausblenden eines Hintergrunds intellektueller Inkohärenz verbunden. Tiefer zu verstehen bedeute jedoch, intellektuelle Systeme mit der Bedeutung des von ihnen Ausgeblendeten zu konfrontieren.175 Gerhard zielt damit auf solche Momente des Verstehens, in denen das bewusste, rationale Denken es vermag, mit jener Essenz von Spontaneität übereinzukommen. Insofern lassen sich die von Gerhard erwähnten ‚glücklichen Koinzidenzen‘ („[…] the happy coincidences, the strokes of luck, the sudden flashes which, as Schoenberg once put it, are more than one could possibly have thought of“176) als Momente der Übereinkunft des Bewusstseinsstroms mit dem rationalen Denken verstehen.177 Der Einwand nach Whitehead besagt, dass sich der Blick, vermittels sich geschlossen gebender systemischer Denkentwürfe, auf eine dem System immanente Realitätssicht fokussiert und systemimmanente Bereiche der Realität ausgeblendet werden. Insofern dies geschieht, könnte man sagen, dass Realität ins System gezwungen, möglicherweise sogar diesem angeglichen, und ein Realitätszugang damit korrumpiert würde. Von 171 Ebd. 172 In seiner Inkohärenz und „randomness“ lässt sich der Bewusstseinsstrom im Sinne reiner Erfahrung verstehen, die intellektuell nie ganz begreifbar ist. Die Tatsache, dass Gerhard auf einen solchen Bewusstseinsstrom rekurriert und nicht etwa auf eine Ordnung der realen Objekte, die unabhängig vom Bewusstsein als gegeben betrachtet wird, verweist auf seine im weitesten Sinne subjektivistische Grundauffassung von Realität: Der Kontakt mit der Realität ist demnach nicht unvermittelt gegeben. Gegeben ist vielmehr ein Bewusstseinsstrom, und hinsichtlich der Konstitution von Realität ist es eine Frage geistiger Aktivität, mit welchen Aspekten desselben man in Kontakt zu kommen vermag. 173 „The problem of safeguarding the vital flow of spontaneity is indeed a problem of the ‚deeper understanding‘.“ Roberto Gerhard, DTT, S. 133. 174 Offen bleibt, ob jener Bewusstseinsstrom nur scheinbar irrational, d. h. seinem Wesen nach gesetzmäßig ist, oder aber wesenhaft irrational ist, dabei aber durchaus einzelne Regelhaftigkeiten aufweist. 175 Vgl. Roberto Gerhard, DTT, S. 133. 176 Ebd. 177 Gerhards Hinweis auf Schönberg lässt sich hier auf einen relativ langen, von Gerhard markierten Textabschnitt in Schönbergs Harmonielehre beziehen, in welchem ein Moment der Koinzidenz von einerseits „Notwendigkeit“, verstanden als einer Werkidee inhärenter „Entwicklungstrieb“, und andererseits der Erfahrung des „Vorteils“ aus der Sicht des Komponierenden beschrieben wird, siehe Arnold Schönberg, HL, S. 59 und Kapitel I.3.5.
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einer Methode (oder einer Versuchsanordnung) würde man dagegen erwarten, dass sie einen Kontakt mit der Realität ermöglicht, ohne diesen zu korrumpieren. Eine Methode soll der Vermittlung, nicht aber der Manipulation des Realitätskontakts dienen. Die Einsicht, dass ein Bewusstseinsstrom dem Erkennen gegenüber primär ist und dieses prinzipiell übersteigt, der Hinweis auf das Risiko einer Verselbständigung von Rationalität und das Anliegen System und Methode voneinander zu unterscheiden, lassen sich mit der Rationalismuskritik der Lebensphilosophie und mit deren zentraler Prämisse in Verbindung bringen, die besagt, dass menschliche Reflexion dem Leben gegenüber stets aposteriorisch bleibt, dem Leben gleichsam hinterherhinkt. Bei Unamuno beruht darauf eine Opposition von Leben und Erkennen: „[…] vivir es una cosa y conocer otra […], acaso hay entre ellas una tal oposición que podamos decir que todo lo vital es antirracional, no ya sólo irracional, y todo lo racional, antivital. Y ésta es la base del sentimiento trágico de la vida.“178
Für das Prinzip des Lebens steht bei Unamuno die Kraft des Glaubens und Schaffens, während das Prinzip des Erkennens und der Reflexion umso lebens- und realitätsärmer ist, je reiner es hervortritt: am realitätsärmsten ist die Reflexion, die sich selber reflektiert, sie tendiert zum Nicht-Sein.179 I.3.1 Voraussetzungen in Schönbergs Harmonielehre: Tonalität als Idee und „Notbehelf“ Nach Gerhards Auffassung in DTT erscheint die Zwölftonmethode als Hilfsmittel zur Bewältigung eines Bewusstseinsstroms – Gerhard bringt also die musikalische mit der erkenntnistheoretischen Ebene zusammen. Es lässt sich annehmen, dass der hier angeführte Zusammenhang des Bewusstseinsstroms mit der Zwölftonmethode nicht lediglich metaphorischer Art ist (auf den musikalischen Bereich übertragen wurde und auf einen spezifisch ‚musikalischen Bewusstseinsstrom‘ zielt); vielmehr scheint Gerhard mit dem Bewusstseinsstrom auf einen Grund jeglicher, auch musikalischer Erfahrung zu zielen. Für ein derartiges Ineinanderfallen von Bewusstseinsstrom bzw. Realität und ‚musikalischer Realität‘ lässt sich ein Vorbild finden, das für Gerhard zumindest zeitweilig von außerordentlichem Einfluss gewesen sein 178 „[…] Leben ist eine Sache, Erkennen eine andere […], wahrscheinlich besteht zwischen ihnen eine solche Opposition, dass man sagen kann, dass alles Vitale antirational ist, nicht nur irrational, und alles Rationale antivital. Und hierauf beruht das tragische Lebensgefühl.“ Miguel de Unamuno, STV, S. 25 [Übersetzung, G. L.]. 179 Unamuno betont, dass das Bewusstsein (oder Denken) stets nur das Bewusstsein von etwas Konkretem sein kann. Ein ‚reines Bewusstsein‘, das sich selber komtemplierte, und Selbsterkenntnis, die auf Introspektion beruhte (und nicht auf eigenen Handlungen und dem Erkennen), wären demnach inhaltsleer: „[…] un estado de conciencia que consistiera pura y simplemente en que la conciencia se contemplase a sí misma, no sería tal estado de conciencia por falta de contenido. […] Pensar que se piensa sin pensar algo concreto, no es nada.“ Ders., El individualismo español (1902–03), OC, Bd. 3 (Ensayo I), hrsg. von Manuel García Blanco, Madrid 21965, S. 617 f.
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muss. So lässt sich sehen, dass das von Schönberg in seiner Harmonielehre angeführte „Wesen des Tons“180 (das Vorbild der Obertonreihe) über den musikalischen Bereich hinaus mit ‚Natur‘ verknüpft ist. In die Harmonielehre hatte sich Gerhard bereits vertieft, bevor er als Schüler zu Schönberg kam. In seiner ersten Kontaktnahme mit Schönberg – dem elfseitigen Brief vom 21. Oktober 1923, in welchem Gerhard den „innigste[n] Wunsch“181 äußert, von Schönberg als Schüler angenommen zu werden und beschreibt, wie er sich nach dem Tod seines Lehrers, des bedeutenden spanischen Musikforschers Felipe Pedrell, in die Isolation eines Landhauses in seinem katalanischen Heimatort Valls zurückzog, um dort in einem rigiden Selbststudium die systematische kompositionstechnische und musiktheoretische Schulung nachzuholen, die Gerhard bei Pedrell vermisst hatte – spricht er von seinem „leidenschaftlichen Dialog“182 mit Schönbergs Harmonielehre. Weiter findet sich in Gerhards Nachlass in Cambridge ein mit Markierungen versehenes Exemplar der Harmonielehre (31922),183 das bezeugt, dass sich Gerhard auch in den späteren Jahren des Exils mit dieser Schrift auseinandersetzte. In Schönbergs Harmonielehre konnte Gerhard Fragen um Tonalität hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen ausgebreitet finden. Mit Gesetzmäßigkeiten der Obertonreihe sieht Schönberg zum einen eine überzeitliche Ordnung des ‚Tons‘ als gegeben an, zum anderen geht er von der fortschreitenden Anpassung des menschlichen Aufnahmeorgans (man könnte sagen: des Begreifens) an diese Natur des Tons aus, von einem Trieb, „[…] da das naturgegebene, unbelebte Material sich nicht verändert, das Aufnahmeorgan so anzupassen, daß die Erkenntnis und Durchdringung seines Wesens [des Ton-Wesens, G. L.] womöglich restlos gelinge.“184 Aus diesem Trieb erwächst für Schönberg alle musikgeschichtliche Entwicklung,185 die sich dergestalt v. a. als eine Entwicklung menschlichen Begreifens (und weniger als ein Materialfortschritt) darstellt. Die Naturerschließung durch das Subjekt wird dabei als Nachahmung der Natur beschrieben: So fasst Schönberg die Durskala und den Durdreiklang, die materialen Ausgangspunkte des Dur-Moll-tonalen Systems, als „Nachahmung des Tons“,186 d. h. der Obertonreihe auf, betont allerdings den unvollkommenen Charakter jenes Nachahmungsverhältnisses. Der Durdreiklang 180 Siehe Anm. 79. 181 Roberto Gerhard, Brief an Arnold Schönberg vom 21.10.1923, CUL 3.45.38, S. 2. 182 Zum Schluss seines Briefes äußert Gerhard: „In meinem Einsiedlertum habe ich im leidenschaftlichen Dialog mit Ihrem Buche Ihre Persönlichkeit so lebendig und so exaltierend empfunden dass es meine timide, zurückhaltende Natur nur unter diesem vertrauens einflössenden[sic] Eindruck wagen konnte Ihnen so viel von meiner Wenigkeit und meinen Nöten mitzuteilen.“ Ebd., S. 11. 183 Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien: Universal-Edition 1922 (3. vermehrte und verbesserte Auflage), MRS.31.47 [=Signatur Gerhard-Archiv, CUL]. 184 Arnold Schönberg, HL, S. 379. 185 „So sieht man die Tondichter aller Zeiten immer neue Geheimnisse erkennen, immer getreuere Abbilder [des Tons] hervorbringen. Jede neu errungene Stufe ermöglicht weiteres Eindringen. Das primitive Ohr hört den Ton als Unteilbares, aber die Physik erkennt ihn als Zusammengesetztes. Inzwischen haben aber die Musiker schon gefunden, daß er f o r ts etzu n g s f äh ig ist, d. h. daß Bew egung in ihm liegt. Daß er Probleme birgt, die ringen; daß er lebt und sich fortpflanzen will.“ Ebd. 186 „Ist die Skala die Nachahmung des Tons in der Horizontalen, im Nacheinander, so sind die
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ahme „den Wohlklang des Tons in der Weise nach, daß er das Fernerliegende vernachlässigend, das Näherliegende“ verstärke187 (gemeint sind die näher- oder fernerliegenden Teiltöne in der Obertonreihe): „Er [der Durdreiklang, G. L.] ist dem Ton zweifellos ähnlich, aber nicht ähnlicher als beispielsweise assyrische Menschendarstellungen ihren Modellen.“188
Die Durskala ist für Schönberg einerseits nicht mehr als eine der möglichen Materialordnungen, die sich in das ‚Ton‘-Vorbild hineinsehen lassen. Andererseits stellt sie nichts weniger als eine Annäherung an die Natur des Tons dar (von der es, ebenso wie dies auf die Realität zutrifft, nur eine geben kann) – und insofern einen legitimen und notwendigen Schritt geschichtlicher Entwicklung. Das ‚Ton‘-Vorbild lässt sich bei Schönberg als die regulative Größe musikgeschichtlichen Erkenntnisfortschritts bzw. als Grundlage von Geschichtsentwicklung im Sinne der ‚Emanzipation der Dissonanz‘189 auffassen. Schönberg begreife, so Dahlhaus, „die Musikgeschichte als einen Prozeß, der das hervortreibt und manifest macht, was in der Natur der Musik als Möglichkeit, die zur Verwirklichung drängt, angelegt und vorgezeichnet ist […].“190
Dementsprechend stellt das ‚Ton‘-Vorbild für ihn eine präexistierende Entität dar, in deren Aktualisierung und Realisierung sich das Telos musikgeschichtlicher Entwicklung manifestiert. Der ‚Ton‘ bzw. ‚Natur‘ ist für Schönberg daher nicht ein voraussetzungslos gegebenes Objekt, sondern stellt für das Subjekt gleichsam ein ungelöstes Problem dar. Von den bei der Ableitung des temperierten Tonsystems und der darauf basierenden Dur-Moll-Tonalität nicht berücksichtigten Bereichen der Obertonreihe (den vom Grundton entfernteren Obertönen) geht „die Revolutionierung“191 aus, eine Revolutionierung, die, wie gesagt, primär im Sinne einer Revolutionierung menschlicher Vorstellungsfähigkeit und menschlichen Be-
187 188 189
190 191
Akkorde Nachahmung in der Vertikalen, im Miteinander. Ist die Skala Analyse, so ist der Akkord Synthese des Tons.“ Ebd., S. 25. Ebd. Ebd. Die Richtgröße einer Natur des Tons steht hinter der von Schönberg angestrebten ‚Emanzipation der Dissonanz‘, die – in inklusiver Weise – das als ‚dissonant‘ eingestufte Klangmaterial ebenso umfasst, wie das als ‚konsonant‘ betrachtete und zugleich die Forderung, das Hören und die Kategorien des Begreifens jenem Vorbild anzunähern. Zu Schönbergs Begriff der ‚Emanzipation der Dissonanz‘ siehe Arnold Schönberg, Gesinnung oder Erkenntnis? (1925), in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtech, Frankfurt a. M. 1976 (= Arnold Schönberg Gesammelte Schriften 1), S. 209–214; siehe darin insb. Schönbergs Referenz auf den nur graduellen und nicht kategorialen Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz in der Harmonielehre sowie ders., Komposition mit zwölf Tönen, in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, v. a. S. 73 f. Carl Dahlhaus, Schönbergs musikalische Poetik, in: AfMw 33 (1976) Heft 2, S. 81. „Wir haben heute leicht sagen: ‚Die Kirchentonarten waren unnatürlich, aber unsere Tonarten decken sich mit der Natur.‘ Daß sie sich mit der Natur decken, hat man wohl seinerzeit auch von den Kirchentonarten geglaubt. Übrigens: wie weit decken sich unser Dur und Moll mit der Natur, da sie doch temperiertes System sind? Und was ist mit den Teilen, die sich nicht decken? Von denen geht eben die Revolutionierung aus.“ Arnold Schönberg, HL, S. 28.
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greifens gedacht wird. Die Erschließung jener unveränderlichen Naturordnung ist bei Schönberg nur als ein in die Zukunft gerichteter Prozess denkbar: „Und ich hatte recht, wenn ich mich instinktiv gegen das ‚Zurück zur Natur‘ wehrte und mich wunderte, daß ein Debussy die Natur hinter den Wegen der Kunst zu finden hoffte, auf den zurückgelegten Wegstücken […]: daß ein Debussy es nicht fühlte, daß, wer zur Natur will, nicht rückwärts, sondern vorwärts muß: Vor zur Natur!“192
Schönberg betrachtet die Natur des Tons parallel zur Natur im Allgemeinen; derart wird die Erschließung des ‚Tons‘ für ihn zu einem Gegenstand erkenntnistheoretischer Reflexion. Die Natur des Tons existiert für Schönberg unabhängig davon, ob und wie sie gedacht wird,193 ihr Objektstatus gleicht dabei einem kantschen ‚Ding an sich‘. Dagegen präsentiert sich die Dur-Moll-Tonalität als eine in das Naturvorbild hineingesehene Ordnung. Eine solche hineingesehene Ordnung stellt für Schönberg immer einen Kompromiss zwischen einerseits den, an der Natur gemessen, defizitären Möglichkeiten menschlichen Erkennens, und andererseits dem Trieb des Ordnung-Sehens dar. Es sei „die Unvollkommenheit unserer Sinne […], die uns zu jenen Kompromissen nötigt, durch die wir Ordnung erzielen, weil die Ordnung nicht vom Objekt, sondern vom Subjekt gefordert wird.“194 Die „Reduzierung auf jene Grenzen, die die Form, die Kunstform, einschließen“ sei, so Schönberg, „nur durch unsere Unfähigkeit, Unübersichtliches, Ungeordnetes zu begreifen, bedingt […]. Die Ordnung, die wir künstlerische Form nennen, ist nicht Selbstzweck, sondern Notbehelf. Als solcher immerhin berechtigt, aber durchaus abzuweisen, wo er sich als mehr gibt: als Ästhetik.“195 Eine solche hineingesehene Ordnung darf demnach nicht ihrerseits gesetzgebend, d. h. normativ gemacht werden, weil sonst eine ebensolche Verkehrung der Verhältnisse stattfände, wie sie nach Schönbergs Denken in Bezug auf die gleichschwebende Temperierung eine Gefahr darstellt: Das temperierte System wird als natürliche Gegebenheit missverstanden.
192 Ebd., S. 473, Fußnote. Auf der Annahme eines fortschreitend zu erschließenden ‚Ton‘-Vorbilds basiert eine von Schönberg in Aussicht gestellte, materiell inklusive Auffassung von Tonalität als „Wesen des Tons“ (vgl. Anm. 79, Kapitel I.1), zu dem sich ein Gegensatz (Atonalität) nicht bilden lässt. Schönbergs Äußerung, ein Musikstück werde „stets mindestens insoweit tonal sein müssen, als von Ton zu Ton eine Beziehung bestehen muß, vermöge welcher die Töne, nebenoder übereinander gesetzt, eine als solche auffaßbare Folge ergeben“ (ebd.), ist als tendenziell bedeutungsarme Auffassung von Tonalität kritisiert worden. Monika Lichtenfeld stellt mit Blick auf jenen Passus fest, dass er ungeeignet für eine genauere Begriffsbestimmung von ‚Atonalität‘ sei (siehe Monika Lichtenfeld, Untersuchungen zur Theorie der Zwölftontechnik bei Josef Matthias Hauer, Regensburg 1964, S. 27). Der Begriff ‚Atonalität‘ scheine sich eher „aus der Antithese zu jenem eingeschränkten Begriff der Tonalität gebildet zu haben, der das funktionale Dur-Moll-System meint.“ (Ebd.) Nicht berücksichtigt wird dabei aber die soeben genannte Auffassung vom ‚Ton‘ als erst zukünftig fassbarer Entität, mit welcher keine Bestimmung oder Definition von Tonalität vorliegt. 193 „[…] die Natur ist auch schön, wo wir sie nicht verstehen, und wo sie uns ungeordent[sic] scheint.“ Arnold Schönberg, HL, S. 30. 194 Ebd. 195 Ebd.
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Aus seiner Feststellung, dass eine Abbildkongruenz zwischen Subjekt und Objekt – hier: Natur und hineingesehener Ordnung – nicht selbstverständlich gegeben ist, folgt die Einsicht, dass wir keine Gewissheit darüber haben können, ob die hineingesehene Ordnung tatsächlich irgend etwas vom zugrunde liegenden Gegenstand spiegelt, oder sogar im schlimmsten Fall nur eine Selbstbespiegelung der Gewohnheiten des eigenen Erkenntnisapparats darstellt. Das Kunstwerk vermöge, so Schönberg, „das zu spiegeln, was man hineinsieht. Die Bedingungen, die unser Begriffsvermögen stellt, ein Spiegelbild unserer Beschaffenheit, mag darin zu erblicken sein. Aber dieses Spiegelbild zeigt nicht den Orientierungsplan des Kunstwerks, sondern den Plan unserer Orientierungsmethode.“196 Schönberg zieht aufgrund jener Problematik nicht die Konsequenz, sich ganz aufs Subjektivistische oder Phänomenologische zu verlegen (am weitesten wagt er sich in der Harmonielehre in diesen Bereich vor, wenn er der Kunst den Anspruch der Nachahmung einer „inneren Natur“ der Eindrücke zuspricht197). Er geht zwar von einer potenziell isomorphen Grundstruktur von Subjekt und Objekt aus,198 konstatiert aber dennoch, dass eine Angleichung von Erkennen und Natur ausbleiben kann – die hineingesehene Ordnung kann sich als Irrtum erweisen, es besteht insofern eine „Täuschungsmöglichkeit“: „Kann man nun zwar als sicher annehmen, daß der Beschauer im Kunstwerk etwas ganz anderes nicht sehen wird, als darin ist, da ja zwischen Objekt und Subjekt Wechselwirkung besteht, so ist die Täuschungsmöglichkeit doch zu groß, als daß man jeden Zweifel fallen lassen dürfte, ob die vermeintliche Ordnung nicht die des Subjekts ist. Immerhin aber kann man daraus den Zustand des Beschauers erkennen.“199
Schönbergs Einsicht in diese „Täuschungsmöglichkeit“ und seine Kritik an derjenigen Musiktheorie, die Tonalität für ein Naturgesetz hält und damit die hineingesehene Ordnung als objektiv wahre betrachtet, basiert im Grunde auf nichts anderem, als auf der Kritik an einer ‚Korrespondenztheorie der Wahrheit‘, die, im Kontext der Lebensphilosophie, dem Intellektualismus und Rationalismus vorgeworfen wurde. Hauptsächlich kritisiert wurde dabei die Vorstellung von einer wahren Idee als genauem Abbild von Realität.200 Wahrheit kann einer solchen, vermeintlich die 196 Ebd., S. 30 f. 197 Vgl. ebd., S. 13 f. Siehe auch Kapitel I.4. 198 Die spekulative Annahme einer Grundentsprechung zwischen Außen und Innen äußert Schönberg auch in einem unter der Überschrift Kosmische Gesetze verfassten Text vom 9. Mai 1923: „Hauer sucht Gesetze; wohl; aber er sucht sie dort, wo er sie nicht finden wird. Ich sage: Wir sind selbstverständlich so, wie die uns umgebende Natur, wie der Kosmos. Also ist auch unsere Musik so. Aber dann muß auch unsere Musik so sein, wie wir sind […]. Dann kann ich aber aus unserer Natur allein ableiten, wie unsere Musik ist (kühnere als ich würden sagen: wie der Kosmos ist!) […].“ (Ders., Kosmische Gesetze, 9.05.1923, T 34.09 [Archivnummer, ASC Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 2/ Quellen, S. 799.) 199 Arnold Schönberg, HL, S. 31. 200 Wie Elke Brendel feststellt, vertreten Anhänger der Korrespondenztheorie, welche Wahrheit als „Übereinstimmung zwischen Meinungen und Tatsachen der Welt“ auffassen, zugleich meistens „eine realistische Konzeption bezüglich Tatsachen: Tatsachen sind bewusstseinsunabhängig existierende Objekte der Außenwelt.“ (Vgl. Elke Brendel, [Artikel] Korrespondenz/
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Realität abbildenden Idee als deren Eigenschaft zugeschrieben werden. Damit ergibt sich die Voraussetzung für das, was Unamuno ‚Ideenherrschaft‘ (ideocracia201) oder Dogmatismus nennt (Kapitel II.1.2.1). Eine solche ‚Korrespondenztheorie der Wahrheit‘ als abbildhafter Übereinstimmung von Idee und Realität (oder: Wissen und Tatsachen202) wie sie William James an Vertretern intellektualistischer und rationalistischer Philosophie kritisiert,203 würde eine unveränderliche, statische Realität und ein feststehendes Verhältnis zwischen Idee und Realität zugrunde legen und implizieren, dass das Erkenntnisziel mit dem Finden der korrespondierenden Idee erreicht und jede weitere Suche unnötig ist:204 „[…] the great assumption of the intellectualists is that truth means essentially an inert static relation. When you’ve got your true idea of anything, there’s an end of the matter. You’re in possession; you know; you have fulfilled your thinking destiny.“205
201 202
203 204
205
Korrespondenztheorie der Wahrheit, in: Enzyklopädie Philosophie, hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, Bd. 2, Hamburg 2010, S. 1304.) Mit der von Schönberg angeführten ‚Täuschungsmöglichkeit‘ wird allerdings eben die Möglichkeit des Zugangs zur Objektwelt, und damit auch der Existenz bewusstseinsunabhängiger Objekte, unsicher: Da wir nicht wissen können, welcherart die Relation zwischen unserem Erkenntnisapparat und der Objektwelt ist (und ob tatsächlich eine potenzielle Isomorphie zwischen Subjekt und Objekt besteht), kommt jeder Vorstellung, jedem vermeintlichen Wissen, das auf der Korrespondenz mit Objekten beruht, ein unsicherer, hypothetischer Charakter zu. Es wäre daher nicht geeignet, um den Ausgangspunkt einer Wahrheitstheorie zu bilden. Auch für die pragmatische Wahrheitstheorie William James’ ist ein verloren gegangenes Vertrauen in die Korrespondenz zwischen Subjekt und Objekt kennzeichnend. Für James steht das aktive Übereinbringen einer Idee mit der Realität als Ergebnis am Ende eines Verifikationsprozesses, kann aber nicht in Form einer vorausgesetzten Korrespondenzannahme von Idee und Realität an dessen Anfang gestellt werden. So kann James sagen, dass die pragmatische Methode ‚vorwärts‘ schaue, und auf Finalitäten, Früchte, Konsequenzen und (empirische) Fakten gerichtet sei, während der Blick abgewendet werde von ersten Dingen, Prinzipien, ‚Kategorien‘ und vermeintlichen Notwendigkeiten. Vgl. William James, Pragmatism, S. 29. Zur ‚Ideenherrschaft‘ siehe v. a. Miguel de Unamuno, La ideocracia, S. 428–440. Die Historikerin Ute Daniel bemerkt, dass sich mit der Aufklärung eine Vorstellung von wissenschaftlicher Wahrheit durchgesetzt habe, „deren wichtigstes Kriterium neben dem der Identifikation von wahr mit ‚begründet‘ oder ‚verifizierbar‘ […], das der Übereinstimmung mit den Tatsachen ist. Diese sog. Korrespondenztheorie der Wahrheit bildet den Prozeß des Erkennens dem Sehvorgang nach – und das, was ‚erblickt‘ wird, sind eben Tatsachen […].“ Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001, S. 384. Vgl. William James, Pragmatism, S. 34 f. und S. 87 f. „The import of the difference between pragmatism and rationalism is now in sight throughout its whole extent. The essential contrast is that for rationalism reality is ready-made and complete from all eternity, while for pragmatism it is still in the making, and awaits part of its complexion from the future. On the one side the universe is absolutely secure, on the other it is still pursuing its adventures.“ Ebd., S. 113. Ebd., S. 88. Vergleiche die Analogie in Schönbergs Polemik gegen die Musiktheorie, die sich nicht mit dem Versuch begnüge, Gesetze zu finden, sondern beanspruche „d ie ew ig en Gesetze“ gefunden zu haben (Arnold Schönberg, HL, S. 3) und die Suche nach Kunstgesetzen damit zu einem Stillstand bringt.
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Das von James formulierte Problem einer Stagnation im Erkenntnisprozess, wenn eine Idee für objektiv wahr gehalten wird, findet sich in der Harmonielehre übertragen auf die Natur des Tons wieder: Bei Schönberg stellen sich etwa die gleichschwebende Temperierung und das darauf aufbauende System der Dur-Moll-Tonalität als in die Natur hineingesehene und damit unhintergehbar aposteriorische Ordnungen dar, die – apriorisch gemacht – ein Hilfsmittel darstellen, allerdings ein zweischneidiges Hilfsmittel. Einerseits gilt Schönberg die Temperierung als „ein Vorteil, aber kaum ein Vorzug,“206 der die Entwicklung der mitteleuropäischen Kunstmusik ermöglicht hat.207 Andererseits stellt sie als ein Ersatz für das Vorbild des ‚Tons‘ ein Problem dar: Die Temperierung ist für Schönberg ein Ersatz, um einem Mangel abzuhelfen. „Es [das temperierte System, G. L.] war eine geniale Vereinfachung, aber es war ein Notbehelf. Keiner, der Flügel hätte, flöge lieber mit einer Maschine. Die Maschine ist auch ein genialer Notbehelf; aber wenn wir durch den bloßen Wunsch fliegen könnten, würden wir auf die Maschine gerne verzichten.“208
Schönberg betont den Ersatzcharakter jenes „Notbehelfs“, den er auch als einen „Kompromiß zwischen den natürlichen Intervallen und unserer Unfähigkeit sie zu verwenden“209 bezeichnet und als „einen auf eine unbestimmte Frist geschlossenen Waffenstillstand.“210 Er ist überzeugt, „[d]aß wir uns mit den wirklichen Tönen noch oft und oft werden auseinandersetzen müssen, und so lange […] keine Ruhe haben werden, ehe wir nicht die Probleme gelöst haben, die in ihnen liegen.“211 Weiter gibt er an: „Es mag ja sein, daß es uns verschlossen ist, dieses Ziel wirklich zu erreichen.“ Sicherer als dies sei aber, „daß wir früher keine Ruhe haben werden. Daß der suchende Geist nicht aufhören wird, diesen Problemen nachzugehen, ehe er sich mit ihnen auf eine Weise auseinandergesetzt hat, die wirklich so nahe gekommen ist, als man kommen kann.“212 206 Mit Blick auf die Tonsysteme anderer Völker bemerkt Schönberg: „Vielleicht sogar sind ihre Töne oft natürlicher (das heißt: genauer, richtiger, besser) als unsere; denn das temperierte System, das nur ein Notbehelf zur Bewältigung der Materialschwierigkeiten ist, hat ja nur in wenigem Ähnlichkeit mit der Natur. Was vielleicht ein Vorteil, aber kaum ein Vorzug ist.“ Arnold Schönberg, HL, S. 17 f. 207 Die Temperierung ermöglicht bekanntlich neben der Verwendung der Quinte und Quart auch die der Terz und Sexte als Konsonanz, wobei die Oktave das einzige reine Intervall der Skala darstellt. Auf dieser Basis wird die Verwendung aller zwölf Tonarten des Quintenzirkels möglich. 208 Arnold Schönberg, HL, S. 380. 209 „Die Obertonreihe […] enthält noch viele Probleme, die eine Auseinandersetzung nötig machen werden. Und wenn wir diesen Problemen augenblicklich noch entrinnen, so verdanken wir das fast ausschließlich einem Kompromiß zwischen den natürlichen Intervallen und unserer Unfähigkeit sie zu verwenden. Jenem Kompromiß, das sich temperiertes System nennt, das einen auf eine unbestimmte Frist geschlossenen Waffenstillstand darstellt. Diese Reduktion der natürlichen Verhältnisse auf handliche wird aber die Entwicklung auf die Dauer nicht aufhalten können; und das Ohr wird sich mit den Problemen befassen müssen, weil es will.“ Ebd., S. 22. 210 Ebd. 211 Ebd., S. 380. 212 Ebd.
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Problematisch ist für Schönberg der Moment des Ersetzens. Er führt eine Verkehrung der Verhältnisse herbei: Wo Natur durch ein Abbild ersetzt und diesem gehuldigt wird, findet praktisch eine Vergötzung statt. Nach Schönberg gerät mit der Temperierung die musikgeschichtliche Entwicklung in Abweichung zum Telos der Natur. Nach Schönberg sei man noch „auf dem rechten Weg“ gewesen, kurz bevor der Gebrauch der diatonischen Skala in das tonale System geführt habe.213 Auch das tonale System hat für Schönberg Ersatzcharakter und tendiert dazu, vergötzt zu werden; er kritisiert, nun erzeuge „nicht mehr das natürliche Vorbild das Neue, sondern die Gesetze zeugen in Inzucht und Blutschande jene Formen, denen die Blässe der Ideen, ihrer Väter und Mütter, als Merkmal der Vergänglichkeit anhaftet.“214 Auch ihm ist, nach Schönberg, ein zweischneidiger Hilfsmittel-Charakter eigen. Einerseits würden, so Schönberg, im tonalen System „alle jene Akkorde möglich, die unser heutiges System ausmachen.“215 Andererseits schreibt er den durch das System generierten Akkordbildungen und musikalischen Formen mangelnde Lebensfähigkeit zu. Es ist jener Moment des Ersetzens und des Verwechselns von Abbild und Natur, an dem die „historische Entstehung“ musikalischer Phänomene und deren überzeitliche Natur in Differenz zueinander treten: „Die historische Entstehung ist also unbedingt von einem Zeitpunkt an nur wenig geeignet, die wirkliche Bedeutung der Erscheinungen zu erklären. Und zwar von dem Moment an, wo sie das Vorbild der Natur zum Teil vernachlässigt, indem sie an die Stelle der wirklichen Töne die künstlichen, die temperierten setzt. Von dem Moment an, wo sie die Natur aus der Kunst hinausweist, indem sie die Obertöne als unmusikalisch bezeichnet, indem sie den Chorsänger, der eine große Terz richtig intoniert, als musikalisch falsch singend bezeichnet.“216
Jener problematische Moment des Ersetzens führt damit auch zur Stagnation bei der Annäherung an den ‚Ton‘. Das Vorhandensein des ‚Notbehelfs‘ kann dazu verführen, sich auf diesem ‚auszuruhen‘, im ‚Notbehelf‘ objektiviert und verfestigt sich dann gewissermaßen das Gesuchte. In Bezug auf den ‚Notbehelf‘ der gleichschwebenden Temperierung beschreibt Schönberg: „Bis knapp vorher war man auf dem rechten Weg, als man dem Gebot des Materials folgend die Obertöne nachahmte. Aber nun temperierte man das System, und das System temperierte den heißen Drang zum Suchen. Man hatte einen Waffenstillstand geschlossen. Aber man rastete nicht, um zu rüsten, sondern um zu rosten.“217
213 Die Theoretiker hätten „die Skala erkannt [gemeint ist offenbar die diatonische Skala, G. L.]; verstanden zwar nicht, deren Grundton herauszufinden, taten aber, was Menschen tun müssen, wenn sie finden wollen: dachten nach, kombinierten. Taten das, was auf alle Irrwege, aber vielleicht auch zu mancher Wahrheit geführt hat, das was Menschen immer tun müssen und sollen, wo die Intuition ihnen nicht weiter helfen will: sie bedienten sich der Krücke zum Gehen, der Brille zum Sehen, nahmen die M athematik u n d d ie K o mb in atio n zu Hilfe. So entstand ein wundervolles System; an unseren Geisteskräften gemessen, ist es wundervoll, aber mit der Natur verglichen, die mit höherer Mathematik arbeitet, ist es kindlich.“ Ebd., S. 379 f. 214 Ebd., S. 380. 215 Ebd., S. 380 f. 216 Ebd., S. 380 217 Ebd. Schönbergs Einwand lässt sich in Bezug setzen zur ‚konservativen‘ Natur von Wissen bei Unamuno. Vgl. Kapitel II.1.2.
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Der ‚Notbehelf‘ behilft aber eben andererseits auch. Die von Schönberg thematisierte zweischneidige Rolle menschlichen Wissens und der Produkte von Zivilisation und Kultur zwischen Hilfsmittel und vergötzter Idee oder Theorie verweist auf eine zivilisationskritische Seite der Harmonielehre. Eine deutliche Parallele zu lebensphilosophischem Denken ergibt sich, wenn die Bedeutung einer Idee in Kategorien eines Lebenszyklus beschrieben wird. In Bezug auf die Idee (nämlich das Natur-Abbild) der Dur-Moll-Tonalität zeigt die Theorie- und Systembildung jener Idee für Schönberg bereits eine ‚Erstarrung‘ und einen beginnenden ‚Verfall‘ derselben an, beispielsweise wenn er äußert, der Schüler „lerne die Gesetze und Wirkungen der Tonalität so, als ob sie noch heute herrschend wären, aber er wisse von den Bewegungen, die zu ihrer Aufhebung führen. Er wisse, daß die Bedingungen zur Auflösung des Systems mitenthalten sind in den Bedingungen, durch die es begründet ist. Er wisse, daß in allem, was lebt, enthalten ist, was es verändert, entwickelt und auflöst. Leben und Tod sind im Keim gleicher Weise enthalten. Was dazwischen liegt, ist die Zeit. Also nichts Wesentliches, sondern bloß ein Maß, das sich aber mit Notwendigkeit erfüllt. Er lerne an diesem Beispiel erkennen, was ewig ist: der Wechsel, und was zeitlich ist: das Bestehen.“218
Die für die Idee von Tonalität gefundene Bildlichkeit eines Lebendigen, das in sich bereits die Bedingungen seines eigenen Ablebens enthält (und das insofern zweischneidig ist), lässt sich als geradezu typisch für die Lebensphilosophie erachten.219 Diese Vorstellung verweist vor allem aber darauf, dass die Wahrheit einer Idee nicht inhärent ist – eine Idee wird ‚lebendig‘, und damit ‚wahr‘, insofern sie als Hilfsmittel einen Kontakt mit Natur/ Realität ermöglicht und in Werken und Taten in Realität gebracht wird, sie wird ‚materiell‘ oder ‚unwahr‘, wenn sich die Idee als System verselbständigt und objektiviert. I. 3.2 ‚Leben‘, und Tonalität als „Denkmethode“ und Handwerk bei Schönberg Bekanntlich postulierte Schönberg in seiner Harmonielehre eine als Handwerkslehre verstandene Lehre von der Harmonie und grenzte diese gegenüber einer regelsetzenden Musiktheorie ab: 218 Arnold Schönberg, HL, S. 29. 219 Diese Vorstellung stellte Heinrich Rickert in überspitzender Weise als ein Klischee dar, damit zugleich aber auch als typischen Bestandteil der Lebensphilosophie als Modephilosophie: „Besonders wichtig aber ist, daß das Leben selbst das Tote produziert und so zum übergreifenden Band für Tod und Leben wird. Die Rinde des Lebens erstarrt oder bildet eine Kruste, die lediglich als seine tote Oberfläche gelten darf, und durch die hindurch der Lebensphilosoph daher zum lebendigen Kern vorzudringen hat. […] Das Tier, das sich nicht häuten kann, geht zugrunde. In den abgestorbenen Lebensresten darf man nur lebenshemmende Fremdkörper sehen. Man muß sie beiseite lassen und über sie hinwegschreitend dafür sorgen, daß das Leben stets lebendig in wachsender Bewegung bleibt. Dann lebt man auch als Kulturmensch in Harmonie mit der lebendigen All-Natur.“ Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920, S. 6 f., über https://archive.org/details/diephilosophiede00rickuoft, letzter Zugang am 7.01.2015.
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„[…] am meisten lernt der Schüler durch das Vorbild, das ihm die Meister in ihren Meisterwerken zeigen. Und könnte man beim Komponieren ebenso zuschauen lassen wie beim Malen, könnte es Komponierateliers geben wie es Malateliers gab, dann wäre es klar, wie überflüssig der Musiktheoretiker ist […]. Das fühlt er und sucht Ersatz zu schaffen, indem er an die Stelle des lebendigen Vorbilds die Theorie, das System setzt.“220
Hinter Schönbergs Kritik am Musiktheoretiker lässt sich erneut die Problematik der aposteriorischen Theorie und die abzuwendende Gefahr eines an die Stelle der Natur gesetzten Abbilds erkennen. Wie bereits herausgestellt, ist Theorie für Schönberg legitim, bis zu dem Punkt, an dem sie gesetzgebend, d. h. normativ wirksam gemacht wird.221 An diesem Punkt beginnt die bereits genannte, unheilvolle Verkehrung der Verhältnisse: Das ‚Ton‘-Vorbild wird menschlichem Begreifen angeglichen, wird ‚vermenschlicht‘. (Diese Gefahr der Vermenschlichung von Realität bildet den zentralen Punkt von Unamunos Kritik am Intellektualismus. Siehe Kapitel II.1.2.) Dagegen kann die von Schönberg postulierte Handwerkslehre gegenüber der Musiktheorie gewissermaßen für einen empirischen Zugang zum Tonmaterial einstehen – das genannte Verkehrungsproblem wird auf diesem Weg abgewendet. Mit der Handwerkslehre beansprucht Schönberg nicht absolute und überzeitliche Wahrheiten zu verkünden, sondern verlegt sich darauf, die ‚Orientierungsmethoden‘ von Subjekten, nämlich die „Denkmethoden“222 der vorbildhaften Alten, zu ergründen. Jene Denkmethoden verkörpern gewissermaßen eine ‚lebendige‘ – nämlich in Praktiken, Werken und Methoden resultierende – Tradition des Nachdenkens über Tonalität. Damit rückt der Problemkomplex des ‚Tons‘ vom eigentlich transzendenten Objekt (quasi ‚Ding an sich‘) auf die Seite menschlicher Vorstellungen und Praktiken. Nahegelegt wird dabei, dass die dem ‚Ton‘ zugeschriebene Unveränderlichkeit nicht auf einer statischen Idee vom ‚Ton‘ beruhen kann, sondern vielmehr in der Kontinuität einer generationenübergreifenden Suche nach der adäquaten Vorstellung vom ‚Ton‘ aufrecht erhalten werden muss. Die Erträge jenes Suchens sind, wie Schönberg nahelegt, wertvoll, ganz gleich, ob sie sich ausgehend von einem späteren und fortgeschrittenen Stand des Wissens als Irrtümer erweisen, oder erfolgreich daran angeknüpft werden konnte. „Und noch eins erzielt die Lehre, wenn sie so vorgeht: Sie führt den Schüler durch alle jene Irrtümer, die das Streben nach Erkenntnis mit sich gebracht hat, an Irrtümern vorbei, vielleicht auch an Wahrheiten. Jedenfalls aber lehrt sie ihn kennen: die Art, wie gesucht wurde, die Denkmethoden, die Arten der Irrtümer, die Art, wie kleine Wahrheiten von lokal begrenzter Wahrscheinlichkeit durch Ausspannung auf ein System absolut unwahr wurden. Mit einem
220 Arnold Schönberg, HL, S. 2. 221 „Sie [die Kunsttheorie/Musiktheorie, G. L.] will nicht sein: der Versuch Gesetze zu finden; sie behauptet: die ew igen Gesetze gefunden zu haben. Sie beobachtet eine Anzahl von Erscheinungen, ordnet sie nach einigen gemeinsamen Merkmalen und leitet daraus Gesetze ab. Das ist ja schon deshalb richtig, weil es leider kaum anders möglich ist. Aber nun beginnt der Fehler. Denn hier wird der falsche Schluß gezogen, daß diese Gesetze, weil sie für die bisher beobachteten Erscheinungen scheinbar zutreffen, nunmehr auch für alle zukünftigen Erscheinungen gelten müßten. Und das Verhängnisvollste: man glaubt einen M aß s tab zur Ermittlung des Kunstwerts auch künftiger Kunstwerke gefunden zu haben.“ Ebd., S. 3. 222 Vgl. Anm. 223.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität Wort all das, was unsere Denkart ausmacht. Dadurch ist sie in der Lage, ihn selbst die Irrtümer lieben zu lernen, wenn die nur Denkarbeit, Umsatz, geistigen Stoffwechsel geleistet haben.“223
Die Rede vom „geistigen Stoffwechsel“ braucht dabei nicht im Sinne eines DenkAktionismus vorgestellt zu werden, vielmehr lässt sich dahinter die Vorstellung erkennen, nach der eine Idee sich erst in ihrem ‚Gedachtwerden‘ verifiziert und nicht schon inhärent wahr sein kann. Im Zusammenhang mit jenem Suchprozess ist in der Harmonielehre explizit von ‚Leben‘ die Rede. Schönberg betrachtet das Kunstwerk als Widerspiegelung von ‚Leben‘, als welches es einen Ausgleich widerstreitender Kräfte erreicht, ein stets neu zu erreichendes Erlangen von „Harmonie“, verstanden als „Ausgeglichenheit – nicht Bewegungslosigkeit untätiger Faktoren, sondern Gleichgewicht aufs Höchste angespannter Kräfte.“224 „Ins Leben, in dem es solche Kräfte, solche Kämpfe gibt, sollte die Lehre einführen. Das Leben in der Kunst darzustellen mit seiner Beweglichkeit, seinen Veränderungsmöglichkeiten und Notwendigkeiten, als das einzige ewige Gesetz die Entwicklung, den Wechsel anzuerkennen, muß fruchtbarer wirken, als ein Ende der Entwicklung anzunehmen, weil so das System sich abrundet.“225
Das Finden der einen und einzigen wahren, nämlich adäquaten (abbildhaften) Idee von Tonalität ist demnach nicht vorgesehen; vielmehr würde im ‚abgerundeten System‘ die Gefahr der Stagnation lauern. Die für die Lebens- und Existenzphilosophie kennzeichnende Hinwendung zum Existierenden und sich im Zeitlichen Ereignenden, und demgegenüber die Abwendung von einer als metaphysisch verstandenen abstrakten Idee eines SeinsPrinzips, wird von Schönberg – in Übertragung auf eine Natur des Tons – mitvollzogen. Parallel geführt mit ‚Leben‘, das seinem Wesen nach dynamisch und in permanenter Veränderung ist, erweist sich auch die Natur des Tons als wesenhaft dynamische Entität, die in Systemen nur unzureichend erfasst und verfestigt wird. Dies zeigt sich in Äußerungen, in denen artikuliert wird, dass der Ton ein „zusammengesetzter Klang“226 sei, der „fortsetzungsfähig“ ist und „daß Bewegung in ihm liegt.“ 227 Mit Blick hierauf lässt sich behaupten, dass sich Schönbergs vermeintlich akustische Begründungsebene von Tonalität in der Natur des Tons von einem Physikalismus deutlich abgrenzen lässt; denn die dynamische Wesensart des ‚Tons‘ verweist weniger auf die Obertonreihe als physikalisch-akustisches Objekt, als vielmehr auf ein Spannungs- und Bezugsgebilde, das eines Bezüge knüpfenden
223 224 225 226
Arnold Schönberg, HL, S. 31. Ebd., S. 32. Ebd. „Zur Erläuterung der Beziehungen zwischen den Tönen ist vor allem daran zu erinnern, daß jeder Ton ein zusammengesetzter Klang ist, bestehend aus einem am stärksten klingenden Grundton und einer Reihe von Obertönen. Man kann nun sagen, und kann diesen Satz ziemlich weitgehend erproben und beweisen, daß alle musikalischen Geschehnisse sich auf die Obertonreihe zurückführen lassen, so daß alles sich darstellt als Ausnützung einfacherer und komplizierterer Verhältnisse dieser Reihe.“ Arnold Schönberg, Probleme der Harmonie (1927), in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtech, Frankfurt a. M. 1976, S. 220 f. 227 Siehe Anm. 185.
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Bewusstseins bedarf228 (verstanden als eine solche Bezugsordnung kann der ‚Ton‘ den ‚musikalischen Gedanken‘ vorbereiten). Weiter tritt die Frage nach den Eigenheiten der Obertonreihe hinter der Frage zurück, wie jene Bezugsordnung des ‚Tons‘ im Kunstwerk realisiert wird. ‚Natur‘ erscheint als eine auf den Prozess ihres Gedacht-, Manifestiert- bzw. Aktualisiertwerdens angewiesene Bezugsordnung im ‚Ton‘.229 Damit rückt die Suche nach ‚Natur‘ (bzw. einer Vorstellung von ‚Natur‘) in die Nähe von ‚Leben‘. Mit der Parallelführung von ‚Leben‘ und der Natur des Tons rührt Tonalität an den Inbegriff alles Existierenden, erhält also die denkbar umfassendste Bedeutung. Insofern könnte man behaupten, dass in Schönbergs Natur des Tons unter neuen Vorzeichen die antike und mittelalterliche Vorstellung der Sphärenharmonie aufscheint, die nun von der Kategorie der Konsonanz losgelöst wird. ‚Natur‘ oder ‚Leben‘ erscheinen in der lebensphilosophisch gefärbten Ausdrucksweise der Harmonielehre als anti-rationalistische Konstrukte, die begriffliche und theoretische Ordnungen überschreiten. Gleichzeitig aber läuft Schönbergs Natur des Tons letztlich auf eine neue Art von Ordnung hinaus, nämlich auf eine jegliche Dissonanzerscheinung in sich integrierende Ordnung. Dahlhaus weist, im Zusammenhang mit der ‚Emanzipation der Dissonanz‘ auf eben diesen Widerspruch hin. Bezugnehmend auf Charles Ives, von dem er bemerkt, dass die Dissonanz für ihn „ein primäres, nicht reduzierbares Phänomen“ gewesen sei, von dem es scheine, dass Ives sie „als musikalischen Ausdruck der Energie empfand, von der er fühlte, daß sie in allem, was existiert, lebendig ist,“230 generalisiert Dahlhaus: „Wer großzügige geschichtsphilosophische Konstruktionen nicht scheut, könnte behaupten, die in Jahrtausendferne zurückreichende Idee der Harmonia mundi – stets geknüpft an die Voraussetzung, daß Musik ein System von Konsonanzen darstelle – sei in einem Zeitalter, das vom Begriff des Elan vital besessen war, in ein Gegenteil umgeschlagen, das nicht weniger metaphysisch ist als der Gedanke, den es negiert: in die schroff kontrastierende Vorstellung nämlich, gehäufte Dissonanzen seien ein musikalisches Abbild der Lebendigkeit, welche ‚die Welt im Innersten zusammenhält‘.“231
Mit Bezug auf die umfassende Wesensbestimmung von Tonalität als Natur des Tons und zugleich Schönbergs Rede von Tonalität als einem ‚Kunstmittel‘ weist Jacob auf eine „zweifach[e] und leicht widersprüchlich anmutend[e]“ Bestimmung von Tonalität bei Schönberg232 hin. Doch mit Blick darauf, dass jene umfassende Ord228 Siehe ausführlich Kapitel I.4. 229 Auch bei Unamuno geht ‚Leben‘ keinesfalls im empirischen Leben oder empirischer Realität auf; Unamuno kann sagen, dass etwas lebt, sodann es arbeitet, d. h. wirksam ist und Realität hervorbringt („[…] que existe cuando obra, y existir es obrar“, siehe Anm. 134, Kapitel II.2.2.). ‚Leben‘ wird bei ihm denkbar als gegenwärtiges Wirksamsein einer geglaubten Idee, die zu Handlungen und Werken, und damit zur permanenten Erneuerung von Realität führt. 230 Carl Dahlhaus, Emanzipation der Dissonanz/Kapitel V: 1889–1914, in: Die Musik des 19. Jahrhunderts, hrsg. von dems., Laaber: Laaber 1980 (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft Bd. 6), S. 325. 231 Ebd. 232 „Zum einen beruhe die Tonalität auf ‚natürlichen‘ Grundlagen, weswegen die Entwicklung der Dur-Tonart und der chromatischen Skala mit ihrer Tendenz hin zu einer ‚Pantonalität‘ als nichts anderes gedeutet werden könne als die historisch-teleologische Entfaltung der Bedingungen
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nung des ‚Tons‘ auf sein ‚Gedachtwerden‘ angewiesen ist, ließe sich jene zweifache Bestimmung im Sinne eines Blickwechsels beschreiben und die Widersprüchlichkeit möglicherweise mildern; nämlich einerseits im Sinne einer Blickwendung hin zum ‚Ton‘, und damit zu jener Ebene eines Quasi-‚Ding an sich‘, und andererseits eines Blickwechsels auf die Ergebnisse eines kontinuierlichen Nachdenkens über Tonalität, die Denkmethoden der vorbildhaften Alten, und damit hin zu Denkgesetzen im Subjekt (und nicht zu Gesetzen im Objekt des ‚Tons‘). Schönbergs Auffassung der Tonalität als ‚Kunstmittel‘ ließe sich hierbei in den Kontext einer Erkundung von Denkgesetzen/Denkmethoden bringen, welche Schönberg in seiner Reflexion um den ‚musikalischen Gedanken‘ vertieft. Dennoch ließe sich auch damit noch immer daran festhalten, dass Schönbergs ‚Kunstmittel‘-Auffassung von Tonalität mit der Blickrichtung auf eine Natur des Tons kontrastiert und in der Harmonielehre zwei unterschiedliche Perspektiven auf Tonalität koexistieren. I.3.3 ‚Rationale‘ und metaphysische Aspekte in Gerhards Tonalitätsreflexion Gerhards Denken ist grundlegend dem bei Schönberg aufgeworfenen erkenntnistheoretischen Rahmen der Harmonielehre verpflichtet. Dies wird mit Blick auf zwei Situationen der Prä-Exilzeit deutlich, in denen er sich zu theoretischen Fragen äußerte, und welche Wandlungen seines Tonalitätsdenkens anzeigen. Mit Gerhards Rückkehr nach Barcelona, bald nach der Studienzeit bei Schönberg, fand dort am 22. Dezember 1929 ein Konzert statt, das ausschließlich Gerhards Kompositionen gewidmet war („Sessió Robert Gerhard“)233 und zum Konzertskandal geriet. Aufgeführt wurden das Concertino für Streichorchester (1927/28),234 7 Haiku (1922), Bläserquintett (1928), eine Auswahl der 14 Cançons Populars Catalanes (1928) für hohe Stimme und Klavier und die zwei Sardanas von 1928/29. Die Erwartungen an den aus Berlin zurückgekehrten Gerhard waren hoch, umso enttäuschter zeigten sich Zuhörer und einige Kritiker angesichts der für sie unverständlichen Musikspra-
des Materials. Zum anderen sei Tonalität aber nichts anderes als ein ‚Kunstmittel‘ der Musik, auf dessen Einsatz gegebenenfalls auch verzichtet werden könne.“ Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 1: Darstellung, S. 375 f. 233 Das Konzert wurde im September 1929 von der Associació de música ‚da camera‘ im Palau de la Música Catalana organisiert, nicht lange nach Gerhards Rückkehr von Berlin nach Barcelona. 234 Es handelt sich um ein Streichquartett, das Gerhard im Jahr 1927 während seines Studiums bei Schönberg komponiert und als Abschlussprojekt der Meisterklasse an der Preußischen Akademie der Künste eingereicht hatte. Gerhard bearbeitete es für den Anlass der genannten Aufführung in Barcelona im Dezember 1929 für Streichorchester und betitelte es Concertino für Streichorchester. Siehe Diego Alonso Tomás, ‚Unquestionably Decisive‘: Roberto Gerhard’s Studies with Arnold Schoenberg, in: RGC, S. 35 f.
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che.235 Ausführlich setzte sich Gerhard mit der Kritik von Lluís Millet,236 einem der Gründer der Chorvereinigung Orfeó Catalá und einer für das katalanische Musikleben einflussreichen Figur, auseinander.237 In mehreren Repliken in der Zeitschrift Mirador entgegnete er den Vorwürfen Millets238 und argumentierte im Sinne einer 235 Kritiker der Tagespresse nahmen insbesondere das Bläserquintett und das Concertino in ihrer polyphonen Schreibweise als ‚atonal‘ und extrem avantgardistisch wahr. Zum Teil befremdete auch Gerhards universalisierend-modernisierende Aneignung katalanischer Volksgenres, etwa in den Sardanas. Wie Mark E. Perry bemerkt, war das katalanische Publikum bis zu jenem Konzert lediglich mit den bis dahin in Katalonien aufgeführten und veröffentlichten Kompositionen Gerhards vertraut, dies waren zwei Kompositionen in spätromantischem Idiom, der Liederzyklus L’Infantament meravellós de Schahrazada (1918) und das Klaviertrio (1918). Vgl. Mark E. Perry, Early Works and Life of Roberto Gerhard, in: RGC, S. 16. 236 Lluís Millet i Pagès (1867–1941) war, wie Gerhard, ein Schüler Felipe Pedrells gewesen. Er trug mit seiner Leitung des Orfeó Català zur Bildung einer katalanisch-nationalen Schule der Komposition bei, wobei er sich auf theoretische Grundlagen stützte, die Pedrell in seiner Schrift Por nuestra música (1891) formuliert hatte. Jene Schule beinhaltete hauptsächlich die Harmonisierung und Bearbeitung traditionell-katalanischer Melodien und Gedichtvertonungen katalanischer Dichter für Chor a capella. Die Chorvereinigung machte sich weiter um die Verbreitung des Standardrepertoires der Chormusik sowie die Verbreitung Alter Musik (etwa der Werke von Josquin des Près, Victoria, Morales, Brudieu, Palestrina und Lasso) in Katalonien verdient. Die Erfolgsgeschichte des Orfeó wurde konsolidiert, als die Chorvereinigung ihren Sitz im 1908 erbauten Palau de la Música Catalana fand. Die Zeitschrift Revista Musical Catalana (1904–36) wurde als Organ der Chorvereinigung gegründet. Siehe Millet i Loras, Lluis, [Artikel] Millet i Pagès, Lluís, in: Diccionario de la Música Española e hispanoamericana, hrsg. von Emilio Casares Rodicio, Bd. 7, Madrid 1999–2002, S. 577 f. 237 Bei den beiden Artikeln Millets, auf die Gerhard in Mirador mit den Repliken Fugue, Fugue (Ending) und Coda reagierte, handelte es sich um: Lluís Millet, Sessiò Robert Gerhard, in: Revista Musical Catalana 313 (Januar 1930), S. 8–10 und ders., A En Robert Gerhard, in: Revista Musical Catalana 315 (März 1930) S. 110–113. Diese Artikel Millets und Gerhards korrespondierende Repliken wurden ins Spanische und ins Englische übersetzt und abgedruckt in: Josep M. Mestres Quadreny, Vida i obra de Robert Gerhard, S. 213–222 bzw. S. 281–290 (= Anhang II). Die beiden Artikel Millets erscheinen hier unter den Titeln Robert Gerhard Session und To Robert Gerhard. 238 Millet hatte sein prinzipielles Unverständnis für eine atonale Musik geäußert: „The system used by Gerhard’s teacher, the Viennese composer Schönberg, is called atonal. That is, a liberation from the notes of the tonal hierarchy. […] And without hierarchy, without affinity nor attraction, how can there be order and harmony?“ Lluís Millet, Robert Gerhard Session, in: Josep M. Mestres Quadreny, Vida i obra de Robert Gerhard, S. 281 (= Anhang II). Millet nahm weiter Bezug auf den Programmtext von Josep Barberà, in welchem erklärt worden war, dass der Hörer in den aufzuführenden Kompositionen Gerhards keine Tonalität oder Modalität determinierenden Zusammenklänge zu erwarten habe, da eine lineare Schreibweise und eine aus thematischen Elementen konstituierte Polyphonie vorliege. Barberà hatte geklärt, dass das harmonische Material in der Komposition aus der Stimmführung heraus entstehe, aber nichtsdestotrotz vorhanden sei. Millet kommentiert hierzu: „How can that harmonic material exist in the simultaneity of the sounds without a tonal attraction to govern it, without the feeling of the tonal centre which determines the function of the phonic simultaneity? This tonal hierarchy is necessary in melody as well as in harmony. A melodic element without a determined modal or tonal sense ends up being incoherent; it makes no sense.“ Ebd., S. 281 f. In Bezug auf Gerhards Bläserquintett äußerte Millet, hier erscheine die Anwendung des schönbergschen Systems rigoros: „[…] the atonality and dissonances provide an incoherence to the work which makes it annoying, unpleasant.“ Ebd., S. 282. Dies betreffe v. a. die ersten zwei Sätze, während der
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sachlichen und geschichtlichen Kontinuität seiner von Millet als ‚atonal‘ bezeichneten Kompositionen. Gerhards Argumente stehen dabei in bemerkenswerter Nähe zu Schönbergs theoretischen Ansichten zur Tonalität und verteidigen diese. Gerhard äußert hier, der Begriff ‚atonal‘ sei lediglich im Sinne einer Negation von Tonalität im engeren Sinn, d. h. der als hinfällig betrachteten Dur-Moll-Tonalität, zu verstehen und betont, dass der Begriff sich aber nicht gegen das eigentliche Wesen des Konzepts von Tonalität wende.239 Das Missverständnis von Millet bestehe darin, unter ‚atonal‘ eine völlige Befreiung von der Hierarchie der Klänge zu verstehen: „I can see you have been led into error by that disgusting word ‚atonal‘ […] when you suppose it means ,liberation of the whole hierarchy of sounds’.“240
Gerhard meinte, dies sei absurd, es sei denn man akzeptiere das Zeitalter der Homophonie oder des harmonischen Stils mit seiner Hierarchie der Akkordfunktionen als eine natürliche Hierarchie und die einzige gültige Ordnung und als ebenso unwiderlegbar wie die Gesetze der Physik.241 Er fügt an: „Nevertheless, you cannot ignore the historical process through which this tonal order has been constituted, which in part belongs to convention.“242
Zweierlei geht hieraus hervor: Erstens lehnt Gerhard eine quasi nihilistische Auffassung des Begriffs Atonalität im Sinne einer Ordnungslosigkeit zwischen Tönen ab. ‚Atonal‘ (bei Gerhard in Anführungszeichen gesetzt und damit gleichsam Distanz anzeigend, als handele es sich um eine sogenannte oder vermeintliche Atona-
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durch die Atonalität zustande kommende Mangel an Zusammenhang den dritten Satz, aufgrund dessen lebendiger rhythmischer Gestaltung, in geringerem Maße betreffe. Vgl. ebd. „You have well seen, Sir, that in this word [’atonality’, G. L.] the negation is addressed against the formula of an exclusive, obsolete system, and not against the essence of the concept.“ Roberto Gerhard, Coda, in: GoM, S. 49. Ders., Fugue, in: GoM, S. 45. Vgl. ebd. Ebd. Gerhards Fingerzeig auf historische Voraussetzungen bei der Entstehung der harmonischen Tonalität ließe sich mit der Position Susan McClarys bekräftigen. Sie betont, es hätten – anders als musiktheoretische Schriften des 18. Jahrhunderts es suggerierten – keine ‚innermusikalischen‘ oder physikalisch-akustischen Gründe vorgelegen, die unvermeidlicherweise dazu führten, dass sich zum Ende des 17. Jahrhunderts eine vormals reiche Pallette verfügbarer kompositorischer Verfahren („what had been a richly eclectic range of compositional options“) auf die Zusammenstellung derjenigen Verfahren verengte, die zur Entwicklung der sogenannten harmonischen Tonalität führten. (Vgl. Susan McClary, Towards a History of Harmonic Tonality, in: Towards Tonality: Aspects of Baroque Music Theory, hrsg. von Thomas Christensen, Leuven 2007, S. 93.) Vielmehr macht McClary darauf aufmerksam, dass der Gebrauch des Leittons und anderer Verfahren, die sich später als konstitutiv für die harmonische Tonalität durchsetzten, und in Kompositionen des 17. Jahrhunderts bereits vorhanden sind, durch ausdrucksbezogene und rhetorische Strategien motiviert und vollständig legitimiert waren. Für die Verbreitung und Durchsetzung derjenigen Verfahren, die zur Entwicklung der harmonischen Tonalität führten, macht McClary nicht zuletzt kulturgeschichtliche und ästhetische Umbrüche verantwortlich (siehe ebd., S. 115–117); sie nennt u. a. den gesteigerten Druck auf Komponisten zur Produktion von Opern, der zur Verbreitung kompositionstechnischer Konventionen beigetragen habe: „If Monteverdi had the luxury of creating complex allegories within his musical settings, the genre tended to follow the model of Francesco Cavalli, who figured out how to streamline his process by means of formulas […].“ Ebd., S. 115.
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lität) ist demnach lediglich als Negation von Tonalität in einem engen Sinn zu verstehen, d. h. bezogen auf die seit Ende des 17. Jahrhunderts dominierende DurMoll-Tonalität. Zweitens betrachtet Gerhard (ebenso wie Schönberg) die Dur-MollTonalität als eine historisch gewordene Ordnung, die nicht die einzige, sondern nur eine der möglichen Manifestationen einer natürlichen Hierarchie zwischen Tönen darstellt. Ein grundlegender Umbruch sei jener Ordnung in den vergangenen Jahren widerfahren: „[…] in the last 50 years there has been an evolution of this order at least as important as the introduction of the English techniques of gymel and fauxbourdon were, in the fourteenth century, providing the germ of harmony in Western music, before that solely contrapuntal. But this order, let me stress, is merely the order of the sonorous materials which have an inherent rationality that has made them apt to take on very different orders from the tonal order during history.“243
Bemerkenswert ist, dass Gerhard bereits im Gymel und Fauxbourdon den ‚Keim‘ einer Quasi-Tradition von Tonalität sieht („[…] providing the germ of harmony in Western music, before that solely contrapuntal“) und damit eine Kontinuität zwischen unterschiedlichen im weitesten Sinne homophon bestimmten Epochen herstellt – eine Tradition homophonen Denkens, die nicht etwa erst mit Monteverdis Seconda pratica begänne244 und nicht mit der sogenannten harmonischen Tonalität identisch wäre. Gerhards Bezugnahme auf eine „inherent rationality“ im Klangmaterial verweist auf die Vorstellung einer präexistenten Ordnung bzw. Hierarchie von Tonbeziehungen, die auch einer anderen als der Dur-Moll-tonalen Ordnung zugrunde liegen kann. Diese Ebene präexistenter Tonbezüge bildet auch den Hintergrund für Gerhards Überzeugung („[…] that the tonal hierarchy can operate in ‚thousands of ways‘.“245) und umfasst nach Gerhard auch die vermeintliche „Atonalität“,246 sodass diese nicht als ordnungslos und insofern a-tonal gelten kann. Indem Gerhard die als ‚atonal‘ bezeichneten Kompositionen also nicht in einen Gegensatz zu Tonalität setzt, sondern sie, ebenso wie Dur-Moll-Tonales, als mögliche Manifestationen von Tonalität in einem weiten Sinn versteht, knüpft er an Schönberg an, der behauptet hatte, dass es nicht möglich sei, einen Gegensatz zum „Wesen des Tons“247 zu bilden. Zugleich schwächt Gerhard allerdings die Relevanz jener akustischen Grundlagenebene – der „inherent rationality“ im Klangmaterial – für künstlerische Belange 243 Roberto Gerhard, Fugue, S. 46. 244 In der Regel gilt das Aufkommen monodischen Gesangs bzw. von Monteverdis Seconda pratica, und damit verbunden der Anbruch des Generalbasszeitalters, als Umbruchstelle hin zur Dur-Moll-Tonalität. Fétis setzt, wahrscheinlich zurückgehend auf Alexandre Choron, einen Umbruch von der „ancienne tonalité“ der Kirchentonarten hin zur „tonalité moderne“ mit dem fünften Madrigalbuch Claudio Monteverdis (1605) an, wohl, wie Michael Beiche bemerkt, mit Blick auf Monteverdis Madrigal Cruda Amarilli, in dem die Anwendung eines Dominantseptakkords ausgemacht wird. Vgl. Michael Beiche, [Artikel] Tonalität, in: HmT (1992), Reprint in: Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert (=HmT Sonderband 1), hrsg. von Hans H. Eggebrecht, Stuttgart 1995, S. 413 und S. 415. 245 Vgl. Roberto Gerhard, Coda, S. 48. 246 Vgl. ebd. 247 Siehe Anm. 79.
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ab und verweist die Begründung von Tonalität in akustischen Verhältnissen in einen Bereich, der für künstlerische Belange nicht relevant sei: „I find that this question of the tonal or ‚atonal‘ order of the materials, at heart, has no artistic interest; it is an essentially theoretical question, almost of acoustics and not of morphology.“248
Ebenso wie im Fall Schönbergs lässt sich darin eine Ablehnung physikalistischen Denkens sehen. Von Fragen einer präexistierenden Materialbasis wendet sich Gerhard ab, und solchen der Herstellung von Tonbeziehungen bzw. des ‚musikalischen Denkens‘ im Sinne Schönbergs zu. Die Blickrichtungs-Abkehr von der Frage nach der Naturähnlichkeit von Tonalität zeigt sich weiter, wenn Gerhard auf die Beständigkeit von Tonalität als ‚gedachtem Gedanken‘ verweist: „Tonality was a thought, maybe the central thought in all Western music, a thought that wanted ‚to keep on being thought upon‘.“249
Diese Ansicht, nach der Tonalität weniger als Gesetz im akustischen Objekt, als vielmehr im menschlichen Denken Bestand und Kontinuität hat, lässt sich in Bezug zu der von Schönberg angeführten Handwerkslehre bringen. Wie erwähnt hatte Schönberg in der Harmonielehre das Studium der ‚Denkmethoden‘ vorbildhafter Komponisten der Vergangenheit und der von ihnen verwendeten Kunstgesetze postuliert (referiert wird dabei auf die alte Tonalität als „eines der wichtigsten Kunstmittel“250). Im Anknüpfen an solche Kunstgesetze oder „Denkmethoden“,251 die re-interpretiert und auf neue materiale Bedingungen übertragen (‚transponiert‘252) werden müssen, wird handwerkliches Wissen demnach weiter tradiert, und damit eine implizit angenommene Kontinuität des Nachdenkens über Tonalität aufrechterhalten. Gerhard bemerkt in diesem Zusammenhang gegenüber Millet, dass sich ihre Divergenzen in der Diskussion um Tonalität und ‚Atonalität‘ auf einen einzigen Punkt reduzieren ließen, nämlich auf ein unterschiedliches Konzept von Tradition.253 Damit gibt Gerhard den pragmatisch-lebensphilosophischen Fokus seiner Sichtweise auf Schönbergs Handwerkslehre zu erkennen, denn es scheint darin der Gedanke einer auf ihre Verifikation angewiesenen Idee auf. Die Verifikation einer Idee, hier: der Idee von Tonalität, realisiert sich dabei in der permanenten Erneuerung und Re-Interpretation derselben als ein gedachter und in Praktiken 248 Ders., Fugue, S. 46. Siehe auch ders., Variations, in: GoM, S. 50. 249 Ders., Chorale, in: GoM, S. 44. 250 Schönberg nimmt an, in Zukunft auf die Tonalität verzichten zu können, meint aber die Tonalität sei dennoch „sogar noch heute, viel mehr aber in der Vergangenheit unserer Kunst eines der wichtigsten Kunstmittel. Eines der Mittel, die am meisten dazu beitragen, den Werken jene materialentsprechende Ordnung zu sichern, die sosehr den ungetrübten Genuß der in ihnen enthaltenen wesentlicheren Schönheiten erleichtert.“ (Arnold Schönberg, HL, S. 29.) Auch wenn eine Bindung an die Tonalität hinfällig werden sollte, und trotz der erkenntnistheoretischen Problematik, aufgrund derer solche Kunstgesetze „vielleicht nur dem Zustand des Beschauers entsprechen“ (ebd., S. 31), äußert Schönberg, der Schüler lerne damit „das Werk der Vorfahren lieben, […] auch wenn er es transponieren muß, um eine entfernte Nutzanwendung zu erzielen.“ Ebd., S. 32. 251 Siehe Anm. 223. 252 Siehe Anm. 250. 253 „For some it means, to be carried; for others, to carry.“ Roberto Gerhard, Chorale, S. 44.
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‚verkörperter‘ Gedanke, und nicht in einem für alle Zeiten fixierten Konzept, das kein reales Korrelat und keine Konsequenzen für reales Wirken hat.254 Immer ist es dabei das Korrelat einer Idee (der Tonalitäts-Idee) in der Sphäre des Realen und Existierenden, das ihre Beständigkeit, Lebendigkeit und insofern Wahrheit verbürgt. Mit Blick auf die Beständigkeit einer Tradierung von Handwerk kann Gerhard auf dessen ‚ewigen Wert‘ verweisen und legitimiert gegenüber Millet, dass Schönberg seine Schüler die Technik alter Meister lehre, und nicht sein ‚neues System‘, die Zwölftontechnik: „Precisely because he is an intelligent teacher who recognises that perfect technique, if you like, has an eternal value; today it can be considered sub specie aeternitatis. It is a tightly knit organic whole, whose principles shine radiantly. For all problems, for all the concrete compositional intentions we can find a paradigm in the classical system […]. Today, after 200 years, we know all the morphological laws; the established convention is clear to us even in the smallest ornamental details.“255
Auffallend ist, wie sehr Gerhard in jenem Artikel ‚rationale‘ Aspekte von Tonalität hervorkehrt. Dies entspricht Schönbergs Auffassung von Tonalität im Sinne eines ‚Kunstmittels‘ zur zusammenhängenden (‚rationalen‘) und intelligiblen Organisation von Tönen. Eines der möglichen Organisationselemente für die ‚rationale‘ Organisation einer Melodie, stelle, so Gerhard, der Rhythmus dar; dieser sei „[…] still the most ‚physical‘ of all those elements which can give a melodic line or musical ‚idea‘ an intelligible organization.“256 Im Sinne der hauptsächlich zur ‚intelligiblen Organisation‘ beitragenden Elemente nimmt er, allerdings ohne diese explizit zu benennen, offenbar Bezug auf Elemente musikalischer Gestaltbildung und Syntax (also etwa Motive, Themen, Phrasen): „Next to the rhythm we have the purely logical elements that directly appeal to the intelligence […]. These elements have a value per se: therefore they do not depend on any historical convention.“257
Indem er diese als „the purely logical elements“ bezeichnet, referiert Gerhard auf die Metaphorik ‚musikalischen Denkens‘258 im Sinne Schönbergs. Dabei setzt er „musical ‚idea‘“ beiläufig noch mit „melodic line“ gleich und referiert damit auf einen frühen schönbergschen Gebrauch der ‚Gedanke‘-Metaphorik. (Wir wissen, dass Schönberg seinen Ausdruck des ‚musikalischen Gedankens‘ zunächst noch eher traditionell im Sinne einer „syntaktisch-semantischen Einheit“,259 etwa eines 254 Hier lässt sich eine Übereinstimmung der gerhardschen Idee von Tonalität zu Unamunos Konzept der ‚tradición eterna‘ erkennen, der permanent erneuerten und insofern ‚ewigen‘ Idee Spaniens, siehe Kapitel III.2. 255 Roberto Gerhard, Fugue (Ending), S. 47. 256 Ebd., S. 46. 257 Ebd. 258 Auch in Bezug auf die von Schönberg reflektierten Ausdrücke des ‚musikalischen Gedanken‘ und ‚musikalischen Denkens‘ lässt sich anbringen, dass diese von Schönberg wahrscheinlich nicht im Sinne bloßer Metaphern gedacht wurden. Einfachheitshalber wird auf diese erkenntnistheoretischen Ausdrücke hier dennoch als Metaphern/Metaphorik eingegangen. 259 Siehe Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 1: Darstellung, S. 158 f.
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musikalischen Themas, gebrauchte, diesen Ausdruck in seiner intensivierten ‚Gedanke‘-Reflexion ab 1923 aber vor allem im Sinne der „Grundidee“260 eines Stückes verstand.261) Als ‚logische Begleiterscheinung‘ („necessary corrolary“262) zu solchen, dem ‚musikalischen Denken‘ zugehörenden Elementen benennt Gerhard die schönbergsche Idee von der Gleichwertigkeit der ‚Gedanken‘-Darstellung in der horizontalen wie auch der vertikalen Satzdimension: „[…] that which is valid in a melodic succession is also valid in the phonic simultaneity: they are two dimensions of a single idea. ‚Harmony, genuinely, only means perfect concordance, logical congruence between these two dimensions.‘ This is the central thought of the old tonality inherited, also as a central thought, by the new ‚atonality‘. In order to understand this, one may look for the true meaning of tonality in the great ‚classic‘ works […]. […] Schoenberg has taught us to see and admire this rational sense of the old tonality, nowadays hidden and forgotten by the majority.“263
Wird der ‚musikalische Gedanke‘ von Gerhard hier tatsächlich vorrangig im Sinne einer „syntaktisch-semantische[n] Einheit“264 verstanden, dann lässt sich jene „logical congruence between these two dimensions“ in Form einer horizontalen oder vertikalen Setzung von Themengestalten oder -bestandteilen im Satz auffassen, ergo als realisiert im Satz-Raum (siehe auch Kapitel I.2). Noch überhaupt keine Rede ist hier also von einer Einheit des Raums bzw. des ‚musikalischen Gedankens‘ im Sinne eines kombinatorischen Bezugsraums, wie sie mit Gerhards späterem Aufgreifen der Zwölftonmethode im Don Quixote-Ballett relevant wurde. Jene Übereinkunft von Satzdimensionen erscheint bei Gerhard als inhaltlicher Kern („central thought“) von ‚Harmonie‘ und betrifft dabei sowohl einen „rational sense of the old tonality“ wie auch die Re-Interpretation von Tonalität durch die Schönbergschule. Jene Durchdringung der zwei Satzdimensionen wird damit in den Kontext der Tonalitätsreflexion eingebunden, in welcher sich, wie erwähnt, die in Schönbergs Harmonielehre angeführte enge Auffassung von Tonalität als ‚Kunst260 Siehe ebd., S. 156. 261 In seiner 1946 an der University of Chicago gehaltenen Gastvorlesung mit dem Titel New Music, Obsolete Music, Style and Idea äußerte Schönberg: „In seiner weitesten Bedeutung wird der Begriff Gedanke als Synonym für Thema, Melodie, Phrase oder Motiv gebraucht. Ich selbst betrachte die Totalität eines Stückes als den Gedanken: den Gedanken, den sein Schöpfer darstellen wollte.“ (Arnold Schönberg, Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke (1946), in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, S. 51.) Jacob erklärt, trotz der in Schönbergs Denken seit 1923 zentral werdenden Auffassung des ‚musikalischen Gedankens‘ als „eine dem ganzen Werk zugrundeliegende Idee von unterschiedlich aufgefasstem Abstraktionsgrad“ (Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 1: Darstellung, S. 158) sei die Bedeutungsebene von ‚Gedanke‘ als „syntaktisch-semantische[r] Einheit“ bei Schönberg nicht völlig aufgelöst worden. Negiert werde „nur die traditionelle Auffassung von ‚Gedanke‘ als motivisch-thematische Einheit, die sich allein in einer musikalischen Dimension (im Allgemeinen der Melodik) abspiele.“ (Vgl. ebd., S. 158 f.) An der oben genannten Stelle seines Artikels greift Gerhard auf Schönbergs Ausdruck zu, ohne auf jene spätere, speziellere Bedeutung des ‚Gedankens‘ bei Schönberg (als sich auf den gesamten Satz, und nicht nur auf eine Hauptstimme erstreckender) einzugehen. 262 Vgl. Roberto Gerhard, Fugue (Ending), S. 46. 263 Ebd., S. 46 f. 264 Siehe Anm. 261.
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mittel‘ wiederfinden lässt. Tonalität erscheint dabei tendenziell losgelöst von Materialbedingungen und gebunden an tradiertes Handwerkswissen und an eine morphologische Gestaltungsebene. Gerhards Betonung der syntaktischen Elemente einer Komposition als ‚Elemente der Vernunft‘ lässt sein späteres Bestreben sich von einer Bezugsebene motivisch-thematischen Arbeitens loszulösen und tonale Bezüge auf einer Tiefenebene ‚unterhalb‘ der motivischen Ebene265 aufzufinden (als ge-fundene, und nicht erfundene Tonbezüge) – tonale Bezüge, die nicht der Vernunft, sondern vielmehr dem Unbewussten zuzuordnen wären – hier noch nicht ansatzweise erahnen. Gerhards Ausführungen in Mirador lassen sich als Kommentar zu Gerhards Ende der 1920er Jahre entstandenen, in Barcelona aufgeführten Kompositionen lesen und erscheinen weit entfernt von der im Zusammenhang mit Gerhards Zwölftonpraxis der 1940er Jahre entwickelten, theoretischen Position. Auch im Zusammenhang mit dem Schaffensprozess betont Gerhard gegenüber Millet die Bedeutsamkeit des Rationalen und sein Bestreben sich von ‚den Diktaten der absoluten Phantasie‘ („the dictates of absolute fantasy“) unabhängig zu machen.266 Mit jenem Ausdruck taucht etwas auf, das Gerhard später und mit Bezug auf seine Zwölftonpraxis als inkohärenten Bewusstseinsstrom beschreiben wird, dem vermittels methodischer Setzungen („constraints“) beizukommen ist (siehe Kapitel I.3). Zugleich betont Gerhard, ganz in Kongruenz mit Schönberg, die Bedeutung von Unbewusstem und Intuition und dementgegen die aposteriorische Rolle von Theorie.267 Mit Gerhards theoretischer Tonalitätsbestimmung, wie er sie in seinen Repliken gegenüber Lluís Millet formuliert, rücken ‚rationale‘ Tonalitätsaspekte sowie die Kontinuität einer Tradition von Handwerkswissen in den Fokus, mit welcher Gerhard das Neue und Befremdende seiner eigenen als ‚atonal‘ angegriffenen Kompositionen legitimiert. Die Bezugnahme auf das Handwerk betont dabei Gerhards pragmatische Sichtweise auf eine in Tradition und Traditionswissen verkörperte und bewährte Idee von Tonalität.
265 Siehe Anm. 86. 266 „And all the systematization in my works that annoys you, still seems minute compared to the desire I feel always to make the genesis of the work more ordered and conscious, independent of all suggestions of comfortable emotion and the dictates of absolute fantasy.“ Roberto Gerhard, Fugue, S. 45. 267 „Did you expect me, in my Mirador articles, to provide you with the key to the new compositional methods of the Schoenbergian school? No, Sir, that was not possible! […] You realize, I suppose, this is asking for an entire course in musical composition. […] Ah! If I could have replied you with a fully formulated recipe, what a joy … for others! No, we will leave this task to future theoreticians. Like the musicians of the first ‚tonal era‘ did, who composed responding avant la lettre to the laws of historical tonality.“ Roberto Gerhard, Coda, S. 49. Mit jener „first ‚tonal era‘“ ist die Praxis Dur-Moll-tonalen Komponierens gemeint. Und gemäß der Leitidee von einer zu verifizierenden, ‚lebendigen‘ Idee (oder einer zu verkörpernden Tradition) von Tonalität ließe sich über diese Praxis des Tonalitätsgebrauchs avant la lettre sagen, dass sie die Idee von Tonalität real verkörperte, während die später theoretisch formulierte Idee von Tonalität Gefahr laufen konnte, die Tonalitätsidee zu ‚verfestigen‘.
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Einige Jahre nach der Kontroverse mit Millet, im Jahr des ausgebrochenen Spanischen Bürgerkriegs, verfasste Gerhard den Aufsatz Músiques modernes, músiques antigues… Música! (1936),268 in welchem der ‚rationale‘ ‚Kunstmittel‘-Aspekt von Tonalität wiederum in den Hintergrund, und stattdessen eine spekulative Natur des Tons in den Vordergrund rückt. In diesem Aufsatz erhält Tonalität die (in Kapitel I.3.2 im Zusammenhang mit der Harmonielehre erwähnte) umfassende und tendenziell metaphysische Bedeutung einer beständigen Naturordnung, der hier zugeschrieben wird, diatonischem und chromatischem Tonmaterial wie auch allem Existierenden und Lebendigen zugrunde zu liegen. Mit Bezug darauf spricht Gerhard hier allerdings nicht von Tonalität, sondern emphatisch von „Música“ (mit großem M), oder von „l’única Música“, während er mit dem Plural „musiques“ oder mit „música“ (mit kleinem m) die konkrete Musik eines Komponisten oder einer Epoche meint. Behauptet wird, dass die vielfältigen, gegensätzlich erscheinenden musikalischen Aktivitäten unterschiedlicher Epochen durch ein beständiges Prinzip, eine überzeitliche Ordnung, verbunden seien. Gewiss entwickle sich Kunst, aber sie bleibe, so Gerhard, im Wesentlichen unverändert.269 Unveränderlich sei sie, weil sie stets aus denselben menschlichen Bedürfnissen hervorgehe, und weil ihr ein im Wesen identisches Material zugrunde liege. So könne sie eindeutig nicht ohne die immer selbe Finalität existieren. Zugleich müsse sie sich entwickeln, so lange sie ‚lebendig‘ bleibe („toda vegada que és vivent“), d. h. sie müsse sich in (zeitlicher) Sukzession und Veränderung manifestieren, denn das begrenzte menschliche Erkenntnisvermögen könne jenes Alles-in-Allem („el tot del tot“) nicht fassen, sei es doch bereits unfähig das Ganze der Einzeldinge zu begreifen („el tot de res“).270 Gerhard referiert hier, ebenso wie Schönberg in der Harmonielehre, auf eine Natur des Tons als Telos musikgeschichtlicher Entwicklung. Gerhards Ausführungen zum ‚Ton‘ werden dabei vertieft und in vielfältigen thematischen Kontexten durchdacht, während sie in der Harmonielehre primär eine Grundlage bildeten, um die alte Tonalität zu dekonstruieren. Mit Bezug auf das seit den Anfängen musikalischer Praxis fortschreitend differenzierte Tonmaterial äußert Gerhard: „Així com els plantes, els animals, els homes i totes les coses, els sons creixen i van multiplicant-se amb l’acumulació dels dies, dels anys, dels segles…[…]: en L’ordre… L’ordre que es troba contingut en el so u i multiple…“271
Gerhard rekurriert auf eine Evolution, die im Rahmen einer präexistierenden Ordnung verläuft, wie dies auch für Schönbergs ‚Ton‘-Vorbild gilt. Er stützt sich auf ein Prinzip, das auf der Mikroebene des Tons und der Makroebene des Zusammenklangs dasselbe ist und damit auf harmonikales Denken. Die musikgeschichtliche 268 Robert Gerhard, Músiques modernes, músiques antigues… Música!, in: Revista Musical Catalana 33 (1936), S. 225–234. 269 Vgl. ebd., S. 225. 270 Ebd. 271 „So wie die Pflanzen, die Tiere, die Menschen und alles wächst, so wachsen auch die Töne und multiplizieren sich mit dem Fortschreiten von Tagen, Jahren, Jahrhunderten…[…]: in der Ordnung…der Ordnung, die man enthalten findet im einzelnen Ton und im Zusammenklang…“ Ebd., S. 226 [Übersetzung, G. L.].
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Evolution verläuft nach Gerhard dem Vorbild der Obertonreihe entsprechend – d. h. gemäß jener Naturordnung. So erzeuge die Erschließung einer jeden neuen Intervallqualität (Oktave, Quinte, Quarte, Terzen, große und kleine Sekunden und die folgenden Intervalle, die sich bis ins Unendliche verkleinerten) die ‚Vision einer neuen harmonisch-melodischen Modalität‘, die in ihrer Färbung für eine bestimmte historische Epoche charakteristisch sei.272 Zugleich wird nach Gerhard mit jedem erreichten Stadium musikgeschichtlicher Evolution ein neuer Aspekt des ‚Tons‘ erschlossen: Denn mit jedem neuen Tonmaterial (einer bestimmten Skala), das die äußeren Charakteristika einer musikgeschichtlichen Epoche spiegele, erschließe sich auch ein erweiterter Resonanzbereich des ‚Tons‘.273 Insofern sich jene Ordnung im Zeitlichen manifestiert, kann Gerhard sagen, beim Studium von Geschichte, von Musikgeschichte, oder jeglicher anderer Geschichte, sei alles ‚dokumentarisch interessant‘ („interessant, documentalment“), denn alles enthülle weitere Aspekte der Kontinuität des Seins,274 jener sich als Kontinuität-im-Zeitlichen manifestierenden Ordnung. Es wird zum Wesensmerkmal jener Ordnung sich im Zeitlichen zu vollziehen und zugleich permanent gegenwärtig zu sein. Rhythmus wird bei Gerhard zu einer besonders direkten Manifestation jener Ordnung („Al Començament era el Ritme… “275) und stellt damit eine sogar noch grundlegendere Manifestationsform als Harmonie dar. Nach Gerhard ist im Musikalischen alles (auch Harmonie) daraus abzuleiten („En definitiva, pensem que Melodia, Harmonia, Tonalitat o Modalitat, tot és engendrat pel Ritme.“276). Dabei verweist auch Rhythmus, als gewissermaßen Grund von ‚Música‘ („[…] el Ritme (és a dir, la Unitat fonamental i definitiva) […]“277), weit über den üblichen musikalischen Bereich hinaus. Gerhard argumentiert, das Musikalische sei deswegen auf Rhythmus zurückzuführen, weil sich das künstlerische Leben selber in Rhythmus manifestiere, und dies sei wiederum der Fall, weil Rhythmus die Manifestation nicht nur künstlerischen, sondern menschlichen Lebens und von Leben im Allgemeinen sei – das ‚Leben des Lebens‘ („ès, en definitiva, Vida de la Vida…“).278 Hier ist kurz innezuhalten, um diese Gedankenkette zu fassen: Einerseits sind die Manifestationen von Rhythmus letztlich aufgehoben im übergeordneten Rhythmus („Ritme central“), Rhythmus im engen (musikalischen), und nicht in einem übertragenen Sinn, der ihnen als zentrales Prinzip zugrunde liegt. Andererseits wird aber jener Rhythmus im engen Sinn durch die Manifestationen von Rhythmus im weiteren Sinn begründet. Gemäß der kausalen Begründungsrichtung beruht Rhythmus als Prinzip, aus dem alles kommt, auf seinen umfassenderen Manifestationen und wird gewissermaßen durch diese aufrechterhalten, wobei die dem musikalischen Bereich nahestehenden (am wenigsten umfassenden) am wenigsten zu dieser Aufrechterhaltung beitragen. So manifestiert 272 273 274 275 276 277 278
Vgl. ebd., S. 226. „Amb cada nova modalitat s’amplifica, també, l’extensió de ressonància.“ Ebd., S. 226. Ebd., S. 232. Ebd., S. 229. Ebd., S. 228. Ebd. Vgl. ebd.
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sich das Prinzip Rhythmus zum Teil durch Manifestationen in Musik, zu einem noch umfassenderen Teil manifestiert es sich im künstlerischen Leben, noch umfassender im menschlichen Leben, und am umfassendsten in jeglichem Leben. Jenes Leben in seiner Ganzheit bezeichnet Gerhard als ‚Leben des Lebens‘.279 Selbst das Prinzip des Lebens wird also aufrecht bzw. am Leben erhalten. Was es am Leben erhält, ist – sich entfernend vom Bereich des Musikalischen – jegliches Leben (wohlgemerkt als Manifestation jenes Prinzips). Insofern diesem jeglichen Leben umgekehrt aber auch das Prinzip Rhythmus im engen Sinne zugrunde liegt, dessen Manifestation es ist, stellt sich dieses und die ihm nahestehenden musikalischkünstlerischen Manifestationsformen gewissermaßen als zentrale Quelle von Leben als eigentlichem Leben dar – ‚Leben‘ nämlich, in welchem sich jene unveränderliche Naturordnung manifestiert. Jene musikalisch-künstlerischen Manifestationsformen des Prinzips stellen damit keinen vom allgemeinen Leben isolierten Bereich dar, vielmehr werden sie vermittels des Nexus Rhythmus (als gemeinsamem Prinzip) ganz selbstverständlich an alles Leben angebunden, und erscheinen als ‚Kraftzentrum‘ jeglicher, auch alltäglicher Lebenspraxis (ein ‚Kraftzentrum‘, das allerdings selber durch jene Praxis aufrechterhalten bzw. manifestiert werden muss). Dieses Ins-Zentrum-Rücken von Rhythmus und musikalischer Aktivität passt zur zentralen gesellschaftlichen und staatstragenden Rolle, die für Künstler, kunstsinnige Politiker und Intellektuelle während der Zweiten Spanischen Republik und während des Spanischen Bürgerkriegs im Kontext der sozial-revolutionären Tendenzen innerhalb der republikanischen Zone typisch war. In engste thematische Nähe rücken in Gerhards Artikel zweifellos ‚Música‘ bzw. Rhythmus als Seinsbzw. Naturordnung und ‚Leben‘ als deren Manifestation. Da diese permanent gegenwärtige Naturordnung stets neue, veränderliche Manifestationen hervorbringt, kann Gerhard behaupten, jene Ordnung bringe Manifestationen des Neuen („manifestacions de novetat“280) hervor. Im stets veränderlichen Leben ist nach Gerhard das Neue als Beständiges, und insofern die ‚Ewigkeit‘ von ‚Leben‘ zu entdecken.281 Gerhard legt nahe, dass hingegen die gegenständliche Ansicht der Realität als Dingwelt uns nur beständig zu sein scheint, es sich aber eigentlich um den am wenigsten beständigen Aspekt des Existierenden handelt. Indirekt verweist er auf die Uneigentlichkeit des Gegenständlichen, indem er angibt, nur wenig von dieser (veränderlichen) Welt zeige sich unserer Wahrnehmung, denn die (sich zeigende) Gegenstandsrealität sei im Eigentlichen nicht neu. Im Eigentlichen aber sei alles neu.282 Daraus lässt sich schließen, dass die (nur scheinbar neue) Gegenstandsrealität eine uneigentliche Schein- und Oberflächenrealität, darstellt. Lediglich das Neue, in dem sich die beständige Ordnung des Existierenden manifestiert – als gleichsam ‚höhere Realität‘ – hat nach Gerhards Denken Bestand. Um jenes Neue (das Eigentlich-Beständige) im Existierenden und Sich-Ereignenden wie auch in der jüngeren Musikgeschichte zu erkennen, wird für Gerhard ein visionärer Künstler notwendig, der im Neuen das Ewige (das ‚Leben‘) erkennt und 279 280 281 282
Siehe Anm. 278. Roberto Gerhard, Músiques modernes, músiques antigues… Música!, S. 231. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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fähig ist, das tatsächlich Neue von dem zu unterscheiden, was in einem Moment neu erscheint, jedoch nicht von Bestand ist, weil es sich nicht um eine neue Manifestation jener Ordnung handelte („no era pas una nova manifestació de la seva vida perenne…“).283 Als Kennzeichen jener Ordnung gilt Gerhard das ‚Ewig-Neue‘ („Nou-Etern, que Etern-Nou és…“).284 Er schreibt, zu allen Zeiten sei nur eine hochgebildete Elite fähig gewesen, jene Qualität des ‚Ewig-Neuen‘ in alter wie auch neuer Musik zu erkennen. Außer jener Elite finde sich das aufnahmefähige Publikum unter den einfachsten Leuten, den Leuten ‚ohne Vorurteilen des Kleinbürgertums‘, denjenigen, die ‚direkt zu den Dingen‘ gingen.285 Ein Publikum von ‘Snobs‘ sei, so Gerhard, dagegen unfähig, den ‚innovatorischen Wagemut und das ewige Gleichgewicht‘ von Meisterwerken zu erkennen und diese von Routine-Arbeiten zu unterscheiden.286 Dabei seien die Gründe für das Unverständnis zu allen Zeiten gleicher Art gewesen: Immer sei es eine auf die Materie gerichtete Sichtweise, die den Blick auf das Geistige – auf die ihr zugrunde liegende Ordnung – verdunkele und zu sehen verhindere („Sempre, és la matèria la que ofusca la vista i impedeix de copsar l’esperit que l’anima…“).287 Die in Gerhards Text angedeutete Uneigentlichkeit des Gegenständlichen lässt sich als Hintergrund für die Idee doppelter Realität im Don Quixote-Ballett wiederfinden. In den von Gerhard in Musik gesetzten Visionen Don Quixotes lässt sich Don Quixote als Heroe erkennen, der die gegenständliche Ansicht von Realität überwunden hat und es dadurch vermag ’Leben’ bzw. ‚höhere Realität‘ zu sehen. Dass Don Quixotes Visionarität der Mitwelt als Wahn erscheint, verbindet ihn mit dem von Gerhard als ‚Seher‘ aufgefassten Künstler: „L’Artista és un Vident que assenyala coses fora de la vista corrent. La seva mirada, doncs, forçosament, sembla, generalment, desorbitada.“288
Wenn Gerhard die gegenüber zeitgenössischer Musik geäußerte Kritik hauptsächlich auf zweierlei zurückführt, erstens auf die Kritik am Gebrauch einer Skala der zwölf, statt der diatonischen sieben Töne,289 und zweitens auf zuvor selten gebrauchte Intervalle, die für das Ohr bis dahin ungewohnt waren,290 dann legt er offen, dass sich jene Kritik auf einen ‚materialen‘ Aspekt von Tonalität richtet und die implizite Annahme tonaler Eigenschaften voraussetzt, die einem bestimmten Tonmaterial vermeintlich inhärent sind.
283 Vgl. ebd. 284 Ebd., S. 233 285 „A més de l’èlite de vasta cultura […], el ‚bon públic‘, el públic receptiu, es troba entre la gent més senzilla… la gent sense prejudicis de mitja cultura… la que va directament a les coses…“ Ebd., S. 233 [Übersetzung, G. L.]. 286 Vgl. ebd., S. 232 f. 287 Ebd., S. 233. 288 „Der Künstler ist ein Seher, der aufzeigt, was außerhalb des üblicherweise Auffassbaren liegt. Seine Sicht erscheint daher zwangsläufig generell irregeleitet.“ Ebd., S. 231 [Übersetzung, G. L.]. 289 Vgl. ebd., S. 227 f. und S. 229. 290 Vgl. ebd., S. 231.
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Erstaunlich ist die zentrale Rolle, die in Gerhards Aufsatz einer Naturordnung des ‚Tons‘ zukommt. Das Handwerk, oder eine bestimmte Kompositionspraxis treten dabei zurück hinter dem Künstler als ‚Seher‘ („Vident“) jener Ordnung, jenes ‚Ewig-Neuen‘. Mit der monistischen Ordnung von „Música“ (bzw. dem Prinzip Rhythmus) findet Gerhard Kontaktstellen zwischen Musik und ‚Leben‘. Wo sich alles in jene präexistente, immaterielle Ordnung fügt (und fügen soll), da wird eine erkenntnistheoretische Trennung zwischen Subjekt und Objekt bzw. ‚Ton‘ aufgehoben. Jene Ordnung, die sich in ‚Leben‘ manifestiert, ist ohne Frage metaphysischen Charakters und lässt sich im Sinne einer in die Realität hineinsehbaren ‚höheren Realität‘ auffassen; sie ist spekulativ und damit weder bewiesen noch unbewiesen – eine Glaubensangelegenheit. In keinem weiteren oder späteren von Gerhards Texten wird auf derart metaphysische Implikationen des ‚Tons‘ derart direkt Bezug genommen. Allerdings setzte sich Gerhard auch in späteren Jahren mit einer dynamistischen Realitätsauffassung und dem Problem eines Realitätszugangs auseinander.291 I.3.4 Die Tonalitätsreflexion als konzeptuelle Voraussetzung der Zwölftonmethode: Skala und Reihe als Apriori In den 1930er Jahren hatte Gerhard seine bereits begonnene kompositorische Auseinandersetzung mit Schönbergs Zwölftonmethode vorläufig zurückgestellt.292 Zugleich lässt sich sehen, dass Gerhards Tonalitätsreflexion in jenen Jahren noch ein291 Ganz im Sinne einer permanent prozesshaften Realität und der damit verbundenen Problematik eines durch die Systematisierung von Wissen tendenziell verstellten Zugangs zur Realität zitiert Gerhard in einem seiner Notizbücher den folgenden (hier zur Gänze, jedoch in der deutschen Übersetzung widergegebenen) Textabschnitt aus der wissenschaftstheoretischen Schrift The Mind and the Eye: A Study of the Biologist’s Standpoint (Cambridge 1954) der Biologin Agnes Arber, welchen Arber im Zusammenhang mit einer Kritik an einer Korrespondenztheorie der Wahrheit anbringt: „Platon bemerkt im ‚Timaios‘, daß es niemals eine Wissenschaft der Natur geben könne, da die sichtbare Welt ein sich ständig wandelndes Bild oder Abbild eines ewigen Modells darstelle. Eine solche Wissenschaft müsste also eine endgültige und exakte Wahrheitsaussage über einen sich ständig ändernden Gegenstand enthalten. Daß irgendein Biologe Platons Ansicht über die Wissenschaft uneingeschränkt hinnimmt, ist nicht wahrscheinlich. Doch werden nur wenige Biologen bestreiten, daß Platon hier die wesentliche Tatsache erfaßt, daß jedes wissenschaftliche Erklärungssystem eine gewisse statische Finalität aufweist und sich daher nie vollständig mit dem unablässigen Fließen der Natur vereinen lassen kann. Platon warnt uns vor den Gefahren des Systembauens, und betont, daß das Erreichen der Wahrheit ein Prozeß ohne Ende ist. Wenn der Biologe versucht, die Wirklichkeit so auszudrücken, wie er sie sieht, bleibt ihm keine Wahl; er muß Entwicklung und Veränderung mittels statischer Aussagen beschreiben; die Methode ist gefahrlos, solange er nicht vergißt, daß es sich lediglich um eine unvermeidliche Konvention handelt. Sein tatsächliches Vorgehen besteht also darin, daß er einen Standpunkt einnimmt, der für ihn die Wahrheit des betreffenden Augenblicks darstellt, und mit seiner Hilfe zu einem neuen Standpunkt fortschreitet, ohne jedoch auf den bewußten Besitz des bereits Erreichten zu verzichten.“ Agnes Arber, Sehen und Denken in der biologischen Forschung, Reinbek 1960, S. 64. Gerhard zitiert diesen Abschnitt des englischen Originals in dem Notizbuch CUL 7.127. 292 Siehe Einleitung.
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mal vertieft und mit metaphysischen und lebensphilosophischen Implikationen aufgeladen wurde – anders als der Artikel von 1929 mit seiner Betonung der ‚rationalen‘ Aspekte von Tonalität und der Ablenkung von Fragen der Materialbasis und des ‚Ton‘-Vorbilds dies hätte erwarten lassen. Mit seinem Anknüpfen an das ‚Ton‘Vorbild griff Gerhard einen Tonalitätsaspekt auf, der für seine weite Tonalitätsauffassung grundlegend wurde, im Kontext von Schönbergs Zwölftonkomposition und dessen theoretischer ‚Gedanke‘-Reflexion jedoch aus dem Blickfeld geriet. Der ‚musikalische Gedanke‘ wurde für Schönberg zu einem Schlüsselbegriff293 – einhergehend mit der „Systematisierung seines atonalen Kompositionsstils zur handwerklich beschreibbaren Zwölftontechnik.“294 Unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt des ‚Gedankens‘ strebte Schönberg an, die bislang „auseinander fallen[den]“ und (vormals auch von Schönberg getrennt behandelten295) Disziplinen der Musiktheorie (Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre) im Rahmen einer Kompositionslehre zu behandeln296 und damit dem Anspruch einer geschlossenen Theorie gerecht zu werden. Tonalität rückte hierbei tendenziell in den Bereich des ‚musikalischen Denkens‘. In Bezug auf Tonalität hatte Schönberg bereits in der Harmonielehre das aktive Herstellen von Tonbezügen in der Komposition gegenüber präkompositionellen Aspekten von Tonalität, der Frage nach Tonmaterial, Temperierung oder der Naturordnung des Tonmaterials, betont. Gerhard Luchterhandt formuliert, an die Stelle des Zugreifens auf das fertig formulierte tonale System trete bei dieser Auffassung eine Tonalität, die „in jedem Werk neu als komplexes Wechselspiel von Bestätigung und Infragestellung“ entstehe, „wobei unterschiedliche Grade der Konvergenz ‚messbar‘“ seien.297 Die so verstandene Tonalität gehöre „zu jenem unverwechselbaren strukturellen Gehalt einer Komposition, den Schönberg später als ‚Gedanken‘ bezeichnete.“298 Als ein ‚Kunstmittel‘ ist Tonalität in den strukturellen Gehalt eines Werkzusammenhangs eingelagert, ihr 293 Das erste der Fragmente zu Schönbergs geplanter ‚Gedanke‘-Schrift stammt vom 19. August 1923. Siehe hierzu Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 1: Darstellung, S. 158. 294 Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“, S. 84 f. 295 Hinrichsen verweist darauf, dass Schönberg „[…] in der ganz offensichtlichen Tradition der getrennten Behandlung der beiden propädeutischen Disziplinen […]“ geplant habe, seiner Harmonielehre einen Kontrapunktlehrgang zur Seite zu stellen und dazu im Juni 1911 ein umfangreiches Exposé mit dem Arbeitstitel „Das Komponieren mit selbständigen Stimmen“ bei der Universal-Edition einreichte. Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, Schönberg, Bach und der Kontrapunkt, S. 34. 296 „Harmonielehre, Kontrapunkt und Formenlehre sind gegenwärtig hauptsächlich zu pädagogischen Zwecken aufgebaut. Mit Ausnahme vielleicht der Harmonielehre fehlt den einzelnen sogar eine wahrhaft theoretische Anlage, die von anderen äußeren Merkmalen ausgeht, vollkommen, welcher Mangel im ganzen zur Folge hat, daß die drei verschiedenen Disziplinen, die zusammen die Kompositionslehre bilden sollten, in Wirklichkeit auseinander fallen, da ihnen ein gemeinsamer Gesichtspunkt fehlt.“ Arnold Schönberg, Der musikalische Gedanke; seine Darstellung und Durchführung, o. D., T37.06 [= Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 2: Quellen, S. 707. 297 Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“, S. 63. Gemeint ist dabei offenbar die Bestätigung und Infragestellung eines Grundtons. 298 Ebd.
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kommt eine strukturbildende Bedeutung zu.299 Aus einem solchen, dem ‚musikalischen Gedanken‘ nahestehenden Tonalitätsbegriff folgt die Nicht-Abstrahierbarkeit und Nicht-Theoretisierbarkeit von Tonalität sowie eine Betonung des relationalen Charakters tonaler Bezüge im Werk. Damit geht eine materialoffene Haltung einher, insofern Fragen nach einer präkompositionell zugrunde liegenden MaterialVorordnung, einem Tonsystem oder einer Skala, in den Hintergrund treten.300 Man könnte vermeinen, diese Haltung in Gerhards Äußerung gegenüber Millet wiederzufinden „[…] that the tonal hierarchy can operate in ‚thousands of ways‘.“301 Wie zu sehen sein wird, erscheint eine solche Materialoffenheit bei Gerhard jedoch weniger in einer die Bedeutung von Materialbedingungen zurückweisenden Haltung begründet zu sein, als vielmehr in dem Blick auf (tausenderlei) bestimmte Materialbedingungen, in denen sich die Natur des Tons manifestieren kann.302 Es lässt sich zeigen, dass Schönbergs vermeintlich materialoffene Auffassung von der Tonalität, die in jedem Werk neu entsteht, auf einer Konzeptverengung beruht, die zeigt, dass Schönberg Tonalität ohne eine Tonika und Tonarten nicht zu denken gewillt war. Gerhards weite Tonalitätsauffassung geriet hierzu in Konflikt (obwohl sie zugleich von der schönbergschen geprägt war). Die Konzeptverengung wird in schönbergs Harmonielehre-Kapitel über die Ganztonskala deutlich. Darin kritisiert Schönberg die Verwendung der Ganztonskala im Sinne einer ‚Tonreihe‘ (d. h. in einem apriorischen Sinn), und damit ihre Nutzung zu Zwecken der Erzielung von Tonalität, welche dann gegenüber der Dur-Moll-Tonalität eine quasi alternative, „spezifische Tonalität“303 darstellen würde. Ebenso wie vagierenden Akkorden und der chromatischen Skala schreibt Schönberg den beiden Ganztonskalen zu, die befestigenden Elemente von Tonalität zu unterdrücken, die Tonalität zersetzenden Elemente hingegen zu unterstützen.304 Solche Elemente wirken also der Befestigung von Tonart und Grundton entgegen. Zwar ist eine gelegentliche Integration solcher Elemente in die Tonalität für Schönberg legitim, aber eine überwiegende Verwendung des Ganztonleiter-Materials lehnt er als tonalitätsgefährdend ab: „[…] denn wenn harmonische Möglichkeiten, die hier gezeigt wurden, in modernen Werken nicht bloß vereinzelt, sondern beinahe ausschließlich benützt werden, dann muß die Beziehung auf einen Grundton geradezu als eine störende Unsymmetrie
299 Hierzu äußert Luchterhandt: „Bei Schönberg lässt Tonalität sich in letzter Instanz nur im konkreten Werk nachweisen, d. h. sie ist nicht nur eine Frage der Beurteilung des Tonmaterials, sondern entsteht aus der Gesamtheit der konkreten harmonischen, motivischen und thematischen Beziehungen eines Werkes […].“ Ebd., S. 73. 300 Luchterhandt bemerkt, für Schönberg sei Tonalität „nicht mehr eine Frage fest definierter Tonsysteme bzw. Leitern, sondern für ihre Herstellung steht das ganze 12-stufige Tonsystem jederzeit zur Verfügung: Alles kann prinzipiell zur Tonart gewendet werden.“ Ebd. 301 Siehe Anm. 245. 302 Deutlich bekräftigt Gerhard dies in seinem Aufsatz von 1936, wenn er auf eine sich sowohl unter den Materialbedingungen der diatonischen Skala der sieben als auch der chromatischen Skala der zwölf Töne manifestierende Naturordnung hinweist. Siehe ders., Músiques modernes, músiques antigues… Música!, S. 227–229. 303 Siehe Arnold Schönberg, HL, S. 473. 304 Vgl. ebd., S. 472.
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bezeichnet werden.“305 Solle Tonalität erzielt werden, dann müsse sie „mit allen zweckdienlichen Mitteln angestrebt werden […], dann müssen Elemente ausbleiben, die nicht zu binden sind, und es dürfen nur solche eingefügt werden, die sich willig einfügen.“306 Er resümiert: „Also: wer an Tonalität, wer an Tonreihen glaubt, für den müssen derartige neue Tonreihen von vornherein ausgeschlossen sein.“307
An dieser Reflexion über die Ganztonleiter als Grundlage einer möglichen ‚spezifischen Tonalität‘ zeigt sich, dass Schönberg aus seiner engen Auffassung von Tonalität nicht herauskommt: Schönbergs Ablehnung „neue[r] Tonreihen“ und seine Rede von den zur Erzielung von Tonalität „zweckdienlichen Mitteln“ verweisen darauf, dass eine Tonika und die Bindung an Tonarten für ihn alternativlose Konstituenten von Tonalität sind. Wo letztlich aber keine anderen ‚Tonreihen‘ als die Dur- oder Moll-Skala (oder eine explizit oder implizit tonikal gebundene chromatische Skala) gelten dürfen, verliert die Rede von einer an ‚Tonreihen‘ gebundenen Tonalität jeglichen materialoffenen und wagemutigen Charakter. Es wird damit völlig unklar, inwiefern eine weite, über die Dur-Moll-Tonalität hinausgehende Auffassung von Tonalität bei Schönberg denkbar sein sollte bzw. welche Rolle dann noch eine Natur des Tons spielen könnte, die sich nicht exklusiv durch das alte tonale System vertreten lassen würde. Wie bereits gesagt, ist die Möglichkeit einer weiten Auffassung von Tonalität, die hier als gedankliche Basis für Gerhards weiten Tonalitätsbegriff verstanden werden soll, der Harmonielehre aber ebenfalls zu entnehmen. Gerhards Markierungen in seinem Exemplar der Harmonielehre308 legen hier ‚den Finger in die Wunde‘. Sie verweisen auf die Auseinandersetzung mit jener widersprüchlichen (zumindest missverständlichen) Haltung Schönbergs in Betreff der Aufstellung von ‚Tonreihen‘. So markierte Gerhard denjenigen Passus, in dem Schönberg behauptet, dass Tonalität mit den Mitteln etwa vagierender Akkorde oder der Ganztonskala nicht erzielt werden könne und solche Elemente, die sich nicht binden ließen, ausbleiben sollten309 – einen Passus also, in dem Schönberg Tonart und Tonika als unabdingbare Konstituenten von Tonalität akzentuiert. Bezeichnenderweise kennzeichnete er aber auch die zugehörige Fußnote, in der Schönberg auf seine früher kundgegebene, materialoffene Tonalitätsauffassung ein305 306 307 308
Ebd. Ebd. Siehe auch Anm. 309. Arnold Schönberg, HL, S. 472. Arnold Schönberg, Harmonielehre, Wien: Universal-Edition 1922 (3. vermehrte und verbesserte Auflage), MRS.31.47 [Signatur Gerhard-Archiv, CUL]. 309 Beginn und Ende der in Gerhards Exemplar markierten Textabschnitte wird im Folgenden je mit dem Zeichen * gekennzeichnet: „Auf dem Thron möchte ich nicht sitzen wollen, von dem hier der Herrscherglanz der Tonalität ausgeht. *Nein, ich glaube, das geht wirklich nicht. Soll die Tonalität erzielt werden, dann muß sie mit allen zweckdienlichen Mitteln angestrebt werden, dann müssen in den Modulationen gewisse Proportionen eingehalten sein, wie sie die Klassiker tatsächlich eingehalten haben, dann müssen Elemente ausbleiben, die nicht zu binden sind, und es dürfen nur solche verwendet werden, die sich willig einfügen.*“ Arnold Schönberg, HL, S. 472 [S. 472 in Gerhards Exemplar].
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geht, von welcher er bemerkt, sie stehe scheinbar im Widerspruch zu den Erörterungen im Fließtext. „*Das hier Gesagte steht nur scheinbar in Widerspruch mit dem, was ich früher über die Tonalität gesagt habe: es hänge von einem Autor ab, ob er sie erzielt oder nicht. Denn daß man sie erzielen kann, halte ich für möglich. Nur ob man sie noch anstreben mu ß , ja, ob man sie überhaupt noch anstreben soll, bezweifle ich. Zu diesem Zweck habe ich auf die formalen Möglichkeiten der schwebenden und aufgehobenen Tonalität aufmerksam gemacht, die ja auch die Annahme eines wirkenden Zentrums zulassen, aber zeigen, wie es nicht notwendig ist, diesem Zentrum äußerlich zu einer Macht zu verhelfen, die es höchstens innerlich hat.*“310
In der Tat tut sich ein (nicht nur scheinbarer) Widerspruch auf, wenn Schönberg die Frage des zur Tonalitätserzielung adäquaten Tonmaterials erörtert und dabei zu einem engen, exklusiv an die Dur- und Moll-Skalen gebundenen Tonalitätsbegriff kommt – ein Widerspruch, den Schönberg lediglich abmildert (nicht auflöst), indem er die gegenwärtige Relevanz jener eng definierten Tonalität relativiert und auf „die formalen Möglichkeiten der schwebenden und aufgehobenen Tonalität“ verweist. Weiter hob Gerhard denjenigen Passus hervor, der geeignet war, den Zusammenhang zwischen der präkompositionellen Setzung einer ‚Tonreihe‘ und der Absicht der Tonalitätserzielung zu bestätigen, was wiederum annehmen ließ, dass die Möglichkeit einer resultierenden ‚spezifischen Tonalität‘ immerhin bestand, auch wenn Schönberg diese ablehnte. „*Aber welchen andern[sic] Zweck sollte denn die Aufstellung einer Tonreihe haben als den, eine Tonalität, eine spezifische Tonalität herzustellen?*“311
Schönbergs Ablehnung einer auf der Ganztonleiter basierenden Tonalität beruht nicht allein auf seinem engen Tonalitätsbegriff, sondern daneben auch auf der generellen Abneigung des Harmonielehre-Schönberg gegenüber einer präkompositionellen Material-Vorordnung. Schönberg fasst die Aufstellung alternativer Tonreihen als Beschränkung auf: „Der Unfreiheit neuer Tonreihen die durchschnittlichen Ereignisse des Schaffens anzubequemen, kann nur wünschen, wer sich in der Beschränkung Meister zeigen möchte, weil er zu wenig kann, um Herr der Freiheit zu sein.“312 310 Ebd. [Unterstreichung von Gerhard.] 311 Ebd., S. 472 f. [S. 473 in Gerhards Exemplar]. Ein weiterer in jenem Kapitel von Gerhard markierter Abschnitt unterstreicht Tonalität als Glaubensangelegenheit eines Komponisten und Schönbergs Bekenntnis, dass man – obwohl einem der Glaube an die Notwendigkeit von Tonalität abhanden gekommen sei, nichtsdestotrotz an die ‚Früchte‘ glauben könne, die ein solcher Glaube hervorgebracht hat: „*Meine Auseinandersetzungen sollten den Glauben und die Notwendigkeit der Tonalität widerlegen, aber nicht den Glauben an die Wirkung eines Kunstwerks, dessen Autor an die Tonalität glaubt.*“ (Ebd., S. 474.) [S. 474 in Gerhards Exemplar, Unterstreichung von Gerhard.] Diese von Gerhard markierte Aussage spiegelt in ausgeprägter Weise pragmatisches (oder: quixotisches) Denken bei Schönberg: Unabhängig von der absoluten Wahrheit einer Idee, über die man nichts wissen kann, zählen die Ergebnisse, die der Glaube an jene Idee hervorgebracht hat. 312 Ebd., S. 473. Schönberg kritisiert in diesem Zusammenhang die von Feruccio Busoni aufgestellten Skalen, die auf nicht-temperiertem, mehrstufigem Tonmaterial beruhen (Ästhetik der Tonkunst, 1907).
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Nach dem Hinfälligwerden der ‚alten‘ Tonalität stellt die präkompositionell-apriorische Setzung einer ‚Tonreihe‘ für Schönberg eine Unfreiheit dar. Er lehnt es seinem expressionistischen Künstlerideal entsprechend ab, das Disponieren des Tonmaterials vom Kompositionsprozess zu isolieren und es auf einen separaten Schritt der präkompositionellen Vorordnung des Materials auszulagern. Einem berechnenden Disponieren der Möglichkeiten des Tonmaterials stellt er das Gefühl für die Tonart entgegen: „Aber das man besondere Tonreihen aufstellen muß […] vorkonstruieren muß, was erfunden sein sollte, glaube ich deshalb nicht, weil ich weiß, daß es anders geht, und weil ich fest glaube, daß man so nicht komponieren darf. Erfinden, nicht aber errechnen! Erdenken darf man, aber man darf es selbst nicht merken, wie man denkt. Aus einer Tonart heraus kann man frei schaffen, wenn das Gefühl für diese Tonart im Unbewußten vorhanden ist.“313
In der Ablehnung einer bewussten Disposition des Tonmaterials lässt sich die individualistische Genie- und Inspirationsästhetik Schönbergs erkennen. Wenn Schönberg äußert, man dürfe „es selbst nicht merken, wie man denkt,“314 dann lässt sich darin auch seine Abneigung gegenüber einer Methodisierung des Schaffensprozesses erkennen. Beim Schönberg der Harmonielehre haben apriorische Ordnungen keinen Platz: „Ich verstehe nicht, wie ein Mensch, der trotz so einem Zwang so hübsche Melodien erfinden kann, sich nicht lieber auf die Kraft in sich verläßt, die selbst der Zwang nicht ganz lahmlegen kann, statt Theorien nachzuhängen, die nicht auf derselben Seite wachsen, wo die schöpferische Tat entsteht.“315
Gerhard positionierte sich hier anders, und dies nicht erst, seitdem er die Zwölftontechnik adaptiert hatte.316 In einem Notizbuch, das Poldi Gerhard auf das Jahr 1946 datierte, verweist Gerhard mit Blick auf die ‚alte‘ Tonalität auf das Vorliegen zweier Konstituenten, die diatonische Skala und den Terzaufbau (leitereigener) Akkorde, die er im Sinne einer Materialbegrenzung und zugleich einer präkompositionell gesetzten (a priori-)Ordnung versteht. Aufgrund inflationärer Möglichkeiten moderner Harmonik hält er eine solche Begrenzung bzw. Setzung für notwendig und bemerkt, dass dies auf Schönberg nicht zutreffe: „Harmonia. Limits Tonalitat = un ordre a priori, en el material (anterior a l’obra) que l’obra reflexa. Limits resultant a) de l’escala de 7 b) del principi d’estmetura dels acords (3as [terceras]) 313 314 315 316
Ebd. Ebd. Ebd., S. 473 f. Hier stellt sich die Frage, ob Gerhard, indem er der präkompositionellen Materialsetzung einer ‚Tonreihe‘ Unabdingbarkeit einräumte, auch von einer genieästhetischen Grundhaltung Schönbergs Abstand nahm. Es spricht einiges dafür anzunehmen, dass Gerhards Bild vom Künstler oder ‚Genie‘ von den Diskussionen um eine politisch progressive Rolle von Künstlern und Intellektuellen im Spanien der 1930er Jahre geprägt worden war. Wenn Gerhard Unamunos Auffassung eines ‚impersonal‘ schaffenden Künstlers nahestand und Inspiration und das Unbewusste beim Schaffen in Anbindung an ein kollektives Unbewusstes und den Volksgeist verstand (siehe Kapitel II.4.2), dann zeigt dies Distanz zum Bild des autonom, aus der eigenen Phantasie heraus schaffenden Individuums an.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität Necessitat de limits en harmonia moderna: en quin moment es produeix una mena de fenòmen d’inflació quan l’augmenta progressivament la riquesa de l’harmonia? Schbg. no sentia la necessitat de limitar – l’idea semblava esser-hi del tot extranya – la veu humana[.]“317
Entnimmt man Gerhards Notiz die Aussage, dass Schönberg den Gedanken einer Begrenzung des Tonmaterials als ‚menschlich‘ betrachtet habe, deutet dies auf die in der Harmonielehre beschworene Täuschungsgefahr, nach der menschliches Begreifen beim Versuch, in die Natur des Tons eine Ordnung hineinzusehen (die Natur nachzuahmen) in seinen eigenen Beschränkungen (quasi Hör- und Denkgewohnheiten) befangen bleiben kann (siehe Kapitel I.3.1). Dieses erkenntnistheoretische Problem löste Gerhard, anders als Schönberg, nicht im Zurückweisen der Frage um die materialen Bedingungen einer in den ‚Ton‘ hineinsehbaren Ordnung, sondern in der bewussten, methodischen Aufstellung von ‚Tonreihen‘ bzw. dem bewussten Setzen materialer Bedingungen des Ordnungssehens. Gerade das Moment der präkompositionellen Beschränkung und Setzung von Tonmaterial durch eine ‚Tonreihe‘, das Schönberg als vorsätzlich auferlegte Unfreiheit kritisierte, erlangte für Gerhards Tonalitätsreflexion zentrale Bedeutung. Und trotz der beschriebenen aufscheinenden Differenzen gegenüber Schönberg konnte Gerhard seine eigene Auffassung von einer wesentlich auf präkompositionell aufgestellten ‚Tonreihen‘ beruhenden Tonalität in der Harmonielehre bestätigt finden und rezipieren, im gleichen Fußnotenabschnitt nämlich, in dem Schönberg behauptet hatte: „Atonal könnte bloß bezeichnen: etwas, was dem Wesen des Tons durchaus nicht entspricht.“318 In diesem Abschnitt präzisiert Schönberg sein Zugrundelegen einer weiten Tonalitätsauffassung so, dass sich die Bindung an eine ‚Tonreihe‘ als essentielles Kriterium für Tonalität auffassen lässt: „Es ist schon der Ausdruck: tonal unrichtig gebraucht, wenn man ihn im ausschließenden und nicht im einschließenden Sinn meint. Nur so kann es gelten: Alles was aus einer Tonreihe hervorgeht, sei es durch das Mittel der direkten Beziehung auf einen einzigen Grundton oder durch kompliziertere Bindungen zusammengefaßt, bildet die Tonalität.“319 317 „Harmonie. Begrenzungen Tonalität = eine a priori Ordnung, im Material (der Komposition vorgängig), welche die Komposition reflektiert. Begrenzungen resultierend a) aus der Skala der 7 b) aus dem Prinzip des Aufbaus der Akkorde (3as [Terzen]) Notwendigkeit von Begrenzungen in der modernen Harmonik: In welchem Moment wird eine Art Phänomen der Inflation produziert, wenn die Harmonik zunehmend an Reichtum gewinnt? Schbg. fühlte – diese Idee schien ihm völlig fremd zu sein – nicht die Notwendigkeit, die menschliche Stimme zu begrenzen[.]“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 10.136 [Unterstreichung von Gerhard, Übersetzung, G. L.]. Das letzte Wort dieses Notizbucheintrags ist schwer lesbar. Meine Entzifferung und Übersetzung des letzten Satzteils als „la veu humana“ („die menschliche Stimme“) ist daher unsicher. Im gegebenen Zusammenhang mit der abgelehnten Begrenzung von Tonmaterial, die Gerhard Schönberg zuschreibt, lässt sich die Rede von der ‚menschlichen Stimme‘ als eine Metapher für eine menschliche und vermenschlichende Sichtweise auf die im Tonmaterial angelegten Ordnungsmöglichkeiten auffassen (und nicht um eine Referenz auf die ‚menschliche Stimme‘ im direkten, wörtlichen Sinn). 318 Arnold Schönberg, HL, S. 486, Fußnote. 319 Ebd.
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Diese Passage bereitet Gerhards weiten Tonalitätsbegriff in TTM vor. Das Hervorgehen aus einer ‚Tonreihe‘ ist dabei primär, die direkte Beziehung „auf einen einzigen Grundton“ sekundär und nicht alternativlos: Die zusammenfassende Wirkung „kompliziertere[r] Bindungen“ war dazu geeignet, die Vorstellung zu nähren, dass Tonbeziehungen als Beziehungen zwischen Tönen denkbar sind, d. h. nicht nur als Beziehungen auf einen Bezugspunkt, die Tonika. Mit Blick auf jenes ‚Tonreihen‘Kriterium erreicht Schönberg den weiten Tonalitätsbegriff, mit dem er gegen die Möglichkeit eines Gegensatzes zu Tonalität argumentiert (und damit für Tonalität im weiten Sinn des ‚Ton‘-Vorbilds) : „Daß sich von dieser einzig richtigen Definition kein vernünftiger, dem Wort Atonalität entsprechender Gegensatz bilden läßt, muß einleuchten. Wo läßt sich hier die Negation anbringen: Soll nicht alles, oder nicht was aus einer Tonreihe hervorgeht die Atonalität charakterisieren?“320
Als ‚atonal‘ wäre also nur ein solches Klangliches denkbar, bei dem entweder nur manches, oder gar nichts aus einer ‚Tonreihe‘ hervorginge. Die ‚Tonreihe‘ erweist sich damit als die zentrale Instanz des Ordnungsstiftens. Dass das Erzielen von Tonalität dabei nicht auf beliebig herstellbare Tonbeziehungen zielen kann, sondern auf der Annahme einer präexistenten und zu erschließenden Ordnung beruhen muss, lässt sich mit Gerhards Tonalitätsdefinition in TTM erkennen. Auch bei Gerhard erweist sich die Aufstellung/ Setzung einer ‚Tonreihe‘ als unverzichtbar. Die ‚Tonreihe‘, die bei Gerhard sowohl eine Skala (ein unordered set) wie auch eine Reihe (ordered set) sein kann, fungiert hier als tonmaterieller Träger, an welchem sich die Ordnung des ‚Ton‘-Vorbilds manifestiert. Allein dieser materielle Träger lässt sich bewusst setzten (nicht aber die genannte Ordnung). „Tonality, I suggest, is an all-embracing principle of correlation based upon an a priori arrangement of our tone-material: this arrangement to be understood as an instituted order in which the value attached to any single element is relative to and emanates from the whole. Any method of composition which strictly adheres to and is ruled by such an order can be properly said to manifest the principles of tonality. Tonality, therefore, can manifest itself in many different ways. What has hitherto been called ‚tonality‘ by autonomasia[sic], that is, the order based upon the diatonic scale and the common chord was accurately defined by Tovey as ‚the harmonic perspective of music‘. […] In twelve-tone music the principle of tonality manifests itself in the strict adherence to the a priori arrangement of the twelve notes as shown in the given ‚series‘ and, consequently, in the fact that the ‚series‘ is the key by which to determine the values attached to any notes and their relations.“321
Tonalität ist nach Gerhard ein Korrelationsprinzip, das auf einer ‚Tonreihe‘ basiert (davon ableitbar ist), wobei diese ‚Tonreihe‘ (Skala oder Reihe) eine Setzung darstellt, bei welcher der Stellenwert jedes einzelnen Elements (jedes Skalen- oder Reihentons) aus der Relation jener Setzung zum Ganzen resultiert und aus jenem Ganzen ‚emaniert‘.322 Dieses Ganze lässt sich dabei dechiffrieren als Schönbergs ‚We320 Ebd. 321 Roberto Gerhard, TTM, S. 121. 322 Mit Blick auf jene Tonalitäts-Definition verweist auch Andreas Holzer auf die Weite von Gerhards Tonalitätsbegriff: „Nicht zuletzt Schönberg versucht in den späteren Auflagen seiner Harmonielehre den Tonalitätsbegriff zu einem allgemeinen Ordnungsprinzip auf Basis der zwölftönigen chromatischen Skala auszudehnen. In seinem Gefolge sieht Roberto Gerhard in Tonalität
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sen des Tons‘ bzw. die Gesamtheit präexistierender Bezüge zwischen Tönen. Demnach ist die ‚Tonreihe‘ zwar unabdingbares Hilfsmittel zur Erzielung von Tonalität, hat dabei aber nicht die Funktion, Bezüge zwischen Tönen herzustellen; sie fungiert vielmehr als ein Instrument oder Medium, vermittels dessen sich jene Ordnung des Ganzen aktualisieren und erschließen lässt. So lässt sich auch in der Zwölftonkomposition die Reihe als „the key by which to determine the values attached to any notes and their relations“323 verstehen, und damit als ein Mittel (tatsächlich ‚Schlüssel‘), mit dem vorhandene Tonbeziehungen und Wertigkeiten von Tönen erschlossen werden können. Der instrumentelle Charakter der ‚Tonreihe‘ lässt sich dabei zum instrumentellen Charakter von Ideen im pragmatischen Denken Unamunos in Bezug setzen. Für Unamuno fungieren Ideen als ‚Brennstoff‘ („combustible“324) des Glaubens bzw. Wollens und sind bloßes Medium und Hilfsmittel zum Leben und Handeln, und damit zur Konstitution von Realität (siehe Kapitel II.1.2.1). Um eine Idee zu beherrschen (und nicht durch sie beherrscht zu werden) ist es nach Unamuno notwendig, sich ihrer zu entledigen, nachdem sie gebraucht wurde: „Vivir todas las ideas para con ellas enriquecerme yo en cuanto idea, es a lo que aspiro. Luego que les saco el jugo, arrojo de la boca la pulpa; las estrujo, y ¡fuera con ellas!“325
Hier lässt sich sicherlich eine gedankliche Vorlage für Gerhards Äußerung finden, nach der präkompositionelle Vorordnungen (eine Methode) im Schaffensprozess des Komponisten nicht mehr seien als ein ‚Baugerüst‘, das nach Fertigstellung der Musik zu verschwinden habe.326 Was nach Abschluss der Komposition bleibt, ist die vermittels der Idee ermöglichte Aktualisierung von Gesetzmäßigkeiten des ‚Tons‘, die im Klanglichen und im Zeitlichen in Existenz gebrachte und sich manifestierende ‚höhere Realität‘.
323 324 325 326
überhaupt nur mehr ein Korrelationsprinzip in Bezug auf irgend ein a priori angelegtes Arrangement des Tonmaterials.“ (Andreas Holzer, Eigensysteme von Komponisten, in: Musiktheorie, hrsg. von Helga de la Motte-Haber, Laaber 2005, S. 461.) Beiche fasst den Passus zusammen, ohne genauer auf die instrumentelle Rolle der Zwölftonreihe bei der Erzielung von Tonalität einzugehen: „Zum anderen wird der Ausdruck [Tonalität, G. L.] zweifelsohne im Sinne von Schönbergs Äußerungen ebenfalls auf dessen Zwölftonreihentechnik angewendet; Gerhard etwa definiert Tonalität als ‚allumgreifendes Korrelationsprinzip, das auf einer zuvor festgelegten Anordnung unseres Tonsystems basiert‘ und von dem es viele verschiedene Ausprägungen geben könne, so auch die Form der sogenannten Zwölftonreihe.“ Michael Beiche, [Artikel] Tonalität, in: HmT (1992), Reprint in: Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert , S. 432. Roberto Gerhard, TTM, S. 121. „El que calienta las ideas en el foco de su corazón es quien de veras se las hace propias; allí, en ese sagrado fogón las quema y consume, como combustible.“ Miguel de Unamuno, La ideocracia, S. 430. Ebd. „[…] „a scaffolding that is meant to help him erect his sound-edifice. Once the music is there, the scaffolding has got to disappear, naturally.“ Roberto Gerhard, Functions of the Series in Twelve-Note Composition (1960), in: GoM, S. 173. Gerhard kritisiert in diesem Zusammenhang eine Überbewertung von Methode im Kontext des Serialismus und der Protagonisten der Darmstädter Ferienkurse für neue Musik: „[…] it seems peculiarly wrong that an artist should come to believe in a sort of raison de système, which imagination knows nothing of […], that the artist should come to hold – as is the case in certain circles nowadays – that method in and by itself can validate a work of art.“ Ebd.
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Man kann in Gerhards Tonalitätsbestimmung drei Faktoren erkennen: a) Natur: Bezüge zwischen Tönen, eine anscheinend ungeordnete Natur, von der aber angenommen wird, dass es sich eigentlich um eine präexistente Ordnung handelt, da sie Regelhaftigkeiten aufweist und ‚empfänglich‘ ist für diverse hineinsehbare (einander nicht widersprechende) Ordnungen. b) Der präkompositionelle Bereich: die Reihe und ihr serial field oder das einer bestimmten Skala entsprechende Korrelationssystem (etwa die leitereigenen Akkorde einer Skala als ableitbare vertikal-akkordische Dimension). Diese gesetzte Materialordnung ist in der Reihe oder Skala als Information komprimiert und gespeichert. Dabei können die von Auner untersuchten schönbergschen Reihentafeln (siehe Kapitel I.2) zeigen, dass es sich beim serial field nicht allein um eine Material-Bereitstellung handelt, sondern bereits eine hypothetische Ordnungsfindung damit verbunden ist und sich ein serial field als eine Quasi-Topographie des präexistenten Tonbezugsraums denken lässt. Man kann aus jenem Fall ersehen, dass es sich bei der Reihe nicht um eine willkürliche Setzung handelt, sondern idealerweise bereits um eine ‚Kontaktnahme‘ mit a). c) Der kompositionelle Bereich: Erschließung einer Ordnung in der Natur a) auf der Grundlage dessen, wie sich Natur vermittelt durch b) – die durch eine Reihe oder Skala repräsentierte Topographie von Tonbezügen – bietet.327 In Bezug auf die diatonische (‚alte‘) Tonalität hatte Gerhard geäußert, die Komposition (quasi c)) reflektiere die durch das Tonmaterial gegebene präkompositionelle Vorordnung (b)): „Tonalitat = un ordre a priori, en el material (anterior a l’obra) que l’obra reflexa.“328
Hier lässt sich an den quixotischen Code anknüpfen – die pragmatische Auffassung vom quixotischen Rittertum-Ideal. Analog zu Gerhards Tonalitätsdefinition wäre: a) die ‚höhere Realität‘, die Don Quixote in die bunte, lebensvolle Realität, der er gegenübersteht, hineinzusehen vermag und welche eine Ordnung in der zuweilen ungeordnet erscheinenden Realität darstellt, b) Don Quixotes Rittertum-Idee bzw. sein Wahn (der von Alonso Quijano um den Preis des Vernunftopfers sich selbst gesetzte Lebensentwurf), und c) die Abenteuer Don Quixotes, in denen die Idee zur Anwendung kommt. In dieser Tonalitätsdefinition Gerhards sind die grundlegenden Elemente früherer Äußerungen über Tonalität enthalten: Tonalität als unveränderliche Naturordnung und ‚Leben‘ a); in Bezug auf b) sahen wir, dass Gerhard relativ spät die Bedeutung gesetzten Tonmaterials für methodisches Vorgehen im Schaffensprozess erkannte und damit ein erneuter Zugang zur Zwölftonkomposition möglich wurde, und c): 327 In ganz ähnlicher Weise analysiert Luchterhandt die Zusammenhänge zwischen Schönbergs Konzept des musikalischen Raumes, dessen Reihentabellen und der konkreten Komposition. Gegenüber Schönbergs musikalischem Raum ließen sich, so deutet Luchterhandt, „Schönbergs Reihentabellen als spezielle Koordinatensysteme verstehen, gleichsam als Raum der durch eine konkrete Grundgestalt vorstrukturierten Möglichkeiten. Das konkrete Werk führt einige dieser Möglichkeiten aus und bildet insofern wiederum einen ‚Unterraum‘.“ Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“, S. 86. 328 Siehe Anm. 317.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
Vormals war eine Kontaktnahme mit dem ‚Ton‘ durch die Handwerkslehre reguliert, nun tritt an die Stelle des Handwerks die methodisierte Erschließung des Tonbezugsraums durch die Reihe. Während sich in Schönbergs Tonalitätsreflexion sowohl die Natur des Tons als auch deren Nachahmungen als Tonsystem oder ‚Tonreihe‘ (d. h. sowohl Ebene a) als auch b)) im Sinne einer Material- oder Objektebene auffassen ließen und als solche von der künstlerischen Ebene des ‚musikalischen Denkens‘ (der Subjektebene) trennbar waren, stellt sich bei Gerhard lediglich die ‚Tonreihe‘ (Ebene (b)) als Materialebene dar, während sich die Natur (Ebene a)) nun vielmehr als eine immaterielle Bezugsordnung darstellt. Bemerkenswert ist dabei, dass die Materialebene (b)) nicht einfach gegeben ist, sondern, wie eine Sichtweise oder Perspektive, gesetzt werden muss. Derart konnte bei Gerhard sowohl der Reihe (ganz gleich ob sieben, neun oder zwölf Töne umfassend) wie auch der Skala (ganz gleich ob diatonisch, oktatonisch oder chromatisch) der gleiche Rang einer Materialsetzung zukommen, und es wäre vor diesem Hintergrund nun nicht mehr angebracht, die Zwölftontechnik als Artefakt gegenüber der vermeintlich naturähnlichen Dur-MollTonalität abzugrenzen.329 Denn es ließe sich, in Anlehnung an den HarmonielehreSchönberg, einwenden, dass sich das Dur-Moll-System gegenüber dem ‚Ton‘ ebenso als ein Artefakt, nämlich als etwas kulturell Gewordenes, darstellte. Gerhards Praxis Akkord- und Reihenklassifizierungen zu erstellen lässt sich gewissermaßen als Verlängerung der präkompositionellen Setzung einer Skala oder Reihe sehen. Beides dürfte der Erschließung präkompositioneller Beziehungen zwischen Tönen gedient haben. In der Tatsache, dass Schönberg solchen Klassifizierungen wenig Verständnis entgegenbrachte, zeigt sich deutlich die Differenz gegenüber Gerhard. Gervink äußert, Schönberg habe „sich um eine Reihensystematik nie gekümmert. Vielleicht gerade, weil diese Arbeit bereits von seinem Konkurrenten Josef Matthias Hauer geleistet worden war, sicherlich aber, weil sein künstlerisches Verständnis solchen Systematisierungsversuchen zuwiderlief.“330 Ein Grund für Schönbergs Verzicht auf eine systematische Klassifizierung von Reihen könnte darin gelegen haben, dass Schönberg in einer präkompositionellen Vorordnung eine mit dem Schaffen des Künstlersubjekts tendenziell konkurrierende Ordnung gesehen haben könnte.331 Bei Gerhard dagegen lässt sich eine präkompositionelle Setzung primär als ein Hilfsmittel und nicht als eine Beschneidung kreativen Schaffens begreifen. Gerhards Selbstverständnis gleicht darin dem eines Wissenschaftlers, 329 Manuel Gervink bemerkte, mit der Zwölftontechnik habe Schönberg „einen Ersatz für die überwundene Dur-/Moll-Tonalität schaffen“ wollen, „die er wegen ihrer Nähe zum Obertonspektrum als naturgebunden ansah. Die Zwölftontechnik hingegen war ein Artefakt.“ Manuel Gervink, Einsamkeit und Isolation – Interpretationsansätze für die Innovationen im Werk Arnold Schönbergs, in: AfMw 53 (1996) Heft 2, S. 175. 330 Ders., Die Strukturierung des Tonraums. Versuche einer Systematisierung von Zwölftonreihen in den 1920er bis 1970er Jahren, in: Systemische Musikwissenschaft. Festschrift Jobst Peter Fricke, hrsg. von Wolfgang Auhagen/Bram Gätjen/Klaus Wolfgang Niemöller, Köln 2003, bislang nicht im Druck erschienen, als pdf-Datei online abrufbar unter: http://www.uni-koeln.de/ philfak/muwi/fricke/323gervink.pdf (letzter Zugang am 9.01.2015, S. 323. 331 Ebenso wie Schönberg in Bezug auf die Aufstellung von ‚Tonreihen‘ bezweifelt hatte, dass man „vorkonstruieren muß, was erfunden sein sollte […].“ Siehe Anm. 313.
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der vermittels einer Hypothese eine unerschlossene Realität in Form von Wissen erschließt, und weniger demjenigen, der ‚aus sich heraus‘ eine Gegenrealität schafft.332 Schaffen bedeutet für Gerhard insofern: Aktualisieren präexistenter Bezüge zwischen Tönen, nicht aber willkürliches Erzeugen haltlos subjektiver Phantasterei. Dies entspricht dem Heroentypus Don Quixotes. Bei Unamuno ist Don Quixote heroisch, weil er sich als Idee seiner selbst in Existenz bringt und damit den ihm eigenen Ort im Welt- bzw. Kollektivbewusstsein erschließt (siehe Kapitel II.2.1), nicht aber weil er seine Phantasien der vorhandenen Realität entgegenstellt. Für Gerhard bewahrt die Leitidee einer Natur des Tons auch im Kontext der Zwölftonkomposition Bedeutung, während Schönbergs Vorstellung von Tonalität zunehmend im ‚musikalischen Gedanken‘ aufgeht und jegliche Anbindung an harmonikales Gedankengut verliert. Einhergehend mit dem Abstraktwerden des schönbergschen ‚musikalischen Gedanken‘ hin zur „Grundidee“ einer Komposition333 und sogar „zu einem überzeitlichen Abstraktum, einer Idee“334 lässt sich ein Bedeutungsverlust von Tonalität erkennen.335 Die hauptsächliche Aufgabenstellung seiner ganz im Zeichen des ‚Gedanken‘ projektierten Kompositionslehre beschrieb Schönberg im Sinne einer Untersuchung der Bedingungen von Zusammenhang (im 332 Dem entspricht Gerhards Ablehnung einer Ausdrucksästhetik. Die folgende Eintragung in einem Notizbuch Gerhards thematisiert den (empirischen) Realitätskontakt als zu bewältigendes Problem (‚Abenteuer‘), das den Erkenntnisprozess antreibt. Dahinter steht die Einsicht in die Relativität jeglichen Realitätszugangs. Der im Ganzen unfassbaren Realität steht die veränderliche und partielle Ansicht auf Realität (in Form einer ‚Impression‘) gegenüber, die für Gerhard als Bedingung jeglichen Realitätszugangs und jeglicher Kritik gelten muss. Diese Bedingung zeichnet jeden Realitätszugang für Gerhard als potenziell ‚quixotisch‘ aus, und Gerhards Behauptung, am Ende eines Erkenntnisvorgangs stehe eine Impression, kann implizieren, dass jenes Resultat des Erkenntnisprozesses immer auch die Gefahr birgt, sich als Illusion zu erweisen. Bemerkenswert ist bei jenem Gedankengang der Hinweis auf die Vorbildhaftigkeit wissenschaftlichen Erkennens für das Erkennen im Allgemeinen: „Not Self-expression. On the contrary: experience, adventure is the driving force: call it research (adventurous research). Searching for what? The answer must be vague – like so often the scientist’s. The behaviour of the whole apparatus will indicate itself whether the operations proceed at least in the right direction. [Der folgende Passus ist eingekastet bis *:] The results, if any, are not easy to ‚estimate‘: 3-fold relation, subject-object-impression, since the object clearly can never be grasped in itself as a whole in its entirety but leaves only impressions (partial) that, of their very nature, can never repeat themselves exactly, but change, often considerably each time. Criticism, also, can only be conceived as an adventure. At the bottom of* the bottom of the bottom we’re all quixotic.“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.109 [Unterstreichungen von Gerhard]. 333 Siehe Anm. 260, Kapitel I.3.3. 334 Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“, S. 88 f. 335 Es wurde bereits herausgestellt, dass sich Schönbergs Auffassung von Tonalität auf die eines ersetzbaren und verzichtbaren ‚Kunstmittels‘ verengte und die gliedernden und formbildenden Aspekte von Tonalität damit in den Dienst der ‚Gedanken-Darstellung‘ gerückt werden konnten. Luchterhandt konstatiert eine Herabstufung von Schönbergs „früher universale[m] Verständnis von Tonalität, welche werkbezogen darzustellen war“ zum „Spezialfall musikalischen Denkens“. (Ebd., S. 90.) Er stellt fest, in der Harmonielehre sei ein noch umfassendes Tonalitätskonzept vorzufinden, „denn in Schönbergs Vorstellung vom organischen Werkzusammenhang bildet die Tonalität gleichsam die Seele“, und bemerkt: „Erst später wird deren substanzielle Bedeutung zur austauschbaren (Darstellungs-)Funktion: Die Substanz verlegt sich auf den abstrakten Gedanken.“ (Ebd., S. 64.) Zum Bedeutungsverlust von Tonalität siehe auch ebd., S. 88 f.
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musikalischen Bereich), um dabei „die in den Werken der Tonkunst herrschenden Form-Gesetze zu finden […].“336 Mit Bezug auf die erkenntnistheoretische Ebene stellte Schönberg klar, sich auf „die Darstellung des Verhältnisses des Rein-Substanziellen der Musik zum menschlichen Verstandesvermögen“ zu beschränken und damit „alles Metaphysische, z. Bsp.“ ausschließen zu wollen:337 „Ja, überzeugt von einer höheren Korrespondenz zwischen Physis und Metaphysis, hat er [der Autor, G. L.] sich sogar vorgestellt letzteres auch dort, wo nicht auszuschalten, so doch nebensächlich zu behandeln […].“338 Hier wird die bereits in der Harmonielehre angenommene „Wechselwirkung“339 zwischen Subjekt und Objekt (oder: Physis und Metaphysis) zum Argument dafür, die Ebene des Objekts bzw. von Natur (dem ‚Ton‘ als quasi ‚Ding an sich‘) völlig auszuklammern und das Augenmerk ganz auf (musikalisch-)menschliches Denken und dessen Gegenstände zu richten.340 Das Ausklammern der Natur- und Objekt-Ebene kann darauf hinweisen, dass Schönberg eine fortgesetzte Thematisierung erkenntnistheoretischer Probleme, die er in der Harmonielehre aufgeworfen hatte, im Rahmen einer Kompositionslehre als fruchtlos erachtete.341 Mit dem Ausklammern dieser Ebene verschwand allerdings auch die in der Harmonielehre noch vorzufindende lebensphilosophische Färbung des Tonalitätsbegriffs. Dennoch lassen sich Verbindungslinien zwischen der ‚Gedanke‘-Reflexion und der umfassenden Tonalitätsreflexion in der Harmonielehre ziehen. In Schönbergs 336 Arnold Schönberg, Der musikalische Gedanke und seine Darstellung und Durchfuehrung, o. D., T37.07–08 [= Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 2: Quellen, S. 723. Dabei sei, so Schönberg, „[d]ie Frage nach dem Zusammenhang […] – obwohl sie hier ausschließlich behandelt wird – nicht die einzige die zwecks Ermittlung der musikalischen Formgesetze gestellt werden kann.“ (Vgl. ebd.) Musikalischer Zusammenhang stellt sich damit als eine der möglichen Bedingungen für Formbildung dar, was darauf hinweist, dass der ‚Gedanke‘ oder die musikalische Substanz nicht zur Gänze in strukturellem Zusammenhang aufgehen. 337 Vgl. ebd. 338 Ebd., S. 723 f. 339 Siehe Anm. 199, Kapitel I.3.1. 340 Gleichwohl beschreibt Schönberg dieses Denken als „unbewusstes höheres Denken“: „Es soll der musikalische Geist hier einmal rein als Verstand dargestellt sein, als das, was sich musikalisches Gefühl und Ahnen auf einer höheren Ebene enthüllen. Es soll das, was der Künstler beim Schaffen unbewußt und gefühlsmäßig tut, hier so dargestellt werden, wie er es täte, wenn er sich seines Handelns bewußt würde. Es soll damit ein Teil der musikalischen Logik wiedergegeben werden, die man als vorhanden voraussetzen muß, sofern man nicht bloß annimmt, Musik sei nur ein Spiel und nicht daß sie ein wenn auch unbewusstes höheres Denken ist.“ (Arnold Schönberg, Der musikalische Gedanke und seine Darstellung und Durchfuehrung, o. D., T37.07–08 [= Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 2: Quellen, S. 724 [Unterstreichung von Schönberg].) Hier könnte man die Idee einer Kontaktnahme des Subjekts mit Gesetzmäßigkeiten des ‚Ton‘-Objekts vermittels des Unbewussten und der Intuition aus der Harmonielehre wiedererkennen. 341 Eine vertiefte Diskussion des ‚Ton‘-Objekts hätte überdies den Verdacht des Physikalismus aufkommen lassen können. Um diesen Verdacht auszuräumen, hätte Schönberg sich noch eindeutiger, als er dies in der Harmonielehre tat, hinsichtlich der Ontologie des ‚Tons‘ positionieren müssen (z. B. mit Blick auf eine möglicherweise subjektivistische oder lebensphilosophische Betrachtung des ‚Tons‘ nicht als Objekt, sondern etwa als Inbegriff des ‚Wollens‘).
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Vorstellung eines einheitlich anzuschauenden musikalischen Raums, die mit der ‚Gedanke‘-Reflexion verbunden ist, ist ein Nexus zur früheren Vorstellung von zu erschließenden Gesetzmäßigkeiten im ‚Ton‘ auszumachen. Luchterhandt bemerkt: „Hinter der in der Harmonielehre geäußerten Vorstellung, spätere Generationen möchten Gesetze finden, die heute Unbegreifliches erklären, kündigt sich bereits so etwas wie ein universeller ‚Raum‘ an, in dem ‚alles schon da ist‘. Die Idee des ergebnisoffenen Fortschritts weicht, so gesehen, der individuellen Durchdringung dieses abgeschlossenen Raumes, dessen zeitlos vorstrukturierte Möglichkeiten lediglich noch aufgedeckt werden müssen.“342
Luchterhandt betont allerdings den spekulativen Charakter der von Schönberg zu jenem präexistenten Tonbezugsraum gemachten Äußerungen: „Ungeachtet dessen ist der Geist der Harmonielehre ein offener; Entsprechende Bilder und Vorstellungen dienen hier eher der Abwehr voreiliger Kategorisierungen, denn eigentlich lehnt Schönberg ‚ewige‘ Gesetze ab und beruft sich auf Individualität und Werkimmanenz. Insofern stehen sich in der Harmonielehre das Auffinden (‚Teilhabe am Raum der platonischen Ideen‘) und das Erfinden (‚Einfall‘, ‚Autonomie des Individuums‘) noch eher unvermittelt gegenüber.“343
Der Aspekt des Auffindens einer Ordnung, der von Luchterhandt so bezeichneten „Teilhabe am Raum der platonischen Ideen,“ lässt sich mit der akustischen Grundlagenebene von Tonalität (von Gerhard in der Millet-Kontroverse als „inherent rationality“344 im Klangmaterial bezeichnet) in Verbindung bringen und zeigt diese zugleich als Raum, d. h. als eine relationale Ordnung (und nicht eigentlich als ein ‚Ton‘-Objekt oder -Material). Enge Berührungspunkte zwischen ‚Gedanke‘ und Tonalität zeigen sich auch, wenn Schönberg den ‚musikalischen Gedanken‘ eines Werks im Sinne eines Konfliktausgleichs zwischen Tonhöhen (eines Ausgleichs quasi miteinander um die ‚Grundtonherrschaft‘ konkurrierender Obertonreihen) beschreibt: Jeder Ton, der einem Anfangston hinzugefügt wird, macht dessen Bedeutung zweifelhaft. Wenn zum Beispiel G auf C folgt, kann das Ohr nicht sicher sein, ob dadurch C-Dur oder G-Dur, oder sogar F-Dur oder e-Moll ausgedrückt wird; und die Hinzufügung anderer Töne kann dies Problem klären oder nicht. Auf diese Weise wird ein Zustand der Unruhe, der Unausgewogenheit erzeugt, die fast das ganze Stück hindurch wächst […]. Die Methode, durch die das Gleichgewicht wiederhergestellt wird, scheint mir der eigentliche Gedanke der Komposition. Vielleicht könnte man die häufigen Wiederholungen von Themen, Gruppen und selbst längeren Abschnitten als Versuch zu einem frühzeitigen Ausgleich der innewohnenden Spannung ansehen.“345
Luchterhandt erkennt in diesem Abschnitt eine „frappierende Analogie zu Schönbergs Tonalitätsdefinition der Harmonielehre, denn was Schönberg hier beschreibt, ist de facto eine tonale Unruhe! Auch das tonale Gleichgewicht eines Stückes aber wird durch das Austarieren einer solchen anfänglichen ‚Konkurrenzsituation‘ erreicht […].“346 342 343 344 345
Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“, S. 85. Ebd. Siehe Anm. 243, Kapitel, I.3.3. Arnold Schönberg, Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, S. 33. (Den Hinweis auf diese Textstelle entnehme ich Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“, S. 89.) 346 Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“, S. 90.
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Den Aspekt des Tonalen vom ‚Gedanken‘ zu trennen, erscheint vor diesem Hintergrund geradezu abwegig. (Auch an dieser Stelle mag man sich fragen, wie es dazu kommen konnte, dass die bei Schönberg mit der ‚Gedanke‘-Reflexion verknüpfte Zwölftonmethode den Weg hin zu einer vollzogenen Tabuisierung von Tonalität im Nachkriegs-Serialismus bahnen konnte.) Die Nähe zwischen ‚Gedanke‘ und Tonalität betrachtend, ließe sich sogar vermuten, dass Schönbergs einheitlich anzuschauender musikalischer Raum nicht trennbar ist von der Vorstellung des als Tonbezugsraum fassbaren ‚Ton‘-Vorbilds der Obertonreihe aus der Harmonielehre und gedanklich darauf basiert.347 Beide Raumvorstellungen stellen eine präexistente Ordnung dar, und beide rühren an die Grenzen des menschlichen Vorstellungsapparats und erfordern eine Überwindung gewohnter Anschauungs- oder Denkformen – die Überwindung einer in Horizontale und Vertikale gespaltenen Raumauffassung in dem einen (späteren) Fall, die Überwindung eines für natürlich gehaltenen tonalen Systems in dem anderen (früheren). Räumt man eine derartige Vergleichbarkeit jener beiden Raumvorstellungen ein, dann lässt sich einsehen, dass die Fortsetzung der in der Harmonielehre aufgeworfenen Aufgabe einer Annäherung des Hörens und des Begreifens an das ‚Ton‘-Vorbild unter den Bedingungen der Zwölftontechnik keineswegs abwegig war. Es war möglich, die Vorstellung des einheitlich anzuschauenden musikalischen Raums in jene Vorstellung eines harmonischen Tonbezugsraums zu integrieren und auf diese Weise mit Schönberg (und nicht gegen ihn) an der vorrangig harmonisch bestimmten Raumvorstellung der Harmonielehre festzuhalten. I.3.4.1 Beziehungen zwischen Tönen, oder: Tonalität ohne Tonika? Die ‚Tonreihe‘ lässt sich in Gerhards Tonalitätskonzept als eine wesentliche Komponente auffassen, während die Tonika, wie zu sehen sein wird, als ein nur akzidentelles und nicht wesentliches Merkmal von Tonalität gelten kann, und dies stellt sich bei Schönberg anders dar.348 347 Wenn in der Harmonielehre im Zusammenhang mit dem Suchprozess nach der Natur der Tons von einem stets aufs Neue zu erreichendem Erlangen von „Harmonie“ die Rede war, welche als „Ausgeglichenheit – nicht Bewegungslosigkeit untätiger Faktoren, sondern Gleichgewicht aufs höchste angespannter Kräfte“ (Anm. 224) verstanden werden solle, und wenn im Kontext eines solchen Konfliktausgleichs davon die Rede ist, dass das „Leben in der Kunst darzustellen“ sei (vgl. Anm. 293), dann lässt sich für diesen Anspruch (des Kunstwerks als ‚Harmonie‘ und Reflexion von ‚Leben‘) kaum eine bessere Vorstellung finden, als die oben genannte eines tonalen Konflikausgleichs, die Schönberg im Zusammenhang mit dem ‚musikalischen Gedanken‘ anbrachte. 348 Wie Andreas Jacob bemerkt, stellt der gemeinsame Bezug aller Teile eines Musikstückes auf einen Grundton für Schönberg die wesentliche Leistung der Tonalität dar und wird von diesem konstant als Charakteristikum der Tonalität betont. (Vgl. Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 1: Darstellung, S. 379.) Die Bestimmung von Tonalität durch den Grundtonbezug weise dabei zugleich auf die „Ableitung der Tonalität aus den Gegebenheiten des Tons, nämlich seinem mitschwingenden Obertonspektrum hin.“ (Ebd., S. 380.) Die „von Riemann eingeführte Einsetzung des Grunddreiklangs der Tonika als Bezugspunkt
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Gerhards Gebrauch diatonischer Skalen legt es zuweilen nahe, variable Modi und Grundtöne in einen diatonischen Tonvorrat ‚hineinzusehen‘. In die Richtung eines akzidentellen Charakters der Tonika zielt beispielsweise der linear-polyphone Begleitsatz des Lieds La Calandria („Die Lerche“), des ersten aus Gerhards Sis cançons populars catalanes (1928). In jenem Lied lässt sich eine weitgehende Beschränkung auf prinzipiell ein diatonisches (zum quintunteren Tonraum hin erweitertes) Skalenmaterial um den diatonischen Tonvorrat von E-Dur oder cis-Moll ausmachen,349 das zugleich polymodal erscheint, da die einzelnen Stimmen des Satzes unterschiedliche (tonika-ähnliche) melodische ‚Ruhepunkte‘ aufweisen, sodass sich von einer Schichtung unterschiedlicher Modi sprechen lässt. Diese ‚Ruhepunkte‘ in den Stimmen des polyphonen Satzes stellen sich als ein quasi variables, und damit erst sekundäres Kriterium einer primär durch ihren Tonvorrat definierten Tonalität dar.350 Hierbei sorgt die gegenseitige ‚Durchkreuzung‘ der unterschiedlichen ‚Ruhepunkte‘ und Modi trotz des (in Bezug auf den Tonvorrat) relativ einheitlichen Tonmaterials für Expressivität und für Dissonanzen. Der schlicht-kunstvolle Satz des Lieds kann als Beispiel dafür herhalten, dass auf der Basis eines begrenzten diatonischen Tonvorrats vielfältige und expressive Tonbezüge ausgeschöpft werden können, und dass sich die Diatonik von der Bindung an eine einzige Tonika loslösen und ein schwebendes, nicht-tonales Klangbild entwickeln kann. Die Frage eines Grundtons wird hier ausgehebelt und entkernt. Dies betrifft ebenfalls das Beispiel der „Chacona de la venta“ aus Don Quixote, der (bei nicht-polyphoner Satzweise) ebenfalls ein diatonischer Tonvorrat mit unterschiedlichen ‚hineinsehbaren‘ Toniken zugrunde liegt, was auch hier für den Setzungscharakter einer Tonika spricht (siehe Kapitel III.2.2). des tonalen Gefüges […]“ werde von Schönberg „ebenfalls – zumindest ansatzweise – adaptiert.“ Ebd. 349 Das vertikale Aufeinandertreffen von d und dis auf engem Raum (siehe T. 5, Singstimme und Bassstimme, T. 16 Klaviersatz) kann auf die genannte Erweiterung des Skalenmaterials hin zur quinttieferen Diatonik weisen, die Vorzeichen könnten sich aber auch im Sinne von Akzidentien, also als leitereigene Varianten des prinzipiell selben Tonvorrats, auffassen lassen. Man könnte somit das dis als leittonhaft erhöhte siebte Stufe von E-Mixolydisch betrachten. 350 Ohne Vorzeichnung notiert, wird in allen vier Stimmen des Klavierbegleitsatzes und der Gesangsstimme ein Skalenmaterial mit vorwiegend vier Kreuzen verwendet, das modal unterschiedlich deutbar ist. Zwar könnte die zwischen cis und d pendelnde Bassstimme im Klaviersatz eine tonale Aufhebung nach cis-Moll anzeigen, dagegen stehen aber die in der Melodik der anderen Stimmen angesteuerten unterschiedlichen ‚Ruhepunkte‘, mit denen ein Grundton in der Schwebe gehalten wird. In der ersten Strophe des Liedes lässt sich die erste Melodiezeile der Singstimme (T. 4–6) als gis-Phrygisch auffassen; in den beiden oberen Stimmen des Klaviersatzes lassen sich die Melodiesegmente als zu E-Dur gehörig verstehen. Die beiden unteren Stimmen sind hingegen, indem sie d (statt dis) beinhalten, als im quintstrukturierten Tonraum anliegendes A-Dur (mit der Terz cis in der ostinatoartigen Bassstimme) und gegen Ende der Strophe als fis-Moll begreifbar. (Dabei könnten theoretisch A-Dur als E-Mixolydisch, und fisMoll als cis-Phrygisch betrachtet werden.) Man kann also von einer weitgehenden Beschränkung auf prinzipiell ein (zum oberen oder zum unteren Tonraum hin erweiterbares) Skalenmaterial ausgehen, in das unterschiedliche Modi hineingesehen werden. Die Abzirkelung der Modi wie auch des Skalenmaterials wird hier als die Angelegenheit einer miteinkomponierten ‚Perspektive‘ vorstellbar, einer ‚Perspektive‘, die unterschiedliche ‚Ruhepunkte‘ bzw. Toniken in denselben diatonischen Tonvorrat ‚hineinsieht‘.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
In einem undatierten und wahrscheinlich von Gerhard verfassten Text der Jahre in Barcelona (d. h. nach der Lehrzeit bei Schönberg und vor der Emigration nach Cambridge) äußert sich Gerhard in Bezug auf eine Verzichtbarkeit der Dur-MollTonalität (von Tonarten und einer Tonika) in ganz ähnlicher Weise wie Schönberg dies in der Harmonielehre getan hatte. „[…] angesichts der Harmonik eines Reger[,] eines Strauss, die sich oft mehr ausserhalb als innerhalb der vorgezeichneten Tonart bewegt[,] wurde die Frage akut, ob die Aufrechterhaltung eiener[sic] Grungtonart[sic] nicht nur mehr die Aufrechterhaltung einer Fiktion geworden sei; ob die Vorzeichnung einer Tonart am Rande der Zeile (die ursprünglich das Lesen erleichtern sollte) mehr sei wie ein leerer Formalismus, der das Noten lesen erschwert; ob die Musik denn wirklich unbedingt und für alle Zeiten tonal sein müsse; ob sie dies in vielen Fällen vielmehr schon gar nicht mehr sei, wo sie es noch zu sein vorgibt.“351
Ebenso wie Schönberg zielt Gerhard auf die Verzichtbarkeit der Tonalität ab, was auf den hier noch engen Tonalitätsbegriff der Dur-Moll-Tonalität hinweist, d. h. die Zukunft wird in einer Überwindung der Tonalität und nicht in einer Anknüpfung an Tonalität im weiten Sinn gesehen (dass der Begriff ‚atonal‘ hier ohne Anführungszeichen erscheint,352 kann – hierzu passend – darauf hinweisen, dass ‚atonal‘ in diesem Fall nicht in einem abwertenden Sinn auftaucht). Gerhard nimmt auf die spezifischen Schlussbildungen in den ersten „bewusst ohne Tonart, atonal“353 komponierten Stücken Bezug und fährt fort, eine neue nicht-tonale Ordnung in Aussicht zu stellen: „Atonal ist also die Musik, welche aus der durch die gr[ö]ssten Meister angebahnten Entwicklung der Harmonik und Melodik die natürliche Konsequenz gezogen hat, die Musik, welche keine Tonarten mehr kennt. Das bedeutet keineswegs Anarchie, sondern nur eine neue Ordnung. Jeder musikalische Sinn und Zusammenhang beruht darauf, dass Töne als Bestandteile 351 Roberto Gerhard [?], Was ist atonale Musik?, (unvollständiger Text ohne Angabe des Verfassers, bricht nach der vierten Seite ab, Typoskript, deutsch), IEV Valls/Fons Robert Gerhard, archiviert in Mappe mit Titel: „Material encontrado dentro de revistas/libros“, S. 2 f. Es handelt sich um lose Seiten, die sich im Jahr 2007 eingelegt in die Zeitschrift für Musik, 97 (Sept. 1930) Heft 9 befanden. Der Verfasser ist mit großer Wahrscheinlichkeit Gerhard, und der Text dürfte während seiner Jahre in Barcelona entstanden sein. Allerdings ist bemerkenswert, dass der Text in deutscher Sprache, also offenbar nicht für ein spanisches Publikum, verfasst wurde. Vgl. hierzu den ähnlichen Gedankengang bei Schönberg: „Ob die Beziehung sämtlicher Ereignisse auf die Grundvoraussetzung, den Grundakkord, als unentrinnbarer Zwang bezeichnet werden muß […], darf wohl bezweifelt werden, wenn die Frage aufgeworfen wird, ob sie eben nicht bloß den einfacheren Bedingungen entspricht; und insbesondere: ob sie auch den komplizierteren noch entspricht. Um sich darüber ein Urteil zu verschaffen, ist es noch nicht nötig und auch nicht genügend, an die Durchführungsteile in Sonaten und Sinfonien oder gar an das Verhältnis der Harmonien in durchkomponierten Opern zu denken. Man muß nicht einmal die heutige Musik in Betracht ziehen. Es, [sic] genügt, einen Tonsatz, etwa von Wagner, Bruckner oder Hugo Wolf-[sic] anzusehen, um den Zweifel aufkommen zu lassen, ob der Fülle von Momenten, die ebenso gut anderswohin weisen, die prinzipienstarre Aufs[sic]rechterhaltung eines gleichen Grundtons zu Anfang und zu Ende eine[sic] Stücks noch organisch ist; ob die Anwendung dieses traditionellen Kunsts[sic]griffs hier nicht bloß geschieht, weil er Tradition ist; ob nicht aue[sic aus] einem formalen Vorteil eine formalistische Marotte entstanden ist […].“ Arnold Schönberg, HL, S. 28, siehe auch 150. 352 In seinen Texten in der Zeitschrift Mirador hatte Gerhard ‚atonal‘ hingegen in Anführungszeichen gesetzt, siehe Kapitel I.3.3. 353 Roberto Gerhard [?], Was ist atonale Musik?, S. 2 f.
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einer Melodie oder eines Akkordes miteinander in Beziehung stehen. Diese Beziehung der Töne zueinander braucht aber nicht unbedingt unter der Patronanz eines Grun[d]tones, einer Tonart stattzufinden. Es ist [ein] Irrtum, dass die Dur[-] und Molltonleiter die einzig mögliche Grundlage der Musik sei. Die W[e]rke Palestrinas und anderer großer Meister seiner Zeit beruhen nicht auf ihnen (sondern auf Vorläufern, der[sic] sogenannten Kirchentonarten)[,] andere Völker haben gan[z] andere Skalen. Unsere Tonarten waren ein ausgezeichnetes Kunstmittel, ihr Ende ist aber nicht das Ende der Musik.“354
So lange der Verzicht auf eine Tonika im Zusammenhang mit ‚Atonalität‘ fällt, stellt er theoretisch kein Problem dar. Der Gedanke der Entbehrlichkeit einer Tonika taucht bei Gerhard viele Jahre später, in einem Radio-Vortrag von 1955 wieder auf; hier allerdings verbunden mit dem Anspruch, Tonalität neu – und dabei ohne den Faktor der Tonika – zu denken. Im Entstehungsjahr dieses Textes kann sich Gerhard bezüglich seiner Überzeugung, Tonalität sei nicht zwangsläufig an eine Tonika gebunden, sozusagen weit aus dem Fenster lehnen, weil die Frage nach Zwölftontechnik als neuer Form von Tonalität in Gerhards Kompositionspraxis bereits mehr als nur eine theoretische Spekulation ist (siehe Gerhards Gebrauch der Reihe als Hexachordpaar, Kapitel I.1): „Many people, including students intelligently in sympathy with so-called ‚advanced‘ music, seem often quite genuinely unable to make anything of the concept of ‚tonality‘ except in terms of a tonal centre, with tonic and dominant and all the rest. With precisely this classical idea of tonality in mind, Sir Donald Tovey once aptly described it as ‚the harmonic perspective of music‘. Perspective – whether in painting or in music – can perhaps be described as a way of presentation that throws a compositional centre into relief. But it‘s obvious that perspective is not the only possible way of organisation, either pictorial or tonal. The notion of a tonal centre is a purely conventional one, it’s a convention entirely bound up with the classical idea of musical form, basically a static one, where symmetry and repetition play a decisive constructive role.“355
Das Konzept eines tonalen Zentrums wird hier als ein ‚rein konventionelles‘ und mit einem ‚klassischen‘ Formbegriff verbundenes betrachtet.356 In der Frage der Verzichtbarkeit der Tonika könnte Gerhard zeitweise allerdings durchaus geschwankt haben. Dies zeigt der in Kapitel I.3.3 bereits besprochene, stark um das ‚Ton‘-Vorbild zentrierte Text von 1936. Gerhard hatte darin – einen prinzipiellen Unterschied zwischen sieben- oder zwölftönigem Materialvorrat ausräumend – behauptet, dass sich die Naturordnung des ‚Tons‘ auch in der nicht-diatonischen, chromatischen Skala manifestieren könne und legte dabei die Ableitbarkeit der zwölftönigen Skala von der Obertonreihe nahe, und das heißt auch: deren Ableitbarkeit von einem Grundton. Gerhard beschrieb nämlich, dass sich die chromatische Skala auf die diatonische, die diatonische Skala auf den DurDreiklang, und wiederum der Dreiklang auf einen Grundton zurückführen lasse.357 354 Ebd., S. 3. 355 Roberto Gerhard, Twelve-Note Composition Explained (BBC-Radiotalk, Radio-Skript zur Sendung am 2.04.1955), CUL 11.43 [Unterstreichung von Gerhard]. Gerhard fährt fort, völlig irrelevant werde die Vorstellung eines tonalen Zentrums mit dem Zugrundeliegen einer neuen, mit der Zwölftontechnik verbundenen, dynamistischen Formauffassung, siehe Kapitel I.4.1. 356 Gerhard zielt mit seiner Rede vom ‚klassischen‘ Formbegriff offenbar auf einen zur Norm erhobenen Tonalitäts- und Formbegriff der Wiener Klassik. 357 „I ara que volem fer imperar els dotze sons engendrats dels set sons […], ells mateixos engendrats
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
Dementsprechend müsse man, so Gerhard, anerkennen, dass jeder der zwölf Töne der chromatischen Skala ein ‚Resonanzzentrum‘ („centre de ressonància“) bilde, welches sich entweder zur Tonika oder zur Dominante hin verwandele.358 So existiere nolens volens eine Tonika im Verborgenen, ein Anziehungszentrum, um das die anderen Töne gravitierten, so entfernt diese davon auch seien.359 Mit dem Gedanken latenter Grundtöne und Dreiklänge in der chromatischen Skala liegt der gedankliche Schritt eines simultanen Wirkens verschiedener Toniken nicht fern.360 (Auch Schönberg hatte die Möglichkeit zweier, simultan zugrunde liegender Toniken ohne Weiteres eingeräumt.361) In diesem Sinne simultan wirkender Toniken bzw. Tonarten verstand auch Perle den von Schönberg anstelle von ‚Atonalität‘ vorgeschlagenen Ausdruck ‚Pantonalität‘.362 Perle äußert in Bezug auf das musikalische Idiom von Schönbergs ‚atonaler Phase‘:
358 359
360 361
362
pels tres que són u, ara ens havem d’adonar que cadascun d’aquests dotze sons forma un centre de ressonància que esdevé o bé Tònica o bé Dominant.“ Robert Gerhard, Músiques modernes, músiques antigues…Música, S. 228. Die Ableitung der chromatischen Skala aus der Obertonreihe hatte auch Schönberg ausgeführt; die chromatische Skala stellte sich für ihn, ebenso wie die DurSkala, als naturähnlich dar: „Der Unterschied ist nur der, dass die eine den natürlichen Klang nur bis zum 6. Oberton nachbildet, während die andere etwas mehr als doppelt so weit geht, bis zum 13. Oberton, daß sie mit anderen Worten auch die entfernteren Obertöne in die Beziehungsmöglichkeit einreiht.“ Arnold Schönberg, Probleme der Harmonie (1927), in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, S. 222. In diesem Sinn deutete Schönberg sie als eine Tonart, indem er erklärte, in der chromatischen Skala könne jeder Ton als Grundton behandelt werden, „wenn man seine wichtigsten Eigenschaften verstärkt; wenn man seine große Terz und reine Quint verstärkt; wenn man den in der Obertonreihe leise mitklingenden Durdreiklang realisiert, zum Leben erweckt.“ (Ebd.) Auch Schönberg ging also von latenten Grundtönen in der Chromatik aus. Andererseits, und dazu tendenziell im Widerspruch, konstatierte er den distanziellen Charakter der chromatischen Skala, wenn er bemerkte, in ihr seien „alle Intervallunterschiede aufgehoben, weshalb in ihr ein Grundton nicht von vornherein gegeben ist.“ Ebd., S. 221. Siehe Anm. 357. „Així, tant si ho volem com si no, existeix secretament una Tònica, és a dir, un centre atractiu al voltant del qual graviten els altres sons, per allunyats que es trobin d’ella.“ (Roberto Gerhard, Músiques modernes, músiques antigues…Música, S. 228.) Dieser Gedanke der in der Chromatik enthaltenen Tonarten fand sich auch in Schönbergs Beschreibung der durch das Telos des ‚Tons‘ regulierten musikgeschichtlichen Entwicklung. Als deren jüngere Stadien, die Schönberg, wie er angab, in der Harmonielehre nicht mehr behandelte, zeigten sich dabei: „VI. Der Übergang von 12 Dur- und 12 Molltonarten zu 12 chromatischen Tonarten. Dieser Übergang vollzieht sich mit der Musik Wagners, deren harmonische Bedeutung theoretisch noch keineswegs festgestellt ist. VII. Die polytonale chromatische Tonleiter.“ (Arnold Schönberg, HL, S. 466.) Versteht man die von Schönberg angeführte „polytonale chromatische Tonleiter“ als Vorläufer der Zwölftonreihe, die aber im Unterschied zu einer Skala eine consecutive order der Reihentöne aufweist, dann kann der Gedanke eines aufgehobenen Beziehungsreichtums, wie er im Fall simultan wirkender Toniken denkbar ist, in der Reihe ‚nachklingen‘. Auf das gleichzeitige Wirken zweier Toniken im ersten seiner Klavierstücke Dos Apunts (1921/22) wies Gerhard in seinem Brief an Josep Barberà vom 22. Mai 1922 hin (siehe Anm. 173, Kapitel III.4.2.). „[…] so wenig ist es notwendig, daß sich nach einem Grundton die Tonalität richten muß, selbst wenn sie von ihm abgeleitet ist. Im Gegenteil. Der Kampf zweier solcher Grundtöne um die Vorherrschaft hat, wie manches Beispiel der modernen Harmonie zeigt, sogar etwas sehr Reizvolles.“ Arnold Schönberg, HL, S. 150. ‚Pantonal‘ und ‚polytonal‘ waren bei Schönberg offenbar Synonyme. Vgl. ebd. S. 487, Fußnote.
I.3. Der methodische, ‚quixotische‘ Charakter der Zwölftontechnik
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„The intended implication [of ‚pantonality‘, G. L.], presumably, is that the new musical language is a consequence of the merging of all tonalities.“363
Er bemerkt, mit einem solchen Konvergieren aller Tonarten („tonalities“ ist hier selbstverständlich synonym mit Tonarten, d. h. mit Tonalität im engen Sinn) gehe eine Aufhebung oder Neutralisierung von Tonalität einher: „But since […] the immediate effect of this supposed merging of all tonalities was the obliteration of the characteristic features of tonality in general, ‚atonality‘ would seem to be a more appropriate designation for this language.“364
In der Vorstellung einer oder mehrerer, auch unter den Materialbedingungen der chromatischen Skala ‚im Verborgenen‘ wirkender Toniken kann sich das Bestreben spiegeln, den Bezugsreichtum und die Polyvalenz von Tonbezügen zu vermehren; eine Simultaneität von Toniken würde theoretisch allerdings auch das Risiko des Umkippens von unumkehrbaren Tonbezugsrichtungen in Richtungslosigkeit und damit eine Abschwächung bis hin zur Aufhebung von Tonikalität mit sich bringen.365 Die eingeräumte Möglichkeit, jeden Ton der chromatischen Skala als potenzielle Tonika zu betrachten, verweist einerseits auf die Tonika als ganz und gar nicht nebensächliches, sondern wesentliches Kriterium von Tonalität, andererseits – mit der Möglichkeit die chromatische Skala auf mehrere Grundtöne zurückzuführen oder auch eines simultanen Wirkens von mehr als einer Tonika – auf die Abschwächung einer einzigen Tonika. Da Gerhard aber eindeutig den Bezugspunkt einer einzigen Tonart und Tonika überwand, wäre seine Haltung in Bezug auf Dahlhaus’ Frage, „ob die Zentrierung der Ton- oder Akkordbeziehungen um einen Grundton oder -akkord als essentielles oder als akzidentelles Merkmal der Tonalität zu betrachten ist,“366 eher auf der Seite derer zu verorten, die eine Tonika als ein akzidentelles Merkmal betrachten. Sie würde damit ein Gegengewicht zur Position von Dahlhaus bilden, der äußert: „Der Verzicht auf das definierende Merkmal ‚Zentrierung‘ läßt ‚Tonalität‘ zu einer generellen Bezeichnung für Tonbeziehungen verblassen […].“367 363 George Perle, Serial Composition and Atonality, S. 8. 364 Ebd. 365 Wenn eine Tonika v. a. eine Bezugsrichtung für Tonbeziehungen liefert, d. h. eine Richtung von Abhängigkeiten der Töne untereinander, die nicht umkehrbar ist, dann wäre tatsächlich mit dem Setzen von mehr als einer Tonika einerseits die Aufhebung einer einzelnen linearen Bezugsrichtung ins Räumliche denkbar (und damit ein Anwachsen von Beziehungsreichtum), andererseits aber auch das Umkippen jener Richtungen in Richtungslosigkeit. Werden Reihentöne im Sinne simultaner Toniken gedacht, dann ist es naheliegend, dass hinter Gerhards Arbeit mit einer geringerzahligen Reihe in Don Quixote das Bestreben stand, einen größtmöglichen Beziehungs- bzw. Funktionsreichtum der Töne zu erhalten ohne dabei die Richtung von Tonbeziehungen (oder einfach: Tonbeziehungen) der Neutralisierung anheim zu geben, dass er also im Grunde den Fall, den zwölften der zwölf Töne auch noch als potenzielle Tonika in der Reihe anzulegen, vermeiden wollte. Die Verwandtschaftsgrade im serial field der Don Quixote-Reihe können auf diese Weise für das Bewahren einer Richtung von Abhängigkeiten zwischen den Tönen einstehen, und dies ohne eine einzige Tonika (siehe Kapitel I.2.1). 366 Carl Dahlhaus, Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel u. a.: Bärenreiter 21988, S. 14. 367 Ebd., S. 17. Dahlhaus meint, dass ein solcher Begriff von Tonalität dann nicht mehr abgrenzbar von dem des Tonsystems sei. Der Verzicht auf die Komponente der Tonika stellt sich für Dahl-
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
Welche Anhaltspunkte kann es nun aber dafür geben, dass es Beziehungen zwischen Tönen gibt, die eine Logik melodischer Folgen wie auch von Akkordfortschreitungen determinieren, und die zugleich nicht als Beziehungen zur Tonika, sondern als Beziehungen von Tönen zueinander gedacht werden? Wie also kann Schönbergs Aussage, dass „von Ton zu Ton eine Beziehung bestehen muß, vermöge welcher die Töne, neben- oder übereinander gesetzt, eine als solche auffaßbare Folge ergeben“ 368 inhaltlich gefüllt werden? Einen Anhaltspunkt konnte das Beispiel von La Calandria geben, an dem gezeigt werden kann, dass Tonbeziehungen bzw. in den geschlossenen Tonvorrat ‚hineinsehbare‘ unterschiedliche Tonikas (‚Ruhepunkte‘) im diatonischen Tonmaterial bereits latent vorhanden sind, und nicht aufgrund der Setzung der vermeintlich einzigen, zum diatonischen Tonvorrat korrespondierenden Tonika zustande kommen. Ein zweiter Anhaltspunkt für präexistierende Tonbeziehungen jenseits einer Tonika wird geboten, wenn ein endlicher und zirkulärer Tonraum (ähnlich einem Tonsystem) ins Blickfeld rückt und die Überschreitung einer einzelnen Grundton- oder tonartlichen Bindung anzeigt, die dann nur noch transitorisch wirksam wird. Das Beispiel der zirkulären harmonischen Bewegung zu Don Quixotes nächtlicher Waffenwache, der „Vigil at Arms/Vigilia de las armas“ (Ziffer 34–35) in Gerhards Ballett, während welcher Don Quixote eine Vision Dulcineas hat,369 kann auf das Zugrundeliegen eines solchen endlichen Tonraums verweisen. Der 16-taktige Abschnitt beschreibt eine kreisförmige harmonische Bewegung, die vom vorzeichenlosen Tonartenbereich C-Dur/a-Moll ausgehend in immer ‚tiefere‘ Bereiche der b -Tonarten des Quintenzirkels geführt wird, um schließlich in einer Übereinanderschichtung von des-Moll und E-Mixolydisch370 – voneinander sehr weit entfernten Punkten des Quintenzirkels – in den vorzeichenlosen Bereich um a-Moll zurückgeführt zu werden. Diese tonartliche Rückkehr mag dem Ende der Nacht und dem anbrechenden Tag entsprechen. Der Quintenzirkel wird also einmal umrundet, wohaus als „negativ begründet“ dar: „[…] in der Scheu, Ton- oder Akkordzusammenhänge, die sich nicht um ein Zentrum gruppieren, ‚atonal‘ zu nennen. Um nicht von ‚Atonalität‘ sprechen zu müssen, dehnt man den Tonalitätsbegriff, bis er nichts anderes besagt, als daß Töne einen Zusammenhang bilden und nicht beziehungslos nebeneinanderstehen.“ Ebd., S. 18. 368 Siehe Anm. 79, Kapitel I.1. 369 Zu der hier behandelten Musik bei Ziffer 34 tanzen Dulcinea und Don Quixote einen pas de deux, siehe Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE. Ballet in 5 scenes, Scenario and music by Roberto Gerhard“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 2. Hingewiesen sei auf die ohrenfällige Ähnlichkeit der „Vigil at arms“-Streichermusik zum zweiten Satz (Interludi) von Gerhards Orchesterkomposition Albada, Interludi i Dansa (1937), der als Modell für jenen Abschnitt des Balletts gedient haben könnte. Jener Interludi-Satz mit seinem Wiegerhythmus im 6/8-Takt weist zwar keine kreisförmige harmonische Bewegung auf, aber auch hier ist der Satz durch parallelgeführte diatonische Skalen, eine schwebende Harmonik und einen expressiven und enigmatischen Charakter gekennzeichnet. V. a. der besondere Moment des harmonischen Übergangs von esMoll zu Ces-Dur in der „Vigil at arms“ (T. 11 zu 12 nach Ziffer 34) dürfte im Interludi seine Vorlage gehabt haben, wo die vergleichbare Stelle (T. 3/4 zu 5 nach Ziffer 2) den Übergang von e-Moll (mit erhöhter sechster und siebter Stufe) zu C-Dur/C-Lydisch (pp subito) betrifft. 370 Insofern E-Mixolydisch tonal betrachtet A-Dur zugehörig wäre, kann diese ‚Kreuztonart‘ eine tonartliche Nähe zu a-Moll herstellen und jene tonartliche Rückführung vermitteln.
I.3. Der methodische, ‚quixotische‘ Charakter der Zwölftontechnik „The Vigil at Arms“, Don Quixotes nächtliche Waffenwache, Szene 2, Ziffer 34–35:
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
bei die harmonische Bewegung durchweg eine fallende Abwärtsbewegung in ‚tiefere‘ Bereiche des Quintenzirkels ist. Zwei bis drei parallelgeführte diatonische Skalen im Rahmenintervall einer Terz bzw. Dezime konstituieren das Gerüst des tonal schwebenden, durch die Streichergruppe getragenen Satzes. Die tonale Mixtur kann dabei trotz der Homogenität des Tonvorrats ein relativ dissonantes Klangbild ergeben, wenn etwa simultan zum Terzrahmen der diatonischen Skalen von Ges-Dur eine dritte Stimme erklingt, die zur Basstimme im Intervall einer Septe parallelgeführt wird (T. 10 f. nach Ziffer 34). Aufgrund ihres begrenzten Tonvorrats lässt sich die tonartliche Zugehörigkeit jener zwei- bis dreistimmigen Mixtur zwar bestimmen, sie bleibt dabei aber ambivalent bezüglich eines Grundtons. So tendiert etwa jeder im „Vigil“-Abschnitt auftretende Tonvorrat einer Dur-Skala dazu, immer auch durch seine parallele Molltonart unterterzt zu werden (bereits in den ersten Takten der „Vigil“ erscheint der Tonvorrat als Superposition von C-Dur und a-Moll); eine Ausnahme macht die stabil auftretende Tonart Ces-Dur (T. 12 f.). Die relativ geschlossenen Tonvorräte sind nicht immer eindeutig im Sinne von Tonarten zu fassen. In der Terzkette von T. 5–8 nach Ziffer 34 etwa wechseln die Skalenstufen immer wieder zwischen drei eingebrachten Akzidentien b, es, as und deren Auflösung, sodass die Töne h und b, e und es und a und as in den beiden Stimmen (von Violine 1/Viola und Cello/Kontrabass) auf engem Raum aufeinandertreffen und leittonartige Elemente in die Diatonik einbringen, ohne dass dabei eindeutig eine Dur-Skala bzw. ein stabiler Tonikabezug vorläge. Denn der relativ geschlossene Tonvorrat jener Terzketten (a, b, h, c, d, es, e, f, g, as) ließe sich theoretisch verschiedenen Skalen zuordnen, und damit auch unterschiedlichen potenziellen Grundtönen (ähnlich wie der Tonvorrat in La Calandria).371 In T. 6/7 nach Ziffer 34 wäre es möglich, Bestandteile der Skalen von F-Dur, F-Mixolydisch und f-Dorisch in den Satz ‚hineinzusehen‘ – nach Maßgabe des Quintenzirkels bzw. des Dur-Moll-tonalen Systems quintweise aneinander angrenzende Tonarten, die in den Tonvorrat ‚hineinschillern‘.372 (Aufgrund solcher Ambivalenz wird der dort vorliegende Tonvorrat in der untenstehenden Übersicht als F-Tonart bezeichnet.) Ein Element relativer tonartlicher Befestigung findet sich mit dem Terzklang auf der jeweils ersten Zählzeit eines Takts. Durch diesen wird ein zeitweiliger Grundtonbezug des Tonvorrats bestimmbar. Dennoch lässt sich insgesamt von grundtonschwachen Diatoniken sprechen. Die Grundton-Ambivalenz der Tonvorräte lässt den Wechsel hin zu einem neuen Tonvorrat im Verlauf der „Vigil“ dabei alles andere als abrupt erscheinen. Dies lässt sich erstens damit erklären, dass eine Zunahme der b-Vorzeichen schrittweise eingeführt wird. Die aufeinander folgenden tonartlichen Stationen lassen sich 371 Vereinzelt treten zu den relativ homogenen Tonvorräten der harmonischen Stationen dissonante Elemente hinzu, die den Aspekt eines tonal-schwebenden Klangbilds noch verstärken. So erklingt etwa zu den diatonischen Skalen T. 1–8 in der C-Dur/a-Moll-Tonart und zur ambivalenten F-Tonart das Don Quixote-Fanfarenmotiv als tonartlich ‚fremdes‘ Element (nämlich als sukzessiv aufgefalteter D-Dur-Dreiklang/-Quartsextakkord), sodass eine Tonarten-Superposition zustande kommt. In den Takten 9–11 stellt die einzelne Stimme der Vla. ein weiteres dissonantes Element dar, das sich von der relativen Homogenität des Tonvorrats abhebt. 372 F-Mixolydisch wäre in Dur-Moll-tonalen Kategorien B-Dur, f-dorisch wäre Es-Dur zuzuordnen.
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I.3. Der methodische, ‚quixotische‘ Charakter der Zwölftontechnik
als im Quintenzirkel aneinander angrenzende Tonarten erkennen. Zweitens werden jene Stationen durch eine harmonische Abwärtsbewegung in den terz- oder quintunteren Tonartenbereich erreicht. Diese Unterterzung lässt die harmonischen Übergänge sanft und als harmonische Umfärbung erscheinen. Harmonische Kreisbewegung des Satzes im „Vigil at Arms“-Abschnitt (Don Quixote-Ballett, Szene 2, Ziffer 34–35): Takte nach Ziffer 34
T. 1–4
T. 5–9
T. 10/11
T. 12/13
T. 14
T. 15
T. 16
CesDur
desMoll/ E-Mixolydisch
(A-Dur)/ a-Moll
F-Tonart/ G-Dur
es ces
e des
cis as a
f d
Tonartbereich C-Dur/ F-Tonart der Skalen a-Moll (F-Dur/ zwischen -F-Mixolydisch/ f-Dorisch)
Ges-Dur/ es-Moll
Bassterz, Unterterzung
e c
Stimmen der Mixtur
2-st.
2-st.
3-st.
2-st.
3-st.
0
0–3 b
6b
7b
8 b/ 3#
Schrittweise eingeführte Vorzeichen
c a
a f
f d
h g
b (g statt ges*)
ges es
c a
2-st. 0 der Satz ist ab der dritten Zählzeit komplett vorzeichenlos
h g
2-st. 0–3 b**
* Hier wird der Basston g aus dem vorhergehenden Takt übergehalten, dadurch wird der tonartliche Grundton ges als Basston auf der ersten Zählzeit von T. 10 vorenthalten. ** Ähnlich wie in T. 5–9 nach Ziffer 34 bleibt auf der ersten Takthälfte von T. 16 der tonartliche Bereich mit 3 b implizit, indem davon nur die zwei Vorzeichen b und as erklingen (Vcl./ Db.), statt es jedoch e (Vl.1).
Die an den Bassterzen ablesbare Unterterzung auf den ersten Zählzeiten ermöglicht zugleich ein relativ schnelles ‚Durchschreiten‘ des gesamten (quintstrukturierten) Tonraums.373 Charakteristisch für jenes Verfahren der Unterterzung in der „Vigil“ ist insgesamt eine ‚Bodenlosigkeit‘ des Fallens, insofern Grundtöne nur kursorisch gestreift werden, und dabei der relativ bruchlose Übergang der Harmonien; zwischen T. 9 und 10, wo eine harmonische Rückung vom durch die Terz g/h umschriebenen G- zum Ges-Dur-Bereich stattfindet. Auch das Zurückführen in den vorzeichenlosen Bereich von T. 14 zu 15 geschieht sanft. Zwar trifft hier die des-Moll-Skala simultan mit einem Skalenabschnitt in der Oberstimme (Violine 1/ Viola) zusammen, der als E-Mixolydisch (eventuell auch als cis-Phrygisch) ge373 Man kann sich hier an das brahmssche Verfahren des ‚Untergrabens‘ einer Tonika durch Unterterzung erinnert fühlen, bei dem ein Harmoniewechsel erfolgt, indem unter den Grund- und Basston einer Harmonie eine tiefere Terz geschoben und damit eine Umdeutung der Harmonie und ein neuer Grundton wirksam wird.
0
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
deutet werden kann;374 wie bereits erwähnt, handelt es sich bei den zusammentreffenden um tonartlich sehr weit entfernte Punkte des quintstrukturierten Tonraums. Zugleich aber lässt sich die Tonart des-Moll (als Mollparallele von Fes-Dur) fast restlos in den gleichzeitig erklingenden E-Mixolydisch-Tonvorrat der Oberstimme enharmonisch umdeuten (bis auf den Ton d, der sich nicht als umgedeuteter erklären lässt). Diese enharmonische Umdeutung wird in der Basstimme mitten in T. 14 vollzogen. Die ‚Nahtstelle‘ des Quintenzirkels ist daher kaum zu bemerken, und die E-Tonart kann als Oberquint-Tonart nach A-Dur (vertreten durch die diese Tonart umschreibende Terz auf der ersten Zählzeit von T. 15), und weiter in das vorzeichenlose a-Moll zurückführen. Allerdings verweist die auf jener ersten Zählzeit von T. 15 im Zusammenklang (gr./kl.) a/as’/cis’’ mit enthaltene Dissonanz as zurück auf die (in der Stimme der Violine 2 erst spät) umgedeutete Tonart des-Moll.375 Gerhards Unterterzung in der „Vigil“ lässt sich von dem Verfahren der Modulation abgrenzen, bei dem auf Akkordfunktionen basierende Verbindungswege von der einen zur anderen Tonart beschritten werden. Das vorliegende Verfahren lässt sich dagegen als eine absteigende harmonische Bewegung durch ein und denselben Tonraum hindurch vorstellen, der potenziell alle Tonarten in sich enthält. 374 Im Ballett hat Don Quixote während seiner nächtlichen Waffenwache eine Vision Dulcineas. Hierzu korrespondiert, dass sich in dem genannten Skalenabschnitt in E-Mixolydisch (wie andeutungsweise auch in weiteren Skalenabschnitten der „Vigil at arms“, siehe z. B. T. 6 nach Ziffer 34, Vcl./Db.) eine motivische Allusion an Dulcinea und die sie charakterisierende Melodie bei Don Quixotes Vision von Dulcinea (Szene 1, Ziffer 2) erkennen lässt. Jene Melodie hatte Julian White auf die katalanische Volksliedvorlage „Assassi per amor“ zurückgeführt. (Vgl. Julian White, National Traditions in the Music of Roberto Gerhard, in: Tempo Nr. 184 (März 1993), S. 7. [Als Quelle für das Volkslied, dessen Beginn bei White abgedruckt ist, gibt dieser die folgende Volksliedsammlung an: Obra del Cançoner Popular de Catalunya, hrsg. von F. Pujol u. a., Barcelona 1926–29, S. 140]). Gerhard verweist also auf musikalischer Ebene auf Dulcinea. Zu erwähnen ist auch, dass jene inhaltlich mit Don Quixotes Liebe zu Dulcinea verbundene, sehr expressive „Vigil“-Streichermusik in Gerhards Oper The Duenna zitiert wird, nämlich im 3. Akt/Szene 1, T. 321 f. und T. 331. Jenes Zitat findet sich hier im Kontext des Hochzeitsmarsches („Largo maestoso“, „Marcietta nuzziale“), dabei setzt jenes musikalische Zitat in T. 321 auf dem Wort „love“ ein, zum Schluss der folgenden Textzeile, die von den heiratenden Paaren samt Father Paul gesungenen wird: „For his glory is to prove kind to those who wed for love.“ Gerhards „Vigil“-Musik wird damit zum musikalischen Semantem, und es wäre generell interessant derartige Querbezüge, die zwischen Don Quixote und The Duenna bestehen, auf ihre inhaltlichen Korrespondenzen hin genauer zu deuten. Weiter ließe sich an anderem Ort die eventuell programmatische Funktion solcher Semanteme untersuchen, wo sie in Gerhards Instrumentalmusik wiederkehren. So findet sich auch im zweiten Satz von Gerhards Violinkonzert (1942–45) (Largo) ein der „Vigil“-Musik in Don Quixote sehr ähnlicher, hier als Klimax des Satzes fungierender Abschnitt („Sostenuto“) von höchster Expressionskraft (siehe Ziffer 65–66). Auf diesen Querbezug verwies bereits: Norman Del Mar, Don Quixote, Homenaje a Pedrell and the Violin Concerto, in: The Score 17 (September 1956), S. 17. 375 Mit einer solchen ‚Nahtstelle‘ der enharmonischen Umdeutung wird auch thematisiert, dass sich die Quintenzirkelstruktur des Tonraums als eine Spirale, und nicht als ein geschlossener Kreis denken lässt. Die Spiralförmigkeit verweist dabei auf einen Bereich des ‚Ton‘-Vorbilds jenseits der gleichschwebenden Temperierung.
I.3. Der methodische, ‚quixotische‘ Charakter der Zwölftontechnik
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Die Tatsache, dass im vorliegenden Beispiel Harmoniewechsel im Sinne von ‚Verschiebungen‘ des Tonvorrats in den nächsten, terz- und quinttiefer angrenzenden Tonartenbereich stattfinden, kann auf das gedankliche Zugrundeliegen eines geschlossenen, quintstrukturierten Tonraums hinweisen. Vor dem Hintergrund der Unterterzung bzw. der Harmoniewechsel kann zudem der Gedanke greifbar werden, dass eine Tonika eine Setzung darstellt: Denn da sich der Tonraum als geschlossen und zirkulär zeigt, muss die Fixierung eines Grundtons in jenem Zirkel willkürlich erscheinen bzw. ‚äußerlich‘ an jenen Tonraum herangetragen werden. In seinem Brief an Josep Valls spricht Gerhard davon, die ‚funktionale‘ Auffassung der Harmonie durch eine ‚integrierende‘ Auffassung derselben („[…] sentit integratiu en el rol de l’harmonia.“) zu ersetzen.376 Als eine solche ‚integrierende‘ Auffassung von Harmonie ließe sich mit Blick auf die hier angeführten Beispiele zweierlei verstehen: Erstens wurde an La Calandria sichtbar, dass bereits eine Diatonik mehrere Modi und ‚hineinsehbare‘ Grundtöne integrieren konnte. Ein einziger Tonvorrat wurde damit tonal vieldeutig und konnte mehrere bestimmte Modi und deren modale Farbe und Ausdrucksfähigkeit integrieren. Für dieses Verfahren der variabel ‚hineinsehbaren‘ Grundtöne waren sicherlich Volksliedharmonisierungen von Pedrell vorbildhaft. Zweitens ließ sich im Beispiel der „Vigil“ ein quintstrukturierter Tonraum als alle möglichen Diatoniken ‚integrierender‘ Tonraum auffassen, während im funktionsharmonischen System (das ebenfalls auf dem Quintenzirkel basiert) in der Regel von einer einzigen, integrierenden Tonart ausgehend weitere tonartliche Regionen erschlossen und integriert werden. Es mag jene Zirkularität und Geschlossenheit des Tonraums sein, die den Gedanken einer Tonalität im weiten Sinn bestätigen konnte und die Dur-Moll-Tonalität nur mehr als eine Art Spezialfall erscheinen ließ. Sie konnte bestätigen, dass Verbindungen zwischen Tönen auf einem Tonbezugsraum beruhten, der nicht auf eine Tonika angewiesen ist. Der Gedanke eines zugrunde liegenden Tonraums stellt in Gerhards Ballett einen Zusammenhang zwischen den zwölftönigen Episoden der Don Quixote zugeordneten surrealen-phantastischen Sphäre und den diatonischen Abschnitten des Balletts her, die der spanisch-realistischen Ebene zugeordnet werden können: So wie den unterschiedlichen Realitätszugängen von Don Quixote einerseits und Sancho andererseits – der doppelten Realität des Balletts – die gleiche (eine) Realität zugrunde liegt,377 lässt sich sagen, dass den an die Don Quixote-Reihe gebundenen Abschnitten der Komposition der gleiche (nur unterschiedlich vorstrukturierte) Tonraum zugrunde liegt wie denjenigen Abschnitten, in denen Gerhard nicht mit der Reihe und etwa mit diatonischen Tonvorräten arbeitet (etwa dem der „Vigil“).
376 Siehe Roberto Gerhard, Brief an Josep Valls vom 9.10.1945, CUL 14.437, S. 1 [Unterstreichung von Gerhard], siehe auch Anm. 499, Kapitel I.4. 377 Zur doppelten Ansicht auf ein und dieselbe Realität siehe Kapitel II.3.2.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
I.3.5 Natur als ‚Notwendigkeit‘ Zu Beginn von Kapitel I.3.4 wurde darauf hingewiesen, dass Schönberg im Hinblick auf sein ‚Gedanke‘-Projekt eine möglichst systematische und einheitliche Darstellung von Harmonie-, Kontrapunkt- und Formenlehre anstrebte und eine Trennung der drei Einzeldisziplinen aufheben wollte. Während Schönberg im betreffenden ‚Gedanke‘-Manuskript378 der Disziplin der Harmonielehre gegenüber den anderen beiden Disziplinen zuschrieb, dem an eine Theorie gestellten Anspruch der Geschlossenheit noch relativ gut gerecht zu werden, hatte er dagegen in seiner Harmonielehre einen Systemanspruch der traditionellen Harmonielehre als unangemessenen kritisiert. In der Harmonielehre bemängelt er eine Diskrepanz zwischen dem Systemanspruch des tonalen Systems und dem gleichzeitigen Unvermögen, die Zusammensetzung solcher Zusammenklänge zu klären, die nicht als Akkorde im engeren Sinn des Systems anerkannt sind und sich aus der Stimmführung ergeben. In diesem Unvermögen sieht Schönberg den Grund dafür, dass die traditionelle Harmonielehre auf den von ihm kritisierten Terminus der „harmoniefremden“ Töne zugreift und damit Akkordbildungen aus ihrem System ausschließt und zu ‚zufälligen‘ und ‚einflusslosen‘ degradiert.379 Von einem wahrhaften System verlangt Schönberg nicht nur, dass es keine Widersprüche aufweist, sondern auch, dass es auf möglichst umfassenden Allgemeinsätzen beruht, auf Grundsätzen, „die alle Ereignisse einschließen. Am besten: genau so viele Ereignisse, als es wirklich gibt; nicht mehr, nicht weniger.“380 (Ein Systemanspruch ginge demnach mit einem totalen Begreifen oder einer perfekten Korrespondenz des Systems mit der Naturordnung einher.) Er räumt ein: „Auch ich habe solche Grundsätze nicht finden können und glaube, daß man sie nicht so bald finden wird. Die Versuche, Künstlerisches restlos auf Natürliches zurückzuführen, werden noch lange immer wieder scheitern.“381
378 Vgl. Arnold Schönberg, Der musikalische Gedanke; seine Darstellung und Durchführung, o. D., T37.06 [= Archivnummer ASC, Wien], abgedruckt in: Andreas Jacob, Grundbegriffe der Musiktheorie Arnold Schönbergs, Bd. 2: Quellen, S. 706–708. 379 „[…] daß eine Anzahl von Zusammenklängen […] als Akkorde bezeichnet werden, die große Mehrzahl der Zusammenklänge aber, die ebenso oft vorkommt, nicht, das kann doch nicht für ein System gelten.“ Ders., HL, S. 378. 380 „Ein wirkliches System sollte vor allem Grundsätze haben, die alle Ereignisse einschließen. Am besten: genau so viele Ereignisse, als es wirklich gibt; nicht mehr, nicht weniger. Solche Grundsätze sind die Naturgesetze. Und nur solche Grundsätze, die nicht auf Ausnahmen angewiesen sind, hätten darauf Anspruch, für allgemein gültig angesehen zu werden, die mit den Naturgesetzen diese Eigenschaft unbedingter Geltung gemein hätten. Aber die Kunstgesetze haben vor allem Ausnahmen!“ Ebd., S. 5. 381 Ebd. Restlose Naturerkenntnis zu erlangen, hält Schönberg für wahrscheinlich unmöglich (siehe auch ebd., S. 380). Bezüglich des Aufgabenbereichs seiner eigenen Harmonielehre bescheidet sich Schönberg darauf, bei der Einteilung des Gegenstands der Harmonik an die „lange gebräuchliche Lehrmethode“ anzuknüpfen, die, „wenn man davon absieht, daß sie kein System ist, und daß sie nur bis zu einem gewissen Punkt führen kann, den meisten Anforderungen, die man stellen darf, entspricht.“ (Ebd., S. 26.) Harmonielehren könnten nach Schönberg im besten Fall „Systeme der Darstellung“ sein, „Methoden, die einen Stoff einheitlich einteilen,
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Offene Stellen im System der traditionellen Harmonielehre macht Schönberg u. a. dort ausfindig, wo sich die Trennung der Theorie in die Bereiche Harmonie- und Kontrapunktlehre bemerkbar macht. Nach Schönberg ergeben sich aus einer entweder vorherrschend vertikalen oder aber horizontalen Behandlungsweise des Satzes Begründungen für Satzphänomene, die aus der Sicht der anderen Disziplin als unzureichend erscheinen; so seien für die mitteleuropäische Kunstmusik „seit mindestens vierhundert Jahren beide Methoden, die harmonische und die polyphone, in gleicher Weise entwicklungstreibend gewesen. Es geht daher kaum an, die Akkorde nur auf dem einen der beiden Prinzipien aufzubauen, sie so darzustellen, als ob sie sich durch Selbstbefruchtung entwickelt hätten, wie dies meist in der Harmonielehre geschieht; oder die Polyphonie rein als Stimmführung zu erklären, die innerhalb gewisser, nur vom Zeitgeschmack gezogener Grenzen das Zusammentreffen zu Akkorden nicht berücksichtigt, wie das im Kontrapunkt geschieht. […] Jede Betrachtung aber, die nur das eine oder das andere Prinzip heranzieht, wird zu Ereignissen kommen, die sich in ihrem System nicht unterbringen lassen. Dadurch entstehen dann die vielen Ausnahmen. […] Und die vielen Stellen, wo der Lehrer sagen muß: ‚Es ist nun einmal so und nicht anders‘, ohne irgendwie begründen zu können, warum.“382
Solche Ausnahmen, Widersprüche zwischen System und Sache, werden dort thematisiert, wo Schönberg die Aufhebung einer Harmonielehre-Regel fordert.383 Bemerübersichtlich gliedern und von solchen Grundsätzen ausgehen, die eine undurchbrochene Folge sichern.“ Ebd., S. 5, vgl. auch 108. 382 Ebd., S. 26. 383 Bemerkenswert ist, dass die Unangemessenheit des Systems gegenüber der Sache hier mit der Trennung einer entweder vorherrschend horizontalen oder aber harmonisch-vertikalen Betrachtungsweise zusammenhängt. Dies verweist auf den ‚Ton‘ als Entität, die eine Trennung in horizontale und vertikale Dimension gleichsam ‚nicht kennt‘ und diese transzendiert (ähnlich wie die apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit bei Kant das ‚Ding an sich‘ transzendieren). Wenn im ‚Ton‘ Horizontale und Vertikale ungeschieden sind, dann lässt sich das Übereinkommen von horizontaler und vertikaler Satzdimension, das in Bezug auf die Zwölftontechnik und auf Schönbergs ‚musikalischen Gedanken‘ so zentral ist, zugleich im Kontext von Harmonik und ‚Ton‘-Vorbild betrachten und als Wesenszug des Harmonischen betrachten, wie es Gerhard tat, als er in einem seiner Artikel in Mirador mit Blick auf die von ihm so bezeichneten „purely logical elements“ (siehe Anm. 257, Kapitel I.3.3) angab: „[…] that which is valid in a melodic sucession is also valid in the phonic simultaneity: they are two dimensions of a single idea. ‚Harmony, genuinely, only means perfect concordance, logical congruence between these two dimensions.‘“ (Siehe Anm. 263, Kapitel I.3.3.) Die ‚Konkordanz‘ der beiden Satzdimensionen steht bei Gerhard nicht allein für eine Prämisse der schönbergschen Zwölftontechnik, sondern erscheint vielmehr als Inbegriff und Ursprung von ‚Harmonie‘ – verstanden als umfassender Ordnung des ‚Tons‘, die homophone wie kontrapunktische Satzweisen transzendiert. Hier könnte der Verdacht aufkommen, Gerhard schreibe einem mit der Zwölftontechnik verbundenen Topos umfassende Bedeutung zu, um eine sachliche und geschichtliche Kontinuität zwischen der von ihm als vorbildhaft bezeichneten klassischen Epoche und der neuen Epoche der ‚Atonalität‘ herzustellen. Doch lässt sich sehen, dass jener Topos schon früher mit der Tonalitätsreflexion verbunden war. Fétis bemerkte im Vorwort seines Harmonielehretraktats und mit Bezug auf seinen erstmals 1824 publizierten Traité du contrepoint et de la fugue neue und unzählige Anwendungsmöglichkeiten des Gesetzes der Tonalität („la loi de tonalité“) entdeckt zu haben, die ihm die absolute Identität derjenigen Prinzipien erwiesen hätten, die sowohl die melodische Folge der Töne regelten als auch der Harmonie zugrunde lägen: „Ainsi donc, il n’y avait plus de doute pour moi, et j’avais la certitude qu’une seule loi régit les rapports de sons dans l’ordre successif comme dans les agrégations simultanées.“
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kenswert ist dabei, dass mit der Regelaufhebung, die den Widerspruch beseitigt, bei Schönberg gewissermaßen eine ‚höhere Regel‘ in Kraft tritt: ‚Notwendigkeit‘ oder ‚höhere Notwendigkeit‘. Jene ‚Notwendigkeit‘ lässt sich fassen als die Erfahrung der Gesetzmäßigkeit von Kunst. Dies soll an einem Beispiel deutlich werden: Für Schönberg stellt die gleichschwebende Temperatur des Tonsystems einen „Notbehelf“384 dar, einen Kompromiss zwischen dem Vorbild des Tons und den Möglichkeiten des Begreifens. Auf die Natur des Tons als einen Bereich jenseits der Temperierung weist Schönberg angesichts eines Grenzfalls im tonalen System: In seinem Kapitel „Übermässige 5/6-, 3/4-, 2- und 6-Akkorde und einige andere vagierende“ äußert Schönberg, er bevorzuge in Bezug auf Akkordverbindungen eine Orthographie (d. h. Notation), die zwecks leichter Lesbarkeit innerhalb der Stimme möglichst weitgehend in einer einheitlichen Tonart verbleibt.385 Bei der Verbindung (François-Joseph Fétis, Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie, Paris 1861, S. x (= Vorwort).) Bei Ernst Kurth ist in Bezug auf musikalische „Bewegungsempfindung“, wie sie im Ausdruck des „Auflösungsbedürfnis[ses]“ zum Vorschein kommt, zu lesen: „[…] es erübrigt, nach den primären Grundlagen der […] Melodik zu fragen, nach der Kraft, welche den Verkettungserscheinungen eines Tones mit weitern Tönen zugrunde liegt. Hier greift zunächst eine unbestreitbar bestehende Verquickungsform von Harmonik und Melodik erklärend ein, die schon sehr alten theoretischen Darstellungen zugrunde liegt, die unanfechtbare Hypothese, dass jede Melodik schon unbewusst auf einer latenten Harmonik gebaut ist, auch schon lange bevor harmonische Begriffe […] in eine Musikkultur eingedrungen sind.“ (Ernst Kurth, Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme (= Schriften zur Musik, Bd. 14), München 21973 [Reprint des Originals, Bern 1913], S. 59 f.) Eben diese These vertrat auch Gerhards Lehrer, der Volksliedforscher Pedrell. Er ging davon aus, dass jedes Volkslied aus einem ‚harmonischen Keim‘ („germen armónico“) hervorgeht, und dass dieser harmonische Ursprung im einstimmigen Volkslied latent bleibt. So behauptete er, dass seit der Entstehung der „música moderna“ (gemeint ist offenbar die Musik der Neuzeit) alle Melodien, seien diese populär (d. h. Volkslieder) oder nicht, harmonisch gedacht wurden: („[…] que desde los orígenes de la música moderna todas las melodías, populares o no populares, fueron pensadas armónicamente“): „[…] que una simple melodía es, virtualmente, armónica; y, en fin, que puede afirmarse, que toda melodía popular contiene el germen armónico latente que la engendró, y que para traducir su significado en el todo artístico que le es propio, basta sentirla por dentro, y el milagro de compenetración queda realizado.“ („[…] dass eine einfache Melodie virtuell harmonisch ist; und dass man schließlich affirmieren kann, dass jede volkstümliche Melodie den latenten harmonischen Keim, aus dem sie hervorging, enthält, und dass es, um dessen Bedeutung in das Ganze des Künstlerischen zu übersetzen, welches der ihm [dem harmonischen Keim, G. L.] eigene Bereich ist, genügt, sich in die Melodie innerlich einzufühlen, und das Wunder der Durchdringung [von Harmonie und Melodie, G. L.] realisiert sich.“ Felipe Pedrell, Cancionero musical popular español, Bd. 1, S. 33 [Übersetzung, G. L.].) Folglich lässt sich annehmen, dass Pedrell die Arbeit der Harmonisierung von Volksliedern, die er in seinem Cancionero herausgab, als eine Quasi-Entschlüsselungsarbeit dieses in jedem Volkslied latenten ‚harmonischen Keims‘ verstand (vgl. ebd., S. 35). Jene Idee von Tonalität als übereinkommender Horizontale und Vertikale geht verloren, wenn Tonalität im engeren Sinne homophoner Satztechnik verstanden wird, als harmonische Tonalität. Wenn Gerhard jene weite Tonalitätsidee zuerst über Pedrell rezipiert hatte, dann lässt sich annehmen, dass jenes Konkordanzkriterium für ihn sogar primär mit seiner Auffassung von Harmonie und Tonalität (in einem weiten Sinn) in Verbindung stand, und erst sekundär mit Schönbergs Zwölftonmethode. 384 Siehe Anm. 208, Kapitel I.3.1. 385 Vgl. Arnold Schönberg, HL, S. 313 f.
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tonartlich entfernter Harmonien und wenn sich übermäßige oder verminderte Intervallschritte nicht vermeiden ließen, erlaubt er allerdings die Aufhebung der vormals gegebenen Anweisung übermäßige und verminderte Intervallschritte in der Stimmführung innerhalb einer Stimme möglichst zu vermeiden und dem notationstechnisch Rechnung zu tragen und macht für diese Aufhebung „Notwendigkeit“ geltend: „Wo sich der Verbindung Schwierigkeiten entgegenstellten, konnten natürlicherweise übermäßige Intervalle nicht umgangen werden. Und dort sind sie auch gut. Denn die Notwendigkeit ist das stärkste Gebot. Aber wenn […] die Beziehung solcher Akkorde zueinander auf weit voneinanderliegende Tonarten sich zurückführt, dann wäre es Pedanterie, in der Stimmführung in einer Tonart bleiben zu wollen, und zwar in einer Dur- oder Molltonart.“386
Hier rät Schönberg dazu, die tonartliche Bruchstelle in der Stimmführung nicht zu glätten: „Der Sänger, der solche Intervalle intonieren will, muß eben enharmonisch verwechseln, wenn er sich ein übermäßiges Intervall näherbringen will. Der enharmonisch verwechselte Ton stimmt zwar nicht überein mit dem des temperierten Systems, und das ist ein Problem, das dem Chorgesang heute große Schwierigkeiten macht.“387
Der Sänger soll das enharmonisch verwechselte Intervall möglichst nicht temperiert intonieren. Das temperierte System gerät demnach dort an seine Grenzen, wo entfernte Tonarten aufeinander treffen und übermäßige Stimmschritte erforderlich machen. Ein Verzicht auf jene harmonischen Mittel aufgrund jenes Grenzgangs kommt für Schönberg jedoch nicht in Frage. Jene Schwierigkeiten des Chorgesangs würden „natürlicherweise die Entwicklung unserer Musik nicht aufhalten können, denn es ist selbstverständlich, daß man im Chorgesang dieselben harmonischen Mittel anwenden will wie im Instrumentalsatz.“388 Die von Schönberg angeführte ‚Notwendigkeit‘ ist vor dem Hintergrund einer geschichtlich fortschreitenden ‚Emanzipation der Dissonanz‘ nachvollziehbar, die das Begreifen und die Theorie vor veränderte Ausgangsbedingungen stellt, während das tonale System nur unter gewohnten Bedingungen funktioniert. Jenes System hatte ein Problem nur vorläufig gelöst. Wo die Vorgaben der Harmonielehre aufgehoben werden, macht sich ‚Notwendigkeit‘ bemerkbar und treibt den Problemlösungsprozess voran. Dagegen stellen sich Vorgaben der Harmonielehre für Schönberg nicht als notwendig dar, sondern vielmehr im Sinne eines vorläufigen Hilfsmittels. Im Zusammenhang mit der Aufhebung einer von ihm gegebenen Vorgabe zur Dissonanzbehandlung erklärt Schönberg, vorgelegen habe eine „Anweisung“,389 die „ebensoviel gab als sie nahm. Gewisse Fehler konnten dadurch vermieden werden, daß sie zwar auch einige Fälle, die gut sein mögen, sonst 386 387 388 389
Ebd., S. 320. Ebd. Ebd. Schönberg betont, keine „Regel“, sondern lediglich eine „Anweisung“ gegeben zu haben. (Vgl. ebd., S. 57.) Damit schwächt er den Geltungsanspruch von Regeln ab. Vereinfachend lässt sich aber sagen, dass sowohl Regeln wie auch Anweisungen hier dem Bereich menschlicher ‚Denkwerkzeuge‘ zugerechnet werden können, die eine Annäherung an ‚Natur‘, das Objekt des ‚Tons‘, oder: ‚Notwendigkeit‘ ermöglichen, gegenüber jenem Bereich der ‚Natur‘ jedoch unzureichend bleiben.
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aber eben solche ausschloß, bei denen eben die Fehler eintreten konnten.“390 Eine „Anweisung“ hat für Schönberg demnach Kompromisscharakter; sie stellt sich als eine zweischneidige Angelegenheit dar. Einerseits ist sie eine vorläufige Erleichterung für den Schüler, andererseits eine Beschränkung in Bezug auf die Sache. Habe der Schüler „innerhalb dieser Beschränkung genügende Sicherheit erworben, so wird er, wenn die höhere Notwendigkeit es verlangt, auf diese Erleichterung zu verzichten imstande sein.“391 Jede „Anweisung“ werde aufgehoben, „[…] wenn eine höhere Notwendigkeit es verlangt. Es gibt hier keine ewigen Gesetze, sondern nur Anweisungen, die so lange Geltung haben, als sie nicht durch andere ganz oder teilweise aufgehoben werden; wenn andere Bedingungen gestellt sind.“392 So wird nahegelegt, dass die ‚Anweisungen‘ eines Systems niemals ausreichen, um jenes ‚Notwendige‘ zu erfassen, also dasjenige, das dem Tonmaterial inhärent ist und sich erst mit dem Außerkraftsetzen der ‚Anweisung‘ zeigt, d. h. jenseits des Systems. Bei Schönberg mag ‚Notwendigkeit‘ mit der Erfahrung des Gesetzmäßigen im ‚Ton‘ als etwas Dynamischem verbunden gewesen sein, so wenn in dem folgenden von Gerhard markierten Ausschnitt der Harmonielehre vom „Trieb des Klangs“ die Rede ist: „Die Grundlage der Harmonie *kann selbstverständlich nur von den Grundtönen der Akkorde gebildet werden. Denn in ihnen allein drückt sich der Trieb des Klangs und seine Fähigkeit, Folgen zu bilden, aus. Sie allein geben Aufschluß über Charakter und Richtung der Folgen. Sie allein begründen also die harmonischen Vorgänge.*“393
Es darf angenommen werden, dass ein solcher, auf einem dynamischen Naturbegriff basierender „Trieb des Klangs“ durch die gleichschwebende Temperierung als gleichsam ‚gezähmt‘ betrachtet werden musste. Wie ausgeführt, stellt sich die gleichschwebende Temperierung in Schönbergs Harmonielehre als ein zweischneidiges Hilfsmittel dar. In Bezug auf dessen Überwindung bleibt der mit einem Telos der Natur verbundene Zukunftsausblick in der Harmonielehre allerdings stecken,394 denn die Temperierung bleibt bekanntlich auch die Grundlage der Zwölftonkomposition. Im Rahmen der Zwölftontechnik hat es sich vielmehr sogar etabliert, von der Äquidistanz der zwölf Töne als einer Prämisse auszugehen.395 Eine solche Äquidistanz der zwölf chromatischen Stufen wäre aber mit einem gleichzeitigen ‚Ton‘Vorbild nicht überein zu bringen, sie würde enharmonische Unterschiede wie auch jenen ‚Trieb des Klangs‘, jene ‚Notwendigkeit‘, nivellieren und das Problemfeld 390 Ebd. 391 Ebd. 392 Ebd. Luchterhandt spricht vom „pädagogischen Prinzip“ der schönbergschen Harmonielehre, das in der strengen Einhaltung von Regeln bestehe, „die anschließend aber in Frage gestellt werden.“ Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“, S. 52. 393 Arnold Schönberg, HL, S. 63. (In Gerhards Exemplar S. 68 [Unterstreichung von Gerhard].) 394 In der Harmonielehre legt Schönberg nahe, die Zeit für mehr als zwölfstufige Tonsysteme sei noch nicht reif und die Möglichkeiten mehrstimmigen Komponierens unter den Bedingungen der zwölf Töne noch nicht voll ausgeschöpft. Vgl. ebd., S. 24, Fußnote. 395 Nach Herbert Eimert bilden „[d]ie zwölf beziehungslosen und selbständigen Töne des temperierten Systems, die der Reihe nach geordnet sich mit der chromatischen Skala decken, […] das Material der atonalen Musik.“ Herbert Eimert, Atonale Musiklehre, Leipzig 1924, zit. nach Michael Beiche, [Artikel] Tonalität, S. 426.
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Tonalität insgesamt verdrängen.396 Wenn Schönberg in der Harmonielehre auf den ‚Notbehelfs‘-Charakter der Temperierung weist, dann geschieht dies vor dem Hintergrund des ‚Ton‘-Vorbilds und beinhaltet (wie bereits ausgeführt), dass Schönberg die Temperierung zwar in Kauf nahm, am liebsten aber darauf verzichtet hätte. Die Temperierung jedoch normativ zu machen, würde dem widersprechen und eben genau der von Schönberg kritisierten Umkehrung der Verhältnisse von Natur und Abbild (Kapitel I.3.1) Vorschub leisten. Wie konnte es demnach dazu kommen, dass die Äquidistanz der zwölf Töne sogar zu einer Prämisse und Forderung der Zwölftontechnik wurde? Eine verwandte Forderung lag mit der Gleichberechtigung der zwölf Töne vor. Da Schönberg Tonwiederholungen und Oktavdoppelungen in der Zwölftonkomposition grundsätzlich zu vermeiden suchte, hat man daraus jene Forderung nach der Gleichberechtigung der zwölf Töne abgeleitet. Schönberg führte dabei das Argument an, es könne durch Oktavdoppelungen und Tonwiederholungen ein Grundtongefühl aufkommen,397 und ein solches hätte dem Postulat der zwölf nur aufeinander bezogenen Töne widersprochen. Beiche bemerkt, der „gleichwertige Gebrauch aller zwölf Töne gilt bereits für die während der freien Atonalität komponierten Werke als (zumindest theoretische) Voraussetzung. Diesen Sachverhalt […] meint zwar auch die zu jener Zeit fast ausnahmslos pejorativ aufgefasste Bezeichnung Atonalität; durch Komposita mit dem Bestimmungswort ‚Zwölfton-‘ ist er nun aber ins Wort erhoben und somit gleichsam ins Positive gewendet.“398
396 In Bezug auf Fétis’ Tonalitätsbegriff im Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie (Paris 1844) fasst Beiche zusammen: „Mithin ist der Begriff tonalité unbedingt an eine Tonleiter geknüpft, die auch eine Skala mit Mikrointervallen […] sein kann; ausschließendes Moment im Tonalitätsbegriff scheint aber eine Äquidistanz der Tonstufen zu sein wie in der chromatischen Skala.“ Michael Beiche, [Artikel] Tonalität, S. 416. 397 Schönberg äußerte diesbezüglich in seiner Harmonielehre hinsichtlich der Folgen sechs- und mehrtöniger Akkorde: „Dann habe ich bemerkt, daß Tonverdoppelungen, Oktaven, selten vorkommen. Das erklärt sich vielleicht daraus, daß der verdoppelte Ton ein Übergewicht über die anderen bekäme und dadurch zu einer Art Grundton würde, was er wohl kaum sein soll.“ (Arnold Schönberg, HL, S. 502.) Sich darauf rückbeziehend äußert Schönberg im Kontext der Zwölftonkomposition, erst allmählich habe er eine Begründung dafür gefunden, warum eine Reihe zwölf Töne zu enthalten habe, warum keiner der Reihentöne allzu früh wiederholt werden und innerhalb einer Komposition nur eine Reihe benutzt werden solle: „To double is to emphasize, and an emphasized tone could be interpreted as a root, or even as a tonic; the consequences of such an interpretation must be avoided. Even a slight reminiscence of the former tonal harmony would be disturbing, because it would create false expectations of consequences and continuations. *The use of a tonic is deceiving if it is not based on all the relationships of tonality.*“ Arnold Schönberg, Composition with Twelve Tones (1) (1941), in: Style and Idea: Selected Writings of Arnold Schoenberg, S. 219. Die hier durch * markierte Textstelle ist in Gerhards Ausgabe des Aufsatzes (in: Arnold Schoenberg, Style and Idea, hrsg. von Dika Newlin, New York: Philosophical Library 1950, CUL Gerhard.MRS.31.29) durch einen roten Seitenstrich markiert. 398 Michael Beiche, [Artikel] Zwölftonmusik, in: Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Hans H. Eggebrecht, Stuttgart 1995 (= HmT Sonderband 1), S. 441.
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Dies ist allerdings noch keine Erklärung dafür, wie jene Umwendung passieren konnte, wie also jene Gleichberechtigung als Gesetz normativ werden konnte, sodass Beiche feststellen kann: „[…] verbindlich für alle Verfahren der Zwölftonkompos.[ition] ist die als (Zwölfton-)Gesetz apostrophierte gleichberechtigte, ausschließliche und in einem Stück permanente Verwendung der zwölf zu einem Ganzen zusammengefaßten Töne […].“399
Dass die Affirmation von Äquidistanz und Gleichberechtigung der zwölf Töne in gewisser Weise eine produktive Missrezeption der Zwölftontechnik darstellen kann, legt Gerhard nahe: „Some critics seem to think that twelve-tone technique imposes a rigid egalitarian system, where it is not possible or admissible for any note to attract more attention than any of its neighbours. Not at all: fundamentally all the twelve notes are equal in the sense that none can claim the position of a tonic or a centre, but in practice, some can be ‚more equal than others‘, in George Orwell’s phrase, whenever there is a musical reason for it.“400
Der Gedanke einer den zwölf Tönen inhärenten Ordnung („inherent rationality“401 im Tonmaterial), die sich vermittels der Reihe erschließen lassen sollte, war für Gerhard und den von ihm postulierten Tonalitätsanspruch der Zwölftontechnik leitend. Die Don Quixote-Reihe und ihr serial field kann für diesen Anspruch, dass sich eine Ordnung der zwölf Töne zeigen und hervorgebracht werden möge, einstehen, denn ihre Disposition ermöglicht die Bildung von Verwandtschaftsgraden zwischen den Reihen und insofern eine präkompositionelle Ordnung der zwölf Töne ohne eine Tonika-Bindung. Auch die Tonhöhenkonzentrationen, die kompositionell durch die Reihenkombination der Don Quixote-Reihen hervorgebracht werden, stehen im Zeichen des Hervorbringens jener angenommenen Ordnung der zwölf Töne und sind erwünscht. Steht Gerhard Schönbergs Denken diesbezüglich also entgegen? Schönberg vermied in der Zwölftonkomposition, wie erwähnt, Tondoppelungen bzw. Grundton-Allusionen. Die ‚Erinnerung‘402 an die alte Tonalität sollte ausgelöscht werden, und zu diesem Zweck wird vorübergehend auf bestimmtes Tonmaterial, auf Relikte der ‚alten‘ Tonalität, verzichtet. Dies muss aber nicht bedeuten, dass der Gedanke von Tonalität im Sinne einer präexistenten Tonbezugsordnung fallengelassen wurde. Vor dem Hintergrund einer Annäherung des Begreifens und des Hörapparats an den ‚Ton‘ als Motor musikgeschichtlichen Fortschritts, lässt sich diese Vermeidungsstrategie gleichsam als Trick verstehen, um den eigenen Erkenntnisapparat (und den der Mitwelt) zu überlisten, indem vorübergehend das mit den alten Hörund Denkgewohnheiten verbundene Tonmaterial gemieden wird.403 Das Problem, 399 400 401 402 403
Ebd. Roberto Gerhard, TTM, S. 124 f. Siehe Anm. 243, Kapitel I.3.3. Siehe Anm. 397. Dies würde Schönbergs Aussage entsprechen, dass das „alte System aus dem Weg geräumt“ werden müsse, bevor der Weg der Naturerkenntnis wieder aufgegriffen werden kann: „[…] das Sich-auf-die-Natur-Besinnen mag erkenntnistheoretischen Wert haben, ohne darum unmittelbar künstlerische Früchte tragen zu können. Sicher wird auch dieser Weg einmal wieder began-
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das hier in Angriff genommen wird, wäre demnach im Subjekt und dessen Erkenntnisapparat zu verorten, nicht aber in einem ‚verantwortlichen‘ Tonmaterial, das dauerhaft ausgeschlossen werden müsste. Angesichts dessen kann es verfehlt erscheinen, über eine solche Umgewöhnungsphase hinaus ein Tondoppelungs-Verbot zu installieren und sogar eine vorsätzliche Gleichberechtigung der zwölf Töne zu postulieren. Ein zentraler Bedeutungsaspekt von ‚Notwendigkeit‘ betrifft bei Schönberg den Schaffensprozess. Dies lässt sich einem relativ langen, von Gerhard markierten Abschnitt der Harmonielehre entnehmen, in dem es um Akkordverbindungen geht, bei welchen nicht mehr allein der Grundton, sondern auch ein anderer Akkordton im Bass liegen darf. Dieses Thema wird zum Anlass für einen schaffensphilosophischen Exkurs, in dem Schönberg einen Moment des Übereinkommens von „Notwendigkeit“ und „Vorteil“ beschreibt. (Anfang und Ende der Markierung Gerhards wird durch * angezeigt.) „Verschiedene Umstände aber erfordern es – und lassen es zu –, daß auch andere Akkordtöne als der Grundton im Baß vorkommen. Sie erfordern es, und *sie lassen es zu; eine Notwendigkeit und ein Vorteil. Dieses eigentümliche Ergebnis wird sich bei fast allen kunsthandwerklichen Erwägungen zeigen. Unwahrscheinlich, daß man einer Notwendigkeit gehorchte, wenn sie nicht auch einen andern Vorteil brächte als den, der sich bloß aus ihren ersten Bedingungen ergibt; unwahrscheinlich auch, daß sich ein Vorteil einstellte, der nicht an die Erfüllung gewisser Notwendigkeiten geknüpft wäre. Das sieht geheimnisvoll aus und ist es sicher auch: daß man etwas tut, weil die Notwendigkeit dazu zwingt, und dabei ungewollt Schönes hervorbringt; oder daß man das Gefühl hat, Schönes zu tun und dabei die Notwendigkeit erfüllt. Das ist eines jener Geheimnisse, die das Leben lebenswert machen. Diese Belohnung, die den mit allen Kräften Suchenden auf einer höheren Ebene als es die seiner Bemühungen war, überrascht, die stellt sich in der wahren Kunst und in der wahren Moral immer von selbst ein. Der kluge […] Kunsthandwerker aber wird sie von vornherein in seine Überlegungen einbeziehen. […] Selbst eine kleine Veränderung in den Grundlagen eines Organismus hat weitgehende Folgen. Sind sie auch nicht sofort sichtbar, so stellen sie sich unbedingt später ein. Er ließe also eine solche Veränderung nur dann geschehen, wenn er mindestens eine gewisse Anzahl der mutmaßlichen Folgen im vorhinein erdenken und auf ihren Wert oder Unwert abschätzen und abwägen kann. Nun ist aber sicher: entspricht eine solche Veränderung dem Wesen des Organismus nicht, so wird die Mehrzahl der Folgen schädlich, die scheinbare Notwendigkeit, die zu ihrer Veränderung veranlasst hat, auf eine unrichtige Beurteilung zurückzuführen sein. Entspricht aber die Veränderung wirklich dem Wesen dieses Organismus, seinem Entwicklungstrieb, dann werden sich aus einer solchen sachlich richtigen Maßnahme nicht nur jene Vorteile ergeben, die man erwartet hat, sondern auch andere, die man nicht angestrebt hat. Und umgekehrt, ginge man von dem Wunsch aus, einem Organismus neue Leistungen abzugewinnen, die in seinem Wesen begründet sind, so wird sich stets zeigen, daß man damit einer Notwendigkeit dieses Organismus nachgegangen, dass man seinem Entwicklungstrieb fördernd entgegengekommen ist.*“404
Schönberg beschreibt ein Hineinhorchen in den „Entwicklungstrieb“ („Notwendigkeit“), der einer als „Organismus“ aufgefassten Werkidee inhärent ist, eine ehrliche gen werden, der der Natur neue Geheimnisse ablauscht. Sicher werden auch die sich dann wieder zu einem System verdünnen, aber vorerst muß das alte System aus dem Weg geräumt sein.“ Arnold Schönberg, HL, S. 52 f. 404 Ebd., S. 58 f. (In Gerhards Exemplar S. 62.)
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Bemühung des Suchens nach diesem „Entwicklungstrieb“, die nach Schönberg belohnt wird mit der Offenbarung eines „Vorteils“ für Schaffenden und Schaffen. Der von Schönberg beschriebene glückliche Moment einer Koinzidenz von „Notwendigkeit“ und „Vorteil“ ergibt sich dann, wenn das Schaffen sich selber in jenes Telos von Werkidee und ‚Natur‘ eingliedert.405 Das Außergewöhnliche jenes Moments besteht in einer Synchronisation des Innen (der eigenen Vorstellung von der Bestimmung, dem ‚Entwicklungstrieb‘ der Werkidee bzw. des Tonmaterials) und des Außen (der angenommenen tatsächlichen Bestimmung). Den Hintergrund bildet der oben genannte Gedanke der Annäherung des Begreifens an die ‚Natur‘. Diese Synchronisierungsidee ist hinsichtlich Gerhards Tonalitätsreflexion von großer Bedeutung. Denn jene Annäherung an ‚Notwendigkeit‘ wird nicht als eine Beschneidung individueller (ästhetischer) Freiheit gedacht, sondern ist, wie Schönberg beschreibt, vielmehr von ‚Vorteil‘. Im Gegensatz dazu stünde eine Sichtweise, nach der ‚Notwendigkeit‘ im Sinne eines Außendrucks von Konventionen verstanden würde, dem sich das Individuum entgegenstellen muss, um Freiheit zu erlangen. Hier aber ist ‚Notwendigkeit‘ kein ‚Gegner‘, sondern steht für eine höhere Ordnung im Außen, mit welcher der Einzelne übereinkommen soll, anstatt seine vermeintlich ganz eigene ‚Gegenordnung‘ schaffen zu wollen. Es wird sozusagen von einem Tonmaterial eine inhärente Regel abgeleitet, anstatt eine Regel an dasselbe heranzutragen. Jener markierte Textabschnitt ist bezeichnend für Gerhards Selbstverständnis vom Schaffen. Für ihn ist ein Übereinkommen mit ‚Notwendigkeit‘ (oder ‚Natur‘) – das, was bei Unamuno als ein SichAneignen-Lassen des eigenen Bewusstseins durch das Außen beschrieben wird („adaptación mutua de nosotros y el mundo”406) – verbunden mit einem Moment maximaler Freiheit. Freiheit wird insofern nicht als Freiheit von Bindung und von äußeren Umständen verstanden, sondern im Gegenteil, als ein intimes Verstehen derselben im Sinne von ‚Notwendigkeit‘ und die Identifikation des individuellen Willens damit. In einem seiner Notizbücher zitiert Gerhard aus Unamunos Schrift TC: “…con la verdadera libertad, la que nace de la comprension viva de lo necessario, con la libertad que da el hacer de las leyes de las cosas leyes de nuestra vida, con la que nos acerca a una como omnipotencia humana. Porque si en fuerza de compenetración con la realidad, 405 Es lässt sich annehmen, dass sich Schönberg mit jenem ‚Entwicklungstrieb‘ sowohl auf das Kunstwerk und die Werkidee als auch auf dasjenige bezieht, was er als ‚Natur‘ oder als das „Wesen des Tons“ (siehe Anm. 79, Kapitel I.1) bezeichnet. Wie Neff und Carpenter betonen, ist die Auffassung von Kunst als Imitation eines Organismus bzw. eines Naturvorbilds für Schönbergs Kunstauffassung grundlegend. Wiederkehrend finde sich in seinen ‚Gedanke‘-Manuskripten die Entgegensetzung von (ganzheitlicher) Kunst und Wissenschaft: „He interprets this in a way that conforms to nineteenth-century organicism; artistic creation is like natural generation; the artwork, governed by internal laws and an internal idea, is conceived as a whole in a single act, like an organism.“ (Patricia Carpenter und Severine Neff, Editor’s Preface, in: Arnold Schönberg, The Musical Idea and the Logic, Technique, and Art of its Presentation, hrsg. von P. Carpenter und S. Neff, Bloomington 2006, S. xxiii.) Allerdings verstehe Schönberg Kunst nicht nur als Imitation der äußeren, sondern auch der inneren Natur, wobei Schönberg eine Wechselwirkung zwischen beidem voraussetzte. Siehe dies., Commentary, in: ebd., S. 10 f. 406 Miguel de Unamuno, TC, S. 160.
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llegáramos a querer siempre lo que fuera, siempre sería lo que quisiéramos. He aquí la raíz de la resignación viva, no de la muerta, de la que lleva a la acción fecunda de trabajar en la adaptación mutua de nosotros y el mundo, a conocerlo para hacerlo nuestro haciéndonos suyos, a que podamos cuanto queramos, cuando sólo podamos querer lo que podamos llevar a cabo. En torno al casticismo (Unamuno)”407
Den gleichen, auf künstlerisches Schaffen übertragenen Gedanken äußert Gerhard (explizit auf Unamuno referierend) in einem undatierten Text mit der Überschrift „CASALS“.408 Er schildert, der Cellist Pablo Casals habe in gemeinsamen Gesprächen häufig die Begriffe ‚natürlich‘ und ‚Natürlichkeit‘ erwähnt. Gerhards Auslegung ist aussagekräftig für die Parallelität von ‚Natur‘ und ‚Notwendigkeit‘ in Gerhards Denken: „At diff[e]rent periods of my life it has been my good fortune to live near Casals and to be admitted into the intimacy of his home and of his studio, where it is quite simple to provoke the easy and unconstraint flow of his conversation. […] There is one expression I have noticed, which constantly recurs in his conversation. They are the words natural and naturalness. They suggest a notion which – you may agree – is apt to prove somewhat embarassing in any critical context. […] […] What is it – I have often asked myself – that seems to imbue these words with more than their usual meaning when C[asals] uses them. Are they to be taken as expressing a stern, self-imposed ideal of objectivity for which any other set of words might be found an equally inadequate expression? Do they paraphrase the artist’s awareness of that tremendous condition and – at the same time – most precious gift, which we may call by the name of necessity; necessity especially as it confronts us in art. Or would C mean by ‚naturalness‘ that last and supreme freedom which the artist can achieve by adapting, and finally identifying, the laws of his own nature with the laws of the object-world he has to deal with, so that in the end he cannot will but what is necessary – thus achieving indeed a kind of omnipotence (as Unamuno, the Rector of Salamanca has put it), since we could then do all we can will ourselves to do because our mind would have learned to will that only which it can do.“409
407 Miguel de Unamuno, TC, S. 160, zit. nach Roberto Gerhard, CUL 10.136 (von Poldi Gerhard datiert auf 1946). Die von mir vorgenommene Unterstreichung zeigt einen Zitierfehler bei Gerhard an. Statt „las leyes de las cosas leyes de nuestra vida“ lautet die entsprechende Textstelle bei Unamuno: „las leyes de las cosas leyes de nuestra mente.“ Dieser Zitierfehler wurde in der folgenden Übersetzung korrigiert: „[…] mit der wirklichen Freiheit, derjenigen Freiheit, die aus dem lebendigen Verstehen des Notwendigen erwächst, mit derjenigen Freiheit, welche die Gesetze dessen schafft, was in unserem Bewusstsein gesetzmäßig ist, und die uns einer Art menschlicher Allmacht näherbringt. Denn wenn wir kraft der Durchdringung der Realität dazu gelangten stets das zu wollen, was sein würde, dann wäre dies stets das, was wir wollten. Hier haben wir die Wurzel der lebendigen Resignation, nicht der toten, solcher Resignation, die uns zur Tiefe des Handelns führt, dazu, an der gegenseitigen Anpassung zwischen uns und der Welt zu arbeiten, die Welt zu kennen, um sie uns zu eigen zu machen, während wir uns von ihr aneignen lassen, damit wir dazu kämen das zu können, was wir wollten, wobei wir nur das zu wollen vermochten, was zu Ende zu bringen wir fähig wären.“ Miguel de Unamuno, TC, S. 160 [Übersetzung G. L.]. 408 Es handelt sich hierbei offenbar um ein von Gerhard (vielleicht für die BBC) verfasstes Vortragsskript einer Laudatio anlässlich des Geburtstags von Pablo Casals. 409 Roberto Gerhard, CASALS, 5 Seiten, Typoskript, englisch, CUL 11.4, S. 3 f. [Unterstreichungen von Gerhard]. Gerhard fährt fort: „I do not presume to have found an answer to this question and I hope I may be forgiven for this excursion into metaphysics. […] I would like to
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
Die Rede von der ‚Notwendigkeit‘ zeigt vor allem, dass ein Kontakt mit ‚Natur‘ nicht voraussetzungslos zu erreichen, sondern vielmehr einem besonderen Moment vorbehalten ist, in dem der Einzelne mit dem Ganzen übereinkommt. Unamuno beschreibt in TC diesen Moment der intimen und perfekten Synchronisierung zwischen Innen und Außen, den er in der Kontemplation der Mystiker findet, und der zum Handeln und Schaffen führen soll.410 Er äußert, in seinem Reifestadium habe die Idee Kastiliens (der „espíritu castellano“) die Mystik als die ihr eigene Philosophie adaptiert, welche nicht Wissenschaft sei, sondern auf dem Bestreben beruhe, sich dem Ideal des Universums und der Menschheit anzunähern, das eigene Bewusstsein mit diesem zu identifizieren, um, daraus die Antriebe des Handelns gewinnend, Leben in einem ewigen und universellen Sinn zu leben.411 Wer jene Synchronisierung des Denkens und Fühlens mit ‚den Gesetzen der Welt‘ erreichte („quien lograra acabada comprensión del organismo universal“), der würde, was er wollen soll, stets mit seinem eigenen Wollen identifizieren („querría siempre lo que debiera querer“).412 Der Kontakt mit dem ‚Wollen‘ und mit ‚Notwendigkeit‘ wird zur Voraussetzung des Handelns und Schaffens, das so, als Produkt jenes Weltgesetzes, der „ley viva del universo“,413 zur Kontaktstelle mit der Realität als ‚höherer Realität‘ (mit „el ideal de la realidad“414) wird. Die Übereinstimmung mit jenem Weltgesetz nimmt ihren Ausgang vom Innen, genauer: vom
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suggest that C‘ use of the word ‚naturalness‘ appears to shed a new light on the imputation of hedonism leveled against the Catalans. It seems to imply indeed a notion completely and blissfully oblivious of the theological twist by which the so-called state of nature came to mean the opposite of the state of grace. In my humble opinion C‘ ‚naturalness‘ surely means and is a state of grace.“ (Ebd.) Die Vorstellung eines „state of grace“ lässt sich in Bezug setzen zu dem von Unamuno thematisierten, durch das Stadium der Intellektualität hindurch zu erlangenden Naturzustand eines geistigen Menschen (espiritual). Siehe auch Kapitel II.4.3. „Corre [el espíritu castellano, G. L.], tras la perfecta adecuación de lo interno con lo externo, a la fusión perfecta del saber, el sentir y el querer; mantiene el ideal de la ciencia concluida, que es acción, y que, como Raquel, moriría de no tener hijos.“ Miguel de Unamuno, TC, S. 218. „Tomó [el espíritu castellano, G. L.] por filosofía castiza la mística, que no es ciencia, sino ansia de la absoluta y perfecta hecha sustancia, hábito y virtud instransmisible, de sabiduría divina; una como propedéutica de la visión beatífica; anhelo de llegar al Ideal del universo y de la humanidad e identificar al espíritu con él, para vivir sacando fuerzas de acción, vida universal y eterna […].“ Ebd. „La ley moral es, en efecto, la misma de la naturaleza, y quien lograra acabada comprensión del organismo universal viendo su propio engrane y oficio en él, […] la infinita irradiación de cada uno de sus actos en la trama infinita del mundo, querría siempre lo que debiera querer.“ Ebd., S. 224. Ebd., S. 219. Siehe ebd., S. 190. Wenn Unamuno hier von „el ideal de la realidad“ spricht, dann ist damit nicht eine Gegenwelt des Idealen gegenüber dem Existierenden gemeint (die Rolle einer die Realität vermenschlichenden Gegenrealität nehmen bei Unamuno v. a. eine verselbständigte Logik und Vernunft ein). Jene ‚höhere Realität‘ betrifft vielmehr die ‚Innenseite‘ des Existierenden und Sich-Ereignenden, die an den wesenhaft immateriellen, gedanklichen (und insofern ideellen) Grund aller Realität rührt.
I.3. Der methodische, ‚quixotische‘ Charakter der Zwölftontechnik
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Durchdringenlassen des Innen durch das Außen.415 In der Suche nach jenen Momenten der Annäherung an den ‚Ton‘ als unbegreiflicher Entität, die mit dem Fühlen von ‚Notwendigkeit‘ verbunden ist, rücken die Vorstellungen von einer Natur des Tons und Unamunos Vorstellung eines zu erschließenden Weltgesetzes bzw. ‚höherer Realität‘ in Nähe zueinander. Die besagten Momente der ‚Notwendigkeit‘ begleiten so ein Schaffen in Übereinkunft mit der Naturordnung. Zugleich ist solche ‚Notwendigkeit‘ – das Übereinkommen mit dem Ganzen – an das Schaffen (Zeugen) und Handeln gebunden. Nicht um reine Kontemplation handelt es sich also, und auch nicht (zumindest nicht vorrangig) um Momente einer intellektualistischen Adäquation von Wissen und Realität, denn Unamuno spricht vom Ideal der „ciencia concluida, que es acción“ als der perfekten Fusion von Wissen, Fühlen und Wollen.416 Die ‚Notwendigkeit‘, die sich bei der Synchronisierung von Ich und Weltgesetz einstellt, ist verbunden mit dem von Unamuno angeführten Moment innerer Freiheit.417 Gerhard rekurriert darauf mit Bezug auf die Zwölftonmethode. Die Bindung an die Reihe stellt sich für Gerhard als ein Hilfsmittel dar, um jene Momente des Kontakts mit ‚Notwendigkeit‘ auf einem methodischen Weg herbeizuführen.418 Für Gerhard wird Freiheit erst in Abhängigkeit von einer strengen methodischen Kontrolle verfügbar: „It is obvious that the strengthening of our methodological control postulates a vitalizing of the powers at the opposite pole. And, conversely, more living-room for the anarchist demands a commensurate increase in the rigour of our system of constraints.“419
Mit der Reihe ließ sich für Gerhard die von ihm im Sinne einer „phase of anarchy“420 charakterisierte Phase der ‚Freitonalität‘ (‚Atonalität‘) mit ihrem Mangel an be-
415 Nur der Modus des Glaubens, und damit ein aus dem Innen eines Menschen hervorgehender Weltzugang, ermöglicht für Unamuno die Kontaktnahme mit jener Gesetzmäßigkeit von Welt und ‚Leben‘: „[…] la fe busca lo imposible, lo absoluto, lo infinito y lo eterno: la vida plena. Fe es comulgar con el universo todo, trabajando en el tiempo para la eternidad […].“ Ders., La Fe (1900), in: Ensayos I, hrsg. v. Bernardo G. de Candamo, Madrid: Aguilar 61964, S. 260. 416 Siehe Anm. 410. 417 Von ‚innerer Freiheit‘ ist weiter die Rede in Miguel de Unamuno, TC, S. 227. Gerhard spricht davon in der bereits zitierten Casals-Laudatio als „[…] that last and supreme freedom which the artist can achieve […] thus achieving indeed a kind of omnipotence […].“ Roberto Gerhard, CASALS, CUL 11.4, S. 4. In Bezug auf das Aufkommen der Zwölftonmethode spricht Gerhard vom Wiedereinführen von ‚Notwendigkeit‘ „with it a positive measure of liberty.“ Vgl. ders., TTM, S. 124. 418 Dies umfasst eine methodische Ausschaltung und Überwindung subjektiver Denkgewohnheiten, vermittels derer Realität als gegenständlich erscheint. Dem entspricht bei Unamuno Alonso Quijanos Opferung der Vernunft und seine Neugeburt als Don Quixote. Der quasi mechanische Charakter einer Methode gleicht dabei dem sturen Festhalten Don Quixotes an seinem Rittertum-Ideal – jenem Festhalten, das als Wahn (locura) und als Aufgabe von Vernunft und Freiheit erscheint. Siehe Kapitel II.2. 419 Roberto Gerhard, DTT, S. 133. 420 Vgl. ders., TTM, S. 124.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
wusster Tonhöhenorganisation überwinden und das in jener Phase verlorengegangene Element von ‚Notwendigkeit‘ wiedereinführen, und damit zugleich: „[…] a positive measure of liberty.“421 Neben dem positiven Aspekt methodischer Beschränkungen sieht Gerhard aber auch die Gefahr, dass das Methodisch-Machen des Kompositionsprozesses überhand nehmen und Setzungen zu einer Systembildung führen können. Gewissermaßen darf eine Setzung nicht – wie ein Programm – bereits das vollständige Ergebnis einer Untersuchung determinieren. Dies hieße, dass deren Ergebnis voraussehbar ist und würde eine Prüfung desselben unnötig machen (siehe hierzu Unamunos analoges erkenntnistheoretisches Problem des Dogmatismus und der „abogacía“, Kapitel II.1.2.1). Mit der Fortentwicklung der Zwölftontechnik hin zum Serialismus muss Gerhard die von ihm früh erkannte Tendenz einer Systemwerdung von Zwölftontechnik bestätigt gesehen haben. In Gerhards unverhüllter Kritik am Serialismus der Darmstädter Schule422 lässt sich ein Nachwirken des an Unamuno gemahnenden Gedankens wiederfinden, nach dem ein Dogmatismus der Vernunft eine wahrhafte Kontaktnahme mit Realität – einer Ordnung der Realität, und nicht menschlicher Vernunft – unterbindet, und damit einen Kontakt mit jenem schönbergschen ‚Entwicklungstrieb‘ im Kunstwerk bzw. Tonmaterial, der, wenn ihm gefolgt wird, als ‚Notwendigkeit‘ und ‚Vorteil‘ erfahrbar wird. Gerhard erklärt die Reverenz der Serialisten gegenüber Webern (und nicht mehr Schönberg) aus bestimmten Innovationen Weberns heraus (offensichtlich bezieht er sich implizit auf den Spätstil Weberns), die er allerdings sehr kritisch beurteilt: Webern habe eine persönliche Wende („personal twist“) der auf Schönberg zurückgehenden Reihentechnik eingeleitet.423 Unter Schönberg habe die Zwölftontechnik dem Zweck gedient, allein die methodische Kontrolle der Tonhöhen-Variablen zu erleichtern, sowohl in der Sukzession als auch im Zusammenklang der Töne. Sie habe sich letztlich wesenhaft als eine Methode der Distribution erwiesen, obwohl sie von Schönberg anfänglich nicht als solche beabsichtigt gewesen sei.424 Zur distributiven Methode konnte sich die Zwölftontechnik, wie Gerhard erklärt, durch die von Schönberg bevorzugte Praxis der Segmentierung von Reihen entwi-
421 Gerhard äußerte über die Zwölftontechnik und zwei sie zentral konstituierende Regeln der permanenten Nutzung der Reihenformen des serial field und der Unverletzlichkeit der Intervallfixierung der Reihe: „[…] these give the tone-material, which atonality had ‚softened‘ and reduced to a state of over-plasticity, a new, exhilarating quality of resistance, hardness, almost intractableness. The nature, the ‚grain‘, of the series wants to be obeyed. It is no longer possible to do ‚anything you like‘ or exactly as you like. By ‚re-introducing[‘] compulsion and restrictions, par un système de gênes bien placées – necessity has come again into its own, and with it a positive measure of liberty.“ (Ebd.) Siehe auch Gerhards Rede von zwölftontechnischem Vorgehen als Korrektur eines ‚anarchischen Egalitarismus der zwölf Töne der chromatischen Skala‘. Vgl. ders., The Muse and Music today (1962), S. 217 f. Man bemerke: Der ‚Egalitarismus‘ bzw. eine Gleichberechtigung der zwölf Töne wird hier als zu korrigierendes Problem, und nicht als zu erreichendes Ideal, genannt. 422 Siehe Anm. 326, Kapitel I.3.4. 423 Vgl. ders., The Muse and Music today (1962), S. 217. 424 Vgl. ebd., S. 217 f.
I.3. Der methodische, ‚quixotische‘ Charakter der Zwölftontechnik
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ckeln.425 Dagegen habe Webern ab einem bestimmten Zeitpunkt das Segmentierungsverfahren, das die Flexibilität der schönbergschen Methode garantiere, zugunsten der unsegmentierten, ganzen Zwölftonreihe abgelehnt, was Webern dazu geführt habe, der (intervallklassenfixierten) Reihe den Rang eines Gesetzes einzuräumen:426 „What was essentially pragmatic, in Schoenberg, merely a norm of craftsmanship […], acquires in Webern the category of ‚law‘, of nomos, and soon after, in his successors, of fanatical shibboleth.“427
Diese Ablehnung des Segmentierungsverfahrens habe eine lineare Satzweise konsolidiert, und der Bedarf ebenso vieler Reihenformen wie Stimmen im zwangsläufig polyphonen Satz habe weiter zur Folge gehabt, dass Webern nicht mehr nur eine, sondern mehrere Reihen benötigt habe, was Gerhard im Sinne einer Einbuße bereits errungener Flexibilität in der Handhabung der Reihe bewertet.428 Man bemerke hier, dass Weberns ‚persönliche Wende‘ als eine Abweichung von der schönbergschen Methode und nicht als direkte Nachfolge der schönbergschen Praxis erscheint (während Gerhard an jenes ‚wesenhaft‘ distributive und methodische Potenzial der Zwölftontechnik anknüpfte).429 Gerhard betrachtet – entgegen dem vorherrschenden Diskurs – Weberns Praxis als eine konservative, wenn nicht regressive in der geschichtlichen Entwicklung der Zwölftonmethode.430 Weiter führt Gerhard an, dass Weberns Gebrauch einer unsegmentierten Reihe den melodischen Gestaltungsraum auf die durch die Reihe vorbestimmten Intervalle beschränke und, auf vertikaler Satzebene, die Schichtung mehrerer, konkurrierender Reihen die Harmonik zu einem zufälligen, wenig kontrollierbaren Resultat der linear fortschreitenden Stimmen werden lasse.431 Auf dieser Ebene sieht er einen Widerspruch zwischen ‚deterministischem‘ und ‚aleatorischem‘ Prinzip bei Webern,432 und es ist bemerkenswert, dass er mit Bezug auf jenen deterministischen Aspekt (Weberns Beschränkung der Reihe auf wenige, gleiche Intervalle) erneut auf das von Unamuno stammende Thema der Synchronisierung von Innen und Außen aus TC Bezug nimmt und Unamuno dabei aus dem Gedächtnis paraphrasiert: 425 426 427 428 429
Ebd., S. 218. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. In Betreff seiner persönlichen, modifizierten Anwendung der schönbergschen Methode im über 30 Jahre früher entstandenen Bläserquintett (1928) hatte Gerhard sich allerdings noch selber als ‚häretischen‘ Abweichler wahrgenommen (siehe Einleitung). 430 „[…] his [Webern’s, G. L.] attitude, if not regressive, is at least conservative and retarding, since it consolidates a principle of stratification applied to horizontal layers or part-writing: the latter, in Schoenberg, had already begun to give way to a unified concept of the musical space needed to overcome the dichotomy between the horizontal and the vertical.“ Roberto Gerhard, The Muse and Music today (1962), S. 218. 431 Vgl. ebd. Der von Gerhard so bezeichnete „control of the overall harmonic progress“ (ebd.) werde demnach reduziert. 432 Siehe ebd.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität „[…] the determinist difficulty in Webern remains obvious after the manner of Unamuno’s dictum (as I recall it): ‚If you always wanted that which is, it would always be what you want.‘433 In effect, the conflict between the artist’s will and the obligatory basis of the series disappears at the point at which Webern renounces willingly the multiplicity of melodic intervals, choosing series that only include a few.“434
Indem der Konflikt zwischen „the artist’s will and the obligatory basis of the series“ verschwindet, anerkennt Gerhard, dass sich hier in der Tat jener von Unamuno beschriebene Moment des Übereinkommens von Innen und Außen eingestellt hat. Weiter räumt Gerhard ein, dass die Tonorganisation Weberns – „[c]onsidered from a purely methodological standpoint“ – die Schönbergs an Strenge, Klarheit und Eleganz überbiete.435 Gerhards Anbringen von Unamunos Dictum erscheint mir in diesem Zusammenhang dennoch als sehr zweifelhaftes Lob. Zwar wird die genannte Übereinkunft von individuellem Willen und dem ‚constraint‘, den die Reihe liefern soll, erreicht, man könnte hier allerdings einwenden, dass ein potenzieller Konflikt zwischen beidem aufgrund der eingeschränkten Intervallvielfalt von vornherein unter entschärften Bedingungen auftritt. Der individuelle Wille hat sich von Anfang an dem Außen des ‚constraint‘ angepasst, anstatt – durch die methodisch gesetzte Materialbeschränkung hindurch – in sich selber das überindividuelle Wollen zu erkennen und sich damit (und d. h. auch: mit den im Wollen zu verortenden präexistierenden Tonbeziehungen) zu synchronisieren. Die Bemühung des Übereinkommens mit dem Wollen kann kaum mehr eine Rolle spielen, wo das vom Individuum Gesetzte mit dem individuellen Willen identifiziert, unbeschränkt gesetzgebend gemacht wird und an die Stelle des Wollens tritt. Webern nimmt sich damit die Möglichkeit, vermittels seines eigenen Wollens mit dem Wollen, verstanden als einer dynamischen Eigengesetzlichkeit des Materials, in Kontakt zu kommen. Derart liegt ein eigentlich verfehltes (und nicht, wie Gerhard via Unamuno äußert: treffendes436) Beispiel der Kontaktnahme mit den Eigengesetzlichkeiten des Tonmaterials vor. Dementsprechend wäre auch zu sehen, dass Gerhard mit Weberns
433 Siehe Anm. 407. 434 Roberto Gerhard, The Muse and Music today (1962), S. 219. 435 Gerhard differenziert seine gegenüber Webern kritische Position: Auch wenn Weberns Kompositionen in ihrem Determinismus der ‚Demonstration eines Theorems‘ glichen, und damit der Verdacht aufkommen könnte, dass Intuition und Inspiration darin keinen Platz hätten, so könne man einen solchen Verdacht in Bezug auf Webern keinesfalls bestätigen. Gleichwohl sei aber eben jener Aspekt des Aufgehens im Theorem („the quantitative analysable aspect“) der Ausgangspunkt für den Nachkriegs-Serialismus in der Webern-Nachfolge („[…] for all the advanced tendencies appearing in music during the last ten years or so.“), den Gerhard kritisiert. (Ebd.) Jene Kritik am determinierten Werk trifft damit unmissverständlich die Nachfolger Weberns. 436 Warum Gerhard den Synchronisierungs-Gedanken Unamunos hier also eigentlich an unpassender Stelle, und insofern halbherzig einsetzt, ist fraglich. Denkbar ist, dass Unamunos Synchronisierungs-Gedanke und damit der Glaube an ein überindividuelles ‚Wollen‘ und Weltgesetz bzw. eigengesetzliche Tonbeziehungen für Gerhard bereits an Aussagekraft verloren hatte und nun (missverständlicherweise) auch dort angebracht wurde, wo eigengesetzliche Tonbeziehungen gar nicht mehr zur Debatte standen.
I.3. Der methodische, ‚quixotische‘ Charakter der Zwölftontechnik
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Praxis einen Wandel hin zu einer strukturellen Auffassung vom Intervall einhergehen sieht.437 Im Kontext mit einer postseriellen Wende zur Aleatorik macht Gerhard auf einen Verlust des Bewusstseins für ‚natürliche‘ Intervallspannungsgrade aufmerksam, auf: „[…] the intrinsic qualities of the interval – its expressive character and physiognomy“.438 Eindeutig wird klar, dass Gerhard jene Nachkriegsentwicklung, die für ihn an eine Systemwerdung der Zwölftontechnik anschloss, negativ bewertet. So kritisiert er im folgenden Notizbucheintrag die Tendenz zur nahezu integralen Determinierung einer Komposition durch ihre Setzungen: „ aprioristic framework (a-prioristic nature of system-predeterminations): a precompositioned order remains outside is extrinsic to the composition When it becomes intrinsic (as in Boulez[‘] ‚Structures‘[)] automatism takes the place of creative inventiveness and control.“439
437 Gerhard spricht von „a radical change that occurs, in Webern’s work, in the function of the interval. Once completely understood, this change ensures that the structural prevails over the lyrico-rhapsodic in contemporary music.“ (Ebd., S.219.) In der Rede vom nicht-strukturellen, ‚lyrisch-rhapsodischen‘ Aspekt des Intervalls lässt sich möglicherweise die dynamisch-energetische ‚Innenseite‘ von Tonbeziehungen (quasi der ‚ungezähmte‘ Aspekt einer Natur des Tons) erkennen. 438 Eine zunehmende Indifferenz jener ‚natürlichen‘ Intervallspannungsgrade moniert Gerhard im Zusammenhang mit dem Erreichen eines extremen Grads von Determinismus (des Quantifizierbarkeits-Prinzips) in der seriellen Musik. (Vgl. Roberto Gerhard, The Muse and Music today (1962), S. 221). Auch in Bezug auf aleatorische Musik, der ‚statistisch-quantitativen Konzeption eines Klangphänomens‘ moniert Gerhard in diesem Sinne einen Exzess an ‚Indifferenz‘ und einen „lack of ‚tone‘“ (ebd., S. 222): „The note, the interval, therefore, are worthless, they remain underrated. This goes deeper than any of the purely stylistic changes that the history of music registers. […] It seems as if for the first time the word ‚atonal‘ might be just about to acquire meaning. For, on the other hand, it’s clear that asking that the intrinsic qualities of the material be the ‚determinant of the form‘ is not a new requirement. Every art that has not been essentially decorative, has always complied with it. What happens now is different.“ (Ebd., S. 223) Jene Indifferenz hat sich, nach Gerhard, quasi aus einem Inflationsphänomen, einer Wertabnahme dissonanter Klangspannungen entwickelt: „[…] there is no doubt that up to now the ‚pitch focus‘ of note and interval have been considered, in all the cultures we know of, as indications of the ‚semantic‘ dimension par excellence of music. In rhythm, the semantic dimension is much more ambiguous. But at this point, we are concerned with asking for the cause or causes for this devaluation of the tonal. An obvious one is the phenomenon of auditive tolerance which is produced as the ear gets used to dissonances (tensions) of greater dynamic potential. There is a point beyond which the economists’ law of diminishing returns starts to operate: this is, the auditive tolerance that the same process of dynamic intensification has induced begins to lessen. […] Understandably, on reaching this point, the composer begins to get interested in other than traditional sonorous materials derived from the instruments currently in use. I refer, of course, to electronic music.“ Ebd., S. 223. 439 Ders., Notizbuch, CUL 9.109. Im publizierten Text äußert sich Gerhard diplomatischer über Boulez’ Komposition: „Possibly the only acceptable work that has been produced under these conditions has been the first book of Boulez’s Structures, although this work only represents a limited application of integral serialization. Where the ambition is fulfilled unreservedly, as in the works of some Germans and Belgians of the second rank, the result is unutterably dull.“ Ebd., The Muse and Music today (1962), S. 220.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
Hier fordert Gerhard, die Setzungen, d. h. präkompositionellen Ordnungsvorgaben einer Komposition, sollten dieser möglichst ‚extrinsisch‘ (‚äußerlich‘) bleiben; ihnen ist im Kompositionsprozess eine nur begrenzte Reichweite einzuräumen. Die Setzung etwa einer Reihe soll demnach eine präkompositionelle Angelegenheit sein und bleiben, d. h. an ihr wird im Kompositionsprozess nicht mehr ‚gerüttelt‘. Ihrer wird sich bedient, sie ‚beherrscht‘ jenen Prozess aber nicht. Klang, Zusammenklang und Gestalt sind zwar Resultate jener Setzung, gehören aber dem kompositionellen Bereich an und dürfen niemals in der Setzung aufgehen. Verstanden als Methode ist die Zwölftontechnik für Gerhard ein Hilfsmittel, um im Schaffensprozess mit ‚Notwendigkeit‘ in Kontakt kommen zu können (vereinfachend könnte man sagen: eine selbst gewählte Entscheidungshilfe). Verstanden als ein System, verstellt die Zwölftontechnik jenen Kontakt jedoch vielmehr. Das auf die Reihe übertragene Thema der Zweischneidigkeit im Voraus gesetzter Regeln und der Gefahren der Systemwerdung lässt sich als ein Erbe der von Schönbergs Harmonielehre geprägten Tonalitätsreflexion Gerhards betrachten. In der Harmonielehre hatte Schönberg Kritik an einer Musiktheorie geübt, deren Autorität durch die vermeintliche Geschlossenheit des tonalen Systems gestützt wird, und die normative Regeln für den Tonsatz aufstellt und sich dabei anmaßt zu definieren, welche Zusammenklänge als schön gelten dürfen;440 außerdem kritisierte er im Zusammenhang mit einer Systemwerdung von Tonalität die Verkehrung eines MittelZweck-Verhältnisses (siehe Kapitel I.3.1).441 Vor allem aber ist jenes Thema im pragmatischen Wahrheitsbegriff Unamunos verwurzelt: Für Unamuno ist eine Idee oder Theorie ein janusköpfiges Hilfsmittel. Für das wollende Individuum, das sich die Idee seines Lebens setzt und sie in Existenz bringt, ist die Idee-Werdung der adäquate Weg, um unsterblich zu werden. Die Setzung birgt aber zugleich immer das Risiko einer Unterwerfung unter die Idee, einer Ideenherrschaft (ideocracia) (siehe Kapitel II.1.2.1). I.4. DAS WOLLEN ALS GRUNDLAGE DES REALITÄTSUND DES TONALITÄTSZUGANGS Es wurde bereits erwähnt, dass die bei Unamuno behandelte Synchronisierung mit dem Ganzen nicht im Sinne einer feststehenden, objektivierbaren Korrespondenz von Wissen und Realität zu verstehen ist, sondern vielmehr das Schaffen und Handeln für den Kontakt mit Realität im Sinne von ‚Leben‘ konstitutiv ist. Man könnte sagen, das Schaffen erweise sich dabei als Ausweg aus dem Problem des dem ‚Leben‘ stets hinterherhinkenden, apriorischen Wissens, nämlich als die einzige Chance, um ‚Leben‘ (auch da, wo es sich Wissen entzieht) einzuholen. Hier zeigt sich die typisch lebensphilosophische Prämisse, nach der das begriffliche, auf Identitätsbezügen bzw. Wiederholbarkeit beruhende Denken, insbesondere wenn es
440 Vgl. Arnold Schönberg, HL, S. 4 f. 441 Vgl. ebd., S. 380.
I.4. Das Wollen als Grundlage des Realitäts- und des Tonalitätszugangs
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zum System ausgearbeitet wird, dem permanent im Zeitlichen und in Handlungen sich vollziehenden ‚Leben‘ nie ganz gerecht werden kann. Unamuno beschreibt ‚Leben‘ als einen unaufhörlichen, ungebundenen Rhythmus, der keine exakten Wiederholungen und kein Regelmaß aufweist, und damit im Sinne absoluter Veränderung (vergleichbar mit dem von Gerhard so bezeichneten „Nou-Etern“442): „Cuando la vida es honda, es poema de ritmo continuo y ondulante.“443 Dagegen steht die Vernunft („inteligencia“), das systematisierte Wissen, für einen Totalität beanspruchenden, dabei aber reduktionistischen Entwurf von der Welt. Intellekt und analytisches Denken tendieren bei Unamuno zur Verfestigung von ‚Leben‘, d. h. zum ‚Toten‘: „[…] en rigor, la razón es enemiga de la vida. Es una cosa terrible la inteligencia. Tiende a lo muerto como a la estabilidad la memoria. Lo vivo, lo que es absolutamente inestable, lo absolutamente individual, es, en rigor, ininteligible. La lógica tira a reducirlo todo a identidades y a géneros, a que no tenga cada representación más que un solo y mismo contenido en cualquier lugar, tiempo o relación en que se nos ocurra. Y no hay nada que sea lo mismo en dos momentos sucesivos de su ser.“444
Mittels der Kategorien von Wissen und Intellekt, die dem augenscheinlichen Außen der Welt verhaftet sind, lässt sich nicht an den Kern von Realität, an ‚Leben‘ nämlich, herankommen – das Leben bleibt unbegreifbar und fremd (im Extremfall: absurd). Auch Passagen aus Schönbergs Harmonielehre, in denen Schönberg auf eine begrenzte Reichweite von Theorie und Wissen abzielt und sich auf unbewusste Kräfte, den eigenen Instinkt, innere Notwendigkeit,445 triebhaftes Schaffen,446 „Zwang meines Ausdrucksbedürfnisses“447 beruft, lassen sich in jenem antirationalistisch-lebensphilosophischen Kontext verstehen. Es ist eindeutig, dass solche psychischen Antriebe in der Harmonielehre als primäre Grundlage des Schaffens gegenüber dem Bewussten erscheinen, der Geltung von Kunstgesetzen und Kunstmitteln, denen Schönberg eine grundlegende Skepsis entgegenbringt. Auf die stets vorläufige Geltung von Kunstgesetzen verweist sein Argument,
442 Siehe Anm. 284, Kapitel I.3.3. 443 „Wenn das Leben tief ist, ist es ein Gedicht kontinuierlichen und wellenförmigen Rhythmus’.“ Miguel de Unamuno, ¡Adentro! (1900), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 420 [Übersetzung, G. L.]. 444 „[…] streng genommen ist die Vernunft eine Gegnerin des Lebens. Die Intelligenz ist etwas Schreckliches. Sie tendiert ebenso zum Toten wie die Erinnerung zur Stabilität. Das Lebende, das absolut instabil ist, das absolut Individuelle, ist, streng besehen, unintelligibel. Die Logik zielt darauf, alles auf Identitäten und auf Gattungen zu reduzieren, darauf dass jedes Zeichen an jeglichem denkbaren Ort, zu jeder Zeit und in jedem Zusammenhang immer die eine und selbe Bedeutung hat. Doch es gibt nichts, das in zwei einander folgenden Momenten seines Seins sich selbst gleich wäre.“ Ders., STV, S. 58 [Übersetzung, G. L.]. 445 „Der Künstler tut nichts, was andere für schön halten, sondern nur, was ihm notwendig ist.“ Arnold Schönberg, HL, S. 495. 446 „Das Schaffen des Künstlers ist triebhaft. Das Bewußtsein hat wenig Einfluß darauf. […] Er ist nur der Ausführende eines ihm verborgenen Willens […].“ Ebd., S. 497. 447 Ebd., S. 499.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität „[d]aß also die Regeln bestenfalls bezeichnend sind für den Grad des Eindringens ins Naturgegebene, daß sie also keine ewigen Gesetze sind, sondern solche, die die nächste Tat immer wegspült.“448
Luchterhandt bemerkt in der Harmonielehre einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Handwerks- und Geniedenken. „Stärker als in jedem anderen Lehrwerk Schönbergs“ schienen „immer wieder Zweifel durch, ob Kunst überhaupt lehrbar sei.“449 Zwar sei „die Harmonielehre im Ganzen eindeutig ein Bekenntnis zum Sinn künstlerischer Unterweisung, doch stellt ihr Schönberg immer wieder seine ureigne Empfindung gegenüber: als derjenige, der in Einsamkeit aus seinem Instinkt bzw. innerer Notwendigkeit heraus schafft und eine solche Unterweisung eigentlich nicht nötig hat[.]“450
Es ist jedoch nicht eindeutig, ob jene Anbindung ans Unbewusste zwangsläufig mit individualistischem Geniedenken in Verbindung gebracht werden muss. Denn es gibt Anhaltspunkte dafür, dass jener Kontakt mit dem Unbewussten nicht im Sinne einer ungeregelten ästhetischen Freiheit zu denken ist, sondern durchaus die Kontaktnahme mit einer präexistenten Ordnung impliziert – wiewohl die Befreiung von internalisierten ästhetischen Konventionen sicherlich als Voraussetzung jener Kontaktnahme erscheint. Solche Konventionen können gleichsam als Störung jener Kontaktnahme erscheinen, und tendenziell betrifft dies jegliche bereits bewusst gemachte Ordnung bzw. Theorie. Auch wenn Schönberg die Nützlichkeit handwerklichen Wissens für den Künstler anerkennt, insbesondere im Sinne einer selber gefundenen „Geheimwissenschaft“,451 so soll doch selbst diese Reflexion gewissermaßen nur Begleiterscheinung im Schaffensprozess sein. Zwar dürfe, so Schönberg, selbst der Künstler lernen, „vielleicht nur, damit er Irrtümer aufnimmt, von denen er sich befreien muß“452, und weiter, weil nicht jeder „alle die Irrtümer an sich selbst erleben muß, die den Weg des menschlichen Wissens begleiten,“453 „aber ein anderer Teil – ich weiß nicht, ob es der verläßlichere ist – ruht im Unbewußten, im Instinkt. […] neben den vererbten Erfahrungen und Beobachtungen unserer Voreltern […], liegt im Instinkt vielleicht eine Fähigkeit, die erst entwickelt wird; ein Wissen um die Zukunft; vielleicht auch andere Fähigkeiten, die der Mensch einst bewusst besitzen wird, die er heute höchstens ahnen und ersehnen, aber nicht betätigen kann.“454
Im „Instinkt, im Unbewußten“ liege „ein Schatz von altem Wissen, den er [der Künstler] heben wird, ohne daß er es will.“455 Hier wird die implizite Annahme einer Ordnung deutlich, mit welcher der Künstler lediglich vermittels des Unbewussten Kontakt zu nehmen vermag. Das Schaffen stellt sich damit durchaus als ein (wenn auch unbewusst) geregeltes dar und nicht etwa als Willkür des Künstlerindi448 449 450 451 452 453 454 455
Ebd., S. 495. Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“, S. 55. Ebd. Siehe Anm. 459. Ebd., S. 496. Ebd., S. 497. Ebd. Vgl. ebd.
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viduums. Denn in Bezug auf einen Kontakt des Künstlers mit einem triebhaften Unbewussten beschreibt Schönberg, dieser habe „das Gefühl, als wäre ihm diktiert, was er tut. Als täte er es nur nach dem Willen irgendeiner Macht in ihm, deren Gesetze er nicht kennt. Er ist nur der Ausführende eines ihm verborgenen Willens, des Instinkts, des Unbewussten in ihm. Ob es neu oder alt, gut oder schlecht, schön oder hässlich ist, er weiß es nicht. Er fühlt nur den Trieb, dem er gehorchen muß.“456
Eine damit eröffnete ästhetische Autonomie wäre demnach noch lange nicht mit einer unbeschränkten Bindungslosigkeit des Individuums gleichzusetzen, wie sie mit einem emphatischen Begriff des Individuums verbunden sein kann.457 Jenes Unbewusste lässt sich vielleicht eher als ‚Einfallstor‘ zu einer überpersönlichen Ordnung458 verstehen, die der Künstler zu schauen vermag: „So könnte der Unterricht, der einen Künstler erziehen soll, höchstens darin bestehen, daß man ihm hilft, sich selbst zu hören. Die Technik, die Kunstmittel helfen ihm nicht. Die sollten womöglich Geheimwissenschaft sein, zu welcher nur Zugang hat, wer ihn selbst findet. Wer sich selbst hört, erwirbt diese Technik. […] Denn er hört das, was allen gemeinsam ist, und wodurch er sich von den anderen unterscheidet, ist vielleicht nicht wie er es hört, sondern daß er es überhaupt hört.“459
In Bezug auf die Anbindung an „das, was allen gemeinsam ist“ lässt sich dabei durchaus an den Künstler als ‚Sprachrohr‘ eines Kollektiv-Unbewussten denken (siehe Kapitel II.4.2) bzw. an jene ‚innere Freiheit‘ bei Unamuno, die auf der Unterordnung und Platzfindung eines Einzelnen im Ganzen beruht, und nicht auf dem individualisti-
456 Ebd. 457 Luchterhandt äußert, „Schönbergs schroffe Trennung zwischen Kunst und Handwerk“ diene einerseits „der Reduktion ästhetischer Ansprüche (‚Kunstgesetze‘) zu Gunsten persönlicher ästhetischer Freiheit […].“ Andererseits legitimiere sich „auch dessen Bemühen um Handwerklichkeit […] als ‚Rückversicherung‘ angesichts des schwankenden Grundes der Intuition […].“ (Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“, S. 59) Zwar erscheint mir Luchterhandts Gegenüberstellung von Intuition und Handwerk im Sinne von Kraft und Gegenkraft richtig, aber die Rede von der persönlichen ästhetischen Freiheit könnte auch irreführend sein, insofern sie eine unbeschränkte Willkür des Individuums suggeriert. 458 Diese Anbindung des Künstlers an eine überpersönliche Ordnung scheint deutlich noch in Schönbergs Beschreibung des Schaffens als Ausarbeiten einer zunächst in ihrer Totalität empfangenen Vision nach, hinter der sich der ‚musikalische Gedanke‘ erkennen lässt (siehe Arnold Schönberg, Composition with twelve tones (1) (1941), S. 214 f.). Die Tatsache, dass der ‚Gedanke‘ und dessen Darstellung nicht in eins fallen, stellt sich dabei als Widrigkeit menschlichen Schaffens gegenüber göttlichem dar: „Alas, human creators, if they be granted a vision, must travel a long path between vision and accomplishment; a hard road where, driven out of Paradise, even geniuses must reap their harvest in the sweat of their brows.“ (Ebd., S. 215.) In gewissem Sinne lässt sich der ‚Gedanke‘ mit der präexistenten Ordnung im Unbewussten vergleichen; das Ausarbeiten des ‚Gedankens‘ könnte dabei dem Bewusstmachen jener Ordnung im Unbewussten aus dem früheren Reflexionskontext um die Ordnung des ‚Tons‘ entsprechen. Als ‚Gedanke‘ büßt jene überpersönliche Ordnung allerdings vollends den Aspekt des Dynamischen, Triebhaften und Antirationalistischen des Schaffensimpulses ein, der ihr in der Harmonielehre noch eigen war: Der ‚Gedanke‘ ist eben ein Objekt von Denkbeziehungen. 459 Arnold Schönberg, HL, S. 494.
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schen Schaffen einer Gegenordnung („Libertad por sumisión y no por rebelión, intimando la ley colectiva externa, no volviéndose a sí para proclamar la propia“460). Die Harmonielehre bietet eindeutig Anknüpfungspunkte dafür, sich in der Anpassung des Erkenntnisapparats „an das Natürliche“461 primär durch Instinkt und Intuition leiten zu lassen und das ‚Ton‘-Vorbild damit als eine Ordnung zu interpretieren, die als Unbewusst-Gewusstes, und damit in einer Tiefenschicht menschlichen Bewusstseins zugänglich wird, oder in jenem Unbewussten sogar bereits präexistent ist, durch die Verfestigung subjektiver Vorstellungen aber unzugänglich wird.462 Verortete man demnach Schönbergs ‚Ton‘ wesenhaft im Innen – wenn man so will: in der Psyche463 – dann rückte jegliche physikalistische Auffassung vom ‚Ton‘ in weite gedankliche Ferne, obwohl Schönberg die Grundkomponenten der Dur-Moll-Tonalität aus der Obertonreihe ableitete. Statt auf ein statisch-akustisches Faktum würde die Rede vom ‚Ton‘ auf ein relationales Gebilde bzw. auf präexistierende Bezugsmöglichkeiten zwischen Tönen zielen. Eine Trennung zwischen dem Subjekt und dem Objekt des ‚Tons‘ wäre damit prinzipiell, und über die Annahme einer potenziellen Isomorphie oder „Wechselwirkung“464 zwischen Subjekt und Objekt hinaus, aufgehoben und in der Folge eine Wende hin zur lebensphilosophisch-monistischen Grundhaltung auszumachen.
460 Miguel de Unamuno, TC, S. 227. 461 Vgl. Arnold Schönberg, HL, S. 495. 462 Eine solche Tonbeziehungen ‚materialisierende‘ Verfestigung stellte für Schönberg offenbar die Dur-Moll-Tonalität dar: „Daß man die Tonalität wieder herstellen muß, glaube ich nicht, halte es aber für möglich, daß man es tun wird. Denn der Glaube an die Technik und ihre materiellen Ursachen ist so festgewurzelt, daß die Faiseure gewiß eher Berge versetzen, ehe sie auf geistigem Wege einen Versuch machten.“ Arnold Schönberg, Tonalität und Gliederung (1925), in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtech, Frankfurt a. M. 1976, S. 206. 463 Als Vorbild könnte hier Fétis gelten, der im Vorwort seines Traité äußert, die Natur liefere als Elemente der Musik nicht mehr als ein Vielzahl von Tönen, die untereinander in unterschiedlichem Maß hinsichtlich ihrer Tonhöhe („intonation“), Dauer und Intensität differierten. Unter diesen würden diejenigen zu Objekten unserer Aufmerksamkeit, bei welchen jene Differenzen wahrnehmbar genug seien, um unser Gehörsorgan in einer bestimmten Weise zu affizieren. Die Beziehungen zwischen den Tönen verortet Fétis dabei im Subjekt: „[…] l’idée des rapports qui existent entre eux s’éveille dans l’intelligence et sous l’action de la sensibilité d’une part, et de la volonté de l’autre, l’esprit les coordonne en séries différentes, dont chacune correspond à un orde particulier d’émotions, de sentiments et d’idées.“ François-Joseph Fétis, Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie contenant la doctrine de la science et de l’art, Paris 1861, S. xij (= Vorwort). 464 Siehe Anm. 199, Kapitel I.3.1.
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Erkenntnistheoretische Wende zum lebensphilosophisch-monistischen Modell des Erkennens (in der Harmonielehre nur angedeutet): Natur des Tons/ Objekt wird zu: Unbewusst-Gewusstem, ‚Wollen‘, Bedürfen, ‚Trieb‘ „Nou-Etern“ (Gerhard)465
vs.
hineingesehene Ordnung der Tonalität Subjekt Vorstellung, normative Regeln
So weit geht Schönberg in der Harmonielehre allerdings nicht. Am weitesten in diese Richtung einer Aufhebung der Subjekt-Objekt-Trennung wagt er sich vor, wenn er auf die Wirkungsebene von Natur im Subjekt anspielt. So äußert er im Kapitel über „Konsonanz und Dissonanz“: „Auf ihrer höchsten Stufe befaßt sich die Kunst ausschließlich mit der Wiedergabe der inneren Natur“466 und befindet, eine „wirkliche Theorie aber“ – eine Theorie der Töne oder der Harmonien, die Schönberg nicht zu liefern beansprucht – „dürfte, wie Schopenhauer in seiner Farbenlehre zeigt, immer nur vom Subjekt ausgehen. Und wie er die Farben als physiologische Erscheinungen‚ als Zustände, Modifikationen des Auges‘ betrachtet, so müsste man auf das Subjekt, auf das Gehör zurückgehen.“467
Auch wenn Unbewusstes, Instinkt und Intuition als ‚Einfallstore‘ gelten können, um mit der ‚Notwendigkeit‘ im ‚Ton‘ (als musikgeschichtlichem Regulativ wie auch den eigensetzlichen Strebetendenzen des Tonmaterials) in Kontakt zu kommen, so lässt sich doch konstatieren, dass der ‚Ton‘ (Natur) als vom Subjekt getrennte Entität bestehen bleibt, wobei Schönbergs Beschreibungen des ‚Tons‘ annehmen lassen, dass er jenes quasi ‚Ding an sich‘ im Sinne dessen dynamistischer Spielart des schopenhauerschen Willens begriff.468 Vielleicht bestanden bei Schön465 Siehe Anm. 284, Kapitel I.3.3. 466 Arnold Schönberg, HL, S. 13. Neff und Carpenter bemerken, Schönberg habe sich später in seinen ‚Gedanke‘-Manuskripten tatsächlich auf das Subjekt als Ausgangspunkt verlegt: „He begins with the listening subject […]. His ultimate concern is the thinking subject: composition is thinking in tones and rhythms. He thus undertakes in his theory of the musical idea what had seemed impossible to him at the time of the Harmonielehre.“ Patricia Carpenter und Severine Neff, Commentary, in: Arnold Schönberg, The Musical Idea and the Logic, Technique, and Art of its Presentation, S. 11. 467 Arnold Schönberg, HL, S. 13. Die Wirkungsebene fokussierend fasst Schönberg sogar Schönheitsgesetze als legitim auf: „Aber in einer anderen Form könnten die Schönheitsgesetze Selbstzweck sein. Als genaue Beschreibung jener Wirkungen, die möglichst vielen Kunstwerken gemeinsam sind. Als Versuch, möglichst viele Wirkungen auf möglichst wenige gemeinsame Ursachen zurückzuführen.“ (Arnold Schönberg, HL, S. 496.) Den Schritt des Normativmachens jener theoretischen Befunde akzeptiert Schönberg jedoch nicht: „Das könnte Selbstzweck sein, müßte sich aber damit begnügen und dürfte vor allem nie den Schluß ziehen: das ist bei den meisten Kunstwerken so, folglich muß es bei allen andern Kunstwerken ebenso sein.“ Ebd. 468 John Covach nennt Arthur Schopenhauer, Johann Wolfgang von Goethe und Immanuel Swedenborg als die drei hauptsächlichen Quellen, die Schönbergs Denken in besonderem Maße prägten: Über Schopenhauer habe Schönberg Kant und Platon rezipiert, Goethes wissenschaftliche Schriften habe er über Rudolf Steiners Interpretation derselben aufgefasst, und Swedenborg über die philosophischen Novellen Balzacs (u. a. Séraphita und Louis Lambert). (Vgl.
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berg Vorbehalte, eine Subjekt-Objekt-Trennung ganz aufzuheben, und vielleicht war es jene von Schönberg nicht vollzogene Wende, die ihn dazu brachte, ‚Metaphysisches‘ und damit auch Lebensphilosophisches aus seiner späteren ‚Gedanke‘Reflexion auszuklammern (siehe Kapitel I.3.4). Dennoch boten die Hinweise auf eine im Unbewussten präexistente Ordnung in der Harmonielehre sicherlich eine breite Kontaktfläche zwischen Gerhard und Schönberg. Auch Gerhard hob Unbewusstes und Intuition als primäre Impulse des Schaffens, und den aposteriorischen Charakter von Theorie und Wissen gegenüber einer Ordnung im Unbewussten hervor. Zugleich nahm er, ebenso wie Schönberg in der Harmonielehre, an, dass sich das Schaffen geregelt und im Kontakt mit jenem Unbewusst-Gewussten vollziehe.469 Mit anderen Worten: Es galt, im Schaf-
John Covach, The Sources of Schonberg’s ‚Aesthetic Theology‘, in: 19th-Century-Music 19 (1996) Heft 3, S. 260.) Im weitesten Sinne gemeinsam sei diesen unterschiedlichen Denkern gewesen, sich mit der Frage nach der Möglichkeit des Zugangs zu einer ‚geistigen Welt‘ hinter der physisch-materiellen zu beschäftigen („[…] the problem of viewing the higher realms or the thing-in-itself.“ Ebd., siehe weiter S. 257–261). Diese Grundfrage erachtet er als zentral für Schönbergs Konzept des ‚musikalischen Gedankens‘. Mit Blick auf die Wendung jener Grundfrage auf den Bereich der Musik betont er besonders Schönbergs Prägung durch Schopenhauer. Während Balzacs Novellen möglicherweise Schönbergs Interesse für höhere Realitätsbereiche („the higher realms“) jenseits der physisch-materiellen geweckt hätten, sei es Schopenhauers Philosophie gewesen, die Schönberg davon überzeugt habe, dass Musik einen Zugang zu jenen ‚feineren Welten‘ vermitteln könne (vgl. ebd., S. 260): „Schopenhauer believed that the Kantian thing-in-itself was something he called the Will. […] The Will knows no distinctions in space or time and is absolutely unified. It is only our perception of things, our Representation, that creates separateness and diversity in the world as we come to know it.“ (Ebd.) Hinsichtlich der Möglichkeit einen Zugang zum Willen zu erhalten, kam der Musik nach Schopenhauer bekanntlich eine Sonderstellung unter den Künsten zu: „Schopenhauer speaks of music as being an alternate reality created from the same Will, a reality that he claims could even exist in the absence of our physical world. […] If we are likely ever to catch a glimpse of the world behind the physical, music is the only possible means to do it.“ (Ebd.) Freilich nehmen die von Covach angeführten Denker im Einzelnen unterschiedliche Positionen hinsichtlich der genannten Grundfrage ein. Covach bemerkt in Bezug auf Kant, dieser sei überzeugt gewesen, dass der Bereich des ‚Ding an sich‘ der Erkenntnis nicht zugänglich sei (vgl. ebd., S. 258): „[…] although he is an important figure in Schoenberg‘s intellectual pantheon, Kant is the only one who denies the possibility of seeing into the beyond. […]. […] it will take Schopenhauer’s revision of Kant’s epistemology to transform Kant’s denial into something that adresses Schoenberg’s aesthetic concerns.“ (Ebd.) 469 In seiner Replik an Millet äußert Gerhard, es stelle nicht die Aufgabe des schaffenden Musikers dar, für die Theorie des Geschaffenen zu sorgen: „The musician-creator is not a theoretician: therefore, he has no obligation towards nor any interest in the possibility of establishing a collective, conventional and impersonal ‚system‘.“ (Roberto Gerhard, Fugue (Ending), S. 47.) Dies bedeutet nach Gerhard aber nicht, dass Gesetzmäßigkeiten, auch wenn sie als Theorie noch nicht verfügbar sind, nicht unbewusst im Schaffensprozess wirksam werden können. So habe der Komponist im Moment des Schaffens sehr wohl eine Intuition der noch nicht formulierten (d. h. rational gemachten und bewussten) Ordnung, „[…] a more or less profound and broad intuition of these still not formulated laws, to which, however, his spirit is compliant.“ (Ebd.) Millet verfügt nicht über den kontextuellen Hintergrund, um Gerhards Gedanken folgen zu können. In Gerhards Forderung einerseits den Schaffensprozess möglichst rational zu ma-
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fen jener präexistenten Ordnung auf die Spur zu kommen – dem „was allen gemeinsam ist.“470 Hierbei ließ sich insbesondere an präexistente Tonbezüge denken, aber auch an eine ‚höhere Realität‘, die allem Lebendigen zugrunde liegt und damit über das Musikalische hinausreicht. Die in Gerhards Aufsatz Músiques modernes, músiques antigues… Música! (1936) zu findende Bezugnahme auf eine Naturordnung, die sich als ‚Ewig-Neues‘ manifestiert und jeden und alles Einzelne umfassen kann – und aus Sicht des Einzelnen wäre eine Synchronisierung des eigenen Erkennens, Fühlens und Wollens mit jener Ordnung notwendig, damit diese sich aktualisiert und manifestiert – verweist auf die bei Gerhard tatsächlich vollzogene Wende zum lebensphilosophischen Monismus. Diese zeigt sich auch in Gerhards späterem Rekurrieren auf den Bewusstseinsstrom (siehe Kapitel I.3),471 in den alle äußere Realität als Unbewusstes oder Bewusstes eingeht. In beiden Fällen reicht das Thema der Tonbeziehungen über das Musikalische hinaus und umfasst die Annahme einer dynamischen und ausgehend vom Innen zu erschließenden Realität.472 Der schönbergschen Harmonielehre konnte Gerhard Grundlagen dafür entnehmen, das ‚Ton‘-Vorbild im Sinne dynamischer Tonbeziehungen zu verstehen. Diese Auffassung vom ‚Ton‘ gab Anlass zu der Folgeannahme, dass eine ‚Innenseite‘ von Tonalität nur ausgehend vom Subjekt, nämlich vom Innen und einer unbewussten Tiefenschicht menschlichen Bewusstseins zugänglich, und als solche immer wieder kompositionell zu aktualisieren war (und nur in ihren Aktualisierungen Bestand haben konnte). Derart konnte Gerhard seine These von der Re-Interpretierbarkeit von Tonalität als „a thought that wanted ‚to keep on being thought upon‘“473 stützen. Als ausformulierte Theorie konnte Gerhard die Grundannahme, dass das dynamische Wesen von Tonbeziehungen in einem psychischen Tiefenbereich zugäng-
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chen – und damit, so könnte man sagen, der unbewusst-gewussten Ordnung auf die Spur zu kommen – und andererseits Gerhards Ablehnung jene Rationalität als fertig formulierte Theorie darzulegen, sieht Millet einen ‚Rückzieher‘ bzw. Widerspruch Gerhards: „En què quedem, amic Gerhard? ¿Desprès de fugir de tota tonalitat histórica que dieu vós; desprès de fiar-ho tot a la intel.ligència i al seu control, us abraceu a l’instint, la intuïció i goseu apel.lar la vulgar paraula inspiració? Per aquest viatge…!“ („Wie verbleiben wir denn nun, Freund Gerhard? Nachdem Sie jegliche von Ihnen so bezeichnete historische Tonalität meiden; nachdem sie alles der Rationalität und deren Kontrolle anvertrauen, verbünden Sie sich mit dem Instinkt, der Intuition, und gefallen sich sogar darin, jenen vulgären Ausdruck der Inspiration anzurufen? Welch weiter Weg…!“) Lluís Millet, A En Robert Gerhard, in: Revista Musical Catalana 27 (März 1930), S. 111 [Übersetzung, G. L.]. Vgl. Arnold Schönberg, HL, S. 494. Siehe v. a. Roberto Gerhard, DTT, S. 132 f. Im Fall des subjektiven Bewusstseinsstroms bleibt nun allerdings offen, ob die Erschließung desselben auf eine Ordnung zielt – wie vormals die Erschließung einer Ordnung in der Natur bzw. Natur des Tons –, oder ob jener Bewusstseinsstrom möglicherweise zwar regelhaft, dabei aber ungeordnet und quasi ‚blind‘ ist (siehe Kapitel I.3). Wenn Gerhard die Idee einer Ordnung hier fallenließ, dann wäre es – angesichts der Parallelführung von Tonalität und Realität – nur logisch, damit auch die Tonalitätsidee als Frage nach der Ordnung des ‚Tons‘ fallenzulassen. Siehe Anm. 249, Kapitel I.3.3.
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lich wird, v. a. in den Schriften Ernst Kurths gefunden haben, von denen sich einige (die vielleicht bekanntesten) in Gerhards Prä-Exil-Nachlass befinden.474 In ihnen hatte sich die Tonalitätsbetrachtung eindeutig vom Objekt des ‚Tons‘ auf die Seite des Subjekts bzw. des Wollens verlagert. Mit seinen energetischen Kategorien der musikalischen „Kräfteverhältnisse“, der „Bewegungs-“ oder „Kraft-“ bzw. „Schwereempfindung“475 sowie des ‚Willens‘ verlegt Kurth die Gesetzmäßigkeiten von Tonbezügen in den Bereich des Innen und des Unbewussten. Da sie für ihn auf den Inbegriff von Tonalität und von Musik überhaupt zielten, waren sie, wie Kurth darlegte, als bloße Wirkungsaspekte oder Begleiterscheinungen primär akustisch begründbarer Vorgänge von Musik nur unzureichend beschrieben.476 Wie Wolfgang Krebs konstatiert, enthält „Kurths musiktheoretisches System im Prinzip nur einen einzigen Grundgedanken.“477 Seine Theorie der Musik kreise „um den Sachverhalt des fortwährenden Übergangs in einem definitorischen Sinn: Musik ‚besteht‘ nicht aus Übergängen, sondern Musik is t Übergang in Permanenz. […] Im gleichen Maße aber, in dem Momente des Überganges und des Bewegungseindrucks für die Definition des wahrhaft Musikalischen zum ausschlaggebenden Richtmaß wurden, sank die Bedeutung der klanglich-akustischen Komponente am Musikereignis.“478
Eine Schlüsselrolle spielt bei Kurth der Gedanke der Genese von Musik im Unbewussten,479 während das Hörbare und Klangliche von Kurth tendenziell, so 474 Es handelt sich um Exemplare von Ernst Kurth, Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme, Bern 1913; ders., Grundlagen des linearen Kontrapunkts. Bachs melodische Polyphonie, Bern 1917 sowie ders., Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners ‚Tristan‘, Bern und Leipzig 1920. Diese befinden sich in Gerhards Nachlass im IEV (Valls, Spanien). Gerhards Markierungen in der letztgenannten Schrift zu untersuchen und hier einzubeziehen war mir im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich. 475 Bereits in seiner frühen Schrift Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme (1913) hatte Kurth psychische Empfindungen (d. h. Kategorien des musikalischen Verarbeitens) an den zentralen Ort musikalischer ‚Kräfteverhältnisse‘ verwiesen. So betrachtete er die „Bewegungsempfindung als Urelemen[t] und tiefst[e] Voraussetzung des Melodischen und aus ihr entspringender Kräfteverhältnisse“ (Ernst Kurth, Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme, München 1973, S. 67) und die Kraft- und die Schwereempfindung als Grundlage der Akkordwahrnehmung. Vgl. ebd., S. 70 und 73. 476 Kurth kritisierte, dass sprachliche Ausdrücke der Bewegungs- und Ruheempfindung in Bezug auf Dissonanzen und ihre Auflösungen im Rahmen akustischer Konsonanz-Dissonanz-Begründungen bloß als Metaphern oder als psychologische Begleiterscheinungen verstanden würden, während sie nach Kurth an das Wesen musikalischer Vorgänge rührten. Vgl. ebd., S. 59 und 66 f. 477 Vgl. Wolfgang Krebs, Innere Dynamik und Energetik in Ernst Kurths Musiktheorie. Voraussetzungen, Grundzüge, analytische Perspektiven, Tutzing 1998, S. 27. 478 Ebd., S. 28. 479 Bekanntlich beginnt Kurths Tristan-Schrift mit den folgenden Worten: „H ar mon ien s in d Reflexe aus dem U nbew ußten. Alles Erklingende an der Musik ist nur emporgeschleuderte Ausstrahlung weitaus mächtigerer Urvorgänge, deren Kräfte im Unhörbaren kreisen. In ihnen liegt auch die Naturgewalt aller Harmonik, nicht aber im Tönespiel, dessen farbig leuchtende Bewegtheit überhaupt nur in Spiegelungen psychischer, aus dem unterbewußten Tiefenbereich ausbrechender Energien entsteht.“ Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners ‚Tristan‘, Berlin 1920, Reprint Nabu Domain Reprints, USA o. J.,
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Krebs, „nicht als das eigentlich Musikalische, sondern lediglich als Oberfläche oder Erscheinung (bzw. […] Versinnlichung)“ gewertet werde.480 Vor allem in Kurths Tristan-Schrift lassen sich entsprechende Passagen finden, wenn Kurth beschreibt, das „Wesen de r H a rm o n i k “ se i „ i h r stete s E r ste he n, das U e be r f ließ en v o n Kra ft i n Ersc h e i n u n g “,481 d. h. in die sinnlich-wahrnehmbare Oberfläche des Klangs, und wenn diese lediglich als ein „Ausklingen“ oder „Auszittern“482 der tragenden psychischen Spannungsverläufe beschrieben wird. Auf die Gegenüberstellung von Unbewusstem und Bewusstem, Unhörbarem und Hörbarem,483 der theoretischen Betrachtung von Musik von innen heraus, und nicht von außen,484 wird in jenem ersten Kapitel von Kurths Schrift allenthalben Bezug genommen. Während der musikalischen Oberflächenebene des „Tönespiels“ der sinnliche Zugang des Hörens entspricht, korrespondiert zur harmonischen – der Tiefenebene von Musik – der Zugang des ‚Willens‘: „Kein Musikstil mag vielleicht deutlicher als derjenige Wagners im ‚Tristan‘ erkennen lassen, daß wir in der ganzen Harmonik mit dem Willen, in letzter Linie erst mit dem O h r hören.“485
Krebs arbeitet heraus, dass dem bei Kurth „nahezu kommentarlos“ gebrauchten „Grundbegriff […] des ‚Willens‘,“486 aufgrund seiner metaphysischen Implikationen und der Herleitung von der Willensmetaphysik Arthur Schopenhauers, ein Sonderstatus zukommt.487 Die Willensmetaphysik Schopenhauers bilde bei Kurth, „nicht den Gegenstand der Reflexion, sondern einen schon nicht mehr bezweifelten weltanschaulichen Hintergrund […].“488 An jenem Begriff des ‚Willens‘ zeigt sich, dass jener innere Bereich, in dem Kurth musikalische ‚Kräfteverhältnisse‘ verortet, sich nicht nur im Sinne eines psychischen Bereichs darstellt, sondern, wie auch Krebs ausführt, in den philosophischen und metaphysischen Bereich übergeht.489 Man könnte diesbezüglich auch sagen, dass sich der Gegenstandsbereich von Kurths Musiktheorie über den musikalischen Bereich hinaus zur Grundlage alles Existierenden und zu Erkennenden ausdehnt. Krebs spricht von der „universelle[n] 480 Vgl. Wolfgang Krebs, Innere Dynamik und Energetik in Ernst Kurths Musiktheorie, S. 62. Zur Rolle des Unbewussten in Kurths Schriften siehe ebd., S. 62–64. 481 Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners ‚Tristan‘, S. 1 f. „Indem aber das Wesen der Klänge in Umsetzung von Spannung zu Klang, von psychischen zu konkreten Erscheinungen beruht, stellt für die Musik überhaupt die Harmonik die U eb erg an g s s ch ich t vom Unbewußten zum Bewussten dar.“ Ebd., S. 15 f. 482 Ebd., S. 1. 483 Vgl. ebd., S. 14. 484 Vgl. ebd. 485 Ebd., S. 15. 486 Wolfgang Krebs, Innere Dynamik und Energetik in Ernst Kurths Musiktheorie, S. 76. 487 Vgl. ebd. 488 Ebd., S. 79. 489 „Formulierungen, in denen psychologische Betrachtung erkennbar in metaphysische Spekulation übergeht, durchziehen das gesamte Schrifttum Kurths; sie enthalten im wesentlichen die Aussage, daß die psychische ‚Spannkraft‘, die den Bewegungsdrang auslöst, der ‚Urwille‘ […] selbst sei.“ (Ebd., S. 81, hierbei referiert Krebs auf Ernst Kurth, Grundlagen des linearen Kontrapunkts. Bachs melodische Polyphonie, Bern 1917, S. 4.)
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Gültigkeit des Willenskonzepts“ bei Kurth490 und verweist diesbezüglich u. a. auf den folgenden Textabschnitt, in welchem Kurth zwischen den einerseits Musik, und andererseits dem Leben zugrunde liegenden ‚Energien‘ ein nicht nur gleichartiges Verhältnis annimmt, sondern sogar deren Identität: „Die Musik ist daher keine S piegelung der Natur, sondern das Er leb n is ihrer rätselhaften Energien selbst in uns ; die Spannungsempfindungen in uns sind das eigentümliche Ver s p ü ren von gleichartigen lebendigen Kräften, wie sie sich im Uranfang alles physischen und organischen Lebens offenbaren.“491
Dabei bemerkt Krebs, dass Kurth (ebenso wie andere durch Schopenhauer geprägte Musiktheoretiker um 1900492) eine Umdeutung des schopenhauerschen „‚Willen[s]‘ […] als positive Kraft“ vornahm.493 Nach Krebs übernahm Kurth von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung nicht den metaphysischen Pessimismus, denn für Schopenhauer sei „[d]ie Welt des Willens […] (übrigens im Gegensatz zu den späteren Lebensphilosophen, die ihn gerade in diesem Punkt ‚korrigierten‘) eine Welt des Ungenügens, des sinnlosen Begehrens […]“ gewesen.494 Hingegen bezeuge die Romantische Harmonik als „Kurths am meisten von der Atmosphäre Schopenhauers durchdrungenes Buch“495 eine positive Interpretation des Weltwillens: „So eindrücklich Kurth darin das Spannungsvolle, Ruhelose, Sehnsüchtige der Tristan-Musik schilderte, so gering war seine Neigung, Schopenhauers Verdammungsurteil über den ‚Willen‘ in Gestalt des quälenden Eros zu übernehmen.“496 Die lebensphilosophische Prägung der Schriften Kurths ist des Öfteren erwähnt und untersucht worden.497 Beim Komponisten Gerhard ist die Prägung durch die Lebens- und Existenzphilosophie, deren Referenzpunkt u. a. Unamuno bildet, 490 Vgl. Wolfgang Krebs, Innere Dynamik und Energetik in Ernst Kurths Musiktheorie, S. 80. 491 Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners ‚Tristan‘, S. 4; den Hinweis auf diese Literaturstelle entnehme ich Wolfgang Krebs, Innere Dynamik und Energetik in Ernst Kurths Musiktheorie, S. 80. Krebs bemerkt, zuweilen nähmen „die Bezüge zu Schopenhauer auch die Form von Vergleichen, statt von Identifikation, an“ (ebd., S.80), so wenn Kurth äußere „[d]ie [Musik wesenhaft tragenden psychischen, G. L.] Energien gehen in die sinnlich wahrnehmbaren Klangwunder über wie der Lebenswille ins Weltbild“ (Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners ‚Tristan‘, S. 1). Hierzu kommentiert Krebs, die darin gezogene „Analogie zwischen Musikhören und lebendigem Weltlauf […] wäre unverständlich ohne Schopenhauers philosophische Einsicht, daß das innerste Wesen des Daseins, der Wille zum Leben, als das An-sich der Dinge allen Erscheinungen zugrunde liegt, und daß sich der Lebenswille als Vorstellung objektiviert, das heißt ein ‚Weltbild‘ erzeugt.“ Wolfgang Krebs, Innere Dynamik und Energetik in Ernst Kurths Musiktheorie, S. 80 f. 492 Krebs führt hier als weitere musiktheoretische Energetiker August Halm und Karl Grunsky an. Siehe ebd., S. 82–84. 493 Ebd., S. 83. 494 Ebd., S. 77. 495 Ebd., S. 84. 496 Ebd. 497 In Bezug auf metaphysische Implikationen in Kurths Musiktheorie führt Krebs neben dem Willenskonzept Schopenhauers v. a. die Lebensphilosophie Henri Bergsons an, siehe ebd., S. 85–91.
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schwerer zu fassen, als im Fall des Musiktheoretikers Kurth, weil Gerhard bezüglich seiner Orientierung an Prämissen und Begriffen Unamunos (etwa den Begriffen des ‚Glaubens‘, ‚Lebens‘ und ‚Wollens‘) und ihrer Übertragung auf Bereiche der Musik und der Komposition kaum explizite Hinweise gab. Dennoch lässt sich behaupten, dass sie für Gerhards weite Tonalitätsauffassung möglicherweise eine vergleichbare Grundlage lieferten, wie der schopenhauersche ‚Wille‘ für Kurths Musiktheorie. Das unamunosche ‚Wollen‘ bzw. Unsterblichseinwollen lässt sich nicht nur als Schlüssel für das Konzept der heroischen und unsterblichen Don Quixote-Figur in Gerhards Ballett begreifen, sondern auch als derjenige Antrieb, der Beziehungen der Realität ebenso wie solche der Tonalität stiftet. Mit dem Antrieb des ‚Wollens‘ steht bei Unamuno eine durchweg positiv bewertete Kraft im Zentrum jeglichen Erkennens und Realitätszugangs (siehe Kapitel II.1.2). Während Kurths Theorien insbesondere an spätromantischen Kompositionen von Wagner oder Bruckner exemplifiziert wurden, lässt sich annehmen, dass Gerhard die Idee der Verortung des ‚Tons‘ im triebhaften Unbewussten sogar in seine Zwölftonpraxis hineintrug. Zu erinnern ist daran, dass Gerhard seine Überzeugung, nach der tonale Bezüge in einer Tiefenschicht von Bewusstsein wirksam seien („at a level below the threshold of full consciousness“)498 im Zusammenhang mit seinem Konzept von Zwölfton-Tonalität äußerte. Für Gerhards weite, inklusive Auffassung einer Natur des Tons in den 1940er Jahren ist bezeichnend, dass er den Konsonanz-Dissonanz-Dualismus nicht preisgab. So äußerte er 1945, nach seiner Tonalitätsauffassung sei die Bassfunktion erneut fundamental, die Oktave werde für unschuldig erklärt und erneut zugelassen, der Dreiklang sei nicht mehr tabu, sondern nehme den Platz ein, der ihm zwischen den anderen Akkorden oder Reihen von drei bis zwölf Noten rechtmäßig zustehe.499 „Tonal i atonal, per tant, han perdut per a mi el seu sentit d’oposició, en canvi, consonancia i dissonancia el reafirmen enterament (per molt que s‘hagi extès l’escala de les tolerancies en matèria de tensió).“500
Dass Gerhard einen Dualismus der Kategorien tonal und atonal nicht akzeptierte, sehr wohl aber den Dualismus der Kategorien Konsonanz und Dissonanz, kann auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Völlig klar liegen aber die Verhält-
498 Siehe Anm. 86, Kapitel I.1. 499 „Si empemyeu endavant el concepte poétic de Pedrell fins a fer contacte amb el concepte schoenbergiá de l’harmonia enmesa com una ‚altra dimensió de l‘invenció melódica’, arribeu al punt on jo crec que em trobo, especialment si substituiu el sentit funcional pel sentit integratiu en el rol de l’harmonia. D’aqui que el meu baix sigui, altra vegada, fundamental; l’octava declarada innocent i readmesa; la tríada ja no és tabú sino que torna a ocupar el lloc que li correspon per dret propi entre els demés acords o series de tres a dotze notes.“ Roberto Gerhard, Brief an Josep Valls vom 9. Oktober 1945, CUL 14.437, S. 1. 500 „Tonal und atonal haben daher für mich ihren Gegensatz verloren, Konsonanz und Dissonanz dagegen bekräftigen ihn vollständig (sosehr der Grad an Toleranz bezüglich der Spannungen [von Zusammenklängen] sich auch erweitert haben mag).“ Ebd. [Übersetzung G. L.].
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
nisse, da Gerhard ‚tonal‘ nicht im engeren Sinn des Dur-Moll-tonalen Systems verstand und einen materialweiten Tonalitätsbegriff vertrat. Das Beibehalten von Konsonanz und Dissonanz als relationaler Kategorien, d. h. als Kategorien, die je nach Gebrauchszusammenhang einander bestimmen, ohne einem bestimmten Akkordoder Intervallmaterial ‚materiell‘ eingeschrieben zu sein, spricht dabei für die Immaterialität einer tonalen Bezugsordnung und deren Verortung im Innen (auch: im Unbewussten) und weist in die Richtung von Kurths Energetik. Nimmt man an, dass die Unterscheidung zwischen Konsonanz und Dissonanz einer Ebene des Bezüge knüpfenden, intentionalen Hörens angehört, der ‚Ton‘ hingegen der statischakustischen Ebene des Objekts (oder ‚Ding an sich‘), und postuliert man, mit Blick auf Schönbergs Hinweis auf das gleichermaßen integrale Enthaltensein von Konsonanzen und Dissonanzen in der Obertonreihe,501 die Nivellierung und gleichgestellte Verwendung derselben,502 dann kommt dies der Ausschaltung jener intentional-subjektiven Ebene gleich. Gerade vor dem Hintergrund einer immateriellen Tonbezugsordnung konnten die Kategorien von Dissonanz und Konsonanz aber weiterhin Sinn ergeben. Am Reiheneinsatz in Don Quixote lässt sich sehen, dass der Einsatz von Konsonanz und Dissonanz auch in der Arbeit mit der Reihe eine Rolle spielte – trotz der zur Norm gewordenen Forderung nach der Gleichberechtigung aller zwölf Töne (Kapitel I.3.5). Es lässt sich daran sehen, dass das energetische, dynamische, wesentlich in „Dissonanzspannkraft“503 und deren Auflösung begründete ‚Innere‘ von Musik unter den Bedingungen der Zwölftonkomposition nicht unter den Tisch fallen musste und die Zwölftontechnik in Don Quixote vielmehr darauf zielt, ein solches ‚Ton‘-Wesen weiter – und nun auf methodischem Weg – zu erschließen. Zwölftontechnisch (durch Reihensegmentierung) generierte Akkorde scheinen bei Gerhard nicht selten eine Alterationsspannung aufzuweisen, die sich hier nicht als Relikt der Dur-Moll-Tonalität auffassen lässt, sondern zurückgeführt werden kann auf die genannte Grundlegung von Tonbeziehungen im Innen, im Psychischen, im Wollen. Bemerken lässt sich, gerade in den reihengebundenen Abschnitten des Balletts, eine ohrenfällige Relevanz von Leittönigkeit, die sich hier jenseits einer funk-
501 Bekanntlich hatte Schönberg in der Harmonielehre behauptet, es bestehe zwischen Konsonanz und Dissonanz kein kategorialer, sondern ein nur gradueller Unterschied. Er behauptete „[S]ie [die näherliegenden und die fernerliegenden Obertöne, G. L.] sind, was sich ja auch in den Schwingungszahlen ausdrückt, ebensowenig Gegensätze, wie zwei und zehn Gegensätze sind; und die Ausdrücke Konsonanz und Dissonanz, die einen Gegensatz bezeichnen sind falsch.“ (Arnold Schönberg, HL, S. 16 f.) Aufgrund dessen hielt Schönberg jene beiden Ausdrücke für eigentlich unberechtigt und gab dennoch an, weiterhin mit ihnen operieren zu müssen, wobei er „Konsonanzen als die näher liegenden, einfacheren, Dissonanzen als die entfernter liegenden, komplizierteren Verhältnisse zum Grundton“ definierte. Ebd., S. 17. 502 „Die Emanzipation der Dissonanz, das ist die Gleichstellung mit den konsonanten Klängen […].“ Arnold Schönberg, Gesinnung oder Erkenntnis, in: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, S. 211. 503 Ernst Kurth, Die Voraussetzungen der theoretischen Harmonik und der tonalen Darstellungssysteme, S. 69.
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tional integrierenden Tonika als wirksam erweist und damit geeignet ist, Kurths These zu bestätigen, nach der Konsonanz und ‚Auflösungsbedürfnis‘ nicht von der „Klangeinheit der Tonika“ abhängen, wie dies auf der Basis des akustischen Konsonanzbegriffs und vor allem in der riemannschen Tonalitätstheorie behauptet wurde, sondern sich grundlegend „musikpsychologisch“ begründen lassen.504 In Bezug auf das Leittonphänomen äußerte Kurth in diesem Sinn: „Die übliche rein tonale Erklärung der Wirkung des Leittones aus seiner Funktion als Terz der Dominante stellt eine Verwechslung von Kraft und Folgeerscheinung dar. Niemals vermag eine harmonische Deutung und die intellektuelle Aktivität der Einheitsbeziehung die unmittelbar wirkende, konzentrierte Kraft der Leittonspannung erschöpfend begründen.“505
Diese Kritik, das tonale System (v. a. Riemanns) ziele an Ursache und Wesen von Tonbeziehungen vorbei (es vollziehe eine Vertauschung von Ursache und Wirkung506), lässt sich hier durchaus mit Schönbergs Skepsis gegenüber Kunstgesetzen und der besonderen Emphase von Intuition und Instinkt beim Schaffen in der Harmonielehre vergleichen und verweist auf eine potenzielle Unfassbarkeit von ‚Leben‘ bzw. dem ‚Ton‘ in Form statischer Systeme.507
504 505 506 507
Vgl. ebd., S. 68. Ebd., S. 71 f. Vgl. ebd., S. 64. Die Frage nach einer ‚musikpsychologischen‘ Wirkungsebene von Tonbeziehungen muss für Gerhard immer wieder von Interesse gewesen sein. Gerhard thematisiert die Subjektebene etwa dann, wenn er in Bezug auf eine Begründung der Austauschbarkeit der Oktavlagen in der Zwölftontechnik bemerkt, jene Austauschbarkeit oktavtransponierter Töne setze die Annahme der weitgehenden Identität der austauschbaren Elemente voraus; eine Identität oktavtransponierter Töne sei jedoch aus ‚audio-psychologischer‘ Sicht keinesfalls gegeben: „There is no such identity between a note and any of its octave replicas with which we are at liberty to swop it. True, there is the simplest possible ratio between the frequencies of two notes at octaves or double octaves etc[.] but that is not tantamount with identity, far from it. Take, for example, a D natural on the clarinet at different octaves, and compare the notes for sheer physical effect, say, for timbre […] or for loudness […] it is perfectly clear that nothing could be further from identity. Physically, acoustically, these notes are, in effect, as dissimilar as could be. And yet, Schoenberg was absolutely right in deciding that a note should be interchangeable with any of its octave replicas as if a relation of identity did in fact obtain.“ Roberto Gerhard, Functions of the Series in Twelve-note composition, S.158 f. Wenn Gerhards Interesse an Akkord- und Reihenklassifizierungen sich als eine auf theoretischem Gebiet fortgesetzte Suche nach Gesetzmäßigkeiten zwischen Tönen darstellte, dann wäre dabei dennoch zu bedenken, das Gerhard sich dieser Frage primär als Komponist, und nicht als Theoretiker, näherte. Eine rein strukturalistische Beschreibung von sets wie sie später Allen Forte und Anhänger der set-theory betreiben sollten, unter völliger Ausklammerung der Frage nach Spannungs-, Auflösungs- und generell Wirkungseigenschaften, mag geeignet gewesen sein, den strukturellen Aspekt bei der Erschließung von Tonbeziehungen zu verselbständigen. Ob das mit den Reihenklassifizierungen verfolgte Anliegen Gerhards konform mit einer derartigen, rein strukturellen Auffassung von Tonbeziehungen war, lässt sich folglich eher bezweifeln.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
I.4.1 Komplementäre Harmonik, Leittönigkeit: Die Don Quixote-Reihe im Kontext einer dynamistischen Vorstellung vom ‚Ton‘ Gerhard äußerte im Jahr 1955 den Gedanken, die Komplettierung einer zwölftönigen Reihe zur Zwölftönigkeit fungiere und wirke als Erfüllung eines zielgerichteten Prozesses.508 Er führte aus, dass die Kadenz-Funktion des alten tonalen Systems in der Zwölftonkomposition ein vergleichbares Pendant habe (als Hörbeispiel führt Gerhard die Reihe aus Schönbergs Streichquartett Nr. 4 op. 37 an), insofern sich mit der ‚graduellen Entfaltung und Komplettierung der Zwölftonreihe in ihrer ununterbrochenen Rotation‘ der (quasi hörpsychologische) Effekt von Erfüllung („sense of achieved satisfaction“) einstelle, der vergleichbar sei mit dem Erfüllungseffekt, der im Kontext der Dur-Moll-Tonalität durch das Erreichen eines Akkords mit Tonikafunktion erfahren werde: „The idea of directional progress is common to both […].“509 Im Fall der Dur-Dur-Moll-Tonalität beruhe jene Erfüllung auf dem Erreichen von Ruhepunkten, auf welche die (harmonische) Progression gerichtet zu sein empfunden werde; im Fall einer Zwölftonkomposition beruhe sie, so Gerhard, hingegen auf einer durch die fortschreitende Komplettierung der Reihe in ihrer ununterbrochenen Rotation erreichten Empfindung von Integration.510 Im Kontext vor508 „We might say that the notion of a tonal centre is to the old harmonic concept of tonality what the endless chain of the 12-note series is to the new. The sense of fulfillment which is felt in the harmonic cadence, in the coming to rest on the chord of the Tonic: PLAY: I. IV. V. I. is comparable to the sense of achieved satisfaction which we derive from the gradual unfolding and completion of the 12-note series in its continuous rotation: PLAY: the series of Schoenberg’s Op. 37 The idea of directional progress is common to both; in the first case the satisfaction depends upon reaching the anticipated points of repose towards which the progression is felt to be directed; in the second case it depends upon the sense of integration which is imparted by the gradual completion of the series in its continuous rotation.“ Roberto Gerhard, Twelve-Note Composition Explained (BBC-Radiotalk, Radio-Skript zur Sendung am 2.04.1955), CUL 11.43, S. 2 [Unterstreichung von Gerhard]. 509 Vgl. ebd. Auch wenn es hier vorrangig darum geht, welcher Aufschluss durch das von Gerhard gebrauchte Vokabular für sein dynamistisch-lebensphilosophisches Denken gewonnen werden kann, so lässt sich bezogen auf ‚die Sache‘ (die Zwölftonkomposition) doch bemerken, dass Gerhards Gedanke einer zielhaften Komplettierung zur Zwölftönigkeit, die sich als formale Integration und zugleich psychologische Erfüllung einer Hörerwartung darstellt, schwer zu objektivieren ist. Es gibt völlig divergente Meinungen in Bezug auf die Frage, ob sich mit der sukzessiven Komplettierung einer Zwölftonreihe die Wirkung zunehmender Überraschung oder aber zunehmender Absehbarkeit (positiv gewendet: Erfüllung) einstellt. Eine zunehmende Voraussehbarkeit jedes der auf den ersten Reihenton folgenden Töne behauptet Lichtenfeld (siehe Monika Lichtenfeld, Untersuchungen zur Theorie der Zwölftontechnik bei Josef Matthias Hauer, S. 67), während der Schönbergschüler Winfried Zillig argumentiert: „[…] die Wiederholung eines jeden Tons wirkt dann am überraschendsten, wenn alle andern elf Töne inzwischen erklungen sind. Wendet man dieses Prinzip auf jeden einzelnen Ton an, so entsteht zwangsläufig eine Zwölftonreihe […].“ Winfried Zillig, Variationen über neue Musik, München 1964, S. 49 f. Beide Positionen sind lediglich theoretisch denkbar, nämlich solange sie sich auf eine einzelne, linear ablaufende Reihe beziehen. 510 Vgl. Anm. 508.
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herrschend strukturalistischer Zwölftonanalysen ist erstens bemerkenswert, dass sich Gerhard auf subjektive Wirkungskategorien bezieht (von denen sich mit Kurth annehmen lässt, dass sie an das Wesenhafte der Harmonik rühren), und dass es sich zweitens bei den von Gerhard gebrauchten Ausdrücken des gerichteten Prozesses und der Erfüllungsempfindung um Ausdrücke dynamisch-prozesshaften Charakters handelt. Die Betonung dynamischer, verlaufsbezogener Aspekte von Musik war für Gerhard offensichtlich von elementarer Bedeutung; sie lässt sich aus der dynamischen Auffassung vom ‚Ton‘ ableiten und deutet darauf hin, dass Gerhard Musik wesenhaft als Phänomen des Werdens und des Übergangs verstand. Von Bedeutung ist Gerhards Behauptung eines psychologischen Erfüllungseffekts im Hinblick darauf, dass ein solcher ohne das formale Prinzip der Wiederholung und ohne Tonwiederholungen erzielt wird. Während Gerhard die ‚alte‘, an eine Tonika gebundene Tonalität mit einer sich daraus ergebenden statischen Formauffassung verbindet, bei welcher ‚Symmetrie und Wiederholung,‘ so Gerhard, eine entscheidende Rolle spielten, stellt er dieser eine mit der Reihe verbundene dynamische Formauffassung entgegen, in der einem Grundton keine Bedeutung mehr zukommen kann.511 Dabei ist bemerkenswert, dass Gerhard nicht auf eine vorsätzliche Vermeidung der Tonika zielt, sondern behauptet, eine Tonika sei im Zusammenhang des von ihm postulierten, mit der Reihe einhergehenden, neuen Formparadigmas, basierend auf „a dynamic conception that views musical form as existing exclusively in time and motion […],“512 schlichtweg irrelevant. So gesehen müsste die von Gerhard beschriebene Ablösung der tonikal gebundenen Harmonik noch nicht einmal primär mit einer strikten Nicht-Wiederholung von Tönen im Satz einhergehen. Und wie zu sehen sein wird, lässt sich jene dynamische Formauffassung auch im Zusammenhang mit der Don Quixote-Reihe finden, die – mit ihren ausgelassenen Tönen und ihren drei Tondoppelungen – Schönbergs Grundsatz der Vermeidung von Tonwiederholungen und Oktavdoppelungen regelrecht untergräbt.513 Gerhard betont in TTM, das Tonwiederholungs- und das Oktavdoppelungsverbot hätten sich aus der empirischen Praxis mit der Zwölftontechnik ergeben, und seien also nicht auf theoretischem Weg erdacht worden. Er betrachtet Tonwiederholung und Oktavdoppelung als zwei Seiten des Gleichen, wobei Tonwiederholungen die horizontal-melodische und Oktavdoppelungen die vertikale Satzdimension betreffen.514 Bezüglich der Vermeidung von Tonwiederholungen seien, so Gerhard, zwei Entwicklungen Hand in Hand gegangen, zum einen die Verwendung zuneh511 „The notion of a tonal centre is a purely conventional one, it’s a convention entirely bound up with the classical idea of musical form, basically a static one, where symmetry and repetition play a deceisive constructive role. But it is wholly irrelevant to a dynamic conception that views musical form as existing exclusively in time and motion […].“ Roberto Gerhard, TwelveNote Composition Explained, S. 2. 512 Ebd. 513 Schönberg definierte unmissverständlich, die Zwölftonmethode beinhalte den ‚konstanten und ausschließlichen Gebrauch‘ der zwölf Töne der chromatischen Skala, sodass keiner der Töne innerhalb der Reihe wiederholt werde. Vgl. Arnold Schönberg, Composition with Twelve Tones (1) 1941, in: Style and idea: selected writings of Arnold Schoenberg, S. 218. 514 Vgl. Roberto Gerhard, TTM, S. 118.
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mend aller chromatischer Töne bei der Bildung melodischer Linien, d. h. die Bildung immer tonreicherer Melodien oder Themen über die Begrenzung jeder bekannten Skala hinaus; zum anderen, und insbesondere im Kreis Schönbergs, die Abneigung, einen innerhalb einer Phrase bereits verwendeten Ton zu wiederholen und ihm somit eine besondere Bedeutung einzuräumen: „There is nothing ‚cerebral‘ or even deliberate in this. We must not think of it as a precept arbitrarily promulgated and then obeyed. On the contrary, composers had obeyed it instinctively long before they became conscious of doing so.“515
Bezüglich der Oktavdoppelungsvermeidung paraphrasiert und zitiert Gerhard denjenigen Passus aus der Harmonielehre, in dem Schönberg geäußert hatte, er habe für die Erfahrung, dass einige bis dahin nichtregelkonforme harmonische Progressionen für sein Ohr folgerichtig (und wie Gerhard wiedergibt: ‚natürlich‘) erschienen,516 die Erklärung gefunden, dass dies für Akkordfolgen mit komplementärem Tongehalt zutreffe. Im Original lautet der Passus bei Schönberg: „Die Akkordfolge scheint geregelt zu sein durch die Tendenz, im zweiten Akkord Töne zu bringen, die im ersten gefehlt haben […].“517
Gerhard fügt hinzu: „[…] a remark which, by implication, almost postulates the twelve tone technique already.“518
Schönberg schreibt einer Folge komplementärer Tongehalte Folgerichtigkeit zu. Diese Folgerichtigkeitsauffassung lässt sich als verwandt mit dem von Gerhard angeführten Erfüllungseffekt begreifen. Folgerichtigkeit erscheint dabei abhängig von der Komplettierung von Tonhöhenklassen. Die Wirkung einer Folgerichtigkeit, die auf einem Abwechseln komplementärer Tongehalte beruht (und damit auf einer Folge von Unterschiedlichem), kann theoretisch als widersinnig erscheinen, dennoch aber ist es wahrscheinlich, dass sie in Gerhards Zwölftonkomposition eine bedeutsame Rolle spielt. Der Komplementär-Idee mag insbesondere im Kontext segmentierter Reihen besondere Bedeutung zugekommen sein, da es sich bei Reihensegmenten (z. B. zwei Hexachorden) stets um komplementäre Tongehalte handelt.519 Die Tatsache, dass mit dem Tongehalt des ersten Reihen-Hexachords zugleich der Tongehalt des zweiten determiniert ist, mag die Vorstellung nahelegen, dass sich mit dem zweiten die Zwölftönigkeit komplettierenden Hexachord eine hörpsychologische Erwartung einstellt, und es ist mehr als wahrscheinlich, dass Gerhard dies bei seiner Erfüllungs-Behauptung bedachte. Auch Dahlhaus argumen515 516 517 518 519
Ebd. Vgl. ebd. Arnold Schönberg, HL, S. 502. Roberto Gerhard, TTM, S. 118. Im Kontext der Zwölftonkomposition findet sich bei Schönberg die Komplementär-Idee außerdem in seiner Praxis der combinatoriality (siehe Kapitel I.1), wo sie mit der Vermeidung von Oktavdoppelungen verbunden war. Allerdings äußert Perle einschränkend, dass in Schönbergs Klavierkonzert op. 42, in dem durchweg Oktavdoppelungen zu finden seien, sich dennoch zugleich ein konsistenter Gebrauch der combinatoriality fände, was für einen locker gehandhabten Zusammenhang zwischen combinatoriality und Oktavdoppelungs-Vermeidung spricht. Vgl. George Perle, Serial Composition and Atonality, S. 105.
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tierte in die Richtung eines (sich allerdings selber aufhebenden) Zusammenhangs zwischen komplementärer und energetischer Harmonik, indem er äußerte, „Schönbergs komplementäre Harmonik, als deren Systematisierung die Klangtechnik der Dodekaphonie interpretiert werden kann,“520 bilde „eine extreme und schließlich ins Gegenteil umschlagende Konsequenz der Tristan-Chromatik“ und stelle damit „ein Neutralisierungsphänomen dar.“521 „Der Zusammenhang zwischen Akkorden, von denen der zweite aus Tönen der chromatischen Skala besteht, die im ersten fehlen, beruht einerseits auf dem Prinzip der Komplementarität, andererseits aber – und zunächst – primär auf Stimmführungen in Leittonschritten, also einem expressiv-dynamischen Moment, das Ernst Kurth energetisch nannte.“522
Dass Dahlhaus in der Komplementärharmonik nicht nur eine geschichtliche Fortsetzung leittöniger Stimmführungschromatik sah, sondern letztlich auch eine Neutralisierung derselben (eine in ihr „Gegenteil umschlagende Konsequenz“), braucht allerdings nicht dazu zu führen, jene Herkunft der Komplementärharmonik aus expressiven Leittonfortschreitungen zu verkennen. Denn eben jener Zusammenhang, die von Dahlhaus aufgetane geschichtliche Kontinuität beider Phänomene, wird an Gerhards Handhabung seiner geringerzahligen Don Quixote-Reihe deutlich und lässt jene Vorgeschichte der Komplementärharmonik hier keinesfalls als neutralisiert erscheinen. Im reihengebundenen Satz bei Ziffer 118 („Agitato“) in der Szene 5 von Gerhards Ballett wird das Erreichen der Zwölftönigkeit auf die Folge von vier Don Quixote-Reihen (P6, I3, P5, I4), und damit aufs Zeitliche ausgedehnt. Dabei wird der zwölftönige Vorrat nicht im Abwechseln und Kontrastieren völlig komplementärer Tongehalte erreicht, sondern als Progression viertöniger Akkorde, bei der die einander ablösenden Tongehalte der Akkorde bzw. Reihen-Tetrachorde überlappende Verbindungstöne aufweisen. Zugrunde liegt diesen einander folgenden Reihen-Tetrachorden die Folge der genannten vier Don Quixote-Reihen, deren Geringerzahligkeit es ermöglicht, Übergänge zwischen den Tetrachord-Tonvorräten graduell abzustufen, denn die vier Reihen sind so gewählt, dass sie einen ähnlichen Tongehalt aufweisen. Alle vier enthalten die sechs Töne es, e, f, fis, b, h.523 Zugrunde liegt der Reihenauswahl weiter die Symmetrieachse e/f524 (mit der sum of complementa520 Auch Gerhard bemerkte, dass Schönbergs komplementäre Harmonik beinahe schon die Idee der Zwölftontechnik postuliere. Vgl. Roberto Gerhard, TTM, S. 118. 521 Vgl. Carl Dahlhaus, Tonalität – Struktur oder Prozeß, in: Allgemeine Theorie der Musik II. Kritik – Musiktheorie/Opern- und Librettotheorie – Musikwissenschaft, hrsg. von Hermann Danuser u. a., Laaber 2001, S. 399. 522 Ebd. 523 Entsprechend der drei möglichen Verwandtschaftsgrade der neuntönigen Reihe (siehe Kapitel I.2.1) gilt, dass zwei kombinierte Reihen nicht weniger als sechs gemeinsame Töne aufweisen können. Bei einer Kombination von mehr als zwei Reihen ist es aber natürlich nicht selbstverständlich, dass alle vier Reihen durch dieselben sechs Töne verbunden sind, wie dies hier der Fall ist. Gerhard wählte also im vorliegenden Satz die Reihen so, dass sie nicht etwa nur paarweise, sondern allesamt eine hohe Anzahl gemeinsamer Töne aufwiesen. 524 Zur besonderen Bedeutung der Töne e und f in jenem „Agitato“-Satz in Szene 5 des Don Quixote-Balletts siehe auch Kapitel III.4.2.
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I4
Komplement zu I4
I3
Akkordische Verwendung der Don Quixote-Reihen-Tetrachorde im „Agitato“-Satz, Szene 5 in Don Quixote, T. 1–4 nach Ziffer 118:
I4
!
P5
!
I3
!
Allusion P3
P6
!
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tion 9,525 sichtbar an den Transpositionsstufen der P- und I-Reihen 6 + 3 und 4 + 5). Dabei stellt sich die Ausfüllung des Symmetriefelds um die Achse e/f so dar, dass der Tongehalt jener vier Reihen sozusagen um einen Kern von sechs gemeinsamen Tönen ‚kreist‘. Denkt man sich die vier Reihen wie Folien übereinander gelegt, so ‚positioniert‘ sich jede derselben anders im Symmetriefeld bzw. stellt eine geringfügig andere Ausfüllung jenes Feldes dar. Man könnte sich insofern vorstellen, mit jeder Reihe ‚verschiebe‘ sich der Tongehalt im symmetrisch gegliederten Bezugsraum der Reihen. Die Komplementär-Idee wird auf einen zeitlichen Verlauf ausgedehnt, sodass mit dem Durchlauf der vier Reihen das gesamte zwölftönige Symmetriefeld ausgefüllt wird, jedoch in keinem Moment des Durchlaufs alle zwölf Töne des Symmetriefelds simultan vorhanden sind (eine weitere Ausdehnung ins Zeitliche ergibt sich, da die Tongehalte der Reihen einander als akkordische Folgen der in Tetrachord-Segmente zerteilten Reihe folgen, und nicht als komplette Reihen). Sukzessive Ausfüllung des Symmetriefelds um die Achse e/f bei Ziffer 118: P6 f fis g* gis a* b e es d cis c* h
I3 f fis g gis a* b e es d* cis c* h
P5 f fis* g gis* a b e es d cis c h*
I4 f fis g gis a b* e es* d cis* c h
Bemerkenswert ist, wie sich die Disposition der Tongehalte vor dem Hintergrund der e/f-Achse paarweise als symmetrische zeigt. Dies wird an den jeweils den Don Quixote-Reihen fehlenden Tönen (in grau) sowie den reiheneigenen gedoppelten Tönen (angezeigt durch *) sichtbar. Hinsichtlich fehlender Reihentöne lässt sich dabei eine Dynamik feststellen: Sukzessiv werden diejenigen Töne in den Satz eingebracht, die in der ersten Reihe P6 noch fehlten: d (I3), gis (P5) und cis (I4), dabei sind diese dann zugleich auch immer reiheneigen gedoppelte Töne. Man kann diese Stelle in der Komposition mit Blick auf eine Komplettierung zur Zwölftönigkeit dementsprechend als einen planvoll gerichteten Prozess auffassen. In der sukzessiven Folge der Reihen bzw. Reihensegmente wird deutlich, dass die reiheneigen gedoppelten Töne stets ein Übergewicht bestimmter Tonhöhen schaffen, eine Imbalance, die in einer nachfolgenden Reihe einen Ausgleich findet: Der Doppelung des Tons g in P6 folgt das Fehlen dieses Tons in I3, während im Gegenzug das Fehlen des Tons d in P6 dessen Doppelung in I3 zur Folge hat; die Doppelung der Töne a und c in P6 und I3 hat das Fehlen jeweils eines dieser Töne in den nachfolgenden Reihen P5 und I4 zur Folge. Bei dem in P5 gedoppelten Ton gis und dem in I4 gedoppelten Ton cis handelt es sich um diejenigen beiden Töne, die den ersten beiden Reihen (P6 und I3) fehlten. Die symmetrische TongehaltsDisposition dient offensichtlich jener Dynamik von Übergewicht und Ausgleich und es lässt sich sagen: Ohne Imbalance keine Balance, ohne vorausgehende tongehaltliche Differenz kein Konvergieren in ein und demselben, schließlich ganz ‚durchtasteten‘ und ausgefüllten Symmetriefeld um die Achse e/f. 525 Den im Folgenden wiederkehrend gebrauchten Ausdruck der sum of complementation entnehme ich George Perle, Serial Composition and Atonality, S. 3 f. sowie ders., Berg’s Master Array of the Interval Cycles, in: MQ Nr. 63 (Januar 1977) Heft 1, S. 1–30.
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Im Hinblick auf eine solche Dynamik der Tonhöhenkonzentration erweist sich eine Unzulänglichkeit des Arbeitens mit einer zwölf Töne umfassenden Reihe als offensichtlich. Während beim Arbeiten mit der geringerzahligen Don QuixoteReihe ein „control harmónic“526 im Sinne der Kombination, aber auch des Einbringens von Tongehalten im zeitlichen Ablauf der Reihen möglich ist, lässt sich eine derartige Steuerung von Tongehalten beim Arbeiten mit einer gewöhnlichen, zwölftönigen Reihe nicht erreichen. Zu dem in Kapitel I.2.1 genannten Aspekt der Verräumlichung der zwölf Töne in einem kombinatorischen Bezugsraum lässt sich so der Aspekt einer zeitlich-dynamischen Ausfaltung von Tonbezügen hinzufügen. Möglicherweise erschien Gerhard jenes dynamische Ideal von Tonbezügen zum Zeitpunkt der Arbeit mit der Don Quixote-Reihe nur dann erreichbar, wenn eine Zwölftönigkeit nicht selbstverständlich gegeben war, sondern sukzessive erreicht wurde und mit der Grundbewegung eines Ausgleichs vormalig vorenthaltener bzw. konzentrierter Tonhöhen verbunden wurde. Diese Idee des Ausgleichs stellt sich beim angeführten Beispiel auf einer zugegebenermaßen abstrakten Ebene der Analyse dar. Denn im Satz erklingt nicht eine Folge jener vier Reihen, deren tongehaltliche Relation hier en detail betrachtet wurde, sondern, wie erwähnt, eine Folge akkordischer Reihen-Tetrachorde. In Bezug auf diese konkret durchhörbare Satzebene lässt sich bemerken, dass die einander folgenden Reihensegmente eine hohe Anzahl nicht nur gemeinsamer, sondern, aufgrund ihrer nahezu komplementären Tongehalte, auch chromatischer Anschlusstöne aufweisen, sodass hier ein dynamischer ‚Zug‘ der Akkordfortschreitung in der Tat auch in Form einer (Stimmen und Oktavlagen überschreitenden) Leittönigkeit erfahrbar wird.527 Angesichts des beschriebenen Ausgleichs von Tongehalten528 lässt sich auf Gerhards Vergleich zwischen tonaler Kadenz und Zwölftonreihe und das damit ver526 Siehe Anm. 16, Einleitung. 527 Wenn Dahlhaus angesichts eines in Neuer Musik generell eher struktur- als prozessbetonten Begriffs von Harmonik die Vermutung äußert, „daß Bemühungen um eine dynamisch-prozessuale Harmonik an der Zeit wären, wenn auch natürlich nicht in Form einer Restauration […], sondern als Restitution unter veränderten Bedingungen“ (Carl Dahlhaus, Tonalität – Struktur oder Prozeß, S. 400), dann lässt sich sagen, dass eine Komposition Gerhards wie Don Quixote als beispielhaft genau hierfür gelten kann: für eine ‚Restitution dynamisch-prozessualer Harmonik.‘ 528 Im beschriebenen Verfahren der sukzessiven Komplettierung zur Zwölftönigkeit kündigt sich bereits ein Verfahren an, das Gerhard später mit segmentierten Zwölftonreihen weiterentwickelt. Sproston zeigt, wie Gerhard in seiner dritten Sinfonie Collages (1960) graduelle Transformationen zwischen den Hexachord-Tongehalten von Reihen gestaltet, die von Sproston, in Anlehnung an die von Gerhard in DTT (S. 135 f.) selbst angebrachte Bezeichnung, als ‚Metamorphosen‘ der Reihe bezeichnet und begriffen werden. (Siehe Darren Sproston, Serial Metamorphoses in the Music of Roberto Gerhard, in: Proceedings of the 1st International Roberto Gerhard Conference, Huddersfield 2010, S. 144.) In Sprostons Beispiel des Streichersatzes der Takte 397–399 aus Gerhards Sinfonie Nr. 3 vollzieht sich der Übergang des Hex. 1 der Reihe zum komplementären Tonvorrat des Hex. 2 nicht abrupt, sondern wird aufs Zeitliche ausgedehnt. Die Abbildung bei Sproston (siehe ebd.) zeigt eine Akkordprogression, deren Zusammenklänge ihrem Tongehalt nach nur minimal modifiziert werden. Findet sich im ersten der sechstönigen Zusammenklänge noch der komplette Tongehalt des Hex. 1, so wird in jedem der folgenden Zusammenklänge einer der sechs Töne durch einen Ton aus Hex. 2 ersetzt, bis der
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bundene Thema eines gerichteten Prozesses (bzw. das Thema eines Erfüllungseffekts) zurückkommen und bestätigen, dass der Idee tongehaltlicher Komplementarität in jenem gerichteten Prozess eine zentrale Rolle zukommt. In dem hier angeführten Beispiel fungieren die komplementären, in den Satz einzubringenden Töne gleichsam als Motor der Progression. Tonklassenwiederholungen sind dabei unabdingbar, um nachmalig auszugleichende Tonhöhenkonzentrationen hervorzubringen; in ihnen mag Gerhards Zweifel an dem schönbergschen Tondoppelungsverbot mitklingen.529 Dabei ergibt sich mit Blick auf die gesamte Folge aller vier Don Quixote-Reihen keine perfekte Gleichverteilung der Tonhöhenklassen,530 sodass sich sagen lässt, dass sich für das Konzept eines dynamisch gerichteten Prozesses weniger der Gedanke einer absoluten Komplettierung der zwölf Tonhöhen als wesentlich erweist, als vielmehr derjenige des relativen Ausgleichs von Tonhöhenkonzentrationen.
Hex. 1-Tongehalt, komplett durchsetzt von neuen Tönen, in den Tongehalt von Hex. 2 verwandelt worden ist. Es handelt sich also, wie Sproston bemerkt, um „[…] the gradual transformation of one harmonic representation of a hexachord to another.“ (Ebd.) Das Einbringen eines jeden neuen Tons von Hex. 2 gehorcht dabei der consecutive order der Reihe. Dabei sorge, wie Sproston bemerkt, eine kanonische Technik dafür, in der linearen Satzdimension die Rotation der Reihen so zu regeln, dass in keinem der vertikalen Zusammenklänge eine Tondoppelung auftritt. (Vgl. ebd.) Die Folge der Reihentöne (bei c = 0) 2, 1, 10, 0, 7, 11, 8, 9 etc. setzt in jeder Stimme an einer unterschiedlichen Stelle ein. Solche und noch komplexere Verfahren geregelter Reihenton-Rotationen bei Gerhard untersuchte Sproston unter dem Stichwort der „chord rotation“ und bemerkte dazu: „[…] the harmony (or progression) remaining constant (or with minimal change) while the position of the pitches within the chord are reordered.“ (Ebd., S. 141.) Sproston wies in diesem Zusammenhang zudem auf die – nach Gerhards generalisierter Lizenz zum Permutieren von Segmenttönen – wiedererrungene Bedeutung der Bindung an die consecutive order der Reihentöne. (Siehe ebd., S. 143 f., siehe hierzu auch die etwas gekürzte, aktualisierte Version der beschriebenen Analyse in: Ders., Roberto Gerhard: The Serial Symphonist, in: RGC, S. 236 f.) Hinsichtlich des Ausgleichs-Gedankens scheint mir das Beispiel aus Don Quixote diese spätere Entwicklung eines graduell in sein Komplement verwandelten Tonvorrats in der dritten Sinfonie vorauszunehmen. Dennoch unterscheiden sich die beiden Beispiele: Im Beispiel aus Gerhards Sinfonie sind zwei komplementäre Hexachord-Tongehalte gegeben, während sich im Fall der Don Quixote-Komposition Wahl und Disposition der unterschiedlichen Tongehalte (bzw. der eingebrachten Don Quixote-Reihen) vor dem Hintergrund einer symmetrischen Achse und überlappender Tongehalte der Reihen ergeben. Die Regelung, wann welcher vormals fehlende Ton eingebracht wird, wird im Beispiel aus Don Quixote durch solche Tonhöhen initiiert, die in einer der vorausgehenden Don Quixote-Reihen fehlten oder gedoppelt waren, während in Collages hierzu die originale consecutive order in Kraft tritt. 529 „His [Schoenberg’s, G. L.] argument that the duplicated note acquires added weight and is thus apt to prepondrate over the other constituents and can, thereby, induce the feeling that the neighbour note is a root-note, or a tonic-centre, seems less valid to me. The establishing of a tonic-center obviously depends on context, on consecutive relations of chords, not on chordal structure alone.“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.127, S. 18. 530 Im genannten Beispiel aus Collages (siehe Anm. 528) werden die Tonhöhen – bezogen auf die gesamte Reihenschichtung – hingegen genauestens gleichverteilt. Diese spätere Gleichverteilungslösung in Collages weist möglicherweise darauf hin, dass Gerhard das Tondoppelungsverbot in späteren Jahren auf seine eigene Weise berücksichtigte.
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
I.4.2 Der ‚quixotische Code‘: Wollen und Methode als Aspekte von Don Quixotes Wahn Kurths Musikanschauung verweist allgemein darauf, dass Musikhören mit einer hohen geistigen und psychischen Aktivität im Subjekt verbunden ist – das heißt auf den konstruktiven Charakter des Musikhörens.531 Diese geistige (Über-)Aktivität thematisiert Gerhard in Bezug auf den Realitätszugang Don Quixotes und in Analogie zum kombinatorischen Wirken seiner als ‚Code‘ verstandenen Reihe, wie sie bereits in Kapitel I.1 thematisiert wurde. Um jenes kombinatorische Wirken der Reihe zu erläutern, greift Gerhard in DTT auf eine Analogie aus dem erkenntnistheoretischen Bereich zu; er beschreibt die Erzeugung von Phantasmen: „To illustrate the manner in which I conceive the operation of the ‚code‘, I recall the counsel Leonardo is said to have given his pupils: ‚If you wish to paint an equestrian battle […] look for the spot of dampness on an old wall and gaze on it intently for some time; after a while you will suddenly see your battle emerge in firm outline from the chaos of the damp spot.‘ There is a most striking element of truth in this. We have all had similar experiences when, for instance, lying ill in bed for long idle hours we have suddenly seen one of the flowers of the wallpaper-pattern start a train of metamorphoses which can hold one spellbound for a considerable period[.]“532 531 Aktive geistige Tätigkeit wird bei Kurth hervorgehoben, wenn dieser ausführt: „Die Tonvorstellung beruht nicht nur im Gegenstand des Tones, im Objekt, sondern im Akt des Vorstellens, im Subjekt. Auch bei den größeren tönenden Phänomenen, Melodien, Akkorden, Formen usw. ist es die Tätigkeit der Vorstellung, die einzelne Komponenten auswählt, andere zurückdrängt, andere sogar erzeugt und hineinlegt […]. […] Indem aber die Vorstellung als ein ‚Akt‘, nicht als passiv widergespiegelte Wahrnehmung aufzufassen ist, erscheint sie auch wesentlich auf größere Zusammenhänge gerichtet, die auf die Vorstellung des Einzeltons erst abfärben.“ Ernst Kurth, Musikpsychologie, Hildesheim 1969, S. 46. 532 Roberto Gerhard, DTT, S. 135. Da Gerhard zahlreiche Schriften Valérys las, der offenbar eine zentrale Rolle in seinem Denken spielte, ist es möglich, dass Gerhards an dieser Stelle gemachte Referenz auf einen Rat, den Leonardo seinen Schülern gab, auf die folgenden Textstellen von Paul Valérys Leonardo-Essays zurückgeht: „Malen ist für Leonardo ein Vorgang, der alle Erkenntnisse und nahezu alle Techniken erheischt: Geometrie, Dynamik, Physiologie. Um eine Schlacht darzustellen, muß man Wirbelstürme und aufwirbelnden Staub studiert haben; und zwar will er sie nicht eher darstellen, als bis er […] von der Erkenntnis ihrer Gesetze gleichsam durchdrungen ist.“ (Paul Valéry, Leonardo und die Philosophen, in: Leonardo. Drei Essays, Frankfurt a. M. 1960, S. 201, siehe auch ders., Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci, in: ebd., S. 48.) Auch an der folgenden Stelle referiert Gerhard im Zusammenhang mit der Zwölftonmethode sowie der Figur Don Quixotes auf Leonardo und erwähnt dabei den ‚wachen Schläfer‘: „La máxima llibertat que prenc amb la técnica schoenberguiana de la serie está en el fet que hi entro i en surto com qui passa d’una habitació a l’altra situades a peu pla, i sense desnivell d’estil (almenys és aquesta la meva convicció). Ningú, que jo sápiga, ha fet remarcar encara el valor halucinatiu que té la técnica serial, comparable, en aquest sentit, als efectes que el ‚dormeur éveillé‘ treu de la concentració de la mirada damunt de les flors de l’empaperat (que ja recomanava Leonardo, ell, es clar, recomanava taques d’humitat a la paret per la visió de batalles campals.) No cal dir que per mi D. Quixot és el ‚cavaller de les imatges invisibles‘.“ („Die maximale Freiheit, die ich mir mit der schönbergschen Technik der Reihe nehme, besteht in der Tatsache, dass ich in diese ein- und aus ihr heraustrete wie jemand, der von einem Zimmer in ein anderes Zimmer wechselt, das sich auf gleicher Ebene befindet,
I.4. Das Wollen als Grundlage des Realitäts- und des Tonalitätszugangs
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Die Phantasmen weisen auf einen ‚aktiven Geist‘ hin, man könnte auch sagen, auf die hohe Beteiligung des Wollens im Erkenntnisvorgang. Eine gewissermaßen unbedeutende Begebenheit im Außen wird für den überaktiv arbeitenden, wollenden Geist zum Anlass dafür, das im Innen bereits vorhandene Bild der Feldschlacht zu aktualisieren (während es beim wachen, gesunden Menschen mit schwach arbeitender Phantasie dazu der äußerlich realen Feldschlacht bedürfte). Für den von Gerhard angeführten Fall eines ‚aktiven Geistes‘ kann Don Quixotes Modus des Wahrnehmens und Welterkennens als exemplarisch gelten. Es sind zufällige Begegnungen Don Quixotes mit seiner Mitwelt, die v. a. im ersten Romanbuch zum Anlass für dessen Abenteuer, d. h. für die Aktualisierung des Wahns (der locura) werden.533 So zwang- und krankhaft Don Quixotes locura erscheinen kann, [d. h.] ohne einen Wechsel des Stils (das ist zumindest meine Überzeugung). Niemand, soweit ich weiß, hat bisher noch auf die halluzinative Qualität hingewiesen, die der Zwölftontechnik eigen ist und die in diesem Sinn mit dem Effekt vergleichbar ist, die der ‚dormeur éveillé‘ aus der Konzentration seines Blicks auf die Blumen auf der Tapete zieht (und den bereits Leonardo vorgeschlagen hat, der, das ist klar, feuchte Flecken auf einer Wand empfahl, um eine Vision von Feldkämpfen zu erzeugen). Ich brauche nicht zu sagen, das D. Quixote für mich der ‚Ritter der unsichtbaren Bilder‘ ist.“) Roberto Gerhard, Brief an Josep Valls vom 9. Oktober 1945, CUL 14.437, S. 2 [Übersetzung, G. L.]. Möglicherweise reflektiert Gerhard an dieser Stelle Textstellen von Valéry, in denen dieser den Bewusstseinsstrom analysiert, den er im Sinne eines (unbewussten) Traums auffasst: „An einem bestimmten Punkt dieser Beobachtung oder dieses geistigen Doppellebens, bei dem das gewöhnliche Denken zum bloßen Traum eines wachen Schläfers wird, zeigt sich, dass die Abfolge dieses Traums, die Wolke aus Kombinationen, Gegensätzen, Wahrnehmungen, die sich um ein forschendes Bemühen zusammenzieht – oder die unbestimmt, nach freier Laune abläuft, sich mit wahrnehmbarer Regelmäßigkeit entfaltet […].“ Paul Valéry, Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci, S. 23 f., siehe auch eine ähnliche Textstelle in ebd., S. 38 f. Dieser Zusammenhang würde dafür sprechen, dass Bewusstseinsstrom und Zwölftonmethode bereits um 1945 miteinander verknüpfte Themen darstellten. 533 Neuschäfer liest Don Quixotes Aktivität des Zusammenhang-Sehenwollens als Verlagerung der Perspektive vom „Überpersönlichen“, der Providenz, zum „Persönlichen“ (vgl. Hans-Jörg Neuschäfer, Der Sinn der Parodie im Don Quijote, Heidelberg 1963, S. 39). Auf die Zufälligkeit der Don Quixote begegnenden Realität deutend, beschreibt er als Modell für die Einleitungen von Don Quixotes Abenteuern im ersten Romanbuch: „Am Anfang steht immer eine zufällige Begegnung mit Menschen, die es eilig haben, ihren eigenen Angelegenheiten nachzugehen: Maritornes, die ihren Liebhaber aufsuchen will, ein Barbier, der sich mit seinem Becken gegen den Regen schützt […], ein Transport von Strafgefangenen, der zu des Königs Galeeren gebracht wird.“ Diese Ereignisse seien zwar „jeweils für die Beteiligten sinnvoll“, stünden aber sonst in keinem unmittelbar erkennbaren Zusammenhang. Ein solcher werde erst „durch den Willen und die Vorstellung“ Don Quixotes hergestellt: „Erst in Don Quijotes Einbildung kann ein zufälliger Vorgang wie der, daß ein vorüberkommender Barbier des Regens wegen sich eine Schüssel auf den Kopf setzt, zum providentiellen Ereignis werden. Und erst Don Quijote kann einen Zusammenhang zwischen diesem Ereignis und dem Kampf mit dem Biskayer konstruieren, obwohl der Biskayer an sich gar nichts mit dem Barbier zu tun hat. Für Don Quijote nämlich, der alles in den Zusammenhang seiner Ritteridee stellt, ist die Barbierschüssel als Helm des Mambrin der von der Vorsehung besorgte Ausgleich für den Verlust seines ersten Helms im Kampf mit dem Biskayer.“ (Ebd., S. 38.) Neuschäfer erklärt, durch solche locura rücke „ein Aspekt des Geschehens in den Vordergrund der im Ritterroman, wo das Geschehen providentiell gelenkt war, noch im Verborgenen blieb. Hier zeigt sich zum ersten Mal, daß nur dort etwas geschehen kann, wo auch etwas getan wird, daß nur dort ein Zusammenhang entsteht, wo
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
sie ist nicht irrational und findet sich, dies legt Gerhards Beispiel nahe, in jedem Erkenntnisvorgang wieder, wobei der Faktor des Wollens bei Don Quixote allerdings in extremem Maß ausgeprägt ist (und erst in diesem graduellen Sinn eines surplus an Wollen kann Don Quixotes locura als pathologisch wahrgenommen werden). Mit seinem Beispiel verweist Gerhard so gerade nicht auf einen Sonderfall des Erkennens: Auch der wache und gesunde Mensch muss eine Vorstellung der Feldschlacht bereits in sich tragen, wenn diese aktualisiert wird, und mit Don Quixote könnte man sagen, auch beim normalen Erkenntnisvorgang werde das Wollen und Innen aktiviert, auch wenn sich kaum jemand solcher Aktivität seines Geistes bewusst ist. „The combinatorial faculty seems indeed to be one of the basic modes of mental activity. We seem to be watching here – at a liminal stage, as it were – the initial blending and interweaving of randomness and order. From the conviction that this is in fact the case, springs what I call my quixotic attitude towards the general operations of my serial code.“534
Gerhard verweist auf die im Vorgang der Gegenstandskonstitution festgehaltene Ordnung innerhalb des Subjekts, und damit gewissermaßen auf die unbewussten oder bewussten (rationalen) Vorstellungen des Subjektapparats („order“), und hingegen auf „randomness“, d. h. auf die ungeordnete Realität des Bewusstseinsstroms (der bei Gerhard an die Stelle des Außen tritt – ein Kontakt mit Realität erscheint so immer auch als Kontakt mit „randomness“). Entsprechend der im Subjektapparat vorhandenen Vorstellungen interagiert auch die Reihe mit einem gedachten Bezugsraum der zwölf Töne. Mittels der Reihe wird eine Ordnung in diesen ‚hineinsehbar‘. (Das Festhalten an einer einzigen Reihe methodisiert damit gleichsam das, was im Erkenntnisvorgang permanent passiert.) Wenn Gerhard angibt, durch die kombinatorischen Operationen der als ‚Code‘ verstandenen Reihe würde eine Vielfalt musikalischer Gestalten aktualisiert („My rigid series begins to throw up images. They are, of course, hidden images or (if you like) metamorphoses already of bare interval relations“535) – und diese Aktualisierung betrifft die aus den Segmenttongehalten der Reihe durch Permutierung sich ergebenden musikalischen Gestalten bzw. den sich darin manifestierenden Reihenarchetyp (d. h. präexistente Tonbezüge) –, dann weist dies auf das oben zitierte Modell des Erkennens: Gestalten (bzw. Vorstellungen), die bereits im Innen vorhanden sind, werden im Kontakt mit dem Außen lediglich ‚kombiniert‘ bzw. aktualisiert. Man kann Gerhards Analogie er gesucht wird und daß nur für denjenigen Zeichen und Wunder geschehen, der auch daran glaubt.“ Ebd., S. 39. 534 Roberto Gerhard, DTT, S. 135. Auch das von Kurth in Bezug auf das Musikhören entwickelte Erkenntnismodell geht vom scheinbar irrationalen Unbewussten (in Gerhards Ausdruck: „randomness“) als primärer Basis aus. Allerdings stellt sich die musikalische ‚Gegenstandskonstitution‘ bei Kurth als rein unbewusst motivierte dar: „Unbewußt ist denn auch die Triebkraft, welche die unbewußten Vorgänge an das bewußte Seelenreich empordrängt; ferner die Triebkraft, welche die einzelnen Vorgänge zusammenwölbt und zu neuen Einheitseindrücken schichtet, Komplexeindrücke schafft; überhaupt jede psychische Aktivität von ihren Wurzeln an.“ (Ernst Kurth, Musikpsychologie, S. 42.) Dagegen geht Gerhard von einem Zusammenspiel von „randomness and order“ aus und zielt mit dem ‚Code‘ (der Zwölftonmethode bzw. Ideensetzung) vielmehr auf das Bewusstmachen und die Methodisierung jenes Zusammenspiels. 535 Roberto Gerhard, DTT, S. 135.
I.4. Das Wollen als Grundlage des Realitäts- und des Tonalitätszugangs
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weiterdenken und -deuten: Der Anlass für ein solches Auswerfen von Bildern kann im Fall eines quixotischen, überaktiven Geistes, wie bereits gesagt, ein marginaler sein; entscheidend wäre aber die Kraft des Geistes, Zusammenhänge in die Realität hineinzusehen, d. h. die Kraft der Phantasie und des Wollens. Diese Kraft liegt bei Unamuno jeglichem ‚Leben‘ zugrunde, und in dieser Kraft unterscheidet sich Don Quixote von normal phantasiebegabten Menschen und vermag ‚mehr‘ zu sehen, als diese. In Bezug auf das Thema der Tonalität lässt sich so auch das Aktualisieren noch unbekannter Tonbezüge – einer neuen Form von Tonalität – auf die quixotische Fähigkeit eines Mehr-Sehens und auf Don Quixotes überaktiven Wollens-Antrieb zurückführen.536 An dieser erkenntnistheoretischen Analogie wird klar, dass Tonalität (insbesondere die neue Form von Tonalität) ihren Ausgang vom Innen her nimmt und es wird auf den Konstruktcharakter sowohl von Realität als auch von Tonalität hingewiesen. Der methodische Aspekt von Don Quixotes Wahn wird für Gerhard zum Vorbild für die Funktionsweise der Reihe. So wie Don Quixote als ‚Ritter des Glaubens‘537 – scheinbar wider der Vernunft – an seinem einmal gesetzten RittertumIdeal festhält, wird im Verlauf einer Komposition an einer einzigen Reihe festgehalten (und auch in Gerhards Leonardo-Beispiel muss an der Vorstellung der Feldschlacht festgehalten werden, damit aus dem feuchten Fleck an der Wand der lebendige Eindruck einer Schlacht hervorgeht). Das methodische Festhalten an der Reihe führt ins Herz dessen, was man in Anlehnung an Gerhards Auffassung der Zwölftontechnik als ars combinatoria als den quixotischen Code bezeichnen kann: Don Quixotes Wahn hat Methode; hinter seiner locura, seinem spezifischen Weltdeutungs- und Verhaltensmodus, kann man beständig wiederkehrende Merkmale erkennen, einen Code, der den spezifischen Realitätszugang Don Quixotes bestimmt. Für die dem ungeordneten Bewusstseinsstrom entgegenzusetzende Ordnung, als welche die Reihe ein Generieren mannigfaltiger musikalischer Gestalten ermöglicht, bringt Gerhard das Bild Don Quixotes an, der es sich – gerade aufgrund der wahnhaften Strenge, mit der er an seinem Ideal festhält – erlauben kann, sich auf seinen Wegen von seinem Pferd Rocinante treiben zu lassen. „Once firmly established and adhered to, the series is resistant. Being thus able to rely on the rigour of its constraints, I can afford to let the stream of cerebration take a free course. Just as, Don Quixote’s code of behaviour being so deeply ingrained – there being such system in his madness – he could allow Rocinante a loose rein at the crossroads. Whether his mount took him East or West would not matter, he could be sure to be led into trouble anywhere, since it was in wait for him everywhere. The only thing that matters is how he will deal with the conflict when it arises. We expect him to tackle it in a manner fitting and true to his code; nothing else counts. When he does so behave, strictly and utterly in accord with his guiding idea, then not even defeat can diminish him in our eyes. Whether victor or vanquished is, in the end, irrelevant.“538 536 Dieser wurzelt bei Unamuno im Unsterblichseinwollen, und Don Quixote wird in Gerhards Ballett ‚unsterblich‘, siehe Kapitel III.4.1. 537 Siehe Anm. 41, Kapitel II.1.1. 538 Roberto Gerhard, DTT, S. 135. Vgl. auch mehrere Versionen dieses Textabschnitts, die sich in Notizbüchern von Gerhard finden. Die folgende Version gibt fast wörtlich den Inhalt des in
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Der quixotische Code – Zwölftontechnik als neue Form von Tonalität
Dieses Bild entnimmt Gerhard Unamunos Kommentar des Cervantesromans in VDQ (siehe hierzu ausführlich Kapitel II.2.3). Bei Unamuno verweist dieses Bild auf den pragmatischen Wahrheitsbegriff, denn es zeichnet Unamunos Auffassung der ‚gelebten‘ und im Menschenleben verkörperten Idee („idea viva“)539 geradezu aus, dass sie sich mit jeglicher Realität konfrontieren lässt, und dass der sie verkörpernde Mensch sich gewissermaßen nicht ziert, sich der vollen Mannigfaltigkeit und Härte der Realität auszusetzen. Die Idee schreibt also nicht vor, mit wem oder mit welcher Situation sich ein Mensch (nicht) auseinandersetzen soll. Da sich Don Quixote seines Rittertum-Ideals sicher ist und (zumindest im ersten Romanbuch) ohne Zweifel an dieses glaubt, kann er sich erlauben, es an jedweder Realität zu prüfen. Typisch für die ‚Unwahrheit‘ einer Idee wäre es dagegen, die ihr würdige Realität zu selektieren – eine solche Idee würde gewissermaßen nicht ‚in Existenz‘ gebracht werden. Das Festhalten an einem ‚Code‘ der Weltdeutung (deren Kern die Rittervorbilder sind) entspricht dem Festhalten an der Reihe. Und den Gedanken einer aus der festgehaltenen Reihe abgeleiteten Fülle musikalischer Gestalten formulierte Gerhard bereits im spezielleren Kontext seiner Don Quixote-Komposition und in Bezug auf die Don Quixote-Reihe: „The use of my twelve-note series […] offered practically unlimited possibilities of invention of musical images of every description which would very naturally all be formed of the very substance of my theme, however various in pattern and character, in the same sense as all the Don’s hallucinations proceed from the pranks and changing patterns of his central delusion in the matter of Knight-errantry.“540
DTT erscheinenden Textes wieder und versprachlicht an manchen Stellen sogar noch eindeutiger den Gedanken, dass der Ausgang der quixotischen Abenteuer gegenüber dem Prinzip ihres Zustandekommens zurücktritt. Bemerkenswert ist, dass die Äußerungen offenbar nicht nur im Zusammenhang mit Gerhards (neuer) Auffassung der Zwölftontechnik geäußert werden, sondern offenbar in Bezug auf das Don Quixote-Ballett vorgebracht werden (Gerhard spricht von diesem Werk als „my errant-sequence“): „D. Quixote: there is such a resolve in him as who [sic] he is going to behave; his code is so perfectly and strictly set, there is such a system in his madness, that he can well allow Rocinante a lose rein. It doesn’t matter in the least what route his mount is going to take. Whether north or south, east or west, he is sure to be led into trouble anywhere, since it is in wait for him everywhere. The only thing that matters is the way he is going to deal with the conflict when it arises. We expect[sic] it to tackel[sic] it in a manner fitting and true to his code. That, of course, is a must! Nothing else counts. And that is why even in defeat he is not diminuished[sic] in our eyes. The point is that he is not setting out for gain or bootly[sic], he is setting out to act according to his principles. When he does so, strictly and utterly, in perfect accord with his set idea, the whole adventure has a beautifully satisfying fit, as it were, and against that practical outcome whether he emerges on top of somebody on top of him neither here or there is irrelevant. Mutatis mutandis, my errant-sequence means to take you for an adventure in the same spirit. The work is undertaken as an adventure – I might perhaps call it a spiritual adventure – at least it is so to me, or I am much abused.“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.103. Ein gegenüber der Druckversion fast identischer Wortlaut findet sich in Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.111. 539 Siehe Anm. 101, Kapitel II.1.2.1. 540 Ders., On Music in Ballet: II, S. 33.
I.4. Das Wollen als Grundlage des Realitäts- und des Tonalitätszugangs
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Es ist einleuchtend, dass Gerhard die Zwölftontechnik in dem methodischen Sinn, in dem er sie rezipierte, mit der Figur des Don Quixote verband, und dass seine Auffassung jener Figur vom Don Quixote Unamunos geprägt war. Im folgenden Passus weist Gerhard auf eine gemeinsame Schnittfläche zwischen Schönberg, der Figur Don Quixotes und Unamuno hin – auf eine Schnittfläche, in deren Mitte der Typ eines heroischen Glaubensritters steht. Die Aussage Stuckenschmidts zitierend, nach der es eine ‚sehr deutsche Schwäche‘ in Schönbergs Wesen gewesen sei, dass dieser nichts als Bagatelle habe abhandeln können, kommentiert Gerhard: „Very possibly. But is there really any point at all in deploring the want of levity in Schoenberg’s nature: isn’t that to misconceive his nature altogether? There just seems to be no room at all for levity in this type of man. Schoenberg had a terrific sense of mission. He was a man of faith; his was not a quietistic, but a dynamic, non-conformist, militant faith, wrestling with doubt. In some ways he reminded one of Unamuno. He too was a tortured soul. So was Swedenborg, of whom Schoenberg and Unamuno were constant readers. There was also something truly quixotic in his burning sense of mission, which to me was absolutely fascinating. And it seems so fitting that his earthly career should have been a long series of defeats in public, from each one of them he emerges in our eyes not the lesser but truly the greater figure.“541
Gerhards Anfügung, Glaube sei bei Schönberg nicht quietistisch, sondern dynamisch, non-konformistisch, militant und mit Zweifeln ringend gewesen sowie der Verweis auf seine ‚irdische‘ Karriere als eine Folge von Niederlagen, erhärtet den Verdacht des gedanklichen Hintergrunds der Idee-Werdung bzw. des Sich-unsterblich-Machens, der hinter der Idee des Scheiterns als Sieg steht.
541 Ders., Schoenberg, Reminscences of Schoenberg (1955), in: GoM, S. 111.
II. DER QUIXOTISCHE CODE: QUIXOTISMO ALS HINTERGRUND VON GERHARDS BALLETT II.1 UNAMUNOS LEBENSPHILOSOPHIE UND QUIXOTISMO Es erweise sich, so äußerte Fernando Pérez-Borbujo, als unmöglich, die Bedeutung der Don Quixote-Figur als kulturelle Ikone und Chiffre für das Schicksal Spaniens zu verstehen, ohne die ihren Hintergrund bildende „filosofía de la vida“ in Betracht zu ziehen.1 Diese lässt sich in die um 1900 aufgekommenen und bis in die Mitte der 1920er Jahre hinein einflussreichen Strömungen der Lebensphilosophie einreihen, als deren Vertreter mitunter Henri Bergson, Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, in den USA William James und in Spanien Unamuno und José Ortega y Gasset zu nennen sind. In Unamunos Denken sind Lebensphilosophie und Quixotismo nicht zu trennen, und der Hintergrund des Quixotismo lässt sich in Gerhards Don Quixote-Ballett wiederfinden. Im Nachlass von Gerhards privater Bibliothek in Cambridge finden sich an Schriften Unamunos ein Exemplar von dessen philosophischem Hauptwerk STV (1913), der Roman Amor y Pedagogía (1902) sowie sechs (von sieben) Bänden mit Unamunos Essays, in denen Gerhard Markierungen vornahm. Betrachtet wurden hier diejenigen Schriften, die zu Unamunos Quixotismo in Bezug stehen und die philosophischen Prämissen desselben klären. Die von Gerhard markierten Textabschnitte lenkten und orientierten dabei meinen Blick, um aus Unamunos Schriften den quixotischen Code als konzeptuelle Grundstruktur von Gerhards Ballett herzuleiten und darüber hinaus diese Grundstruktur in Gerhards metaphorischer Übertragung des Quixotismo auf die Tonalitäts- und Zwölftonreflexion wiederzufinden.2 Dabei wurde grundsätzlich davon ausgegangen, dass Gerhards Markierungspraxis – meist durch einen senkrechten Randstrich mit nebenstehendem Kreuz, seltener durch Unterstreichungen –, in der Regel eine zustimmende Haltung zum Inhalt des
1 2
Vgl. Fernando Pérez-Borbujo, Tres miradas sobre el Quijote. Unamuno – Ortega – Zambrano, Barcelona 2010, S. 225 (= Anhang II: La filosofía española y la historia de la metafísica). Es handelt sich um die folgenden Exemplare: Miguel de Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida, Buenos Aires 31939, CUL MRS.31.293; ders., Amor y Pedagogía, Buenos Aires 1940, CUL MRS.31.292 sowie ders., Ensayos (Bände 2–7) (= Publicaciones de la Residencia de Estudiantes), Madrid 1916–18, CUL MRS.31.286–291. Die von mir hinsichtlich der Markierungen untersuchten Essays hatten zum Zeitpunkt meines Aufenthalts an der CUL noch keine Manuskriptsignatur. Als Fundstelle von Gerhards Markierungen beschränke ich mich darauf, den Titel der betreffenden Essays sowie die Seitenzahl in der mir vorliegenden Edition von Manuel García Blanco anzugeben, ohne zusätzlich die Fundstelle in den von Gerhard gelesenen Einzelbänden und deren Signatur anzugeben. Der Bestand von Gerhards Bibliothek lässt sich einsehen unter http://www.lib.cam.ac.uk/Departments/Music/Gerhard/Library-books.html (letzter Zugang am 7.01.2015).
II.1 Unamunos Lebensphilosophie und Quixotismo
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Markierten anzeigt.3 Abschnittbeginn und -ende von Gerhards Markierungen im Text werden hier, wie bereits in Teil I, immer durch * angezeigt (dabei können geringe Ungenauigkeiten in der Begrenzung der durch einen Randstrich markierten Abschnitte zustande gekommen sein, da Gerhards Ausgabe der Unamuno-Essays gegenüber der von mir benutzten, in welche ich Gerhards Markierungen übertrug, andere Zeilenumbrüche aufweist). Gerhard besaß weitere Schriften (zum Teil ebenfalls mit Anstreichungen), die demselben Themenbereich von Quixotismo und Quixote-Rezeption zugehören, so einschlägige Schriften von Azorín (eigentlich José Martínez Ruiz), Ortega y Gasset oder Salvador de Madariaga,4 und außerdem eine Fülle von Literatur, die der Lebens- oder Existenzphilosophie zugerechnet werden kann sowie Denkern, die sie vorbereiteten oder sie weiterentwickelten.5 Berücksichtigt wurden in der vorliegenden Arbeit dennoch fast ausschließlich Gerhards Markierungen in Unamunos Schriften und vereinzelte Zitate und Paraphrasen unamunoscher Texte, aus denen sich ein recht konsistentes Bild von Gerhards Unamuno- bzw. Quixotismo-Rezeption ergibt. Es ist dabei anzunehmen, dass Gerhard Unamunos frühe Schrift TC (1895/1902), auch wenn diese im Nachlass nicht vorhanden ist,6 gut gekannt haben muss, denn die in Kapitel I.3.5 angeführten Referenzen auf ‚Notwendigkeit‘ und eine Synchronisierung von Innen und Außen gehen hauptsächlich aus dieser frühen Schrift Unamunos hervor. Auch von Unamunos Kommentar des Cervantesromans VDQ (1905) – quasi dem Manifest seines Quixotismo – lässt sich in Cambridge kein Exemplar finden und es ist dennoch sehr wahrscheinlich, dass Gerhard auch diese Schrift kannte, aus der die philosophisch-symbolischen Implikationen der Romanfiguren so klar hervorgehen. Unamuno war in Spanien bis zu seinem Tod einer der eminenten Intellektuellen, dessen Leben und Wirken repräsentativ für die innere Zerrissenheit der Nation war. Gerhard teilte mit Unamuno die Erfahrung des Exils. Unamuno war während der Diktatur unter Miguel Primo de Rivera (1923–1930) auf die Insel Fuerteventura verbannt worden und ging, nachdem er amnestiert worden war, zunächst in ein freiwillig gewähltes Exil nach Paris und dann nach Hendaye, eine französische Kleinstadt nahe an der spanischen Grenze zum Baskenland (Unamuno war Baske, 3 4
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Nur in einem Fall fand ich ein Fragezeichen, siehe Anm. 69, Kapitel III.2.1. José Ortega y Gasset, Meditaciones del Quijote, Madrid 21921, CUL MRS.31.347 sowie weitere Schriften Ortegas (auch darin nahm Gerhard Markierungen vor); Azorín, Ruta de Don Quijote, Buenos Aires 21941, CUL (keine MRS-Signatur angegeben); Salvador de Madariaga, Guia del lector del ‚Quijote‘, Buenos Aires 1943, CUL 744:27.d.90.20; Ramón Menéndez Pidal, Aspecto en la elaboración del ‚Quijote‘, Madrid 21924, CUL MRS.31.267; Thomas Mann, Meerfahrt mit Don Quijote, Wiesbaden 1956, CUL CCD.30.1056 (einsehbar unter: http:// www.lib.cam.ac.uk/Departments/Music/Gerhard/Library-books.html, letzter Zugang am 7.01.2015). So finden sich in Gerhards Bibliothek Schriften von Sören Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Henri Bergson, Albert Camus, Jean Paul Sartre, Simone Weil, Karl Jaspers, Martin Heidegger, Alfred N. Whitehead und der Lebensphilosophie nahestehender Schriftsteller wie Rainer M. Rilke oder Paul Valéry. Die En torno al casticismo konstituierenden Essays sind in Bd. 1 der in Gerhards Bibliothek zu findenden Edition von Unamuno-Essays enthalten. Ausgerechnet dieser erste Band der Essays fehlt allerdings, sodass anzunehmen ist, dass er vormals in Gerhards Besitz war, aber vielleicht verloren ging.
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
geboren in Bilbao).7 Erst mit dem Ende der Diktatur kehrte Unamuno nach Spanien zurück, wo er als einer der angesehensten Intellektuellen triumphal empfangen wurde.8 Hinsichtlich seiner politischen Gesinnung vollzog Unamuno mehrere Wenden. In den Jahren vor seinem Exil war Unamunos Haltung vor allem antimilitaristisch, antimonarchistisch und sozialistisch gewesen. Er trat in den Jahren ab 1914, mit seiner Absetzung als Rektor der Universität von Salamanca, in Opposition zu König Alfonso XIII., sympathisierte zur Zeit des Ersten Weltkrieges mit der Seite der Alliierten9 und geriet mit seinem publizistisch geführten Kampf für Meinungsfreiheit und für eine Verfassung immer wieder mit der Zensur in Konflikt. Mit seiner Rückkehr aus dem Exil unterstützte er bei deren Ausrufung zunächst die Republik, als deren Vorkämpfer er gelten kann. Von 1931–33 war er Abgeordneter der Cortes, kritisierte aber auch etwa die radikale Säkularisierungspolitik der republikanischen Regierung von Premierminister Manuel Azaña.10 Bei den Wahlen im November 1933 kandidierte er für die Radikalen Republikaner unter Alejandro Lerroux, eine Partei des konservativen Lagers, was für Aufsehen sorgte. Als der Spanische Bürgerkrieg ausbrach, schlug sich Unamuno auf die Seite der Aufständischen, erkannte aber schließlich, dass er sich in diesen getäuscht hatte. Bei einem Festakt am 12. Oktober 1936, dem Unamuno als Rektor der Universität von Salamanca beiwohnte, entgegnete er auf den von General José Millán Astray geäußerten Satz „Es lebe der Tod!“ – laut Graham einem „Schlachtruf der Rebellen“11 – mit dem 7
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Als er von dort aus im Mai 1929 das Vorwort zur dritten Auflage seiner Schrift VDQ (1905) verfasste, bezeichnete er sein Exil („el destierro fronterizo“) als eine ‚quixotische Erfahrung‘. (Siehe Miguel de Unamuno, Prólogo. A la tercera edición, in: Ders., VDQ, hrsg. von Alberto Navarro, Madrid 52004, S. 135.) Er habe in jener Situation mehr als einmal dem Drang widerstanden, Hinzufügungen oder Veränderungen an seiner Schrift vorzunehmen, zu denen er durch seine quixotische Erfahrung von vier Jahren der Ausbürgerung aus ‚meinem armen, versklavten Spanien‘ inspiriert worden sei („Añadidos y modificaciones que me inspira mi experiencia quijotesca de cuatro años de expatriación de mi pobre España esclavizada.“). (Ebd.) Die Rede vom ‚versklavten Spanien‘ konnte dabei nahelegen, die ‚Widersacher‘ Don Quixotes mit denjenigen zu identifizieren, die Spanien ‚versklaven‘ und verweist damit auf die nationale Referenzebene von Unamunos Quixotismo. Bei seiner Rückkehr nach Salamanca wiederholte Unamuno in einer Ansprache an die ihn empfangenden Mitbürger einen zu Beginn seines Exils geäußerten Ausspruch: „Volveré, no con mi libertad que nada vale, sino con la vuestra.“ Zitiert nach Jean-Claude Rabaté, Miguel de Unamuno. Biografía, Madrid 2009, S. 553. Spanien nahm am Ersten Weltkrieg bekanntlich nicht Teil und nahm offiziell eine neutrale Position ein. Dennoch bildeten sich, wie Rabaté erklärt, zwei Lager; auf der einen Seite das die deutsche Position unterstütztende Lager der „germanófilos“, dem nach Rabaté, hauptsächlich Vertreter der etablierten Parteien angehörten („[…] los germanófilos, al que se adhieren los clericales antifranceses, los nacionalistas a ultranza, los militares y Alfonso XIII.“, ebd., S. 345), auf der anderen Seite das Lager der „aliadófilos“, dem, so Rabaté vornehmlich Vertreter der Arbeiterschaft und der Sozialisten angehörten, und welches in der Entente Cordiale Frankreichs und Englands eine Repräsentation von Liberalität und Demokratie gesehen habe. Ebd., S. 346. Die Historikerin Helen Graham bezeichnete jene von den Republikanern praktizierte, radikale Säkularisierungspolitik als „undiplomatisch, undurchdacht und vorwiegend kontraproduktiv.“ Helen Graham, Der Spanische Bürgerkrieg, S. 30, siehe auch S. 28–30. Ebd., S. 121.
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bekannt gewordenen Ausspruch: „Ihr werdet siegen (vencer), aber niemals überzeugen (convencer).“12 Er positionierte sich damit doch noch gegen die Aufständischen, wurde in der Rebellenhauptstadt Salamanca unter Hausarrest gestellt und starb zwei Monate nach jener Konfrontation. Unamuno hat sich politisch nur schwer festlegen lassen und wurde nach seinem Tod von sehr unterschiedlichen politischen Lagern vereinnahmt.13 Seine methodische Vorgehensweise der alternierenden Affirmation gegensätzlicher Positionen („afirmación alternativa de los contradictorios“) – gemäß der Überzeugung, dass Leben und Wahrheit stets das Resultat einer sich im Kampf zwischen These und Antithese einpendelnden Position seien14 – hat Schwierigkeiten in der Einordnung und Fassbarkeit der politischen wie auch der philosophischen 12
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Zitiert nach Helen Graham, ebd., S. 121. Siehe auch Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien. 1936–1939, S. 208. Gerhard erwähnt jenen Vorfall im Zusammenhang mit der IntellektuellenFeindlichkeit und dem kruden Nationalismus der Faschisten: „In its heyday ‚nationality‘ was an idea. Its resurgence today is a form of pathology. Three quotes that should not be forgotten: ‚We are going to exalt national sentiment with insanity, with paroxism, with whatever need be. Better a nation of imbeciles than international sanity.‘ (A Falange slogan.) Millan-Astray, the one-armed mercenary shouting Unamuno down with ‚Muera la inteligencia‘ – probably the original from which Goering got his ‚When I hear the word intellectual I search for my revolver.‘ Summing it all up best, Millan-Astray’s ‚Viva la muerte!‘“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 10.117. Bezeichnend für die Vereinnahmung der einflussreichen Figur Unamunos von völlig disparaten politischen Lagern ist die Tatsache, dass die faschistische Falange Unamuno einen Tag nach seinem Tod mit allen Ehren beisetzte – wie Jean-Claude Rabaté bemerkt, Unamunos letzten politischen Akt vom 12. Oktober dabei ignorierend. (Vgl. Jean-Claude Rabaté, Introducción (= Herausgebervorwort), in: Miguel de Unamuno, TC, S. 101.) Rabaté stellt unterschiedliche politische Lektüren von Unamunos TC nebeneinander (vgl. ebd., S. 95–104) und geht dabei erstens auf die verfälschende Vereinnahmung von Unamunos Dictum „españolizar Europa“ durch Faschisten wie Ernesto Giménez Caballero ein, gegen die sich Unamuno zur Wehr setzte (siehe auch Jean-Claude Rabaté, Miguel de Unamuno. Biografía, S. 543), zweitens auf eine entpolitisierende und verkürzte Lesart des falangistischen Autors Pedro Laín Entralgo, die darauf hinauslaufe den traditionalistischsten Schichten der spanischen Gesellschaft zu demonstrieren, dass die Autoren der Generación del ’98 wahrhafte Patrioten (und nicht Antipatrioten) seien (vgl. ebd., S. 100), und drittens auf eine Rezeption im liberalen und aufklärerischen Sinn („[U]na lectura liberal y humanista“), nach der Unamuno die große Bewegung des spanischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts fortsetze. (Ebd., S. 103.) Siehe auch das Kapitel bei Faber über republikanisch-spanische Exilierte, die ‚konservativ-liberale‘ Intellektuelle wie u. a. Unamuno, Ortega y Gasset und Gregorio Marañón, welche die Republik lediglich bei ihrer Ausrufung unterstützt und sich nachfolgend von ihr abgewandt hatten, während der 1950er Jahre rehabilitierten und ihrerseits vereinnahmten: „[…] the exiles’ claim to this liberal heritage had to compete with similar claims from the Francoist regime.“ Siehe Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S. 179 f. und weiter S. 179–185. Vgl.: „Suele buscarse la verdad completa en el justo medio por el método de remoción, vía remotionis, por exclusión de los extremos, que con su juego y acción mutua engendran el ritmo de la vida, y así sólo se llega a una sombra de verdad […]. Es preferible, creo, seguir otro método, el de afirmación alternativa de los contradictorios; es preferible hacer resaltar la fuerza de los extremos en el alma del lector para que el medio tome en ella vida, que es resultante de lucha.“ Miguel de Unamuno, TC, S. 129. Siehe auch ders., STV, S. 12.
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Position Unamunos mit sich gebracht (die Unamuno zum Teil sicherlich programmatisch befördert und begrüßt hat). So hat etwa der bei Unamuno zentrale Begriff der Glaubenskraft wenig gemein mit dem Glauben derjenigen, die aus ihrer Glaubenslehre die Selbstgewissheit ziehen ‚auf der richtigen Seite‘ zu sein. Vielmehr ermöglicht der Glaube bei Unamuno einen Vorstoß hin zu Aspekten der Realität, wo diese dem Denken fremd und absurd zu werden beginnt. Glaube stellt bei Unamuno eine innere, gedankliche Vorwegnahme der Realität dar, so wie sie dem menschlichen Innen entspricht und an dieses angepasst werden muss. Bei der Glaubenskraft handelt es sich daher um die im Innen entspringende und vorwärtstreibende Kraft im Erkenntnis- und Welterschließungsprozess. Eine solche, im Innen beginnende (und letztlich auf die Schaffung eines kollektiven Innen zielende) Erschließung von Realität lässt sich dabei abgrenzen von einer sich verselbständigenden Vernunft, die dem gegenständlichen Außen und der Eigendynamik des materiell Machbaren folgt, und dabei die Sensibilität für das Gebrauchte und Bedurfte betäubt und paralysiert. In diesem Sinn steht Glaube bei Unamuno für eine lebensbefördernde Kraft, während das Sich-Einrichten in Denkgewohnheiten und in den Gewissheiten einer eskapistischen Vernunft für den ‚Tod‘ (das Prinzip des Toten) steht. Ein wichtiger Aspekt von Unamunos Quixotismo betrifft seine Auseinandersetzung mit nationaler Identität. Wenn Unamuno in TC oder in seinen späteren Schriften auf Figuren des Cervantesromans Bezug nimmt, dann geschieht dies in Verbindung mit der Diskussion um ein ‚authentisches‘ Spanien und häufig in direkter Anspielung auf die ‚Schmach‘ von 1898, Spaniens Verlust seiner letzten Kolonien in Übersee.15 Dies verweist auf Unamunos aktualisierende Lesart des Romans, auf Don Quixote als Symbol für den Zustand und das Schicksal der Nation, und damit auf eine mehr oder weniger explizit vorhandene nationale Referenzebene der Figurensymbolik. Dabei muss allerdings vorausgeschickt werden, dass die Don Quixote-Figur in Unamunos früher Schrift TC noch eine durchweg negativ besetzte ist. Wie Jean-Claude Rabaté erklärt, hatte es Unamuno im Vorfeld des ‚Desasters‘ von 1898 für notwendig befunden, dass ein ‚müdes und erschöpftes Spanien‘ weitere Niederlagen vermeide und Don Quixote zur Vernunft komme.16 Als vorbildhaft sah der frühe Unamuno von TC daher das Schlusskapitel des Cervantesromans an, in dem sich Don Quixote zur Vernunft bekehrt und wieder zu Alonso Quijano wird.17 Jene Rückbesinnung auf die Vernunft wurde hier mit der ‚Gesundung‘ („regeneración“) oder ‚Wiedergeburt‘ Spaniens verbunden.18 Rabaté stellt fest, dass Unamunos damaliger Anti-Quixotismo einer Antipathie gegen jeglichen militärischen und kriegerischen Geist entspringe, der für das Spanien der Restauration, in dem Unamuno lebte, so charakteristisch gewesen sei.19 Jene negative Grundhaltung 15 16 17 18 19
Anspielungen auf die spanische Niederlage von 1898 finden sich auch z. B. in ders., VDQ, S. 481–486 und 514. Vgl. Jean-Claude Rabaté, Introducción, in: Miguel de Unamuno, TC, S. 63. Vgl. Miguel de Unamuno, TC, S. 244 f. Siehe ebd., S. 142 und 168. Über das Schlusskapitel des Cervantes-Romans bemerkte Unamuno: „[…] debe ser nuestro evangelio de regeneración nacional.“ Ebd., S. 143. „Miguel de Unamuno condena a Don Quijote a pesar de su empeño loable en socorrer valien-
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gegenüber der Don Quixote-Figur widerrief Unamuno allerdings später mehrfach.20 In den Schriften VDQ (1905) und in STV (1913) wird Don Quixote vorbehaltlos als Heroe aufgefasst; deutlich erweitert sich die symbolische Referenzebene hier, über das Problem der Nation hinaus, auf Fragen der Philosophie, sodass der Quixotismo für Unamuno schließlich stellvertretend einsteht für: „[t]odo un método, toda una epistemología, toda una estética, toda una lógica, toda una ética, toda una religión sobre todo, es decir, toda una economía a lo eterno y lo divino, toda una esperanza en lo absurdo racional.“21
Auf diese Wende Unamunos ist vielfach hingewiesen worden. Christopher Britt Arredondo sieht in den beiden genannten späteren Schriften gegenüber TC „an alternative Quixotist interpretation of Spain’s perceived national decadence“,22 und damit gewissermaßen einen Verrat an Unamunos europäischer, liberaler und sozialistisch-integrativer Haltung in TC.23 Er konstatiert: „[…] by 1913, for Unamuno regeneration was no longer a question of the Spanish nation’s need to Europeanize itself […]; on the contrary, it was now a struggle between irrational faith and reasonable doubt, a ‚tragic‘ affirmation of faith-in-doubt. In a word, regeneration had become, for Unamuno, a matter of affirming the Spanish nation’s irrational spirituality, its Quixotism.“24
Auf dieser Basis resümiert Britt Arredondo, Unamunos Quixotismo habe neben dem von Ganivet, Maeztu und Ortega als gedankliche Vorbereitung für den franquistischen National-Katholizismus gedient.25 Weder der Vorwurf einer kompletten gedanklich-politischen Wende noch die Folgerung in Bezug auf eine spätere Rezeption im Franquismus erscheinen jedoch haltbar. Denn was sich in Unamunos Wende tatsächlich wendet, sind die Zuschreibungen bezüglich der Bildlichkeit des Don Quixote, weniger aber die behandelten Grundpositionen und deren Bewertung. So lässt sich das in VDQ mit Don Quixotes Gegnern verbundene Thema einer intellektualistischen Ideenherrschaft (Kapitel II.1.2.1) ebenfalls mit Bezug auf die in TC kritisierten Traditionalisten erkennen,26 die sich der niedergehenden Tradition eines
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temente a los débiles. Su antiquijotismo feroz nace de su antipatía visceral por cualquier espíritu militar y guerrero, y de su rechazo del culto a la violencia que encierra un ideal caballeresco característico de la España en que vive.“ Jean-Claude Rabaté, Introducción, in: Miguel de Unamuno, TC, S. 63. Unamuno reflektiert diese seine eigene Wende in ders., La crisis actual del patriotismo español (1905), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), hrsg. von Manuel García Blanco, Madrid 21965, S. 946 f. „[…] eine ganze Methode, eine ganze Erkenntnistheorie, eine ganze Ästhetik, eine ganze Logik, eine ganze Ethik, vor allem eine ganze Religion, das heißt eine ganze Ökonomie des Ewigen und Göttlichen, eine ganze Hoffnung auf das rationale Absurde.“ Ders., STV, S. 195 f. [Übersetzung G. L.]. Christopher Britt Arredondo, Quixotism. The Imaginative Denial of Spain’s Loss of Empire, New York 2005, S. 77. Vgl. ebd., S. 76. Ebd., S. 77. „Indeed, the argument that I set forth in the following chapters proposes that the Quixotism of Ganivet, Unamuno, Maeztu, and Ortega is indispensable to a proper understanding of the rise of a modern national identity in Spain; in particular of the National-Catholicism that took hold of the nation after the collapse of the Second Republic in 1936.“ Ebd., S. 13. So wenn bereits in TC der „bachiller Sansón Carrasco“ als „razón raciocinante apoyada en el
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imperialen Spanien, und damit einer inhaltsleeren, nicht mehr ‚lebendig‘ verkörperten Idee Spaniens unterwerfen. Und das hingegen ‚ewige Spanien‘, die kontinuierliche, aus einer quasi unbewussten Bewusstseinssubstanz gespeiste ‚tradición eterna‘ aus TC, wird in Unamunos beiden späteren Schriften weitergedacht als Kollektivbewusstsein oder ‚Leben‘, auf das jegliches Unsterblichseinwollen (der Grundantrieb des Menschen, exemplarisch: des Don Quixote-Menschen) zielt.27 Dabei lässt sich Glaube in der Vorstellung Unamunos nicht unmittelbar mit dem Katholizismus im Sinne einer katholischen Glaubenslehre verbinden,28 deren Vertreter sich mehrheitlich sehr wohl mit der nationalkatholischen Ideologie der Franquisten in Verbindung bringen lassen mussten. Angesichts der Tatsache, dass Unamuno (u. a. in STV) immer wieder ätzende Kritik an ‚den Professionellen des Katholizismus‘ („los profesionales del catolicismo“29) und am Typus des scholastischen Theologen übt und diesen als Gegenspieler Don Quixotes versteht, ist der Schluss, Unamuno in die rechtskatholische Ecke zu rücken, nicht nachvollziehbar. Zudem kann Gerhards Don Quixote-Ballett einen rezeptionshistorischen Beleg dafür bieten, dass eine Auseinandersetzung nicht nur mit Unamunos TC, sondern auch mit dessen späteren Essays und Schriften von Seiten eines sozialistisch (und regionalistisch) gesinnten Republik-Exilanten der jüngeren Generation stattfand – auch wenn Unamuno selber sich von der verwirklichten Republik und ihrer politischen Führung abgewandt hatte.
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sentido histórico“ bezeichnet wird. Vgl. Miguel de Unamuno, TC, S. 245. Auf die Nähe zwischen William James’ Theorie des Bewusstseinsstroms und dem von Unamuno in TC verwendeten Begriff der ‚tradición eterna‘ – als gewissermaßen kollektivem Bewusstseinsstrom – hat Fernández hingewiesen: „Ya hemos visto que en En torno al casticismo se halla inmersa la teoría jamesiana del flujo de la conciencia, según se refleja en el concepto del fondo de continuidad propio de la tradición eterna.“ Pelayo H. Fernández, Miguel de Unamuno y William James. Un paralelo pragmático, Salamanca 1961, S. 54. Darauf weist schon die empfindliche Verurteilung Unamunos von Seiten der katholischen Amtskirche. Zwei seiner Schriften – STV (1913) und Todeskampf des Christentums (1925) – wurden, so berichtet Ludwig Marcuse, zwanzig Jahre nach Unamunos Tod (im Jahr 1957) von der vatikanischen Ritenkongregation auf den Index der für Katholiken verbotenen Bücher gesetzt. Unamuno selber wurde vom Bischof der kanarischen Inseln in einem Hirtenbrief als „größter Irrlehrer und Meister der Häresie“ bezeichnet (vgl. Ludwig Marcuse, Mönch zwischen links und rechts, in: Die Zeit, Artikel vom 21.03.1957, Heft 12, einsehbar unter: http://www. zeit.de/1957/12/moench-zwischen-links-und-rechts, letzter Zugang am 9.01.2015). Am 3. Januar 1926 wurden bei einem Autodafé auf Mallorca Bücher Unamunos verbrannt. 150 Mönche hätten, so Marcuse, assistiert, die frommen Zuschauer sich bekreuzigt. (Vgl. ebd.) Zu Unamunos religiöser Haltung jenseits kirchlicher Glaubenslehren siehe auch Jan E. Evans, Unamuno’s Faith and Kierkegaard’s Religiousness A: Making Sense of the Struggle, in: Hispanófila 168 (Mai 2013), S. 55–58 und 65. Siehe Miguel de Unamuno, ¿Qué es verdad?, in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), hrsg. von Manuel García Blanco, Madrid 21965, S. 999.
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II.1.1 Der Antrieb des Glaubens und die glaubend erzeugten Objekte Don Quixotes Immer wieder lässt sich bei Unamuno der Gedanke finden, dass Glaube und Imaginationskraft den Gegenstand ihrer Befriedung erzeugen30 bzw. finden lassen, wenn die Vorstellung vom Geglaubten präzise und stark genug ist: „Desea con ansia volar, aunque llevado en el encierro de una jaula y a paso de buey, y tu deseo hará que te broten alas, y la jaula se te ensanchará convirtiéndosete en universo y volarás por su firmamento.“31
Natürlich kann es als Wahn erscheinen daran zu glauben, dass man fliegen könne, aber nur mit dem Ausgreifen der Glaubens- und Imaginationskraft über die vertraute Realität hinaus kann für Unamuno eine fortschreitende Realitätserschließung vorangebracht werden. Glaube (fe) betrifft bei Unamuno nicht eine Glaubenslehre (creencia),32 sondern die schaffende Kraft im Menschen.33 Als solche ist Glauben an das Handeln gebunden und manifestiert sich im Schaffen und Hervorbringen des Geglaubten. Unamuno kann nahelegen, das Geglaubte bringe sich selber in Existenz, weil es zum Handeln antreibt und gleichzeitig vom in Existenz-Gebrachten abhängt und sich davon nährt und erhält.34 Man kann demnach schließen, dass alles, was wahrhaft existiert, auf Kräften des Geglaubt- und Geschaffenwerdens beruht.35 Eine primär und unabhängig vom Subjekt vorhandene Realität als deren primäre Basis vorauszusetzen – erst zu sehen, und dann zu glauben36 – würde hingegen den Weg der Vernunft kennzeichnen und zu Vorstellungen führen, die der Realität gegenüber stets aposteriorisch blieben und zu einer Kontaktnahme mit lediglich äußerer Realität führten, d. h. mit derjenigen Realität, die bereits vorhanden ist, während Objekte des Glaubens gerade nicht auf der vorhandenen äußeren Rea30 31
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„La fe crea, en cierto modo, su objeto.“ Ders., STV, S. 121. Siehe auch Pelayo H. Fernández, Miguel de Unamuno y William James, S. 63 f. „Ersehne mit Begierde zu fliegen, auch wenn du dich in der Gefangenschaft eines Käfigs befindest und im Schneckentempo befördert wirst, und dein Sehnen wird dazu führen, dass dir Flügel wachsen, und der Käfig wird sich weiten und sich in das Universum verwandeln, und du wirst am Firmament fliegen.“ Ders., STV, S. 315 f. [Übersetzung, G. L.]. Zu dieser Unterscheidung siehe Anm. 163, Kapitel II.2.3. „La fe es el poder creador del hombre.“ Ders., STV, S. 120. Demgemäß erklärt Unamuno, das Schaffen sei die hauptsächliche Aufgabe („oficio“) von Glauben. So bestehe der Glaube an Gott darin, diesen in Existenz zu bringen, und da es Gott sei, der uns an ihn glauben lässt (man könnte auch sagen: Gott der Anlass unseres Glaubens ist), sei es folglich auch Gott, der sich selber in Existenz bringe, indem er sich fortwährend in uns verwirkliche. (Vgl. ebd., S. 121.) Nach der gleichen Logik kann Unamuno argumentieren, Don Quixote habe Dulcinea Kraft seines Glaubens ‚in Existenz‘ gebracht, siehe Kapitel II.2.5. Wenn eine geglaubte Vorstellung eine in Bewusstsein wirkende ist, dann lässt sich das Gesagte in Unamunos pragmatischem Begriff von Realität wiederfinden, nach dem das Wirken dem Sein vorausgeht. Siehe Kap.II.2.2. In Bezug auf das pathologische Potenzial von Visionen lässt Unamuno zwei fiktive Sprecher folgendermaßen dialogisieren: „*–Créeme que es muy sano lo que suele decirse de ‚lo de Santo Tomás; ver y creer‘. – En mucho cabe decir la inversa; esto es, creer y ver! […].“* Ders., Sobre la filosofía española. Diálogo (1904), S. 179.
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lität beruhen, sondern aus einer inneren, in die Realität hineinsehbaren, quasi ‚höheren Realität‘ hervorgehen. Zwar nimmt Glaube bei Unamuno seinen Ausgang durchaus von einem Moment intimen Durchdrungenwerdens von der vorhandenen Realität (er spricht in diesem Zusammenhang von ‚Resignation‘ gegenüber der Realität37), doch zielt Glaube bei Unamuno zugleich auf eine Überwindung der Vernunft, die bei Unamuno stets der bestehenden Realität und der Objektwelt verhaftet bleibt. Glaube zielt auf das Mögliche und Zukünftige und erfordert insofern Imaginationskraft („[…] imaginación, potencia creadora y libertadora, carne de la fe“38), eine vorwärts und zur Erneuerung von Realität drängende Kraft, die sich gegenüber der Realitätsaspekte potenziell konservierenden Gegenkraft der Vernunft durchsetzen soll.39 Im Gegensatz zu einer intellektuellen Vorstellung ist eine geglaubte Vorstellung bei Unamuno stets an das Interesse des eigenen Existierens gebunden. Unamuno spricht diesbezüglich von einem Glaubenwollen, dass uns dazu führt so zu handeln, als ob das Geglaubte bereits existent wäre („[…] obrar conforme a tal deseo“), und es derart in Existenz zu bringen.40 Für den glaubenden (glaubenwollenden) Menschen steht bei Unamuno Don Quixote als ‚Ritter des Glaubens‘ („Caballero de la Fe“41) – in ausdrücklicher Anlehnung an die Figur des Abraham in Kierkegaards Furcht und Zittern (1843).42 Indem Don Quixote so handelt, als ob er ein Ritter sei, bringt er sein Rittertum-Ideal in Existenz und wird damit zur ‚gelebten‘, wirkenden Idee. Getrieben wird Don Quixote vom Antrieb der eigenen Unsterblichkeit; folglich muss sein Rittertum-Ideal ein wahrhaft geglaubtes und gewolltes Ideal sein. Als Objekte, die wahrhaft aus dem Antrieb des Glaubens (das bei Unamuno stets ein Glaubenwollen an die eigenen Unsterblichkeit einschließt) hervorgehen und an diesen angebunden bleiben, lassen sich die von Don Quixote im Glauben an sein Rittertum-Ideal ‚erzeugten‘ Objekte betrachten. Sie sind ausgezeichnet durch ihren provisorischen, unvollkommenen Charakter, für den exemplarisch Don Quixotes „zusammengeflickter Turnierhelm“ einstehen kann, eine einfache Sturmhaube, der Don Quixote bei seiner Selbstinitiation als Ritter durch das Anbringen eines mit Eisenstäben verstärkten Pappdeckelvisiers Aussehen und Funktion eines Turnierhelms gibt.43 Don Quixotes Lächerlichkeit, die „seltsam entstellte Figur“, 37 38 39 40 41 42
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Siehe ders., STV, S. 124. „¿Eres débil? Confía en tu debilidad […] y ocúltate, bórrate, resígnate; que la resignación es también fe.“ Ders., La Fe, S. 260. Ders., STV, S. 124. „Y no sólo se cree con la razón ni aun sobre la razón o por debajo de ella, sino que se cree contra la razón.“ Ebd., S. 124. Siehe ebd., S. 122. Diese Interessiertheit am Geglaubten lässt sich nach Unamuno daran erkennen, dass das Geglaubte mit Gefühlshaltungen etwa der Liebe oder Furcht verbunden ist. Siehe ebd. S. 121. Vgl. ders., VDQ, S. 157, 189, 487 und ders., La crisis actual del patriotismo español, S. 947. Auch diese Schrift ist in Gerhards Nachlass vorhanden: Sören Kierkegaard, Fear and trembling and the sickness unto death, Garden City New York: Doubleday 1955, CUL MRS.31.326. Siehe http://www.lib.cam.ac.uk/Departments/Music/Gerhard/Library-books.htm (letzter Zugang am 07.01.2015). Siehe Miguel de Cervantes, DQ I/1, S. 24.
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die er „bewehrt mit so schlecht zusammenpassenden Rüstungsstücken wie Zügel und Speer, Tartsche und Koller“ abgibt,44 wird im Roman im Zusammenhang mit seinem ersten Abenteuer beschrieben, seiner Ankunft in der Schenke, die er für eine Burg hält. Als die von Don Quixote als Jungfrauen behandelten Dirnen ihm die Rüstung abnehmen wollen, „verstanden und vermochten sie nimmer, ihm die Halsberge aus dem Verschluß zu bringen, noch ihm das nachgemachte Visier abzunehmen, welches er mit grünen Schnüren festgebunden trug; es wäre erforderlich gewesen, diese zu zerschneiden, weil man die Knoten nicht lösen konnte, aber er [Don Quixote] wollte unter keiner Bedingung dareinwilligen.“45
Wenn Gerhard in Bezug auf Don Quixotes Ausstattung in Szene 1 seines Balletts auf jenen zusammengebastelten und mit grünen Bändern ganz offenbar notdürftig befestigten Turnierhelm Bezug nimmt („Don Quixote in his night-shirt, his helmet on with a paste-board visor tied on to it with long green ribbons.“46), dann verweist er damit zugleich auf die im Roman so genannte „Erfindsamkeit“47 Don Quixotes – seine Imaginationskraft, die bei Unamuno in Nähe der Glaubenskraft steht –, aber auch auf jene lächerlich-wahnhaft erscheinende Notdürftigkeit der quixotischen Problemlösungen, denen der Charakter der unvollkommenen Nachahmung des Ideals und des Umfunktionierens von Objekten anhaftet. Das Umfunktionieren einer Schenke zur Burg, der Dirnen zu Edeldamen, des Wirts zum Kastellan, der Don Quixote nach dessen Waffenwache zum Ritter schlägt (DQ I/2, 3), oder auch einer Messingschüssel, die ein reisender Barbier, um seinen Hut zu schonen, auf dem Kopf trägt, zum legendären „Helm des Mambrín“ (DQ I/21) – auf diese Situationen nimmt Gerhard mit Blick auf die doppelte Realität seines Balletts Bezug–, lässt sich im Sinne des quixotischen Code weniger als Produkt selbsttätigen Wahns, denn als aktiv wollendes Übereinbringen (oder -zwingen) von Ideal und Realität charakterisieren. Der provisorische Charakter jener Problemlösungen bleibt, nach Unamunos Quixotismo, gegenüber der Kraft und Höhe des Glaubens und Wollens sekundär, und hierin lässt sich die pragmatische Methode William James’ wiederfinden: Wenn eine Vorstellung funktioniert und sich bewährt, hört sie auf unwahr oder ein Irrtum zu sein. Dies trifft auf die Vorstellung von Dulcinea – einem weiteren, herbeigesuchten Bestandteil von Don Quixotes Vorkehrungen – zu, und lässt sich, wie zu sehen sein wird, auch für die Vorstellung von Tonalität als präexistenter Tonbezugsordnung geltend machen. Dem ‚gewollten‘ Umfunktionieren von Aldonza zu Dulcinea – oder: der Reihe zur hypothetischen Tonalität – liegt dabei der Antrieb des Glaubens an eine ‚höhere Realität‘ in der Realität zugrunde, von der keine Gewiss44 45
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Vgl. ders., DQ I/2, S. 31. Ebd., S. 31 f. Gerhard nimmt in Szene 2 seines Balletts Bezug auf diese Begebenheit, so ist im Szenario zu lesen: „Zwei Dirnen helfen D. Q. die Rüstung ablegen, mit Ausnahme des Helmes, aus dem er nicht befreit werden kann.“ Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 2. Roberto Gerhard, lose Seite mit Angaben zur Kostümierung, beiliegend zum Klavierauszug des Don Quixote-Balletts von 1949, CUL 5.28. Miguel de Cervantes, DQ I/1, S. 24. Auf Don Quixotes Erfindsamkeit als Aspekt seines Wahns geht auch Unamuno ein, siehe STV, S. 185.
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heit und keine genaue Vorstellung besteht, und für die mit jenen Vorstellungen ‚Dulcinea‘ – oder ‚Tonalität‘ – ein vorläufiger und behelfsweiser Platzhalter gefunden und gesetzt wird. In diesem Sinn lässt sich die Reihe als hypothetischer Platzhalter des Gesuchten verstehen, ein Platzhalter, dessen Wert durch die Kraft des Glaubens und Wollens, die er hervorruft, erhalten wird und der, wie jede Idee bei Unamuno, sowohl ‚Brennstoff‘ („combustible“48) des Glaubens als auch Hilfsmittel zum Leben und Handeln ist. Die Einsicht, dass die Objekte ‚unserer‘ Realität nichts weiter als Platzhalter des Gesuchten sind, gewährt einen fortgesetzten Suchprozess, der nicht im Objekt stagniert, sondern auf die ‚höhere Realität‘ dahinter zielt; darauf, das Gebrauchte und Bedurfte in vielerlei Manifestationen zu denken, und damit eine Befreiung vom materiellen Aspekt jenes Bedürfens zu erreichen. Insofern lässt sich das Wollen als Auflehnung gegen die Macht von Augenschein und Materie verstehen. Wer sein Denken und Handeln auf das Bedürfen hinter den Dingen richtet, entgeht der Gefahr, sich durch Materie und materielle Platzhalter beherrschen zu lassen. II.1.2 ‚Leben‘, Wollen und das Beharrungsvermögen von Wissen In Teil I wurde behauptet, dass sich der Antrieb des Wollens, den Gerhard mit der Figur Don Quixotes verknüpfte, auf das Thema von Tonbeziehungen bzw. tonalen Bezügen übertragen ließ und Gerhards Tonalitätsauffassung damit auf die Seite derer rückte, die den Ursprung von Tonbeziehungen im Innen menschlichen Bewusstseins verorten (und nicht im akustischen Objekt des ‚Tons‘). Der Begriff des Wollens (oder Bedürfens) ist bei Unamuno zuweilen schwer von dem des Glaubens abzugrenzen. Bei beiden handelt es sich um eine anti-rationale Kraft des Bewusstseins, die der Realitätskonstitution zugrunde liegt und als Ort und Ursprung der ‚höheren Realität‘ des Innen gelten kann. Beide Kräfte lassen sich bei Unamuno auf das Unsterblichseinwollen zurückführen. Während aber der Glaube auf eine Kontaktnahme mit den ideellen, unvergänglichen Aspekten des Existierens zielt, stellt sich das Wollen bei Unamuno als Inbegriff jeglichen Existierens dar, welches der Ausformung von Erkenntniswerkzeugen und lebenserhaltendem Wissen zugrunde liegt. Und während Unamunos Gedanke, nach dem der Glaube die Objekte seines Bedürfens selber erzeugt, eine idealistische Grundhaltung Unamunos nahelegt, zeigt sich mit dem Blick auf das Bedürfen bzw. Wollen der anti-idealistische und vitalistische Aspekt unamunoschen Denkens. Im zweiten Kapitel von STV postuliert Unamuno, dass jegliches Wissen seine Finalität im lebenserhaltenden Instinkt, dem Wollen des Einzelnen, haben soll und führt zur Begründung seines Postulats die Herkunft von lebenserhaltendem Wissen aus dem Instinkt an. Wissen soll sich demnach, auf welchem komplexen und fortgeschrittenen Stand auch immer, stets an jenen Instinkt, und damit an die Erfordernisse von ‚Leben‘, zurückbinden lassen. Einem ‚Wissen um zu wissen‘49 stellt Una48 49
Siehe Anm. 324, Kapitel I.3.4. Vgl. Unamunos Kritik an der ‚Inhumanität‘ eines ‚Wissens um zu wissen‘ („Saber por saber“), Miguel de Unamuno, STV, S. 22, siehe auch S. 18.
II.1 Unamunos Lebensphilosophie und Quixotismo
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muno das Bedürfnis des ‚Wissens um zu leben‘ („la necesidad de conocer para vivir“)50 gegenüber. Dies ist zunächst ein Wissen, das sich den Bedingungen eines bestimmten Umfelds anpassen muss und sich daran ausformt. Wissen wird hier eine prinzipiell aposteriorische Rolle zugewiesen: Erst kommt das Leben bzw. Lebenwollen, danach das Wissen, das sich dem Leben anzupassen hat und als folglich stets vorläufiges gelten muss.51 Hinter solcher Wissenserzeugung steht zunächst der Instinkt der Selbsterhaltung („instinto de conservación personal“52), der sich als der noch wenig sublimierte Lebenstrieb des Wollens begreifen lässt. Bereits dieser Selbsterhaltungsinstinkt ist bei Unamuno eng mit dem Bewusstsein verwandt, wenn nicht sogar synonym damit, und steht nicht etwa im Gegensatz dazu;53 denn volitive Handlungen seien, so Unamuno, auch im Fall derjenigen Lebewesen, die evolutionär am niedrigsten entwickelt sind, an ein mehr oder minder klares Bewusstsein gebunden und dienten dem volitiv Handelnden zu dessen eigenem Fortbestehen.54 Die Anbindung jeglichen Wissens an das Wollen betrifft bei Unamuno allerdings nicht nur niedrig entwickelte Lebewesen und deren von Unamuno so bezeichnetes ‚unbewusstes Wissen‘,55 sondern ebenso die vielfältigen menschlichen Wissensarten und Wissenschaften, deren Bindung an das Wollen über ein bloßes Überlebenwollen hinausgeht. Ist die ‚Notwendigkeit des Wissens um zu leben‘ („la necesidad de conocer para vivir“56) erfüllt, dann wird nach Unamuno der angeborene Trieb der Neugierde57 erweckt, und es entwickelt sich aus diesem ein als „conocimiento de lujo o de exceso“58 bezeichnetes Wissen, d. h. ein Wissen, das nicht unmittelbar dem Überleben dient, jedoch dazu gelangen könne, seinerseits ein neues Bedürfen zu konstituieren.59 Indem Unamuno dies einräumt, behauptet er, dass auch das nicht unmittelbar lebenspraktische, theoretische Wissen an das Bedürfen angebunden bleibt60 und gibt an, auch zum theoretischen Wissen korrespon50 51 52 53 54
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Vgl. ebd., S. 17 f. Siehe Unamunos Referenz auf den Satz Primum vivere, deinde philosophari. Ebd., S. 22. „El conocimiento está al servicio de la necesidad de vivir, y primariamente al servicio del instinto de conservación personal.“ Ebd., S. 19. Die Betonung der Superiorität von Bewusstsein oder ‚Geist‘ gegenüber ‚Natur‘ wäre dagegen von einer rationalistischen Position zu erwarten. Unamuno behauptet, auf alle Lebewesen, die über ein noch so dunkles Erkennen und Perzipieren verfügten, treffe es zu, dass ihr Wissen angebunden sei an das Bedürfnis zu leben und an das Besorgen desjenigen, das der Selbsterhaltung förderlich ist. Vgl. Miguel de Unamuno, STV, S. 18. Unamuno äußert, jenes Wissen, das vom „instinto de conservación“ angetrieben wird, lasse sich, auch wenn dies paradox erscheinen könne, als ‚unbewusstes Wissen‘ („conocimiento inconciente“) bezeichnen. (Vgl. ebd., S. 17.) Dieses sei Menschen und Tieren gemeinsam, während das reflexive Wissen, das Wissen über das Wissen selbst, den Menschen vom Tier unterscheide. (Vgl. ebd., S. 17 f.) Bemerkenswert ist dabei, dass Unamuno jenes Instinkt-Wissen als eine Form von Wissen anerkennt, die sich nur graduell (nicht prinzipiell) von menschlichem Wissen unterscheidet. Ebd., S. 18. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Selbst wenn der Fall einträte, dass Neugierde, der jenem theoretischen Wissen zugrunde lie-
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diere ein Regulativ des ‚intellektuell Notwendigen‘ („necesidad […] intelectual“), ein Prinzip der ‚Ökonomie im Denken‘.61 Auch hier reguliert also Notwendigkeit – d. h. ‚Leben‘ – die Nachfrage nach Wissen und die Ausformung der einzelnen Wissenschaften. Wo Wissen umgekehrt das Leben regulieren würde, fände die Verkehrung der Verhältnisse statt, an der Unamunos Vernunftkritik ansetzt. Wie bei anderen Lebensphilosophen lässt sich hinter Unamunos Anbindung von Wissen an ‚Leben‘ eine Kritik an der Spezialisierung von Wissensbereichen und deren Entfremdung von der Lebenspraxis erkennen.62 Für Unamuno lässt sich die Erzeugung von Wissen somit nicht vom eigenen Interesse an ‚Leben‘ – d. h. bei Unamuno: der eigenen Unsterblichkeit – loslösen; sie kann insofern nicht interessefrei sein. Er ist der Meinung, dass selbst diejenigen, die ein ‚Wissen um zu wissen‘ anstrebten, d. h. ein Wissen im Dienst selbstzweckhafter Wahrheit, tatsächlich und eigentlich nach einem Leben in Wahrheit suchten.63 Weiter behauptet er, die unterschiedlichen Variationen der Wissenschaft (die Einzelwissenschaften) hingen von den Variationen menschlicher Bedürfnisse ab, und die sie praktizierenden Wissenschaftler arbeiteten, auch wenn sie vermeinten im Interesse ‚der Wahrheit‘ zu forschen, nolens volens im Interesse entweder der Mächtigen, oder der Bedürfnisse ihres Volkes.64 Natürlich lässt sich in Unamunos Affirmierung der Interessiertheit und Wollensgebundenheit von Wissen bis heute ein Affront gegenüber jeglichem Objektivitätsideal in den Wissenschaften sehen. Eine traditionelle Wissenschaftspraxis wäre bestrebt, die Interessiertheit des Subjekts gegenüber dem Untersuchungsobjekt möglichst zu minimieren.65 Wo die Inte-
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gende Antrieb, dem primären Bedürfnis der Selbsterhaltung (etwa dem des Hungers) zuvorkäme, selbst dann treffe es, so Unamuno, noch immer zu, dass jene Neugierde aus dem primären, lebenserhaltenden Trieb des ‚Wissens um zu leben‘ hervorgegangen sei, der jenem theoretischen Wissen wie ein Gewicht angehängt bleibe: „[…] el hecho primordial es que la curiosidad brotó de la necesidad de conocer para vivir, y éste es el peso muerto y la grosera materia que en su seno la ciencia lleva […].“ Ebd. „Hasta la doctrina que nos aparezca más teórica, es decir, de menos aplicación inmediata a las necesidades no intelectuales de la vida, responde a una necesidad – que también lo es – intelectual, a una razón de economía en el pensar, a un principio de unidad y continuidad de la conciencia.“ (Ebd., S. 13.) Siehe auch die von Unamuno der ‚praktischen Realität‘ des Lebensvollzugs zur Seite gestellte ‚theoretische Realität‘ („realidad teórica“), in der sich eine Idee bewähren müsse. Ders., La ideocracia (1900), S. 434. In Bezug auf die um 1900 und bis Mitte der 1920er Jahre einflussreiche Generation der Lebensphilosophen Dilthey, Bergson oder Simmel, bemerkt Jürgen Große, sie eine die gemeinsame Frage, „welcher Status der wissenschaftlich produzierten Erkenntnis innerhalb des Lebens (der Kultur, der Gesellschaft), aber auch gegenüber der Philosophie zukommen solle. Die metaphysische Versuchung dabei besteht in planer Entgegensetzung von fließendem, alles Feste in Relationen auflösendem Leben (dessen Sachverwalter die entsprechende Philosophie wäre) und logischer, ästhetischer und kultureller Form […].“ (Jürgen Große, Lebensphilosophie, Stuttgart 2010, S. 90 f.) Mit Blick auf diese Grundfrage und -polarität ist eindeutig auch Unamuno jener Generation von Lebensphilosophen zuzuordnen. „[…] y es que aspirando a ser un conocer por conocer, un conocer por la verdad por ella misma, buscan de hecho la vida en la verdad.“ Miguel de Unamuno, STV, S. 18. Siehe ebd. Natürlich könnte jene Interessiertheit bei der Wissensgewinnung zunächst den Verdacht nahelegen, der Manipulation von Wissen mit Blick auf persönliche Vorteile des Wissenschaftlers
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ressiertheit jenes Objekt allerdings mitkonstituiert, da ist ihre Ausschaltung unmöglich, und eine Minimierung oder Unterdrückung des Wollensantriebs beim Erkennen wäre nach Unamuno auch gar nicht wünschenswert, denn sie würde Wissen seiner Finalität berauben. Und die Suche nach Wissen, welche die Frage nach dem letzten ‚Wofür‘ außer Acht ließe, führte letztlich zu nutzlosem Wissen.66 Nach Unamuno erzeugt das ‚Leben‘ (und primär: das Bedürfnis zu überleben) in einem Prozess der Selektion die zur Bedürfnisbefriedung notwendigen Sinnesund Erkenntniswerkzeuge,67 und jenes Instrumentarium reflektiert nach Unamuno nur genau diejenigen Aspekte der Realität, die wir zum Leben brauchen und ist damit von begrenzter Reichweite. Der Mensch, so Unamuno, sehe, höre, taste, schmecke und rieche gerade in dem Maß, wie zu sehen, hören, tasten, schmecken und riechen zu seiner Lebenssicherung notwendig sei. Wenn er also Farben jenseits der Lichtspektren von Infrarot und Ultraviolett nicht wahrnehmen könne, dann liege dies womöglich daran, dass er zu seinem Überleben nicht auf jene Wahrnehmungen angewiesen sei.68 Umfeld und Lebenspraxis regulieren demnach die zu ihrer Erhaltung notwendigen Sinnes- und Erkenntniswerkzeuge,69 diese bleiben
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einen Freibrief zu erteilen. Dies hieße allerdings, jene Interessiertheit misszuverstehen, denn Unamuno geht davon aus, dass das innerste Interesse eines Menschen das Unsterblichseinwollen betrifft, und damit dasjenige Bedürfen, das allen gemeinsam ist und ein Fortkommen in Bezug auf die Erhaltung von ‚Leben‘ leistet. Das letzte ‚Wofür‘, die Finalität von Wissen, zielt nach Unamuno auf d as zentrale Anliegen des Menschseins. Für ihn ist dies die Frage, wie das eigene Bewusstsein vor der Vergänglichkeit und Nichtigkeit bewahrt werden kann. Nach Unamuno lässt sich jenes Anliegen (der „anhelo de inmortalidad“, Miguel de Unamuno, STV, S. 12) nicht neutral und desinteressiert konfrontieren. Er fasst jenes Anliegen als einen „valor afectivo“ (ebd.) auf, gegenüber dem rationale Begründungsversuche machtlos seien (siehe ebd., S.14), woraus folgt, dass das Unsterblichseinwollen nicht kausal, sondern allein aus dem Wollen herzuleiten ist. Der Begriff der Finalität ist für Unamuno dabei untrennbar geknüpft an das Vorhandensein von Bewusstsein: „El mundo es para la conciencia. O, mejor dicho, este para, esta noción de finalidad, y mejor que noción sentimiento, este sentimiento teleológico, no nace sino donde hay conciencia. Conciencia y finalidad son la misma cosa en fondo.“ („Die Welt besteht für das Bewusstsein. Oder, besser gesagt, dieses für, jene Vorstellung, oder besser jenes Fühlen von Finalität, dieses teleologische Fühlen, entsteht nur dort, wo Bewusstsein gegeben ist. Bewusstsein und Finalität sind im Grunde dieselbe Sache.“) Ebd., S. 12 [Übersetzung G. L.]. Eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Sinnes- und Erkenntnisinstrumentarium lässt sich bei Unamuno kaum treffen, da sowohl Sinneswahrnehmung wie auch Erkenntnis bei ihm dem Wollen unterstellt sind, d. h. entweder dem Überleben oder dem Leben im Sinne des Sich-Perpetuierens. Vgl. ebd., S. 19. Hier lässt sich, in Bezug auf die Sinnes- und Erkenntniswerkzeuge, der Gedanke der Selektion erkennen. Dies weist auf eine Prägung Unamunos durch die Evolutionsbiologie hin. Fernández bemerkt in Bezug auf Unamunos erkenntnistheoretisches Modell eines vom „instinto de conservación“ bzw. dem „instinto de perpetuación“ ausgebildeten Wissens den Einfluss der Schriften von Charles Darwin, Herbert Spencer, Thomas Henry Huxeley und weiterer Biologen; er führt weiter ein von Unamuno verfasstes Vorwort zur spanischen Edition von Ramón Turró, Los orígenes del conocimiento: el hambre (1916 und 1921) an. (Siehe Pelayo H. Fernández, Miguel de Unamuno y William James, S. 55.) Auch Ferdinand Fellmann benennt als bedeutsamen geistesgeschichtlichen Faktor für die Entstehung der Lebensphilosophie den „Aufstieg der Biologie zur Leitwissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der in Darwins ‚Ent-
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gegenüber der Gesamtheit der Realität allerdings unzureichend. Die Sinneswerkzeuge seien, so Unamuno, ein Apparat der Simplifikation, sie eliminierten aus der objektiven Realität all dasjenige, das zu wissen nicht notwendig sei, um Objekte mit dem Ziel der Lebenserhaltung gebrauchen zu können.70 Jenes lebenserhaltende Erkenntnisinstrumentarium vermittelt also diejenige Realität, die uns zugänglich ist. So kann Unamuno behaupten, dass nur diese uns zugängliche und von uns gebrauchte Realität für uns im eigentlichen Sinne real ist (sie konstituiert gewissermaßen ‚unsere Realität‘): „[…] cabe decir que es el instinto de conservación el que nos hace la realidad y la verdad del mundo perceptible, pues del campo insondable e ilimitado de lo posible es ese instinto el que nos saca y separa lo para nosotros existente.“71
Niemand aber, so Unamuno, könne die Möglichkeit negieren, dass es unbekannte Aspekte der Realität gebe, zumindest, uns heute noch unbekannte und möglicherweise nicht-erkennbare, weil diese uns nicht dazu dienten, unsere hiesige und aktuelle Existenz zu konservieren.72 Diese Erwägung uns (noch) unzugänglicher Realitätsaspekte impliziert, dass Erkenntniswerkzeuge und Wissen immer wieder erneuert und an die Realität angepasst werden müssen; v. a. aber verdeutlicht sie, dass die sich uns bietenden Realitätsaspekte nicht einfach im Außen gegeben sind, sondern vom Bedürfen und Wollen lebender Wesen abhängen. Als Begründung dafür, dass Realitätsaspekte unzugänglich bleiben, lässt sich nach Unamuno nicht nur der gegenüber der Realität ‚selektive‘ Charakter des am Leben ausgeformten Erkenntniswerkzeugs und Wissens anführen, sondern auch dessen selbsterhaltendes, ‚konservatives‘ Wesen.73 Jenes ‚konservative‘ Beharrungsvermögen betrifft dabei nicht allein Werkzeuge der sinnlichen Wahrnehmung, sondern insbesondere ein zur Vernunft systematisiertes Wissen. Zur Beantwortung der Frage, wovon die Zugäng-
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stehung der Arten‘ (1859) sein weithin sichtbares Zeichen“ gefunden habe. Ferdinand Fellmann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Hamburg 1993, S. 29. „Y los sentidos mismos son aparatos de simplificación, que eliminan de la realidad objetiva todo aquello que no nos es necesario conocer para poder usar de los objetos a fin de conservar la vida.“ Miguel de Unamuno, STV, S. 19 [Übersetzung G. L.]. „[…] es lässt sich sagen, dass es der Instinkt der Selbsterhaltung ist, welcher für uns die Realität und Wahrheit der sinnlich wahrnehmbaren Welt erzeugt, denn von dem unsondierbaren und unendlichen Feld des Möglichen hebt dieser Instinkt das für uns Existente ab und lässt es für uns hervortreten.“ Ebd. [Übersetzung G. L.]. Vgl. ebd. Siehe auch folgenden von Gerhard markierten Abschnitt: „*[…] añadiré que si el hombre no posee más sentidos ni potencias que los necesarios para vivir, pudiera muy bien suceder que durmieran en él otros, y que resucitaran und día, cuando, satisfecha la vida, la necesidad de la sobre-vida se despertara.*“ Ders., Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 745. Den Gedanken einer ‚konservativen‘ Natur von Wissen oder Vernunft formuliert einer der beiden Sprecher in Unamunos Essay folgendermaßen: „La lógica es una servidora de la razón, y la razón es una potencia conservadora y seleccionadora. Y, en general, el conocimiento, todo. A la conciencia del hombre apenas llega más que aquello que necesita conocer para vivir o para sostener, acrecentar e intensificar la vida. Los conocimientos que no resultan útiles han sido eliminados por selección; no tenemos más sentidos que los necesarios. Y puede haber, y de hecho hay, aspectos de la realidad o más bien realidades, que no conocemos porque su conocimiento no sirve para sostener, acrecentar e intensificar la vida actual.“ Miguel de Unamuno, Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 744.
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lichkeit noch unbekannter Realitätsaspekte abhänge, lässt sich auf die beiden von Unamuno differenzierten Spielarten des Wollens verweisen: Vom Instinkt der Selbsterhaltung unterscheidet Unamuno den Instinkt der Perpetuierung.74 Während der Selbsterhaltungstrieb („instinto de conservación personal“75) vermittels des zu ihm korrespondierenden Wissens eine sinnlich wahrnehmbare Realität erschließt und für das Überleben des Einzelnen sorgt, stellt sich der Perpetuierungswille („instinto de perpetuación“76) bei Unamuno als ein Bedürfen dar, das den Menschen zum sozialen Wesen und Glied der Gesellschaft macht.77 Hierzu korrespondiert das reflexive (und sprachlich mitteilbare) Wissen, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Unamuno zielt mit diesem Trieb, sich in der Mit- und Nachwelt zu perpetuieren, bereits auf den Unsterblichkeitswillen ab. Das hierfür ausgebildete Wissen oder Erkenntniswerkzeug des „sentido social“78 basiert dabei grundlegend auf dem Vermögen des ‚Liebens‘. So sei Liebe bereits in ihrer rudimentärsten, physiologischen Form das Fundament der menschlichen Gesellschaft.79 Weiter beinhaltet der „sentido social“ die Phantasie oder das Imaginationsvermögen.80 Dieses wird bei Unamuno nicht nur im schöpferischen Sinn verstanden, sondern auch als Fähigkeit der Einfühlung in das Fühlen und Wollen des Nächsten. Unamuno ist überzeugt, es müsse – ebenso wie das durch den „instinto de conservación“ ausge74
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Dieser gewissermaßen ‚höhere‘ Instinkt stellt eine Fortentwicklung des Selbsterhaltungstriebs dar, bleibt an diesen aber gleichwohl angebunden, denn der Instinkt der Perpetuierung wird nach Unamuno erst dann geweckt, wenn die Bedürfnisse des Selbsterhaltungstriebs befriedet sind. Siehe ders., STV, S. 18. Siehe Anm. 52, Kapitel II.1.2. Zur Unterscheidung des „instinto de conservación“ vom „instinto de perpetuación“ siehe auch die Übersicht bei Pelayo H. Fernández, Miguel de Unamuno y William James, S. 55. Miguel de Unamuno, STV, S. 19 ff. „Y si el individuo se mantiene por el instinto de conservación, la sociedad debe su ser y su mantenimiento al instinto de perpetuación de aquél. Y de este instinto, mejor dicho, de la sociedad, brota la razón. La razón, lo que llamamos tal, el conocimiento reflejo y reflexivo, el que distingue al hombre, es un producto social.“ Ebd., S. 19. Siehe Miguel de Unamuno, STV, S. 21. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 21. Bemerkenswert ist für unsere Zwecke die Tatsache, dass Unamuno das Imaginationsvermögen an den Perpetuierungstrieb anbindet, welcher wiederum aus dem Selbsterhaltungstrieb abgeleitet wird. Derart wird dem Imaginationsvermögen zugeschrieben, nicht nur eine ‚höhere Realität‘ zu erschließen, sondern es wird auch zu einem selbst- und lebenserhaltenden Vermögen. In einem vergleichbaren Sinn nimmt auch Gerhard auf die lebenserhaltende Funktion menschlichen Imaginationsvermögens Bezug. In seinem Radiovortrag Art and Anarchy (1961), einer Erwiderung auf Thesen des gleichnamigen Vortrags bzw. Buches von Edgar Wind (dt. Kunst und Anarchie. Die Reith Lectures 1960, Frankfurt a. M. 1994), rechtfertigt er die Notwendigkeit von Kunst in einem wissenschaftlichen Zeitlalter und äußert: „[…] the imagination is one of the central energies of life. Indeed, what – except such a power – could sustain creative effort? What – except such a power – could save man from the dulled vision […], from the film of familiarity which slowly clouds all his perceptions? Renewal by transformation is the law of life; there is something biologically arrested in mere reproduction.“ Roberto Gerhard, Art and Anarchy (1961), in: GoM, S. 214 f. Mit Blick auf diese Überschneidung zwischen Lebenstrieb und Imaginationskraft lässt sich annehmen, dass Gerhard in Don Quixote nicht nur den ‚Ritter des Glaubens‘ und einen wollenden Menschen erkannte, sondern auch einen Held der Imaginationskraft.
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bildete Wahrnehmungs- und Erkenntniswerkzeug eine sinnlich-tangible Realität zugänglich mache („mundo sensible“81) – auch zu dem quasi ‚höheren‘ Bedürfen des „instinto de perpetuación“ und dem daraus hervorgehenden „sentido social“ eine Realität korrespondieren, eine angenommene ‚höhere Realität‘ („mundo ideal“82). Für Unamuno müssen die aus ‚Liebe‘ und dem Perpetuierungsinstinkt hervorgehenden Realitätsaspekte in gleichem Maße real sein wie die aus dem ‚Hunger‘ und dem Selbsterhaltungsinstinkt hervorgehenden.83 Der Gedanke, dass es auch zur ‚höheren‘, sublimierten Form des Bedürfens korrespondierende Realitätsaspekte geben muss (da ja jegliche Realität aus dem Bedürfen hervorgeht, und jenes ‚höhere‘ Bedürfen des Perpetuierungsinstinkts an den Selbsterhaltungsinstinkt quasi evolutionär angebunden bleibt) ist bei Unamuno zentral und lässt sich als Argument für die Annahme einer ‚höheren Realität‘ auffassen, die auch Don Quixote in seinen vermeintlich wahnhaften Visionen zu sehen vermag. Unamunos Erwägung uns (noch) unzugänglicher Realitätsaspekte ist für die Zwecke der vorliegenden Arbeit zentral, denn sie impliziert den Glauben an die fortschreitende Erschließbarkeit von Realität. Analog dazu ließe sich im Kontext der Tonalitätsreflexion behaupten, dass es noch unerschlossene Aspekte von Tonalität, d. h. des ‚Tons‘ geben müsse, die von der Ausbildung eines ‚höheren‘ Bedürfens und Erkenntniswerkzeugs (Hörapparats) abhängig sind. Da das Vermögen, in die vorhandene Realität eine ‚höhere Realität‘ hineinzusehen bei Unamuno typisch für die quixotische locura und die Visionen Don Quixotes ist, lässt sich analog auch in Bezug auf die Quixote-Figur in Gerhards Ballett annehmen, dass dieser es vermag noch unbekannte Tonbeziehungen in das präexistierende ‚Ton‘-Vorbild hineinzusehen und diese zu erschließen. Das dazu adäquate Erkenntniswerkzeug ist in Gerhards Ballett die Reihe bzw. deren serial field. Dieses Erkenntniswerkzeug Don Quixotes lässt sich als eine in den ‚Ton‘ hineingesehene Ordnung verstehen, die eine Erschließung des ‚Tons‘ auf methodischem Weg ermöglicht. Die von Unamuno für menschliches Erkenntniswerkzeug und Wissen generell geltend gemachte Vorgabe einer Angebundenheit an das ‚Leben‘ würde in Bezug auf die als Erkenntniswerkzeug verstandene Reihe bedeuten, dass der Gebrauch derselben auf eine Integration der zwölf Töne in die präexistente Ordnung des ‚Tons‘ zielen müsste. Wo diese Finalität des Reihengebrauchs verlorenginge und das Erkenntniswerkzeug sich verselbständigte, würde der Prozess der Realitäts- bzw. Tonalitätserschließung stagnieren. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, zielt Unamunos Kritik am Dogmatiker oder Intellektualisten eben darauf ab, dass der Prozess von Wis-
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Ebd., S. 20. Ebd. Diese ‚höhere Realität‘ wird von Unamuno auch als „intra-mundo“ bezeichnet, vgl. ders., Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 745. „Y ¿por qué hemos de negar realidad objetiva a las creaciones del amor, del instinto de perpetuación, ya que se lo concedemos a las del hambre o instinto de conservación? Porque si se dice que estas otras creaciones no lo son más que de nuestra fantasía, sin valor objetivo, ¿no puede decirse igualmente de aquéllas que no son sino creaciones de nuestros sentidos? ¿Quién nos dice que no haya un mundo invisible e intangible, percibido por el sentido íntimo que vive al servicio del instinto de perpetuación?“ Ebd., S. 20.
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senserneuerung und Realitätserschließung in einem Zirkel stagniert, während sich annehmen lässt, dass er idealerweise spiralförmig fortschreiten sollte.84 II.1.2.1 Unamunos Kritik am Intellektualisten und an der Ideenherrschaft (ideocracia) In Unamunos Dialog-Essay Sobre la filosofía española. Diálogo (1904) findet sich die Kritik an einer reduktionistischen Wissenschaftspraxis und -theorie, die unter den Vorzeichen der Objektivierung von Realität die Wissenschaftssprache von jeglicher Metaphorik zu reinigen beabsichtigt. Unamuno hat offenbar logischen Positivismus und formale Logik im Visier, wenn er den einen der Sprecher seines Dialogs äußern lässt, Wissenschaft sei umso perfekter, je besser sie alles den Kategorien von Maß, Zahl und Gewicht unterordne; eine solche Wissenschaft tendiere dazu, in Mathematik aufzugehen, das Qualitative auf Quantifizierbares zu reduzieren, alles auf Beziehungen von Raum, Zeit und Intensität zu reduzieren.85 Der andere Sprecher jenes Essays (im Folgenden: Sprecher A86) verabscheut hingegen jene ‚wissenschaftlich orthodoxe Doktrin‘, die er für genauso übel, oder noch übler als die für ihn in die gleiche Stoßrichtung zielende mittelalterliche Scholastik hält („aquella hórrida combinatoria de conceptos abstractos, rígidos, cinchados en sus definiciones […]“).87 Letzterer wirft er vor, sich nicht in den Dienst aufrichtiger Forschung und Wahrheitssuche, sondern in den Dienst eines Dogmas gestellt zu haben. Das Verfahren, zuerst eine These aufzustellen, dann die Einwände und schließlich die sie stützenden Belege anzuführen, stelle nichts weiter als ‚Anwaltschaft‘ („abogacía“) dar.88 Dagegen bestehe das eigentlich wissenschaftliche und philosophische Vorgehen darin, Daten zusammenzutragen und dann induktiv zu einem Schluss zu gelangen, wobei es ebenfalls legitim sei, zu keinem Schluss zu gelangen, denn ein Erfolg bestehe bereits darin, eine Frage oder ein Problem neu aufwerfen zu können.89 Die Kritik richtet sich darauf, dasjenige was in Frage steht, als Gewissheit vorauszusetzen, sodass bereits vor dem Beginn einer Untersuchung 84
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Wie bereits erwähnt (siehe Anm. 59, Kapitel II.1.2.) geht Unamuno davon aus, dass erschlossenes Wissen auf das Wollen bzw. Bedürfen zurückwirkt und eine neue Notwendigkeit konstituieren kann („una nueva necesidad“). (Vgl. Miguel de Unamuno, STV, S. 18.) Hier wäre anzumerken, dass dieses Zurückwirken keinesfalls mit einer Unterwerfung des Bedürfens unter das Wissen gleichzusetzen ist, denn eine solche Unterwerfung würde ja eben in den stagnierenden Zirkel führen. Vielmehr lässt sich sehen, dass sich das Wollen, jenes Bedürfnis des Bewusstseins sich ins Unendliche zu extendieren, in Wechselwirkung mit dem Außen realisiert und daher sowohl das Außen wie auch das Innen in permanenter Veränderung sind. Vgl. Miguel de Unamuno, Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 741. Von dem von mir so bezeichneten Sprecher A lässt sich ahnen, dass Unamuno ihm als einem alter ego möglicherweise seine eigenen Worte in den Mund gelegt hat, während sein Dialogpartner (im Folgenden: Sprecher B), gewissermaßen als Vertreter des vermeintlich gesunden Menschenverstands, Einwände dagegen hervorbringt und zuweilen als Stichwortgeber fungiert. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 741 f.
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das Ergebnis absehbar ist und der Untersuchungsvorgang überflüssig wird. Ein solches Vorgehen unterscheidet sich für Unamuno nicht von einem Dogmatismus, der für die Erschließung von Realität unbrauchbar ist.90 Die Unaufrichtigkeit des von Unamuno kritisierten Verfahrens besteht in seiner Zirkularität. Wo lediglich begründet wird, was bereits feststeht, wird das Fragen und Suchen nur pro forma betrieben91 und zielt allenfalls auf die Bestätigung der formallogischen Richtigkeit von Syllogismen oder logischen Schlüssen. Die von Unamuno kritisierte Wissenschaftspraxis geht aus einer Verkehrung des Erkenntnisprozesses hervor, denn Unamuno betont, dass die Wissenschaft konstituierenden Ideen und Konzepte lediglich als ein Medium, und nicht als Finalität, im Prozess der Realitätserschließung fungieren dürfen. Es stelle, so Unamuno, keine Wissenschaft dar, Gesetze anhand von Tatsachen zu erkennen, vielmehr seien Tatsachen anhand von Gesetzen zu erkennen:92 „*[…] en el hecho termina la ciencia, a él se dirige. Quien pudiese ver el hecho todo, todo entero, por dentro y por fuera, en su desarollo todo, ¿para qué quería más ciencia? […].*“93
Die Rede von der Tatsache zielt dabei auf den Realitätskontakt und die Realitätserschließung als Zielpunkt des Erkennens. Die Realität oder Tatsache übersteigt dabei stets die menschliche Idee von derselben, muss jedoch zwangsläufig durch Ideen und Konzepte vermittelt werden. Werden Tatsachen jedoch nur zur Affirmation einer dogmatisch für richtig gehaltenen Idee oder Gesetzmäßigkeit angeführt, dann findet eine Verkehrung von Mittel und Zweck statt, und dann determiniert und verstellt eine Idee (ein Dogma) den Realitätskontakt. Die Kritik an einem durch die apriorisch gesetzte Idee determinierten Realitätszugang hat bei Unamuno nicht allein erkenntnistheoretische, sondern vor allem ethische Reichweite. Als ihr Ausgangspunkt lässt sich der für Unamuno stets nach90 91 92 93
So kann Unamuno Sprecher A sagen lassen, solche scholastische Philosophie sei zur Erhaltung von Dogmen und zur Polemik gemacht („se hizo para la polémica, para sostener dogmas, y no para la investigación científica, no para descubrir verdades“). Vgl. ebd., S. 741. Auf die gleiche Problematik zielt Unamunos Bemerkung, das ‚Wissen um zu wissen‘, d. h. ein Wissen ohne extrinsische Finalität, stelle im Grunde eine ‚Prinzipienpetition‘ dar („una tétrica petición de principio“). Vgl. ders., STV, S. 13. „*De ideas consta la ciencia, sí, de conceptos; pero no son ellas, las ideas, más que medio, porque no es ciencia conocer las leyes por los hechos, sino los hechos por las leyes […].*“ Ders., La ideocracia, S. 435 „[…] auf die Tatsache richtet sich die Wissenschaft. Könnte einer die Tatsache vollkommen und total erkennen, von innen und von außen und in ihrer gesamten Entwicklung, wozu sollte er noch Wissenschaft betreiben?“ (Ebd. [Übersetzung G. L.].) Diesen von Gerhard markierten Gedanken äußerte Unamuno auch in weiteren Formulierungsvarianten: „Lo propio y característico de la abogacía, en efecto, es poner la lógica al servicio de una tesis que hay que defender, mientras el método, rigurosamente científico, parte de los hechos, de los datos que la realidad nos ofrece para llegar o no llegar a conclusión. Lo importante es plantear bien el problema, y de aquí el progreso consiste, no pocas veces en deshacer el hecho. La abogacía supone siempre una petición de principio, y sus argumentos todos son ad probandum. Y la teología supuesta racional no es sino abogacía.“ (Ders., STV, S. 59 f.) Unamuno bringt diese Kritik an einer zirkulären Argumentationsform v. a. in Bezug auf theologische Bemühungen um eine Beweisbarkeit der Existenz Gottes an.
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trägliche, aposteriorische Charakter von Ideen gegenüber Realität und Leben sehen. Unamuno bezweifelt, dass die Ideen, nach denen wir zu leben vermeinen, der tatsächliche Ursprung unseres Handelns sind. Vielmehr handele es sich bei ihnen um nachträgliche Erklärungen und Rechtfertigungen, die wir uns und unserer Mitwelt für unser Handeln gäben, da uns der Drang verfolge, uns die Realität zu erklären.94 In diesem Sinn stellt sich eine Idee gegenüber der ihr zugrunde liegenden Handlung und Realität als wenig substanziell oder unsubstanziell dar, Unamuno spricht folglich von Ideen als ‚Schein‘ oder ‚Schatten‘ von Realität.95 Er glaubt nicht an die einer Idee innewohnende Wahrheit oder Unwahrheit, sondern richtet seinen Blick ausschließlich auf die Güte des die Idee verkörpernden Menschen,96 das kann heißen: auf das Kriterium zustandegebrachter Wirkungen, Werke und Handlungen, die der Glaube an eine Idee hervorbringt. Wo Menschen ihr Leben einer im Vorhinein als wahr betrachteten Idee unterwerfen, spricht Unamuno von Ideokratie (ideocracia), d. h. Ideenherrschaft; und wo sich Ideokraten einer Idee unterworfen haben, da wird Toleranz nach Unamuno unmöglich („[…] la tolerancia sólo brota potente sobre el derrumbamiento de la ideocracia“).97 Wie Unamuno erklärt, sei es ‚notwendig, oder besser unvermeidbar‘ Ideen zu haben,98 aber nicht, um sie anzuhäufen, sondern um sie sich, als ‚Vehikel‘ der Glaubenskraft, im eigenen Inneren anzueignen und sie im eigenen Leben zu verkörpern. Wenn Unamuno äußert, er wolle Ideen beherrschen, nicht aber von ihnen beherrscht werden,99 dann geht dies mit dem Postulat einher, eine Idee in ihrem Gelebtwerden zu verifizieren.100 Nur eine ‚gelebte‘ Idee kann demnach substanziell sein, und die für Unamuno substanziellste und wertvollste unter allen Ideen ist diejenige eines Menschenlebens, des einzelnen Menschen als ‚gelebter/lebendiger Idee‘ („[…] idea viva, encarnada, apariencia que 94 95
Ders., La ideocracia, S. 431 f., siehe auch ebd., S. 435 f. Siehe ebd., S. 428 f. Unamuno betrachtet einen Menschen als eine ‚gelebte‘ Idee und menschliche Ideen folglich als Ideen einer Idee, nämlich ‚Schein des Scheins‘ oder ‚Schatten des Schattens‘ von Realität („[…] y soy yo, viva apariencia, superior a mis ideas, apariencias de apariencia, sombras de sombra.“). (Ebd., S. 432.) Generell lässt sich sagen, je abstrakter und allgemeiner eine Idee ist, desto schattenhafter stellt sie sich für Unamuno dar. So zeichnet es den Ideokraten bei Unamuno aus, wenige, holzschnittartige Ideen zu verfolgen, diesen einen Absolutheitsanspruch beizumessen und sie autoritär aufzuoktroyieren. (Siehe ebd., S. 439.) Dagegen behauptet Unamuno, je mehr ein Mensch über eine Ideenfülle verfüge, über ‚reiche‘, komplexe und anpassungsfähige Ideen, desto weniger werde er dazu neigen, diese anderen aufzuoktroyieren. (Siehe ebd.). Insofern bei Unamuno gewissermaßen alles eine Idee ist, besteht immer auch die Gefahr einer unsubstanziellen Realität und eines unsubstanziellen Lebens (dabei wird das Leben als Traum zur Gefahr, siehe Kapitel II.4.1). Umso bedeutsamer wird daher die Forderung, eine Idee in ihrem Gelebtwerden zu verifizieren und damit substanziell zu machen. 96 „Es el hombre quien hace buenas o malas las ideas que acoje, según él sea, bueno o malo; es la realidad quien hace las apariencias.“ Vgl. ebd., S. 435. 97 Ebd., S. 431. 98 Vgl. ebd., S. 430. 99 „Quiero ser su dueño, no su esclavo. Porque esclavos les son esos hombres de arraigadas convicciones, sin sentido del matiz ni del nimbo que envuelve y aúna a los contrarios […].“ Ebd., S. 430. 100 „Idea que se realiza es verdadera, y sólo lo es en cuanto se realiza, la realización, que la hace vivir, le da verdad […].“ Ebd., S. 434.
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goza y vive y sufre y que, por fin, se desvanece con la muerte. Yo, en cuanto hombre, soy idea más profunda que cuantas en mi cerebro alojo […].“101). Ihr Wert wird durch einen glaubenden und existierenden (d. h. wirkenden) Menschen ‚gedeckt‘.102 Insofern die Wahrheit einer Idee von ihrem Gebraucht- und Gelebtwerden (und damit von ihrer Relevanz) abhängt, kann sie nicht lediglich als gedachte und logische Wahrheit103 vorausgesetzt werden. Die logische Richtigkeit einer Idee und ein rein intellektueller Realitätszugang betreffen gewissermaßen nur die ‚gegenständliche‘ Außenseite und Oberfläche von Realität, während eine Kontaktnahme mit dem ‚Kern‘ derselben – mit ‚Leben‘ – bei Unamuno nur im Wirken und Schaffen möglich ist.104 Das dem Wirken zugrundeliegende Lebenwollen und die daraus hervorgehende Glaubenskraft, die die ihr entsprechenden Korrespondenzobjekte selber hervorbringt (Kapitel II.1.1), führen so zum Kontakt mit Realität im eigentlichen Sinn.105 Im Erkenntnisprozess muss das Wollen immer wieder die Vorherrschaft gegenüber einer zur Verfestigung tendierenden Vernunft erlangen. Die Verifizierung einer Idee stellt sich für Unamuno als deren Synchronisierung mit dem permanent veränderlichen ‚Leben‘ dar, und eine solche Synchronisierung im Leben und Schaffen (Unamuno spricht von: „el íntimo consorcio de mi espíritu con el Espíritu uni101 Ebd., S. 429. Zur „idea viva“ siehe auch ders., ¡Adentro!, S. 423. Dieser Begriff Unamunos umfasst in seiner Bedeutung sowohl die ‚gelebte Idee‘ eines Menschenlebens als auch den Menschen als ‚lebendige Idee‘. 102 Unamunos pragmatischer Wahrheitsbegriff impliziert eine Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit (ebenso wie der William James’, siehe Kapitel I.3.1). Man könnte sagen, beim pragmatischen Wahrheitsbegriff Unamunos werde jenes Wahrheitskriterium der Korrespondenz zwischen Idee und Realität nicht vorausgesetzt; vielmehr stehe das ‚Ob‘ und ‚Wie‘ einer Übereinstimmung mit der Realität als Ergebnis am Schluss der prozesshaften Verifizierung. 103 Vgl. Unamunos Äußerung zu einer Situation, in welcher sich der logisch wahre Satz des Pythagoras im lebenserhaltenden und die Existenz betreffenden Sinne als unwahr erweisen kann, ders., La ideocracia, S. 434. 104 Vgl. ebd., S. 434. Im Sinne des Wirkens einer Idee gilt dabei durchaus auch deren Gedachtwerden. Denkarbeit stellt nach Unamuno einen Weg dar, um ein Sich-beherrschen-Lassen durch die Idee zu verhindern und stattdessen die Idee zu beherrschen: „Porque el que piensa sujeta a las ideas, y sujetándolas se liberta de su degradante tiranía.“ (Ebd., S. 436.) Hier lässt sich an den bereits genannten, ähnlichen Passus in Arnold Schönbergs Harmonielehre denken, in dem Schönberg den Wert des Studiums älterer, die Tonalität gebrauchender Komponisten am Kriterium von vorbildhaft geleisteter „Denkarbeit, Umsatz, geistige[m] Stoffwechsel“ (Siehe Anm. 223, Kapitel I.3.2) festmacht. Auch hier könnte man die Betonung der ‚Denkarbeit‘ gegenüber dem quasi dogmatischen Postulieren der Tonalitätsidee als Ausweg aus der Gefahr einer unamunoschen Ideenherrschaft auffassen. 105 In diesem Sinne kritisiert Unamunos Sprecher A, für den Intellektualisten gebe es kein anderes Medium, um sich mit der Realität in Kontakt zu bringen, als vermittels des intellektuellen Erkenntniswerkzeugs („los medios que se llaman conocitivos“). (Vgl. ders., Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 743.) Und so lange man sich in Spanien nicht von einem solchen Intellektualismus befreie, werde man, wie A glaubt, keine spanische Philosophie haben. Auf Bs Frage, wie hingegen eine solche zu haben sei, folgt die Antwort: „* – Cultivando la voluntad, convenciéndonos de que la fe es obra de la voluntad y que la fe crea su objeto […]*“ („Indem wir das Wollen kultivieren, uns überzeugend, dass der Glaube ein Werk des Wollens ist, und dass der Glaube seine Objekte erzeugt […].“) Ebd. [Übersetzung G. L.].
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versal“106) überwindet den potenziell unsubstanziellen, aposteriorischen Charakter von Ideen und Begründungen (den Bereich der ‚razon‘) und gilt für Unamuno im Vergleich mit dem Kriterium der logischen Übereinstimmung zweier Konzepte („la concordancia lógica de dos conceptos“) und der Korrespondenz zwischen gedachter Idee und Realität („adæquatio intellectus et rei“) als substanzieller und ‚tiefer‘ („vivir verdad es más hondo que tener razón“107). Immer wieder wird klar, dass die bei Unamuno thematisierte, Wissen und Ideen zugrunde liegende Realität vor allem auf prozesshafte Realitätsaspekte des Handelns und Sich-Ereignens zielt (insofern ist jener ‚Kern‘ von Realität weniger ein Objekt des Denkens und Erkennens, als vielmehr der Ethik und des Lebensvollzugs). Ideen können bestenfalls eine hypothetische Vorstellung von jener eigentlichen Realität des Sich-Ereignenden vermitteln, jener Realität, die mit dem schwer zu fassenden Ausdruck ‚Leben‘ bezeichnet wird. Auch wenn menschliche Ideen und Vernunft für Unamuno lediglich Hilfsmittel bei der Erschließung von Realität als ‚höherer Realität‘ sein können, so bedeutet dies aber nicht, dass er auf diese Hilfsmittel verzichten kann. Er kritisiert mit der oben angeführten, unredlichen Argumentationsweise der „abogacía“ zwar die Verselbständigung der Vernunft, nicht jedoch eine redliche Wissenschaftspraxis, die auf die Erprobung einer Hypothese zielt („la ciencia investigativa […] que no camina a una solución ya prevista ni procede sino a ensayar una hipótesis.“108). Als Pendant zur Hypothese im erkenntnistheoretischen Bereich lässt sich im Ethischen die Idee eines Menschenlebens verstehen, die, um sich zu verifizieren, gelebt und verkörpert werden muss. Für eine solche ‚gelebte/lebendige Idee‘ steht bei Unamuno exemplarisch die Figur Don Quixotes ein. Menschen, die sich hingegen einer Ideenherrschaft verschreiben, werden bei Unamuno als Ideokraten, Scholastiker, Intellektualisten, Rationalisten oder ‚definidores‘109 dargestellt. Sie alle lassen sich dem Typus des Vernunftmenschen zuordnen, der sich mit dem gesellschaftlich etablierten Konsens des ‚sentido común‘ oder auch eines szientistischen Wissenschaftsparadigmas identifiziert.110 Unamuno kritisiert an diesem Typus generell ein 106 Ebd., S. 434. 107 Ebd. Den hier paraphrasierten Textabschnitt markierte Gerhard folgendermaßen: „*¿Ideas verdaderas y falsas decís? Todo lo que eleva e intensifica la vida refléjase en ideas verdaderas, que lo son en cuanto lo reflejen, y en ideas falsas todo lo que la deprima y amengüe. Mientras corra una peseta y haga oficio, comprándose y vendiéndose con ella, verdadera es; mas desde que ya no pase*, será falsa. ¿Verdad? ¿verdad, decís? La verdad es algo más íntimo que la concordancia lógica de dos conceptos, algo más entrañable que la ecuación del intelecto con *la cosa – adæquatio intellectus et rei –, es el íntimo consorcio de mi espíritu con el Espíritu universal.* Todo lo demás es razón […].“ Miguel de Unamuno, La ideocracia, S. 434. Zu der von Gerhard rezipierten Idee der Synchronisierung von Innen und Außen siehe auch Kapitel I.3.5. 108 Ders., STV, S. 60. 109 Siehe Anm. 149, Kapitel II.2.2. 110 Der Typus des unamunoschen Vernunftmenschen lässt sich etwa dort wiederfinden, wo Unamunos Sprecher B auf die Mehrheit der modernen Wissenschaftler („los hombres de la moderna ciencia“) referiert, deren Weltbild durch ein in Zentraleuropa vorherrschendes, szientistisches Wissenschaftsparadigma („orthodoxia científica“) geprägt sei. Vgl. ders., Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 737 f.
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Sich-Unterwerfen unter eine dem Menschen und dem ‚Leben‘ äußerliche und fremde Idee und ein Stumpfwerden gegenüber dem Antrieb des individuellen Leben- und Unsterblichseinwollens. In Gerhards Ballett lässt sich jener Vernunftmensch in Don Quixotes ‚Widersachern‘ wiederfinden (siehe v. a. Kapitel III.2.1). Jene ‚Widersacher‘ sehen in der von Don Quixote ‚gelebten Idee‘ des Rittertums stets nur den Wahn – nämlich eine nicht zu vorhandener Realität korrespondierende Idee – sowie den scheiternden Ausgang der quixotischen Abenteuer. Dabei entgeht ihnen, dass Don Quixote seine Rittertum-Idee dem vollen Realitätskontakt aussetzt, sie lebenshaltig und lebendig macht, und damit an seiner eigenen Ideewerdung arbeitet. II.2. IDEEWERDUNG: UNAMUNOS PRAGMATISCHER WAHRHEITSBEGRIFF II.2.1 Die Ideensetzung Zu Beginn seiner Laufbahn als fahrender Ritter fasst Don Quixote den Vorsatz, als ‚Sohn seiner Taten‘ („hijo de sus obras“111) neu geboren zu werden. So steht am Anfang der Ideewerdung das Bewusstsein einer zweiten Geburt: Alonso Quijano legt sein altes Leben und seine Herkunft als Hidalgo ab und legt sich einen neuen Namen zu, wie es, so Unamuno, seiner ‚inneren Erneuerung‘ („renovación interior“112) entpreche. Alonso Quijano höre auf Sohn seiner Eltern zu sein und werde als Don Quixote ‚Nachkomme seiner selbst‘ („descendiente de sí mismo“) und in dem Moment, in dem er auszieht um Abenteuer zu bestehen, neu geboren ‚im Geist‘.113 Hinter Don Quixotes Geburt als fahrender Ritter steht eine doppelte Ansicht auf das Leben als einerseits vergänglichem, von dem dieser sich lossagt, und andererseits einem Leben für die Ewigkeit, d. h. der gedanklichen Essenz, als die ein Menschenleben in ein kollektives Bewusstsein eingehen wird. Unter den Vorzeichen der Ideewerdung äußert Unamuno, das eigene Menschenleben sei für einen selbst die ‚kontinuierliche Offenbarung deiner Ewigkeit im Zeitlichen, Entwicklung deiner selbst als Symbol‘ („la revelación continua, en el tiempo, de tu eternidad, el desarollo de tu símbolo“) und erläutert: ‚[…] in Konformität mit den eigenen Werken enthüllst du dich dir selbst‘ („[…] vas descubriéndote conforme obras“)114 – es enthüllt sich einem demnach die Idee des eigenen Lebens. So dient das Existieren in Raum und Zeit dazu, die eigene Idee zunächst ins Außen und ausgehend davon ins Bewusstsein der Mit- und Nachwelt zu bringen, um sich in dieser zu perpetuieren. Natürlich bleibt nicht alles, was sich ereignet und ins Außen kommt, in Bewusstsein. Während unseres Existierens haben wir weder von dem, 111 Vgl. ders., VDQ, S. 166. 112 Ebd., S. 165. 113 „Y así Don Quijote, descendiente de sí mismo, nació en espíritu al decidirse a salir en busca de aventuras […].“ Ebd., S. 166. 114 Ders., ¡Adentro!, S. 420.
II.2. Ideewerdung: Unamunos pragmatischer Wahrheitsbegriff
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was im ewigen Bewusstsein erhalten bleibt, noch überhaupt von einer solchen Ewigkeit Gewissheit. Immer wieder ringt Unamuno mit dieser Ungewissheit, und das Glauben stellt sich als Ausweg aus dem Ringen und Zweifeln, als bewusste Entscheidung des Glaubenwollens an die Substanzialität und Unvergänglichkeit von Bewusstsein dar. In diesem Sinne ist auch die Substanzialität des eigenen Bewusstseins bzw. der eigenen Idee in keinem Moment des Existierens völlig sicher, und der glaubende und wollende Mensch arbeitet dafür, dass das, woran er glauben will, in Existenz kommt. Im Moment der Ideensetzung stellt sich der Glaube an die eigene Idee gewissermaßen noch als Glaubensvorschuss dar. Dieser Vorschuss muss abgetragen und der Glaube an die Idee stark genug sein, um Werke nach sich zu ziehen. Der Moment des Todes lässt sich im Fall des Idee gewordenen Don Quixote als Moment einer Scheidung begreifen. Mit dem Tod Don Quixotes vergeht alles, was an seinem Menschenleben vergänglich und flüchtig ist. Damit tritt zugleich in Klarheit hervor, was davon erinnert und in Bewusstsein bleibt und damit unsterblich ist. Aus diesem Kontext heraus lässt sich verstehen, dass die kurz vor seinem Tod erfolgte Entsagung Don Quixotes von seinem Rittertum-Ideal (der locura) für Unamuno einerseits mit Don Quixotes Einsicht in das Leben als vergänglichem Traum einhergeht, andererseits mit der Einsicht in die Substanzialität des Traums als Traum vom ewigen Leben, der ‚sobrevida‘ (siehe Kapitel II.4.1). Unamuno versteht den Tod als die ‚Krönung‘ von Don Quixotes Leben.115 Mit dem Tod kommt die Idee seines Menschenlebens und ihre Verifikation zum Abschluss. Gleichsam hypothetisch findet diese Loslösung von der Vergänglichkeit des Lebens bereits im Moment von Don Quixotes Ideensetzung, seinem Selbstentwurf als fahrendem Ritter, statt. Was Unamuno über die für Don Quixote vorbildhaften Ritter sagt, sie hätten nach demjenigen Ruhm gestrebt, der bleibe („[…] aquellos esforzados caballeros que, desprendidos de la vida que pasa, aspiraron a la gloria que queda“116), dies zeichnet auch Don Quixotes Leben aus: Es ist dem Ruhm und der Unsterblichkeit geweiht. Wenn Unamuno Don Quixote als ‚Sohn seiner Taten‘ und ‚Nachkomme seiner selbst‘ betrachtet (siehe oben), dann weist er damit auf die Autonomie in der Lebens- und Selbstgestaltung des Heroen hin: Vermittels eines von ihm selbst gesetzten Ideals und der dadurch zustande gebrachten Abenteuer bringt sich Don Quixote selber in Existenz. Zugleich ist dabei zu sehen, dass Don Quixotes Ideensetzung nicht willkürlich geschieht, denn nach Unamuno handelt es sich bei der Idee eines Menschen nicht nur um eine menschliche Idee, sondern auch um die Idee, die Gott – für Unamuno gleichbedeutend mit dem ‚ewigen und unendlichen Bewusstsein des Universums‘ („la eterna e infinita Conciencia del Universo“),117 in dem alles erinnert wird118 – von diesem Menschen hat; und diese lässt sich als gedanklich 115 116 117 118
Vgl. ders., VDQ, S. 505. Ebd., S. 162. Siehe Anm. 119. „Nada pasa, nada se disipa, nada se anonada; eternízanse la más pequeña partecilla de materia […], y no hay visión, por huidera que sea, que no quede reflejada para siempre en alguna parte.“ Ebd., S. 525.
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präexistente annehmen. Die Dringlichkeit, sich in den Dienst jener Idee zu stellen, liegt in nichts Geringerem als darin begründet, sein eigenes Bewusstsein davor zu retten, von Gott vergessen und damit nichtig zu werden: „Todo tu problema e éste; si has de empañar tu idea y borrarla y hacer que Dios te olvide, o si has de sacrificarte a ella y hacer que ella sobrenade y viva para siempre en la eterna e infinita Conciencia del Universo. O Dios o el olvido.“119
Die Idee eines Menschen kann demnach verwirkt und dem Vergessen anheim gegeben werden.120 Mit der Ideewerdung ist bei Unamuno das Bestreben verbunden, ‚in Gott‘ zu leben, während außerhalb Gottes das Nichts sei, und eine Abspaltung des Menschen von jenem Ganzen dessen Nichtigkeit zur Folge hätte („Si aspiro a Ti, viviré en Ti; si de Ti me aparto, iré a dar en lo que no es tuyo, en lo único que fuera de Ti cabe: en la nada.“121). Ideewerdung zielt so auf eine Integration ins Weltbewusstsein, auf eine Bewusstwerdung oder ‚Verlebendigung‘ („vivificación“122) der eigenen Idee in jenem Weltbewusstsein, das für Unamuno alles ist. Scheinbar paradox, beruht die Autonomie des Heroen bei Unamuno also nicht auf Abspaltung, sondern auf Integration. Der Mensch muss dabei, um im Weltbewusstsein seinen Platz zu erkennen, das Weltganze in sich tragen, d. h. so viel wie möglich von der Realität in sein Bewusstsein aufnehmen (dieses also extendieren).123 Für Unamuno ist es ein Kennzeichen von Don Quixotes Heroismus und Auserwähltheit, dass dieser die Idee seiner selbst zu denken vermag und sich dabei so erkennt wie Gott ihn denkt. Don Quixote ist es möglich, in direkten Kontakt zu jener Ordnung des Ganzen zu treten und er bedarf dazu nicht der Vermittlung durch eine Lehre oder durch ein Gesetz.124 Die Selbsterkenntnis Don Quixotes als Idee seiner selbst („¡Yo sé quién soy!“125) beruht darauf, dass Don Quixote weiß, wer er sein will. Unamuno kommentiert, es dürfe einem wenig bedeuten, zu wissen, wer man sei, hingegen sei es von höchster Bedeutung zu wissen, wer man sein wolle:126 „El ser que eres no es más que uns ser caduco y perecedero, que come de la tierra y al que la tierra se comerá und día: el ser que quieres ser es tu idea de Dios, Conciencia del Universo; es la divina idea de que eres manifestación en el tiempo y el espacio.“127 119 „Dein ganzes Problem besteht im folgenden, ob du entweder deine Idee verdunkelst und ausradierst und dich von Gott vergessen lässt, oder ob du dich ihr opferst und sie für immer im ewigen und unendlichen Bewusstsein des Universums obenauf schwimmen und leben lässt. Entweder Gott oder das Vergessen.“ Vgl. ebd., S. 474 [Übersetzung, G. L.]. 120 „[…] y si la empañara [a mi idea divina, G. L.] […], si la deshiciera en este mi yo caduco y terreno, entonces ¡ay de mí, Señor […]!“ Ebd. 121 Ebd. 122 So erklärt Unamuno: „[…] que mi vida toda sea una vivificación de mi idea divina […].“ Ebd. 123 Unamuno beschreibt einen solchen Moment von Integration auch als ‚Personalisierung‘ des Außen, siehe insbesondere ders., STV, S. 89 und 94–98. 124 „[…] la obediencia a ese mandato [de la ley suprema, G. L.] y la fe en él es lo que le hace [a Don Quixote, G. L.], siendo por ello héroe, ser quien es, puede muy bien decir: ‚yo sé quién soy, y mi Dios y yo sólo lo sabemos y no lo saben los demás‘.“ Miguel de Unamuno, VDQ, S. 189. 125 Vgl. ebd., S. 189–191. 126 Vgl. ebd., S. 190 [Übersetzung, G. L.]. 127 „Das Sein, das du bist, ist nicht mehr als ein vorübergehendes und hinfälliges Sein, das Erde
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Doppeldeutig ist in diesem Zusammenhang der sprachliche Bezug der Formulierung ‚deine Idee von Gott‘ („el ser que quieres ser es tu idea de Dios“) ebenso wie andernorts der Ausdruck ‚meine göttliche Idee‘ („mi idea divina“).128 Diese Formulierung kann erstens bedeuten, dass man von Gott als jene Idee gedacht wird und diejenige Idee manifestiert, die sich Gott von einem macht. Sie kann zweitens bedeuten – dies entspräche quasi der menschlichen Perspektive –, die Vorstellung von demjenigen/derjenigen, der/die man sein wolle, entspreche der eigenen Vorstellung von Gott, sie sei die eigene Idee vom Göttlichen. Letzteres hieße, dass sich in der höchsten Vorstellung, die man von sich selbst zu denken imstande ist, die eigene Vorstellung von Gott manifestiert. Drittens kann die Doppeldeutigkeit darauf hinweisen, dass beides, Gottes Idee vom eigenen Selbst sowie die eigene Idee von Gott in eins fällt. Darin, sich die höchste denkbare Vorstellung von seinem eigenen Leben zu machen, sieht Unamuno eine positive Vermessenheit, eine ‚glückhafte Schuld‘ („feliz culpa“)129 (siehe hierzu auch Kapitel II.4.3). Hinter Unamunos Behauptung es sei von Bedeutung, zu wissen, wer man sein wolle (nicht wer man bereits ist), lässt sich die Problematik erkennen, eine gedankliche Vorstellung vom eigenen Leben zu gewinnen, während dieses in vollem Gange und in das Existieren in Raum und Zeit eingebunden ist. Die Ideensetzung ist vor diesem Hintergrund mit dem Risiko des Scheiterns behaftet. Wie bereits in Kapitel I.3.4 angedeutet, lässt sich die Setzung Don Quixotes als Idee seiner selbst analog zur Setzung der Zwölftonreihe im Kontext gerhardschen Tonalitätsdenkens reflektieren. Ebenso wie im Fall des quixotischen Rittertum-Ideals lässt sich auch in Bezug auf die Reihe eine Spannung zwischen einerseits Autonomie bzw. Setzungsmoment, und andererseits der Integration der Reihe in eine präexistente Ordnung erkennen. Die Setzung der Reihe ermöglicht zwar eine Emanzipation von konventionellen Vorgaben des Tonmaterials (etwa einer Duroder Mollskala) – analog emanzipiert sich Don Quixote als ‚Nachkomme seiner selbst‘130 von seiner Herkunft als Hidalgo und wird zum zweiten Mal geboren. Zugleich lässt sich aber sehen, dass mit der Setzung der Reihe und ihres serial field bereits eine Kontaktnahme mit der präexistenten Ordnung des ‚Tons‘ stattfinden sollte. Mit Blick auf eine solche Kontaktnahme lässt sich sagen, die Idee (‚Natur‘) einer bestimmten Reihe zu verstehen131 hieße, sich eine Vorstellung vom funktionalen ‚Ort‘ derselben innerhalb jener Tonbezugsordnung zu machen. Jener funktionale ‚Ort‘ einer Reihe im Ganzen würde allerdings erst im Prozess der Komposition, d. h. mit der In-Bezug-Setzung der Reihen des serial field, realisiert werden. Dies entspricht Don Quixote, der im Moment seiner Ideesetzung darauf zielt, eine
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isst und einmal von der Erde gegessen werden wird; das Sein, das du sein willst, ist deine Idee von Gott, dem Bewusstsein des Universums, es ist die göttliche Idee, die du in Raum und Zeit manifestierst.“ Ebd. [Übersetzung, G. L.]. Siehe Anm. 122. Vgl. Miguel de Unamuno, VDQ, S. 190. Siehe Anm. 113. „[…] the nature of the series has to be understood, its properties have to be discovered, its ‚genius‘ has to be apprehended. It must be realized that the internal structure peculiar to the series will favour certain lines of development, while discountenancing or even effectively barring others […].“ Roberto Gerhard, TTM, S. 123.
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menschliche Idee vom Weltbewusstsein, von Gott, wie auch von seinem eigenen ‚Ort‘ darin (d. h. von sich selbst als Idee) zu gewinnen, von jenem ‚Ort‘, der sich im Prozess des Gelebtwerdens der Idee erst erschließt.132 Insofern die Reihe durch ihren Platz im Ganzen bestimmt ist, entspricht sie einer relationalen und immateriellen Idee. Zugleich ist sie ein Ton-Material – im gleichen Sinn wie der zur Idee werdende Mensch real existiert und aus Fleisch und Blut ist. Und ebenso wie ein Mensch seine eigene präexistente Idee verwirken kann, indem er sie unrealisiert belässt und sein Menschenleben an der vergänglichen Oberfläche des Lebens zerstreut, so kann auch die Setzung der Reihe in Bezug auf ihre Finalität – nämlich die Selbstintegration in die Naturordnung des ‚Tons‘ – zwecklos bleiben. Dieser Fall würde eintreten, wenn aus der präkompositionellen Setzung und Disposition der Reihe im Prozess der Komposition keinerlei Konsequenzen hinsichtlich zu erschließender Tonbeziehungen (genauer: tongehaltlicher Bezüge) gezogen würden. II.2.2 Don Quixotes Abenteuer: Der pragmatische Wahrheitsbegriff Unamuno setzt dem scholastischen Spruch, nach dem das Wirken dem Sein folgt (operari sequitur esse),133 entgegen, dass nur dasjenige existiert, das wirkt, und dass zu existieren zu wirken bedeutet („[…] que sólo existe lo que obra y existir es obrar […].“).134 Dies ist eine der für Unamuno typischen Umdrehungen von Ursache-Wirkungs-Zuschreibungen, wie sie die Scholastik und der ‚sentido común‘ vertreten; stellvertretend für letzteren stehen bei Unamuno Gegenspieler Don Quixotes, der Baccalaureus Sansón Carrasco135 sowie der „grave eclesiástico“ (aus DQ II/31 und 32) als „la encarnación del sentido común“136 ein.137 Eine Idee ist für Unamuno ‚real‘ und kann sich verifizieren, wenn sie wirkt, d. h. Handlungen und Werke nach sich zieht. So kann Don Quixote als fiktive Figur für Unamuno ‚realer‘ sein als ein Mensch, der tatsächlich gelebt hat.138 132 Und wie sich das Bewusstsein Don Quixotes mit der vollen Mannigfaltigkeit der Realität konfrontieren und diese in sich aufnehmen muss, um das Weltganze in sich zu tragen, so muss auch die Reihe fähig sein, vielfältige Gestalten in sich aufzunehmen, ohne sich als Reihenarchetyp zu verändern. 133 Vgl. Miguel de Unamuno, VDQ, S. 286. Zur Fundierung Unamunos immateriellen und dynamistischen Seinsbegriffs siehe weiter v. a. ders., STV, S. 93. 134 Ders., VDQ, S. 286. Pelayo H. Fernández sieht in der Formel ‚existir es obrar‘ eine Kernformel der ‚subjektiven‘ Realitätsauffassung bei Unamuno (die er von einer ‚objektiven‘ Realitätsauffassung Unamunos unterscheidet). Siehe Pelayo H. Fernandez, Miguel de Unamuno y William James, S. 96 und 76. 135 Über den Baccalaureus Sansón Carrasco äußert Unamuno: „[…] es el cogollo y cifra del sentido común, amigo de burlas y regocijos, el cabecilla de los que traían y llevaban, dejándola uno para tomarla otro, la vida del Ingenioso Hidalgo.“ Miguel de Unamuno, VDQ, S. 332. 136 Ebd., S. 394. 137 Auch James betrachtet die Scholastiker sozusagen als Vertreter eines mit wissenschaftlichem Habitus bekleideten common sense: „Vainly did scholasticism, common sense’s college-trained younger sister, seek to stereotype the forms the human family had always talked with, to make them definite and fix them for eternity.“ William James, Pragmatism, S. 84. 138 „[…] existir es obrar, y si Don Quijote obra, en cuantos le conocen, obras de vida, es Don Qui-
II.2. Ideewerdung: Unamunos pragmatischer Wahrheitsbegriff
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Hier zeigt sich Unamunos pragmatischer Wahrheitsbegriff. Ebenso wie bei William James die Idee des Hauses am Ende eines Kuhwegs wahr gemacht (verifiziert) wird, wenn jene Vorstellung den Verirrten aus dem Wald führt und sich derart als eine funktionsfähige Vorstellung erweist – auch wenn jenes Haus am Ende des Kuhwegs objektiv gar nicht existieren sollte139–, so gilt auch bei Unamuno das (lebensbefördernde) Wirken und Funktionieren einer Idee als ausschlaggebendes Kriterium für ihre Realität. In James’ Beispiel ‚deckt‘ das durch die Idee Erwirkte, jene hervorgebrachte Wirklichkeit des Aus-dem-Wald-Herausfindens, bereits den Wahrheitsgehalt der Idee.140 Es zählt demnach allein der Fakt des Funktionierens einer Vorstellung, des Wirksamwerdens in Bewusstsein, nicht aber das Vorhandensein eines Objekts direkter Korrespondenz in der (Objekt-)Welt. Um diese Auffassung von Realität und Wahrheit zu thematisieren, nimmt Unamuno diejenige Situation im Roman zum Anlass, in welcher der Priester behauptet, die Ritterbücher hätten Don Quixote verrückt gemacht, während der Schenkenwirt sich selber als begeisterter Leser von Ritterbüchern erweist (DQ I/32). Drei Bücher des Wirts inspizierend, hebt der Priester an den Barbier gewandt dazu an, die beiden Ritterbücher, die darunter sind, zu verbrennen.141 Diese enthielten, so der Priester, „nur Erdichtungen“ und seien „voll von Narreteien und Unsinn.“142 Dagegen hält er die historische Chronik vom Leben des großen Feldhauptmanns Hernández de Córdoba nebst dem Leben des Ritters García de Paredes für „eine wahrhafte, wirkliche Geschichte.“143 Während für die Realitätsauffassung des Priesters entscheidend ist, dass das Erzählte ein Korrespondenzobjekt in der historischen Realität aufweist – und man könnte hinzufügen, unabhängig von der gegenwärtigen Wirksamkeit und
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jote mucho más histórico y real que tantos hombres, puros nombres que andan por esas crónicas que vos señor Licenciado tenéis por verdaderas.“ Miguel de Unamuno, VDQ, S. 286. Bei James hat sich eine Idee bereits dann indirekt verifiziert, wenn ihr Wirken (und damit auch: der Glaube an sie) funktionierende Handlungen hervorgebracht hat. James spricht von einer „eventual verification“, die etwa dann wirksam wird, wenn wir uns im Wald verirrt haben und am verhungern sind, und etwas, das wie ein Kuhweg aussieht, in uns die Vorstellung eines bewohnten Hauses am Ende des Weges wachruft und uns so das Leben rettet. (Vgl. William James, Pragmatism, S. 89.) Die Vorstellung des bewohnten Hauses hat sich nach James bereits in dem Moment verifiziert, in dem sie uns aus dem Wald herausführt (und nicht etwa erst dann, wenn wir das Haus auch finden sollten): „Following our mental image of a house along the cow-path, we actually come to see the house; we get the image’s full verification. Such simply and fully verified leadings are certainly the originals and prototypes of the truth-process.“ Ebd., S. 90 f. Zum pragmatischen Argument der Verifizierbarkeit einer Idee als deren vollgültiger Verifikation vgl. Pelayo H. Fernández, Miguel de Unamuno y William James, S. 64 f. In Anspielung an das Autodafé der Bücher Don Quixotes, das Priester und Barbier zusammen mit Don Quixotes Nichte und Haushälterin nach seiner ersten Ausfahrt (DQ I/5 und 6) planten, äußert der Priester an den Barbier gewandt bei der erneuten Gelegenheit zur Bücherverbrennung: „Hier fehlen uns jetzt die Haushälterin meines Freundes und seine Nichte.“ (Miguel de Cervantes, DQ I/32, S. 320.) Eben jenes ‚Widersacher‘-Quartett greift Gerhard in seinem Ballett auf. Die ‚Widersacher‘ sind also diejenigen, die Don Quixotes Ideal ebenso wie die Fiktionen, aus denen es hervorging, für unwirklich und bloße Erdichtung halten und damit für den Realitäts- und Wahrheitsbegriff des ‚sentido común‘ einstehen können. Miguel de Cervantes, DQ I/32, S. 320. Ebd.
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
pragmatischen Wahrheit jenes Erzählten, denn Unamuno bezweifelt diese144 –, betrachtet Unamuno das Sich-Ereignete mit Blick auf die Ewigkeit und stellt fest: „En lo eterno son más verdaderas las leyendas y ficciones que no la historia.“145 Er wirft rhetorisch die Frage auf, wie sich ein historischer Mensch nach seinem Tod, und falls er in die Erinnerung der Nachwelt eingegangen sein sollte, von einer jener dichterischen Fiktionen unterscheide, die der Priester verabscheue.146 Die Botschaft ist klar: Was von uns bleibt, ist eine Idee, und glücklich der, dessen Idee wirksam ist und erinnert wird, weil sie gelebt wurde. Dahinter steht jener Wahrheitsbegriff, der auf ein immaterielles Existieren, ein Erhaltenbleiben in Bewusstsein, abzielt.147 So wie die wahrhafte Realität eines Menschenlebens für Unamuno nicht davon abhängt, ob es sich um ein historisch gelebtes handelt, oder aber um eine Fiktion, sondern nur davon, ob jenes Menschenleben im Bewusstsein der Mit- und Nachwelt wirksam bleibt, ebenso könnte man – bezogen auf die Tonalitätsproblematik – erkennen, dass für das Kriterium der Tonalität nicht ein bestimmtes Tonmaterial ausschlaggebend ist, sondern allein die Wirksamkeit jenes Tonmaterials hinsichtlich der Erschließung präexistenter Tonbeziehungen. Demnach müssten vermittels einer Reihe zutage geförderte Tonbeziehungen pragmatisch gesehen als tonal gelten, insofern sie Aspekte eines präexistenten Tonbezugsraums erschließen; und dies, obwohl die Reihe dem ‚Ton‘-Vorbild der Obertonreihe nach Maßgabe eines korrespondierenden Abbilds möglicherweise überhaupt nicht gleicht. Würde Tonalität ausschließlich vom Vorliegen eines bestimmten Tonmaterials und dessen vermeintlich inhärenter tonaler Eigenschaften abhängig gemacht, etwa vom Vorliegen einer Durskala, oder vom Terzaufbau der Akkorde, dann könnte eine solche ‚materialisierende‘ Tonalitätsdefinition hinsichtlich der Erschließung des Tonbezugsraums (d. h. des funktionalen ‚Orts‘ von Tonmaterial) als unproduktiv und unwirksam gelten (und dies beträfe vertraute ebenso wie neuartige Skalen, drei- und viertönige ebenso wie fünf- oder mehrtönige Harmonien). Die enge, ‚materialisierende‘ Sichtweise auf Tonalität ließe sich ganz analog in einer rationalistischen Wahrheitstheorie wiederfinden; einer Wahrheitstheorie, die Unamuno kritisiert und für die es typisch ist, die Wahrheit einer Idee als deren inhärente Eigenschaft zu verstehen und Ideen folglich als wahre oder unwahre, gute oder schlechte zu definieren (dementsprechend bezeichnet Unamuno jenen Priester, der Rittererzählungen als unwahr und ‚nur Erfindung‘ deklariert, als „señor cura 144 „Pero véngase acá, señor Licenciado, y dígame: ahora, al presente, y en el momento en que vuestra merced habla así, ¿dónde estaban y están en la tierra el Gran Capitán y Diego García de Paredes?“ Miguel de Unamuno, VDQ, S. 286. 145 Ebd., S. 287. 146 Vgl. ebd., S. 286. 147 Was bleibt, ist, so lässt sich weiterdenken, demnach auch nicht die „comedia del mundo“ (vgl. ebd., S. 358) oder „éste mundo aparencial“ (ebd., S. 241) und diejenigen, die in ihr sieg- und erfolgreich sind, sondern ein „mundo sustancial“ (vgl. ebd., S. 241) und diejenigen, die Idee werden. Unamunos Romankommentar selber ist vor diesem Hintergrund als ein LebendigHalten jener Figur zu verstehen. So äußert er, sich bemüht zu haben mit seiner Schrift VDQ darzulegen, wie Don Quijote und Sancho real und wahrhaft existiert hätten und sich alles, was man uns von ihnen erzählt, so zugetragen habe, wie uns erzählt wird. (Vgl. ebd. S. 288.)
II.2. Ideewerdung: Unamunos pragmatischer Wahrheitsbegriff
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racionalista“148). Diejenigen, die sich eine solche Definition von Wahrheit anmaßen, bezeichnet Unamuno als „definidores“ (neben der Figur des Priesters steht für diesen Typ der „definidores“ auch die Figur des „grave eclesiástico“ ein, Bezug nehmend auf die Romankapitel DQ II/31, 32).149 Die ‚definidores‘ zeichnet neben ihrem Dogmatismus ihre unproduktive Haltung aus. Sie täten, so Unamuno, nichts weiter als diejenigen zu verfolgen, die sie für wahnsinnig hielten.150 Weil ihr Blick lediglich auf die vermeintliche ‚Unwahrheit‘ der Rittertum-Idee Don Quixotes fällt (nicht hingegen auf die guten Intentionen, die der Ritter vermittels seines Ideals verfolgt), können sie nach Unamuno in ihrer Beurteilung Don Quixotes nur irren; in ihrem Don Quixotes Größe verkennenden Urteil spiegelt sich nach Unamuno die Beschränkung ihres Begreifens. Unamuno wirft jenem Menschentyp der ‚definidores‘ einen Mangel an Imaginationskraft vor, ihr Realitätszugang sei verhärtet durch den Rückgriff auf Ideen, die sie auf Vorrat hinterlegt hätten.151 Wer Ideen auf Vorrat hortet und hervorholt, kann auf neue, unvertraute Aspekte der Realität nicht reagieren, kommt dem Leben gegenüber quasi immer zu spät. Der Missionseifer und die Intoleranz der ‚definidores‘ gegenüber Andersdenkenden beruht nach Unamuno auf ihrer Unfähigkeit, sich festen Blickes auf den Nordstern („fija en la estrella norte la mirada“) im ‚schwer begehbaren Gelände‘ des Lebens Wege zu bahnen.152 Unamunos Metapher vom festen Blick auf den Nordstern verweist auf die Bindung an ein hohes, nahezu unerreichbares Ideal und die Perspektivität, die diese für die Bewältigung des Lebens bringt. Die Unterscheidung zwischen Perspektivität und Ideenherrschaft soll im Folgenden diskutiert werden. Wo ein Mensch sein Leben für die Idee opfert, um zur ‚gelebten/lebendigen Idee‘ zu werden, und wo er sich andererseits einer Idee unterwirft, ist nicht leicht zu unterscheiden. Das wesentliche Kriterium für die Unterscheidung besteht in dem durch die Idee geleisteten Kontakt mit der Realität.
148 Ebd., S. 287. 149 Über diesen äußert Unamuno, er sei „uno de esos hombres de voluntad mezquina y de corazón estrecho que han inventado lo de que hay ideas buenas e ideas malas y se empeñan en ser definidores de la verdad y del error […].“ Ebd., S. 395. 150 „Los tales […] no hacen sino perseguir a los que tienen por locos de la cabeza y entercarse en hacernos creer que traen perdido al mundo los caballeros andantes que enderezan sus intenciones a buenos fines, crean lo que creyeren, y no los graves eclesiásticos que miden la grandeza de los grandes con la estrechez de sus ánimos.“ Ebd., S. 395 f. 151 Vgl. ebd., S. 396. 152 „Como sus seseras resecas y amojamadas son incapazes de parir imaginación alguna, atiénense, como a inmovible norma de conducta, a las empedernidas y encostradas imágenes que en depósito recibieron, y como no saben abrirse sendero a campo traviesa y por la espesura de la selva, fija en la estrella norte la mirada, obstinanse en que vayamos los demás en su desvencijado carro por las roderas de camino de servidumbre pública.“ Ebd., S. 396.
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
II.2.3 Rocinante: Das Festhalten am Ideal und der Realitätskontakt Im Zusammenhang mit der Reihe nimmt Gerhard Bezug auf den methodischen Charakter von Don Quixotes Wahn. Er spricht von „Don Quixote’s code of behaviour being so deeply ingrained“, d. h. dem strengen Festhalten an jenem Ideal und Verhaltensmuster, welches Don Quixote erlaube, an den Weggabelungen einen Zügel seines Pferdes locker zu lassen und seine Wege von Rocinante führen zu lassen (siehe auch Kapitel I.3.5).153 Nach Gerhard erlaubt dem Heroen die Bindung an sein Ideal, sich auf jegliche Realität einzulassen. Gerhard greift dabei Unamunos Gedanken auf, nach dem Don Quixote das Rittertum-Ideal in seinen Abenteuern einem intimen Kontakt mit der Realität aussetzt. Dass sich Don Quixote auf seinen Wegen von seinem Pferd Rocinante treiben lässt, wird für Unamuno bezeichnend dafür, dass er nicht auf vorgefertigten Wegen reitet. Weder sucht er die Situationen herbei, in die er gerät, noch schließt er welche davon aus – er nimmt auf, was sich ihm bietet. Bedingung für jenes Sich-treiben-Lassen ist allerdings die Bindung an das einmal gesetzte Rittertum-Ideal (Don Quixotes „alma heroica“) und das Festhalten an diesem: „Se dejaba llevar de su caballo el Caballero, al azar de los senderos de la vida. ¿Qué menos daba esto si era siempre la misma y siempre fija su alma heroica? Salía al mundo a enderezar los entuertos que al encuentro le salieran, mas sin plan previo, sin programa alguno reformatorio. No salía a él a aplicar ordenamientos de antemano trazados, sino a vivir conforme a como los caballeros andantes habían vivido […].“154
Für den Dogmatiker oder Ideokraten ist es hingegen typisch, die eigenen Lebenswege von einer für wahr gehaltenen Idee bestimmen zu lassen. Insofern wird die vermeintliche Wahrheit der Idee an den Beginn des Lebenswegs gesetzt, während Unamuno betont, dass die Vollendung einer Persönlichkeit (d. h. Idee) am Schluss und nicht am Anfang eines Lebens stehe.155 Das irrtümliche Bestreben des Dogmatikers zielt auf die Anpassung der unabsehbaren Natur des Lebens an die Voraussehbarkeit einer (abstrakten) Idee und kann dafür einstehen, dass das Moment des Sich-aneignen-Lassens durch die Realität156 – das Sich-treiben-Lassen durch Rocinante – fehlt. Und dieses scheinbar passive Sich-treiben-Lassen umfasst, wie sich an Don Quixote sehen lässt, durchaus auch das aktive Moment eines Kampfes mit dem Außen. Unamuno kritisiert das Bemühen, sich einen Plan zu setzen, der das Leben im Voraus determiniert („[…] ese empeño que muestras ahora para fijarte un camino y trazarte un plan de vida. ¡Nada de plan previo […]! No hace el plan a la vida, sino 153 Roberto Gerhard, DDT, S. 135. 154 Miguel de Unamuno, VDQ, S. 169. 155 „No te empeñes en regular acción por tu pensamiento; deja más bien que aquella te forme, informe, deforme y trasforme éste. Vas saliendo de ti mismo, revelándote a ti propio; tu acabada personalidad está al fin y no al principio de tu vida; sólo con la muerte se te completa y corona.“ Ders., ¡Adentro!, S. 420. 156 Nach Unamuno selektiert und sucht Don Quixote seine Abenteuer nicht: „[…] lo heroico es abrirse a la gracia de los sucesos que nos sobrevengan, sin pretender forzarlos a venir.“ Miguel de Unamuno, VDQ, S. 171.
II.2. Ideewerdung: Unamunos pragmatischer Wahrheitsbegriff
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que ésta lo traza viviendo.“157). Das Apriorischmachen einer Idee ist für ihn dann verwerflich, wenn die Situationen und Lebensstationen so zusammengesucht werden, dass sie konform mit der Idee sind, d. h. sich in einen gesetzten Plan fügen. Dann geschieht auf der Ebene der Lebenspraxis genau diejenige Verdrehung der Verhältnisse, die Unamuno auf wissenschafts- oder erkenntnistheoretischer Ebene als wissenschaftliche Unredlichkeit im Intellektualismus kritisiert hatte (siehe Kapitel II.1.2.1): Es werden allein die zur ‚Bewahrheitung‘ einer These notwendigen Fakten selektiert, d. h. es wird die Realität an die Idee angeglichen,158 anstatt die (festgehaltene) Idee realitäts- und lebenshaltig zu machen. Die Ideenherrschaft (Ideokratie) lässt sich so typischerweise am Ausschluss von Realitätsaspekten erkennen, an einem für den Dogmatiker (wie für jegliches totalitäre Denksystem) typischen Exklusivismus („dogmatismo exclusivista“), gegenüber dem Unamuno rät, alles zu affirmieren (was heißen müsste: auch Widersprüchliches): „[…] afírmalo todo, aunque te digan que es una manera de todo negarlo, porque aunque así fuera, sería la única negación fecunda, la que destruyendo crea y creando destruye.“159 Der Gedanke, nach dem Don Quixote nicht dem Leben die Gesetze vorschreibt, sondern vermittels des Gesetzten (der Idee) das Leben erkennt,160 kann demgemäß für einen Inklusivismus einstehen, der als Prinzipienlosigkeit oder -armut erscheinen kann – Unamuno reklamiert das Recht jedes Einzelnen, die Vorstellung der eigenen Ideale im Lauf des Lebens zu ändern161–, der tatsächlich aber im verbindlichen Festhalten an Don Quixotes Idee seiner selbst (dem Rittertum-Ideal) verwurzelt ist, oder: im ‚fest auf den Nordstern gehefteten Blick‘.162 Noch etwas unterscheidet Ideewerdung und Ideenherrschaft: Eine gedankliche Vorausnahme der vermittels der Idee zu erschließenden Realität ist bei Unamuno mit der Haltung des Glaubens verbunden. Als ‚Ritter des Glaubens‘ opfert Don Quixote seine Vernunft, um seinen Glauben zu gewinnen.163 Glaube stellt sich da157 Ebd. 158 Die gleiche Verkehrung der Verhältnisse findet sich wieder, wenn Unamuno fordert, die Sprache dem Gedanken anzupassen und nicht umgekehrt. Nach Unamunos Sprecher A vermögen es die ‚definidores‘ gewissermaßen nicht, sich aus der unfrei machenden ‚Materialität‘ ihrer Ideen zu befreien. Konfrontiere man sie mit einem ihnen unbekannten Konzept, hier: dem Konzept der ‚intravida‘, einer höheren Auffassung des Lebens, dann suchten sie dafür die nächste ihnen verfügbare Einordnung zu finden, um sich eine Diskussion zu ersparen (vgl. ders., Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 751 f.): „La diferencia está en que yo busco nombres para los conceptos, y ellos buscan meter conceptos en los nombres de su caudal de ellos; yo quiero hacer mi lengua y mi pensamiento, y ellos quieren hacer su pensamiento a la lengua común.“ (Ebd., S. 752.) Auch hier gilt es, eine potenzielle Entfremdung zwischen Realität und nachgeordneter Idee einzuholen. 159 Ders., ¡Adentro!, S. 423. 160 Siehe Unamunos Hinweis darauf, dass der Erkenntnisprozess nicht auf die Bestätigung einer Idee, Theorie oder eines Gesetzes anhand der Realität zielt, sondern jenes Gesetzte vielmehr als Medium bzw. Hilfsmittel zur Erkenntnis von Realität (der ‚Tatsache‘) fungieren soll, Anm. 93, Kapitel II.1.2.1. 161 „[…] deja que cambie el ideal que de ti propio te forjes.“ Ders., ¡Adentro!, S. 420. 162 Siehe Anm. 152, Kapitel II.2.2. 163 Bei Kierkegaard stellt der Glaube ein Paradoxon dar: „[…] ein Paradox, das dem Abraham den Isaak wiedergibt, dessen sich kein Denken bemächtigen kann, weil der Glaube gerade da be-
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bei als Vorgreifen der Vorstellung aufs Zukünftige dar: „Puede creerse en el pasado; fe sólo en el porvenir se tiene, sólo en la libertad. Y la libertad es ideal y nada más que ideal […].“164 In jener Ausrichtung des Ideals auf das Zukünftige und Zu-Erschließende lässt sich dieses mit einer Hypothese vergleichen. So wie Glaube bei Unamuno mit einem Ausgreifen der Imaginationskraft über die Begrenztheit der Vernunft hinaus in Zusammenhang steht, lässt sich festhalten, dass auch die Setzung einer Hypothese ein Ausgreifen der Imaginationskraft über das bislang Vorstellbare hinaus erfordert. Insofern eine Hypothese auf das Noch-nicht-Vorstellbare an der Realität vorausgreift, lässt sich sagen, dass bis zum Abschluss einer methodischen Untersuchung nicht genau gewusst werden kann, wonach mithilfe der Hypothese gesucht wird. Hierzu korrespondiert Unamunos Kommentar zu derjenigen Romanepisode, in der Don Quixote und Sancho Männern begegnen, die Holzschnitzereien dreier Heiliger bei sich haben, die sich Don Quixote zeigen lässt und anschließend ausruft, jene „Heiligen und Ritter“ hätten sich wie er dem Waffenwerk gewidmet, „nur mit dem Unterschied, daß sie Heilige waren und in göttlicher Weise kämpften, ich aber ein Sünder bin und auf menschliche Weise kämpfe. Sie errangen den Himmel durch ihrer Arme Gewalt; […] ich aber weiß bis jetzt nicht, was ich durch die Gewalt meiner mühseligen Taten gewinne; doch wenn Dulcinea von ihren Leiden erlöst würde, dann würde mein Schicksal sich erfreulicher gestalten […].“165
Don Quixotes Einsicht, nicht um das Ergebnis seiner Bemühungen zu wissen, verallgemeinert Unamuno zur Bedingung des Menschseins. Welches Ergebnis unser Wirken und Leben hervorbringt, bleibt bei Unamuno unsicher und ungewiss: „Y sobre todo, en esos tus actos heroicos, ¿qué buscas? ¿Enderezar entuertos por amor a la justicia, o cobrar eterno nombre y fama por enderezarlos? La verdad es, pobres mortales, que no sabemos lo que conquistamos a fuerza de trabajos.“166
Aufgrund der Einsicht in die mögliche Vergeblichkeit des quixotischen Glaubens an eine ‚höhere Realität‘, kann jener Glaube umso mehr als Wahn erscheinen. Mit Blick auf die Tatsache, dass das Ergebnis der Ideewerdung nicht völlig determiniert werden kann, lässt sich verstehen, dass die Arbeit an der Ideensetzung bei Unamuno wesentlich darin besteht, die eigene Intention zu purifizieren, denn vom Innen hängt nach Unamuno ab, was wir an der Welt verändern können („[s]antifiquemos nuestra intención y quedará santificado el mundo; purifiquemos nuestra conciencia y puro saldrá el ambiente.“).167
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ginnt, wo das Denken aufhört.“ (Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern, Hamburg 52004, S. 49.) Glaube hat bei Unamuno mitnichten etwas mit Realitätsleugnung – einem blinden Glauben – zu tun. Lebendiger Glaube (fe), d. h. Glaube, der Handlungen nach sich zieht, erwächst bei Unamuno vielmehr aus dem intimen Kontakt mit dem Leben, während das Postulieren einer Glaubenslehre dem Leben als creencia aposteriorisch ‚hinterherhinkt‘ und der gleichen Zirkel- und Selbstaffirmierungs-Problematik anheimfällt wie die Idee im Intellektualismus. Siehe hierzu ders., La Fe, S. 264. Ders., ¡Adentro!, S. 422 f. Miguel de Cervantes, DQ II/58, S. 986. Siehe auch Miguel de Unamuno, VDQ, S. 438. Ders., VDQ, S. 441. Ebd.
II.2. Ideewerdung: Unamunos pragmatischer Wahrheitsbegriff
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So wie eine Hypothese im Prozess einer Untersuchung nicht mehr verändert werden darf, um zu einem Ergebnis zu kommen, hält Don Quixote an seinem Ideal fest.168 Dabei handelt es sich um einen vorübergehenden Wahn („temporal locura del caballero“169), den Don Quixote nach Unamuno selber als bewusst auferlegten – d. h. gesetzten – reflektiert (und dies spricht gegen den pathologischen Charakter seines Wahns). Als derart vorübergehende Setzung kann der Hilfsmittel-Charakter der Ideewerdung klar werden. II.2.4 Scheitern als Sieg Zentral für den methodischen Charakter des quixotischen Wahns und den dahinterstehenden pragmatischen Wahrheitsbegriff ist der von Gerhard nahegelegte Gedanke, nach dem Don Quixotes Scheitern ein Sieg sein kann. Von geringer Bedeutung ist es, laut Gerhard, wohin sich Don Quixote durch Rocinante führen lasse, stets fände er sich in Konflikten wieder und was zähle sei, dass Don Quixote den Konflikt in Übereinstimmung mit seinem Verhaltenscode konfrontiere.170 Auch dies lässt sich vor dem Hintergrund der Ideewerdung erklären. Nach Unamuno hat der erfolglose Ausgang der meisten quixotischen Abenteuer keine Bedeutung: „[…] tu triunfo fue siempre el de osar y no el de cobrar suceso.“171 Eine Handlung ist für ihn nicht nach ihren äußeren Konsequenzen und nach dem Schaden zu beurteilen, den jemand dabei temporär erleidet, sondern allein nach der Intention, die der Handlung zugrunde lag.172 Es kann wahnwitzig erscheinen, dass das sichtbare Ergebnis einer Handlung nicht zu deren Beurteilung herangezogen werden soll, und man könnte auf die böswillige Deutung kommen, jedwede gut gemeinte Handlung werde hier ohne Blick auf ihr Ergebnis legitimiert. Zu bedenken ist dabei allerdings erstens die Don Quixote zugeschriebene grundlegende Güte, und zweitens die Überzeugung, dass es für die anzunehmende Wahrheit des Rittertum-Ideals kein anderes Kriterium geben kann, als Don Quixotes die Tat- und Kampfkraft bis aufs Äußerste mobilisierender Glaube an das Ideal.173 Das grenzenlose, vielleicht ge168 Der nicht mehr hinterfragten Bindung Don Quixotes an sein Ideal entspricht Gerhards methodisches Festhalten an der einmal gesetzten Reihe (siehe Kapitel I.4.2). 169 Vgl. ebd., S. 438. 170 „When he does so behave, strictly and utterly in accord with his guiding idea, then not even defeat can diminish him in our eyes. Whether victor or vanquished is, in the end, irrelevant.“ (Roberto Gerhard, DTT, S. 135, siehe ausführlich Anm. 538, Kapitel I.4.2.) 171 Miguel de Unamuno, VDQ, S. 186. 172 „No os apeguéis al miserable criterio jurídico de juzgar de un acto humano por sus consequencias externas y el daño temporal que recibe quien lo sufre; llegad al sentido íntimo y comprender cuánta profundidad de sentir, de pensar y de querer se encierra en la verdad de que vale más daño inflingido con santa intención que no beneficio rendido con intención perversa.“ Ebd., S. 221. 173 Wie bereits bemerkt, sind wahrhafter Glaube und Handeln bei Unamuno engstmöglich verbunden. Unamunos Begründung von Wahrheit aus dem Glauben und der Glaubenskraft eines Subjekts heraus lässt sich gemäß der Ansicht verstehen, nach der ein Ideal durch sein Geglaubtund Gelebtwerden wahr gemacht wird, nicht aber ein bestimmtes Ideal einem Handeln oder Leben Wahrheit verleiht: „*’Qué ideas profesas?’ No qué ideas profesas, no, sino: ¿cómo eres?,
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fahrvoll erscheinende Vertrauen in den Glauben und die Wahrhaftigkeit des einzelnen Menschen, welcher den Wert und die angenommene Wahrheit seiner Idee ‚deckt‘, setzt voraus, dass man Glauben eben nicht als dogmatische Glaubenslehre, sondern als eine das Handeln und Schaffen vorbereitende Form intimen Realitätskontakts versteht („Fe es comulgar con el universo todo“174). Der ‚Ritter des Glaubens‘ und dessen Idee genießen bei Unamuno höchsten Kredit. Vor dem Hintergrund der in Existenz zu bringenden Idee ist es logisch, dass Don Quixote die erfolglosen Ausgänge seiner Abenteuer nicht als Misserfolge anerkennt.175 Wie sowohl das negative wie auch das positive Ergebnis einer Untersuchung von Nutzen in Bezug auf die Beurteilung einer Hypothese ist, lässt sich sagen, dass jedwede Art des Kontakts mit Realität die Lebenshaltigkeit einer Idee anreichert und der Idee Substanz, d. h. Realität oder Existenz im pragmatischen Sinn, verleiht.176 Das dafür in Kauf genommene Scheitern wird dabei von Unamuno überhöht: „Sabiduría del corazón y no ciencia de la cabeza es la de saber ser derrotado y usar de la derrota.“177 So lange Don Quixote seiner Idee – d. h. vor allem seiner Intention und seinem Glauben – treu bleibt, ist er unbesiegbar (Unamuno spricht vom „inquebrantable Caballero de la fe“178). Selbst der Tiefpunkt in seiner Ritterlaufbahn, das Besiegtwerden durch den „Ritter vom weißen Mond“ (eigentlich Sansón Carrasco),179 tut Unamuno zu Folge Don Quixotes Ideal keinen Abbruch. Denn selbst in jenem größten Scheitern, „zerschlagen und betäubt“,180 verleugnet Don Quixote sein Ideal nicht und hält daran fest, dass „Dulcinea von Toboso […] das schönste Weib auf der Welt“ sei, „und ich bin der unglücklichste
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¿cómo vives? El modo como uno vive da verdad a sus ideas, y no éstas a su vida. […]*“ Miguel de Unamuno, La ideocracia, S. 431. Ders., La Fe, S. 260. Drei Kriterien macht Unamuno für den Glauben geltend: erstens ‚Aufrichtigkeit‘ („sinceridad”), zweitens ‚Toleranz‘, die mit der Einsicht einhergeht, dass keine Idee oder Glaubenslehre per se wahr oder falsch ist, sondern die damit verbundene Intention, aus der eine Handlung hervorgeht. (Vgl. ders., La Fe, S. 271.) Als drittes Kriterium nennt Unamuno ‚Barmherzigkeit‘ („misericordia”): Die Rechtschaffenheit, mit der die nach dem Recht der Justiz handelnden, vermeintlich anständigen Menschen („las gentes honradas, los justos, según la ley, los hombres de orden”) vermeinten, einen Delinquenten töten zu dürfen, stellt für Unamuno nichts anderes als ein Ventil für deren eigene kriminelle Triebe dar, die sie mit dem armen Beschuldigten gemeinsam hätten (vgl. ebd.). (Dies folgt der Logik, nach der Gleiches nur aus Gleichem hervorgehen kann.) Der Vorwurf an die Ideokraten, Werke der Barmherzigkeit zu verhindern, kehrt in La ideocracia wieder, wo Unamuno äußert, das Recht des logisch richtigen Justizrechts gehöre dem Reich der “idea pura” an (vgl. ders., La ideocracia, S. 433), gewissermaßen einem Reich, das dazu führt, den Anderen zu objektivieren. Das Postulat absoluter Aufrichtigkeit kehrt im Zusammenhang mit der von Unamuno erstrebten endzeitlichen Gesellschaft (“nueva edad”) wieder, siehe Anm. 342, Kapitel II.4.3. „[…] tu grandeza estribó en no reconocer nunca tu vencimiento.“ Ders., VDQ, S. 186. Hieraus erklärt sich das methodische Festhalten am Ideal bzw. der Reihe. Miguel de Unamuno, VDQ, S. 186. Vgl. ebd., S. 471. Der „Ritter vom weißen Mond“ besiegt Don Quixote im Kampf, woraufhin dieser das zuvor gegebene Versprechen einlösen muss, im Fall einer Niederlage für ein volles Jahr seine Waffen niederzulegen und sich in sein Heimatdorf zurückzuziehen. Siehe Miguel de Cervantes, DQ II/64, S. 1042. Ebd., S. 1044.
II.2. Ideewerdung: Unamunos pragmatischer Wahrheitsbegriff
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Ritter auf Erden, und es wäre nicht recht, wenn diese Wahrheit durch meine Schwäche Eintrag erlitte, stoß zu, Ritter, mit deinem Speer und nimm mir das Leben, da du mir die Ehre genommen.“181 Nach Unamuno hat jenes Scheitern Dulcinea keinen Abbruch getan, weil sich Don Quixote in den Dienst Dulcineas gestellt hatte, ohne dafür ihre Gegenliebe zu fordern.182 Dieserart ist die Verbindlichkeit der Ansprüche an den Glaubenden, an denjenigen, der sein Leben dem Ideal verschreibt.183 Das Ideal darf Ansprüche an ihn geltend machen, dieser aber nicht an das Ideal. II.2.5 Dulcinea Getreu der pragmatischen Wahrheitsauffassung lässt sich sagen, dass sich Don Quixotes fiktive Vorstellung von Dulcinea mit dem Bestehen seiner Abenteuer verifiziert hat, sodass am Ende von Don Quixotes Laufbahn als Ritter nicht mehr behauptet werden kann, dass Dulcinea nicht existent sei. So äußert Unamuno, zwar habe Don Quixote Dulcinea Kraft seines Glaubens (dies heißt bei Unamuno immer auch: Kraft seiner Taten) erdacht und gemacht, aber einmal kreiert, ‚existiere‘ sie und Don Quixotes ‚Leben‘ werde fortan durch sie erhalten.184 Die Abhängigkeiten drehen sich also um: Zunächst ist Dulcinea davon abhängig, von Don Quixote als eine Fiktion erdacht zu werden, später beruht Don Quixotes Unsterblichkeit als eine Idee seiner selbst auf seinen Werken, welche aufgrund des Glaubens an Dulcinea erwirkt wurden. Und angesichts jener vollbrachten Werke lässt sich nicht mehr sagen, dass Dulcinea nicht ‚existiere‘ – denn wie sonst hätte sich der Glaube an sie als derartig wirksam erweisen können? Dulcinea ist Don Quixotes Werk – Don Quixote ist Cervantes’ Werk. Wenn nach Unamuno die Figur Don Quixotes ‚realer‘ ist als ihr Autor Cervantes, dann spiegelt sich in dieser Überzeugung die Auffassung, nach der das substanzielle Existieren und Erhaltenwerden eines Menschen erwirkt werden muss und von dessen Werken abhängig ist (und nicht vom bloßen Fakt des Existierthabens). Analog kann Unamuno die ‚Existenz‘ Dulcineas behaupten und setzt an die Stelle Dulcineas allgemeiner sprechend den Ausdruck ‚meine Wahrheit‘ („mi verdad“):
181 Ebd. Siehe auch Miguel de Unamuno, VDQ, S. 471. 182 „Él se había entregado a Dulcinea sin pretender que por eso se le entregase Dulciena[sic], y así su derrota en nada empañaba la hermosura de la dama.“ Ebd., S. 471 f. Zur Reinheit der Liebe Don Quixotes zu Dulcinea als einer Liebe ohne Gegenleistung vgl. ebd., S. 224 f. 183 Vgl. in diesem Sinne auch Kierkegaard: „Jede Existenz unter der Bestimmung Geist […] hat wesentlich Konsequenz in sich und Konsequenz in etwas Höherem, zumindet in einer Idee. […] Der Mensch des Glaubens, der also in der Konsequenz des Guten ruht […], hat eine unendliche Furcht selbst vor der geringsten Sünde; denn er hat unendlich zu verlieren. Die unmittelbaren, die kindlichen oder kindischen Menschen haben nichts Totales zu verlieren, sie verlieren und gewinnen immer nur im einzelnen […].“ Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Hamburg 2005, S. 110 f. 184 Vgl. Miguel de Unamuno, VDQ, S. 472
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett „Yo forjo con mi fe, y contra todos, mi verdad, pero luego de así forjada ella, mi verdad, se valdrá y sostendrá sola y me sobrevivirá y viviré yo de ella.“185
Dulcinea, oder: „mi verdad“, kann dabei als die substanzielle Verkörperung der Idee Don Quixotes gelten und lässt sich unterscheiden vom anfänglich gesetzten, noch unkörperlichen Ideal Dulcineas, das vor dem Beginn von Don Quixotes Abenteuerlaufbahn noch als Wahn erscheinen konnte.186 Dulcinea steht nun für die Verifizierung von Don Quixotes Idee seiner selbst. Als Werk und Substanz jener Idee bleibt Dulcinea erhalten, während Don Quixote sterben darf – so wie jede Idee bei Unamuno einmal vergehen muss. Wie zu sehen sein wird, greift Gerhard die Idee der ‚in Existenz‘ gebrachten Dulcinea in der Schlusskonzeption seines frühen Szenarioentwurfs (CUL 13.10/2) zur Frühfassung des Don Quixote-Balletts auf. Im Zusammenhang mit Don Quixotes Tod tritt Dulcinea hier in Art einer Madonna auf und betont damit das ideelle Fortwirken von Don Quixotes Werk (siehe Kapitel III.4.1). Hingegen zielt die späte Ballettfassung von 1949 v. a. auf das Dulcinea-Ideal als nicht existentes, aber zum Schaffen notwendiges Hilfsmittel, auf Dulcinea als Konstituens des Rittertum-Ideals bzw. -Wahns, vermittels dessen Don Quixote zur unsterblichen Idee wird – dementsprechend wird Dulcinea hier als Aldonza enttarnt. Dennoch lässt sich zuletzt auch hier eine Glorifizierung Dulcineas wiederfinden, und damit der Gedanke des Fortwirkens derselben. Denn nach dem Todesmoment Don Quixotes wird die vormals bereits als Aldonza enttarnte Dulcinea doch noch als ideale Figur durch imaginäre, legendäre Ritter und Ritterdamen auf die Bühne gebracht: „[Ziffer] 132
Wie D. Q. zurücksinkt treten Amadis, Palmerin, Orlando auf, mit Oriana, Urganda und Angelica, Dulcinea (mit Mantel und Krone) hoch auf den Schildern führend (strahlendes spotlight)[.]“187
Setzte man – Gerhards metaphorische Übertragung des quixotischen Verhaltenscodes auf die Zwölftonmethode fortdenkend – an die Stelle von ‚Dulcinea‘ bzw. „mi verdad“ die Vorstellung von Tonalität im Sinne eines präexistenten Tonbezugsraums, und wiese man der Reihe die Rolle Don Quixotes als gesetzter Idee zu, dann ließe sich dem hier Ausgeführten nach sagen, dass mit den im Prozess der Komposition hervorgebrachten Tonbeziehungen eine Verkörperung der Idee von Tonalität hervorbracht wird (ebenso wie Dulcinea durch Don Quixotes Wirken in Existenz kommt). Während die Reihe zu Beginn der Komposition noch als eine hypothetische Vorstellung von Tonalität gelten kann (als ein noch unkörperliches Ideal), würde sich nach der Vollendung der Komposition das Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Reihe und den durch sie hervorgebrachten Tonbeziehungen umdrehen (so 185 Ebd. 186 Don Quixotes Scheitern gehört dabei dem irdisch-vergänglichen Existenzaspekt an, während das Werk Don Quixotes und damit dessen Unsterblichkeit davon unberührt bleiben: „¿Que peleando en pro de mi verdad me vencen? ¡No importa! No importa, pues ella vivirá, y viviendo ella os mostrará que no depende de mí, sino yo de ella.“ (Ebd., S. 473.) Das Ziel, auf dieser Welt siegreich zu sein, ordnet sich dem der Ideewerdung unter. Vgl. Kapitel II.2.4. 187 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL MS.Gerhard.13.11, S. 7.
II.3. Doppelte Realität
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wie sich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Don Quixote und Dulcinea umdreht): Die vermittels der Reihe (Don Quixote) hervorgebrachten Bezüge zwischen den zwölf Tönen hätten im besten Fall die Annahme eines präexistenten Tonbezugsraums (Dulcinea) verkörpert und verifiziert. Sie blieben als verifizierte Idee vom präexistenten Tonbezugsraum in Bewusstsein. Die Reihe hätte dagegen ihren Dienst getan. Dulcinea ‚existiert‘ als wirkende Vorstellung, und ebenso hätte sich in der Komposition die Idee von Tonalität im pragmatischen Sinne einer wirkenden und geglaubten Idee erneuert. Sollte die Reihe bzw. die Zwölftontechnik allerdings scheitern und sich in Bezug auf die Realisierung von Tonalität als unbrauchbar erweisen, oder stellte sich die Annahme präexistenter Tonbeziehungen als Illusion und tatsächlicher Wahn heraus, dann blieben noch immer die vermittels der Reihe und im Glauben an die Natur des Tons realisierten Tonbeziehungen zwischen den zwölf Tönen, d. h. ein verkörperter, Werke hervorbringender Glaube an Tonalität: Don Quixotes Werk (Dulcinea) kann auch nach Don Quixotes Tod fortleben, so wie Don Quixote auch ohne seinen Autor Cervantes fortlebt (siehe Kapitel II.4.2). II.3. DOPPELTE REALITÄT II.3.1 Der Angriff auf die Windmühlen: Unamunos Zivilisationskritik Die doppelte Ansicht auf Windmühlen bzw. Riesen inszeniert Gerhard durch Tänzer, die als Riesen auftreten und von ihrer Rückseite mit ausgestreckten Armen Windmühlen darstellen.188 Unamuno thematisiert anhand der Windmühlen seine Zivilisationskritik, die mit Blick auf das Thema der Fetischisierung des tonalen Systems wie auch der Reihe relevant ist. Für die ‚hemmungslosen Riesen‘, die Don Quixote anfällt, stehen in Unamunos Gegenwart Produkte der Zivilisation: „Hoy no se nos aparecen ya como molinos, sino como locomotoras, dínamos, turbinas, buques de vapor, automóviles, telégrafos con hilos o sin ellos, ametralladoras y herramientas de ovariotomía, pero conspiran al mismo daño.“189
188 „20. The Giants. A full-grown couple (male and female) and a giant-cub. Their faces of black or brown wax-cloth (shiny); The male with long flaxen beard; Spanish ‚Guardia Civil‘ tricorne hats, to look from the back like the tops of windmills. Dressed in long tunics and swaying cloaks, black lined red. Seen from the back, with arms outstreched, to look like windmills.“ Roberto Gerhard, lose Seite mit Angaben zur Kostümierung, beiliegend zum Klavierauszug des Don Quixote-Balletts von 1949, CUL 5.28. Gerhards Bezugnahme auf den zur Uniform der spanischen Guardia Civil gehörenden Dreispitz (tricornio) ist bemerkenswert. Möglicherweise verweist Gerhard hier auf die Verbundenheit der Guardia Civil (eines paramilitärischen Polizeiapparats) mit den Franquisten und dem Regime Francos. Es lässt sich vermuten, dass die ‚Riesen‘, von denen sich Don Quixote bedroht sieht, auf einer nationalen Symbolebene als Handlanger der Franquisten entschlüsselbar sind. Damit wäre ein klares Indiz dafür gegeben, dass sich Gerhards Ballett im Sinne einer Rückschau auf die Ereignisse des Spanischen Bürgerkriegs und einer Kritik an Franco-Spanien lesen lässt. 189 Miguel der Unamuno, VDQ, S. 199.
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
Der Schaden, den jene Objekte, die selbstbewegend erscheinen können, anrichten, liegt in einer Sichtweise auf diese begründet, die ihnen Kraft und Macht aus sich heraus zuschreibt. Wenn Sancho (ebenso wie ‚wir andere einfache Sterbliche‘190) in den Riesen Windmühlen erkennt, so weist das nach Unamuno auf Sanchos Ehrfurcht vor jenen Zivilisationsobjekten, und jene sanchopancheske Furcht inspiriere uns zu einem Kult der Kräfte etwa des Dampfantriebs und der Elektrizität.191 Es sei jene Furcht, die uns dazu treibe, vor ‚den unbändigen Riesen der Mechanik und der Chemie‘ („los desaforados gigantes de la mecánica y la química“) niederzuknien. Letztlich werde die menschliche Spezies ihren von Müdigkeit und Überdruss erschöpften Geist einer kolossalen Fabrik für Elixiere langen Lebens ergeben, während der ‚gemahlene‘ Don Quixote fortleben werde, weil er das Heil in seinem Innen gesucht und es gewagt habe, Windmühlen anzufallen.192 In pervertierter Weise taucht mit dem Kult um ein Langlebigkeitselixier hier das bei Unamuno so zentrale Unsterblichkeitsthema auf. Denn während einem Langlebigkeitselixier zugetraut wird, das Leben zu verlängern ohne dazu auch nur einen Finger zu bewegen, zielt hingegen das Wachhalten des Unsterblichseinwollens bei Unamuno auf eine glaubend und schaffend erwirkte Realität. Ein Langlebigkeitselixier würde dagegen, insofern es lediglich auf einer Ebene des Physischen wirksam wird, strenggenommen überhaupt nicht wirksam werden – wirksam nämlich im Sinne des Schaffens von Realität, die ihren Ausgang bei Unamuno immer vom Innen nimmt. So würde, ausgerechnet in jener Angelegenheit, die das Innerste eines jeden betrifft, das vergötzte Langlebigkeitselixier als bloßes Abbild an die Stelle des eigentlichen Bedürfens und Wollens treten und damit – v. a. hierin liegt der durch die Riesen zugefügte Schaden – jenes eigentliche Bedürfen ersetzt und verstellt. Indem Don Quixote in den Windmühlen Riesen erkennt und diese anfällt, kämpft er gegen falsche, nämlich äußerliche Bedürfnisse, die das eigentliche Bedürfen, jene Kraft, aus der Heroen hervorgehen, abtöten. Für Unamuno haben Artefakte, die aus der zivilisatorischen Erschließung des Außen hervorgehen, zwei Aspekte. So unterscheidet er beispielsweise an der Idee der Elektrizität eine ‚gegenständliche‘ Außenseite unmittelbaren Nutzens und Komforts und eine Innenseite, welche durch die Bedeutung einer solchen Idee für Kultur und Philosophie gekennzeichnet ist – entsprechend dem Gedanken, (natur-) wissenschaftliche Ideen müssten ‚Brennmaterial‘ („combustible“) für die Philosophie sein: „*Verdadera es la doctrina de la electricidad en cuanto nos da luz y trasmite a distancia nuestro pensamiento y obra otras maravillas. Y también es verdadera en cuanto, como tal doctrina, nos eleve el espíritu a contemplación de vida y amor. Porque tiene la ciencia dos salidas: una que va a la acción práctica, material, a hacer la civilización que nos envuelve y facilita la vida; otra que sube a la acción teórica, espiritual, a hacernos la cultura que nos llena y fomenta la vida interior, a hacer filosofía que, en alas de la inteligencia, nos eleve al corazón y ahonde el
190 Vgl. ebd. 191 Vgl. ebd. 192 Vgl. ebd., S. 199 f.
II.3. Doppelte Realität
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sentimiento y la seriedad de la vida. Para este hogar de contemplación vivificante son las ideas científicas combustible. […].*“193
In diesem Zusammenhang ist nicht davon die Rede, die Artefakte, die uns das Leben annehmlich machen, anzufallen. Unamuno ist mitnichten ein Zivilisationsfeind. Entscheidend bleibt für ihn allerdings immer jener letzte Schritt der Integration von Artefakten in Kultur und Philosophie und damit in das eigene bzw. menschheitliche Innen. Denn bleibt lediglich die Außenseite der Zivilisation für uns real, dann tendiert diese dazu, den Menschen und seine Bedürfnisse unfrei und defizient zu machen, wo jene zivilisatorische Weltaneignung dementgegen die Möglichkeit birgt, den zukünftigen, ‚neuen Menschen‘ („hombre nuevo“194) hervorzubringen, denjenigen, der die zivilisierte Welt durch eine klare Zweck- und Bedürfnisvorstellung beherrscht. Die fortschreitende Formung eines kollektiven bzw. Menschheitsbewusstseins wird von Unamuno zunächst im Sinne der Kulturwerdung von Zivilisation gedacht, dient aber letztlich der Hervorbringung des „hombre nuevo“. Jener kulturierte und zugleich vollkommen freie ‚neue Mensch‘ steht am Gipfel jeglichen Fortschritts, und seinem Vorbild folgt die Bewusstseinserneuerung des gesamten Menschheitskollektivs.195 Dabei geht Unamuno offenbar davon aus, dass das am Außen zu formende menschlich-menschheitliche Innen bereits in irgend einer Weise präexistent ist, denn nach Unamuno befindet sich der (quixotische) ‚neue Mensch‘, der die immaterielle Bedürfnisvorstellung („esencia eterna“) eines Objekts in sich trägt, im Gleichklang mit dem ‚Gesetz des Universums‘ („ley universal“).196 Hier klingt die harmonikale Idee einer Synchronisierung zwischen Mikro- und Makrokosmos, Mensch und Universum an (siehe Kapitel I.3.5.). Unamunos Kritik an einer Vergötzung des Technischen ist verwurzelt in der Überzeugung, dass alle hervorgebrachte Zivilisation ihre Finalität letztlich im Bewusstsein hat: „Todo vive dentro de la Conciencia, de mi Conciencia, todo, incluso la conciencia de mí mismo, mi yo y los yos de los demás hombres.“197 Nach Unamuno bleibt vom Außen der Realität, der Zivilisation, in einer Endzeit lediglich das, was davon ins Bewusstsein eingegangen ist. Übersetzt auf die Gegenwart folgt aus diesem Endzeitbewusstsein, dass alles menschliche Wissen und die daraus hervorgehenden Produkte – Unamuno denkt dabei stets im Hinblick auf die Ewigkeit – 193 Miguel de Unamuno, La ideocracia, S. 435. 194 Siehe ders., Civilización y cultura (1896), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), hrsg. von Manuel García Blanco, Madrid 21965, S. 478. 195 „Un hombre nuevo, un hombre verdaderamente nuevo, es la renovación de todos los hombres, porque todos cobran su espíritu, es un escalón más en el penoso ascenso de la humanidad a la sobre-humanidad. Todas las civilizaciones sólo sirven para producir culturas, y que las culturas produzcan hombres. El cultivo del hombre es el fin de la civilización, el hombre es el supremo producto de la humanidad, el hecho eterno de la historia. ¡Qué hermosura el ver surgir de los detritus de la civilización un hombre nuevo!“ Ebd. 196 „Sólo el que lleva en la cabeza la esencia eterna de la química, quien sepa sentir en la ley de sus afectos la ley universal de los afectos de las partículas materiales, quien sienta que el ritmo del universo es el ritmo de su corazón, sólo ése no tiene miedo al arte de formar y trasformar drogas o al de armar aparatos de maquinaria.“ Ders., VDQ, S. 200. 197 Ders., Civilización y cultura, S. 473.
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
nur im eigentlichen Sinne existieren, insofern sie in Bewusstsein sind.198 ¿Para qué ésta? – die Frage nach dem ‚Wofür‘, der Finalität von Wissen und der daraus hervorgehenden zivilisatorischen Errungenschaften, ist bei Unamuno für deren Gegenstandsbestimmung ausschlaggebend und löst die Frage nach dem ‚Warum‘, dem Ursprung eines Gegenstands oder Phänomens, ab.199 Nach Unamunos Pragmatismus sollten die Gegenstände ‚unserer‘ Realität (oder genauer: unsere Vorstellungen von Gegenständen) völlig in ihrer Funktion und Finalität aufgehen. Umgekehrt gewendet: Erst mit der Einbuße des Eingebundenwerdens in Finalität, dem Nutzloswerden, geht auch das Gegenständlichwerden einer Idee einher. Und gegenständlich geworden, ist das Außen einer Zivilisation dem Vergehen anheimgegeben (dem Leben als Traum). Absolut real, nämlich unvergänglich ist dagegen, was davon in Bewusstsein bleibt. Unamuno erklärt, bei einer Auslöschung der Artefakte etwa der Mechanik würde dennoch das intakte Wissen, welches jene Artefakte hervorbringen konnte, in den menschlichen Verstandeskräften lebendig und übertragbar bleiben („aun destruída la exterioridad de una civilización quedara viva y trasmisible la interioridad de la cultura“).200 Nach Unamuno kann Don Quixote in den Windmühlen Riesen sehen und diese anfallen, weil er in seinem Bewusstsein eine Vorstellung von der Finalität und Funktion der Windmühlen trägt – im unvergänglichen Sinne ‚real‘ sind sie als eine Zweckvorstellung, d. h. als „molinos molederos“.201 Mit ihrer Finalität ist dabei nicht die Befriedung leiblichen Hungers gemeint, den Mehl und Brot stillen, vielmehr dienen jene ‚realen Windmühlen‘ im Innen dem immateriellen Zweck ‚geistiger Nahrung‘, und angesichts dieser ihrer ‚höheren Realität‘ ist es nach Unamuno angebracht, die gegenständlichen, artefaktischen Windmühlen, die jene ‚realen‘ in Materialität und Schein ‚einschließen‘, anzufallen: „[…] sólo quien lleve molinos molederos puede arremeter a los otros, a los aparenciales, a los desaforados gigantes disfrazados de ellos.“202
Die Forderung einer solchen Zweck- bzw. Bedürfnisvorstellung hinter den Objekten macht Unamuno für jegliche Zivilisationsgegenstände geltend:
198 „La ciencia no existe, sino en conciencia personal, y gracias a ella; la astronomía, las matemáticas, no tienen otra realidad que la que como conocimiento tienen las mentes de los que las aprenden y cultivan. Y si un día ha de acabarse toda conciencia personal sobre la tierra, si un día ha de volver a la nada […] y no ha de haber espíritu que se aproveche de toda nuestra ciencia acumulada, ¿para qué ésta?“ Ders., STV, S. 23. 199 Unamuno ordnet die Frage nach dem ‚Warum‘ dem intellektuellen Weltzugang, die Frage nach dem ‚Wie‘ dem natürlichen, und die Frage nach dem ‚Wofür‘ dem volitiven Weltzugang zu, welcher darauf zielt, der Realität Finalität zu verleihen („el para es volitivo, lo natural es el cómo, lo intelectual, el porqué […]“). Siehe ders., Civilización y cultura, S. 479. 200 Ebd., S. 474. Für das Eingehen des zivilisatorischen Fortschritts in das menschliche bzw. menschheitliche Bewusstsein steht bei Unamuno hier die Figur des Robinson Crusoe: „[…] el que es un hombre, todo un hombre, lleva en sí, heroico Robinson, el mundo todo que le rodea, con su cultura civiliza cuanto maneja.“ Ebd., S. 475. 201 Vgl. ders., VDQ, S. 200. 202 Ebd.
II.3. Doppelte Realität
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„Es en la cabeza […] en donde hay que llevar la mecánica y la dinámica y la química y el vapor y la electricidad, y luego…arremeter a los artefactos y armotostes[sic] en que los encierran.“203
Der Weg, eine möglichst innere, immaterielle Vorstellung vom Bedurften in sich zu tragen, verbürgt bei Unamuno das Beherrschen des Außen, das innere Freiheit und Furchtlosigkeit ermöglicht, während Unfreiheit immer als Abhängigkeit vom materiellen Aspekt der Dinge (genauer: Vorstellungen) gedacht wird. So beruht die Sancho zugeschriebene Furcht bzw. Ehrfurcht bei Unamuno eben darauf, dass Sancho dem unmittelbar und sinnlich zugänglichen, d. h. dem äußeren Aspekt der Dinge verhaftet bleibt.204 Insofern jeder Einzelne allerdings immer schon dem Außen angehört205 und daher bei der Vorstellungsbildung des Bedurften an sein Außen gebunden ist, ist er permanent der Gefahr ausgesetzt, sein Denken vom Außen beherrschen zu lassen. Denn Unamunos existenzialistischer Grundsatz, nach dem das Sein dem Denken vorausgeht,206 beinhaltet mit dem Existieren gewissermaßen zugleich immer schon, einem unausweichlichen Außendruck ausgesetzt zu sein; es ist dieser Außendruck, von dem der Einzelne sich befreien muss. Zum Erlangen jener Freiheit setzt sich Don Quixote als Idee seiner selbst, und diese Ideesetzung spricht für das Folgende: Es ist nicht möglich, die uns umgebende Realität zu wählen, die Freiheit der Wahl zu erlangen besteht jedoch darin, sich selber – d. h. auch: den eigenen Realitätszugang – zu wählen. Erst der Mensch, der sich derart entscheidet, sich selbst zu wählen, kann frei sein. In diesem Sinne stellt die Bindung eine Voraussetzung für Freiheit dar.207 Diese existenzphilosophische Auffassung von Freiheit findet sich ausgeprägt in Kierkegaards Schrift Entweder – Oder, in welcher der Schritt der Selbstwahl („Mich selbst kann ich absolut wählen, und daß ich mich selbst absolut wähle, ist meine Freiheit […].“208) sich mit dem Abwerfen der ästhetischen und dem Erlangen der ethischen Lebensanschauung verbindet (mit dem „Entweder – Oder zwischen dem ästhetischen und ethischen Leben […]“209). Gerhards Eintrag in einem 203 Ebd. 204 Dennoch kann Sancho bzw. der Sancho-Mensch bei Unamuno für die quixotische locura empfänglich sein, siehe Kapitel II.3.2. 205 Dies lässt sich Unamunos Satz entnehmen, nach dem das Meinige dem Ich vorausgeht („Lo mío precede al yo […]“). (Ders., Civilización y cultura, S. 472.) Bevor das Ich sich an der Außenwelt realisieren und zu sich selbst kommen kann, ‚gehört‘ es bereits der Welt an. Vgl. ebd., S. 472 f. 206 Dieser Grundsatz verbindet sich mit Unamunos Kritik an Descartes’ cogito. Für Unamuno ist das denkende Ich Descartes’ ein ideales und irreales Ich, die Abstraktion vom fühlenden und wollenden Menschen. (Siehe ders., STV, S. 25 f.) Unamuno kehrt Descartes’ Dictum um und behauptet: „La verdad es sum, ergo cogito […].“ (Ebd., S. 26.) Er legt dabei nahe, dass das Bewusstsein zu denken v. a. ein Bewusstsein des Existierens sei und bezweifelt die Möglichkeit eines reinen Denkens. Vgl. ebd. 207 Hierzu korrespondiert Gerhards dialektischer Begriff von Freiheit, siehe Kapitel I.3 und I.3.5. 208 Sören Kierkegaard, Philosophische Schriften: Entweder – Oder. Philosophische Brocken. Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, Frankfurt a. M. 2008, S. 491. 209 Vgl. Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, S. 487.
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seiner Notizbücher weist auf die Auseinandersetzung mit jenem existenzphilosophischen Freiheitsbegriff hin: „purpose = end Purposefullness = ways and means Purpose of purposefulness: existence in the existencialist meaning of the word. Neg[ative]-entropy! Guido de Ruggiero: Existentialism (preface by Heppenstall) Kierkegaard ‚either/or‘ means: whether one is going to chose choice or to decide not to chose it, i. e. to allow choice to be made for me by objective contingent necessity.“210
Kierkegaard äußerte (unter dem Pseudonym Victor Eremita), der Mensch werde bei jener Selbstwahl, „ganz derselbe, der er zuvor war, bis auf die unbedeutendste Eigenheit; und doch wird er ein anderer, weil die Wahl alles durchdringt und verwandelt. In der Wahl, da der Mensch unendlich sich selbst wählt, wird die endliche Persönlichkeit zur unendlichen.“211
Und jene Wahl wiederhole sich in jeder folgenden Wahl.212 Die Ideewerdung Don Quixotes ist vergleichbar mit jener Selbstwahl. Auch auf Don Quixotes Ideewerdung trifft es zu, dass das gesetzte Selbst, das Ideal des fahrenden Rittertums, „alles durchdringt und verwandelt“ und darin einer Setzung von Perspektivität gleicht, die den Dingen Finalität verleiht. (Dabei wäre die Kraft des Glaubens unabdingbar, um wiederum dem Rittertum-Ideal Finalität zu verleihen.) Insofern Dinge durch ihre Finalität bestimmt sind, geht bei Unamuno alle Weltaneignung vom Bewusstsein bzw. vom Subjekt aus. Je weiter ein Subjekt dabei die äußerlichen Kategorien des ‚sentido común‘ überwindet und Zugang zu seinem innersten Bedürfen und jenem Weltgesetz der ‚ley universal‘ erlangt, desto näher gelangt es in Kontakt mit der unvergänglichen Realität der Dinge, die eine Realität des Innen ist. Dementsprechend kann Don Quixote, wo der ‚sentido común‘ eine Barbierschüssel sieht, den Helm des Mambrín sehen; dies gemäß seines Ideals, d. h. weil er in Kontakt mit seinem Innen steht (in der Frage, ob sein Innen auch mit der ‚ley universal‘ in Kontakt steht, kann keine Gewissheit bestehen, ehe das Ideal in Existenz gebracht wurde). Unamuno verteidigt diesen im Innen entspringenden Realitätszugang. Er rechtfertigt Don Quixotes Anfallen der Windmühlen. Denn nicht nur bindet die Außenseite der Zivilisation den Einzelnen im schlechtesten Fall ans Materielle und Vergängliche, sie hemmt tendenziell auch den Fortschrittsprozess, weil ihre Gegenständlichkeit die Erneuerung und das Fortschreiten des Menschen bzw. menschlichen Bedürfens hin zu seiner eigenen Vervollkommnung blockiert. So plädiert Unamuno für ein radikales Abwerfen der äußerlich und ‚tot‘ gewordenen Elemente von Zivilisation: 210 Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 10.142, S. 5 (Rückseite)/S. 6. Bei dem von Gerhard notierten Buchtitel handelt es sich um Guido de Ruggiero, Existentialism, hrsg. von Rayner Heppenstall, London: Secker and Warburg 1946; eine Schrift, in welcher die Existenzphilosophie bei Karl Jaspers, Martin Heidegger und Gabriel Marcel dargestellt wird, wobei Kierkegaard als geistiger Ahnherr jener Existenzphilosophen erscheint. 211 Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, S. 491. 212 Vgl. ebd., S. 487.
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„*Todo lo externo de la civilización es la matriz que contiene los elementos de cultura aún ni individualizados […], las reservas nutritivas de nuestros espíritus. Pero contiene a la vez los detritus, residuos y excrementos, y cuando éstos sobrepujan a aquellos otros elementos, la desintegración empieza y avanza. Hay que ayudar a la secreción y fomentar el proceso descompositivo; hay que libertar la cultura de la civilización que la ahoga; hay que romper el quiste que esclaviza al hombre nuevo.*“213
Gerhards Betrachtung des alten tonalen Systems im Sinne einer ‚toten‘ Idee, die überwunden und erneuert werden muss (als „[…] maybe the central thought in all Western music, a thought that wanted ‚to keep on being thought upon‘“214), scheint mir geprägt zu sein von Unamunos zivilisationskritischem Geschichtsdenken, bei dem der Wirk- und Lebenszyklus215 einer Idee mit ihrem ‚Geäußertwerden‘ (im Buchstaben oder im Zivilisationsprodukt) zugleich dem Risiko anheimfällt, zu seinem Ende zu kommen. An zwei Stellen von Don Quixotes Ideewerdung wird der Gedanke des Sterbens um zu leben relevant, zum einen in Bezug auf Don Quixotes Vernunft-Opfer zu Beginn seiner Laufbahn als fahrender Ritter, zum anderen in Bezug auf seinen Tod und seine quasi ‚Auferstehung‘ bzw. das Fortleben der quixotischen locura in Sancho. Hierauf verweist die Schlussgestaltung von Gerhards Ballett (siehe Kapitel III.4.1), und auf jenes Sterben einer Idee um zu leben verweist Gerhard auch in Bezug auf das Neue in der Kunst. Der dabei zitierte Ortega y Gasset erweist sich diesbezüglich als deckungsgleich mit Unamuno: „Ortega y Gasset […] insists, in his Meditations of a Quixote, on the heroic sense that ‚the eternal resistance to the habitual and customary‘ has in the artist. He does not think there exists a deeper kind of originality than this, his ‚practical‘, active originality in which every movement he makes has needed first to defeat custom and invent a new form of gesture…’a constant tearing of that part of oneself submitted to habit, prisoner of matter’. Certainly, the new cannot be produced without tearings, erosions, and even moments of delirium. One shouldn’t forget either that Don Quixote doesn’t remain definitively defeated but that he recovers.“216
Die Auffassung von Gegenständen wird vor dem Hintergrund eines zu überwindenden ‚Außendrucks‘ zu einer Angelegenheit des Bewusstseins, des Bedürfens, des Subjekts. Durch das Zweck und Finalität setzende Bedürfen lässt sich die äußere Realität beherrschen, die als Gegenständlichkeit ansonsten das Innen des Menschen beherrschen würde. Je nach Stärke des Wollens, d. h. des Bedürfnisses, der Welt Finalität zu verleihen, wird ein Mensch die an Äußeres und Endliches gebundene Vorstellungskraft überwinden. Don Quixote kann den Helm des Mambrín sehen, weil der Impuls des Bedürfens bei ihm weniger dem Außen verhaftet ist, als dies beim ‚sentido común‘-Menschen der Fall ist. Nach diesem Verständnis bedeutet Weltaneignung, der Objektwelt Finalität zu geben. 213 Miguel de Unamuno, Civilización y cultura, S. 479. 214 Siehe Anm. 249, Kapitel I.3.3. 215 Unamuno denkt eine Idee im organischen Sinne eines Lebenszyklus; lebendig ist die Idee, wenn sie im Innen ist, mit ihrem Geäußertwerden geht zugleich das Risiko ihrer Aushöhlung einher. „La letra que protege y encarna el espíritu naciente, le mata adulto. Así sucede también que la palabra, que engendra y cría la idea, la sofoca por fin, […].“ Miguel de Unamuno, Civilización y cultura, S. 476. 216 Roberto Gerhard, The Muse and Music today, S. 222.
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
II.3.2 Doppelte Realität und Quixotisierung Vor dem Hintergrund von Unamunos Ableitung von Wissen und Realität aus dem Wollen lässt sich annehmen, dass das Konzept einer doppelten Realität in Gerhards Ballett217 nicht auf zwei prinzipiell gegensätzliche Welten abzielt (etwa der des Ideals gegenüber der Realität), sondern sich vielmehr auf graduell unterschiedlich ausgeprägte Wollensantriebe zurückführen lässt, die unterschiedliche (hier: zwei extrem differierende) Sichtweisen auf die gleiche Realität hervorbringen – zwei unterschiedliche Realitätszugänge. Wie in Kapitel II.1.2 ausgeführt wurde, erschließt Unamunos zweifache Unterscheidung des Wollensantriebs, erstens als Selbsterhaltungsinstinkt im Dienst der Überlebenssicherung, und zweitens als Perpetuierungsinstinkt im Dienst der Unsterblichkeit, im ersten Fall ein sinnesgeleitetes Erkenntnisinstrumentarium, im zweiten Fall das Erkenntnisinstrumentarium des „sentido social“,218 der Liebe und des Imaginationsvermögens, zu dem eine angenommene ‚höhere Realität‘ korrespondiert. Diese beiden Wollensantriebe und Realitätszugänge lassen sich den beiden Protagonisten des Balletts, Sancho und Don Quixote, zuordnen. Der ‚realistische‘ Realitätszugang Sanchos erschließt dabei gegenständliche und vergängliche Aspekte von Realität und beruht auf dazu korrespondierenden sinnlichen Bedürfnissen.219 Dementsprechend besteht Sanchos Motivation, um Don Quixote auf seinen Ausfahrten zu folgen, nach Unamuno in Habgier („codicia“220), d. h. einer Gier nach materiellen Reichtümern, während Don Quixotes Antrieb die Sucht nach ewigem Ruhm ist („ambición de gloria“221), und in diesem Sinne das Unsterblichseinwollen. Dabei behauptet Unamuno, dass Sanchos „codicia“ von Anbeginn an ein (zunächst verborgener) Grund an „ambición“ (d. h. jenes ‚höheren‘ Antriebs) innegewohnt habe, der in dem Maße hervorgetreten sei, in dem er in Sancho den ‚niederen‘ Antrieb der Habgier verdrängt und es ermöglicht habe, dass Sanchos Gier nach Gold sich letztendlich in eine Gier nach Ruhm („sed de fama“) transformiert habe.222 Unamunos Annahme dieses zunächst noch verborgenen ‚höheren‘ Antriebs in Sanchos Habgier verweist bereits zu Beginn des Romans auf Sanchos latentes Potenzial zum quixotischen Heroen und wird von Unamuno zur These einer im Roman fortschreitenden Quixotisierung Sanchos entwickelt. So sieht Unamuno etwa in Sanchos Akt, Don Quixote als 217 Gerhard unterscheidet in seinem Ballett diejenigen Figuren, die nur in Don Quixotes Phantasie existieren von der Figurengruppe der realen Figuren, der etwa Sancho zugehört, siehe Anm. 28, Kapitel III.2. 218 Siehe Anm. 78, Kapitel II.1.2. 219 Nicht zufällig betont Unamuno in seinem Kommentar der Romanepisode zu Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter (DQ I/11), dass Sancho während jener Rede schweigt, Eicheln isst und häufig den Weinschlauch besucht (vgl. Miguel de Cervantes, DQ I/11, S. 90 und Miguel de Unamuno, VDQ, S. 216), ihm also die Befriedung sinnlicher Bedürfnisse, das Essen und Trinken, den Sinn für ein ‚höheres‘ Bedürfen (eine Sublimierung des Wollens) vernebeln. 220 Miguel de Unamuno, VDQ, S. 195. 221 Ebd. 222 Vgl. ebd. Damit geben sich Selbsterhaltungs- und Perpetuierungstrieb als ineinander transformierbare, nur graduell voneinander verschiedene zu erkennen, als niedere oder höhere Ausprägungen desselben Wollens (siehe Kapitel II.1.2).
II.3. Doppelte Realität
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Schildknappe zu folgen, einen Beweis größter Glaubenskraft, denn das Vorliegen eines Quixotismo sei umso sicherer, wenn ein Verständiger (Sancho) einem Wahnsinnigen nachfolge, als im Fall des Wahnsinnigen, der seinem eigenen Wahn folgt.223 Sanchos Glaubenskraft sei zu bewundern, da sie ihn ohne Sinnesbeweis (über den Weg des ‚Glaubens ohne gesehen zu haben‘) ‚in die Unsterblichkeit des Ruhms‘ führe.224 Unamuno geht davon aus, dass Sancho, obwohl er eigentlich Einsicht in den Wahnsinn Don Quixotes hat, sich dennoch von dessen Glauben an den Wahn mitreißen lässt und sieht dabei wunderbare, gegenüber jedem desengaño widerstehende Glaubenskraft am Werk.225 Sanchos Leben bezeichnet Unamuno als ‚eine langsame Hingabe seiner selbst an jene Macht des quixotesken und quixotisierenden Glaubens.‘226 In der Schlussbildung von Gerhards Ballett II, in welchem das Übergehen von Don Quixotes locura auf Sancho inszeniert wird (siehe Kapitel III.4.1), findet sich Unamunos Gedanke von der Quixotisierung Sanchos wieder. Jene späte Fassung gibt sich eindeutig als vom Gedankengut Unamunos inspiriert zu erkennen.227 Zwar könnte das Thema einer doppelten Realitätsansicht im Ballett (Gerhards Gegenüberstellung der einerseits ‚spanisch, sanchoesk, realistischen‘, und der andererseits ‚surrealistischen, quixotesken‘ Sphäre228) auch einen Charaktergegensatz zwischen Don Quixote und Sancho nahelegen.229 Doch so einfach liegen die Verhält223 Vgl. ebd., S. 197. 224 Ebd., S. 195. Als Beweis von Sanchos Quixotisierung führt Unamuno die Romanepisode DQ II/33 an. Im Gespräch mit der Herzogin, die Sancho diejenige Romanepisode erklären soll, in welcher Sancho gegenüber Don Quixote die erste beste Bäuerin, die sie treffen, als ‚verzauberte Dulcinea‘ ausgibt (DQ II/9, 10), beginnt Sancho an seinem eigenen Betrug der verzauberten Dulcinea zu zweifeln und lässt sich von der Herzogin für einen Moment einreden, dass jene von ihm als Dulcinea ausgegebene Bäuerin, „die den Sprung auf ihre Eselin tat,“ tatsächlich Dulcinea gewesen sei und jener Einfall Sanchos „in der Tat eine Erfindung der Zauberer war, die den Señor Don Quijote verfolgen.“ Miguel de Cervantes, DQ II/33, S. 806. 225 Miguel de Unamuno, VDQ, S. 349 f. 226 Vgl. ebd., S. 350. 227 Hierauf verwies erstmals Eckhard Weber, siehe Anm. 265, Kapitel II.4.1. 228 Siehe Anm. 37. Kapitel III.2. 229 Der Gedanke der Opposition zwischen Sancho und Don Quixote findet sich durchaus noch im Moderationstext zur Radioübertragung der Don Quixote-Suite Nr. 1, der Bearbeitung des Balletts I für Kammerorchester (siehe Kapitel III.1). (Der Verfasser des Textes ist unbekannt, aber es ist wahrscheinlich, dass es sich um Gerhard handelt.) Darin ist davon die Rede, dass die Episoden einen Handlungsstrang über zwei dramaturgischen Hauptlinien entwickelten, und zwar einerseits der Entwicklungslinie Don Quixotes, die im Abenteuer mit den Galeerensträflingen und Don Quixotes Sieg über die Cuadrilleros der Heiligen Brüderschaft kulminiere, und welche ihre absteigende Handlung mit der Gefangenschaft Don Quixotes durch die Initiative von Priester und Barbier und seine Rückkehr in sein Heimatdorf in einem von den Cuadrilleros bewachten Ochsenkärrner-Käfigs finde, und andererseits der dazu ‚in der Art eines Kontrapunkts‘ („a modo de contrapunto“) gesetzten Entwicklungslinie Sanchos, die mit der ‚Verzauberung‘ Dulcineas zu ihrem Höhepunkt komme und ihren Abstieg mit den Geißelungshieben finde, die sich Sancho gebe bzw. vorgebe sich zu geben. Siehe [Verfasser anonym], „Don Quijote“, (undatiertes Radioskript, spanisch), CUL 11.20/2. Zuspitzend könnte man hier von einem Don Quixote-Handlungsstrang und einem diesen ‚kontrapunktierenden‘ Sancho-Strang sprechen.
222
II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
nisse in Gerhards später Ballettfassung nicht. Denn hier wird v. a. die gemeinsame Gegnerschaft der beiden Protagonisten gegenüber ihren ‚Widersachern‘ betont: In der Anfangsszene des späten Ballettszenarios (13.11) steht die Loyalität Sanchos gegenüber seinem Herrn von Anfang an fest; bei seinem ersten Auftreten im Ballett bildet er zusammen mit Don Quixote ein ‚Team‘, das gegen die ‚Widersacher‘ beider eingestellt ist. „[Ziffer] 9
[…] SANCHO, reisebereit, vital, abenteuerlustig; hilft D. Q. die Rüstung an[zu]legen,reicht ihm dann Schield[sic] und Lanze.
Drei Takte vor 11
HAUSHÄLTERIN, NICHTE (bestürtzt[sic], D. Q. anflehend) PRIESTER und BARBIER (misbilligend[sic], abratend) pas de quatre
12
Sancho bringt Schield[sic] und Lanze, schiebt Priester und Barbier beiseite[.]
5 Takte nach 12
D. Q. gibt Zeichen zum Aufbruch; D. Q. und Sancho feierlich ab. Quartet[sic] statisch, wie versteinert.“230
Sowohl Don Quixote als auch Sancho erweisen sich hier als vom Wollen getriebene, während ihren ‚Widersachern‘ jegliches Verständnis für die quixotische locura abgeht. Eine weitere mit der Quixotisierungsthese verbundene Idee Unamunos, die einer Don Quixote-Sancho-Opposition entgegensteht, ist die einer gegenseitigen Ergänzung der Seelen von Don Quixote und Sancho. Unamunos endzeitliche Utopie besteht in der Integration jeder individuellen Seele in einen Kollektivkörper, ein einziges kollektives Bewusstsein (siehe Kapitel II.4.3), und diese Utopie könnte nach Unamuno bereits in der Fusion zweier Seelen, zu einer Supraseele, derjenigen Don Quixotes und Sanchos, verwirklicht werden: „*[…] Don Quijote y Sancho marcharon juntos y mezclados; pero si se fundieran en uno, ¡qué portentoso espíritu no surgiría de tan sublime fusión! No sería ya un hombre, sino un Dios.*“231
Indem Don Quixote und Sancho einander demnach zu einem gemeinsamen Ganzen komplettieren, lässt sich sehen, dass Unamuno jene beiden Figuren weniger als Gegensätze, denn als Komplemente versteht, gleichsam als unterschiedliche Seiten der gleichen Supraseele, oder der gleichen locura. Die Auffassung Sanchos als zu Don Quixote komplementärer Persönlichkeit kommentiert Unamuno bereits in Bezug auf die erste gemeinsame Ausfahrt der Protagonisten: „Ya está completado Don Quijote.“232 Wie Unamuno meint, sei Don Quixote auf Sancho angewiesen, um in Sancho die Resonanz seines Denkens und Redens in der gesamten Menschheit zu hören („para oír rechazo vivo de su voz en el mundo“), denn Sancho stelle für Don Quixote den Chor der gesamten Menschheit dar.233 Gewissermaßen realisiert sich 230 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 1. 231 Miguel de Unamuno, Soledad (1905), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 892. Unamuno äußert diesen Gedanken im Zusammenhang mit der Fusion von Ideen und Fühlweisen, siehe Anm. 336, Kapitel II.4.3. Zur Union zweier Seelen, welche nach Unamuno das Werk der gesamten Welt aufwiegen würde, siehe auch ders., STV, S. 156. 232 Ders., VDQ, S. 194. 233 Vgl. ebd. Weiter realisiere Don Quixote in seiner Liebe zu Sancho seine Liebe zur gesamten
II.4. Don Quixote als Chiffre für Spanien
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Don Quixote als Idee seiner selbst an Sancho, so wie sich jede Selbstwerdung an der Welt realisiert. Dieser Selbstrealisierungsprozess schreitet in dem von Unamuno angenommenen Prozess der Quixotisierung Sanchos fort. II.4. DON QUIXOTE ALS CHIFFRE FÜR SPANIEN II.4.1 Don Quixotes Tod und das Leben als Traum Die quixotische locura stellt sich nach Unamuno als ein Träumen von ewigem Leben dar. Ein solches ewiges Leben wird bei Unamuno als ‚sobrevida‘ oder auch „intravida“234 bezeichnet. Damit ist nicht etwa ein Nachleben im Jenseits gemeint,235 Unamuno bezieht sich hierbei vielmehr auf diejenigen Aspekte gegenwärtig gelebten Lebens, die von der Mit- und Nachwelt in Bewusstsein erhalten, d. h. gedacht und erinnert werden. Das Leben für die Ewigkeit vollzieht sich derart im zeitlichen Handeln und Existieren. Den Sprecher A236 im Essay Sobre la filosofía española lässt Unamuno sagen, wir träumten das Leben und lebten das ewige Leben („*[…] Estamos soñando la vida y viviendo la sobrevida, créemelo…*“).237 Dabei wird Don Quixote als derjenige bezeichnet, der eben jene ‚sobrevida‘ lebt.238 Und während jene Vorstellung der ‚sobrevida‘ dem Sprecher B als krankhafter Wahn erscheint (er spricht von Don Quixotes „delirios respecto a la perpetuación y la sobrevida“239), bildet die ‚sobrevida‘ für jenen Sprecher A des Essays das gedankliche Zentrum des quixotischen Heroismus („*– Es que no habéis llegado a la raíz del heroismo quijotesco, y no comprendéis que no caben Quijotes sin anhelo de inmortalidad. […]*“240). Im Zusammenhang mit der ‚sobrevida‘ wird geäußert, wir träumten das Leben. Der Gedanke des Lebens als Traum ist für Unamunos Denken zentral,241 und seine Auslegung desselben wird immer wieder abgegrenzt von einer möglichen phänomenologischen und nihilistischen Auslegung jener Traum-These. Mit der TraumThese wird Leben als Traum bzw. Bewusstseinsinhalt postuliert, doch dies zielt bei Unamuno gerade nicht auf die Nichtigkeit und Flüchtigkeit von Leben und auf die aus solcher Nichtigkeit resultierende ethische Konsequenz einer (gewissermaßen trotzigen) Hinwendung zu sinnlich-vergänglichem Genuss, zur schönen Illusion
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Menschheit, denn als Nächsten, und nicht als Gemeinschaft liebe man, so Unamuno, andere: „[…] amor que no cuaja sobre individuo, no es amor de verdad.“ Ebd. Siehe ders., Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 751. Siehe ebd. Siehe Anm. 86, Kapitel II.1.2.1. Miguel de Unamuno, Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 747. Siehe ebd., S. 749. Ebd., S. 749. Ebd. Siehe auch: „Nada se pierde, nada pasa del todo […], y todo, luego de pasar por el tiempo, vuelve a la eternidad. Tiene el mundo temporal raíces en la eternidad […]. Ante nosotros pasan las escenas como en un cinematógrafo, pero la cinta permanece una y entera más allá del tiempo.“ Ders., STV, S. 126.
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
und zum Ästhetischen als Palliativum, um Leben und Leiden erträglicher zu machen – eine Haltung, die Unamuno Don Quixotes ‚Widersachern‘ zuschreibt und auch als „intelectualismo esteticista“242 oder als ‚ästhetische Position‘ gegenüber dem Leben bezeichnet, bei der das Leben als Schauspiel bzw. Welttheater betrachtet würde.243 Im Gegenteil kann Unamuno, vor dem Hintergrund der Traum-These, die Substanzialität und Allheit von Leben verkünden, weil er von der Unvergänglichkeit von Bewusstsein und Bewusstseinsinhalten als Substanz alles Existierenden ausgeht. Aus dem Erfahren und Fühlen des eigenen Bewusstseins im intimen Kontaktmoment von Bewusstsein und Außen244 folgt nach Unamuno der Glaube an die eigene substanzielle Existenz („existencia sustancial“) und das Bestreben (Wollen), das eigene Bewusstsein (die eigene Existenz) zu extendieren, d. h. Spuren im Bewusstsein der Anderen zu hinterlassen.245 Für das Existieren im substanziellen Sinn kann es demnach keinen anderen Beweis geben, als jenes Sich-selbst-Fühlen des Einzelnen als Bewusstsein und Wollen.246 Dem Glauben an die Vergänglichkeit 242 Siehe ders., ¡Plenitud de plenitudes y todo plenitud! (1904), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 767. Als Vertreter dieses „intelectualismo esteticista“ betrachtet Unamuno Ernest Renan, siehe ebd. 243 „Esa concepción, o mejor dicho, ese sentimiento hipnótico del mundo y de la vida, nos lleva a adoptar frente al mundo una posición estética, a tomarlo como espectáculo.“ (Ebd., S. 766.) Für diejenigen, die die Substanzialität von Bewusstsein negieren, kann das Leben, nach Unamuno, folglich nichts anderes sein, als eine vorbeiziehende Komödie zur Belustigung der Götter: „En la Odisea se dice que los dioses traman y cumplen la destrucción de los mortales para que los venideros tengan algo que cantar […].“ Ebd., siehe auch ders., VDQ, S. 509. 244 Unamuno spricht in Bezug auf das Fühlen des eigenen Bewusstseins (der eigenen Seele) nicht von einem sinnlichen, sondern von einem spirituellen Fühlen der eigenen Seele und ihres Gewichts (siehe ders., ¡Plenitud de plenitudes y todo plenitud!, S. 755). Dieser Kontakt ist für Unamuno nicht anders denkbar, denn zugleich als ein Kontakt mit der Welt im eigenen Inneren: „Mala cosa es que al recostarte en tierra no sientas a lo largo de tu cuerpo el toque de la tierra […]; pero peor es que al recibir en tu espíritu el mundo no sientas el toque del mundo, y que es firme y sólido y pleno, con plenitud de plenitudes y todo plenitud.“ Ebd. 245 Vgl. ebd., S. 759. „¿Cómo un hombre que crea de veras en su propia existencia va a no intentar sellarla en todo y ligarla a todo y a todo comunicarla? *¿Cómo un hombre que crea de veras en su propia existencia va creer en su propia muerte, en su muerte existencial?* Porque en la aparencial nos fuerza a creer el mundo aparencial que nos rodea.“ (Ebd.) Unamuno beschreibt hier eine Extension des Bewusstseins. Diesbezüglich referiert er auch auf den Ausdruck „apetito de divinidad“ des Jesuitenpaters Alonso Rodriguez (1526–1616) (siehe ders., VDQ, S. 509 wie auch den entsprechenden, von Gerhard markierten Textabschnitt in ders., La locura del Doctor Montarco (1904), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 691.) Mit der Aufnahme möglichst des gesamten uns umgebenden Außen in das eigene Innen ergibt sich für Unamuno das Problem, wie wir vom Außen angeeignet werden können, ohne zugleich unser Ich aufzugeben. Gerhard markiert und unterstreicht hierzu zwei Textabschnitte in einem weiteren Essay Unamunos, von denen der eine folgendermaßen lautet: „*Y el secreto de la vida humana, el general, el secreto raíz de que todos demás brotan, es el ansia de más vida, es el furioso e insaciable anhelo de ser todo lo demás sin dejar de ser nosotros mismos, de adueñarnos del universo entero sin que el universo se adueñe de nosotros y nos absorba; es el deseo de ser otro sin dejar de ser yo, y seguir siendo yo siendo a la vez otro; es, en una palabra, el apetito de divinidad, el hambre de Dios.*“ Ders., El secreto de la vida (1906), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 1041. 246 Jene Begründung von Existenz aus dem Wollen steht für Unamuno über jeglicher rationaler Begründung: „Uno de esos hombres que han perdido el sentimiento de contacto de su propio espíritu, me preguntó una vez: *‚¿Y en qué va a fundarse la creencia en la propia persistencia
II.4. Don Quixote als Chiffre für Spanien
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der Welt und an die fatalistische Wiederholung im Sich-Ereignenden – dem von Unamuno so bezeichneten ‚Bewusstsein der Auflösung‘ („Espíritu de la Disolución“) mit dem Lebensmotto „¡vanidad de vanidades y todo vanidad!“ – hält Unamuno die permanente Erneuerung und Unvergänglichkeit in allem Sich-Ereignenden entgegen, einen „Espíritu de Creación“ mit dem Lebensmotto „¡plenitud de plenitudes y todo plenitud!“.247 Dieser führe gegenüber ersterem zu fundamentalen Unterschieden in Lebensgefühl und Lebenspraxis, auch wenn man sich womöglich verbal und intellektuell auf eine gemeinsame Anschauung einigen könne,248 und man könnte hinzufügen: auch wenn die Traum-These für beide Positionen eine Rolle spielt. Die im Zusammenhang mit der ‚sobrevida‘ geäußerte These, wir träumten das Leben, bietet bei Unamuno zwar die Chance der Substanzialität von Leben; sie bleibt aber ambivalent, da letztlich nie völlig gewiss sein kann, ob der Traum des Lebens tatsächlich in die Unvergänglichkeit eingeht249 (ein Leben in Untätigkeit könnte durchaus nichtig sein). Man kann dies folgendermaßen verstehen: Die Vermitteltheit ‚unserer‘ Realität250 durch menschliche Vorstellung lässt das Leben als Traum erscheinen, und so wie alle Realität, so muss auch der Traum von der ‚sobrevida‘, von der wir, so lange wir existieren, keine Gewissheit haben, im Innen beginnen. Damit jener Traum allerdings nicht nichtig bleibt und zum Leben im Sinne einer ‚sobrevida‘ wird, muss er gelebt und realisiert werden. Das ewige Leben ist an Taten und Werke, und insofern nicht allein an Erträumtes, sondern an Existierendes gebunden; es manifestiert sich im Traum, der Werke hervorbringt. Der Lebenals-Traum-Gedanke beinhaltet folglich zwei Aspekte: erstens die Traumhaftigkeit allen Lebens (mit dem potenziellen Risiko, ein Traum möge ungelebt und nichtig bleiben), und zweitens die Chance, vermittels des Traums von Leben, Leben als ewiges Leben zu leben, d. h. die ‚sobrevida‘.251
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inacabable?‘ Y hube de contestarle: ‚En que lo quiero, en que quiero persistir.‘ Como buscaba razones, se me quedó mirando extrañado.“* Ebd., S. 757. Siehe ebd., S. 762 und passim. Vgl. ebd., S. 763 f. Siehe auch ders., ¡Plenitud de plenitudes y todo plenitud!, S. 766. Jene Realität bezeichnet Fernández auch als ‚subjektive Realität‘, eine durch unser bewusstes Wahrnehmen und Erkennen herausgefilterte, gegenüber der ‚objektiven Realität‘, siehe Pelayo H. Fernández, Miguel de Unamuno y William James. Un paralelo pragmático, S. 78–81. Dem Traum vom ewigen Leben und von der Substanzialität von Leben kommt bei Unamuno eine kollektiv identitätsstiftende Funktion zu. Sein Sprecher A sieht in jener Philosophie der „sobrevida“ die ureigene, aber nur latent bewusste und noch zu Bewusstsein zu erweckende ‚Philosophie‘ des spanischen pueblo (Philosophie wird dabei verstanden als „[…] la visión total del universo y de la vida a través de un temperamento étnico“, Miguel de Unamuno, Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 739). Er legt nahe, dass das quixotische ‚Sehnen nach Unsterblichkeit‘ („anhelo de inmortalidad“) insbesondere vom spanischen Volk gefühlt werde und ist überzeugt, dass Spanien aufhörte zu existieren, falls jener Drang einmal komplett aus der Masse des spanischen Volkes verschwände. (Siehe ebd., S. 749 und weiter ders., VDQ, S. 522.) Aufgrund jener im spanischen Volk latenten Philosophie hegt Sprecher A die Hoffnung, dass die Masse des Volks niemals der unsubstanziellen Auffassung vom Leben als Traum verfallen könnte, jenem ästhetizistischen Konzept des Lebens als Welttheater, mit dem propagiert werde,
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
Im Zusammenhang mit Don Quixotes Tod kehrt der Leben-als-Traum-Gedanke in Unamunos Romankommentar VDQ (1905) wieder. In Cervantes’ Roman geht Don Quixotes Tod mit dem Rückgewinn seiner Vernunft einher, d. h. mit der Aufgabe der locura und der Rückverwandlung in Alonso Quijano. Auf seinem Sterbebett erkennt Don Quixote, dass das Lesen der Ritterbücher seinen Verstand umnebelt habe, er erkenne nun „ihren Unsinn und ihren Trug“ und bedauert, dass ihm jene Erkenntnis seines Irrtums so spät gekommen sei, dass er „keine Zeit mehr habe, ihn einigermaßen wieder gutzumachen und andre Bücher zu lesen, um meine Seele zu erleuchten.“252 Zudem wünscht er, nicht mehr Don Quijote von der Mancha zu sein, sondern Alonso Quijano der Gute. Er sei jetzt „ein Feind des Amadís von Gallien und der unzähligen Schar seiner Sippschaft […].“253 Jene rückblickende Einschätzung des Rittertum-Ideals als Irrtum könnte Alonso Quijano zuletzt auf die Seite derer rücken, die nach Unamuno als ‚Widersacher‘ Don Quixotes gelten müssten. Auf deren Seite erscheint die Fiktionalität von Erzählungen als Gefahr für die Geistesgesundheit, die zum Realitätsverlust führt (siehe Kapitel II.2.2). Sie halten sich an die endlichen und gegenständlichen Aspekte von Realität. Jedoch gewinnt Unamuno der mit Don Quixotes Tod einhergehenden Entsagung von der locura (jenem desengaño) eine andere Bedeutung ab. Nach Unamuno enthüllt sich Don Quixote im Licht des Todes die Traumhaftigkeit (oder Illusionshaftigkeit) seines Rittertum-Ideals (seiner locura), und Unamuno widerspricht nicht, sondern bekräftigt vielmehr, dass letztlich alles Leben ein Traum sei.254 Erkenntnistheoretisch zielt dies darauf ab, dass jegliche Realität für Unamuno stets nur eine menschliche Vorstellung von Realität (‚unsere Realität‘) sein kann. Der Traumcharakter der locura stellt daher kein Manko dar. Im Gegenteil erweist sich die locura rückblickend und im Licht des Todes nicht als unwirklicher und dem Vergessen anheim gegebener Traum, sondern als geglaubte und lebensbefördernde Vorstellung bzw. Illusion (in Bezug auf Sanchos locura spricht Unamuno vom „engaño vivificante“255), die dazu führt, das eigene Leben als substanzielles zu leben. Aufgrund dessen besteht bei Unamuno eine logische Verbindung zwischen ‚Verstand‘ („cordura“) und ‚Tod‘ einerseits, und locura und ‚Leben‘ andererseits:256 Gewis-
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sich in allem zu amüsieren, da ohnehin alles dem Vergessen anheim gegeben sei. Siehe ders., Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 747. Miguel de Cervantes, DQ II/74, S. 1097. Ebd. „¡Pobre Don Quijote! […] a la luz de la muerte, confiesa y declara que no fue su vida sino sueño de locura. ¡La vida es sueño! Tal es, en resolución última, la verdad a que con su muerte llega Don Quijote […].“ Miguel de Unamuno, VDQ, S. 506 f. Siehe ebd., S. 513. Mit Blick auf den sterbenden Don Quixote nimmt Unamuno Bezug auf die lebensbefördernde Funktion der quixotischen locura, indem er argumentiert, dass auch der (irdische und augenscheinliche) Tod ein Traum, also eine menschliche Vorstellung vom Tod, sei. Aufgrund dessen gilt es – so lässt sich Unamuno auslegen – angesichts der Ewigkeit abzuwägen, ob die (vermeintlich) wahnhafte Vorstellung von der „sobrevida“ nicht von größerem Wert sei, als die (vermeintlich) verstandesmäßige und dabei dem Augenschein des Lebens verhaftete Vorstellung vom Tod: „[…] pero dinos, desventurado Don Quijote, tú, que despertaste del sueño de tu locura para morir abominando de ella, dinos: ¿no es sueño también la muerte? ¡Ah!, y si fuera
II.4. Don Quixote als Chiffre für Spanien
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sermaßen führt der Verlust des Glaubens, der lebensbefördernden Kraft per se, zum Tod.257 Es ist für Unamuno folgerichtig, dass Don Quixote mit der Aufgabe seiner locura stirbt, und hingegen Sancho, auf den die locura seines Herrn im Moment von dessen Tod und Verstandes-Rückgewinnung übergegangen ist, fortlebt und, wie Unamuno angibt, unsterblich sein wird: „¡Oh heroico sancho[sic], y cuán pocos advierten el que ganaste la cumbre de la locura cuando tu amo se despeñaba en el abismo de la sensatez que sobre su lecho de muerte irradiaba tu fe, tu fe, Sancho, la fe de ti, que ni has muerto ni morirás! Don Quijote perdió su fe y murióse; tú la cobraste y vives; era preciso que él muriera en desengaño para que en engaño vivificante vivas tú.“258
Unamuno äußert an dieser Stelle, dass es Sancho ist, der die quixotische locura weitertragen und verbreiten wird und Don Quixote ‚in Sancho auferstehen‘ werde („Cuando tu fiel Sancho, noble Caballero, monte en tu Rocinante […], entonces resucitarás en él, y entonces se realizará tu ensueño“).259 Er verleiht der Situation eine aktuelle nationale Bezugsebene, indem er die auf Sancho übergegangene quixotische locura im Zusammenhang mit der ‚Schmach‘ von 1898 kontextualisiert und nahelegt, dass das spanische Volk, demoralisiert und heimkehrend von jener Schmach, von seiner locura ‚gesunden‘ und dann vielleicht sterben werde (ebenso wie Alonso Quijano), wenn nicht Sancho, voll des Glaubens, Don Quixote nachfolgen werde.260 Sancho sei der ‚Erbe‘ von Don Quixotes Geist („heredero de tu espíritu“261), d. h. der locura, und die Don Quixote Treuen warteten darauf, dass Sancho quixotisiert und als fahrender Ritter ausziehen werde; und wenn dies geschehe, werde sich Don Quixotes Geist dauerhaft auf Erden niederlassen262 („[…] es Sancho el que ha de asentar para siempre el quijotismo sobre la tierra de los hombres“263). Wie zu sehen sein wird, greift Gerhard in der Schlussgestaltung seines Ballett II Unamunos Idee von der Entsagung Don Quixotes von der locura auf (dieser As-
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sueño eterno y sueño sin ensueños ni despertar, entonces, querido Caballero, ¿es qué más valía la cordura de tu muerte que la locura de tu vida?“ Ebd., S. 508. „Sanaste, caballero, para morir […].“ Ebd., S. 514. Ebd., S. 512 f. Ebd., S. 515. Vgl. ebd., S. 514. Auch der Sprecher A in Unamunos Essay betrachtet das Aufgreifen der quixotischen locura keinesfalls als Ursache für das Scheitern Spaniens („el fracaso de Espana“) – gemeint ist auch hier jene Schmach von 1898 (siehe ders., Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 748). Denn er legt nahe, jene locura, das Perpetuierungsbedürfnis im spanischen pueblo (dessen latente ‚Philosophie‘), habe sich nie wirklich realisieren können und sei stets bei seinem ersten Aufblühen erstickt und erstarrt worden. Vgl. ebd., S. 748 f. Ebd. „Sancho […] es el heredero de tu espíritu, buen hidalgo, y esperamos tus fieles en que Sancho se sienta un día que se le hincha de quijotismo el alma, que le florecen los viejos recuerdos de su vida escuderil, […] y se revista de tus armaduras […], y sin hacer caso de las voces de tu sobrina, salga al campo y vuelva a la vida de aventuras, convertido en caballero andante. Y entonces, Don Quijote mío, entonces es cuando tu espíritu se asentará en la tierra.“ Ders., VDQ, S. 514 f. Ebd., S. 515.
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
pekt fehlt noch in der Frühfassung des Balletts264). Damit wird das Bewusstsein der quixotischen locura als Traum betont; eines Traums, aus dem, so lange er zum Schaffen und Wirken antreibt, nicht erwacht werden soll, weil das Schaffen und Wirken uns mit jener ‚höheren Realität‘, die bleibt, in Kontakt bringt. Die Peripetie, welche die Entsagung von der locura einleitet und den Höhepunkt von Don Quixotes weltlichem Scheitern darstellt, lässt sich in den Ereignissen in der Höhle von Montesinos (Szene 4) finden. Der aus der Höhle aufsteigende Don Quixote ist bei Gerhard desillusioniert und geschwächt und wird seiner locura entsagen und sterben. Auch bei Gerhard zeigt sich also Unamunos Logik, nach der die Rückgewinnung der Vernunft mit dem Tod verbunden ist. Weiter übernimmt Gerhard in der Schlussgestaltung des Ballett II Unamunos Idee von der Übernahme der quixotischen locura durch Sancho.265 Es ist wahrscheinlich, dass auch Gerhard dabei eine nationale Referenzebene der Figurensymbolik transportierte; ebenso wie Unamuno, nun aber freilich im Rückblick auf das Spanien der Zweiten Republik. Bei Unamuno war im Kontext mit der ‚Schmach‘ von 1898 von einer Niederlage Don Quixotes und von der Hoffnung auf die Wiederkehr des quixotischen Traums, der nun aber in Sancho inkarnieren soll, die Rede. Nimmt man an, dass Sancho dabei ein ‚Spanien des pueblo‘ symbolisierte, dann ließ sich damit die Botschaft vernehmen, jene locura von der ‚sobrevida‘ müsse zukünftig im gesamten pueblo erweckt werden, und sie werde dann endlich von Bestand und unbesiegt bleiben. Eine solche anti-elitistische Sicht auf die quixotische locura war für Gerhard offenbar attraktiv. Sollte er eine nationale Deutungsebene der Romanfiguren mitbedacht haben, dann konnte er mit der im Ballett dargestellten Übernahme der locura durch Sancho bei Unamuno eine Vorlage finden, um anhand der Figur des quixotisierten Sancho auf die Zweite Republik als legitimes ‚Spanien des pueblo‘ zu verweisen. Die von Gerhard in seinem Ballett aufgegriffene, umdeutende Lesart jenes Romanschlusskapitels lässt sich somit in den Zusammenhang mit Unamunos Erzählung von der ‚Erweckung‘ des pueblo zu seiner ureigenen latenten ‚Philosophie‘ 264 Siehe Kapitel III.4.1. 265 Eckhard Weber wies erstmals darauf hin, dass sich Gerhards Deutung und Charakterisierung der Sancho-Figur „frappierend“ mit der Unamunos in VDQ decke (vgl. Eckhard Weber, „…all set in a dream-like world…“, Traumwelt und Realität in Roberto Gerhards Ballettmusik ‚Don Quixote‘, in: Traum und Wirklichkeit in Theater und Musiktheater. Vorträge und Gespräche des Salzburger Symposions 2004, hrsg. von Peter Csobádi u. a., Anif 2006, S. 694): „Sancho wird in Gerhards Balletthandlung zu demjenigen, der die Träume seines Herrn weiterträumt.“ (Ebd.) Unamuno schildere „in seinem umfangreichen Don Quijote-Kommentar“ (VDQ), so Weber, „eine Vision, wie Sancho nach Don Quijotes Tod die Rüstung seines Herrn selbst anzieht und mit Rocinante zu eigenen Abenteuern auszieht.“ (Vgl. ebd.) Mit Blick auf die musikalische Gestaltung der Schlusstakte, die Sancho, „als Erben Don Quixotes zeigen und somit als denjenigen, der Don Quixotes Ideale weiterverfolgt“ (vgl. ebd.), weist Weber v. a. auf den, „trotz der eindeutigen Schlusswirkung in den letzten Takten der Partitur“ offenen Charakter des Ballettschlusses und verbindet damit „ein offenes Ende“ von Gerhards Don-Quixote-Deutung. (Vgl. ebd., S. 695.) So nimmt Weber etwa die Tatsache, dass kurz vor dem Ende des Balletts (bei Ziffer 134) nurmehr der erste Hexachord der Reihe erscheint (und nicht das komplette Reihenthema) als Indiz dafür, dass das Reihenthema nun „offen für eine neuartige Fortführung“ sei. Vgl. ebd.
II.4. Don Quixote als Chiffre für Spanien
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bringen.266 (Siehe hierzu ausführlich Kapitel III.4.3.) In Sobre la filosofía española war die von Sprecher A erträumte Philosophie der ‚sobrevida‘ und des Lebens als Traum wesenhaft eine dem ‚Volk‘ eigene Philosophie. Sie wurde als bislang unterdrückte beschrieben, weil sie durch Vertreter einer scholastischen Denkweise (‚definidores‘) vereinnahmt worden sei, und jene Scholastiker hätten von der TraumThese lediglich die negative Seite gelten lassen.267 Sie hätten dem Volk für die Vorstellung von einem Nachleben intellektuelle, scholastische Begründungen an die Hand gegeben, eine Glaubenslehre, welche allerdings die dem Glauben wesenhafte, aufs Zukünftige gerichtete Kraft im Volk erstickt habe, und damit auch dessen latenten Antrieb, um große Taten im Dienst der eigenen Unsterblichkeit zu vollbringen.268 Damit wird nahegelegt, dass das Volk des Vorbilds der quixotischen locura bedürfe. Es bedarf, nach jener Erzählung, Don Quixotes als Vorbild eines wahrhaft an sein ewiges Leben glaubenden Heroen, um durch dieses Vorbild zu eigenen ruhmreichen Taten erweckt zu werden (und um die im Volk latente ‚spanische Philosophie‘ vom Leben als Traum manifest werden zu lassen). Der Traum der quixotischen locura befördert ‚Leben‘, weil er die ‚sobrevida‘ als Traum vorausnimmt und zum Glauben und Handeln antreibt.269 Die Auffassung 266 Diese Erzählung von der Entdeckung und ‚Erweckung‘ des pueblo, das eines Erweckers bedarf, ist eine in den Schriften Unamunos wiederkehrende, eine Metaerzählung. Sie findet sich etwa im Schlussabsatz von TC: „¡Ojalá una verdadera juventud, animosa y libre, rompiendo la malla que nos ahoga y la monotonía uniforme en que estamos alineados, se vuelva con amor a estudiar el pueblo que nos sustenta a todos, y abriendo el pecho y los ojos a las corrientes todas ultrapirenaicas y sin encerrarse en capullos casticistas, jugo seco y muerto del gusano histórico, ni en diferenciaciones nacionales excluyentes, avive con la ducha reconfortante de los jóvenes ideales cosmopolitas el espíritu colectivo intracastizo que duerme esperando un redentor!“ Miguel de Unamuno, TC, S. 269. 267 Siehe ders., Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 749. 268 „Y así han apagado [los definidores, G. L.] hasta la ambición, aquella hambre de grandezas que ahora, sin vigor para buscarlas en lo porvenir, se entretiene en roer los huesos de las que fueron.“ Ebd., S. 750. 269 Unamuno wirft die Frage auf, ob das Träumen des Lebens zugleich ein Geträumtwerden unseres Lebens durch Gott sei (ders., VDQ, S. 521). Damit stellt sich für ihn die Frage, ob und wie wir aus jenem Geträumtwerden erwachen können. Sich in die Perspektive Gottes eindenkend mutmaßt Unamuno, dass in dem Todesmoment der ‚guten Menschen‘ – das kann heißen, der Menschen, die auf ihre Ideewerdung und Unsterblichkeit hingewirkt haben –, in welchem diese aus der Traumhaftigkeit ihres Lebens erwachen, zugleich auch Gott aus seinem Traum erwacht (siehe ebd.). Dies wirft die Frage auf, ob wir zu Lebzeiten bereits jenes Erwachen vorwegnehmen können, das kann heißen, eine Perspektive auf das Leben, so wie es im ewigen Bewusstsein erinnert wird. Und er legt nahe, dass mit der Güte, dem guten Handeln, ein Schimmer von jenem ‚Wachen‘ (jener „vigilia“) in der ‚Dunkelheit des Träumens‘ aufleuchtet (ebd., S. 521 f.). Als solche Momente des Erwachens aus einem Traum könnten sich die von Gerhard komponierten Visionen Don Quixotes von ‚höherer Realität‘ hören und betrachten lassen (siehe Teil III). Sie stehen allerdings immer auch der Illusion und dem Realitätsverlust nahe. Dies erhellt aus dem ambivalenten Charakter des Leben-als-Traum-Gedanken bei Unamuno: Letztlich besteht nie eine unzweifelhafte Gewissheit darüber, ob ein Glaube (auch die locura) sich nicht doch als nichtiger Wahn erweisen wird, und ob nicht auch der ruhmreichste, heroischste Mensch einmal vergessen werden wird: „Nos diste el ansia de renombre y fama, como sombra de tu gloria; pasará el mundo; ¿pasaremos con él también nosostros, Dios mío?“ (Ebd.) Die einzige Möglichkeit, den Traum substanziell zu machen, besteht für Unamuno darin, ihn in
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
der locura – des Traums – im Sinne einer lebensbefördernden und insofern ‚nützlichen Illusion‘, d. h. einer geglaubten und unserem Wissen vorausgreifenden Idee, die uns zu Handlungen im Dienst einer höheren Auffassung von Leben führt (motiviert durch das Leben- und Unsterblichseinwollen), spiegelt Unamunos pragmatisches Wahrheitskriterium: Jede vermeintliche Illusion hört auf eine solche zu sein, wenn sie sich als nützlich für das Fortschreiten des Bewusstseins hin zu einer höheren Auffassung von ‚Leben‘ erweist.270 II.4.2 Der Autor als ‚Sprachrohr‘ des Volksgeistes Zentral in Unamunos Quixotismo ist der Gedanke, nach dem die Figur Don Quixote ‚realer‘ sei als ihr Autor Cervantes.271 Der von Unamuno behauptete Qualitätsunterschied des Don Quixote-Romans gegenüber anderen Werken Cervantes’ wird für Unamuno zum Argument dafür, dass der Autor seinen Roman nicht selber geschrieben habe, sondern ihm jene Erzählung vielmehr von Don Quixote selber, im Werken zu realisieren und derart sich selbst als gelebte Idee in Existenz zu bringen. In diesem Sinne schwächt Unamuno seine Mutmaßung über die Möglichkeit des kurzzeitigen ‚Wachens‘ zu Lebzeiten ab, indem er fortfährt, tausendmal besser, als jenen unseren Traum zu erforschen, sei es, gut zu handeln und zu wirken („obrar el bien“) (ebd., S. 522). Unamunos Bitten, uns unseren Traum fortträumen zu lassen („¡Suéñanos, Señor!“, ebd., S. 521/S. 522), kann entnommen werden, dass wir die locura, den Traum, als Hilfsmittel im Dienst des Handelns und Schaffens brauchen, auch wenn er Spott auf sich zieht. 270 Sogar eine vermeintlich illusionäre Fiktion kann für Unamuno wahr und real sein. Die Frage nach dem Wahrheitskriterium wirft Unamuno v. a. anlässlich seines Kommentars zu Don Quixotes Abstieg in die Höhle von Montesinos auf, von dem angenommen wird, dass es sich um einen Traum handelt (siehe auch Kapitel III.6): Wie lässt sich die Wahrheit jener Vision Don Quixotes einschätzen? Auch hier plädiert Unamuno unmissverständlich für eine pragmatische Wahrheitsprüfung: „Si la vida es sueño, ¿por qué hemos de obstinarnos en negar que los sueños sean vida? Y todo cuanto es vida es verdad. Lo que llamamos realidad, ¿es algo más que una ilusión que nos lleva a obrar y produce obras? El efecto práctico es el único valedero de la verdad de una visión cualquiera.“ („Wenn das Leben ein Traum ist, warum sollen wir dann erzürnt negieren, dass Träume Leben sein können? Und alles was Leben ist, ist wahr. Das, was wir Realität nennen, ist dies mehr als eine Illusion, die uns zum Wirken führt und Werke hervorbringt? Die praktische Wirksamkeit ist die einzige gültige in Bezug auf die Wahrheit jeglicher Vision.“) Ebd., S. 377 [Übersetzung, G. L.]. Idee, Vision, Illusion, Fiktion – kaum lässt sich hier eine grundlegende Unterscheidung treffen; allein das Wirken und Handeln, das einer Vorstellung folgt, zählt als Kriterium für ihre Wahrheit. Hat eine Vorstellung praktische Wirksamkeit, dann kann sie nicht länger als Irrtum oder Illusion bezeichnet werden. 271 Unamunos Schrift VDQ (1905) steht ganz im Dienst der These von Don Quixotes ‚Existieren‘ (siehe Anm. 147, Kapitel II.2.2) und damit einer Verteidigung von Unamunos pragmatischer (quixotischer) Wahrheitsauffassung gegenüber ihren Gegnern. Dass hierbei eine besondere Auffassung von ‚Realität‘ und ‚Existieren‘ zugrunde gelegt wird, darauf verweist Unamuno (möglicherweise, um sich gegenüber Missverständnissen zu wappnen), wenn er erklärt: „A nadie se le ocurrirá sostener en serio, no siendo acaso a mí, que Don Quijote existió real y verdaderamente e hizo todo lo que de él nos cuenta Cervantes […] pero puede y debe sostenerse que Don Quijote existió y sigue existiendo, vivió y sigue viviendo con una existencia y una vida acaso más intensas y más eficaces que si hubiera existido y vivido al modo vulgar y corriente.“ Ders., Sobre la lectura e interpretación del ‚Quijote‘, S. 848.
II.4. Don Quixote als Chiffre für Spanien
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Gewand des Geschichtenerzählers Cide Hamete Benengeli (jener von Cervantes zwischengeschalteten Erzählerinstanz), diktiert worden sei.272 Gewissermaßen geht Unamuno also von einem Ich im Ich bei Cervantes aus. Auf diese Weise schwächt Unamuno die Autonomie des Autorsubjekts Cervantes und stärkt demgegenüber die fiktive Figur Don Quixotes, denn nach Unamuno ist der Autor (man könnte anfügen: in seinem wahrhaften Existieren als Idee) von seinem Werk in höherem Maß abhängig, als die Figur davon, durch ihren Autor auf die Welt geholt zu werden. Die fiktiven Subjekte ‚bedienten sich‘ vielmehr ihres Autors, um auf die Welt zu kommen.273 Ein solches Autonom- und Existentwerden gegenüber dem Autor, der die Figur erdachte, verweist auf Unamunos pragmatischen Wahrheitsbegriff, nach dem die Idee Dulcineas durch Don Quixote handelnd und wirkend in Existenz gebracht wird und Don Quixote fortan von ihr, seinem eigenen Werk, erhalten wird (siehe Kapitel II.2.5). Demgemäß lassen sich zwei Seiten des Existierens und der Ideewerdung erkennen, von denen Unamuno der hier zweitgenannten den Primat gibt: Erstens bringt der Autor sein Werk in Existenz, zweitens bringt die fiktive Figur (bzw. das Werk) ihren Autor in Existenz. Letzteres verweist auf den Autor als ‚Sprachrohr‘ seiner Figur und Werkzeug zum In-Existenz-Bringen einer Idee. In diesem Sinne einer in Existenz gebrachten und sich selber erhaltenden Fiktion lässt sich auch die von Gerhard in seinem Ballett aufgegriffene Idee der ‚Auferstehung‘ Don Quixotes betrachten.274 Bei Unamuno ist davon die Rede, dass Don Quixote auferstanden sei und durch die Welt ziehe,275 und dies, obwohl Cervantes vermeint habe, Don Quixote zum Sterben gebracht zu haben und sogar eine notarielle Beglaubigung von dessen Tod erdachte, damit niemand wage, ihn auferstehen zu lassen.276 Cervantes’ Rolle als ‚Werkzeug‘ der Hervorbringung Don Quixotes beruht bei Unamuno v. a. darauf, dass Cervantes zum ‚Sprachrohr‘ für den spanischen Volksgeist geworden ist. So kann Unamuno Cervantes als ‚Vater‘ und das den Volksgeist substanziell repräsentierende pueblo als ‚Mutter‘ Don Quixotes bezeichnen. „*Aunque Don Quijote saliese del ingenio de Cervantes, Don Quijote es inmensamente superior a Cervantes. Y es que, en rigor, no puede decirse que Don Quijote fuese hijo de Cervantes;
272 „Y esta inmensa lejanía que hay de la historia de nuestro Caballero a todas las demás obras que Cervantes escribió […] es la razón principal […] para creer nosotros y confesar que la historia fue real y verdadera, y que el mismo Don Quijote, envolviéndose en Cide Hamete Benengeli, se la dictó a Cervantes. Ders., VDQ, S. 524. 273 „[…] muchas veces tenemos a un escritor por persona real y verdadera e histórica, por verle de carne y hueso, y a los sujetos que finge en sus ficciones no más sino por de pura fantasía, y sucede al revés y es que estos sujetos lo son muy de veras y de toda realidad y se sirven de aquel otro que nos parece de carne y hueso para tomar ellos ser y figura ante los hombres.“ (Ebd., S. 525.) Bekanntlich thematisierte Unamuno insbesondere in seinem Roman Niebla (1914) das Autonomwerden seiner Figur Augusto Pérez gegenüber ihrem Autor. 274 Siehe Kapitel III.4.1. 275 „[…] el mismo Don Quijote se ha resucitado a sí mismo, por sí y ante sí, y anda por el mundo haciendo de las suyas.“ Ders., Sobre la lectura e interpretación del ‚Quijote‘, S. 848 f. 276 Vgl. ebd. Cervantes hat damit sicherlich auf die Möglichkeit eines Fortsetzungsromans angespielt, wie ihn sein Konkurrent Avellaneda zum ersten Romanbuch schrieb.
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett pues si éste fué su padre, fué su madre el pueblo en que vivió y de que vivió Cervantes, y Don Quijote tiene mucho más de su madre que no de su padre.*“277
Die von Gerhard hierzu markierten Textstellen bei Unamuno beschreiben den Autor weniger als autonomes Subjekt, denn vielmehr als ein vom Volksgeist (und das heißt bei Unamuno auch: vom menschheitlichen Kollektivbewusstsein) durchdrungenes Wesen, das an dem Volksgeist und letztlich an der Seele der gesamten Menschheit teilhaftig ist und für Volk und Menschheitsseele zugleich ein ‚Sprachrohr‘ darstellt. Das Ich im Ich erweist sich so als Volksseele in der Individualseele. Dem entspricht der Gedanke, nach dem das wahrhaft Originelle an den Grund des Menschheitlich-Gemeinsamen rührt (und nicht etwa eine Abweichung gegenüber jenem Gemeinsamen darstellt).278 Unamuno kann sagen, dass Cervantes als ‚Instrument‘ zur Hervorbringung des Romans ein denkbar ‚impersonales‘ Werk279 geschaffen habe, sofern er Cervantes’ Roman primär als Produkt eines konkreten historischen und kulturellen Umfelds betrachtet, dem Spaniens im 16. Jahrhundert. Gerade deswegen ist Cervantes’ Roman für Unamuno aber zugleich auch ein zutiefst ‚personales‘ Werk.280 Hinter dieser Dialektik steht die Prämisse, dass nur derjenige Autor, der sich impersonal macht, d. h. sein Bewusstsein möglichst komplett vom Außen seines Umfelds und seiner Mitwelt durchdringen lässt und diesem Umfeld zugehört, an das Menschheitlich-Allgemeine rühren kann, das allen gemeinsam ist und derart wahrhaft personal wird.281 Die Vorstellung, dass ein Au277 Ebd., S. 852 f. 278 „Porque lo original no es la mueca, ni el gesto, ni la distinción […]; lo verdaderamente original es lo originario, la humanidad en nosotros.“ (Ders., TC, S. 148.) Unamuno polemisiert gegen diejenigen, die ein elitistisches Denken auf Kosten der inkommensurablen Menschenwürde vertreten, welche jedem Einzelnen eigen und allen gemeinsam ist : „La cuestión [para aquellos, G. L.] es elevarse y distinguirse, diferenciarse sin respeto alguno al necesario proceso paralelo de integración. Hay que *llegar a originalidades, sin advertir que lo hondo, lo verdaderamente original, es lo originario. Lo común a todos, lo humano.*“ Ders., La dignidad humana (1896), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 446. 279 Siehe auch Unamunos Bezeichnung des „genio“ als „la personalización de lo más impersonal.“ Ders., Almas de jóvenes (1904), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 727. 280 „*Cervantes no fue más que un mero instrumento para que la España del siglo XVI pariese a Don Quijote; Cervantes hizo en su Quijote la obra más impersonal que puede hacerse y, por lo tanto, la más profundamente personal en cierto sentido. Cervantes, como autor del Quijote, no es más que ministro y representante de la humanidad. Y por eso hizo una obra grande.*“ Ders., Sobre la lectura e interpretación del ‚Quijote‘, S. 853 f. 281 Das Finden des Universellen ist bei Unamuno bedingt durch das Finden des Eigenen und Lokalen. Die Dialektik zwischen kulturell Eigenem und Universellem scheint hervor, wenn Unamuno sein Postulat von Cervantes’ Roman als Exempel ‚klassischer‘, und damit ‚ewiger und universeller Kunst‘ folgendermaßen begründet: „[…] porque de puro español llegó al espíritu universal, al hombre que duerme dentro de todos nosotros.“ (Ders., TC, S.142.) In Bezug auf das kulturell Eigene spricht Unamuno auch von der Zugehörigkeit zur lokalen Heimat („patria chica“) als Voraussetzung für die Zugehörigkeit zu einer menschheitlichen Heimat („la humanidad“) – eine Zugehörigkeit, die in der ‚Submission‘ unter die lokale Tradition erreicht werde (siehe ebd., S. 142 f.). An anderer Stelle spricht Unamuno diesbezüglich von der ‚maximalen Individualisierung‘ der „patria chica“, die in der ‚Subordination‘ unter die „patria humana universal“ geschehe (siehe ebd., S. 160). Zur Dialektik zwischen lokaler und kosmopolitischer Heimat siehe auch Kapitel III.2.
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tor durch sein Umfeld bzw. den Volksgeist gewissermaßen ‚geschrieben wird‘, passt dabei zum progressiven, anti-elitistischen und anti-idealistischen Bild des Intellektuellen im Spanien der 1930er Jahre, der einerseits durchaus politische Führungsfigur sein, andererseits aber in einem nicht-antagonistischen Verhältnis zur Masse der Bevölkerung stehen sollte. Diese widersprüchliche Forderung war, wie Faber mit Bezug auf Ideen Antonio Gramscis wiedergibt, nur mit Blick auf die größte zu erreichende Repräsentativität der Intellektuellen für die Interessen der Massen zu erreichen,282 oder, um mit Unamuno zu sprechen: indem der Intellektuelle sich zum integralen Teil seiner Mitwelt und lokalen Tradition machte, sich ihr ‚subordinierte‘.283 Das Repräsentativ-Werden für das ‚Volk‘ bzw. den Volksgeist ist bei Unamuno die Leistung des „genio“, der maximal ‚persönlich‘ werde, indem er sich ‚impersonalisiere‘, d. h. die Allgemeinheit in sich aufnimmt, und man könnte hinzufügen: zugleich in diese integriert wird und damit den ihm eigenen Platz darin findet: „*El genio es, en efecto, el que en puro personalidad se impersonaliza, el que llega a ser voz de un pueblo, el que acierta a decir lo que piensan todos sin haber acertado a decir los que lo piensan. El genio es un pueblo individualizado.*“284
Der ‚genio‘ macht sich zum Teil des Volkes, und er eint es in sich und seinem Werk. Jenes Konzept steht quer zu einer elitistischen Auffassung vom ‚Genie‘ oder ‚Künstler‘, der in größtmöglicher Unabhängigkeit von den Bedürfnissen und Interessen der breiten Masse schafft und diese mit seinen Kommunikationsformen weder erreichen kann noch möchte. Gerhard hat zu Unamunos Konzept des ‚genio‘ und zu Cervantes als Autor des Don Quixote-Romans eine relativ große Anzahl von Textabschnitten markiert,285 und es ist wahrscheinlich, dass jenes Bild des Künst282 Als zentrales Problem des Volksfront-Diskurses analysiert Faber das Problem der Repräsentation und die Frage, inwiefern der mit der politischen Führungsrolle der Volksfront-Intellektuellen verknüpfte Anspruch, ihre nationale Kultur und ihr ‚Volk‘ zu repräsentieren, eingelöst wurde. (Siehe Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S. 75.) Auch führt Faber als Vorbild jenes Volksfront-Diskurses Ideen Antonio Gramscis an und äußert, Gramsci habe die politische Führungsrolle des Intellektuellen als unvermeidbare eingeräumt, gleichwohl aber geglaubt, „that the relation between rulers and ruled, between intellectuals and masses, should be the least antagonistic and the most representative possible. Leaders and led should be united in a ‚collective will‘, forming a ‚historical bloc‘, and their relation should allow for ‚exchange of individual elements between the rulers and the ruled‘.“ Antonio Gramsci, Selections from the Prison Notebooks, hrsg. und übersetzt von Quintin Hoare u. a., New York: International Publishers 1971, S. 418, zit. nach Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S. 32. 283 Siehe Anm. 281. 284 Miguel de Unamuno, Sobre la lectura e interpretación del ‚Quijote‘, S. 854 [Unterstreichung von Gerhard]. 285 Neben den hier bereits angeführten (durch * gekennzeichneten) Textabschnitten markierte Gerhard weiter auch den folgenden, in welchem Unamuno behauptet, niemand habe seine Seele in solchem Maße in die Gesellschaft ‚vergossen‘ wie die ‚großen Einsamen‘ (genannt wird Kierkegaard), die eine gesamte Gesellschaft in sich getragen hätten: „*[…] el solitario es legión. Y de aquí deriva su sociedad. Nadie tiene más acusada personalidad que aquel que atesora más generalidad en sí, el que lleva en su interior más de los otros. El genio, se ha dicho […], es una muchedumbre; es la muchedumbre individualizada, es un pueblo hecho persona. El que tiene
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lers, das einen individualistischen Autorbegriff transzendiert, für ihn im hochpolitisierten Spanien der 1930er Jahre aktuell war und im Exil aktuell blieb. Dementsprechend ließe sich in Gerhards Don Quixote-Ballett etwa der Zugriff auf die Gattung der chacona – ein Volksgenre, das auf eine bestimmte soziale Realität verweist – als eine Brechung der subjektiven Ausdrucksfunktion von Musik hin zu einer impersonalen und möglichst ‚realistischen‘ musikalischen Darstellung jenes spanischen Umfelds auffassen (siehe ausführlich Kapitel III.6.1). II.4.3 Das Goldene Zeitalter als soziale Utopie Im Folgenden rückt Unamunos Klassifizierung dreier unterschiedlicher Menschentypen ins Blickfeld, der naturales, des intelectual und des espiritual. Hinter ihnen steht Unamunos dreistufiges geschichtsphilosophisches Denken, an dessen Anfang ein Naturzustand, an dessen Ende ein Zeitalter des Geistigen, und zwischen beiden vermittelnd, ein Zeitalter des Intellekts steht. Die genannten Menschentypen können als Folie für Unamunos Symbolik der Romanfiguren wie auch für Gerhards Charakterisierung der Figuren seines Balletts aufgefasst werden, und dies insbesondere mit Blick auf Cervantes’ Romanepisode DQ I/11, jener Romanepisode, in der Don Quixote eine Rede vom Goldenen Zeitalter an Ziegenhirten richtet. Vor dem Hintergrund der erwähnten Folie lässt sich in dieser Romanepisode Don Quixote als ein typischer ‚geistiger Mensch‘, espiritual bzw. Dichter (‚poeta‘), und die Ziegenhirten lassen sich als typische ‚natürliche Menschen‘, naturales, identifizieren. Die besonders innige Form gegenseitigen Verstehens zwischen den Ziegenhirten und Don Quixote entspricht dabei der Nähe zwischen dem espiritual und den naturales. Dies bedarf weitergehender Erläuterung. In Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter – diese Rede wird in Szene 3 und im „Epilogue“ von Gerhards Ballett als pas de deux eines arkadischen Schäferpaars dargestellt (siehe Kapitel III.5) – wird die gesellschaftliche Utopie eines perfekten Naturzustands formuliert. Im Cervantesroman bezeichnet Don Quixote jenes Goldene Zeitalter als ein glückliches Zeitalter, in dem man die beiden Worte ‚dein‘ und ‚mein‘ nicht gekannt habe. Die Erde sei jedes Menschen Eigentum gewesen und ohne ihre Nötigung, d. h. ohne dass Pflüge sie durchfurchen mussten, sei jedem geboten worden, was er zu seiner Erhaltung bedurfte:286 „Noch hatten Betrug, Arglist, Bosheit sich nicht unter Wahrheit und Einfalt gemischt. Die Gerechtigkeit hielt sich innerhalb ihrer eignen Grenzen, ohne dass die Herrschaft […] des Eigennutzes sie zu stören […] wagte […]. Das Gesetz der Willkür hatte sich noch nicht im Geiste des Richters festgesetzt; denn es gab damals nichts und niemanden zu richten.“287
Angesichts der Schlechtigkeit seines eigenen Zeitalters betrachtet der fahrende Ritter Don Quixote es als seine Vorsehung, jenen idealen Zustand künftig wieder hermás de propio es, en el fondo, el que tiene más de todos; es aquel en quien mejor se une y concierta lo de los demás.*“ Ders., Soledad, S. 900. 286 Vgl. Miguel de Cervantes, DQ I/11, S. 88 f. 287 Ebd., S. 89.
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zustellen288 und sein Rittertum-Ideal kann als Instrument zu diesem Zweck betrachtet werden. Unamuno legt eine besondere Empfänglichkeit der Ziegenhirten für den Inhalt der Rede nahe. Er ist davon überzeugt, dass sich den Ziegenhirten etwas von der hoffnungs- und liebevollen Haltung beim Halten der Rede mitgeteilt hat289 und weist darauf hin, das Don Quixote mit jener Rede eher einfache Ziegenhirten habe erreichen können, als gebildete Menschen vom Schlag des Baccalaureus Sansón Carrasco. „Cuanto más hundidos vivan en la vida de la carne, tanto más limpias de brumas estarán sus mentes, y la música de tus palabras resonará en ellas mucho mejor que en la mente de los bachilleres al arte de Sansón Carrasco.“290
Ganz in diesem Sinn äußert einer der beiden Sprecher in Unamunos Essay Los naturales y los espirituales (1905), dass der Mensch des pueblo leichter dazu zu bringen sei, Neuheiten zu akzeptieren als der kultivierte Mensch der Mittelklasse, und er fügt hinzu, Don Quixote habe Sancho, einen Menschen des pueblo, nicht aber Sansón Carrasco hinter sich herziehen können.291 Die Romanfigur Sansón Carrasco lässt sich dem Typus des intelectual zuordnen, und es wird nahegelegt, dass der Normen verhaftete Realitätszugang des intelectual dessen Empfänglichkeit für das (dem intelectual abnormal oder wahnhaft erscheinende) Neue und Evolutionierende des Lebens verstellt292 (hier lässt sich an das stagnierende Erkennen des Vernunftmenschen und an dessen Mangel an Imagination denken, siehe Kapitel II.1.2). Für den intelectual macht der denkende Sprecher in Intelectualidad y espiritualidad (1904) geltend, dass er ein Mensch der Mittelwerte und Normen und gleichweit entfernt sowohl von der Masse der carnales bzw. naturales wie auch von der kleinen Minderheit der espirituales sei293 (insofern könnte man sagen, dass er die einflussreiche ‚Mitte der Gesellschaft‘ bildet). Er sei abgetrennt sowohl vom espiritual, dessen Glaube und Imagination er für einen pathologischen Wahn halte294 als 288 An Sancho gewandt spricht er: „[…] Freund, du mußt wissen, daß ich durch des Himmels Fügung in diesem eisernen Zeitalter zur Welt kam, um in ihm das Goldene zur Auferstehung zu wecken.“ Ders., DQ I/20, S. 166. 289 Siehe Miguel de Unamuno, VDQ, S. 213. 290 Ebd., S. 214. 291 „*[Sprecher A:] Es más facil hacer que acepte novedades el pueblo que la clase media de la cultura, los leídos, los que han pasado por aulas. Don Quijote pudo arrastrar tras de sí a Sancho, no al bachiller Sansón Carrasco.*“ (Ders., Los naturales y los espirituales (1905), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 826.) Als Begründung dafür, dass das pueblo für Neuheiten empfänglich sei, und Menschen wie Sancho für die quixotische locura, wird deren ‚Ignoranz‘ angeführt. So könne, so führt der genannte Sprecher A weiter aus, das Prinzip der Weisheit darauf beruhen, zu ignorieren: „*[…] Y Sancho sabía ignorar, y no lo sabía el bachiller Carrasco como no suelen saberlo los bachilleres, y sí los palurdos.*“ Ebd. 292 Siehe ders., Intelectualidad y espiritualidad (1904), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 714 f. 293 Vgl. ebd., S. 714 f. 294 Vgl. ebd., S. 711 f. Unamuno legt nahe, dass der intelectual keinen Zugang zur gedanklichen Sichtweise des espiritual hat und lässt den Protagonisten seines Essays ausführen, es gehe fehl, den espiritual nach Kategorien von Logik und Intellekt (für Unamuno Kategorien, die am Außen ausgeformt werden) und als wahnhaft zu be- und verurteilen; denn der espiritual habe den
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auch vom natural, dem Menschen der Masse, den er für einfältig, unkultiviert und von sinnlichen Bedürfnissen bestimmt halte.295 Hingegen stehen der Typus des natural und der des espiritual einander nahe.296 Hinter der Gemeinsamkeit zwischen dem natural und dem espiritual lässt sich die gemeinsame Realitätsbasis von ‚Leben‘ erkennen, nur dass der natural dem ‚Leben‘ (in Form seines unmittelbaren Umfelds) in resignativer und unreflektierter Weise an- und zugehört, während der espiritual sich jene konkrete und veränderliche Realität des ‚Lebens‘ als ‚seine Realität‘ angeeignet und bewusst gemacht hat und damit Realität beherrschen und als Heroe in den Weltlauf eingreifen kann.297 Das Verhältnis zwischen espiritual und natural ist dabei symbiotisch; nicht nur bedarf der natural des ‚Erwecktwerdens‘ durch den espiritual, auch der espiritual wendet sich dem natural zu, denn nach Unamuno erlangt er auf der Höhe seiner Geistigkeit erneut Natürlichkeit und wendet sich zum pueblo zurück:
‚Geist des Göttlichen‘, und nicht des Weltlichen empfangen (vgl. ebd., S. 711). Die Geistigkeit jenes Menschen könne nur ‚in geistiger Weise‘ beurteilt werden („juzgando lo espiritual espiritualmente“). Ebd., S. 711 und S. 711–714 passim. 295 Vgl. ebd., S. 710. An der betreffenden Stelle im Essay Intelectualidad y espiritualidad (1904) ist anstelle der Ausdrücke natural und intelectual von (hombres) carnales und psíquicos die Rede, und damit von Ausdrücken, die auf neutestamentliche Textstellen in Briefen des Paulus von Tarsus zurückgehen. Diese Ausdrücke lassen sich bei Unamuno allerdings als austauschbare behandeln, denn Unamuno lässt den Protagonisten seines Essays Paulus’ Rede von dem an das Fleischliche und an die Sünde „verkauften“ Menschen gegenüber dem geistigen Gesetz (vgl. Röm 7,14) und von dem irdischen gegenüber dem überirdischen, pneumatischen Leib (vgl. 1 Kor 15,44) im Sinne der drei genannten Menschentypen interpretieren (des natural, intelectual und espiritual). (Siehe Miguel de Unamuno, Intelectualidad y espiritualidad, S. 709.) Mit Bezug auf die zweite genannte Briefstelle wird der irdische Aspekt der Seele (anders als Paulus spricht Unamuno hier nicht vom „Leib“) als niederer gegenüber dem pneumatischen verstanden und als „la psique“ bezeichnet. Dieser Aspekt ähnele, so die Reflexion von Unamunos denkendem Protagonisten, der heute als ‚Lebensenergie‘ („fuerza vital“) bezeichneten Kraft und dem ‚sinnlichen Ich‘ („el alma sensitiva“), das Mensch und Tier gemeinsam sei, während es sich beim „pneuma“ um jenen geistigen Teil des Ichs handele, auf den die Stoiker sich berufen hätten und welcher gegenüber dem sterblichen Körper fortlebe. (Vgl. ebd., S. 710.) (Die relativ abwertende Zuschreibung der „fuerza vital“ als nicht-geistiger Kraft kann dabei auf Unamunos Kritik an bestimmten Strömungen des Vitalismus und der Lebensphilosophie verweisen.) Unamunos Protagonist identifiziert den psíquico mit dem intelectual und charakterisiert diesen Menschentypus ausführlich. Er betrachtet ihn als einen dem sinnlich zugänglichen und äußerlichen Augenschein der Realität verhafteten Menschen des „sentido común“; ihm schreibe man zu, über eine klare Urteilskraft zu verfügen und keinerlei ‚Hinterlisten‘ („supercherías“) zu glauben, die nicht durch Tradition und Gewohnheit abgesegnet seien. (Vgl. ebd., S. 710.) Der intelectual oder psíquico wird überdies als interessiert an Kultur und Wissenschaft und leicht beeindruckbar von technologischen Errungenschaften charakterisiert. Vgl. ebd., S. 710 f. 296 „*[…] a los grandes genios antes y mejor puede entenderlos el vulgo bajo que no los doctos. O empleando otras* palabras […]: antes se entienden los espirituales con los naturales que no con los intelectuales […].“ Ebd., S. 827. 297 Die hierzu notwendige Reflexionskraft würde den espiritual durchaus mit dem intelectual verbinden; letzterer verliert allerdings mit der Reflexion den Kontakt zum ‚Leben‘.
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„*El espiritual de puro espiritualizarse, vuelve al pueblo. Ya Blumhardt, el poderoso predicador, decía que hay que convertirse dos veces*, una de la vida natural a la espiritual, y, después, otra vez de nuevo, de la espiritual a la natural, en cuanto es justa ésta. *La suprema naturalidad se alcanza en el sumo de la espiritualidad, en su cumbre […].*“298
Jene erneut zu erlangende Natürlichkeit des espiritual wird dabei nicht durch ein Preisgeben der Reflexionsfähigkeit erreicht (sie entspringt nicht naivem, unreflektiertem Glauben), sondern muss unter den Bedingungen von Reflexion und Kultur wiedergefunden werden, also im Durchgang durch das Stadium der intelectualidad. Es besteht für Unamuno durchaus die Gefahr, in jenem ‚mittleren‘ Stadium quasi hängenzubleiben. Denn auch wenn es für den glaubenwollenden und reflektierenden espiritual ein ‚Zurück nach Arkadien‘ nicht geben kann, so beklagt Unamuno doch immer wieder das Dilemma des unverzichtbaren und zugleich potenziell oppressiven Entfremdungscharakters von Reflexion. Nicht zufällig beginnt Unamunos „El punto de partida“ betiteltes, erstes Kapitel in STV mit der Deutung menschlicher Reflexionsfähigkeit als Krankheit299 unter Verweis auf den alttestamentlichen Mythos von der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies. Nachdem, so gibt Unamuno jenen Mythos wieder, Adam und Eva vom Baum des Wissens (um Gut und Böse) probiert hätten, seien sie allen Krankheiten unterworfen worden, insbesondere derjenigen, welche die Vollendung und Spitze aller Krankheit darstellt, dem Tod, außerdem der Arbeit und dem Fortschritt.300 Unamuno bringt also nicht nur den Baum des Lebens mit ewigem Leben, sondern auch den Baum des Wissens mit dem Tod in Verbindung. Reflexionsfähigkeit birgt demnach immer schon das Potenzial zur Selbstzerstörung. Allerdings ermöglicht die Abbildhaftigkeit und Differenz der Reflexion gegenüber dem Leben (Natur) auch eine Wiederannäherung an dasselbe durch die Reflexion hindurch. Mit dem Sündenfall sei, so Unamuno, auch die Erlösung möglich geworden, welche uns auf den Weg zu Gott (zum Göttlichwerden) gebracht habe.301 In dieser Denkbewegung, die die Differenz zum Leben wieder einholt, deutet sich der Rückgewinn des Naturzustands an. Der Weg Don Quixotes als espiritual ist eben dieser: Don Quixotes anmaßendes und unerreichbar hohes Ideal (seine locura) ist als höchst ideeller Reflexion zunächst eine ‚Fallhöhe‘ des Innen gegenüber dem Außen eigen, und diese ist, als hohes Maß an Differenz zur Natur, potenziell ‚schuldhaft‘. Indem Don Quixote die sich mit dieser Differenz zugleich bietende Chance nutzt, jenes Ideal handelnd und schaffend ins Außen zu transformieren, wird jene ‚Schuld‘ allerdings abgetragen: Was vormals Reflexion war, ist als Realität erwirkt worden; damit ist die Differenz der Reflexion gegenüber dem Leben aufgehoben. Diese Abtragung einer ‚Schuld‘ ist grundlegend für Don Quixotes Ideewerdung: Auch Don Quixotes Selbstentwurf als Idee ist schuldhaft, insofern er dem Bestehenden entgegen gesetzt wird und in Differenz zu diesem tritt. Da sich Don 298 Ebd., S. 831. 299 In Unamunos Auffassung der Reflexionsfähigkeit als einer Krankheit lassen sich Parallelen zu Schriften Kierkegaards erkennen, etwa Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode (1849) und ders., Der Begriff Angst (1844). 300 Vgl. Miguel de Unamuno, STV, S. 16. 301 Vgl. ebd.
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Quixote aber der Aufgabe stellt, die Realität seinem Selbstentwurf schaffend anzunähern, transformiert er damit eine präexistente ‚höhere Realität‘ in die Realität. Nicht also das Eingeständnis der Vermessenheit, sondern allein das In-ExistenzBringen des Ideals stellt bei Unamuno diejenige Maßnahme dar, welche die ‚Schuld‘ der Vermessenheit neutralisiert.302 Don Quixote kann für Unamuno nur deswegen heroisch werden, weil sein Ideal vermessen war. So kann Unamuno von der ‚glückhaften Schuld‘ sprechen, die uns die Erlösung verdient habe („la feliz culpa, la culpa que nos ha merecido redención“303). Auch weist Unamuno auf die quasi schuldhafte Selbstliebe, derer Don Quixote aufgrund der Erbsünde voll gewesen sei und versteht dessen Abenteuer – den Kontakt mit der Realität – als eine Bereinigung („depuración“) von jener Selbstliebe.304 In diesem Sinne der Schuldabtragung durch ein Hervorbringen bzw. Erschließen neuer Realität kann Don Quixote zur Natur und zugleich vorwärts zu einer zweiten Natur gelangen. Derart kann er als espiritual gelten, der das Stadium der Intellektualität – das potenziell anmaßende Verbleiben in der ‚Fallhöhe‘ der Reflexivität – überwindet.305 Vor diesem Hintergrund lässt sich diagnostizieren, dass das Problem des intelectual vor allem 302 In Bezug auf menschliche Vermessenheit und ‚Schuld‘ spricht Unamuno auch von Überheblichkeit („soberbia“), wobei er die echte Überheblichkeit („soberbia contemplativa“) denjenigen zuschreibt, die sich von der Gesellschaft zurückziehen und sich des Handelns enthalten, während derjenige, der seiner Mitwelt überheblich erscheint, jedoch unerschüttert von Schmähungen und Rückschlägen an der Realisierung seiner Idee arbeitet, für Unamuno nicht mehr als wahrhaft überheblich gelten kann. Das unerschütterliche Wirken dieses vermeintlich Überheblichen erscheint der Mitwelt dabei als vernunftwidrige locura. Siehe ders., La soberbia (1904), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 819. 303 Ders., VDQ, S. 190. 304 „‚Ama a tu prójimo como a ti mismo‘ – se nos dijo […] y predicar por amor a la Humanidad vale, por consiguiente, tanto como predicar el amor propio. Del cual estaba, por pecado original, lleno Don Quijote, no siendo su carrera toda sino una depuración de èl.“ (Ebd., S. 194.) Derart können nach Unamuno noch die schlechtesten Seiten einer Persönlichkeit, wenn sie große, gute Taten hervorbringen, noch bereinigt werden: „El satánico yo es dañino mientras lo tenemos encerrado, contemplándose a si mismo […]; mas así que lo echamos afuera y lo esparcimos en la acción, hasta su soberbia puede producir frutos de bendición.“ Ders., Sobre la soberbia, S. 818. 305 Von der paradoxen Bewegung, die dazu führt, dass Natur durch die Erkenntnis hindurch wiedererlangt wird, handelt auch der Gedanke einer „ringförmigen Welt“ in Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater (in: Heinrich von Kleist, Der Zweikampf. Die heilige Cäcilie. Sämtliche Anekdoten. Über das Marionettentheater und andere Prosa, Stuttgart 1998, S. 89), auf den Gerhard in einem seiner Notizbücher Bezug nimmt. Am Schluss dieses Aufsatzes wird geäußert: „Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. – Doch so, wie sich der Durchschnitt zweier Linien, auf der einen Seite eines Punkts, nach dem Durchgang durch das Unendliche, plötzlich wieder auf der andern Seite einfindet […]: so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein […]. Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müssten wir wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er; das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“ (Ebd. S. 92.) Zu Gerhards Paraphrase dieses Marionettentheater-Abschnitts in einem seiner Notizbücher (CUL, 7.126) und seiner Verwendung des Begriffs „grace“ im Sinne von ‚Gnade‘ wie auch ‚Grazie‘ siehe ausführlicher Gabriela Lendle, ‚Natur‘ als Utopie – Der Pastoraltopos in Roberto Gerhards Ballett ‚Don Qui-
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darin besteht, die Differenz der Idee gegenüber dem Leben nicht zu überwinden und im Stadium der Intellektualität steckenzubleiben. Die naturales bleiben dagegen von diesem mit der Reflexionskraft einhergehenden Risiko unbehelligt, da sich annehmen lässt, dass die ihnen eigene Reflexion, ihr Traditionswissen, eine nur schwache Differenz gegenüber dem Leben und der Lebenspraxis aufweist, die stets sofort im Handeln eingeholt wird.306 Die abstrakte Struktur dreier Stadien konkretisiert sich bei Unamuno immer wieder mit Blick auf die Situation Spaniens und die bereits in Kapitel II.4.1 angeführte Metaerzählung von der ‚Erweckung‘ des pueblo zu der in ihm ‚schlummernden‘307 heroischen Kraft308 (dabei lässt sich das Kollektiv des pueblo mit Unamunos naturales identifizieren). Mit Blick auf jene Erzählung nimmt einer der beiden Sprecher (Sprecher B)309 im bereits genannten Essay Los naturales y los espirituales Bezug auf „ese tu constante estribillo de que hay que dirijirse al pueblo y darle o devolverle espiritualidad …“310 Das mit jener Erzählung verbundene Argument lässt sich folgendermaßen umreißen: – Das spanische pueblo ist, aufgrund seiner Nähe zum ‚Leben‘, der schaffenden Kraft schlechthin, latent heroisch. Diese Lebensnähe basiert auf der Glaubenskraft (der latenten ‚espiritualidad‘) des pueblo, welche dessen Realitätszugang typischerweise auszeichnet. – Diese latent heroische, wenn auch unbewusst ausgeprägte (nicht oder kaum reflektierte) Kraft im Volk wurde allerdings bislang unterdrückt, und zwar durch den gesellschaftlich einflussreichen Typus des intelectual. Als Spielart des intelectual erscheinen in Unamunos Essay Theologen, die dem Volk eine intellektuelle Glaubenslehre aufoktroyieren und diese an die Stelle der dem Volk eigenen und ‚lebendigen‘ (d. h. wirksamen) Glaubenskraft setzen.311 Jene
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xote‘, in: auf/be/zu/ein/schreiben. Praktiken des Wissens und der Kunst, hrsg. von Juri Giannini u. a., Wien 2014, S. 173–175. Mit Blick auf ein Wissen der naturales lässt sich mit Unamuno annehmen, es handele sich um ein an den Selbsterhaltungsinstinkt angebundenes ‚Wissen um zu leben‘ (siehe Kapitel II.1.2), das sich immer wieder praktisch bewährt und insofern eng an das Leben angebunden bleibt. Zur Ausdrucksweise der im Volk ‚schlafenden‘ oder ’schlummernden’ Glaubenskraft, espiritualidad, oder ‚intrahistoria‘ siehe ders., Los naturales y los espirituales, S. 829 und ders., TC, S. 269 bzw. Anm. 266, Kapitel II.4.1.. Siehe auch die von Faber analysierte Aktualisierung dieser Metaerzählung im Kulturdiskurs der spanischen Volksfront, Anm. 37 und 38, Einleitung. Auch in diesem Essay in Dialogform sollen die beiden Sprecher als A und B bezeichnet werden, wobei von dem als A bezeichneten Sprecher anzunehmen ist, dass er die Unamuno nahestehende Position vertritt. Ders., Los naturales y los espirituales, S. 835. Der von Unamuno für schädlich erachtete Weg einer oktoyierten Volkserziehung wird dabei den Theologen zugeschrieben, in denen eine Spielart des intelectual erkannt werden kann. Diese hätten, so lässt Unamuno den Sprecher A seines Essays sagen, dem Volk eine Glaubenslehre anerzogen, die man dem pueblo als die seine zugeschrieben habe, die das pueblo aber weder geglaubt noch wirklich gekannt habe, und die es, auch wenn es sie kennen würde, nicht glaubte (vgl. ebd., S. 829). Jene ‚tote‘ (man könnte auch sagen: nicht geglaubte) Doktrin der Theologen sei dem pueblo auferlegt worden, anstatt in ihm denjenigen Glauben zu wecken, der dem pueblo eigen und in ihm latent vorhanden sei („[…] van a imponerle la letra muerta de una
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‚lebendige‘ Glaubenskraft lässt sich bei Unamuno nicht als Lehre oktroyieren, denn für sie kennzeichnend ist ihre Nicht-Delegierbarkeit; es handelt sich um etwas dem eigenen Denken und Handeln ganz Eigenes: „Si uno me dice que su religión encierra dogmas o principios que él ignora, esos no son dogmas ni principios de su religión, porque ésta no es suya.“312 Die dem pueblo aufoktroyierte und ihm als dessen ‚eigene‘ unterstellte Tradition habe, so Sprecher A, eine konstante Gewaltausübung gegenüber der eigentlichen Tradition des pueblo dargestellt, gegenüber dessen „fe inconciente“.313 – Weil der authentische Glaube des pueblo bislang unterdrückt wurde und nur unbewusst ‚schlummerte‘, ist das pueblo darauf angewiesen, aus seinem ‚Schlummer‘ ge- oder erweckt zu werden.314 Nur der Typus des espiritual vermag dies zu vollbringen. Er kann das Volk zu seiner latenten Glaubenskraft ‚erwecken‘, weil er ebenfalls dem ‚Leben‘ nahesteht und selber über eine (allerdings bewusste) Glaubenskraft verfügt, die ihn zu großen, heroischen Taten antreibt. In jener Erzählung geht es nicht zuletzt darum, dass die Definitionsmacht darüber, was das pueblo sei und könne, und wessen es bedürfe, in den falschen Händen liegt, nämlich in denen dogmatischer und paternalistischer Theologen (des intelectual), die durch die Indoktrinierung von Glaubenssätzen bei der breiten Masse die Ausbildung aktiven Denkens, v. a. aber die Fähigkeit selbstverantworteten Glaubens und Wollens, verhindert hätten. Bei Unamuno erschöpft sich die ‚Erweckung‘ des Volkes gerade nicht in dessen intellektueller Erziehung oder Ausbildung. So äußert Sprecher A, die intellektuelle Volkserziehung, in der man dem pueblo vermeintlich nützliches Wissen der Physik und Chemie habe vermitteln wollen, habe das pueblo nicht erreicht. Stattdessen könne man es aber erreichen, indem man weniger eine technische, als vielmehr eine philosophische Seite naturwissenschaftlichen Wissens vermittele.315 Am wirkungsvollsten sei es, so Sprecher A, aus dem Wissen
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doctrina que ni conoce ni siente, y no a sacarle de las entrañas espirituales la que tiene allí dormida“). (Vgl. ebd.) Auf die Adaptierung eines solchen, dem pueblo fremden und quasi ‚nachgebeteten‘ Glaubens referiert Sprecher A als „la fe del carbonero“: „[…] la del que, bajo palabra ajena, dice creer en lo que cuenta tal libro sin haberlo leído…“ Ebd., S. 828. Ebd., S. 829. Das Problem des von seinem eigenen Glauben entfremdeten pueblo sieht Unamunos Sprecher A im Delegieren des Glaubens auf professionelle Spezialisten der Religion begründet: „[…] la religión no es delegable ni es la ciencia. Y aquí está el mal: en haber hecho de ella una metafísica, con sus especialistas.“ (Ebd., S. 829.) (Hier lässt sich auch Unamunos Kulturkritik an einem spezialisierten ‚Wissen um zu wissen‘ wiederfinden.) Vgl. ebd., S. 829. In Bezug auf die dem pueblo-Menschen eigene Glaubenskraft spricht Unamuno auch von „su fe secreta y recojida“ (ders., La vida es sueño. Reflexiones sobre la Regeneración de España (1898), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 407) oder von dessen „rutinaria fe“ (ebd., S. 411). Dieser unreflektierte, implizite Glaube beruht auf einer resignativen Haltung des pueblo-Menschen gegenüber der Gleichförmigkeit und Routine seines Alltagslebens. Unamuno spricht in Bezug auf den Realitätszugang des pueblo-Menschen in diesem Sinne auch von dessen ‚geträumtem‘ oder traumhaftem Leben (siehe ebd., S. 407 und 411). Das pueblo ist insofern darauf angewiesen, durch den Heroen aus seinem ‚Schlaf‘ des Tagesgeschäfts ‚geweckt‘ zu werden. „De irles con física o química, creo […] que les son más provechosas las altas teorías de esas ciencias, su parte filosófica, lo que de ellas puede sumirnos en el reino del espíritu, que no esas
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Dichtung zu machen, denn Dichtung sei die ‚Nahrung‘, die das Volk assimiliere, und der Dichter („poeta“) sei derjenige, der dem pueblo-Menschen am nächsten stehe und ihn von der „naturalidad“ zur „espiritualidad“ zu führen vermöge. Dabei rät er das (mittlere) Stadium der Intellektualität wenn möglich zu überspringen,316 um die Verfügung über jenen geistigen Schatz („el tesoro espiritual“) nicht dem intelectual an die Hand zu geben.317 In besonderer Weise steht bei Unamuno der Dichter (der ‚poeta‘) für den espiritual ein, und es sei hierbei erwähnt, dass in einem der Szenarios zu Gerhards früher Ballettfassung, und mit Bezug auf die von Priester und Barbier eingefädelte Gefangennahme des Ritters, die Rede ist von: „The Poet’s emprisonement[sic]“,318 was nahelegt, dass Gerhard seine Don Quixote-Figur als einen ‚poeta‘ bzw. espiritual im Sinne Unamunos begriff. Nach Unamuno vermag der Dichter, nicht durch die Vermittlung intellektuellen Wissens, sondern durch die Vorbildhaftigkeit seines Handelns, das Volk zu ‚erwecken‘: „*[…] Y si se le predica […] al pueblo […] que no delegue, es posible que, recojido en sí y buscando con anhelo por dónde romper, se eleve de su naturalidad a su espiritualidad por salto. […] Y aquí veo la superioridad del espiritual respecto al intelectual para con el pueblo; y es que el intelectual le enseña lo que ha aprendido, conocimientos que tiene almacenados en su intelecto, y el espiritual le enseña lo que es, le enseña su propia alma, su personalidad. Y da al pueblo la visión más robusta, la más avivadora que puede dársele, cual es la visión de un hombre entero y verdadero, la revelación de un alma al desnudo. […].“*319
Entscheidend für das ‚Erreichen‘ des pueblo wird damit das glaubende und handelnde Vorbild des espiritual – man könnte auch sagen: dessen gelebte und verkörperte Idee – im Gegensatz zur (verbal vermittelten) Lehre oder Theorie. So steht der espiritual oder ‚poeta‘ für den absolut aufrichtigen und glaubwürdigen Menschen („un alma al desnudo“), der sein Innerstes nicht verbirgt, sondern es offenbart und nach außen kehrt.320 Der Heroe und espiritual steht dieserart für die wahrhaft verkörperte Idee, in der sich ‚Leben‘ manifestiert, während der intelectual mit der po-
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otras nociones técnicas.“ (Ders., Los naturales y los espirituales, S. 836.) Mit Unamuno lässt sich annehmen, es handele sich bei jenem philosophischen Aspekt von Wissenschaft und Zivilisation um denjenigen, der Teil der Kultur wird und im Kollektivbewusstsein erhalten bleibt (siehe Kapitel II.3.1). „El poeta […] es el que puede llevarle [al pueblo, G. L.] de la naturalidad a la espiritualidad, o ya paso a paso por camino de intelecto, o más bien por salto.“ Ebd., S. 838. Vgl. ebd. Roberto Gerhard, Übersicht der musikalischen Formteile und der Szeneninhalte zu Ballett I, CUL 13.12/2. Ebd., S. 838. Dieser markierte Textabschnitt wurde von Gerhard zweifach mit dem Randvermerk „important“ versehen. Der von Gerhard markierte, in Anm. 319 belegte und bereits auszugsweise zitierte Textabschnitt setzt sich folgendermaßen fort: „*[…] El poeta, si lo es de verdad, no da conceptos ni formas; se da a sí mismo. […] Debemos todos abrirnos ante el pueblo el pecho del alma, desgarrarnos las vestiduras espirituales y mostrándole nuestras entrañas, decirle: He aquí el hombre. Y el pueblo que se eduque a ver hombres acabará por buscarse, zahondar en sus entrañas espirituales, descubrir en ellas la fuente de su vida, y decir a los demás pueblos: ¡He aquí el pueblo!*“ Ebd., S. 838 f.
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tenziell lügenhaften Differenz der Reflexion gegenüber dem Leben verbunden wird. Und Unamuno verknüpft den Moment, in welchem der espiritual das pueblo zur Einsicht in die Unwahrhaftigkeit des ihn bevormundenden intelectual aufrüttelt, mit Sanchos Entschluss, seinem Herrn nachzufolgen (was verbildlicht, dass ein natural wie Sancho sich direkt – das Stadium der intelectualidad überspringend – zum espiritual erhebt): „[…] el día en que hombres de veras espirituales digan a nuestro pueblo, a los naturales: ‚te engañan los intelectuales ésos, y no creas lo que te dicen que crees y repites tú que lo crees‘, entonces Sancho, de quien no se cuenta que muriera, despertará a la voz de Don Quijote, redivivo, y, dejando al bachiller Carrasco con la palabra en la boca, volverá a irse tras su amo […]. Sancho espera a Don Quijote, aun sin saber que lo espera; los naturales esperan a los espirituales, hastiados de los fríos y hueros sermones del intelecto revestido de piedad.“321
Mit Blick auf die dargelegte Metaerzählung liegt es nahe, die in Kapitel III.4.1 bereits geäußerte Behauptung der Entschlüsselbarkeit von Sanchos Übernahme der quixotischen locura in Gerhards Ballett II (welche Gerhard von Unamuno entlehnte) hinsichtlich einer nationalen Symbolik noch einmal zu bekräftigen. Eine entsprechende Deutung der Übernahme des Wahns durch Sancho impliziert, dass eine Erneuerung Spaniens von der ‚Erweckung‘ des spanischen pueblo zu seiner ihm eigenen, bislang unterdrückten Glaubenskraft und Spiritualität (auch: locura) abhängt und es der durch Don Quixote verkörperten Qualitäten eines espiritual und Dichters (‚poeta‘) bedarf, um jene ‚Erweckung‘ des Volks und Erneuerung Spaniens zu vollbringen – immer vorausgesetzt, dass auch Gerhard, ebenso wie Unamuno, in Sancho das spanische pueblo, und in Don Quixote die Führungsfigur eines espiritual erkannte. Im gleichen Kontext der durch den espiritual ‚erweckten‘ naturales lässt sich weiter die bereits erwähnte Romanepisode mit Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter lesen, und zwar sowohl bei Unamuno wie auch bei Gerhard. Vor dem Hintergrund der ausgebreiteten Folie dreier Menschheitsstadien bzw. Menschentypen lassen sich die Rezipienten der Rede, die Ziegenhirten, bei Unamuno als typische Vertreter der naturales (bzw. der pueblo-Menschen) auffassen. Das gegenseitige Verstehen zwischen Don Quixote und den Ziegenhirten verweist auf die von Unamuno nahegelegte Affinität zwischen espirituales und naturales, mit der sich begründen lässt, dass Unamuno in seinem Kommentar zur Episode behauptet, dass die Haltung und Intention von Don Quixotes Rede die Ziegenhirten erreicht habe. In seinem Kommentar weist Unamuno auf die Diskrepanz zwischen dem hohen, das Rittertum nachahmenden Stil von Don Quixotes Worten und den einfachen Adressaten der Rede hin.322 Dass die Ziegenhirten auf Don Quixotes Rede zunächst 321 „[…] el día en que hombres de veras espirituales digan a nuestro pueblo, a los naturales: ‚te enganan los intelectuales ésos, y no creas lo que te dicen que crees y repites tú que lo crees‘, entonces Sancho, de quien no se cuenta que muriera, despertará a la voz de Don Quijote, redivivo, y, dejando al bachiller Carrasco con la palabra en la boca, volverá a irse tras su amo […]. Sancho espera a Don Quijote, aun sin saber que lo espera; los naturales esperan a los espirituales, hastiados de los fríos y hueros sermones del intelecto revestido de piedad.“ Ebd., S. 830. 322 Im Roman ist zu lesen, dass die Ziegenhirten mit unverständigem Staunen auf Don Quixotes Rede reagiert hätten. Dem Erzähler in Cervantes’ Roman gilt dies als Argument, Don Quixotes
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mit unverständigem Staunen reagieren, spricht für Unamuno keinesfalls gegen den Erfolg der Rede. Er legt vielmehr nahe, dass die Verwunderung der Ziegenhirten ja gerade anzeige, dass Don Quixotes Rede eine Wirkung gehabt haben müsse. Zudem hätten sie ihm ihren Dank für die Rede erwiesen, indem sie ihn bewirtet hätten und einer der Ziegenhirten veranlasst habe, dass ein verliebter Bursche Don Quixote einen Gesang darbiete.323 Der heroische Wahnsinn Don Quixotes in dieser Episode besteht für Unamuno gerade darin, die Rede an Ziegenhirten zu richten, welche diese ihrem Wortlaut nach nicht verstehen: „Robusta fe en el espíritu hace falta para hablar así a los de torpes entendederas, seguros de que sin entendernos nos entienden y de que la semilla va a meterse en las cárcavas de sus espíritus sin ellos percatarse de tal cosa.“324
Auch in Gerhards Ballett-Szenario wird nahegelegt, dass die Rede keinesfalls ohne Wirkung blieb: Obwohl die Ziegenhirten die Redeinhalte nicht teilen konnten – der von einem arkadischen Schäferpaar getanzte „pas de deux des ‚Goldenen Zeitalters‘ [wird] nur von D. Q., nicht von seinen Zuhöreren[sic] gesehen“325 –, bedanken sich die Ziegenhirten in Gerhards Ballett anschließend für Don Quixotes Rede: „[Ziffer] 67[:] Ziegenhirte[n] führen, als Dank für die Erzählung, volkstümliche Tanzschritte auf.“326
Ganz im Sinne Unamunos wird so ein mögliches Scheitern des Abenteuers in Frage gestellt.327 Auch Gerhard deutet Don Quixotes Unternehmung, eine Rede utopischen Charakters an einfältige Ziegenhirten zu richten, also im Sinne eines erfolgreich ausgehenden Abenteuers und Don Quixotes Wahn im Sinne der Größe des
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Rede im hohen Stil als ungeschickt zu verurteilen und zu bemerken, dass sie die Hörenden nicht erreicht: „Diese Rede, welche ganz gut hätte unterbleiben können, hielt unser Ritter aus dem Anlaß, daß die ihm gespendeten Eicheln ihm das Goldene Zeitalter in Erinnerung brachten, und so gelüstete es ihn, diese zwecklosen Worte an die Ziegenhirten zu richten, welche ohne ein Wort der Erwiderung ihm mit offenem Munde und still vor Verwunderung zuhörten. So schwieg auch Sancho und verzehrte Eicheln und besuchte gar häufig den zweiten Schlauch, den sie, um den Wein zu kühlen, an einer Korkeiche aufgehängt hatten.“ (Miguel de Cervantes, DQ I/11, S. 90.) Die abfällige Beschreibung der „zwecklosen Worte“ dient Unamuno als Beispiel dafür, dass der Autor Cervantes seine eigene Schöpfung, die Figur des Don Quixote, nicht recht verstehe – ein wiederkehrender Tenor seines Quixotismo. Vgl. Miguel de Unamuno, VDQ, S. 215 f. „Robuster Glaube an die Macht des Geistigen tut Not, um derart zu dem schlichten Verstand [der Ziegenhirten, G. L.] zu sprechen, in der Überzeugung, dass sie uns, ohne zu verstehen, doch eigentlich verstehen und dass der Samen [der Rede] sich in den Felsschluchten ihres Geistes einpflanzen wird, ohne dass sie dies noch bemerken werden.“ Ebd., S. 213 [Übersetzung, G. L.]. Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], 13.11, S. 4. Ebd., S. 4. Gerhard konzipiert bereits im frühen Szenario zu Ballett I den pas de deux des Schäferpaars zusammen mit einem darauffolgenden Tanz der Ziegenhirten: „ II. a) Adagietto irreale 6/8.- (Pas de deux ‚The Golden Age‘) 2’40 b) Allegretto pastorale 2/4.- (Dance of the goatherds) 1’-“ Roberto Gerhard, Übersicht der musikalischen Formteile und der Szeneninhalte zu Ballett I, 13.12/2.
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Ritters. Und auch bei Gerhard könnte man voraussetzen, dass die naturales unter allen Gesellschaftsgruppen (bzw. die Ziegenhirten unter allen Romanfiguren) am ehesten dazu disponiert sind, Don Quixotes utopische Vision eines Arkadien zu verstehen und damit zugleich zu ihrer latenten Geistigkeit (‚espiritualidad‘) ‚erweckt‘ zu werden.328 In Unamunos Kommentar lässt sich der angenommene Erfolg von Don Quixotes Rede auf die aufrichtige Haltung zurückführen, in welcher Don Quixote seine Rede hervorbringt. Es sei, so Unamuno, nicht der ‚gesuchte rhetorische Stil‘ („las rebuscadas retóricas“) von Don Quixotes Rede gewesen, der das Bewusstsein der Ziegenhirten erleuchtet habe, sondern Don Quixotes Erscheinungsweise und seine Redehaltung („[…] el verle armado de punta en blanco, con su lanzón a la vera, las bellotas en la mano, y sentado sobre el dornajo; dando al aire de que respiraban todos reposadas palabras vibrantes de una voz llena de amor y de esperanza.“).329 Mit Blick auf die Abwertung des Wortinhalts gegenüber der Redehaltung lässt sich daran denken, dass Unamuno dem ‚poeta‘ bzw. espiritual zuschrieb, nonverbal, nämlich durch seine Vorbildhaftigkeit und Wahrhaftigkeit wirksam zu sein. Gegenüber dem intelectual, der an das pueblo Ideen und Theorien weitergibt, gebe der „poeta“, so Unamuno, dem Volk nicht eine Lehre, sondern ‚sich selber‘ („*[…] El poeta, si lo es de verdad, no da conceptos ni formas; se da a sí mismo. […].*“).330 Dies verweist auf das Aufrichtigkeitsthema, das in das Zentrum der endzeitlichen (und durch den espiritual zu realisierenden) Utopie Unamunos führt, der Utopie eines Kollektivbewusstseins: Unamuno äußert die Vorstellung, dass alle menschlichen Bemühungen darauf zielten, aus der gesamten Spezies eines Tages einen einzigen ‚Kollektivkörper‘ zu formen, eine Welt- oder Menschheitsgesellschaft („la sociedad humana“), an der jeder Einzelne teilhaftig sei („una especie de inmenso animal colectivo de que cada hombre sea célula […].“).331 Das Telos jedes Einzelnen bestünde demnach in seiner Integration in jene werdende Weltgesellschaft („El fin del hombre sería, en tal caso, la humanidad.“332). Mit jenem ‚Kollektivkörper‘ meint Unamuno die Gemeinschaft der individuellen Seelen (bzw. ‚gelebten Ideen‘) in einem einzigen Kollektivbewusstsein, in dem jeder Mensch der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seine ‚Spur‘ hinterlässt. Dies fällt zusammen 328 Denn im Szenario wird die positive Haltung der Ziegenhirten gegenüber Don Quixote betont: Nachdem dieser, den Barbierhelm erstreitend, in Ohnmacht gefallen ist, umsorgen die Ziegenhirten ihn: „[Ziffer] 59[:] Drei ZIEGENHIRTEN treten auf, helfen Sancho und Barbier sehr behutsam und liebevoll den bewusstlosen Ritter auf die andere Seite der Bühne zu tragen; wieder zu sich kommend, in sitzender Stellung, umringt von der Gruppe[,] die mit dem Rücken gegen die Bühne sitzen, erzählt er vom ‚Goldenen Zeitalter‘…“ (Ders., „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], 13.11, S. 4 [Unterstreichung von Gerhard].) Auch bei der Wiederkehr des erwähnten kurzen Tanzabschnitts der Ziegenhirten (Ziffer 67) gegen Ende der Szene 3 (bei Ziffer 79), nach Don Quixotes Plünderung durch die von ihm freigelassenen Galeerensklaven, wird die fürsorgliche Haltung der Ziegenhirten betont: „[Ziffer]79[:] Ziegenhirte und Dorfbarbier kommen vorsichtig zurück, tragen D. Q. und Sancho langsam hinaus.“ Ebd. S. 5. 329 Miguel de Unamuno, VDQ, S. 214. 330 Siehe Anm. 320. 331 Miguel de Unamuno, Soledad, S. 891. 332 Vgl. ebd.
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mit dem von Unamuno angeführten einzigen und universellen Bewusstsein, in dem alles erhalten bleibt und erinnert wird.333 Nach Unamuno kann potenziell jeder Einzelne dazu gelangen, jene Weltgesellschaft zu repräsentieren,334 und man könnte hinzufügen: Insofern jeder Einzelne unersetzbarer Teil jener Weltgesellschaft ist, ließe sich jenes Ganze von jedem Einzelnen ausgehend denken und repräsentieren. Es handelte sich also um eine nicht-hierarchische Gesellschaft, doch müsste, wer sie repräsentiert, ihr völlig zugehören und sie als möglichst Ganze quasi in sich tragen.335 Die Integration in jenes Kollektivbewusstsein vollzieht sich nach Unamuno als Vereinigung der einzelnen Seelen, und diese hängt von der absoluten Aufrichtigkeit des Individuums ab. Unamuno geht davon aus, dass Menschen aus Schamhaftigkeit ihre Seelen mit einer ‚Schale‘ von Unaufrichtigkeit voreinander verbergen. Es sei notwendig, dass die uns voneinander trennenden ‚Schalen‘ unserer Seelen zerstört würden und deren Inhalt (das individuelle Bewusstsein) mit dem anderer Seelen fusioniere. Wie Unamuno angibt, sei zu glauben, dass etwas Reines und Großes entstünde, wenn die Ideen der Dummen mit denen der Klugen und die Affekte der Bösartigen mit denen der Tugendhaften fusionierten.336 Unamunos Rede von der Fusion zielt dabei auf eine spezielle Form der Vereinigung, die auf die absolute Integration jedes Subjekts und aller Subjektivität zielt.337 333 Siehe ders., VDQ, S. 525 f. Siehe auch der theologische Hintergrund jener „sociedad perfecta“ in ders., STV, S. 153–156. 334 „Son muchos […] los que se imaginan el linaje humano como un ser, un individuo colectivo y solidario, y en que cada miembro representa o puede llegar a representar a la colectividad toda […].“ Ders., STV, S. 153. 335 Für das Kollektivbewusstsein repräsentativ ist der Heroe. Unamuno bezeichnet ihn als ‚individualisierte Kollektivseele‘ („alma colectiva individualizada“) und als Teil des pueblo und dessen ‚geistiger Netzknoten‘ („nodo espiritual“). Siehe ders., El caballero de la triste figura. Ensayo iconológico (1896), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 373. 336 Gerhard versah diesen markierten Abschnitt mit dem Vermerk „important“: „*Y ya te he dicho que para que esa humanidad cuaje y se fragüe, es menester primero que se nos rompan a todos los[sic] costras […], y que nuestros sendos contenidos espirituales se viertan por las hendiduras de la costra rota […], y se mezclen y confundan los unos con los otros. Y entonces, al fundirse las ideas de los tontos con las de los sabios, a los afectos de los malvados con los de los virtuosos, y los sentimientos de todos, cree que saldrá algo grande y puro. Porque hoy apenas conocemos sino las mezclas, no las fusiones de ideas y de sentimientos. […] Y no dudes sino que, en punto a ideas y sentimientos, lo pernicioso es la mezcla, no la confusión. […]*“ Ders., Soledad, S. 891 f. 337 Unamunos menschheitliche Gesellschaft oder Kollektivseele ließe sich gerade nicht durch ein Abstraktum repräsentieren, welches das Besondere dem Allgemeinen opfert. Vielmehr stellt jene Kollektivseele bei Unamuno die besondere Form einer Union dar, in der das Subjektive und Eigene des Einzelnen als völlig Eigenes bewahrt bleiben soll. Unamuno erklärt, es gebe zweierlei Arten von Vereinigung, erstens eine Vereinigung, bei welcher das voneinander Differente der sich vereinigenden Elemente vom Sich-Vereinigenden abgetrennt würde („separando diferencias de los elementos que se unen“) – dies entspräche einem Abstraktionsvorgang –, und zweitens eine Vereinigung im Sinne einer Fusion, bei der hingegen ausgerechnet die Elemente des Unterschiedlichen integriert. (Vgl. ebd., S. 900.) Diesen Gedanken bezieht Unamuno auf die durch eine Fusion von Seelen zu erreichende Kollektivseele bzw. eine neue, utopische Gesellschaftsordnung. Wenn, so Unamuno, von demjenigen abgesehen werde, was an dem Reali-
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II. Der quixotische Code: Quixotismo als Hintergrund von Gerhards Ballett
Für den absolut Aufrichtigen, der seine Seele ausströmt und (scheinbar paradox) im Kontakt mit seinem eigenen Innen dasjenige berührt, was allen gemeinsam ist, steht bei Unamuno der ‚poeta‘ („Un poeta es un hombre que no guarda en su corazón secretos para Dios, y que, al cantar sus cuitas, sus temores, sus esperanzas y sus recuerdos, los monda y limpia de toda mentira“338), während das Gegenbild zu diesem der undurchdringliche, unaufrichtige und sich vereinzelnde ‚Schalentier‘-Mensch bildet.339 Dieses Gegenbild zum ‚poeta‘ oder espiritual ist v. a. durch seine Absonderung vom Kollektivbewusstsein und durch seine Distanz von den echten Repräsentanten der Gesellschaft (Volk und ‚poeta‘) gekennzeichnet;340 dagegen zeichnet den ‚poeta‘ seine Fähigkeit zur Integration aus, und dies in Bezug auf eine Seelenfusion wie auch eine gesellschaftliche Integration. Das Erreichen des Kollektivbewusstseins, und damit des letzten Stadiums geschichtlicher und gesellschaftlicher Evolution, bezeichnet Unamuno auch als ‚Zeitalter des Geistigen‘ („edad del espíritu“);341 das Erreichen desselben geht mit der Überwindung der vorangegangenen ‚Zeitalter‘ des Natürlichen und der Vernunft einher. „*Hace ya mucho tiempo que me está dando vueltas en la cabeza la idea de que el principio de la nueva edad, de la edad del espíritu – la primera es la de la naturaleza y, la segunda, en la que vamos entrando, la de la razón –, el principio de la edad del espíritu será la muerte del pudor y del entronizamiento de eso que llamamos hoy cinismo. La gran institución social de
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tätszugang jedes Einzelnen eigen und besonders sei – Eigenschaften, welche dieser vor Furcht als wahnsinnig zu gelten vor anderen verstecke –, und nur übrig gelassen werde, was an diesem Realitätszugang mit dem des Rests der Gesellschaft übereinstimme, dann ergebe das resultierende Gemeinsame jenen schrecklichen Firlefanz, der als „sentido común“ bezeichnet werde („el abstracto de la inteligencia práctica […]“); wenn man hingegen ausgerechnet die unterschiedlichen Urteilskategorien von Menschen mit alledem, was diese eifersüchtig für sich behielten, in eine Übereinstimmung brächte, deren Launen, Sonderbarkeiten und Besonderheiten, dann erhielte man den „sentido humano“, und bei denjenigen, die reich an diesem ‚Sinn für das Menschheitliche‘ seien, stelle dieser zugleich deren ureigenen Sinn bzw. Realitätszugang („sentido propio“) dar. (Vgl. ebd., S. 900 f.) Jene Form der Union kann nach klassifizierenden oder quantifizierenden Kategorien als irrational gelten, denn die Kategorie eines absolut qualitativen Suprabewusstseins fügt sich in keine formalisierende oder quantifizierende Sichtweise. Siehe ebd., S. 887. Zwar ist Unamuno davon überzeugt, dass Menschenseelen grundsätzlich ‚undurchdringlich‘ seien, d. h. nicht miteinander in Kontakt treten könnten, es sei denn, wenn ihre Hüllen („sobrehaces“) einander berührten („por sus sobrehaces en toque“). (Ebd., S. 890.) Die meisten Seelen erschienen ihm, so Unamuno, wie Schalentiere, ihre Schale nach außen und ihr Fleisch nach innen tragend. (Vgl. ebd.) Dem entgegen steht bei Unamuno der „poeta“, bei dem die Seele aus der Schale ausströme: „*Y el poeta es aquel a quien se le sale la carne de la costra, a quien le rezuma el alma. Y todos, cuando el alma en horas de congoja o de deleite nos rezuma, somos poetas.*“ (Ebd.) So kann Unamuno trotz jener Undurchdringlichkeit der Menschenseelen die Hoffnung einer Union von Seelen zu einer Kollektivseele (einem „espíritu colectivo, el alma de la humanidad“) äußern. (Vgl. ebd.) Diese Absonderung vom Ganzen (dem Kollektivbewusstsein) ist auf erkenntnistheoretischer Ebene vergleichbar mit der erwähnten unaufgehobenen Differenz der Idee gegenüber dem ‚Leben‘, die das intellektuelle Stadium auszeichnet. Insofern gehören Unamunos ‚Schalentier‘Mensch und der intelectual dem gleichen Reflexionsstand und Typus an. Ebd., S. 897. Siehe auch ders., La ideocracia, S. 440.
II.4. Don Quixote als Chiffre für Spanien
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aquella edad será la de la confesión pública, y entonces no habrá secretos. Nadie estimará malo el abrigar tal o cual deseo impuro, o el sentir este o el otro afecto poco caritativo, o el guardar una u otra mala intención, sino el callarlo. Y cuando eso llegue, y anden las almas desnudas, descubrirán los hombres que son mucho mejores de lo que se creían y sentirán piedad los unos de los otros, y cada uno se perdonará a sí mismo y perdonará luego a todos los demás.*“342
Hier lässt sich sehen, dass der absolut aufrichtige espiritual bei Unamuno nicht nur für eine sehr kleine gesellschaftliche Führungselite steht, die beanspruchen darf, das pueblo wahrhaft zu repräsentieren (während der Typus des intelectual sich dies vielmehr anmaßt); er steht auch für den Anbruch eines neuen Geschichtsstadiums (der „edad del espíritu“) bzw. für eine perfekte Gesellschaft. (In Kapitel III.5.1 wird zu sehen sein, dass Gerhard eine neuartige Harmonik findet, um den Aspekt des Utopischen von Don Quixotes Rede ins Musikalische zu übersetzen.) Mit seinem Aufrichtigkeitsthema343 stellt sich Unamuno in eine Reihe mit Ursprungs- und Entfremdungstheorien, die den Topos vom Goldenen Zeitalter typischerweise auszeichnen. Dabei ist zu beachten, dass Unamuno eine verlorene Natur und Wahrhaftigkeit nicht in einem Rückgängigmachen der Reflexion sucht, sondern im Einholen derselben im Handeln und Wirken, einem ‚vorwärts zur Natur‘,344 und dies heißt mit Blick auf eine geschichtliche Evolution: in der Endzeitvision eines Kollektivbewusstseins und der darin integrierten Weltgesellschaft. Stets geht es bei jenem Wiedererlangen von Natürlichkeit unter den Bedingungen einer hochdifferenzierten Zivilisation und arbeitsteiligen Gesellschaftsstruktur um eine geglückte Integration des Außen ins Innen (d. h. auch: um eine Extension des eigenen bzw. kollektiven Bewusstseins). Und diese bringt im Gegenzug ein Angeeignet-Werden – nämlich eine Formung des Bewusstseins – durch das Außen mit sich.
342 Ders., Soledad, S. 897 (dieser Textabschnitt wurde von Gerhard markiert und mit dem Vermerk „important“ versehen). 343 Bemerkenswert in Bezug auf Unamunos Aufrichtigkeitsthema ist ein generelles Misstrauen gegenüber jeglichem Medium, in dem sich eine Idee äußert. Bereits das gesprochene, und noch mehr das geschriebene Wort ‚korrumpiert‘ bereits tendenziell eine Idee. Durch das Äußern wird die Idee allgemein verfügbar und erhält damit einerseits die Chance gedacht, gelebt und damit ‚wahr‘ gemacht zu werden, gerät andererseits aber auch in Gefahr zur Konvention und ‚toten‘ Formel zu werden, zum nicht gebrauchten Wissen, zur unzeitgemäßen Institution, und damit zum Zivilisationsballast. Wissen und Reflexion bergen bei Unamuno immer schon latent eine Differenz bzw. Entfremdung gegenüber dem Leben. Zum Thema der Entfremdung siehe ders., Intelectualidad y Espiritualidad, S. 702–707. In diesem Essay finden sich auf das Entfremdungs- und Aufrichtigkeitsthema abzielende Markierungen Gerhards, die zum Teil mit dem Vermerk „important“ versehen sind, siehe ebd, S. 705 und ders., La ideocracia, S. 430 und S. 437. 344 In seinem Romankommentar verweist Unamuno auf eine Tradition des Goldenen-ZeitalterGedankens in Rhetoriktraktaten („[…] aquel discurso de la edad de oro, que en tantos muestrarios de retórica se reproduce.“, ders., VDQ, S. 212) und darauf, dass jene, in der Vergangenheit angesiedelte Vision im Sinne einer Zukunftshoffnung geäußert wird, d. h. nicht als ein verlorengegangener, sondern als wiederzuerlangender Zustand. Vgl. ebd., S. 212 f.
III. DER CODE IN GERHARDS BALLETT DON QUIXOTE III.1. ZUR ENTSTEHUNG DES BALLETTS In Teil III dieser Arbeit werden zum einen Berührungspunkte zwischen Gerhards Ballettkonzept und Unamunos Quixotismo analysiert, zum anderen wird aufgezeigt, wie die (Zwölfton-)Visionen von Gerhards Don Quixote-Figur in Musik gesetzt wurden – jene Visionen, die sich zur Annahme präexistenter Tonbeziehungen und zu Schönbergs einheitlicher Anschauung des musikalischen Raums in Bezug setzen lassen. Die Grundlage für die musikalisch-technischen Analysen bildet die erst 1991 edierte Partitur der Ballettmusik.1 Um Wandlungen im Konzept des Balletts nachzugehen, wurden in der vorliegenden Arbeit aber auch einige der an der CUL zugänglichen Partituren und Ballettszenarios früherer Werkstadien herangezogen. Diese Werkstadien umfassen die erste, nie aufgeführte Frühfassung des Balletts von 1940/41 (im Folgenden Ballett I, gegenüber der späteren Ballettfassung von 1949, dem Ballett II), eine Bearbeitung derselben zur Suite für Kammerorchester (Suite Nr.1) von 1941, Musik zu einem siebenteiligen BBC-Radiohörspiel The Adventures of Don Quixote (entstanden 1940 und 1944) nach einem Text von Eric Linklater,2 eine zweite Suite für die Besetzung eines Sinfonieorchesters (Sinfonische Suite Nr.2) und die Endfassung des Balletts, Ballett II, das im Februar 1950 in London uraufgeführt wurde und nur etwa die Hälfte der Spiellänge von Ballett I aufweist. Nach Abschluss des Ballett II entstand als Auszugsfassung der Komposition weiter die Suite Dances from ‚Don Quixote‘, die in einer Fassung für Kammerorchester (1958) sowie der früher entstandenen Fassung für Klavier solo vorliegt.3 Bei diesen Auszugsfassungen handelt es sich, wie David Drew schreibt, um die einzigen zu Gerhards Lebzeiten edierten Fassungen der Komposition.4 Anfang des Jahres 1940 erhielt Gerhard von Harold Rubin, dem Inhaber des Arts Theatre Club London, in dem sich die früheren Ballettkompanien Rambert und London Ballet vereinigten, den Auftrag zum einaktigen Ballett Don Quixote.5 Der 1 2
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Roberto Gerhard, Don Quixote, London: Boosey & Hawkes 1991. Hierzu liegen sowohl die Partiturautographe der Hörspielmusik als auch das Radioskript vor: Roberto Gerhard, The Adventures of Don Quixote. Incidental Music for BBC Radio (Cervantes’ novel adapted by Eric Linklater) [1940 y 1944] Orquesta, CUL MS.Gerhard.3.44; ders., Radioscript (Broadcast 1943, January), CUL MS.Gerhard.13.9/1. Wie eng die Bezüge zwischen der Hörspielmusik und dem Ballett sind, wäre noch zu untersuchen. Joaquim Homs gibt sogar an, die beiden Sinfonischen Suiten seien aus der Hörspielmusik hervorgegangen. (Vgl. Joaquim Homs, Robert Gerhard and his Music, S. 42.) Jenes Hörspiel wurde hier nicht berücksichtigt, vorrangig weil das dazugehörige Libretto nicht von Gerhard, sondern von Linklater stammt. Siehe David Drew, Publisher’s note, in: Roberto Gerhard, Don Quixote, London: Boosey & Hawkes 1991 (= Vorwort des Herausgebers und Verlegers). Vgl. ebd. Ein an Gerhard gerichteter Brief von Harold Rubin, dem Inhaber des Arts Theatre Club, vom
III.1. Zur Entstehung des Balletts
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Stoff wurde wahrscheinlich von den Direktoren der Ballettkompanie vorgegeben,6 ebenso die Besetzung für Kammerorchester mit zwei Klavieren,7 während Gerhard selber das Szenario verfasste. Der Aufbau des Ballett I umfasst in der Partitur fünf Szenen, umrahmt von einem Prolog und einem Epilog. Die Anlage ist zweiteilig mit einer Pause nach der zweiten Szene. Zu jener Frühfassung liegen ein Partiturautograph8 sowie einige korrespondierende Szenarioentwürfe vor. Jene erste, rund 50-minütige Fassung des Balletts kam niemals zur Aufführung, da sich die Ballettkompanie von Rubin nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auflöste. Uraufgeführt wurde dagegen am 11. Februar 1941 am Arts Theatre in Cambridge die auf dem Ballett I basierende Suite für Kammerorchester,9 deren Partitur als verloren gilt.10 Über jene Orchestersuite berichtete Gerhard an Josep Valls: „La primera Suite de ‚D. Q.‘ fa uns 29m., conté entre altres coses dues xacones (vulgar i noble) i una gran escena burlesca per a violí solo amb acompanyament de percussió i breus intervencions d’un piano.“11
Diese Suite Nr. 1 erklang außerdem in einer Rundfunkproduktion der BBC unter Einfügung kurzer (wahrscheinlich von Gerhard) verfasster Handlungskommentare.12
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15. Juli 1941 weist auf die ungefähr auf Mitte Januar 1940 zu datierende Planung des BallettProjekts hin. Vgl. Harold Rubin, Brief an Roberto Gerhard, CUL 15.18. Auch dem Radioskript zur Rundfunkproduktion der Don Quixote-Suite Nr.1 ist zu entnehmen, dass der Stoff von den Direktoren der Ballettkompanie vorgegeben wurde. Der Verfasser jenes Radioskripts ist unbekannt, es ist aber wahrscheinlich, dass es sich um Gerhard selbst handelt. (Siehe hierzu: [Verfasser anonym], Don Quijote, (undatiertes Radioskript, spanisch), CUL 11.20/2.) Sánchez de Andrés bemerkt allerdings, dass der Ballettauftrag möglicherweise auf Gerhards Vorschlag hin zustande kam. Vgl. Leticia Sánchez de Andrés, Roberto Gerhard’s Ballets: Music, Ideology and Passion, in: RGC, S. 92. Über diese äußerte Gerhard: „Aquesta composició de l’orquesta em fou dictada; els dos pianos, especialment, m’imaginava que em vindrien molt a repel, el resultat va ser enterament al revés, son uns dels high-lights de la partitura.“ („Diese Besetzung wurde mir vorgegeben; insbesondere von den zwei Klavieren nahm ich an, dass sie mich abschrecken würden, aber das Resultat stellte sich als genau umgekehrt heraus, sie gehören zu den high-lights der Partitur.“) Roberto Gerhard, Brief an Josep Valls vom 9.10.1945, CUL 14.437, S. 2 [Unterstreichung von Gerhard, Übersetzung, G. L.]. Das Manuskript (in Bleistift) dieser frühen Ballett-Fassung ist auf der Umschlaginnenseite betitelt als ’Don Quixote’ 1st Original Version, full score, MS und am Partiturende datiert auf 1940/41 (= CUL MS.Gerhard.4.9). Aufgeführt wurde jene Don Quixote-Suite Nr.1 durch Mitglieder des BBC Symphony Orchestra unter Leitung von Constant Lambert (damals Leiter des Sadler’s Wells Ballet). Siehe David Drew, Publisher’s note, in: Roberto Gerhard, Don Quixote (= Herausgebervorwort). Im Manuskript-Katalog der CUL findet sich in Betreff des Eintrags „Without Classmark!: DQ 1941 Suite No.1 for small orchestra“ der Vermerk „removed“. „Die erste Suite von Don Quixote dauert ungefähr 29 Minuten, sie enthält u. a. zwei Chaconas (eine vulgär, eine nobel) und eine große burleske Szene für Violine solo mit Begleitung des Schlagwerks und kurzen Einwürfen des einen Klaviers.“ Roberto Gerhard, Brief an Josep Valls vom 9.10.1945, CUL 14.437, S. 2 [Übersetzung G. L.]. Das zugehörige Radioskript unbekannten Verfassers gibt Einsicht in den Aufbau der Suite. Darin heißt es, sie enthalte von den sieben Bildern des Balletts (inklusive Prolog und Epilog) nach musikalischen Kriterien ausgewählte Teile. Aus dem Laufplan des Skripts und den Hand-
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Im Jahr 1947 entstand die zweite Sinfonische Suite für die reguläre Besetzung eines Sinfonieorchesters.13 Sie wurde am 4. Juni 1947 beim 21. Musikfest der IGNM in Kopenhagen unter der Leitung von André Souris uraufgeführt14 und stellte die grundlegende Basis für die zweite und endgültige Fassung des Ballett II dar, das am 20. Februar 1950 am Royal Opera House Covent Garden in London durch das Sadler’s Wells Ballet mit Robert Helpman in der Titelrolle und Margot Fonteyn als Dulcinea unter Leitung der Choreographin Ninette de Valois und mit Bühnendekor und Kostümen von Edward Burra uraufgeführt wurde. Die Musik der Sinfonischen Suite Nr. 2 kommt der des Ballett II15 bereits sehr nahe (Drew bezeichnet das Ballett II als „a revised and somewhat expanded version of the Symphonic Suite, completely re-orchestrated for larger forces”16), u. a. wurden für das Ballett II Interludes eingefügt, die zu den von Burra gestalteten Bühnenvorhangsmalereien erklangen. Gerhards Handlungsballett Don Quixote hielt sich nicht im Spielplan. Drew spricht von rund 50 Aufführungen, die in London und auf der im September 1950 angetretenen Nordamerika-Gastspieltournee des Sadler’s Wells Ballet gegeben wurden,17 und Sánchez de Andrés bemerkt: „The cold welcome in England, together with the failure in the USA, was the reason that the original score was forgotten, despite its high musical quality.“18
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lungskommentaren geht hervor, dass jene Konzertversion Teile aus dem Prolog, der Szenen 1, 2 und 4 und dem Epilog aus Ballett I enthält. Siehe hierzu: [Verfasser anonym], Don Quijote, (undatiertes Radioskript, spanisch), CUL 11.20/2. Es lässt sich vermuten, dass der Schritt vom Ballett I hin zu jener Don Quixote-Suite Nr.1 bereits einen relativ großen in Richtung der Endfassung des Balletts bedeutete. Denn, wie der Herausgeber der Partitur Drew äußert, basierte das Autograph der zweiten Sinfonischen Suite von 1947 weitgehend auf dem der ersten Orchestersuite von 1941, und jene Sinfonische Suite Nr. 2 unterschied sich wiederum wenig von der Endfassung des Balletts von 1949. Siehe David Drew, Publisher’s note (= Herausgebervorwort). Dem entspricht das Partiturautograph Symphonic Suite/ from the/ Ballet/ ‚DON QUIXOTE‘ 1947 Orquesta, CUL MS.Gerhard.3.04. Offenbar war die Uraufführung der Sinfonischen Suite Nr. 2 erfolgreich, denn Sánchez de Andrés bemerkt, der Auftrag des Royal Opera House und des Sadler’s Wells Ballet für die zweite Fassung des Balletts sei dank des Dirigenten Constant Lambert sowie der erfolgreichen Aufführung der Sinfonischen Suite Nr. 2 zustande gekommen. Vgl. Leticia Sánchez de Andrés, Roberto Gerhard’s Ballets: Music, Ideology and Passion, S. 93. Zum Ballett II korrespondiert das Partiturautograph (schwarze Tinte) von 1949, CUL MS.Gerhard.1.05. Es bildete offenbar die wesentliche Grundlage für die edierte Partitur. Drew spricht, offenbar in Bezug hierauf, von „the 1950 score“. Siehe David Drew, Publisher’s note (= Herausgebervorwort). Ebd. Vgl. ebd. Leticia Sánchez de Andrés, Roberto Gerhard’s Ballets: Music, Ideology and Passion, S. 96. In der zeitgenössischen Ballettkritik wurde, wenn Gerhards Musik zur Sprache kam, zwar positiv darauf eingegangen, aber kritisch u. a. auf die schwierige tänzerische Umsetzung des literarischen Sujets, die handlungs- und inhaltsbezogene Ästhetik des Balletts und auf ein Zu-kurzKommen klassisch-tänzerischer Elemente. Cyril Beaumont, der die Inszenierung detailliert beschrieb (Cyril Beaumont, De Valois’ ‚Don Quixote‘, in: Ballet 9 (April 1950) Heft 4, S. 9–18), bemängelte einen allzu intellektuellen Zugang der Choreographin de Valois und be-
III.1. Zur Entstehung des Balletts
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Von den im Gerhard-Archiv der CUL vorliegenden Szenarios oder Szenarioentwürfen zum Ballett wurde in Bezug auf Ballett II das Szenario MS.Gerhard.13.11 herangezogen, das den Aufführungen des Balletts im Jahr 1950 sicherlich zugrunde lag.19 Diese wahrscheinlich späteste Szenariofassung lässt sich in Verbindung mit der edierten Partitur benutzen, da die Ziffernangaben von Szenario und Notentext weitgehend übereinstimmen. In Bezug auf Ballett I wurden mehrere Szenarioentwürfe betrachtet, die sich erheblich voneinander unterscheiden:
merkte: „Another weakness is that there is a preponderance of mime and dramatized movement over pure dancing.“ (Ebd., S. 18). Vier Positionen unterschiedlicher Kritiker enthält der Artikel John Banbury u. a, Four angles on…Don Quixote, in: Dance and Dancers 1 (April 1950), S. 14 f. Darin bemerkt Banbury: „That it [the ballet, G. L.] held the interest was due primarily to Gerhard’s music […].“ (Ebd., S. 15.) Eine Besprechung in der Zeitschrift Der Spiegel vom 14.03.1950 weist auf den Erfolg von Gerhards Ballettmusik hin, v. a. aber darauf, dass die Produktion des Don Quixote-Balletts zwischen die Fronten zweier Fraktionen „englischer Ballettomanen“ gekommen sei, einerseits der Vertreter des „reinen Balletts“, und andererseits der Vertreter des Tanzdramas bzw. Literarischen- oder Handlungsballetts. (Siehe [Verfasser anonym], Tanz/Primaballerina. Zu früh – sie dampft noch, Artikel vom 14.03.1950, in: Der Spiegel 11 (1950), S. 36, abrufbar unter http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44447636.html (letzter Zugang am 9.01.2015).) Auch jene Kontroverse könnte mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass das Don Quixote-Ballett sich nicht in den Spielplänen etablierte. Der Artikel weist ferner auf einen mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs verbundenen Aufschwung des englischen Balletts hin, an dem auch das Ende der Kämpfe nichts geändert habe: „Sadler’s Wells rühmt sich heute, besser als irgendeine Kunststätte außerhalb der Sowjetunion das Ballett zu pflegen.“ (Ebd.) Die Rezeption des Balletts wäre an anderer Stelle genauer zu untersuchen. Es scheint, dass der aufs Charakteristische und zugleich Symbolhafte abzielende Fokus des Balletts vom zeitgenössischen Fachpublikum zwar als anspruchsvoll anerkannt, aber nicht immer positiv bewertet wurde. Die philosophisch inspirierte Symbolik der Ballettcharaktere in Gerhards Konzeption des Szenarios hätte sicherlich einer weitergehenden Erläuterung bedurft – nicht nur eine ungewöhnliche Kenntnis der Romancharaktere, sondern auch der Symbolik derselben wäre nötig gewesen, um das insgesamt als ‚sperrig‘ rezipierte Ballett zugänglicher zu machen. Selbst ein gebildetes Publikum mag möglicherweise gar nicht auf die Idee gekommen sein, das Ballett und dessen Figurensymbolik vor dem Hintergrund von Unamunos Quixotismo oder der aktuellen Situation in Spanien und einer Rückschau auf die Konfliktparteien im Spanischen Bürgerkrieg zu ‚lesen‘. Hieran wird deutlich, dass Gerhard mit dem biographischen und gedanklichen Hintergrund den er ins Exil mitnahm, isoliert war und zwangsläufig auf ‚taube Ohren‘ stoßen musste. 19 Roberto Gerhard, DON QUIXOTE Ballet in 5 Scenes, Scenario and music by Roberto Gerhard [= Szenario zu Ballett II], deutsch, Typoskript, CUL MS.Gerhard.13.11. Für den Fakt, dass Gerhard dieses Szenario in deutscher Sprache verfasste, konnte ich keine Begründung finden.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Benutzte Szenarios zur frühen und späten Ballett-Fassung: 20 13.13/2 (detaillierte Übersichtsskizze der Szenen/ Episoden und musikalischen Formteile mit Zeitdauern, Autograph Bleistift, eine Seite, spanisch)
Ballett I
Partiturautograph CUL 4.9, 1940/41 Ballett II
edierte Partitur (1991) (Der von David Drew edierte Notentext basiert offenbar weitgehend auf CUL 1.5, unter Hinzunahme von CUL 3.4 sowie der zu Gerhards Lebzeiten edierten Dances from ‚Don Quixote‘, 1958.20)
13.10/2 (Szenarioentwurf, 9.05.1940, Typoskript, sieben Seiten, englisch, mit handschriftlicher Übersicht zur Gesamtdauer des Balletts und den Zeitdauern einzelner Szenen) 13.12/2 (Übersicht der musikalischen Formteile und der Szeneninhalte, undatiert, Typoskript, englisch) 13.11 (Roberto Gerhard, Szenario zu Ballett II, deutsch, Typoskript)
Vergleicht man das zur Partitur von Ballett I (4.9) korrespondierende Szenario (13.12/2) mit dem Szenario zu Ballett II (13.11), dann lässt sich sehen, dass für die spätere Fassung eine Vielzahl vormals eingeplanter Romanepisoden gestrichen wurden (wie eingangs erwähnt, wurde das Ballett auf rund die Hälfte seiner Dauer gekürzt). So fehlen Ballett II die Szenen 3 und 5 des Ballett I – diese enthalten Don Quixotes Löwenabenteuer (korrespondierend zum Romankapitel DQ II/17), das Abenteuer mit der Büßerprozession (DQ I/52) und die von Sancho herbeigebrachte (‚verzauberte‘) dritte Dulcinea (DQ II/10) (Szene 3) sowie die ‚Entzauberung‘ derselben (Szene 5). Die Episode am Herzogenhof (DQ II/32) in der Szene 4 des genannten Szenario zu Ballett I wurde im Szenario von Ballett II gegen die Montesinos-Episode (DQ II/22–24) ausgetauscht. Hierbei behielt Gerhard das musikalische Material der Szene (die „Chacona de Palacio“) bei, verknüpfte es aber mit einer anderen Romanepisode. Versuchsweise soll die Chronologie der drei genannten Szenarioentwürfe zu Ballett I erklärt werden: Früher als die zur Partitur (4.9) korrespondierenden Angaben in 13.12/2 dürfte der Szenarioentwurf 13.10/2 („Scenario first draft“) entstanden sein. Dieser Entwurf wurde von Gerhard auf den 9. Mai 1940 datiert. Wahrscheinlich wurde er konzipiert, bevor der musikalische Aufbau der Komposition klare Konturen angenommen hatte, denn er enthält insgesamt mehr und andere Episoden als die im Szenario 13.12/2 und der dazu korrespondierenden Partitur 4.9 realisierten. So findet sich in Szene 2 zusätzlich zu den auch später beibehaltenen Episoden des Angriffs auf die Windmühlen (DQ I/8), des Kampfs um die Barbierschüssel bzw. um den Helm des Mambrín (DQ I/21) und der Begegnung mit den 20
Vgl. David Drew, Publisher’s note (= Herausgebervorwort).
III.1. Zur Entstehung des Balletts
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Ziegenhirten auch noch die Episode mit den Stampfmühlen (im Roman entsprechend DQ I/20), es fehlt hingegen noch Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter (DQ I/11). In Szene 3 enthält dieser wahrscheinlich frühere Entwurf nach der Begegnung mit den Löwen (DQ II/17) und den Büßern (DQ I/52) noch eine Begegnung mit dem ‚Ritter vom weißen Mond‘ (dem verkleideten Baccalaureus Sansón Carrasco, siehe DQ II/64), der Don Quixote in Szene 5 endgültig zu Fall bringen wird und in dieser früheren Fassung (13.10/2) die Peripetie im Ballett einleitet; diese Figur fehlt im späteren Entwurf zu Ballett I (13.12/2) völlig. Dafür enthält der spätere Entwurf in Szene 3 wiederum Sanchos Herbeischaffen der dritten, ‚verzauberten‘ Dulcinea (DQ II/10), in Szene 5 die Hiebe, die sich Don Quixote und Sancho (nach Anweisung der Herzöge) zur Entzauberung jener dritten Dulcinea geben und ein Zusammenführen der drei Dulcineas (gemeint sind die drei Aspekte der Figur) im Epilog. Das Thema der dritten Dulcinea erscheint dagegen im früheren Entwurf (13.10/2) erst in Szene 5 und in der „Final Scene“. Insofern jenes Thema der dritten Dulcinea in der späteren Fassung (13.12/2) auf die Szenen 3, 5 und den Epilog ausgebreitet wird, lässt sich sagen, dass es hier stärker in einen Zusammenhang eingebettet wurde. Auch Szene 4 am Herzogenhof gestaltet sich in 13.12/2 gegenüber 13.10/2 mit stärkerem Bezug zum Vorhergehenden; so tritt der fingierte Zauberer Merlin auf (Bezug nehmend auf DQ II/35) und gibt Don Quixote und Sancho die zur ‚Entzauberung‘ der ‚verzauberten Dulcinea‘ notwendigen Anweisungen. Weiter enthält die spätere Fassung, abweichend von der früheren, die Episode mit der (fingierten) Verführung Don Quixotes durch Altisidora (DQ II/46). Damit divergiert der Inhalt von Szene 4 am Herzogenhof hier erheblich von dem der früheren Fassung (13.10/2). Diese enthält dagegen noch die spotthafte Zeremonie der Parfümierung und des Rasierens von Don Quixote (DQ II/32) sowie eine in die Herzogenepisode interpolierte Aufführung der Cardenio-Geschichte (DQ I/24– 27)21 in Form eines Marionettentheaters – beides fehlt in der späteren Fassung. Noch früher als 13.10/2 (oder ungefähr gleichzeitig damit) dürfte die Bleistiftskizze 13.13/2 entstanden sein. Auf nur einer Seite finden sich hier stichwortartige Angaben zu den Szenen bzw. Episoden und den dazu korrespondierenden musikalischen Formteilen und deren Zeitdauern. Die hier angegebenen Zeitangaben entsprechen denen in 13.10/2 mit nur geringfügigen Abweichungen. Beide Entwürfe gehören wahrscheinlich einem Planungsstadium vor der Fertigstellung der Partitur (4.9) an. Insgesamt scheint von einem Stadium zum nächsten eine Tendenz zur fortlaufenden ‚Straffung‘ der Handlung stattgefunden zu haben. Dies zeigt sich bereits in der Entwicklung von 13.10/2, einem Entwurf, in dem die Romanepisoden noch eher lose aneinander gereiht erscheinen, hin zu 13.12/2, und schließlich zu den umfangreichen Kürzungen, die für das Szenario zu Ballett II (13.11) notwendig wurden. Mit Blick auf die Vielzahl der Abenteuer in der Romanvorlage22 muss sich für Gerhard bei der Umwandlung der Romanhandlung zum Ballettszenario sehr bald 21 22
In Cervantes’ Roman handelt es sich bei der Cardenio-Geschichte um eine eingeschobene Novelle, eine ‚Geschichte in der Geschichte‘. Neuschäfer verweist darauf, dass der Ausgang von Don Quixotes Abenteuern, anders als beim
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
die Frage eines Ansatzpunktes zur Bündelung der Episoden gestellt haben. Hier muss die interne Funktionsweise der quixotischen locura ins Blickfeld geraten sein, also so etwas wie der quixotische Code: Die Struktur des Codes, beruhend auf der Setzung des Rittertum-Ideals und dessen Konfrontation mit der Realität in Don Quixotes Abenteuern, die der Hervorbringung ‚höherer Realität‘ dient (und dabei durchaus auch scheitern kann), lässt sich den diversen Abenteuern Don Quixotes zugrunde legen und bindet diese zusammen. Die feste (Wiederholungs-)Struktur des Codes (und damit der methodische Charakter des Rittertum-Ideals) beruht dabei auf der Voraussetzung, dass sich Don Quixote in einer kontingenten Realität wiederfindet, in die er mit seiner locura ‚ordnend‘ eingreift, und deren bestehende Ordnungen er dabei nicht selten durcheinanderbringt. Diese Realitäts-Voraussetzung betrifft v. a. das erste von Cervantes’ beiden Romanbüchern (DQ I, 1605) und wird, wie Hans-Jörg Neuschäfer nahelegt, im zweiten Romanbuch (= DQ II 1615) nicht nur modifiziert, sondern gewissermaßen sogar umgekehrt. Neuschäfer bemerkt, gleich in den ersten Kapiteln des zweiten Romanbuches erfahre Don Quixote von Sansón Carrasco, dass eine gedruckte Geschichte über ihn im Umlauf sei, die mit dem ersten Romanbuch identisch ist, und dies bedeute für Don Quixote, so Neuschäfer, dass er von seiner eigenen Geschichte eingeholt wurde:23 „Denn nicht nur Sansón Carrasco, sondern alle Welt hat die Geschichte des Ingenioso Hidalgo gelesen, so daß Don Quijote jetzt nicht mehr der namenlose Ritter von eigenen Gnaden, sondern der bekannte Don Quijote ist, der eine Geschichte hat, die, wo er auch immer hinkommt, schon vor ihm da ist, und von dem alle Welt erwartet, daß er sich dieser Geschichte gemäß
23
providentiellen Geschehen im Sinne des traditionellen Aventüreritters, der sich in einer ritterlichen Märchenwelt befindet, nicht mehr absehbar ist (vgl. Hans-Jörg Neuschäfer, Der Sinn der Parodie im Don Quijote, S. 34–37.) Deutlich wird dies in Neuschäfers Kontrastierung von Don Quixotes Auszug als Abenteuerritter gegenüber der Calogrenant-Szene aus dem Yvain von Chrétien de Troyes. Über den Helden jenes Romans bemerkt er, dieser stehe nicht einfach im Geschehen und werde von ihm mitgerissen, „vielmehr ist das Geschehen gerade dadurch sinnerfüllt, daß es sinnvoll für den höfischen Helden ist. Für ihn – und nicht für einen Unhöfischen – führt der Weg geradewegs zum Schloß, ihm ist die freundliche Aufnahme vorbehalten, auf ihn wartet das Abenteuer an der Quelle. […] Und in dieser Zuordnung des Geschehens auf den höfischen Ritter ist zugleich begründet, daß dieser ein Außerordentlicher, ja ein Auserwählter ist. Don Quijote hingegen ist kein strahlender Held mehr, der sich in einem providentiell gelenkten Geschehen bewährt. Sein Aufbruch geschieht heimlich und durch die Hintertür. […] Zweifel kommen ihm an seiner Mission, als ihm einfällt, daß er ja noch gar nicht zum Ritter geschlagen ist; dann freut er sich wieder, als er feststellt, wie leicht ihm dennoch der Anfang seines Unternehmens geglückt ist […]. Wenn im Yvain alles schön und außerordentlich war, so ist im Quijote alles banal und alltäglich und wirkt umso banaler, als es auf das komischste mit den hochgespannten, auf ein providentielles Geschehen eingestellten Erwartungen des Helden kontrastiert.“ (Ebd., S. 35.) Die Auflösung jener „traditionellen Vorstruktur in ein kontingentes Geschehen“ werfe, so Neuschäfer, die Frage auf, „wie es im Quijote gleichwohl noch zu einer zusammenhängenden Abenteuerfahrt des Helden kommen kann.“ (Ebd., S. 37.) Von jenem Verlust der traditionellen Vorstruktur und dem Sich-Finden in einer kontingenten Realität ist es nur ein gradueller Schritt zu Don Quixote als existenzphilosophischem Helden, der sich in einer kontingenten, sogar absurden Realität wiederfindet. Vgl. ebd., S. 82.
III.1. Zur Entstehung des Balletts
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verhält. Das Geschehen im zweiten Teil ist weitgehend dadurch bestimmt, ja vorherbestimmt, daß die Personen, denen Don Quijote begegnet, in seine Geschichte eingeweiht sind […].“24
Das zweite Romanbuch führe so einerseits die Erfüllung von Don Quixotes Illusion der Berühmtheit ein, es bringe aber zugleich mit sich, dass die Bedingungen für Don Quixotes Auftreten, „da diese Erfüllung nur eine ironische und arrangierte ist […] nicht nur verändert, sondern ganz und gar umgekehrt“ würden:25 „[…] im ersten Teil lag die Initiative bei Don Quijote, die Welt reagierte nur von Fall zu Fall auf seine Herausforderungen, die um so verblüffender wirkten, als die Welt auf seine besondere Art der locura überhaupt nicht eingestellt war. Jetzt ist alles anders geworden. Jetzt kennt man seine Geschichte und die Gründe seiner locura, man ist auf ihn gefasst und erwartet ihn […]. Jetzt hat sich alles ins Gegenteil verkehrt; die anderen haben die Initiative übernommen, und Don Quijote kann auf ihre Pläne nur noch reagieren.“26
Möglicherweise war oder wurde Gerhard dieser grundlegende Unterschied in den Realitäts-Voraussetzungen der beiden Romanteile bewusst. Denn während Gerhard in den Szenarioentwürfen für das Ballett I Romanepisoden aus dem ersten und dem zweiten Romanbuch mehr oder weniger bunt mischt, enthält das Ballett II nur noch eine Episode aus dem zweiten Buch, nämlich die Montesinos-Episode in Szene 4. Es lässt sich annehmen, dass mit Gerhards Szenario zum Ballett II eine Zentrierung auf die Realitäts-Voraussetzungen des ersten Romanbuchs, und so auch eine verstärkte Fokussierung auf die Funktionsweise und den methodischen Aspekt von Don Quixotes locura stattfindet. Die Streichungen der Episoden aus dem zweiten Romanbuch (mit seiner typischen Realitätsebene „zweiter Potenz“27) waren natürlich einerseits durch die radikale Materialreduktion des einstündigen Ballett I auf das halbstündige Ballett II gerechtfertigt. In der Kürzung muss aber andererseits nicht der einzige und zureichende Grund für die Streichungen gesehen werden, denn sie können zudem der Reduktion von Komplexität in Bezug auf unterschiedliche Realitätsebenen gedient haben und damit die inhaltliche Zentrierung auf das Thema des sich als ‚gelebte Idee‘ in ‚Existenz‘ bringenden Don Quixote verstärken. Angefügt werden muss noch, dass die in Teil III betriebenen Analysen sich auf diejenigen musikalische Abschnitte konzentrieren, die für eine Analyse der reihentechnischen Darstellung der Don Quixote-Figur besonders ergiebig waren. Die Auswahl der analysierten Passagen musste zwangsläufig punktuell bleiben; so wird etwa auf die Episode des Angriffs auf die Windmühlen oder auf die Befreiung der Galeerensklaven durch Don Quixote (beides in Szene 3) wenig eingegangen. Nachfolgende Forscher und Forscherinnen werden hier andere Perspektiven und Schwerpunkte setzen. 24 25 26 27
Ebd., S. 82 f. Vgl. ebd., S. 83. Ebd., S. 83. Neuschäfer bemerkt, durch die ausdrückliche Anknüpfung an den ersten Romanteil werde „der zweite Teil des Romans für den Leser sogleich zu etwas anderem als zu einer bloßen Fortsetzung des ersten, nämlich zu einer Geschichte gleichsam zweiter Potenz, die den ersten Teil selbst mit zum Gegenstand hat.“ Ebd., S. 82.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
III.2. DIE REALITÄTSEBENEN IN MUSIKALISCHER UMSETZUNG Grundlegend für Gerhards Konzeption des Balletts ist die Idee einer doppelten Ansicht von Realität. Dem entspricht Gerhards zweifache Einteilung der Charaktere in einerseits diejenigen, die der phantastischen Sphäre von Don Quixotes Vorstellungswelt angehören, und andererseits die Figuren der realistischen Sphäre: „[…] the characters which have to be impersonated can be divided in two groups. On the one hand, Don Quixote himself, with all the fantastic beings that people his feverish mind: monsters, giants, Arcadian shepherds, legendary Knights and so forth, all set in a dream-like world; and on the other hand, Sancho, priest and barber, muleteers, innkeepers, galley-slaves, realistically set against the background of the bleak plain of La Mancha […].“28
Diese Grundidee wird im Ballett immer wieder als doppelte Ansicht von Realität fundiert, so im zweifachen Aspekt von Don Quixotes idealer Ritterdame Dulcinea als Aldonza, dem realen Bauernmädchen, in der doppelten Ansicht der Schenke als Burg, des Wirts als eines Kastellan, der Windmühlen als Riesen, einer Barbierschüssel als legendärem Helm des Mambrín, v. a. aber in der zweifachen musikalischen Darstellung der Figur Don Quixotes. Gerhard repräsentiert diese Figur musikalisch einerseits durch das Don Quixote-Originalthema, das bei seinem ersten Auftreten in der Komposition (bei Ziffer 1) durch die sordinierte Solo-Trompete29 hervorgebracht 28 29
Roberto Gerhard, On Music in Ballet: II, S. 31. Der Klang der sordinierten Trompete kann dabei als ein die Figur Don Quixotes und dessen locura charakterisierender Instrumentalklang verstanden werden, und dies nicht nur in Verbindung mit dem Don Quixote-Originalthema (siehe z. B. Ziffer 1, ff molto marcato sowie bei Ziffer 7, 31/32 und 126, ff marcato), sondern auch, wenn die sordinierte Trompete etwa zu Beginn der Windmühlenepisode in Szene 3 erklingt (in den ersten Takten nach Ziffer 50, 51 und 52), oder in den Gestaltvariationen der Reihe in Szene 5 (siehe die Reihe I8 Ziffer 111–113 und P11 bei Ziffer 116). Demgegenüber kann das Erklingen der Trompete ohne Dämpfer (siehe die Reihen des „Epilogue“ ab Ziffer 130) – korrespondierend zum Sterben Don Quixotes und seiner wiedererlangten Vernunft zum Schluss des Balletts – wie eine ‚Erlösung‘ der Don Quixote-Figur anmuten. Hingewiesen sei auf die besondere Symbolik des Trompetenklangs. In ihrer Studie über Trompeterautomaten verweist Rebecca Wolf auf den sozialen Sonderstatus von Hof- und Feldtrompetern in Renaissance und Barock, auf deren Einsatz auf dem Kriegsfeld, die Trompete als „kriegerisches Signalinstrument […] zur Abschreckung des Feindes sowie zur Motivation der eigenen Truppen […]“ (Rebecca Wolf, Friedrich Kaufmanns Trompeterautomat. Ein musikalisches Experiment um 1810, Stuttgart 2011, S. 124), und darauf, dass eine hohe Anzahl von Trompetern bei Hof der Machtdemonstration eines Herrschers diente (siehe ebd., S. 123 und 124). Diese funktionale Bindung der Trompete an den Kontext von Krieg und Herrschermacht konnte mit Blick auf die durch den Trompetenklang repräsentierte Don Quixote-Figur erneut Bedeutung erlangen. Denn versteht man Don Quixote in Gerhards Ballett als Repräsentation des ‚authentischen‘ Spanien, dann konnte der in diesem Zusammenhang eingesetzte Trompetenklang – zusammen mit weiteren militärischen Klangsymbolen wie der im Ballett eingesetzten Militärtrommel und der Motivik der aufsteigenden Quarte (siehe Kapitel III.2.1) – auf ein im Exil fortgesetztes ‚Kämpfen‘ für das im Spanischen Bürgerkrieg umkämpfte ‚authentische‘ Spanien hinweisen. Der sordinierte Trompetenklang könnte dabei zugleich auf das irdische Scheitern des quixotischen Projekts hinweisen, während der Anspruch eines fortgesetzten Kampfes und Sieges zugleich weiter aufrecht erhalten wird (dafür kann, wie in Kapitel III.4.1 zu sehen sein wird, das Übergehen der quixotischen locura auf Sancho hinweisen). Wolf verweist außerdem darauf, dass die Trompete „bis ins 19. Jahrhun-
III.2. Die Realitätsebenen in musikalischer Umsetzung
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wird, zum anderen durch eine davon abgeleitete Reihe (hier bezeichnet als Don Quixote-Reihe). Zu der Entscheidung aus dem Originalthema die Reihe abzuleiten, kam Gerhard nach eigener Angabe durch die Beobachtung, dass sein 20-töniges Originalthema ‚ungewöhnlich reich an Tönen‘ unterschiedlicher Tonhöhe sei,30 da es neun der zwölf Töne der chromatischen Skala enthalte. Gerhard reduzierte sein Originalthema auf den Tonhöhen-Extrakt jener neun darin vorkommenden Tonhöhen in der Reihenfolge ihres Auftretens im Originalthema und verstand die resultierende Intervallanordnung als ‚Abstraktum‘ des Originalthemas.31 Von jenen neun Tönen verdoppelte er allerdings drei, um eine zwölftönige Reihe zu erhalten.32 Einerseits reduzierte Gerhard das Thema also auf eine Intervallfolge und entledigte es seiner rhythmischen Gestaltqualitäten. Andererseits diente ihm die erwähnte Verdoppelung von drei Reihentönen dazu, eine charakteristische diastematische Kontur des Originalthemas zu bewahren und damit zugleich – ohne Beachtung der rhythmischen Gestaltqualitäten und allein anhand des Tonhöhenparameters – eine Ähnlichkeit zwischen Reihe und Originalthema zu gewährleisten.33
30 31
32
33
dert, bis zum Aufkommen der Ventiltrompete“ zur Bühnenmusik gehörte, und dass für Bühnenwerke seit dem späten 17. Jahrhundert eigene Trompetenarien entstanden, „speziell beim Auftritt der Ruhmesgöttin Fama, deren Attribut die Trompete war.“ (Ebd.) Diese ikonographische Bindung der Trompete an die Ruhmesgöttin Fama fügt sich in erstaunlicher Weise in die durch Unamuno angeleitete Quixote-Symbolik in Gerhards Ballett ein, hebt doch Unamuno immer wieder die Ruhmsucht als den zentralen Antrieb Don Quixotes heroischer Taten hervor (siehe Kapitel II.3.2). Vgl. Roberto Gerhard, On Music in Ballet: II, S. 33. „This discovery prompted me to pick out nine different notes in the same order in which they appear in my original theme and join them together in a row or series, so that they would reproduce in its essentials the substance of my theme, in the abstract, as it were; that is to say purely as a sequence of intervals stripped of all concrete rhythmical configuration.“ Ebd. Eckhard Weber verweist dabei auf mehrere Details, die in Gerhards Beschreibung seiner Ableitung der Don Quixote-Reihe vom Originalthema unerwähnt bleiben, so enthalte das Originalthema, wie Weber bemerkt, zehn unterschiedliche Tonhöhen, und nicht neun, wie Gerhard angegeben hatte (siehe Roberto Gerhard, On Music in Ballet: II, S. 33). (Siehe Eckhard Weber, „…all set in a dream-like world…“, Traumwelt und Realität in Roberto Gerhards Ballettmusik ‚Don Quixote‘, S. 687 f.) Wie Weber bemerkt, strich Gerhard für die Ableitung seines Reihenthemas mit neun unterschiedlichen Tönen den zweiten Ton des Originalthemas (in Webers Beispiel der auf dem Ton b’ beginnenden Transposition des Originalthemas handelt es sich dabei um c’’ – dieser Ton ist in der Reihe nicht enthalten). Weber schlussfolgert, Gerhard habe sein Reihenthema „also nicht aus neun Tönen und drei Verdoppelungen (9+3) [erzielt], sondern aus zehn Tönen, von denen einer abgezogen wurde und drei verdoppelten Tönen (10–1+3).“ (Ebd., S. 688.) Weiter bemerkt er, Gerhard habe die letzten beiden der aus dem Originalthema für das Reihenthema abgeleiteten Töne permutiert. So sei „aus der aufsteigenden kleinen Sekunde d’ – es’ aus der Substanzreihe [als Substanzreihe bezeichnet Weber die Reduktion des Originalthemas auf die darin tatsächlich vorkommenden und einander folgenden zehn Tonhöhen, G. L.] der phrygische Schluss es’ – d’ im Reihenthema“ geworden. (Ebd.) Webers detaillierte Darstellung zeigt, dass Gerhard den Ableitungsvorgang in seiner Darstellung also leicht simplifiziert beschrieben hatte. „To obtain an entirely satisfying correlation between my original theme and its abstract double it proved necessary at certain points to repeat three notes already contained in the series […].“ Roberto Gerhard, On Music in Ballet: II, S. 33.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Zweifache Repräsentation der Don Quixote-Figur als Originalthema P Th 8 (a) und als Don Quixote-Reihe P0 (b):34
(a)
(b)
Die Entscheidung Don Quixote musikalisch in doppelter Weise darzustellen, beinhaltet noch einen weiteren Aspekt, der auf die Repräsentationsfunktion der Reihe hindeutet. So äußerte Gerhard, der Gebrauch seines Don Quixote-Originalthemas als wagnersches Leitmotiv hätte ein allzu statisches Prinzip der Repräsentation abgegeben, und es im Sinne von Berlioz’ idée fixe zu gebrauchen, hätte zu einem verzerrenden, karikierenden Effekt geführt, den er vermeiden wollte. Die Reihe, die, in mannigfachen Gestalten erscheinend, dennoch eine identische Intervallanordnung behielt, bot ihm demnach die Möglichkeit, seine Figur ‚von innen‘ darzustellen bzw. nachzuahmen („[…] with the twelve-note series or abstract double of the theme I could, so to speak, slip inside my character and impersonate Don Quixote from within.“).35 Keine andere Form eines musikalischen Themas hätte Gerhard derart weitreichende Möglichkeiten der Variation bzw. Ableitung von Gestalten geboten. „The use of my twelve-note series in the variation an polymorphous combination technique created and developed by Schoenberg offered practically unlimited possibilities of invention of musical images of every description which would very naturally all be formed of the very substance of my theme, however various in pattern and character, in the same sense as all the Don’s hallucinations proceed from the pranks and changing patterns of his central delusion in the matter of Knight-errantry.“36
Als eine Darstellung der Figur ‚von innen‘ kann die Reihe für Don Quixotes Realitätszugang einstehen. Sie erweist sich dabei sozusagen zur Aufnahme mannigfaltiger Bewusstseinsinhalte fähig. Dementsprechend konnte Gerhard nahelegen, dass alle mit Don Quixotes innerer Vorstellungswelt verbundenen Abschnitte kompositionstechnisch auf der Don Quixote-Reihe basierten. In einem Brief an Josep Valls von 1945 spricht Gerhard mit Bezug auf sein Ballett von zweierlei musikalischen Elementen:
34 35 36
Zur Veranschaulichung der musikalischen Repräsentation des Don Quixote wird an dieser Stelle abermals die Abbildung der Reihe aus Kapitel I.2.1 bemüht. Roberto Gerhard, On Music in Ballet: II, S. 33. Ebd.
III.2. Die Realitätsebenen in musikalischer Umsetzung
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„Els elements de la música son a) el netament espanvel, realista Sanxesc’, b) l’element delirant, surrealista, quixotesc. Totsels episodis relatius al segón están basats en un ‚obligato-serie‘ de 12 sons […].“37
Man könnte somit erwarten, eine reihentechnische Satzweise als Kennzeichen all jener musikalischen Abschnitte vorzufinden, die auf Figuren aus Don Quixotes phantastischer Vorstellungswelt bezogen sind. Dies deckt sich jedoch nicht vollständig mit den Verhältnissen in Gerhards Komposition. Erstens ist eine auf den kompletten oder nahezu kompletten Satz ausgebreitete Reihenbindung in ebendiesen phantastischen Abschnitten der Komposition nur wenigen Momenten vorbehalten – sie stehen im Zentrum der Analysen in Kapitel III.3. Solche Momente sind inhaltlich mit einer Vision Don Quixotes von ‚höherer Realität‘ verbunden, und die Handhabung der Reihe ist in ihnen rigoros. Nicht selten ist die Reihe jedoch in ein nicht-reihengebundenes, also ‚freies‘ Begleitumfeld eingebettet:38 Die sie begleitenden Elemente sind lose, und nicht immer eindeutig auf die Reihe zurückzuführen. Solche begleitenden Elemente können entweder auf der motivischen oder auf der tongehaltlichen Ebene zu den verwendeten Reihen in Bezug stehen.39 Zweitens trifft es etwa im Fall von Don Quixotes Vision der Bauerndirne Aldonza als Dulcinea (Szene 1 bei Ziffer 2 und Szene 5 bei Ziffer 122) nicht zu, dass ein reihengebundener Satz vorläge, obwohl es sich eindeutig um eine Figur der phantastischen Sphäre handelt (selbst wenn mit Aldonza ein Referenzobjekt für Dulcinea in der realen Sphäre gegeben ist). Der durch ein Ostinato harmonisch spannungslos begleiteten Melodie dieser Vision liegt, wie White festgestellt hat, das katalanische 37
38 39
„Die Elemente der Musik sind a) das rein spanische, realistische, sanchoeske, b) das delirierende, surreale, quixoteske. Allen auf Letzteres bezogenen Episoden liegt eine ‚ObligatoReihe‘ von 12 Tönen zugrunde […].“ Ders., Brief an Josep Valls vom 9. Oktober 1945, CUL 14.437, S. 2 [Übersetzung, G. L.]. Siehe z. B. die Reihe begleitende Schichten in Szene 5/Ziffer 114–116. Die Reihe P4 findet sich hier in Picc. / Fl. / Pos., die Reihe I8 in den Streichern. Weder die kontrapunktierende Stimme des Horns, noch die begleitenden leggero-/leggerissimo-Figuren sind reihengebunden. Ein Beispiel für nicht-reihengebundene, jedoch motivisch an die Reihe anklingende Stimmen findet sich etwa in Szene 2/ Ziffer 36–38 im Zusammenhang mit Don Quixotes Angriff auf den Maultiertreiber. Reihengebunden sind etwa die kanonischen Einsätze von Reihenvordersätzen, ab Ziffer 37 die Stimme des Horns (I11) und die folgenden Reihenvordersätze, siehe Vla./Vcl. (P5, 1–6, pizz.), Streicher (P8, 1–6, pizz.), Tr./Streicher (P1, 1–6 und P9, 1–6, T. 4/5 nach Ziffer 37) sowie Hn./Vla./Vcl. (P5, 1–12) und Bassklar./Fg./Pos./Tuba/Vla./Vcl./Kb. (P11, 1–6, vier Takte vor Ziffer 38). Alle weiteren dazu erklingenden Stimmen sind motivisch lose mit der Reihe verbunden. Beispielhaft für den tongehaltlichen Bezug eines Ostinatos bzw. von Haltetönen zu gleichzeitig erklingenden Reihen ist der erste reihengebundene Abschnitt des Balletts. Als Ostinatoschicht erklingen zu Beginn des Abschnitts (T. 5/6 nach Ziffer 1) die Töne eines C-Dur-Dreiklangs zusammen mit dem orgelpunktartigen Basston fis. Diese Töne können dabei als abgeleitete von der darüber erklingenden Reihencollage (siehe Kapitel III.3.1) und deren Tonhöhenkonzentrationen – nämlich den exponierten Anfangs- oder Ecktönen der Reihen bzw. Reihenhexachorde – erscheinen. Jene Tonhöhenkonzentrationen lassen sich also als Töne der Ostinatoschicht (c, e, g, fis) wiederfinden. Aufgrund dieser Integration des Ostinato-Tongehalts in den reihengebundenen Satz, würde es nicht richtig erscheinen, die Ostinatoschicht als tonales Element eines C-Dur-Dreiklangs zu beschreiben, sie ist vielmehr eine von den Reihen tongehaltlich ‚abhängige‘ Schicht.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Volkslied Assassi per amor zugrunde,40 und das Vorliegen einer Volksliedvorlage zeichnet ansonsten eher Abschnitte der realistischen Sphäre aus. Das Gleiche gilt für die Ereignisse in der Höhle von Montesinos (Szene 4): Auch sie gehören der traumhaft-phantastischen Sphäre an, ohne dass in der zur Episode korrespondierenden „Chacona de palacio“ eine satztechnische Bindung an die Reihe vorläge. Stattdessen liegen auch jener „Chacona“ Volksliedvorlagen zugrunde (siehe dazu Kapitel III.6.1). Besteht also ein Zusammenhang zwischen den folklorischen, ‚realistischen‘ Vorlagen und den Visionen Don Quixotes von ‚höherer Realität‘? Mit Blick auf diese Frage ist es besonders bedeutsam zu sehen, dass dem Don Quixote-Originalthema – und damit auch der davon abgeleiteten Don Quixote-Reihe – eine lokale, katalanische Vorlage zugrunde liegt.41 Es handelt sich um eine Melodie, die mit einer Festivität in Gerhards katalanischem Heimatdorf Valls verbunden ist, bei welcher überdimensionale Pappriesen durch die Hauptstraße des Ortes getragen werden. „I remember that from a number of sketches for Don Quixote’s theme, which I kept discarding almost as soon as they had been jotted down, I finally picked on one which seemed to have about it more of a likeness of the Knight of the Sorrowful Countenance than the others. When I looked at it more closely I gradually became aware of the fact that under its grave and dignified air I seemed to detect something vaguely familiar […]. It suggested to me a singular mixture of the genuine and the spurious, of truth and make-believe. This puzzled me for a long time […] till it suddenly dawned upon me that the puzzling familiarity was due to a faint resemblance of my theme with a strange little tune which in my home-town in Spain is played on a primitive reed-instrument as the march music for the huge cardboard-headed giants which on solemn occasions herald the approach of the religious processions […]. These giants are tall, over-lifesize figures […]; they are carried on light wooden structures by men who remain hidden under the rich drapery of the giant’s garnments.“42
Die Tatsache, dass das Don Quixote repräsentierende Originalthema auf einer katalanischen Vorlage basiert43 – auf einer nicht erdachten, sondern vorgefundenen Melodie – kann auf eine Verankerung der Figur im Kollektiv-Unbewussten des Volksgeistes, der unamunoschen ‚intrahistoria‘ verweisen, und insofern auf den fiktiven Don Quixote als ‚realistische‘ Figur, die aus dem lokalen, konkreten ‚Außen‘ einer Region stammt44 (dabei ist Gerhards Don Quixote eher in der Region Katalonien 40
41 42 43 44
Siehe Julian White, National Traditions in the Music of Roberto Gerhard, in: Tempo Nr. 184 (März 1993), S. 7. Als Quelle für das Volkslied, dessen Beginn bei White abgedruckt ist, gibt dieser die folgende Volksliedsammlung an: Obra del Cançoner Popular de Catalunya, hrsg. von F. Pujol u. a., Barcelona 1926–29, S. 140. Gerhard gab an, erst nach Abschluss der Komposition bemerkt zu haben, dass er bei der Wahl seines Originalthemas auf eine volkstümliche Melodie zugegriffen habe, dies also unbewusst tat. Roberto Gerhard, On Music in Ballet: II, S. 32. Jenes Originalthema basiert auf einer Melodie, die mit Gerhards Geburtsort Valls (nahe Tarragona) verbunden ist, und damit geeignet war, als Produkt von Unamunos „patria chica“ zu gelten. In Bezug setzen zur Verankerung der Reihe in lokaler Realität lässt sich dabei auch Unamunos Hinweis auf die Verankerung von Don Quixotes Rittertum-Ideal in einer bestehenden Tradition. Indem Don Quixote seine Rittervorbilder imitiert und deren Verhalten in seine Gegenwart ‚übersetzt‘, folgt er nach Unamuno lebendigen Vorbildern, denn „[…] su dechado eran vidas
III.2. Die Realitätsebenen in musikalischer Umsetzung
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denn in Kastilien beheimatet45). Jenen Volksgeist, die ‚intrahistoria‘, hatte Unamuno als ursprünglichen Erzeuger des Cervantesromans und der Don Quixote-Figur betrachtet.46 Den Ausgangspunkt der ‚intrahistoria‘ bildet dabei die regionale Heimat („patria chica o de campanario“47) und der sich ‚im Stillen‘ vollziehende Lebenvollzug des an seine Region gebundenen Menschen („aldeano“).48 Als „la historia de los hechos“49 bildet diese ‚wahre‘, nämlich durch kollektives Handeln gespeiste Geschichte für Unamuno die Grundlage einer konstant gegenwartswirksamen ‚tradición eterna‘,50 und damit der ‚wahren‘ Idee Spaniens. Für die ‚falsche‘ Idee Spaniens steht bei Unamuno hingegen das Konzept der Nation, das durch König, nationale Symbole und militärische Ereignisse und Erfolge repräsentiert,51 nicht aber durch das permanente und kollektive Tun der Volksmassen verkörpert wird. Dieses Spanien stellt für Unamuno kein ‚wahrhaft historisches‘ Produkt dar.52 Neben der regionalen und der nationalen Heimat gibt es für Unamuno noch eine dritte Option, auf die jegliche Integration in eine Heimat zielt: die des kosmopolitischen, menschheitlichen Kollektivs, das die Grenzen nationaler Heimat transzendiert, die „gran Patria humana“53 oder Kollektivseele. Für Unamuno ist das Erreichen jener dritten, kosmopolitischen Stufe einer Menschheitsgesellschaft verbunden mit der kompensatorischen Bewegung einer parallel verstärkten Hinwendung zur Region, der „patria chica“, und Unamuno bemerkt, anscheinend suche man mit der Hinwendung zur eigenen Region („el apego al terruño natal“) ein ‚Gegengewicht‘ zum exzessiv geweiteten Gefühl menschheitlicher Solidarität.54 Die Rückwendung zur lokalen Realität erscheint hier gleichsam als eine Verankerung der Utopie von der kosmopolitisch-menschheitlichen Gesellschaft im Lebensvollzug des ‚Volks‘ bzw. unamunoscher ‚intrahistoria‘. So ließe sich erklären, dass die qui-
45 46 47 48 49 50 51 52 53
54
creadas y narradas por el arte, no sistemas armados y explicados por ciencia alguna.“ Miguel de Unamuno, VDQ, S. 169. Zu Don Quixote als Symbol eines Spanien der Regionen, und nicht eines zentralistischen Spanien, das mit dem kastilischen Staatsapparat verknüpft werden konnte, siehe Kapitel III.2.2. Siehe Anm. 277, Kapitel II.4.2. Miguel de Unamuno, La crisis del patriotismo (1896), in: OC, Bd. 3 (Ensayo I), S. 452. Siehe ebd., S. 456. „Podrá ser estrecho […] el concepto de patria que tenga el aldeano, que nunca ha visto más allá del horizonte de su aldea, pero es, sin duda alguna, un concepto profundamente histórico, un hecho histórico, no un suceso más o menos durable.“ Ebd., S. 456. Siehe ebd. Zur ‚tradición eterna‘ siehe Kapitel III.6.1. Unamuno spricht im Gegensatz zu einerseits der Region („patria chica“) und andererseits der Menschheitsgemeinschaft („Patria humana“) auch von „las patrias nacionales, oficiales, las de bandera“. Siehe Miguel de Unamuno, La crisis del patriotismo, S. 453. „Es una de las concepciones más erróneas la de estimar como los más legítimos productos históricos las grandes nacionalidades, bajo un rey y una bandera.“ Ebd., S. 456. Siehe ebd., S. 452 f. Einige vereinzelte Zitate aus Unamunos Essay La crisis del patriotismo (1896) notierte Gerhard in einem seiner Notizbücher; er hielt darin u. a. das genannte, dreistufige Konzept von Heimat fest: „patria chicapatria nacional Parrochialism and world solidarity versus national sovereignty […]“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.109, S. 65, Rückseite. Vgl. Miguel de Unamuno, La crisis del patriotismo, S. 452.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
xotischen Visionen Dulcineas oder der Montesinos-Höhle der ‚höheren Realität‘ des ‚ewigen Spanien‘ und der Kollektivseele zugehören und zugleich im Realen und Lokalen verankert sind. Die Verankerung nicht nur des Originalthemas, sondern auch der aus dem Originalthema abgeleiteten Reihe im Musikalisch-‚Realen‘ (quasi Musikalisch-‚Gegenständlichen‘), nämlich in einer lokal auffindbaren Melodie, könnte entsprechend darauf hinweisen, dass die Reihe nicht ein theoretisch hergeleitetes Konstrukt ist, sondern als Abstraktion (oder Extrakt) aus einem kollektiv tradierten, regional verwurzelten melodischen Einfall hervorgeht. Diese Repräsentation Don Quixotes als Reihe kann mit Blick auf Unamunos ‚gran Patria humana‘ auf Don Quixote als Kosmopoliten hinweisen, der – nicht trotz, sondern gerade aufgrund seiner Herkunft aus der ‚patria chica‘ (Gerhards Heimatdorf Valls in Katalonien), und sich loslösend von Begrenzungen national-spanischer Identität – den ihm eigenen Platz im menschheitlichen Kollektivbewusstsein findet.55 Wie bereits erwähnt stellt die inhaltlich-repräsentative Funktion der Reihe in Gerhards Ballett eine Besonderheit dar. Repräsentativ ist die Don Quixote-Reihe für den Realitätszugang des Don Quixote-Menschen, der ganz von Ruhmsucht und vom Unsterblichseinwollen angetrieben wird, und zugleich auf das Rittertum-Ideal angewiesen ist, um sich von der eigenen Unsterblichkeit eine menschliche Vorstellung zu machen. Der motivische (im Gegensatz zum tongehaltlichen) Aspekt der Reihe und die Einsetzbarkeit der Reihe auf der motivisch-thematischen Tonbezugsebene kann für dieses Zugeständnis an menschliche Vorstellungskraft einstehen. Eben die motivische Bezugsebene der Reihe ist in Gerhards Ballett allerdings von oft geringer Bedeutung. Szene 5 („The Prison. Variaciones“), mit dem Thema des gedemütigten, um den Glauben an sein Ideal ringenden Don Quixote und der auf Sancho übergehenden locura, bot Gerhard die Möglichkeit, die Don QuixoteReihe durchgängig in das Zentrum des musikalischen Geschehens zu stellen. Dabei zeigt sich, dass er die Reihe kaum motivisch aufspaltet und verarbeitet, und (wie schon in Kapitel I.2 erwähnt) selten eine kunstvolle Verteilung der Reihentöne auf den Satz vornimmt, sondern sie oft sogar in unzerteilter, intakter Weise verwendet und kombiniert. Dies verweist auf die tongehaltliche Integrität seiner Don QuixoteReihen und rückt den Aspekt tongehaltlicher Bezüge zwischen Reihenformen und -segmenten in den Vordergrund. Die relativ intakte Verwendung der Don QuixoteReihe mag zum einen die Wiedererkennbarkeit derselben, und damit die repräsentative Funktion der Reihe, berücksichtigen, v. a. aber verweist sie darauf, dass Gerhard die Variationen seiner Reihengestalt in Szene 5 weniger im Sinne von Gestaltvariationen dachte, sondern im Sinne einer tongehaltlichen und kombinatorischen Verarbeitung der Reihenformen auf einer ‚Tiefenebene‘ der Tonbezüge. Mit der 55
Im Dreischritt „patria chica“ – Nation – „gran Patria humana“ lässt sich Unamunos dreistufiges Geschichtsbild, und in der „Patria humana“ seine Utopie einer zukünftigen Menschheitsgesellschaft, wiederfinden. Betrachtet man analog zu jenen drei Auffassungen von Heimat die in Kapitel II.4.3 angeführten drei menschheitlichen Entwicklungsstadien und Menschentypen, dann lässt sich sagen, dass die heroische Glaubenskraft des espiritual bei Unamuno auf der Grundlage eines engstmöglichen Kontakts zur konkreten Realität gewonnen werden muss – eines Realitätskontakts, über den der natural unbewusst verfügt –, und auf der Grundlage einer Loslösung von der verfestigten, dem Gegenständlichen verhafteten Vernunft.
III.2. Die Realitätsebenen in musikalischer Umsetzung
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tongehaltlich-kombinatorischen ‚Tiefenebene‘ konnte Gerhard an die Frage präexistierender Tonbezüge rühren, und damit an die Frage nach der Existenz einer ‚höheren Realität‘ auf musikalischer Ebene. Die Tatsache, dass eine tongehaltliche Handhabung der Reihe inhaltlich mit denjenigen Momenten zusammenfällt, in denen Don Quixote eine Vision von ‚höherer Realität‘ hat, verweist auf ein Aufeinandertreffen von Realitäts- und Tonalitätsreflexion. Wenn in Gerhards Ballett auf inhaltlicher Ebene quasi ‚verhandelt‘ wird, ob den Inhalten Don Quixotes traumartiger Visionen Wahrheit zukommt, sie real sind,56 dann lässt sich annehmen, dass auch die kompositorisch gestalteten ‚Visionen‘ auf der musikalischen Ebene nichts Geringeres ‚verhandeln‘ als die Frage nach der Realität eines endlichen Tonbezugsraums bzw. den Glauben daran (es geht hier wohlgemerkt keinesfalls um den Glauben an das alte tonale System, sondern um einen endlichen Tonbezugsraum, der jedwedem tonalen System zugrunde liegen müsste). Stichwortartig lassen sich Merkmale solcher Tonbezüge benennen, die eine musikalisch-‚höhere Realität‘ charakterisieren: – Tongehaltliche Nutzung der geringerzahligen Don Quixote-Reihenformen oder ihrer Segmente im serial field und insofern die zentrale Bedeutung des ‚Harmonischen‘. – Arbeiten mit allen zwölf Tönen als Merkmal einer ‚Schau‘ auf den gesamten Tonbezugsraum der zwölf Töne, welcher als kombinatorischer Bezugsraum erst dadurch entstehen kann, dass die Don Quixote-Reihe ihrerseits nicht zwölftönig ist; basslos-schwebender Satz. – Ausgewogenheit von horizontaler und vertikaler Satzdimension. – ‚Energetische‘ Intensität von Akkordfortschreitungen durch die leittönige Wirksamkeit von Halbtonschritten, u. a. basierend auf dem Abwechseln komplementärer Tongehalte und dabei emanzipiert von den Konventionen des alten tonalen Systems. Während diese musikalischen ‚Visionen‘ in Kapitel III.3 genauer untersucht werden, ist zunächst zu fragen, wie sich dementgegen die realistische Sphäre im Ballett musikalisch darstellt, und inwiefern auch deren musikalische Gestaltung erkenntnistheoretische Implikationen hat – welche ‚Schau‘ sich also hier vermittels diatonischer Tonvorräte auf einen zugrunde liegenden, zwölftönigen Tonbezugsraum bietet. Die realistische Sphäre ist in Gerhards Ballett mit musikalischen Abschnitten verbunden, die ein musikalisch-spanisches Idiom aufweisen, oder denen eine traditionell spanische Musikvorlage zugrunde liegt (entsprechend der Einsicht, dass Realität immer an ein konkretes lokales Umfeld gebunden ist). Hierzu soll zuerst der Kastilien-Topos in Szene 1 betrachtet werden, den Gerhard im Zusammenhang mit Sancho aber auch mit den ‚Widersachern‘ Don Quixotes, quasi dem Typus des intelectual, einsetzt; sodann die realistische Sphäre in Szene 2 (in der Schenke), die mit den Kollektivmenschen des spanischen pueblo (quasi den Menschen der ‚patria chica‘) verbunden ist. 56
Die Frage, ob Don Quixotes Visionen real oder eine wahnhafte Illusion sind, steht latent mit allen im Ballett thematisierten Visionen im Raum, insbesondere aber mit der Episode von Don Quixotes Abstieg in die Höhle von Montesinos, siehe Kapitel III.6.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
III.2.1 Die realistische Sphäre I: Der Kastilien-Topos und der intelectual In Szene 1 ist die realistische Sphäre verbunden mit dem erstmaligen Erscheinen Sanchos in dem „Sancho Panza“ betitelten „Allegretto“-Abschnitt im 3/8-Takt (Ziffer 9–14). Gerhard greift in diesem und im darauf folgenden, mit den ‚Widersachern‘ verbundenen Interlude I („The plain of La Mancha“, Ziffer 14–16) auf musikalische Idiome spanischer bzw. kastilischer Herkunft zu, so auf ein wiederkehrendes Rhythmus-Ostinato,57 das sich auf die Tanz-, Dichtungs-58 und Liedform der Seguidilla zurückführen lässt, einer Form, deren Herkunft eng mit der Region Kastilien/La Mancha verbunden ist.59 Rhythmus-Ostinato einer Seguidilla/ Sevillana in den Abschnitten „Sancho Panza“ (ab Ziffer 9) und „The plain of La Mancha“ (Interlude I):60
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Gebracht wird es im Tomtom oder in der Kombination von Tomtom und Tamburin sowie in perkussiven col legno battuto-Schlägen der Streicher. In Cervantes’ DQ II/24 (S. 731) wird eine Seguidilla zitiert. Susanne Lange kommentiert im Anmerkungsapparat zu der von ihr übersetzten Edition: „Eine volkstümliche Strophenform, die vor allem bei den Liedern der niedrigen Stände sehr beliebt war. Sie besteht aus vier kurzen, assonierenden Zeilen, deren Endsilben betont sind.“ Susanne Lange, Anmerkungen, in: Miguel de Cervantes Saavedra, Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha II, hrsg. und übersetzt von Susanne Lange, München 2008, S. 661. Als Herkunftsregion der Seguidilla wird Kastilien/La Mancha angenommen, zugleich aber auf die Verbreitung in ganz Spanien hingewiesen. Obwohl, so Crivillé, kein schlagkräftiges Dokument den manchegischen Ursprung der Seguidilla bezeuge, erscheine diese Form seit vorgeschichtlicher Zeit („desde tiempo inmemorial“) eng an die Region La Mancha gebunden (vgl. Josep Crivillé i Bargalló, El folklore musical, Madrid 21988, S. 216). Zugleich werde berichtet, dass sich die Seguidilla in vielen Regionen Spaniens verbreitet hat, so in der Schrift Basilio Sebastián Castellanos’ von 1854: „La seguidilla es el baile tal vez más antiguo que hay en España después del corro […] si se recorre una por una todas las provincias, en todas se verá este baile, ya con su propio nombre ya con un adjetivo provincial. Hay seguidillas rodadas […], las hay boleras […], afandangadas, playeras, rondeñas […] y manchegas, que son las más antiguas y acaso las que dieron origen a todas las demás seguidillas […].“ Basilio Sebastián Castellanos, Discursos histórico-arqueológicos sobre el origen, progresos y decadencia de la música y baile español, Madrid 1854, zit. nach Josep Crivillé i Bargalló, El folklore musical, S. 217. Das von Gerhard verwendete Rhythmus-Ostinato gleicht dabei dem Kastagnetten-Rhythmus in den geschichteten Rhythmen von Gesangsstimme, Kastagnetten und Tamburin, die Josep Crivillé als typisch für die allerdings andalusische Variante der Seguidilla, die Sevillana, anführt. (Siehe die Abbildung eines Sevillana-Rhythmus in: ebd., S. 220.) Hierzu bemerkt Crivillé, in den Sevillanas sei der Rhythmus, im Vergleich mit anderen lokalen Seguidilla-Varianten, lebhafter: „En las sevillanas el tiempo rítmico aparece más vivo, contrastando esquemas que atañen al canto y al baile y aquellos que se dedican al acompañamiento rítmico de Castañuela y Tambor.“ Ebd.
III.2. Die Realitätsebenen in musikalischer Umsetzung
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Der Rhythmus dieses Ostinatos wird in das aufsteigende Quartmotiv aufgenommen, das inhaltlich mit dem Aufbruch Don Quixotes und Sanchos zu ihren Abenteuern zusammenfällt. Es erklingt zunächst in der Klarinette (T. 1/2 nach Ziffer 12), wo es dem Szenario entsprechend Sancho zugeordnet werden kann, ein paar Takte später wird es in der sordinierten Trompete hörbar und ist hier Don Quixote zuzuordnen (T. 5 nach Ziffer 12, Trompete con sordino). Motiv mit aufsteigender Quarte, Trompete con sordino, T. 5/6 nach Ziffer 12
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Bemerkenswert ist, dass jenes mit der Aufbruchsstimmung der Protagonisten konnotierte Quartmotiv sich sowohl Sancho als auch Don Quixote zuordnen lässt. Bereits hier lässt sich vermuten, dass Gerhard primär die Gemeinsamkeit der beiden, quasi ihre Komplizenschaft, und weniger ihre Gegensätzlichkeit fokussiert, was auf die spätere Quixotisierung Sanchos in Szene 5 vorausweist.61 Auffallend ist zudem das Hinzukommen der Militärtrommel (Kleine Trommel in T. 2 nach Ziffer 12), das dem Quartmotiv einen militärischen Charakter zufügt und suggerieren kann, dass Don Quixote und Sancho mit jener Ausfahrt und ihren Abenteuern einen ‚Kampf‘ gegen ihre ‚Widersacher‘ aufnehmen. In Interlude I kehrt das Quartmotiv in der sordinierten Trompete wieder (bei Ziffer 15) – auch hier in Kombination mit der Militärtrommel. Es beginnt dabei auf den gleichen Tonhöhen wie bei seinem erstmaligen Auftreten nach Ziffer 12, wobei es um eine aufsteigende Quarte erweitert wird und sich am Ende des Motivs die Töne f, e finden, die im Ballett in besonderer Weise mit dem Heroismus und dem Leiden der quixotischen locura verbunden sind (siehe Kapitel III.4.2) und überdies auf Don Quixote als Repräsentation Spaniens hinweisen können.62 Zugleich setzt mit dem letzten Ton e’’ in der Harfe ein frag61 62
Siehe Kapitel II.3.2. Eine hörbare Nähe zur Marseillaise, die in den aufsteigenden Quarten des Motivs begründet ist, lässt eine aktualisierende Lesart des Balletts zu. White erklärt in Bezug auf die von ihm in Gerhards Violinkonzert (1942/43) angeführten Marseillaise-Anklänge zu Beginn des dritten Satzes: „Gerhard would later maintain that the references to the Marseillaise were ‚unintentional‘ but this has not stopped commentators offering a programmatic explanation. [Joaquim] Homs relates these quotations to the recent liberation of Paris, suggesting that they symbolise, subconsciously or otherwise, freedom. Francis Routh (via Gerhard presumabely) claims that they specifically recalled ‚the fall of France in 1940 as well as the composer‘s French mother’.“ (Julian White, ‚Lament and laughter‘: emotional responses to exile in Gerhard’s post-Civil War works, S. 37.) Mit Blick auf jenen Bezug erscheint es durchaus nicht abwegig, einen Zusammenhang mit der Befreiung des von den Nazis besetzten Paris’ durch die Alliierten im Herbst 1940 herzustellen, insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass viele nach Frankreich exilierte spanische Republikaner sich – im Bewusstsein, dort ihren ideologischen Kampf gegen den Faschismus in Europa fortzuführen – der französischen Résistance anschlossen. (Siehe hierzu Helen Graham, Der Spanische Bürgerkrieg, S. 166–175.) Zumindest auf internationaler Ebene war diesbezüglich ein Etappensieg errungen worden. Dass Gerhard ein der Marseillaise ähnliches Motiv auch in der
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
mentarisches Zitat der Don Quixote-Reihe P4, (1–3) ein (T. 2 nach Ziffer 15, auf b’, des’’, as’). Die Zuweisung des Motivs zur Figur Don Quixotes ist evident: Erweitertes Motiv mit aufsteigenden Quarten, Trompete con sordino, Interlude I, Ziffer 15:
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Die Tatsache, dass der Seguidilla-Rhythmus inhaltlich nicht nur Sanchos erstmaliges Erscheinen und das Signal zur Ausfahrt Don Quixotes und Sanchos begleitet, sondern auch den pas de quatre der ‚Widersacher‘ und das mit diesen verbundene Interlude I, lässt darauf schließen, dass durch ein solches kastilisches Element zunächst einmal alle Figuren, die der realistischen Sphäre angehören, als Menschen aus der Region La Mancha gekennzeichnet werden sollen. Zugleich wird diese Herkunftssphäre zwiespältig besetzt. Kastilien war bei spanischen Autoren der ‚Generation von 1898‘ nicht nur eine spanische Region unter vielen anderen, sondern das „Herzland Spaniens“,63 das von Unamuno immer wieder in ambivalenter Weise als Repräsentation Spaniens begriffen wurde. Im Zusammenhang mit der kastilischen Tiefebene beschreibt Unamuno eine monotone, trostlose, karge und trockene Landschaft der klimatischen Extreme und überträgt deren Merkmale auf die dort lebenden Menschen.64 Für Unamuno handelt es sich einerseits um diejenige Region, die
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Don Quixote-Komposition derart exponiert verwendet, spricht gegen einen bloßen Zufall. Zudem muss die von Gerhard behauptete, nicht-intentionale Realisierung eines solchen Zusammenhangs nicht zwangsläufig gegen denselben sprechen, sondern kann auf das für die Schönbergschule typische Vertrauen auf ‚unbewusst gewusste‘ Zusammenhänge hinweisen. Siehe Winfried Kreutzer, Spanische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts in Grundzügen, Darmstadt 21991, S. 82. Dies betrifft neben Unamuno v. a. Azorín, Pío Baroja y Nessi und Antonio Machado (zur ‚Generation von 1898‘ siehe ebd., S. 81–98). Kreutzer bemerkt: „Der Weg dieser Generation führt fast ausnahmslos (Ausnahme Antonio Machado) vom sozialrevolutionären bzw. anarchistischen Engagement zu einem nuancierten Konservatismus, der sich vor allem in der Frage nach dem Wesen Spaniens niederschlägt, dem man über bestimmte ‚Mythen‘, etwa Kastilien, Don Quijote etc., aber auch in [der] ästhetisierenden Betrachtung der Landschaft und ihrer Interpretation nahezukommen suchte.“ Ebd., S. 98. Zum Kastilien-Topos siehe Miguel de Unamuno, TC, S. 171–178. Unamuno verbindet die kastilische Landschaft weiter mit einem unüberbrückbaren Kontrast zwischen Außen und Innen, einer Unfähigkeit zu Zwischentönen und Synthesen. In der Weite jener Tiefenebene
III.2. Die Realitätsebenen in musikalischer Umsetzung
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seit den Reyes Católicos durchaus zurecht einen Repräsentationsanspruch auf ganz Spanien als Nation geltend machte, andererseits betrachtet Unamuno diesen Repräsentationsanspruch in seiner Gegenwart als einen nicht mehr legitimen. In TC macht er das kastilische Spanien stellvertretend zum Symbol für das traditionalistische und unitaristische Spanien und dessen casticismo, eine Geisteshaltung, die auf die Bewahrung kultureller ‚Reinheit‘ des Spanischen zielt. Unamunos Kastilienund casticismo-Kritik wurde beim Erscheinen von TC von regionalistischer Seite begrüßt,65 auch wenn Unamuno einen Regionalismus, der sich aus gesamtspanischen Angelegenheiten defensiv heraushielt, an anderem Ort kritisieren sollte66 und Regionalisten vor den Kopf stieß, indem er dem Gebrauch des kastilischen Spanisch gegenüber dem der Regionalsprachen einen grundsätzlichen Vorrang einräumte. Dennoch konnte Unamuno, der selber Baske war, als Fürsprecher des Regionalismus rezipiert werden. In seinem Essay La crisis actual del patriotismo español (1905) stellte er fest, dass der Regionalismus der Katalanen, der Basken oder der Gallizier auf einer Aversion gegen Kastilien (einem „anticastellanismo“) beruhe67 und räumt selber ein, eine Aversion gegen all dasjenige zu hegen, was als „castizo“ und genuin spanisch gelte, etwa den Stierkampf.68 Ein von Gerhard markierter Textabschnitt im genannten Essay Unamunos (La crisis actual del patriotismo español) ist geeignet, Unamunos pro-regionalistische Haltung zu betonen und kann zeigen, dass Gerhard mit Unamunos Kritik an Kastilien und mit einem anti-zentralistischen Spanienbild sicherlich sympathisierte.69
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werde, so Unamuno, der Mensch klein ohne zu verschwinden. „No hay aquí comunión con la naturaleza; ni nos absorbe ésta en sus espléndidas exuberancias; es […] un paisaje monoteístico este campo infinito en que, sin perderse, se achica el hombre, y en que siente en medio de la sequía de los campos sequedades del alma.“ Ebd., S. 174. Rabaté bemerkt, dass die Unamunos Schrift TC konstituierenden Essays von 1895 zur Zeit ihrer Publikation weniger in Madrid als in Barcelona und unter katalanischen Intellektuellen ein überaus positives Echo fanden. Er führt dies v. a. auf eine darin rezipierte kritische Distanz Unamunos gegenüber einem kastilischen Zentralismus und eine Unamuno zugeschriebene Fürsprache der Aufwertung des Gewichts der Regionen zurück (siehe Jean-Claude Rabaté, Introducción, in: Miguel de Unamuno, TC, S. 43–45 und 47–49). Im letzten der Essays (Sobre el marasmo actual de España) hatte Unamuno geäußert: „Quisiera sugerir con toda fuerza al lector la idea de que el despertar de la vida de la muchedumbre difusa y de las regiones tiene que ir de par y enlazado con el abrir de par en par las ventanas al campo europeo para que se oree la patria. Tenemos que europeizarnos y chapuzarnos en pueblo.“ Miguel de Unamuno, TC, S. 265. Siehe Miguel de Unamuno, La crisis actual del patriotismo español, S. 942–945. Vgl. ebd., S. 942. Siehe ebd., S. 943 f. Dementsprechend war Gerhard ganz offensichtlich über eine Textstelle desselben Essays irritiert, in der Unamuno den positiven Verdienst Kastiliens hervorhob. Gerhard versah diese Textstelle mit einem Fragezeichen. Unamuno hatte darin geäußert, es sei, trotz der Unzulänglichkeiten, die das kastilische Volk für das Leben in der modernen Kultur aufwiese, doch einzuräumen, dass Kastilien seine vormalige Vorrangstellung unter den spanischen Regionen, seiner eigenen ‚Großzügigkeit‘ und seinem Bestreben anderen Regionen die eigene Glaubenslehre aufzuzwingen verdanke („su empeño por imponer a otros sus creencias“). (Vgl. ders., La crisis actual del patriotismo español, S. 949.) Bezugnehmend auf eine von ihm 1901 in Bilbao gehaltene Rede, äußert Unamuno [es handelt sich beim folgenden um den von Gerhard mit einem Fragezeichen versehenen Textabschnitt]: „’Cuando tenía España vastos dominios allende los
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Darin wird geäußert, man müsse die spanische Politik von der kastilischen Fessel befreien („del gozne castellano“), von der Geisteshaltung desjenigen, der arbeite, aber nur selten fühle, der in der Szenerie auftauche und wieder verschwinde, als ob er durch eine automatische Feder angetrieben werde.70 Unamuno betrachtet die Kritik an Kastilien als einen Dienst am ‚wahren‘ Spanien. So werde etwa von Seiten der Basken gegen den „españolismo“ protestiert, um gegen den Verlust des ‚wahren‘ Spanien zu protestieren („contra la íntima despañolización de España“), und er fügt an, der ‚Geist Don Quixotes‘ sei von Kastilien, d. h. von Zentralspanien, nach Baskenland (Unamunos Heimat) emigriert und protestiere von dort aus gegen die Gelehrten, Priester und Barbiere, die sich seiner bemächtigt hätten.71 Wenn jene ‚Widersacher‘-Figuren des Romans bei Unamuno also für das ‚falsche‘ Spanien eines exklusivistischen casticismo einstehen konnten, das bislang durch Kastilien repräsentiert wurde – und es sei, so Unamuno, die große und noble Aufgabe der Regionalisten, gegen jenes ‚falsche‘ Spanien zu kämpfen72–, dann konnte dies möglicherweise auch für die ‚Widersacher‘ in Gerhards Ballett II gelten. Der darin dargestellte ‚Kampf‘ Don Quixotes gegen seine ‚Widersacher‘ könnte demnach als Kampf gegen das ‚falsche‘ Spanien verstanden werden. Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn man bemerkt, dass Gerhard in seinem Ballett II offensichtlich eine Verknüpfung zwischen den ‚Widersachern‘ Don Quixotes und Unamunos Charakterisierung des Kastiliers herstellte. Unamuno referierte auf Kastilier als Automaten73 oder Modellmenschen („maquetos“74), um auf ihre Seelenleere und Gefühlsarmut zu verweisen.75 Ähnlich wie er Ideen und Vernunft als
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mares, predominó y debió predominar Castilla, el pueblo central, el más unitario y más impositivo, sí, pero el menos egoísta… Gran generosidad implica el ir a salvar almas, aunque sea a tizonazos.’“ (Ebd.) Dass hier ‚Großzügigkeit‘ und der ‚impositive‘ Charakter Kastiliens (gemeint ist damit ganz offensichtlich nicht nur eine ‚innerspanische Vormachtstellung‘ Kastiliens, sondern auch der spanische Kolonialismus) in einem Atemzug genannt werden, kann tatsächlich sehr befremden. Widersprüchlich erscheint jene Textstelle v. a. dann, wenn sie vor dem Hintergrund einer Unamuno zugeschriebenen grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber einem kastilisch dominierten Spanien betrachtet wird, Unamunos Haltung ist hier jedoch ambivalent. Das von Gerhard angebrachte Fragezeichen dürfte an dieser Stelle eine Distanz gegenüber Unamuno oder zumindest Verständnisschwierigkeiten Gerhards anzeigen. „*Hay que sacar, en efecto, la vida política española del gozne castellano, del espíritu que obra, pero rara vez siente, del que pasa y repasa por el escenario movido de resorte automático, y hay que darle otros.*“ Miguel de Unamuno, La crisis actual del patriotismo español, S. 946. Unamuno entlehnt das von ihm modifizierte und auf den Kastilier bezogene Bild eines automatisch bewegten Menschen einem vormals in seinem Essay angebrachten Zitat des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Frank Wadleigh Chandler (siehe ebd., S. 943). Ebd., S. 948. Siehe ebd. Siehe ebd., S. 943. Siehe ebd., S. 947. Im gleichen Sinn beschreibt Unamuno den Eindruck, den die Literatur Kastiliens bei ihm hinterlasse, als „[…] una impresión de sequedad, de falta de jugo afectivo, de escasez de sentimientos […].“ (Ebd., S. 943.) In Soledad (1905) nimmt Unamuno Bezug auf einen reservierten, unaufrichtigen und undurchsichtigen Menschentypus und dessen seelische Leere; er spricht von ‚Schalentieren‘ („crustáceos espirituales“, ders., Soledad, S. 895) und äußert, nirgends sei dieser Typus häufiger zu finden, als unter Kastiliern: „Pero ellos, los muy crustáceos,
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‚Schatten‘ der Realität und des Lebens betrachtete, charakterisierte er den typischen Kastilier gewissermaßen als ‚Schatten‘ eines Menschen, der sich inhaltsarmen Ideen (etwa dem abstrakten Konzept der Nation) unterwirft, und insofern fremdgesteuert ist. Die Geisteshaltung des typischen Kastiliers ähnelt damit derjenigen von Unamunos intelectual oder Ideokraten. Diese Charakterisierung lässt sich in den ‚Widersachern‘ von Gerhards Ballett wiederfinden. Denn ebenso wie dem intelectual bei Unamuno hinsichtlich der aktiven Verifikation einer Idee eine fremdgesteuerte und unproduktive Rolle zukommt, kommt auch den ‚Widersachern‘ in Gerhards Ballett II, Priester und Barbier, hinsichtlich der Balletthandlung eine unproduktive Rolle zu. Sie treten v. a. in den Interludes auf und spielen hier die Rolle derjenigen, die Don Quixote und Sancho (im doppelten Wortsinn) „verfolgen“:76 Sie folgen dem Weg der Protagonisten und sie verurteilen die locura und die Abenteuer. Als zuschauenden Beobachtern kommt ihnen (auch hier im doppelten Wortsinn) eine negative Funktion zu: Die beiden Beobachter tragen nicht zur Handlung bei, sondern kommentieren diese lediglich. Indem Gerhard jene Figuren hauptsächlich in den Interludes auftreten lässt und sie so gewissermaßen aus der Haupthandlung ‚auslagert‘ und auf eine Beobachterebene aussondert, lässt er sie quasi nur ‚von außen‘ an der Handlung teilnehmen. Wie ein wiederkehrendes Motiv tauchen sie in jedem der Interludes von Ballett II immer wieder auf, schleichen vor dem heruntergelassenen Vorhang über die Bühnenrampe und werden von Gerhard ausdrücklich als „Verschwörer“ charakterisiert.77 In der Haupthandlung finden sie sich in Szene 1 und in der Schlussszene. In Szene 1 tanzen beide Figuren, zusammen mit Don Quixotes Haushälterin und Nichte, einen pas de quatre und nehmen dabei gegenüber der von Sancho angedeuteten Ausfahrt der beiden Protagonisten von Anbeginn der Handlung eine ablehnende Haltung ein.78 In der letzten Szene, ist Don Quixote „ein Gefangener der Cuadrilleros“79 und sein Heimtransport auf dem Ochsenkarren findet statt. Die Cuadrilleros verfolgen Don Quixote ebenfalls, weil sie seine Befreiung der Galeerensträflinge in Szene 3 ahnden; folgerichtig bilden sie – im Interlude vor Szene 5 zusammen mit Priester und Barbier auftretend – eine gemeinsame Front verschworener Verfolger. Die ‚Widersacher‘-Funktion dieser Gruppe wird durch ihren Spott gegenüber dem besiegten und gefangenen Don Quixote endgültig klar: „Priester, Barbier und die 3 Cuadrilleros tanzen höhnend am Käfig vorbei. – D. Q. gesenkten Hauptes, regungslos.“80
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no se confían a nadie, y hasta he llegado a dudar si es que tienen cosa alguna que confiar. Su reserva no es más que vaciedad interior.“ Ebd. Siehe Anm. 77. Siehe das Interlude vor Szene 2: „PRIESTER und BARBIER erscheinen vor dem Act drop, schleichen [an] den Rampenlichtern entlang; sie verfolgen Don Quixote und Sancho; Verschwörer Gesten. – AB.“ Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 2 [Unterstreichungen von Gerhard]. „HAUSHÄLTERIN/, NICHTE (bestürtzt[sic], D. Q. anflehend) PRIESTER und BARBIER (missbilligend, abratend) pas de quatre[.]“ Ebd., S. 1 [Unterstreichungen von Gerhard]. Ebd., S. 6. Ebd. Bedeutsam ist der Spott als ein Punkt der größten Unvereinbarkeit der phantastisch-surrealen und der realen Sphäre: In ihm äußert sich in höchstem Maß die Schlechtigkeit der Welt und der vermeintliche Sieg der ‚Widersacher‘.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Musikalisch konnte Gerhard auf das ‚falsche‘ Spanien der ‚Widersacher‘ und des casticismo hinweisen, indem er in sein Interlude I floskelhafte Españolismen einbaute, so eine Figur, die wiederkehrend in das Interlude I interpoliert wird und dabei den Ostinato-Rhythmus unterbricht (erstmals T. 5/6 nach Ziffer 14),81 und weiter eine das Rhythmus-Ostinato übernehmende Figur im gestopften Horn (T. 3–5 nach Ziffer 15). Beide lassen sich als geradezu klischeehafte spanische Floskeln auffassen.82 Mit dem Kastilien-Topos lässt sich neben dem genannten Seguidilla-Rhythmus-Ostinato und den Españolismen im Interlude zudem der klanglich ‚karge‘ Holzbläsersatz (Ziffer 9–14) mit seinem harten, dissonanten Kontrapunkt der Holzbläserstimmen in Verbindung bringen. Jener polyphone Satz lässt sich als motivisch durchgestalteter erkennen (die einander imitierenden und kontrapunktierenden Linien lassen sich motivisch voneinander ableiten); zugleich verweisen die in den Holzbläserlinien vorzufindenden ornamentalen Vorschläge und Triolenfiguren auf ein spanisches Idiom (siehe das Fagott-Solo bei Ziffer 11). Es handelt sich hierbei um den einzigen nicht-reihengebundenen Abschnitt des Balletts, in dem die motivische Bezugsebene relevant ist. Nimmt man nun an, dass derart offensichtliche motivische Zusammenhänge für Gerhard tendenziell eine Ebene eher oberflächlicher Tonbezüge darstellen konnten, und zugleich den Anschein strengen Zusammenhangs erweckten, dann könnte damit auf ein negatives Potenzial des kastilischen Menschenschlags angespielt worden sein. Kastilische Menschen, die bei Gerhard wie bei Unamuno dem Typus intelectual nahestehen, konnten anhand jenes Kastilien-Vokabulars und anhand der motivisch durchgearbeiteten Satzweise charakterisiert, nahezu karikiert werden. Wenn ihnen der Realitätszugang eines Intellektualisten oder Rationalisten eigen ist, dann blieben diese Figuren einer bewussten, durch menschliche Vernunft vermittelten Außensicht auf die Realität verhaftet; die von Don Quixote geschaute ‚Tiefenebene‘ von Realität als ‚höherer Realität‘ – und analog: eine Tiefenebene des Tonbezugsraums – konnte ihnen vermittels derartiger, motivischer Tonbezüge nicht zugänglich werden. Bei Unamuno ist Don Quixotes Kampf gegen seine ‚Widersacher‘ nicht allein ein Kampf zweier unterschiedlicher Philosophien und Wahrheitstheorien (Rationalismus versus Lebensphilosophie), sondern auch ein Kampf gegen das ‚falsche‘ Spanien, und es ist naheliegend, dass Gerhard, indem er die ‚Widersacher‘ in seinem Ballett als Kastilier darstellte, und damit eine anti-kastilische Haltung durchblicken ließ, auf diese nationale Referenzebene des quixotischen Kampfes hinwies. Fasst man die Situation des spanisch-republikanischen Exils, wie Faber es tut, als einen ‚Kampf um kulturelle Hegemonie‘ („struggle over cultural hegemony“) auf, 81
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Gerhard stellt einen verdeckten motivischen Zusammenhang zwischen dieser ‚spanischen‘ Floskel des Interlude I und den Holzbläserstimmen des „Allegretto“ von Ziffer 11–14 her, der erst zum Schluss des Interlude I fassbar wird. Denn die Holzbläserlinien des „Allegretto“, etwa das Fagott-Solo bei Ziffer 11–12, werden zum Schluss des Interlude I erneut aufgenommen (siehe T. 5 nach Ziffer 15, Klar. und Fg.), wobei die genannte ‚spanische‘ Figur in die Holzbläserlinien eingefügt wird (siehe T. 9/10 nach Ziffer 15, Klar. und T. 14/15 nach Ziffer 15, Fg.). Es ist wahrscheinlich, dass es sich bei jenen ‚spanischen‘ Floskeln um Zitate handelt, die noch zu identifizieren wären.
III.2. Die Realitätsebenen in musikalischer Umsetzung
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und teilt man seine damit verbundene Ansicht, die kulturelle Produktion der Exilierten stehe in direkter Konkurrenz zur Kultur in Franco-Spanien hinsichtlich des Anspruchs auf die ‚authentische‘ Repräsentation spanisch-nationaler Kultur und Identität,83 dann lässt sich kaum bezweifeln, dass ein Rückgewinn der Definitionsmacht über das ‚authentische‘ Spanien für spanisch-republikanische Exil-Intellektuelle und -Künstler wie Gerhard nach dem Verlust der Zweiten Republik von größter Relevanz gewesen sein muss. Die Rhetorik und nationale Symbolik der Franquisten während des Spanischen Bürgerkriegs und in Franco-Spanien ließ sich durchaus weiterhin im Zeichen eines casticismo verstehen, der Leitidee eines kulturell ‚reinen‘ Spanien, für das in Unamunos TC symbolisch die Vorherrschaft Kastiliens eingestanden hatte. Schließlich hatten die Aufständischen, wie Graham zeigt, den Militärputsch, der in den Spanischen Bürgerkrieg hineinführte, durch eine Rhetorik der „Säuberung“ der spanischen Gesellschaft von „unreinen Elementen“ legitimiert.84 Angesichts dessen lässt sich annehmen, dass Gerhard auf das Vokabular und die Typisierungen Unamunos zugreifen konnte, um auf das Spanien Francos zu verweisen. III.2.2 Die realistische Sphäre II: Der chacona-Tanz und der Kollektivmensch des pueblo Gerhard legt in Szene 2 („A Wayside Inn. Chacona de la venta“) mehrere sich in der Schenke ereignende Romanepisoden zusammen und integriert diese in einen chacona-Tanz. Bis zum Ritterschlag-Abschnitt bildet dieser Tanz das konstante Element der Szene (Ziffer 16–42). Ihm liegt als spanische Vorlage die Tonadilla-Nummer Tononé zugrunde, die in Pedrells Volksliedsammlung enthalten ist.85 Mit ebendiesem Tanz charakterisiert Gerhard die kastilische Alltags-Realität, eine Realität des unmittelbaren Umfelds, der Schenken, Wirte, Dirnen und Maultiertreiber, und 83
84
85
Vgl. Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S. 41. Diese Konkurrenzsituation betraf laut Faber einen Kanon künstlerischer oder literarischer Werke, wie auch die nationale Geschichtsschreibung und jegliche Entwürfe hinsichtlich Spaniens vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Rolle in der Welt. Vgl. ebd. Siehe Helen Graham, Der Spanische Bürgerkrieg, S. 50 f. Den sogenannten „Säuberungen“ der Putschisten seien, so Graham, nicht nur diejenigen Menschen zum Opfer gefallen, die sich für die Republik politisch engagiert hatten („obwohl republikanische Parlamentsabgeordnete und Bürgermeister, deren man habhaft werden konnte, meist sofort liquidiert wurden“), und nicht nur die Arbeiter in den Städten und die Pächter und Landarbeiter, die von der Umverteilungspolitik der Republik profitiert hatten und zu Tausenden umgebracht wurden: „Vielmehr waren von der ‚Säuberung‘ auch Menschen betroffen, die für kulturelle Veränderungen standen und deshalb als Bedrohung der althergebrachten Lebensformen und Denkweisen angesehen wurden: fortschrittliche Lehrer und Intellektuelle, durch Eigeninitiative zu einer gewissen Bildung gelangte Arbeiter oder ‚neue‘ Frauen. Die Gewalttaten der Rebellen richteten sich gegen jeden, der in sozialer, kultureller oder sexueller Hinsicht anders war.“ Ebd., S. 51 f. Pablo Esteve, Tononé. Cancion negra de la Tonadilla a duo EL PRETENDIENTE, in: Felipe Pedrell, Cancionero Musical popular español, Bd. 4, Barcelona 41958, S. 128–133. Diese Vorlage identifizierte auch Julian White, National Traditions in the Music of Roberto Gerhard, in: Tempo Nr. 184 (März 1993), S. 7.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
allgemein: des pueblo, des Kollektivmenschen. Diese Realität des unmittelbaren Umfelds kann als Gegenpol zum Ideal der anachronistischen Ritterwelt von Don Quixote fungieren. Sie ist der status quo, in den Don Quixote und Sancho eingreifen, und in dessen Gleichförmigkeit sie einbrechen, um ein Abenteuer zu konstituieren, das sich insofern als Herausforderung der bestehenden Realität auffassen lässt. Gerhard gestaltet das Eintreffen von Don Quixote und Sancho in der Schenke als ein Aus-dem-Takt-Fallen des Tanzes bei der Ankunft der beiden, indem er in den 3/8-Takt des Tanzes (Ziffer 16–26) unvermittelt vier Takte im 3/4-Takt interpoliert. Im Szenario ist dazu zu lesen: „Ankunft D. Q.’s und Sanchos. – Tanz bricht ab und bröckelt in Gruppen voller Erwartung, Neugierde, Verblüfftheit. – D. Q.[,] der die Schenke für ein Schloss, die Dirnen für vornehme Damen hält[,] grüßt ritterlich. WIRT erwidert mockierend.“86
Jenes Aus-dem-Takt-Fallen ist besonders wirkungsvoll vor dem Hintergrund der häufigen (für das chacona-Genre typischen87) Wiederholungen der Tanzperioden, deren melodische und harmonische Substanz bei variierter Instrumentation gleich bleibt. Sowohl die periodischen Wiederholungen im Tanz als auch dessen statische Tonalität (über weite Teile über dem Basston a) können mit der Etablierung einer Gleichförmigkeit, in die Don Quixote einbricht, in Verbindung gebracht werden. Wenn man den Tanz allgemein als eine Metapher für die Alltags-Realität des pueblo auffasst, lässt sich behaupten: So wie Don Quixote den Tanz aus dem Takt bringt, gerät durch den loco, den Wahnsinnigen oder Visionär, die vertraute und gleichförmige Welt aus den Fugen. Weiter wird die quasi-kreisförmige Gleichförmigkeit jener kastilischen Schenken-Realität dadurch gestaltet, dass Gerhard seine Zuhörer bzw. Zuschauer am Anfang von Szene 2 in das Geschehen ‚hineinwirft‘, wenn er im Szenario anweist, der Bühnenvorhang solle sich „womöglich einige Take nach [Ziffer] 16“ heben, „so daß der Tanz schon im Schwung ist[,] wenn man die Szene erblickt.“88 Die Tatsache, dass der Tanz mit a als Basston einsetzt, quasi mit einem Quartsextakkord der latenten D-Grundtonart (nur in einzelnen Takten pendelt der Bass zu d), kann dabei eine harmonische Auflösungsbedürftigkeit hin zur D-Tonika nahelegen, die, an den Beginn der Szene gesetzt, den Eindruck erzeugen kann, sich bereits in der Mitte des Tanzes zu befinden. Weiterhin greift Gerhard in die denkbar einfache Syntax der Tononé-Vorlage ein. Diese umfasst zwei unterschiedliche Melodiezeilen, die wiederholt werden (a, b, b’/ a, b, b’) und einen Refrain (c). Gerhard lässt den Tanz nicht auf der Melodiezeile a der Vorlage beginnen, sondern dreht in seiner Version die Melodiezeilen um (b, b’, a/ b, b’, a). Insofern es das Volk89 und dessen Leben auszeichnet, sein Handeln von den Bedingungen seines unmittelbaren lokalen Umfelds bestimmen zu lassen, lässt 86 87 88
89
Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 2. Zum chacona-Genre siehe Kapitel III.6.1. Ebd., S. 2. Siehe auch folgender Text für ein Radioskript: „When the drop rises on Scene II the dance of the muleteers and wenches in the courtyard of a wayside Inn is in full swing.“ [Verfasser anonym, wahrscheinlich in enger Absprache mit Gerhard], Radioskript (Typoskript), englisch, CUL 11.45, S. 2. Zur idealisierenden, mythisierenden Sichtweise der Republik-Intellektuellen auf das ‚Volk‘
III.2. Die Realitätsebenen in musikalischer Umsetzung
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sich der pueblo-Mensch als ein vor-individueller Kollektivmensch verstehen. Die Kollektivmenschen treibt in ihrem alltäglichen Lebensvollzug primär der Antrieb ihrer (Über-)Lebenssicherung, d. h. die Sorge um primäre Bedürfnisse. Das höhere Bedürfnis der Unsterblichkeit (für Unamuno das einzige eigentliche Bedürfnis jedes Menschen) ist ihnen nicht bewusst. Der Durst zur Weltaneignung, und damit zur Selbst-Realisierung am Außen, ist beim Kollektivmenschen nur begrenzt ausgeprägt, theoretisches Wissen ihm fremd (Unamuno weist auf Sanchos Analphabetismus90). Stattdessen gilt das über Generationen überlieferte, ‚lebendige‘ Wissen der (Volks-)Tradition, das sich im permanenten Praktiziert-Werden verifiziert und insofern nicht unwahr werden kann. Auch wenn die Kollektivmenschen nicht als Individuen erinnert werden, so versteht Unamuno ihr Leben und Handeln dennoch als höchst produktiv. Sie bilden für die Erhaltung des Volksgeistes (die ‚intrahistoria‘) die substanzielle Basis, weil sie den Volksgeist lebend und handelnd verkörpern. Der Mensch des pueblo durchlebt die Alltagsrealität, die sich in dem Kreislauf von Bedürfnis-Befriedung und einem Bedürfnis, das seinem Umfeld angepasst und darin erfüllbar ist, zirkulär wiederholt. So ist die Realität des Kollektivmenschen eine begrenzte, dabei jedoch zugleich durch einen engen, unmittelbaren Kontakt mit der Realität ausgezeichnet. Das Risiko, Illusionen anheimzufallen und sich von einer Gegenwelt täuschen zu lassen, ist beim pueblo-Menschen gering. Er stellt insofern ein Gegenbild sowohl zum intelectual als auch zum hombre espiritual dar, denn er kennt die Selbstbestimmung des Individuums nicht, und erst recht nicht die locura – verstanden als großes Maß an Idealität. Zugleich aber geht Unamuno, wie bereits ausgeführt (siehe Kapitel II.4.3), von einer latenten Affinität zwischen dem pueblo-Menschen und dem Heroen, den scheinbar so weit voneinander Entfernten, aus. Denn beide eint die Kontaktnahme mit der Realität als ‚Leben‘, d. h. vermittels des Handelns und Wirkens. Wie stellen sich diese Aspekte eines begrenzten, aber unmittelbaren Realitätszugangs des pueblo auf musikalischer Ebene dar? Zunächst ist festzustellen, dass Gerhard sich in seiner (nur scheinbar simplen) Harmonisierung der Tononé-Melodie im Wesentlichen auf zwei diatonische Tonvorräte beschränkt. So liegt den ersten beiden Melodiezeilen (b, b’) die D-Diatonik (g, d, a, e, h, fis, cis), dagegen der a-Melodiezeile die (tongehaltlich weitgehend überlappende) A-Diatonik (d, a, e, h, fis, cis, gis) zugrunde.91 Diese Tonvorräte bestimmen dabei weitgehend sowohl die Melodik als auch die Harmonik des Satzes.92 Beiden Melodiezeilen (b und a) ist
90 91
92
siehe Faber: „The populism of the 1930s was characterized by a nostalgic and ultimately patronizing mythification of the premodern ways of life of the rural folk.“ Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S. 29 und weiter S. 76–78. Angesichts Sanchos Kundgabe Analphabet zu sein bemerkt Unamuno, das Aufkommen der locura sei mit dem Aufkommen der Schrift verbunden: „Y es cierto lo que dices, Sancho: por leer y escribir entró la locura en el mundo.“ Miguel de Unamuno, VDQ, S. 211. Bezüglich der Melodik der Zeilen a und b nimmt Gerhard gegenüber der Vorlage bei Pedrell einen Eingriff vor: Der Nachsatz b – bei Pedrell weiterhin in der A-Diatonik – wird bei Gerhard um eine Quinte tiefer transponiert, sodass sich in den Melodiezeilen b der Ton d als melodischer Zentralton ergibt. In den b-Melodiezeilen (Ziffer 16 und 17) entspricht der D-Diatonik sowohl der Tonvorrat in
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
b-Teil
a-Teil
b’-Teil
„Chacona de la venta“, Szene 2:
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III.2. Die Realitätsebenen in musikalischer Umsetzung
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über weite Strecken der Ostinato-Basston a unterlegt, obwohl das tonale Zentrum in den Melodiezeilen b, b’ (aufgrund des zugrunde liegenden Tonvorrats der DDiatonik sowie des Zentraltons in der Melodie) zu d tendiert. Dieser a-Basston (Quasi-Orgelpunkt) fungiert als integrierendes Element, welches das d als potenziellen Grundton der D-Diatonik schwächt. Wie instabil d als tonales Zentrum ist, lässt sich an den Begleitakkorden Ziffer 16 und 17 (zweite Zählzeit des 3/8-Takts) erkennen. Ihnen lässt sich als latentes Muster des Akkord-Tonvorrats eine die komplette D-Diatonik enthaltende Terzschichtung g, h, d, fis, a, cis, e zugrunde legen, von welcher wechselnde Bestandteile miteinander zusammenklingen. Diese Terzschichtung lässt sich als Superposition dreier Tonarten auffassen, nämlich der drei Dreiklänge G-/D-/A-Dur, d. h. des Dreiklangs von D-Dur mit den Dreiklängen seiner Unter- und Oberquint-Tonart.93 Der viertönige Zusammenklang nach Ziffer 16 (T. 1–3 und T. 5–7) erscheint so als unvollständige Superposition g, h, d, –, a, –, –, die in der Zeilenmitte (T. 4 nach Ziffer 16) variiert wird, indem das fis als komplettierende Terz zum latenten D-DurDreiklang eingebracht wird, nun aber der Ton g ausbleibt (also der Grundton des latenten G-Dur-Dreiklangs fehlt): –, h, d, fis, a, –, –. Nach Ziffer 17 werden ergänzende Bestandteile der Superposition eingebracht, sodass sich ein sechstöniger Akkord ergibt: g, h, d, –, a, cis, e (T. 1–3 und T. 5–7 nach Ziffer 17) bzw. die Variante in T. 4 nach Ziffer 17: g, –, d, fis, a, –, e. Die Tatsache, dass in jenem sechstönigen Akkord fast der gesamte diatonische Tonvorrat simultan erklingt und die Akkordtöne dabei in die weite Lage einer Quintschichtung gebracht werden (siehe Ziffer 17, Violine 1 und 2), verstärkt die harmonische Vieldeutigkeit des Klangs. Man könnte sagen, dass eine latente D-Dur-Tonart durch das gleichzeitige Erklingen von Elementen des Unter- und Oberquintklangs ‚untergraben‘ wird. Fasst man die Bestandteile g, d und a der Akkord-Superposition als latente Grundtonstufen und Stellvertreter eines je eigenen Tonartenbereichs auf, dann würde erklärbar, warum sich jene Superposition nicht auf eine Tonika zentrieren lässt: es klingen darin zwei weitere konkurrierende Toniken mit. So tendiert der scheinbar vertraute diatonische Tonvorrat zur Grundtonnivellierung der sieben Töne. Die Grundton-Tendenz mehrerer Skalentöne kann generell darauf hinweisen, dass es sich bei einer Tonika um eine Setzung handelt (es sich also etwa beim Grundton einer Dur-Skala um eine von vielen Möglichkeiten der Grundtonsetzung handelt). Wesentlich für die Definition einer Tonart wird dann ihr Tongehalt. Das Arbeiten mit einem hinsichtlich seines Grundtons ambivalenten set kann eine Verbindung herstellen zwischen Gerhards Verwendung von Diatonik, die am vorlie-
93
der Melodiestimme (bis auf den in der Melodie fehlenden Ton a, der aber als ostinater Basston fast permanent im Satz präsent ist) als auch der Tonvorrat der begleitenden Akkorde auf der akzentuierten, zweiten Zählzeit des 3/8-Takts. In der a-Melodiezeile (Ziffer 18) entspricht der Tonvorrat der Melodik derjenigen des Begleitsatzes genau (A-Dur-Diatonik). Von der Tonart D-Dur bzw. einer D-Tonika im funktionsharmonischen Sinn lässt sich hier nicht sprechen, weil diese kadenziell befestigt werden müsste. Und auch die funktionsharmonischen Bezeichnungen Subdominante, Dominante und Tonika sind hier nicht eigentlich zutreffend, da jene drei Akkorde v. a. eingebettet in Gegebenheiten eines Akzentstufentakts funktional wirksam würden, nicht aber als gleichzeitig erklingende.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
genden Beispiel deutlich wird, und seiner tongehaltlich ausgerichteten Betrachtung der (geringerzahligen) Reihe und von Reihensegmenten als sets. Ein grundlegender Unterschied zu den reihengebundenen Abschnitten des Balletts liegt allerdings in der harmonisch definierenden Funktion des Basstons, die hier beibehalten wird. Sowohl der D-Diatonik der b-Melodiezeilen als auch der A-Diatonik der a-Melodiezeile ist der statische Basston a unterlegt.94 Wenn nun mit der Melodiezeile a (T. 1–4 nach Ziffer 18) die A-Tonart eindeutig erreicht wird (im Basston wie auch als A-Diatonik-Tonvorrat), dann lässt sich darin eine harmonische Auflösung der in den b-Melodiezeilen vorangegangenen tonartlichen Superposition sehen. Mit dem statischen Basston a und der genannten auflösenden Bewegung dreht Gerhard allerdings eine zu erwartende Harmonisierung der drei Melodiezeilen b, b’, a als Tonika, Tonika, Dominante (D-, D-, A-Dur) gleichsam ‚auf den Kopf‘ und stellt damit funktionsharmonische Zuschreibungen (Tonika, Dominante) bzw. gewohnte Konsonanz-Dissonanz-Zuschreibungen in Frage. Denn die Dominant-Tonika-Relation wird nivelliert, indem die in dominantischer Funktion zu erwartende A-Diatonik mit a-Bass zur relativen ‚Auflösungstonart‘ wird, nämlich zur Auflösung der als Quartsextvorhalts-Harmonie zu verstehenden D-Tonart auf dem a-Basston der vorangegangenen b-Teile. (Als relative Auflösung bleibt die A-Tonart jenes a-Teils allerdings noch immer dominantisch.) Die genannte Grundtonnivellierung und die Nivellierung von Akkordfunktionen kann in die Richtung einer funktionalen Gleichberechtigung der Töne eines set, der Aufhebung einer einzelnen Grundton‚Perspektive‘ zielen, hier im Fall eines diatonischen sets. Es lässt sich annehmen, dass Gerhard den besonders unmittelbaren Realitätskontakt des pueblo-Menschen in einer Satzweise vertonte, die einen gleichfalls unmittelbaren Kontakt mit dem Tonbezugsraum nahelegen konnte. Denn die vorliegende Handhabung der Diatonik im Sinne eines set, dessen ambivalente Tonbezugsrichtungen erkundet werden, verweist auf die Harmonik als vorherrschendes Thema des Satzes. Die melodische Gestalt der zugrunde liegenden Tononé-Vorlage ist dabei dem gleichen set zugehörig wie ihre Harmonisierung, was eine Vereinheitlichung beider Satzebenen in tongehaltlicher Hinsicht anzeigt. Irrelevant ist dabei die motivische als gleichsam Tonbezüge vermittelnde Bezugsebene. Diese Tonbezugsebene ließe sich tendenziell dem zur theoretischen Reflexion fähigen intelectual zuordnen (und nicht dem Kollektivmenschen), während das Thematisch-Machen eines Tonvorrats (und nicht einer motivischen Gestalt) einen Bogen zu den Visionen Don Quixotes spannt, die ebenfalls auf das Erkunden einer tongehaltlichen Bezugsebene zielen; allerdings unter komplexeren Materialbedingungen als im Fall der „Chacona de la venta“ mit den darin benutzten diatonischen sets. Legte man den verwendeten Diatoniken (der D- und der A-Diatonik) imaginär die Tonraumstruktur eines cycle of fifths zugrunde, dann zeigte sich, dass diese beiden Ton94
In den b-Melodiezeilen erscheint dieser Basston mit der D-Tonart seiner Unterquinte ‚befrachtet‘ – wie eingangs angedeutet, könnte man auch sagen, dass ein latenter Grundton d mit jenem a-Bass funktional gesehen zum Dominantquartsextvorhalt tendiert und als Dominante instabil oder schwebend ist. Der zum Zeilenende unisono erreichte Einzelton d erscheint dabei als eine nur schwache Durchsetzung des d-Grundtons.
III.3. Don Quixotes Visionen
277
vorräte aneinander anliegende Quintbereiche markieren, und damit einen zusammenhängenden und eng begrenzten Ausschnitt des cycle of fifths. Aneinander angrenzende Quintbereiche der D- und A-Diatonik des chacona-Tanzes von Szene 2: g, d, a, e, h, fis, cis d, a, e, h, fis, cis, gis
Dagegen deckt die neuntönige Don Quixote-Reihe fast den gesamten cycle of fifths ab: Die Don Quixote-Reihe P0 (fehlende Töne: d, g, gis) vor dem Hintergrund der Tonraumstruktur eines cycle of fifths: –, es, b, f, c, –, –, a, e, h, fis, cis, –
Diese gemeinsam zugrunde gelegte Tonraumstruktur des cycle of fifths kann darauf hinweisen, dass der Arbeit mit der Diatonik im vorliegenden chacona-Tanz wie auch der Arbeit mit der Reihe derselbe endliche (zirkuläre), potenziell zwölftönige Tonbezugsraum zugrunde liegt. Dieser Tonbezugsraum wird lediglich vermittels unterschiedlicher Materialbedingungen erschlossen. Unter den komplexeren Materialbedingungen der Reihe muss sich ein differenzierteres Bild der darin präexistierenden Tonbezüge ergeben, als unter den Materialbedingungen der siebentönigen diatonischen Skala. Dies entspricht der Einsicht, dass es sich bei der ‚doppelten Realität‘ in Gerhards Ballettkonzeption nicht eigentlich um eine doppelte Realität, sondern um zwei Sichtweisen auf ein und dieselbe Realität handelt. III.3. DON QUIXOTES VISIONEN III.3.1 Vision oder Wahrnehmungstäuschung? Der Einsatz der reiheneigenen Tonhöhendoppelungen zur Kombination ähnlicher Reihenformen Ballett II beginnt mit den phantastischen Visionen Don Quixotes von Figuren aus den Ritterbüchern.95 Dass es sich bei der phantastisch-surrealen Welt jener Visionen um eine bislang noch überhaupt nicht realisierte Innenwelt handelt, kommt darin zum Ausdruck, dass sich Don Quixote, in dem Moment in dem sich der Vorhang hebt, lesend in seinem Schlafgemach befindet, während er in den nachfolgenden Szenen Abenteuer zu bestehen hat: „[Ziffer 1] D. Q. SOLO. Schlafwandelnd kämpft D. Q. gegen imaginäre Widersacher. (Betttuch umgeworfen: Helm aufgestezt[sic] – das Vizier[sic] mit grünen Bändern befestigt – Degen in der Hand) Brain storm“96 95
96
Hierzu wird der erste der von Edward Burra (1905–1976) gestalteten Bühnenvorhänge (Act Drop I) gezeigt: „It represents (over-life-size) Don Quixote’s sad face, filling the whole centre of the picture; phantastic vistas open at the sides with motifs of the Don’s familiar hallucinations: giants, ogres, forsaken widows, orphans, damsels in distress, knights in combat, etc.“ [Verfasser anonym], Radioskript, CUL 11.45. Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11.
278
III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Im Zusammenhang mit dem von Gerhard so genannten „Brain storm“, und im Anschluss an das Don Quixote-Originalthema (Szene 1 „Don Quixote’s Room“, Ziffer 1), erklingt erstmals die Don Quixote-Reihe in Art einer Reihencollage diverser, in unterschiedlichem Maß augmentierter Reihenformen (T. 5–10 nach Ziffer 1). Dabei kontrapunktiert Gerhard seine unterschiedlich ‚vergrößerten‘ Reihen nicht im Sinne von punctum contra punctum. Vielmehr verwendet er die Reihen und Reihenhälften quasi als intervallfixierte Riesenmotive, für deren Kombination Tonhöhenkonzentrationen, insbesondere die reiheneigenen Tondoppelungen, bedeutsam sind. Tonhöhenkonzentrationen betreffen neben- wie auch übereinander im Satz angeordnete Reihen, d. h. sie erstrecken sich horizontal und vertikal (wie auch quer) über den Satz, der sich als nicht vorherrschend linear, sondern räumlich bestimmter betrachten lässt. Denn in dem Satz findet sich, insofern Reihen vorliegen, zwar ausschließlich thematisches Material, dieses wird aber nicht entwickelt, denn die einzelnen, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ablaufenden Reihen tauchen in unterschiedlichen Stimmen des Satzes auf und verschwinden wieder. Auch wenn also ein entwickeltes Thema fehlt, so lässt sich in der Fülle der neben- und übereinander erklingenden Reihenformen ein Wahrnehmungs-Vordergrund ausmachen, nämlich diejenigen Reihenhälften, die auf der schweren und vollen Zählzeit einsetzen und deren Reihentöne einander im relativ langsamen Puls punktierter Viertel (im 12/8-Takt) folgen, als die am stärksten ‚vergrößerten‘ Reihen. Diese Vordergrund-Reihenhälften führen zur erneuten Statuierung des Fanfaren-Motivs, mit dem das Ballett eröffnet wurde (diesmal transponiert, als C-Dur-, und nicht, wie zu Beginn des Balletts, als E-Dur-Quartsextakkord) und zu einem rhythmisch augmentierten Melodie-Zitat der ersten drei Töne des Don Quixote-Originalthemas (PTh 10: 1, 2, 3 = e, fis, g, T. 9/10 nach Ziffer 1, Horn/Trompete).97 Dieser Vordergrund lässt sich als cantusfirmus-artiges Gerüst des Satzes bezeichnen, während weitere, schneller ablaufende Reihenformen einen Wahrnehmungsmittelgrund, und Ostinato- und Haltetöne einen Wahrnehmungshintergrund konstituieren.
97
Das rhythmisch augmentierte Zitat dieser ersten drei Töne des Don Quixote-Originalthemas lässt sich dabei zugleich als intervallischer und motivischer Bezug zu den letzten drei Tönen einer der Reihenhälften der Don Quixote-Reihe betrachten. Dementsprechend lassen sich die Reihentöne 4, 5, 6 der übereinandergeschichteten Reihen P9 und P4 (jeweils Hex.1), die Töne c, d, es bzw. g, a, b (T. 10 nach Ziffer 1, Oboen/C. Ang./Klar./ Hn./Pos./Vla./Vc.), als ‚Echo‘ des Melodie-Zitats hören, und auch in den vormalig erklingenden Reihenhälften lassen sich die Reihentöne als Dreitonmotiv betrachten (als aufwärts geführtes Dreitonmotiv die Reihentöne 4, 5, 6 in P-Reihen und 10, 11, 12 in I-Reihen, als abwärts geführtes die Reihentöne 4, 5, 6 in I-Reihen und 10, 11, 12 in P-Reihen). Dieses Dreitonmotiv ist insofern doppeldeutig, es entspricht intervallisch dem Beginn des Originalthemas wie auch einem Ausschnitt der Reihenhälften.
279
III.3. Don Quixotes Visionen Wahrnehmungsschichten der Reihencollage in Szene 1: Vordergrund: Punktierte Viertel
T. 5 nach Ziffer 1 I0 Hex. 1 Pos.
Mittelgrund: Achtelpuls
P6 Hex. 1 Fg./Hn.
I1 Hex. 1 Ob./C.Ang./Klar.
T. 8
Fanfaren-Motiv Hn./ Tr.
T. 7
P10 Hex. 2 Pos./Klav. 2/Vcl.
P6 Vl. 2
I2 Vl. 2
P0 Vl. 1/Xyl./Picc.
P2 Vl. 1/Xyl./Picc.
I1 Klav. 1
Sechzehntelpuls
Vordergrund Punktierte Viertel
T. 6
T. 9
I5 Klav. 1
T. 9–11
Melodiezitat, Don QuixoteOriginalthema (1, 2, 3) oder motivischer Anklang an Dreitonmotiv der Reihe (4, 5, 6 oder 10, 11, 12) Hn./ Tr. und
Mittelgrund: Achtelpuls Sechzehntelpuls
RI3 Vl. 1, 2
RP5 Vl. 1, 2
I10 Holzbläser
I1 Holzbläser
P7 Klav. 1
P9 Hex. 1 Ob./ Pos./Vl. 1, 2/ Vla. P4 Hex. 1 C.Ang./ Klar./ Pos./ Vl. 1, 2/ Vcl.
I0 Klav. 1
Gerhard nutzt in seiner Reihencollage nicht allein die reiheneigenen Tondoppelungen in der Horizontale, sondern auch Tonhöhenkonzentrationen, die in der vertikalen Kombination zweier Reihen entstehen. So ergibt sich mit der Schichtung der beiden Reihenhälften von P6 und I1 (T. 6 nach Ziffer 1) eine Konzentration der zusammenklingenden Quinte bzw. Quarte c und g. Diese beiden Töne erklingen nicht nur an den zwei ‚Eckstellen‘ (Reihentöne 1/6) der Vordergrund-Reihenhexachorde, sondern auch an den vier Tondoppelungsstellen 1/6 und 7/10 der im schnelleren Achtel- und Sechtzehntelpuls komplett durchlaufenden Reihen P6 und I1 (im Wahrnehmungsmittelgrund). Beide Reihen sind so gewählt, dass sich die Symmetrieachse es/e bzw. a/b (mit der sum of complementation 798) ergibt. Demgemäß ergeben sich die Tonpaare des folgenden Symmetriefelds: 98
Siehe Anm. 525, Kapitel I.4.1. Im vorliegenden Fall handelt es sich um das Symmetriefeld ei-
280
III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote Symmetriefeld um die Achse es/e (sum of complementation 7): e f es d
fi g cis c
gis a h b
Diese Symmetrieachse ist auch für die im Folgetakt kombinierten Reihen von Relevanz, so in Bezug auf die (nacheinander erklingenden) Reihen P2 und I5 (siehe Abbildung, T. 7 nach Ziffer 1). Denn hier ergibt sich eine Häufung der zusammenklingenden Töne h und gis, zweier Töne, die ebenfalls dem Symmetriefeld der sum of complementation 7 angehören, in I5 (1/6 = h, 2 = gis), und in P2 (1/6 = gis, 2 = h). Die Häufung dieser beiden Töne findet sich in diesem Takt weiter mit P10 (Hex.2) und I2. Diese gehören hier zwar nicht der genannten Symmetrieachse an, aber im Hex.2 von P10 finden sie sich an den Stellen 7/10 = h, 12 = gis, und in I2 an 1/6 = h und 4/8 = gis. Die genannten Tonpaare c/g und h/gis gehören zwar der Symmetrieachse mit der sum 7 an, aber ihre Häufung ergibt sich hier nicht ausschließlich durch eine systematisch genutzte P/I-Kombination mit der sum 7, sondern auch vermittels der reiheneigenen Tondoppelungen. Hier werden also zwei Ebenen vermischt, die nicht zwangsläufig zusammenfallen müssen: erstens diejenige der P/I-Kombination, in deren Symmetriefeld sich bestimmte Tonpaare (c/g und h/gis) ergeben, und zweitens die Ebene der gedoppelten Reihentöne, die an den Stellen 1/6 und 7/10 Tondoppelungen im Intervall einer Quarte aufwärts (I-Reihe) oder abwärts (P-Reihe) hervorbringen.99 Betrachtet man diese zweite Ebene einer sich durch die Tondoppelungen ergebenden Tonhöhenkonzentration, dann ist von Bedeutung, dass bei bestimmten P/I-Kombinationen der Don Quixote-Reihe an den Stellen 1/6 und 7/10 die gleichen zwei Tonhöhen gedoppelt werden, so etwa im Fall der kombinierten Reihen P6 (1/6 = c, 7/10 = g) und I1 (1/6 = g, 7/10 = c), und allgemein bei Pn/In+7. Die derart hervorgebrachten Tonhöhenkonzentrationen beruhen auf einer besonders starken Fokussierung der reiheneigenen Tondoppelungen 1/6 und 7/10, die wie Invarianzen behandelt werden und eine ungenaue, schemenhafte Ähnlichkeit der unterschiedlichen Reihenformen suggerieren können. Sie betreffen die folgenden Verbindungen:
99
ner P/I-Reihenkombination um die Achse a/b. Wenn die einzelnen Töne in numerische Notation gebracht werden, ergibt sich bei jedem der darin vorhandenen Zusammenklänge die Summe (sum of complementation) 7 bzw. 12 + 7: 10 11 0 1 2 3 b h c cis d es a gis g fis f e 9 8 7 6 5 4. Betrachtet man die gesamte Reihencollage ausschließlich nach dem Aspekt der P/I-Kombinationen mit der sum 7, dann lassen sich auch die nacheinander erklingenden Reihen P7 und I0 (T. 8/9 nach Ziffer 1, Klav. 1) anführen, und weiter das jenem Symmetriefeld angehörende Tonpaar e/es zum Ende der Reihencollage, nämlich als Zusammenklang des chromatisch abwärts geführten Basses zum Basston e und der gleichzeitig einsetzenden Reihe P9 auf dem Ton es (siehe Holzbläser, Violinen und Vla.). (Bei diesem Ton es handelt es sich zugleich um den letzten Reihenton der im vorausgehenden Takt erklingenden Reihe I1 in den Holzbläsern, jener zum Bass dissonierende Ton ist also gewissermaßen zweifach legitimiert.)
III.3. Don Quixotes Visionen
281
Reiheneigene Tondoppelungen an den Stellen 1/6 und 7/10 als Kriterium für eine Reihenkombination: P6: c – c, g – g/I1: g – g, c– c (T. 5 nach Ziffer 1) P10 (nur Hex.2): h – h/I5: h – h, e – e (T. 6) I2: gis – gis, cis – cis/P7: cis – cis, gis – gis (nacheinander erklingend, T. 6/7) RP5: fis – fis, h – h* /I0: fis – fis, h – h (T. 9)
* Die letzten Reihentöne der Krebsreihe RP5 (regulär 1 = h, 2 = d, 3 = a) sind wohl kaum mehr als solche wahrnehmbar, weil sie vertikalisiert, nämlich innerhalb des Zusammenklangs d’, a’, a’’ erklingen (siehe Stimme der Vl. 1), wobei der Reihenton 1 = h offenbar durch ein a ersetzt wurde; dieser erste Reihenton erklingt also nicht.
Aufgrund der unterschiedlichen Augmentierung der Reihen, erklingen die gedoppelten Töne/ Tonpaare zwar meistens nicht genau, sondern nur ungefähr übereinander. Zugleich lässt sich aber die Tendenz beobachten, die Reihen so zu platzieren, dass gedoppelte Töne gleicher Tonhöhe (aber unterschiedlicher Reihenzugehörigkeit) möglichst nahezu übereinander erklingen – auch diese räumliche Nähe kann die schemenhafte Ähnlichkeit der Reihen suggerieren (und damit eine potenzielle Verwechslung und Wahrnehmungstäuschung). Vermutlich aus diesem Grund erklingt in T. 9 nach Ziffer 1 die mit I0 kombinierte Reihe P5 als Krebsreihe RP5, sodass nicht an vier Stellen das Tonpaar h/fis zusammenklingt, sondern fis mit fis, und h mit h.100 Eine schemenhafte Ähnlichkeit ergibt sich weiter bereits im simplen Fall einer P- und I-Reihe auf der gleichen Transpositionsstufe (die Reihentöne 1/6 sind hier identisch). Auch dieses einfache Prinzip liegt vor und tritt an die Seite der schwieriger zu durchschauenden ‚Verwechslungsmöglichkeiten‘, siehe I0 und P0 (T. 5/6 nach Ziffer 1), I2 und P2 (T. 7), I5 (T. 7) und PR5 (T. 9, Anfangstöne 1, 2, 3 allerdings vertikalisiert und daher kaum als solche wahrnehmbar), P10 (nur Hex.2) (T. 7) und I10 (T. 8). An dieser Stelle wird klar, dass es kaum sinnvoll ist, solche Reihenkombinationen, die auf eine schemenhafte Ähnlichkeit zielen, d. h. auf die Wahrnehmungsassoziation einer Gemeinsamkeit, auf eine einzige Systematik der Kombination (das Prinzip Pn/In-7) zurückzuführen. Nicht alle Reihenformen und gedoppelten Reihentöne lassen sich lückenlos aus einem Prinzip der Reihenwahl und -kombination herleiten, und wo eine zugrunde liegende Regel ausfindig gemacht wurde, erwies sie sich als eine von mehreren (koexistierenden) Regeln, von denen keine einen eindeutigen ‚Schlüssel‘ für ein den Reihenkombinationen zugrunde liegendes Prinzip liefern konnte.101 Genau weil der Zusammenhang der gewählten Reihenformen 100 Eine nur entfernte Reihenähnlichkeit suggeriert die Kombination von RP3/I10 (T. 8 nach Ziffer 1), die an den Stellen 1–6, 7–10 die Töne d–d, a–a respektive e–e, a–a aufweist. Nur die jeweils zweiten Reihenhälften weisen ein gedoppeltes a auf. 101 In Bezug auf den Wahrnehmungsvordergrund lässt sich weiter ein Verkettungs-Prinzip der gewählten Reihenhälften erkennen, das als ‚energetischer Zug‘ zum Tragen kommt: Die Don Quixote-Reihe ist so gebaut, dass der fünfte Reihenton eines Hexachords quasi leittönig zum letzten, sechsten Hexachordton überleitet. Diese in der Reihe latent leittönige Wirkung am Ende einer Reihenhälfte wird hier aufgrund der metrischen Stellung des vorletzten, fünften Hexachordtons auf der ersten Zählzeit des Taktes wirksam. Derart auf der schweren Zählzeit erscheint dieser fünfte Reihenton wie ein leittöniger Vorhalt zum sechsten. Zugleich wird dieser Quasi-Leitton (der fünfte Reihenton) zur Transpositionsbasis (dem Anfangs- und Eckton 1
282
III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
einem nicht eindeutigen und scheinbar eher lockeren konstruktiven Prinzip unterliegt, lässt sich der vorliegende Satz als Reihencollage bezeichnen. Als Prinzip, das – allerdings über das strukturell Nachweisbare hinaus – Zusammenhänge der Wahrnehmung, d. h. im Subjekt, thematisiert, kann am ehesten die Vorgabe erscheinen, eine Wahrnehmungs-Ähnlichkeit (einen assoziativen Zusammenhang) der unterschiedlichen Reihen zu suggerieren. Diese kann auf den nicht-logischen Zusammenhang von Don Quixotes inneren Bildern und damit auf ihre Herkunft aus dem Unbewussten hinweisen. Dennoch ließ sich mit der Zugehörigkeit der konzentriert auftretenden Tonpaare c/g und h/gis zum Symmetriefeld mit der sum 7 eine – wenn auch nicht flächendeckend und streng gebrauchte – Regel für die Reihenkombinationen angeben, die tendenziell als untergründige Rationalität hinter der scheinbaren Nicht-Logik hervorscheint. Insofern steht die Reihencollage zwischen Logik und Nicht-Logik der Konstruktion, und Don Quixotes Vision steht zwischen einerseits Wahrnehmungstäuschung und andererseits der Gesetzmäßigkeit einer visionär geschauten ‚höheren Realität‘. Die gedoppelten Reihentöne machen bestimmte Tonhöhen oder Tonpaare zeitweilig zu einem quantitativen Tonhöhenzentrum, ohne dass eine Tonika vorläge. Hier zeigt sich, wie Gerhard nicht nur gegen ein schönbergsches Vermeidungsgebot von Tondoppelungen verstößt, sondern es zugleich außer Kraft setzt: Er nutzt Tondoppelungen, ohne dass es sich jedoch um Grundtöne handelt oder ein Grundtongefühl aufkäme. Die Tondoppelungen bilden also keinen funktionalen Bezugsbzw. 6) der stets folgenden, die vorausgehende Reihe quasi überlappenden Reihenhälfte. Die folgende Reihenhälfte wächst also gewissermaßen aus dem Leitton der vorhergehenden heraus, wobei der leittönige Zug zwischen den Reihentönen 5 und 6 gewissermaßen auf die nächsthöhere Strukturebene der Transpositionsbasis von Reihen projiziert wird und der Folge der Reihenhälften eine Folgerichtigkeit verleiht, die im energetischen Zug der leittönigen Verbindung begründet ist. Verkettung der Vordergrund-Reihenhälften durch die Leittönigkeit zwischen fünftem und sechstem Reihenton, Reihentöne an den Stellen 1–4, 5, 6 (bzw. 7–10, 11, 12): T. 5 nach Ziffer 1
T. 6
I0 (Hex.1):
fis – a, g, fis
T. 7
I1 (Hex.1):
g – b, as, g
P6 (Hex.1):
c – a, h, c
I2 (komplette Reihe):
gis – h, a, gis P10 (Hex.2): h – h, a, gis
Eine solche Leittönigkeit im vorliegenden zwölfttontechnischen Kontext hat wenig mit dem Leitton im funktionsharmonischen Kontext einer Dominant-Tonika-Akkordverbindung gemeinsam; sie erscheint als ein davon abstrahiertes, verallgemeinertes Prinzip, das nicht mehr an die Kontinuität von Stimmführung innerhalb einer Stimme oder einer Oktavlage gebunden ist, und auf einen ganz wesentlichen Kernaspekt von Tonalität zielt: auf den energetischen ‚Zug‘ zwischen Tönen als Be-zug zwischen Tönen, der auch ohne eine zugrunde liegende Tonika Wirksamkeit entfaltet. Die Nutzung eines solchen horizontalen Zugs in der Reihe kann Gerhards Gedanken des Ablaufs von Reihentönen im Sinne einer zielhaften Erfüllung erfahrbar machen (siehe Kapitel I.4.1).
III.3. Don Quixotes Visionen
283
punkt, sie können aber durchaus einen temporären ‚Fixpunkt‘ für die innerhalb der Reihe erklingenden Intervalle bilden. Gerhards Satz lenkt die Aufmerksamkeit damit auf Aspekte, die im Rahmen der Analyse von Zwölftonkompositionen sonst selten zur Sprache kommen: auf die Möglichkeit einer schemenhaften Wahrnehmung von Reihen und Reihenkombinationen, die in den darin konzentrierten Tonhöhen begründet ist (anstelle einer vorausgesetzten Wahrnehmungs-Gleichberechtigung jedes Reihentons), und auf ein unterschiedlich scharfes Wahrnehmen der verschieden großen (augmentierten) Reihen, die – obwohl theoretisch alle in gleichem Maß thematisches Tonmaterial darstellen – einem Wahrnehmungsvorderoder -mittelgrund zugeteilt werden können. III.3.2 Die Vision von Dulcineas einleitendem ‚Durchkreuzen‘ der Satzdimensionen Der Tanz zur Krönung der Bauerndirne Aldonza zur ideellen Figur Dulcinea in Szene 1 (Ziffer 2) erklingt in Szene 5 des Balletts zur Entkrönung Dulcineas erneut und dabei unverändert, also ohne musikalische Variantik oder Entwicklung. Gerhards Entscheidung jene Dulcinea-Musik gleichbleibend wiederkehren zu lassen, kann unterstreichen, dass es sich (auch für den Hörer/Zuschauer) um dieselbe Realität handelt, die im einen Fall als Vision,102 im anderen Fall als Illusion erscheint. „She dances again to the wistful tune of the first scene which has an added poignancy here from the fact that it comes to express Don Quixote’s final disillusionment and sobering view of ‚reality‘ as it appears to the sane.“103
Dies mag auf die Leblosigkeit des Dulcinea-Ideals hinweisen. Das Ideal bleibt gegenüber Don Quixotes Wirken und Kämpfen gleichgültig; für ihn erfüllt der Glaube an Dulcinea jedoch einen existenziellen Zweck. Er befeuert das Hervorbringen des Rittertum-Ideals und damit seine Ideewerdung. Übergeleitet in den Dulcinea-Abschnitt wird sowohl in Szene 1 wie auch in Szene 5 mit einem sechsstimmigen Satz der Streicher (Szene 1, 5 Takte vor Ziffer 2 und Parallelstelle in Szene 5, Ziffer 121). Die relativ dissonante Akkordfolge in hoher Lage und im ff (angewiesen ist in Szene 1: „appassionato“) kann den Eindruck großer klanglicher Helligkeit erzeugen, die jenen Satz als Don Quixotes Vision charakterisiert und eine Art einleitenden Rahmen für den folgenden Aldonza/ Dulcinea-Tanz (dem keine Reihe zugrunde liegt) bildet. Der Satz (bereits in Kapitel 102 Der Abschnitt von Dulcineas/Aldonzas Tanz ist als „Larghetto“ ausgezeichnet. Er steht im 12/8-Takt und ist mit der Tempoangabe punktierte Viertel = 63 versehen, was bemerkenswert ist, da ebendiese Taktart und Tempoangabe regulär in Verbindung mit der Innenwelt Don Quixotes auftritt: Die Angaben „Andante maestoso“, der 12/8-Takt (in einigen Stimmen auch 4/4Takt) und das Tempo punktierte Viertel = 63 zu Beginn des Balletts zeichnen allesamt die subjektiv-phantastische Sphäre aus, die in Szene 1 (bis Ziffer 9) vorherrscht. Die Tatsache, dass auch im Dulcinea-Abschnitt in Szene 5 am 12/8-Takt und dem Tempo punktierte Viertel = 63 festgehalten wird, kann auf Dulcinea als Erzeugnis von Don Quixotes Innenwelt hinweisen und jenen Tanz als eine Vision kennzeichnen. 103 [Verfasser anonym], Radioskript, CUL 11.45, S. 3.
284
III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
I.2 als Beispiel für eine Aufhebung von ‚Perspektivität‘ angeführt) fällt durch die besondere Art des Reihengebrauchs auf: Die latente Segmentierung der Don Quixote-Reihe in Hexachorde wird hier genutzt, um die Reihentöne der Segmente akkordisch-vertikal zu verwenden. Derart werden die einander folgenden sechsstimmigen Akkorde durch Töne der Hexachorde von P6 und RI5 konstituiert; die Reihe wird also in der vertikalen Satzdimension gebraucht, was mit einer tendenziellen Untergrabung der consecutive order der Reihentöne einhergeht. Betrachtet man den Satz in linearer Hinsicht, so lassen sich die zwei obersten Stimmen des Satzes (Violine 1) zugleich als P3 zugehörig identifizieren. Es liegt also gleichzeitig eine Reihenbindung in vertikaler wie auch in horizontaler Hinsicht vor. Wie bereits in Kapitel I.2 erwähnt, findet Gerhard einen ‚Knotenpunkt‘ im serial field der Reihe, in dem der Tongehalt der Reihenformen es zulässt, dass die beiden Satzdimensionen einander ‚durchkreuzen‘. Jene Oberstimmen-Töne gewinnen damit eine Doppeldeutigkeit, weil sie sowohl in vertikaler Hinsicht (als Bestandteile von P6 respektive RI5) deutbar sind als auch in horizontaler (als Bestandteile von P3).
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"
P3
#
P6
#
RI5
P
#6
Streichersatz vor Don Quixotes Vision von Dulcinea in Szene 1, 5 Takte vor Ziffer 2:
285
III.3. Don Quixotes Visionen
Mit jener ‚Durchkreuzung‘ der Satzdimensionen wird erstens eine Eigenheit der Reihendisposition genutzt, d. h. jene ‚Durchkreuzung‘ ist im serial field der Reihe angelegt und wurde gewissermaßen gefunden, sie wurde zweitens durch die gezielte Auswahl und Kombination der vorliegenden Don Quixote-Reihen gesucht. Ihr Zustandekommen kann einerseits als trickreiche Kombinatorik der Reihen und andererseits wie ein unwahrscheinlicher Zufall erscheinen, wird jedoch ‚um den Preis‘ einiger Irregularitäten (in den Abbildungen mit * gekennzeichnet) bezüglich der Reihe erhalten: 1. Im Fall der vertikal verwendeten Reihen (P6 und RI5) erscheinen die akkordisch verwendeten Reihentöne von der consecutive order losgelöst (d. h. permutiert, was auf die später von Gerhard in TTM postulierte Lizenz zum Permutieren der Reihentöne innerhalb von Segmenten vorausweist). Allerdings liegt im vorliegenden Satz eine nur ungenaue Segmentierung der beiden Reihen in Hexachorde vor (dennoch wird behelfsweise von einer Teilung in Hex.1 und 2 die Rede sein): Vertikale Reihenbindung des 6-stimmigen Satzes (5 Takte vor Ziffer 2): Hexachorde (ungenaue Segmentierung): Hexachord: Akkord: Stelle
des Reihentons in der Don
Quixote-Reihe:
P6 1
1
2
4/8
1/6
7/10
a) 9
1/6
7/10 2 3
a)
4/8 2 3 9
7/10
b)* 12
1/6 4/8 11 5
RI5 2
1
11
2**
c)
4/8 1/6 12
7/10 5
d) 3 2
7/10 9
4/8
P6 1
a)’
4/8 9
1/6
7/10 3
12***
* Akkord b) enthält zusätzlich den Ton d (Oboe/Harfe) ** Ton h (= 1/6) fehlt hier, stattdessen wurde gis = 2 gedoppelt *** Der Ton e = 12 kommt zum Akkord hinzu, und es = 2 wird im Horn eingebracht.
Für eine reguläre Teilung in Hexachorde müssten die Reihentöne an den Stellen 5 und 1/6 ausschließlich im Hex.1 liegen, die Reihentöne 9 und 7/10 hingegen im Hex.2. Dies ist nicht der Fall, so enthalten sowohl die jeweiligen Hexachorde 1 als auch in die jeweiligen Hexachorde 2 alle drei reiheneigenen Tondoppelungen (an den Stellen 1/6, 4/8, 7/10). Dies führt dazu, dass sich in der sukzessiven Aufeinanderfolge der Akkorde gemeinsame Töne zwischen diesen ergeben; drei gemeinsame Töne zwischen a) und b) (a, c und g), sogar fünf gemeinsame Töne zwischen b) und c) (c, e g, h, und irregulärerweise d, denn der Ton d gehört dem Akkord b) nicht an, wird dort aber eingebracht, siehe Oboe und Harfe)104 und zwei gemein104 Diese Irregularität findet sich auch an der Parallelstelle bei Ziffer 121.
286
III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
same Töne zwischen c) und d) (d und e, nicht aber h105). Die Segmente enthalten somit, aufgrund der Ungenauigkeit ihrer Teilung, gemeinsame Töne, also keinen komplementären Tongehalt, wie bei Reihensegmenten üblich.106 Das Befördern oder Vermeiden gemeinsamer Töne zwischen den Akkorden durch die Reihenwahl und durch die gezeigte Teilung des Reihen-Tongehalts unter Ausnutzung der reiheneigenen gedoppelten Töne kann für Gerhards ‚harmonische Kontrolle‘107 des Satzes sprechen. Der erzielte Terzaufbau der sich ergebenden Akkorde (siehe Harfe) lässt sich als weiterer Grund für die von Gerhard genommene Freiheit in der Segmentierung der Reihentongehalte annehmen. 2. Im Fall der horizontal verwendeten Reihe (P3) werden die Töne des Hex.1 auf die Oberstimme des Satzes, die Töne des Hex.2 auf die zweitoberste Stimme (siehe Violine 1) gelegt. Dabei fehlt der Reihe (P3) zu ihrer Vollständigkeit der siebte Reihenton e. Dieser müsste innerhalb des ersten Akkords a) erscheinen, gehört aber dem Hex.1 von P6 nicht an. Hier musste sich Gerhard für die Intaktheit entweder des vertikalen Hex.1 von P6 oder der horizontalen Reihe P3 entscheiden. Letztere erscheint nicht ganz vollständig und damit nahe an einer Allusion an die Reihe. Die in den beiden Oberstimmen der Violine 1 erklingenden Reihentöne stellen sich in ihrer doppelten Zugehörigkeit zur horizontalen Reihe P3 und den vertikal verwendeten Reihen P6 und RI5 folgendermaßen dar:108
105 Der erste Reihenton von RI5 (h) fehlt im Hex.2 von RI5 irregulärerweise; eine Begründung konnte ich dafür nicht finden. 106 Einen fast komplementären Tongehalt weisen die Akkorde d) und a)’ auf, die allerdings nicht der gleichen Reihe angehören. Denn da in a)’, dem Hex.1 von P6, irregulär der Ton e = 12 (Vcl.) aus dem Hex.2 erscheint (das es = 2 findet sich im Hn.), ergibt sich zumindest ein einziger überlappender Ton zum Akkord d). 107 Siehe Anm. 16, Einleitung. 108 Die von Gerhard gewählten Reihen weisen keine besonders nahe Verwandtschaft bezüglich ihres Tongehalts auf, sondern nur den geringstmöglichen gemeinsamen Tonvorrat von sechs gemeinsamen Tönen. D. h. jeder der drei Don Quixote-Reihen fehlen drei unterschiedliche Töne: P6 fehlen die Töne: gis, cis, d, RI5 fehlen die Töne: es, b, a, P3 fehlen die Töne: f, b, h. Jedoch besteht ein gemeinsamer Tongehalt (eine Schnittmenge) von vier gemeinsamen Tönen zwischen allen drei Reihen: c, e, fis, g. Diese Schnittmenge im Tonvorrat mag für die ‚Durchkreuzung‘ der Reihen (und der Satzdimensionen) hilfreich gewesen sein. So deckt sie sich auch mit einigen der Reihentöne doppelter Reihenzugehörigkeit, die der obenstehenden Abbildung zu entnehmen sind.
287
III.3. Don Quixotes Visionen Doppelte Zugehörigkeit (Ambivalenz) von Reihentönen (5 Takte vor Ziffer 2): horizontal: P3
a
c
g
fis
gis
a
1
2
3
4
5
6
fis =
8*
es**
9
e
10
d
11
cis
12
* e = 7 fehlt ** Der Ton es erscheint in der Stimme der Vl.2, und nicht der Vl.1 vertikal: P6
a
c
g
4/8
1/6
7/10
fis =
9
es
2
e
12
RI5 fis
gis
11
2
d
4/8
cis
3
P6 a
4/8
An den aufgezeigten Irregularitäten kann abgelesen werden, dass das System von Gerhard an seine Grenzen getrieben wird. Hier wird spürbar, dass das Hineinsehen der Reihen gleichsam quixotischem Voluntarismus entspringt, so wie das Hineinsehen der ‚höheren Realität‘ in die gegebene Realität Don Quixotes Glaubenwollen an diese ‚höhere Realität‘ entspringt. Zwar tauchen die drei Reihen immer noch allzu vollständig und intakt auf, als dass sie nur als Reihenallusionen bezeichnet werden müssten, dennoch kann die Tatsache, dass zu jener ‚Durchkreuzung‘ der Reihen Irregularitäten wie etwa das Weglassen oder das zusätzliche Einbringen eines Reihentons an einer bestimmten Stelle notwendig wurden, immerhin nahelegen, dass hier auf eine mögliche Illusionshaftigkeit der durch die Reihe erzeugten ‚Durchkreuzungs‘-Vision gewiesen wurde. Es gibt in Szene 5 eine weitere Stelle des Balletts, in welcher der Allusionscharakter der Reihe P3 noch deutlicher zum Vorschein kommt. Zwischen Sanchos Angriff auf die ‚Widersacher‘ und dem Hereinbringen der zu entkrönenden Dulcinea findet sich ein „Agitato“-Abschnitt (Ziffer 118), in dessen Satz ebenfalls eine vertikale Verwendung einander folgender Reihensegmente der Reihen P6, I3, P5, I4 stattfindet.109 Deren Tetrachorde folgen einander als vierstimmige Akkorde. Auch an dieser Stelle (wie in dem sechsstimmigen Satz vor Dulcineas/Aldonzas Tanz) findet eine latente ‚Durchkreuzung‘ der Satzdimensionen statt, denn auch hier lässt sich in die Oberstimme (Piccoloflöte, Violine 1) der Beginn der horizontal verwendeten Reihe P3 hineinsehen; deren erste sieben Reihentöne erscheinen als eine melodische Allusion jener Reihe. Die weitere Fortsetzung jener Oberstimme (T. 3–5 nach Ziffer 118) kann als Gestaltauflösung jener ‚flüchtigen‘ Reihengestalt wahrgenommen werden. 109 Zur Kombination der Reihen bei Ziffer 118 siehe Kapitel I.4.1.
288
III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote Allusion von P3 (T. 1/ 2 nach Ziffer 118): a, c, g, fis, (gis fehlt), a, e
Eine nochmalige Allusion an P3 (nur die ersten zwei Töne dieser Reihe) ist wenig später noch einmal in der Oberstimme (Oboe 1, Violine 1) hörbar (T. 7 f. nach Ziffer 118). An dieser Stelle gehören jene ‚flüchtig‘ an P3 erinnernden beiden Töne a, c (Reihentöne 1, 2 in P3) jedoch tatsächlich der komplett gebrachten Reihe I3 an (d. h. nicht nur einer fragmentarischen Reihenallusion). Im Holzbläser- und Streichersatz folgen einander deren drei vertikalisierte Tetrachorde, sodass die Reihentöne 1 = a und 8 = c in der Oberstimme melodisch-linear nebeneinander stehen können. Auf diese Weise mehrfach kontextualisiert erscheinen jene Anfangstöne von P3 ambivalent in ihrer Reihenzugehörigkeit, der Satz wiederum erscheint ambivalent hinsichtlich seiner vorrangigen Satzdimension. Dass Gerhard es bei Ziffer 118 vermag, die Reihe zugleich in der vertikalen als auch in der horizontalen Satzdimension zu statuieren – gleichsam als das gleiche Objekt in unterschiedlichen Positionen110 – beruht hier auf der Auswahl der durch ihren Tonvorrat definierten Don Quixote-Reihen wie auch der Möglichkeit der vertikalen Verwendung der Reihen-Tetrachorde (bei Permutierung von Reihentönen innerhalb der Tetrachorde). Dass die horizontale Reihe P3 in dem Satz bei Ziffer 118 weniger vollständig hineinzusehen war, als in dem untersuchten Satz vor Ziffer 2 bzw. bei Ziffer 121, mag in verstärktem Maß auf das Illusions-Potenzial der Reihe, auf Don Quixotes Rittertum-Ideal hinweisen: Don Quixotes Kraft, Visionen in die vorhandene Realität hineinzusehen hört im Verlauf der Szene 5 tendenziell auf zu wirken. Insofern die Kraft des Wollens und Glaubens bei Unamuno als die lebenserhaltende und lebensbefördernde Kraft gilt, ist es folgerichtig, dass Don Quixote mit dem Nachlassen jener Kraft stirbt. III.3.3 Heroische locura im Interlude II: Das Phänomen der vertikalen Rotation Wie eine Kontrolle der vertikalen Dimension („control harmónic“111) stattfinden kann, zeigt Gerhard im Interlude II bei Ziffer 45 des Balletts (im Anschluss an Szene 2, an deren Schluss Don Quixotes Ritterschlag steht). Durch eine Schichtung von sechs Reihen ergibt sich in den Blechblasinstrumenten ein sechsstimmiger Satz, in welchem zunächst die Reihenvordersätze (Trompete und Posaune), dann die Reihennachsätze (Horn, Trompete, Posaune) geschichtet werden (T. 1/2 bzw. 3/4 nach Ziffer 45); dieser lineare, zunächst im 12/8-Metrum ausgebreitete Tonsatz wiederholt sich anschließend komprimiert auf zwei 3/8-Takte und gewissermaßen ‚zerhackt‘ in eine Folge von Staccato-Akkorden („stentato“, T. 5/6 nach Ziffer 45). Die Reihenformen (P/I-Kombinationen) sind von Gerhard so gewählt, dass die eigentlich lineare Schichtung bei Ziffer 45 eine regelhafte Anordnung der Töne auch in der Vertikale aufweist.
110 Siehe hierzu ausführlich Kapitel I.2. 111 Siehe Anm. 16, Einleitung.
III.3. Don Quixotes Visionen Schichtung von sechs Reihen in Interlude II, T.1/2 nach Ziffer 45:
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290
III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Aufgrund der reiheneigenen gedoppelten Töne (1/6, 4/8, 7/10) ergeben sich an den entsprechenden Stellen des sechsstimmigen Satzes identische Zusammenklänge. Bemerkenswert ist aber, dass sich auch an den Stellen 4/8 der gleiche Tonfundus wie an den Stellen 1/6 findet, wobei die Akkordtöne gegenüber denen an der Stelle 1/6 als vertikal permutiert bzw. rotiert (um drei Stellen) erscheinen (Zusammenklang an Stelle 1/6, von unten nach oben gelesen: d, g, cis, f, b, e; an Stelle 4/8: f, b, e, d, g, cis). (Die unterschiedlichen Tonvorräte der Akkorde werden in der Abbildung durch Kleinbuchstaben a) bis e) angezeigt.) Reihenschichtung in Interlude II, bei Ziffer 45*, wiederkehrende Tonvorräte der Zusammenklänge T. 1/2 nach Ziffer 45 T. 3/4 nach Ziffer 45 Hex. 1 Tr.
Pos.
1
2
3
4
5
6
e
g
d
cis es e
f cis g d
gis b e h
es es a e
d e b f
a) b) c) a) c) a)
P10: P 4:
b
P11: I7: I1: I8:
cis gis g
a
e d gis es
b
f cis g d
Hex. 2 Tr. Hn., Pos.
P10: P4: P11: I7: I1: I8:
7
8
9
10 11 12
h f c fis c g
cis g d e b f
b e h g cis gis
h f c fis c g
d) a) b) d) e) e) a es b gis d a
gis d a a es b
*Der Einfachheit halber wurde enharmonisch verwechselt.
Diese viermalige Wiederkehr des gleichen Tonvorrats steht mit der Auswahl und Kombination der Reihenformen in Zusammenhang. So handelt es sich bei denjenigen P/I-Kombinationen, die an den Stellen 1/6 und 4/8 die gleichen beiden Töne aufweisen, um solche im Transpositionsabstand einer großen Sexte aufwärts (+9). Diese Reihenpaare weisen an den genannten Stellen (1, 4, 6, 8) je zwei invariante Töne auf: P10/I7: P4/I1: P11/I8:
e, cis b, g f, d
Auch an weiteren Stellen kehren gleiche Tonvorräte wieder. So findet sich an den Stellen 3 und 5 der gleiche vertikal rotierte Tonfundus (Stelle 3: d, gis, es, es, a, e; Stelle 5: es, a, e, d, gis, es), und auch der Tonfundus an Stelle 2 kehrt im Reihennachsatz an der Stelle 9 in vertikal rotierter Form wieder (Stelle 2: g, cis, gis, b, e, h; Stelle 9: b, e, h, g, cis, gis). Weiter weisen Stelle 11 und 12 den gleichen Tonfundus auf, der überdies demjenigen an den Stellen 3 und 5 stark ähnelt (an Stelle 3/5 tritt der Ton es gedoppelt auf, an Stelle 11/12 ist der Ton a gedoppelt, und der Ton e findet sich allein an den Stellen 3/5, während sich der Ton b allein an den Stellen 11/12 findet). Mit solchen wiederkehrenden Tonvorräten, die als Akkordtöne zudem eine regelhafte Permutierung aufweisen, wird insgesamt eine Regelung der vertikalen Dimension im Satz erreicht. Der zuletzt genannte, an den Stellen 3/5 (Tonvorrat c)) und 11/12 (Tonvorrat e)) ungenau wiederkehrende Tonfundus stellt dabei eine nur ‚unscharfe‘, gewissermaßen ‚defizitäre‘ Entsprechung dar. Wie kommt die vertikale Konstruktion dieser eigentlich linearen Reihenschichtung – die relative Ballung der gedoppelten Reihentöne (an den Stellen 1/6 und 4/8)
291
III.3. Don Quixotes Visionen
und das Wiederkehren weiterer Tonvorräte an den genannten Stellen des Satzes – zustande? Gerhard wählt und kombiniert seine Reihen so, dass sie eine Fülle invarianter Tongruppen in der horizontalen Satzdimension hervorbringen. Dabei nutzt er nicht allein die reiheneigenen Tondoppelungen, welche bei P/I-Kombinationen im Intervall der großen Sexte/kleinen Terz (+9) die oben erwähnten zwei invarianten Töne an den Stellen 1/6 und 4/8 aufweisen; fast könnte man sagen, diese stellten nur gleichsam die ‚Spitze eines Eisbergs‘ dar. Denn er nutzt zur Herstellung invarianter Viertongruppen weiter die sowohl dem Vorder- als auch dem Nachsatz der Don Quixote-Reihe eigene chromatische Viertongruppe, die mit der Skalenanordnung der Hexachordtöne sichtbar wird. Der Satz ist mit invarianten Zwei- und Viertongruppen geradezu gesättigt, und jene Fülle an Invarianzen in der Horizontale bildet die Voraussetzung für Tongehaltskorrespondenzen auch in der vertikalen Dimension. Invariante Zwei- und Viertongruppen der Reihenschichtung in Interlude II, bei Ziffer 45 in der horizontalen Satzdimension: Hex. 1 Tr.
Pos.
P10: P 4: P11: I7: I1: I8:
1 2
e g b cis f gis cis b g e d h
3
4
5
6
d cis es e gis g a b es d e f es e d cis a b gis g e f es d
Hex. 2 Tr.
Hn., Pos.
7 8 9 10 11 12
P10: P4: P11: I7: I1: I8:
h cis b h a gis f g e f es d c d h c b a fis e g fis gis a c b cis c d es g f gis g a b
Für diese ist weiter relevant, dass die von Gerhard gewählten P/I-Kombinationen gleich zwei Mal Reihenkombinationen mit der gleichen Symmetrieachse aufweisen – so findet sich sowohl das Symmetriefeld mit der sum of complementation 5 zwei Mal als auch dasjenige mit der sum of complementation 11; lediglich das Symmetriefeld mit der sum of complementation 7 ist nur ein Mal vorzufinden. I 1: P10: I 7: P 4: I 1:
sum of complementation 11 (Achse f/fis) sum of complementation 5 (Achse d/es) sum of complementation 11 sum of complementation 5
P11: I 8:
g
e
a
b gis g | c b cis c d es
e
g
d
cis es e | h cis b h a gis
cis b es e b cis gis g g
f sum of complementation 7 (Achse es/e)
d
e
a
e
a
b | f g e
f
es d
b gis g | c b cis c d es
gis es d h
d cis | fis e g fis gis a
f
e
f |c d h c
b
a
es d | g f gis g a
b
292
III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Aufgrund der Doppelung der Symmetriefelder mit der sum of complementation 5 respektive 11 werden nicht allein die Tonverhältnisse zweier Reihen (einer P/IKombination) zueinander determiniert, sondern auch die Tonverhältnisse von vier Reihen (zwei Reihenkombinationen) zueinander, nämlich das Verhältnis der Reihenkombination P10/I7 zur Reihenkombination P4/I1: Nicht nur zwei, sondern vier der gleichzeitig erklingenden Akkordtöne werden also durch die Symmetrieachsen determiniert (steht also etwa in irgend einer der vier Stimmen ein g, so müssen die Töne in den restlichen drei Stimmen e, b, cis lauten). Ein weiter gehender ‚control harmónic‘ lässt sich kaum denken! Zurückzukommen ist nochmals auf die oben erwähnte ‚unscharfe‘ Entsprechung der Zusammenklänge an den Stellen 3/5 und 11/12, die von der ansonsten so regelhaft gestalteten Vertikale abweichen. Diese ‚Unschärfe‘ steht in Zusammenhang mit der nur einfach determinierten Symmetrie der P11/I8-Kombination. Gerhard hätte diese ‚Unschärfe‘ leicht vermeiden können, denn wenn er seinen sechsstimmigen Satz zu einem achtstimmigen erweitert hätte, und zwar um die Reihenkombination P5/I2, die zur Kombination P11/I8 im gleichen (Tritonus-)Verhältnis steht wie die beiden Reihenkombinationen P10/I7 und P4/I1 zueinander, dann würde der Satz weitere invariante Tongruppen aufweisen, und die Tonvorräte an den Stellen 3, 5, 11 und 12 würden einander genau entsprechen. Die ‚Unschärfe‘ wäre also beseitigt. Mit einer derartigen Fortsetzung der Konstruktionsregel würde zugleich die durch die wiederkehrenden Tonvorräte erzielte tongehaltliche ‚Homogenisierung‘ des Satzes noch weiter fortgetrieben, denn es fänden sich im sechsstimmigen Satz nur noch drei unterschiedliche Tonvorräte (a), b) und c)) anstelle der tatsächlich fünf Tonvorräte (a) bis e)). Ein denkbares achtstimmiges Referenzmodell sähe folgendermaßen aus: Denkbares Referenzmodell des zum achtstimmigen Satz erweiterten eigentlich sechsstimmigen Satzes bei Ziffer 45: Hex. 1 P5:
P10: P4: P11: I7: I1: I8: I2:
1 2 3 4 5 6 a) a) b) a) b) a)
Hex. 2
e g b cis f gis cis b g e d h
P10: P4: P11: I7: I1: I8:
h
d
gis f
a
gis b
h
P5:
a gis
I2:
d cis es e gis g a b es d e f es e d cis a b gis g e f es d b
h
7 8 9 10 11 12 c) a) a) c) b) b) fis gis f fis
h cis b h f g e f c d h c fis e g fis c b cis c g f gis g cis h
e
es
a gis es d b a gis a d es a b
d cis es e
Bezogen auf die Fülle von Invarianzen in der horizontalen Satzdimension blieben nun kaum mehr ‚lose Fäden‘: Jeder Reihenton fände Platz innerhalb einer zwei oder mehr Töne umfassenden invarianten Tongruppe. Aber: Die regelhaft erscheinende vertikale Rotation, welche die Besonderheit der vertikalen Satzgestaltung ausmacht und diesen besonders regelhaft erscheinen lässt, wäre damit ebenfalls beseitigt. Sie ergibt sich offenbar lediglich in der von Gerhard gesetzten sechsstimmigen Gestalt
III.3. Don Quixotes Visionen
293
des Satzes. Offensichtlich musste Gerhard, um diese Rotation in der Vertikale hervorzubringen, zugleich die genannte ‚Unschärfe‘ – die Ähnlichkeit, nicht Identität – der Tonvorräte an den Stellen 3/5 und 11/12 in Kauf nehmen. Dass ihm diese ‚Unschärfe‘ der Entsprechung mit Blick auf den Charakter seiner Figur entgegengekommen sein dürfte, ist dabei nicht abwegig. Betrachtet man die reihengebundenen Episoden in der Komposition grundsätzlich im Kontext eines quixotischen Realitätszugangs und Erkenntnis- bzw. Wahrnehmungsmodus’, so kann ein solcher ungenau wiederholter Tonvorrat im Sinne eines unscharfen Erkennens Aufschluss über Gerhards Auffassung von Don Quixotes locura geben, denn stets bleibt ungewiss, ob die Visionen das Produkt einer extremen Vergeistigung oder einer Wahrnehmungstäuschung sind. Die ‚Unschärfe‘ verweist dabei auch auf den forcierten und voluntaristischen Charakter der in den linearen Satz ‚hineingesehenen‘ vertikalen Satzkonstruktion, die sich offenbar ausschließlich unter den genannten Bedingungen des sechsstimmigen Satzes ergibt.112 Triebe man die Konstruktionsregel dieses Satzes also einen Dreh weiter, dann würde das derart durchkonstruierte Satzgebilde mit den achttönigen Akkorden zugleich auch homogenere und damit weniger differenzierte Tonvorräte hervorbringen. (Würde also ein bestimmter Grad an konstruktiver Strenge auf der Ebene der Kombinatorik ‚überdreht‘, dann kippte die Konstruktion in tongehaltliche Unbestimmtheit.) Die dahingehend zusammenfallenden Bedingungen des durchkonstruierten Satzes können einen Kontaktmoment Don Quixotes mit dem reinen Wollen musikalisch ‚verbildlichen‘. Dabei spiegeln sie die Unwiederholbarkeit und Einzigartigkeit eines solchen Kontaktmoments. Denn damit sich jene vertikale Rotation ergibt, ist es nicht ausreichend, das in der Disposition der Don Quixote-Reihe angelegte Potenzial tongehaltlicher Korrespondenzen im serial field zu erkennen. Vielmehr muss diese Erkenntnis mit den genannten, besonderen Bedingungen zusammenfallen: Denn ausschließlich im Fall der von Gerhard gewählten Anzahl und Kombination von Reihen bzw. Stimmen stellt sich das Phänomen der vertikalen Rotation ein. Diese Einzigartigkeit der Bedingungen macht es schwierig, hinter dem horizontalvertikalen Koinzidenzmoment ein kompositorisch-technisches Verfahren zu erkennen.113 Dennoch muss gesehen werden, dass Gerhard in späteren Kompositionen, in denen er mit zwölftönigen und segmentierten Reihen arbeitet, in ganz ähnlicher 112 Vielleicht können die sechstönigen Akkorde zudem einen assoziativen Bezug zu den Reihenhälften in der Horizontale herstellen und den Satz quasi als Quadrat erscheinen lassen, was eine Form der Übereinkunft von Horizontale und Vertikale bereits assoziativ nahelegen würde. Ohne Frage liegt auch hier eine Art von ‚Knotenpunkt‘ im serial field der Don Quixote-Reihen vor – die Herstellung eines aus der Reihe abgeleiteten Verhältnisses von horizontaler und vertikaler Satzdimension. 113 Gehören jene besonderen Bedingungen der Kombination noch der präkompositionellen, oder bereits der kompositionellen Ebene des ‚musikalischen Denkens‘ an? Lässt sich der horizontalvertikale Koinzidenzpunkt als gefundene Gesetzmäßigkeit zugrunde liegender Tonbeziehungen oder als Produkt ‚musikalischen Denkens‘ und musikalischer Logik einordnen? Beispiele wie das vorliegende veranschaulichen meiner Ansicht nach auf überzeugende Weise, dass das Finden des Gesetzmäßigen im präkompositionellen Tonraum an überstarke geistige Aktivität und insofern an quixotisches Wollen geknüpft ist. Die geknüpften Tonbezüge können als geistige bzw. geistig präexistierende gedacht werden, sie sind aber zugleich Produkte des Wollens
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Art wie im vorliegenden Beispiel regelhafte Permutations- und Rotationschemata seiner Reihentöne entwickelt, und damit verschiedenartigste Koinzidenzpunkte beider Satzdimensionen hervorbringt, die sich dabei oft als kanonartige Verfahren zu erkennen geben. Sproston hat unter dem Stichwort der von ihm so bezeichneten „chord rotation“114 einige komplexe Beispiele aus Gerhards Sinfonien zusammengetragen. Derartige Rotationsphänomene mögen sich in Abschnitten wie dem vorliegenden des Don Quixote-Balletts bereits ankündigen. Umgekehrt lassen sich jene späteren „chord rotation“-Phänomene im Rückblick auf ihr (wahrscheinlich erstes) Erscheinen im Kontext einer quixotischen Vision auch in jenen späteren Werkkontexten als quasi-quixotische Momente eines Kontakts mit der ‚höheren Realität‘ des Wollens verstehen. Dem Aspekt der in der Analyse nur schwerlich auf ein Verfahren zu bringenden und somit lediglich beschreibbaren Rotationsphänomene entspricht dabei die Vorstellung, dass das Gesetzmäßige des Wollens nicht erzwingbar ist oder sich ausrechnen lässt. Es bedarf dazu eines wollenden Ichs – eines nach Unsterblichkeit strebenden, d. h. quixotischen Realitätszugangs. Der durchkonstruierte Blechbläsersatz weist ferner einen energetischen Zug auf, der unter anderem in der leittönigen Melodik der Reihe begründet sein dürfte und den Satz, eingeleitet durch das heroische Quartmotiv, einer Klimax zuführt (T. 2 nach Ziffer 46). Der hohe Grad an energetischer Intensität stützt die Idee eines strukturellen ‚Knotenpunkts‘ auch hinsichtlich der klanglichen Außenseite der Komposition.115 III.4 DON QUIXOTES LEIDEN, TOD UND SEINE ‚AUFERSTEHUNG‘ ALS EINE IDEE III.4.1 Der Tod Don Quixotes Der vielleicht deutlichste Hinweis auf eine von Unamuno geprägte Sichtweise Gerhards auf die Figur des Don Quixote findet sich in Gerhards Schlussgestaltung seines Balletts, dem Sterben und Tod Don Quixotes. Dabei lassen sich in den unterschiedlichen Szenario-Entwürfen mehrere Schluss-Varianten finden, in denen Gerhard Elemente aus dem Ende von Cervantes’ erstem und zweitem Romanbuch mischt und damit zu einer eigenständigen Deutung kommt. Dem Schluss des ersten Romanbuchs entnimmt Gerhard in allen seinen Szenarioentwürfen den demütigenden Heimtransport Don Quixotes auf einem Ochsenkarren, der in Cervantes’ Round auch des ‚musikalischen Denkens‘, insofern sie in der äußeren bzw. kompositionellen ‚Realität‘ erschlossen werden müssen. 114 Siehe Darren Sproston, Serial Metamorphoses in the Music of Roberto Gerhard, S. 141–145 sowie ders., Roberto Gerhard: The Serial Symphonist, in: RGC, S. 236–238. 115 Dies ist durchaus nicht selbstverständlich, denn betrachtet man zum Vergleich das von Sproston analysierte Beispiel einer „chord rotation“ in Gerhards erster Sinfonie (2. Satz: Adagio, Streicher 3 Takte vor Ziffer 56, „Poco agitato“), dann fällt auf, dass das Vorkommen des höchst durchkonstruierten Satzes hier keinesfalls mit einem Klimax-Moment von besonderer klanglicher Spannung oder Intensität zusammenfällt. Hier kann man sich fragen, warum Gerhard jene komplexe Konstruktion innerhalb seiner Satzdramaturgie derart ‚versteckt‘.
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
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man durch die Überlistung Don Quixotes eingefädelt wird.116 Zu Don Quixotes Heimtransport trifft die in der Schenke zusammengekommene Gesellschaft um den Priester und den Barbier eine Abmachung. Ein vorbeikommender Ochsenkärrner wird angehalten, und man verfertigt „aus gitterförmig gelegten Holzstäben eine Art von Käfig, geräumig genug, daß Don Quijote bequem Platz darin hatte […].“117 Vermummt überraschen die Zusammengekommenen Don Quixote im Schlaf, fesseln ihn und sperren ihn in den Käfig, dessen Balken fest vernagelt werden. Don Quixote sieht in den vermummten Gestalten „Gespenster dieser verzauberten Burg“ (der Schenke) – so hatte es der Pfarrer als „Urheber dieses Anschlags“118 vorausgesehen. Er wähnt sich nun von ihm feindlich gesinnten Zauberern verzaubert „da er kein Glied rühren und sich nicht verteidigen konnte […]“119 – soweit Cervantes. In Gerhards Szenario führt jene Festnahme aus dem ersten Buch zu Don Quixotes Tod, während dieser bei Cervantes bekanntlich erst am Ende des zweiten Romanbuchs eintritt und dabei mit Don Quixotes Bekehrung zur Vernunft und seiner Rückverwandlung in Alonso Quijano, d. h. in seine nicht-ritterliche Identität, verbunden ist. Jenes Element der Rückverwandlung hat Gerhard, wie zu sehen sein wird, erst in der späten Ballettfassung (Ballett II) aufgenommen, in der mit Don Quixotes Entsagung von seiner locura zugleich ein Übergehen der locura auf Sancho verbunden ist. In den vorhergehenden Entwürfen des Ballett I stirbt Don Quixote hingegen ohne der locura entsagt zu haben. In allen Stadien des Szenarios tritt, einhergehend mit Don Quixotes Tod, ein unerwartetes, die Überwindung des Todes andeutendes Ereignis ein, das in einer heroisierenden Weise auf Leben und Taten Don Quixotes zurückleuchtet – eine Wendung von Gerhards Hand, die in drei voneinander verschiedenen Varianten erdacht wurde. In der letzten Szene des frühesten Szenario-Entwurfs (13.10/2) lässt Gerhard die Ereignisse von Sterben und Tod in der Schenke stattfinden, von der aus im ersten Buch des Romans der demütigende Heimtransport Don Quixotes unternommen wird (siehe DQ I/32–52). Don Quixote stirbt, nachdem er den Spott und die Demütigung seiner ‚Widersacher‘ ertragen hat. Während sein Leben verebbt, treten drei Dulcineas (die reale, die ideale und die von Sancho herbeigeschaffte, falsche Dulcinea) gleichzeitig auf. Dulcinea I (eigentlich das Bauernmädchen Aldonza) tanzt vor Don Quixote und wird zur Madonna erhöht, indem die auf der Zisternenpumpe abgelegte Barbierschüssel um ihren Kopf einen Heiligenschein bilden soll („her head enhaloed by the gold of the basin“120), dabei wird sie von Dulcinea II und III gestützt. Als Don Quixote gestorben ist, führt Gerhard die folgende Wendung herbei:
116 „[…] so traf man Anstalt, daß der Pfarrer und der Barbier ihn, wie sie wünschten, mitnehmen und in seiner Heimat für die Heilung seines Irrsinns Sorge tragen könnten.“ Miguel de Cervantes, DQ I/46, S. 484. 117 Ebd. 118 Ebd., S. 485. 119 Ebd. 120 Roberto Gerhard, Szenario zu Ballett I, CUL 13.10/2, S. 7.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote „As the darkness falls the priest draws a cover over Don Quixote and lights two candles. All kneel, Sancho convulsed with sobbing. From behind the wagon enterst the shade of Don Quixote carrying his sword. He crosses to the cistern-altar, kneels on the Steps at Dulcinea’s feet, his sword-hilt held up in dedication. He rests his head on her knees, and she strokes his hair.“121
Als Schatten verlässt der verstorbene Don Quixote gewissermaßen seinen Körper und ‚aufersteht‘ wie eine autonom gewordene Fiktion, eine Idee seiner selbst. In dieser frühen Fassung erscheint Don Quixotes Festhalten an der locura wider allen Scheiterns, allen Spotts und aller Demütigungen als nicht anzweifelbarer Bestandteil von Don Quixotes Idee, die im Moment des Todes zu ihrer Vollendung kommt – entsprechend Unamunos Vorstellung von Don Quixotes Tod als der „Krönung122“ des Lebens (siehe Kapitel II.2.1). Don Quixotes Tod ist hier, auch wenn dies seinen ‚Widersachern‘ anders erscheint, keine letzte Niederlage, sondern der ultimative Sieg: Er hat sich als Idee seiner selbst in Existenz gebracht, und die ‚höhere Realität‘ – repräsentiert durch seine Visionen – hat sich als die eigentliche Realität erwiesen. Sie wird im Moment seines Todes von der vergänglichen Realität geschieden, die nicht erinnert werden wird. Gerhards Einfall des Aufeinandertreffens der drei Dulcineas verweist in diesem Sinne auf das Zusammentreffen unterschiedlicher Realitätsebenen: Aldonza (Dulcinea I) kann als reale Dulcinea für die bestehende Realität einstehen, Dulcinea II steht als ideale Dulcinea für Don Quixotes Vorstellung von einer ‚höheren Realität‘ ein, die sich im Verlauf der bestandenen Abenteuer bewährt, und Dulcinea III entspricht der von Sancho durch einen Trick herbeigeschafften ‚verzauberten‘, und damit falschen Dulcinea, auf die Don Quixote allerdings nicht hereinfällt (siehe DQ II/10). Wenn Don Quixote als Schattenprojektion ‚aufersteht‘ und vor Aldonza (Dulcinea I) niederkniet, die an der Zisterne sitzt, dann zeigt dies das Aufgehen von Aldonza in Dulcinea – die Aufhebung von Realität in ‚höherer Realität‘ – an. Dabei erweist sich Aldonza/Dulcinea I als die eigentliche, in Existenz gebrachte Dulcinea (eine desillusionierende Enttarnung von Dulcinea als Bauernmädchen Aldonza, wie sie im späten Szenario von Ballett II zu finden ist, bleibt hier allerdings noch aus). „Scene slowly darkens, and as his life ebbs both the peasant-Dulcinea [I] and also the Lady Dulcinea [II] vision and the country-wench Dulcinea [III] enter. The Dulcinea [I] of reality weeps with Sancho at his feet and then with very soft castanets dances before him. She crosses to UC, mounting the cistern steps and sits on the cistern, her head enhaloed by the gold of the basin. The ideal [II] and the false Dulcineas [III] support at either side.123“
Unübersehbar enthält Gerhards Gestaltung jener Schlussszene in der Frühfassung des Szenarios (13.10/2) Parallelen zur Passion Christi. Auf die Darstellung Dulci121 Ebd. 122 Miguel de Unamuno, VDQ, S. 505. 123 Roberto Gerhard, Szenario zu Ballett I, CUL 13.10/2, S. 7.
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
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neas als Madonna wurde bereits hingewiesen.124 Durch die von Gerhard an mehreren Stellen des Szenarios angebrachte christliche Kreuzsymbolik wird überdies das Leiden des besiegten und abtransportierten Don Quixote überhöht: Auf einem auf dem Ochsenkarren angebrachten Rollbett („truckle-bed“) liegt der gleichsam ‚gekreuzigte‘ Don Quixote („stretched on the bed, his wrists fastened to the posts so that he is sufficiently held up to be silhouetted as if crucified.“125). In Szene 1, die ebenfalls in der Schenke bzw. auf der Burg stattfand, wies Gerhard an, im Zentrum der Bühne (des Schenkenhofs) solle eine auf einer Stufe erhöhte Zisterne mit dahinter stehender Wasserpumpe stehen. Bei Don Quixotes nächtlicher Waffenwache, während der er Visionen der Ritter und der idealen Dulcinea hat, dient ihm diese Wasserpumpe dazu, darauf eine Kreuzform anzubringen („He hangs a cross-piece on the pump, forming a cross, and puts his armour on the cistern lid.“126). In der letzten Szene wird ein Bezug zu dieser Geste geschaffen. Gerhard verweist dabei auf die Zisterne als Altar („UC[enter]: the cistern-altar on the steps still has the cross-piece hanging on the pump forming a cross.“127). Als Sancho sich des Leidens seines Herrn bewusst wird, wird nochmals auf jene Kreuzform verwiesen, indem Sancho darauf die Barbierschüssel ablegt, die Don Quixote einst zum Helm des Mambrín umgedeutet hatte.128 Ein Kreuz findet sich weiter im Bühnenbild des Prologs, zur Seite des Stuhls, in dem Don Quixote in Ritterbüchern schmökernd sitzt129 sowie im Bühnenbild von Szene 4, dem Bankett der Herzöge, bei dem ein von zwei Kerzen umrahmtes Kruzifix an der Wand hängt.130 Ein Fortleben Don Quixotes nach seinem Tod wird auch in Szenario 13.12/2 zu Ballett I suggeriert. Auch hier führen Demütigung und Leiden in den Tod („Varia124 Die aufgeworfene Parallele zwischen Dulcinea und einer Madonna lässt an weitere Aspekte einer Mariendarstellung denken, insbesondere an eine trauernde Mater dolorosa: Dulcinea beweint Don Quixote, als dieser stirbt, mit Sancho zu ihren Füßen; beim Hinaufsteigen auf die Zisterne wird sie von Dulcinea II und III gestützt. Dies verweist auf Darstellungen der unter dem Kreuz stehenden Maria, die durch Jesus’ Lieblingsjünger Johannes gestützt wird (zurückgehend auf Joh 19,25–27). Die letzte Geste des ‚auferstandenen‘ Don Quixote kann an die Ikonographie einer Pietá erinnern: “He rests his head on her knees, and she [Dulcinea] strokes his hair“ (Roberto Gerhard, Szenario zu Ballett I, 13.10/2, S. 7). In beiden Fällen wird auf die Trauer um Don Quixote hingewiesen. 125 Ebd., S. 6. Im Roman wird schlicht beschrieben: „Don Quijote saß in seinem Käfig, die Hände gebunden, die Füße ausgestreckt, an die Latten des Verschlags gelehnt, so schweigsam und geduldig, als wäre er kein Mensch von Fleisch und Bein sondern eine steinerne Bildsäule.“ Miguel de Cervantes, DQ I/47, S. 490. 126 Roberto Gerhard, Szenario zu Ballett I, CUL 13.10/2, S. 2. 127 Ebd., S. 6. 128 „Sadly he [Sancho] picks up the barber’s-dish-helmet. Crosses to the cistern and hangs the helmet on the pump (so that its circle faces the audience, on the centre of the pump-cross, the neck-gap downwards) and returns to the wagon.“ Ebd. 129 „PROLOGUE – HIS HOME (Bare white walls; a big archway to courtyard beyond. UR: a straight high-backed black chair. Beside it a tall black [handschriftlich eingefügt: wroughtwise] candlestick with guttering candle. UL[eft]: A black crucifix).“ Ebd., S. 1 [Unterstreichung von Gerhard]. 130 „ SCENE 4. – THE DUKE’S HALL (Diagonally from RC to UC a long trestle banqueting table. Tall black chairs behind it. Two enormous candles either side of high black crucifix on white wall. Diagonally from UC to LC curtain)“ Ebd., S. 5 [Unterstreichung von Gerhard].
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
ciones y Fuga sobre un tema humillado. Moderato“ benennt Gerhard den ersten Abschnitt der letzte Szene in der Partitur131), auch hier finden sich drei Dulcineas, von denen Aldonza sich als die richtige erweisen wird.132 Über einem Abschnitt innerhalb der Fuge (im 12/8-Takt) fügt Gerhard in der Partitur den Rolandsspruch ein, ein Element aus dem zweiten Romanbuch: „Let none presume to move/Who Roldan’s fury dare not prove[.] Nadie las mueva/Que atar no pueda/Con Roldán a prueba“133
Diese Stelle ist zugleich mit der „Panoply of arms“ verbunden: Don Quixotes Waffen liegen glänzend in dem Käfig, in dem er gefangen war, während zur Verwunderung aller sein Körper daraus entschwunden ist. Der Gedanke an ein tatsächliches Wunder, eine Auferstehung,134 liegt nahe.135 Mit dieser Umwendung des Geschehens werden die vermeintlich Don Quixote besiegenden ‚Widersacher‘ schlussendlich zu Besiegten, die Niederlagen Don Quixotes werden rückwirkend zu Siegen umgedeutet, das Festhalten an seiner Idee (die locura) stellt sich als heroisch dar. Gerhards Zitat des Rolandsspruchs unterstreicht dabei Don Quixotes Heroentum.136 Dem Skript zu der 1941 im Radio gesendeten Konzertversion des Balletts (der Sin131 Ders., Don Quixote. Ballet. 1ª version original de 1940–1941. Orquesta (= Partiturautograph Ballett I), CUL 4.9, S. 228. 132 Vgl. Gerhards Formübersicht zum „Epilogue“ von Ballett I: „EPILOGUE Wherein this great and true story ends, with what he that pays attention shall see, and he that hearkens hear. I. Variaciones sobre un tema humillado […] 2’40 II. Andantino 6/4 (The 3 Dulcineas, unveiling of the real Dulcinea) 1’45 III. Maestoso 12/4 (Phantasmagory) 0’30 IV. a) Fuga. Allegro comodo, ma con brio, 9/8 1’25 b) id. (The Panoply) 0’30 V. a) Andante sostenuto (Choral) 1’b) id. (Curtain – Giants – Curtain) 0’25 8’15“ Ders., Übersicht der musikalischen Formteile und der Szeneninhalte zu Ballett I, CUL 13.12/2. 133 Ders., Partiturautograph Ballett I, CUL 4.9, S. 237. 134 Auch bei Unamuno ist im Hinblick auf das ‚Existieren‘ (Wirken) Don Quixotes als Idee von dessen selbst erwirkter Auferstehung die Rede, siehe Anm. 275, Kapitel II.4.2. 135 Man vergleiche die „Entdeckung des leeren Grabes“ Jesu wie sie im Osterbericht des JohannesEvangeliums geschildert wird: Maria von Magdala hat entdeckt, dass der Stein vom Grab Jesu weggenommen wurde und benachrichtigt Simon Petrus und einen weiteren Jünger: „Man hat den Herrn aus dem Grab weggenommen, und wir wissen nicht, wohin man ihn gelegt hat“ (Joh 20,3). Als Simon Petrus in das Grab hineingeht, sieht er „die Leinenbinden liegen und das Schweißtuch, das auf dem Kopf Jesu gelegen hatte; es lag aber nicht bei den Leinenbinden, sondern zusammengebunden daneben an einer besonderen Stelle. Da ging auch der andere Jünger […] hinein; er sah und glaubte. Denn sie wußten noch nicht aus der Schrift, daß er von den Toten auferstehen musste.“ (Joh 20,6–9.) 136 Diese heroische Funktion des Rolandsspruchs stellt gegenüber dem Romantext von Cervantes einen Eingriff dar: Im zweiten Buch des Romans hat Don Quixote seine letzte und schwerste Niederlage erlitten, weil ihn der als ‚Ritter vom weißen Mond‘ verkleidete Baccalaureus Sansón Carrasco zum Kampf herausgefordert und besiegt hat. Don Quixote muss nun sein Versprechen einlösen, im Fall einer Niederlage die Heimreise anzutreten und die Waffen für ein volles Jahr niederzulegen. (Vgl. Miguel de Cervantes, DQ II/64). Die Heimreise zu Fuß antre-
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
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fonischen Suite Nr. 1) ist eindeutig die mit dieser Schlussgestaltung verbundene Umwertung von Niederlagen in Siege, Siege in Niederlagen zu entnehmen: „[…] Donde se da fin a la representacion danzada de esta historia de DQ, […] y los falsos encantadores quedan encantados a las veras cuando descubren que el cuerpo del ilustre manchego desapareció de la jaula, y en lo que fué su prision brillan solas las gloriosas armas, coronadas por la divisa que Cervino pusiera al pie del trofeo de las armas de Orlando, que decia: ‚Nadie las mueva Que estar no pueda Con Roldán a prueba’ […].“ 137
In Gerhards frühem Ballettkonzept, wie es sich in den genannten Szenario-Entwürfen 13.10/2, 13.12/2 und dem Radioskript 11.20/2 darbietet, lebt die Figur Don Quixotes fort. In seinem Fortleben, in den Anklängen an das Osterereignis, in der Kreuzsymbolik und der Betonung seiner Verspottung und seines Leidens wird eine Parallele zur Person Jesu Christi nahegelegt. Da Gerhard nicht als im kirchlichen Sinne religiös galt, liegt es nahe zu fragen, wie eine solche Anspielung aufgefasst werden kann. In einem seiner Notizbücher äußert Gerhard sein Interesse an der Kirche (vermutlich vorrangig der katholischen) im Sinne eines kulturellen Phänomens, nicht aber im Sinne einer verbindlichen Glaubenslehre: „L’Iglesia m’interessa enormement dés del punt de vista polític, cultural, estético-arquelógic. Desdel punt de vista intemporal, completament indiferent.“138
Gerhards Zugriff etwa auf die Kreuzsymbolik lässt sich somit sicherlich nicht als religiöses Bekenntnis zum Katholizismus auffassen. Die Parallelisierung von Don Quixote und Christus konnte Gerhard bei Unamuno vorfinden. Der die Ideewertend, bittet Sancho seinen Herrn, Wehr und Waffen auf dem Weg liegenlassen und an einem Baum aufhängen zu dürfen. Don Quixote entgegnet, seine Waffen sollten „als Siegesmal aufgehängt werden, und unter ihnen oder rings um sie her wollen wir in die Bäume eingraben, was am Waffenmal Roldáns geschrieben stand: Es rühre keiner diese Waffen an, der nicht Roldán im Streit bestehen kann.“ (Ders., DQ II/66, S. 1052.) Dies hat zunächst den Anschein, als sei sich Don Quixote keiner Niederlage bewusst bzw. als wolle er seine locura aufrechterhalten. Cervantes lässt ihn jedoch sogleich seine Meinung ändern: Er will die Waffen schließlich doch nicht aufhängen lassen, „damit man nicht sage: für gute Dienste schlechter Lohn.“ (Ebd.) Diese Umwendung verweist darauf, dass Don Quixote seine Niederlage durchaus anerkennt. Bei Gerhard bleibt der Spruch hingegen ‚als Siegesmal‘ stehen und betont damit den ungebrochen heroischen Charakter der locura. Dem entspricht die Lesart Unamunos, der äußerte, Don Quixotes Besiegtwerden durch den ‚Ritter vom weißen Mond‘ in DQ II/64 tue dem Ideal keinen Abbruch, weil Don Quixote dieses nicht verleugne (siehe Anm. 181, Kapitel II.2.4). 137 „[…] Wo die getanzte Repräsentation dieser Geschichte von DQ zu ihrem Ende kommt […] und die falschen Zauberer die eigentlich Verzauberten bleiben, als sie entdecken, dass der Körper des illustren Manchegers aus dem Käfig verschwunden ist, und dort, wo was sein Gefängnis war, nur noch seine ruhmreichen Waffen glänzen, gekrönt von der Devise, die Cervino zu Fuß der Waffentrophäen Rolands anbrachte, die besagte: ‚Es rühre keiner diese Waffen an,/ Der nicht Roldán im Streit bestehen kann‘ […].“ [Verfasser anonym], Don Quijote, (undatiertes Radioskript, spanisch), CUL 11.20/2 [Übersetzung G. L.]. 138 „Die Kirche interessiert mich enorm in politischer, kultureller und ästhetisch-archäologischer Hinsicht. In einer nicht-zeitgebundenen Hinsicht bin ich an ihr komplett uninteressiert.“ Roberto Gerhard, Notizbuch, CUL 7.131, S. 34/Rückseite [Unterstreichung von Gerhard, Übersetzung, G. L.].
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
dung Don Quixotes antreibende Unsterblichkeitswille steht für ihn als „la fe en la inmortalidad personal“139 im Zentrum des spanischen Volksgeistes, d. h. der ‚intrahistoria‘ des spanischen pueblo.140 Jenen Unsterblichkeitswillen betrachtet Unamuno dabei als verbunden mit einem unbewussten Katholisch-Sein, das nach Unamuno nolens volens im kollektiv-populären Unbewussten verankert ist.141 Dies spricht für eine Auffassung von Religion im Sinne kollektiv-kultureller Praktiken und lässt an Gerhards kulturgeschichtliches Interesse an Religion denken, welches sich vor dem hier aufgezeigten Hintergrund auch als Interesse an jenem von Unamuno thematisierten kollektiv-populären Unbewussten zu erkennen geben kann. Unamuno hatte kundgetan, sein Projekt der Darstellung des ‚tragischen Lebensgefühls‘ in STV (1913) – jenes ‚tragischen Lebensgefühls‘, das auf dem Widerstreiten von einerseits menschlicher Vernunft und andererseits dem Antrieb des Unsterblichkeitswillens basiert – habe auf die Freilegung eben jenes Unbewussten der spanischen Kultur bzw. Religiosität gezielt.142 Unamuno parallelisiert nun das Leiden Christi mit dem Leiden Don Quixotes und dieses wiederum mit dem Leiden des spanischen Volkes. So versteht er Don Quixote als: „[…] la figura de Nuestro Señor Don Quijote, el Cristo español, en que se cifra y encierra el alma inmortal de este mi pueblo. Acaso la pasión y muerte del Caballero de la Triste Figura es la pasión y muerte del pueblo español. Su muerte y su resurrección.“143
Vermittels der Don Quixote-Figur verweist Unamuno also erstens auf eine durch Don Quixote verkörperte Philosophie des Unsterblichseinwollens (den Kern seinen Quixotismo144), und zweitens auf das Leiden des spanischen Volks und die Hoffnung auf dessen ‚Auferstehung‘. Jenes Leiden muss dabei vor dem Hintergrund der 139 Vgl. Miguel de Unamuno, VDQ, S. 522. 140 Das spanische pueblo finde, so Unamuno, im Glauben an die personale Unsterblichkeit die Begründung seines Daseins, und es sei dessen Bestimmung, unter allen Völkern die durch Logik und Vernunfturteil Verdunkelten durch ‚unsere Herzenswahrheit‘ („nuestra verdad del corazón“) zu erhellen und ‚die Herzen derer, die zum Leben als Traum verurteilt‘ seien, zu trösten: „Fundaste este tu pueblo, el pueblo de tus siervos Don Quijote y Sancho, sobre la fe en la inmortalidad personal; mira, Señor, que es ésa nuestra razón de vida y es nuestro destino entre los pueblos el de hacer que nuestra verdad del corazón alumbre las mentes contra todas las tinieblas de la lógica y del raciocinio y consuele los corazones de los condenados al sueño de la vida […].“ Ebd., S. 522. 141 „Y puesto que los españoles somos católicos […] queriéndolo o sin quererlo, y aunque alguno de nosotros presuma de racionalista o de ateo, acaso nuestra más honda labor de cultura y, lo que vale más que de cultura, de religiosidad – si es que no son lo mismo –, es tratar de darnos clara cuenta de ese nuestro subconciente, social o popular.“ Ders., STV, S. 179. 142 Unamuno betrachtet das ‚tragische Lebensgefühl‘ auch als ein ‚katholisches Lebensgefühl‘; insbesondere als Volksglaube sei der Katholizismus seinem Wesen nach tragisch. Vgl. ebd. 143 „[…] die Figur unseres Herrn Don Quijote, den spanischen Christus, in dem die unsterbliche Seele dieses meines Volkes verschlüsselt und umschlossen ist. Möglicherweise ist das Leiden und der Tod des Ritters von der traurigen Gestalt das Leiden und der Tod des spanischen Volkes. Sein Leiden und seine Auferstehung.“ Ebd. [Übersetzung, G. L.]. 144 In seinem Essay Sobre la filosofía española. Diálogo (1904) spricht Unamuno im Zusammenhang mit einer solchen Philosophie der Unsterblichkeit auch von der „filosofía española“, deren Zentrum der Leben-als-Traum-Gedanke bildet (siehe Kapitel II.4.1). Hinter der Bekräfti-
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
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Spanienreflexion betrachtet werden, die nach dem Ereignis des Jahres 1898 aufkam. Unamuno stellt die Lächerlichkeit von Don Quixote in den Kontext einer „tragi-comedia europea moderna“.145 Er ruft dazu auf, die Erniedrigung einer vermeintlichen spanischen Rückständigkeit zu ertragen. Die Ansicht, dass es weder eine Wissenschaft, noch eine Kunst, noch eine Philosophie in Spanien gegeben habe, sei aus einer protestantischen Verleumdung hervorgegangen, die die geschichtliche Leistung der Gegenreformation vernachlässigt habe.146 Die Auseinandersetzung mit der spanischen Rückständigkeit zielt hier deutlich auf eine Auseinandersetzung mit einem als szientistisch aufgefassten, in Europa vorherrschenden Fortschrittsdiskurs. Immer wieder parallelisiert Unamuno dabei die Figur des Don Quixote und die des verspotteten und leidenden Christus. Christi Tragödie sei die des Kreuzes gewesen, Pilatus, „el escéptico, el cultural“, habe diese Tragödie, indem er auf „Ecce homo“ wies, in eine Spott-Komödie verwandeln wollen; das Volk habe sich menschlicher gezeigt, indem es eine Tragödie gewollt und nach der Kreuzigung geschrien habe.147 Die andere, menschlich-innermenschliche Tragödie sei diejenige, in der Don Quixote eingeseift und rasiert wurde, damit sich die Dienerschaft der Herzöge und diese selbst sich daran hätten belustigen können.148 Er schließt: Der Lächerlichkeit ohne Feigheit standzuhalten, sei der größte Heroismus sowohl für ein Individuum wie auch für ein Volk.149 Lässt sich also das Leiden des spanischen Volks im Ertragen einer lächerlichen Rolle Spaniens im europäischen Kontext sehen, so lässt sich eine ‚Auferstehung‘ desselben im ‚Erwecken‘ des von Unamuno im spanischen Volksgeist latent angenommenen Heroismus sehen,150 und damit verbunden: mit der Übernahme einer vorherrschenden Rolle in Europa – dann allerdings nicht unter den Prämissen eines Szientismus, sondern der im Volk latenten, quixotischen Philosophie der Unsterblichkeit. Es ist anzunehmen, dass das Leiden Don Quixotes und die christliche Symbolik in Gerhards Ballett I auf die beiden von Unamuno parallel geführten Themen zielen: auf die spanische Philosophie des Unsterblichseinwollens und auf das Leiden und die ‚Auferstehung‘ des spanischen pueblo. Denn Lächerlichkeit und Spott erhalten in Gerhards Ballett I besonderes Gewicht, u. a. aufgrund der Szene 4 am Hof des Herzogenpaars. Dies würde auf die nationale Symbolebene des Balletts verweisen und bekräftigen, dass die Auseinandersetzung mit dem Zustand Spaniens, vermittels der von Unamuno aufgeworfenen Themen, in Gerhards Situation des Exils von großer Relevanz war. Einem christlichen Symbol wie dem Kreuz käme im Kontext dieser Themen eine ambivalente Bedeutung zu: Einerseits ist es ein Symbol des nationalkatholischen Spanien, der weltlich Herrschenden und Mächtigen, andererseits Signum der Auserwähltheit und des Leidens, welches auf das Hervor-
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gung einer aus Spanien stammenden Philosophie steht die Auseinandersetzung mit der verbreiteten Feststellung, Spanien habe keine akademische Philosophie hervorgebracht. Vgl. ders., STV, S. 179 sowie das Schlusskapitel in Unamunos STV, S. 180–198. Vgl. ebd., S. 185 f. Vgl. ebd., S. 190. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Zur Metaerzählung von der ‚Erweckung‘ des spanischen pueblo siehe Kapitel II.4.1 und II.4.3.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
bringen ‚höherer Realität‘ zielt und welchem Spott entgegenschlägt, wenn es auf das Unverständnis und die Schlechtigkeit des weltlichen status quo verweist. Dafür mag auch die Ambivalenz der Kontexte einstehen, in welchen das Kreuz in Gerhards Ballett auftaucht – einerseits als an der Wand hängendes Kruzifix am Hof der Herzöge, die sich auf Kosten Don Quixotes und Sanchos amüsieren und als deren ‚Widersacher‘ gelten können,151 andererseits im Zusammenhang mit dem Leiden und Heroismus des Protagonisten. Im Ballett II spielt eine religiös-kulturelle Symbolik keine Rolle, dennoch bleibt das Thema von Spott, Leiden und ‚Auferstehung‘ sowie eine nationale Symbolebene der Figuren und Ereignisse auch hier relevant.152 Dies wird v. a. im Zusammenhang mit Gerhards Zugriff auf die populäre Musikgattung der chacona thematisiert werden (Kapitel III.6.1). Zum Schluss von Ballett II wird der Heimtransport Don Quixotes auf dem Ochsenkarren für Gerhard zum Anlass dafür, eine finale Zuspitzung der Handlung auf den Kampf zwischen Don Quixote und seinen ‚Widersachern‘ (Priester, Barbier und den Cuadrilleros der Heiligen Brüderschaft153) vorzunehmen. Dabei ist es Sancho, der für seinen eingesperrten Herrn kämpft – eine bemerkenswerte Abweichung gegenüber der Romanvorlage, denn von einem Kampf Don Quixotes oder Sanchos gegen ihre ‚Widersacher‘ ist im Roman keine Rede (Don Quixote leistet gegenüber Priester und Barbier, wie erwähnt, keinen Widerstand, da er sich verzaubert glaubt). Mit dem Kampf, den Gerhard zwischen Sancho und den ‚Widersachern‘ stattfinden lässt, wird Sancho zu demjenigen, der gewissermaßen das letzte Abenteuer bestreitet und dieses zu einem echten (keiner Umdeutung bedürfenden) Sieg bringt: Sancho ‚wendet das Blatt‘, während Don Quixote nach dem Montesinos-Abenteuer (Szene 4) komplett desillusioniert ist: 151 Als ‚Spötter‘ („burladores“) rückt Unamuno die Herzöge auf die Seite von nihilistischen ‚Widersachern‘ Don Quixotes, die dem Leben den Wert eines eitlen Welttheaters beimessen, und für welche Don Quixotes Güte, Werte und sein Unsterblichkeitswille („locura de no morir“) folglich nicht mehr als belustigender Zeitvertreib sein können. Wenn, so Unamuno, Don Quixotes Traum von der Unsterblichkeit eine Illusion gewesen sein sollte, dann wäre erwiesen, dass diese nihilistischen ‚Widersacher‘ zu ihren Lebzeiten im Recht gewesen sind: „Si fue sueño y vanidad tu locura de no morir, entonces sólo tienen razón en el mundo los bachilleres Carrascos, los Duques, los don Antonio Moreno, cuantos burladores, en fin, hacen del valor y de la bondad pasatiempo y regocijo de sus ocios.“ Miguel de Unamuno, VDQ, S. 509. 152 Es wurde bereits in Kapitel II.4.1 darauf eingegangen, dass die (im Folgenden genauer zu betrachtende) Übernahme der quixotischen locura durch Sancho mit Blick auf eine nationale Symbolebene dechiffriert werden kann. 153 Im Roman ist von Landreitern die Rede, die Don Quixote als den von der Heiligen Brüderschaft gesuchten Verbrecher erkennen (Miguel de Cervantes, DQ I/45) und die Gesellschaft mit Priester und Barbier begleiten. Bei Gerhard ist dagegen von den Polizisten der Heiligen Brüderschaft die Rede, die v. a. im Zusammenhang mit der Galeerensklavenszene präsent sind. Diese sollen laut Gerhard in der Tracht der päpstlichen Garde auftreten, als „Vatican Swissguards“ in schwarz und lila (vgl. Roberto Gerhard, lose Seite mit Angaben zur Kostümierung, beiliegend zum Klavierauszug des Don Quixote-Balletts von 1949, CUL 5.28 und ders., Notizbuch, CUL 10.132). Diese Darstellung der ‚Widersacher‘ als quasi Handlanger des Klerus könnte, mit Bezug auf eine nationale Symbolebene, annehmen lassen, dass Gerhard mit jenen ‚Widersachern‘ auf den National-Katholizismus Franco-Spaniens verwies und diesen in Frontstellung zur Figur Don Quixotes als dem Repräsentanten des quasi ‚authentischen‘ Spanien brachte.
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
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„[Ziffer] 116 Priester und Barbier, rückwärts schreitend, fliehen unter Deckung der kämpfenden Cuadrilleros vor Sancho (mit Schwert und Schield[sic])[,] der an der Spitze der Ritter Amadís, Palmerin und Orlando angreift. D.Q. sieht in höchster Spannung zu… [Ziffer] 117 tobt gegen die Gitter des Käfigs vier Takte vor [Ziffer] 118 gibt auf, zusammenbrechend, das Ge[si]cht in die Hände gegraben; so verbleibt er regungslos […].“154
Don Quixote verbleibt regungslos, während die drei Ritterdamen Dulcinea hereinbringen und sie entkrönen und damit auch Don Quixotes letzte Illusion zerstören. Noch einmal tanzt Aldonza (wie in der 1. Szene): „[…] D. Q. tritt näher zu ihr, halb befremdet, halb verwirrt noch; wendet sich dann gleichgültig, vergessend, ab.“155 Die Vision der idealen Dulcinea will sich also nicht mehr einstellen. Gerhard charakterisiert Don Quixote kurz vor seinem Tod als einen gebrochenen Heroen. All dies sind bedeutende Eingriffe in die Stoffvorlage. In Gerhards Szenario sind es explizit die ‚Widersacher‘, deren Spott Don Quixote ausgesetzt ist: „Priester, Barbier und die 3 Cuadrilleros tanzen höhnend am Käfig vorbei. – D. Q. gesenkten Hauptes, regungslos.“156
Solch offener Spott ist eine Zuspitzung Gerhards. Es findet sich darin eine von Unamuno geprägte Lesart wieder, die Cervantes’ Text nicht entnommen werden kann. Priester und Barbier erscheinen bei Unamuno wie auch bei Gerhard als eindeutig feindliche ‚Widersacher‘, während Cervantes’ Roman eine eindeutige Bewertung jener Figuren nicht unbedingt zulässt. Von Priester und Barbier wird im Roman mehrfach ausgesagt, sie seien um die „Heilung“ von Don Quixotes Verrücktheit besorgt.157 Allerdings belustigen sie sich, ähnlich wie die Herzöge im zweiten Romanbuch, ebenfalls an seiner locura: In DQ I/45 will der Barbier Nikolas „da er Don Quijotes Sparren so gut kannte, noch Öl ins Feuer gießen und den Spaß weitertreiben, damit sie alle was zu lachen hätten.“158 Aus diesem Grund machen sich Priester, Barbier und die weitere Gesellschaft in der Schenke einen Spaß daraus, den reisenden Barbier, der mit Don Quixote eine Diskussion darüber führt, ob die Barbierschüssel ein Helm und der Eselssattel Pferdegeschirr sei, irre zu führen. Sie nehmen geschlossen die Position Don Quixotes an und in einer Abstimmung eine ‚Umdefinition‘ der Gegenstände in dessen Sinn vor. Auch die Lügengeschichte, die Priester und Barbier von Dorotea als Prinzessin Mikomikona erzählen (deren Reich wird angeblich von einem Zauberer bedroht), um Don Quixote heimbringen zu können, beruht auf dem Prinzip, dass jene Mitwelt den Code Don Quixotes, die
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Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 6. Siehe z. B. Miguel de Cervantes, DQ I/46, S. 484. Ders., DQ I/45, S. 469.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
spezifische Funktionsweise seiner locura,159 gelernt hat.160 Die Voraussehbarkeit der locura dient der Mitwelt dazu, Macht über Don Quixote zu gewinnen. Auf jener Voraussehbarkeit beruht schließlich auch die List, die Priester und Barbier vor Don Quixotes Heimtransport anwenden, damit dieser denkt, er sei verzaubert (siehe DQ I/46). Sancho zweifelt allerdings daran, dass Don Quixote verzaubert worden sei. Er weiß, wer die Vermummten sind, wagt aber nicht zu reden („[…] die Gespenster, die hier umgehen, sind keine rechten, es kann kein Mensch recht an sie glauben“).161 Es ist Sancho, der im Gegensatz zu Don Quixote Zweifel an den positiven Intentionen von Priester und Barbier hat und deren List durchschaut.162 Sancho wird Don Quixote erklären, dass dieser nicht verzaubert ist, sondern „betrogen und zum Narren gehalten.“163 In DQ I/49 versucht Sancho erfolglos, Don Quixote zur Flucht aus dem Ochsenkarren zu verhelfen – dieser lässt sich jedoch nicht befreien, weil er an seinem Verzauberungsmythos festhält. Insofern ist seine Gefangennahme im Roman kein gewaltsamer Akt und durchaus selbstverschuldet. Während Don Quixote zum Schluss von Gerhards Ballett I als Opfer seiner ‚Widersacher‘ erscheint – eindeutiges Zeichen dafür ist, dass jener Heimtransport in Gerhards Ballett (anders als in Cervantes’ Roman) zu Don Quixotes Tod führen wird – und Don Quixotes locura und Heroismus selbst im Leiden ungebrochen bleiben, sind in der späten Ballettfassung nicht mehr nur die ‚Widersacher‘ für Don Quixotes Tod verantwortlich. Vielmehr beginnt sein Niedergang mit der Desillusion in der Montesinos-Höhle in Szene 4. Die Gefangennahme durch die ‚Widersacher‘ stellt sich so als Folge von Don Quixotes innerer Krise dar. Vermeintlich hat er es nicht geschafft, beide Welten, Innen und Außen, seine locura mit der Realität, übereinzubringen, sodass das Erkennen der Realität mit der Zerstörung der locura einhergeht, mit der Desillusionierung. Dieser Desillusionierung folgt die Einsicht in die Wahnhaftigkeit des Rittertum-Ideals und die Wiedergutmachung durch den Wahn angerichteter Schäden: Die Figuren aus Don Quixotes Phantasie – der Zug 159 Typisch für jene locura ist es, wie der Domherr in DQ I/49 bemerkt, dass sie allein dann in Kraft tritt, „wenn man mit ihm [Don Quixote] vom Ritterwesen spricht“, während er sonst „in allem, was er sagte und antwortete, einen so ausgezeichneten Verstand an den Tag legte.“ Ders., DQ I/49, S. 508. 160 Die Rede, die der (vermummte) Barbier Nikolas hält, um Don Quixote und Sancho zu beschwichtigen (siehe ders., DQ I/46, S. 485 f.), kann für die Perfektion einstehen, mit der der Code gelernt wurde. 161 Ders., DQ I/47, S. 487. Zudem glaubt Sancho deshalb nicht an Don Quixotes Verzauberung, weil Don Quixote natürliche Bedürfnisse habe, wohingegen Sancho habe sagen hören, „daß die Verzauberten weder essen noch schlafen, noch reden, und mein Herr hingegen, wenn man ihm nicht Einhalt tut, redet mehr als dreißig Advokaten.“ Ebd., S. 492. 162 Als der Priester Don Quixote in der Erklärung bestätigen will, die dieser sich bezüglich seiner Verzauberung gibt, redet der sonst furchtsame Sancho und beweist damit Mut: „Ach, Herr Pfarrer, Herr Pfarrer! Hat Euer Gnaden gemeint, ich kenne Euch nicht? Und könnt Ihr meinen, ich verstehe nicht und errate nicht, worauf diese neuen Verzauberungen hinauswollen? […] wisset, daß ich Euch verstehe, sosehr Ihr Eure Ränke verbergen möget. Kurz, wo der Neid regiert, da kann die Tugend nicht bestehen, und wo der Geiz zu Hause ist, da ist keine Freigiebigkeit. Daß doch der Teufel den Teufel holte! […]“ Ebd. 163 Ders., DQ I/48, S. 503.
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
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der trauernden Witwen und Waisen zwei Takte vor Ziffer 127, Schäfer und Schäferin des „Goldenen Zeitalters“ – kehren, sich gleichsam verabschiedend, ein letztes Mal wieder, und bei Ziffer 130 heißt es: Don Quixote „nimmt von Sancho den Rasierteller und gibt ihn dem Barbier; dann nimmt er von Sancho das Schwert, das er nachdenklich in Händen hält; schliesslich[sic] reicht er es dem Priester.“164 (Im Roman macht Alonso Quijano sein Testament und hinterlässt sein Vermögen seiner Nichte.165) So folgt Don Quixotes Niederlage daraus, dass er den Glauben an sein Ideal, seine locura, nicht mehr weiter aufrechterhalten kann. Der Heroismus Don Quixotes scheint in der Schlussfassung des Balletts II zunächst deutlich beschädigt. Gerhard betont das Risiko eines sich als Illusion erweisenden Ideals.166 Dennoch findet eine Selbstaufhebung der quixotischen locura – trotz der Gebrochenheit Don Quixotes – nicht statt. Vielmehr bleibt die quixotische locura bei Gerhard dennoch heroisch, weil Gerhard sie auf Sancho übergehen lässt – entsprechend Unamunos Auffassung von einer fortschreitenden Quixotisierung Sanchos (siehe Kapitel II.2.2), die in Szene 5 parallel zum Niedergang des gefangengenommenen Don Quixote erfolgt. Gerhard lässt Sancho in einem Kampf gegen die ‚Widersacher‘ (die Figuren der realen Sphäre) „an der Spitze der Ritter Amadís, Palmerin und Orlando“167 angreifen. Sancho hat offenbar von seinem Herrn gelernt, die ‚höhere Realität‘ der Ritter zu sehen, er hat sich quixotisiert. Als ‚Ritter‘ ist er offenbar sogar erfolgreicher als sein früherer Herr: „[Ziffer] 126 Sancho stürmt herein, siegreich mit Schield[sic] und Schwert; er trägt den Rasierteller als Helm. Er hat die Cuadrilleros geschlagen und bestürmt seinen Herrn wieder die Waffen aufzunehmen. – DQ lehnt ab und beschwichtigt ihn.“168 164 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 7. 165 Vgl. Miguel de Cervantes, DQ II/74, S. 1100 f. 166 Darin weicht die Schlussfassung des Ballett II deutlich von Cervantes’ Stoffvorlage ab: Gerhard entnimmt dem Schluss des zweiten Romanbuchs (DQ II/74) zwar das Ereignis der Abkehr Don Quixotes von seiner locura (dabei bleibt mit der Gefangennahme im Ochsenkarren-Käfig zugleich ein Element aus dem ersten Romanbuch erhalten), diese Abkehr geschieht aber nicht als ‚Heilung‘ vom Wahn, sondern ist hier die Folge von Don Quixotes todbringender Desillusion. Im Roman geschieht die Lossagung von der locura dagegen tatsächlich als ‚Heilung‘ und ist mit dem Rückgewinn von Don Quixotes Vernunft verbunden. Bei Cervantes versöhnt sich Don Quixote am Schluss seines Lebens mit jenen ‚Widersachern‘, die seine ‚Heilung‘ – wenn auch durch Überlistung – initiiert haben. So ruft Don Quixote dem Priester, dem Baccalaureus Sansón Carrasco und dem Barbier, seinen „guten Freunde[n]“ (ebd., S. 1097), entgegen: „Wünscht mir Glück […], daß ich nicht mehr Don Quijote von der Mancha bin, sondern Alonso Quijano der Gute […]. Jetzt bin ich ein Feind des Amadís von Gallien und der unzähligen Schar seiner Sippschaft; jetzt sind mir all die gottverlassenenen Geschichten vom fahrenden Rittertum verhaßt; jetzt erkenne ich meine Torheit und die Gefahr, in die mich das Lesen dieser Bücher gestürzt hat; jetzt bin ich […] durch eigenen Schaden klug geworden und verabscheue sie.“ (Ebd.) Für Unamuno muss diese Rücknahme der locura im letzten Romankapitel einer inakzeptablen Selbstaufhebung von Don Quixote als Heroe gleichgekommen sein, da die quixotische locura aus seiner Sicht die Quelle von Heroentum und Leiden darstellt. 167 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 6. 168 Ebd., S. 7. Dass Sancho seinen früheren Herrn nach dessen Bekehrung erfolglos zu neuen Abenteuern zu überreden versucht, ist ebenfalls dem Schlusskapitel im zweiten Romanbuch entnommen: „‚Ach‘, rief Sancho unter Tränen, ‚sterbt doch nicht, mein lieber gnädiger Herr, sondern nehmt meinen Rat an und lebt noch lange Jahre; denn die größte Narrheit, die ein
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Sanchos kämpferische und siegreiche Attitüde im Ballett II ist der von Unamuno vertretenen These von der sich im Roman entwickelnden Quixotisierung Sanchos entnommen. Gerhard denkt diesen Ansatz eigenmächtig weiter. So lebt in Gerhards Ballett II zwar nicht Don Quixote, jedoch die durch Don Quixotes Leben und Taten verkörperte Idee – quasi eine unamunosche „idea viva“169 – in Sancho fort. Und insofern Don Quixote einen Nachfolger gefunden hat, ist sein scheinbar desillusioniertes Leben und Wirken alles andere als wirkungslos gewesen. Dies stellt neben den Schlusswendungen in Ballett I – der ‚Auferstehung‘ Don Quixotes als Schatten seiner selbst (13.10/2) und dem leer zurückgebliebenen Käfig, in dem Don Quixotes Waffenausrüstung glänzt (13.12/2) – im Ballett II eine dritte Variante der Überwindung des Todes dar. Somit hat in Gerhards später Ballettfassung ‚das letzte Wort‘ nach wie vor das durch die Abenteuer (im pragmatischen Sinn) ‚in Existenz gebrachte‘ Rittertum-Ideal. In der Betonung des der locura innewohnenden Heroismus folgt Gerhard insbesondere in seiner frühen Ballettfassung dem Quixotismo Unamunos. Indem Gerhard in der späten Ballettfassung aber auch das wahnhafte Illusionspotenzial jenes Ideals betont, und Don Quixote als ein gebrochener Heroe erscheint, emanzipiert sich Gerhard nicht nur gegenüber der Romanvorlage, sondern findet auch gegenüber seiner von Unamuno geprägten Lesart eine ganz eigene Position.170 Im Vergleich mit den Schlusslösungen des Ballett I, in denen sich Don Quixotes Existenz als unamunosche ‚gelebte Idee‘ in metaphysischer Weise bewahrheitet, bleibt Gerhards spätere Position im Ballett II hinsichtlich einer endgültigen Verifizierung von Don Quixotes Ideal zurückhaltender. Dennoch zeigt auch diese späte Schlusslösung, dass letztlich allein die ‚Existenz‘, nämlich das (Fort-) Wirken des Ideals, und insofern die ‚Überwindung des Todes‘, zählt – auch im fortgesetzten Kampf gegen den die Realität ‚materiell‘ verfestigenden ‚sentido común‘ der ‚Widersacher‘. Angesichts des in Existenz gebrachten Ideals zählt so auch nicht mehr, dass Don Quixote gegen Ende seines Lebens nicht mehr an sein Ideal glaubt und folglich stirbt. Die Selbsteinschätzung des desillusionierten Don Mensch in diesem Leben begehen kann, ist sich mir nichts, dir nichts ins Grab zu legen, ohne daß einer ihn umbringt […]. Macht nur, daß Ihr nicht so träge seid, sondern von Eurem Bett aufsteht […]; vielleicht finden wir hinter einem Busche hierherum Señora Dulcinea so entzaubert, daß man nichts Herrlicheres sehen kann. […]‘“ Miguel de Cervantes, DQ II/74, S. 1100. 169 Siehe Anm. 101, Kapitel II.1.2.1. 170 Betrachtet man den Aspekt der Desillusion hinsichtlich einer nationalen Referenzebene, dann lässt sich an den Verlust der Zweiten Republik denken. Mit dieser waren höchst ehrgeizige und hochideelle Reformen verfolgt worden. In Bezug auf den politisch zentralen Bereich der Volksbildung äußert Faber: „Education was seen as the most important tool for building a modern civil society of democratic citizens. […] In view of the budgetary restraints and political obstacles that had to be overcome, the pedagogical efforts of the Second Republic can be called truly heroic.“ (Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S. 76). Die kollektive Desillusion der Republikspanier mag nach dem Ende der Republik, gerade angesichts der hoffnungsvollen Zielsetzungen derselben, immens gewesen sein. Als Nachgeborener hatte Gerhard jene Erfahrung der gescheiterten Ideale eines demokratischen Spanien Unamuno voraus. So kann plausibel werden, dass er Don Quixote im Ballett II nicht als ungebrochenen Heroen darstellen konnte. Räumt man ein, dass die quixotische locura in Gerhards Ballett für die mit der Republik verbundenen Ideale einsteht, dann konnte Gerhard mit der Desillusion Don Quixotes auf die extreme Fallhöhe jener Ideale verweisen.
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
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Quixote muss nicht zwangsläufig etwas über die Güte und ‚Wahrheit‘ seines Ideals aussagen. Ausschlaggebend für sein Erinnert-Werden (und insofern Fortleben) ist allein sein Wirken und Fortwirken im Sinne des Ideals. Die Tatsache, dass Don Quixotes Desillusion und Depression im Ballett II zu dessen Tod führt, weist zugleich auf einen bedeutsamen Aspekt des quixotischen Code hin, darauf nämlich, dass ein Ideal sich vom Glauben ‚nährt‘ und ausschließlich die in ein Ideal investierte Kraft des Glaubens und Wollens die Wahrheit desselben hervorzubringen vermag, diese also nicht etwa in einem dem Ideal zugeschriebenen ‚Wahrheitswert‘ begründet ist. Dieser pragmatischen Auffassung von der zu erwirkenden Wahrheit eines Ideals dürfte ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Ideen als Produkten menschlicher und vermenschlichender Vorstellungskraft zugrunde gelegen haben. III.4.2 Don Quixotes Leiden und Heroismus: die Töne e und f Insbesondere der Blick auf die frühe Fassung des Szenarios zu Ballett I zeigte, dass dem Aspekt von Don Quixotes Leiden in Gerhards Ballettkonzept eine zentrale Stellung zukommt. Im Ballett II lässt sich untersuchen, wie sich dieser Aspekt auf musikalischer Ebene niederschlägt. Dabei wird im Folgenden auf die besondere Rolle der beiden Töne e und f in Gerhards Ballett eingegangen. Ihre strukturelle und symbolische Bedeutung lässt sich kaum hoch genug einschätzen. Sie finden sich auf unterschiedlichen Strukturebenen: als leittonartiger Melodieschritt, als harmonisch wirksamer Bassschritt, als Transpositionsstufe von Reihen,171 invarianter Tongehalt in Reihensegmenten und als Symmetrieachse e/f (mit der sum of complementation 9). Dem Halbtonschritt e–f/f–e ist als Element des phrygischen Modus eine tradierte semantische Bedeutung inhärent, auf die Gerhard in Relation mit der Figur Don Quixotes bzw. Don Quixote als Repräsentation Spaniens zugegriffen hat. Im Zusammenhang mit musikalischen Repräsentationen Spaniens und ‚des Spanischen‘ ist der phrygische Modus ein geläufiges Semantem. Auf eine „symbolischaffektive Besetzung des phrygischen Modus“ im Sinne von Tod und Trauer verweist Wolfgang Fuhrmann im Kontext der Trauermotetten des habsburgischen Hofkomponisten Pierre de la Rue (1460–1518).172 In Gerhards Ballett umrahmt diese 171 Bemerkt sei das simultane Zusammenklingen der Reihentranspositionen auf e und f, nämlich P10 und P11 (Ziffer 126, Klav.1) beim Sieg des quixotisierten Sancho über die ‚Widersacher‘. 172 Vgl. Wolfgang Fuhrmann, Pierre de la Rues Trauermotetten und die ‚Quis dabit‘-Tradition, in: Tod in Musik und Kultur. Zum 500. Todestag Philipps des Schönen, hrsg. von Stefan Gasch und Birgit Lodes, Tutzing 2007, S. 196. Siehe hierzu Fuhrmanns Untersuchung von vier Motetten Pierre de la Rues (Considera Israel, Delicta juventutis, Quis dabit pacem und Regina caeli), die er als „Trauermotetten“ bezeichnet, weil sie „anlässlich von Todesfällen öffentlich oder in der internen, höfischen Gesellschaft aufgeführt wurden, sei es ‚paraliturgisch‘ – also als nicht-integraler Bestandteil einer religiösen Zeremonie – oder in einem anderem Kontext.“ (Ebd., S. 192.) Als verbindendes Charakteristikum dieser vier Motetten gibt er an, sie stünden im phrygischen Modus mit der Finalis e: „Das ist bezeichnend, denn der phrygische Modus war im späten 15. Jahrhundert der Modus des Schmerzes, der Melancholie und der Trauer par excellence […].“ (Ebd., S. 195 f.)
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Tonkonstellation Anfang und Ende der Komposition; so erscheint zu Anfang des Balletts über dem Basston f (Klavier 2 und tiefe Streicher: Kontra- und großes F) ein Fanfarenmotiv als sukzessiv aufgefalteter E-Dur-Quartsextakkord (T. 1–6, hauptsächlich in Trompete und Posaune). Versteht man den Basston f und den Grundton e des E-Dur-Quartsextakkords als jeweils potenzielle I. Stufe oder Tonika, dann lässt sich dieser Zusammenklang als Superposition nicht nur zweier Tonarten, sondern auch zweier konkurrierender Toniken auffassen (dass Gerhard in Kategorien einer Superposition von Tonarten dachte, geht aus einer von Gerhard in früheren Jahren verfassten harmonischen Analyse des ersten seiner zwei Klavierstücke Dos apunts (1921/22) hervor173). Im Bass tritt die F-Tonart als integrierende, 173 Diese Analyse findet sich in einem Brief von Gerhard an Josep Barberà vom 22. Mai 1922. Dieser Brief war Grundlage eines Vortrags von Raül Benavides i Oller während der 1. Internationalen Roberto Gerhard-Konferenz, die vom 27.–28. Mai 2010 an der Universität Huddersfield stattfand. Benavides händigte damals seine englische Übersetzung der Seiten 19–24 von Gerhards Brief mit Erläuterungen zu Gerhards Analyse aus. Jenes unveröffentlichte, mir vorliegende, zweiseitige ‚Handout‘ von Benavides ist die Grundlage meiner Darstellung von Gerhards Analyse: In diesem Brief äußert Gerhard, jenem Klavierstück lägen zwei simultan wirkende Toniken, (kurioserweise auch hier) die Toniken E und F, zugrunde, auf die alle harmonischen Ereignisse sukzessiv oder simultan beziehbar seien: „I understand the tonal basis as consisting of two tonics around which, as towards opposite poles, gravitate all harmonic events, successively or simultaneously […].“ (Roberto Gerhard, Brief an Josep Barberà vom 22. Mai 1922, übersetzt aus dem Katalanischen ins Englische von Raül Benavides i Oller, zit. nach besagtem Handout, S. 1.) Dabei betrachtet Gerhard die Tonart F bezogen auf die Tonart E als neapolitanische oder subdominantische Region zu E. Im inversen Fall, d. h. mit F als Tonika, betrachtet er die Tonart E als zugehörig zu einer phrygischen Region von F, denn E sei die Dominante der III. Stufe von F (d. h. einer phrygischen Skala auf A), die Gerhard als „the temporary phrygian tonic“ bezeichnet. Er versteht E letztlich als „Hypophrygian of F“. Gerhard bemerkt, der Bezug von E zu F oder von F zu E lasse sich denken als „a simple application of the appoggiatura principle extended to an entire tonal plan […].“ (Ebd.) Gerhards weitere, detaillierte Analyse zeigt, dass Gerhard die Fülle aller aus einer diatonischen Skala bildbaren Kirchenmodi einschließt und Harmonien im Sinne leitereigener Stufen eines Modus’ betrachtet, inkonsequenterweise zugleich aber auch die an die Dur-Moll-Tonalität gebundenen Kategorien Dominante und Subdominante bedient und so zu einem Akkordfundus riesigen Umfangs und zu einer eigenwilligen Auffassung harmonischer Funktionalität kommt. So ergibt es sich, dass Gerhard jene III. Stufe von F-Dur (jene phrygische Skala auf A) einerseits im Sinne eines Stellvertreters der F-Tonart betrachtet (es liegt beiden derselbe Tonfundus zugrunde), andererseits im Sinne einer potenziellen Tonika („the temporary phrygian tonic“), welche weiter nur implizit vorhanden ist, da sie durch ihre Dominante vertreten wird. Er projiziert modale Skalen in ein kompliziertes Bezugsgeflecht von Superpositionen und kommt so immer wieder dazu, einen Zusammenklang als die Stufe einer Stufe zu betrachten. So klassifiziert er den ersten Klang seines Klavierstücks – die über dem Basston E erklingenden Akkordtöne a, c, es, g – als mit der I. Stufe von E simultan erklingende VII. Stufe von einer ‚lydischen Region‘ von F, d. h. der lydischen Skala auf B (quasi einer Stufe der Stufe). (Unklar bleibt hier meines Erachtens, warum der resultierende Akkord ein es enthält, da der leitereigene Akkord auf der VII. Stufe von B-Lydisch den Ton e enthalten müsste, oder es sich andernfalls um die VII. Stufe von B-Dur, und nicht B-Lydisch, handeln müsste.) Auf diese Weise liegt Gerhards Bestreben, jede Note seiner Komposition ‚erklärbar‘ zu machen (vgl. ebd., S. 1), eine kaum überschaubare Fülle wenig eindeutiger Bezugswege zugrunde. Generell lässt sich dieser frühen Analyse entnehmen, dass die Bedeutung des Basstons in Zusammenklängen bei Gerhard grundlegend für deren Definition als Harmonie ist: Der Basston ist Bezugston der über ihm erklingenden Töne
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
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E-Dur hingegen als integrierte Tonart auf. Das simultane Erklingen der F- und der E-Stufe als Superposition stellt eine tonale Ausgangsspannung in geballter Form an den Anfang des Balletts. Betrachtet man nun das Ende des Balletts, lässt sich erkennen, dass – korrespondierend zu Don Quixotes Tod – die Bassstimme bei Ziffer 133 in einem dramatischen Moment von Spannungslösung von f nach e absinkt und sich letztlich E als integrierender Basston ‚durchgesetzt‘ hat; entgegen dem Anfang des Balletts mit F als integrierender Stufe. Gewissermaßen hat also eine Umkehr der tonalen Bezugsrichtung stattgefunden.174 Die beiden vormals simultan übereinandergeschichteten Stufen folgen einander nun als sukzessive harmonische Auflösung.175 Die mit dem Abstieg des Basstons verbundene harmonische Auflösung in den E-Dur-nahen Schlussklang (einen durch den Ton fis ‚getrübten‘ E-Dur-Dreiklang) wird dabei mehrfach vorenthalten und zeitlich ausgedehnt, was auf die Überhöhung des Todesmoments hinweisen kann: Drei Takte vor Ziffer 133 liegt über dem Basston f erneut eine Tonarten-Superposition vor. Es handelt sich nochmals um das Fanfarenmotiv, das gegenüber seinem Erscheinen als E-Dur-Quartsextakkord (zu Beginn des Balletts) in diesem Moment auf der quinttieferen Transposition eines A-Dur-Quartsextakkords (auch hier in Trompete und Posaune) erscheint. Diese Superposition wird in den Tonvorrat des hier nur vorläufig erreichten oder superpositionierter Tonarten, ähnlich einer Tonika oder potenziellen Tonika. Diese harmonisch tragende Bedeutung von Basstönen ist in den frühen Exilkompositionen wie dem vorliegenden Ballett noch eindeutig von Relevanz. Sie steht einer Auffassung von Akkorden als sets, die sich, ganz unabhängig von der Lage eines set-Tons im Satz, durch ihren Tongehalt definieren, tendenziell entgegen. 174 Diese Umkehr der tonalen Bezugsrichtung findet bereits im Anschluss an die Desillusion Don Quixotes in der Höhle Montesinos statt, nämlich in Interlude IV („Maestoso“). Hier erklingt eine Übereinanderschichtung der Reihe und des Don Quixote-Originalthemas auf f als Transpositionsstufe (PTh 11/P11), und diese Schichtung erklingt ihrerseits über dem Basston e, dessen ‚Sich-Durchsetzen‘ als Basston bei Don Quixotes Tod damit antizipiert wird (siehe 1 Takt nach Ziffer 107). Jene Übereinanderschichtung von Originalthema und Reihe ist von besonderer Bedeutung, denn sie zeigt laut Gerhard den Verlust von Don Quixotes Glaubenskraft an: „Quixote, appalled and broken-hearted, clambers out of the cave. The chaconne is over: a maestoso statement of Quixote’s complete theme, combined with its serial extract, tells us plainly that this is the beginning of the end: the Don’s faith in himself, his ideal love and his mission of knight-errantry, has begun to crumble.“ (Roberto Gerhard, ‚Don Quixote‘: a synopsis (1956), in: GoM, S. 99.) Weber verweist in Bezug auf diese Übereinanderschichtung auf die Dominanz des Don Quixote-Originalthemas gegenüber dem Reihenthema. Er bemerkt diese erstens auf klanglicher Ebene, so trete das in Streichern und Flöten instrumentierte Reihenthema hinter dem „in parallel geführten Quarten in klangstarken Instrumenten (tiefen Holzbläsern, Hörnern und Blechbläsern)“ instrumentierten Originalthema deutlich zurück (vgl. Eckhard Weber, „… all set in a dream-like world…“, Traumwelt und Realität in Roberto Gerhards Ballettmusik ‚Don Quixote‘, S. 693), zweitens weist er auf die Tatsache hin, dass sich jenes Reihenthema „schwerfällig stets eine Zählzeit hinter den Akzenten des Originalthemas her“ bewege, und drittens auf den Fakt, dass das Reihenthema in seiner Umkehrung stehe: „Die Melodielinie liegt also gewissermaßen auf dem Rücken, wie auch die Träume Don Quixotes in dieser Szene zerstört sind und gewissermaßen am Boden liegen […].“ Ebd. 175 In Gerhards Analyse seines Klavierstücks (Dos apunts, Nr. 1) entspricht dies seiner Bemerkung, der Bezug der Tonart auf E zu derjenigen auf F oder der inverse Bezug der Tonart auf F zu der auf E lasse sich denken als „a simple application of the appoggiatura principle extended to an entire tonal plan […].“ Siehe Anm. 173.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
E-Dur-nahen Schlussklangs aufgelöst (Ziffer 133), über dem erneut das Fanfarenmotiv ertönt – diesmal wieder auf seiner regulären Transpositionsstufe als E-DurQuartsextakkord, d. h. die Tonarten-Superposition wird zugunsten der E-Tonart aufgelöst. Bei dieser Auflösung in den vorläufig erreichten Schlussklang lässt sich eine (an den phrygischen Modus anklingende) neapolitanische Wendung erkennen:176 Die Bassstimme wird leittonartig abwärts, die Oberstimme leittonartig aufwärts in die e-Oktave geführt.177 Bei diesem ‚Herabsinken‘ von f zu e bei Don Quixotes Tod wird die endgültige Spannungslösung vorenthalten, und es erklingt ab Ziffer 134 ein letztes Mal ein Komplex ‚aufgetürmter‘ Reihenfragmente (zunächst als basslose Statuierung der Reihenvordersätze von P2/I7, Ziffer 134, Trompete und Posaune), bevor die Reihengestalt in den E-Dur-nahen Schlussklang mit den Tönen e, gis, h, fis hineingeführt und ihre Gestalt darin ‚aufgelöst‘ wird. Bei 176 Im Fall der vorliegenden Akkordverbindung ist zu bemerken, dass die in den Zielklang (QuasiE-Dur) führende Superposition eines A-Dur-Dreiklangs über dem Basston f sich als eine subdominantische bzw. neapolitanische Harmonie auffassen lassen kann, auch wenn kein vollständiger neapolitanischer Sextakkord erscheint (dem würde in Gerhards Dos apunts-Analyse die Sichtweise auf die Tonart F als neapolitanischer oder subdominantischer Region zu E entsprechen, siehe Anm. 173). Zugleich lässt sich im superpositionierten A-Dur-Dreiklang eine Subdominante zum Zielklang E-Dur sehen. So wird also eine subdominantische Akkordverbindung auf zwei Ebenen wirksam; und es lässt sich bei der Auflösungsbewegung in den E-Zielklang von einer plagalen Kadenz mit neapolitanischem Einschlag sprechen. Diese lässt, gerade in Verbindung mit der traditionell phrygischen Finalis e, eine Nähe zum phrygischen Modus erkennen. Von einem Anklang an eine phrygische Kadenz kann allerdings, aufgrund des (motivisch legitimierten) aufwärts geführten Leittonschritts dis–e (siehe Anm. 177) in der Oberstimme, nicht gesprochen werden. Wie Anthony Carver bemerkt, zeichnet die Intervallik der phrygischen Kadenz nicht nur der Halbtonschritt zwischen erster und zweiter Skalenstufe aus, sondern typischerweise auch das Fehlen des aufsteigenden Leittons: „[…] in polyphonic contexts the unavailability of a triad on the dominant renders V–I perfect cadences impossible.“ (Anthony F. Carver, Bruckner and the Phrygian Mode, in: Music & Letters Nr. 86 (Februar 2005), S. 76.) Anhand des Merkmals der entweder erhöhten oder nicht-erhöhten siebten Skalenstufe lässt sich nach Carver eine Unterscheidung zwischen phrygischer und neapolitanischer Harmonik treffen (vgl. ebd., S. 78): Die rein phrygische Modalität weise sowohl die siebte als auch die zweite Skalenstufe als jeweils erniedrigte auf („[…] pure Phrygian modality presents the unraised seventh […]“); die neapolitanische Wendung („Neapolitan inflection“) sei zwar dem phrygischen Modus entlehnt („is borrowed from the Phrygian scale“), erscheine allerdings im prädominantischen Kontext und einhergehend mit der Verwendung der erhöhten siebten Skalenstufe. Dies bedeute, so Carver, dass sich die neapolitanische Harmonie daher als Substitution der zweiten (erniedrigten) diatonischen Skalenstufe auffassen lasse (und nicht einer Dominante), während im phrygischen Modus der absteigende Skalenschritt zwischen zweiter und erster Skalenstufe typischerweise als eine Art ‚umgekehrter Leitton‘ („as a kind of inverted leading-tone“) fungiere und der Harmonie auf vii6 angehöre, die Carver als Dominantersatz auffasst. (Vgl. ebd.) 177 Diese Auflösung in der Oberstimme wird dabei nicht genau gleichzeitig, sondern einen Takt vor der Auflösung in der Basstimme erreicht (T. 1 vor Ziffer 133), deren ‚Hinabsinken‘ bei Ziffer 133 damit gewissermaßen hinausgezögert wird. In der Oberstimme wird der Leittonschritt dis–e überdies in die Dreitonfolge cis, dis, e eingebettet und zitiert damit motivisch den Beginn des Don Quixote-Originalthemas. Dabei wird der ursprünglich im 12/8-Takt erklingende Beginn des Don Quixote-Originalthemas in einen 4/4-Takt übertragen. Dies stellt eine Parallelstelle zu dem Zitat der ersten drei Töne des Don Quixote-Originalthemas in Szene 1 dar (T. 7–10 nach Ziffer 1, Hn./ Tr.) (siehe Kapitel III.3.1.).
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
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dieser endgültigen harmonischen (und auch die Reihengestalt betreffenden) Auflösung in den Schlussklang sind die Töne f und e auf mehreren Strukturebenen präsent: Erstens liegt der Schichtung der Reihenvordersätze von P2 und I7 (bei Ziffer 134) die Symmetrieachse e/f zugrunde,178 zweitens ist der Melodieschritt f–e in zweien der übereinander geschichteten Reihenfragmente prominent, nämlich in den Fragmenten von P1 und I10 (Reihentöne 3, 4 respektive 5, 6), und drittens fungiert der Tonschritt f–e als Quasi-Leitton.179 Das genannte ‚Hinabsinken‘ der Stufe F zu E (Ziffer 133), hier im Zusammenhang mit der genannten neapolitanischen Wendung und Auflösung einer Akkordsuperposition, stellt den Todesmoment Don Quixotes als Moment der Auflösung hoher energetischer Spannung dar. Zugleich kann der Anklang an die neapolitanische bzw. phrygische Sekunde eine Semantik des Schmerzes transportieren. Im Szenario liest man diesbezüglich: „ein Takt vor [Ziffer]133 [Ziffer]134[:]
Sancho, am Lager seines Herrn von Leid überwältigt[,] stürzt impulsiv zur Gruppe hin und sinkt vor Dulcinea auf die Knie, mit leidenschaftlicher Gebärde der Invokation Langsamer Vorhang.“180
Bei der genannten Spannungslösung lässt sich an den von Unamuno betonten friedlichen und ‚herrlichen‘ Tod Don Quixotes („muerte hermosísima“)181 denken. Mit dem Tod kommt Don Quixotes Heroenleben zu seiner Abrundung als Idee – es wird Erinnerung und damit unvergängliche und zugleich gelebte Bewusstseins-Substanz: “Sólo el pasado es hermoso; la muerte lo hermosea todo.“182 In der Schlussszene des Balletts findet sich eine weitere inhaltlich bedeutsame Verwendung der Töne e und f. Bei der Entkrönung Dulcineas (Ziffer 119, „Allegretto placido“) – ein symbolisch zentraler Moment von Don Quixotes Desillusionierung, denn die locura wird gleichsam rückgängig gemacht – finden sich trauernde Witwen, Jungfrauen und Waisen ein, und damit Figuren aus der phantastischsurrealen Sphäre.183 Die mit einem schwarzen Schleier bedeckte Dulcinea wird von den drei Ritterdamen auf die Bühne gebracht und Gerhard fügt an: 178 Die Bedeutung jener Reihenkombination P2 und I7 wird im vorliegenden Kapitel weiter unten noch eigens thematisiert werden. Mit Blick auf die Schlussgestaltung des Balletts sei bemerkt, dass auch kurz vor dem endgültig erreichten Auflösungsklang, gut hörbar innerhalb des fast vollständig in das pp des Schlussklangs übergegangenen Satzes, noch ein Fragment von P2 erklingt (Tr. 2, ff). 179 Siehe die Häufung von Quasi-Leittönen bei der Auflösung in den letzten Spannungsklang vor der endgültigen Auflösung in den Schlussklang (T.3/4 nach Ziffer 134). Hier erklingen übereinander die Stimmschritte c–h (Pos./Vcl.), a–b (Tr./Vla.) und f–e (Ob./C. Ang./Klar./Klav.1/Vl. 1 und 2). Die Bestandteile dieses relativen Spannungsklangs werden damit auf horizontaler Satzebene, d. h. durch die Stimmführung, in den Satz integriert. 180 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 7. 181 “Aquel Cristo castellano fué triste hasta su muerte hermosísima.“ Miguel de Unamuno, El caballero de la triste figura. Ensayo iconológico, S. 377. 182 Ders., VDQ, S. 213 183 Auf „[T]rauernde Witwen, Jungfrauen und Waisen“ wird im Szenario bereits bei Ziffer 114
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote „Witwen, Jungfrauen, Waisen tanzen als Chorus trauernd mit. Dulcinea wird nach und nach von den Damen entschleiert; dann entkrönt; schließlich des blauen Mantels entkleidet: sie erscheint so wieder als die Bauerndirne Aldonza, schäbig und in Fetzen. […].“184
Dazu erklingt eine Trauermusik, deren enge, expressive Melodieschritte in der Oberstimme (Holzbläser und Klavier 1) die Tonschritte e–f oder f–e immer wieder enthalten. Gerhard lässt hier zwei Reihen, P6 und RI5, aufeinander folgen. Während der jeweilige Hex.1 der beiden Reihen in die akkordische Begleitung (siehe Streicher, Hörner und Klavier 2) verlegt (d. h. vertikal verwendet) wird,185 erklingt in der Oberstimme des Satzes (in der horizontal-melodischen Satzdimension) ausschließlich der jeweilige Hex.2 dieser beiden Reihen. Und während die akkordische Verwendung des Reihen-Vordersatzes Gelegenheit zur freien Permutierung der Hexachordtöne gibt, wird in jener Oberstimme die consecutive order der Reihentöne streng eingehalten. Unmittelbar wiederholt werden dabei nicht nur, wie üblich, einzelne Reihentöne, sondern immer wieder ganze Hexachord-Abschnitte. Anders als im Fall eines wiederholten Motivs gewinnt Gerhard aus dieser Wiederholung von Hexachord-Abschnitten bzw. Tongruppen eine flexible Melodik. Die Gestalten dieses Trauergesangs erscheinen als wiederholte und diastematisch variierte melodische ‚Floskeln‘ zwischen ritueller Wiederholung und spontaner Variantik. Wie Julian White bemerkt hat, referiert Gerhard an einer Stelle des langsamen zweiten Satzes seiner ersten Sinfonie (4 Takte nach Ziffer 59) auf die Oberstimme des hier untersuchten Abschnitts, den White als „‚mourning widows‘ music“ des Balletts bezeichnete.186 Gerhard habe darin, so White, den Klang weinender Frauen evoziert.187 Unmissverständlich ist der Abschnitt mit der Trauer um Don Quixote verbunden, und die phrygische Sekunde e–f oder f–e spielt dabei eine zentrale Rolle. Denn die Reihen sind so gewählt, dass beide in ihrem jeweiligen Hex.2 eine Viertongruppe mit dem invarianten Tongehalt e, f, fis, g aufweisen (betreffend die Reihentöne 9–12).188 Weiter findet sich in jener Oberstimme eine melodische ‚Floskel‘, die keiner der beiden genannten Reihen zuzuordnen ist, sondern dem Hex.2 Bezug genommen. Siehe Anm. 196. 184 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 6. 185 Irregulär an dieser akkordischen Verwendung des Reihen-Nachsatzes ist der Fakt, dass der fünfte Reihenton h von P6 ausgespart wird. 186 Julian White, Gerhard’s secret programme. Symphony of hope, in: MT, Nr. 139 (März 1998), S. 24. 187 Vgl. ebd. 188 Das Viertonsegment e, f, fis, g, das eine tongehaltliche ‚Schnittmenge‘ zwischen den beiden einander folgenden Reihen P6 und RI5 bildet, ist im Ballett überall dort bedeutsam, wo einander diese beiden Reihen folgen. Dies betrifft neben dem soeben besprochenen Abschnitt zur Trauer der Witwen, Jungfrauen und Waisen auch die beiden reihengebundenen, sechsstimmigen Sätze kurz vor Don Quixotes Vision von Dulcinea (Szene 1, 5 Takte vor Ziffer 2 sowie die Parallelstelle in Szene 5 bei Ziffer 121, siehe die ausführliche Besprechung dieses Reihenkomplexes in Kapitel III.3.2). Es lässt sich sehen, dass jener ‚Schnittmengen‘-Tongehalt als melodisch absteigende Tonfolge (g’)–fis’–f’–e’ in der Hornstimme in den folgenden Dulcinea-Abschnitt überleitet und derart als eine strukturell verdichtende ‚Schnittmenge‘ der zuvor erklungenen Reihentongehalte (auch hier der beiden Reihen P6 und RI5) hörbar wird: Die Hornstimme, die zuvor die Basstöne des sechsstimmigen Satzes lediglich verstärkte, verselbständigt sich zur überleitenden Melodiestimme, sodass jene Viertonfolge, und damit der Tonschritt der abfallen-
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
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von RI3,189 dessen Anfangstöne f–e (= 12–11) mit den Schlusstönen f–e (= 11–12) des Hex.2 von P6 überlappen; deren Zugehörigkeit ist also doppeldeutig. Die Reihen des Satzes bei Ziffer 119 und der in ihrem Hex.2 als invariantes Element enthaltene Tonschritt f–e oder e–f : P6
RI5 RI3
c
h
es
gis
b
cis
a
d
h* c
* Der fünfte Reihenton h fehlt im Satz.
c
h
g
a
fis
g
f
e
d
c
es
d
e
f
e
d
f
e
fis
g
Gerhard nutzt dabei die Gestalt-Ähnlichkeit dieser beiden Reihennachsätze. Denn die melodische ‚Floskel‘, die sich durch die Reihentöne 7–10 von P6 ergibt, ähnelt derjenigen, die sich durch die Reihentöne 10, 9, 8, 7 der Reihe RI3 ergibt, zwar nicht hinsichtlich ihrer Intervallschritte, jedoch hinsichtlich ihrer Gestalt und kann als ihre Gestaltvariante gelten. Gerade die Variantik von Intervallschritten (der hier keinesfalls reihentechnische Lockerungen oder ‚Freiheiten‘ zugrunde liegen) kann an eine Affekthaltigkeit denken lassen, die mit dem Weinen der Frauen verbunden ist; offenbar transferierte Gerhard Elemente der barocken Figurenlehre in den Kontext der Zwölftonkomposition (dies wäre auch bei Schönberg nicht ungewöhnlich).
den phrygischen Sekunde, in den Dulcinea-Abschnitt ‚hineinragt‘ (siehe 2 Takte vor Ziffer 2 bzw. die Parallelstelle bei Ziffer 122). 189 Die Reihe I3 wird hier gewissermaßen noch einmal aufgegriffen, denn sie findet sich als vollständige kurz zuvor (zwei Takte vor Ziffer 119, Str. und Hzbl.).
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
#
RI5 Hex. 1
#
P6 Hex. 1
$
P6 Hex. 2
$
RI3 Hex. 2
$
RI5 Hex. 2
Trauernde Witwen, Jungfrauen, Waisen in Szene 5, bei Ziffer 119:
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Ein Fall, in dem die phrygische Sekunde deutlich wahrnehmbar als melodische Überleitung in einen Folgeabschnitt fungiert, findet sich in Szene 3 an der Schnittstelle zwischen ‚realer‘ Sphäre und Vision. Don Quixote fällt nach seinem Angriff auf den wandernden Dorfbarbier,190 dessen Rasierteller er für den magischen Helm des Mambrín hält (2 Takte nach Ziffer 58), in Ohnmacht und erwacht daraus mit der Hilfe von drei Ziegenhirten, von Sancho und dem Dorfbarbier. Der Wechsel zwischen der Realität (Don Quixote erwacht aus seiner Ohnmacht) und der folgenden Vision vom „Goldenen Zeitalter“ wird musikalisch dadurch angezeigt, dass aus dem viertönigen Tonvorrat d, gis, a, h ein Mal ein Streicherakkord über der Bassquinte d–a aufgebaut wird – interpretierbar als eine Akkord-Superposition mit ‚Bassgravitation‘ (2 Takte vor Ziffer 61)191 –, während der gleiche Tonvorrat zu Beginn des (reihengebundenen) „Andante affettuoso“ bei Ziffer 61 durch die veränderte Lage der Akkordtöne den ‚schwebenden‘ Klang h, d’, gis’, a’ konstituiert. Durch die veränderte Lage der Akkordtöne ergibt sich aus dem besagten Tonvorrat also ein reihengebundener Akkord, ein ‚Schwebeklang‘,192 der sich auf die Reihe P5 zurückführen lässt (h = 1/6, d = 2, a = 3, gis = 4/8). Weitere Reihentöne (ais = 5, fis = 7/10) werden durch einem Wechselakkord im Streichersatz ergänzt (T. 1 und 2 nach Ziffer 61). Es fehlen zur Komplettierung der Reihe noch die Reihentöne f = 9 und e = 11 von P5. Diese zu den Streicherakkorden komplementären Reihentöne finden sich als Tonschritt f’’–e’’ in der Klarinettenstimme, die zum „Andante affettuoso“ überleitet.193 Mit dieser Statuierung der phrygischen Sekunde, die in einen Reihenkontext eingebunden wird, ragt gewissermaßen der Aspekt des realen und leidenden Don Quixote in die phantastische Sphäre des visionären Don Quixote hinein. Die Semantik des Leidens wird dabei durch den vorhaltigen Charakter des Tonschritts (in Art einer Seufzerfigur) wie auch durch die Anweisung „morendo, ppp“ betont. Derartige melodische Statuierungen der abfallenden phrygischen Sekunde an Überleitungsmomenten können zeigen, dass diese in Gerhards Ballett als Nexus zwischen reihengebundenen und nicht-reihengebundenen Abschnitten fungieren konnte, als Nexus zwischen der besonderen Form von Tonalität in den Abschnitten der ‚realen‘ Sphäre und der mit Don Quixotes Realitätszugang verbundenen Zwölftontechnik. Demgegenüber wird im Folgenden allerdings auch zu sehen sein, wie stark jener Tonschritt im Ballett mit der Don Quixote-Reihe verbunden ist. Diese Verbin190 Es handelt sich hier nicht um den zusammen mit dem Priester auftretenden Barbier, d. h. einen ‚Widersacher‘ Don Quixotes. Darauf weist Gerhard in seinem Szenario erklärend hin. Vgl. Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 3. 191 Der Klang d, a, h, gis ließe sich in Kategorien einer Superposition als eine auf die I. Stufe von d-Moll (oder D-Dur) bezogene, verkürzte Doppeldominante auffassen. 192 Der Ton f’’ wird bei Ziffer 61 („Andante affettuoso“) über die erste Zählzeit übergehalten und erscheint so als Vorhalt auf der schweren Zeit. Der Ton e’’ figuriert als relative Dissonanzauflösung, wenn man anerkennt, dass sich dieser Ton e als der im ‚Schwebeklang‘ fehlende Grundton einer latenten E-Dur-Harmonie hören lässt. Gerhard trägt insofern Konsonanz-DissonanzAbstufungen in den reihengebundenen Satzkontext hinein. Der ‚Schwebeklang‘ des „Andante affettuoso“ deutet den modalen E-Mixolydisch-Satz der „Goldenen Zeitalter“-Vision bereits an, der seinerseits nicht reihengebunden ist. 193 Allerdings bleibt der Reihenton es = 12 ausgespart.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
dung ist derart eng, dass sich annehmen lässt, die Töne f und e (oder e und f) ließen sich gegenüber der Don Quixote-Reihe als eine weitere Stufe der Abstraktion von Don Quixotes Idee seiner selbst („idea viva“) auffassen, eine ‚Substanz der Substanz‘, die auf den Aspekt von Heroismus und damit verbundenem Leiden als dem Kernaspekt von Don Quixotes Idee und Realitätszugang verweist. Mit Blick auf den Bezug der Töne e und f auf die Don Quixote-Reihe ist erneut auf invariante Viertonsegmente mit den Bestandteilen e und f zurückzukommen. Es ist anzunehmen, dass das Vorfinden der Töne e und f als Invarianzen im serial field der Don Quixote-Reihe Gerhards Reihenwahl und -kombination angeleitet hat, insbesondere in den ‚Variationen‘ von Szene 5. Als Invarianzen vorhanden sind jene beiden Töne im Variationenabschnitt Ziffer 114–118 (Szene 5). Hier folgen einander sukzessiv die Reihen P4, I8, P11 und I3, die das invariante Segment d, es, e, f aufweisen.194 Die Invarianz kommt hier durch eine zwei Mal vorliegende Symmetrieachse (hier die Achse es/e bzw. a/b mit der sum of complementation 7) zustande. Zudem folgen die vorliegenden P/I-Paare einander im Intervall einer großen Terz aufwärts (d. h. im Transpositionsintervall +4), was im Fall der Don Quixote-Reihe (da der letzte Reihenton einer P-Reihe im Intervall einer großen Terz aufwärts über dem ersten Reihenton liegt) zur Folge hat, dass die Tonhöhe des letzten Reihentons einer Reihe (z. B. P4 d = 12) als die erste Tonhöhe der darauf folgenden Reihe (I8 d = 1) aufgegriffen wird.195 Damit ist ein die Reihen verkettendes Merkmal gegeben, das der linearen Anbindung der gewählten Reihen Folgerichtigkeit verleiht. Invariante Viertongruppe mit dem Tonschritt e–f als Nexus zwischen den vier Reihen bei Ziffer 114–118 (diese werden hier übereinander dargestellt, es handelt sich allerdings um vier einander sukzessiv folgende Reihen): P4
b
des
as
g
a
b
f
g
e
f
es
d
P11
f
as
es
d
e
f
c
d
h
c
b
a
I8 I3
d a
h
fis
e
h
f
c
es b
d a
g d
f
c
as es
g d
a e
b f
Mit Blick auf den Inhalt des Szenarios begleitet dieser Abschnitt kontrastierende Aspekte der locura, zum einen die Desillusion des seiner locura entsagenden Don Quixote (Ziffer 114–116),196 zum anderen wird die Quixotisierung Sanchos thema194 Gerhard nutzt hierbei eine strukturelle Eigenheit der Don Quixote-Reihe: Der Hex.1 und Hex.2 enthalten nämlich jeweils eine chromatische Viertongruppe als (transponierte) Inversion voneinander (die Reihentöne 3, 4, 5, 6 des Hex.1 einer Reihe sind eine Inversion der Reihentöne 9, 10, 11, 12 des Hex.2). Damit ist ein genereller motivischer Bezugsreichtum zwischen den Pund I-Reihen gegeben. Jene Viertongruppe bringt zahlreiche invariante Tongruppen zwischen P und I hervor, dies sind Segmente der Reihe, die nicht motivisch, sondern über einen identischen Tongehalt verbunden sind und also die gleichen vier Töne in unterschiedlicher Reihenfolge aufweisen. 195 Im Übergang zwischen I8 und P11 liegt zwar keine solche Verbindung vor, jedoch wird mit dem Anfangston f der Reihe P11 der Schlusston der nicht-reihengebundenen Horn-Solostimme aufgenommen (vgl. ein Takt vor Ziffer 116). 196 Hier weist das Szenario ein Auftreten phantastisch-irrealer Figuren an, die um Don Quixote
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
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tisiert (Ziffer 116–118) – der heroische Aspekt des auf Sancho übergegangenen Rittertum-Ideals bzw. -Wahns: Sancho greift die ‚Widersacher‘ der realen Sphäre an (Priester, Barbier und die Cuadrilleros) und wird dabei unterstützt von den Rittern Amadís, Palmerin und Orlando aus der phantastischen Sphäre.197 Kennzeichnend für die kämpferische Übernahme der locura durch Sancho sind musikalische Elemente wie die Steigerung der Dynamik und der Einwurf der Militärtrommel (Kleine Trommel) zu den Abschnittenden bei Ziffer 116 und 118.198 Als weiteres Element ‚kämpferischen‘ Charakters stellt sich das zum „Agitato“ bei Ziffer 118 überleitende ‚heroische‘ Motiv der aufsteigenden zweifachen Quarte dar (ein Takt vor Ziffer 118)199 sowie die Tatsache, dass Gerhard seine vier Reihen so gewählt hat, dass die letzten drei gut durchhörbar erklingenden Reihentöne (das Dreitonsegment d’’’–e’’’–f’’’ im f) den phrygischen Sekundschritt als aufsteigenden enthalten (T. 1/2 nach Ziffer 117, Piccoloflöte/Klavier 1). Die phrygische Sekunde als Element der Don Quixote-Reihe und aufwärts geführter Tonschritt e–f (wie er dem invarianten Viertonsegment der gewählten Reihen eigen ist), kann hier weniger auf Leiden und Trauer, sondern vorrangig auf den heroischen Aspekt der locura verweisen. trauern: „[Ziffer] 114 Trauernde Witwen, Jungfrauen und Waisen (in schwarz) tanzen teilnehmend vor dem Käfig.“ Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [=Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 6. Für den hier vorherrschenden Ton der Trauer und den Aspekt eines sich von seiner locura loslösenden Don Quixote kann bei Ziffer 114–116 die gut durchhörbare, absteigende Linie des ungedämpften Solo-Horns stehen, welche die in leiser Grunddynamik (p und pp) erklingenden Reihen kontrapunktiert. Die nicht-reihengebundenen, sequenzierten viertönigen Skalenausschnitte einer absteigenden Des-Dur-Skala mit vereinzelt alterierten Skalenstufen in der Solo-Hornstimme stellen eine harmonisch relativ autonome Gegenschicht zu den erklingenden Reihen dar. 197 „[Ziffer] 116 Priester und Barbier, rückwärts schreitend, fliehen unter Deckung der kämpfenden Cuadrilleros vor Sancho (mit Schwert und Schield[sic])[,] der an der Spitze der Ritter Amadís, Palmerin und Orlando angreift. D.Q. sieht in höchster Spannung zu… [Ziffer] 117 tobt gegen die Gitter des Käfigs; vier Takte vor [Ziffer] 118 gibt auf, zusammenbrechend, das Gesicht in die Hände gegraben; so verbleibt er regungslos […].“ Ebd. 198 Im vorwiegend daktylischen Rhythmus der Militärtrommel klingt der seguidilla- bzw. sevillanaartige, spanische Tanzrhythmus aus dem Abschnitt „Sancho Panza“ aus Szene 1 (Ziffer 9–14 samt Interlude I) an (siehe Kapitel III.2.1). Es ist wahrscheinlich, dass Gerhard mit dem quixotischen Heroismus, der hier auf Sancho übergeht, zugleich die nationale Referenzebene des ‚authentischen‘ Spanien bzw. der spanischen Kollektivseele (der ‚intrahistoria‘ Unamunos) mitdachte (siehe Kapitel II.4.1). Bezeichnend dafür ist auch, dass anstelle der Militärtrommel und des Beckentremolos, das zu der Schlusssteigerung des Abschnitts bei Ziffer 116–118 erklingt (T. 2/3 nach Ziffer 117) in Gerhards früher entstandenem Partiturautograph der Sinfonischen Suite von 1947 (CUL 3.4) an der entsprechenden Stelle ein daktylischer Rhythmus mit Kastagnetten erklingt. Die Kastagnetten konnten die Referenz auf Spanien an dieser Stelle sogar noch deutlicher hervortreten lassen. 199 Zum ‚heroischen‘ Quartmotiv siehe auch Kapitel III.2.1. Dieser Takt mit dem Quartmotiv fehlt an der entsprechenden Stelle der Partitur von 1940/41 (CUL 4.9), d. h. von Ballett I. Gerhard fügte ihn also für die späte Ballettfassung hinzu.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Auch im folgenden Variationenabschnitt, dem „Agitato“-Satz (T. 1–4 nach Ziffer 118),200 sind die vier zugrunde liegenden Reihen P6, I3, P5, I4 so gewählt, dass ihr jeweils letzter Reihen-Tetrachord die Töne e und f enthält. Da die Tongehalte der drei Reihen-Tetrachorde hier vertikal, als einander folgende Akkorde, eingesetzt werden, erklingen in jedem dritten Akkord des Satzes jene beiden Töne (auf der letzten Zählzeit von T. 4 nach Ziffer 118 beispielsweise in den Außenstimmen des Streicher- und Holzbläsersatzes). Die Töne e und f als invariante Elemente im jeweils letzten Reihen-Tetrachord der einander folgenden Reihen, T. 1–4 nach Ziffer 118, „Agitato“ (die vier Reihen werden hier untereinander dargestellt, folgen einander aber sukzessive): Reihen-Tetrachord/Akkord
a)
P6
c
b)
c)
Reihentöne
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
I3
a
fis
h
c
b
a
d
c
es
d
e
f
P5
h
I4
b
es d g
b a c
a
gis cis
h b h
c
g
h
fis
b
es
a
gis cis
fis f
e
g
fis es
f
e f
e
es
fis
In Kapitel I.4.1 wurde bereits auf die planvolle Kombination dieser vier Reihenformen hinsichtlich der Kategorie eines sich im Verlauf des Satzes realisierenden Ausgleichs von Tonhöhenkonzentrationen und auf die dem Satz (zweifach) zugrunde liegende Symmetrieachse aufmerksam gemacht; es handelt sich nicht zufällig um die Achse e/f (oder b/h). Symmetriefeld um die Achse e/f (oder b/h) mit der sum of complementation 9: f
e
fis es
g d
gis cis
a c
b h
Auch wenn die Tonpaare (dyads) die sich durch die Symmetrieachse ergeben, hier nicht simultan erklingen (wie es der Fall wäre, wenn die Reihen linear übereinander geschichtet worden wären), so werden die einander folgenden Tongehalte der Zusammenklänge dennoch indirekt durch jene Symmetrieachse geregelt, denn diese bringt tongehaltliche Invarianzen hervor, neben den invarianten Tönen e und f im jeweils dritten Reihen-Tetrachord auch die invarianten Quinten/Quarten (es–b, fis– h, d–a, g–c) an den Stellen 2/3 und 6/7 im ersten und zweiten Tetrachord. Die Töne e und f sind derart nicht nur explizit und substanziell vorhanden,201 sondern auch implizit als Achse wirksam, und damit als Bezugsordnung für die verwendeten Rei200 Zur Reihendisposition in diesem Satz siehe auch Kapitel I.4.1 und III.3.2. 201 Bemerkenswert ist auch, dass Gerhard bei seiner Aufteilung der Reihentöne von I3 zum Ende des „Agitato“ (T. 7/8 nach Ziffer 118) die Achsentöne b, h und e, f vorwiegend in die Bassstimme des Satzes verlegt (siehe Reihentöne h = 3, b = 5, e = 11 in Kb. und f = 12 in Vla.). Diese Achsentöne können als tongehaltliches ‚Kondensat‘ der oben genannten, vorausgehenden Reihenkombination bei Ziffer 118 gelten.
III.4 Don Quixotes Leiden, Tod und seine ‚Auferstehung‘ als eine Idee
319
hen. Eingebunden in eine symmetrische Ordnung haben die Reihen gewissermaßen Teil an einer übergeordneten, und insofern ‚höheren‘ Ordnung von Tonbezügen und erschließen diese ausgehend vom perspektivischen Standpunkt der Don QuixoteReihe. (Insofern wäre die Vorstellung einer zur Herstellung von Tonbezügen ‚gesetzgebenden‘ Reihe unzutreffend; die Reihe ist hier tatsächlich ein Hilfsmittel, um präexistierende Tonbezüge aufzufinden.) Auch wenn Gerhard die lückenlose Gewinnung der Zusammenklänge durch ein Symmetriefeld formal und inhaltlich bedeutsamen Momenten vorbehält,202 so gibt es doch Anhaltspunkte dafür, dass insbesondere die Achse e/f mit der sum of complementation 9 auch für die Kombination oder Wahl einzelner Reihen von Bedeutung war, insbesondere als Kombination P2/I7. Bei Don Quixotes Angriff auf den wandernden Dorfbarbier erklingt signalartig die Quinte des’–as’ (Ziffer 55, Oboe/Klarinette), ein Tonpaar aus dem Symmetriefeld um die Achse e/f, und nimmt damit die Anfangstöne der nachfolgend kombinierten Reihenhexachorde von P2/I7 (Hex.1, Horn/Posaune) vorweg. Im Szenario fällt diese Stelle mit Don Quixotes wahnhafter Umdeutung des Rasiertellers zum magischen Helm zusammen, d. h. mit der Aktivierung seines heroischen Wahns: „[Ziffer] 55 D. Q. öffnet die Augen, ist masslos erstaunt beim Anblick des Rasiertellers, der [sic] er für den magischen Helm des Mambrino hält. Er fordert den Dorfbarbier zum Zweikampf auf, richtet sich auf, zieht den Degen. […].“203
Diese beiden genannten Reihen werden nachfolgend einzeln und fragmentarisch zitiert, und dies an Stellen, die inhaltlich mit Don Quixotes Misserfolgen zusammenfallen. So erscheint ein Anklang an I7 (1–3) (Ziffer 59, Violine), nachdem Don Quixote ohnmächtig geworden ist. Innerhalb der Episode „The galley slaves“ erklingt der Reihenvordersatz von P2 (4 Takte nach Ziffer 74, Horn) zu Don Quixotes Ansprache an die von ihm befreiten Sträflinge, die ihn verhöhnen werden, und zum Schluss des Interlude III (im Anschluss an Szene 3) erklingt – wie eine Vorahnung der größten Niederlage, die Don Quixote in Szene 4 erwartet – nochmals eine Allusion an P2 (1–3) (4 Takte vor Ziffer 83, Horn/Klavier 1). Besonders bedeutsam ist das bereits oben genannte letzte Erscheinen jener Kombination P2/I7 bei Don Quixotes Tod. Mit Blick auf die Geschehnisse, die diese Reihenformen in Szene 3 begleiteten,204 scheint jene Reihenkombination in besonderer Weise mit Don Quixotes Leiden und Scheitern als der Kehrseite seines Heroismus verbunden zu sein. Es war zu sehen, dass die Töne e und f, eingesetzt als Invarianz oder Symmetrieachse, den tongehaltlichen Aspekt der Reihenkombinationen betonen und als ‚Substanz der Substanz‘ den Heroismus und das Leiden Don Quixotes repräsentieren konnten. Als herausgehobener Tongehalt in Reihenkombinationen (Tonhöhen202 Siehe Kapitel III.3.3 und III.5.1. 203 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 3. 204 Die besondere Bedeutung der Quinte/Quarte cis–gis (des–as) in Szene 3 zeigt sich auch in demjenigen Abschnitt, in dem Don Quixotes Angriff auf die Windmühlen vertont wird (Ziffer 53–54). In dieser Episode, die bekanntlich mit einem Sturz, d. h. einer Niederlage Don Quixotes endet, bilden jene beiden Töne nicht nur die Basstöne des Ostinatos (Pos./Klav.2/Kb.), sondern auch die konstanten Gerüsttöne der marschartigen, punktierten Figuren (Hzbl./Trp./ Tba.).
320
III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
konzentration) konnten jene Töne allerdings auch einen Nexus zur realen Sphäre bilden, die durch spanische Volkslied- oder Volkstanzvorlagen gekennzeichnet ist. Auch in jener spanisch-realen Sphäre tauchen jene Töne e und f auf und lassen die Annahme zu, dass sich jener quixotische Heroismus auch in der durch das spanische pueblo verkörperten Kollektivseele latent finden lässt. So schafft Gerhard zwischen beiden Realitätsaspekten, der ‚konkreten‘, spanischen Realität und der ‚höheren Realität‘ Don Quixotes einen Nexus, der nicht motivischer oder submotivischer, sondern tongehaltlicher Art ist. III.5. DON QUIXOTES REDE VOM GOLDENEN ZEITALTER: DER PASTORAL-TOPOS UND DIE UTOPIE EINER UNMITTELBAREN ‚SCHAU‘ VON TONALITÄT In der Szene 3 des Ballett II stellt die „Golden Age“- gemeinsam mit der Barbierschüssel-Episode eine von zwei kürzeren Episoden dar, die von zwei längeren Episoden, der Windmühlen-Episode und der Galeerensklaven-Befreiung, umrahmt werden (kurz beinhaltet Szene 3: Windmühlen – Begegnung mit dem reisenden Barbier – Rede über das Goldene Zeitalter an die Ziegenhirten – Galeerensklaven). Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter (aus DQ I/11) wird im Ballett II dargestellt als „a lyrical pas de deux representing a tale told by the Don to some goatherds, about a ‚Golden Age‘ shepherd and shepherdess.“205 Der pas de deux des Schäferpaars fasst dabei das Thema einer arkadischen Idylle in einem Bild zusammen und steht so für den Inhalt von Don Quixotes Rede ein. In Kapitel II.4.3 wurde bereits ausführlich darauf eingegangen, dass der Inhalt jener Rede vor dem Hintergrund von Unamunos dreistufigem Geschichtsbild auf ein ‚Zeitalter des Geistigen‘ („edad del espíritu“206) verweist, welches zugleich auch als ein wiederzuerlangender Naturzustand vorgestellt wird. Unamunos Behauptung, dass jene utopische Rede Don Quixotes von einfachen Rezipienten, nämlich den Ziegenhirten, verstanden werden konnte, wird vor diesem Hintergrund plausibel, denn die Ziegenhirten werden dem Typus der naturales – und damit dem ursprünglichen Naturzustand – zugeordnet, und Unamuno geht von einer Empfänglichkeit jener naturales für das Vorbild des espiritual aus, wie es Don Quixote verkörpert, und welches zu jenem letzten Geschichtsstadium korrespondiert. Zur Vertonung der Rede vom Goldenen Zeitalter greift Gerhard auf die musikalische Tradition des Pastoral-Topos zu. Er gestaltet die Episode wie einen Siciliano-Tanz in wiegenden, ternären Taktarten. Der Tanz stellt sich als ein geschlossenes Stück innerhalb der Ballettkomposition dar und weist die typisch statische Gestalt barocker Tanzformen auf: Das „Adagietto“ (A Ziffer 62, 63 und A’ Ziffer 66) umrahmt eine kurze Kanon-Episode, in der aus dem Material des viertaktigen „Adagietto“-Themas ein fünf Takte langer kleiner Kanon abgeleitet wird (Ziffer 64) und schließlich eine Rückleitung (Ziffer 65) zum „Adagietto“-Thema (A’) erfolgt. 205 Roberto Gerhard, ‚Don Quixote‘: a synopsis, S. 99. 206 Siehe Anm. 341, Kapitel II.4.3.
III.5. Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter
321
Dabei zeigt Teil A seinerseits eine Bogenform auf: dem viertaktigen Thema a folgt ein siebentaktiger Mittelteil b und die kaum variierte Rückkehr von a. Zu jener Musik des „Adagietto“ tanzt das Schäferpaar – Gerhard spricht ausdrücklich von: „ARCADISCHE SCHÄFER und SCHÄFERIN“207 – den erwähnten pas de deux. Mit dem „Adagietto“ bietet Gerhard ein in Musik gesetztes Arkadien, eine höchst ideelle Sphäre. Das „Adagietto“-Thema, eine viertaktige, tonal ‚öffnende‘ (nämlich auf der VI. Stufe endende) Melodie im lydischen Modus, die in jedem der drei Teile von A (a b a’) in einem jeweils anderen Soloinstrument wiederkehrt, wird von einem Ostinato begleitet, das um den nahezu konstant wiederholten Basston E/e kreist. Charakteristisch für die traumartige, irreale Stimmung der musikalischen Szenerie ist die durchweg leise Grunddynamik sowohl der begleitenden wie auch der Solo-Stimmen (im Bereich zwischen pp und mp). Trotz der vermeintlichen Schlichtheit, die durch die beschriebene Satzstruktur einer von einem Ostinato begleiteten Melodie suggeriert werden kann (und die durch das Pastoralthema gewissermaßen vorgegeben wird), ermöglicht die linear konzipierte Satzweise Gerhard im „Adagietto“, weit voneinander entfernte Tonarten simultan zusammenklingen zu lassen (wie zu sehen sein wird, insbesondere im Mittelteil b), und damit eine harmonische Komplexität des Satzes. Der Satz erweist sich derart nicht nur als primitiv – etwa aus Sicht des funktionsharmonischen Systems, denn die ostinate Wiederholung des Basstons e könnte gegenüber dem Wirksamwerden einer Tonika e als primitiv gelten –, sondern zugleich auch als komplex. Es lässt sich vorausschicken, dass funktionsharmonische Kategorien der Harmonik des Satzes nicht gerecht werden und die Fremdheit des Satzes gegenüber dem tonalen System kann – passend zur Folie Unamunos (siehe Kapitel II.4.3) – auf die Ignoranz der naturales bzw. der Ziegenhirten im Cervantesroman hinsichtlich intellektueller Reflexion und systematischem Wissen verweisen. Und während die vordergründige Schlichtheit des Satzes an die von Unamuno beschriebene Naturnähe der naturales gemahnt, lässt sich mit Blick auf die im Satz angesteuerte harmonische Distanz daran denken, dass es sich bei Unamunos naturales nicht nur um schlichte Gemüter handelt, sondern die naturales bei Unamuno über eine unbewusste Geistigkeit (‚espiritualidad‘) verfügen und daher mit der gleichen ‚höheren Realität‘ von ‚Leben‘ in Kontakt stehen, die Don Quixote als espiritual in seinen Visionen zu sehen vermag. Der a-Teil des „Adagietto“ gibt sich als linear konzipierte Schichtung von Modi, d. h. auch unterschiedlicher Tonvorräte, zu erkennen. Wie bereits erwähnt, konstituiert der geschlossene Tonvorrat von E-Lydisch (e, fis, gis, ais, h, cis, dis) die Oberstimmenschicht des „Adagietto“-Themas von Teil a (Violine 1 und 2, Takt 1–4 nach Ziffer 62). Die übereinander geschichteten Ostinati von Viola, Kontrabass (e, c, cis, d) und Violoncello (h, a, gis, fis) weisen ihrerseits geschlossene Tonvorräte auf, die einander nicht überlappen und sich teilweise zum Tonvorrat E-Lydisch der Oberstimmenschicht zusammensetzen lassen,208 zugleich jedoch drei zusätzliche, diesem Modus ‚fremde‘ Töne (c, d und a) einbringen und auf die das Lydisch kenn207 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 4. 208 Insofern erscheinen die Begleitstimmen bzw. die Vertikale von der Horizontale, vom Tonfundus der Melodie, abgeleitet. Hier lässt sich das bei Gerhard häufig zu findende Verfahren erkennen, aus dem Skalenmaterial der Melodie auch den Tonvorrat der vertikalen Satzdimension zu
322
III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
zeichnenden Töne ais und dis verzichten. Trotz des resultierenden, tonreichen, insgesamt nämlich zehntönigen Tonfundus’ des a-Teils (zur Zwölftönigkeit fehlen lediglich die beiden Töne f und g) ist eindeutig ein Grundtonbezug auf e zu sehen. Dies bietet sich nicht nur aufgrund der Tonvorräte an, sondern auch, da die zwei Ostinato-Linien auf der ersten Zählzeit stets eine Bordun-Quinte (auf den Tönen gr. E/kl. e/kl. h) bilden. Im Mittelteil b wird ein offensichtlicher tonartlicher Kontrast eingeführt, der bereits beim ersten Blick auf das Notenbild sichtbar wird: Das Violoncello-Solo und die es kontrapunktierenden, tonal-modalen Schichten steuern einen zum ELydisch des Rahmenteils weit entfernten b -Tonartenbereich an. So wird die SoloMelodie im Violoncello als reale Transposition des „Adagietto“-Themas auf die Tonart Ges-Lydisch erkennbar, auch wenn diese erst im zweiten Takt jenes Violoncello-Solos (T. 6 nach Ziffer 62) eindeutig erkennbar wird, nämlich ab den Melodietönen fis’, fis’, f’, die – gemäß des Ges-Lydisch der nachfolgenden Melodietakte – enharmonisch zu ges’, ges’, f’ zu verwechseln wären.209 Jene ersten zwei Takte des Melodie-Solos sind mit ihrem Überlappen der Kreuztonarten-Notation in den neuen b-Tonartenbereich kennzeichnend für den kaum merkbaren Übergang von E-Lydisch zum tonartlich entfernten Ges-Lydisch.210 Als ‚tonartlich entfernte‘ werden diese beiden Modi dabei erst vor dem Hintergrund eines zugrunde gelegten Quintenzirkels erkennbar: Zehn Quintstufen abwärts des Quintenzirkels werden hier ohne Modulation, sondern lediglich durch eine Alterierung von Melodietönen und durch enharmonische Umdeutung überbrückt. Gerhards Notation, die enharmonische Unterschiede sorgfältig berücksichtigt, zeigt hier, dass seinem Gebrauch der Modi offensichtlich der Gedanke eines als Quintenzirkel strukturierten Tonraums zugrunde lag. Dies wirft die Frage auf, inwiefern mit der offensichtlichen Relevanz des Quintenzirkels auch das quintenzirkelbasierte tonale System von Relevanz war. Doch lässt sich beides durchaus trennen: Auch wenn Gerhard seinem Satz einen als Quintenzirkel strukturierten Tonraum zugrunde legte, ist zugleich zu sehen, dass er mit den zwei weit voneinander entfernten Tonartenbereichen (E-Lydisch wäre tonal als Tonfundus von H-Dur deutbar, Ges-Lydisch als Tonfundus von Des-Dur) die Bindung an eine einzelne Tonart (E-Lydisch) an ihre äußersten Grenzen bringt und stattdessen auf die Integration sowohl der E- wie auch der GesTonart in ein und denselben zugrundeliegenden Tonraum verweist. Die tonartlich weite Entfernung des Ges-Lydisch zur E-Ausgangstonart ist nicht nur mit dem Wechsel zwischen zwei Formteilen (Rahmenteil und Mittelteil) gewinnen. Siehe dazu auch das Beispiel der „Chacona de la venta“ von Szene 2 (siehe Anm. 92, Kapitel III.2.2.). 209 Setzte das Violoncello-Solo in Ges-Lydisch ein, dann müssten diese ersten beiden Melodietakte des Solos regulär lauten: b, ges, ges, as/ b ges’, ges’, f’. Sie lauten aber h, gis, gis, ais/ h, fis’, fis’, f’ und lassen sich derart entweder noch als (in den b-Teil überlappende) Stufen von E-Lydisch auffassen, oder bereits als Alterationen der entsprechenden Skalenstufen von Ges-Lydisch, mit denen zugleich noch die Kreuztonarten-Notation des Rahmenteils in den Mittelteil hinein überlappt. 210 Der E-Lydisch-Modus wäre ins Dur-Moll-tonale System übersetzbar als H-Dur, der Ges-Lydisch-Modus als Des-Dur. Diese beiden Dur-Tonarten wären im Quintenzirkel zehn Quintschritte voneinander getrennt, es handelt sich also um voneinander entfernte Tonarten.
III.5. Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter
a-Teil
a-Teil
b-Teil
„Adagietto“ (Szene 3/ Ziffer 62) zu Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter:
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
verbunden, sie wird auch innerhalb des Mittelteils als tonale Spannung der polyphonen Schichten wirksam. Denn der zur Ausgangstonart entfernte b -Tonartenbereich – bestehend aus dem Ges-Lydisch des Solo-Violoncellos, aus einer tonalen Sequenz aufgefalteter Quartsextakkorde in Des-Dur (Violinen 1 und 2), und aus den Stimmen der zwei Holzbläser, die sogar noch an quinttiefere b -Tonartenbereiche des Quintenzirkels rühren und die Töne fes (T. 5 nach Ziffer 62) und ces (T. 7 nach Ziffer 62) einbringen – erklingt hier simultan zum ostinaten Basston E/e, einem Element des Rahmenteils, das im Mittelteil unverändert fortgesetzt wird. Jener beibehaltene Basston e macht die tonartliche Distanz der darüber erklingenden b -Tonarten als Dissonanz hörbar, denn als Basston stellt sich jenes e als tonartlich integrierender Punkt (quasi potenzieller Grundton) dar, der mit den Tonartenbereichen um Ges-Lydisch und Des-Dur den Horizont nahezu des gesamten Quintenzirkels in sich integriert. Mit den polytonal über dem Ostinato erklingenden Stimmschichten wird die E-Tonart als tonartlich integrierender Punkt allerdings auch nahezu aufgehoben. Indem Gerhard auf eine Distanz im Tonraum verweist, deutet er zugleich auf dessen Endlichkeit, und es lässt sich spekulieren, dass Gerhard hier eine ‚Schau‘ der Natur des Tons suggerierte, des geschlossenen und präexistenten Tonbezugsraums, von dem auch angenommen werden konnte, dass er dem serial field der Don Quixote-Reihe zugrunde lag. Die große tonartliche Entfernung zwischen der Ausgangstonart des „Adagietto“ E-Lydisch und dem Bereich ‚tiefer‘ b -Tonarten im „Adagietto“-Mittelteil ist vor dem Hintergrund einer tonalen Sichtweise auf den Satz offensichtlich (und wird im dissonanten Kontrapunkt der tonal autonomen Schichten wie auch in Gerhards tonartlich gebundener Notationspraxis wahrnehmbar). Betrachtete man den Satz allerdings vor dem Hintergrund eines abstrakteren Denkens in sets (und das hieße auch: von enharmonischen Unterschieden abstrahierend und eine Äquidistanz der zwölf Töne voraussetzend), dann würde hingegen deutlich, dass die Modi E- und GesLydisch ihrem Tonvorrat nach so unterschiedlich gar nicht sind; sie weisen nämlich fünf gemeinsame Töne auf (fis, gis, ais, cis, dis bzw. ges, as, b, des, es).211 Damit erschiene es schwierig, den ‚tonalen‘ Kontrast zwischen den Tonvorräten von Eund Ges-Lydisch, der vor dem Hintergrund des Dur-Moll-tonalen Systems so offensichtlich ist, zu erklären, denn von verwandten Tonvorräten, die eine hohe Anzahl gemeinsamer Töne aufweisen, wäre anzunehmen, dass sie auch verwandte (und nicht kontrastierende) Funktionen erfüllen. Dennoch ist auch jener abstrakte Blick auf den Satz ergiebig. Gerhard behandelte den E- und den Ges-Lydisch-Tonvorrat offensichtlich im Sinne eines set und eines kontrastierenden Gegen-set. Dies führt zu der Vermutung, dass der Kontrast zwischen E- und Ges-Lydisch – der trotz fünf gemeinsamer Töne zustande kommt – vorrangig auf den zwei den jeweiligen Diatoniken exklusiven Töne basieren muss, diese beiden exklusiven Töne also 211 Zwei Töne sind in jeder der beiden Diatoniken jeweils exklusiv enthalten, und drei Töne (g, a und d) fehlen beiden Diatoniken, können also als deren gemeinsames Komplement gelten. Von diesem Komplement wird der Ton g weitgehend ausgespart (eingebracht wird er an einer einzigen Stelle, nämlich in der Basstimme bei Ziffer 63 in Vla. und Kb.), hingegen erscheinen die beiden weiteren komplementären Töne a und d vereinzelt sowohl im Kontext des E- wie auch des Ges-Lydisch (insbesondere in der Ostinatoschicht).
III.5. Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter
325
quasi in besonderem Maße identitätsstiftend für die jeweilige Diatonik sind. Diese Vermutung lässt sich bestätigen, denn in den Rahmenteilen lässt sich sehen, dass e und h als exklusiven, identitätsstiftenden Tönen von E-Lydisch eine prominente Stellung im Satz eingeräumt wird: Sie sind Basston bzw. Grundton des „Adagietto“Themas und Bordunquinte. Dagegen werden die dem Gegen-set exklusiven Töne f und c innerhalb des E-Lydisch-Teils marginalisiert. Umgekehrt kommt den für GesLydisch identitätsstiftenden Tönen f und c innerhalb der Stimmen des Mittelteils eine relativ herausgehobene Stellung zu, und dem Ton h eine marginale. Es widerspricht allerdings dieser Logik, dass der Ton e im Ges-Lydisch-Kontext nicht marginal ist, da dieser im Rahmen des Bassostinatos auf jeder ersten Zählzeit erklingt. Als Argument für die Relevanz des set-Ansatzes wäre weiter anzuführen, dass die Komplemente beider Diatoniken (Komplement zu E-Lydisch: f, g, a, c, d und Komplement zu Ges-Lydisch: g, a, h, d, e) in denjenigen beiden Takten bedeutsam werden, die zum Rahmenteil bzw. E-Lydisch zurückleiten (T. 1/2 nach Ziffer 63). Insbesondere das Vorhandensein der Komplemente zu E-Lydisch würde nach der Logik, nach der komplementären Tonvorräten eine ‚Folgerichtigkeit‘ eigen ist (siehe Kapitel I.4.1), geeignet sein, eine überleitende formale Funktion jener beiden Takte in ‚tonaler‘ (im Sinne von tongehaltlicher) Hinsicht zu unterstützen. Auch wenn Gerhards sorgfältige Notation enharmonischer Unterschiede der mit dem Denken in sets einhergehenden Prämisse der Äquidistanz der zwölf Töne widerspricht, so erscheint die tongehaltliche Perspektive des set-Denkens im vorliegenden Beispiel dennoch angebracht zu sein. Das Denken in sets lässt sich als ein proto-serielles auffassen und stellt eine Verbindung zur zwölftontechnischen Arbeit mit der Don Quixote-Reihe her. Ohnehin ließe sich nach der Reihenbindung des „Adagiettos“ fragen, denn da es sich bei dem pas de deux des Schäferpaars um eine Vision Don Quixotes handelt, ließe sich eine Reihenbindung des Satzes erwarten. Diese liegt nicht vor, doch ist der Satz des vorausgehenden „Andante affettuoso“ (Ziffer 61) an die Reihe gebunden,212 und insofern die Oberstimme des „Andante affettuoso“ die Melodik des folgenden Schäfertanz-„Adagiettos“ andeutend vorausnimmt, besteht ein Gefüge zwischen jenem arkadischen Tanz und der Reihe: Der erste Takt des „Adagiettos“ (als gesamter Takt betrachtet) enthält die Töne des ersten Tetrachords von I5: gis, h*, cis, d* sowie des ersten Tetrachords von P5: gis*, a, h*, d (mit * gekennzeichnet sind dabei gedoppelte Reihentöne), und damit der Reihen aus dem „Andante affettuoso“. Von den weiteren Tönen (e, c, fis) gehören 212 Die Don Quixote-Reihe wurde hier in Tetrachorde segmentiert und als Folge vierstimmiger Akkorde verwendet. Es handelt sich um die ersten beiden Tetrachorde der Reihe P5 (T. 1/2 nach Ziffer 61, es fehlen darin die Töne 9 = f, 11 = e, 12 = es, von welchen der Tonschritt f–e in der überleitenden Klarinettenoberstimme ergänzt wird). Diese Reihe wird von dem Tonfundus von I5 abgelöst (T. 3 nach Ziffer 61, alle drei Tetrachorde sind darin vollständig). Bei T. 4/5 nach Ziffer 61 kehrt der Tonfundus der zwei ersten Tetrachorde von P5 wieder. Bei dieser Wiederkehr von P5 sind die Tetrachord-Töne allerdings anders permutiert als in T. 1/2 nach Ziffer 61, sodass sich in der Oberstimme des Satzes andere Töne finden. Mit diesen beiden Reihen P5/I5 (mit der sum of complementation 10, d. h. dem Achsenton f) wird, da diese in Bezug auf ihren Tongehalt den geringsten möglichen Verwandtschaftsgrad von sechs gemeinsamen Tönen aufweisen, der gesamte zwölftönige Fundus abgedeckt, wobei lediglich der Ton es/dis bis zum „Adagietto“ ausgespart bleibt.
326
III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
die Töne e und fis den jeweils letzten Reihenhälften der beiden Reihen (als darin jeweils gedoppelte Reihentöne) an. Der Tonvorrat wird also durch die Reihen bei Ziffer 61 gewissermaßen vorbereitet, im „Adagietto“ jedoch von jeglicher Bindung an eine consecutive order der Töne losgelöst. Mit Blick auf das „Adagietto“ lässt sich behaupten, dass der Verzicht auf die Reihe und das Denken in sets und ihren Komplementen, das auch Gerhards kombinatorische Arbeit mit der Don Quixote-Reihe auszeichnet, die Möglichkeit einer unmittelbaren Schau des Tonraums suggerieren konnte. Ebenso wie sich eine Vision als unmittelbare, intuitive Schau ‚höherer Realität‘ darstellt,213 und insofern als ein von Begriffen und Methoden unabhängiges Erschließen von Realität, lässt sich der Verzicht auf das tonale System wie auch das Hilfsmittel der Reihe im vorliegenden Beispiel des „Adagiettos“ als motiviert durch den Wunsch eines möglichst unmittelbaren Kontakts mit dem Tonraum, der Natur des Tons, auffassen. Und wie könnte jene Natur – jener präexistente, endliche Tonraum – besser verbildlicht werden, als in der arkadischen Idylle eines Schäferpaars; und wer könnte besser dazu prädestiniert sein, jene Vision von Natur zu verstehen, als die Ziegenhirten in Gerhards Ballett? Für Unamuno stellen die Ziegenhirten den bestmöglichen ‚Resonanzraum‘ für Don Quixotes Utopie vom Goldenen Zeitalter dar. Sie sind dazu prädestiniert Don Quixotes Erfahrung der reinen Innenschau zu teilen. Weil der Kollektivmensch des pueblo aus Unamunos Sicht im Gleichklang mit seinem Umfeld (mit Natur) lebt und gewissermaßen kein davon getrenntes, individuelles Innen hat, das sich der Natur (im Sinne einer Subjekt-Objekt-Dualität) entgegensetzen ließe, entfremdet er sich von jenem Außen nicht – anders als dies beim intelectual der Fall ist. Das Bewusstsein der naturales oder pueblo-Menschen stellt sich so als ein besonders reines und zugleich realitätsnahes dar. So spricht Unamuno von der ‚Stille im Inneren‘, welche die Ziegenhirten zum Lauschen einer Rede ideellen, utopischen Inhalts prädestiniert: „Lo mejor es tener por oyentes a cabreros, hechos y acostumbrados a oir las voces de los campos y de los montes. Los otros os saldrán con que no os entienden o entenderán a tuertas
213 Zur Frage wie sich eine Vision (eine mystische Erfahrung) als Erkenntnis- oder Erfahrungsform fassen lässt, bemerkt William James, die „Nichtmitteilbarkeit der Entrückung“ sei der Schlüsselbegriff aller Mystik. […] Es ist ein Gemeinplatz der Metaphysik, daß die Gotteserkenntnis nicht diskursiv sein kann, sondern intuitiv sein muß, d. h. mehr nach dem Muster der sogenannten unmittelbaren Gefühle konstruiert sein muß als nach dem von Aussage und Urteil. Aber unsere unmittelbaren Gefühle enthalten nur das, was ihnen die fünf Sinne zur Verfügung stellen; und wir haben gesehen […], daß Mystiker emphatisch bestreiten können, daß bei der höchsten Erkenntnisform, die ihnen die Entrückung gewährt, die Sinne irgendeine Rolle spielen.“ (William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt a. M. 1997, S. 404.) James’ beschreibende Darstellung lässt diesen Widerspruch der Ansichten unaufgelöst. Es liegt nahe, dass die mystische Erfahrung trotz der von James angenommenen anscheinenden Nähe zur Sinneserfahrung auch mit dieser Erkenntnissorte nicht vergleichbar ist. Wichtig ist in unserem Kontext, dass es sich um eine nicht-diskursive Erkenntnisform handelt sowie der immaterielle und unmittelbare Charakter einer Vision (der es geradezu nahelegt, eine solche im Medium von Musik oder Tanz darzustellen).
III.5. Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter
327
lo que les digáis, porque no reciben vuestras palabras en silencio interior ni en atención virgen […].“214
So wie die Idee für Unamuno ein Vermittlungs-Medium im Dienst der RealitätsAneignung ist, das mangels eines unmittelbaren Zugangs zur ganzen Realität gebraucht wird, und auf das Unamuno am liebsten verzichten würde, so birgt die Reihe für Gerhard das latente Risiko, den Blick in den Tonraum zu verstellen, nämlich einer kompletten oder weitgehenden Determinierung der Bezüge zwischen den zwölf Tönen, deren eigene Ordnung (im Sinne eines vom alten tonalen System emanzipierten „Triebleben[s]“215 der Harmonien) sich dann nicht zeigen kann. III.5.1 Der „Epilogue“: Schäfertum als Utopie Im „Epilogue“ zum Schluss des Balletts (Ziffer 127–130) nimmt Gerhard einen Rückbezug auf das „Adagietto“ aus der „Golden Age“-Episode von Szene 3 vor, jenem pas de deux des arkadischen Schäferpaars. Korrespondierend zum letztmaligen Auftreten der Figuren der phantastischen Sphäre wird hier einerseits auf das „Adagietto“-Thema aus Szene 3 zurückgegriffen, dieses andererseits aber auch noch einmal neu gebracht. Damit lässt sich annehmen, dass auch das in Szene 3 mit dem Pastoraltopos verbundene Thema eines Arkadien (oder: von Natur) nochmals thematisiert wird. Der Begleitsatz der Streicher bei Ziffer 128/9 beruht auf einem durch Symmetrieachsen strukturierten Tonraum. Den in Gegenbewegung verlaufenden, horizontal aufgefalteten Terzfolgen liegt die Symmetrieachse cis bzw. g zugrunde, wobei der Achsenton cis (nach seinem Erklingen 1 Takt nach Ziffer 128, Violine 1) aus dem Satz ausgespart bleibt, und auch die zweite Achse g erst im letzten Takt des Abschnitts erscheint (1 Takt vor Ziffer 130).216 Ohne Ausnahme sind alle Töne des Satzes um jene Achse g bzw. cis symmetrisch angeordnet. Symmetriefeld des „Epilogue“ bei Ziffer 128/9 (sum of complementation 2) cis
d
es
e
f
fis
g
cis
c
h
b
a
gis
g
214 „Das Beste ist es, Ziegenhirten als Zuhörer zu haben, sie sind dazu gemacht und daran gewöhnt, die Stimmen der Felder und Berge zu hören. Die anderen [gemeint sind sowohl Zuhörer vom Schlag Sanchos als auch gelehrte Zuhörer, G. L.] werden euch entgegnen, dass sie euch nicht verstehen, oder sie werden das, was ihr ihnen sagt, verkehrt verstehen, weil sie eure Worte nicht in der Stille des Inneren und auch nicht in reiner Aufmerksamkeit empfangen […].“ Ebd., S. 217 [Übersetzung, G. L.]. 215 Der oft zitierte Ausdruck vom ‚Triebleben‘ der Harmonien findet sich in Schönbergs Harmonielehre. Vgl. Arnold Schönberg, HL, S. 94. Siehe auch Anm. 393, Kapitel I.3.5. 216 Die Achsentöne finden sich allerdings in den Melodiestimmen der Fl. (Ziffer 128) und des Klav.1 (129), in deren Melodiephrase das viertaktige „Adagietto“-Thema aus Szene 3 aufgegriffen wird. Diese heben sich vom Streichersatz als autonome tonale Schicht ab und werden von diesem eher kontrapunktiert als begleitet.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Für das Symmetriefeld im genannten Streichersatz des „Epilogue“ kann geltend gemacht werden, dass alle Zusammenklänge des Satzes durch die im Symmetriefeld gegebenen Intervalle konstituiert werden. Aufgrund der Symmetrieachse findet jede horizontale Bewegung einer Stimme in einer anderen, gleichzeitig erklingenden Stimme, eine die Symmetrie ‚ausgleichende‘ Gegenbewegung – dadurch ist die vertikale Dimension des Satzes determiniert. In der Horizontale finden sich dreiklangsähnliche Terzschichtungen. Diese Art der horizontalen Gestaltung zeigt, dass Gerhard an dieser Stelle der Komposition dreiklangähnliche Bildungen zumindest nicht tabuisiert, diese hier aber so kontextualisiert, dass sie nichts mehr mit der alten Funktionstheorie zu tun haben – aus funktionaler Sicht können sie vielmehr funktional isoliert und unzusammenhängend erscheinen. Gerhard ermöglicht es, solche Pseudo-Dreiklangsbildungen durch ihre Anordnung im kompletten Tonraum der zwölf Töne losgelöst von einer Begrenzung auf Tonarten oder von der Bindung an einen Grundton zu denken und dadurch merkwürdig unvertraut wirken zu lassen. Die in das Symmetriefeld hineinsehbaren, quasi-unfunktionalen Pseudo-Dreiklänge werden in der Vertikale permanent durch ein spiegelbildliches Gegenstück ergänzt, d. h. zur vertikalen Symmetrie ausgeglichen, so wird z. B. in T. 3 nach Ziffer 128 der Pseudo-Dreiklang c, as, f in der Violine 1 ‚ausgleichend‘ ergänzt durch die Töne d, fis, a in Violoncello und Bass. Fasste man diese Bestandteile des Symmetriefelds tatsächlich als PseudoDreiklänge ‚f-Moll‘ und ‚D-Dur‘ auf und ordnete sie als Positionen im Quintenzirkel im Sinne potenzieller Tonarten an, so zeigte sich, welch weite Distanz im Quintenzirkel zwischen jenen Positionen D-Dur und f-Moll (quasi: As-Dur) besteht: Sechs Quintstufen (quintaufwärts) würden sie trennen, während die symmetrische Anordnung um die Symmetrieachse g/cis zwischen jenen Punkten im Tonraum einen Zusammenhang als von der Achse gleich weit entfernten herstellt und die relativ weit entfernten Positionen simultan erklingen lässt. Noch weiter stellt sich die Distanz im Quintenzirkel zwischen den Punkten es-Moll und E-Dur dar (T. 3 nach Ziffer 129, Violoncello, Kontrabass: es, b, ges und Violine 1: h, e, gis); zehn Quintstufen aufwärts trennen sie und werden aufgrund der zugrundeliegenden Symmetrieachse überbrückt.
III.5. Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter
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Rückgriff auf das „Golden Age“-„Adagietto“ aus Szene 3 und Symmetriefeld des „Epilogue“ im Begleitsatz bei Ziffer 128/9:
Symmetriefeld mit Achse cis/g
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Die vorliegende Stelle kann als ein sinnlich erfahrbares ‚Argument‘ für die in Schönbergs Harmonielehre vorgenommene Dekonstruktion einer normativ gemachten Tonalitätstheorie gelten, da sie vermittels der Dreiklangsähnlichkeit alte Denkgewohnheiten evoziert, die sich gleichzeitig als falsch enttarnen lassen. Mit ihr lässt sich im Sinne Schönbergs dazu anhalten, eine Lehre von Tonalität als ein „System der Betrachtung und Behandlung der Dinge […], nicht aber ein System der Dinge […]“217 aufzufassen und ein Beitrag dazu leisten, das alte System als System (oder als ein nur reduktionistisches Wissen von Tonalität) zu erkennen und den Glauben an jenes System als die Natur des Tons endgültig abzuwerfen. Was hier an die Stelle des Dekonstruierten tritt, ist Natur als Utopie. Dreiklänge werden auch in Schönbergs Harmonielehre im Sinne eines getreuen Abbilds von Natur verstanden (darin allerdings v. a. als Durdreiklänge); aber so wie sie in Gerhards „Epilogue“ auftreten, können sie erfahrbar machen, dass Natur dem Menschen in erster Linie fremd ist und nur mithilfe einer vertrauten, internalisierten Theorie vertraut gemacht wird oder auch nur vertraut erscheint. III.5.2 Allgemeines zur symmetrischen Gliederung des Tonraums Es lässt sich annehmen, dass die auf Symmetrieachsen basierende Anordnung der Reihen im Tonraum bei Gerhard eine noch grundlegendere Ebene der Tonhöhenorganisation darstellt, als die der Reihen, weil sie nicht nur die Zugehörigkeit von Tönen zu einzelnen Reihen betrifft, sondern die Kombination der Reihen regeln kann – man könnte von einer Meta-Ebene der Tonhöhenordnung sprechen. Wenn nun also dem in Kapitel III.5.1 analysierten Streichersatz des „Epilogue“ jene Meta-Ebene der Tonhöhenregelung ohne die Vermittlung und Zuhilfenahme der Reihe (als Mittel zur Erschließung des Tonraums) zugrunde liegt, dann könnte man in dem Verzicht auf das Hilfsmittel der Reihe den Versuch einer ‚Entmaterialisierung‘ beim Erschließen des Tonraums sehen, ein Sich-unabhängig-Machen von der perspektivstiftenden Reihe hin zur Symmetrieachse als übergeordnetem Perspektivpunkt im Tonraum. Ein Symmetriefeld mit einer bestimmten sum of complementation218 beinhaltet eine begrenzte Auswahl von Tonkombinationen,219 d. h. auch: 217 Arnold Schönberg, HL, S. 108. 218 Siehe Anm. 525, Kapitel I.4.1. 219 Dieser geschlossene Fundus an Tonkombinationen ist nicht transponierbar und kann folglich als eine absolute Position im Tonraum gelten (mit der Transposition der Symmetriefeld-Töne würde sich ein neues Symmetriefeld mit einer neuen sum of complementation ergeben). Im Fall einer ungeraden sum of complementation ergibt sich ein anderer Fundus an Intervallen als im Falle einer geraden. Man vergleiche den unterschiedlichen Intervallfundus der geraden sum of complementation 10: e f fis g gis a b e es d cis c h b, und hingegen der ungeraden sum of complementation 9: f fis g gis a b e es d cis c h.
III.5. Don Quixotes Rede vom Goldenen Zeitalter
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an Intervallen und daraus zu bildenden Zusammenklängen.220 Dies sorgt tendenziell für eine Homogenität bezüglich der Harmonik. Ein Symmetriefeld lässt sich theoretisch durch jedes (auch nicht-reihengebundene) lineare Gebilde herstellen, das kombiniert mit seiner Inversion auf einer bestimmten Transpositionsstufe einem bestimmten Symmetriefeld zugehörig wird. (Das genannte, nicht-reihengebundene Beispiel aus dem „Epilogue“ des Don Quixote-Balletts kann dafür einstehen.) Doch kann der Ordnung durch Symmetriefelder in Verbindung mit der Zwölftonmethode eine besondere Bedeutung zukommen, denn erstens ist die Kombination einer Reihe mit ihrer Inversionsreihe gebräuchlich (auch etwa zur Herstellung von combinatoriality), und es ergibt sich dabei automatisch ein bestimmtes Symmetriefeld. Zweitens eröffnen Symmetriefelder eine Möglichkeit, anhand der Reihe die vertikale Satzdimension zu gestalten, ohne aus dem System zu fallen, d. h. eine Chance zur Lösung des von Perle erörterten „harmonic problem in twelve-tone music“221 (siehe Kapitel I.1). Im Vergleich zum ‚alten‘ tonalen System lässt sich zur Tonordnung mit Symmetriefeldern bemerken: Stellt man ein Symmetriefeld in der Tonraumstruktur eines cycle of fifths dar, dann wird durch die symmetrische Anordnung der um zwei Achsen (z. B. e bzw. b) zentrierten Töne des cycle of fifths der Tonvorrat aller zwölf Töne abdeckbar, während eine diatonische Tonleiter nur einen Ausschnitt desselben cycle of fifths abdeckte. Zwar sind im vorliegenden Satz des „Epilogue“ nicht permanent alle zwölf Töne präsent, und die Achsentöne werden, wie bereits erwähnt, bis auf den Beginn und das Ende des Satzes ausgespart. Trotz dieser sukzessiven Erschließung des zwölftönigen Symmetriefelds – dessen Darstellung im Zeitlichen – ist es einem solchen Symmetriefeld eigen, als latent räumliche Struktur und im Ganzen gedacht werden zu können. Und gewissermaßen sorgt das Vorhandensein 220 Bereits in Gerhards Bläserquintett (1928), einer der frühen Kompositionen, in denen Gerhard Schönbergs Methode erprobte, lassen sich (allerdings wechselnde) Symmetriefelder erkennen, nämlich in den Vivace-Abschnitten des ersten Satzes. So finden sich im Vivace (quasi Presto)Abschnitt in der Reprise jenes Kopfsatzes mehrere zweistimmige Figuren symmetrischen Tongehalts (siehe Roberto Gerhard, Wind Quintet, London 1960). Auf die erste der zweistimmigen Figuren verteilen sich die Reihentöne von P6 und I1 und ergeben dabei das Symmetriefeld um die Achse gis/a oder d/es (Hn. und Fg., T. 110). Dem gleichen Symmetriefeld gehört auch die darauf folgenden Figur in Ob. und Klar. an (I7 und P0, T. 111); die dritte Figur (Hn. und Fg., T. 112) beinhaltet dabei den Beginn der ersten Figur (die ersten beiden Töne derselben) und den Schluss (die letzten beiden Töne) der zweiten. Die vierte Figur gehört einem neuen Symmetriefeld um die Achse cis/d (oder g/gis) an (Ob. und Klar., P11 und I6, T. 112 f.). Der Beginn dieser Figur wird imitiert (Hn. und Fg., T. 113), bevor die Reihenbindung der Figuren im weiteren Verlauf gelockert und aufgelöst wird. Die motivische Gestalt der (hier siebentönigen) Reihe verschwindet dabei scheinbar in dem Symmetriefeld der zweistimmigen, intervallsymmetrischen Figur. Dabei ist in der zweistimmigen Figur durchaus je eine Reihe und Inversionsreihe enthalten, die Reihentöne werden aber so auf die beiden Stimmen verteilt, dass diese scheinbar nichts mit der Reihe zu tun haben. Das Verfahren ermöglicht Gerhard eine Befreiung von der äußeren und wiedererkennbaren Gestalt der Reihe bei gleichzeitig beibehaltener Bindung an das System. Die strenge Bindung an die Reihe kippt dabei um in die neue Ordnung der Symmetriefelder. 221 Vgl. der gleichnamige Aufsatz von George Perle, The Harmonic Problem in Twelve-Tone Music, in: MR 15 (1954), S. 257–259.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
einer Symmetrieachse bereits dafür, dass an jeder Stelle des „Epilogue“-Satzes und mit jedem einzelnen Intervall bzw. Tonbezug innerhalb des Symmetriefelds, die Weite des gesamten Symmetriefelds unterschwellig spürbar ist. Jeder der Zusammenklänge ‚umspannt‘ gewissermaßen den Tonraum als ganzen. Dabei werden die erwähnten weiten Distanzen im Quintenzirkel, die im Symmetriefeld überbrückt werden (etwa die zehn Quintschritte zwischen ‚es-Moll‘ und ‚E-Dur‘, siehe Kapitel III.5.1), trotz der möglicherweise vertraut erscheinenden Dreiklangsbildungen als relativ dissonante Zusammenklänge hörbar. Und in der Dissonanz jener zusammenklingender Pseudo-Dreiklänge kann die Entfernung der Punkte im symmetrisch strukturierten Tonraum hörbar werden. Symmetrieachsen lassen sich mit einer Aufhebung von Tonalität in Verbindung bringen. In einem ähnlichen Sinn lässt sich distanziellen Skalen zuschreiben, eine Tonika außer Kraft zu setzen. Auch der Satz des „Epilogue“ ist durch einen gravitationslosen, schwebenden Charakter gekennzeichnet. Wenn allerdings das Vorhandensein einer Tonika, wie dies hier angenommen wird, für das Tonalitäts-Denken Gerhards von untergeordneter Bedeutung ist (siehe Kapitel I.3.4.1) und nicht als Bedingung von Tonalität gelten muss, dann lässt sich aufgrund des Fehlens einer Tonika nicht von einer Aufhebung von Tonalität sprechen. Von grundlegender Bedeutung ist dagegen das Vorhandensein eines Tonbezugsraums. Ein Tonbezugsraum der zwölf Töne wird mit der Verwendung eines Symmetriefelds vorstellbar. III.6. (DES-)ILLUSION: DIE MONTESINOS-EPISODE IN GERHARDS BALLETT Im Zentrum von Gerhards Lesart der Montesinos-Episode steht die desillusionierende Wirkung der Montesinos-Ereignisse auf Don Quixote, die ihre Schlagkraft daraus erhält, dass sie von den beiden zentralen Komponenten von Don Quixotes locura ausgeht: dem Ritter Durandarte, der stellvertretend für das traditionelle Rittertum, und Dulcinea, die für Don Quixotes höchstes Ideal und für die ideale Liebe einstehen kann. Gerhard fokussiert in seinem Szenario den psychologischen Schock, den Don Quixote bei der Begegnung mit diesen Figuren erleidet. Da es sich bei ihnen um Produkte seiner eigenen Imagination handelt, entspringt jener Schock der Konfrontation Don Quixotes mit seiner eigenen locura, die er als Illusion erkennt. Zusammenfassend könnte man Gerhards Szene 4 im Ballett II als eine Folge dreier Enttäuschungen beschreiben. Diese beginnt mit Dulcineas Abwendung von Don Quixote. „zwei Takte vor [Ziffer] 93 DULCINEA 1 als Aldonza schäbig und in Fetzen, schreitet in kühnem, grossen Bogen, über den Sarkophag [das Grabmal Durandartes, G. L.] auf die Bühne. […] D. Q. ist ausser sich vor Verwunderung beim Anblick Dulcineas, erhält[sic] sie für verzaubert. Jedesmal wenn er vor sie hinknieet[sic][,] dreht sie ihm schroff den Rücken, mit einer ordinären, fast unanständigen Gebärde…“222 222 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 5.
III.6. (Des-)Illusion: Die Montesinos-Episode in Gerhards Ballett
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Gerhard überspitzt die seltsame Flucht Dulcineas in der Romanvorlage hier im Sinne einer abweisenden Haltung Dulcineas gegenüber Don Quixote; an die Stelle des neutral-berichtenden Tonfalls Don Quixotes im Roman tritt im Ballett dessen offene Verwunderung.223 Auch die Begegnung Don Quixotes mit Durandarte wird von Gerhard humorvoll und überspitzt dargestellt: „D. Q. wird von Montesinos mit rühmender Gebärde Durandarte vorgestellt. Durandarte sitzt auf, […] verabschiedet Don Quixote sofort mit Geringschätzung, schlägt einen Purzelbaum auf dem Sarkophag und nimmt wieder seine ruhende Grabmal[-]Stelleung[sic] ein. […]“224
Don Quixote reagiert darauf „[v]erblüfft“.225 Im Roman zeigt sich Durandarte zwar ungläubig ob der angepriesenen Auserwähltheit Don Quixotes; davon, dass der „schmerzensreiche“ Durandarte Don Quixote abweist, ist darin allerdings nicht die Rede.226 Am Ende der Szene steht die vielleicht größte Enttäuschung Don Quixotes: „Verblüfft bemerkt D. Q. eintsweilen[sic] nicht[,] dass [Ziffer]100[:] Aldonza wieder erschienen ist, kokett ein Barchent[-]Unterröckchen vor sich her schwingend. D.Q.[s] Bemühungen sich dann ihr wieder zu nähern ignoriert sie wie zuvor. [Ziffer]103[:] Sie bleibt plötzlich stehen, nimmt von ihm Notiz, und bietet ihm das Unterröckchen an… für Geld . – D. Q. ist entzetzt[sic].“227
Auf die von Gerhard vorgenommene Zuspitzung weist die Tatsache hin, dass es im Roman nicht Dulcinea selber ist, die Don Quixote ihr Röckchen anbietet, sondern eine ihrer Begleiterinnen, die von Dulcinea geschickt wird. Gerhard lenkt den Blick damit umso krasser auf den Kontrast zwischen der idealen Dulcinea und der Desillusion durch eine sich ihm anbietende Dulcinea.228
223 Im Roman heißt es schlicht: „Ich [Don Quixote, G. L.] redete sie an, aber sie antwortete mir nicht eine Silbe, sondern wandte mir den Rücken und floh mit solcher Geschwindigkeit davon, daß kein Pfeil sie erreicht hätte.“ Miguel de Cervantes, DQ II/23, S. 725. 224 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 5 f. 225 Ebd. 226 „[Montesinos:] ‚Wisset, hier habet Ihr ihn vor Euch stehn […] –, ihn, jenen großen Ritter, von dem der zauberkundige Merlin so vieles geweissagt hat, jenen Don Quijote meine ich, der aufs neue, und mit größerem Erfolg als in den vergangenen Zeitaltern, in dem jetzigen die vergessene fahrende Ritterschaft wiedererweckt hat und durch dessen Hilfe und Beistand es geschehen könnte, daß wir sämtlich entzaubert würden, denn große Taten sind großen Männern vorbehalten.‘ ‚Und wenn es nicht geschähe‘, antwortete der schmerzensreiche Durandarte mit schwacher tonloser Stimme, ‚wenn es nicht geschähe, o mein Vetter, so sag ich: Geduld, und neue Karten geben.‘“ Miguel de Cervantes, DQ II/23, S. 721. 227 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 6. 228 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Gerhard im Zusammenhang mit der Szene 4 durchweg von Dulcinea als Aldonza spricht (siehe ebd., S. 5 f.) – mit keinem Wort wird Aldonza in der entsprechenden Romanepisode DQ II/23 erwähnt. Dies spricht für Gerhards besonders deutliche Hervorhebung der Fallhöhe von Don Quixotes Dulcinea-Ideal. Gegenüber der Frühfassung des Ballett I, an dessen Ende die drei Aspekte Dulcineas als Dulcinea I–III erhalten bleiben und nebeneinander auftreten, und in dem keine Desillusionierung Don Quixotes stattfindet, stellt dies eine deutliche Wende in der Lesart des Romans dar.
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III. Der Code in Gerhards Ballett Don Quixote
Zum einen kann Gerhards Zuspitzung der Situation auf die mediale Übertragung vom verbalen Medium auf die Mittel ballettisch-pantomimischer Bewegung zurückgeführt werden, die eine Eindeutigkeit in der Gefühlshaltung der Figuren erfordert. Zum anderen lässt sich in Gerhards Darstellung jener Situation aber auch seine konsistente Lesart des Romans erkennen. Die Deutungsweise der Montesinos-Episode im Sinne einer Don Quixote enttäuschenden Begegnung mit seinem Ideal ist insbesondere von Salvador de Madariaga vertreten worden, von dem Gerhard möglicherweise grundlegende Sichtweisen übernahm.229 Madariaga deutet die Montesinos-Ereignisse hinsichtlich der sich stellenden Frage nach ihrem Realitätsstatus konsequent im Sinne eines Traums von Don Quixote (und auch Gerhard überschreibt jene Szene in seinem Szenario als: „Eine Traumhandlung“230). In diesem Deutungsansatz wird v. a. danach gefragt, welchen Aufschluss die von Don Quixote selber geschilderten Ereignisse über den psychologischen Zustand des Ritters geben können. Madariaga behauptet, dass Don Quixotes Schilderung der ihm widerfahrenen Ereignisse voll von einem Realismus sind, der in Einzelheiten an die Grenze des Zynischen rühre. Dabei führt er die Schilderung, wie Montesinos Durandarte das Herz entrissen habe samt dem Fakt der Einsalzung des Herzens an, die lakonische Antwort Durandartes in Reaktion auf dessen Begegnung mit Don Quixote231 sowie die realistische Schilderung von Belermas Aussehen. Wenn sich Don Quixote hier zum letzten Mal über das Rittertum betreffende Angelegenheiten äußere, dann geschehe dies hier auf humorvolle Weise. Don Quixotes Schilderung sei gefärbt von Übertreibungen, Ironien und Späßen, die aus dem Munde Don Quixotes unwahrscheinlich klängen, ginge man nicht von dem gegebenen psychologischen Zustand einer Depression Don Quixotes aus.232 Laut Madariaga bestätigten sämtliche Reaktionsweisen in jenem Kapitel Don Quixotes Depression.233 „[…] la narración que de ella [la aventura] hace el caballero es acabada muestra y prueba perfecta de que el Don Quijote de la cueva de Montesinos es un triste Don Quijote, batido por la realidad, enseñado por la experiencia y fuertemente influido por su escudero.“234
Insbesondere der Vorfall einer Geld benötigenden Dulcinea erscheint Madariaga symptomatisch für den deprimierten Zustand Don Quixotes, der in Kontrast zu Don Quixotes Reaktion auf die erstmalige Begegnung mit der verzauberten (nämlich 229 Dabei lässt sich sehen, dass Madariagas Lesart des Cervantesromans derjenigen Unamunos nahesteht. Darauf weist u. a. die Tatsache, dass er Unamunos Gedanken von der Quixotisierung Sanchos aufgreift. Siehe hierzu Michael P. Predmore, Madariaga’s Debt to Unamuno’s ‚Vida de Don Quijote y Sancho‘, in: Hispania 47 (Mai 1964) Heft 2, S. 288–294. 230 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 5. 231 Siehe Anm. 226. 232 „El relato está esmaltado de exageraciones, ironías y chanzas, que en boca de Don Quijote resultarían inverosímiles de no darse la circunstancia psicológica apuntada.“ Salvador de Madariaga, Guía del lector del ‚Quijote‘, Madrid 2005, S. 133. 233 Vgl. ebd. 234 „[…] die Erzählung, die der Ritter [von dem Montesinos-Abenteuer, G. L.] gibt, ist ein komplettes Beispiel und ein vollkommener Beweis dafür, dass der Don Quijote der Höhle von Montesinos ein trauriger Don Quijote ist, geschlagen durch die Realität, belehrt durch die Erfahrung und stark beeinflusst von seinem Knappen.“ Ebd. [Übersetzung G. L.].
III.6. (Des-)Illusion: Die Montesinos-Episode in Gerhards Ballett
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durch die List Sanchos herbeigeschafften ‚falschen‘) Dulcinea auf dem Weg nach Toboso (in DQ II/10) stehe. Sei jene Begegnung für Don Quixote tragisch gewesen, so zeige die Reaktionsweise bei jener zweiten Begegnung mit der verzauberten Dulcinea in der Höhle nun eine gelassene, jeglicher Illusion entsagende Haltung Don Quixotes und sogar Züge eines respektlosen Humors gegenüber Dulcinea, die in vorausgehenden Episoden undenkbar gewesen wären. „[…] la imaginación de Don Quijote le lleva a imaginar que Dulcinea encantada necesita dinero y le manda una de sus compañeras para pedírselo prestado sobre un faldellín de cotonía. Este contacto entre Dulcinea, símbolo de la ilusión, y el dinero, símbolo del poder material, es ya en sí de un realismo cruel.“235
Der hier von Madariaga klar auf den Punkt gebrachte Symbol-Kontrast könnte Gerhards zuspitzende Darstellung motiviert haben. Allerdings lässt sich Madariagas Sichtweise, nach der Don Quixote jenes sein eigenes Unglück ‚relativ ruhig, fast kühl‘236 kontempliere, bei Gerhard nicht wiederfinden. In Gerhards Szenario reagiert Don Quixote auf alle drei Montesinos-Vorfälle mit einem Schock. Unamuno thematisiert die Montesinos-Episode in VDQ im Sinne wunderbarer Visionen von Don Quixote, die nur dieser selber habe sehen können. Zur Frage steht auch hier der Realitätsstatus der Ereignisse bzw. die Frage, ob Don Quixote mit seiner Erzählung lügt. Für Unamuno ist der Einwand, es handele sich bei den Montesinos-Ereignissen ‚nur‘ um einen Traum, ein trivialer Grund, Don Quixotes Erzählung keinen Glauben zu schenken.237 Der Traum-Status schmälert demnach nicht den wunderbaren Charakter jener Ereignisse. Dahinter lässt sich Unamunos Grundüberzeugung erkennen, nach der das Innen der Maßstab alles Wahren ist.238 235 „[…] die Imaginationskraft Don Quijotes führt ihn dazu sich vorzustellen, dass die verzauberte Dulcinea Geld brauche und ihm eine ihrer Begleiterinnen schicke, um für den Pfand eines Baumwollröckchens geliehenes Geld zu erbitten. Dieser Kontakt zwischen Dulcinea, dem Symbol der Illusion, und dem Geld, dem Symbol materieller Macht, ist bereits an sich von einem grausamen Realismus.“ Ebd., S. 136 [Übersetzung G. L.]. 236 „[…] no sólo pone [Cervantes] en la mente y en los labios del caballero del ideal tan desalmado contraste de valores, sino que además nos lo presenta contemplando tanta desventura con relativa calma, casi con frialdad. El mensaje que Don Quijote envía a su dama es mesurado y tranquilo y, lo que es peor, presenta ciertos ribetes de un humorismo irreverente que, para dirigido por Don Quijote a Dulcinea, hubiera parecido imposible. Don Quijote, humorista; Don Quijote, realista; Don Quijote, irreverente.“ Ebd. 237 „Y allí, (en la cueva,) gozó (Don Quijote) de visiones que se dejan muy a la zaga a las más maravillosas de que otros hayan gozado sin que sea menester repetir aquí lo de que, si a uno se le aparece un ángel en sueños, es que soñó que se le aparecía un ángel.“ Miguel de Unamuno, VDQ, S. 373. 238 Insofern es nach Unamuno der einzelne Mensch ist, der ein Ideal, dem er anhängt, wahr oder falsch macht, kann Unamuno das (Augustinus entlehnte) Dictum In interiore homine habitat veritas anbringen. (Siehe ders., Sobre la filosofía española. Diálogo, S. 745 und als vorangestelltes Motto in ders., ¡Adentro!, S. 418.) Wie bereits ausgeführt, sind für das Wahrmachen einer Idee nach Unamuno nicht deren inhärente Eigenschaften ausschlaggebend, sondern die einer Idee zugrunde liegende Intention und die Güte des an die Idee glaubenden Menschen. In Bezug auf die Wahrheit einer geglaubten Idee verweist Fernández auf einen Aspekt, in dem sich die pragmatische Wahrheitstheorie Unamunos grundlegend von der William James’ unterscheidet. Fernández analysiert, dass Unamuno zwar anscheinend James folge, wenn er angebe,
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Unamuno geht derart davon aus, dass jene Traumereignisse, gerade weil sie wunderbar (durchaus auch im Sinne von ‚wunderlich‘) sind, nur aus Don Quixotes aufrichtigem Innerem hervorgegangen sein können (und nicht etwa davon, dass sie unwahr sind, weil sie nicht objektiv stattgefunden haben). Dass Don Quixote gelogen haben könnte, will Unamuno, der in Don Quixote einen „Caballero incapaz de mentir“ sieht, dagegen nicht in Erwägung ziehen.239 III.6.1 Die Tanzliedgattung der chacona als musikalischer Bestandteil der ‚tradición eterna‘ im Sinne Unamunos An zwei Stellen seines Balletts griff Gerhard auf die musikalische Vorlage der chacona-Gattung zu, nämlich für den Tanz der Maultreiber und Dirnen in der Schenke in Szene 2 auf die „Chacona de la venta“ und für die Episode in der Höhle des Montesinos in Szene 4 auf die „Chacona de Palacio“.240 Über jene zwei chaconas hatte Gerhard im Zusammenhang mit der Don Quixote-Orchestersuite Nr. 1 bemerkt, die eine sei vulgärer, die andere nobler Art.241 Es wird zu sehen sein, dass die Tanzliedgattung der chacona historisch zwar primär mit einem Umfeld niederen sozialen Status’ verbunden war, unter bestimmten Umständen aber auch Eingang in die Unterhaltungskultur der Nobilität fand. Mit der spanischen chacona bediente sich Gerhard einer historischen Gattung aus dem Zeitalter Cervantes’. Insbesondere mit Blick auf die „Chacona de la Venta“ aus Szene 2 lässt sich sagen, dass er damit nicht nur auf eine historisch adäquate, sondern auch auf eine ‚realistische‘ – nämlich soziale Stände charakterisierende – Musik zur musikalischen Darstellung des in Cervantes’ Roman beschriebenen Milieus der Schenke zugriff.242 Es handelt sich bei der chacona um die der spanischen Volkskultur entstammende Frühform der Chaconne, jener Gattung, die sich im Barock als Variationenreihe über einem osti-
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dass etwas wahr ist, insofern es uns dazu bringe so zu handeln, dass sich das Ergebnis mit unserer Absicht decke (siehe Pelayo H. Fernández, Miguel de Unamuno y William James. Un paralelo pragmático, S. 64 f.); dennoch weist er auf unterschiedliche Prämissen im Denken beider hin. Denn, anders als bei James, könne sich bei Unamuno ein Glaube, der durch die äußere Realität frustriert werde, im Innen dennoch weiter verifizieren (siehe ebd., S. 65), d. h. der Glaube muss nicht durch die äußere Realität korrigiert werden. Das Realitätsschaffen aus dem Glauben beinhalte bei Unamuno, so Fernández, primär, der äußeren Realität die innere aufzuzwingen. Siehe ebd. Siehe Miguel de Unamuno, VDQ, S. 376. Bereits im Ballett I finden sich diese beiden chacona-Musiken, wobei die „Chacona de palacio“ (wie bereits erwähnt, siehe Kapitel III.1) dort inhaltlich zum Aufenthalt Don Quixotes und Sanchos am Hof der Herzöge korrespondiert, während sie im Ballett II zum Montesinos-Abenteuer korrespondiert. Ein musikalischer Bezug auf Hof und Nobilität bleibt aber auch im Zusammenhang der Montesinos-Szene bestehen, da sich Don Quixote bei seinem Abstieg in Montesinos’ Höhle in dessen Palast wiederfindet. Siehe Anm. 11, Kapitel III.1. Über den chacona-Tanz bemerkt Michael von Troschke: „Geschirrspülerinnen und Bedienstete als Tänzer, Maultiertreiber als Sänger und Kastagnettenspieler charakterisieren seinen Lebensraum.“ Michael von Troschke, [Artikel] Chaconne, in: MGG2, Bd. 2 (Sachteil), Kassel 1995, Sp. 549.
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naten Bassmodell der Passacaglia annähern sollte und als stilisierter Tanzsatz getragenen Tempos und feierlichen Charakters in Instrumentalsuiten und instrumentale Sololiteratur (v. a. der Orgel) Eingang fand.243 Von der barocken Chaconne weicht jene Frühform deutlich ab. Die chacona war ein Tanzlied schnellen, bewegten Tempos in Refrainform, das von der Gitarre (als „danza de rasgueado“244) und von Perkussionsinstrumenten (Tamburin und Kastagnetten) begleitet, zunächst auf Straßen und öffentlichen Plätzen aufgeführt wurde, dann in das Volkstheater Ein243 Frühformen der Chaconne verbreiteten sich ausgehend von der spanischen Volkskultur in Italien und Frankreich. Wie von Troschke angibt, fand die spanische chacona im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts Eingang in italienische Spielanweisungen und Musiksammlungen für das damalige Modeinstrument der fünfsaitigen Chitarra alla spagnuola, beginnend mit Girolamo Montesardos Nuova inventione d’intavolatura […] (1606). (Siehe ebd., Sp. 550 und 551.) Diese Tabulaturen für Gitarre umfassten eine mit einer Kadenz abschließende, harmonisch und rhythmisch definierte Akkordfolge, enthielten jedoch keinerlei Angaben zur Melodik einer chacona: „[…] the first alfabeto tabulatures generally present only a single statement of a formula terminating in a cadence […].“ (Alexander Silbiger, [Artikel] Chaconne, in: NGroveD, Bd.5, London 2001, S. 411.) Silbiger spricht auch von „chord-strumming formulae, presumably based on the dance […].“ (Ebd.) Gängig sei in ihnen die Akkordfolge I–V–vi–V gewesen, ein ternäres Metrum und eine viertaktige Periodik. (Ebd.) In Frankreich verbreitete sich die chacona als Instrumentalform, in der Oper (ausgehend von der tragédie lyrique Jean-Baptiste Lullys) und dem Ballet de cour („A ballet presented in 1625 at the royal court included an ‚Entree des chaconistes espagnols‘, danced to the sound of guitars.“, ebd., S. 412). Dabei ging der lebhafte und populäre Charakter der spanischen Frühform verloren und die Gattung wurde in einen langsamen Tanz feierlichen und ernsten Charakters transformiert. Mit Blick auf jenen hingegen lebhaften Charakter der spanischen chacona äußert Miguel Querol: „[…] en el tiempo que apareció en España, era una música de lo más alegre y divertida, animada y popular que imaginarse pueda, que se cantaba con unas letras picantes, a veces obscenas, que constituían la diversión del pueblo en las calles y de la nobleza en las cortes. Tal era el carácter de la chacona popular en el tiempo de Cervantes […].“ (Miguel Querol, La Chacona en la época de Cervantes, in: Anuario musical 25 (1970), S. 49.) Über die um 1600 verbreitete spanische Frühform der Tanzlied-chacona, für die keine musikalischen Quellen vorliegen, lässt sich sagen, dass sie Strophen und einen Refrain aufwies: „Erhaltene Texte dieser Frühzeit [der chacona, G. L.] zeigen die Form einfacher rondeauartiger Refrainlieder. Oft erscheint als Refrain der Vers: ‚Vida, vida, vida, bona/ Vida, vámonos […] á Chacona‘ (‚gutes Leben…, gehen wir nach Chacona‘).“ (Michael von Troschke, [Artikel] Chaconne, Sp. 549.) Musikalische Merkmale, die im Zusammenhang mit den italienischen Gitarrentabulaturen (den frühesten musikalischen Quellen), genannt werden, lassen sich wahrscheinlich auch für die spanische Vorform geltend machen: die erwähnte typische Akkordfolge, rasgueado-Technik der Gitarre, Dur-Tonalität, ternäre Taktart, streng symmetrische Periodik der wiederholten Kurzabschitte. Im Fall der chacona lag melodische, ornamentale Variation wahrscheinlich nicht oder in nur geringem Maß vor. Es ist anzunehmen, dass das feststehende, formelhaft wiederholte Akkordmodell derselben (Querol betont, es handele sich weder um ein reines Bass-, noch um ein melodisches Modell, sondern um einen ‚harmonisch-melodischen Block‘, vgl. Miguel Querol, La Chacona en la época de Cervantes, S. 56) erst mit der italienischen Spielart der Ciaccona zur Ausprägung eines Bassostinatos mit darüber variierten Stimmen führte. In Spanien seien „Chacona-Variationen“, so von Troschke, erst sehr spät aufgetreten, u. a. „[…] für Gitarre bei Gaspar Sanz (1647) und für Harfe bei Lucas Ruiz de Ribayaz (1677).“ Vgl. Michael von Troschke, [Artikel] Chaconne, Sp. 553. 244 Siehe Maria C. Cañedo Estrada, [Artikel] Chacona, in: Diccionario de la Música Española e hispanoamericana, Madrid 1999, S. 526.
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gang fand, und von Ende des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts überaus populär war, und dies nicht allein bei sozial niederen Ständen: „[…] theatrical songs and dances – tonadas, bailes, jácaras, and chaconas – circulated rapidly through oral transmission to and from all corners of the Hispanic world, to listeners of all social levels.“245 Zur spanischen Tanzlied-chacona vor und um 1600 liegen keine gedruckten musikalischen Quellen vor,246 dagegen aber eine Fülle literarischer Referenzen in den Theaterstücken (comedias, autos sacramentales und entremeses) spanischer Dramatiker jener Zeit.247 Weiter taucht die chacona in einer Fülle von Kontroversen auf, die ihren als unzüchtig betrachteten Charakter betreffen. Die Texte der chacona waren oft satirischen und erotischen Charakters und bedienten sich einer derben Sprache; auch an der aufreizenden Art der tänzerischen Bewegungen und Gesten wurde Kritik geübt.248 Louise K. Stein bemerkt, die Theateraufführungen hätten ihr Publikum fast täglich angezogen und spricht von der extremen Sensualität in den musikalischen Szenen, die für Moralwächter nur schwer erträglich gewesen sei.249 Deren Kritik an der Musik und an bestimmten Tänzen in den Theateraufführungen habe sich, so Stein, vorwiegend darauf gerichtet, dass diese bei ihrem Publikum einen ‚libidinösen Appetit‘ provozierten und es in einen Zustand versetzen könnten, der dazu führe, sich unbeherrscht lasziven Akten hinzugeben.250 Genannt würden in den Dokumenten v. a. die zarabanda, die chacona und die jácara; die beiden letzteren fänden sich, in lasziven, erotischen Kontexten des Theaters im 17. Jahrhundert.251 Stein weist weiter auf die exotischen Konnotationen der chacona, die vor 1600 aus dem kolonialen Lateinamerika nach Spanien gekommen sei und dort Vorstellungen einer von Sorge und Verantwortung freien Existenz mit sich gebracht habe.252 Die chacona sei, einhergehend mit der Referenz auf diejenigen, 245 Louise K. Stein, Eros, Erato, and Terpsíchore and the Hearing of Music in Early Modern Spain, in: MQ 82 (1998) Heft 3/4, S. 659. 246 „Though ubiquitous in the documents about theatrical music, the chacona came into vogue at the end of the sixteenth century, in a period for which we have virtually no printed sources of Spanish vocal or instrumental music. Most of the extant sources for musical settings or sets of variations on the chacona have a later date.“ Ebd., S. 662. 247 Siehe Maria C. Cañedo Estrada, [Artikel] Chacona, S. 528–530. 248 Siehe ebd., S. 529 und Louise K. Stein, Eros, Erato, and Terpsíchore, S. 663. 249 Vgl. Louise K. Stein, Eros, Erato, and Terpsíchore, S. 659. 250 Vgl. ebd., S. 660. 251 Stein führt eine Theaterreform des Gerichtsrats in Madrid vom 8. April 1615 an, in der die chacona und die zarabanda verboten wurden. (Siehe ebd., S. 660 f.) Auch Cañedo Estrada äußert, Kritik an der chacona sei bereits Anfang des 17. Jahrhunderts geübt worden und führt u. a. ein 1605 publiziertes Edikt von Juan Gallo de Andrade an, in dem unzüchtige Tänze in den Theatern verboten werden, wobei auf escarramanes, chaconas und zarabandas gewiesen wird. Jenes Edikt hätte für Theateraufführungen mindestens bis zum Tod Felipe III. gültig sein sollen, die Erwähnungen der chacona seien allerdings, so Cañedo Estrada, nicht aus der Literatur verschwunden. Vgl. Maria C. Cañedo Estrada, [Artikel] Chacona, S. 529. 252 Vgl. Louise K. Stein, Eros, Erato, and Terpsíchore, S. 662. „In Peru before the last decade of the sixteenth century, the chacona existed as a dance-song associated with (or danced by) those natives or criollos who did not submit to authority and led a lawless existence; it was one of the rites in the devotion to pleasure of those who ignored Christian doctrine and law […]. It was
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die ein Leben abseits des Gesetzes lebten, zugleich mit einer niederen sozialen Schicht konnotiert gewesen.253 Trotz der Edikte, die aufgestellt worden waren, um die chacona zu verbannen, sei diese, so Stein, besonders in den Theatern, überaus populär geblieben: „It persisted outside the law, as transgressive as it was popular.“254 So lässt sich festhalten, dass es sich bei der chacona um eine ‚populäre‘, in der Volkskultur verbreitete Gattung handelte, die vornehmlich (aber nicht ausschließlich) von sozial niederen Ständen aufgeführt und rezipiert wurde, und dass jener Gattung zu ihrer Zeit ein subversives Potenzial eigen sein konnte. Unter bestimmten Umständen konnte die chacona im Umkreis des Adels auftauchen. Stein führt die Chacona aus Juan Arañés’ Libro segundo de tonos y villancicos[…] (Rom, 1624) an, die wahrscheinlich als Gabe zu einer Hochzeit der Nobilität geschenkt wurde (als ein Ephitalamion)255 und dabei ihren satirischen Charakter beibehielt.256 Dies kann in Bezug auf Gerhards ‚noble‘ „Chacona de palacio“ in der Szene 4 seines Balletts bedacht werden und legt nahe, dass auch hier der satirische Charakter der quasi Straßengattung der chacona in eine noble Sphäre der Unterhaltung und Belustigung hineingetragen wurde. Als musikalische Vorlagen liegen Gerhards nobler „Chacona“ zwei Volkslieder aus Franciso de Salinas’ De musica libri septem (1577) zugrunde. Es handelt sich um den Villancico „Qué me queréis, caballero?“, der sich im Cancionero de Palacio (1335) findet und in Pedrells Cancionero unter dem Titel „Canción muy popularizada“ abgedruckt ist (im Folgenden Vorlage a),257 und zweitens um den „Romance del rey don Fernando el cuarto“ (im Folgenden b), der bei Pedrell unter „Cantilena vulgar“258 läuft. Von der Vorlage a in der Tonart fis-Moll übernimmt Gerhard das „Chacona“-Thema a mit seinem formelhaft wiederholten, siebentakti-
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foreign to the first Spaniards who encountered it, and this might have accentuated its potential as a symbol of the exotic libertine existence.“ Ebd., S. 663. „The baile and song of the chacona, from their Peruvian origins, carried an association of people with low social status who were living in disrespect of the law.“ Ebd. Ebd. Siehe ebd., S. 671 f. Bei dieser vierstimmig und mit Begleitung gesetzten, in Italien veröffentlichten chacona des spanischen Komponisten Juan Arañés (diese ist in transkribierter Form abgedruckt bei Miguel Querol, La Chacona en la época de Cervantes, S. 57–60) handelt es sich um das wahrscheinlich erste gedruckte Beispiel einer zu einem chacona-Text korrespondierenden Musik aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. „Arañés’s piece might be a dignified or gentrified version of a chacona, and its text, though still spicy and full of double meanings, is cleverly more suggestive than openly lewd.“ (Louise K. Stein, Eros, Erato, and Terpsíchore, S. 671.) Der chacona-Text beschreibe, so Stein, einen sarao, d. h. einen Ball, der im realen Leben am Hof oder zur Feier einer aristokratischen Hochzeit getanzt worden wäre. Ein solcher sarao (oder auch eine máscara) hätte sich im Normalfall aus den gängigen höfischen Tänzen („courtly figure dances“), etwa der pavana oder gallarda, zusammengesetzt, nicht aber durch Tänze („such tavern dances“) wie die chacona oder die jácara: „[…] so the very opening of this text, ‚un sarao de la chacona‘ clues us in to its brash contradictions and invites us to listen between the lines.“ Ebd. Canción muy popularizada, in: Felipe Pedrell, Cancionero musical popular español, Bd. 1, S. 74. Cantilena vulgar, in: ebd., S. 73.
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gen Bassmodell.259 Dabei verlängert er die Phrasen der Melodievorlage um je einen Takt, sodass eine durchgängig siebentaktige Periodik entsteht. Dabei schließen sich zwei Siebentakter zu einer Periode zusammen, und die mehrmalige Wiederholung jener Perioden konstituiert das Thema a. Dieses, mit seinem trockenen chaconaBass, erklingt zu Don Quixotes Ankunft in Montesinos’ Höhle und zum Zug der Belerma mit ihren Jungfrauen. Das Respektlosigkeit anzeigende Einschreiten Aldonzas/Dulcineas „[ü]ber den Sarkophag auf die Bühne“260 bringt den Wechsel zum Thema b, das abgeleitet aus der Melodievorlage b (der Romanze) ist. (Die Instrumentierung mit Solo-Oboe, Fagott und Englischhorn bei Ziffer 93 lässt hier, passend zum Bauernmädchen Aldonza, eine rurale Sphäre assoziieren.) Gerhard verlängert auch hier die viertaktigen Phrasen der Melodievorlage bei Pedrell hin zur Siebentaktigkeit, dabei konstituieren vier siebentaktige Melodiephrasen das Thema b, wobei zum Ende und zum Beginn eines Siebentakters immer wieder eine zweitaktige Allusion an Gerhards „The Vigil at Arms“-Abschnitt aus der Szene 2 in das Thema b eingeblendet wird. Jenes Motiv (im Folgenden: c) aus der „Vigil“Episode des Balletts erscheint an den Phrasenenden tonfarblich ‚düster‘, in vornehmlich tiefen Stimmlagen und verursacht einen tonartlichen Bruch zur statisch festgehaltenen Tonalität des b-Themas (dies kann wirken, als ob die rurale Melodie von Thema b seit Beginn ihres Erscheinens durch die ‚verdüsterte‘ Version der „Vigil“-Vision gleichsam ‚gestört‘ würde). Zunächst alternieren in der „Chacona“ Abschnitte der beiden Themen a und b, bevor Themen und Themenbestandteile zusammengeführt und übereinandergeschichtet werden. So erscheint die erste der vier Phrasen des b-Themas bei dessen Wiederkehr in Ziffer 101 simultan zum unterlegten „Chacona“-Bass des a-Themas, und bei Ziffer 103 erscheinen übereinander Melodiephrasen von a und b sowie das Motiv c über dem fortgesetzten „Chacona“-Bass, was zu einer Reibung tonal unterschiedlicher Schichten führt. Gerhard verzichtet darauf seine Themen zu synthetisieren oder im Sinne thematischer Arbeit zu variieren oder zu entwickeln. Die gesamte „Chacona“ kann damit wie eine ‚Collage‘ musikalischer Themen261 erscheinen, wobei die Themen a und b sowohl ihrer Gestalt als auch ihrer Tonalität nach weitgehend unverändert bleiben, während Motiv c stets auf neuen Tonhöhen erscheint. Thema a erklingt stets in fis-Moll, während das Thema b bei seinem ersten Auftreten in A-Dur erklingt und bei seiner Wiederkehr (als b’) im
259 Gerhards Wiederholung von Perioden dürfte, wie erwähnt, dem Vorbild der spanischen Tanzlied-chacona entsprechen, und nicht der späteren Variationenform (siehe Anm. 243). Allerdings übernimmt Gerhard weder in der „Chacona de palacio“ noch in seiner „Chacona de la venta“ aus Szene 2 eines der beiden Bassmodelle, die Querol für die spanische chacona als typisch anführt (siehe Miguel Querol, La Chacona en la época de Cervantes, S. 55–63), sondern eine quasi individualisierte Form eines Bass- oder Akkordmodells, was Querol folgend untypisch für die historische chacona des Cervantes-Zeitalters wäre. 260 Roberto Gerhard, „DON QUIXOTE […]“ [= Szenario zu Ballett II], CUL 13.11, S. 5. 261 Es ergibt sich insgesamt die folgende Kettenform: Thema a (Ziffer 83–93), b (93–97), a (97– 101), b’ (101–105), a (105–107).
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quinttieferen D-Dur.262 Eine tonartliche Überraschung bringt der Schluss jenes in D-Dur wiederkehrenden Themas b (Ziffer 101–105): Die letzte der vier Phrasen verbleibt nicht, wie zu erwarten wäre, in D-Dur, sondern erscheint plötzlich in FisDur. Der Besonderheit dieses Tonartenwechsels entspricht die inhaltliche Situation: Aldonza/Dulcinea bietet Don Quixote für Geld ihr Röckchen an und erweist sich so als käuflich. Die Besonderheit der Fis-Dur-Phrase unterstützt Gerhard, indem er jene Stelle ‚doppelbödig‘ instrumentiert, als vordergründig ‚helle‘ und zugleich ‚oberflächlich-hohle‘ Farbe; denn die Melodiephrase (in Piccolo, Flöte und Klarinette) wird kontrapunktiert durch die simultan erklingende „Vigil“-Allusion, d. h. Motiv c, das im Xylophon (staccato und mit Pausen durchsetzt), gedämpften Blechbläsern (gestopfte Hörner und Trompete mit Dämpfer) und dem ‚hell-farblosen‘ Tremolo am Steg der insgesamt relativ hohen Streicher erklingt. Dabei kann das Xylophon mit seiner ‚hohl-hölzernen‘ Farbe Verfestigung und Materialität suggerieren263 (in Unamunos Lebensphilosophie steht Materialität für das Prinzip des Todes). Die anschließend letztmalige Statuierung des „Vigil“-Motivs am Ende der Melodiephrase verdeutlicht nochmals jenen Gestus des ‚Materiellen‘ und ‚Hölzern-Abgehackten‘: siehe Klavier 1 und 2 (staccatissimo) bei gleichzeitig tremolierender Triangel – ein deutlicherer Hinweis auf ‚klingende Münze‘ lässt sich kaum denken. Konnte die „Vigil“-Episode in Szene 3 des Balletts für die höchste Idealität der quixotischen Vorstellungskraft stehen, für die Utopie eines Naturzustands, so erscheint diese in Don Quixotes Traum von der Höhle Montesinos’ nun in ihr Gegenteil verkehrt und verzerrt, den Illusionscharakter jener Vorstellung nahelegend. 262 Mit dem Übereinanderklingen der Themen a und b ab Ziffer 101 geht eine tonale Reibung zusammenklingender Tonarten einher. Legt man den sich tonartlich reibenden Diatoniken einen quintstrukturierten Tonraum zugrunde (ebenso wie im Fall der „Chacona de la venta“ von Szene 2, siehe Kapitel III.2.2), dann lässt sich bemerken, dass es sich um im Tonraum quintanliegende Diatoniken handelt, die sich ihrem Tonvorrat nach kaum unterscheiden. Der mit der Wiederkehr des b-Themas (b’) eingebrachte Tonfundus des quinttieferen D-Dur (ab Ziffer 101) tritt zum fis-Moll des a-Themas in Kontrast, obwohl hier eine enge Verwandtschaft der Tonvorräte vorliegt. Denn Gerhard erweitert die Diatonik mit drei Kreuzvorzeichen – das fisMoll des a-Themas und die Durparallele A-Dur-Tonart des b-Themas (Ziffer 93–97) – durch die im quintstrukturierten Tonraum anliegende Diatonik mit zwei Kreuzvorzeichen. Demnach lässt sich sagen, dass Gerhard Wechsel des Tongehaltes sparsam und mit Blick auf einen zusammenhängenden Ausschnitt des quintstrukturierten Tonraums vornimmt (und nicht etwa unter Verwendung funktionsharmonischer Beziehungen). Dies weist darauf hin, dass er im Umgang mit der Diatonik in Kategorien von diatonischen sets bzw. an deren zusammenhängende Position in einem gesamten, zwölf Töne umfassenden cycle of fifths dachte. Mit der Wiederkehr des b-Themas in D-Dur wird (gegenüber dem diatonischen Tonvorrat von A-Dur) lediglich ein ‚Ausschnitt‘ des quintstrukturierten Tonraums ‚verschoben‘. Allerdings findet mit der Tonart Fis-Dur bei Ziffer 104 eine harmonisch sprunghafte Verschiebung des Tonvorrats in einen deutlich quinthöheren Bereich statt, ablesbar am Sprung von drei hin zu sechs Kreuzvorzeichen. 263 Auf die prominente Rolle des Xylophons weist White auch im Zusammenhang mit der dritten Szene von Gerhards Ballett Pandora (1943/44): „The drunken crowd is portrayed in Pandora’s Carnival, a frenetic, orgiastic dance macabre complete with skeletal xylophone glissandi.“ Julian White, ‚Lament and laughter‘: emotional responses to exile in Gerhard’s post-Civil War works, S. 39.
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In jener unerwarteten Fis-Dur-Ausweichung des b-Themas kulminiert der von Madariaga als grausam-realistisch beschriebene ‚Kontakt zwischen Dulcinea, dem Symbol der Illusion, und dem Geld, dem Symbol materieller Macht.‘264 Don Quixotes eigene Ideale wenden sich gewissermaßen gegen ihn. Es stellt sich die Frage, warum Gerhard in seinem Ballett auf die TanzliedGattung der chacona zugegriffen hat. Es lässt sich behaupten, dass dieses historische und zu seiner Zeit überaus populäre Genre in besonderem Maß dazu geeignet war, als echte Verkörperung des Volksgeistes, nämlich einer musikalischen Tradition populärer, im Lebensvollzug der Volksmassen praktizierter Musik zu verweisen und damit zugleich als Repräsentation eines ‚authentischen‘ Spanien zu fungieren – gewissermaßen als Teil einer ‚tradición eterna‘ spanischer Musikgeschichte. Bereits in Kapitel III.2 wurde darauf hingewiesen, dass sich in Unamunos Modell der ‚tradición eterna‘ die Substanz wahrer (spanischer) Geschichte, durch den Lebensvollzug des Volks (die ‚intrahistoria‘) speist, und dass Gerhards musikalisch repräsentierte Don Quixote-Figur, da das ihr zugeschriebene Don Quixote-Originalthema aus einer katalanischen Volksmelodie hervorging, als verankert in spanischer ‚intrahistoria‘ gelten kann. Als Reihe und als Originalthema konnte Gerhards Don Quixote-Figur die quasi universale Tradition des ‚ewigen Spanien‘ repräsentieren, dies jedoch nicht als ein Abstraktum, sondern als eine ‚Idee Spaniens‘, die durch die permanent sich erneuernde Volkstradition ‚gedeckt‘ wird und auf dem ‚Intra-Historischen‘ basiert, das Unamuno auch als ‚das Unbewusste in der Historie‘ („lo inconsciente en la historia“265) bezeichnete. Mit seinem Begriff der ‚intrahistoria‘ hatte Unamuno ein Gegenmodell zur offiziellen Geschichtsschreibung seiner Zeit entworfen; die ‚intrahistoria‘ gilt für Unamuno als die (meistens verborgene) Tiefen- oder Innenschicht der nationalen Geschichte. Während die ‚intrahistoria‘ durch den Lebensvollzug der Volksmassen verkörpert wird, von dem, so Unamuno, aber weder die Zeitungen noch die Geschichtsbücher Notiz nähmen,266 und damit als real verkörperte Tradition oder Geschichte gelten kann, stellt sich die offizielle Geschichte für Unamuno als ‚lügenhafte Tradition‘ dar, die ‚in Büchern, Monumenten und Steinen begraben‘ sei,267 als nur mehr die Repräsentation von Tradition, die nicht durch reale Handlungen im gegenwärtigen Lebensvollzug ‚gedeckt‘ wird. Unamuno weist darauf hin, dass die Masse des pueblo, eine Geschichte habe, die sich im alltäglichen und tätigen Leben manifestiert, auch wenn diese Geschichte des pueblo nicht öffentlich wahrgenommen werde und dessen Leben insofern ein ‚stilles Leben‘ sei.268 Geschieht das Le264 265 266 267
Siehe Anm. 235, Kapitel III.6. Siehe Miguel de Unamuno, TC, S. 144. Siehe ebd. „Esa vida intra-histórica, silenciosa y continua como el fondo vivo del mar, es la sustancia del progreso, la verdadera tradición, la tradición eterna, no la tradición mentira que se suele ir a buscar al pasado enterrado en libros y papeles, y monumentos, y piedras.“ Ebd., S. 145. 268 „Los periodicos nada dicen de la vida silenciosa de los millones de hombres sin historia que a todas horas del día y en todos lo países del globo se levantan a una orden del sol y van a sus campos a proseguir la oscura y silenciosa labor cotidiana y eterna, esa labor que como la de las madréporas suboceánicas echa las bases sobre que se alzan los islotes de la historia.“ Ebd., S. 144 f.
III.6. (Des-)Illusion: Die Montesinos-Episode in Gerhards Ballett Thema b („Cantilena vulgar“) assoziiert mit der ‚verzauberten‘, ordinären Aldonza/Dulcinea, Szene 4 bei Ziffer 104:
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ben und Arbeiten der pueblo-Menschen ‚in Stille‘, so ist die offiziell so bezeichnete Geschichte bei Unamuno andererseits mit (öffentlichem) Lärm verbunden.269 Unamuno ist überzeugt, dass jener kollektive Lebensvollzug ‚im Stillen‘ die eigentliche Substanz des Geschichtlichen darstellt, aus der sich jene andere Geschichte, die aufgeschriebene und als Geschichte öffentlich reflektierte speist, und er ist überzeugt, dass jene durch die arbeitenden Menschen verkörperte geschichtliche Substanz, jene ‚Tradition des Ewig-Gegenwärtigen‘ („tradición del presente“270) niemals unterbrochen wird. Jene ‚tradición eterna‘ kann sich denken lassen als permanent in Gebrauch seiendes, sich bewährendes Traditionswissen.271 Die Popularität der chacona-Gattung über soziale Schichten hinweg und ihre Repräsentation von Menschen mit geringem sozialen Status und gesellschaftlichen Außenseitern konnte die chacona als ‚authentische‘ Repräsentation der Musik des spanischen pueblo und des ‚authentischen‘ Spanien erscheinen lassen. Als populäre, der Musizier- und Rezeptionspraxis der Volksmassen angehörende Gattung konnte sie auf eine gegenüber der etablierten Musikgeschichte alternative, quasi ‚intra-historische‘ Musikgeschichte hinweisen, d. h. auf eine spanische Musikgeschichte, deren Basis nicht ausschließlich Kompositionen und Quellen bildeten, sondern die v. a. in musikalischen Praktiken und durch breite Volksmassen ‚real verkörpert‘ wurde. Dass es sich bei der chacona um eine im Kontext etablierter Musikgeschichtsschreibung (auch Musikwissenschaft) eher vergessene, wenig behandelte und bekannte Gattung handelt (wobei dafür natürlich in erster Linie der Mangel bzw. die Abwesenheit musikalischer Quellen geltend gemacht werden muss), musste dabei keinesfalls gegen ihre ‚intra-historische‘ Relevanz sprechen. Im Gegenteil konnte ihre geringe Präsenz in der offiziellen Geschichtsschreibung vielmehr geeignet sein, um zu bestätigen, dass die chacona jener unamunoschen ‚intrahistoria‘ angehört, die sich bislang noch im Verborgenen und kollektiv Unbewussten vollzog und – analog zur latenten heroischen Kraft im pueblo – noch der Entdeckung harrte. Und auch der Mangel an historischen Quellen könnte die chacona-Gattung zu einer geeigneten Projektionsfläche für historische Spekulationen über eine latente und wenig erinnerte Periode spanischer Musikgeschichte – bzw. musikalischer ‚intrahistoria‘ – gemacht haben. Es ist möglich, die beiden chaconas in Gerhards Ballett im Sinne einer künstlerischen Rekonstruktion jener historischen Gattung zu verstehen, wobei denkbar ist, dass Gerhard Hinweise zur chacona kannte, um sich von der dazu korrespondierenden Musik eine Vorstellung machen
269 Siehe ebd., S. 145. 270 Siehe ebd., S. 144. 271 Kennzeichnend für Unamunos ‚tradición eterna‘ ist ihre Kontinuität. Unamuno ruft dazu auf, in Momenten der Gegenwart einen Grund des Kontinuierlichen zu suchen (vgl. ebd., S. 147), und jener beständige Grund im scheinbar Unbeständigen lässt sich bei Unamuno als Substanz des Lebens selbst erkennen. Dagegen sei das Suchen der Tradition im ‚toten Vergangenen‘, gleichbedeutend damit, die Ewigkeit im Vergangenen, im ‚Toten‘ zu suchen, und damit ‚die Ewigkeit des Todes‘ („Y buscar la tradición en el pasado muerto es buscar la eternidad en el pasado, en la muerte, buscar la eternidad de la muerte.“). Ebd., S. 147.
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zu können.272 Neben dem populären konnte möglicherweise auch der erwähnte subversive Charakter der historischen chacona diese als ein Produkt ‚alternativer‘, tendenziell herrschaftskritischer Geschichte erscheinen lassen.273 Es lässt sich annehmen, dass die Gattung der chacona (und überhaupt musikalische Vorlagen betont populären Charakters) dasjenige repräsentierte, was Gerhard als ‚realistische‘ Darstellung von Volkskultur auffasste, und was damit geeignet war, die im republikanischen Spanien der 1930er Jahre zentrale (und in das Exil ‚hineingetragene‘) „Grundvorstellung von der Verwurzelung der Kultur im Volk“274 fortzuführen. Ein ‚Realismus‘ der chacona kommt besonders in Gerhards „Chacona de la Venta“ aus Szene 2 und der ihr zugrunde liegenden Tonadilla-Vorlage samt ihrer erotischen 272 Dies müsste mit Blick auf Gerhards Lehrzeit beim Musikforscher Pedrell, seine musikologischen Tätigkeiten an der Biblioteca de Catalunya in Barcelona und die von Gerhard im Exil für die BBC-Sendereihe „The Heritage of Spain“ verfassten Radiobeiträge zur spanischen Musikgeschichte nicht verwundern. 273 Diesbezüglich wäre zu bemerken, dass auch der Text der Musikvorlage b, die Gerhard seiner „Chacona de Palacio“ zugrunde legte, in das Muster einer tendenziell herrschaftskritischen Erzählung eines geschichtlichen Ereignisses passt. Beim jener Vorlage b handelt es sich um die anonym verfasste Romance del rey don Fernando el cuarto. In jener Romanze wird die Legende um die Umstände des Todes König Ferdinands IV. von Kastilien (1285–1312) besungen. Ohne Verhör hatte der König jener Überlieferung nach am Ort Martos in Jaén zwei Nobelmänner, die Brüder Carvajal aus dem Orden von Calatrava, umbringen lassen. Eingesperrt in einem Eisenkäfig mit scharfen Zinken soll er sie von einem Turm haben werfen lassen, weil ihm mitgeteilt worden war, dass diese seinen Günstling Juan de Benavides umgebracht hätten. Die Legende besagt, dass die beiden Nobelmänner dem König kurz vor ihrem Tod prophezeit hätten, binnen einer Frist von 30 Tagen selber zu sterben. Diese Prophezeiung hat sich laut der Legende erfüllt, weshalb jener König den Beinamen „el Emplazado“ (‚der Abberufene‘) bekam. (Siehe Art. „Hermanos Carvajal“, http://es.wikipedia.org/wiki/Hermanos_Carvajal, letzter Zugang am 9.01.2015.) Es lässt sich annehmen, dass der König willkürlich handelt, wenn er ohne das ihm zugetragene Gerücht näher zu prüfen, grausam mordet. Denn der Text der Romanze macht unmissverständlich klar, dass die Überbringer des Gerüchts Schurken („villanos“) waren („El rey […] hizo complir su mandado/ por la falsa información/ que los villanos le han dado […]“ Anonym, Romance del rey don Fernando el quarto, in: El romancero viejo, hrsg. von Mercedes Díaz Roig, Madrid 171992, S. 125 f., Zeile 42/43). Die Erfüllung der Prophezeiung erscheint vor diesem Hintergrund als ein Akt der Gerechtigkeit von höherer Stelle; die Brüder Carvajal rufen als Zeugen des von ihnen vorausgesehen Tods des Königs den heiligen Peter und Paul, und als Schreiber den Apostel Jakobus an. (Siehe ebd., Zeile 40/41.) In der Romanze wird das ungerechte Handeln des Königs demnach schonungslos aufgedeckt, und es lässt sich annehmen, dass in der tradierten Legende eine unbestechliche und tendenziell herrschaftskritische Haltung eingenommen wurde. Generell kommt der Romanzen-Gattung im Kontext des Spanischen Bürgerkriegs eine bevorzugte, identitätsstiftende Rolle zu, man denke an die Wiederbelebung jener Gattung durch den romancero de la Guerra Civil, der in der Zusammenarbeit etablierter Schriftsteller mit unbekannten Arbeitern und Soldaten geschaffen wurde. Faber erachtet dieses Projekt als typisch für die ersten Monate des Bürgerkriegs, in welchen der Widerstand gegen die Franquisten in Form von Milizen organisiert war (und noch nicht in einer Armee) (vgl. Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S. 87 f.); er sieht in jenem romancero ein greifbares Ergebnis der durch die spanische Volksfront begonnenen Bemühungen um eine Demokratisierung von Kultur. (Vgl. ebd.) Zu weiteren progressiven Formen kultureller Aktivität neben dem romancero-Projekt, siehe auch ebd., S. 71–73. 274 Siehe Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien. 1936–1939, S. 201.
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und exotischen Pikanterie zur Geltung,275 und dieser ‚Realismus‘ konnte mit Gerhards „Chacona de Palacio“, wie gesagt, auch in den höfischen Kontext von Szene 4 hineingetragen werden und die dortigen phantastisch-traumhaften Ereignisse brechen. Von einer derartigen Tradition der Volkskultur lässt sich annehmen, dass sie im Spanien des Franco-Regimes tabuisiert wurde, weil sie an das republikanische Spanien erinnerte. Mit dem Aufgreifen derartiger Gattungen betont populären Charakters in seinem Ballett konnte Gerhard an den politisch progressiven Kulturbegriff der Republik anknüpfen, um im Exil einen Gegenkanon276 zu den in Franco-Spanien kursierenden nationalen Repräsentationen zu bilden. Wie bereits ausgeführt, kam nach Faber kulturellen – und damit auch, so ließe sich hinzufügen: musikalischen – Repräsentationen der Nation im Exil besondere Bedeutung zu, insofern sie den Exilierten als die einzige Möglichkeit verblieben, der Kultur des Franco-Regimes das ihren Vorstellungen gemäße ‚authentische‘ Spanien entgegenzusetzen.277 Wie Faber zeigt, kamen Exil-Intellektuelle und -Künstler dazu, spanische Kultur als die ‚Essenz‘ ihrer Nation zu betrachten; sie nahmen sich selber als alleinig verbliebene Repräsentanten jener Kultur (und damit: der ‚authentischen‘ Nation) und zu ihrer ‚Rettung‘278 verpflichtet wahr und konnten als solche im Exil besonderen Schutz beanspruchen : 275 Mit Blick auf den Text der für Gerhards chacona in Szene 2 verwendeten Melodievorlage, dem „Tononé“ aus der Tonadilla El pretendiente von Pablo Esteve (siehe Felipe Pedrell, Cancionero musical popular español, Bd. 4, Barcelona 41958, S. 128–133), lässt sich sehen, dass der Text jener „Tonadilla a duo“ eine volkstümliche und erotisch-pikante Szene zwischen Mann und Frau, einem Majo und einer Maja, beschreibt: Der Mann schließt, als er die Geliebte kommen sieht, die Tür und löscht das Licht. Bei den Protagonisten der Tonadilla, einem „negrillo“ und einer „negrilla“, könnte es sich um als exotisch wahrgenommene Figuren handeln, wie sie möglicherweise auch innerhalb des chacona-Genres hätten besungen werden können. 276 Faber beschreibt den von ihm untersuchten ‚Kampf um kulturelle Hegemonie‘ der spanischrepublikanischen Exil-Intellektuellen als einen Kampf um die Deutungshoheit des spanischen kulturellen Erbes und der Nation („[…] not only a struggle over the definition of Spain’s cultural heritage, canon and ‚great men,‘ but also over political and intellectual property.“, Sebastiaan Faber, Exile and Cultural Hegemony, S.43). Er zeigt, wie dieser Kampf im Fall der nach Mexiko exilierten Intellektuellen die Produktion eines kulturellen Gegenkanons einschloss (siehe sein Kapitel „The Republican Countercanon and the Dream of Pan-Hispanist Unity“, in: ebd., S. 120–147); u. a. führt er das Beispiel des von José Bergamín in Mexiko gegründeten Verlagshauses Séneca an „which […] helped lay the foundation for what would become the alternative canon to the censor-stricken index of Francoist Spain.“ Ebd., S. 138. 277 Siehe ebd., S. 35. 278 Faber verweist diesbezüglich auf die für das mexikanische Exil vorgesehene und dort wirkende Junta de Cultura Española, an deren Gründungstreffen am 13. März 1939 in Paris namhafte Intellektuelle beteiligt waren (Faber nennt u. a. José Bergamín, Juan Larrea, Josep Carner, Corpus Barga und Rodolfo Halfter). (Vgl. ebd. S. 121.) Aus deren Statuten gehe als Hauptziel die ‚Rettung authentischer spanischer Kultur‘ hervor: „This rescue operation implied securing the lives of hundreds of exiled Spanish intellectuals in France and elsewhere, primarily by facilitating their evacuation to Spanish America.“ (Ebd.) Weiter verweist Faber auf die bereits im November 1936 vorgenommene Evakuierung Intellektueller aus der durch die Franquisten stark bombadierten Hauptstadt Madrid nach Valencia, wo das frühere Palace Hotel für sie als Wohn- und Arbeitsstätte eingerichtete und zur Casa de la Cultura umbenannt wurde. (Vgl.
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„[…] once the war was lost, the intellectuals saw themselves as the sole heirs to the Republican cause. The Republic had died, the Spanish pueblo had been sacrificed; now it was the intellectuals’ turn. Hence to safeguard the continuity of Spanish culture meant, in the first place, to protect the intellectuals.“279
Als Modell für einen solchen Gegenkanon war die von Unamuno propagierte alternative Geschichte der ‚intrahistoria‘ optimal geeignet. Unamunos Konzept einer kontinuierlichen, ‚ewigen‘ Tradition, die als Innenseite spanischen Kollektivbewusstseins fortwirkte, mag für Gerhard eine Möglichkeit geboten haben, den Verlust der Heimat und des republikanischen Spanien, mit dem Gerhards Biographie so eng verbunden war, zu verkraften. Dieses Konzept mag Trost gespendet haben und als Mittel zur Bewältigung jenes Verlusts gedient haben. Wenn Gerhard vermittels Unamunos ‚tradicion eterna‘ die mit der Spanischen Republik von 1931 verknüpften kulturellen Werte im Exil aufrechterhielt, dann erinnerte er an die Republik nicht im Sinne eines abgeschlossenen Kapitels in der Geschichte Spaniens. Vielmehr kann angenommen werden, dass Gerhard das unamunosche Projekt einer noch immer ausstehenden, zukünftigen Entdeckung der ‚intrahistoria‘ (bzw. der ‚Erweckung‘ des pueblo), der Basis eines ‚ewigen Spanien‘, als Projekt des republikanischen Spanien aktualisierte und es im Exil aufrechterhielt. Indem er auf eine historische und populäre Gattung wie die chacona zugriff, konnte Gerhard den Glauben an das Bestehen und die Beständigkeit der ‚tradición eterna‘ für sich und andere aufrechterhalten, weil er eine solche ‚tradición eterna‘ vom Exil aus fortschrieb, sie in Gebrauch hielt, und damit – ganz im Sinne Unamunos – als permanent gegenwärtige und ununterbrochene Geschichte des Spanischen aktualisierte. So verstanden lässt sich Gerhards Don Quixote-Ballett nicht nur als ein ‚Denkmal‘ für das verlorene republikanische Spanien sehen, sondern zugleich als Dokument eines im Exil aufrechterhaltenen Glaubens oder Glaubenwollens an das ‚ewige‘, ‚authentische‘ Spanien und der fortgesetzten Hoffnung auf die Erneuerung desselben.
ebd., S. 123 f.) Er bemerkt, dass die ‚Rettung des spanischen kulturellen Erbes‘ bereits seit Beginn des Bürgerkriegs eines der expliziten Ziele der republikanischen Regierung gewesen sei. Vgl. ebd., S. 79. 279 Ebd., S. 123.
LITERATURVERZEICHNIS PRIMÄRQUELLEN ZU ROBERTO GERHARDS DON QUIXOTE-KOMPOSITION (AUSWAHL): [* Datierungen in eckigen Klammern wurden übernommen von der Online-Manuskriptliste des Roberto Gerhard-Archivs der CUL, einsehbar unter: http://www.lib. cam.ac.uk/Departments/Music/Gerhard/Music.html, letzter Zugang am 16.01.2015.] a) Zu Ballett I: Don Quixote. Ballet. 1ª version original de 1940–1941. Orquesta (Partiturautograph), CUL MS. Gerhard.4.9. Don Quixote/ Ballet in 5 Scenes, piano [1941?*] (Diazo-Kopie Klavierauszug, Autograph), CUL MS.Gerhard.4.30. Detaillierte Übersichtsskizze musikalischer Formteile, undatiert (Autograph Bleistift, spanisch, 1 Seite), CUL MS.Gerhard.13.13/2. Szenario, 1st draft, 9/05/[19]40 (Typoskript, englisch), CUL MS.Gerhard.13.10/2. Übersicht musikalischer Formteile und der Szeneninhalte, undatiert (Typoskript, englisch), MS.Gerhard.13.12/2. b) Zur Don Quixote-Suite für Kammerorchester (Suite Nr. 1): [Die Partitur gilt als verloren, Vermerk im Manuskriptkatalog der CUL: „Without Classmark!: DQ 1941 Suite No. 1 for small orchestra, removed“]. c) Zur Sinfonischen Suite Nr. 2: Symphonic Suite / from the/ Ballet/ ‚DON QUIXOTE’ 1947 Orquesta (Partiturautograph), CUL MS.Gerhard.3.4. Don Quixote, Suite Nr. 2 [1948?], Klavierauszug (Autograph Bleistift), MS.Gerhard.4.18. d) Zu Ballett II: Don Quixote-Ballett (1949) (Partiturautograph schwarze Tinte), CUL MS.Gerhard.1.5. Don Quixote-Ballett [1949?], Klavierauszug (Abschrift), CUL MS.Gerhard.5.27. Don Quixote-Ballett, Klavierauszug (= Dyline-Kopie von CUL MS.Gerhard.5.27), mit beiliegender loser Seite mit Angaben zur Kostümierung (Typoskript, englisch), CUL MS.Gerhard.5.28. DON QUIXOTE Ballet in 5 Scenes, Scenario and music by Roberto Gerhard (Szenario zu Ballett II, Typoskript, deutsch), CUL MS.Gerhard.13.11. e) Sonstige: Burra, Edward, Bühnenvorhangsmalereien, 7 Reproduktionen, Archiv des Tate Britain-Museums, London (seven b&w photographs of Burra’s stage designs for ‚Don Quixote’, made for the British Ballett Exhibition, Spain/Portugal 1950, TGA 771/3/2–8). Gerhard, Roberto, Notizbuch (datiert: Oktober 1947), CUL MS.Gerhard.10.131. Ders., Notizbuch (datiert: November 1947), CUL MS.Gerhard.10.132. [Verfasser anonym, wahrscheinlich Gerhard], Don Quijote, (undatiertes Radio-Skript, spanisch, ca. 1942), CUL MS.Gerhard.11.20/2. [Verfasser anonym, wahrscheinlich in enger Absprache mit Gerhard], Radioskript mit Inhaltsangabe zu Ballett II (Typoskript, 4 Seiten, englisch), CUL MS.Gerhard.11.45.
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PERSONEN- UND SACHREGISTER Adorno, Theodor W. 79 Akkord- und Reihenklassifizierung 47 f., 53, 77, 116, 161 f. Alfonso XIII. 28, 178 Alonso Tomás, Diego 34, 51 Arber, Agnes 106 Auner, Joseph 55–57, 60 f., 66, 115 Azaña, Manuel 178 Azorín (José Martínez Ruiz) 31, 177, 266 Babbitt, Milton 38, 49 f., 73 Barberá, Josep 95, 124, 308 Bergson, Henri 158, 176, 177, 188 Bewusstseinsstrom 78–82, 101, 155, 171–173, 182 Britt Arredondo, Christopher 181 Burra, Edward 250, 277 Carner, Josep 29, 346 Casals, Pablo 141, 143 Casticismo 267 f., 270 f. Chacona 234, 249, 252, 260, 271–277, 302, 336–347 Consejo Central de la Música 27, 28 Darmstädter Ferienkurse / Darmstädter Schule 49, 114, 144 Dahlhaus, Carl 40, 84, 93, 125, 164 f., 168 Dilthey, Wilhelm 176, 188 Drew, David 248, 250, 252 Eimert, Herbert 35, 136 Enharmonische Umdeutung/Verwechslung 130, 135 f., 322–325 Evolutionstheorie/ -biologie 19, 189 Faber, Sebastiaan 24–28, 30–32, 179, 233, 270, 273, 306, 345 f. Faschismus/Faschisten 26 f., 29, 179, 265 Ferdinand IV. von Kastilien 339, 345 Fétis, François-Joseph 97, 133 f., 137, 152 Fonteyn, Margot 250 Forte, Allen / pitch class set-theory 50, 77, 161 Franco, Francisco/ Franco-Spanien 30 f., 213, 271, 302, 346
Franquismus/Franquisten 29 f., 181 f., 213, 271, 345 f. Fuhrmann, Wolfgang 307 Gerhard, Roberto – L’Infantament meravellós de Schahrazada (1918) 95 – Klaviertrio (1918) 95 – Dos Apunts (1921/22) 124, 308 f., 310 – 7 Haiku (1922) 94 – Concertino für Streichorchester (1927/28) 94 f. – Bläserquintett (1928) 13 f., 51, 94 f., 145, 331 – Sardanas (1928/29) 29, 94 f. – Andantino für Klarinette, Violine und Klavier (1928–29) 50 f. – Sis cançons populars catalanes (1928) (ursprünglich: 14 cançons populars catalanes) 29, 94, 121 – „La Calandria“, aus: Sis cançons populars catalanes 121, 126, 128, 131 – L’alta naixença del Rei en Jaume (1932) 29 – Ariel (1934) 29 – Albada, Interludi i Dansa (1936) 29, 126 – Soirées de Barcelone (1936–39) 29 – Pandora (1943/44) 29 f., 341 – Violinkonzert (1942/43) 11, 14, 130, 265 – The Duenna / La Dueña (1945–47) 11, 30, 130 – Capriccio (1949) 12, 43 f. – Three Impromptus (1950) 12 f., 41, 52 – Streichquartett Nr.1 (1950–55) 12 f., 41–44, 74, 78 – Konzert für Klavier und Streichorchester (1951) 12 f. – Sinfonie Nr.1 (1952–53) 13, 41, 44, 294, 312 – Sinfonie Nr.2 (1957–59) 41, 59 f. – Dances from Don Quixote (1958) 248, 252 – Sinfonie Nr.3 (Collages) (1960) 12, 60, 168 f. – Concerto for Orchestra (1965) 12, 60 ‚Generation von 1898‘ 31, 266 Gervink, Manuel 36, 116
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Personen- und Sachregister
Gleichberechtigung der (zwölf) Töne / Äquidistanz 136–139, 144, 276, 324 f. Graham, Helen 29, 32, 178 f., 271 Gramsci, Antonio 25, 233 Guardia Civil Española 213 Haimo, Ethan 36, 43, 69 Harders-Wuthenow, Frank 11 Helpman, Robert 250 Hinrichsen, Hans-Joachim 63 f., 69, 107 Jacob, Andreas 68, 93 f., 100, 120 f. Jakob I. von Aragón 29 James, William 19 f., 80, 87, 176, 182, 185, 202 f., 326, 335 f. Kanon/ kanonartige Techniken 66 f., 169, 259, 294, 320 Kant, Immanuel 133, 153 f. – ‚Ding an sich‘ 85, 91, 94, 118, 133, 153 f., 160 Kierkegaard, Sören 19, 177, 184, 207 f., 211, 217 f. Kollektivbewusstsein/Kollektivseele 19, 72, 117, 182, 215, 222, 232, 241, 244–247, 261 f., 317, 320, 347 Komplementärharmonik 164 f., 167–169, 263, 325 Korrespondenztheorie der Wahrheit / Korrespondenzobjekt 20, 86 f., 106, 148, 196 f., 203 Krebs, Wolfgang 156–158 Krenek, Ernst 35, 46 f. Kreuzsymbolik 297, 299–302 Kurth, Ernst 134, 156–161, 163, 170, 172 Leitton/Leittönigkeit 128, 160 f., 165, 168, 263, 281 f., 294, 310 f. Lerroux, Alejandro 178 Linklater, Eric 248 Luchterhandt, Gerhard 107 f., 115, 117, 119, 136, 150 f. Magic square / 12×12-Matrix 56 f., 59–61 Madariaga, Salvador de 177, 334 f., 342 McClary, Susan 96 Millán Astray, José 178 f. Millet, Lluís 95 f., 98 f., 101 f., 108. 154 f. Mitchell, Rachel E. 41–44, 51, 74 Neuschäfer, Hans-Jörg 171, 253–255 Ortega y Gasset, José 31, 176 f., 179, 181, 219
Pedrell, Felipe 15, 83, 95, 131, 134, 271, 273, 339 f., 345 Perle, George 50, 52, 72, 124 f., 167, 331 Pragmatischer Wahrheitsbegriff / Pragmatische Wahrheitstheorie 19, 87, 98 f., 148, 174, 183, 185, 196, 203 f., 209 f., 211–213, 230 f., 307, 335 f. Primo de Rivera, Miguel 28, 177 Quixotisierung 220–223, 265, 305 f., 316, 334 Quintstrukturierter Tonraum / cycle of fifths 121, 129–131, 276 f., 331, 341 Rabaté, Jean-Claude 178 f., 180 f., 267 Renau, José 27 Riemann, Hugo – Funktionstheorie 40 – Tonalitätstheorie 161 Romance/Romancero 339, 345 Rubin, Harold 248 f. Rue, Pierre de la 307 Rufer, Josef 34, 46–49 Regeneración 31, 180 Sánchez de Andrés, Leticia 12, 249 f. Schopenhauer, Arthur 19, 153 f., 157–159 Schönberg, Arnold – ars combinatoria 67, 71, 173 – einheitlich anzuschauender musikalischer Raum / Einheit des musikalischen Raums 55–64, 68, 78, 100, 115, 119 f., 248 – Emanzipation der Dissonanz 84, 93, 135, 160 – musikalischer Gedanke 17, 55–57, 61, 64–69, 71, 93 f., 99 f., 107 f., 117–120, 132 f., 151, 153 f. – Tanzscene, aus: Serenade für Klarinette, Bassklarinette, Mandoline, Gitarre, Violine, Viola, Violoncello und eine tiefe Männerstimme op. 24 (1920–23) 52 – Suite für Kleine Klarinette, Klarinette, Bassklarinette, Violine, Viola, Violoncello und Klavier op. 29 56 f., 60 f. – Von heute auf morgen op. 32, Oper in einem Akt (1928/29) 38 f. – Violinkonzert op. 36 69 – Streichquartett Nr. 4 op. 37 36, 43, 162 – Ode to Napoleon Buonaparte für Streichquartett, Klavier und Sprecher op. 41 52 Sichardt, Martina 69 Simmel, Georg 176, 188 Souris, André 250 Sproston, Darren 41, 59 f., 70, 77, 168 f., 294
Personen- und Sachregister Stein, Louise K. 338 f. Symmetriefeld 167, 279 f., 282, 291 f., 318 f., 327–332 Tonalität – als ‚Kunstmittel‘ 35, 93 f., 98 f., 102, 107 f., 117 – als Natur des Tons 17, 22, 54, 83–85, 88, 92–94, 102, 108 f., 112, 116 f., 134, 143, 147, 153, 155, 159, 213, 324, 326, 330 Unamuno, Miguel de – Ideenherrschaft (ideocracia) 87, 148, 181, 195–197, 205, 207 – Intrahistoria 26 f., 239, 260 f., 273, 300, 317, 342, 344, 347 – Tradición eterna 99, 182, 261, 342, 344, 347
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– Leben-als-Traum-Gedanke 195, 199, 216, 223–230, 240, 300, 302 Valéry, Paul 170 f., 177 Valls, Josep 15, 131, 249, 258 Valois, Ninette de 250 Verifizierung/Verifikation einer Idee 21, 87, 98 f., 196, 199, 203, 212, 269, 306 Weber, Eckhard 228, 257, 309 Webern, Anton 49, 144–147 White, Julian 29 f., 130, 259 f., 265, 312, 341 Whitehead, Alfred N. 81, 177 Wörner, Felix 49 f. Zillig, Winfried 162
a rc h i v f ü r m u s i k w i s s e n s c h a f t
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beihefte
Herausgegeben von Albrecht Riethmüller in Verbindung mit Ludwig Finscher, Frank Hentschel, Hans-Joachim Hinrichsen, Birgit Lodes, Anne Shreffler und Wolfram Steinbeck.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 0570–6769
Ivana Rentsch Anklänge an die Avantgarde Bohuslav Martinůs Opern der Zwischenkriegszeit 2007. 289 S. mit 63 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-08960-9 Frank Hentschel Die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ Über Geschichte und Historiografie aktueller Musik 2007. 277 S. mit 6 Notenbeisp. und 4 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09109-1 Simon Obert Musikalische Kürze zu Beginn des 20. Jahrhunderts 2008. 307 S. mit 37 Notenbeisp. und 1 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09153-4 Isabel Kraft Einstimmigkeit um 1500 Der Chansonnier Paris, BnF f. fr. 12744 2009. 348 S. mit zahlr. Notenbeisp., 71 Abb. und CD-ROM, geb. ISBN 978-3-515-08391-1 Frédéric Döhl „… that old barbershop sound“ Die Entstehung einer Tradition amerikanischer A-cappella-Musik 2009. 294 S. mit 46 Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09354-5 Ulrich Linke Der französische Liederzyklus von 1866 bis 1914 Entwicklungen und Strukturen 2010. 311 S. mit zahlr. Notenbeisp., geb. ISBN 978-3-515-09679-9 Irene Kletschke Klangbilder Walt Disneys „Fantasia“ (1940) 2011. 205 S., geb. ISBN 978-3-515-09828-1 Rebecca Wolf Friedrich Kaufmanns Trompeterautomat
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Die besondere, kombinatorische Anwendung der Zwölftonmethode im Exilschaffen des spanisch-englischen Komponisten und Schönbergschülers Roberto Gerhard (1896–1970) war verbunden mit einer lebensphilosophischen Lesart der Don Quixote-Figur. Über jene Lesart gibt Gerhards Ballett Don Quixote Aufschluss, das in den ersten Jahren des Exils entstand. In dessen Konzept spiegelt sich deutlich Gerhards eingehende Kenntnis der Schriften des spanischen Schriftstellers und Philosophen Miguel de Unamuno (1886–1936) und die von Unamuno thematisierte nationale Symbolik der Don Quixote-Figur.
Für diese Arbeit wurden die von Gerhard markierten und zitierten Textabschnitte aus Schriften Unamunos ausgewertet und zur Grundlage für die Untersuchungskategorie des ‚quixotischen Code‘, in dessen Zentrum die spezifische Funktionsweise von Don Quixotes Rittertum-Wahn steht. Der Code ermöglicht es, eine gedankliche Struktur in Gerhards Rezeption unamunoscher Schriften zu finden, er macht lebensphilosophische Aspekte in Gerhards musiktheoretischer Tonalitäts- und Zwölftonreflexion sichtbar, und er erhellt das inhaltliche Konzept und die komplexen Verfahren der Reihenhandhabung in Gerhards Ballett.
www.steiner-verlag.de
ISBN 978-3-515-11065-5
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7 83 5 1 5 1 1 0655