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German Pages 508 [510] Year 2022
Monika Frohnapfel-Leis, Muriel González Athenas (Hrsg.) Zwischen Raum und Zeit
SpatioTemporality / RaumZeitlichkeit
Practices – Concepts – Media / Praktiken – Konzepte – Medien Edited by / Herausgegeben von Sebastian Dorsch, Bärbel Frischmann, Holt Meyer, Susanne Rau, Sabine Schmolinsky, Katharina Waldner Editorial Board Jean-Marc Besse (Centre national de la recherche scientifique de Paris), Petr Bilek (Univerzita Karlova v Praze), Fraya Frehse (Universidade de São Paulo), Harry Maier (Vancouver School of Theology), Elisabeth Millán (De-Paul University, Chicago), Simona Slanicka (Universität Bern), Jutta Vinzent (University of Birmingham), Guillermo Zermeño (Colegio de México)
Volume / Band 14
Zwischen Raum und Zeit Zwischenräumliche Praktiken in den Kulturwissenschaften Herausgegeben von Monika Frohnapfel-Leis und Muriel González Athenas
Mit freundlicher Unterstützung der DFG und der Erfurter RaumZeit-Forschung (ERZ).
ISBN: 978-3-11-075751-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-075830-6 e- ISBN (EPUB) 978-3-11-075839-9 ISSN 2365-3221 Library of Congress Control Number: 2021947724 Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available from the Internet at http://dnb.dnb.de. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Joseph Mede: Clavis apocalyptica ex innatis et insitis visionum characteribus eruta et demonstrata. Ad eorum usum quibus Deus amorem studiumq; indiderit prophetiam illam admirandam cognoscendi Scrutandíq; Cantabrigiæ, T. Buck, 1632. In Daniel Rosenberg, Anthony Grafton. Die Zeit in Karten. Eine Bilderreise durch die Geschichte. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2015, 179 (Courtesy of Princeton University Library). Printing and binding: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Monika Frohnapfel-Leis und Muriel González Athenas Vorwort IX
1. Einleitung: Zwischenräume Monika Frohnapfel-Leis und Muriel González Athenas Zum Konzept der Zwischenräume: eine Einleitung 3
2. Körper, Materialität und (Zwischen‐)Raum Katja Weidner Chronotopes Erzählen im Zwischenraum: die Höhle der sieben Schläfer
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Norbert Finzsch Räume weiblichen Begehrens: Kliteridektomie und heteronormative Einhegung 47 Matthias Rekow „Aufruhr“ im Garten Gethsemane – Eine konfessionelle Bildpolemik zum 77 böhmischen Ständeaufstand 1618 – 1623
3. Zwischenräume, Religion und Geschlecht als topologische Faktoren Anna-Katharina Rieger Räume religiöser Praktiken in der Palmyrene in römischer Zeit – materielle Evidenz für die Konstituierung von Heterochronotopoi (‚anderen Raum-Zeiten‘) 113 Meret Strothmann Im Zentrum steht die Magie. Zu religiösen Räumen zwischen Heiden und Christen in der römischen Antike 155
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Inhalt
Babette Reicherdt (Im)mobile Subjekte: Subversive Raumaneignungen in der Chronik der 187 Villinger Klarissen im 15. Jahrhundert Sabine Schmolinsky Räumlichkeit und Geschlecht in mittelalterlichen Ordensnormen
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4. Zwischenraum und Ordnung Florian Dirks Das früh- und hochmittelalterliche Westfrankenreich (9. –11. Jahrhundert) – ein Land der Zwischenräume? 235 Björn Klein & Felix Krämer Zwischenraum: Der Fall Murray Hall in transsektionaler Perspektive Sona Lisa Arasteh-Roodsary Der flexible Raum. Zum topologischen Raumbegriff nationalistischer Kulturkritik am Beispiel von Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher
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5. Körper in Ausnahmesituationen Nina Kreibig „Fürchtet Euch nicht lebend begraben zu werden, aber sorget dafür, daß Ihr es nicht werden könnt“. Zur Raum-Zeit-Wahrnehmung des Todes in den Leichenhäusern des 19. Jahrhunderts 301 Sylvia Wehren Ungeheuerlich Tierisches entgegen edler Menschlichkeit. Aufklärungspädagogik zu Kinderkörpern in Zwischenräumlich- und Zwischenzeitlichkeit 337 Antonio Lucci Zwischen Himmel und Erde. Formen der asketischen Zwischenräumlichkeit am Beispiel der syrischen Säulenheiligen 369
Inhalt
6. Körper in raumzeitlicher Aneignung Kristin Platt Der Körper im Zwischenraum von literarischen Zukunftsvorstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts 399 Oskar Terš Die mumifizierten Körper der Maria Candia-Gruft als Zwischenraum der 431 Nichtverwesung Monika Frohnapfel-Leis Der Körper der Zukunft: RaumZeit in frühneuzeitlichen Blicken in die Zukunft 473 Autorinnen und Autoren
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Monika Frohnapfel-Leis und Muriel González Athenas
Vorwort Die vorliegende Publikation versammelt die Ergebnisse dreier „Zwischenräume“-Workshops, die in den Jahren 2016 – 2018 an der Universität Erfurt stattfanden. Die Workshops waren thematisch unterschiedlich ausgerichtet, ihnen gemein war jedoch der gedankliche Einstieg wie auch Überbau des Zwischenraumes. Den Auftakt machte die Veranstaltung im Oktober 2016, als es um „Räume des Religiösen. Zwischenraum, Third Space oder Heterotopie“ ging. Der zweite Workshop im November 2017 griff eine Diskussion aus dem Vorjahr auf und entwickelte daraus die Frage für den nächsten Workshop: Wie binden wir die Zeit in den Raum ein? Ist es sinnvoll, die Begriffe „Heterotopie“ und „Chronotopos“ zu einem neuen Terminus des „Heterochronotopos“ zu kombinieren? Im dritten Workshop im November 2018 schließlich rückten Themen, die bereits mit einem zwischenräumlichen Fokus betrachtet worden waren, wie etwa Materialität und Körperlichkeit der Zwischenräume, in den Mittelpunkt. Die Workshops zeichneten sich aufgrund des Engagements aller Teilnehmenden durch eine als überdurchschnittlich produktiv empfundene und dem Austausch von Gedanken und dem Ausprobieren erster Ideen förderliche Atmosphäre aus. Die Herausgeberinnen möchten der Erfurter RaumZeit-Forschung (ERZ) für die Aufnahme in die Reihe „SpatioTemporalities“ danken und für die allzeit gute und kollegiale Beratung durch die Mitglieder des Sprecher*innen-Teams und die Herausgeber*innen der Reihe hinsichtlich inhaltlicher und organisatorischer Fragen sowie letztlich der großzügigen finanziellen Förderung. Die ERZ bot unseren Ideen und Formaten immer ein anregendes Umfeld und war eine verlässliche und inspirierende Partnerin in den Weiten der Forschung zu raumzeitlichen Thematiken. Zu danken ist ferner der Forschungsförderung der Universität Erfurt und auch der Ernst-Abbe-Stiftung, die zwei der Workshops ko-finanziert hatte. Frau Bettina Neuhoff vom De Gruyter-Verlag sei für die gute und professionelle Betreuung des Publikationsprozesses gedankt. Aaron French leistete eine großartige Unterstützung bei der Übersetzung der Abstracts, wofür wir ihm herzlich danken. Ein großes Dankeschön geht auch an Sebastian Dorsch, der bereits in einem frühen Stadium von Workshops und Publikation wichtige organisatorische Weichen zu stellen half. Für ihre vielen guten Vorschläge und Anregungen inhaltlicher Art möchten wir Susanne Rau und Katharina Waldner danken, die sich sehr um einzelne Beiträge des Bandes
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Monika Frohnapfel-Leis und Muriel González Athenas
bemüht gemacht haben und – ebenso wie Sabine Schmolinsky – den Entstehungsprozess sowohl der Workshops als auch letztlich der Publikation lange und wohlwollend begleitet und unterstützt haben. Monika Frohnapfel-Leis Muriel González Athenas
1. Einleitung: Zwischenräume
Monika Frohnapfel-Leis und Muriel González Athenas
Zum Konzept der Zwischenräume: eine Einleitung Raum betrifft alle Bereiche des menschlichen Lebens, in historischen wie in gegenwärtigen Gesellschaften. Das Interesse an ihm hat in verschiedenen Forschungsdisziplinen in den letzten Jahren zugenommen, so etwa an der Frage nach räumlichen Strukturen als methodischem Zugang in den Geschichtswissenschaften. In Gesellschaft und Medien wird aktuell die Idee des geopolitisch und geographisch einheitlichen Raums Europas wieder viel diskutiert. Vorstellungen von den geschlossenen und klar verortbaren Grenzen sowohl nach „innen“ als auch nach „außen“ haben Konjunktur. In diese Vorstellungen betten sich geschlossene einheitliche Bilder von „Wir“ und den „Anderen“ ein, die wenig dazu beitragen, die Konflikte um Krieg, Flucht und Migration zu lösen, aber nachhaltig den Bewegungs- bzw. Fluchtraum stark einschränken und seine Grenzen mitunter tödlich machen. Dem zugrunde liegt eine als räumliche Einheit begriffene Geographie des Kontinents „Europa“, die selten hinterfragt wird.¹ Eine Analyse, wie solche Raumvorstellungen entstanden sind, könnte hier zur Versachlichung von Debatten führen. Die Raumforschung bewegt sich in einem Spannungsfeld, das stark interdisziplinär und epochenübergreifend geprägt ist. Eine Frage, die die geschichtswissenschaftliche Forschung immer wieder umtreibt, ist: Welchen Mehrwert können wir von Raumkonzepten für die Analyse von komplexen (historischen) Fragestellungen, Konstellationen und Bedingungen, von Entstehung und Zerfall, von Bruch, Wandel und Kontinuität, von Machtund Geschlechterverhältnissen usw. erwarten? Eine der in der neueren Raumforschung viel diskutierten Analyseperspektiven ist die des „Zwischenraumes“,
Vgl. Wolfgang Schmale. Das 18. Jahrhundert, Wien [u. a.]: Böhlau, 2012, hier 241– 353; Michael Wintle, The Image of Europa, Cambridge 2009; Jörg Dünne. Die Kartographische Imagination. Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit. München: Fink, 2011; Sebastian Lentz/ Ferian Ormeling (Hg.). Die Verräumlichung des Weltbildes. Petermanns Geographische Mitteilungen zwischen „explorativer Geographie“ und der „Vermessenheit“ europäischer Raumphantasien. Stuttgart: Steiner, 2008; Herfried Münkler, Europa als politische Idee. Ideengeschichtliche Facetten des Europabegriffs und deren aktuelle Bedeutung. Leviathan 19 (1991), 521– 541; Frithjof Benjamin Schenk. Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung. Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 493 – 514; Hans-Dietrich Schultz, Europa: (k) ein Kontinent? Das Europa deutscher Geographen. In Iris Schröder/Sabine Höhler (Hg.). WeltRäume. Geschichte, Geografie und Globalisierung seit 1900. Frankfurt a. M./New York 2005: Campus, 204– 235. https://doi.org/10.1515/9783110758306-002
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Monika Frohnapfel-Leis und Muriel González Athenas
bisweilen auch als Leerstelle, „space in between“ oder transitorischer third space bezeichnet.² Praktisch verortbare Zwischenräume sind uns vertraut aus den unterschiedlichsten Alltagskonstellationen wie Bahnsteige, Flure, Stadtarchitekturen, Grenzverläufe, etc. Kulturwissenschaftlich perspektiviert können diese auch als Gegenräume, Zwischenstadien, (literarische) Leerräume, Hybriditäten, Dritte Räume, Zeiträume, kartographische Imaginationen und auch Un-Räume konzeptualisiert werden. Deren präzise Definition ist häufig nicht möglich, jedoch kann sich diesen Zwischenräumen mit Hilfe von Raumkonzepten angenähert werden.³ Dabei hat sich in diesen neueren Forschungskonzepten der Raum von seiner territorialen respektive geographischen Konnotation weg bewegt zu anderen Perspektiven, die die Konstituierung von Raum durch Bewegung, Praktiken und Relationen untersuchen. In Folge dieser Sichtweise, die den Raum als „ein Geflecht von beweglichen Elementen“⁴, die sich in ihm entfalten, definiert, ist die Bewegung zwischen den Räumen und Orten in den Fokus geraten. Zwischenräume können aber auch als Übergang, Schwelle oder im topologischen Sinne als Grenze, limites, frontiers und Nicht-Orte konzeptualisiert werden und damit deutlich machen, dass es mindestens zwei „andere“ Räume gibt. Zwischenräume folgen eigenen Logiken und Dynamiken. Sie weisen häufig stärker heterotope Strukturen im Sinne Michel Foucaults auf.⁵ Mit „Heterotopien“ meint Foucault „…gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich
Michel Foucault. Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2071). Berlin: Suhrkamp, ²2005. Martina Löw. Raumsoziologie (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1506). Frankfurt am Main: Suhrkamp 82015; Doris Bachmann-Medick. Spatial Turn. In Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften (Rowohlts Enzyklopädie 55675), hg. von Ders. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, ³2009; Susanne Rau. Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einführungen 14), Frankfurt am Main und New York: Campus ²2017; Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.). Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1800). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 82015; Susanne Rau/Gerd Schwerhoff (Hg.). Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne. München und Hamburg: Dölling und Galitz, 2008; Ulf Heuner (Hg.). Klassische Texte zum Raum (Klassische Texte Parados 2). Berlin: Parados, 2006; Jörg Dünne. Die kartographische Imagination. Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit. Paderborn: Fink, 2011; Zum Stand der Forschung in der Geschichte der Frühen Neuzeit: Susanne Rau. Die Vielfalt des Räumlichen. Stand und Perspektiven der frühneuzeitlichen Raumforschung. Frühneuzeit-Info 28 (2017), 75 – 87; Falk Bretschreider und Christophe Duhamelle. Fraktalität. Raumgeschichte und soziales Handeln im Alten Reich. ZHF 43 (2016), 703 – 746. Michel de Certeau. Die Kunst des Handelns (Internationaler Merve-Diskurs 140). Berlin: MerveVerlag, 1988, 218. Vgl. Uwe Wirth. Zwischenräumliche Bewegungspraktiken. In Bewegung im Zwischenraum, hg. von Dems. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2012, 7– 35.
Zum Konzept der Zwischenräume: eine Einleitung
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durchaus lokalisieren lassen“.⁶ Obwohl sich beispielsweise Grenzen lokalisieren lassen, ist ihr Raum sehr viel heterogener und umfasst mehr nur als die zwei oder auch mehreren Räume, die sie umgeben. Diese so entstehenden anderen Räume, jenseits und über die Grenzen hinaus, können ihren Konstruktionscharakter nicht von sich weisen, ist doch die Grenze in der Regel nicht sichtbar, wohl aber in ihren u. a. rechtlichen Auswirkungen auf die Menschen wirkmächtig. Der Zwischenraum ist daher nicht nur heterogen, in Abgrenzung zum geschlossenen Anderen, sondern auch absichtlich hybrid und offen. Ob aber ein Raum ein Zwischenraum im Sinne der Heterotopie oder ein absichtsvoll widerständiger third space ist, kommt auf seine Beschaffenheit an. Wenn hier von Strukturen die Rede ist, dann meinen sie das, was Aufbau, Zugang, Grenzen und Akteure räumlicher Phänomene ausmacht. Zwischenräumliche Strukturen können aber auch Handlungsspielräume eröffnen und das Trennende verbinden oder vermischen und neue Räume schaffen. Dies gilt auch und insbesondere für Begegnungen aller Art, wenn ein Zwischenraum entsteht, in dem kulturelle Differenzen und Machtasymmetrien thematisiert, aber auch gemeinsame Interessen ausgehandelt werden können.⁷ Dieses Konzept hybrider Räumlichkeit, das durch dichotome, binäre Denkstrukturen bestimmt ist, sie gleichzeitig jedoch zu überwinden versucht, eignet sich, um „Zwischenräume“ thematisierbar zu machen, insbesondere solche, die durch abweichendes Verhalten entstehen. Diese sich so manifestierenden devianten, also von dem, was als erlaubt normiert ist, abweichenden Räumen, zeigen sich durch die Akteur*innen, Möglichkeiten und Grenzen. Sie können Alternativen eröffnen, wo auf den ersten Blick keine erscheinen, und neuen Ordnungen einen Raum geben. Zwischenräumen begegnet man im materiellen, lokalisierbaren wie im nicht-materiellen, übertragenen Sinne, als Wissensraum mit Zulassungsbeschränkungen. Es lässt sich beobachten, dass durch abweichendes Verhalten deviante Räume geschaffen werden – auch hier wieder sowohl real verortbare und greifbare als auch metaphorische, nicht materiell greifbare Räume, eben Wissensräume. Als Beispiel für einen devianten Raum sei ein Netzwerk von Personen angeführt, das sich der von der Obrigkeit verbotenen und verfolgten
Vgl. Michel Foucault. Von anderen Räumen. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. In Michel Foucault. Schriften in vier Bänden, Band 4, hg. von Daniel Defert/François Ewald. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, 931– 942, hier 935 [„Des espaces autres“ [1967/1984], in: Michel Foucault, Dits et Ecrits, Bd. 4, Paris 1994, 752– 762, zuerst in: Architecture, Mouvement, Continuité 5 (1984), 46 – 49]. Monika Eigmüller. Der duale Charakter der Grenze. Bedingungen einer aktuellen Grenztheorie. In Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, hg. von ders./Georg Vobruba. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, 55 – 73, hier 56.
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Monika Frohnapfel-Leis und Muriel González Athenas
Zauberei widmet und das Wissen darüber mündlich weitergibt, wie es etwa in Territorien praktiziert wurde, in welchen die Institution einer Inquisition existierte und das Leben der Menschen in unterschiedlich starkem Maße überwachte. In dem Konzept des Zwischenraumes sind bereits Überlegungen zur zeitlichen Struktur angelegt wie beispielsweise bei Friedhöfen oder Mumien, die Zeit(spannen) überdauern und sie bis in die Ewigkeit verlängern sollen⁸ oder in Räumen, die darauf angelegt sind, Zeitstrukturen zu überwinden wie Museen, Bibliotheken und Archive. Räume werden aufgebrochen und neu wahrgenommen, wenn man auch ihre zeitlichen Aspekte berücksichtigt. Systematische Überlegungen zur „Zeit“ als eigene Analysekategorie erweitern das Zwischenraumkonzept. Die von dem Literaturwissenschaftler Michail Bachtin eingeführte Denkfigur der „RaumZeit“, des Chronotopos, ursprünglich dem epischen Ritterroman entlehnt, beschreibt den untrennbaren Zusammenhang von Zeit und Raum, deren Ganzheitlichkeit und Einheit, bei dem die Zeit zur vierten Dimension des Raumes wird. „RaumZeit“ schließt den zeitlichen Aspekt von Räumen explizit mit ein.⁹ Durch die Erweiterung des Chronotopos durch die Denkfigur des „anderen“, durch das Adjektiv „hetero“, werden hier erstmals neue Perspektiven auf aktuelle Forschungsfragen eröffnet, die so zur „anderen RaumZeit“, zum „Heterochronotopos“ als weiterer Analysekategorie werden können. Exemplarisch sei hier auf miteinander verschränkte Arten von Räumlichkeit (vertikal, horizontal, sich ausdehnend, etc.) und Zeitlichkeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Gleichzeitigkeit, etc.) verwiesen, so etwa auf geographischen Karten, im Umgang mit der Zeit in Leichenschauhäusern des 19. und 20. Jahrhunderts oder mit vermeintlichen Insellagen ganzer Gesellschaften in Romanen, die reale Zeiten abbilden, aber eben auch andere Narrationsmöglichkeiten eröffnen. Bei der Erweiterung des Zwischenraumkonzeptes um heterochronotope Aspekte sollen jedoch auch die Körperlichkeit und Materialität von Zwischenräumen nicht außer Acht gelassen werden, die sich in Quellenstudien immer wieder andeuten. Nicht von ungefähr sind „Körper“, „Materialität“ und „Raum“ ebenfalls Schlagworte der kulturhistorischen Forschung, die seit dem spatial turn und dem material turn Impulse für neue Denkrichtungen und Fragestellungen gegeben haben. Hier haben sich beispielweise Fragen nach der Rolle von Körper und Materialität im „Nicht-Raum“, im Zwischenraum, aufgetan oder danach, wie et-
Foucault. Die Heterotopien, 27 ff. Michail Bachtin, The Dialogic Imagination, Four Essays, ed. by Michael Holquist (University of Texas Press Slavistic Series, No.1), Austin 2008, 95; Michail Bachtin, Chronotopos (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1879), 83 f. Sabine Schmolinsky. The Production of Future. Chronotope and Agency in the Middle Ages. Historical Social Research 38 (2013), 3, 93 – 104.
Zum Konzept der Zwischenräume: eine Einleitung
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was so Abstraktes wie ein heterotoper/heterochronotoper Zwischenraum Materialität bzw. einen Körper besitzen kann. An Überlegungen von Theoretiker*innen wie Henri Lefebvre und Edward W. Soja anknüpfend, aber auch an die figurationssoziologischen Ansätze von Norbert Elias und Pierre Bordieu wird Raum hierbei als sozial konstruiert und durch Praktiken konstituiert und angeeignet verstanden. Die Kategorie Körper wird in der Feministischen Theorie und den Gender Studies ebenfalls als sozial konstruiert und normiert sowie performativ hervorgebracht begriffen. Bei dieser Konstruktion und Normierung von Körpern spielen die soziale Produktion von Raum, die Aneignung von oder Exklusion aus verschiedenen Räumen eine wichtige Rolle. Die Auseinandersetzung mit der Verschränkung und wechselseitigen Bedingtheit von Körper und Raum kann daher neue Perspektiven auf alte Fragestellungen eröffnen. So wurde nach Inklusions- oder Exklusionsmechanismen und den daraus potenziell resultierenden Konflikten ebenso gefragt wie nach möglichen Interdependenzen zwischen Körpern und weiteren Differenzkategorien wie Geschlecht, Religion, Materialität/Dinge. Die Beschäftigung mit dem Körper als (Verhandlungs‐)Raum sexueller Identität sowie als materiell verfasstes Artefakt oder Aktant räumlicher Praktiken stellt einen Schwerpunkt in diesem Band dar. Materialität soll im Folgenden verstanden werden „sowohl im Sinne von Materie und einer konkreten Stofflichkeit etwa von Stein, Holz, Eisen oder Leder […], als auch im Sinne eines Dachbegriffes wie dem der materiellen Kultur“.¹⁰ Der vorliegende Band spannt den Bogen von religiösen Zwischenräumen zu heterotopen Raum-Zeitlichkeiten als einer weiteren Spielart von Zwischenräumen bis hin zu zwischenräumlichen Materialitäten und Körperlichkeiten. Er zeichnet eine Entwicklung nach, die in den Erfurter Zwischenräume-Workshops der Jahre 2016 bis 2018 vollzogen wurde und die sich im Aufgreifen und Anwenden etablierter und der Entwicklung neuer Analysekategorien auszeichnet. Die Publikation möchte Zwischenräumen unterschiedlicher Art nachgehen, die sich im Religiösen, in RaumZeitlichkeit und in Materialität und Körperlichkeit zeigen. Die Beiträge sind in verschiedene thematische Cluster gefasst, die jeweils die Perspektive der Aufsätze bezeichnen. Dabei werden die Spielarten der Zwischenraumkonzepte genutzt, um Geschichte zu schreiben, Geschichte zu visualisieren, sie zu revidieren oder sie wieder anderen Interpretationen zu öffnen. Dabei zeigt sich, dass Zwischenräume offenzulegen bedeutet, „mehr“ zu sehen
Marian Füssel und Rebekka Habermas. Editorial. In Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag. Thema: Die Materialität der Geschichte, Heft 3 (2015), hg. von Marian Füssel und Rebekka Habermas. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag, 2015, 331– 335, hier 332.
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Monika Frohnapfel-Leis und Muriel González Athenas
und eine fruchtbare Anschlussfähigkeit an bereits erfolgte Forschungen herzustellen. Im Cluster „Körper, Materialität und (Zwischen‐)Raum“ gehen Katja Weidner, Matthias Rekow und Nobert Finzsch der Frage nach, inwiefern durch die unterschiedlichen Raumkonzeptionen und den aus ihnen hergeleiteten Analysemethoden neue Perspektiven auf die historisch orientierten Kulturwissenschaften gewonnen werden können. Katja Weidner macht in ihrer Untersuchung der Erzählung der Sieben Schläfer von Ephesus deutlich, welchen Mehrgewinn eine raumzeitliche Analyseperspektive gegenüber den klassischen historiographischen Methoden haben kann. Durch die spezifische Kulturalität dieser Erzählung, die sich zeitlich in der Vergangenheit, Gegenwart (Erzählzeit) und Zukunft bewegt bzw. Körper durch diese bewegt, wählt sie das Konzept des Zwischenraumes, abgegrenzt gegenüber der foucaultschen Heterotopie und dem bachtinschen Chronotopos. Der Zwischenraum erfasst die Kulturalität und vereint die Betrachtungsmöglichkeiten dreier Zeitebenen. Ähnlich argumentiert Matthias Rekow in seiner Analyse von Bilderpolemiken zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges und der Restauration von katholischen Ordnungen über Flugblätter. Allerdings wählt er als Herangehensweise, Chronotopos und Heterotopien zu mischen, um die Restauration von Macht, Exklusion und Inklusion zu historisieren. Norbert Finzsch argumentiert in seinem Aufsatz, wie medizinische Diskurse der Neuzeit weibliche Körper in Zwischenräumen (hier als utopische Heterotopie verstanden) in die „Normalität“ einhegten. Einhegen bedeutet hier, eine Genitalverstümmelung an bestimmten Personen vorzunehmen, um so die vermeintliche Ordnung der Dinge wiederherzustellen. Finzsch macht dabei die Raumkonzeptualisierungen von Foucault, Heterotopie und Zwischenraum, fruchtbar, auch, um die genannte medizinische Körperpraktik im Zentrum Europas zu verorten und damit die zeitgenössische Narration der externalisierten und kolonisierenden Perspektive der Genitalverstümmelung zu dekolonisieren. Das Kapitel „Zwischenräume, Religion und Geschlecht als topologische Faktoren“ widmet sich Manifestierungen von Religion und von Geschlecht in städtischen Räumen oder auch in Landschaften des Nahen Ostens und zeigt religiöse ebenso wie politische Akzentuierungen als strukturgebend auf. AnnaKatharina Rieger wendet Überlegungen zur RaumZeitlichkeit auf Sakralräume in der Palmyrene in römischer Zeit und ihr schriftliches und bildliches Fundmaterial an. In der antiken Magie sieht Meret Strothmann eine Kommunikationsform, die geeignet ist, für die jeweils „offizielle“ Religion Bezugspunkte herzustellen und als Zwischenraum zu fungieren. (Spät‐)Mittelalterliche Ordensgemeinschaften und ihr Umgang mit Raum und Geschlecht stehen im Mittelpunkt der Beiträge von Babette Reicherdt und Sabine Schmolinsky: Während Reicherdt die Formen der Raumaneignung von Klarissen im Villingen des 15. Jahrhunderts untersucht,
Zum Konzept der Zwischenräume: eine Einleitung
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befragt Schmolinsky die für mittelalterliche Klöster geltenden Raumnormen auf ihre RaumZeitlichkeit hin. Florian Dirks, Felix Krämer und Björn Klein sowie Sona-Lisa Arasteh-Roodsary blicken im nächsten Cluster auf politische, kulturelle und gesellschaftliche Ordnungsmuster der Macht und der Machtausübung durch die Analyse von Raumsetzungen durch Körper, Karten oder Figuren. Das früh- und hochmittelalterliche Westfrankenreich mit seinen geographischen Grenzbereichen nimmt Florian Dirks auf Verortungen raumzeitlicher Kategorien hin in den Fokus. Unterschiedlich erfasste Rechtsräume, wie sie eine Grafschaft oder eine Mark darstellen, die v. a. im Hinblick auf ihre Peripherie, aber auch auf ihre Zeitlichkeit durch Dirks untersucht werden, sind weitaus komplexer als lange angenommen. Die Verbindung auch von Rechtsräumen und Lebensräumen über die Analyse von Zeitlichkeit lässt die Denkfigur der abgegrenzten Herrschaftsbereiche obsolet erscheinen. Ebenfalls in die Peripherie oder, wie Björn Klein und Felix Krämer in ihrer Analyse des Falls Murray Hall von 1901 argumentieren, an die Grenzen, im Übergang, in die Transsektion schaut der nächste Beitrag. Sie schlagen eine transsektionale Perspektive für die rauminformierte Geschlechtergeschichte vor, um Praktiken wie beispielsweise jene des passings historisieren zu können. Das Konzept des Zwischenraums, so die Autoren, sei zu glättend und zu heterotopisch, um Körperpraktiken „am Rande“, also beispielsweise Transerfahrungsberichte und Solidaritäten, zu erfassen. Sona Lisa Arasteh-Roodsary blickt in ihrem Beitrag zum topologischen Raumbegriff im Werk „Rembrandt als Erzieher“ von Julius Langbehn ins Zentrum der kulturkritischen Diskurse des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Unter anderem argumentiert die Autorin, dass nationalistische Kulturbegriffe bis hin zu topologischen Modellen flexibel seien oder es sein müssten. Dies lasse sich anhand populistischer Erzählungen wie jener von Langbehn gut belegen, weil sie eher dazu neigten, Machtverhältnisse zu repräsentieren und zu etablieren als kartographische Kulturräume zu beschreiben. Kulturalisierte Kartographien im nationalistischen Diskurs seien jedoch oft die Grundlagen nationalistischer Erzählungen. Wiederum abseits herkömmlicher Ordnungen blicken die Beiträge von Nina Kreibig, Sylvia Wehren und Antonio Lucci im nächsten Cluster auf „Körper in Ausnahmesituationen“. In ihren Beiträgen spielt u. a. die Materialität von Körpern eine besondere Rolle: Nina Kreibig untersucht das Phänomen der im späten 18. Jahrhundert aufkommenden Leichenhäusern, die von der Angst, lebendig begraben zu werden, zeugen. Diese Gebäude können aufgrund ihrer Verortung und architektonischen Besonderheiten als Zwischenraum im besten Wortsinne verstanden werden, deren Zweck es war, darüber zu wachen, ob ein dort aufgebahrter Körper tot oder möglicherweise doch noch lebendig oder etwas „dazwischen“ war. Sylvia Wehren nimmt körperhistorische Diskurse der Spätaufklärung
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Monika Frohnapfel-Leis und Muriel González Athenas
in den Blick, im Rahmen derer der Körper eines Kleinkindes als zwischen Tier und Mensch stehend verstanden wurde. Antonio Lucci lotet in seinem Beitrag zu syrischen Säulenheiligen Zwischenräume in mehrfacher Hinsicht aus, führten doch Styliten nicht nur ein Leben zwischen Himmel und Erde, sondern sie galten auch aufgrund ihrer extrem asketischen Lebensweise als Vorbild und insofern als Ratgeber und Vermittler sowohl zwischen den Menschen untereinander als auch zwischen der übernatürlichen Sphäre und jener auf der Erde. Die Rolle von Körpern in Bezug auf die Vergangenheit oder die Zukunft betrachten Kristin Platt, Oscar Terš und Monika Frohnapfel-Leis. Kristin Platt untersucht anhand von literarischen Werken der Zwischenkriegszeit dort aufgezeigte Zukunftsvorstellungen, die sich durch ein von Materialität geprägtes Verständnis von Zeit auszeichnen, in welchem die Zukunft als in die Körper eingeschrieben verstanden wird. Körper werden ihrerseits selbst zu Akteuren, jedoch jenseits jeder Individualität. Die Mumien der Maria Candia-Gruft in Wien sind es, deren Zustand der Nichtverwesung Oskars Terš bei seinen Betrachtungen zur Bedeutung der Materialität von Körpern zwischen Vergangenheit und Zukunft heranzieht. Dass die Beschaffenheit eines Körpers als „rein“ oder „nicht rein“ eine entscheidende Rolle bei Formen frühneuzeitlicher Zukunftsdeutungen spielt, stellt Monika Frohnapfel-Leis fest und untersucht diese Phänomene als Herausgreifen aus einem zeitlichen und/oder räumlichen Rahmen.
2. Körper, Materialität und (Zwischen‐)Raum
Katja Weidner
Chronotopes Erzählen im Zwischenraum: die Höhle der sieben Schläfer Abscedite, o furciferi, a nostri praesentia Entfernt euch, ihr Verbrecher, aus meiner Gegenwart Kaiser Decius zu den Sieben¹
The Chronotopos In Between: the Cave of the Seven Sleepers: The medieval ‚Legend of the Seven Sleepers‘ is not like any other tale of magical sleep. Its narratives of spatio-temporal relativity are informed by specific discourses (Foucault) and therefore need to be understood in relation to their cultural setting. The cave of the Seven Sleepers turns out to be much more than just a Chronotopos (Bachtin) with heterotopic (Foucault) features: Worldly categories of time are being transcended, heavenly eternity is not yet reached. Narratologically speaking, the cave is a ‚Space of In Between‘ that uses narratological mechanisms of ambivalence to convey a reality that otherwise could not be understood or even told, the bodily resurrection.
1 Zeitliche Relativitäten Epimenides, die sieben Schläfer von Ephesus, Rip van Winkle: Sie alle sind Figuren, um die sich Erzählungen von zeitlicher Relativität spinnen. Sie legen sich nieder, schlafen ein und wachen nach einem ‚Zauberschlaf‘ viele Jahre später unverändert wieder auf. Der kulturelle Zusammenhang dieser Figuren und Erzählungen jedoch könnte unterschiedlicher nicht sein. Während von Epimenides erzählt wird, er habe sich beim Hüten von Schafen in einer Grotte – für 57 Jahre – zu einem
Gregor von Tours. Passio sanctorum septem dormientium, 3 (hg. von Bruno Krusch, Gregorii Turonensis Opera. Miracula et opera minora (= Scriptores rerum Merovingicarum 1,2). Hannover: Impensis Bibliopolii Aulici Hahniani 1885, 397– 403, hier 399, Z. 1– 2. Die deutsche Übersetzung stammt hier und im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, von der Verfasserin. Für eine Gesamtübersetzung siehe Die sieben Schläfer von Ephesus – TUK_0415, übers. von Veronika Roth. In: Texte aus der Umwelt des Korans, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Michael Marx. (12. 8. 2019). Für eine englische Übersetzung siehe William C. McDermott, Edwards Peters (Hg.). Monks, Bishops, and Pagans: Christian Culture in Gaul and Italy, 500 – 700. Sources in Translation, including The World of Gregory of Tours, übers. von William C. Dermott. Philadelphia: University of Philadelphia Press, 1975, 197– 206. https://doi.org/10.1515/9783110758306-003
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Mittagsschlaf niedergelegt², schläft Rip van Winkle auf einem Berg als Untertan der britischen Krone ein, um sich nach seinem Erwachen 20 Jahre später als Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika wiederzufinden.³ Die sieben Schläfer von Ephesus, mit deren Erzähltradition sich die folgende Untersuchung beschäftigt, werden im Rom des 3. Jahrhunderts als Christen verfolgt, fliehen in eine Höhle und wachen dort Jahrhunderte später in einer christlichen Welt wieder auf.⁴ Es gibt gute Gründe, die raumzeitlichen Figurationen dieser und ähnlicher Erzählungen aus der Perspektive ihrer motivischen Erzähltypologie⁵ komparatistisch zu lesen und damit diachrone Analogien aufzuzeigen. Jedoch muss man sich die Frage stellen, inwiefern eine anachronistische Interpretation der mittelalterlichen Siebenschläferlegende als ‚Rip van Winkle Story‘⁶ ihrer Erzählweise gerecht werden kann, denn sie übersieht die spezifische Kulturalität der Narrative⁷, die sie auch semantisch entscheidend bestimmt. Die folgende Untersuchung wird sich deshalb nach einer kurzen Einführung in die Erzähltradition (2) zunächst textimmanent mit den raumzeitlichen Phänomenen der Siebenschläferlegende (3) beschäftigen, um sie sodann in Auseinandersetzung mit dem christlichen Transzendenzbegriff in den – auch raumtypologischen – Diskurszusammenhang ein Vgl. Diogenes Laertios, Vitae philosophorum 1, 109, hg. von Miroslav Markovic, Hans Gärtner. 3 Bde. Stuttgart, Leipzig: Teubner (Bd. 1– 2); München, Leipzig: Saur (Bd. 3), 1999 – 2002. Für eine deutsche Übersetzung des altgriechischen Textes siehe Diogenes Laertios. Leben und Lehren der Philosophen, hg. und übers. von Fritz Jürß. Stuttgart: Philip Reclam jun., 22010 [1998], 85. Siehe weiterhin Plinius der Ältere. Naturalis historia, 7, 175, hg. von Ludwig Ian, Carl Mayhoff. 7 Bde. Leipzig: Teubner, 1892– 1909. Vgl.Washington Irving, Rip Van Winkle, hg. von Arthur Rackham. London: William Heinemann, 1905 [1819]. Zur Erzähltradition der sieben Schläfer allgemein vgl. Herrmann Kandler. Siebenschläfer. In Enzyklopädie des Märchens Bd. 12, hg. von Rolf Wilhelm Brednich u. a. Göttingen: De Gruyter, 2007, 662– 666. Im Motivindex von Aarne-Thompson (AaTh) bzw. seiner überarbeiteten Form, dem Index Aarne-Thompson-Uther (ATU) trägt dieser Erzähltyp die Nummer 766. Für ähnlich zeitliche Erzähldynamiken im Zusammenhang von „magic sleep“ vgl. unter D1960 Stith Thompson (Hg.). Motif-Index of Folk-Literature, Revised and Enlarged Edition. Bd. 2. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press, 1955, 349 – 352. Vgl. Marvin L. Colker. A Medieval Rip Van Winkle Story. The Journal of American Folklore 76, 300 (1963): 131– 133. Zur Kulturalität von Narrativen vgl. Ansgar Nünning. Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie. In Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Erzählforschung, hg. von Alexandra Strohmaier. Bielefeld: Transcript, 2014, S. 15 – 53, sowie die grundlegende Arbeit von Wolfgang Müller-Funk. Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien, New York: Ambra, 22008.
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zuordnen (4). Aus der textimmanenten und diskursinhärenten Interpretation sollen dabei theoretische Kategorien des ‚Zwischenraums‘⁸ entwickelt werden (5), die einen kulturwissenschaftlichen Zugriff auf die spezifische raumzeitliche Modalität ermöglichen.
2 Die Erzähltradition der sieben Schläfer Mit Gregor von Tours (ca. 538 – 594 n.Chr.)⁹ beginnt im 6. Jahrhundert die lateinische Überlieferung einer frühchristlichen Erzähltradition, deren Ursprungszusammenhang sowohl sprachlich als auch motivisch Gegenstand einer bislang ungeklärten Debatte ist.¹⁰ Durch Gregor sind zwei Fassungen überliefert, eine kürzere als Teil des Liber in Gloria martyrum ¹¹, eine ausführlichere als eigenständige Passio sanctorum septem dormientium. ¹² Als älteste Zeugnisse der la-
Die folgenden Überlegungen, gerade hinsichtlich ihres impliziten Zwischenraumkonzepts, entstammen einem Promotionsprojekt, dessen Verschriftlichung voraussichtlich 2020 unter dem Titel „Erzählen im Zwischenraum. Narratologische Konfigurationen immanenter Jenseitsräume im 12. Jahrhundert“ erscheinen wird. Einführend zu Gregor von Tours vgl. Luce Pietri. Gregor von Tours. Theologische Realenzyklopädie Bd. 14, hg. von Gerhard Müller u. a. Berlin, New York: De Gruyter, 1985, 184– 188. Für weitere Literatur siehe die bibliographischen Notizen bei Luigi R. R. Ricci. Gregorius Turonensis Episcopus. In: Compendium Auctorum Latinorum Medii Aevi (500 – 1500). Bd. 4, hg. von Michael Lapidge, Francesco Santi. Florenz: Sismel, 2014, 463 – 469. Vgl. Hannelies Koloska. Offenbarung, Ästhetik und Koranexegese. Zwei Studien zu Sure 18 (alKahf). Wiesbaden: Harrassowitz, 2015, hier 78 – 79. Für die zentralen Ursprungshypothesen der Forschungsdebatte mit Verweis auf Ihre Vertreter vgl. Bartlomiej Grysa. The Legend of the Seven Sleepers of Ephesus in Syriac and Arab sources – a comparative study. Orientalia Christiana Cracoviensia 2 (2010): 45 – 59, hier 46 – 47. Für Hinweise auf einen Funktionalisierungszusammenhang der Legende gerade in Ephesos und weitere Literaturhinweise vgl. Ekkart Sauser. Siebenschläfer. In Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 21, hg. von Friedrich Wilhelm Bautz. Fortgeführt von Traugott Bautz. Nordhausen: Traugott Bautz, 2003, Sp. 1438 – 1439. Eine umfassende Quellenstudie liefert Pieter W. van den Horst. Pious Long-Sleepers in Greek, Jewish, and Christian Antiquity. In Tradition, Transmission, and Transformation from Second Temple Literature through Judaism and Christianity in Late Antiquity Tradition, hg. von Menahem Kister, Hillel Newman, Michael Segal, Ruth Clements. Leiden: Brill 2015, 93 – 111. Gregor von Tours. Liber in Gloria martyrum, hier 94 (hg. von Bruno Krusch, Gregorii Turonensis Opera. Miracula et opera minora (= Scriptores rerum Merovingicarum 1,2). Impensis Bibliopolii Aulici Hahniani: Hannover, 1885, 34– 111, davon 100 – 102. Eine deutsche Übersetzung gibt es bislang nicht, für eine englische siehe Gregory of Tours. Glory of the Martyrs, übers. von Raymond van Dam. Liverpool: Liverpool University Press, 1988, hier 117– 119. Michael P. Huber macht neben Gregors Fassungen fünf weitere lateinische Redaktionen und weitere unabhängige Fassungen aus, vgl. Huber, Wanderlegende, 59 – 91, für spätere, auch
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teinischsprachigen Erzähltradition sind sie, mit 17 der etwas über 100 lateinischen Handschriften, auch überlieferungsgeschichtlich bedeutend.¹³ Früher als Gregor sind nur zwei syrische Homilien von Jakob von Sarug (gest. 521 n.Chr.)¹⁴ anzusetzen, die allerdings keine Vorlage der weiteren erhaltenen Fassungen darstellen und ihrer Gattung wegen wohl nachrangig sind.¹⁵ Mit Quellen in lateinischer, griechischer und syrischer Sprache sowie späteren volkssprachlichen Übersetzungen im Altenglischen¹⁶, Mittelhochdeutschen¹⁷ und Altfranzösischen¹⁸ ist die Überlieferung ausgesprochen breit.¹⁹ Die Erzähl-
volkssprachliche Quellen vgl. Huber, Wanderlegende, 128 – 221. Einzelne Fassungen weiterer Redaktionen dienen der Veranschaulichung der untersuchten narratologischen Merkmale. Vgl. John J. Contreni. Gregorius Turonensis. In Catalogus Translationum et Commentatorium, Bd. 9: Mediaeval and Renaissance Latin Translations and Commentaries, Annotated Lists and Guides, hg. von Virginia Brown, James Hankins, Robert A. Kaster. Washington, D. C.: The Catholic University of America Press, 2011, 55 – 71, hier 61– 62, Anm. 35. Einführend zu Jakob von Sarug vgl. Christian Lange. Jakob von Sarug. In Syrische Kirchenväter, hg. von Wassilios W. Klein. Stuttgart: Kohlhammer, 2004, 217– 227. Vgl. Michael P. Huber. Die Wanderlegende von den Siebenschläfern. Eine literargeschichtliche Untersuchung. Otto Harrassowitz: Leipzig, 1910, hier 3. Für die mittelalterliche Erzähltradition im englischen Sprachraum vgl. Hugh Magennis. The Anonymous Old English Legend of the Seven Sleepers and its Latin Source. Hugh Leeds Studies in English 22 (1991): 43 – 56 sowie Hugh Magennis. Ælfric and the Legend of the Seven Sleepers. In Holy Men and Holy Women. Old English Prose Saints‘ Lives and their Contexts, hg. von Paul E. Szarmach. Albany: State University of New York Press, 1996, 317– 331. Für die mittelalterliche Erzähltradition im deutschen Sprachraum vgl. Werner WilliamsKrapp. Sieben Schläfer. In Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage, hg. von Kurt Ruh u. a. Berlin, New York: De Gruyter, 1992, Sp. 1171– 1172. Zur Siebenschläferlegende im Väterbuch vgl. zuletzt Johannes Traulsen. Heiligkeit und Gemeinschaft. Studien zur Rezeption spätantiker Asketenlegenden im ‚Väterbuch‘. Berlin, Boston: De Gruyter, 2017. Für die altfranzösische Überlieferung vgl. Brian S. Merrilees. La Vie des Sept Dormants en ancient français. Romania 95 (1974): 362– 380. Die volle Breite der Überlieferung konnten die einschlägigen Untersuchungen Michael P. Hubers aufzeigen, dessen Editionen nach der früheren Arbeit von John Koch (John Koch. Die Siebenschläferlegende, ihr Ursprung und ihre Verbreitung. Eine mythologisch-literaturgeschichtliche Studie. Leipzig: Verlag von Carl Reissner, 1883) die Quellen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen konnten. Zu nennen sind hier: Michael P. Huber. Beitrag zur Visionsliteratur und Siebenschläferlegende des Mittelalters. I. Teil: Lateinische Texte (Beilage zum Jahresbericht des humanistischen Gymnasiums Metten 1902/03). Landshut: Jos. Thomann’sche Buch- und Kunstdruckerei, 1903; Michael P. Huber. Beitrag zur Siebenschläferlegende des Mittelalters. II. Teil: Griechische Texte (3 Gruppen) (Beilage zum Jahresbericht des humanistischen Gymnasiums Metten 1904/05). Landshut: Jos. Thomann’sche Buch- und Kunstdruckerei, 1905; Michael P. Huber. Beitrag zur Siebenschläferlegende des Mittelalters. III. Teil. Zur Überlieferungsgeschichte der Legende. Die syrischen Texte mit besonderer Berücksichtigung ihrer Vertreter (Beilage zum Jahres-
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tradition ist gleichermaßen in Ost- wie Westkirche nachweisbar und hat nicht zuletzt durch ihre Aufnahme in den Koran auch im islamischen Zusammenhang weite Verbreitung gefunden.²⁰ Die Erzählung folgt in allen Fassungen einem einheitlichen Schema, das spätere Chroniken wie die des Sigebert von Gembloux (1030 – 1112) folgendermaßen auf den Punkt bringen: Apud Ephesum septem fratres a Decio imperatore pro Christo tormentati, in spelunca se clauserunt, et fata oratione ibi obdormierunt; et post annos suae dormitionis circiter 192 ore speluncae, quod imperator Decius obstruxerat, patefacto divinitus, a somno surgunt, et asserta fide nostrae resurrectionis coram Theodosio imperatore, de qua multum dubitabatur, iterum dormiunt in Christo.²¹ Bei Ephesos verschlossen sich sieben Brüder, die von Kaiser Decius wegen ihres christlichen Glaubens gefoltert worden waren, in einer Höhle und schliefen dort nach einem Gebet ein. Nach ihrem etwa 192-jährigen Schlaf erheben sie sich, weil der Eingang zur Höhle, die der Kaiser Decius versperrt hatte, durch göttliche Fügung geöffnet worden war, aus ihrem Traum; Und nun, nachdem der Glaube an unsere Auferstehung im Angesicht des Kaisers Theodosius bekräftigt worden war – darüber bestand viel Zweifel –, schlafen sie ein zweites Mal in Christus.
Schauplatz der meisten Fassungen ist Ephesos. Sieben junge Männer, bisweilen Brüder, fliehen vor der Christenverfolgung des Kaisers Decius (249 – 251) in eine Höhle, die der Kaiser versperren lässt. Nach vielen Jahren des Schlafes wird durch einen scheinbaren Zufall der Eintritt zur Höhle geöffnet und sie wachen auf. Nun in christlicher Zeit, werden die Männer durch das Wunder ihres Schlafes Zeugen für die Glaubenswahrheit des umstrittenen Auferstehungswunders.
bericht des humanistischen Gymnasiums Metten 1907/08). Landshut: Jos. Thomann’sche Buchund Kunstdruckerei, 1905. Für die Internetadressen der entsprechenden Digitalisate siehe die Literatursammlung zum Ende des Aufsatzes. Ergänzt wurden diese Editionen wenige Jahre später durch Wilhelm Weyh um eine „ostturkestanische“, kirgisische wie kazan-tatarische Überlieferung, vgl. Wilhelm Weyh. Die Siebenschläferlegende. Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 65 (1911): 189 – 311. Weitere lateinische Quellen ergänzen Michael P. Huber. Textbeiträge zur Siebenschläferlegende des Mittelalters. Romanische Forschungen 26,1 (1909): 462– 468 sowie Michael P. Huber. Textbeiträge zur Siebenschläferlegende des Mittelalters. Romanische Forschungen 26,2 (1909): 469 – 583. Zum Zusammenhang mit der islamischen Überlieferung über den Koran vgl. Renate Würsch. Der Koran und seine Rezeption. Das Mittelalter 8 (2013): 27– 45, hier 35 – 37. Dass die Erzählung so sprachlich wie historisch-kontextuell divers nachgewiesen werden konnte, hat zu ihrer Bezeichnung als „Wanderlegende“ beigetragen, Huber, Wanderlegende, hier etwa VI. Sigebert von Gembloux. Chronica 447, hg. von Ludwig Konrad Bethmann (= Scriptores (in Folio) 6) Hannover: Impensis Bibliopolii Aulici Hahniani, 1844, 268 – 374, hier 209, Z. 13 – 16.
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Variabel sind die Fassungen hinsichtlich der Anzahl der Schlafenden – mal mit, mal ohne Hund –, ihrer Namen, ihrer Aufenthaltsdauer in der Höhle und des Berges, in dem sich die Höhle befindet.²² Die Stadt ist mal Karthago, mal Ephesos oder Konstantinopel/Byzanz.²³ Konstanter Parameter hingegen ist neben dem Leitmotiv des Schlafes und dem damit einhergehenden heterochronen Effekt die Höhle. Trotzdem hat sie in ihrer motivischen Konstanz und narratologischen Konsequenz in der Forschung bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren. Zwar wurde in jüngeren Jahren gerade die zeitliche Struktur der Erzählung immer wieder untersucht, sei es aus der Perspektive erzähltypologischer Kontinuität²⁴ oder unter dem Gesichtspunkt einer spezifischen Erzählweise von „Asynchronie“²⁵ bzw. „Dyschronie“.²⁶ Diese zeitliche Struktur jedoch ist auf eine chronotope Weise eng mit dem Höhlenraum verknüpft, der so notwendigerweise zum Ausgangspunkt jeder entsprechenden narratologischen Untersuchung der Siebenschläferlegende werden muss.²⁷ Dieser Zusammenhang als raumzeitliche Struktur
Einheitlich hingegen ist auch das männliche Geschlecht der sieben Schlafenden, obgleich schon in der Spätantike durchaus auch weibliche Eremitinnen und Märtyrerinnen überliefert sind. Das Phänomen weiblicher Märtyrerinnen und die Besonderheiten dieses Diskurses haben in den letzten Jahren vermehrte Aufmerksamkeit erhalten, vgl. etwa Gail P. C. Streete. Redeemed Bodies. Women Martyrs in Early Christianity. Louisville, Kentucky: Westminster John Knox Press, 2009. Zu weiblichen Vertreterinnen der frühen und diskursprägenden „Wüstenväter“ vgl. Claudia Rapp. Early Monasticism in Egypt. Between Hermits and Cenobites. In Female vita religiosa between Late Antiquity and the High Middle Ages. Structures, developments and spatial contexts, hg. von Gert Melville, Anne Müller. Berlin, Münster, Wien, Zürich: LIT Verlag 2011, 21– 42, hier bes. 37–39. Vgl. zu den Variationen Huber, Wanderlegende, 91– 104. Für den Namen des Berges weiterhin Grysa, Legend, 48 – 51. Vgl. Roy Michael Liuzza. The Future is a Foreign Country: The Legend of the Seven Sleepers and the Anglo-Saxon Sense of the Past. In Medieval Science Fiction, hg. von Carl Kears, James Paz. London: Beydell & Brewer, 2016, 61– 78. Vgl. Carolyn Dinshaw. How Soon Is Now? Medieval Texts, Amateur Readers, and the Queerness of Time. Durham, London: Duke University Press 2012, 55 – 59. Vgl. Elke Koch. Zeit und Wunder im hagiographischen Erzählen. Pansynchronie, Dyschronie und Anachronismus in der Navigatio Sancti Brendani und der Siebenschläferlegende (Passio und Kaiserchronik). In Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Susanne Köbele, Coralie Rippl. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2015. Dieser Begriff der „Dyschronie“ wird im weiteren Verlauf der Argumentation in Abgrenzung zur „Heterochronie“ zur Bezeichnung des übergreifenden Phänomens verwendet, Heterochronie hingegen dort, wo die generelle Dyschronie im bilateralen Gegenüber zweier zeitlicher Perspektiven als alteritärer Bruch in den Vordergrund tritt. Außer in adjektivischer Form für die Bezeichnung dieses generellen Zusammenhangs soll der Begriff des „Chronotopos“ (Michail Bachtin. Chronotopos, übers. aus dem Russischen von Michael Dewey. Berlin: Suhrkamp 42017) vermieden werden.
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der Erzählung – also das, „was Aufbau, Zugang und Grenzen räumlicher Phänomene ausmacht“²⁸ – soll im Folgenden anhand der Erzählfassungen Gregors von Tours aufgezeigt werden.
3 Raumzeitliche Höhlenphänomene Der wundersame zeitliche Bruch in der Legende der sieben Schläfer nimmt seinen Ausgang in der der Höhle. Die binäre zeitliche Struktur der Erzählung – das Erleben der sieben Schläfer auf der einen, das der übrigen Welt auf der anderen Seite – findet hier ihre räumliche Entsprechung. Narratologisch geschieht dies durch Mechanismen der Zugangsregulation, die durch ein abgeschlossenes räumliches System erst die Entstehung zweier unabhängiger zeitlicher Perspektiven möglich machen. Als Märtyrerakte beginnt die Passio septem dormientium mit dem Opfergebot des Kaisers, dem sich die Christen nach dem üblichen Schema widersetzen.²⁹ Decius ist zwar erbost über diese Weigerung, gibt ihnen jedoch eine Bedenkzeit und erlaubt ihnen, zu gehen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem Decius von einer Reise außerhalb der Stadt zurückkehren werde, sind sie frei.³⁰ Statt ihre Position zu überdenken, verteilen die sieben Männer ihren Besitz an die Armen und fliehen in eine Höhle im Berg Celeus (in speluncam montis Celei).³¹ Als sich die Lage mit der Rückkehr des Kaisers zuspitzt, wenden sie sich an Gott, der sie erhört und ihre Seelen zu sich nimmt. Ihre Körper bleiben scheinbar schlafend in der Höhle zurück. Decius lässt den Eingang mit Felsen verschließen, und die Höhle verbleibt so viele Jahre, bis ein Hirte sie schließlich öffnet. Die Schläfer erwachen, und schließlich wird das geschehene Wunder offenbar. Die Legende der sieben Schläfer, wie sie die Passio septem dormientium detailliert abbildet, ist eine Erzählung von Inklusion und Exklusion, die auch und vor allem an der räumlichen Konstitution der Höhle manifest wird. Diese Dynamik ist auf mehreren Ebenen perspektivabhängig.
Vgl. Monika Frohnapfel-Leis, Muriel González. Zum Konzept der Zwischenräume: eine Einleitung, in diesem Band, 5. Zum Aufbau der Passio als Märtyrerakte vgl. Koloska, Offenbarung, 78 – 81. Zur literarischen Gattung der Märtyrerakten vgl. Hermann Josef Dahm. Lateinische Märtyrerakten und Märtyrerbriefe. Bd. 1. Münster: Aschendorff, 1986, 40 – 41, allgemein siehe Hans Reinhard Seeliger. Märtyrerakten. In Lexikon der antiken christlichen Literatur, hg. von Siegmar Döpp,Wilhelm Geerlings. Freiburg, Basel, Wien: Herder 32002, 873 – 875. Vgl. Gregor von Tours, Passio, 1– 3 (Krusch, 398, Z. 1– 399, Z. 11). Gregor von Tours, Passio, 3 (Krusch, 399, Z. 9).
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Die sieben Christen werden von Decius aus der Gemeinschaft ausgeschlossen: Abscedite, o furciferi, a nostri praesentia, donec agentes pro contumeliae huius scelere paenitentiam, recipiamini³² in nostro palatio. Entfernt euch, ihr Verbrecher, aus meiner Gegenwart, bis ihr, nach getaner Buße für dieses schändliche Verbrechen, in unserem Palast wiederaufgenommen werdet.
Dieser Ausschluss, wie ihn Decius zur Strafe für die Weigerung seines Opfergebotes formuliert, ist natürlich zunächst ein räumlicher. Eigentlich in besonderer Gunst des Kaisers³³ – in palatio regis primi ³⁴ (an erster Stelle im Palast des Königs) – werden die Sieben nun aus seiner Gemeinschaft verstoßen. Dass mit praesentia eine zeitliche Dimension dieses Ausschlusses durchaus implizit ist, markiert schon hier eine signifikante raumzeitliche Doppelung, beide kategorialen Dimensionen sind den kaiserlichen Worten abscedite […] a nostri praesentia bereits eingeschrieben. Die sieben Christen verlassen die Stadt (abierunt)³⁵ vollkommen und fliehen in eine Höhle, die sich, wie sich herausstellen wird, nicht nur räumlich fernab von Decius‘ praesentia befindet. Hinsichtlich der räumlichen Distanz ist der Ausschluss dabei nicht nur über die außerstädtische Lage der Höhle vollzogen. Mit dem Befehl des Decius, den Eingang der Höhle mit Felsen zu versperren, materialisiert sich eine Grenze, deren kategoriale Konsequenz im weiteren Erzählverlauf manifest werden kann. Der Befehl des Decius lautet dezidiert: Ite itaque et oppilate os cavernae, ne rebelles illi deorum aditum egrediendi habeant.³⁶ Geht deshalb los und versperrt den Höhlenmund, damit diejenigen, die sich gegen die Götter auflehnen, keine Möglichkeit mehr haben, herauszugehen.
Die Felsbrocken sollen dafür sorgen, dass die Eingeschlossenen keinen Ausweg mehr finden: Hic fame deficiant propriisque se morsibus devorent, qui contempserunt diis nostris debita exhibere libamina.³⁷
Bruno Krusch druckt recipiatis, die Konjektur der Bollandisten scheint hingegen grammatisch notwendig zu sein, vgl. Krusch, 399, Anm. d zu Cap. 3. Vgl. Gregor von Tours, Passio, 2 (Krusch, 398, Z. 19 – 20): septem viros, quos unico affectu foves ac diligis (sieben Männer, die du [Decius] mit einzigartiger Zuwendung begünstigst und schätzt). Gregor von Tours, Passio, 1 (Krusch, 398, Z. 4). Gregor von Tours, Passio, 3 (Krusch, 399, Z. 9). Gregor von Tours, Passio, 5 (Krusch, 399, Z. 21– 22). Gregor von Tours, Passio, 5 (Krusch, 400, Z. 4– 5).
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Hier sollen die, die es verachtet haben, unseren Göttern die geschuldeten Opfergaben zu überbringen, am Hunger zugrunde gehen und sich mit ihren eigenen Bissen verzehren.
Für ihre Weigerung, das Opfergebot zu befolgen, sollen sie, eingeschlossen in der Höhle, die sie selbst aufgesucht hatten, den verdienten Tod finden. Was aus der Perspektive des Kaisers und seiner Schergen der Verschluss des Ausgangs ist, ist aus der Perspektive der sieben Christen aber das genaue Gegenteil: ihr rettender Einschluss in das schützende Höhleninnere, wo sie dem Zugriff des Kaisers gerade nicht mehr ausgesetzt sind. Die Felsen mögen ihnen zwar aus der Außenperspektive den Austritt aus dem Inneren versagen, erweisen sich damit aus der Innenperspektive aber gerade als effektive Zugangsregulation, die diese –bereits Schlafenden – vor dem Kaiser schützt.³⁸ Das perspektivabhängige Gegenüber von Inklusion und Exklusion, wie es sich an der Schwelle zur Höhle in Gestalt der Felsbrocken figuriert, geht dabei durchaus über die einfache physische Markierung hinaus, denn sie wird über eine personelle Zugangsregulation verstärkt: Schon bevor Decius den Eingang zur Höhle versperren lässt, überschreiten ausschließlich die Sieben die Schwelle in das Höhleninnere. Ihre Flucht in die Höhle ist ein freiwilliger Einschluss (includere), denn hier finden sie Schutz³⁹ – die Felsen markieren nur, was ohnehin bereits geschehen ist. Auch zuvor nämlich ist die Höhlenschwelle eine Grenze, die nicht ohne weiteres übertreten werden kann, ganz im Gegenteil: Die Schergen des Decius versperren sie (oppilare)⁴⁰, indem sie von außen Felsen herbeirollen (advolventes)⁴¹, überschreiten die Schwelle aber nicht. Und auch zwei Christen, die noch kurz zuvor zwei bleierne Tafeln mit der niedergeschriebenen Leidensgeschichte der sieben Männer verstecken konnten, legen diese zwar in introitu cavernae intrinsecus ⁴² (nach innen in den Eingang der Höhle), ihr möglicher Übertritt in die Höhle bleibt allerdings höchstens implizit. Ein Treffen auf die sieben Männer im Inneren wird nicht erzählt. Auch der Hirte und seine Helfer schließlich, die nach vielen Jahren zwar die Felsen wegrollen, non tamen introierunt in antrum ⁴³ (gingen trotzdem nicht in die Höhle hinein).
Vgl. Gregor von Tours, Passio, 4 (Krusch, 399, Z. 16 – 18). Vgl. Gregor von Tours, Passio, 3 (Krusch, 399, Z. 12– 13): Inclusis igitur sanctis sub carceris privatim custodia ac in assidua oratione vacantibus […] (Als also die Heiligen für sich im Schutz ihres Kerkers eingeschlossen waren und sich ihrem beständigem Gebet widmeten […]). Vgl. außerdem Gregor von Tours, Passio, 3 (Krusch, 399, Z. 14– 15). Vgl. Gregor von Tours, Passio, 5 (Krusch, 399, Z. 23). Gregor von Tours, Passio, 5 (Krusch, 400, Z. 3). Gregor von Tours, Passio, 5 (Krusch, 399, Z. 25). Gregor von Tours, Passio, 6 (Krusch, 400, Z. 17).
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Die einzigen Figuren, die die Schwelle der Höhle tatsächlich überschreiten, sind Malchus als einer der sieben Schläfer, dem die wichtige Funktion des grenzüberschreitenden Boten zukommt, und – zum Ende der Erzählung, nachdem das Wunder offenbar geworden ist – die Gemeinschaft der nun christlichen Stadt Ephesos: Tunc ingressi invenerunt beatos martyres in angulo speluncae […]⁴⁴ Daraufhin traten sie ein und fanden die seligen Märtyrer in einem Winkel der Höhle […].
Die Höhlenschwelle fungiert also nicht nur über die Felsen als wirksame Begrenzung. Sie ist, so scheint es, einzig Christen zugänglich, und das in einer solchen Endgültigkeit, dass sich die generelle Frage des Zugangs aus der nichtchristlichen Perspektive des Decius und seiner Schergen nicht einmal stellt. Welches Wunder allerdings hinter dem Höhleneingang vor sich geht, noch bevor Decius ihn verschließen kann, entzieht sich Christen wie Nicht-Christen. Der Jahrhundertschlaf geschieht hinter dem Eingang der Höhle, nur in der Höhle und bleibt hier verborgen. Diejenigen, die die Sieben innerhalb der Höhle schließlich sehen dürfen, tun dies nach dem eigentlichen Geschehen.⁴⁵ Die Höhle ist also nicht nur hinsichtlich ihrer Funktionalität perspektivabhängig, sie ist auch generell epistemologisch streng zugangsreguliert. Hier lohnt es sich, die Frage zu stellen, wer innerhalb der Geschichte wann weiß, was genau geschieht. Auf der Ebene der Geschichte ereignet sich das Geschehen nahezu unabhängig von der Motivation der einzelnen Figuren. Die sieben Männer fliehen in eine Höhle, erkennen die besondere Lebensgefahr, in der sie sich befinden, und beten zu Gott: Quod cum viri, nuntiante Malcho, cognovissent, exterriti valde prostraverunt se super terram et cum lacrimis orabant, ut eos Dominus in fide custodiens a conspectibus inquissimi imperatoris arceret. Quibus orantibus, providens Deus, quod essent in posterum necessarii, exaudivit orationem eorum sucepitque animas illorum. Et erant iacentes super humum, quasi suavi somno dormientes.⁴⁶ Als die Männer dies über Malchus erfahren hatten, warfen sie sich vollkommen verängstigt auf die Erde und baten unter Tränen, dass Gott sie in ihrem Glauben beschütze und so vor
Gregor von Tours, Passio, 10 (Krusch, 402, Z. 5). Das Wunder mag dabei zwar strikt im Höhleninneren erzählt werden, der Text lässt aber keinen Zweifel, dass einzig der Aufenthalt in der Höhle zum wunderbaren Schlaf der Sieben geführt haben könnte. Sie haben eine auserwählte Position inne, und ihre Erfahrung ist vor allem ein Moment göttlicher Gnade, vgl. Gregor von Tours, Passio, 4. Das Wunder ist so keineswegs reproduzierbar. Gregor von Tours, Passio, 4 (Krusch, 399, Z. 16 – 20).
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den Blicken dieses überaus ungerechten Kaisers verberge.Während sie beteten, erhörte Gott, der voraussah, dass sie in der Zukunft von Nutzen sein würden, ihr Gebet und nahm ihre Seelen auf. Wie sie auf dem Boden lagen sahen sie aus als schliefen sie einen angenehmen Schlaf.
Nach einem seiner Botengänge hatte Malchus den anderen Sechs von Decius‘ Rückkehr und anhaltender Verfolgung berichtet. Im Wissen um die Gefahr, die ihnen auch in der Höhle droht – ihre Eltern hatten ihren Aufenthaltsort verraten⁴⁷ – bitten sie Gott um Schutz vor dem Kaiser. Noch während sie beten (quibus orantibus)⁴⁸ werden sie erhört, denn Gott weiß in seiner Providenz um ihren zukünftigen Nutzen. Welches dieser Nutzen sein wird, in einer Zukunft, die nur er in vorausschauendem Blick kennt, das wissen an dieser Stelle weder die sieben Christen noch Rezipient/in. Kaiser Decius gewährt den sieben Christen Bedenkzeit, weil er sie besonders begünstigt und quia non decet tantam venustatem ac pulchritudinem corporis subdi tormentis ⁴⁹ (weil es sich nicht gehört, eine so große Anmut und körperliche Schönheit Folterqualen auszusetzen). Nach der Flucht der Sieben in die Höhle besteht kein Zweifel darüber, dass sie facile possunt erui ⁵⁰ (ohne große Mühen ausfindig gemacht werden können), und doch lässt der Kaiser die Höhle nur von außen versperren, um sie mit dem Tod zu bestrafen.⁵¹ Die Handlung des Kaisers fügt sich so in das providente Gefüge – sogar Decius‘ Wunsch, die Schönheit der Männer vor Folter zu verschonen, hat (aus seiner Perspektive) überraschend Erfolg.⁵² Auch der Hirte, dessen Helfer die Höhle nach dem Jahrhundertschlaf öffnen, hat dafür einen Grund, der scheinbar unabhängig von allem Wundergeschehen ist: Für die überaus weltliche Absicht, einen Schafspferch zu bauen, bieten sich die Steine vor dem Höhleneingang schlicht ihrer Größe wegen an.⁵³
Vgl. Gregor von Tours, Passio, 4 (Krusch, 399, Z. 14– 16). Die Partizipialkonstruktion gibt die Gleichzeitigkeit des Geschehenen auch grammatikalisch wieder. Gregor von Tours, Passio, 3 (Krusch, 399, Z. 3). Gregor von Tours, Passio, 4 (Krusch, 399, Z. 15). Vgl. Gregor von Tours, Liber, 94 (Krusch, 101, Z. 8 – 9: Ibi intereant, qui diis nostris immolare noluerunt. (Hier sollen sie die, die unseren Göttern nicht opfern wollten, sterben.) Diese Interpretation stützt auch die weitere lateinische Überlieferung, die hier einem direkten Eingreifen Gottes erzählen und so die Entscheidung, die Höhle nur zu versperren, begründen, vgl. etwa nutu Dei (auf einen Wink Gottes, Gregor von Tours, Liber, 94 (Krusch, 101, Z. 8)); Et misit Deus in cor Decii (Und Gott gab in das Herz des Decius die Eingebung […], Vita Septem Dormientium, 10 [München BSB, Clm 22245, f. 198v-200], hg. von Michael P. Huber. In Textbeiträge zur Siebenschläferlegende des Mittelalters. Romanische Forschungen 26,1– 2 (1909), 465 – 469, hier 466). Vgl. Gregor von Tours, Passio, 6 (Krusch, 400, Z. 15 – 17).
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Die Handelnden agieren nach einem jeweils eigenen kausalen Gefüge, das die Passio septem dormientium außergewöhnlich detailliert offenlegt⁵⁴, denn die meisten Handlungen sind explizit in der Figurenlogik motiviert. Diese Motivationen jedoch, so zugänglich sie der Lektüre zu sein scheinen, werden vom Gesamtgeschehen überblendet. Das narrative Bemühen der Handelnden um Kausalität geht im Plan Gottes auf, obzwar dies für keinen der Handelnden einsehbar ist und vollkommen unabhängig von jedem menschlichen Einwirken. Das Wundergeschehen ist nicht beeinflussbar, weder positiv noch negativ, es entzieht sich den Handelnden sowohl auf einer konditional-kausalen Ebene als auch epistemologisch. Niemand außer Gott kann zielgerichtet in das kausale Bedingungsgefüge der Handlung eingreifen, keiner weiß wirklich, was geschehen ist, geschieht oder geschehen wird. Ganz im Gegenteil: Im Erzählverlauf erweist sich ausgerechnet das Unwissen der Handelnden als treibendes Handlungsmoment. Dies schließt auch die sieben Protagonisten ein. Die meisten Quellen der lateinischen Erzähltradition lassen die genaue Art und Weise ihres Schlafes generell offen. Dass die Passio septem dormientium Gregors von Tours dies genauer spezifiziert, nämlich als eine Form der Entseelung, die Körper zurücklässt, welche nur den Anschein Schlafender erwecken, ist innerhalb der Erzähltradition eher ungewöhnlich. Selbst die zweite Fassung Gregors im Liber in Goria martyrum hält sich prosaisch kurz: factaque oratione, prostrati solo obdormierunt ⁵⁵ (und nach einem Gebet schliefen sie auf dem Boden ausgestreckt ein). Andere lateinische Quellen sprechen von einem plötzlichen Moment des Schlafes: Et repente soporati sunt et magna suavitate obdormierunt ⁵⁶ (und plötzlich sind sie schläfrig und schlafen einen sehr angenehmen Schlaf.) An die Stelle der Plötzlichkeit⁵⁷ als Modus des Wunderbaren kann narratologisch auch die wunderbare Gleichzeitigkeit des Schlafes treten, die verfolgten Christen weinen und klagen und schlafen dann alle gemeinsam ein: Occidente vero sole cum lacrimis et tribulationibus sibi mutuo conloquerentur, prae nimia tristitia sopor nimius irruit in eos et omnes pariter quieverunt.⁵⁸
Zum Kausalitätsbemühen vgl. auch die Beobachtungen Elke Kochs zu den Münzen in der Redaktion L1: Koch, Zeit, 92. Gregor von Tours, Liber, 94 (Krusch, 101, Z. 7). Vita Septem Dormientium, 8 (Huber, 466). Zum Aspekt der Plötzlichkeit als Erzählweise vgl. die Essays von Karl Heinz Bohrer. Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981. Agnitio sive ostensio sanctorum septem virorum dormientium, 7 [Paris Bibliothèque Nationale de France, cod. lat. 5565, f. 17– 25v], hg. von Michael P. Huber. In Textbeiträge zur Siebenschläferlegende des Mittelalters. Romanische Forschungen 26,2 (1909), 482– 497, hier 486. (Zitiert unter Übernahme von Michael P. Hubers Emendationen.)
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Bei Sonnenuntergang aber, als sie unter Tränen und in ihrer Not leise miteinander sprachen, überkam sie vor lauter Traurigkeit eine überaus tiefe Schläfrigkeit und alle schliefen sie gleichermaßen ein.
Wie dieser Schlaf allerdings genau und wie vor allem die Körperlichkeit der sieben Schlafenden über den großen Zeitraum hinweg gedacht werden muss, erzählt keine der Fassungen, auch nicht die Passio Gregors des Großen. Was mit den Schafenden nach dem Einschlafen passiert, ist in allen Fassungen eine narrative Leerstelle. So kommt es, dass mit dem Moment des Einschlafens etwas passiert, das sich dem epistemologischen Zugriff entscheidend entzieht – weder Rezipient/in noch Schlafende, weder Decius noch seine Schergen wissen, was genau geschieht. Genauso wenig wissen das im Übrigen die beiden Christen, die die Tafeln im Eingangsbereich der Höhle verstecken, denn sie schreiben von der passio eorum ⁵⁹ (ihrer Leidensgeschichte), nicht dem eigentlichen Wundergeschehen.⁶⁰ Die Erzählung inszeniert somit in der Höhle einen in sich geschlossenen, uneinsehbaren Raum, der zwar als konsistenter Schauplatz des Wunders ex alio ersichtlich sein mag, sich ansonsten aber der äußeren Perspektive vollkommen entzieht. Seine providente Funktion wie eigentliche Modalität ist aus der nicht-göttlichen Perspektive nicht erklärbar. Dass die epistemologische Zugangsbeschränkung dabei eine ist, die alle menschlichen Handelnden einschließt, zeigen die sieben Schläfer selbst, denn das eigentliche Wunder bleibt auch ihnen fast bis zuletzt verborgen. Als sie aufwachen, wiederholen sie das Gespräch, welches sie vor ihrem Einschlafen geführt hatten, ein weiteres Mal. Sie fragen Malchus nach Neuigkeiten aus der Stadt und erhalten dieselbe Antwort, die sie Jahrhunderte früher erhalten hatten: Sie würden von Decius wegen ihres Verstoßes gegen das Opfergebot gesucht.⁶¹ Dass sie dieses Gespräch bereits geführt hatten und diese Antwort auch eigentlich kennen, fällt weder Malchus noch den anderen auf, sie wissen auch nicht, dass sich die Umstände generell geändert haben.⁶²
Gregor von Tours, Passio, 9 (Krusch, 402, Z. 3). Die selbstreferentielle Bemerkung des Textes – der Passio septem dormientium – Gregors von Tours, die passio der beiden Christen sei sicut supra retulimus (wie wir das gerade berichtet haben, Gregor von Tours, Passio, 9 (Krusch, 402, Z. 3) ist nicht nur Authentifizierungsbemühen, sondern belegt zusammen mit dem Verweis auf die Leidensgeschichte des Malchus diese Zuschreibung auf das Leiden, nicht das Wunder. Vgl. Gregor von Tours, Passio, 7 (Krusch, 400, Z. 24). Ihre Reaktion auf die Nachricht des Malchus ist nun hingegen nicht mehr Verzweiflung, sondern Bereitschaft zum Tod, vgl. Gregor von Tours, Passio, 7 (Krusch, 400, Z. 24– 25).
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Der bereits ritualisierte Ablauf ändert sich konsequenterweise nicht, Malchus wird zur Besorgung von Nahrungsmitteln in die Stadt geschickt.⁶³ In der Stadt aber, die mittlerweile unter Theodosius christlich ist, stößt er jetzt auf das Kreuzzeichen, Menschen schwören beim Namen Christi, er sieht eine Kirche und Priester und weiß sich seine Eindrücke nicht zu erklären.⁶⁴ Er fragt sich, ob Decius seine Meinung zum Christentum geändert habe⁶⁵, er versehentlich eine andere Stadt betreten haben könnte⁶⁶ oder vielleicht träume⁶⁷, zweifelt jedoch auch bei Androhung von Folter nicht daran, noch gestern in Ephesos gewesen zu sein. Als er auf seine alten Silbermünzen angesprochen und nach seiner Herkunft gefragt wird, antwortet er, er sei Ex Epheso […] si tamen haec civitas est Ephesiorum, quam hesterna die me vidisse commemoro.⁶⁸ Aus Ephesos […], jedoch nur, wenn dies die Stadt der Epheser ist, von der ich mich erinnere, sie am gestrigen Tag gesehen zu haben.
An seiner Erinnerung und vor allem auch daran, überhaupt am Vortag in einer Stadt – und wach – gewesen zu sein, zweifelt er nicht. Die kognitive Dissonanz, die das Ephesos, das er in seiner Erinnerung kennt, angesichts des nun erlebten Ephesos für Malchus hervorbringt, spiegelt seine Antwort sprachlich wider: Eine verständige Einschätzung der Situation ist ihm schlichtweg nicht möglich, denn er verkörpert am selben Ort zwei zeitliche Perspektiven, die sich nicht in Einklang bringen lassen. Erst als der Bischof Marinus Malchus berichtet, Decius sei vor vielen Jahren verstorben, schlägt diese Dissonanz überraschend in Erkenntnis um: ‚[…] Decius imperator, qui persecutus est christianos in hac urbe, ubi est?‘ Marinus episcopus respondit: ‚Non est in hac urbe, fili dilectissime, vir qui tempora Decii recolat; ante multos annos defunctus est.‘ Haec audiens Malchus, conversus ad se, dixit episcopo: ‚Putabam, me cum fratribus meis una tantum nocte dormisse; sed, ut cognosco, multorum annorum super somnum nostrum curricula transierunt. Et nunc suscitavit me Dominus cum fratribus meis, ut cognoscat omne saeculum, quia fiet resurrectio mortuorum. Sequimini ergo me, ut ostendam vobis fratres meos, qui mecum resurrexerunt.‘⁶⁹
Vgl. Gregor von Tours, Passio, 7 (Krusch, 400, Z. 18 – 401, Z. 7). Vgl. Gregor von Tours, Passio, 7 (Krusch, 400, Z. 18 – 401, Z. 7). Vgl. Gregor von Tours, Passio, 7. (Krusch, 401, Z. 3). Vgl. Gregor von Tours, Passio, 7 (Krusch, 401, Z. 6). Vgl. Gregor von Tours, Passio, 8 (Krusch, 401, Z. 9 – 10). Gregor von Tours, Passio, 8 (Krusch, 401, Z. 13 – 14). Gregor von Tours, Passio, 8 – 9 (Krusch, 401, Z. 20 – 28).
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‚[…] Kaiser Decius, der die Christen in dieser Stadt verfolgt hat, wo ist er?‘ Bischof Marinus antwortete ihm: ‚Es gibt in dieser Stadt, liebster Sohn, keinen Mann, der sich an die Zeit des Decius erinnert, er ist vor vielen Jahren gestorben.‘ Als Malchus dies hörte, vollzog er bei sich einen Wandel und sagte dem Bischof: ‚Ich glaubte, dass ich mit meinen Brüdern nur eine einzige Nacht geschlafen hatte. Aber es sind, so erkenne ich, viele Jahre über unseren Schlaf vorübergegangen. Und jetzt hat der Herr mich zusammen mit meinen Brüdern wieder aufgeweckt, damit das ganze Zeitalter erkennt, dass es eine Auferstehung der Toten geben wird. Folgt mir also und ich werde euch meine Brüder zeigen, die mit mir wiederauferstanden sind.‘
Im Dialog zwischen Malchus und dem Bischof werden die beiden widerstreitenden Perspektiven, wie sie im Zusammenhang der raumzeitlich entkoppelten Höhle geschehen konnten, als solche manifest. Kaiser Decius, vor dessen erneuter Verfolgung Malchus aus seiner Perspektive noch die Nacht zuvor seine Brüder warnen musste, ist in der heutigen, jetzigen Stadt nicht nur tot, sondern vor so langer Zeit gestorben, dass sich niemand mehr an diese Zeit zu erinnern vermag. Im Gegenüber der Schläfer-Perspektive, die kategorial von dem Ereignis des Höhleninneren geprägt wird, und der Perspektive der ‚Normwelt‘⁷⁰ außerhalb der Höhle zeigt sich ex alio der Bruch. Dieser Bruch ist selbstverständlich ein zeitlicher, jedoch ist auch er nicht ohne die räumliche Dimension erzählt, denn ohne sie ist eine zeitliche Differenz nicht denkbar: Gerade die Stadt Ephesos, eine gemeinsame, deiktisch (hac) zu vermittelnde, räumliche Konstante ist Bedingung der dialogischen Einigung auf einen gemeinsamen Bezugspunkt und dem damit hier und jetzt notwendigerweise zu denkenden – zeitlichen – Alteritätsmoment. Im subjektiven Erleben trennt Malchus von dem Ephesos unter Decius nur eine Nacht, während im Ephesos des Marinus Decius schon viele Jahre tot ist. Die Innenperspektive von Malchus, eine Nacht geschlafen zu haben, muss also angesichts der raumzeitlichen Alterität des Ephesos, in dem er sich nun auf wundersame Weise befindet, in der neuen „normweltlichen“ Perspektive des Marinus die Entsprechung vieler Jahre finden. Was genau innerhalb der Höhle geschehen ist, bleibt trotz dieses neuen Blickwinkels weiterhin eine narrative Leerstelle, der sich Passio und andere Fassungen einzig ex post in der subjektiven Erfahrung des Schlafes einer Nacht und ex alio in Differenz zu der außerhalb des Höhlenraumes vergangenen Zeit nähern. Narratologisch wird dies konkret durch die unvermittelte Wiederauf Mit dem Begriff der ‚Normwelt‘ ist hier und im Folgenden der Zusammenhang raumzeitlicher Kategorien bezeichnet, der sich außerhalb des gesonderten Ausnahmeraums der Höhle befindet und innerhalb dessen sowohl räumliche wie zeitliche Kategorie frei von jedem Wunder in lebensweltlich erwartbarer Weise weiterläuft. Kriterium dafür ist natürlich die narratologische und narrative Einordnung dieser Phänomene innerhalb des Textes.
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nahme des Gesprächs der sieben Schläfer, aber auch ganz allgemein durch den Aufbau der Passio realisiert. Nach dem Einschlafen der sieben Männer nämlich laufen erzählte Zeit wie Erzählzeit unbekümmert weiter, die Höhle wird unversehens geschlossen und im Stil der Chronik von der Machtübergabe nach Decius berichtet. Diese Chronologie macht den Bruch offenbar⁷¹, für die restliche Welt außerhalb der Höhle geraten Höhle und Schläfer, wenn auch kurz, in Vergessenheit. Aus der Perspektive der vergangenen erzählten Zeit, die er auf diese Weise einnimmt, weiß der Leser/die Leserin damit bereits vor Malchus und den anderen vom Wunder. Sein heterochroner Erkenntnismoment ereignet sich vor dem des Malchus, nämlich als die Schläfer erwachen: […] putantesque se una tantum nocte dormisse, sederunt alacres atque robusti. Erant enim non modo corpora eorum venusta atque pulcherrima, verum etiam ipsa vestimenta integra atque inlaesa, sicut ante annos plurimos fuerant ab his induta.⁷² […] und sie saßen, im Glauben, nur eine einzige Nacht geschlafen zu haben, kräftig und munter. Denn nicht nur ihre Körper waren anmutig und wunderschön, sondern auch ihre Kleider waren vollkommen unbeschadet, so wie sie vor sehr vielen Jahren von ihnen angezogen worden waren.
Es ist eine spezifisch erzählte Materialität, die den Leser/die Leserin, wie in der Folge den Bischof und das Volk des christlichen Ephesos, auf den kategorialen Bruch des Schlafes der Sieben aufmerksam macht. Im Einzelnen sind das neben der Kleidung und den unversehrten Körpern der Schläfer die Silbermünzen aus der Zeit des Decius, die Malchus aus der Höhle in die Stadt mitbringt. Im Wissen um die vielen Jahre, die vergangen sind, unterlaufen die noch immer jugendlich schönen Körper der Schläfer und ihre Gesundheit die Kategorien der Normwelt insofern, als sie offensichtlich trotz eines Alters, das sie eigentlich gar nicht hätten erreichen können, frei von jeglichen Altersspuren sind. Die Kleidung, welche aus normweltlicher Perspektive ebenfalls Abnutzungsspuren aufweisen müsste, ist überraschend unversehrt. Die Münzen, die durch ihre Prägung zu Signifikanten einer vergangenen Zeit werden können, unterlaufen im jetzigen Ephesos, in dem die Zeit normweltlich weitergelaufen ist, die Erwartungen des Volkes so sehr, dass sie ihrer Exzeptionalität wegen gar als Schatz⁷³ betrachtet werden. Unversehrtheit als Qualität, die auf einen ganz spezifischen, zeitlich einzugrenzenden Zustand verweist – frisch angezogene Kleidung, die jugendliche Schönheit, die unter De-
Vgl. Koch, Zeit, 89. Gregor von Tours, Passio, 7 (Krusch, 400, Z. 19 – 22). Vgl. Gregor von Tours, Passio, 8 (Krusch, 401, Z. 8 – 9).
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cius geprägten Münzen – wird so in ihrem heterochronen Verweis auf eine andere Zeit zur materiellen Markierung der Dyschronie. Die Zeit, auf die diese materiellen Dinge hinweisen, ist nicht die, in der sich die Schläfer nun befinden. Sie kann es nicht sein, denn die Materialität all dessen, was mit ihnen in der Höhle gewesen war, spricht unmissverständlich dagegen. Die bleiernen Tafeln im Höhleneingang schließlich – auch sie lagen intrinsecus, innerhalb der Höhle⁷⁴ –fassen in Worte, was unter Decius geschehen war, und versprachlichen die zeitliche Referenz von Kleidung, Körperlichkeit und Münzen auf eine Zeit, die eigentlich schon lange vergangen ist. Sie authentifizieren damit, was anderweitig nur in der wunderbaren Dissonanz staunend⁷⁵ erfahren werden konnte und beweisen die beispiellose Providenz des Geschehens. Damit sind es gerade verschiedene Materialitäten aus dem Höhlenraum, die im Verweis auf einen normweltlichen Zeitverlauf und im Bruch mit diesem die Sonderzeitlichkeit der Höhle aufzuzeigen vermögen. Ex alio wird semantisiert, wo die Erzählung eine narrative Leerstelle gelassen hatte: Es muss ein Wunder geschehen sein. Die Binarität der Höhle gegenüber der restlichen Welt, als räumlich abgegrenzter, nicht einsehbarer, streng perspektivabhängiger Sonderraum, legt so die narrative Grundlage des zentralen raumzeitlichen Alteritätsmoments der Siebenschläferlegende. Alteritär schließlich kann nur sein, was ‚anders‘ ist. Im Dialog mit Martinus, konfrontiert mit den Münzen und den Zeiterfahrungen seines Gegenübers, kommt die plötzliche Erkenntnis des Malchus narratologisch trotzdem als unerwarteter Sinneswandel, nahezu ex machina. Sie ist bis auf die Heterochronie, die ihm der Dialog mit Marinus erschließt, narrativ unmotiviert.⁷⁶ Woher weiß Malchus, dass er deshalb wiedererweckt wurde, damit er das nun christliche Zeitalter von der Auferstehung der Toten überzeugen kann? Ähnlich auch die anderen Schläfer, die während Malchus‘ Gang in die Stadt innerhalb der Höhle gewartet hatten: Malchus kehrt mit dem Volk zur Höhle zurück, geht zunächst ohne Begleitung hinein und erzählt ihnen von den Ereignissen in der Stadt (quae ei contigissent in urbe).⁷⁷ Die anderen teilen daraufhin sein Wissen um ihren wunderbaren Schlaf und ihre außergewöhnliche Funktion für die Stärkung des Auferstehungsglaubens.⁷⁸ Ihr Wissensstand gerade hinsichtlich
Gregor von Tours, Passio, 5 (Krusch, 399, Z. 25). Vgl. Gregor von Tours, Passio, 7 (Krusch 401, Z. 1– 2); Passio, 8 (Krusch, 401, Z. 9). Dies ist in anderen Quellen der lateinischen Überlieferung abgeschwächt. An die Stelle dieses Erkenntnismoments tritt das Zeugnis der zwei Tafeln, vgl. etwa Vita Septem Dormientium, 17 (Huber, 468). Gregor von Tours, Passio, 9 (Krusch, 401, Z. 30). Vgl. Gregor von Tours, Passio, 12 (Krusch, 402, Z. 27– 402, Z. 2).
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ihrer Sonderrolle erscheint, vor allem angesichts des Kausalitätsbemühens in Zusammenhang mit anderen Handelnden, als beinahe beliebig. Die Geschichte in Gregors Passio gibt hier keine zufriedenstellende Antwort. Diese ist stattdessen in der spezifischen narratologischen Konfiguration des Wundergeschehens, gerade auch in der raumzeitlichen Strukturierung zu suchen, die eben nicht nur mit einer physischen und personellen, sondern auch mit einer epistemologischen Zugangsregulation einhergeht. Diese epistemologischen Einschränkungen der Handelnden sind, so wird zu zeigen sein, nicht nur Markierung des Wunderbaren, sondern vielmehr zentrales Moment der narratologischen raumzeitlichen Konfiguration, innerhalb dessen dieses Wunder kulturell erzählt wird – und erzählt werden kann.
4 Zur Kulturalität des Höhlennarrativs Die raumzeitlichen Phänomene der Siebenschläferlegende figurieren sich als Teil und Ergebnis eines christlichen Diskurszusammenhangs, ihre Erzählweise von Zeit und Raum ist kulturell bestimmt. Die Erkenntnis des Malchus, dass sein wundersamer Schlaf vor der Folie des Auferstehungswunders verstanden werden muss, kommt so zwar auf der kausallogischen Ebene der Geschichte (histoire) unerwartet. Im kulturellen Zusammenhang der Erzählung (discours) hingegen ist diese Erkenntnis die logische Konsequenz eines diskursiven Gefüges, das die Narrative entsprechend codiert.⁷⁹ Bereits das Narrativ der Höhle muss in seinen spezifischen Diskursdimensionen gelesen werden. Die Sieben suchen hier, nachdem Decius ihnen einen Aufschub gewährt hat, nicht etwa nur Schutz vor der kaiserlichen Verfolgung. Diese Interpretation mag zwar topologisch naheliegen, auch biblisch etwa ist die Höhle als Raum der Zuflucht durchaus bekannt.⁸⁰ „Schutz“ (praesidium)⁸¹ wird nur im Zusammenhang mit ihren Häusern erwähnt und ist an keiner Stelle Kategorie der Höhle. Der Rückzug in die Höhle ist nicht einmal geheim, denn ihre Eltern beispielsweise wissen durchaus von ihrem Aufenthaltsort und weisen ihre
Der Diskursbegriff dieses Aufsatzes folgt Michel Foucault (etwa Michel Foucault. Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 162013 oder Michel Foucault. Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 141997), nicht Gérard Genette. An den Stellen, wo zu Zwecken der narratologischen Präzisierung auf die Kategorien Genettes (Gérard Genette. Die Erzählung, übers. von Andreas Knop, Paderborn: W. Fink, 32010) zurückgegriffen wird, ist dies über die französischen Begriffe entsprechend markiert. Vgl. 1. Kön 18,4; 1. Kön 19,13; Jes 2,19 – 21. Gregor von Tours, Passio, 3 (Krusch, 399, Z. 7).
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Verfolger dezidiert darauf hin, wie einfach es wäre, sie gewaltsam aus der Höhle zu entfernen.⁸² Der Aspekt des Schutzes in der Höhle wird ganz im Gegenteil also in der Erzähllogik der Geschichte bewusst unterlaufen. Hätten die Eltern nicht vom Ort ihrer Flucht gewusst, wäre die Suche des Decius, so wie sie die Passio und andere Fassungen erzählen⁸³, im Sande verlaufen und sie wären in ihrer Höhle unbehelligt geblieben. Statt dieser Funktion der topologisch schützenden Zuflucht übernimmt die Höhle in der Legende der sieben Schläfer die zentrale Funktion der Weltabkehr, wie sie im 6. Jahrhundert, zur Entstehungszeit der ersten lateinischsprachigen Fassung Gregors von Tours, aber auch im 3. Jahrhundert zur Zeit der Geschichte, für die Höhle zentral ist. Der Diskurs der Wüstenväter⁸⁴, zu dem u. a. die Vita S. Pauli des Hieronymus (347– 420 n.Chr.) zu zählen ist, ist im gesamten Mittelalter als kulturelles Wissen vorauszusetzen, denn seine Verbreitung ist nahezu unübertroffen⁸⁵ und seine Lektüre über die Benedicti regula zudem fest im benediktinischen Mönchstum verankert.⁸⁶ Die Texte erzählen von den frühen ägyptischen Mönchen, ihrer Abkehr von der Welt und ihrer eremitischen Lebensführung in der Wüste. Dieses Leben findet gerade bei Mönchen von außerordentlichem Status auch in einem Höhlenraum statt:⁸⁷ So flieht beispielsweise der ‚erste‘ Eremit Paulus – aus Angst, als Christ verraten zu werden – in eine Höhle in den Bergen.⁸⁸ Dass dieser Diskurs auch die Höhle der sieben Schläfer dimensioniert, zeigt die Passio, indem sie die Abkehr von der Welt – Familie, Heimat, materiellem Besitz – besonders betont. Mit der Höhle wählen sie nicht nur einen Ort, an dessen räumlicher Abgeschiedenheit der Text in der beständigen Wiederholung von abire (weggehen)⁸⁹ keinen Zweifel aufkommen lässt. Sie verlassen zudem in
Vgl. Gregor von Tours, Passio, 14– 16. Vgl. beispielsweise Agnitio sive ostensio, 9 (Huber, 487). Vgl. einführend William Harmless. Desert Christians. An Introduction to the Literature of Early Monasticism. Oxford: Oxford University Press, 2004. Vgl. Eva Schulz-Flügel. Rufinus. Historia monachorum sive De vita sanctorum patrum. Berlin, New York: De Gruyter 1990, 3. Vgl. Benedicti regula, 42, 3, hg. mit einer Übersetzung der Salzburger Äbtekonferenz von P. Ulrich Faust OSB. Stuttgart: Reclam, 2009. Vgl. zur Höhle im Diskurszusammenhang Franz Dodel. Das Sitzen der Wüstenväter. Eine Untersuchung anhand der Apophthegmata Patrum. Fribourg: Universitätsverlag Freiburg (Schweiz), 1997, 80. Vgl. Hieronymus, Vita S. Pauli, 2– 5, hg. in: Patrologia Latina 23, Sp. 17– 30 A. Eine Übersetzung findet sich in Manfred Fuhrmann. Christen in der Wüste, übers. von Manfred Fuhrmann. Zürich, München: Artemis, 1983. Vgl. Gregor von Tours, Passio, 3 – 5 (Krusch, 399, Z. 5; 6; 7; 10; 22; 400, Z. 3).
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einem Moment bewusster Entscheidung ihre Häuser und spenden bis auf das Allernötigste ihren gesamten materiellen Besitz den Armen.⁹⁰ Sie verzichten auf ihren gesellschaftlichen Rang, ihre Eltern und ihre Heimatstadt.⁹¹ Auch das Motiv ihres Fastens, das in manchen Fassungen zudem ausgestellt wird⁹², ist vor diesem Hintergrund zu verstehen: ibi fuerunt vacantes orationibus, jejuniis et obsecrationibus indesinenter precantes Deum, ut eis opem defensionis suae pro sua pietate diligeret⁹³ dort verbrachten sie ihre Zeit mit Gebeten, Fasten und inständigem Flehen, und beteten dabei ohne Unterlass zu Gott, dass er ihnen Beistand für ihre Verteidigung zum Schutz ihres frommen Glaubens schenke.
Ohne an dieser Stelle eine umfassende Diskursanalyse vornehmen zu können, wird doch ersichtlich, dass es sich hier um Topoi der anachoretischen Weltabkehr handelt, hin zu einem exzeptionellen Leben bei Gott.⁹⁴ Natürlich fliehen die Sieben auch aus Angst vor Decius. Zuflucht suchen sie aber keinesfalls an einem geschützten, geheimen Ort, sondern in einem Raum, der ihnen eine besondere Nähe zu Gott erlaubt – der Höhle. Frei von weltlichen Verbindungen können sie sich hier ausschließlich Gott zuwenden. In der zitierten Redaktion Z der Agnitio et ostensio wird dieser Zusammenhang auch sprachlich besonders eindrücklich abgebildet, denn die Freiheit der erfolgten Weltabkehr – vacantes (frei von) – erlaubt mit den folgenden Dativobjekten orationibus, jejuniis et obsecrationibus (Gebeten, Fasten und inständigem Flehen) die umgehende semantische Verschiebung von vacare: ‚Frei von‘ der Welt sind die Sieben noch im Verlauf desselben Satzes, nur ein einziges Wort weiter, ‚frei für‘ Gott. Die besondere Nähe der Sieben zu Gott ist semantisch das zentrale Direktiv der Siebenschläferhöhle. Innerhalb des kulturellen Rahmens erklärt sie sowohl den dyschronen Moment beim Verlassen der Höhle als auch die abschließende
Vgl. Gregor von Tours, Passio, 3 (Krusch, 399, Z. 7– 8).Vgl. das Berufungswort Abrahams in Gen 12,1. Vgl. Gregor von Tours, Passio, 1 (Krusch, 398, Z. 1– 3). Dass der Topos des Fastens nicht in allen Fassungen auftaucht, mag in der erzähllogischen Notwendigkeit der Münzen begründet sein: Gerade die spezifische Zeitlichkeit der Münzen offenbart den zeitlichen Bruch, der sich in der Höhle ereignet haben muss. Der einzige Grund jedoch, weshalb Malchus die Höhle mit diesen Münzen verlässt, ist der Kauf von Nahrungsmitteln, der natürlich innerhalb einer dezidierten Fastentopik obsolet wird. Vgl. Agnitio sive ostensio, 6 (Huber, 486). Für einen Einblick in die Dynamik dieser Weltabkehr siehe Simon Kießling. Abendländisches Mönchtum und moderne Erlösungsdynamik. Wege der Weltabkehr und Weltüberwindung. Berlin, Münster: LIT Verlag, 2011, 10 – 25.
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Deutung mit dem Auferstehungsmodell, denn die Höhle ist hier ein Raum besonderer Transzendenz.⁹⁵ In Relation zu weltlichen Kategorien wird, über und in raumzeitlichen Strukturen, unter zunehmender Modifikation und Negation immanenter Kategorien, ein gradueller Fortschritt der Protagonisten in Richtung Gott erzählt. Dass der Siebenschläferlegende ein solches Spannungsfeld zwischen Gott und Welt implizit ist, wird an mehreren Stellen manifest, besonders aber in der spezifischen raumzeitlichen Konfiguration der Höhle. Auf den Ausschluss der Sieben aus der kaiserlichen Gemeinschaft nämlich folgt ihre Aufnahme in einen Raum Gottes. Hier erfahren sie seinen exzeptionellen Schutz,⁹⁶ jedoch gehen die diskursiven Implikationen weiter: Salvemur de habitatione civitatis hujus et euntes in speluncam in monte Celio Dominum deprecemur, et erimus absque timore et persecutorum saevitia. Et juxta Dei dispensationem faciat in nobis misericordiam suam!⁹⁷ Lasst uns uns in die rettenden Hände Gottes begeben, aus der Gemeinschaft dieser Stadt, und in eine Höhle im Berg Celium gehen und dabei flehentlich zu Gott beten, und wir werden frei sein von Furcht und der Wut unserer Verfolger. Und, wenn Gott es will, hat er vielleicht Mitleid mit uns!
An die Stelle der weltlichen Gemeinschaft – konkret hier natürlich die civitas Ephesos – tritt in Form der Höhle die Nähe zu Gott und damit eine vollkommen sorgenfreie Zukunft. Gerade die Wortwahl der civitas und die Freiheit vor Verfolgung, gleichwohl beide Aspekte erzähllogisch in der erlebten Normwelt erklärbar sind, eröffnen eine Deutung der Höhle als Figuration des Reichs Gottes; die endzeitliche Gemeinschaft der Christen im himmlischen Jerusalem (civitas Dei) nach der zweiten Wiederkunft Christi, nach der tatsächlich alles Böse, alle Ver-
‚Transzendenz‘ wird dabei nicht im metaphysisch-absoluten Sinne verwendet, denn so ist sie literaturtheoretisch per definitionem nicht am Text greifbar. Vielmehr bedarf es für räumliche Beschreibungen von Transzendenzeffekten, wie sie auch im Zusammenhang der Weltabkehr in den christlichen Texte der Spätantike und des Mittelalters verhandelt werden, eines graduellrelativen Transzendenzbegriffes. Zu diesem literaturwissenschaftlichen Transzendenzbegriff vgl. Weidner, Erzählen, 5 – 8. Auf der Grundlage eines theologischen absoluten Transzendenzbegriffes (Christian Danz. Transzendenz/Immanenz. IV Religionsphilosophisch. In Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Auflage Bd. 8, hg. von Hans Dieter Betz u. a. Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, Sp. 551– 553., Sp. 551– 553, hier 551.) wird ‚Transzendenz‘ hier als produktive Kategorie für die analytische literaturwissenschaftliche Beschreibung gerade jenseitserzählender Texte des Mittelalters entwickelt. Vgl. Gregor von Tours, Passio, 4 (Krusch, 399, 19 – 20). Vita septem Dormientium, 6 (Huber, 465 – 466).
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folgung ein Ende hat.⁹⁸ Der Sprung vom Konjunktiv auf das Futur mit der einschränkungslosen Freiheit der Verfolgten an dieser Stelle ist auffällig und suggeriert eine endzeitliche Sicherheit im Glauben, die weltlich im Ephesos des Decius unmöglich zu sein scheint. Endzeitliche Implikationen spielen auch bei der Beschreibung der sieben Christen nach ihrem Erwachen eine Rolle: Die Schläfer gehorchen nun nicht mehr einfach irdischen Kategorien, sie strahlen wie die Sonne⁹⁹ und psallebant secundum consuetudinem suam (sie sangen Psalmengesänge, wie es ihre Gewohnheit war).¹⁰⁰ In der Tat jedoch sprechen die Texte vor dem Aufwachen der Sieben nicht davon, dass sie gesungen hätten. Vielmehr lassen diese Motive auf einen beinahe engelsgleichen Zustand der Wiedererwachten schließen: Sie sind bereits Teil einer himmlischen und nicht mehr Teil einer irdischen Gemeinschaft, wie es Abbildungen etwa der Paulus-Apokalypse für den himmlischen Aufenthaltsort der Gerechten erzählen.¹⁰¹ Zurück in der Höhle zeigt sich an ihren Körpern und in ihrem Verhalten – etwa den Psalmengesängen – eine neue consuetudo, die auf ihr, nun nicht mehr gewöhnlich-irdisches, sondern himmlisches Leben nach dem Entschlafen schließen lässt. Für diese endzeitliche Interpretation spräche auch eine weitere Parallele der Siebenschläferlegende zur Paulus-Apokalypse: Wie auch die Christen von Ephesos beim Eintritt in die Höhle auf zwei beschriebene, bleierne Tafeln stoßen, erwarten Paulus zwei, obzwar goldene, Tafeln am Tor zu den loca iustorum, vor dem himmlischen Aufenthaltsort der Seelen der Gerechten, denen mit diesem jenseitigen Schicksal eine besondere göttliche Gnade zuteil geworden ist.¹⁰²
Zum Diskurs des himmlischen Jerusalems vgl. die noch immer einschlägige Studie von Reinhold R. Grimm. Paradisus coelestis. Paradisus terrestris. München: Fink, 1977. Gerade die Freiheit vor Verfolgung taucht als jenseitiges, paradiesisches Motiv auch für den himmlischen Aufenthaltsort der Gerechten immer wieder auf, siehe etwa die spätere Navigatio S. Brendani 28, 12, hg. von Giovanni Orlandi, Rosanna E. Guglielmetti. Navigatio sancti Brendani. Alla scoperta dei segreti meravigliosi del mondo, Florenz: Sismel, 2014. Vgl. Gregor von Tours, Passio, 10 (Krusch, 402, Z. 5 – 7). Vita Septem Dormientium, 12 (Huber, 467). Vgl. etwa die strahlende Sonne als zentrales Motiv in der Paulus-Apokalypse, 20, hg. von Theodore Silverstein, Anthony Hilhorst. Apocalypse of Paul. A New Critical Edition of Three Long Latin Versions. Genf: Cramer, 1997, hier 112– 113. Siehe auch Offb 20,1– 6. Paulus-Apokalypse, 19 (Silverstein, Hilhorst, 110 – 111). Außer dem Codex Paris Bibliothèque Nationale de France, Nouv. acq. lat. 1631 weisen alle Handschriften der synoptischen Edition dieses Merkmal auf. Eine komparatistische Diskursanalyse der Erzähltradition der Schläfer mit der der Paulus-Apokalypse wäre sicher ergiebig, kann hier allerdings in der notwendigen Breite nicht geleistet werden.
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Es ist dieser Gedanke, auf den die raumzeitlichen Phänomene des Höhlennarrativs im kulturellen Diskurszusammenhang zulaufen. Nach ihrer Erweckung spricht Maximianus, einer der Schläfer, dementsprechend zu Kaiser Theodosius: Surrexit, gloriosae auguste, hereses, quae populum christianum a Dei promissionibus conatur evertere, ut dicant, non fieri resurrectionem mortuorum. Ergo ut scias, quia omnes iuxta apostolum Paulum repraesentandi erimus ante tribunal Christi, idcirco iussit nos Dominus suscitari et tibi ista loqui. Vide ergo, ne seducaris et excludaris a regno Dei.¹⁰³ Es hat sich, ruhmvoller Augustus, ein Irrglaube erhoben, der das christliche Volk von den Verheißungen Gottes abzuwenden versucht, um sie zu der Überzeugung zu bringen, dass es keine Auferstehung der Toten gibt. Deshalb, damit du also weißt, dass wir alle gemäß dem Apostel Paulus vor dem Gericht Christi vorstellig werden müssen, hat uns der Herr geboten, aufzuerstehen und dir dies zu sagen. Sieh also zu, dass du nicht verführt und vom Reich Gottes ausgeschlossen wirst.
Die höhleneigene Exklusionsdynamik – wie bereits skizziert physischer, personeller wie epistemologischer Natur – soll die Zugehörigkeit zum Reich Gottes vermitteln, wie sie sich endzeitlich durch die Gnade der Auferstehung in einer himmlischen Zukunft figurieren wird. Die Sieben erwachen deshalb aus ihrem Jahrhundertschlaf, um dem Kaiser zu Zeiten großer (häretischer) Not als Zeugnis für die verheißene Auferstehung der Christen zu dienen und ihn zugleich mit der exzeptionellen Legitimität, auf Gottes direktes Geheiß zu handeln, auf die endzeitliche Gefahr möglichen Unglaubens hinzuweisen. Unter Bezugnahme auf Paulus – also die Paulus-Apokalypse, welche schließlich ebenfalls mit besonderer Legitimation Jenseitiges bezeugt¹⁰⁴ –, die Verheißungen Gottes (dei promissiones) sowie Christi Gericht behaupten sich die Sieben damit als unabdingliche Mittler eigentlich unzugänglichen, jenseitigen Wissens. Sie sind tatsächlich nicht mehr nur ‚einfache‘ Christen, sondern verweisen in ihrer neuen, wunderbaren Körperlichkeit auf eine Endzeit, die anderweitig Theodosius und seinem christlichen Volk nicht erschlossen worden wäre – sowohl epistemologisch als auch theologisch, denn die Häresie war schließlich im Begriff, ihnen diesen Zugang zu versperren. Nun gilt es, durch das außergewöhnliche Zeugnis der Sieben an das Auferstehungswunder selbst zu glauben, sonst steht Theodosius der Ausschluss aus dem endzeitlichen Reich Gottes bevor
Gregor von Tours, Liber, 94 (Krusch, 102, Z. 3 – 7). Zur Paulus-Apokalypse bzw. der Visio Pauli siehe die einschlägige Studie von Lenka Jiroušková. Die visio Pauli. Wege und Wandlungen einer orientalischen Apokryphe im lateinischen Mittelalter: unter Einschluss der alttschechischen und deutschsprachigen Textzeugen. Leiden: Brill, 2006.
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und, um den metaphorischen Gedanken auf den Punkt zu bringen, kein offener Höhleneingang kann ihnen mehr helfen. Durch ihre besondere Konfiguration kann und soll die Höhle so in ihrer eigenen materiellen Gegenwärtigkeit das Reich Gottes, und mittelbar über die Schläfer, ihre Körper, Kleider und die Münzen die kategoriale Differenz des Göttlichen hinsichtlich seiner Providenz und Ewigkeit vermittelbar machen. So wird schließlich auch die zeitlich relative Struktur der Erzählung als kulturelles Narrativ erklärbar. Die scheinbar ausgesetzte Zeit im Höhleninneren ist Resultat einer höhleninhärenten Spannung zwischen Welt und Gott, die in der zeitlichen Kategorie als Spannung zwischen chronologischer Weltzeit und göttlicher Ewigkeit auserzählt wird. Wie nämlich in der göttlichen Providenz eine scheinbar kontingente Abfolge von Einzelgeschehen zum großen Ganzen des wunderbaren Siebenschlafes zusammenkommt (das ja sogar eschatologisch als Beweis des Auferstehungswunders notwendig wird, um die Christen zur Zeit des Theodosius von endzeitlichen Glaubenswahrheiten zu überzeugen), so ist auch die Kategorie der Zeit als Ganzes aus der Perspektive Gottes relativ: quia mille anni in oculis tuis sicut dies hesterna quae pertransiit et vigilia nocturna¹⁰⁵ Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht.¹⁰⁶
Diese Relativität menschlicher Zeit und Chronologie im Angesicht von Gottes Ewigkeit wird in der Erzählung der sieben Schläfer im Höhlenraum funktional und im Gegenüber der normweltlichen Zeitverhältnisse als heterochrones Moment manifest. Zeitlichkeit ist damit eine zentrale Kategorie, die für die narratologische Darstellung zunehmender göttlicher Nähe modifiziert wird¹⁰⁷, zeitliche
Ps 89,4, zitiert nach Biblia Sacra. Iuxta Vulgatam versionem, hg. von Robert Weber, Oger Gryson, Bonifatius Fischer. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 52007. Ps 90,4, zitiert nach Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Gesamtausgabe, im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz, der Schweizer Bischofskonferenz u. a., vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe. Stuttgart: Katholische Bibelanstalt, 2016. Unter den mittelalterlichen Erzählungen seien hier zum Phänomen zeitlicher Relativität (AaTh/ATU 681) beispielsweise die Erzählung von Mönch und Vöglein genannt, siehe einführend Fritz Wagner. Mönch und Vöglein. In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 9, hg. von Rolf Wilhelm Brednich u. a. Göttingen: De Gruyter, 1999, Sp. 788 – 793. Im Zusammenhang mit Jenseitserzählungen vgl. Lutz Röhrich. Jenseitswanderungen. In Enzyklopädie des Märchens Bd. 7. hg. von Rolf Wilhelm Brednich u. a. Göttingen: De Gruyter, 1993, Sp. 547– 559, hier 553 – 554. Für weitere Texte, die im Rahmen der spezifischen christlichen Kulturalität eine relative Zeit in Gott erzählen vgl.
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Ungereimtheiten sind in diesem Diskurszusammenhang immer wieder Hinweise auf Wunderbares.¹⁰⁸ Indem also gerade die normweltliche Zeitlichkeit innerhalb des Höhlenraumes ausgesetzt wird, offenbart sich eine relative graduelle Nähe des Raumes und seiner Schläfer, Kleidung und Münzen an eine göttliche Transzendenz. Die Höhle als Ganzes und die Schlafenden in ihrem Inneren übernehmen eine neue endzeitliche Funktionalität, die nur Gott in seiner Providenz vollständig überblickt und für die Zeitlichkeit im Sinne weltlicher Chronologie nicht mehr gelten kann. Dies bewahrheitet sich durch die Wiederaufnahme ihres Schlafes nur weiter. Ihre eschatologische Funktion haben Schlafende und Höhle nämlich mit der Erweckung noch nicht erfüllt, es kommt eine weitere hinzu – die sich aus der immanent-weltlichen Perspektive ebenso wenig erschließt. So möchte Kaiser Theodosius sie, nachdem sich die Schläfer wieder niedergelegt haben, sie entschlafen sind und ihre Seelen Gott überantwortet haben, in goldenen Särgen begraben¹⁰⁹: Sed in nocte apparuerunt ei sancti, dicentes: ‚Ne feceris, sed relinque nos super terram; de ea iterum suscitabit nos Dominus in die magno resurrectionis omnis carnis.‘¹¹⁰ Aber in der Nacht erschienen ihm die Heiligen, und sie sprachen: Tue das nicht, sondern lass uns auf der Erde liegen.Von ihr wird uns der Herr ein zweites Mal aufrichten, am großen Tag der Auferstehung allen Fleisches.
Die Schlafenden haben zwar dem Anschein nach ihren providenten Zweck erfüllt, sie konnten den Auferstehungsglauben erstarken lassen. Die Körper der Sieben werden aber ein zweites Mal auferstehen, sie sind nicht wirklich tot und warten vielmehr nur auf ihre zweite, letzte Auferstehung. Ein Grab würde diese Ambivalenz unterlaufen, ganz abgesehen davon, dass sie gerade im Modus ihrer Körperlichkeit ihre spezifische endzeitliche Funktion, die Christen auf das Wunder der Auferstehung hinzuweisen, zu erfüllen vermögen. Anders gesagt: Wie in Gott weltliche Zeitlichkeit aufgehoben ist, so gilt auch der Tod hier nicht, denn Gott
Mairi Kaasik. A Mortal Visits the Other World – the Relativity of Time in Estonian Fairy Tales. Journal of Ethnology and Folkloristics 7,2 (2013): 33 – 47, hier 34. Neben dem Aufsatz von Elke Koch (Koch, Zeit) seien hier vor allem Arbeiten im Kontext vormoderner Hagiographie genannt, vgl. die Arbeiten des Sammelbandes Udo Friedrich, Andreas Hammer, Christiane Witthöft (Hg.). Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Berlin: De Gruyter, 2014. Bereits biblisch ist dieses Muster belegt, siehe exemplarisch Jos 10,13 – 14. Vgl. Gregor von Tours, Passio, 12 (Krusch, 403, 2– 6). Gregor von Tours, Passio, 12 (Krusch, 403, S. 6 – 8).
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non permisit perire populum suum ¹¹¹ (hat es nicht erlaubt, dass sein eigenes Volk im Tod untergeht). Theodosius, ein weiteres Moment der Inkommensurabilität göttlicher Providenz für die menschliche Erkenntnisfähigkeit, vermochte es ohne die visionäre Eingebung der Schläfer nicht, diese Zusammenhänge zu erkennen. Die Sieben übernehmen also schließlich über die besondere Körperlichkeit ihres Schlafes eine ausgestellte, ambivalente Position zwischen Leben und Tod. Auch dies zu erzählen, erlauben raumtypologische Diskursdimensionen, die bei der Höhle in diesem kulturellen Zusammenhang immer implizit sind: Jesu Auferstehung ereignet sich in einer Art Höhle¹¹² und auch Lazarus als erstes Auferstehungswunder Christi, das Kaiser Theodosius explizit mit den Schläfern in Verbindung bringt¹¹³, ersteht aus einem Höhlengrab wieder.¹¹⁴ Als radikale Weltabkehr steht die Höhle zudem im Diskurs der Wüstenväter in Zusammenhang mit dem Tod,¹¹⁵ so dass es nicht verwundert, dass die Eltern der Sieben selbst nicht mehr genau wissen, ob ihre Söhne noch leben oder schon tot sind (aut vivunt aut mortui sunt, nescimus).¹¹⁶ Nicht nur in seiner Raumzeitlichkeit, sondern vor allem auch hinsichtlich seiner eigenen Kategorialität entzieht sich der Schlaf der Sieben dem menschlichen Zugriff entscheidend. So überrascht es nicht, dass seine Auflösung als Auferstehungsmoment die einzige Stelle der Geschichte ist, die die kausale Erzähllogik unterläuft. Wieso nämlich als Schlaf erzählen, was für den Auferstehungsgedanken eigentlich ein Tod sein müsste? Mit dem Schlaf realisiert die Erzählung ein weiteres Mal ein Moment epistemologischer Unbestimmtheit, denn obdormire als das Verb, das an beiden Stellen für den Schlaf der Sieben gesetzt wird, kann bezeichnenderweise sowohl ein einfaches Einschlafen als auch den physischen Tod bedeuten.¹¹⁷ Beim ersten wie beim zweiten ‚Schlaf‘ sind sich die anderen Handelnden der Geschichte sicher, dass die sieben Schlafenden tot sein
Gregor von Tours, Liber, 94 (Krusch, 102, Z. 8). Vgl. zu Jesu Bestattung Mk 15,46: et posuit eum in monumento quod erat excisum de petra et advolvit lapidem ad ostium monumenti (und [Joseph] legte ihn in ein Grab, das in einen Felsen gehauen war. Dann wälzte er einen Stein vor den Eingang des Grabes). Für die Erzählung seiner Auferstehung siehe Mk 16,1– 8. Vgl. Gregor von Tours, Passio, 11 (Krusch, 402, Z. 15 – 16). Vgl. Joh 11,1– 45. Vgl. Dodel, Sitzen, 80. De revelatione VII Dormientium martyrum [München BSB, Clm 2546, f. 143 – 147v], 9, hg. von Michael P. Huber. In Textbeiträge zur Siebenschläferlegende des Mittelalters. Romanische Forschungen 26,2 (1909): 469 – 583, hier 469 – 482. Vgl. s. v. obdormio, in: Novum Glossarium Mediae Latinitatis ab anno DCC usque ad annum MCC, O-Ocyter, hg. von Franz Blatt. Kopenhagen: Munksgaard, 1957 ff., hier Sp. 10 – 13.
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müssen.¹¹⁸ Gerade die Metaphorik des Schlafes jedoch macht die Wiederauferweckung metaphorisch-sprachlich, über die semantischen Ambivalenzen von suscitare ¹¹⁹ (auf(er)wecken) bzw. surgere ¹²⁰/resurgere ¹²¹ (auf(er)stehen/wieder auf(er)stehen), wiewohl kategorial denkbar, ein weiteres Mal inhärent perspektivabhängig und wiederum epistemologisch zugangsreguliert. Wie ihr Zustand und ihre zukünftige Funktion den Menschen zur Zeit des Decius nicht ersichtlich waren, ist er das auch der christlichen Welt des Theodosius nicht. Die Schlafenden bleiben in einem ambivalenten Zustand zwischen Zeit und Ewigkeit,Welt und Reich Gottes, bis sie ein weiteres Mal ihre Rolle in einem providenten Gefüge Gottes zugewiesen bekommen, dessen Zusammenhang inkommensurabel bleiben muss. Die Legende der sieben Schläfer lässt mit der Metaphorik des Schlafes und einer ganzen Reihe von weiteren epistemologischen Begrenzungen offen, was zwischen Tod und Auferstehung Wunderbares geschehen mag. Aus der Perspektive narratologischer Darstellbarkeit kann die Legende dies auch nicht anders leisten, denn das transzendente Wunder entzieht sich nicht nur immanenter Erkenntnisfähigkeit, sondern gleichermaßen immanenter Erzählbarkeit. Für die Schläfer der Geschichte ist die Ewigkeit Gottes in der immanenten Höhle bei Ephesos genauso wenig absolut erlebbar, wie die Höhle von den Menschen in Ephesos einsehbar oder das Auferstehungswunder von der Passio erzählbar ist. Das Problem der Erzählung von Inkommensurablem, wie es zweifellos das Wunder der Auferstehung und seine endzeitlichen Zusammenhänge sind, findet seine Entsprechung im Problem des rationalen Verständnisses dessen, was geschehen sein mag: Wie die paradoxe Beugung raumzeitlicher Kategorien also narratologisch als Hinweis auf die Darstellung einer Transzendierung hin zu göttlicher Nähe erklärt werden muss, müssen dieselben Effekte von den Protagonisten der Geschichte als Hinweise göttlicher Wirksamkeit verstanden werden. Das Reich Gottes entzieht sich der rationalen Erkenntnisfähigkeit, wie es sich auch prinzipiell der narratologischen Erzählbarkeit entzieht. Es ist nicht vermittelbar und bedarf spezieller erzählerischer Modalitäten, die in der raumzeitlichen Konfiguration der Siebenschläferhöhle ihre Entsprechung finden. Gerade weil sie nicht zu verstehen sind, müssen die raumzeitlichen Phänomene, die die Passio erzählt, von Malchus und den anderen Schläfern, vom Bischof Marinus und dem
Vgl. Gregor von Tours, Passio, 5 (Krusch, 400, Z. 4– 5); Gregor von Tours, Passio, 12 (Krusch, 403, Z. 4– 6). Gregor von Tours, Passio, 9 (Krusch, 401, Z. 26). Gregor von Tours, Passio, 7 (Krusch, 400, Z. 18). Gregor von Tours, Passio, 12 (Krusch, 402, Z. 28).
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Volk der Epheser und nicht zuletzt dem Leser/der Leserin notwendigerweise als kulturelle Narrative göttlicher Inkommensurabilität verstanden werden.
5 Chronotopes Erzählen im Zwischenraum Die Raumzeitlichkeit der Siebenschläferhöhle ist damit deshalb nicht einfach mit der etwa des Epimenides gleichzusetzen, weil sie sich semantisch und narratologisch-strukturell aus einer Denkfigur göttlicher Transzendenz speist. Ihre raumzeitlichen Narrative dürfen nicht nur einseitig in Relation zu dem gelesen werden, was außerhalb der Höhle an raumzeitlicher Differenzierung geschieht. Ihre Kulturalität macht es notwendig, eine transzendente überzeitliche, endzeitliche, providente Struktur als ein weiteres, drittes Direktiv mitzudenken. Es gibt eine Reihe von Modellen, die für eine theoretische Annäherung an diese spezifische Raumzeitlichkeit der Siebenschläferhöhle in Frage kämen. Das notwendige Gegenüber und Miteinander von Raum und Zeit lassen grundsätzlich an den Chronotopos von Michail Bachtin denken, die Exklusionsdynamiken der Höhle an die Heterotopie Michel Foucaults.¹²² Beide Modelle jedoch werden der raumzeitlichen Dynamik der Siebenschläferhöhle besonders in ihrer spezifischen Kulturalität nicht gerecht¹²³: Das Chronotopos-Modell ist zu allgemein, denn das vorerst scheinbar a-chronische Gefüge innerhalb der Höhle wird erst ex alio ersichtlich, der Chronotopos erst in der, wenn man so möchte, abgleichenden Heterotopie offenbar. Das Heterotopie-Modell¹²⁴ hingegen ist nicht weniger problematisch, denn nicht nur operiert es mit lebensweltlichen Kategorien, innerhalb derer ein christliches Transzendenzmodell nicht zu beschreiben ist, sondern es funktioniert nach einer bipolaren Dynamik, die die zentrale transzendente (dritte) Dimension der Siebenschläferhöhle nicht zu fassen erlaubt. Eine notwendige kulturelle Differenzierung erlaubt keines der beiden Modelle.
Für Kategorien von Raum und Zeit in der mediävistischen Literaturwissenschaft siehe den Forschungsbericht von Armin Schulz. Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Berlin, Boston: De Gruyter, 2012, 292– 321. Zum Problem der historischen Applikation narratologischer Kategorien vgl. die Debatte um die historische Narratologie, die noch immer mit einiger Vehemenz geführt wird, vgl. grundlegend Harald Haferland, Matthias Meyer (Hg.). Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. De Gruyter: Berlin, Boston, 2010, zuletzt Eva von Contzen. Diachrone Narratologie und historische Erzählforschung. Eine Bestandsaufnahme und ein Plädoyer. Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung 1 (2018): 16 – 37. Aus kritischer Perspektive siehe Gert Hübner. Historische Narratologie und mittelalterlich-frühneuzeitliches Erzählen. In Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 56 (2015): 11– 54. Vgl. Michel Foucault. Des espaces autres. Architecture, Mouvement, Continuité 5 (1984): 4649.
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Angesichts der besonderen Dynamik, die die Höhle der sieben Schläfer vor der Folie ihrer kulturellen Diskurse entwickelt, soll deshalb das Modell des Zwischenraums als Beschreibungskategorie für diesen spezifischen raumzeitlichen, kulturellen Erzählmodus vorgeschlagen werden. Die spezifische kulturelle Erzählmodalität der chronotopen Höhle gehorcht nicht nur einer einseitigen Abgrenzungsdynamik, sondern muss bilateral gedacht werden: Die Höhle ist nicht mehr nur ein Raum weltlicher Kategorien, aber auch noch nicht kategorial transzendenter Natur. Sie ist ein Zwischenraum. ¹²⁵ Wie die vorausgehende Untersuchung herausgestellt hat, wird diese kategoriale Zwischenräumlichkeit der Höhle narratologisch über drei zentrale Merkmale realisiert: (I) Die Höhle ist auf physischer und personeller Ebene zugangsreguliert. Durch den abgegrenzten Raum figuriert sich eine raumzeitliche Struktur, deren kategoriale Differenz im kulturellen Zusammenhang vor der Folie menschlicher Inkommensurabilität (als Auferstehung) ausgedeutet werden kann. (II) Innerhalb des regulierten Gefüges des Höhlenraumes, und nur hier, geschieht das Wunder, das sich in der Siebenschläferlegende über die dyschrone Zeitlichkeit des Schlafes figuriert. Diese Figurierung der Höhle als Ausnahmeraum legt die Grundlage des Alteritätseffekts und bedingt durch ihre wesentliche Differenzierung die ausschlaggebende epistemologische Dissonanz. (III) Die räumliche Verknüpfung der zeitlichen Phänomene und ihre Bindung an die genannten Momente der Zugangsbeschränkung wird über ein kulturelles Verständnis von Transzendenz und Inkommensurabilität semantisiert und explizit ausgedeutet. Die Höhle und ihre raumzeitlichen Phänomene erklären sich damit – sowohl auf narrativer wie auf narratologischer Ebene – durch die spezifische Position, die ihr innerhalb der Erzählung der sieben Schläfer zugewiesen wird: zwischen Welt und Gott, zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen Leben und Tod. Einerseits gelten hier keine weltlichen Kategorien, denn sie sind relativ ausgesetzt. Göttliche Ewigkeit andererseits gilt jedoch genauso wenig, denn die Sieben sind nicht ewig, sondern auf die Dauer sehr konkreter Jahre der Zeitlichkeit enthoben.¹²⁶ Auch der
Zum ‚Zwischenraum‘ als Erzählmodus immanenter Transzendenz vgl. Weidner, Erzählen 17– 26. Liest man die Legende der sieben Schläfer als Erzählung von Inkommensurablem, wird auch die auffallende Variabilität der zeitlichen Dauer ihres Schlafes erklärbar. In ihrer Konkretion ist diese Dauer genauso unwichtig wie der konkrete Ort der Handlung und die Namen der Beteiligten: Wichtig sind diese Aspekte nur als Authentifizierungsmomente einer Normweltlichkeit, vor deren Folie sich die Alterität des Zwischenraumes abgrenzen kann. Erzählt wird damit hauptsächlich der Bruch, der sich im relationalen Abgleich ereignet, nicht die Konsistenz der normweltlichen Chronologie mit einer historischen Realität. Vgl. mit ähnlicher Argumentation, allerdings nur hinsichtlich des Aspekts zeitlicher Variabilität, Koch, Zeit, 93.
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zweite Schlaf ist insofern nicht ewig, als er auf eine Endzeit ausgerichtet ist, die es in der Höhle zu erwarten gilt.¹²⁷ All diese Phänomene münden schließlich in das Auferstehungswunder, das die Phänomene im großen Zusammenhang des providenten göttlichen Plans den immanenten Adressaten erklärt. In aller ambivalenten Uneindeutigkeit dessen, was in der Höhle geschieht, geschehen ist oder noch geschehen mag, kann auf diese Weise ein Auferstehungswunder vermittelt werden, welches sich eigentlich der epistemologischen Zugänglichkeit des Menschen entzieht. Sobald die sieben Christen in der Höhle einschlafen, wird in der Höhle und an ihren Körpern wirksam, was sich in der Logik dieses Diskurses dem menschlichen Zugriff eigentlich entzieht: die Auferstehung, die Wirksamkeit göttlicher Transzendenz am Einzelnen, wie sie endzeitlich zu erwarten ist. Die kategoriale Brüchigkeit, die sich auch gerade beim Wiedereintritt der Schlafenden in der Welt manifestiert, macht ex alio erzählbar, was geschehen sein könnte, und wird innerhalb der spezifischen Kulturalität als eigentliches Wundergeschehen lesbar. Die Höhle der sieben Schläfer wird als Zwischenraum zum Schlüssel immanenter Transzendenz.
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Vgl. Gregor von Tours, Passio, 12 (Krusch, 403, Z. 6 – 8).
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Norbert Finzsch
Räume weiblichen Begehrens: Kliteridektomie und heteronormative Einhegung
Spaces of Female Desire: Cliteridectomy and Heteronormative Enclosure: “Spaces of desire” were part of the ideological enclosure of femininity and women’s “place” in early modern Europe and North America. This paper argues that clitoridectomy, i. e., the surgical genital mutilation of women, was widely practiced in Europe and North America between 1600 and 1950. The author identified four types of women accused of sexual deviance and thus subjected to this procedure. They have been accused of “stepping out” of the assigned spaces of desire, the heterosexual desire of a married women/mother. The first type of women were “hermaphrodites,” women with allegedly hypertrophied clitorides, the second group were the masturbating women, the third the “nymphomaniacs,” and the fourth the “hysterical” women. Utilizing a series of ngram-analyses, Finzsch can show the synchronicity and entanglement of the medical discourses that demanded clitoridectomies.
1 Vorbemerkungen Mein Forschungsprojekt ist die weibliche Genitalverstümmelung in Westeuropa und Nordamerika während der 500 Jahre der Neuzeit, also von rund 1500 bis 2000. Anders als im gegenwärtigen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Diskurs war diese Form des Eingriffs an weiblichen Körpern nicht die Domäne der als unterentwickelt oder barbarisch beschriebenen Kolonisierten, sondern wurde an gesunden „weißen“ Frauen aller Klassen vollzogen. Eine Aufarbeitung dieses Tatbestands steht bis heute aus, lediglich zwei Autorinnen haben sich bisher intensiv und in Buchlänge mit dem Thema beschäftigt.¹
Marion Hulverscheidt. Weibliche Genitalverstümmelung: Diskussion und Praxis in der Medizin während des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Frankfurt am Main: Mabuse; 2002. Sarah B. Rodriguez. Female Circumcision and Clitoridectomy in the United States: A History of a Medical Treatment. Rochester, NY: University of Rochester Press; 2014. Siehe auch Norbert Finzsch, Marion Hulverscheidt. Special Issue: On Cliteridectomy. Gender Forum: An Internet Journal for Gender Studies. 2018; 67. https://doi.org/10.1515/9783110758306-004
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Norbert Finzsch
Wenn hier im Folgenden von Räumen die Rede ist, sind damit die Heterotopien wie von Michel Foucault beschrieben gemeint, also die Räume, die die in einer historischen Epoche oder einem diskursiven Zusammenhang zu einer Zeit vorgegebenen Normen nicht oder nur unvollständig umgesetzt haben oder die nach eigenen Regeln funktionieren.² Diese Räume müssen keine konkreten, topologisch definierbaren Räume sein, denn auch Utopien gehören laut Foucault dazu.³ Ich erweitere den Foucaultschen Gedanken, indem ich argumentiere, dass auch der menschliche Körper die Form einer Heterotopie annehmen konnte und dass es Kräfte gegeben hat, die diesen Ort, diesen Körper, zunächst eingrenzen und dann verschließen wollten. Foucault selbst hatte auf die Existenz von Zwischenräumen in seinem Radiovortrag zur Heterotopie verwiesen, denn er sagte: Es gibt also Länder ohne Ort und Geschichten ohne Chronologie. Es gibt Städte, Planeten, Kontinente, Universen, die man auf keiner Karte findet und auch nirgendwo am Himmel finden könnte, und zwar einfach deshalb, weil sie keinem Raum angehören. Diese Städte, Kontinente und Planeten sind natürlich, wie man so sagt, im Kopf der Menschen entstanden oder eigentlich im Zwischenraum zwischen ihren Worten, in den Tiefenschichten ihrer Erzählungen oder auch am ortlosen Ort ihrer Träume, in der Leere ihrer Herzen, kurz gesagt, in den angenehmen Gefilden der Utopien.⁴
Weibliches, nicht auf biologische Reproduktion gerichtetes Begehren, war eine solche utopische Heterotopie, die dem zeitgenössischen Diskurs zufolge eingehegt werden musste, um die Ordnung der Dinge zu etablieren und zu stabilisieren. Die „gelehrigen Körper“ Foucaults – im Französischen heißt es treffender „corps docile“, also gezähmter Körper – widersetzten sich den Praktiken und Zuschreibungen der hegemonialen Gruppen nicht.⁵ In den Worten Audre Lordes: „The fear that we cannot grow beyond whatever distortions we may find within ourselves keeps us docile and loyal and obedient, externally defined, and leads us to accept many facets of our oppression as women.“⁶ Für die folgenden Überlegungen/Betrachtungen ist methodisch wichtig, dass für die Frühe Neuzeit zwar Fallsammlungen, aber keine Patientinnenakten vorhanden sind. Diese wurden erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt, u. a. für
Michel Foucault. Andere Räume. In: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34– 46. Foucault. Andere Räume, 38 f. Foucault, Michel. Die Heterotopien/Les Hétérotopies – Der utopische Körper/Le Corps Utopique: Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Frankfurt/Main: Suhrkamp; 2005, S. 9. Michel Foucault. Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, STB, 1977, 174 f. Audre Lorde. Sister Outsider: Essays and Speeches, Berkeley, CA: Ten Speed, 2012, 58.
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die Diagnostik und Therapie von Krankheiten in größeren Institutionen wie Krankenhäusern. Insofern ist mein Beitrag in der Diskurs- und Wissensgeschichte und nicht innerhalb der Sozialgeschichte anzusiedeln. Nicht behandeln werde ich die Geschichte der Genitalverstümmelung in der griechischen und römischen Klassik, obwohl sich hier die Vorläufer dieser Praxis aufspüren ließe. Mein Narrativ setzt vielmehr zu dem Zeitpunkt ein, als die lateinischen und griechischen Quellen, die die Praxis der Klitorisbeschneidung erwähnten, wiederentdeckt, gelesen, übersetzt und verbreitet wurden, d. h. in der Renaissance.⁷ Spätestens in den lateinischen Übersetzungen des Avicenna (980 – 1037) im 12. Jahrhundert finden sich eindeutige Erwähnungen der Klitoris (Virga) und der Kliteridektomie durch Operation oder Ligatur.⁸ Etwa 700 schriftliche Quellen zwischen 1500 und 2000 beschäftigten sich mit diesem Thema, das Gros aus dem 18. und 19. Jahrhundert; aber auch im 16. und 17. Jahrhundert gibt es dichte Quellenbelege. Die meisten Quellen stammen aus der Feder von Medizinern, aber auch Theologen, Philosophen und Juristen haben sich an der Debatte beteiligt – männliche Form intendiert. Es stellt keine unzulässige Verallgemeinerung dar, wenn ich behaupte, dass die untersuchten Texte in ihrer Mehrheit einem Zweck, und nur diesem Zweck, dienten, nämlich der Kontrolle weiblicher Sexualität durch Männer. Dabei ist es mir wichtig, die historische Plastizität von Sexualität hervorzuheben. Sexualität ist ja keineswegs eine biologische Gegebenheit – aber das brauche ich meinen Leserinnen nicht noch einmal auseinanderzusetzen. Sexualität als ein Dispositiv, das erst im Reden und Schreiben über materielle Körper erzeugt wird, das eigene Praktiken und Institutionen hervorbringt, ist historisch vielfältig und widerspruchsvoll. So ist der Raum, der von diesem Dispositiv beansprucht werden kann, sehr unterschiedlich strukturiert. In der Frühen Neuzeit
Avicenna. Canon Medicinae cum Aliis Opusculis. Roma: Typographia Medicea, 1593. Avicenna. Liber Canonis Totius Medicinae. Lugdunum//Lyon: 1522. Guy de Chauliac. Chirurgia Magna de Guidonis de Gauliaco. Lugdunum (Lyon): Philip Thingi, 1584. Galenus. CL Galeni Pergameni Medicorum Post Hippocratem Principis, Opera Omnium. Basel: Andreas Cratander, 1536. „Sed ad curationem descendamus, quae habetur etiam per incisionem, & sectionem. Auicennas citato loco ait, quod virga per sectionem tollitur; fursus vero corrodentibus medicamentis: quibus verbis roboratur opinio nostra de super allata, qua dicebamus, virgam esse lacertosam, ac membrosam, ac proinde duram, ut ex eo non nisi per incisionem auferri valeat; fursum vero esse carneam potius excrescentiam, ut hac de causa consumi, & abrodi possit medicamentis crodendi facultate praeditis absque sectione, & manuali chirurgi opera. Addit post haec Auicennas alium modum auferendi fursum dicens, quod ligari debet ligatura stricta cum filo, & sic dimittatur per duos, aut tres dies, qua ratione, ut ille ait, diminuetur; vel etiam tam diu ligata permaneat, quousque putrefiat.“ Sinibaldi, Giovanni Benedetto. Geneanthropeiae sive de Hominis Generatione Decateuchon. Roma: Francisco Caballo; 1642, S. 537.
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ist Sexualität vor allem von Staat und Kirche reguliert. Dennoch fand offensichtlich eine intensive Diskussion auch unter Frauen über ihre Sexualität statt, wie vor einiger Zeit Lisa Vollendorf in einem Aufsatz über das frühneuzeitliche Spanien hat zeigen können, wobei die Diskursräume weiblicher Sexualität sich mit der so genannten Gegenreformation verengten.⁹ Die Herausbildung von Nationalstaaten in der Frühen Neuzeit trug Wesentliches dazu bei, Sexualität zu definieren und einzuhegen, wurde doch weibliche Sexualität zunehmend in den Registern der biologischen Reproduktion von Untertanen bzw. Bürgern gesehen, die ihrem Territorium/Staat gegenüber eine Verpflichtung zu erfüllen hatten. Dadurch erhielt die Ehe eine geänderte Bedeutung, denn einerseits verlieh sie Frauen ein gewisses Maß an Autonomie, andererseits unterstellte sie den Körper der Frau der normativen Kontrolle des Ehemanns: Marriage made a wife’s body both more, and less, her own. It gave a woman a status she got nowhere else, embodied in sexual respectability, the maternal role, reproductive knowledge, and physical authority over other women. At the same time, it put her body under the authority of her husband.¹⁰
Diese Kontrolle wurde rigoros umgesetzt, nicht nur vom Ehemann, sondern von religiösen und staatlichen Autoritäten und zunehmend auch von Ärzten. Sie richtete sich allerdings zeitweise gegen ganz unterschiedliche Devianzen. Ich möchte hier einige dieser Abweichungen vom heteronormativen Verhalten ansprechen und zeigen, wie sie u. a. durch das Mittel der Kliteridektomie „geheilt“ werden sollten. Ich benutze zur Benennung der historisch unterschiedlichen Diskurse der Einhegung den Begriff der „Figuration“, den ich von Michel Foucault, Norbert Elias, Zygmunt Baumann, Rosi Braidotti und Donna Haraway, sowie dem Netzwerk „Körper in den Kulturwissenschaften“ entlehnt habe. Der Begriff der Figuration hat zunächst einmal den Vorteil, eine gewisse Resistenz gegen die Gefahr der Repräsentation zu haben. Aus diesem Grund hat ihn Donna Haraway in die Diskussion eingeführt.¹¹ Ich meine damit im Sinne der Figura
Lisa Vollendorf. Good Sex, Bad Sex: Women and Intimacy in Early Modern Spain. In: Hispania, Vol. 87, No. 1 (Mar., 2004), 1– 12. Laura Gowing. Common Bodies: Women, Touch, and Power in Seventeenth-Century England. New Haven, London: Yale University Press, 2003, 207. Donna Jeanne Haraway. Ecce Homo, Ain’t (Ar’n’t) I a Woman, and Inappropriate/d Others: The Human in a Post- Humanist Landscape. In: Donna Jeanne Haraway. The Haraway Reader. New York, London: Routledge 2004, 47– 62, 47. „Die Rekonstruktion eines Diskurses ist nach Foucault organisiert durch ein analytisches Wechselverhältnis zwischen der Ebene der Aussagen und der Ebene der diskursiven Formation. Diese beiden Ebenen verhalten sich korrelational-konstitutiv zueinander. Mit anderen Worten:
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einerseits die Verkörperung einer menschenähnlichen Gestalt, einer diskursiverzeugten Allegorie, andererseits das Ergebnis einer diskursiven Formation, an deren Ende ein Dispositiv im Sinne Foucaults stehen kann.¹²
2 Figuration „Monster“|„Tribadie“| „Hermaphrodit“|„Lesbe“ Da ist zunächst das weite Feld der Tribadie, das eng mit der Rolle der Hermaphroditen verbunden ist. Unter Tribadie verstand man im antiken Griechenland eine sexuelle Praxis, bei der eine Frau ihren Partner – egal ob Frauen oder Männer – mit einem Dildo beziehungsweise einer vergrößerten Klitoris penetrierte. Im 16. Jahrhundert wurden die griechischen Texte einem größeren Publikum durch Übersetzungen zugänglich gemacht, was den Begriff verbreitete. Aus dem griechischen Ursprung entstanden in anderen Sprachen analog zu dem griechischen Begriff des „Reibens“ oder „Rubbelns“ im Lateinischen die Fricatrix, im franko-
Beide Rekonstruktionsrichtungen sind ausdrücklich legitimiert und bedingen sich gegenseitig. Über die Ebene der Aussagen gelangt man zur Annahme einer diskursiven Formation, und die Beschreibung der Aussagen führt zu einer ‚Individualisierung der diskursiven Formation‘.“ Phöbe Annabel Häcker. Geistliche Gestalten – gestaltete Geistliche: zur literarischen Funktionalisierung einer religiösen Sprecherposition im Kontext der Neologie,Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, 47. „Was nun aber unter dem Namen diskursive Formation beschrieben wurde, sind im strengen Sinne Aussagegruppen. Das heißt Mengen von sprachlichen Performanzen, die miteinander nicht auf der Ebene der Sätze […] verbunden sind, […] sondern die auf der Ebene der Aussagen verbunden sind.“ […]. „Die Formierung eines Dispositivs hat zudem [nach Foucault …] mit der Herstellung einer Figuration zu tun, die Handlungs-, Wissens- und Subjektoptionen auf der Grundlage von Machtinteressen präformiert. Der Etablierung eines Dispositivs wird hierbei dezidiert eine strategische Funktion zugesprochen. Es geht also letztlich um Machtgewinn, deren Stabilisierung bzw. den permanenten Kampf um Machtverteilung.“ Sven Grampp. Triple Trinity oder das Prinzip der dreifachen Dreifaltigkeit. Eine Methodologische Handreichung zur Analyse von Dispositiven am Beispiel des Quality Teen TV, In: Ivo Ritzer und Peter W. Schulze (Hg.). Mediale Dispositive, Wiesbaden: Springer 2018, 89 – 118, 91. Matthias Junge, Thomas Kron. Zygmunt Bauman: Soziologie zwischen Postmoderne, Ethik und Gegenwartsdiagnose, Wiesbaden, Springer: 2014, S. 80, 439. Netzwerk Körper in den Kulturwissenschaften (Hg.). What Can a Body Do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften. Frankfurt: Campus, 2012. Daniel Müller Nielaba, Yves Schumacher, Christoph Steier. Figura/a/tion: Möglichkeiten einer Figurologie im Zeichen E.T.A. Hoffmanns, in: Daniel Müller Nielaba, Yves Schumacher, Christoph Steier (Hg.). Figur, Figura, Figuration: E.T.A. Hoffmann. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011, 7– 14, 8.
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phonen Sprachraum Ribaude und in der englischen Sprache der Begriff rubster, um Frauen zu bezeichnen, die diese sexuelle Praktik ausüben. Entsprechend nannte man Frauen begehrende Frauen auch in der deutschen Sprache Tribaden. Bedeutend für den Diskurs um die Tribaden war die „Wiederentdeckung der Klitoris“ im 16. Jahrhundert durch italienische Ärzte wie Realo Colombo aus Padua, der die Klitoris genau beschrieb und darlegte, wie sie zu stimulieren sei.¹³ In seinem anatomischen Handbuch aus dem Jahr 1562 schrieb er [Die Klitoris] ist der Hauptsitz des weibliche Vergnügens, wenn sie sich der körperlichen Liebe hingeben, nicht nur, wenn der Penis sich an ihr reibt, sondern auch sie mit dem kleinen Finger berührt wird.¹⁴
Colombo insistierte auf der Bedeutung der Klitoris nicht, weil er ein Pornograph oder ein radikaler Freigeist war, sondern weil er wie viele seiner Zeitgenossen von der These überzeugt war, zur weiblichen Empfängnis sei ein Orgasmus der Frau unverzichtbar.¹⁵ Diese Auffassung verlieh der Klitoris eine erhöhte diskursive Aufmerksamkeit, die die Autonomie von Frauen stärkte, denn das Vergnügen der Frauen, das Colombo erwähnte, setzte keine aktive Teilnahme von Männern voraus. Die Auffassung, der weibliche Orgasmus sei eine Voraussetzung für die Schwangerschaft, hielt sich weit ins 19. Jahrhundert, obwohl die Ovulation schon 1827 von Karl Ernst von Baer beschrieben wurde.¹⁶ In den katholischen Territorien Europas und unter den Katholiken der USA hielt sich die alte Auffassung von der
Laqueur, Thomas Walter. Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge, MA: Harvard University Press; 1990, S. 64 f. Stringer, M. D. and Becker, I. Colombo and the Clitoris. Eur J Obstet Gynecol Reprod Biol. 2010; 151(2):130 – 133. „Processus igitur hi ab utero exorti prope it foramen, quod os matricis vocatur, extra abdome exeunt; supra pubem ascedunt; desinunt autem in particulam quanda excelsam in vulvae apice circumuolutam supra id foramen, unde lotium exit. & haec lector candidissime illa, illa praecipue sedes est delectionis mulierum, dum venerem exercent; quam non modo si mentula confricabis, sed vel minimo digito attrectabis : ocyus aura semen hac, atque illac prae voluptate vel illis inuitis profluet.“ Realdo Colombo. Realdi Columbi Cremonensis […] De Re Anatomica Libri XV. Paris: Ioannis Foucherij Iunioris; 1562, 243.Vergl. Giovanni Benedetto Sinibaldi. Geneanthropeiae sive de Hominis Generatione Decateuchon. Roma: Francisco Caballo; 1642, 535 f. Colombo, De Re Anatomica Libri XV, 448. [Pseudo-Aristotle]. Aristotle’s Master Piece, Completed in Two Parts […] New-York: Printed for the United Company of Flying Stationers; 1788. Peter Gardella. Innocent Ecstasy: How Christianity Gave America an Ethic of Sexual Pleasure. New York: Oxford University Press; 1985, 13 – 15. „ Omne animal, quod coitu maris et feminae gignitur, ex ovo evolvitur, nullum ex mero liquore formalivo. Semen virile per cuticulam ovi, nullo foramine perviam, in ovum et praeprimis in partem quandam ovi innatam agit. “ Carolus Ernestus Baer. De Ovi Mammalium et Hominis Genesi Epistolam. Leipzig: Leopold Vossium, 1827, 35.
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Notwendigkeit des weiblichen Orgasmus besonders lange. Die Prüderie des Viktorianismus der protestantischen Territorien begrenzte jedoch ebenso die Möglichkeiten, Sexualität zu diskutieren und schuf durch seine Kontrollinstanzen und Verbote erst das Genre der Pornographie.¹⁷ Solange über die Klitoris noch geredet werden konnte, warnten medizinische Handbücher gegen ihren „Missbrauch“ durch Tribadie. Thomas Bartholin, ein dänischer Anatom des 17. Jahrhunderts, wetterte gegen die confricratices, das heißt Frauen, die Sex miteinander hatten.¹⁸ Die meisten dieser Warnungen wurden begleitet von Horrorbildern monströser Tribaden.¹⁹ Die diskursive Brücke zwischen der Widerentdeckung der Klitoris und der Dämonisierung der Tribade verweist auf eine Krise in der Repräsentation des weiblichen Körpers. Das Fehlen einer Diskussion der Tribaden und angeblich monströser Klitoris in einigen zeitgenössischen anatomischen Fachbüchern sollte daher nicht als Unkenntnis des Autors verstanden werden, sondern als notwendig erachtete Vorsichtsmaßnahme gegen eine weitere Verbreitung des Wissens um die Möglichkeiten der Klitoris.²⁰ Denn die Problematik wurde zunehmend nicht nur in
Gardella, Innocent Exstasy, 39, 72– 74. Thomas Bartholin. Anatomia, ex Caspari Bartholini Parentis Institutionibus, Omniumque Recentiorum & Propriis Observationibus Tertium ad Sanguinis Circulationem Reformata. Cum Iconibus Novis Accuratissimis. Hagae-Comitis: Ex typographia Adriani Vlacq, 1660, 186. Marcus Antonius Olmo, der 1601 ein medizinisches Lehrbuch zum Uterus herausbrachte, nahm Abstand von einer Diskussion der Klitoris, obwohl er ihre Funktion kannte. Marci Antonii Vlmi. Vtervs Mvliebris, Hoc Est de Indiciis Cognoscendi Temperamenta Vteri vel Partium Genitalium Ipsius Mulieris Liber Vnvs […] Bologna: Joannem Baptistam Bellagambam, 1601, 42. Valerie Traub. The Renaissance of Lesbianism in Early Modern England. Cambridge, New York: Cambridge University Press; 2002, S. 16. Harriette Andreadis. Sappho in Early Modern England: Female Same-Sex Literary Erotics, 1550 – 1714. Chicago, IL: University of Chicago Press, 2001, 49. „Dergleichen Weibspersonen, welche eine widernatürlich große und hervorstehende Ruthe haben, werden Fricatrices oder Tribaden genannt.“ Abhandlung von den Zwittern; Aus den Mémoires de Chirurgie, avec quelques remarques histor[iques] sur l’état de la Medec[ine] et de la Chirurgie en France et en Angleterre; par M. GE. Arnaud ą Londr. et Amst. 1768 […] Neues Hamburgisches Magazin, oder Fortsetzung gesammleter Schriften, aus der Naturforschung, der allgemeinen Stadt- und Land=Oekonomie und den angenehmen Wissenschaften überhaupt, Band 17, S. 387– 424, S. 389, Fußnote. Thomas Vicary, ein Anatom des 16. Jahrhundert, kannte die Klitoris und wusste um ihre sexuelle Funktion, denn er nannte das Organ tentigo, Lateinisch für Geilheit. Traub irrt sich, wenn sie diesen Begriff mit „Angespanntheit“ (tenseness) übersetzt. Traub, The Renaissance, 88.Vicary beharrte auf der Notwendigkeit, männlichen und weiblichen „Samen“ zu vermischen, um eine Schwangerschaft einzuleiten, was wiederum auf die sexuelle Funktion der Klitoris verweist. Thomas Vicary. The Anatomie of the Bodie of Man. London: Early English Text Society; 1888 [1548], 77 f.
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medizinischen Fachbüchern diskutiert, sondern auch in trivialen Texten des 16. Jahrhunderts. Die Frage, ob es Monster gebe, wurde nach der Entdeckung Amerikas heftig debattiert. Unter diesen figurierten Frauen mit ihren „monströsen“ Sexualorganen als gefährlich, weil sie für die Geburt von „Monstern“, d. h. „Hermaphroditen“ und „Monstrositäten“ wie physischen Fehlbildungen verantwortlich gemacht wurden.²¹ Hermaphrodit war von jeher aber auch ein Synonym für Tribaden gewesen.²² Der Leibchirurg des französischen Königs Ambroise Paré veröffentlichte 1575 seine Abhandlung „Des Monstres et Prodiges“ und ließ darin keinen Zweifel, dass eine große Klitoris amputiert werde sollte, weil „Frauen diese missbrauchen können.“²³ Als 1614 Jean Riolan versuchte zu beweisen, dass es keine „wahren“ Hermaphroditen gebe, musste er weibliche Anatomie in extenso diskutieren.²⁴ Er bezog Ambroise Paré. Les Oevvres de M. Ambroise Paré, Conseiller, Et Premier Chirvrgien Dv Roy : Auec les Figures & Portraicts Tant de l’Anatomie que des Instruments de Chirurgie, & de Plusieurs Monstres; Le Tout Diuisé en Vingt Six Liures. Paris : Buon, 1575, 1015 – 1023. Patricia A. Gwozdz. Monströse Mutterschaft. Theoretische Überlegungen zur Figuration eines Konzepts, in: Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.). Monster und Kapitalismus: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2– 2017, 37– 58. Diese Beobachtungen könnten in Verbindung stehen zu einem Scholion zu Horatius (Pseudacro Hor. Epod. 5,46), in dem Tribaden ebenfalls als Hermaphroditen bezeichnet werden. Vergl.Werner Krenkel,Wolfgang Bernard, Christiane Reitz. Naturalia Non Turpia: Sex and Gender in Ancient Greece and Rome. Hildesheim; New York: G. Olms; 2006, 455. Allen, Thomas. An Exact Narrative of an [sic] Hermaphrodite now in London. Philosophical Transaction of the Royal Society; 1666 – 1667 (2):624– 625, 624. Für Mollin sind Hermaphroditen und Frauen mit vergrößerter Klitoris ein und dasselbe. Jacques-André Millot. L’Art de Procréer les Sexes à Volonté ou Système Complet de Génération. Paris: Migneret; 1800, S. 257– 265. Paré, Les Oevvres. Eine moderne Ausgabe liegt vor als Ambroise Paré. Des Monstres et Prodiges. Genève: Librarie Droz; 1971. „D’abondant au commencement du col de la matrice est l’entrée et fente de la nature de la femme, que les Latins appellent Pecten: Et les bords qui sont revetus de poil, en Grec se nomment Pterigomata, somme si nous disions aisles, ou lèbres du couronnement de la femme, et entre icelles sont deux excroissances de chair musculeuse une de chascun costé, qui couvrent l’issue du conduit de l’urine, et se serrent aprčs que la femme a pissé: Les les appellent nimphes, qui pendent et sortent à aucunes femmes hors le col de leur matrice, et s’alongent et acourcissent, comme fait la creste d’un coq d’inde, principalement lors qu’elles désirent le coit, et que leurs maris les veulent ap[p]rocher, se dressent comme la verge virille, tellement qu’elles s’en jouent avec les autres femmes: Aussy les rendet fort honteusses [sic] et difformes estans vuees nues, et ą telles femmes on leur doibt lier, et couper ce qui est superflu, par ce qu’elles en peut abuser, se donnant le Chirurgien garde de n’inciser trop profondément, de peur d’un grand flux de sang, ou de coupper le col de la vessie, car puis après ne pourroient tenir leur urine, mais découleroit goutte ą goutte.“ Paré, Des Monstres, 26. Jean Riolan. Discours sur les Hermaphrodits, où il est Démonstré contre l’Opinion Commune qu’il n’y a point de Vrays Hermaphrodits. Paris: P. Ramier; 1614.
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sich in seiner Argumentation auf Autoritäten wie den Schweizer Arzt Felix Platter und den Italiener Colombo. Colombo habe angeblich eine Afrikanerin persönlich gekannt, die verlangt habe, einer Kliteridektomie unterzogen zu werden, da sie sonst nicht in der Lage sei, eine heterosexuelle Penetration mit einem männlichen Penis durchzuführen zu vollziehen.²⁵ Riolan kritisierte Colombo, der an die Existenz „wahrer“ Hermaphroditen glaubte, und schrieb: Il se peut faire que Columbus, qui n’auoit pas recogneu la structure du clitoris aux autres femmes pour sa petitesse, bien qu’il l’aye nommé dulcedinem amoris, ayant rencontré vne femme qui l’auoit gros & allongé, a creu ceste partie estre vn membre viril.²⁶
Und er fuhr fort: Partant ceste femme dicte Androgyne estoit vraye femme, ce sexe predominant en elle, & ne se pouuoit server de son penil, sinon pour chatouiller vne autre femme.²⁷
Unter Berufung auf einen Anatom aus Bologna fasste Riolan zusammen: Varolius ancien & bon Anatomiste de Boulongne [sic], qui viuoit y a cinquante ans, traictant au 4. Liure de son Anatomie, de clitoris, qu’il appelle Nympham, auec les anciens Anatomistes, & les nymphes d’auiourd’huy pterigomata. Descrit assez bien la composition du clitoris & son vsage : parce que frottant & chatouillant ceste partie, la femme en ressent du plaisir, & quelques vnes iettent leur semence.²⁸
Valerie Traub nannte die Betonung der normativen Größe und der „korrekten“ Form der Klitoris sowie die sich daraus ergebende Amputation des Organs das Paradigma der körperlichen Struktur („paradigm of bodily structure“), das auf ein anderes Paradigma des Begehrens verweise.²⁹
„[…] elle damandoit qu’on luy extirpat ce petit penil, & qu’on luy dilatat l’orifice de la vulue, pour la render apte & capable d’habiter auec les hommes.“ Riolan, Discours, 24. Riolan, Discours, 26. Riolan, Discours, 27. Riolan, Discours, 55. Riolan zitierte in der Folge die antiken Texte zur Klitoris und korrigierte Fallopius, der behauptete sie entdeckt zu haben, Riolan konnte zeigen, dass Avicenna das Organ im Detail beschrieben hatte und dass Rufus von Ephesos, Julius Pollux und Paulus von Aegina das Gleiche getan hatten. Riolan, Discours, 74. Riolan stellte auch klar, dass die griechischen Texte die Nymphae und die Klitoris verwechselt hatten und beschuldigte Galenus, dafür verantwortlich zu sein. Zum Beweis zitierte er einen lateinischen Text des Letzteren: „[…] quae sinum ambient, alae vocantur, inter has autem caruncula as fissuram exorta, nympha nominator, quam, quod multum promineat, AEgypty in virginibus exscindere consueverunt.“ Riolan, Discours 76. Valerie Traub. The Psychomorphology of the Clitoris. GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies. 1995; 2(1– 2):81– 113.
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Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, wie gebräuchlich denn die verwendeten Begrifflichkeiten waren. Bei der Analyse der Ngramme für den Begriff Tribade und Hermaphrodit wurde Erstaunliches festgestellt.³⁰ Der Begriff Tribade ist im Deutschen und Französischen vor 1800 bekannt, erlebt aber seine höchste Verbreitung im Deutschen um das Jahr 1900 herum, während er in Frankreich während des ganzen 19. Jahrhunderts in Gebrauch ist. In England war der Begriff nahezu unbekannt. Hermaphrodit auf der anderen Seite erscheint in allen drei Sprachgemeinschaften verdichtet um das Jahr 1750, behält aber in England am längsten seine Persistenz. Diese Ergebnisse, die durch die Analyse der gedruckten Quellen im Einzelfall bestätigt werden, verweisen auf unterschiedliche „urgences“ im diskursiven Vorgehen gegen nicht reproduktive, nicht heterosexuelle Praktiken.
Diagramm 1: Ngram des Begriffs Tribade im Deutschen, Zeitraum 1500 bis 2000, case-insensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,000022 %, 19. 2. 2020.
Methodisch ist wichtig, dass eine Ngram-Analyse auch zu Scheinkorrelationen führen kann. Der Begriff „Lesbian“ im Englischen bezeichnet im 17. und 18. Jahrhundert z. B. einen Sachverhalt aus der Architektur, hat also nichts mit sexuellen Orientierungen zu tun. Die Angaben zu den Abbildungen beziehen sich auf die Frage der Groß- und Kleinschreibung der untersuchten Ngrame („case-insensitive“ bedeutet, dass groß- und kleingeschriebene Wörter in die Analyse eingeschlossen wurden), „smoothing“ bezeichnet die statistische Glättung der Kurven, wobei hier durchgängig keine Glättung erfolgte (smoothing=0), und Häufigkeit bezieht sich auf die automatische Skalierung der Y-Achse.
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Diagramm 2: Ngram des Begriffs Hermaphrodit im Deutschen, Zeitraum 1500 bis 2000, caseinsensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,00024 %, 19. 2. 2020.
Diagramm 3: Ngram des Begriffs hermaphrodite im Französischen, Zeitraum 1500 bis 2000, case-insensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,0012 %, 19. 2. 2020.
3 Figuration: Die Masturbatorin Kommen wir zur nächsten Figuration der Einhegung nicht reproduktiver oder nicht strikt heterosexuell-penetrativer Praktiken weiblicher Körper, der Masturbation. Die Masturbation wurde in den frühen Texten durchaus noch im Kontext der Sünde diskutiert. Erst später trat das Element des medizinisch Schädlichen hinzu. Die Analyse der Quellentexte aus Frankreich, Italien, Deutschland und England in der Frühen Neuzeit zeigt zwar, dass man gegen die Tribaden und Hermaphroditen zu Felde zog, doch fehlen Hinweise auf eine massenhafte Ge-
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Diagramm 4: Ngram des Begriffs tribade im Französischen, Zeitraum 1500 bis 2000, case-insensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,000035 %, 19. 2. 2020.
Diagramm 5: Ngram des Begriffs hermaphrodite im Englischen, Zeitraum 1500 bis 2000, case-insensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,0016 %, 19. 2. 2020.
nitalverstümmelung an diesen inkriminierten Menschen. Dies ändert sich mit dem Auftreten der Figuration der Masturbatorin im 19. Jahrhundert.³¹ Der Kampf Traub, The Renaissance. „This uncommon growth of the clitoris is so frequent in some eastern countries, that the more ski[l]lful surgeons have found out a method of amputating it, and to take it away from a person about to marry, left it should be a hindrance in coition.“ James Fleming. A Treatise upon the Formation of the Human Species: The Disorders Incident to Procreation in Men and Women […] London: M. Thrush; 1767, 74, 77.
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gegen die Praxis der Tribadie im 16. und 17. Jahrhundert stellte eine wichtige Vorform des Kampfes gegen masturbierende Frauen da. Anders als in den Diskursen um männliche Masturbation, in denen auch die eine oder andere Rosskur zu Heilung des vermeintlichen Übels vorgeschlagen wurde, griffen Ärzte und Moralphilosophen den Körper der Frauen direkt an, indem sie die Amputation der Klitoris als Regel vorschlugen und durchführten.³² Die rhetorische Urgence, die Notwendigkeit des Diskurses über weibliche Masturbation, ergab sich über das bei Thomas Laqueur festgestellte Dispositiv der Öffentlichkeit aus der Abwehr einiger Ergebnisse der einsetzenden Modernisierung: die Ablösung der alten ständischen durch eine demokratischere Ordnung, die sich schon in der Puritanischen Revolution von 1649 und nicht erst in der Französischen Revolution von 1789 ankündigte. Größere Gleichheit männlicher Individuen erheischte die Zunahme der Kontrolle von Frauen.³³ Etwa zeitgleich bewirkten der Protorassismus und nach ihm der Wissenschaftliche Rassismus in Kombination mit der Entstehung einer differenzierten Klassengesellschaft im Zuge der Industrialisierung ein Tableau, auf dem Rasse, Geschlecht und Klasse sich gegenseitig durchdrangen. Die neue Ordnung war im höchsten Maße labil. Es galt, die unkontrollierbar erscheinenden Kräfte zu kanalisieren. Deswegen kann man die Kliteridektomie auch nicht nur als Ergebnis der Faszination mit für weiblicher Masturbation verstehen oder sie ebenso reduktionistisch als Kampf gegen die „Clitoral Corruption“ der Lesben zurückführen (ein Terminus, der im 18. Jahrhundert entstand).³⁴ Vielmehr war es die diskursive Anschlussfähigkeit der von den Figurationen der Tribaden und Hermaphroditen zu den Figurationen der masturbierenden Nymphomanin oder der masturbierenden Hysterikerin, die die Radikalität der Kliteridektomie erklärt. Weibliche Masturbation war ein Pro-
Die Gründe für den Feldzug gegen die Masturbation zu Beginn des 18. Jahrhunderts hat Thomas Laqueur untersucht und führt drei Momente an: 1) Die Heimlichkeit der Praxis in einer Welt, in der Transparenz gefordert wurde, 2) die Möglichkeit des Exzesses 3) die Rückbindung der Praxis an die Fantasie. Dem will ich hier nicht widersprechen, doch scheint mir die Analyse Laqueurs zu sehr an männliche Formen des Begehrens gebunden zu sein. Die spezifischen Unterschiede der Verdammung von Masturbation bei Frauen werden von Laqueur nie thematisiert. Das Gleiche gilt auch für Mary McAlpins Buch „Female Sexuality and Cultural Degradation in Enlightenment France“, das auf die Verbindung zur Obsession mit Tribaden und Hermaphroditen nicht eingeht. McAlpin, Mary. Female Sexuality and Cultural Degradation in Enlightenment France: Medicine and Literature. Farnham, Surrey, Burlington, VT: Ashgate, 2012. Vergl. die Satire von Henry Neville. The Parlament [sic] of Ladies: Or Divers Remarkable Orders, of the Ladies, at Spring Garden, in Parlament Assembled. London: T. Cadell, 1647. Rodriguez. Female Circumcision. Margaret Gibson. Clitoral Corruption: Body Metaphors and American Doctors’ Constructions of Innate Homosexuality. in: Rosario, Vernon A., (Hg.). Science and Homosexualities. New York, London: Routledge; 1997, 108 – 132.
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blem, weil sie weibliche Körper dem Reproduktionszyklus zu entziehen drohte. Sie war darüber hinaus ein Problem, weil sie in Verbindung mit zahlreichen Erkrankungen gebracht wurde. Calvin Cutter widmete der weiblichen Masturbation 1844 ein ganzes Buch.³⁵ Eine medizinische Autorität zitierend schreibt Cutter: „That the evil [of masturbation] is wide spread and exceedingly injurious to the young, cannot be denied or doubted. Its effects upon physical strength and constitutional stamina, are very prejudicial. Its influence in prostrating the mind is no less appalling. Consumptions, spinal distortions, weak and painful eyes, weak stomachs, nervous headaches, and a host of other diseases, mark its influences upon the one – loss of memory and the power of application, insanity, idiotism, show its devastating effects upon the other.“³⁶ Mit der Publikation der Schrift „Onania“ im Jahre 1712 setzte eine Welle von Publikationen ein, die die weibliche Masturbation thematisierten und als Abhilfe zum Mittel der Genitalverstümmelung rieten. Im „Universal-Lexicon der practischen Medicin und Chirurgie“ von 1841 wurde die Kliteridektomie schon als regelmäßig angewendete Therapie gegen Masturbation diskutiert.³⁷ Chronologisch folgte die Masturbationsdebatte der ersten Figuration mit etwa 100 Jahren Verspätung, siehe die folgenden Ngramme der deutschen, englischen und französischen Texte.
4 Figuration: Die körperlich kranke Nymphomanin Die Nymphomanin kam in unterschiedlichen Bezeichnungen daher: Im Englischen „nymphomaniac“, im Französischen wurde neben Nymphomanie auch der Begriff „Fureur uterine“ genannt, im Deutschen gab es vereinzelt „Mutterwut“, häufiger war hier der lateinische Begriff „Furor Uterinus“.³⁸ Weibliches Begehren wurde in der Figuration der Nymphomanin medikalisiert und pathologisiert –
Calvin Cutter. The Female Guide: Containing Facts and Information upon the Effects of Masturbation, and the Causes […]. West Brookfield, MA: Charles Mirrick; 1844. Cutter, The Female Guide, 31. Gabriel Andral et al. Universal-Lexicon der practischen Medicin und Chirurgie, Band 9. Leipzig: Franke; 1841, 137. Furor Uterinus: „Salacity in women, attended with impudence, restlessness, and a delirium, is called the furor uterinus. It arises from a too great sensibility or inflammation of the pudenda, or parts wherein the venereal stimulus resides, which are chiefly the clitoris and vagina; or the too great abundance and acrimony of the fluids of those parts;“ [Anonymous]. Encyclopaedia Britannica or, A Dictionary of Arts and Sciences Compiled upon a New Plan, Band 3, Edinburgh; Bell and MacFarquhar, 1771, 164.
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Diagramm 6: Ngram des Begriffs Masturbation im Deutschen, Zeitraum 1500 bis 2000, caseinsensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,00035 %, 19. 2. 2020.
Diagramm 7: Ngram des Begriffs masturbation im Englischen, Zeitraum 1500 bis 2000, caseinsensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,00065 %, 19. 2. 2020.
ganz im Sinne Maren Lorenz‘, die vom weiblichen Begehren als Krankheit spricht.³⁹ Anders als Lorenz zeigt, führte diese Pathologisierung aber nicht nur zu
Maren Lorenz. Begehren als Krankheit – oder die wahnsinnige Lust des Weibes. Kuckuck: Notizen zu Alltagskultur und Volkskunde. 1996; 1:29 – 34.
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Diagramm 8: Ngram des Begriffs masturbation im Französischen, Zeitraum 1500 bis 2000, case-insensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,00024 %, 19. 2. 2020.
massenhaften Hysterektomien, also zu operativen Entfernungen der Gebärmutter, sondern auch zu Amputationen der Klitoris. 1709 erschien in Genf der lateinische Text des Carolus Musitanus, der ein ganzes Kapitel zum Furor Uterinus enthielt und als letztes Mittel gegen diese „Krankheit“ den Einsatz des Brenneisens zur Kauterisierung der Klitoris empfahl.⁴⁰ 1747 veröffentlichte der Arzt Andreas Buechner seine Dissertation an der Universität Halle mit dem Titel „Furor uterinus pathologico-therapeuthico consideratus“.⁴¹ Buechner setzte den furor uterinus mit der Nymphomanie gleich und empfahl im Sinne der „Säftelehre“ die Behandlung durch Aderlass. Der französische Arzt Jean Astruc wollte 1762 von derlei radikalen Ansätzen nichts wissen, wandte sich aber ausdrücklich gegen den Vorschlag, Ärzte sollten die von der Nymphomanie befallenen Frauen durch manuelle Reizung der Klitoris heilen.⁴² Der Furor Uterinus machte diskursive
Musitanus, Carolus. R.D.C. Musitani […] de Morbis Mulierum tractatus, cui quaestiones duae, altera de semine, cum masculeo, tum foemineo, altera de sanguine menstruo […] sunt praefixae, etc. Colonia Allobrogum (Genf): Chouet, de Tournes, Cramer, Perachon, Ritter; 1709, S. 142. Andreas Buechner. Dissertatio. Furor uterinus pathologico-therapeuthico consideratus. Dissertation, Universität Halle. Halle, 1747. Astruc, Jean. A Treatise on the Diseases of Women; in Which It Is Attempted to Join a Just Theory to the Most Safe and Approved Practice. With a chronological catalogue of the physicians, who have written on these diseases. Translated from the French original … London: J. Nourse; 1762, S. 374 f.
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Karriere. 1834 promovierte erneut ein Mediziner zum Thema, diesmal jedoch in Berlin, und sein Rat an die Kollegenschaft war eindeutig: „Hymenis, vaginae atresia statim operatione tollatur necesse est; eadem instituatur si nimia clitoridis magnitudo ac sensibilitas causam nymphomaniae exhibuit; etenim hoc in casu clitoridis amputatione perfecta inducitur sanatio (1), quam operationem breviter describere non supervacuum mihi videtur. […] Methodi duae sunt: I. Abscisio.II. Ligatura“.⁴³
In der NGram-Analyse wird deutlich, dass sich im Vergleich zwischen Deutschland, England und Frankreich zwar kaum zeitliche Verschiebungen ergeben, dass der Begriff in den medizinischen Quellentexten allerdings in Frankreich und Deutschland um eine Zehnerpotenz häufiger auftrat als in England.
Diagramm 9: Ngram des Begriffs Nymphomanie im Deutschen, Zeitraum 1500 bis 2000, caseinsensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,00022 %, 19. 2. 2020.
5 Figuration: Die seelisch kranke Hysterikerin Die Figuration der Hysterikerin war bereits in der Antike angelegt. Die Vorstellung, die Gebärmutter wandere rastlos im weiblichen Körper umher, wenn sie nicht zur Empfängnis und Produktion von Nachkommen eingesetzt würde, ging auf Platon, Galenus und das Corpus Hippocraticum zurück. Neu entdeckt wurde Nagrodzki, Eduardus. De Nymphomania Eiusque Curatione Dissertatio Inauguralis Medica. Berlin: Nietackianis; 1834, S. 30.
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Diagramm 10: Ngram des Begriffs nymphomania im Englischen, Zeitraum 1500 bis 2000, case-insensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,000035 %, 19. 2. 2020.
Diagramm 11: Ngram des Begriffs nymphomanie im Französischen, Zeitraum 1500 bis 2000, case-insensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,00011 %, 19. 2. 2020.
die Hysterie dann im 17. Jahrhundert⁴⁴, und im 18. und 19. Jahrhundert erschien eine Vielzahl von Schriften, die sich mit der Hysterie wissenschaftlich ausein-
Arnaud, Sabine. On Hysteria: The Invention of a Medical Category between 1670 and 1820. Chicago, IL: University of Chicago Press; 2015.
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andersetzten.⁴⁵ Wenn auch die Ursache für die Hysterie zunächst im „umherwandernden Uterus“ gesehen wurde, verschob sich der Diskurs im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts immer mehr hin zu einer Ätiologie der Masturbation und knüpfte damit an die historisch früheren Figurationen der Masturbatorin und der Nymphomanin an. Dies wurde ermöglicht durch das gestiegene Verständnis der biologischen Reproduktion. Denn man hatte nun erkannt, dass der Uterus sich nicht bewegte, und die Entdeckung der Ovulation räumte mit der Idee des weiblichen Samens auf, der bei der Masturbation im Innern des weiblichen Körpers Unheil anrichtete.⁴⁶
Andree, John. Cases of the Epilepsy. London: W. Meadows and J. Clarke, 1746.Boswell, James Dissertatio Medica Inauguralis. Edinburgi: typis academicis, 1766. Boush, William, William Robertson. Dissertatio Medica Inauguralis, De Hysteria Quam, Annuente Summo Numine, Ex Auctoritate … Gulielmi Robertson, … Pro Gradu Doctoratus, Ex Auctoritate Reverendi Admodum Viri D. Guilielmi Robertson … Nec Non Amplissimi Senatus Academici Consensu Et Nobilissimae Facultatis Medicae Ecreto, Pro Gradu Doctoratus Summisque in Medicina Honoribus Ac Prilegiis Rite Et Legitme Consequendis. Edinburgi: apud Balfour et Smellie, 1778. Chan[d]ler, Isaac Disputatio Medica Inauguralis. Edinburgi: apud Balfour, Auld, et Smellie, academiae typographos, 1768. Charas, Mosis. Pharmacopoea Regia Galenica. Geneva: Johann Ludwig Dufour; 1684. Highmore, Nathaniel. Execritationes Duæ. Oxon: excudebat A. Lichfield, Acad. typog., impensis R. Davis, 1660. Highmore, Nathaniel. Nathanaelis Highmori De Hysterica & Hypochondriaca Passione Responsio Epistolaris Ad Doctorem Willis. Londini: Sumptibus Roberti Clavel, 1670. Joly, Henry. Discours d’une Estrange et Cruelle Maladie Hypochondriaque Venteuse, qui a Duré Onze Ans: Accompagnée de L’Hysterique Passion, avec Leur Noms, causes, Signes, Accidents Terribes, & leur Remedes. Paris: Catherine Niverd; 1609. Mandeville, Bernard. A Treatise of the Hypochondriack and Hysterick Diseases in Three Dialogues. The second edition, corrected and enlarged ed. London: Printed for J. Tonson, 1730. Pomme, Pierre. Traité Des Affections Vaporeuses Des Deux Sexes. Lyon: Chez B. Duplain, 1769. Purcell, John. A Treatise of Vapours. London: N. Cox, 1702. Whytt, Robert. Underråttelse Om De Sjukdomar, Som Gemenligen Få Namn Af Nerwe-Hypochondriske- Och Hysteriske Tilfälligheter, f Ornåmligast Mjåltsjuka Och Moderpassion, Til Deras Natur, Orsaker Och Botemedel. Stockholm: Tryckt hos A. J. Nordstrom, 1786. Whytt, Robert. Traité des Maladies Nerveuses, Hypocondriaques et Hystériques. Nouvelle Edition, à laquelle on a joint un extrait d’un ouvrage anglois du même auteur, sur les mouvements vitaux & involontaires des animaux, servant d’introduction à celui-ci. A Paris: Chez P. Theóphile Barrois le Jeune, 1777. Willis, Thomas. Affectionum Quæ Dicuntur Hystericæ et Hypochondriacæ Pathologia Spasmodica Vindicata contra Responsionem Epistolarem Nathanael Highmori, M.D. Cui Accesserunt Exercitationes Medico-Physicæ Duæ, 1. De Sanguinis Accensione. 2. De Motu Musculari. Ed. 3., ab authore recognita ed. Londini: typis S.Roycroft, impensis J. Martyn, 1678.Wilson, Andrew. Medical Researches: Being an Enquiry into the Nature and Origin of Hysterics in the Female Constitution, and into the Distinction Between That Disease and Hypochondriac or Nervous Disorders. London: S. Hooper etc., 1776.Woollcombe, Henry. Tentamen Medicum Inaugurale. Edinburgi: apud Balfour et Smellie, academiae typographos, 1777. „ Omne animal, quod coitu maris et feminae ginitur, ex ovo evolvitur, nullum ex mero liquore formativo. Semen virile per cuticulam ovi, nullo foramine perviam, in ovum et praemisis in
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1894 definierte der Psychiater und Neurologe Paul Julius Möbius, Autor der berüchtigten Schrift „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“, die Hysterie als seelische Erkrankung: „Ein wichtiger Fortschritt in der Entwickelung ist darin zu sehen, dass mehr und mehr die Erkenntniss sich herausarbeitet, die Hysterie sei eine Psychose, d. h. die wesentliche, die primäre Veränderung sei ein krankhafter Zustand der Seele.“⁴⁷ Hysterie wurde zur Ursache aller möglichen Krankheiten von der Leukorrhoe bis zum Wahnsinn. Die Hysterie, obwohl eine seelische Erkrankung, konnte aber nach Auffassung der Mediziner durch Masturbation ausgelöst werden. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Kliteridektomie als ein Standardverfahren zur Bekämpfung der Masturbation durchgesetzt, in Deutschland genauso wie in Frankreich und England.⁴⁸ Auch die Hysterie wurde durch Verätzung oder Verbrennung der Klitoris behandelt.⁴⁹ So
partem quondam ovi innatam agit. “ De Baer, Carl Ernst. De Ovi Mammalium et Hominis Genesi. Leipzig: Leopold Vossil; 1826, S. 33. Möbius, Ueber den Begriff der Hysterie. Centralblatt für Nervenheilkunde 11.3. 1888, abgedruckt in: Möbius, Neurologische Beiträge, Leipzig: Arthur Meiner, 1894, S. 1. Siehe auch Weber, Matthias M. Das Hysterie-Konzept der deutschen Psychiatrie um 1900 im Lehrbuch von Emil Kraepelin. Psychotherapie. 2015; 20(1):50 – 64. Andral, Gabriel et al. Universal-Lexicon der practischen Medicin und Chirurgie,Vol. 9. Leipzig: Hinrich Francke, 1841. [Anonymous]. „Case of Idiocy in a Female, Accompanied with Nymphomania, Cured by the Excision of the Clitoris.“ Lancet 1 (1825): 420 – 421. [Anonymous]. Dublin Quarterly Journal of Medical Science.Vol. 63. Dublin: 1861. ———. „Elephantiasis of the Clitoris.“ 2, no. 300 (1866): 366. ———. „Heilung eines vieljährigen Blödsinns durch Ausrottung der Clitoris.“ Journal der Chirurgie und Augen-Heilkunde 7 (1825): 7– 37. ———. „The Operation of Excision of the Clitoris“ The Lancet (1866): 697– 98. ———. „Review of Sketches of the Medical Topography and Natural Diseases of the Gulph of Guinea,Western Africa by W. F. Daniell .“ Provincial Medical & Surgical Journal 14, no. 9 (1850): 235 – 36. ———. „Sociéte Médicale du Temple: Du Clitorisme – Amputation Du Clitoris – Guerison.“ Annales Médico-Psychologiques 10 (1847): 464– 65. Ashwell, Samuel. A Practical Treatise of the Diseases Peculiar to Women. Philadelphia, PA: Lea and Blanchard, 1845. Bachofen, Johann J. Das Mutterrecht; Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der Alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Stuttgart: Krais & Hoffmann, 1861. Bantock, George Granville. „Clitoridectomy.“ The Lancet (1866): 51. Braun, Gustav. „Die Amputation der Clitoris und der Nymphen: Ein Beitrag zur Behandlung des Vaginismus.“ Wiener Medizinische Wochenschrift 73/74 (1865): 1325 – 28. Burns, John. Handbuch der Geburtshülfe mit Inbegriff der Weiber- und Kinderkrankheiten, Band 1. Heidelberg und Leipzig: Karl Groos, 1827. Busch, Dietrich Wilhelm Heinrich. Das Geschlechtsleben des Weibes in physiologischer, pathologischer und therapeutischer Hinsicht: 4. Band. Von den Geschlechtskrankheiten des Weibes und deren Behandlung. Leipzig: 1843. Churchill, Fleetwood. Outlines of the Principal Diseases of Females: Chiefly for the Students. Dublin: Martin Keene and Son, 1835. Chéron, Jules. Revue Médico-Chirurgicale des Maladies des Femmes. Paris: Bureau du Journal, 1884. Friedreich, Nikolaus. Zur Behandlung der Hysterie. Archiv für Pathologische Anatomie und Physiologie und für Klinische Medicin. 1882; 90(2):220 – 243. Hanlo, J. G. M. De Behandeling der
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zeigen denn auch die Ngramme für alle behandelten Sprachen einen Höhepunkt um 1900 (siehe Diagramme 12– 14). In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kam diese Praxis allmählich aus der Mode, nicht zuletzt wegen der Kritik an der weiblichen Genitalverstümmelung in den afrikanischen Kolonien Englands und Frankreichs. Dennoch promovierte noch 1923 eine junge Ärztin an der Universität Bonn zum Thema „Über die Aussichten einer operativen Therapie in gewissen Fällen von Masturbation jugendlicher weiblicher Individuen“.⁵⁰ Erst als der Hysterie durch die Psychoanalyse der Status einer psychischen Krankheit zugewiesen wurde, verloren Operationen ihren medizinischen Sinn. Hier sollte in Zukunft die Talking Cure, das heißt die Psychoanalyse der Analytiker*In weiterhelfen.⁵¹ So hat denn letztlich die Psychoanalyse doch wenigstens einen positiven Effekt für das allmähliche Verschwinden der Kliteridektomie gehabt.
Diagramm 12: Ngram des Begriffs Hysterie im Englischen, Zeitraum 1500 bis 2000, case-insensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,004 %, 19. 2. 2020.
Hysterie door de Cauterisatie der Clitoris met Nitras Argenti. Nederlands Tidschrift voor Geneeskunde. 1882; 26:907– 908. Pütz, Maria. Über die Aussichten einer operativen Therapie in gewissen Fällen von Masturbation jugendlicher weiblicher Individuen. Med. Diss. Bonn 1923. Die Psychoanalytikerin Marie Bonaparte kann als ein Beispiel dafür dienen, das Analytikerinnen und Schülerinnen Sigmund Freuds nicht vor medizinischen Eingriffen zurückschreckten, wenn es um die Herstellung einer „normalen“ (sprich: heterosexuell phallisch penetrierten) Sexualität ging. Walton, Jean. Fair Sex, Savage Dreams: Race, Psychoanalysis, Sexual Difference. Durham, NC: Duke University Press; 2001, 82– 101.
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Diagramm 13: Ngram des Begriffs hysteria im Englischen, Zeitraum 1500 bis 2000, case-insensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,003 %, 19. 2. 2020.
Diagramm 14: Ngram des Begriffs hysterie im Französischen, Zeitraum 1500 bis 2000, caseinsensitive, smoothing=0, Häufigkeit 0,00004 %, 19. 2. 2020.
6 Fazit Die Zwischenräume der Einhegung weiblicher biologisch nicht-reproduzierender Sexualität haben sich nach 1950 erweitert oder sind ganz verschwunden. Heute gelten Masturbation, lesbische Liebe, „hysterisches Verhalten“, körperliche Ab-
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weichungen und psychische Besonderheiten nicht mehr als Begründung für medizinische Operationen am weiblichen Körper. Sexuelle Praktiken sind weitgehend straffrei, die Entscheidung über den eigenen Körper unsanktioniert und Reproduktionsmedizin ist an die Stelle der staatlichen oder kirchlichen Kontrolle weiblicher Sexualität getreten. Die Psychiatrie hat die Sexualität weiter entpathologisiert und demedikalisiert. Seit der Entdeckung der posttraumatischen Belastungsstörungen bei Soldat*Innen des Zweiten Weltkriegs, des Vietnam-, Afghanistan- und Irakkriegs wurde auch die „Hysterie“ nicht mehr als „Frauenkrankheit“ gesehen, sondern als eine (durchaus männliche) Neurose, die durch Psychotherapie und Medikamente behandelt werden kann. Durch die Zweite Frauenbewegung der 1970er Jahre wurde das sexuelle Begehren von Frauen für Frauen vom Stigma der Perversion befreit. Die Diskussion um die Rechte von Transmenschen ist durch die LGBTIQ-Bewegung fluider geworden. Niemand redet mehr von Hermaphroditen, wie das noch zu Zeiten der Herculine Barbin der Fall gewesen war und die Existenz von mehr als einem Geschlecht ist durchaus diskutierbar.⁵² Das bedeutet aber nicht, dass die Zwischenräume verschwunden sind. Im Sinne einer „Technik des Selbst“ unterwerfen sich Menschen der Moderne zunehmend selbstverordneten Praktiken und Diskursen, die vor allem auch ihren Körper und ihre Sexualität betreffen. Der „gesunde Körper“, der „leistungsfähige Körper“, der „schöne Körper“ sind Auswüchse einer Beschäftigung mit dem Körper, die als „freiwillige Verbesserung“ fetischisiert werden können, hinter denen aber „urgences“ stehen, die ihrerseits Faltungen bzw. Zwischenräume generieren. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts unterziehen sich mehr und mehr Frauen einer plastischen Genitaloperation (Female Genital Cosmetic Surgery), um ihren vulvogenitalen Schönheitsidealen zu entsprechen. Dabei gehört die labiaplastische „Schönheitsoperation“ zu den häufigsten Operationen. Die entscheidende Frage, woher diese Schönheitsideale stammen und wie sie Frauen dazu bringen können, sich einer schmerzhaften und kostspieligen Operation zu unterziehen, kann im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht beantwortet werden. Es entbehrt jedoch nicht einer gewissen Ironie, dass nach vier Jahrhunderten der Kliteridektomie und einer nicht nachlassenden Diskussion dieser Praxis in den Nationen des Trikont, Frauen im „Westen“ kein Problem damit haben, ihre Körper erneut „verstümmeln“ zu lassen.⁵³
Michel Foucault. Herculine Barbin, Dite Alexina B. Suivi de Un [sic] Scandale au Couvent d’Oscar Panizza. Paris: Gallimard; 2014. Im Schreiben dieses Abschnittes ist mir klar, dass weder ausschließlich Frauen, noch alle Frauen eine Vulva haben. Mir geht es auch nicht um eine Verstärkung einer auf Genitalien beruhenden binären Aufteilung der Geschlechter. Die komplexe Frage, wie Trans-, genderfluide oder Intersex-Menschen mit der Problematik der Vulva-(Re‐)Konstruktion umgehen, wird hier? mit
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„Aufruhr“ im Garten Gethsemane – Eine konfessionelle Bildpolemik zum böhmischen Ständeaufstand 1618 – 1623 “Turmoil” in the Garden of Gethsemane – A Confessional Pictorial Polemic on the Bohemian Revolt 1618 – 1623: Drawing on spatiotemporal concepts, this article analyzes how the biblical scene of Jesus Christ on Mount Olivet is depicted on a polemic pamphlet dating from 1623, the initial phase of the Thirty Years’ War. First through a narrative interpretation of the Bible, religious practices and artworks, I argue that the biblical scene of Mount Olivet had become deeply entrenched in medieval and early modern memorial culture. The article also contextualizes the pamphlet within the Bohemian and Palatine phase of the Thirty Years’ War (1618 – 1623) and identifies the main actors and essential textual and visual elements of the pamphlet. Second, by using Michail M. Bachtin’s concept of Chronotopos I determine those spatiotemporal elements which, as structures of interspatiality, substantially organize the scenery shown in the graphic. Finally, the article looks at the pamphlet through the lens of Foucault’s concept of heterotopia and argues that media highlighting spatiotemporal features can be employed to orchestrate conflicts.
1 Einleitung Da Jesus solches geredet hatte, ging er hinaus mit seinen Jüngern über den Bach Kidron; da war ein Garten, [der hieß Gethsemane, M.R.] darein gingen Jesus und seine Jünger. Judas aber, der ihn verriet, wusste den Ort auch, denn Jesus versammelte sich oft daselbst mit seinen Jüngern.¹. Da [aber sprach Jesus, M.R.] zu seinen Jüngern: Setzet euch hier, bis dass ich dorthin gehe und bete. Und nahm zu sich Petrus und die zwei Söhne des Zebedäus und fing an zu trauern und zu zagen. Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibet hier und wachet mit mir!² Und er riss sich von ihnen los, einen Steinwurf weit, und kniete nieder, betete und sprach:³ „Mein Vater, istʼs möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“⁴ Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn. Und es geschah, dass er mit dem Tode rang und betete heftiger. Es
Johannes 18, 1– 2. Matthäus 26, 36 – 38. Lukas 22, 41– 42. Mt 26, 39.
https://doi.org/10.1515/9783110758306-005
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ward aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.⁵ Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Könnet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallet! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. Zum andern Mal ging er wieder hin, betete und sprach: „Mein Vater, istʼs nicht möglich, dass dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille!“ Und er kam und fand sie abermals schlafend, und ihre Augen waren voll Schlafs. Und er ließ sie und ging abermals hin und betete zum dritten Mal und redete dieselben Worte. Da kam er zu seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Ach wollt ihr nur schlafen und ruhen? Siehe, die Stunde ist hier, daß des Menschen Sohn in der Sünder Hände überantwortet wird. Stehet auf, laßt uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät! Und als er noch redete, siehe, da kam Judas, der Zwölfe einer, und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und mit Stangen⁶ von den Hohenpriestern und Ältesten des Volks.⁷
Die biblische Geschichte von den Geschehnissen im Garten Gethsemane am Ölberg, welche die Passion Jesu Christi als Teil der christlichen Heilsgeschichte einleitet, diente im Jahr 1623 zugleich als Grundlage einer Paraphrase für den Bildteil eines polemischen Flugblattes der katholischen Konfessionspartei gegen ihre religiösen und politischen Feinde (Abb. 3). Bereits in seiner kanonischen Form als Text enthält die Szenerie von Christus am Ölberg sowohl chronotopische als auch heterotope Merkmale. Mit dem Garten als widersprüchlichem Ort, dem Übergang über den Bach Kidron und der Gegenüberstellung einer realen, augenblicklichen Zeit zu einer irrealen, jenseitigen Zeit sind die augenscheinlichen Elemente und möglichen Zwischenräume benannt. In diversen Analysen hat vor allem der Entwurf eines Chronotopos durch Michail M. Bachtin (1895 – 1975), den dieser als Begriff in die Erzähltheorie und zur Untersuchung literarischer Texte in die Literaturwissenschaft ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts einführte, große Wirkmächtigkeit erlangt.⁸ Eine ebensolche Wirkmächtigkeit kann dem Heterotopiekonzept Michel Foucaults (1926 – 1984) zwar in den Sozialwissenschaften, nicht jedoch in der Literaturwissenschaft nachgesagt werden. Diese hat, so urteilen Hamis Tafazoli und Richard T. Gray, den Heterotopie-Begriff auf seine Anwendbarkeit auf literarische
Lk 22, 43 – 44. Beim Evangelisten Johannes heißt es an dieser Stelle, dass die Kriegsknechte und die Diener der Hohenpriester und Pharisäer „mit Fackeln, Lampen und mit Waffen“ in den Garten Gethsemane eindrangen. Joh 18, 3. Mt 26, 40 – 47. Vgl. nur Michail M. Bachtin. Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Berlin: Suhrkamp, 2008; Miriam Lay Brander. Raum-Zeiten im Umbruch. Erzählen und Zeigen im Sevilla der Frühen Neuzeit. Bielefeld: Transcript, 2011 oder den instruktiven Sammelband von Markus May, Tanja Rudtke (Hg.). Bachtin im Dialog. Festschrift für Jürgen Lehmann. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2006.
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Texte und ästhetische Räume erst noch zu prüfen.⁹ Gleiches gilt für die Interpretation und Analyse von historischen Bildquellen mit Hilfe raumzeitlicher Konzepte in der Geschichtswissenschaft und der Kunstgeschichte.¹⁰ Im Folgenden wird anhand eines polemischen Flugblatts aus dem Jahre 1623 der Versuch unternommen, die das Sujet bestimmenden Chronotopoi und die chronotopischen Elemente der Darstellung zu identifizieren sowie deren Bedeutung für die durch raumzeitliche Komponenten entworfenen Räume und Zwischenräume aufzuzeigen. Zuvor wird jedoch die jahrhundertalte Memorialkultur mit ihren Narrationen, Praktiken und künstlerischen Werken der Ölbergszene thematisiert, um auf deren nachhaltige Implementierung als historisches Referenzbild hinzuweisen. Im Anschluss erfolgt die Einordnung des Flugblattes in den historischen Kontext der Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges, um nach einer Schilderung des Bildinhaltes zur Bestimmung der Chronotopoi zu gelangen. Die Frage, ob sich die Eigenschaften und Merkmale von Heterotopien nach Foucault in diesem Flugblatt der katholischen Propaganda finden lassen, prägt den vorletzten Abschnitt dieses Beitrags. Resümierend widmen sich die Schlussbemerkungen der Frage nach der Tragfähigkeit einer raumzeitlichen Analyse historischer Bildquellen mit den Konzepten von Bachtin und Foucault.
Vgl. Hamid Tafazoli, Richard T. Gray. Einleitung: Heterotopien in Kultur und Gesellschaft. In Außenraum – Mitraum – Innenraum. Heterotopien in Kultur und Gesellschaft, hg. von Hamid Tafazoli, Richard T. Gray. Bielefeld: Aisthesis, 2012, 7– 34, hier 7. Zur literaturwissenschaftlichen Analyse mittels des Heterotopiekonzepts nach Foucault vgl. nur Rainer Warning. Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung. Paderborn, München: Wilhelm Fink Verlag, 2009 und Stefan Tetzlaff. Heterotopie als Textverfahren. Erzählter Raum in Romantik und Realismus. Berlin: De Gruyter, 2016. Für die Kunstgeschichte vgl. Gottfried Boehm. Bild und Zeit. In Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, hg. von Hannelore Paflik. Weinheim: VCH Acta Humaniora, 1987, 1– 24 und Wolfgang Kemp. Die Räume der Maler. Zur Bilderzählung seit Giotto. München: Verlag C.H. Beck, 1996. Zuletzt als Möglichkeit intermediale Kunstformen zu analysieren Nadja Elia-Borer, Constanze Schellow, Nina Schimmel, Bettina Wodianka (Hg.). Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik. Bielefeld: transcript Verlag, 2014 oder Antonius Weixler. Zeit in der Malerei. ‚Ein Pferd hat zwanzig Beine‘ – Über Simultaneität in Futurismus und Kubismus. In Zeiten erzählen: Ansätze – Aspekte – Analysen, hg. von Antonius Weixler, Lukas Werner. Berlin, Boston: Walter de Gruyter GmbH, 2015, 205 – 229. Für die Geschichtsschreibung zuletzt Matthias Rekow. Gegenwart als ’nahes Ende’ – Apokalyptisches Denken in der Frühen Neuzeit. Der Entwurf eines apokalyptischen Chronotopos nach Bachtin. Historical Social Research, 38:3 (2013): 105 – 128.
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2 Das Flugblatt „Aufstand im Garten Gethsemane“ von 1623 2.1 Christus am Ölberg – Bibelnarrationen, Glaubenspraktiken, Gemälde und Graphiken Im Spätmittelalter war die biblische Szene im Garten Gethsemane, die einleitend in einer Kompilation aus den Berichten der Evangelisten geschildert wurde, in der Anregung zum Gebet und zur Meditation eine überaus bedeutende, meist in Psaltern, Andachtstexten und Miszellaneen nacherzählte und illustrierte biblische Geschichte. Als Andachtsübung hatte sich bereits im 12. und 13. Jahrhundert der Kreuzweg mit seinen sieben, ab dem 17. Jahrhundert mit vierzehn Stationen etabliert. Die einsame Zwiesprache und das Gebet Jesu Christi am Ölberg im Garten Gethsemane bildete oft die erste Station des Leidensweges ab. Durch Meditation sollten die das Leiden Christi nachempfindenden Menschen erkennen, warum sich Jesus für die Menschheit geopfert habe.¹¹ Im 13. Jahrhundert schrieb die franziskanische Mystikerin Angela von Foligno (1248/49 – 1309): „Halte dir diesen Spiegel [Jesus im Garten Gethsemane, M.R.] vor Augen und widme dich ihm so oft wie nötig, denn dort betete er nicht für sich selbst, sondern für dich“.¹² Obwohl die Ölbergszene seit dem 12. Jahrhundert eine gängige Episode im narrativen Zyklus zum Leben Jesu veranschaulichte, waren bildliche Darstellungen, die dieses Thema autonom reproduzierten, eher selten. Vom französischen Maler Colart de Laon (gest. um 1417) stammt vermutlich eine frühe Ausführung des Themas auf dem Hauptteil eines Triptychons aus den Jahren 1405 bis 1408, die nur Jesus und die schlafenden Jünger im Garten Gethsemane mit dem Stifter des Andachtsbildes, Louis de Valois (1372– 1407), Herzog von Orléans, im Schutz der Heiligen Agnes zeigt (um 237–ca. 250). Judas sowie die Häscher der Hohenpriester und Pharisäer sucht man in dieser Darstellung jedoch vergebens.¹³
Vgl. Caroline Campbell. Christus am Ölberg. In Mantegna & Bellini. Meister der Renaissance, hg. von Caroline Campbell, Dagmar Korbacher, Neville Rowley und Sarah Vowles. München: Hirmer, 2018, 134– 139, hier 136. Zitiert nach Jeffrey Hamburger. Nuns as Artists. The Visual Culture of a Medieval Convent. Berkeley (CA): University of California Press, 1997, 82. Vgl. Hamburger, Nuns, 8 und Colart de Laon. The Agony in the Garden with the Donor Louis I d’Orléans. 1405‐1408. Madrid: Museo del Prado, 18. Januar 2020. https://www.museodelprado.es/ en/the-collection/art-work/the-agony-in-the-garden-with-the-donor-louis-i/e095e622-a8c8-47c9979f-de9dbd40d1bf (27.05. 2021).
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Abb. 1: Mantegna, Andrea. Christus am Ölberg. Altarretabel von San Zeno in Verona. Triptychon, linke Predellatafel. 1456 – 1459. Tempera auf Holz. Größe: 71,1 x 93,7 cm. Tours: Musée des Beaux-Arts de Tours, 1803 – 1 – 24.
Erste eigenständige Gemälde des Sujets von Christus am Ölberg waren in der Mitte des 15. Jahrhunderts die Versionen der italienischen Renaissancemaler Andrea Mantegna (1431– 1506) (Abb. 1) und Giovanni Bellini (1430 – 1516) (Abb. 2).¹⁴ Mantegna, Hofmaler des Markgrafen Gianfrancesco II. Gonzaga (1466 – 1519) in Mantua, schuf seine beiden Ölbergdarstellungen,¹⁵ die heute in der National Gallery, London, und dem Musée des Beaux-Arts in Tours bewahrt werden, in den Jahren 1455 bis 1459. Das im Auftrag des Benediktinerabtes Gregorio Correr (1409 – 1464) angefertigte Altarretabel in der Abteikirche San Zeno in Verona bildet auf einem der drei Predella-Stücke des Altaraufsatzes die Ölbergszene ab. Bis auf die Predella befindet sich das Retabel mit der von Mantegna selbst ent-
Vgl. Campbell, Christus, 136. Andrea Mantegna. Christus am Ölberg. um 1455 – 1456. Tempera auf Holz. Größe: 62,9 x 80,0 cm. London: The National Gallery, NG 1417. Abgebildet in Campbell, Meister, 137, Abb. 125. Andrea Mantegna. Christus am Ölberg. Altarretabel von San Zeno in Verona. Triptychon, linke Predellatafel. 1456 – 1459. Tempera auf Holz. Größe: 71,1 x 93,7 cm. Tours: Museé des Beaux-Arts, 1803 – 1– 24. Abgebildet in Campbell, Meister, 135, Abb. 124.
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worfenen klassizistischen Rahmung noch heute in der Kirche.¹⁶ Giovanni Bellinis Christus am Ölberg entstand nur unwesentlich später unter dem Einfluss Mantegnas und seiner Werkstatt in den Jahren 1458 bis 1460.¹⁷ Es ist keine Kopie der beiden Gemälde Mantegnas, doch sind Bezüge zwischen den drei Werken in Bezug auf die figurale Komposition und einiger technischer Innovationen nicht von der Hand zu weisen.¹⁸ Da beide Meister stilbildend für das dargestellte Bildthema waren, soll hier kurz auf Mantegnas Ölbergdarstellung auf dem San Zeno-Altar in Verona eingegangen werden. Mantegna stellt in seiner zweiten Version das biblische Geschehen im Garten Gethsemane in einem steinigen Flusstal am Übergang zum schroffen und kargen Ölberg dar (Abb. 1). Das Gemälde wird diagonal von links unten nach rechts oben geteilt. Im Vordergrund rechts hat sich Christus auf einem erhöhten Plateau niedergelassen und betet, sein Schicksal vorausahnend, innig zu Gott, während ihm ein aus einem vertikalen Wolkenband erscheinender Engel den Kelch reicht und ihn stärkt. Unterhalb des betenden Erlösers schlafen die drei Apostel Petrus, Johannes und Jakobus d. Ä. in der steinigen Landschaft des Gartens. Mächtig erhebt sich auf der linken Bildseite die Heilige Stadt Jerusalem, geteilt in Unter- und Oberstadt, mit ihren gewaltigen Mauern, Türmen und Bauwerken. In sich schlängelnden Serpentinen führt ein Weg aus der Stadt in das Tal hinab. Hier wird der Bach Kidron in seinen Windungen sichtbar. Vor einem Steg über den Bach wartet Judas auf die Häscher des Kaiphas und der Pharisäer, die bewaffnet in einer langen, aufgelösten Reihe aus der Stadt hinuntereilen. Judas hat sich zu den Schergen umgedreht und wendet dem Bildbetrachter seinen Rücken zu, er scheint die Kolonne herbeizuwinken oder zur Eile anzutreiben. Der Verräter und sein Gefolge müssen noch einen weiteren kleinen Brückensteg passieren, um den Grenzbach, der den Garten Gethsemane von der profanen Welt trennt, zu überwinden. Erst dieser öffnet den Zugang zum Garten. Ein Bienenstock auf einer mauerähnlichen, felsigen Barriere separiert den Garten zusätzlich etwas von dem hineinführenden Weg. An einem toten Baum rankt sich ein Weinstock empor, der seine Reben in Richtung des betenden Jesus auszustrecken scheint. Mit großer symbolischer Aufladung kündigt sich hier die Auferstehung Christi in der neu zum Leben erwachenden Schöpfung an. Die Natur scheint in span-
Vgl. Caroline Campbell. Mantegna und Bellini, Padua und Venedig. Eine Geschichte zweier Künstler, zweier Städte. In Campbell, Meister, 14– 27, hier 18 – 20. Abbildung des San Zeno-Altars in Campbell, Meister, 260, Abb. 252. In Verona werden heute nur Kopien der drei Predella-Stücke gezeigt, die Originale befinden sich im Musée des Beaux-Arts in Tours. Giovanni Bellini. Christus am Ölberg. um 1460. Tempera auf Holz. Größe: 80,4 x 127,0 cm. London: The National Gallery, NG 726. Abgebildet in Campbell, Meister, 138 – 139, Abb. 126. Vgl. Campbell, Christus, 136.
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nungsvoller Erwartung förmlich das Drama der Passion Jesu vorwegnehmen bzw. nachvollziehen zu wollen.¹⁹ Sowohl Bellinis als auch Mantegnas erste Version vom Christus am Ölberg bilden die zentrale Vierergruppe von Jesus Christus und den drei schlafenden Jüngern ab. Auffallend ist, dass in allen drei Gemälden Judas und die von ihm geführten Häscher jenseits des Flusses Kidron verortet werden. Dieser muss von ihnen mittels Holzstegen bei Mantegna oder einer kleinen Steinbrücke bei Bellini (Abb. 2) überwunden werden, bevor sie die Grenze zum Garten Gethsemane überschreiten. Judas weist in den künstlerischen Interpretationen Mantegnas und Bellinis als Türöffner den Schergen der Hohenpriester mit deutlichen Gesten den Weg (vgl. Abb. 1 und 2).²⁰
Abb. 2: Bellini, Giovanni. Christus am Ölberg. 1458 – 60. Tempera auf Holz. Größe: 81,3 x 127,0 cm, London: National Gallery, NG726.
Andrea Mantegna setzte sich als einer der ersten italienischen Maler intensiv mit dem Kupferstich auseinander. Er nutzte die Druckgraphik, um sein Werk über die relativ isolierte Lage Mantuas und die Grenzen des dortigen Hofes hinaus
Andrea de Marchi. Mantegna und Bellini: Invention versus Atmosphäre. In Campbell, Meister, 28 – 49, hier 31. Vgl. nur die Abbildungen der Gemälde in Campbell, Meister, 134– 139, Abb. 124– 126.
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einem breiten Publikum bekannt zu machen.²¹ Nördlich der Alpen wurde im ausgehenden 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert die von Mantegna geschaffene Szene mit Christus am Ölberg besonders durch die Druckgraphik variiert. Im Medium des Kupferstichs und Holzschnitts dürften jenseits der sich manifestierenden Konfessionsgrenzen vor allem Martin Schongauer (1448 – 1491), Hans Burgkmair d.Ä. (1473 – 1531) und Albrecht Dürer (1471– 1528)²², häufiger in der Malerei Lukas Cranach d.Ä. (1472– 1553), Entscheidendes zur graphischen Verbreitung des Motives im Rahmen der Passionsdarstellung als Andachts- oder Altarbild im deutschen Sprachraum beigetragen haben. Wie bereits angedeutet, war die Darstellung von Christus am Ölberg nördlich der Alpen seit dem frühen 16. Jahrhundert in Passionszyklen, Epitaphien, Einzeldarstellungen, Andachtsund Altarbildern weitgehend publik. Die Szene im Garten Gethsemane, in der der betende Jesus Christus bei seinem Vater um Trost bittet, zugleich sein Schicksal, den bevorstehenden Kreuzestod zum Heil der Menschheit annimmt, hatte zu Beginn des 17. Jahrhundert sowohl in der Malerei als auch in der Druckgraphik bereits einen umfangreichen Selektions- und Kanonisierungsprozess durchlaufen und sich als historisches Referenzbild etabliert, das eine kollektive ikonische Verwendung ermöglichte.²³ Mit dem Wiedererkennen des Motivs wurden bestimmte Erinnerungsinhalte wie die stille Andacht, die Mediation und das Nachempfinden des Leidens und des Opfertodes Christi in der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit permanent aktualisiert, zugleich aber auch wirkmächtige Feindbilder in Form des Antijudaismus in der Vormoderne durch Inklusions- und Exklusionsmechanismen ein- und fortgeschrieben.²⁴
Vgl. Sarah Vowles, Dagmar Korbacher. Skizziert und umrissen. Zum graphischen Werk von Mantegna und Bellini. In Campbell, Meister, 68 – 85, hier 78 – 79. Siehe daneben auch die Darstellungen des Sujets in der Druckgraphik der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von Albrecht Altdorfer (um 1480 – 1538), Hans Sebald Beham (1500 – 1550), Hans Schäufelein (um 1480/85 – 1538/40) und Hans Weiditz (vor 1500 – 1536). Hugo Schmidt (Hg.). Bilder-Katalog zu Max Geisberg Der Deutsche Einblatt-Holzschnitt in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts. 1600 verkleinerte Wiedergaben. München: Schmidt, 1930. Tim Wolfgarten. Zur Repräsentation des Anderen. Eine Untersuchung von Bildern in Themenausstellungen zur Migration seit 1945. Bielefeld: Transcript, 2019, 61– 62. Das Feindbildnarrativ des Antijudaismus kumulierte schließlich mit all seinen fürchterlichen Konsequenzen im mörderischen Antisemitismus der Moderne. Vgl. hierzu nur Elisabeth Klamper (Hg.). Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Wien: Picus-Verlag, 1995.
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2.2 Zum historischen Hintergrund des Flugblattes von 1623 Der Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618 markiert den Beginn des Dreißigjährigen Krieges, der in seiner ersten Phase auch als Böhmisch-Pfälzischer Krieg (1618 – 1623) gilt. Der Generallandtag aller böhmischen Länder erklärte Ferdinand (1578 – 1637), Herzog von Innerösterreich und seit 1617 König von Böhmen sowie seit 1618 König von Ungarn, seines böhmischen Thrones verlustig und wählte den reformierten Kurfürsten der Pfalz, Friedrich V. (1596 – 1632), am 27. August 1619 zum neuen König von Böhmen.²⁵ Nur einen Tag später wurde jedoch der Habsburger Ferdinand in Frankfurt am Main einstimmig durch das versammelte Kurfürstenkollegium zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation erwählt,²⁶ was dem neuen Kaiser das Recht und die Möglichkeiten eröffnete, gegen den Pfalzgrafen und die aufrührerischen Stände in Böhmen vorzugehen. Hoffnungen von Seiten der böhmischen Aufständischen, pfälzischen Calvinisten und Protestanten im Reich auf militärischen und politischen Beistand stützten sich in diesem Moment vor allem auf den siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen (um 1580 – 1629), der 1619 in kurzer Zeit fast das gesamte habsburgische Königreich Ungarn eroberte und am 25. August 1620 von einer ungarischen Ständeversammlung auf dem Landtag von Neusohl zum König von Ungarn gewählt wurde. Er trat als militärischer Verbündeter der böhmischen Stände in den Dreißigjährigen Krieg ein. Inzwischen begann die vereinigte katholische Liga ihren Gegenangriff auf die rebellierenden protestantischen Stände. Maximilian von Bayern (1573 – 1651), der zuvor Ober- und Niederösterreich befriedet hatte, vereinigte Anfang September sein Kriegsheer mit den kaiserlichen Truppen zum Angriff auf Böhmen. Ambrosio Spinola (1569 – 1630) führte im August 1620 von Flandern aus ein spanisches Heer gegen die Kurpfalz und Johann Georg I. von Sachsen (1585 – 1656) bereitete seinen Angriff auf die Lausitzen und Schlesien vor.²⁷ In der Schlacht am Weißen Berg am 8. November 1620²⁸ unterlag das böhmische Ständeheer unter Christian I. von Anhalt-Bernburg (1568 – 1630) dem von Charles
Vgl. hierzu die Flugblätter in Mirjam Bohatcová. Irrgarten der Schicksale. Einblattdrucke vom Anfang des Dreißigjährigen Krieges. Prag: Artia, 1966, 14 und 35, Nr. 27 und 29. Als kurzzeitiger König von Böhmen dann Friedrich I. Vgl. hierzu die Flugblätter in Bohatcová, Irrgarten, 14 und 33 – 34, Nr. 22 und 24. Vgl. Monika Glettler. Überlegungen zur historiographischen Neubewertung Bethlen Gábors. Ungarn-Jahrbuch 9 (1978): 237– 255, hier 240 und Maja Depner, Das Fürstentum Siebenbürgen im Kampf gegen Habsburg. Untersuchungen über die Politik Siebenbürgens während des 30jährigen Krieges. Stuttgart: Kohlhammer, 1938, 66 – 67. Vgl. nur die beiden Flugblätter zur Schlacht am Weißen Berg in Bohatcová, Irrgarten, 41– 42, Nr. 54 (1620) und 56 (1620).
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Bonaventure de Longueval, Comte de Boucquoi (1571– 1621), geführten Heer der Liga. Der sogenannte böhmische Winterkönig Friedrich I. (1596 – 1632) floh über Breslau, Brandenburg und Wolfenbüttel ins niederländische Exil. Böhmen und Mähren fielen wie zuvor die österreichischen Erblande des Kaisers wieder in die Herrschaftsgewalt Ferdinand II. (1578 – 1637) zurück. Mit der festen Absicht, auch den ungarischen Ständeaufstand zu beenden und den Sieg seiner Truppen in Böhmen nutzend, annullierte Ferdinand II. per Edikt vom 10. Dezember 1620 alle Beschlüsse der Preßburger und Neusohler Landtage einschließlich der Königswahl Bethlens bei gleichzeitiger Zusicherung der Wahrung aller bisherigen Privilegien gegenüber den ungarischen Ständen.²⁹ Nach der desaströsen Niederlage des ständischen Heeres der Böhmen und der überstürzten Flucht des Pfalzgrafen Friedrich V. setzte die katholische Propaganda gegen den Winterkönig und dessen Verbündeten Gabriel Bethlen, unterstützt durch erbeutete Dokumente über die diplomatischen Beziehungen der Anhaltischen Kanzlei,³⁰ ein. In der kaiserlichen Agitation galt Bethlen als Vasall des Osmanischen Reiches, und auch die Bündnisbemühungen der pfälzischen Kanzlei mit der Hohen Pforte unter Vermittlung des siebenbürgischen Fürsten waren den katholischen Polemikern und Publizisten nicht entgangen. Bereits während der ergebnislosen Friedensverhandlungen mit dem Kaiser im ersten Viertel des Jahres 1621 führte der siebenbürgische Fürst Gabriel Bethlen mehrere erfolgreiche, militärisch aber nicht nachhaltige Streifzüge nach Mähren durch. Nach einem dringenden Hilfeersuchen Bethlens an die Hohe Pforte beschloss der Diwan des Osmanischen Reiches Anfang Februar 1621, den siebenbürgischen Fürsten zu unterstützen. Diese Nachricht hat wohl ebenso zum Scheitern der Friedensverhandlungen mit dem Haus Habsburg geführt wie die verhärteten Positionen der Kriegsparteien.³¹ Nach der Niederlage des böhmischen Ständeheeres in der Schlacht am Weißen Berg wandte sich der Generalfeldmarschall der verbündeten Stände, Graf Heinrich Matthias von Thurn
Vgl. Depner, Fürstentum Siebenbürgen, 70. Die in Prag von kaiserlichen Truppen erbeutete Anhaltische Kanzlei des pfälzischen Statthalters Christian I. von Anhalt-Bernburg enthielt brisante Unterlagen zur protestantischen Union und zu den pfälzischen Bündniskontakten bis ins Osmanische Reich.Vgl.Wilhelm Jocher. FuerstlAnhaltische geheime Cantzley/[…]. o.O.: o.V., 1621, [VD17 3:303087G]; Reinhold Koser. Der Kanzleienstreit. Ein Beitrag zur Quellenkunde des dreissigjährigen Krieges. Halle (Saale): Gesenius, 1874, 6 und Adolf Petersen. Über die Bedeutung der Flugschrift die anhaltische Kanzlei vom Jahre 1621. Jena: Ratz, 1867, 1– 2. Vgl. Depner, Fürstentum Siebenbürgen, 84 und Sándor Papp. Friedensoptionen und Friedensstrategien des Fürsten Gábor Bethlen zwischen dem Habsburger- und Osmanenreich (1619 – 1621). In Frieden und Konfliktmanagement in interkulturellen Räumen. Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, hg. von Arno Strohmeyer, Norbert Spannenberger. Stuttgart: Steiner, 2013, 109 – 127, hier 123 – 124.
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(1567– 1640), mit den Resten des böhmischen Heeres nach Mähren und schloss sich den Truppen des siebenbürgischen Fürsten in Ungarn an.³² Gemeinsam entsetzten sie das von kaiserlichen Truppen belagerte Neuhäusl. Bethlen und seine Truppen zogen nach Tyrnau, eroberten dieses und begannen, verstärkt durch die schlesischen Truppen unter Johann Georg von Brandenburg-Jägerndorf (1577– 1624), die Belagerung Preßburgs vom 13. August bis zum 1. September 1621. Erneut war gesamt Ungarn bis auf die Hauptstadt Preßburg in der Hand des siebenbürgischen Fürsten. Aus dem südlichen Ungarn fielen nun die Truppen Gabriel Bethlens verwüstend in der Steiermark ein, während er mit Thurn und Jägerndorf nach Mähren aufbrach.³³ Der Kompromissfrieden von Nikolsburg, der am 6. Januar 1622 schließlich zwischen dem siebenbürgischen Fürsten und Ferdinand II. geschlossen wurde, beendete vorerst die militärisch-politische Gegnerschaft zwischen Siebenbürgen und dem Haus Habsburg. Gegen die Erhebung in den Reichsfürstenstand und den Titel eines Herzogs von Oppeln und Ratibor sowie den lebenslangen Besitz sieben oberungarischer Komitate verzichtete Gabriel Bethlen auf den ungarischen Königstitel. Zugleich verpflichtete er sich, sämtliche feindliche Maßnahmen gegen das Haus Habsburg zu unterlassen. Den ungarischen Ständen wurde für ihren neuen Treueeid auf Ferdinand II. der Besitz ihrer alten Freiheiten und Privilegien garantiert.³⁴ Anders erging es den aufständischen Böhmen und Mähren, die nun der administrativen und politischen Reorganisation habsburgischer Machtinteressen und gewaltsamen Maßnahmen der Gegenreformation in ihren Ländern ausgeliefert waren. Bereits die Einsetzung von landfremden Statthaltern des Königs und Kaisers in Böhmen, Karl I. von Liechtenstein (1569 – 1627), und Mähren, Kardinal Franz Seraph von Dietrichstein (1570 – 1636), stellte ein Affront gegen die einheimischen Stände dar. Zudem wurde der Regierungssitz des böhmischen Königs von Prag nach Wien verlegt. Gleiches geschah mit der Böhmischen Hofkanzlei, die nunmehr ebenfalls aus der habsburgischen Residenzstadt Wien die Geschicke der böhmischen Länder führte. Damit fand sowohl eine politische als auch eine verwaltungstechnische Zentralisierung des Königreichs statt. Die böhmischen und mährischen Stände verloren ihre gesetzgeberische Kompetenz. Viele am böhmischen Aufstand Beteiligte der nichtkatholischen Stände, utraquistisch und protestantisch orientierte Personen, flüchteten aus Böhmen. Nach Ausweisung aller nichtkatholischen Prediger 1621 und 1622 sahen sich schließlich viele der noch verbliebenen böhmischen und mährischen Protestanten und Utraquisten vor die Alternativen ge Vgl. Hermann Hallwich. Thurn-Valsassina, Heinrich Matthias Graf. In Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 39. Leipzig: Duncker & Humblot, 1895, 70 – 92. Depner, Fürstentum Siebenbürgen, 85 – 87 und Glettler, Überlegungen, 240 – 241. Vgl. Depner, Fürstentum Siebenbürgen, 90 – 92.
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stellt, zu konvertieren, illegal zu fliehen oder zu emigrieren. Unter ihnen befanden sich Vertreter aller sozialen Schichten, vor allem des protestantischen Adels und wohlhabenden Bürgertums. Den Bauern und ihren Familien wurde das Emigrationsrecht jedoch verwehrt.³⁵ In den königlichen Städten durften seit 1624 nur noch Katholiken das Bürgerrecht besitzen und erwerben. Böhmen und Mähren wurden zum Erbbesitz des Hauses Habsburg erklärt und der Katholizismus die einzig zugelassene Konfession.³⁶ Dagegen gelang es den schlesischen Ständen nach der Schlacht am Weißen Berg mit dem sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. den sogenannten Dresdner Akkord vom 28. Februar 1621 auszuhandeln, in dem der Kurfürsten versprach, sich für deren Landesfreiheiten und eine Generalamnestie einzusetzen. Gewaltsame (Re‐)Katholiserungsmaßnahmen des Wiener Hofes setzten in Schlesien erst 1628/30 ein und erreichten nie das umfassende und durchdringende Niveau der Gegenreformation in Böhmen und Mähren.³⁷ Mit dem Dänischen- Niedersächsisch Krieg (1623 – 1629) verlagerten sich die militärischen Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges zunehmend in den Norden. Kaiserliche und ligistische Truppen dominierten militärisch nunmehr fast das gesamte Reich. In dieses historische Umfeld ist das nachfolgend zu besprechende Flugblatt von 1623 einzuordnen, das Teil der katholische Propagandaoffensive in den Jahren von 1620 bis 1623 war.³⁸
2.3 Identifizierung der handelnden Personen im Bild- und Textinhalt des Flugblattes von 1623 Das hier unter raumbezogenen Aspekten zu betrachtende konfessionspolemische Flugblatt „[Incipit:] Als kayserliche Maystet vor gott knient tet sein gebet“.³⁹ aus
Vgl. Thomas Winkelbauer. Die Habsburgmonarchie vom Tod Maximilians I. bis zum Aussterben der Habsburger in männlicher Linie (1519 – 1740). In Geschichte Österreichs, hg. von Thomas Winkelbauer. Stuttgart: Reclam, 2015, 159 – 289, hier 237– 238 und Bohatcová, Irrgarten, 55, Nr. 115 (1622). Zur Verbitterung in den Ländern der böhmischen Krone über die gewaltsame Rekatholisierung vgl. Depner, Fürstentum Siebenbürgen, 97 und 100 – 101. Vgl. Winkelbauer, Habsburgmonarchie, 237– 238. Vgl. Winkelbauer, Habsburgmonarchie, 238 – 241 und Bohatcová, Irrgarten, 39, Nr. 48 (1620). Matthias Rekow. Freund- und Feindbilder in den Turcica der fliegenden Blätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Diss. Universität Erfurt 2018. Das Flugblatt ist mit den in Klammer stehenden Jahresangaben abgedruckt bei Bohatcová, Irrgarten, 15 und 36, Nr. 33 (o. J.); Wolfgang Harms (Hg.). Illustrierte Flugblätter aus den Jahrhunderten der Reformation und der Glaubenskämpfe. 24. Juli–31. Oktober 1983. Kunstsammlungen der Veste Coburg. bearb. von Beate Rattay. Coburg: Kunstsammlungen der Veste Coburg, 1983, 174–
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Abb. 3: [Anonym]. „[Incipit] Als kayserliche Maystet […]“. 1623. Radierung. Größe: 15,2 x 22,4 cm. Coburg: Kunstsammlungen der Veste Coburg – Kupferstichkabinett, XIII,321,182.
175, Nr. 84 (1622/23) und John Roger Paas. The German political broadsheet 1600 – 1700. Bd. IV. Wiesbaden: Harrassowitz, 1985, 115, Nr. P-977 (1622).
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den Anfangsjahren des Dreißigjährigen Krieges aktiviert gekonnt die ikonischen Memorialinhalte der Ölbergszene und verknüpft diese äußerst geschickt mit den zeithistorischen Ereignissen. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand wird die Radierung heute in nur zwei minimal voneinander differierenden Fassungen im Kupferstichkabinett der Kunstsammlungen der Veste Coburg⁴⁰ und in der Bibliothek des Nationalmuseums⁴¹ in Prag bewahrt. Beide Varianten unterscheiden sich nur dadurch, dass die ohnehin unvollständig und offenbar nachträglich eingebrachte Bezeichnung der einzelnen Kurfürsten im Falle des geistlichen Kurfürsten von Mainz, „Mentz [?]“, nur im Coburger Exemplar zu finden ist. Ansonsten sind die beiden erhaltenen Exemplare des Flugblattes identisch. Ich beziehe mich in diesem Beitrag auf das mir leichter zugängliche Exemplar in den Kunstsammlungen der Veste Coburg (Abb. 3). In einer genialen Bildparaphrase der biblischen Szene im Garten Gethsemane, in der Jesus Christus betend seinen Vater bittet, den Kelch an ihm vorüber gehen zu lassen, und die drei ihn begleitenden Jünger das Eintreffen der von Judas Iskariot angeführten Häscherscharen verschlafen, werden die politischen und militärischen Auseinandersetzung zwischen Kaiser Ferdinand II. und dem sogenannten Winterkönig, Friedrich I., im böhmischen Ständeaufstand von 1618 bis 1623 sowie dessen internationalen Verwicklungen, die die Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges markieren, aufgegriffen und widergespiegelt. Im oben angeführten Bibel- und am Beispiel des von Mantegna und Bellini gezeigten Bildzitats sind die Grundlagen des propagandistischen Plots zu suchen, den ein unbekannter Radierer um 1623 konfessionspolemisch auf die zeitgenössische machtpolitische Situation im Reich und in Europa aus kaisertreuer bzw. katholischer Sicht wendete. Folgerichtig kommentieren die in vier Spalten jeweils fünfzeilig abgefassten Begleitverse nicht den biblischen Ursprung der in der Graphik dargestellten Szene, sondern das historisch-politische Geschehen im Böhmisch-Pfälzischen Krieg in einer Art komprimierender Gesamtrückschau. Zur besseren Lesbarkeit, die für das Verständnis des Bildinhalts hilfreich ist, seien diese hier transkribiert wiedergegeben: 1. Spalte: Als kayserliche Maystet vor gott knient tet sein gebet. Da wart im gsand aus himels tron ein Engel mit Zepter vnd Chron. Zu Regiren das Romisch Reich
Coburg: Kunstsammlungen der Veste Coburg – Kupferstichkabinett, XIII,321,182. Prag: Nationalmuseum – Bibliothek, 102 A 100.
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2. Spalte: In vngern⁴² Bohmen⁴³ all Zugleich als solchs vernam der pfals graf fritz.⁴⁴ der itz unter Nix mer ist Nutz fragt er Scultetus⁴⁵ balt vmb raht. graf turn⁴⁶ Mansfelt⁴⁷ vnd halber arm⁴⁸ 3. Spalte: Die sprachen nun ihr Bursch wir woln spielen im Reich ein passion dem Kayse Steln die Bohmisch Chron Weil sein fürsten itz sanft schlaffen Scultetus sprach greift an die waffen 4. Spalte: Drum folgt itz mir mein liber fritz Die pfals ist dir doch nichs mer Nutz Solchs sahe als balt der libe gott vnd schlug Zu grundt die Bose Rott Das ihr anschlag nirgen get fort.⁴⁹
Dominiert wird das Flugblatt jedoch vor allem durch die graphische Darstellung, die im Größenverhältnis von Fünf zu Eins zum darunter positionierten Bildtext steht (Abb. 3). Zudem zerfällt die Graphik durch eine kongeniale Teilung, die durch stärker gezogene Konturlinien und dichtere Schraffuren erreicht wurde, in einen Bildvordergrund links und einen Bildhintergrund rechts. Dadurch entsteht zugleich ein interessanter räumlicher Eindruck mit einer für die Größe der Radierung erheblichen Bildtiefe. Vordergrund und Hintergrund werden so durch eine imaginäre Diagonale voneinander abgeschieden, die das Blatt in der Größenordnung von etwa einem Drittel zu zwei Dritteln bzw. zwei Dritteln zu einem Drittel vom oberen bis zum unteren Blattrand durchläuft. Im linken Bereich des geteilten Flugblattes ist eine siebenköpfige Personengruppe dargestellt, die den zentralen Ausgangspunkt der Bildgeschichte markiert. Sechs mit Kurfürstenhüten
Königreich Ungarn. Königreich Böhmen. Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz (1596 – 1632), als Friedrich I. von 1619 bis 1620 König von Böhmen, der sog. Winterkönig. Abraham Scultetus (1566 – 1624), calvinistischer Theologe und Hofprediger des Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz. Heinrich Matthias Graf von Thurn-Valsassina (1567– 1640), einer der Hauptführer des Ständeaufstands in Böhmen gegen Kaiser Ferdinand II. Ernst von Mansfeld (1580 – 1626), Söldner- und Heerführer gegen Habsburg im Dreißigjährigen Krieg. Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel (1599 – 1626), auch der „tolle Halberstädter“ genannt, Feldherr gegen das Haus Habsburg im Dreißigjährigen Krieg. Coburg: Kunstsammlungen der Veste Coburg – Kupferstichkabinett, XIII,321,182.
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und -roben bekleideten Personen schlafen auf felsigem Untergrund im Vordergrund dieses Bildteils. Es sind die schlafenden⁵⁰ Kurfürsten, die Erzbischöfe von Mainz („Mentz“), Trier („Trier“) und Köln („COLN“), sowie die Kurfürsten von Sachsen („Sax“), „Bayern“ und Brandenburg.⁵¹ Im Mittelpunkt dieser Szenerie, leicht abgesondert von den schlafenden Kurfürsten, sticht Kaiser Ferdinand II. auf einem Felsplateau hervor. Er hat sich zum Beten auf die Knie niedergelassen und erhebt bittend sein Angesicht und seine Hände, in denen er einen Rosenkranz mit Kreuz hält, zum Himmel. Aus einem Wolkenkranz, der sich zu einer strahlenden Sonne mit dem Tetragramm öffnet, krönt ihn ein Engel mit dem Ehrenkranz, der corona triumphalis, und übergibt ihm Schwert und Szepter. Vor dem knienden Kaiser liegen drei Kronen, die sogenannte Rudolfskrone als habsburgische Hauskrone, die Wenzelskrone oder auch böhmische Königskrone sowie wahrscheinlich die zwölfzackige Herzogskrone nach Rudolf IV. (1339 – 1365) als Landeskrone des Erzherzogtums Österreich.⁵² Vor diesen Kronen ist der Reichsapfel positioniert. Als Verräter durch den Geldbeutel mit dem Judaslohn⁵³ gekennzeichnet ist der Hofprediger des Pfalzgrafen, Abraham Scultetus (1566 – 1624), auf der rechten Bildseite bereits in den Vorhof des geheiligten Gartens eingedrungen. Auf seiner Schulter sitzt ein Dämon, der ihm hinterlistigen Hochverrat und finstere Anschläge einflüstert. Er winkt den von einem kleinen Teufel an einer Leine geführten Matthias von Thurn („Thurn“) als einen der militärischen Anführer der böhmischen Stände sowie Friedrich V. von der Pfalz und Ernst von Mansfeld (1580 – 1626) herbei und weist ihnen den Weg. Alle vier Protagonisten werden namentlich im Bild gekennzeichnet, „Schultetus“, „Thurn“, „Pfals“ und „Mansfelt“. Sie führen gemeinsam die mit Spießen, Keulen und Hellebarden bewaff-
Vgl. Mt 26, 40 – 45; Mk 14, 37– 41 und Lk 22, 45 – 46. Die siebente, böhmische Kur hatte Kaiser Ferdinand II. inne. Vgl. zur habsburgischen Hauskrone, der Rudolfkrone, Heinz Biehn. Die Kronen Europas und ihre Schicksale. Wiesbaden: Limes, 1957, Nr. 63, Abb. 62; zur böhmischen Königskrone, der Wenzelskrone, Biehn, Kronen Europas, Nr. 40, Abb. 39 und 40 und zum „Erzherzogshut“ von Herzog Rudolf IV. Biehn, Kronen Europas, 199. Siehe zur Interpretation der österreichischen Landeskrone als Grafenkrone Harms, Illustrierte Flugblätter, 174.Vgl. zur alten Grafenkrone Ottfried Neubecker. Heraldik. Wappen – Ihr Ursprung, Sinn und Wert. Frankfurt am Main: Krüger, 1977, 178. Der Judaslohn kann sehr bewusst auch als Eintrittsgeld in den Garten Gethsemane charakterisiert werden. Nach Foucault kennzeichnet dies ein Eintrittsritual, das die Öffnung bzw. Schließung eines heterotopen Raum signalisiert. Vgl. Michel Foucault. Von anderen Räumen. In Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. von Daniel Defert und François Ewald. Bd. IV. 1980 – 1988. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, 931– 942, hier 940 – 941.
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neten Häscher⁵⁴ über einen kleinen Steg, der den „Grenzbach“ Kidron überbrückt, in den Garten Gethsemane hinein. Der nach der Schlacht von Fleurus 1622 nur noch einarmige Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel⁵⁵ (1599 – 1629) („Halberstalt“), der links erkennbar eine Armbinde trägt und im Begleittext als „halber arm“ bezeichnet wird, führt dem Pfalzgrafen aus der Tiefe des Raumes zwischen Grenzpforte, -zaun und -bach weitere Truppen zu. Auf der gegenüberliegenden Seite jenseits des abschließenden und ausgrenzenden Zaunes erhebt sich am Horizont eine große Stadt, die durch eine mächtige Moschee mit Halbmond dominiert wird. An der dem Betrachter zugewandten Seite des islamischen Gebetshauses steht die Bezeichnung „Durck“, der Türke, inskribiert. Davor beobachten der Sultan und ein weiterer Osmane die gesamte Szenerie. Rechts davon erhebt sich eine kleinere Burg, aus deren Torbogen, über dem „Gabor“ eingeschrieben ist, der siebenbürgische Fürst und Vasall von osmanischen Gnaden Gabriel Bethlen (ungar. Bethlen Gábor) heraustritt. Dieser hatte sich in Opposition zu Ferdinand II. trotz seiner irritierend engen Verbindungen zum Osmanischen Reich 1620 von den ungarischen Ständen zum König von Ungarn wählen lassen. Stadt- und Burgprospekt werden durch einen Grenzzaun mit Tor vom Schauplatz des Gartens Gethsemane abgetrennt. Durch dieses Tor führt der pfälzische Geheime Rat Ludwig Camerarius (1573 – 1651) („Kamarius“) weitere Truppen unter dem Befehl des Grafen Georg Friedrich von Hohenlohe (1569 – 1645) („hoenlo“) aus dem siebenbürgisch-osmanischen Gebiet ein. Herzog Johann Georg von Brandenburg-Jägerndorf („Jegertorf“), Generalfeldoberst der schlesischen Stände, folgt diesen mit seinen Truppen, befindet sich aber noch weit im osmanischen bzw. siebenbürgischen Herrschaftsgebiet.⁵⁶ In der Darstellung des gleichzeitig
Vgl. insbesondere „die Schar der Kriegsknechte […] mit Fackeln, Lampen und mit Waffen“ (Joh 18, 3). Dagegen nur „eine große Schar mit Schwertern und Stangen“ (Mt 26, 47; ähnlich Mk 14, 43). Im zeitgenössischen Jargon auch als der „wilde oder tolle Halberstädter“ bezeichnet. Vgl. Heinz Duchhardt. Der Weg in die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges. Die Krisendekade 1608 – 1618. München, Berlin, Zürich: Piper, 2017, 78. Dies ist ein Hinweis auf den Entstehungszeitpunkt des Blattes, der nach der Schlacht bei Fleurus am 29. August 1622, in der Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel seine Hand verlor, nach der offiziellen Übertragung der pfälzischen Kurwürde an Maximilian von Bayern am 25. Februar 1623 und noch vor dem Tod des Herzogs Johann Georg von Brandenburg-Jägerndorf am 2. März 1624 taxiert werden muss. Letzterer hielt sich nach dem ratifizierten Frieden von Nikolsburg vom 6. Januar 1622 zwischen Gabriel Bethlen und Ferdinand II. bis zu seinem Tode im Herrschaftsgebiet des siebenbürgischen Fürsten auf.Vgl. Theodor Hirsch, Johann Georg, Markgraf von Brandenburg. In Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 14. Leipzig Duncker & Humblot, 1881, 175 – 176. Es handelt sich also um ein retrospektiv auf das historische Geschehen blickende Flugblatt, das ungefähr in der Mitte des Jahres 1623 entstanden sein muss. Vgl. zur Datierung mit
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Ungleichzeitigen im Hintergrund der Bildmitte erleidet der pfälzische Hofprediger Scultetus den schmachvollen Tod des Verräters an einem frei stehenden, von Monstren umschwärmten Baum: An einem Ast des Baumes hat sich der zum Tode verdammte Judas-Scultetus erhängt.⁵⁷ Zugespitzt auf die in der Radierung dargestellte neutestamentarische Ölbergszene kommentiert der Begleittext im unteren Sechstel des Flugblattes die politische Vorgeschichte und das militärische Geschehen im Böhmisch-Pfälzischen Krieg von 1618 bis 1623 (Abb. 3). Die „kayserliche Meystet“ habe Szepter und Krone erhalten, um das „Römisch Reich[,] […] vngern[,] Böhmen all zugleich“ zu regieren. Zusammen mit Ernst von Mansfeld und Christian von Halberstadt hätte der Hofprediger Abraham Scultetus den Pfalzgrafen Friedrich V. überzeugt, die Leidensgeschichte Jesu („[P]assion“) im Reich aufzuführen und „dem Kayse[r] […] die Böhmisch Chron“ zu stehlen. Auch sei es der pfälzische Hofprediger gewesen, der den Pfalzgrafen aufforderte, die Waffen gegen den Kaiser zu erheben. Scultetus sah dafür eine günstige Gelegenheit gekommen, da die politisch untätigen Fürsten des Reiches „itz sanft schlaffen“. Allein die Pfalz sei Friedrich V. doch „nichts mer Nutz“, wenn ihm von den böhmischen Ständen die Königskrone Böhmens angetragen werde. Resümierend berichtet der Text, dass Gott die widerrechtlichen Umtriebe gesehen, daraufhin „die Bose Rott“ niedergeschlagen und all „ihr anschlag“ für immer zunichte gemacht habe. Bereits zuvor hatte der Begleittext klargestellt, dass der nunmehr ehemalige pfälzische Kurfürst Friedrich V., „der itz unter Nix mer ist Nutz“, mit der Annahme der böhmischen Königskrone und seiner Unterstützung der aufrührerischen Stände aller seiner überkommenen Herrschaftsrechte im Reichsverband verlustig geworden war. Mit der Analogie zur Passionsgeschichte und dem biblischen Geschehen im Garten Gethsemane wird der habsburgische Kaiser Ferdinand II. mit Jesus Christus gleichgesetzt. Er empfängt von einem Engel anstatt des bitteren Kelches die nur ihm zustehenden Insignien seiner Macht: drei Kronen, Reichsapfel, Szepter und Schwert (vgl. Abb. 1, 2 und 3). Die Überreichung dieser Herrschaftszeichen an Ferdinand II. durch den Engel Gottes im Zeichen des Tetragramms ist nicht nur in der Übergabe durch Gottes Gnaden, sondern auch in der Bedeutung der Herrschaftszeichen symbolisch stark aufgeladen. Bereits in einem Flugblatt zur Wahl Ferdinands zum römisch-deutschen Kaiser am 27. August 1619 überreicht ihm ein Engel aus einem Wolkenkranz die habsburgische Hauskrone und das Schwert.⁵⁸ Aus einer früheren Flugblattserie, die aus dem Jahr 1544 stammt, anderen Angaben Harms, Illustrierte Flugblätter, 174– 175, Nr. 84 (1622/23) und Anm. 6 sowie Paas, Broadsheet, 115, P-977 (1622). Vgl. Mt 27, 3 – 10. Vgl. hierzu das entsprechende Flugblatt in Bohatcová, Irrgarten, 14 und 34, Nr. 23.
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gehen die Bedeutung der verliehenen Attribute und die Ordnung zur Wahl des römisch-deutschen Königs und Kaiser durch das Kurfürstenkollegium hervor.⁵⁹ Von besonderer Bedeutung ist dabei die Krone. Sie ist dem König übergeordnet. Verstößt der König gegen die Interessen der Krone, im Falle der Reichskrone gegen das Alte Reich, kann er für seine Schuld zur Rechenschaft gezogen werden.⁶⁰ In der Flugblattfolge wird die dreifache Krönung mit einer eisernen Krone durch den Erzbischof von Köln in Aachen⁶¹ zum deutschen König, durch den Bischof von Mailand im Dom zu Mailand mit einer silbernen Krone zum römisch-deutschen König und schließlich mit einer goldenen Krone zum römisch-deutschen Kaiser durch den Papst im Petersdom zu Rom beschrieben.⁶² Dabei kommt den Materialien der jeweiligen Kronen eine besondere Gewichtung zu. Das Eisen zähme alle Dinge und bedeute die „Künigliche stercke“, die Ungehorsamen und Widerstrebenden im Heiligen Römischen Reich zu überwinden und die Ungläubigen zu unterdrücken und zu vertilgen. Dagegen wurde das Silber mit der „lauter reynigkeyt vnd klarheyt“, die ein König besitzen solle, gleichgesetzt. Während das edle und reine Gold „alle ander Metal“ übertreffe und zeige, daß der römischdeutsche König und Kaiser „alle Kuenige vnd Keyser des gantzen Erdtrichs“ übertreffe.⁶³ Im hier analysierten Flugblatt symbolisieren die drei Kronen zu Füssen Ferdinands II. diesen dreifachen Krönungsritus. Jedoch sind es nun der zwölfzackige „Erzherzogshut“⁶⁴, der für die österreichischen Erblande Ferdinands und deren symbolische Einheit steht, die Wenzelskrone als Krone des Königreiches Böhmen und die rudolfinische Kaiserkrone als Krone des Reiches. Ferdinand II. hatte bereits 1621 die zur zeremoniellen und heraldischen Repräsentation von Kaiserrang und -titel dienende Krone als persönliches Eigentum Kaiser Rudolfs II. Vgl. Bernd Schäfer, Ulrike Eydinger, Matthias Rekow. Fliegende Blätter. Die Sammlung der Einblattholzschnitte des 15. und 16. Jahrhunderts der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, hg. von der Stiftung Schloss Friedenstein. 2 Bde. Stuttgart: Arnoldsche Art Publishers, 2016, Bd. I, 34– 37, Nr. 42a–i, Bd. II, 43 – 49, Nr. 42a–i. Percy Ernst Schramm. Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechzehnten Jahrhundert. Bd. III. Stuttgart: Hiersemann, 1956, 1083. Mit der Krönung Ferdinand I. (1503–1564) zum deutschen König endete die seit dem 10. Jahrhundert ungebrochen bestehende Tradition der Aachener Königskrönungen, obwohl die Stadt bis zum Ende des Alten Reiches 1806 das Recht der Krönungsstätte nicht verlor. Tatsächlich war jedoch die Wahlstadt Frankfurt am Main zur wirklichen Krönungsstätte geworden, da bereits durch die Wahl der König konstituiert wurde. Vgl. Bien, Kronen Europas, 17. Anzumerken bleibt, dass 1530 Karl V. (1500 – 1558) aus dem Hause Habsburg der letzte in Italien gekrönte Kaiser war. Nachfolgende Kaiserkrönungen auf deutschen Boden sind rituell Königskrönungen, die am deutschen König „als erwähltem römischen Kaiser“ vollzogen wurde. Bien, Kronen Europas, 19. Vgl. Schäfer/Eydinger/Rekow, Fliegende Blätter, Bd. I, 34– 35, Nr. 42a, Bd. II, 43 – 44, Nr. 42a. Vgl. Bien, Kronen Europas, 199.
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(1552– 1612) zum Hauskleinod und zur Hauskrone Habsburgs verordnet.⁶⁵ Im konfessionspolemischen Flugblatt überreicht der Engel Ferdinand II. zugleich ein Szepter und ein Schwert, die neben des Kaisers Güte, Milde und Lauterkeit in seinen Geboten auch die Vollstreckung des Rechts und Bestrafung des Unrechten sowie Üblen symbolisieren.⁶⁶ Ebenso ist es eine Erinnerung für den Herrscher, dass er sowohl Verteidiger des Reiches als auch der katholischen Kirche sei.⁶⁷ Ferdinand II. erhält somit als rechtmäßiger, gotterwählter Herrscher der habsburgischen Erblande, des Königreiches Böhmen und des Reiches ganz im Sinne eines Gottesgnadentums die Legitimation seiner Herrschaft durch den Gottesboten.⁶⁸ Zugleich verleiht ihm die göttliche Hand den Lorbeerkranz als Zeichen des militärischen Sieges über die Aufständischen. Der pfälzische Hofprediger Abraham Scultetus wird von der habsburgischen Propaganda bildpolemisch als einer der Hauptschuldigen am Böhmisch-Pfälzischen Krieg und der Krönung Friedrich V. zum böhmischen König ausgemacht.⁶⁹ Tatsächlich dürfte sein unterstellter Einfluss auf den Pfalzgrafen außerhalb von religiösen Fragestellungen jedoch stark überzeichnet sein. Den negativ dargestellten politische Beratern, militärischen Befehlshabern und Häschern des Pfalzgrafen, die machtpolitisch aus dem Hintergrund von dem siebenbürgischen Fürstentum und dem Osmanischen Reich gedeckt werden, stehen allein Kaiser Ferdinand II. und die Kurfürsten des Reiches unter den Obhut des allmächtigen Gottes als legitime und einzig reale Alternative positiv gegenüber. Dem durch Calvinisten und Protestanten im Bündnis mit den Osmanen inszenierten „Aufruhr“ im Garten Gethsemane begegnet die Passion Ferdinands II. im Gewand der Passion Jesu Christi als dem einzig legitimen Herrscher und Erlöser der Welt.
Die Krone war 1602 durch Rudolf II. in der Tradition der 1561 zerstörten Kaiserkrone Maximilians I. (1459 – 1519) und Karls V. entstanden und mit Formen der böhmischen Königskrone verschmolzen worden. Vgl. Bien, Kronen Europas, 163. Vgl. Schäfer/Eydinger/Rekow, Fliegende Blätter, Bd. I, 35, Nr. 42a, Bd. II, 43 – 44, Nr. 42a. Mechthild Schulze-Dörrlamm. Das Reichsschwert. Ein Herrschaftszeichen des Saliers Heinrich IV. und des Welfen Otto IV. Mit dem Exkurs Der verschollene Gürtel Kaiser Ottos IV. Sigmaringen: Thorbecke, 1995, 13. Harms, Illustrierte Flugblätter, 174– 175, Nr. 84 (1622/23), 1622; Bohatcová, Irrgarten, 15 und 36, Nr. 33 (o. J.) und Paas, Broadsheet, 115 (P-977) (1622). Vgl. hierzu auch die Flugblätter „Deß gwesten Pfaltzgrafen Glueck vnd Vnglueck“ (1621) in Harms, Illustrierte Flugblätter, 164– 165, Nr. 79 und Bohatcová, Irrgarten, 42, Nr. 58; „Deß gwesten Pfaltzgraf offne schuldt/Wie jhn Scultetus lehrt Gedult.“, „Caluinischer Ruef vor deß Sculteten Predig zu singen: In seyner eygnen Melodey.“ und „Deß Pfaltzgrafen Versuchung.“ in Bohatcová, Irrgarten, 44 und 46, Nr. 68, 69 und 77 sowie „Pfalsch Graffischer Wehweyser“ in Harms,Wolfgang (Hg.). Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 2. Tübingen: Niemeyer, 1980, 320 – 321, Nr. 182.
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3 Chronotopische Elemente in der Bildsprache des Flugblattes „Aufruhr im Garten Gethsemane“ Der Literaturwissenschaftler Michail Michailowitsch Bachtin entwickelte sein „schillernde[s] Konzept des Chronotopos“⁷⁰, der Raumzeit, anhand seiner epochenübergreifenden Untersuchung zur literarischen Aneignung der realen historischen Zeit und des realen historischen Raums im Roman. Räumliche und zeitliche Merkmale als sinntragende und sinnstrukturierende Elemente verschmelzen im künstlerischen Chronotopos zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Während sich die Merkmale der Zeit im Raum enthüllen, wird der Raum durch die Zeit ausgefüllt und zugleich dimensioniert.⁷¹ Jeder Chronotopos kann, wie die folgende Untersuchung chronotopischer Elemente in einer konfessionspolemischen Druckgraphik des 17. Jahrhunderts zeigen wird, eine Anzahl kleinerer Chronotopoi einschließen, jedes Motiv aber auch seinen eigenen, besonderen Chronotopos aufweisen. Innerhalb eines künstlerischen Werkes stehen die Chronotopoi in zahlreichen Wechselbeziehungen untereinander, die dialogischen Charakter tragen. Dieser Dialog findet jedoch nicht in der dargestellten, irrealen Welt des Kunstwerkes statt, sondern in der Welt des schaffenden Künstlers, des betrachtenden Flaneurs oder des stillen Lesers, deren Welt zugleich eine raumzeitliche, chronotopische Welt ist.⁷² Dargestellte Welt im Kunstwerk und reale Welt der Lebenden sind unauflöslich in einem ununterbrochenen Austausch, in ständigen Wechselwirkungen aufeinander bezogen, ohne jedoch jemals deckungsgleich zusammenzufallen. Obwohl es im Nachhinein unmöglich ist, die semantische Leistungsfähigkeit einer historischen Quelle vollständig zu erfassen, kann man durch eine chronotopische Lesart die verschiedenen Bedeutungsebenen einer Quelle offenlegen, um sich ihrem realen historischen Gehalt zumindest anzunähern. Im Flugblatt „Aufruhr im Garten Gethsemane“ (Abb. 3) von 1623 aus der Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges, dem böhmisch-pfälzischen Krieg, dessen historische Einordnung der dargestellten Bildinhalte bereits vorgenommen wurden, stehen auf der linken Bildhälfte mit der zeitgenössisch adaptierten Gethsemane-Szene der Chronotopos der Idylle oder des Gartens,⁷³ auf der rechten
Michael C. Frank, Kirsten Mahlke. Nachwort. In Bachtin, Chronotopos, 201– 242, hier 204. Bachtin, Chronotopos, 7. Bachtin, Chronotopos, 189 – 190. Vgl. zum Garten auch Foucault, Von anderen Räumen, 938 – 939.
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Bildseite der Chronotopos des Weges augenfällig im Vordergrund. In der scharfen Abtrennung des Gartens Gethsemane vom restlichen Bildgrund, seiner engen räumlichen Umgrenzung, wird seine überzeitliche Heraushebung aus der realen, historischen Zeit mit ihren profanen Händeln deutlich. Die Zeit in diesem hortus conclusus ist, bei gleichzeitiger Begrenzung des Raumes, potentiell unendlich ausgedehnt, obwohl sie still zu stehen scheint. Ein Irrtum, denn die idyllische ist eine zyklische Zeit. Ob nun Jesus Christus mit seinen Jüngern im 1. Jahrhundert, Kaiser Ferdinand II. mit den schlafenden Kurfürsten im 17. Jahrhundert oder andere Generationen in den dazwischenliegenden Jahrhunderten, sie machen am selben Ort die immer gleiche Erfahrung.⁷⁴ Im Garten als kleiner Parzelle, dem „Nabel der Welt“⁷⁵, eröffnet sich durch die ungeheure zeitliche Ausdehnung zugleich die Welt. Die propagandistische Intention des unbekannten Künstlers tritt deutlich zutage, im Moment des Gebetes wird Kaiser Ferdinand II. aus der realen Zeit herausgehoben und zum überzeitlichen Modell einer gottgewollten, konservatorisch-katholischen Ordnung stilisiert. Ferdinands Konkurrent, der pfälzische Kurfürst Friedrich, seine Anhänger und die rebellierenden böhmischen Stände werden durch mehrere Chronotopoi von der Idylle im Garten separiert. Als bestimmender Chronotopos dieser Szenerie nimmt der Weg⁷⁶ seinen Anfang weit in der Tiefe des Bildraumes im Osmanischen Reich und dem Fürstentum Siebenbürgen. Der überwiegend statische Raum im Hintergrund, bedrohlich durch die mächtige und exotische Stadt- und Burgsilhouette, wird markant durch einen festen Grenzzaun mit Pforte, der zugleich das Herrschaftsgebiet des Islams von der Christenheit trennt, vom Bildzwischenraum geschieden. In Kombination des Weg-Motivs mit dem Chronotopos der Schwelle⁷⁷ markiert die Grenzpforte die Möglichkeit der Umkehr vom einmal eingeschlagenen Weg. Sie ist der Anstoß zu einer Entscheidung zwischen Umkehr oder Ausgestoßensein, die das Leben der Protagonisten des böhmischen Ständeaufstandes gegen den Kaiser zukünftig bestimmen werden. Durch diese Grenzpforte und damit über die Schwelle, die Äußeres von Innerem trennt, zugleich Erneuerung und Krise bedeutet und als Zwischenraum interpretiert werden kann, führt der pfälzische Geheime Rat Camerarius Truppen unter dem Befehl des Grafen von Hohenlohe aus dem siebenbürgisch-osmanischen Herrschaftsgebiet ein – die Entscheidung gegen Kaiser Ferdinand II. ist gefallen. Im Bildzwischenraum marschieren schon die Soldaten Christians von Braunschweig-Wolfenbüttel, dem „wilden Halberstädter“, zur Unterstützung der vorausgeeilten Stoßtruppen –
Vgl. auch Frank/Mahlke, Nachwort, 226. Foucault, Von anderen Räumen, 938. Bachtin, Chronotopos, 180 – 183. Bachtin, Chronotopos, 185.
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angeführt von dem militärischen Befehlshaber der böhmischen Stände Matthias von Thurn, dem pfälzischen Kurfürsten Friedrich V. sowie dem Söldner Ernst von Mansfeld – auf dem Übergang zum Felsplateau des Gartens Gethsemane. Diese Streitmacht befindet sich bereits innerhalb des christlichen Gebiets auf dem Weg über einen kleinen Brückensteg des Grenzbaches Kidron, der wie die Grenzpforte erneut als Motiv der Schwelle der fungiert und einen letztmöglichen Wende- oder Umkehrpunkt und damit einen space in between ⁷⁸ markiert. Der Hofprediger des Pfalzgrafen ist bereits in den Vorhof von Gethsemane eingedrungen und winkt Friedrich V. und seine militärische Eskorte über den Bach in den Garten hinein. Ein auf seiner Schulter sitzender Dämon und der kleine Teufel, der den pfälzischen Stoßtrupp leitet, geben bereits Aufschluss über das böswillige und verräterische Vorhaben des Pfalzgrafen und seines Hofpredigers im Verbund mit den böhmischen Ständen. Zugleich signalisieren sie die Unausweichlichkeit des Scheiterns der pfälzischen Bemühungen um die böhmische Krone und die Rebellion der böhmischen Stände. Im Kulminationspunkt, der nach Bachtin als Chronotopos der Begegnung bezeichnet werden kann,⁷⁹ stoßen der Verräter und sein Häscherheer mit dem Kaiser und den höchsten Fürsten des Reiches bzw. mit Jesus Christus und seinen Jünger aufeinander. Dieses zukünftige Finale ist im Bildraum nicht in Szene gesetzt, gleichwohl präsent durch die Darstellung der dynamischen, zweifachen Grenzüberschreitungen. Hier und damit im Chronotopos der Begegnung verknüpfen sich die räumlichen und zeitlichen Reihen menschlicher Leben und Schicksale, zeitgenössisch real und bildparaphrastisch irreal. Ergänzt wird der Chronotopos der Begegnung durch das Motiv des weiten Raum einnehmenden Weges, denn nur wo die beteiligten Personen auf ihren Pfaden unterwegs sind, kann es auch zu einer Begegnung kommen. Es sind dies die Spurenpfade der gerüsteten Stoßtruppen, vor allem aber der Brückensteg und die Pforte, die gleichzeitig als Chronotopos der Schwelle sowohl einen Ort der Krise als auch einen Ort der Erneuerung, einen Ort teuflischen Falls für Abraham Scultetus, den sogenannten Winterkönig Friedrich I. und seine Anhänger oder einen Ort göttlicher Erhebung für Kaiser Ferdinand II., mithin Inklusion oder Exklusion darstellen. In der vorliegenden Graphik erfüllt das universelle Motiv der Begegnung eine kompositionelle Funktion, indem es die Handlungen der Personen in der irrealen Bildwelt miteinander verschmilzt und damit die Enträtselung des Bildsujets durch den Betrachter in der realen Welt vorantreibt.⁸⁰
Homi K. Bhabha. The Location of Culture. London, New York: Routledge, 1994, 1– 2. Bachtin, Chronotopos, 180. Bachtin, Chronotopos, 21.
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Der dominante und alles überlagernde Chronotopos im Sujet des Flugblattes „Aufruhr im Garten Gethsemane“ ist jedoch der sogenannte Rabelaissche Chronotopos.⁸¹ Nach Bachtin verknüpfen sich in ihm polemische und positive Zielsetzungen miteinander. Sie reichen von der Zerstörung aller bisher gewohnten Zusammenhänge über die Wiederherstellung der realen Welt bis zur Schaffung eines neuen Weltbildes – ein neuer, ganzheitlicher und realer Mensch soll hervorgebracht werden.⁸² Charakteristisch an diesem Chronotopos ist die Vernichtung des absolut Negativen und die utopische Überhöhung des positiv Bewerteten.⁸³ In den polemischen Ausführungen des Flugblattes von 1623 wird dieses Ziel deutlich. Aus katholischer Sicht musste die seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 festgeschriebene Spaltung der christlichen Kirche in zwei Konfessionen⁸⁴ überwunden werden. Zudem galt es, den ständischen Bestrebungen in Böhmen, die nach einem eigenen Bundesstaat, der confoederatio bohemica, strebten, entgegenzutreten, widersprach dies doch dem in universalistischer Tradition stehenden politischen Ideal einer habsburgischen monarchia universalis an der Spitze eines christlichen, imperialen und monarchischen Europas.⁸⁵ Deutlich wird dies an der vertikalen, jenseitigen Ausrichtung der Ölbergszene auf der linken Bildseite der Graphik (Abb. 3), in der sich die Zeit ins Unendliche, in das immerwährende Göttliche ausdehnt, während der Raum scharf begrenzt wird. Dagegen erstreckt sich im Hintergrund und Zwischenraum der Radierung der Raum über die Grenze der christlichen Welt hinaus bis an den Horizont. Hier ist die Welt diesseitig, voller Zwist und antichristlicher Bestrebungen. Die Zeit kulminiert im Augenblick. Kaiser Ferdinand II. war der durch Gottes Gnade erhobene Herrscher über die österreichischen Erblande, das Königreich Böhmen und das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Mit dem Schwert hatte er die Verbrechen gegen die Christenheit, gegen Krone und Reich und damit gegen die gottgegebene Ordnung zu strafen. Der mit dem böhmisch-pfälzischen Krieg drohende Zerfall der Welt sollte aufgehalten, auf Grundlage des katholischen Universalismus neu zusammengefügt und die christliche Welt in ihrer ganzheitlichen Geschlossenheit bis zur Parusie, der Wiederkunft Jesu Christi, wiederhergestellt werden. Mit der Überreichung des Siegerkranzes an Ferdinand II. durch den gottgesandten Engel wird der Ausgang des Aufeinandertreffens der gegnerischen
Bachtin, Chronotopos, 95 – 180. Vgl. auch Frank/Mahlke, Nachwort, 225. Bachtin, Chronotopos, 79 und 138. Frank/Mahlke, Nachwort, 225. Die calvinistische Konfession fiel nicht unter die Bestimmungen des Augsburger Religionsfrieden und wurde von diesem nicht geschützt. Vgl. Johannes Burkhardt. Der Krieg der Kriege. Eine neue Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Stuttgart: Klett-Cotta, 2018, 92– 100.
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Parteien, die eben nur virtuell im irrealen Raum der Vorstellungswelt des Betrachters geschieht, symbolisch entschieden. Aber es war auch eine Frage der Identität: Sie ist das Zentrum, welche das Bild Ferdinands II. in der Graphik des Flugblattes bestimmt. Das Motiv des Verrates durch den pfälzischen Kurfürsten, seiner Anhänger und der böhmischen Stände stellte die Unwandelbarkeit des kaiserlichen Helden Ferdinand II., seine Identität als Kaiser, König und Fürst sowie seine katholische wie christliche Selbstidentität auf die Probe. Das gestörte Gleichgewicht wird demzufolge durch den Kaiser-Heros entsprechend restituiert.⁸⁶ Das Flugblatt „Aufruhr im Garten Gethsemane“ war eine aktuelle, gleichwohl bereits retrospektive Bestätigung der historischen Geschehnisse nach dem Sieg der kaiserlichen Truppen gegen das böhmische Ständeheer und die Heere des pfälzischen Winterkönigs Friedrich I. in der Schlacht am Weißen Berg aus Sicht der katholischen Konfessionspolemik.
4 Heterotopiemerkmale in der Bildsprache des Flugblattes „Aufruhr im Garten Gethsemane“ Es ist nun zu klären, ob dem von Foucault essayistisch gefassten HeterotopieEntwurf, bei der Entschlüsselung der zahlreichen Bedeutungsebenen des eben besprochenen Flugblatts (Abb. 3) ein ähnliches Analysepotential innewohnt wie dem Chronotopos-Konzept nach Bachtin. Nach Foucault sind Heterotopien andersartige Räume, die in einem mythischen und realen Gegensatz zu dem Raum, in dem wir leben stehen; „gleichsam Gegenorte“ zu allen anderen realen Räumen, wie er sie nennt. Diese Gegenorte stellen die realen Orte in Frage und verkehren diese ins Gegenteil, repräsentieren diese aber auch zugleich. Foucault teilt diese Orte in Utopien, Orte ohne realen Ort – irreale Räume, und Heterotopien, Gegenorte mit realem Ort – real verwirklichte Räume, ein. Zwischen diesen beiden Räumen besteht nach Foucault ein dialogischer Austausch⁸⁷, für den er symbolisch den Spiegel einführt.⁸⁸ Damit gelangen wir zunächst zu den sechs Merkmalen oder Grundsätzen, die Heterotopien nach Foucault kennzeichnen. Im ersten Grundsatz stellt Foucault fest, dass es keine Kultur gibt, die keine Heterotopien hervorbringt. Das Flugblatt als Produkt einer Schrift- und Bildkultur ist zunächst einmal selbst eine Heterotopie, ein real errichteter Bildraum eines irrealen, polemischen Gegenortes.
Vgl. Bachtin, Chronotopos, 30 – 31. Nach Foucault eine „gemeinschaftliche Erfahrung“. Foucault, Von anderen Räumen, 935. Vgl. Foucault, Von anderen Räumen, 935 – 936.
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Klassifiziert werden die Heterotopien zusätzlich in Krisen- und Abweichungsheterotopien.⁸⁹ Als Krisenheterotopie trennen sich in der Graphik des Flugblatts „Aufruhr im Garten Gethsemane“ der Kaiser und die Kurfürsten – das alte Reich – im heiligen Ort des Garten Gethsemane von dem tabuisierten Außen als dem Herrschaftsraum des Osmanischen Reiches und dem Vasallenfürstentum des calvinistischen Fürsten Gabriel Bethlen oder auch dem Zwischenraum des reformierten Winterkönigs, der sowohl durch den Fluss Kidron vom Garten Gethsemane als auch durch den Grenzzaun vom feindlichen, andersgläubigen Außenraum eingeschlossen ist, klar ab. Der Winterkönig Friedrich I., sein calvinistischer Hofprediger Scultetus, seine Berater und die böhmischen Stände werden dagegen durch ihren Verrat an Kaiser und Reich, obwohl zur Christenheit gehörig, in den Einflussbereich des Islams als Feinde Christi ausgelagert – der klassische Fall einer Abweichungsheterotopie.⁹⁰ Darüber hinaus ist dem in der Nähe des osmanischen Herrschaftsraums angesiedelten schmählichen Tod des Judas-Scultetus durch den Strang am Ast eines Baumes im mittleren Bildhintergrund eine Zwitterstellung zwischen einer Krisen- und Abweichungsheterotopie zuzusprechen. Als verbotener, von Dämonen umschwirrter Ort kennzeichnet er eine Krise in Abgrenzung vom heiligen Garten der Christenheit, während er in seiner Position zugleich in unmittelbarer Nähe der islamischen Häretiker angesiedelt wird. Foucault formuliert im zweiten Grundsatz, dass Gesellschaften Heterotopien unterschiedliche Funktionsweisen zuschreiben können.⁹¹ Die heute eher anachronistisch anmutende Herrschaftsform eines traditionellen, gottgegebenen Königtums, gar einer monarchia universalis – der Idee eines universalen Kaisertums –, ist in ihrer Funktion mit den gegenwärtigen politischen Systemen parlamentarischer Demokratien selbst im Gewand nationaler konstitutioneller Monarchien kaum noch vergleichbar. Auch das Bild des „Türken“ in Gestalt des Osmanischen Reiches changierte im Laufe der Geschichte europäischer Gesellschaften der Frühen Neuzeit zwischen absoluter Feindschaft und wertvoller Handels- oder Bündnispartnerschaft, Expansion und Kontraktion, Bedrohung und Faszination, Dämonisierung und Vorbild sowie Degeneration und Exotik. Mit Foucault können folglich dem „Türken“ als Bild in den Köpfen der Zeitgenossen über die Jahrhunderte hinweg jeweils wechselnde Funktionen und andere Orte zugeschrieben werden.
Vgl. Foucault, Von anderen Räumen, 936 – 937. Vgl. Foucault, Von anderen Räumen, 937. Vgl. Foucault, Von anderen Räumen, 937– 938.
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Darüber hinaus besitzen Heterotopien die Fähigkeit, mehrere reale Räume, die widersprüchlich oder nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen.⁹² Im Bildraum des Flugblattes von 1623 ist dies unübersehbar: Hier ist der Garten Gethsemane – eine Heterotopie par excellence –, dort der „Erbfeind des christlichen Namens“ in Gestalt des Osmanischen Reiches, und im Zwischenraum zwischen dem heiligen und dem tabuisierten Ort die Protestanten, Reformierten und Utraquisten, welche die Einheit des christlichen Glaubens gefährdeten. Sie stehen zugleich für die real umkämpften Herrschafts- und Glaubensräume, die um 1623 nicht miteinander vereinbar waren. Als viertes Merkmal führt Foucault an, dass Heterotopien meist in Verbindung mit zeitlichen Brüchen stehen und differenziert in Heterotopien, die den anhäufenden oder den flüchtigen Aspekt der Zeit betonen.⁹³ In der Bildparaphrase der biblischen Szene von der Gefangennahme Christi am Ölberg, seinem Leidensweg und Auferstehung als Retter der Welt sowie deren Translation auf Kaiser Ferdinand II. im Garten Gethsemane wird dies im Flugblatt deutlich: der göttlichen Legitimation der kaiserlichen und königlichen Herrschaft über das Reich, Böhmen und Ungarn gegenüber den illegitimen Ansprüchen des sogenannten Winterkönigs Friedrich I., der aufrührerischen böhmischen und ungarischen Stände sowie des siebenbürgischen Fürsten von osmanischen Gnaden, Gabriel Bethlen. Wie Jesus Christus leidet Kaiser Ferdinand II., er durchläuft seine Prüfung (Passion) und erneuert sich in dieser, um schließlich als gottgesandter Retter der christlich-katholischen Welt über die sündigen Aufrührer zu siegen. In dieser Übertragung des Motivs akkumuliert sich die historische Zeit, während die Rebellion als flüchtiger, verblassender Moment in der realen Zeit wahrgenommen wird. Im Bildsujet verdeutlicht, staut sich durch die Translation der biblischen Szenerie im Garten Gethsemane auf Kaiser Ferdinand II. und das Reich von der Zeitenwende bis zum ersten Viertel des 17. Jahrhunderts eine ungeheure Zeit auf – gottgewollte Ewigkeit symbolisierend. Den polemisch abgestraften Aufrührern unter Führung des Pfalzgrafen Friedrich V. und ihrer Rebellion gegen Kaiser, Reich und Gott als einem punktuellen Zeitgeschehen in der Welt gesteht die Radierung dagegen nur einen kurzen Augenblick in Gottes Heilsplan zu und legitimiert damit umso mehr die kaiserlich-katholische Herrschaft von Gottes Gnaden. Heterotopien beinhalten ferner ein System der Öffnung und Schließung, von Inklusion und Exklusion. Sie können vollkommen isoliert sein, zugleich jedoch den Zugang zu ihnen ermöglichen.⁹⁴ Im Flugblatt wird dies an unterschiedlichen
Vgl. Foucault, Von anderen Räumen, 938 – 939. Vgl. Foucault, Von anderen Räumen, 939 – 940. Vgl. Foucault, Von anderen Räumen, 940 – 941.
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Bildmotiven deutlich gemacht. In einer differenzierten Abstufung grenzt sich das Geschehen im Garten Gethsemane deutlich durch eine Felsformation von der profanen Welt ab. Diese Abstufung wird durch Elemente der Öffnung und Schließung wie den Grenzbach Kidron, den Brückensteg über den Flusslauf, den Grenzzaun zum Osmanischen Reich und Siebenbürgen sowie die Grenzpforte fortgesetzt, die gleichzeitig Gut und Böse, Freund und Feind, „wahren“ und „falschen“ Glauben voneinander trennen. Gewalt oder Verrat, wie in der Szenerie dargestellt, ermöglichen den Zugang zum heterotopischen Garten. Den rituellen Anschein wahrend erschleicht sich der pfälzische Hofprediger Scultetus mit teuflischer Unterstützung über den Judaslohn den Eintritt in den geheiligten Bezirk. Seinem verräterischen Ansinnen ist jedoch kein Erfolg beschieden, er wird abgewiesen und richtet sich schließlich selbst. Das sechste und letzte Merkmal der Heterotopien sieht Foucault in ihrer Fähigkeit gegenüber anderen Räumen, sich zwischen illusorischen und kompensatorischen Polen zu bewegen. Entweder schaffen sie einen irrealen Raum, der den realen Raum des Lebens als eine große Illusion entlarvt – eine illusorische Heterotopie. Oder sie erzeugen einen realen Raum, der gegenüber der unvorhersehbaren Unordnung und Unberechenbarkeit menschlichen Lebens eine strenge, vollkommene Ordnung manifestiert.⁹⁵ Als illusorische Heterotopie erweist sich der Böhmisch-Pfälzische Krieg in der vorliegenden katholischen Bildpolemik am Garten Gethsemane zu Füßen des Ölbergs. Die zeitgenössische, reale Welt mit den Feinden Christi, den Protestanten, Calvinisten, Gabriel Bethlen und den Türken wird als eine große Illusion entlarvt, die im harten Kontrast zur gottgefälligen Ordnung der Katholiken steht. In der Wiederherstellung der gottgegebenen, vollkommenen (katholischen) Ordnung durch den göttlichen Sieg der Katholiken über ihre häretischen Feinde und damit über die wirre Unordnung des realen, zeitgenössischen Raumes funktioniert sie gleichzeitig als kompensatorische Heterotopie. Es ließ sich demnach zeigen, dass alle Foucaultschen Grundsätze der Heterotopien deutlich im hier beispielhaft herangezogenen Flugblatt greifbar sind. Das Flugblatt kann nach Foucault als Spiegel angesehen werden, der zum einen als Utopie die realen historischen Geschehnisse für den Betrachter in einem irrealen Raum wiedergibt, der virtuell hinter dem Spiegel, in der Bildfläche des Flugblatts, liegt. Als Heterotopie stellt er ebenda das Bildsujet absolut real dar, reflektiert jedoch die historische Realität absolut irreal, da diese durch den Betrachter nur jenseits des Spiegels virtuell wahrgenommen werden kann.⁹⁶
Vgl. Foucault, Von anderen Räumen, 941– 942. Vgl. Foucault, Von anderen Räumen, 935 – 936.
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5 Schlussbemerkungen Mit Hilfe der Kategorien von Raum und Zeit, speziell dem Chronotopos-Konzept nach Bachtin und den Merkmalen der Heterotopien nach Foucault, wurde in der vorliegenden Betrachtung ein polemisches Flugblatt (Abb. 3) aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs analysiert. Es konnte gezeigt werden, dass mit diesen Konzepten ein Zugang zu den Wissens- und Erfahrungsstrukturen sowie emotionalen Regimen oder Gefühlskulturen (Freund- und Feindbilder) der historischen Akteure möglich ist.⁹⁷ Dieser Mehrwert für die Untersuchung historischer Bildquellen durch das Aufzeigen raumzeitlicher Strukturen ist unbestritten.⁹⁸ Zugleich bot es die Möglichkeit, das Scheitern und Wiederherstellen einer etablierten Ordnung am Beispiel eines polemischen Flugblattes zum BöhmischPfälzischen Krieg aus Sicht der katholischen Propaganda zu verdeutlichen. Im Verrat der böhmischen Stände an ihrem König, dem Verrat des reformierten pfälzischen Kurfürsten Friedrich V. an seinem Kaiser und ihrem gemeinsamen Verrat an der Christenheit durch ihr Bündnis mit dem siebenbürgischen Fürsten Gabriel Bethlen als Vasall des Osmanischen Reiches forderten sie die bestehende Ordnung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation heraus. Kaiser Ferdinand II. war folglich gezwungen, den drohenden Zerfall der Welt aufzuhalten, auf einer neuen Grundlage wieder zusammenzufügen und die Geschlossenheit des corpus christianum wiederherzustellen. Um die verlustig gegangenen christlichkatholischen Werte und die Hierarchien der alten Welt neu zu restituieren, mussten die aufrührerischen Verhältnisse zunächst beseitigt werden. Dies wurde programmatisch im Flugblatt „Aufruhr im Garten Gethsemane“ medial umgesetzt. Die vorliegende Bildanalyse verdeutlicht zudem, dass raumzeitlichen Markern neben ihrer dialogischen zugleich eine sehr einseitige, monologisch von einem Zentrum ausgehende Komponente zu eigen ist. Im Bildraum des polemischen Flugblattes aus dem Jahre 1623 sind die Wirk- und Handlungsmechanismen von Ein- und Ausgrenzung, Inklusion und Exklusion, Freund und Feind, in ihrer Wirkmächtigkeit auch über Jahrhunderte noch spür- und erfahrbar. In einem nicht unerheblichen Ausmaß verschärften die raumzeitlichen Komponenten, insbesondere chrono- und heterotopische Elemente wie der Garten, der Weg, die Pforte, der Grenzzaun und der Brückensteg im Flugblattsujet, die konfessionellen
Frank Biess. Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2019, 31. Susanne Rau. Raum: Theorien und Konzepte – eine Annäherung. In Raumkonzepte in der Theologie. Interdisziplinäre und interkulturelle Zugänge, hg. von Angela Kaupp. Ostfildern: Matthias-Grünewald-Verlag, 2016, 21– 38, hier 24.
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Differenzen und Machtasymmetrien und verstärkten damit Prozesse der Inklusion und Exklusion. Sie waren maßgeblich an Mechanismen der Ein- und Ausgrenzung beteiligt und trugen zur Verfestigung und Verstetigung von Freund- wie Feindbildern in den konfessionellen Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges bei. Zugleich strukturierten diese raumzeitlichen Komponenten den Bildraum und eröffneten Zwischenräume, in denen den zeitgenössischen Betrachtern der dargestellten Polemik die Möglichkeiten und Optionen der handelnden Protagonisten zur Umkehr vor Augen geführt wurde, sofern sich diese dem Diktat der gottgegeben kaiserlichen Ordnung ergaben. Im Rabelaisschen Chronotopos wurde dies in der vorliegenden Bildanalyse aufgezeigt. In Detailaufnahmen ließ sich die situative Konstruktion historischer Realitäten durch die katholische Propaganda ableiten. Die Anordnung raumzeitlicher Elemente in der Graphik des Flugblattes durch den unbekannten Künstler ermöglichte den Zeitgenossen die klare Einordnung der historischen Ereignisse in ihre Gegenwart. Indem er die Bildelemente – symbolisch gesprochen – mit Eigenschaften des Raumes und der Zeit auflud, schuf der Künstler ein Ordnungsschema, um die historischen Ereignisse aus einer bestimmten Sicht, in diesem Fall der kaiserlich-katholischen Polemik, erklären zu können. Auf diese virtuellen historischen Ordnungsräume, Zwischenzonen oder den Spiegel⁹⁹, in denen Sichtbares und Sagbares, Raum und Zeit, miteinander verknüpft sind, ist auch der Historiker angewiesen, weil sie außerhalb seiner zeitgebundenen Erfahrungswerte und seines an andere Räume gebundenes Wissens liegen.¹⁰⁰ Insbesondere die Identifizierung chronotopischer Elemente und der das Flugblatt dominierende Chronotopos erwiesen sich als dienlich, gewann doch in deren Folge die Bildinterpretation nachhaltig an Komplexität.¹⁰¹ Auch wenn die Erfassung der Heterotopien nach Foucault neue Perspektiven für die historische Analyse eröffnen kann, ist aufzuzeigen, dass das Bachtinsche Konzept der Chronotopoi aufgrund der stärkeren Gewichtung der zeitlichen Komponente gegenüber Foucaults Entwurf detaillierter in seinem Zugriff auf die raumzeitlichen Elemente der überlieferten Bild- und Textquelle ist. Dies ist wohl vor allem dem essayistischen Entwurf
Foucault, Von anderen Räumen, 935. Daniel Defert. Raum zum Hören. In Foucault, Michel. Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, übers. von Michael Bischoff, mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, 67– 92, hier 75. Martina Löw. Kommunikation über Raum. Methodologische Überlegungen zur Analyse der Konstitution von Räumen. In Zur kommunikativen Konstruktion von Räumen. Theoretische Konzepte und empirische Analysen, hg. von Christmann, Gabriela B. Wiesbaden: Springer, 2016, 87.
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der Heterotopie-Idee durch Michel Foucault geschuldet, die aufgrund der 1967¹⁰² gewählten Kommunikationsform als Vortrag überraschend assoziativ verblieb.¹⁰³ Das führt direkt zur These Michail M. Bachtins, wonach die „Sphäre der Sinnbildung nur durch die Pforte der Chronotopoi betreten werden“¹⁰⁴ könne.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Mantegna, Andrea. Christus am Ölberg. Altarretabel von San Zeno in Verona. Triptychon, linke Predellatafel. 1456 – 1459. Tempera auf Holz. Größe: 71,1 x 93,7 cm. Tours: Musée des Beaux-Arts de Tours, 1803 – 1 – 24. Abb. 2: Bellini, Giovanni. Christus am Ölberg. 1458 – 60. Tempera auf Holz. Größe: 81,3 x 127,0 cm, London: National Gallery, NG726. Abb. 3: [Anonym]. „[Incipit] Als kayserliche Maystet […]“. 1623. Radierung. Größe: 15,2 x 22,4 cm. Coburg: Kunstsammlungen der Veste Coburg – Kupferstichkabinett, XIII, 321, 182.
3. Zwischenräume, Religion und Geschlecht als topologische Faktoren
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Räume religiöser Praktiken in der Palmyrene in römischer Zeit – materielle Evidenz für die Konstituierung von Heterochronotopoi (‚anderen Raum-Zeiten‘) Spaces of Religious Practice in the Palmyrene in Roman Times – Material Evidence for the Constitution of Heterochronotopoi (ʻOther Space-Times’): How can theories of space developed in (post‐)modern socio-spatial environments be applied to ancient spaces and societies? In the case of sacred places in the landscape around Graeco-Roman Palmyra, a spatial methodology produces new interpretations by focusing on the various agents that were active at such places: Palmyrenians, divine agents, inscribed objects, as well as the architectural spaces which in their specificity and combinations, detach the common relations of space and time. By using the evidence of bi-scriptural, continued or multiauthored dedications and highly localized deities and their adjuncts in the places of socio-religious communication in the Palmyrene, the Foucaultian ‘heterotopos’ in sacred places can be further developed: The dedicational and communicatory practices at the sacred places reflect the negotiations of identities and (power) relations by referring to former and pointing to future relationships between individuals, families, local resources, and the deities as ordering powers. Thus the sacred places become ‚heterochronotopoi‘, as time-space-relations coincide in them.
Die Palmyrene: Räume religiöser Praktiken und die historische Raumforschung Bringt man die Begriffe Palmyra und Religion zusammen, so denken Archäolog*innen, Historiker*innen und – mit der Zerstörung des Beltempels im syrischen Bürgerkrieg – auch die breite Öffentlichkeit an große Tempelbauten aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung in der syrischen Oasenstadt. Das Begriffspaar ‚Raum‘ und ‚Palmyra‘ löst wiederum oft Assoziationen zu Oase, Wüste, Fernhandel, Nomadismus aus. Beide Aspekte böten ausreichend Stoff, um
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Zugänge der (sozio‐)historischen Raumforschung auf die Funde und Befunde und ihre Fragmente anzuwenden, wie es auch geschieht.¹ Sie spielen jedoch im Folgenden nur insofern eine Rolle, als ich die Fragen zu Raum, Religion und Akteuren zum einen nicht an Palmyra selbst, sondern an Orten in der Palmyrene, dem Landschafts- und sozio-ökonomischen Raum, in dem die Oase liegt, erörtern möchte. Zum anderen möchte ich die heuristischen Instrumente der historischen Raumforschung², wie sie in den Studien in diesem Band angewendet und geschärft werden sollen – raumzeitliche Bezüge, Zwischenräume und dritte Räume –, auf Funde und Befunde der Palmyrene anwenden.³ Die Palmyrene ist eine Steppenlandschaft in der Syrischen Wüste, eine aride Landschaft, in der die Bewohner*innen mobile und sesshafte Lebensweisen verfolgen (Abb. 1). Als Untersuchungsobjekt bietet die Palmyrene griechisch-römischer Zeit einen physischen Landschaftsraum und einen sozialen Raum von Bewohner*innen mit unterschiedlichem kulturellem und ökonomischem Hintergrund, die ein weit gefasstes Raumverständnis gehabt haben müssen, das sich archäologisch in der Lokalisierung von Bauten, der Architektur und Raumgestaltung selbst, in Objekten aus Stein oder Keramik und Bildern sowie Schriftsystemen ausdrückt. All diese Ebenen von Raum determinieren und konstituieren sich gegenseitig und sind mit spezifischen räumlichen Praktiken verknüpft. Raum ist grundsätzlich nicht einfach als gegeben zu verstehen, sondern als Produkt von Praktiken, die neben dem Menschen weitere Akteure wie Orte, Objekte, Zeit oder
S. jüngst das Projekt von Dagmara Wielgosz-Rondolino zu „Fragments of a Fragment. Reconstructing the Early Sculptural Decoration of the Sanctuary of Allat in Palmyra“, Getty Foundation 2019/20. Die metaphorischen Aufladungen von Sakralbauten oder Karawanenhändlern aus der Oase durch meist europäische, sesshafte, urban sozialisierte Forscher*innen schreiben sich häufig fort, s. u. 121f., 127, Anm. 31. S. z. B. Stephan Günzel. Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen. Bielefeld: transcript, 2008; Susanne Rau. Raum: Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen. Frankfurt a. M., New York: Campus Verlag, 2013. Ich danke Monika Frohnapfel-Leis und Muriel González Athenas für die Einladung nicht nur zu dem Workshop 2016, bei dem ich meine Überlegungen zu Raum und Religion in der Palmyrene vorstellen konnte, sondern auch zu weiteren, bei denen Sprecher*innen, Themen und Diskussionen viele Gedanken angestoßen haben. Ihrem Einsatz und ihrer großen Geduld ist es zu verdanken, dass dieser Artikel entstanden ist. Katharina Waldner hat durch ihre kritische Lektüre noch etliche Unschärfen in der Argumentation aufgedeckt. Das ERC-Projekt „Lived Ancient Religion“ (Grant No. 295555) unter der Leitung von Jörg Rüpke, am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt hat mich nicht nur finanziell, sondern auch intellektuell zu dieser Zeit gefördert. Für den Freiraum zu forschen und zu publizieren danke ich Wolfang Spickermann als Sprecher der Internationalen Graduiertenschule Erfurt/Graz ‚Resonante Weltbeziehungen in sozio-religiösen Praktiken der Antike und Gegenwart‘ an der Universität Graz.
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auch den physischen Raum einschließen. Diese konstituieren ihn, wie sie auch durch ihn bedingt werden.⁴
Abb. 1: Die nordwestliche Palmyrene (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 1).
Die auch in den Altertumswissenschaften gern gepflegte dichotomische Sicht auf Raumbezüge konnte durch den ‚spatial turn‘ überwunden werden, s. Susanne Rau. Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen. Fankfurt a. M., New York: Campus-Verlag, 2013, 145 – 150. Binäre Konstruktionen von Raum sind nicht von der Hand zu weisen, doch oft komplexer, vgl. z. B. Annette Haug. Decor-räume in pompejanischen Stadthäusern. Berlin, Boston: De Gruyter, 2020; Clifford Ando, Jörg Rüpke (Hg.). Public and private in Ancient Mediterranean Law and Religion. Berlin, Boston: De Gruyter, 2015.
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Räume religiöser Praktiken – Praktiken der Sakralisierung Erkennt man die Produktion von Räumen durch Praktiken an, so ergeben als Konsequenz religiöse Praktiken religiöse Räume. Sie sakralisieren Räume, so dass wir auch von sakralisierten Räumen sprechen können.⁵ Allerdings stellt sich die Frage, was religiöse Praktiken genau sind, die den Umgang mit den nicht zweifelsfrei plausiblen Akteuren⁶ – Gottheiten und transzendente Wesen – beschreiben, was für die Archäologie methodisch und epistemologisch eine Herausforderung darstellt. Kommunikation und die eigene Identität als Individuum, aber auch als Gruppe, sind ebenso wie Machtkonstellationen ein Teil von Religion; ferner gehören religiöse Erfahrung und Wirkmacht dazu. Aufgrund dieser Charakteristika von Religion seien religiöse Räume hier verstanden als Räume der Kommunikation (Menschen – Menschen, Menschen – Götter, Götter – Götter), als Räume der Versammlung von Menschen und Bild-Objekten, in denen die Menschen Identitäten etablieren und verhandeln. Wie oben schon angesprochen, sind derartige Räume eingebunden in größere räumliche und soziale Netzwerke, die wiederum Produktionen von Raum, Nutzungen, temporären Zwischennutzungen usw. mit sich bringen – dies wäre der Landschaftsraum der Palmyrene, mit der Oase und die sozio-ökonomischen und -kulturellen Implikationen, die dieses Steppengebiet für die Bewohner*innen hat (Abb. 1). Für Palmyra, die Palmyrene und die palmyrenische Religion sind hier bestimmte materielle Parameter zugrunde zu legen: Altar, Rauchopfer, anthropomorphe und ikonische Bilder der Gottheiten, gemeinsames Essen anlässlich von Feiern, Inschriften mit bestimmtem Formular, Architektur, aus denen wir derartige Praktiken erschließen können.⁷
Magnus Schlette, Volkhard Krech. Sakralisierung. In Handbuch Religionssoziologie, hg. von Detlef Pollack, Volkhard Krech, Olaf Müller, Markus Hero. Wiesbaden: Springer, 2018, 437– 463; Torsten Cress. Sakrotope – Studien zur materiellen Dimension religiöser Praktiken. Bielefeld: transcript, 2018; Susanne Rau: Raum und Religion: Eine Forschungsskizze. In Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, hg. von Susanne Rau, Gerd Schwerhoff. Hamburg, München: Dölling und Galitz, 2008, 10 – 37; für Städte der mediterranen Antike s. Jörg Rüpke. Religious Agency, Sacralisation and Tadition in the Ancient City. Istraživanja 29 (2018): 22– 38. Jörg Rüpke. Religious Agency, Identity, and Communication: Reflections on History and Theory of Religion. Religion 45 (2015): 344– 366. 358. Zu Religion in Palmyra s. Ted Kaizer. The Religious Life of Palmyra. A Study of the Social Patterns of Worship in the Roman Period. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2002; Han J. W. Drijvers. The
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Räume religiöser Praktiken als Ergebnis von Sakralisierungsprozessen sind nicht (immer) klar definiert, sie erscheinen in hundertfachen Unterschieden und Veränderungen. Sie basieren „auf Zuschreibung, Wahrnehmung oder Anerkennung“.⁸ Sie dienen verschiedenen Zwecken, unter denen die Kommunikation mit göttlichen Akteuren eine wichtige Rolle einnimmt und, wenn man so möchte, anderen Funktionen, wie dem Zusammenkommen, dem gemeinsam Essen, nachgeordnet sind.⁹ Asymmetrien in dieser Kommunikation sind gegeben, nicht nur von Mensch zu Mensch und von Objekt zu Mensch, sondern vor allem von Mensch zu Gottheit, die eine Wiederholung, eine Konfirmierung, eine Neuaushandlung nötig machen.¹⁰
Archäologisch fassbare Räume und Raum als Methode: Zwischenräume, thirdspace und Heterochronotopie Für die griechisch–römische Antike, den antiken Mittelmeerraum und die angrenzenden Gebiete sind die Konzepte und Theorieansätze, die hinter Zwischenraum, Heterotopie und thirdspace stehen, vor allem auf paulinische christliche Texte oder aber für Grabkontexte und -objekte angewendet worden.¹¹
Religion of Palmyra. Boston, Leiden: Brill, 1976; Javier Teixidor. The Pantheon of Palmyra. Boston, Leiden: Brill, 1979. Rau, Raum und Religion, 17– 19 spricht von Aufladungen, deren Entstehung sie nicht weiter erklärt, womit ein essentialisierendes Verständnis von Sakralität angedeutet ist. Auch ist eine zeitspezifische Raumwahrnehmung um die gruppenspezifische zu erweitern. Rüpke, Religious Agency, bes. 354– 357. Die Rolle von Raum in diesen Prozessen des ‚place-making‘ von speziellen religiösen Räumen wird z. B. von Doreen B. Massey. For Space, London, Thousand Oaks: Sage Publishing, 2005, 140 angesprochen: „Place … is not some romance of a pre-given collective identity or of the eternity of the hills. Rather, what is special about place is …. the unavoidable challenge of negotiating a hereand-now (itself drawing on a history and a geography…); and a negotiation which must take place within and between both human and nonhuman“. S. auch Anna-Katharina Rieger. This god is your god, this god is my god: local identities at sacralized places in Roman Syria. In Lived Religion in the Ancient Mediterranean World. Approaching Religious Transformations from Archaeology, History and Classics, hg. von Valentino Gasparini, Maik Patzelt, Rubina Raja, Anna-Katharina Rieger, Jörg Rüpke, Emiliano R. Urciuoli. Berlin, Boston: De Gruyter, 2020, 351– 384. S. z. B. Harry O. Maier. Early Christian Martyrology, Imperial Thirdspace and Mimicry. In SpaceTime of the Imperial, hg. von Holt Meyer, Susanne Rau, Katharina Waldner. Berlin, Boston: De Gruyter, 2017; Annetta Alexandridis. Death and the City. Asiatic Columnar Sarcophagi in Context. In Approaching Monumentality in Archaeology, hg. von James F. Osborne. Albany: Suny
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Jedoch sind diese Konzepte noch nicht auf ihre Tragfähigkeit geprüft worden, sakralisierte Orte einer antiken Gesellschaft unter einem dynamischeren und vor allem auch auf die Besonderheit des Religiösen abhebenden Blickwinkel zu untersuchen. Die sakralisierten Räume in Siedlungen der Palmyrene sollen hier als Modell dienen, um die in der Einleitung angesprochenen Nuancen von Zwischenraum und Heterochronotopie, von Raum auch als ‚Bewegung zwischen den Räumen und Orten‘¹², die den Aspekt der Zeit einbeziehen, in einem archäologischen Befund und als Ausdruck der religiösen Kommunikation und Identitätsbildung einer Gesellschaft zu analysieren. Es geht darum, Theorien zum Raum, die meist vor dem Hintergrund moderner, urbanisierter Räume und kolonialer und postkolonialer Gesellschaften entwickelt worden sind, für antike Gesellschaften und ihre Lebensräume weiterzuentwickeln. Hier reicht es nicht, sakralisierte Räume an sich als Heterotope im Foucaultschen Sinne – als Gegenraum oder sich zwischen oder außerhalb vom Raum ergebender Raum – zu interpretieren, der auch Raum-Zeitgegebenheiten durchbricht.¹³ Die Konnotationen von Macht, von Kontrolle bzw. Durchbrechung von Macht, von Devianzen stehen bei den Räumen religiöser Praktiken in der Palmyrene nicht zur Debatte. Dass religiöse Räume dauerhaft oder temporär aus dem normalen Umfeld herausgenommen sind, dass ihr Zugang teils einer Kontrolle zumindest im Sinne von Regulierung unterworfen ist, dass sich an und in ihnen Macht demonstrieren kann, wird hier als Grundgegebenheit angenommen. Auf der anderen Seite kann es das Material über Gebühr strapazieren, einen modernen (im zeitlichen) und postmodernen Begriff (im soziologisch-disziplinären Sinne) auf gesellschaftliche Phänomene der Antike anzuwenden. Oder aber
Press, 2014, 233 – 256; Björn Ch. Ewald. The Tomb as Heterotopia (Foucault’s „hétérotopies“): Heroization, Ritual and Funerary art in Roman Asia Minor). Journal of Roman Archaeoly 21 (2008): 624– 634. S. die Einleitung zu diesem Band von Monika Frohnapfel-Leis, Muriel González Athenas. Zum Konzept der Zwischenräume: eine Einleitung. In Zwischen Raum und Zeit. Zwischenräumliche Praktiken in den Kulturwissenschaften (SpatioTemporality/RaumZeitlichkeit, Bd. 14), hg. von eadd. Berlin, Boston: De Gruyter, 2022, 3 – 10, bes. 4. Michel Foucault. Dits et Ecrits. Band IV: 1980 – 1988. Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 2005, 939: “Die Heterotopie beginnt erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit ihrer herkömmlichen Zeit vollzogen haben”. S. auch Frohnapfel-Leis, González Athenas, Zum Konzept der Zwischenräume, 4–6, bes. 6: „ „RaumZeit“ schließt den zeitlichen Aspekt von Räumen explizit mit ein. Durch die Erweiterung des Chronotopos durch die Denkfigur des „anderen“, durch das Adjektiv „hetero“, werden hier erstmals neue Perspektiven auf aktuelle Forschungsfragen eröffnet, die so zur „anderen RaumZeit“, zum „Heterochronotopos“ als weiterer Analysekategorie werden kann.”. Doch gilt zu klären, ob religiöse Räume grundsätzlich auch außerhalb dieser Ordnungen stehen.
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die Funde und Befunde werden banalisiert und unterkomplex gesehen, wenn sich ihre Interpretation darauf beschränkt, dass z. B. religiöse Praxis im Feiern und in Festen bestehe, und da diese bei Foucault als Heterotopos gelte, man den Begriff der Heterotopie anwenden könne. Dabei bliebe dann die Frage, wie ein Fest zu einem Gegen- oder anderen Ort wird, wie es etwas Neues aus Bestehendem kreiert, offen.¹⁴ In der Begrifflichkeit des Zwischenraumes oder thirdspace wiederum schwingt die kreative bis subversive Umnutzung oder Neukonstituierung des Raumes mit, die sich zwischen materiellem oder materialisiertem (percu) und imaginiertem (concu) Raum ergeben kann, zwischen dem first- and secondspace ¹⁵ – als Raum dazwischen, der mehr der Kommunikation mit verschiedenen Akteuren und dem Aushandeln von Zugehörigkeiten und Identitäten als dem von Macht dient.¹⁶ Derartige Prozesse lassen sich in dem gewählten Beispiel von sakralisierten Räumen in der Palmyrene nachweisen, doch sind ebenso Ansatzpunkte für die Frage nach der Heterochronotopie – die ‚andere Raum-Zeit‘ oder
Ein Gegenbeispiel, in dem jedoch die stark politische Seite der Heterotopie anhand eines religiösen Festes aufgedeckt wird, ist Swapna Gopinath. Heterotopic Assemblages within Religious Structures: Ganesh Utsav and the Streets of Mumbai. Open Cultural Studies 3 (2019): 96 – 106. Vgl. Edward W. Soja. Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Malden: Blackwell, 1996, der die drei Kategorien von Raumproduktion von Henri Lefebvre. La Production de l’espace. Paris: Anthropos, 1974 in die Begriffe first-, second-, und thirdspace überträgt, wobei dem vecu von Lefevbre der thirdspace entspricht. Diesen sieht Soja als in erster Linie von marginalen Gruppen produzierten Raum; s. die verkürzte Definition in Edward W. Soja. Thirdspace. Expanding the scope of the geographical imagination. In Human Geography Today, hg. von Doreen Massey, John Allen, Phil Sarre. Cambridge: Polity Press, 1999, 260 – 278. 260: „There is no singular definition presented for this different way of thinking about space and spatiality, but rather an open-ended set of defining moments, every one of which adds potential new insights to the geographical imagination and helps to stretch the outer boundaries of what is encompassed in the intellectual domain of critical human geography“. Für eine Übertragung des gelebten Raumes und die dort mögliche Identitätsverhandlung auf gelebte Religion, Raum und Identität in der Antike, s. Rieger, This God is Your God. S. Edward Swenson. Moche ceremonial architecture as thirdspace: The politics of place-making in the ancient Andes. Journal of Social Archaeology 12 (2012): 3 – 28. 6: „Indeed, thirdspaces are places of becoming and self-awareness, sites where identities are forged and contested. Although most often analyzed as places of resistance in critiques of capitalism and the post-colonial condition …“. S. auch Kerstin P. Hofmann, Stefan Schreiber. Raumwissen und Wissensräume. Vielfältige Figurationen eines weiten Forschungsfeldes für die Altertumswissenschaften. In Raumwissen und Wissensräume. Beiträge des interdisziplinären Theorie-Workshops für Nachwuchswissenschaftler/innen, eTopoi. Journal for Ancient Studies, Special Volume 5 (2015), hg. von idd. Berlin: Exzellenzcluster 264 Topoi, 9 – 38.
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das Ineinanderfallen der anderen Räume und der Zeit – als archäologisch-methodisch herausforderndem Konzept gegeben. Demnach sind die folgenden Hypothesen an den für die Bearbeitung ausgewählten Funden und Befunden aus der Palmyrene zu überprüfen: ‒ Wie kann ein solches Ineinanderfallen von anderen Räumen und Orten und Zeit, eine Heterochronotopie, in materiellen Objekten wie z. B. Reliefs mit Inschriften, die per se verortet sind, angelegt sein und wie kann man dies methodisch entschlüsseln?¹⁷ ‒ Wie kann Kommunikation stattfinden und wie funktioniert das Aushandeln von Zugehörigkeiten und Identitäten in materiellen und räumlichen Gegebenheiten und Objekten? Wie lassen sie sich in der bildlichen, schriftlichen und räumlichen Konzipierung der Gottheiten, in bildlicher und textlicher Charakterisierung ablesen? Inhaltlich ist dabei die Klärung der Frage zentral, wie religiöse Räume angelegt sind und wie sie als besondere Räume funktioniert haben können, wenn sie z. B. nicht über Architektur oder äußerliche Merkmale sichtlich sakralisiert sind. Konzeptionell ist zu analysieren, mit welchen Begriffen und Bildern nicht uneingeschränkt plausible Akteure bezeichnet und repräsentiert werden, welche Umschreibungen bzw. Bedeutungsnuancen es für Lokalität und Sakralität gibt. Methodisch stellt sich das Problem, wie die dynamische Konstituierung und Produktion von Raum an antiken – statischen – Funden und Befunden zu rekonstruieren ist und wie das Überwinden von Raum-Zeit-Bindungen in religiösen Räumen ablaufen kann.
Nicht nur ein Chronotop, das sehr auf Textanalyse beschränkt ist, und darin die Interdependenz von Raum und Zeit beschreibt, sondern eigentlich das, wo Zeit und Raum nicht logisch zusammenfallen, s. den Beitrag in diesem Band von Monika Frohnapfel-Leis. Der Körper der Zukunft: RaumZeit in frühneuzeitlichen Blicken in die Zukunft. In Zwischen Raum und Zeit. Zwischenräumliche Praktiken in den Kulturwissenschaften (SpatioTemporality/RaumZeitlichkeit, Bd. 14), hg. von ead., Muriel González Athenas. Berlin, Boston: De Gruyter, 2022, 473 – 494, bes. 481– 483, wo der zeitliche Aspekt divinatorischer Praktiken eine größere Rolle als der räumliche spielt, jedoch das „Herausgreifen oder ‚Ausbrechen‘ aus dem zirkulären Zeitablauf“ (477) thematisiert wird.
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Abb. 2: Steppenlandschaft der Palmyrene im Gebiet des Djebel Bilas (Meyer, Palmyrena, Fig. 30).
Heterochronotopoi und lokale göttliche Akteure in physisch-materiellen und imaginierten Räumen in der Palmyrene Physisch-materielle Räume in der Palmyrene muss man in verschieden räumlich skalierten Bezügen denken bzw. sie mit Palmyra vergleichen; denn Räume und Orte in einem Raum, der weite Distanzen mit sich bringt, haben noch einmal einen anderen Stellenwert. Ihre Funktion als Marker und Treffpunkt hat in dünn besiedelten Gebieten eine fokussiertere Bedeutung, auch wenn die locker bebauten Siedlungen auf dem Djebel, den Hügeln ca. 50 km nordwestlich von der Oase, für eine Steppenzone recht dicht sind (Abb. 2).¹⁸ Die Erfassung und Konstituierung von Raum spielt sich aufgrund von geringer Bewohner*innendichte, Entfernung, Ökologie und damit einhergehenden mobi Jørgen Christian Meyer. Palmyrena. Palmyra and the Surrounding Territory from the Roman to the Early Islamic Period. Oxford: Archaeopress Publishing, 2017; Daniel Schlumberger. La Palmyrène du nord-ouest. Villages et lieux de culte l‘époque impériale. Recherches archéologiques sur la mise en valeur d’une région du désert par les Palmyréniens. Paris: Greuthner, 1951.
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len Lebensweisen in größeren Skalen ab. Bei Bewohner*innen und Nutzer*innen der Räume religiöser Praktiken muss man sich ihrer unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründe bewusst sein, die sich in Schrift und Sprache (teils auch der Ikonographie) niederschlagen.¹⁹ Es sind durchaus diverse Gruppierungen, die diese Räume bespielt haben (können): eine hierarchisch organisierte Gesellschaft mit einer reichen Elite, einer in Landwirtschaft, Handel und Viehzucht engagierten Bevölkerung, die sowohl in der Palmyrene wie in Palmyra verankert war und teilmobile Gruppen hatte und deren wirtschaftliche Existenz sich auf unterschiedliche Standbeine verteilte.²⁰ Tribale Grundstrukturen, eine Händlerelite, verortet – aber nicht nur – in der Oase selbst, sowie semi-nomadische Gruppen, die mehr oder weniger temporär oder dauerhaft ihren unterschiedlichen Lebensweisen in ein und demselben Gebiet nachgehen, sind hier auf einem Fleck. Ethnische Unterschiede sind darin nicht zwingend impliziert. Hinzu kommt eine dünne römische Beamten- und Bewohnerschicht, die jedoch in der Oase stationiert ist.
Die Frage der kulturellen Bezüge in Palmyra und seinen materiellen Hinterlassenschaften ist ein weites Feld. Klar ist, dass hellenistisch-mesopotamische, römische, aramäische und nordarabische (‚safaitische‘) Einflüsse zusammenfließen, s. z. B. Kaizer, Religious Life, 35 – 161; Julia Hoffmann-Salz. The Local Economy of Palmyra. In Ownership and Exploitation of Land and Natural Resources in the Roman World, hg. von Paul Erdkamp, Koenraad Verboven, Arjan Zuiderhoek. Oxford: OUP, 2015, 234– 248, bes. 235 – 239. Ich beziehe durch den gender* beide Geschlechter in Benennungen ein, lasse es aber da weg, wo die Funde ausschließlich männliche Beteiligte vermuten lassen. Jørgen Christian Meyer. City and Hinterland. Villages and Estates North of Palmyra. New Perspectives. Studia Palmyreńskie 18 (2013): 269 – 286; Leonardo Gregoratti. Palmyra. City and Territory through the Epigraphic Sources. In Broadening Horizons 4. A Conference of Young Researchers Working in the Ancient Near East, Egypt and Central Asia, University of Torino, October 2011, hg. von Giorgio Affanni, Cristina Baccarin, Laura Cordera, Angelo Di Michele, Katia Gavagnin. Oxford: BAR Publishing, 2015, 55 – 59; Knut Krzywinski, Jonathan Krzywinski. Agriculture in Byzantine Palmyrena. In Palmyrena: City, Hinterland and Caravan Trade between Orient and Occident. Proceedings of the Conference held in Athens, December 1 – 3, 2012, hg. von Jørgen Christian Meyer, Eivind Heldaas Seland, Nils Anfinset. Oxford: Archaeopress: 2016, 171– 183; HoffmannSalz, The Local Economy.
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a) Architekturen und Räume religiöser Praktiken in den Siedlungen der Palmyrene Räume religiöser Praktiken sind in der Palmyrene dank einer älteren, aber bislang der einzigen Studie aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bekannt²¹, unter ihnen Khirbet Semrine, Khirbet Farouane und Khirbet Abu Dahur, Khirbet esSane, Khirbet Ramadane, Bir Ouechel (Abb. 1). Die Siedlung Khirbet Semrine liegt ca. 75 km nordwestlich von Palmyra im Djebel; sie ist bis auf das Heiligtum nicht weiter erforscht.²² Das Heiligtum, das in unserem Zusammenhang von Interesse ist, ist eine mehrräumige Anlage, deren unterschiedlich große und ausgestattete Räume um einen Hof gruppiert sind (Abb. 3). Der Bau an sich, auch wenn nicht hoch erhalten (max. ca. 1 m, Türgewände teils höher erhalten), ist äußerlich nicht besonders unter den anderen Gebäuden hervorgehoben (Abb. 4); sein Gesamtgrundriss ist unregelmäßig trapezoidal. Der Eingang ist flankiert von zwei Banketträumen – Räumen mit umlaufenden gemauerten Liegebänken (Abb. 4). Zwei weitere sind einem verschließbaren Raum am Nordende des Hofes vorgeschaltet, ein weiterer liegt in einer Reihe von drei Räumen an der Westseite des Hofes. Inliegend sowie an der Ostseite anschließend und im Norden außerhalb der Hofmauer befinden sich weitere Räume, von denen wiederum drei als Banketträume erklärt werden können (Abb. 3). Die Datierung ist nicht in ganzer Tiefe erfasst; anhand der datierten Weihungen kann man die die Hauptnutzungszeit zwischen 154– 270 n.Chr. ansetzen. Neben einigen Fundstücken, die unten noch eingehend besprochen werden, kamen zwei Inschriften auf Bauteilen (Architrav und Türsturz) zutage, die neben den hier verehrten Gottheiten Abgal und Maan die Errichtung eines hykl (reiches Haus) durch ’Oga Sohn des Honaina, Sohn des ’Ogeilu nennen, die Decke, Türen und auch die Ausstattung dieses Gebäudes (wtr’wh wtṣbyth klh) zu Ehren der guten und hilfreichen Götter (l’bgl wlm’n) stifteten.²³ Das Gebäude als sichtbarer, funktionaler, aber auch reich geschmückter Anwesenheitsort der Götter wird hier thematisiert. Er ist nicht ein Ort unter freiem Himmel, sondern hat ein Dach, feste Türen und bietet Dingen, Göttern und Menschen einen Aufenthaltsort, u. a. zum
Wenig Vergleich ist möglich mit den Wohnhäusern als vom religiösen unterschiedenen Raum, da die Grabungen und Funde hier nicht weitreichend sind, vgl. Edmond Frézouls. A propos de l’architecture domestique à Palmyre. Ktema 1 (1976): 29 – 52. Schlumberger, La Palmyrène, 13 – 22; Fig. 2 und 5; Architekturteile und Funde 52– 62; Meyer, Palmyrena 2017 untersucht den Platz nicht neu. Schlumberger, La Palmyrène, 146 – 147, Inscr. Nr. 7 und 8, Pl. XXIII, 1. Die zweite ist in das Jahr 195 n.Chr. zu datieren; s. kurz Teixidor, Pantheon 1979, 80 – 83.
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Abb. 3: Raum religiöser Praktiken in Khirbet Semrine (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 5).
gemeinschaftlichen Essen und Trinken. Dieser physische Ort – so kann man aus Anordnungen, Ausstattung,Weihegaben und ihren Texten schließen – stellt einen Versammlungsort dar. In Khirbet Farouane befindet sich ein Gebäude, das nur aus zwei aneinandergebauten rechteckigen Räumen besteht, dessen Funde aber auf eine religiöse Funktion hinweisen (Abb. 5 a).²⁴ Es gibt keine Einbauten (bis auf Postamente), die eine Raumfunktion spezifizieren würden. Auch in der äußeren Erscheinung hat sich nichts erhalten, das auf eine Hervorhebung des Gebäudes deutet. Hier wiederum wird in einer Inschrift der Begriff qbt’ für eine nicht dauerhaft errichtete
Schlumberger, La Palmyrène, 25 – 26 mit Fig. 11; Funde 67– 68; Inschriften 156 – 158, Inscr. Nr. 39 – 44.
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Abb. 4: Blick auf einen der Banketträume in Khirbet Semrine mit dem Krater Abb. 13 (Schlumberger, La Palmyrène, Pl. IV, 1).
Behausung oder ein Zelt für den Aufenthaltsort der Gottheiten verwendet.²⁵ Auch wenn das Gebäude in Khirbet Farouane aus Steinen errichtet ist, steht dahinter die Beweglichkeit und die Fähigkeit der Palmyrener, deren Lebensweise sesshafte und mobile Elemente verband, temporär Orte zu schaffen, was auch für die sakralen Plätze gilt. In Khirbet es-Sane liegen fünf Räume aneinander, zwei von ihnen haben entweder eine Nische an der Rückwand (Raum A) oder einen zweiten Raum, der anschließt (Raum C); man fand hier zwar keine festen Einbauten für Bankette, Schlumberger, La Palmyrène, 158, Inscr. Nr. 43, Pl. XLV, 6; für qbt’ wird auf die Erklärung als „tente destinee a abriter l’image ou le symbole de la divinite“ verwiesen; Klaas Dijkstra. Life and Loyalty. A Study in the Socio-Religious Culture of Syria and Mesopotamia in the Graeco-Roman Period. Boston, Leiden: Brill 1995, 134.
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Abb. 5: Raum religiöser Praktiken. 5 a: Khirbet Farouane (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 47). 5 b: Khirbet es-Sane (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 14). 5 c: Khirbet es-Abu Duhur (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 16). 5 d: Bir Ouechel (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 18). Alle Pläne genordet.
jedoch Asche in einer Ecke von Raum A, die auf Nahrungszubereitung vor Ort hinweist (Abb. 5 b).²⁶ Reliefs zeigen Allat, Inschriften sind an Yarhibol adressiert, womit zwei Gottheiten anwesend sind, die man auch in Palmyra kennt.
Schlumberger, La Palmyrène, 36 – 37; Fig. 14, 2; Funde 78 – 79; Inschriften 162– 163.
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Ein Gebäude auf einer Anhöhe am Ostrand der Siedlung von Khirbet Abu Duhur (E) kann als Raum religiöser Praktiken benannt werden (Abb. 5 c).²⁷ Es besteht aus fünf Räumen, von denen zwei (D und E) gesondert zugänglich sind, A–C hingegen sind miteinander verbunden. Geht man davon aus, dass C nicht überdacht ist, so ist es ein Eingangshof, über den A und B zugänglich waren. Ein Relief für den Gott Malka fand sich in Raum A samt einem kleinen Altar oder Räucherständer. Am Westrand, wie auf einem Sporn, liegt eine Einraumanlage (A). Der Raum war gut verschließbar und hatte eine gemauerte Bank an der Rückwand, auf der Weihgaben gestanden haben können. Aus dieser Cella stammt eine Ritzzeichnung, die einen aufwändig gestalteten Tempelbau zeigt. Dieses Bild nennt keinen Gott, doch rufen in einer anderen Inschrift aus dem kleinen Heiligtum die Nutzer den Gott Salman an.²⁸ Realer und der in der Zeichnung abgebildete Bau unterscheiden sich deutlich voneinander, doch sind solche Bauten mit Satteldach und Giebel als Orte für Götter bekannt. Die Differenz von Wirklichkeit und Bild führen zu einer Überhöhung des Ortes in der Darstellung und ist materieller Anker für Imagination. Das Gebäude in Bir Ouechel schließlich unterscheidet sich insofern von den anderen, als die Lokalität näher an Palmyra liegt (Abb. 5 d) und es sich um einen Bau im Charakter eines Schutzbaus – eines Forts oder eines Khans – handelt. Die Ecken des ca. 19 x 19 m messenden Gebäudes sind verstärkt, und die Räume im Innern regelmäßig angeordnet, was für die bislang besprochenen Anlagen nicht zutrifft. In einem Raum (G) – sehr vergleichbar zu den bislang erwähnten religiösen Räumen – fanden sich Weihungen in Form von beschriebenen Steinobjekten sowie zwei Relieffragmente bzw. eine kleine Basis mit Relief, auf denen einmal ein Pferd, einmal eine Opfernde zu erkennen ist.²⁹ Eine Inschrift nennt auch einen gad, einen Gott oder Geist (s. u. 144– 147). Auf den beschriebenen Steinobjekten haben die Nutzer drei verschiedene Alphabete und die mit den Schriften bzw. dahinterstehenden Sprachen verbundenen gebräuchlichen Formeln verwendet. Dass Palmyrenisch und Aramäisch auf unbearbeiteten Steinen verwendet werden, ist nicht unüblich (s. u. 128, Abb. 6 a). Dass jedoch jemand auch Lateinisch auf einem solchen unbearbeiteten Stein schreibt, ist hier einmalig. Stein und Fels als Schriftträger kennt man aus der Hamada, der Steinwüste, wo eine altarabische Schrift (Ancient North Arabian, abgekürzt ANA, oft auch sprachwissenschaftlich nicht korrekt als ‚Safaitisch‘ bezeichnet) verwendet wird –
Schlumberger, La Palmyrène, 37– 41; Fig. 15; 16, 1; 45, 2; 47, 4; Funde 79 – 83; Inschriften 163 – 166. S. u. 146. Schlumberger, La Palmyrène, 46 – 48; Fig. 19; Funde 85 – 86; Inschriften 167– 168.
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Abb. 6 a: Steinplatte mit bi-skriptualen Inschriften in ANA und Palmyrenisch aus Bir Ouechel, die Namen und Aufruf des Gedenkens enthalten (Schlumberger, La Palmyrène, 168, Fig. 13. Inscr. Nr. 63 ter).
vergleichbar einem Felsgraffito.³⁰ Die dahinterstehenden Gruppen und Menschen leben (semi‐)nomadisch in der Steppe und Wüste, sind jedoch nicht als ethnische Gruppe zu verstehen.³¹ In diesem Fall findet sich eine lateinische Inschrift auf dem Stein (Abb. 6 b). Dass lateinische Schrift in Bir Ouechel auftritt, ist sowohl durch seinen befestigten Charakter als auch durch die Nähe zur Stadt Palmyra nicht völlig unerwartet. In Bir Ouechel zeigt die Parallelität dreier verschiedener Schriften die Anwesenheit verschiedener agierender Personenkreise, die zumindest auf unterschiedliche Traditionen zurückgreifen können, ohne ihnen zwingend anzugehören. Sie kombinieren Schriftsysteme auf Schriftträgern, die aus anderen Schreibtraditionen stammen, womit etwas über die Nutzer und wie sie den Raum verstehen, angedeutet ist. Auch wenn der Text zu schlecht erhalten ist, als dass man den Inhalt verstehen könnte, zeigt sich, dass die Nutzer unterschiedliche Schreib- und Dedikationstraditionen kombinieren, und damit wird die Dichte dieser Orte als Versammlungsorte, wie es oben in der Beschreibung von Architektur und Funden angeklungen ist, fassbar. Die Schriften und ihre Schriftträger – obwohl erstmal nur im Raum verortete Objekte – eröffnen viele Räume, Polytopien, in denen sich die in den physischen Räumen Zusammenkommenden
S. allgemein zu der Schrift und Sprache Michael C. A. McDonald. Ancient North Arabian. In The Cambridge Encyclopedia of the Worldʼs Ancient Languages, hg. von Roger D. Woodard. Cambridge: CUP, 2008, 488 – 533. Zur Sicht der historischen Kulturwissenschaften auf mobile Lebensweise und Zuschreibungen ethnischer Identitäten, s. Jeffrey C. Kaufmann. The Sediment of Nomadism. History in Africa 36 (2009): 235 – 264; s. auch Anna Lipphart. Der Nomade als Theoriefigur, empirische Anrufung und Lifestyle-Emblem. Auf Spurensuche im Globalen Norden. Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015): 32– 38.
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Abb. 6 b: Lateinische Inschrift aus Bir Ouechel (Schlumberger, La Palmyrène, 86, Fig. 38).
wiederfinden oder sich zumindest mit ihnen auseinandersetzen können. Identitätsverhandlung und Kommunikation stehen wieder als raumproduzierende Praktiken dahinter. Abgesehen von dieser Raumkonstituierung durch Objekt und Schrift bestehen die physischen Räume und das architektonische Muster, das sich für die auf dem Djebel liegenden Heiligtümer ausmachen lässt, in äußerlich nicht hervorgehobenen Ein- bis Mehrraumanlagen. Je weniger Räume, desto weniger spezifisch ist ihre bauliche Ausstattung. In den mehrräumigen Anlagen sind es Banketträume, die eine klare Nutzungszuweisung haben: Kochstellen und die Funde von Krateren, jenen großen Gefäßen mit weiten Öffnungen zum Mischen von Wein u. ä. (s. u. 134– 135; 139 – 142 und Abb. 4) sowie Reibesteinen zum Mahlen von Korn zeigen die Nutzung zur Herstellung von Speisen.³² Daneben scheinen Räume für die Aufstellung und oder Verwahrung von Bildern, Weihungen und anderen in religiösen Praktiken verwendeten Gegenständen ausgewiesen (Khirbet Semrine, Khirbet Abu Duhur), da sie teils verschließbar, teils mit Nischen in Wänden oder Bänken vor der Wand ausgestattet waren. Sie stellen in jeder der gezeigten Siedlungen einen Ort besonderer Bilderdichte und Schriftdichte dar. Bei Be-
Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 49 (drei aus El Mkemlé, vier von anderen Orten).
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schreibungen oder Bebilderungen sind es natürlich neben den Gottheiten, die dort zuhause sind, feste Bauten, Dekoration oder aber die mobile Behausung, das Zelt, der Wort- und Bildschatz, auf den die Dedikanten (es sind keine Frauen darunter) zurückgreifen. Auch wenn es üblich ist, dass gerade Baubezeichnung in Inschriften nicht der Wirklichkeit entsprechen, so sind diese Verschiebungen zwischen den nach außen nicht besonders gekennzeichneten, aber doch gemauerten Bauten und den Repräsentationen für die Frage der Produktion von religiösem Raum und der Frage von Zwischenräumen oder Brüchen, die wiederum die Aufmerksamkeit oder Wahrnehmungsmöglichkeiten steigern, von Bedeutung.³³ Die Differenzen können in dieser Weise auf die Nutzer*innen gewirkt haben und zeichnen ein Bild von den Praktiken in Bild, Bau und Schrift, die religiösen Raum produzieren oder konstituieren.
b) Bilder, Material und Schrift und ihre zeitübergreifenden Potentiale Die Fundstücke in den oben beschriebenen Räumen ermöglichen teilweise die Deutung als Räume religiöser Praktiken, wenn Einbauten wie die Banketträume fehlen. Diese Gegenstände, meist aus Stein, genutzt als Bild- und Schriftträger, ermöglichen Einblicke in eine Funktion oder Eigenschaft der Räume, die über ihre physische Präsenz hinausgehen und sich als zeitübergreifend erweisen. In Khirbet Semrine fanden sich viele Gegenstände im Raum F, der fast gegenüber dem Eingang liegt und nochmal extra verschließbar war. Darunter befindet sich eine Inschrift, die auf einem nicht weiter bearbeiteten Stein eingeritzt ist (Abb. 7 a): Mögen immer erinnert sein │ Abgal,│ seine Brüder und die Mitglieder seiner Familie │ von Yarhibol, │der (dem Gott) Abgal │die Autorität über (diesen) Platz │gab für immer. │Sei jeder, der │Abgal ehrt, │ auf immer erinnert […]³⁴
Ein gewisser Abgal mahnt, dass er und seine Familie hier erinnert werden sollen, und zwar von dem Gott Yarhibol. Auch ein Gott Abgal ist erwähnt, der die Autorität über den Platz von Yarhibol erhalten hat, worauf unten einzugehen sein wird.³⁵ Hier soll die Inschrift beleuchtet werden. Die Erinnerung bezieht sich auf eine Familie und ihren Vorstand, was eine Art generationenübergreifende Kon-
Außer in Khirbet Semrine sind kaum dekorierte Bauteile gefunden worden. Schlumberger, La Palmyrène, 144, Inscr. Nr. 2 ter. Teixidor, Pantheon 1979, 80. Zu Yarhibol und Abgal s. u. 129 – 131.
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zipierung dieser Weihung impliziert. Auch ist jeder einbezogen, der den hier verehrten Gott Abgal erinnert. Das Erinnern ist nicht nur ein zeitübergreifender Denkvorgang, sondern auch eine Praxis, wenn in unserem Zusammenhang ein Opfer gebracht wird. Das Erinnern reicht zurück und deutet in die Gegenwart bzw. greift es auch in die Zukunft durch die Möglichkeit immer wieder, mit jeder*m neuen*m Besucher*in, an Abgal zu erinnern.³⁶ Aus Khirbet es-Sane kennen wir einen ähnlichen Stein. Er wurde „sur un mur“ im Raum A des mehrräumigen Heiligtums gefunden, dessen Rückwand eine Nische aufweist.³⁷ Er trägt, im ANA-Alphabet geschrieben, die Aufschrift eines Namens (Munim) und in Palmyrenisch folgende Aussage (Abb. 7 b): Erinnert werde Taimallat, (Sohn des) Raimarsu, im Guten. Er ist ebenfalls völlig unbearbeitet, wurde aber in diesem Zustand in den Raum hineingetragen, um dort durch die Inschrift die Erinnerung an Taimallat aufrecht zu erhalten. Das heißt, dass auch dieser Gegenstand mehrfach beschrieben wurde, mit Inschriften, die so erst einmal nicht aufeinander Bezug nehmen, die aber zeigen, wie sukzessive ein und derselbe Stein weiterdediziert, weiter genutzt wurde. Mehrere solcher Steine, teils auch nur leicht bearbeiteter Steinobjekte, sind in Bir Ouechel gefunden worden (s. o. 126 – 128, Abb. 6 a). Auf einer kleinen Steinscheibe liest man im ANA-Alphabet (‚Safaitisch‘) auf einer Seite eine Inschrift für Wahb: Für Wahb, (Sohn des) Kawn, vom Stamm der Awkat. Und er hat ein Zeichen für Anam, Sohn des Sakim gemacht. Die palmyrenische Inschrift auf der anderen Seite, die stark fragmentiert ist, erwähnt wieder das Gedenken (Möge man des Mal […] gedenken).³⁸ Die Verbindung von zwei Alphabeten und – sehr wahrscheinlich – unterschiedlichen Personen, die sich mit Wünschen und Bitten verewigen, auf ein und demselben Objekt spiegelt die Gleichörtlichkeit, die Homotopie des Ungleichzeitigen wieder, die zu einem Ort von Kommunikation und Identitätsbildung durch Familienzugehörigkeiten passen. Ohne das Schriftsystem zu ändern, haben mehrere Personen einen Miniaturaltar in Khirbet es-Sane, dessen sakrale Architektur oben schon zur Sprache kam, beschrieben (oder beschreiben lassen). Drei Seiten sind mit unterschiedli-
S. u. 133 – 134 mit Abb. 9 zu den Weihrauchaltären von Khirbet Semrine. Zu dieser Formel s. Anne Katrine de Hemmer Gudme. Before the God in This Place for Good Remembrance. A Comparative Analysis of the Aramaic Votive Inscriptions from Mount Gerizim. Berlin, Boston: De Gruyter, 2013, 91– 134, bes. 114– 125, die ausgehend von Mount Gerizim auch die Tradition der Formeln untersucht; John F. Healey. ‘May He be Remembered for Good’: An Aramaic Formula. In Targumic and Cognate Studies: Essays in Honour of Martin McNamara, hg. von Kevin J. Cathcart, Michael Maher. Sheffield: Sheffield Academic Press, 1996, 177– 186. Schlumberger, La Palmyrène, 78 – 79, Fig. 13. Schlumberger, La Palmyrène, 168, Inscr. Nr. 63 bis und ter.
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Abb. 7 a: Unbearbeiteter Stein (h. 43 cm) aus Khirbet Semrine mit Inschrift für den Gott Abgal und ‚erinnert-sei‘-Formeln in Palmyrenisch (Schlumberger, La Palmyrène, 54, Nr. 13 quater, Inscr. Nr. 2 ter, Pl. XLII, 1).
chen Inschriften versehen (Abb. 8). Auf Seite A und B wenden sich Stifter an einen weiteren Gott, Yarhibol: A: Möge man sich erinnern an… │ Sohn des Sawqan … │als Ehrung an Yarhibol │ möge man ihrer gedenken und sie segnen (?) und B: möge man sich erinnern an … │ der den Altar gemacht hat….als Ehrung an │ Yarhibol.
Auf der dritten Seite ist nur noch die ‚erinnert sei‘-Formel erhalten (‚…möge man sich erinnern an…‘).³⁹ Auch in dieser Weihung findet eine Fortschreibung von Dedikationen durch verschiedene Personen statt. Eine solche Fortschreibung, die das zeitlich versetzte Aufeinander-Bezug-Nehmen von verschiedenen Personen an
Schlumberger, La Palmyrène, 79, Altar Nr. 11; 162, Inscr. Nr. 52 ter.
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Abb. 7 b: Steinplatte aus Raum A in Khirbet es-Sane (h. 53 cm) mit bi-skriptualer Inschrift mit Namen (oben, Palmyrenisch) und einer ‚erinnert sei‘-Formel (unten, ANA) (Schlumberger, La Palmyrène, 69, Nr. 13, Inscr. Nr. 54 a und b, Pl. XLII, 3).
einem Ort bedeutet, muss nicht auf einem Objekt geschehen, wie das nächste Beispiel zeigt. In Khirbet Semrine sind es sechs kleine Altäre aus dem Heiligtum, an denen sich dieser Prozess des Aufeinander-Bezug-Nehmens feststellen lässt (Abb. 9). Die Dedikanten haben dort zwischen 111 und 270 n.Chr. – also über ca. fünf bis sechs Generationen hinweg – Altäre aufgestellt, die sich stark in Größe, Form und Gestaltung gleichen: Ihre Größe variiert nur geringfügig zwischen 41 bis 51 cm Höhe und 21– 23 cm Breite an der Basis. Sie alle haben oben eine Kuppel, wo die meisten von ihnen auch Spuren von Kalzinierung zeigen, d. h. sie waren Feuer, kleinen Brandopfern, ausgesetzt. Ihre Übereinstimmung ist auffallend, und ihr homogenes Erscheinungsbild wird durch den physischen Ort der Inschrift wie auch durch die Formeln der Texte (ohne Rahmen oder dekorative Elemente) betont. Die Texte sprechen – neben sogenannten ‚kleinen Götter‘, auf die unten einzugehen sein wird – verschiedene Akteure und Gruppen an, die ‚in Erinnerung bleiben‘ oder
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Abb. 8: Miniaturaltar (h. 13 cm) aus Khirbet es-Sane mit drei unterschiedlichen Inschriften (Schlumberger, La Palmyrène, 79, Cippus Nr. 11, Inscr. Nr. 52 ter, Pl. XXXVI, 3 – 5).
‚für immer in Erinnerung bleiben‘ wollen. Nicht nur die Widmungsträger, sondern auch andere Personen – in den meisten Fällen engere Familienmitglieder oder weitere Verwandten – werden in die Segnungsformel einbezogen. Die Personen, die diese Altäre geweiht haben, beziehen sich auf eine Gruppe und setzen sich durch Texte und die Praxis des Opferns über den einen individuellen Akt des Opfers hinaus in Beziehung zu weiteren, nachfolgenden Personen. Durch Praktiken an immer demselben Ort versammeln sich – wenn man so sagen möchte – unterschiedliche Zeiten an ihm. Ereignisse aus unterschiedlichen Zeiten akkumulieren und lagern sich ab. Nicht nur auf den meist unbearbeitete Steinen kommen bi-skriptuale Inschriften vor, sondern auch auf einer ganz anderen Art von Objekten, nämlich auf Steingefäßen, die bis zu 60 cm Durchmesser erreichen können.⁴⁰ Ihr Zweck als Gefäß, das beim Bankett verwendet wird und zum Mischen und Darreichen von Getränken dient, ist durch Form und Fundort klar:⁴¹ In Khirbet es-Semrine fand
Françoise Briquel-Chatonnet. Un cratère palmyrénien inscrit: Nouveau document sur la vie religieuse des palmyréniens. In ARAM Fifth International Conference (Oxford University, 25 – 28 September 1995): Palymra (Tadmor). Aram Periodical 7 (1995): 153– 163. Der palmyrenische Begriff ist marzeha,Versammlung mit Symposium mit einer oft definierten Gruppe. Die Gefäße werden als gn ‚krater‘ or gbt ‚Gefäß‘ bezeichnet. Zu kultischen Banketten s. z. B. Rubina Raja. Cultic Dining and Religious Patterns in Palmyra: The Case of the Palmyrene Banqueting Tesserae. In Antike. Architektur. Geschichte. Festschrift für Inge Nielsen zum 65. Geburtstag, Band 2, hg. von Stephan Faust, Martina Seifert, Herzogenrath: Shaker, 2015, 181– 200; Ted Kaizer. Man and God At Palmyra: Sacrifice, Lectisternia and Banquets. In The Variety of Local
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Abb. 9: Altäre aus Khirbet Semrine (Schlumberger, La Palmyrène, Inscr. Nr. 14 – 17; Pl. XXIV).
sich ein vollständig erhaltenes Steingefäß in einem der Banketträume (Abb. 4) Ein weniger gut erhaltenes Stück trägt jeweils Inschriften auf dem Rand in Palmyrenisch und auf dem Körper im ANA-Alphabet. Auf dem Rand ist eine Dedikation für das Leben des Odenath zu lesen (möglicherweise ist der palmyrenische König im 3. Jh. n.Chr. gemeint), und auf dem Körper gibt eine Inschrift in ANA Aufschluss über den Inhalt – ein fermentiertes Getränk (Abb. 10).⁴² Die oben schon erwähnte Steinplatte aus Khirbet Abu Duhur, in die eine Szene mit Tempel, Gottheit und Dedikanten eingeritzt ist, zeigt eine weitere Möglichkeit Objekte und Dedikationen fortzuschreiben. Hier sind vier Inschriften – im gleichen Schriftsystem – in den Ecken des unregelmäßigen Bildfeldes verbunden (Abb. 11).⁴³ Der Tempel mit Säulen und dekoriertem Giebelfeld beherbergt
Religious Life in the Near East in the Hellenistic and Roman Periods, hg. von id. Boston, Leiden: Brill, 2008, 179 – 192. Schlumberger, La Palmyrène, Inscr. Nr. 21 bis; auf dem Körper des Kraters steht Nr. 36, die das Getränk nennt. S. o. 127– 134. Schlumberger, La Palmyrène, Inscr. Nr. 55 A–F: links unten unterhalb des Reiters vier Namen untereinander geschrieben (Wardan, Barowa, Meherdat, Ambakra) (55 A); rechts neben dem Kopf der rechten Person am Altar: Bild des Moqimu, (Sohn des) Yarhibol (55 B); auf der linken Seite über dem Reiter: Mögen erinnert sein Wardan und Baroqa und Ambakra (55 C – Bezug zu 55 A über die Namen); rechts oben neben dem Tempeldach steht senkrecht: Mögen erinnert sein Zaqu, (Sohn des) Hairan, (Sohn des) Sahra …. im Monat Ab, am 15. Tag im Jahr 458. Nicht im
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Abb. 10: Krater aus Khirbet Semrine mit bi-skriptualer Inschrift (ANA und Palmyrenisch) (Schlumberger, La Palmyrène, 60, Krater Nr. 36; Inscr. Nr. 21 bis).
einen sitzenden Gott, der den linken Arm erhebt. Seitlich des Tempels stehen zwei Altäre, denen wiederum je eine männliche Person zugeordnet ist. Eine Person nähert sich dem Altar und dem Tempel von links, die andere steht vor dem Altar, auf dem sie etwas darbringt. Neben dem Kopf des Gottes im Tempel stehen vier Inschriften in Palmyrenisch. Links unten stehen vier Namen, von denen drei unter dem Reiter wiederholt sind. Über dem Dedikanten rechts neben dem Tempel lautet die Inschrift: Bild von Moqimu, (Sohn des) Yarhibola. In der rechten oberen Ecke erinnert eine sechszeilige Inschrift an Zaqu, im Jahr 147 n.Chr., und in einer letzten Zeile, die später hinzugefügt worden zu sein scheint, weil normalerweise das Datum die letzte Zeile in dieser Art von Inschriften einnimmt, soll an diejenigen erinnert werden, die den Ort besuchen. Mit der allgemeinen Bemerkung,
gleichen Schreibakt ist hinzugefügt, da nach der Datierung, erinnert sei Moaira (55 D); auf dem Sattel des Pferdes: zwei unleserliche Zeilen (55 E), neben dem Kopf des Gottes ein ʻb’.
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Abb. 11: Steinplatte mit Ritzzeichnung eines Tempels, eines Gottes und von Dedikanten, h. 52 cm, b. 58 cm, 147 n. Chr. (Schlumberger, La Palmyrène, 79, Nr. 1, Inscr. Nr. 55).
dass jeder in guter Erinnerung bleiben soll⁴⁴, werden alle Besucher in den Segen einbezogen. Es scheint, dass nicht alle diese Texte geplant waren, als das Bild in den Stein eingraviert wurde. Auch wenn man anhand der Abbildungen keine Schreiberhände unterscheiden kann, sind drei der Inschriften inhaltlich und kompositorisch unverbunden. Das Ritzbild – auch wenn wir nicht genau wissen, in welchem Kontext es aufgestellt war – ist zu keinem Zeitpunkt fertig oder unantastbar⁴⁵, sondern wird Teil nachfolgender Handlungen und Wünsche unterschiedlicher Personen, indem es nach und nach beschriftet wird. Es sind zwei Erinnerungsinschriften, einmal konkret für eine Person, das andere Mal für alle, die diesen Ort besuchen. In den anderen Inschriften wird das Bild einer Person erwähnt oder es werden einfach nur vier Namen eingeritzt.⁴⁶
S.o. Anm. 36. Drijvers, Religion 1976, 14. Pl. XXVI, 1. S.o. Anm. 41.
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c) Religiöse Räume als Heterochronotopoi Manche der bi-skriptualen Inschriften oder der Bildobjekte in den Heiligtümern, die Palmyrenisch und das ANA-Alphabet kombinieren, aber auch nur Palmyrenisch geschriebene Weihungen oder Bildobjekte wie das zuletzt beschriebene, veranlassen einige Nutzer, sie weiterzuschreiben. Am Aufstellungsort, wo eine Dedikation grundsätzlich schon die Verlängerung des Moments der Weihung in etwas Dauerhaftes bedeutet⁴⁷, stellt diese Fortschreibung eine Verstärkung dar. Erinnerungs-, Ritual- und Kommunikationsprozesse werden so fortgesetzt und verbinden unterschiedliche Momente in der Zeit mit dem Objekt, das im Raum verortet ist. Bestehendes nehmen die Schreiber und Dedikanten auf, beziehen sich zurück (Vergangenheit) und führen es fort (Zukunft) im Moment ihrer Weihung (Gegenwart). Dies gelingt nur durch die verorteten Steinobjekte, die damit den Heiligtümern eine überzeitliche Konnotation geben. Es fallen in diesen fortgeschriebenen Objekten Zeit und Ort zusammen. Dies erlaubt, hierbei von einem Heterochronotopos zu sprechen.⁴⁸ Auch konstitutieren und verbinden die Formeln in einer bestimmten Weise verschiedene Bereiche der Raumzeit, da sie zum einen die Affiliationen der Beteiligten enthalten. Hier zieht sich Vergangenheit in Gegenwart und verweist auf die Zukunft (wobei das auch für Inschriften in anderen Kontexten wie etwa Gräber zutreffen kann). Doch sie verbinden auch durch die Aufforderungen im Imperativ des ‚erinnert sei‘ eine Gegenwart mit einer Zukunft: Als Besucher*in soll man angesichts der Inschrift bzw. im gegenwärtigen Moment des Lesens daran denken, einer bestimmten Person zu gedenken. Die Orte, an dem diese Wünsche von Menschen Gestalt angenommen haben und sichtbar gemacht werden, haben so einen heterochronotopen Charakter. Eine Besonderheit der palmyrenischen Inschriften ist die explizite Nennung dessen, was man tut, der Bezug auf rituelle Praktiken. 20 von 35 Inschriften sagen bd (‚machen‘), fünf sagen qrb (‚darbringen‘).⁴⁹ Dazu kommt die zeitübergreifende Zu Votiven bzw. Opfern als Strategie s. z. B. Jörg Rüpke. Gifts, Votives, and Sacred Things: Strategies, Not Entities. Religion in the Roman Empire 4 (2018): 207– 236. Raum wird nur diachron produziert: Soja, Thirdspace, 72. S. Frohnapfel-Leis, González Athenas, Zum Konzept der Zwischenräume, 6, die „… miteinander verschränkte Arten von Räumlichkeit (vertikal, horizontal, sich ausdehnend, etc.) und Zeitlichkeit (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Gleichzeitigkeit, etc.)“ thematisieren. Im Vergleich z. B. mit den Inschriften vom Djebel Rum in Südjordanien enthalten dort die Inschriften nur den Namen des Weihenden und des angesprochenen Gottes, s. Anna-Katharina Rieger. Loose Bonds and Porous Boundaries among Mobile People as Religious Agents in the Greco-Roman Arabian Desert. Religion in the Roman Empire 3 (2017): 11– 49, bes. 15 – 21; Gudme, Before the God, 114– 115, 120.
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Formulierung, die nicht Palmyra-spezifisch ist, dass dies aus einem Akt der Dankbarkeit heraus gemacht wurde (mwd).⁵⁰ Die Worte referieren auf ein vergangenes Geschehen, für das man jetzt dankbar eine Weihung an die unterstützende Gottheit darbringt. Eine Inschrift verweist auf das in der Vergangenheit gegebene Versprechen, etwas zu stiften und zu weihen ndr (‚Gelübde‘, votum).⁵¹ Die üblichsten Weihinschriften sind die ‚Erinnerungsinschriften‘, die Individuen, Familien, aber auch alle, die vor Ort sind und die Inschrift lesen, einschließen.⁵² Die Wirkmacht der Inschriften wird übertragen auf erweiterte Gruppen, die über den Ort und die Personen hinausreichen, die anwesend sind.⁵³ Auch Götter beziehen die Menschen in die Wünsche, erinnert zu werden, ein: Drei Inschriften von Khirbet Abu Duhur und Khirbet Semrine besagen, dass die Götter Segen und Erinnerung erfahren sollen.⁵⁴ Das Netz aus Bezügen von jenen, die verehren, die erinnert werden, die erinnern – kurz aller Dedikanten, Genannten oder Dargestellten und den Gottheiten⁵⁵ – wird in den Altären, den Reliefs, den unbearbeiteten Steinen und den Krateren, auf denen Bilder und Inschriften verewigt sind, manifest. Diese Bezüge erfassen nicht nur soziale, zwischenmenschliche Kontakte, sondern funktionieren nur unter Einbeziehung der Götter und in der Verdichtung der Kommunikation über die Objekte in den Räumen religiöser Praktiken. Diese physischen Orte in den Siedlungen der Palmyrene stellen durch die architektonische Anordnung und die Funktionen der Räume, ihre Ausstattung, das Aufstellen von Weihegaben und Objekten mit Texten Kristallisationspunkte dar, an denen Zeit und Raum zusammenfallen. Es können hier ‚Gleichorte‘,
Dijkstra, Life and Loyality, 16 – 17. Gudme, Before the God, 115, 122; Ted Kaizer. Religious Mentality in Palmyrene Documents. Klio 86 (2004): 165 – 184, hier 183. Gudme, Before the God, 122 zählt fünf Inschriften, in denen die Dedikanten nicht die sind, an die man sich erinnern soll. In Palmyra selbst wiederum ist die ‚erinnert sei‘-Formel seltener als die ‚für das Leben von‘ (‘l hyy), Gudme, Before the God, 115 – 116. Die Annahme, dass diese Bezüge mono-direktional sind (Gott-Dedikant, damit sich die Gottheit erinnert), wie Gudme Before the God, 122 meint, greift zu kurz. Vielmehr gibt es Bezüge auch zu den Angehörigen, zu denen, die die Inschrift lesen usw. Schlumberger, La Palmyrène, 144, Inscr. Nr. 2 ter (Khirbet Semrine); 165, Inscr. Nr. 56: Salman; Malka in Inscr. Nr. 57 (Khirbet Abu Duhur). Beschreibung vom Weihrauchverbrennen bei einem Fest in Edessa z. B. bei Pseudo-Joshua, der Stylit, Chronicle, 30. Lucian, De Dea Syria 30 spricht von den „Düften Arabiens“ in Hierapolis; Kaizer, Man and God, 181– 183; Kaizer, Religious Life, 25.
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‚Homotopoi‘⁵⁶ im Zusammenfallen des Ungleichzeitigen entstehen, die mehr als Heterotopoi sind und somit als Heterochronotopoi bezeichnet werden können. Die Darstellungen der Opferpraktiken, die oft darin bestehen, dass jemand Weihrauch auf den kleinen Brandaltar streut, erinnern an die konkrete Handlung sowie ihre praktischen und sensorischen Umstände. So tritt in der Wiederholung dieser Akte auch das Gleichzeitige des Ungleichzeitigen zutage. Die Bilder und Inschriften, die Aufforderungen zu erinnern und die Erinnerung an schon vollzogene Opfer machen diese Räume zu Archiven der Rituale, der dauerhaften Kommunikation mit den Gottheiten. Die Orte sind eine Verdichtung von Bild, Objekt, Architektur und Menschen, die hier zusammenkommen.⁵⁷ Abgesehen von dem Einblick in die Mähler, die in den Räumen eingenommen wurden – Küchen sind ebenso erhalten – gibt die Verwendung von zwei Schriftsystemen auf ein und demselben Gefäß Aufschluss darüber, wie die Praktiken der Menschen, die hier zusammen kamen, den Raum konstituiert haben können. Es sind Leute, die beiden Schriften eine Bedeutung beimessen, sie am Ende auch schreiben können bzw. Personen kennen, die dies tun. Beide Schriftsysteme sind gleichberechtigt, auch wenn sie an unterschiedlichen Stellen des Gefäßes stehen, vermitteln aber unterschiedliche Inhalte: die Adressaten und die Botschaft. Kommunikation läuft hier über ein Objekt, das in einem Raum aufgestellt war, in oder aus verschiedenen Richtungen. Zudem ist eine Mehrfachbeschriftung oder gar -dedizierung möglich – mit welchem zeitlichen Abstand, lässt sich nicht sagen, aber die Bezugnahme ist klar. Auch auf den Objekten versammelt man sich buchstäblich. Im Wortsinne kommen verschiedene Akteure zusammen, die sich jedoch durch die Wahl des Alphabets und der damit verbundenen Ausdrucksweisen bewusst differenzieren, wodurch die Öffnung von Zwischenräumen ermöglicht wird.⁵⁸ Der Schreiber lässt offen bzw. weiß nicht, wer den Text lesen kann, ob man sich versteht oder nicht. Die Heiligtümer als Orte der Zusammenkünfte und Kommunikation können sich so durch die vielfältigen Schriftsysteme in Zwischenräume aufgliedern.
‚Homotop‘ im Sinne eines homogenen Ortes verwenden Hamid Tafazoli, Richard Gray. Einleitung: Heterotopien in Kultur und Gesellschaft. In Aussenraum – Mitraum – Innenraum. Heterotopien in Kultur und Gesellschaft, hg. von idd. Bielefeld: transcript, 2012, 7– 34. Ich verstehe ihn als ein und denselben Ort, an dem viele Zeitebenen zusammenfallen. Hierin ist ein Anklang an die Beispiele von Heterotopien bei Foucault wie Bibliotheken, Museen usw. zu finden. S. den Beitrag von Meret Strothmann, Im Zentrum steht die Magie. Zu religiösen Räumen zwischen Heiden und Christen in der römischen Antike, in diesem Band 155 – 185, bes. 161– 162 zu Magie als Zwischenraum, der sich … über den „hybriden Raum“ der Kommunikation fassen lässt.
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d) Lokozentrische Götter – Hierarchien, Kompetenzen und Bezüge der göttlichen Akteure Verschiedene Gottheiten sind auf den besprochenen Bild- und Schriftobjekten schon mehrfach genannt worden – auch ihr spezielles Verhalten bzw. ihre speziellen Möglichkeiten und Zuständigkeitsbereiche. Doch dies gilt eher für die sogenannten ‚kleinen‘ Gottheiten. Die ‚großen‘, die eine weitere Verbreitung haben, und die man auch in der Oasenstadt Palmyra im Süden des Djebel antrifft, haben die bekannten Kompetenzen oder Erscheinungsbilder. Doch die räumlichen Bezüge oder Anbindungen der Gottheiten sind hier ein Schlüssel, ihre Eigenart und Bedeutung zu erkennen und die Präsenz so vieler unterschiedlicher Gottheiten im Djebel und der Oase zu erklären. Ohne auf die Vielzahl an Gottheiten eingehen zu können, nehme ich die heraus, die an Raumkonstruktion, -produktion und -imagination beteiligt sind. Ein Gott, der auch in Palmyra selbst bekannt ist, ist Yarhibol. Er wird in einer besonderen Rolle in der Inschrift aus Khirbet Semrine genannt, die oben schon zur Sprache kam (Abb. 7 a): Er hat dem Gott Abgal die Autorität oder Verantwortung über den Platz für immer gegeben.⁵⁹ Neben der aktiven Rolle, die Yarhibol hier einnimmt, zeichnet sich auch klar eine Hierarchie unter den Göttern ab: Yarhibol kann Autorität verteilen, ist dem Abgal also übergeordnet.⁶⁰ Wer ist aber nun dieser Abgal, dem die Verantwortung für Khirbet Semrine übertragen wird? Ein Relief, das eine Inschrift auf dem unteren Rand trägt, den Stifter und den Besitzer des Gebäudes (Abb. 12), lautet wie folgt: Bild des Abgal, Sohn des Sa’ru │ Das Gebäude ist gemacht von Abgal │für Abgal den Gott │In einem Akt der Dankbarkeit, im Monat Adar 510. ⁶¹ Das Relief ist tief gearbeitet und hat im jetzigen Zustand keinen bearbeiteten Rahmen. Es könnte in einer Wand eingelassen gewesen sein. Es zeigt links einen Mann in einem kurzärmeligen, langen Gewand auf einem Pferd, der sein Gesicht dem Betrachter zuwendet, rechts steht frontal eine Person, deren Kopf verloren ist. Auch sie trägt ein langes Gewand, das die Arme bedeckt, und sie streut Weihrauch auf einen mit zungenartigen Blättern verzierten Ständer. Der Kopf des Reiters ragt über den oberen Rand des Bildfelds hinaus, was bei der rechts stehenden Person nicht der Fall ist.
S.o. 129 – 131; Kaizer, Religious Mentality, 173 – 174 versteht einen in dieser Weise aktiven Gott als ein Resultat von Gelübden oder Orakeln und zieht dazu noch einige griechische, aber sehr fragmentierte Texte hinzu, was m. E. nicht plausibel ist. Yarhibol spielt auch in Khirbet es-Sane eine Rolle, wo er auf dem kleinen Altar (s. o. 129 – 133 mit Abb. 8) mehrfach als Adressat von Verehrung genannt wird, s. Schlumberger, La Palmyrène, Nr. 11, Inscr. Nr. 52 ter. Eine aktive Rolle ist ihm hier nicht zugedacht. Schlumberger, La Palmyrène, 55, Relief Nr. 14 ter; 145, Inscr. Nr. 3.
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Abb. 12: Relief mit Inschrift aus Khirbet Semrine (Schlumberger, La Palmyrène, 55, Relief Nr. 14 ter, Inscr. Nr. 3).
Gottheiten werden in dieser so genannten Bedeutungsgröße dargestellt, sodass die in der Inschrift genannten beiden Personen namens Abgal, der Gott und der Stifter, hier beim Akt des Opfers gezeigt sein dürften. Abgal erscheint als mobiler Gott, der nicht ortsfest, sondern „multi-sited“⁶² sein kann. Mobilität wird hier im Bild durch das Reittier gezeigt, das räumliche Distanzen zu überwinden erleichtert. Dies ist auch der Fall für andere Gottheiten in und um Palmyra, das in Bezug auf das Handelsnetz der Palmyrener ein häufig benutztes Bildmotiv, das jedoch auf dem Djebel vielmehr die Konnotation der semi-nomadisch lebenden Bevölkerung hat, deren Gott das Gebiet mit seinen Distanzen überschaut. Zu Abgal in dieses Heiligtum kommen Menschen, um zusammen zu essen, ein vollständig erhaltenes Steingefäß fand sich in einem der Banketträume (Abb. 13), auf dessen Rand sein Name eingeschrieben ist.⁶³ Eine weitere Gottheit, die zwei Personen in Khirbet Abu Duhur mit einem Weihrelief ehren, ist der Gott Malka. Die beiden Ehrenden beschreiben ihn als gut und barmherzig (Abb. 14): Zu Ehren des Malka, des Guten und Barmherzigen, haben dieses Relief Anam und Balai, gemacht, für ihre Gesundheit │ im Monat Reinhard Bernbeck. An Archaeology of Multi-Sited Communities, in: The Archaeology of Mobility. Old World and New World Nomadism, hg. von Hans Barnard, Willeke Wendrich. Los Angeles: The Cotsen Institute of Archaeology at UCLA, 2008, 43 – 77. S. Schlumberger, La Palmyrène, Pl. IV, 1. 3. Nr. 35; Inscr. Nr. 20. In Khirbet Semrine fanden sich sechs solcher Kratere, ø ca. 30 – 60 cm.
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Abb. 13: Krater an Abgal aus Khirbet Semrine (Schlumberger, La Palmyrène, 60, Krater Nr. 35; Inscr. Nr. 20).
Sebat, im Jahr 573 (262/63 n.Chr.). Die Stifter stehen im rechten Bildviertel in langen Gewändern, deren Überwurf sie jeweils mit der linken Hand an der Hüfte halten. Drei göttliche Wesen, anhand ihrer Attribute und Begleiter als solche zu erkennen, füllen den Rest des langrechteckigen Bildfeldes, an dessen unterer Leiste sich die Inschrift findet. Auch wenn nur Malka im Text genannt wird, sind drei weitere Gottheiten dargestellt: eine thronend, von Tieren flankiert, eine auf einem von zwei Capriden gezogenen Wagen und eine mit Flügeln auf einem Mischwesen reitend. Sie sind einmalig in der Ikonographie Palmyras.⁶⁴ Singuläre Ikonographie spricht für eine ortsgebundene Vorstellung von Gottheiten (auch wenn sie immer durch eine Lücke in der Überlieferung als solche erscheinen kann). Wenn auch mobil, so sind sie singuläre Vorstellungen göttlicher Akteure, die auf die Siedlungen im Djebel beschränkt sind. In Khirbet Farouane sind spezielle, teils auch mehrfach vorkommende göttliche Akteure präsent. Auf einem Relief, das in Raum A des Heiligtums gefunden wurde, stehen sieben davon in Reih und Glied nebeneinander (Abb. 15); sie sind bewaffnet bis auf die rechts außenstehende einzige weibliche Figur. Der Stifter,
Schlumberger, La Palmyrène, 82 f., Nr. 9, 123, Pl. XXXVIII; s. auch Jósef T. Milik. Dédicaces faites par des dieux (Palmyre, Hatra, Tyr) et ses thiases sémitiques a l’époque romaine. Paris: Geuthner, 1972, 199 zum Addressaten.
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Abb. 14: Relief aus Khirbet Abu Duhur mit der Darstellung von drei Göttern und zwei Dedikanten, h. 53 cm, l. 100 cm, 262/63 n. Chr. (Schlumberger, La Palmyrène, 82, Relief Nr. 9, Inscr. Nr. 57, Pl. XXXVIII).
Abb. 15: Relief aus Khirbet Farouane, dem antiken Beit Phasiel, l. 74 cm, 191 n. Chr. (Schlumberger, La Palmyrène, 67, Relief Nr. 1, Inscr. Nr. 39).
der auch in der Inschrift genannt wird, steht, wieder etwas kleiner dargestellt, links außen und streut Weihrauch auf einen Altar:
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Abb. 16: Altar aus Khirbet Farouane, h. 51 cm, 238/9 n. Chr. (Schlumberger, La Palmyrène, 63, Cippus Nr. 7, Inscr. Nr. 42). Tamia, (Sohn des) Zakaya hat dies für die gny der Siedlung Beth-Phasiel, die guten und │wohltätigen Götter, gemacht, für seine Gesundheit und die Gesundheit seiner Brüder/Familie, im Monat Kanun │ im Jahr 503 (191 n.Chr., November).⁶⁵
Deutlicher als in dieser homogenen und schutzversprechenden Reihung (halb‐) göttlicher Akteure kann der Ort kaum personifiziert sein. Allerdings bleiben sie einzeln unspezifiziert, sie sind anonym, aber nicht atop, nicht ortlos. Der Ort der Siedlung, verbildlicht auf dem Stein in dem Heiligtum, und die Akteure, die den Ort repräsentieren, die ginnaya als so etwas wie die Geister des Ortes, fallen hier zusammen. Demselben gny des Platzes dankt Abdibel am diesem Ort, doch fügt er auch den Gad der Gärten hinzu.⁶⁶ Diese Inschrift, die auf einem kleinen Altar steht, ist etwas später zu datieren (Abb. 16): In einem Akt der Dankbarkeit │ Abdibel, an den guten und wohlwollenden Gad │der Siedlung und den Gad │der Gärten │im Jahr 550. (238/39 n.Chr.) Ein gd der Siedlung wird auch auf einer Reliefstele aus Khirbet Ramadane genannt und abgebildet.⁶⁷ Die männliche oder weibliche, langgewandete Figur ist nicht bewaffnet wie in Khirbet Farouane. Daneben gibt an dem Ort auch die bekannten großen Götter, Aglibol und Malakbel, mit denen man aber nicht für die
Schlumberger, La Palmyrène, 156, Inscr. Nr. 39. Schlumberger, La Palmyrène, A 7, Inscr. Nr. 42. Schlumberger, La Palmyrène, Inscr. Nr. 51; Pl. XXXV, 1. Khirbet Ramadane ist hier nicht weiter beschrieben, s. Schlumberger, La Palmyrène, 34– 35.
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speziell die Siedlung und die Felder betreffende Unterstützung kommuniziert.⁶⁸ Sie scheinen eine allgemeinere, weniger ortsbezogene Funktion zu haben – sie sind ja auch mit dem gleichen unspezifizierten Namen an verschiedenen Orten anzutreffen. So sind die ginnaya und die gadde Akteure, die sich für die Orte verantwortlich fühlen (sollen), die für einen Ort zuständig sind und Glück und Wohlwollen ihm und damit auch seinen Bewohner*innen entgegenbringen.⁶⁹ Sie sind nicht die oberste Klasse der Götter, die eine auch überregionale Namensgebung und Bedeutung besitzt, wie z. B. Allat. Vielmehr sind es das arabische Wort djinn (Geist, Kraft) oder das lateinische Genius, die im aramäischen gny anklingen. gd bedeutet so viel wie Herr/Herrin, aber auch Glück und Schutzmacht. So werden z. B. die Göttinnen der Städte Hatra oder Palmyra oder Dura als gadde bezeichnet. Abgal, der Gott in Khirbet Semrine wird allerdings sowohl mit dem Aramäischen Wort für Gott lh (Gott) bezeichnet als auch als gny. ⁷⁰ Er steht damit möglicherweise als auch namentlich benannter Akteur über den ginnaya – den Geistern des Ortes. Die Menschen benennen diese guten Geister auch auf den Krateren, die beim Mahl verwendet werden, wie es auf einem Exemplar aus Bir Ouechel der Fall ist. Auf einem Teil des Randes des fragmentierten Gefäßes lässt sich noch die palmyrenische Inschrift (…) Gott und den Gad von Naum (…) lesen.⁷¹ Ebenso sind die ginnaya die Adressaten von Inschriften auf den oben schon erwähnten kleinen Weihrauchaltären in Khirbet Semrine, die sehr einheitlich gestaltet sind. Auf einem spricht ein gewisser Salman helfende ginnaya an (Abb. 9): Diesen Altar hat │ Salman, Diener │ des Ogeilu (Sohn des) Kilayon │ den helfenden gny │ dargebracht │ wie er ihnen versprochen hatte. │ Erinnert sei Qamla │ Taima Sadu │ seine Brüder im Monat │ Adar Jahr 581 │ und (?) zum Guten (März, 270 n. Chr.).
Daneben wird der hier lokal verehrte Gott Abgal allein geehrt oder zusammen mit den auch in der Stadt Palmyra verehrten Göttern Aglibol und Malakbel und ginnaya. Ein Dedikant wendet sich auch an Abgal als gny, die wir als dem jeweiligen Ort verbundene Geister kennengelernt haben.⁷² Der auf den Ort bezogene Aspekt der göttlichen Akteure wird in diesen Weihaltären, auf denen sie mit
Schlumberger, La Palmyrène, Inscr. Nr. 50; Pl. XXXVI, 1. Schlumberger, La Palmyrène, allg. 122 – 123 und Inscr. Nr. 39, 42, 43, 48, 51, 63, 78. Schlumberger, La Palmyrène, Inscr. Nr. 3, 4, 5 aus Khirbet Semrine. Schlumberger, La Palmyrène, 85, Nr. 4; 167, Inscr. Nr. 63. Allein: Schlumberger, La Palmyrène, Inscr. Nr. 13, 15; mit anderen: Inscr. Nr. 16; als gny: Inscr. Nr. 17.
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Weihrauchopfern bedacht wurden, betont. Die optischen und inhaltlichen Übereinstimmungen sind auffallend, und ihr homogenes Erscheinungsbild tritt durch das Nebeneinanderstehen am gleichen Ort hervor. Die Explizitheit der Inschriften geht Hand in Hand mit der Beobachtung, dass in den Texten (und den Darstellungen, auf die sich die Texte auf den Objekten beziehen) die sogenannten ‚kleinen Götter‘ eine herausragende Rolle spielen: Nicht die bekannten palmyrenischen Götter Allat, Bel oder Baalshamin werden angerufen und beschworen, sondern neben Yarhibol, Malakbel und Aglibol sind es eher seltene belegte Gottheiten wie Abgal oder Malka.⁷³ Der Name des Gottes Salman, wie er in Khirbet Abu Duhur angerufen wird, bedeutet ‚derjenige, der Wohlbefinden bringt‘. Als beinahe singulär auftretender Göttername hat er den Charakter eines lokalen Gottes – ähnlich den ginnaya und den gadde. ⁷⁴ Für die Zusammenkünfte unter dem Schutz der Götter ist in den Siedlungen in der Djebel-Region kein großer ‚Allroundgott‘ geeignet, gewünscht oder notwendig. Die Menschen, die hier mit den Gottheiten in Kontakt treten wollen, kennen ihre Götter unmittelbarer und schreiben ihnen bestimmte lokal begrenzte, dafür umso wirkungsvollere Kompetenzen zu.⁷⁵ So bedeuten ‚kleine‘ Götter eine Beschränkung auf ein Gebiet, während sie neben den ‚großen‘ Göttern, wie sie in Palmyra selbst anzutreffen sind, nicht notwendig sind. Hier sprechen die Götterfiguren einen größeren Personenkreis an. Die gd und gny sind zunächst ein räumlich lokalisiertes Phänomen – man denke an Yarhibol, der Abgal in die Lage versetzt, sich um den Ort oder das Gebiet zu kümmern – und weniger ein Zeichen für die tribalen Ursprünge religiöser Vorstellungen und Konzepte.⁷⁶ Gadde und Genien scheinen in erster Linie zum Land oder Ort und dann auch zu bestimmten Gruppen zu gehören.⁷⁷ Es gibt keine Hinweise in den Texten und Gegenständen, aus denen wir auf Stammesgötter oder gar Stammeskulte schließen können. Die Dedikanten, wie man an der Verwendung der verschiedenen Alphabete sehen
Weiterhin wären Salman, Maan, Rahm oder Munim zu nennen, s. Teixidor, Pantheon, 62– 64. 82– 85, die hier nicht näher behandelt werden. Der Name kommt auf einer Statuenbasis in Palmya vor und in Sheikh Barakat bei Aleppo, s. Teixidor, Pantheon, 84– 85. Nur ihre ikonographische Spezifizierung ist meist nicht ausgeprägt. Vgl. Dijkstra, Life and Loyality, 131: „the phenomenon of presenting divinities exclusively as tutelaries of a particular group of people reinforces the conception of religion as being primarily tribal“. Zur tribalen Organisation Palmyras, deren Niederschlag in schriftlichen Quellen erst in römischer Zeit zu finden ist – sie also imaginierte Abstammungen sein können, s. zusammenfassend Andrew M. Smith. Roman Palmyra. Identity, Community, and State Formation, New York: OUP, 2013, 33 – 40: S. Rieger, This God is Your God, zur Bedeutung lokaler Götter für die Formierung von Identität, die sich an Heiligtümern im Libanongebirge ablesen lässt.
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kann – Palmyrenisch, ANA (‚Safaitisch‘) und Lateinisch – haben unterschiedliche Hintergründe, auch wenn die ikonographischen Schemata und Motive – auch einige große Gottheiten – ganz dem entsprechen, was man aus Palmyra selbst kennt.⁷⁸ Doch eine simple Trennung in große und wichtige auf der einen und kleine und weniger wichtige Gottheiten auf der anderen Seite greift zu kurz – es handelt sich um lokale Gottheiten, die an ihren jeweiligen Orten von herausgehobener Bedeutung sind.⁷⁹
Räume religiöser Praktiken in der Palmyrene als lokales raumzeitliches Bezugssystem Die Räume religiöser Praktiken in der Palmyrene in griechisch-römischer Zeit stellen Kristallisationspunkte von Kontakten, Kommunikation und Bezügen dar. In der Verdichtung von gebautem Raum, gemeinsamem Mahl, menschlichen und göttlichen Akteuren und den Objekten mit Bildern und Inschriften können sie zu Orten zwischen Realität und Imagination werden. Diese Verdichtung und gleichzeitige Öffnung unterstreichen die Notwendigkeit der Kommunikation mit den Gottheiten, doch auch die Komplexität einer solchen Kommunikation, da man für deren Erfolg viel Aufwand betreibt. Für die drei Analysekategorien, die ich eingangs unterschieden habe – inhaltlich: wie und wo sakrale Räume angelegt sind und wie sie funktioniert haben können; konzeptionell: wie Gottheiten, Lokalität und Sakralität in Architektur, Bild und Schrift bezeichnet werden; sowie methodisch: wie aus ortsgebundenen Strukturen und Objekten dynamische fließende Raumzeitverbindungen zu erschließen sind – haben sich folgende Antworten ergeben: Funde und Befunde von und in sakralen Räumen der Palmyrene zeigen, dass sie architektonisch nicht als Räume religiöser Praktiken nach außen hervorgehoben sind. Vielmehr werden sie zu dem, was sie sind, durch die zeitlich gebundenen Praktiken, die wir archäologisch an den Altären für Weihrauchopfer, Reliefs mit Göttern, Gefäßen für Bankette und Erinnerungsinschriften fassen können. Bewohner*innen des Djebel und Palmyras kannten diese Orte und wussten, wo man zu bestimmten Anlässen oder im Bedarfsfall hingehen musste. Diese Räume leben vom Inneren und seinen Funktionen und Angeboten sowie der Vielfalt der darin sich sammelnden Dinge. Die Dichte von funktional differen Auch die bildhauerische Qualität der Reliefs entspricht dem städtischen Niveau. Vgl. die Einteilung in Teixidor, Pantheon, vi – vii.
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ziertem Raum sowie von Objekten, Aussagen und Bildern ist extrem hoch. Die gebauten Räumen und die mobilen Akteure wie (Stein‐)Objekte und Menschen, die sich sonst im Landschaftsraum verlieren treffen hier aufeinander und verdichten sich. Die Verbildlichung des Ortes in Gestalt und Benennungen der Götter und Geister vor Ort unterstreicht das Hier und Jetzt. Um die Konzeption und die Vorstellungen der Nutzer*innen und Erbauer*innen dieser Räume erfassen zu können, erlauben die Objekte – neben wenigen Bauornamenten sind dies Reliefs, Kratere, unbearbeitete Steine und Altäre – durch Bild und Wort einen Einblick in das Verständnis von ‚Raum für eine Gottheit‘. Reich geschmückt und mit dem Wort für ‚reiches Haus‘ (hykl) belegt wird das Gebäude beschrieben oder aber als temporär installiertes Zelt, das auf die Bedeutung der Götter als verortete und Orte und Räume schaffende Akteure hinweist. Die Methode einer Analyse der Inschriften, ihrer Formeln und formalen, kompositorischen und stilistischen Gestaltung sowie ihrer Träger ermöglicht die nötigen Einblicke in die dynamische Konstituierung und Produktion des Raums – obwohl die Funde an sich erst einmal statisch und in ihrem Kontext verortet sind. Die Inschriften mit den Formeln der Dedikanten, erinnert zu werden oder andere zu erinnern, eröffnen wiederum Zeitbezüge in der Präsenz dieser Texte in den Räumen, die vom Moment des gegenwärtigen Lesens sowohl in die Vergangenheit reicht – die Aufstellung der Inschrift – als auch in die Zukunft deutet – der Akt des Erinnerns, der folgt, und der immer wieder folgen kann und soll. Für die eingangs aufgestellten Hypothesen bedeuten diese Ergebnisse, dass das Zusammenfallen von Ort und Zeit mit der gleichzeitigen Schaffung performativer bzw. imaginierter Räume eine Heterochronotopie darstellt. Diese Heterochronotopie kann in, mit und durch die in den gebauten Räumen versammelten oder archivierten materiellen Objekten wie Reliefs mit Inschriften entstehen. Wenn menschliche Akteure an diesen Orten sich jemandes erinnern oder weitere Inschriften zu zukünftiger Erinnerung an jemanden anbringen, brechen sie die Gegenwärtigkeit des physischen Raumes auf. Es sind Orte intensivster Kommunikation mit Akteuren, die entweder Gottheiten (gadde), Geister des Ortes (ginnaya) oder die Mitmenschen sein können. Über diese Kommunikation können Gruppenzugehörigkeit oder eigene Identität(en) geklärt werden. Die Gottheiten und Geister sind Figurationen der Extrapolation sowohl von Macht als auch von Raum. In die Kommunikation mit ihnen, die sich in die Zukunft hinein fortschreibt, bringen die menschlichen Akteure den Faktor Zeit ein. Dieses Zusammenfallen von Zeit, Raum, Bild und Mensch evoziert und provoziert eine höchst spezielle Situation für die Besucher*innen: Zwischenräumliche Charakteristika sind in diesen Räumen religiöser Praktiken insofern gegeben,
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als sich Handlungsspielräume durch wiederholte Zusammenkünfte und Kommunikation eröffnen, die Trennung von Zeiträumen, Generationen, aber auch kulturellen Traditionen überwinden helfen.⁸⁰ In dieser Eigenschaft bzw. diesem Potential liegt die Möglichkeit für die Produktion von immer neuen Räumen und damit auch Zwischenräumen, die durch die physisch-materiellen Gegebenheiten und die imaginierten Wünsche und Bedürfnisse bedingt werden. Diese Interpretationsansätze beziehen sich auf die Räume religiöser Praktiken, die Heiligtümer, im Djebel; ein Vergleich mit der Stadt Palmyra könnte diese Deutungen bestätigen aber auch differenzieren. Bei solchen weiterführenden Überlegungen müsste der Ausgangspunkt nicht getrennt voneinander zu denkende Bevölkerungsgruppen in der Oase und auf dem Djebel sein, sondern ein raumübergreifendes Netzwerk von Bewohner*innen mit unterschiedlichen sozioökonomischen Interessen. Es sind Gruppen, die verwandtschaftlich zusammenhängen, die arbeitsteilig die Versorgung der gesamten palmyrenischen Bevölkerung mit Getreide und anderen agrarischen Produkten oder aber den Handel sicherstellen.⁸¹ Die Inschriften aus den Räumen religiöser Praktiken auf dem Djebel sind individueller als die in Palmyra selbst formulierten. Die Gottheiten haben starke lokale Bezüge. Sie sind nicht für die Stadt in der Oase erdacht, in der – als ein Handelsplatz und Verkehrsknotenpunkt – andere Formen von Identitätsfindung, Abgrenzung, aber auch Öffnung nach außen für die Bewohner*innen und die Besucher*innen von Wichtigkeit waren. In den Siedlungen der Palmyrene ist es vielmehr die in regionaler Reichweite vernetzte und wirkende Gesellschaft, die hier Ansprüche und Notwendigkeiten der Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen – und damit Machtverteilung – aushandelt. Dies – so haben die Inschriften und die Gottheiten gezeigt – tun sie mit lokal wirkenden, aber überzeitlichen Gottheiten. Die hier vorgestellten Räume religiöser Praktiken im Djebel sind somit Heterotopien, ‚andere Orte‘, nicht im Sinne von gegenläufig zur bestehenden Ordnung, wie es bei Foucault anklingt, sondern als Orte lokaler Interessen und Handlungen, an denen die menschlichen Akteure die Räume bewusst den Raumzeitordnungen entziehen, um soziale Ordnung zu ermöglichen.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: 5 a: 5 b: 5 c: 5 d: Abb. 6 a:
Abb. 6 b: Abb. 7 a:
Abb. 7 b:
Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14:
Abb. 15: Abb. 16:
Die nordwestliche Palmyrene (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 1). Steppenlandschaft der Palmyrene im Gebiet des Djebel Bilas (Meyer, Palmyrena, Fig. 30). Raum religiöser Praktiken in Khirbet Semrine (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 5). Blick auf einen der Banketträume in Khirbet Semrine mit dem Krater Abb. 13 (Schlumberger, La Palmyrène, Pl. IV, 1). Raum religiöser Praktiken. Khirbet Farouane (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 47). Khirbet es-Sane (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 14). Khirbet es-Abu Duhur (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 16). Bir Ouechel (Schlumberger, La Palmyrène, Fig. 18). Steinplatte mit bi-skriptualen Inschriften in ANA und Palmyrenisch aus Bir Ouechel, die Namen und Aufruf des Gedenkens enthalten (Schlumberger, La Palmyrène, 168, Fig. 13. Inscr. Nr. 63 ter). Lateinische Inschrift aus Bir Ouechel (Schlumberger, La Palmyrène, 86, Fig. 38). Unbearbeiteter Stein (h. 43 cm) aus Khirbet Semrine mit Inschrift für den Gott Abgal und ‚erinnert-sei‘-Formeln in Palmyrenisch (Schlumberger, La Palmyrène, 54, Nr. 13 quater, Inscr. Nr. 2 ter, Pl. XLII, 1). Steinplatte aus Raum A in Khirbet es-Sane (h. 53 cm) mit bi-skriptualer Inschrift mit Namen (oben, Palmyrenisch) und einer ‚erinnert sei‘-Formel (unten, ANA) (Schlumberger, La Palmyrène, 69, Nr. 13, Inscr. Nr. 54 a und b, Pl. XLII, 3). Miniaturaltar (h. 13 cm) aus Khirbet es-Sane mit drei unterschiedlichen Inschriften (Schlumberger, La Palmyrène, 79, Cippus Nr. 11, Inscr. Nr. 52 ter, Pl. XXXVI, 3 – 5). Altäre aus Khirbet Semrine (Schlumberger, La Palmyrène, Inscr. Nr. 14 – 17; Pl. XXIV). Krater aus Khirbet Semrine mit bi-skriptualer Inschrift (ANA und Palmyrenisch) (Schlumberger, La Palmyrène, 60, Krater Nr. 36; Inscr. Nr. 21 bis). Steinplatte mit Ritzzeichnung eines Tempels, eines Gottes und von Dedikanten, h. 52 cm, b. 58 cm, 147 n. Chr. (Schlumberger, La Palmyrène, 79, Nr. 1, Inscr. Nr. 55). Relief mit Inschrift aus Khirbet Semrine (Schlumberger, La Palmyrène, 55, Relief Nr. 14 ter, Inscr. Nr. 3). Krater an Abgal aus Khirbet Semrine (Schlumberger, La Palmyrène, 60, Krater Nr. 35; Inscr. Nr. 20). Relief aus Khirbet Abu Duhur mit der Darstellung von drei Göttern und zwei Dedikanten, h. 53 cm, l. 100 cm, 262/63 n. Chr. (Schlumberger, La Palmyrène, 82, Relief Nr. 9, Inscr. Nr. 57, Pl. XXXVIII). Relief aus Khirbet Farouane, dem antiken Beit Phasiel, l. 74 cm, 191 n. Chr. (Schlumberger, La Palmyrène, 67, Relief Nr. 1, Inscr. Nr. 39). Altar aus Khirbet Farouane, h. 51 cm, 238/9 n. Chr. (Schlumberger, La Palmyrène, 63, Cippus Nr. 7, Inscr. Nr. 42).
Meret Strothmann
Im Zentrum steht die Magie. Zu religiösen Räumen zwischen Heiden und Christen in der römischen Antike At the Center is the Magic. On religious spaces between pagans and Christians in Roman antiquity: Magic exists as an integrative or excluded part of each religion. In political systems based on sacral orders, magic offers an area for individual concepts of realizing religion, a space between. This space between is defined as a hybrid space and conceivable only via communication. The results of using magic as a concept of “space in between” are twofold. First, they explain the concept of magic itself, and secondly—here magic is the object, not the subject—they show the relationship between political and religious spaces. Communicating magic or seeing magic rituals and practices depends on the type of the religious system. In Roman Antiquity, the polytheistic religion is a central part of the political system and the public order. Magic functions as a chance to fill religion with individual ideas in secret spaces—beyond the official religion as a space in between—and is thus capable of destroying the political system, which is based on public communication and mechanisms of official control. Magic in polytheistic religious systems always remains “the other”. But in dualistic religious systems, such as Christianity or the Zoroastric religion, magic plays a different role; here it is an integrative part of the religion and the political system. The difference here is not magic but the way magic is used. Black or white magic rituals were practised for good or bad reasons. Individualised secret spaces in between—as performed in magic—were no more dangerous for the public order because the communication of the phenomenon has changed. There is no longer secret space for magic but magic is accepted from the inside and the outside, and thus the borders in general are removed. Public and private spheres are no longer clearly separated. Roman Emperors such as Domitian in a polytheistic system, Konstantin or Valentinian in a dualistic context, defined their own individual concepts of magic and thus the concept is
Anmerkung: Wenn in diesem Beitrag z. B. von “Heiden” und “Christen” die Rede ist, so ist diese Form als generisches Maskulinum zu verstehen. Der Einfluss, der gerade auch von Christinnen und Heidinnen ausging, ist implizit, was im besonderen Maß für den Hauptuntersuchungsgegenstand gilt: die Rolle und den Wirkkreis von Magierinnen und Magiern. Gerade den starken und erfolgreichen Wirkungen magischer Praktiken wird oft “ein weiblicher Zugang” zum Phänomen unterstellt, was Achtung generierte, aber auch Ängste hervorrief. https://doi.org/10.1515/9783110758306-007
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adapted to investigate how space and space in between worked in relation to the religious and political Roman system.
Einleitung Zunächst soll erst einmal kurz der Begriff der Magie umrissen werden, im Anschluss ist zu erläutern, wie Magie innerhalb der jeweiligen politischen Ordnung aufgefasst wird, um ihre Bedeutung für den jeweiligen religiösen Raum zu skizzieren. Ein besonders interessantes Untersuchungsfeld bietet die Spätantike, da sich hier polytheistische Grundstrukturen mit dem dualistischen Konzept des Christentums vermengen. Zentral ist die Idee, dass im monotheistisch ausgerichteten Christentum zwei Mächte den Kampf miteinander aufnehmen, die als Gott und Satan zu fassen sind. Von beiden Mächten kann Magie genutzt werden. Auf der Grundlage dieses dualistischen Systems, in dem sich zwei Mächte begegnen, gilt es zu prüfen, auf welchen Urheber Magie zurückzuführen ist, auf die „gute“ oder die „böse“ Seite. Ganz anders stellt sich das im polytheistischen römischen System dar. Hier steht Magie als unberechenbarer Faktor jedenfalls neben der geordneten Götterwelt und zeigt sich damit systemgefährdend. Das macht die Spätantike, in der das inzwischen verbreitete Christentum auf die polytheistisch geprägte Gesellschaft tritt, so interessant. Um zu einem Verständnis der Magie in der Spätantike zu gelangen, müssen dabei sowohl die Grundmuster der Auffassung von Magie im römischen Reich als auch die christlich geprägten Vorstellungen von Magie thematisiert werden. Dabei gewinnt das Spannungsfeld religiös unterschiedlich geprägter Systeme für das Verständnis von Magie als Zwischenraum eine eigene Relevanz.
I.a Was ist Magie? Der Begriff Magie insgesamt entzieht sich einer evidenten Definition, es muss stets nach dem direkten Kontext mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Konzept gefragt werden, in dem sie ihre Position findet. Ein enger Zusammenhang besteht zur Mantik: um die Zukunft zu beeinflussen, muss man sie voraussehen können.¹ Mit der Religion hat sie gemein, dass auch Magie einen Rückzugsort in einer zunehmend effizienten Erklärung der Welt nach dem Muster von Naturgesetzen
Bei Jacques Schwartz. Papyri Magici Graeci und Magische Gemmen. In Die orientalischen Religionen im Römerreich, hg. von Maarten J. Vermaseren. Leiden: Brill, 1981, 485 – 508, hier 486.
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bietet². Dabei ist Magie nicht evolutionistisch als das Stadium aufzufassen, in dem Natur und Umwelt noch mit primitiven Formeln erklärt werden, sie steht immer neben Wissenschaft und Medizin.³ Vielleicht zum Begriff allgemein so viel: Zunächst einmal ist Magie ein Eingriff in die Naturgesetze der Gesetze und des vorhersehbaren Laufs der Dinge zum Vorteil oder Nachteil einer oder mehrerer Personen.⁴ Dabei dient die Nutzung übernatürlicher Kräfte dem Zweck der Wiederherstellung, des Erhaltes oder der Zerstörung. Um sie als erhaltende Kraft zu verstehen, bedarf es einer Religionshaltung, die davon ausgeht, dass einzelne aktiv und verantwortlich an der Religionsausübung beteiligt sein können⁵ und der Prämisse, dass die politische Ordnung durch sie nicht per se gefährdet ist. Dies wird in Rom später durch die Differenzierung und Kanalisierung der Magie im Sinn einer „weißen“ bzw. „schwarzen“ Magie gewährleistet. Magie ist nicht nur individuell, sie ist auch unberechenbar. Damit wird sie zum unkalkulierbaren Gegenstand innerhalb der Religionsausübung und ist mit Vorurteilen behaftet. Zum Begriff und zur Relevanz von Religion insgesamt sei auf Jörg Rüpke verwiesen: „Versteht man Religion als ein System von, Zeichen oder Symbolen, die Wirklichkeit deuten, ja konstruieren helfen und Orientierung in dieser Wirklichkeit vermitteln, so ist Religion eine kollektive Angelegenheit, etwas, das von mehreren geteilt wird. Auch einzelne beschränkte religiöse Vorstellungen oder Praktiken sind damit nicht ausgeschlossen, für die Frage nach Religion aber nur so weit von Interesse, als sie repräsentativ sind oder gerade die begrenzte Reichweite allgemeiner Normen aufweisen.“⁶ Magie ist so als Teil religiöser Praxis aufzufassen, die sich an sakral konnotierten Inhalten orientieren, aber auch völlig außerhalb stehen kann.
I.b Magie als Teil sakraler Ordnung Magie bildet einen konstitutiven Faktor für jede Religion.⁷ Dabei kann sie innerhalb der Religion einen integrativen sowie einen exkludierenden Charakter an-
Jörg Rüpke. Die Religion der Römer. München: Beck, 22006, 80. Rüpke, Religion der Römer, 167. Diese Definition bei Schwartz, Papyri Magici, 486. Rüpke konstatiert hier, dass „eigene Handlungsoptionen ohne Instanzenzwang sehr attraktiv“ seien, s. Rüpke, Religion der Römer, 170. Rüpke, Religion der Römer, 19. Zur Magie insgesamt vgl. das Standardwerk von Fritz Graf. Gottesnähe und Schadenzauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike. München: Beck, 1996. Weiterführende Literatur zum Thema: Derek Collins. Magic in the Ancient Greek World. Malden MA.: Blackwell, 2008; Matthew
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nehmen, indem sie in ihrer Wahrnehmung als Abgrenzung zur „wahren Religion“ fungieren oder aber als aktiver Teil der Religionspraxis gelten kann. Ob sie durch ihre unkalkulierbare Wirkung als Bedrohung oder durch ihre Relevanz mittels der Funktionalisierung übernatürlicher Kräfte als Fundament von Religion verstanden wird, hängt mit der Auffassung von Religion zusammen, die als individuelles bzw. kollektives Organisationskonzept im Rahmen der politischen Ordnung aufzufassen ist. Für den Raum der Magie bedeutet dies, dass das Raumkonzept von ihrem Stellenwert innerhalb der Gesellschaft abhängt, wie gleich zu erläutern sein wird. Im polytheistischen Umfeld der römischen Antike fungiert die Religionspraxis als zentraler und untrennbarer Bestandteil der politischen Ordnung. Sie dient dazu, Ordnungsmuster als kollektive Identität zu formieren und zu stabilisieren. Das bedeutet nicht, dass kein individueller Spielraum gegeben ist – gerade die polytheistische Religion wird ja auch dadurch definiert, dass der Einzelne für sich bestimmen kann, welche Götter zu seinen Favoriten werden – wichtig ist die Überprüfbarkeit und die Kontrolle von Zugehörigkeiten und Praktiken. In Rom gilt: Ordnung muss sein. Magische Praktiken aber bergen durch ihren individuellen Zuschnitt ein Gefährdungspotential, sie entziehen sich der unmittelbaren Kontrolle, verursachen damit Unsicherheiten und schüren Ängste.⁸ Es gibt eine breite Sphäre von religiösen Überzeugungen, in denen sowohl regulär überprüfbare Rituale als auch individualisierte magische Praktiken von zentraler Bedeutung sind, wie z. B. im Christentum. Folgerichtig wird das Chris-
Dickie. Magic and Magicians in the Greco-Roman World. London: Psychology Press, 2001; Richard Gordon. Imagining Greek and Roman Magic. In Witchcraft and Magic in Europe, II: Ancient Greece and Rome, hg.von Bengt Ankarloo, Stuart Clark. London: Pennsylvania Press, 1999, 159 – 276; Daniel Ogden. Magic, Witchcraft, and Ghosts in the Greek and Roman World. A Sourcebook, Oxford: OUP, 2002; Isabella Sandwell. Outlawing „Magic“ Outlawing „Religion“? Libanius and the Theodosian Code as Evidence for Legislation against „Pagan“ Practices. In The Spread of Christianity in the First Four Centuries: Essays in Explanation, hg. von William V. Harris. Leiden: Brill, 2005, 87– 124; Henk S. Versnel. Prayers for Justice, East and West: New Finds and Publications since 1990. In Magical Practice in the Latin West: Papers from the International Conference held at the University of Zaragoza, 30th Sept. – 1st Oct. 2005, Religions in the Graeco-Roman World, hg. von Richard Gordon, M. Simón. Leiden: Brill, 2010, 275 – 356; Lindsay Watson, Magic in Ancient Greece and Rome. London: Bloomsbury Academic Publishing, 2019. Schon bei Plinius d.Ä. hieß es „Multi figlinarum opera rumpi credunt tali modo“ („Ein jeder fürchtet, durch Zaubersprüche getroffen zu werden“).. Im Nachgang werden einige Mittel als Präventivmaßnahmen empfohlen, um sich der Magie zu entziehen. Z. B. werden Eierschalen, deren Inhalt man verzehrt hat, sofort zerbrochen oder mit dem Löffel durchstochen (dessen eines Ende immer über eine Spitze verfügte, um mundgerechte Nahrung aufzuspießen). Plin. Nat. hist. 28.19. In einer anderen Übersetzung der Stelle kommt die Furcht noch stärker heraus: Jeder Mensch fürchtet, durch grauenvolle Verfluchungen verhext zu werden.“ (übersetzt von Lars Önnerfors. Antike Zaubersprüche, Stuttgart: Reclam, 1991, 8).
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tentum innerhalb der römischen Ordnung zunächst als (ver)störender Faktor identifiziert und als Ganzes mit dem Begriff superstitio belegt, häufig vage mit „Aberglaube“ wiedergegeben.⁹ Der Begriff zeigt nichts deutlicher als die Unfähigkeit oder den Unwillen, schwer handhabbare, da individualisierte religiöse Praktiken und Konzepte in das bestehende System einzugliedern, das auf kollektive Praxis der Religionsausübung ausgerichtet war. Die Verehrung der Götter basierte in Rom immer auf der Verantwortung des Kollektivs gegenüber den Göttern. Die Priester bildeten zwar die ausübenden Organe des Rituals, aber dahinter stand die Verantwortung der römischen Bürger, sich korrekt gegenüber Göttern und Menschen zu verhalten, jeder Bürger hatte seine Rolle im politischen Geschehen aktiv wahrzunehmen, damit die Götter der res publica weiter gewogen bleiben konnten. So war der Einzelne in seinem Handeln dem Kollektiv gegenüber verantwortlich. Wenn die öffentlichen Rituale nicht mehr zum Erfolg führten, sich also die Götter dem aktiven Eingreifen verschlossen, war das auf das Versagen der Bürger zurückzuführen.¹⁰ Verantwortung, die nicht wahrgenommen wurde, wirkte sich auf das gesamte Kollektiv aus. Das ist im Christentum anders. Die einzelne Christin / der einzelne Christ ist direkt Gott gegenüber verantwortlich. Schuld lädt sie/er auf sich, indem sie/er sich von Christus entfernt.¹¹ Damit stehen Christinnen und Christen in Rom per se unter kritischer Beobachtung. Im Christentum, das nicht – oder vielleicht weniger – durch ein polytheistisches Gefüge geprägt war, sondern durch ein dualistisches, nimmt die Magie eine ganz andere Rolle ein. Es gibt eine gute Macht – häufig durch Gott personifiziert – der eine böse Macht als aktiver Antagonist gegenübersteht. Entsprechend können magische Praktiken nicht per se als gefährdend eingeordnet werden wie in Rom, sondern es muss immer danach gefragt werden, in wessen Dienst die Magie bzw. die Magierin/der Magier steht. Dadurch ergibt sich die Trennung in Magie, die Gutes bewirkt, und Magie, die Schlechtes hervorruft, auch muss die Haltung des Individuums gegenüber dem Ritual in den Blick genommen werden, Absicht und
Über die Strafwürdigkeit der superstitio ist viel diskutiert worden, am bekanntesten ist wohl das Reskript Trajans in den so genannten Christenbriefen, Plinius. Epistulae 10, 96 und 97. Hier wird auf die Anfrage des Statthalters von Bithynien und Pontus, Plinius, das Christentum vom Kaiser als „haltlose superstitio“ bezeichnet, der aber nicht nachgespürt werden soll (Plinius der Jüngere. Briefe. Lat. und dt. von Helmut Kasten. Düsseldorf, Zürich: Artemis und Winkler, 81998). Exemplarisch sei hier Sallust angeführt, der eine klare Verbindung zwischen menschlichem Versagen und göttlicher Ordnung sah. Sall. Hist. 1,55,11. Sallust. Historien. hg. und übers. von Torsten Burkard. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2010. „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan, was ihr einem meiner geringsten Brüder nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan.“ Die Rede ist hier von der caritas, von liebender Fürsorge gegenüber anderen (Mt. 25, 40 – 46).
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Wirkung unterscheiden sich hier oft erheblich.¹² Zudem ist die Haltung bzw. der Grad der Involviertheit des Adressaten zu beachten. Wenn nämlich ein magisches Ritual – das im Ergebnis durchaus positiv sein kann – ohne Wissen des Betroffenen in Gang gesetzt wird, ist es in jedem Fall zu verurteilen. Zusammengefasst ergeben sich zwei Fragestellungen, die den Stellenwert der Magie innerhalb der Religion umreißen: Der Polytheist fragt: Ist es Magie oder nicht? Inwieweit allein der Vorwurf der Magie ausreicht, wird in zahlreichen Magieprozessen deutlich, zudem fällt hier eine Reihe antiker Autoren ein sehr radikales Urteil. Doch davon später. Der Dualist hingegen fragt: Welche Art von Magie wird angewandt und wie ist das betroffene Individuum eingebunden? Danach entscheidet sich, ob die jeweilige magische Praxis Anerkennung findet oder verurteilt wird. Die spezifische Auffassung von Magie hat grundlegende Auswirkungen auf das Raumkonzept und den Raum, der ihr zugewiesen wird. So steht im polytheistischen System der Raum für Magie separat oder isoliert neben dem Raum für Religion. In einem dualistisch geprägten religiösen System hingegen bildet Magie einen aktiven Zwischenraum, in dem Anschlussstellen zur umgebenden religiösen Sphäre geschaffen werden. Damit fungiert Magie in einem dualistischen religiösen System als integrativer und integrierter Bestandteil.
I.c Raum für Magie Entsprechend dem Konzept der „zwischenräumlichen Strukturen, die Handlungsspielräume eröffnen und Trennendes verbinden können“¹³, bildet Magie ein
Exemplarisch für dieses Phänomen der unterschiedlichen Wahrnehmung zwischen Absicht und Wirkung seien hier die zahlreichen Prozesse von Skythopolis angeführt, die bei Ammianus Marcellinus. Römische Geschichte, 19, 11– 15 angeführt sind. Unter anderem warf man dem betagten Philosophen Demetrius Opfer in magischem Rahmen vor. Demetrius bejahte die Opfer, wandte aber ein, dass er das seit frühester Jugend getan habe, um die Gnade der Götter zu gewinnen. Andere Ziele habe er nicht im Blick gehabt. Er blieb im Übrigen auch unter Folter bei dieser Aussage, so dass er freigesprochen werden musste (Amm. 19,11– 12). Ammian berichtet weiter, dass Bürger, die nachts über ein Grabmal gingen oder ein Amulett gegen viertägiges Fieber trugen, der Zauberei beschuldigt wurden. Sie hätten sich als Giftmischer betätigt und würden auf dem Friedhof Seelen sammeln. Die Anklage reichte zur Verurteilung zum Tod, das Urteil wurde auch vollstreckt (Ammian 19, 14). Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte, übers. von Otto Veh. Amsterdam: Hakkert, 1997. Vgl. Einleitung Monika Frohnapfel-Leis, Muriel González Athenas. Zum Phänomen zwischenräumlicher Strukturen im religiösen Bereich vgl. auch die Bemerkungen von Jesper Sørensen zur räumlichen Trennung zwischen Religion und Magie: „Religious and magical rituals
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zwischenräumliches Phänomen, das sowohl als Subjekt als auch als Objekt in der Untersuchung positioniert wird. So soll sie als Objekt dazu dienen, religiöse Räume innerhalb des politischen Systems zu beschreiben und genauer einzuhegen. Dazu sollen Schnittstellen zwischen Magie und Religion untersucht werden, wie sie sich im Gedanken der superstitio äußern, aber auch Magie als „vollständiger Zwischenraum“ im Abgrenzungsmodus zur akzeptierten Religionspraxis thematisiert werden. Im Fokus der Magie als Subjekt ist vor allem an den Zwischenraum als individualisierten Raum zu denken, der von eigenen Regeln bestimmt wird und sich so einem organisierten Zugriff entzieht. Hier muss es um das Verständnis von Magie an sich gehen. Begreift man Magie als einen solchen individualisierten Zwischenraum, so können Probleme im Umgang mit Magie zumindest aufgezeigt werden. Im Sinne der Themenstellung des Bandes bedeutet dies vor allem, dass der Zwischenraum Magie „als Zone begriffen wird, in der religiöse Differenzen und Machtasymmetrien thematisiert, aber auch gemeinsame Interessen ausgehandelt werden können.“¹⁴ Das Verhältnis vom umgebenden Raum zum Zwischenraum Magie ist hier vor allem durch eine Problematik gekennzeichnet: Das Reden über Magie oder: der kommunikative Raum. Kommunikation über Magie bildet an dieser Stelle einen hybriden Raum, der aber sehr klar in die reale verortbare Sphäre hineinwirkt und auch auf die zwischenräumliche Einordnung zurückwirkt. Das Reden über Magie bestimmt die Sicht auf sie, geschieht aber auf mehreren Ebenen. Wenn über Magie gesprochen wird, ergeben sich mehrere mögliche Konstellationen. Im Gespräch zwischen praktizierenden Magiern mit anderen Magiern oder einem eingeweihten beteiligten Kreis kongruieren die Bedeutungsebenen der Begriffe bzw. eine gemeinsame Sprache, in der Auseinandersetzung zwischen Magiern und Nicht-Magiern bzw. Nicht-Eingeweihten ergeben sich schnell Verständigungsschwierigkeiten. Besonders brisant wird dies im Fall der Magie vor Gericht. Im Fall einer Verurteilung reden ja gerade Nicht-Magier über Magie, Magier und magische Praktiken, die sich dem zwischenräumlichen Phänomen ganz anders annähern als die, die Magie ausüben oder von ihr betroffen sind. Der Zwischenraum, in dem sich magische Praktiken abspielen, wird durch einen Personenkreis konstituiert, wodurch der Wirkradius des Zwischenraums
involve a blended space consisting of elements projected from input spaces themselves created by elements from two general domains – sacred and profane – and structured by a ritual frame.“ Jesper Sørensen. A Cognitive Theory of Magic. Lanham: AltaMira Press, 2007, 63, vgl. dazu die Bemerkungen von Esther Eidinow. Envy, Poison, & Death. Women on Trial in Classical Athens. Oxford. OUP, 2016, 246. Vgl Einleitung, in der von kulturellen Differenzen gesprochen wird. Ich möchte sie für den vorliegenden Beitrag gemäß dem Thema durch religiöse Differenzen ersetzen.
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definiert wird. Er ist auf zweierlei Weise in den Ablauf des magischen Rituals eingebunden, einmal in Form der Einzelperson oder Gruppe, die auf irgendeine Weise an der magischen Praxis partizipiert, auf der anderen Seite stehen die Empfänger, die in das Ritual einbezogen sind, mögen sie nun Opfer oder Begünstigte der Magie sein. Durch das Ritual wird ein kommunikativer Raum hergestellt, innerhalb dessen eigene Regeln gelten. In vielen Fällen wird es ein Raum sein, der durch die Täter, Teilhaber und Empfänger bestimmt ist und in dem ein zumeist einmaliges Erlebnis stattfindet, dessen Erfolg aber nicht garantiert ist. Im Gegensatz zu rationalen Erwägungen kann eine magische Erfahrung kaum in ihrer ganzen Dimension sprachlich abgebildet werden, da sich emotionale Elemente zu den rational nachvollziehbaren Phänomenen gesellen. Sie sind nur in verständlicher Sprache wiederzugeben, wenn Sender und Empfänger bereits ähnliche emotional geprägte Erfahrungen gemacht haben. Sender und Empfänger verbinden mit den Begriffen analoge Inhalte, die sich durch das Erlebnis der Magie ergeben. Sie teilen damit einen Raum, der durch erlebte Magie definiert wird. Damit wird der magische Akt ein Alleinstellungsmerkmal des jeweiligen Raumes, mit dem er verbunden bleibt. Als Gegenpol zu Magie kann das Gesetz der Empirie gelten, für das die Faktoren der Erfahrbarkeit, Messbarkeit und der garantierten Wiederholbarkeit bestimmend sind. Das soll keine „objektive Wissenschaftlichkeit „im modernen Sinn andeuten, sondern nur zeigen, dass wiederholbare Ereignisse, worunter z. B. der täglich erfahrene Aufgang der Sonne fällt, auf einer anderen Kommunikationsebene basieren als die Schilderung von Ereignissen, die nicht per se durch die Wiederholungsmöglichkeit erfahrbar sind. Hier setzt die Kommunikation ein, die durch Plausibilitäten Glaubwürdigkeit gewinnt. Lücken werden durch überzeugende Argumentationsketten geschlossen, die im Bereich des „für glaubwürdig halten“ liegen und eben nicht durch wiederholte Erfahrung exakt gespiegelt werden können. Das verweist noch einmal“ auf den Stellenwert des Erlebnisses und die Funktion der Magie. Innerhalb des kommunikativen Raumes kann hier zwischen „Wissensraum“ und „Glaubensraum“ geschieden werden. Auf sprachlicher Ebene sind Inhalte des Wissensraumes klar vermittelbar, da sie auf empiriegestützten, wiederholbaren Faktoren beruhen, Inhalte des Glaubensraumes aber lassen sich nur annähernd beschreiben, da sie auf das Argument des individuellen Erlebnisses angewiesen sind, um Plausibilität zu erlangen. Damit sind sie auf rein sprachlicher Ebene kaum überzeugend. Die Trennung zwischen den Inhalten des Wissens- bzw. Glaubensraumes im hybriden kommunikativen Raum wird im Folgenden wichtig, um Magie als Subjekt und Objekt fassen zu können. Es wird gleichermaßen deutlich, weshalb Magie in dualistischen Systemen vorwiegend auf Akzeptanz, in polytheistischen eher auf Skepsis stößt.
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II.a Magie im „Orient“ Beeinflusst von den Vorstellungen im Vorderen „Orient“, der in der Antike die kulturellen Einflusssphären des „fruchtbaren Halbmonds“ von Kleinasien über die Levante bis nach Ägypten umgreift, prägte Magie das Christentum nachhaltig. Im Orient ist sie eine menschliche Methode, die mechanistische Ordnung einzurichten bzw. wiederherzustellen.¹⁵ Damit geriet sie in Konflikt mit der Macht der Götter, die genau diese Aufgabe wahrnahmen. In Ägypten wurde sie zu derselben Kraft, die auch von den Göttern ausgeübt wurde und damit legitimiert, in Mesopotamien besiegte Marduk das Chaos mit Hilfe von Zaubersprüchen und wurde später zum Schutzherrn der Magie. Magische Praktiken erlebten bis zum Auftreten der Griechen und Römer eine Blütezeit, unter Verbot gestellt wurde auch hier letztlich nur die Magie, die ohne Wissen des Betroffenen angewandt wurde. Sprache war das Medium der Magie, das Wort war im Orient mit Schaffenskraft ausgestattet. In Ägypten und Mesopotamien, hier vor allem Babylonien, finden wir solche Vorstellungen von Magie. Aktenkundig wird der Begriff Magie besonders in der Rechtsprechung, wie das Beispiel des Codex Hammurabi (1728 – 1686 v.Chr.) zeigt. Gleich im zweiten Paragraph geht es um Zauberei, deren Nachweis auf sehr praktische Weise geschieht: Wenn ein Bürger einem Bürger Zauberei vorgeworfen hat, ihn aber nicht überführt, so geht der, dem Zauberei vorgeworfen ist, zur Flussgottheit, taucht in den Fluss hinein, und wenn der Fluss ihn erlangt, so erhält der, der ihn bezichtigt hat, sein Haus; wenn der Fluss diesen Bürger für frei von Schuld erachtet und er heil davonkommt, so wird der, der ihm Zauberei vorgeworfen hat, getötet, der, der in den Fluss hinabgetaucht ist, erhält das Haus dessen, der ihn bezichtigt hat.¹⁶
Der Begriff der Zauberei umfasst hier magische Rituale, die nicht in Einklang mit göttlichem Wirken gebracht werden konnten. Wenn sie der ebengenannten ordnenden Funktion der Magie zuwiderliefen und zerstörerische Kraft entfalteten, wurde sie als Straftatbestand geahndet. Der Flussgott entschied, ob es sich um zerstörende oder erhaltende Magie handelte. Da die Götter Schutzherrn der Magie waren, oblag ihnen folgerichtig die Vollmacht, magische Rituale zu beurteilen. Die meisten Kulturen des Vorderen Orients waren von einer polytheistischen Götterwelt geprägt, in der die Götter die Herrschaft über Bestehen und Verderben
F.A. M. Wiggermann. Magie II.I. Alter Orient. In RGG Bd. 5 (2002), Sp. 663. Codex Hammurabi § 2, aus: Codex Hammurabi, Die Gesetzesstele Hammurabis, in der Übersetzung von Wilhelm Eilers, 5. Aufl. Leipzig 1983, herausgegeben und kommentiert von Karl Hecker. Wiesbaden: marixverlag, 2009.
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ausübten. ist das in religiös dualistisch geprägten Systemen. Dort ist es nötig, unberechenbare böse Kräfte zu bannen, die nicht per se einer Götterwelt unterliegen, wie es bei der differenzierten Magie der Perser zu beobachten ist. Bei all ihrer Vielfalt sind die persischen Götter mit erhaltenden Kräften ausgestattet, allerdings im ständigen Kampf mit den zerstörenden Kräften um die Vorherrschaft, der auf Augenhöhe geführt wird.¹⁷
II.b Magie in der späten Republik und in der frühen Kaiserzeit Magie umfasste bei den Römern ein breites Spektrum. Das soll zunächst durch das Phänomen Magie als Straftatbestand gefasst werden, da vor Gericht zuordnungsfähige Kriterien und Definitionen erwartbar sind. Das Phänomen der Magie hat an signifikanten Stellen der römischen Rechtsprechung Eingang gefunden, die immer wieder aufscheinen. Schadenszauber wurde unter Sulla in der späten römischen Republik an Hand der lex Julia de sicariis et veneficiis von 81 v.Chr. geahndet.¹⁸ Als Giftmischer wurde in der Lex auch erfasst, wer in der Absicht zu töten ein für Mord eigentlich ungeeignetes pharmakon herstellte oder vertrieb.¹⁹ Bemerkenswert ist hier, dass offenbar der Nachweis der Absicht zu töten, den Täter überführen konnte, ohne dass dies an Hand des entsprechenden Mittels verpflichtend nachzuweisen war. So konnten sich der Besitzer offenbar nicht damit rechtfertigen, dass das Mittel in Maßen verabreicht zur Heilung geeignet sei. Grundsätzlich war Magie indiziert und galt als Straftatbestand, wenn der „Verzauberte“ ohne seinen Willen und sein Wissen beeinflusst wurde.²⁰ Daher wurden Kreyenbroek problematisiert die klare Einordnung der persischen Religion als Dualistisches Konzept und findet Aspekte monotheistischer und polytheistischer Prägung. Sein Beitrag bietet einen guten Überblick zur persischen Religion insgesamt. Philip G. Kreyenbroek. Theological Questions in an Oral Tradition: the Case of Zoroastrism. In Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder, Bd. 1, hg. von Reinhard Gregor Kratz, Hermann Spieckermann. Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, 199 – 221, hier 199. Zur lex s. James B. Rives. Magic, Religion and Law. The Case of the lex Julia de sicariis et veneficiis. In Religion and Law in Classical and Christian Rome, hg. von Jörg Rüpke, Clifford Ando. Stuttgart: Steiner, 2006, 47– 67. Detlef Liebs. Strafprozesse wegen Zauberei, Magie und politisches Kalkül in der römischen Geschichte. In Große Prozesse der römischen Antike, hg. von Ulrich Manthe, Jürgen von UngernSternberg. München: Beck, 1997, 146 – 160, hier 146. Das Problem, Magie und Religion voneinander zu trennen, wird hier sehr deutlich. Über Magie als Straftatbestand äußerste sich schon Platon in seinen leges. Magie ist als Teil der Religion dann strafbar, wenn die Götter durch magische Aktivitäten negativ beeinflusst werden (Plat.
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nicht nur Giftmischerei und Schadenszauber allgemein als maleficium bezeichnet, sondern auch Liebeszauber, der häufigste Gegenstand der Magie neben den Fluchformeln.²¹ Skepsis kennzeichnet die Haltung der römischen Elite gegenüber der Magie, regelmäßig wiesen sie Magierinnen und Magier zusammen mit anderen „störenden Elementen“ aus, da die politische Ordnung gefährdet erschien.²² Magie gehörte in der römischen Gesellschaft zu den unberechenbaren Kräften, die im Volksglauben angesiedelt waren, dort allerdings war sie prominent vertreten, wie uns Plinius bezeugt.²³ Er vermittelt uns den umfassendsten Einblick in die Vorstellungen der Römer von Magie. Ihren Ursprung suchte er im Zoroastrismus der Perser²⁴ und fand Magie auch in einem weiteren religiösen System verankert, das von Moses geprägt war.²⁵ Er formuliert sogar, dass diese „trügerischste aller Künste in der Welt am meisten gegolten und sich viele Jahrhunderte in diesem Ansehen erhalten hat“.²⁶ Schon Cicero bemerkte über drei Generationen vor Plinius, dass bei den Persern keiner König werden könne, der nicht die Lehre und Wissenschaft der Magie erlernt habe.²⁷ Plinius vermutet die Bedeutung der Magie darin, dass sie die drei Zentren des menschlichen Denkens zugleich umfasst: Medizin – Religion – Astrologie²⁸: a) Den Wunsch heil zu sein – als wichtiger Teil der Medizin gibt sie vor, Heilmittel zu sein. b) Sie verheißt die Kräfte und die Beherrschung der supersititio – dabei ist sie selbst superstitio. c) Jeder möchte um sein Schicksal wissen. Manche nehmen dafür die Astrologie in Anspruch, die ebenfalls von der Magie aufgenommen worden ist.
Leg. 907d4– 909d2). Auch die moderne Forschung ist hier durchaus nicht eindeutig. Während Parker in einem seiner früheren Werke die Linien als fließend betrachtete, zieht er jetzt eine klare Trennlinie zwischen Magie und Religion, wie Esther Eidinow beobachtet s.Robert Parker. Athenian Religion. Oxford: Clarendon Press, 1996, 163 mit Anm. 34, jetzt: Robert Parker. Polytheism and Society at Athens. Oxford: OUP, 2005, 133; bei Eidinow, Envy, Poison, & Death, 43 Anm. 31. Dig. 48, 8, 3, 2; Ps.-Paulus Sententiae, 5,23,14. Hier war als Strafe die relegatio (Verbannung weitgehend ohne Folgen für Vermögen und Familie) vorgesehen. Greg Woolf. Polis-Religion and its Alternatives in the Roman Provinces. In Roman Religion, hg von Clifford Ando. Edinburgh: Edinburgh UP, 2003, 39 – 54, hier 43. Plin. Nat. hist. 30, 21, 132– 53, 149. Plinius. Naturalis historia, Bücher XXIX–XXX, hg. und übers. von Roderich König. Darmstadt 1991. Plin. Nat. hist. 30, 3, 127. Plin. Nat. hist. 30, 11, 129. Plin. Nat. hist. 30, 1, 126. Cicero, De Divinatione 1, 41, 90. Schwartz, Papyri Magici, 485.
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Ganz zwanglos – und damit zeigt er seine generelle Haltung gegenüber Magie – schließt er hier eine lange [ Reihe von Beispielen an, die sich mühelos in das Reich des Volksglaubens verweisen lassen: Gegen Zahnschmerzen empfiehlt die Magie Asche, die man aus den von Fleisch befreiten Köpfen tollwütiger Hunde gewonnen hat, mit Öl zu vermengen und an das Ohr zu halten, an dessen Seite der schmerzende Zahn sitzt. Wenn das nicht hilft, reibt man den schmerzenden Zahn mit dem größten Zahn eines Hundes oder dem Knochen aus dem Rückgrat einer Schlange oder dem Zahn einer männlichen weißen Wasserschlange.²⁹ Zur Haut der weißen Wasserschlange weiß er folgendes: „Ich halte die Angaben, dass die weißen Schlangen erst beim Aufgang des Hundssterns ihre Haut ablegen, für falsch, denn man findet dieselben nirgends in Italien, und umso unwahrscheinlicher ist es, dass sie sich in den wärmeren Ländern so spät häuten“. Dieser erklärende Zusatz könnte Aufschluss über die Haltung des Plinius gegenüber der Magie geben. Er kann in seiner Funktion für den Kontext mehrfach gelesen werden: a) Plinius nimmt die geschilderten magischen Praktiken ernst, würde sie in dem Fall sogar für tauglich halten und korrigiert sie an dieser Stelle. b) Plinius gibt den Gelehrten und veredelt seine Phantasien mit weiteren erdachten Vorstellungen, um Glaubwürdigkeit zu inszenieren, ein Vorwurf, den er sich häufig gefallen lassen muss. Mit viel Liebe zum Detail verrät uns Plinius weitere Geheimnisse der Magie: In hohle Zähne steckt man Asche von Mäusemist oder getrocknete Eidechsenleber, wahlweise kann man das Herz einer Schlange zerbeißen.³⁰ Einige behaupten, eine mit der linken Hand gefangene und in Rosenöl zerriebene Spinne vertreibt die Schmerzen, wenn man sie in das Ohr setzt, auf dessen Seite der Zahn schmerzt.³¹ Auf Flechten im Gesicht streicht man Mäusemist mit Essig und Igelasche mit Öl, nachdem man zuvor das Gesicht mit in Essig aufgelöstem Natron gewaschen hat. Um den Haarwuchs unter den Achseln zu verhindern, reibt man die Stellen bei Kindern mit Ameiseneiern ein.³² Einen weiteren Beweis der für ihn offensichtlichen Verrücktheit der Magier sieht Plinius darin, dass sie den Maulwurf für das bewundernswerteste aller Tiere hielten, der doch von der Natur so offensichtlich vernachlässigt worden sei. Plinius differenziert in seinem Bericht über die Magie nicht. Unterschiedslos alles von der Geisterbeschwörung über Gespräche mit Verstorbenen bis zum
Plin. Nat. hist. 30, 21, 132. Plin. Nat. hist. 30, 22, 132. Plin. Nat. hist. 30, 26, 133. Plin. Nat.hist. 30, 41, 138.
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Gebrauch verblüffender Heilpraktiken summiert er unter Magie. Das passt zu den Maßnahmen römischer Amtsträger in Republik und Kaiserzeit. Wenn Magier aus Rom vertrieben werden, wie es z. B. durch das Edikt des Claudius erfolgte³³, wird nicht gefragt, um welche Sorte Magier es sich handelt. Mit archivalischer Wissensfreude trägt Plinius magische Praktiken und Rituale zusammen, sein Urteil allerdings steht fest: Man kann überzeugt sein, dass die Magie abscheulich (intestabilis), unwirksam (inritam) und nichtig (inanis) ist, jedoch einigen Schein der Wahrheit hat und dass dabei mehr die Giftmischerkünste, nicht aber die magischen Künste ihre Anwendung entfalten.³⁴ Er verweist in diesem Kontext auf Kaiser Nero, der sich bemüht zeigte, magische Praktiken zu erlernen. Als Lehrmeister gibt Plinius Tiridates, den König von Armenien, an, der vom Kaiser seine Herrschaft über das Land zurückerhielt.³⁵ In Nero, der „doch mit den höchsten Glücksgütern ausgestattet war und über alle Mittel verfügte“, fand Plinius einen willkommenen Vertreter der Anwendung magischer Praktiken. Er habe sich sehnlichst gewünscht, den Göttern befehlen zu können.³⁶ Offenbar sieht er den Kaiser ganz der superstitio und Selbstüberhebung verfallen. Wenig später gab der Biograph Sueton über die Rolle der Magier in der Herrschaftszeit Neros Zeugnis. Als sich der Kaiser und Muttermörder durch die Erscheinung Agrippinas verfolgt und bedrängt sah, aktivierte er magoi, die mit ihrem Opfer die Manen der erstochenen Mutter herausrufen und versöhnen sollten, ein Akt, der eigentlich in Rom
Nicht nur Magierinnen und Magier, sondern auch andere als bedrohlich empfundene religiöse Gruppierungen wurden zur Zeit des Claudius vertrieben, vgl. hierzu Helga Botermann. Das Judenedikt des Kaisers Claudius. Stuttgart: Steiner, 1996. Schon 139 v.Chr. wies der praetor peregrinus Chaldäer aus Rom und Italien aus (Valerius Maximus. Facta et dicta memorabilia 1, 3, 3), 33 v.Chr. vertrieb Agrippa Astrologen und Zauberer aus Rom (Cassius Dio. Römische Geschichte 49, 43, 5), aus ganz Italien wurden sie in den Jahren 16, 52 und 69 n.Chr. vertrieben (16 n.Chr. durch Tiberius: Tacitus. Annalen 2, 32, 3; Sueton. Vita des Tiberius 36; Cassius Dio. Römische Geschichte 57, 15, 8; 52 n.Chr. durch Nero: Tacitus. Annalen 12, 52, 3; Tacitus. Historien 2, 60, 2; 69 n.Chr. durch Vitellius: Sueton. Vita des Vitellius 14, 4. Aus Rom selbst wurden sie wieder 70 n.Chr. von Kaiser Titus vertrieben (Cassius Dio. Römische Geschichte 65, 9, 2. Vgl. Liebs, Strafprozesse, 147 mit Anm. 8). Cassius Dio. Römische Geschichte, Bde. 3 – 5, hg. und übers. von Otto Veh. Düsseldorf: Artemis und Winkler, 2007; Sueton. De Vita Caesarum Libri, herausgegeben von Max Ihm. Stuttgart: Teubner, 1958; Tacitus. Annalen, lat. und dt. herausgegeben von Erich Heller. München, Zürich: Artemis, 1982; Tacitus. Historien, lat. und dt. herausgegeben von Helmut Vretska. Stuttgart: Reclam, 1984. „sed in his veneficiis artes pollere, non magicas“ und „Magos secum adduxerat, magicis etiam cenis eum initiaverat…proinde ita persuasum sit, intestabilem, inritam, inanem esse, habentem tamen quasdam veritatis umbras sed in his veneficas artes pollere, non magicas.Plin. Nat. hist. 30, 17– 18, 131. Plin. Nat. hist. 30, 16 – 17, 131. Plin. Nat. hist. 30, 14, 130.
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verboten war.³⁷ Unter den Vorlieben Neros nennt Plinius u. a. die Herbeischaffung schwarzer Opfertiere, die sich offenbar für magische Praktiken eigneten, und erwähnt Menschenopfer, die er auch zu den magischen Praktiken zählte. Sie seien erst im 657. Jahr Roms, d.i. ca. 90 v.Chr. abgeschafft worden.³⁸ Damit wird die Abgrenzung vom Kaiser deutlich markiert, denn Menschenopfer haben in der römischen Religion keinen Platz. Nur einmal entschloss man sich zu einem Akt, der dem Menschenopfer verwandt war, als im Jahr 216 ein Griechen- und ein Gallierpaar lebendig in unterirdische Gräber geführt und damit direkt den Unterweltsgöttern übergeben wurden.³⁹ Dagegen wurde sehr wohl über Menschenopfer als Bestandteil der aktiven Religionspraxis bei anderen gentes berichtet, so werden z. B. den Druiden Menschenopfer unterstellt.⁴⁰ Druiden, Wahrsager und Ärzte, die magische Praktiken anwenden, seien in Gallien beheimatet.⁴¹ Auch die Einwohner Britanniens verstünden sich so gut auf Magie, dass man meinen könne, die Perser hätten es von ihnen gelernt.⁴² Schon Cicero hatte die Druiden in die Nähe der persischen Magoi gerückt. Beide unternahmen es in die Zukunft zu sehen.⁴³ Die Weissagungen (divinationes) „erfolgten aus dem Wasser, der Luft, den Sternen, aber auch aus Lampen, Becken, Äxten u. ä., auch aus dem Gespräch mit Toten“⁴⁴. Magie wird insgesamt sehr klar als „das Andere“ wahrgenommen, und
Suet. Nero 34, 4 „Magoi sacro evocare Manes et exorare temptavit.“ Im Kommentar z.St. wird darauf verwiesen, dass es sich hier wahrscheinlich um Angehörige aus der „altiranischen Priesterkaste“ der Parther gehandelt hat, die dem Zoroastrismus angehörten. Sueton. Caesarenleben, übertragen und erläutert von Max Heinemann. Stuttgart: Kröner, 1986. Plin. Nat. Hist. 30, 12, 129. Livius. Römische Geschichte 22, 57, 6. Livius betont hier, dass diese Art des Opfers bei den Römern sehr unüblich sei (Livius. Römische Geschichte XXI – XXIII, lat. und dt. von Josef Feix. München, Zürich: Artemis, 1986. Caesar. De bello Gallico 6, 13 – 16. Die Druiden werden als eigene Klasse von Menschen vorgestellt. In Kap. 16 heißt es, dass die Druiden die Menschenopfer durchführen, es können nämlich die Unsterblichen nur besänftigt werden, wenn Leben für Leben gegeben werden. Bei anderen Stämmen der Gallier werden Menschen in die Verbindungen von Opferbildern eingenäht, die dann allesamt von unten angezündet werden, so dass die Menschen lebendig verbrennen, so Caesar. Commentarii de bello Gallico, hg. und übers. von Mariluise Deissmann. Stuttgart: Reclam, 1980. Plin. Nat. hist. 30, 13, 129. Plin. Nat. hist. 30, 13, 130. Cicero, De Divinatione 1, 41, 90. Plin. Nat. hist. 30, 14, 130. Wahrsagerei, z. B. den Tod eines Herrschers vorauszusagen, beeinflusste unmittelbar die Gemüter der Untertanen, Schadenszauber bzw. unheilbringende Magie schadet dagegen real. Später werden im christlichen Codex Theodosianus (438 n.Chr.) beide Delikte zusammengefasst (Cod.Theod. 9,16) was auch im Codex Justinianus (529/34 n.Chr.) so bleibt (Liebs, Strafprozesse, 146 – 148 mit Anm.16).
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wer sich ihrer bediente, stand außerhalb der politischen Ordnung – und wenn es der Kaiser selbst war, wie im Fall Neros.
II.c Magie in der mittleren Kaiserzeit Zunächst soll wieder ein kurzer Blick auf das Phänomen der Magie geworfen werden, wie sie als Straftatbestand im 2. und 3. Jh.n.Chr. verfolgt wurde. Um den sich wandelnden Stellenwert der Magie in der römischen Gesellschaft nachzuvollziehen, lohnt ein Blick auf die Rechtsprechung, die zum Ende des 2. Jh.n.Chr. institutionelle Qualität gewann. Die Funktionen und Kompetenzen der Juristen erhielten ein völlig neues staatstragendes Fundament, ihre Urteile und Sätze wurden zusammengestellt, kommuniziert und viel diskutiert. Juristenschulen, die miteinander konkurrierten, kennen wir schon seit der frühen Kaiserzeit, durch die Institutionalisierung jedoch durchdrangen sie jetzt mit ihren Urteilen und Rechtssetzungen den politischen Raum. So griff Callistratus ein Reskript Hadrians auf, das im Corpus Iuris Civilis auf die Verurteilung von mala sacrificia ⁴⁵ folgt: „in maleficiis voluntas spectatur, non exitus.“⁴⁶. Damit wird der Vorsatz zur Tat bestraft – unabhängig von ihrem Erfolg. Durch die neue Jurisprudenz wurde so auch ein anderes Licht auf Delikte selbst geworfen, zum einen wurde der Vorsatz miteinbezogen, dann aber auch ihre Tragweite und Konsequenzen stärker gewichtet. Erst mit dem geschärften Blick auf Magie änderte sich die Haltung ihr gegenüber, bis zur Mitte des 2. Jh. hatte sie noch wenig von ihrer unheilvollen und verstörenden Qualität verloren. Wer der Magie überführt wurde, konnte mit dem Tod durch Verbrennen rechnen, wer Mitwisser oder Eingeweihter (magicae artis conscius) war, konnte den Tieren vorgeworfen oder gekreuzigt werden, wer Bücher mit entsprechenden Inhalten besaß, wurde deportiert, humiliores wurden mit dem Tod bestraft.⁴⁷ Das Bild von Magie insgesamt aber hat sich gewandelt, wie ein Blick in das Werk des Apuleius⁴⁸ (geb. 124 n.Chr.) zeigt, der uns eine differenzierte Sicht auf Magie eröffnet, die nun zum ersten Mal auch positiv konnotiert sein konnte. Damit ist für den Raum Magie der Wandel eingeleitet, er fungiert nicht mehr als klar zur Religion abgegrenzte Sphäre, die identitätsbewahrende Aufgaben übernimmt, sondern es wird ein Zwischenraum entwickelt, in dem sich
Dig. 48, 8, 13. Dig. 48, 8, 14. Ps.– Paulus. Sententiae 5, 23, 17 f., vom Ende des 3. Jh.n.Chr., bei Liebs, Strafprozesse, 147. Dig. 48, 8, 3, 5. Hier sind sich die antiken Quellen recht einig, seit dem 4. Jh. wird er als Magier bezeichnet. Lactanz. Inst. 5, 3,7, vorsichtiger Augustinus. De civitate Dei 18, 18.
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Kontaktzonen zur Religion ergeben können. Die juristische Perspektive bietet die Plattform. In einem beispiellosen Prozess verteidigte sich der Gelehrte aus Madauros gegen Magie und ging dabei sehr geschickt vor. Seinen Anklägern gab er zu bedenken, in welcher Gefahr sie sich befänden, wäre Apuleius wirklich der Meister der dunklen Künste, deren sie ihn anklagen. Dass sie sich trauen, ehre ihn. Wie lautet nun die konkrete Anklage?⁴⁹ Apuleius habe ein gespenstisches (gerippeartiges) Holzbild (den Angaben des Apuleius zu Folge aus schwarzem Ebenholz, das aus Ägypten importiert worden sei), hergestellt. Hermes, den er als basileus angesprochen habe, sei geeignet, als Bote die Zaubersprüche zu überbringen. Hermes Trismegisthos war in der Tat im 2. Jh.n.Chr. sehr populär und fand durch seine „Trinität“ (trismegisthos – der Dreimalgroße, analog zur Dreieinigkeit der christlichen Gottheit) auch Eingang in christliche Vorstellungen. So wurde Apuleius zuerst vorgeworfen, dass er erstens extra (schwarzes) Holz gesucht und zweitens die Statuette heimlich hergestellt habe. Er entgegnete, dass die Statue das Geschenk seines Freundes Saturninus aus Oea sei und mitnichten die Gestalt eines Gerippes habe, sondern einfach ein Merkürchen⁵⁰ darstelle, das eben aus Holz sei und nicht aus Metall. Damit erschöpfen sich die nachweisbaren Vorwürfe – die Statue gab es ja im Besitz des Apuleius – wo war die Magie? Mit Hilfe dieser Figur soll er Pudentilla, die doch gelobt hatte, nach ihrer Scheidung nie wieder zu heiraten, mit Zaubersprüchen in die Ehe mit ihm selbst gezwungen haben. Apuleius erläutert im Folgenden, dass er in seiner Ehe mit Pudentilla glücklich sei, an deren Zustandekommen allerdings die Figur gar keinen Anteil gehabt habe. Wer hatte Interesse daran, dass die Frau Opfer von Magie und damit Apuleius als Heiratsschwindler verurteilt werden würde? – Die Anverwandten kommen in Frage, die die sehr wohlhabende Geschiedene im Fall ihres Todes beerben würden. Man mag ihr Verhalten mit dem Ruf des Apuleius als Verschwender, der ständig auf Reisen war und als Magier galt, erklären. Vor allem aber waren sie daran interessiert, dass die Ehe nicht rechtmäßig zustande gekommen und nun aufzulösen sei. Für die Bedeutung der Magie bleibt festzuhalten, dass eine Anklage wegen schwarzer Magie (hier: angewandter Liebeszauber) auf Leben und Tod möglich war und ein Prozess regulär geführt werden konnte.⁵¹ Apuleius als sein eigener
Apuleius. Über die Magie 61– 65. Apuleius. Über die Magie, eingeleitet und übers. von Jürgen Hammerstaedt, Francesca Lamberti u. a. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2002. D.i. eine kleine Figur des Gottes Merkur in Statuenform. Liebs verweist darauf, dass wir über den Prozess gegen Apuleius sehr gut unterrichtet sind, da Apuleius selbst seine Verteidigung übernahm. Der wegen Magie geführte Prozess zielte allerdings auf ganz andere Dinge, nämlich die Ausschaltung eines unliebsamen Konkurrenten. Bei Liebs, Strafprozesse, 151– 152. Auch Reinhold Merkelbach verweist darauf, dass der Prozess auf die
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Verteidiger entging der Verurteilung durch seine brillante Argumentation, die uns neue Aspekte der Magie vermittelt. Die Argumentation des redegewandten Apuleius überzeugt durch die Reduktion der Anklagepunkte auf die sachlich greifbaren Vorwürfe. Dazu ist wichtig zu wissen, dass in der Antike Urteile häufig weniger auf der Basis der Faktenlage als vielmehr auf der Grundlage der Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten gefällt wurden. So war es eher entscheidend, ob man dem Angeklagten eine solche Tat zutraute, man verließ sich weniger auf die Beweislage – sofern es Spielraum gab und diese nicht durch Zeugenaussagen erdrückend war. Apuleius verzichtete auf diese Argumentationsbasis völlig und vermied damit weitgehend die persönliche Einschätzung bzw. in diesem Fall Selbstdarstellung, da man ihm durchaus Verschwendung und amoralisches Verhalten vorwerfen konnte. Seine Integrität stellt er erst gar nicht zur Diskussion. Umso wirkungsvoller ist die die folgende differenzierte Darstellung der Magie, die er dann den Zuhörern präsentiert. Dem Vorwurf, er sei ein Magier entgegnet er so⁵²: Zunächst möchte er die Zuhörer darüber aufklären, was überhaupt ein Magier ist. Wie Plinius sucht er die Wurzeln der Magie bei den Persern, die Magier und Priester gleichsetzten. Er fragt nun, was daran so verwerflich sei, die Gesetze der Kulthandlungen zu kennen und zu beherrschen. Den Anwärter auf den persischen Königsthron unterrichten diese Priester, und zwar der Weiseste, der Gerechteste, der Besonnenste und der Tapferste. Das sind Qualifikationen, die nicht zufällig an den Tugendkatalog Platons erinnern. Die Kunst der Magie sei demnach den Göttern höchst willkommen und darauf bedacht, ihnen zu dienen. So sei der Gebrauch der divina potentia auf das Gute ausgerichtet. Die Philosophen nun stellt er den Magierinnen und Magiern gleich: Welche die Phänomene der Natur erkennen möchten, werden von ihren Gegnern der Gottlosigkeit bezichtigt, welche aber die Welt etwas neugieriger ergründen und die Götter etwas überschwänglicher feiern, werden als volkstümliche Magierinnen und Magier angeklagt. Apuleius unterschied zwischen zwei Spielarten der Magie: 1) In der Auffassung seiner Gegner bringt die Magierin / der Magier im vertrauten Gespräch mit den Göttern durch die Kraft der Beschwörung zu Wege, was er will.⁵³
Anklage von Magie hin geführt wurde (Reinhold Merkelbach. Isis Regina – Zeus Sarapis. Stuttgart: Teubner, 1995, 418). Apuleius. Über die Magie 25 – 27. Apuleius. Über die Magie 26, 6.
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Magie fiel von alters her unter gesetzliche Verfolgung, wie in den XII-Tafeln belegt ist.⁵⁴ Sie äußerte sich dort mittels unglaublicher magischer Praktiken, den Ernteertrag überhaupt zu gewinnen oder zu steigern, war nicht weniger geheim (occultus) als abscheulich und schrecklich (horribilis), zudem wurde diese Praktiken nachts vollzogen.⁵⁵
Mit dieser Unterteilung nimmt er inhaltlich die Konzeption einer weißen und einer schwarzen Magie aus der Zeit Konstantins und zugleich einer volkstümlichen und einer bei den Weisen verankerten Magie vorweg.⁵⁶ Damit ist er einer der ersten, die Magie mittels ihrer Wirkung differenzieren und nicht als solche als Störung der Ordnung empfinden. Dieser Einsicht zugrunde liegt sicher der tiefere Einblick in das dualistische Prinzip aus dem persischen Umfeld, dem zu Folge durch Magie gute wie böse Kräfte mobilisiert werden konnten. Apuleius offenbart sich mit seiner Schrift über die Magie als Autor, der mit der Magie, wie die Perser sie verstehen, sehr vertraut war. Seine Schriften waren sehr beliebt, besonders der Roman „Der goldene Esel“ („Metamorphosen“).⁵⁷ Die Auffassung der Magie als „das Andere“ war offenbar aufgebrochen, fand sie jetzt doch als akzeptables Konzept römischer Religion Eingang in die römische Geisteswelt. Der „Goldene Esel“ ist ein Indikator für die Salonfähigkeit magischer Rituale. In dem Roman geht es um die Verwandlung und Rückverwandlung des Autors mittels magischer Praktiken und Zeremonien, die im Zeichen der Isis ausgeübt wurden. Der Isis-Kult – unter Augustus noch sehr skeptisch und unentschieden bewertet – war aber schon da Trendkult in der Oberschicht Roms. Die offizielle Haltung gegenüber dem Kult unterschied sich häufig von seiner allgemeinen Akzeptanz Dem ersten Prinzeps war der Isis-Kult suspekt, aber er schützte ihn in der Stadt selbst.⁵⁸ Während sein Feldherr Agrippa den Kult zu verbieten suchte⁵⁹, schmückten die
XII tabulae, Tafel 8a und 8b. vgl. dazu Liebs, Strafprozesse, 146. Das Zwölftafelgesetz, hg. und übers. von Rudolf Düll. Zürich: Artemis, 61989. Apuleius. Über die Magie 47, 3. Cod. Theod. IX 16,3 mit dem Kommentar von Dörries z.St. Hermann Dörries, Das Selbstzeugnis Kaiser Konstantins. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 1954, 170 – 171. Merkelbach. Isis Regina – Zeus Sarapis, 418 – 420. Zur Beliebtheit der Schrift Michael von Albrecht. Geschichte der lateinischen Literatur, Bd. 2. München 1994, 1150 – 1164, hier 1153; 1155, zum blühenden Fortwirken seiner Schriften 1159 – 1161. Den Titel „Metamorphosen“ hatte Apuleius dem Werk gegeben. Der sprechende Titel „Der goldene Esel“ wurde von Augustin aus dem umgangssprachlichen Bereich übernommen (Augustinus. De Civitate Dei 18, 18,1) und geprägt. Auch das zeugt von der lebendigen Überlieferung des Romans und seiner Beliebtheit. Cassius Dio. Römische Geschichte 53,2,4. Cassius Dio. Römische Geschichte 54, 6, 6, mit weiteren Beispielen der Einordnung durch nachfolgende Kaiser bei Merkelbach. Isis Regina – Zeus Sarapis, 132– 133.
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Wände des Hauses der Augustusgattin Livia sehr hochwertig gefertigte Täfelungen mit Bildern der Göttin.⁶⁰ Der Kult hatte sich rasant ausgebreitet und mit ihm die Ausübung von Religion durch magische Praktiken. Die öffentliche Akzeptanz des Kultes mit seiner Vielfalt an magischen Ritualen spiegelt sich in der raschen Verbreitung und Beliebtheit des Romans von Apuleius. Die Vorstellungen einer Magie, die als solche die römische Ordnung bedrohte, war überholt und wurde von aktuellen Konzepten überlagert. Jetzt spielte Magie als Erfahrung eine zentrale Rolle, sie war individuell, und es galt zu unterscheiden, mit welcher Motivation sie ausgeübt wurde. Für die Magie als Zwischenraum beginnt jetzt eine spannende Phase, denn sie wurde nicht mehr als Bedrohung der gültigen Ordnung wahrgenommen, war aber auch noch nicht so anerkannt, dass man ihr ohne Vorbehalte vertraute – auch wenn man mittels der Anwendung von magischen Praktiken Gutes verfolgte. Mit dem modifizierten Verständnis von Magie öffnen sich Grenzen, sie findet in neuer Form Einlass in die Gesellschaft, indem sie eine neue religiöse Ordnung spiegelt. Diese Ordnung war nicht mehr ausschließlich durch die polytheistische Götterwelt definiert, sondern wurde allmählich durch die Aufnahme neuer Elemente wie das Christentum und den Manichäismus geprägt. Der Zwischenraum der Magie, in dem sich als Gegenentwurf zur Anerkennung der göttlichen Ordnung durch öffentlich sakrale Praxis eine individuell motivierte und dem öffentlichen Raum entzogene gelebte Religiosität spiegelte, diente in Rom bis zu Plinius in der zweiten Hälfte des 1.Jh.n.Chr. als Abgrenzung, nun aber wurde Magie zunehmend zum Konstitutivum der römischen Gesellschaft. Der Zwischenraum wurde nicht nur integraler Bestandteil, sondern fungierte als Konzept zur Identifikation. Jetzt griffen Mechanismen, die über den kommunikativen Raum bestimmt wurden – man redete über magische Praktiken und war damit Teil derselben. Voraussetzung dafür war eine gewandelte Auffassung von Magie, hinter der ein dualistisches Prinzip stand, denn das erst eröffnet den Horizont für die Fragen nach der Art und Funktion der Magie. Hieran hat die Ausbreitung des Christentums einen wesentlichen Anteil. Welche Auffassung von Magie hier transportiert wurde, ist im Folgenden zu erläutern.
Beispiele von Magie bei Juden und Christen Auch die Welt der Jüdinnen und Juden bzw. Christinnen und Christen wird von zwei Prinzipien beherrscht, die einander gegenüberstehen und sich bekämpfen.
Bei Merkelbach. Isis Regina – Zeus Sarapis, 133 – 135 mit weiteren Inschriften und archäologischen Zeugnissen.
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Folgerichtig ist auch hier Magie nicht per se als zerstörend abzulehnen, sondern es muss gefragt werden, wozu sie gebraucht wird. Im Alten Testament finden wir eine ganze Reihe an Beispielen für die Anwendung magischer Praktiken, so z. B. die Haare Simsons, in denen seine Kraft lag⁶¹, das Bestreichen der Türen mit Blut, um den Racheengel des Todes abzuwenden⁶² oder das Aufrichten einer ehernen Schlange, deren Anblick Gebissene heilte.⁶³ Die Beispiele zeigen, dass die Anwendung übernatürlicher Kräfte in der jüdischen Religion verankert war und von Jahwe selbst befohlen wurde. Am eindrucksvollsten ist das Beispiel Sauls, der die Hexe von Endor⁶⁴ befragte. Im Angesicht der Philister fürchtet sich der König und sucht Antworten von Gott in Form von Träumen oder Losen, die er jedoch nicht erhält. Nachts und verkleidet sucht er die Wahrsagerin auf und bittet sie, einen Kontakt zu den Toten herzustellen. Argwöhnisch geworden entgegnet sie, dass er ihr wohl eine Falle stellen wollte, ob er nicht wisse, dass Saul, der König, alle Wahrsager und Zauberer bei Androhung des Todes vertrieben habe. Nachdem er versichert, dass ihr nichts geschehen würde, bitter er, dass sie ihm Samuel, den kürzlich verstorbenen Priester, heraufbeschwöre. Erschrocken erkennt sie, dass Saul vor ihr steht, er aber beruhigt sie und fragt, was sie sähe. Sie sieht einen Geist aus der Erde heraufsteigen, der mit einem Priesterrock bekleidet ist. Saul fiel der Länge nach hin. Der Geist ist verärgert, dass man seine Totenruhe gestört hat und fragte nach dem Begehr des Königs. Saul wünscht Rat in seiner ausweglosen Situation und hört nun allerdings Worte, die ihm gar nicht gefallen und ihn zu Tode erschreckten. Sie gipfeln in der Aussage, dass Saul mit seinen Söhnen des andern Tages bei ihm im Totenreich sein werde. Die Wahrsagerin tröstet den demoralisierten König und entlässt ihn nicht, ohne dass er sich noch gestärkt hatte. Für die Position der Magie lässt sich festhalten, dass Saul zwar alle Zeichendeuter und Magier des Landes verwiesen hatte, die Wirksamkeit von Magie an sich wurde von ihm jedoch nicht angezweifelt. Er erschien zwar nachts und verkleidet, was aber eher darauf hindeutet, dass er unerkannt seine eigene Weisung umgehen musste. Die Hexe holte Samuel von den Toten herauf. Indem Samuel sich über die Störung seiner Totenruhe beklagte, wird deutlich, dass er wirklich von den Toten heraufgestiegen war. Dies wird dadurch bestärkt, dass er Saul nun bald wieder um sich habe. Saul selbst hatte die Seherin befragt. Diese Handlung wurde ihm nicht zum Verhängnis, vielmehr wurde er völlig unabhängig vom Gespräch mit dem verstorbenen Priester von Gott verstoßen. Bemerkenswert ist zudem die Charakterisierung der Hexe, die auf der einen Seite klug handelte
Richter 13, 5; 16, 16 – 21. 2. Mose 11, 48; 12, 7– 13. 4. Mose 21, 6 – 9. 1. Sam. 28, 3 – 25.
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und sich menschlich verhielt, indem sie schnell begriff, dass ihr möglicherweise eine Falle gestellt wurde und auf der anderen Seite den König nach den furchtbaren Neuigkeiten durch den Totengeist noch bei sich behielt und ihn stärkte. Die Überlieferung der Begebenheit der Wahrsagerin von Endor zeigt, dass magische Praktiken zwar Anstoß erregten, da Magieverbote als Machtinstrument genutzt wurden, unabhängig davon aber fand individueller Gebrauch von Magie in persönlichen Notsituationen Eingang in die jüdische Überlieferung. Eine Strafe Gottes für das Handeln Sauls ist nicht bezeugt. So nahm Magie im Judentum eine zentrale und aktive Funktion ein, sie wurde als Instrumentarium Gottes akzeptiert und praktiziert. Es verwundert kaum, dass die ersten Christen, die noch komplett in der jüdischen Tradition standen, den Messias völlig zwanglos unter die Magier zählten, seine Wundertaten waren voll von angewandter Magie.⁶⁵ Er war in der Lage, mittels magischer Praktiken körperliche Gebrechen und psychische Defekte zu heilen. Das brachte ihm von römischer Seite den Vorwurf des Gebrauchs übernatürlicher Kräfte ein, die ordnungszersetzend wirken konnten⁶⁶; denn so konnten Massen unkontrollierbar gewonnen und gesteuert werden. Wie anschlussfähig an zeitgenössische Religionspraxis das Christentum mit der Anwendung von Magie war, zeigt sich am Beispiel eines Berichts aus der Apostelgeschichte⁶⁷: Philippus trifft auf einen Magier, Simon Magus, der in Caesarea in Samaria sehr bekannt ist und alle mit seiner Zauberkraft in den Bann zieht. Er gibt vor, etwas Großes zu sein, und es heißt, er sei die Kraft Gottes. Die Überlieferung spricht den Aposteln Heilungen von Kranken, die Austreibung böser Geister und weitere Wundertaten wie Nahrungsvermehrung zu, wenn sie sich auf die Kraft Gottes verlassen. Diese Fähigkeiten wurden auch Philippus zugeschrieben, der in Samaria als Zeuge der Botschaft des christlichen Evangeliums tätig ist. Wie die Apostel soll er viele durch seine Glaubwürdigkeit und diese Wundertaten für das Christentum gewonnen haben und wird mit seiner Popularität zum Vorbild für Simon Magus. Auch Simon Magus bekennt sich nun zur Botschaft Christi und lässt sich taufen. Es heißt dann, dass er sehr über die Taten des Philippus staunt. Christus wandelte auf dem Meer (Matth. 14,22– 32), er heilte allein durch Worte oder durch Berührung. Zwei Besessene heilte er, indem er sie ansprach (Matth. 8, 28 – 34), in der Synagoge wies er einen Krüppel an, die Hand auszustrecken und heilte ihn damit (Matth. 12, 9 – 13). Ausgerechnet Aussätzige, die hochansteckend waren, heilte er durch Berührung (Matth. 8, 1– 4), weitere Beispiele sind die Speisung der 5000, die Hochzeit zu Kana, bei der er Wasser in Wein verwandelte. Die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen und zeigt vielerlei Spielarten von Magie. Christus erfüllte nicht alle Voraussetzungen für einen Magier, die in der Regel mit ihrer Kunst auch Geld erwarben, stand aber dennoch mit dämonischen Mächten in Verbindung, die er beherrschte, s. Marco Frenschkowski. Magie III.2. Christus als Magier. In RGG Bd. 5 (2002), Sp. 668 – 669. Vgl. auch Morton Smith. Jesus the Magician. Berkeley: Ulysses Press, 1998. Apg. 8, 4– 25.
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Mit dem Begriff des Staunens ist ein Prozess in Gang gesetzt, mit Hilfe dessen der Akteur von seiner eigenen Person absehen und „übernatürliche“ Dinge in sich aufnehmen und verinnerlichen kann. Sie sind dann im Innern wie Erfahrungen verankert und bieten individuell fundierte Gewissheit und Sicherheit. Es ist erstaunlich, dass dieser Erkenntnisprozess des Staunens offenbar erst nach der Taufe des Simon Magus einsetzte. Etwas später kommen Petrus und Johannes in die Stadt und legen den Gläubigen die Hand auf, die nun den Heiligen Geist empfangen. Der Heilige Geist spielt eine zentrale Rolle als Kraft Gottes, die nach dem Tod Jesu seine Jünger nach seiner Aufnahme in den Himmel begleitete.⁶⁸ Diese Kraft kann durch Handauflegen weitergegeben werden. Wer den Heiligen Geist empfangen hatte, kann ihn weitergeben, auch Petrus und Johannes nutzen diese Gabe. Als Simon das sieht, bietet er ihnen Geld an, damit sie ihm diese Fähigkeit vermitteln. Bemerkenswert ist hier die Frage nach dem Erwerb solcher Fähigkeiten, wovon Simon offenbar ausging. Petrus aber fährt ihn an, dass er mitsamt seinem Geld verdammt sein möge, Simon habe keinen Anteil an der gerechten Sache, da sein Herz nicht rechtschaffen vor Gott sei. Er solle Buße tun und zum Herrn flehen. Simon bittet, dass die Apostel das übernehmen möchten, damit er nicht verdammt würde. Nur die Apostel konnten demnach die Wirkung des Fluches aufheben, den sie über Simon ausgesprochen hatten. Der selbstverständliche Umgang mit magischen Praktiken innerhalb des Christentums erstaunt hier kaum. Magie wurde als mögliche Kraft vorausgesetzt und durfte sehr wohl genutzt werden, wenn es in der richtigen Auffassung geschah. Seine Fähigkeiten sollte Simon bruchlos weiter einsetzen, das wurde überhaupt nicht in Frage gestellt. Näher besehen traten mit Philippus und Simon sogar zwei Magier in den Wettstreit miteinander. Die mittelalterliche Legendenbildung weiß noch um den Sturz des Simon Magus, der im Angesicht der Apostel vorgab, fliegen zu können und nur einen Fehlversuch brauchte, um die Menge vom Gegenteil zu überzeugen.⁶⁹ Die Beispiele aus dem Alten und Neuen Testament zeigen eine differenzierte Sicht auf die Magie. Der Gott sowohl des Alten wie des Neuen Testaments nutzte Magie, sein Sohn Christus übte magische Praktiken aus und dessen Nachfolger gewannen durch die Anwendung von Magie Anhänger. Simon, der ohnehin schon als Magier wirkte, war willens, durch die Taufe seine magischen Kräfte im Sinne des Christentums neu auszurichten. Im Juden- wie im Christentum hat Magie, die Apg. 1,8; 2,1– 12. Von der Erfüllung mit dem Heiligen Geist ist auch in Apg 4,31 die Rede. Alle Versammelten wurden mit dem Heiligen Geist ausgestattet. Das Wunder wurde durch ein Erdbeben eingeleitet. Der Sturz ist im Mittelalter oft im Bild festgehalten worden, z. B. als Gemälde in der Basilica di Santa Maria Degli Angeli e dei Martiri in Rom.
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das Gute zum Ziel hat, ihren festen Platz und ist integraler Bestandteil der Religion. Das dualistische Prinzip schlug sich in den Konzepten der Magie nieder. Damit löst sich die Magie aus dem Zustand des Zwischenraums und fließt in die Religionspraxis ein. Mit dem Einfluss des Christentums ist Magie nicht mehr generell zu meiden, wie Plinius es beschrieb, oder wird als zerstörend bzw. staatszersetzend gewertet. Kaiser Diokletian kann als einer der letzten Verfechter der alten römischen Ordnung gelten, die sich gegen den zunehmenden Einfluss des Christentums wehrten. Es ist nur konsequent, dass unter seiner Regierung auch die Vertreter eines dualistischen Weltbildes geringe Überlebenschancen hatten, da sie die römische Ordnung gefährdeten.⁷⁰ Neben den verfolgten Christinnen und Christen kam auch der Perser Mani 277 n.Chr. zu Tode, der sich als Apostel Jesu Christi verstand und ein eigenes christlich-persisches Glaubensgebäude errichtet hatte. Die Nähe beider Glaubenskonzepte zueinander ergab sich zwanglos durch die dualistische Basis, die Christentum und Zoroastrismus einte. Diokletian erließ im Jahr 297 n Chr. ein Edikt gegen die Anhänger Manis, die in Ägypten sehr aktiv wirkten.⁷¹ Auch vom persischen Herrscher wurden sie wohlwollend behandelt, obwohl sie nicht dem Zoroastrismus anhingen. Es war von persischer Seite aus durchaus möglich, sie gegen den römischen Kaiser aufzubringen, was sie zu einer latenten Gefahr für die römische Ordnung werden ließ. Diokletian ging daher gegen die Anhänger vor, da sie potentiell soziale Unruhen auslösen konnten und stellte sie unter denselben Vorwurf wie die übrigen Christen in seinem Reich, indem er ihnen vorhielt, die römische Ordnung in ihren Grundfesten zu erschüttern. Durch die persische Prägung in Folge der Bewegung Manis flossen noch stärker magische Praktiken in das Christentum ein. Die persischen Priester galten ja seit jeher als Hüter der Magie, wie schon bei Plinius oben deutlich wurde. Spätestens seit Mani fand Magie auch Eingang in das christliche Glaubenskonzept und forderte zur Auseinandersetzung auf. Besonders aussagekräftig ist hier Augustinus, der sich mit der Vereinbarkeit römischer Weltordnung mit dem neuen Anspruch des Christentums befasste, und die Magie überraschend neu bewertete. Obwohl er mit den Anhängern des Mani in heftigem Disput
Über die Edikte Diokletians zur Durchsetzung altrömischer Religion informiert uns Eusebius: Eus. Historia Ecclesiastica 8, 2, 4– 5; 8, 6, 7– 10; Eus. Mart. Pal. 3,1, übers. und kommentiert bei Peter Guyot, Richard Klein (Hg). Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen, Bd. 1. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993, 178 – 180. Dem Edikt zufolge haben die Manichäer mit ihrem „Hass auf die Welt die Grundlagen der kaiserlichen Weltideologie angegriffen“, wie Alexander Böhlig es formuliert s. Alexander Böhlig. Der Manichäismus. In Die orientalischen Religionen im Römerreich, hg. von Maarten J.Vermaseren. Leiden: Brill, 1981, 436 – 458, hier 452.
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stand⁷², gehörte Magie für ihn zur christlichen Religion dazu. Er ging von der grundsätzlichen Erlösungsbedürftigkeit des Menschen aus und bezog die pagane römische Umwelt mit ein. Unter dieser Voraussetzung beurteilte er Numa, den zweiten sagenhaften König Roms nach Romulus und römischen Religionsgründer, als Magier.⁷³ Dieses Verständnis von Magie öffnet ihr einen neuen Weg, dem im nächsten Abschnitt nachgegangen wird.
III. Die Bedeutung der Magie unter Konstantin und in der Spätantike Mit Kaiser Konstantin begann in Rom die gesetzlich verankerte Differenzierung zwischen verschiedenen Arten der Magie, die sich auch bei den Kirchengelehrten durchsetzte⁷⁴: ‚weißer‘ und ‚schwarzer‘ Magie. Das eine war erlaubt, das andere verboten. Dabei wurden in beiden Formen dieselben Praktiken benutzt, nur das Ziel war ein anderes. Eine ganze Reihe von Bestimmungen wurde auf den Weg gebracht. Im Folgenden gilt es, diesen gesetzlichen Bestimmungen genauer nachzugehen. Dabei wird der langwierige und komplizierte Prozess der Anerkennung und Integration magischer Praktiken deutlich. Zunächst werden die Arten der Magierinnen und Magier und der Magie kleinteiliger definiert, durchgehend wird auf die Öffentlichkeit der Magie geachtet. Hier wirken die überkommenen Mechanismen nach, denen zu Folge die Ordnung unbedingt zu wahren war. Jetzt kamen die Ansätze zum Tragen, die bereits mit der Schrift des Apuleius Eingang in die römische Religionspraxis gefunden hatten. Die Kriterien für die Einordnung magischer Praktiken wurden nun ausformuliert, so blieben Wetter- und Heilzauber straflos (innocenter adhibita suffragia), Liebes- und Schadenszauber (gegen die salus hominum) sowie Wahrsagerei allgemein wurden mit der Todesstrafe belegt⁷⁵ und zwar durch Verbrennen.⁷⁶ Den Wahrsagern, hier
Zu den Disputationen mit den Manichäern vgl. Wilhelm Geerlings. Augustinus. In Lexikon der antiken christlichen Literatur (LACL) (1998), 65 – 85, hier 72. Augustinus. De civitate Dei 7,34– 35, bei Maijastina Kahlos. Artis heu magicis: The Label of Magic in Fourth-Century Conflict and Disputes. In Pagans and Christians in Late Antique Rome, hg. von Michele Salzman u. a. Cambridge: CUP, 2016, 162– 177, hier 164. Augustinus und Origenes trennen zwischen dem Gebrauch guter und böser Kräfte. Bei Kahlos, Artis heu magicis, 165. Cod. Theod. IX 16, 3 vom Mai 321/4, bei Dörries, Selbstzeugnis, 171– 174. Das ist im Übrigen die gleiche Strafe, die diejenigen Juden erleiden, die zum Christentum Konvertierte mit Steinen o. ä. angreifen. Cod Theod. XVI 8,1 vom Oktober 315 (bei Dörries, Selbstzeugnis, 170).
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explizit den haruspices, wurde der Gebrauch ihrer Fähigkeiten im privaten Bereich untersagt. Sie durften nicht unter irgendeinem Vorwand eine private Schwelle übertreten. Wenn sich in Privathäusern zwischen Wahrsagern und Bürgern Freundschaften entwickelt hatten, waren diese zu lösen, im Fall des Widerstandes sollte der Wahrsager verbrannt werden, der Hauseigentümer wurde nach Güterkonfiskation auf eine Insel verbannt.⁷⁷ Bemerkenswert ist die Ergänzung: wer die superstitio weiter ausüben wolle, solle dies öffentlich tun. Damit blieb der Tatbestand der superstitio zwar erhalten, aber er war durch öffentliche Maßnahmen umgehend einzudämmen und zu kontrollieren. Auch bei den Kirchenvätern heißt es: magi per privatos contractus, boni christiani per publicam iustitiam ⁷⁸, Angeschlossen wird der ausdrückliche Vermerk, dass, wer solches Treiben anzeigt, kein Denunziant sei. Zwei Motive wären hier möglich, entweder, wie so häufig in der römischen Ordnung, die Furcht vor unkontrollierbaren, da im privaten Raum vollzogenen Ritualen, wie es schon der Bacchanalienskandal von 186 v.Chr. gezeigt hat oder aber die Wahrung eines kaiserlichen sakralen Wissensmonopols. Wenn sich die Haruspizin öffentlich abspielten, konnten dort keine geheimen Lehren verbreitet werden.⁷⁹ Später unter Kaiser Constantius wurde jede Befragung eines haruspex, mathematicus oder hariolus untersagt, da sie eine prava confessio übten.⁸⁰ Wegen der Größe ihrer Untaten wurden alle Wahrsagerinnen Wahrsager sowie Magierinnen und Magier unter die malefici gefasst, jede divinatio wurde nun bei Todesstrafe untersagt, was die These des kaiserlichen Wissensmonopols weiter stützt. Viele der Magier brächten mit ihren Künsten die Elemente in Unordnung und bedrohten durch heraufbeschworene Tote das Leben ihrer Feinde. Magierinnen und Magier ebnso wie Wahrsagerinnen Wahrsager wurden daher nicht nur bestraft, sondern auch noch mit einem Fluch belegt: hos…feralis pestis absumat und ein Jahr später in einem Edikt sollten sie der Folter unterzogen werden.⁸¹ Kurzzeitig wurde Magie wieder pauschalisiert und verallgemeinert. Damit sollte sie erneut in einen separaten Raum verwiesen und kommunikativ getrennt werden, allerdings ohne Erfolg. Mit der Verallgemeinerung geriet Magie vorübergehend wieder in die Rolle, einen zentralen Bestandteil des Gegenentwurfs zur gültigen Ordnung zu verkörpern, ein Vorwurf, der sich nicht halten ließ. Offenbar war den Magiern und Wahrsagern nichts nachhaltig Wirkungsvolles entgegenzusetzen. So ist das Edikt Valentinians aus dem Jahr 371 als partielle
Cod. Theod. IX 16, 1, Febr. 319. Augustinus. Divers. Quaest. 79, 1– 4. Vgl. Kahlos, Artis heu magicis, 165. So Marie Theres Fögen. Die Enteignung der Wahrsager. Frankfurt: Suhrkamp, 1993, 64– 67: Verbot einer magischen bzw. astronomischen scientia. Cod. Theod. IX 16, 4, vom Jan. 357. Cod. Theod. IX, 16, 6, vom Juli 358.
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Anerkennung zu verstehen. Die Magie der Wahrsager (haruspices) wurde nun aus den generellen causae maleficiorum herausgenommen und nur im Fall des nocenter exerceri untersagt.⁸² Mit der klaren Anerkennung positiv wirkender Magie wurde der Zwischenraum, den Magie bis dahin belegte, endgültig aufgelöst. In die Regierungszeit des Valentinian und des Valens fielen eine ganze Reihe von Magieprozessen in Rom und Antiochia⁸³, deren Anzahl allerdings mehr Unsicherheiten in der Regierung der Kaiser als einen tatsächlichen Anstieg von Magie offenbart. Auch in diesen Prozessen wird wieder deutlich, dass der Vorwurf der Magie allein nicht ausreichte, nur in differenzierter Form als Vorwurf der Anwendung schwarzer Magie taugte sie als Anklage, dann allerdings sehr häufig.⁸⁴ „Dunkle“ magische Praktiken waren ein allseits beliebter Vorwurf, um machtpolitische Konflikte auszutragen.⁸⁵ So wurden Libanios und einige seiner Freunde im Rahmen des Skythopolis-Prozesses wegen Magie angeklagt⁸⁶, Priscillian 385 Cod. Theod. IX 16, 9, vom Mai 371. Ammianus Marcellinus. Römische Geschichte 26, 4, 4 (Vorwurf des Schadens durch Zauberwerk); 28, 1, 8 (Vorwurf der Vergiftung); 28, 1, 50 (Vorgebliche Schädigung durch „schlimme Künste“; 29, 1, 41 (Verbrennung von Büchern und Schriftrollen). Als Beispiel soll Maximin, der Vikar von Rom um 370 n.Chr., dienen, der aus Karrieregründen mehrfach eine Klage wegen schwarzer Magie anstrengte. Ammian 28, 1, 8 – 11 und 28, 1, 29. In einem weiteren Fall klagte er den Anwalt Marinus an, der versucht haben soll, mittels schwarzer Magie Hispanilla zur Frau zu gewinnen (Ammian 28, 1, 14). Faustin, ein hoher Beamter, muss sich ebenfalls wegen der Anwendung schwarzer Magie vor Gericht verantworten. Petronius Probus, der Prätorianerpräfekt Italiens und Illyriens, seines Zeichens Christ, warf ihm vor, einen Esel geschlachtet und damit schwarze Magie betrieben zu haben. Marinus verteidigte sich erfolglos, indem er angab, er habe damit seinen Haarausfall behandeln wollen (Ammian 30, 5, 11– 12), (Liebs, Strafprozesse, 155 – 157). Ein Spezialist der schwarzen Künste war Palladius, der in Antiochia Bürger verfolgte und ihnen schwarze Magie nachwies. Die Angeklagten seien kundig in der Herstellung von Gift und in der Lage, dieses schadenbringend anzuwenden. Ihre Häuser wurden versiegelt, die Eigentümer zum Tod verurteilt und die Besitztümer eingezogen. (Ammian 29, 2, 2 f. Vgl. Liebs, Strafprozesse, 156). Ein sehr prominentes Beispiel ist hier der Historiker Festus, der Christ war und seine Karriere unnachgiebig vorantrieb.Vor allem als Richter war er gefürchtet. Er verurteilte eine einfache Frau, die mit Zaubersprüchen zu heilen versuchte, wegen Schadenszauber (Ammian 29, 2, 26) und auch einen jungen Mann, der im Bad Bauchschmerzen zu heilen suchte, indem er mit den Fingern seiner Hände bald seine Brust, bald den Marmor berührte (Ammian 29, 2, 28). Der junge Mann wurde gefoltert und enthauptet. Diese Maßnahmen sollten die Akteure wahrscheinlich bei den Herrschern beliebt machen, indem sie zeigten, dass sie keine heidnischen Riten duldeten (Bei Liebs, Strafprozesse, 156 – 157). Libanius. Orationes. 1,45 – 47. Zur Diskussion um die Anklage vgl. Eidinow, Envy, Poison, & Death, 161. Dazu auch von Raban von Haehling. Ammianus Marcellinus und der Prozess von Skythopolis. Jahrbuch für Antike und Christentum 21 (1978), 74– 101. Zur Magie bei Ammian H. Funke. Majestäts- und Magieprozesse bei Ammianus Marcellinus. Jahrbuch für Antike und Christentum 10 (1967), 145 – 175.
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n.Chr. sogar zum Tod verurteilt. Vorangegangen waren harte Zwistigkeiten von Seiten der spanischen Bischöfe mit dem streitbaren Bischof von Rom, die im Konzil von Saragossa 380 schon Thema waren und schließlich an den Gerichtshof des Magnus Maximus gelangten. Priscillian sollte bekennen, dass er dunkle Doktrinen studierte, sich nächtlich mit Frauen traf und unbekleidet gebetet habe. Dahinter stecken die Vorwürfe des obskuren geheimen Handelns, der Promiskuität und der Praxis wirkungsvoller, aber durch dunkle Mächte beeinflusster religiöser Rituale.⁸⁷ Auch die Nestorianer hatten später mit dem Vorwurf der dunklen Magie zu kämpfen. Unter dem Namen der Simonianer wurden sie in die Tradition des oben angesprochenen Simon Magus verwiesen. Theodosius und Honorius schließlich vertrieben die haruspices zusammen mit den mathematici aus den Städten, wenn sie nicht ihre Bücher unter den Augen des Bischofs verbrennen wollten⁸⁸ – in dieser undifferenzierten Verfolgung ging es um die Vernichtung von Wissen, weniger um die Eindämmung der vermeintlichen Schadenswirkung von Magie. Die Verbrennung von Büchern konnte jedoch auch auf Grund der Anklage wegen maleficium erfolgen, wie das Schicksal des Paulinus zeigt. Seine Werke wurden von Macedonius von Mopsuestia verbrannt.⁸⁹ Zwei Faktoren spielen hier eine zentrale Rolle: die Unterscheidung zwischen Schaden und Nutzen sowie zwischen privat und öffentlich. Entsprechend der Grundthese vom differenzierten Umgang mit Magie in dualistisch geprägten Systemen zieht sich das Kriterium der Nutzenabwägung als Bewertungsgrundlage in der Verfolgung eines möglichen Straftatbestandes Magie durch die gesamte Rechtspraxis. Im zweiten Feld, der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum, verfolgten die politischen Amtsträger aktiv den unbedingten Erhalt der Kontrolle über Geschehnisse und Gruppen, die Unruhepotential bargen, das aus der Ausübung magischer Praktiken resultieren konnte. Davon unbenommen blieb die Praxis der Magie als angewandte Heilkunde – übrigens stets gleichberechtigt neben der regulären Medizin⁹⁰ – sowie der Schadenszauber in Form von Fluchtafeln. In diesen Fällen ist offenbar die Magie von der Magierin / vom Magier zu trennen. Schon die Formulierungen der Rezepturen bei Plinius verraten („nimm bei Nacht eine…“, „und tu dies und das…“), dass hier
Kahlos, Artis heu magicis, 167. Cod. Theod. IX 16, 12 vom Feb. 409. Kahlos, Artis heu magicis, 169. Martin Wallraff. Magie IV 1b. In RGG Bd. 5 (2002), Sp. 671. Magie wird hier auch besonders als Heilmittel gegen Krankheiten des Geistes eingesetzt, was bis zur kirchlich legitimierten Teufelsaustreibung ging. In Sp. 663 geht es um Magie, deren Wirkung durch Medizin ergänzt wurde. Magie, Religion und Wissenschaft standen als drei gültige Systeme nebeneinander, formuliert auch Rüpke, Religion der Römer, 167.
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keine Spezialisten angesprochen sind. Fluchtafeln zeigen schon durch ihre oft laienhafte Ausfertigung, dass sie das Werk zwar engagierter, aber nicht unbedingt dafür ausgebildeter Akteure sind. So bleibt volkstümliche Magie ein konstituierender Teil der Religion in der Spätantike, hier haben wir eine Vielzahl von Quellen⁹¹, z. B. Bleitafeln aus Ägypten in großer Zahl. Aus dem Gebrauch von und dem Urteil über Magie ergeben sich Schlüsse für den Zusammenhang zwischen dem Verhältnis von Religionsauffassung und politischer Ordnung sowie der Funktion des Einzelnen im System. Mittels angewandter Magie wie der gerade genannten Beispiele konnten einzelne Akteure Einfluss nehmen, die gerade nicht der politisch bestimmenden Oberschicht angehörten. Dies konnte in der politischen Führungsschicht die Furcht vor Kontrollverlust und damit dem Verlust des Führungsanspruchs auslösen, was sich im konsequent negativen Niederschlag von Magie in der Literatur zeigt. Magie als Bestandteil von Religion gewann erst durch ihre Differenzierung als mögliche positive Qualität ordnungserhaltenden Charakter, jetzt wird danach geurteilt, ob sie zur Heilung oder zum Schaden gebraucht wird. Dabei ist sie immer noch individuell ausgerichtet und kaum auf die Gruppe. Die Nutzung göttlicher oder anderer unbestimmbarer Kräfte wird jetzt auch als positives Potential verstanden und nicht per se als staatszersetzend empfunden. Das kommt dem heutigen Verständnis von Magie als Teil der Religion nahe, der von innen und außen akzeptiert bzw. verdammt werden kann, immer aber ein kritisches Urteil fordert. Jamblich, der Schüler des Porphyrios, unterscheidet in seinem Werk „De mysteriis Aegyptiorum“ zwischen Zauberei, die abzulehnen ist und philosophisch-theologischer Theurgie – (= Form weißer Magie: das Hervorzaubern göttlicher Wesen) Gotteswerk in Theorie und Ritual – und fordert das Urteilsvermögen ebenso von seinen Lesern ein.⁹² Diese Veränderung ist auf eine Neuorientierung des Begriffs der römischen Religion zurückzuführen, die eine neue Verantwortung des Einzelnen in der Ausübung religiöser Praktiken zum Kern hat.Waren vorher ebenfalls alle mit verantwortlich für das Geschick des römischen Staates, indem sie an den Ritualen teilnahmen, so wich diese Teilnahme nun aktiver Ausübung. Mit den an den Mysterienkulten und vom Christentum neu orientierten individuellen Zugriff auf religiöse Praxis wird die Magie zum Instrumentarium göttlicher Kräfte, und wer Magie im Sinne des Erhalts der Ordnung betreibt, zum Multiplikator sinnstiftender religiöser Inhalte. Irrationale und kaum exakt reproduzierbare Erlebnisse in Form von Magie in Denkmuster zu fassen und ihnen die Möglichkeit zur eigenständigen Entfaltung
Martin Wallraff. Magie IV 1b. In RGG Bd. 5 (2002), Sp. 670. Auch Heliodor (Ende 4. Jh.n.Chr.) unterscheidet in dieser Form die Magie.
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im Rahmen von Religion zu lassen, basiert auf der Prämisse, individuelle Religionspraxis als religionskonstituierend und staatsstabilisierend zuzulassen. Magie kann also als eigenständiges Element außerhalb oder innerhalb von Religion begriffen werden, man kann ihr positiven stabilisierenden wie negativen destruierenden Charakter unterstellen. So bildet sie ein Konstitutivum der politischen Ordnung, sei es als in die Religionspraxis integrierter Zwischenraum oder als Raum der Abgrenzung, eine Rolle, die sie auch innerhalb der Religion einnimmt. Auch hier fungiert sie als Distinktions- oder Zugehörigkeitsmerkmal. Diese Sicht auf den Raum und gleichzeitig Zwischenraum Magie eröffnet neue Möglichkeiten für das Verständnis der Konstruktion und Ausgestaltung kommunikativer Räume. Im Spiegel der Magie gewinnt die Kommunikation noch eine besondere Qualität: das Reden über Magie beinhaltet gerade durch seinen subjektiven Charakter mehrere Ebenen, durch die Sender und Empfänger verbunden oder getrennt werden können. Hier liegt die Chance sowohl für das Verständnis von Religion selbst als auch für die Einordnung politischer Systeme durch ihre jeweilige Verortung magischer Praktiken anhand der Auffassung von Magie als eigenem Raum einen neuen Zugang zu öffnen.
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Babette Reicherdt
(Im)mobile Subjekte: Subversive Raumaneignungen in der Chronik der Villinger Klarissen im 15. Jahrhundert (Im)mobile Subjects: Subversive Appropriations of Space in the Chronicle of the 15th Century Poor Clares of Villingen. Female monastic communities were particularly challenged by the religious reforms of the 15th century. While wandering in the world was part of the repertoire of medieval Franciscan devotional practice, Poor Clare communities had to organize their way of life bound to a topographical location and within the limited physical conditions of urban monasteries. The required practice of this rule-conforming way of life was expressed among them, especially in space-related practices. Using the example of the chronicle of the Poor Clares of Villingen, I examine practices of mobility in relation to configurations of body, movement, and place within representations of monastic enclosure. I ask how much movement and mobility is at once possible and necessary in order to be recognized as a subject “Poor Clare”, that is, as a sister of the second Franciscan order. The sermons of Abbess Ursula Haider contained in the chronicle produce the enclosure space as a multidimensional space in which different images of salvation history – as well as traditions of the history of the order such as pilgrimage – are linked. In the spatial imaginaries, interstitial spaces are created that represent the agency of the actors within the system of norms of the monastic enclosure. At the same time, they highlight the differences to the normative system of a dichotomously gendered theological epistemology. Interspatial agency in the Villingen Chronicle, through pragmatic, temporary reconstructions, opens up possibilities for achieving a form of life, while respecting normative conditions and constraints, in which the closest possible approximation to the male-dominated Franciscan tradition became recognizable.
1 Einleitung Die Frage, welche Mobilität, also die Art und Weise, räumlich in Bewegung zu sein, zu einem Subjekt gehört, ist je nach historischem Zeitraum und sozialem Kontext spezifisch zu beantworten. So wird einem postmodernen, globalen Subjekt der sogenannten ersten Welt eine unbedingte räumliche Mobilität hinsichtlich der Arbeitsplatzwahl, aber auch der Bereitschaft, an politischem und https://doi.org/10.1515/9783110758306-008
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kulturellem Geschehen teilzunehmen, zugeschrieben oder sogar abgefordert. Zudem gehört Mobilität zur Erfahrung von Menschen, die flüchten müssen, um zu überleben oder migrieren müssen, um bezahlte Arbeit zu finden. In diesem Zusammenhang hat Mobilität eine prekäre Dimension, die zugleich auch die Chance auf einen Ausweg aus der jeweiligen Bedrohungssituation bedeuten kann. Die aktuelle Situation einer globalen Pandemie stellt den Imperativ der unbedingten Mobilität zudem völlig neu infrage. Nicht zuletzt impliziert Mobilität die Vorstellung einer körperlichen und psychischen Befähigung zur Bewegung. Mobilität als ambivalenter Anspruch, der zugleich Anforderung und Handlungsoption sein kann, erweist sich daher als ein komplexes Diskursfeld, das es ermöglicht, historische Subjektivierungsweisen aufzuschließen.¹ Auch weibliche monastische Gemeinschaften sahen sich zu Beginn der Frühen Neuzeit ambivalenten Erwartungen hinsichtlich ihrer Mobilität ausgesetzt. Gebunden an das Ortsdiktat der stabilitas loci, das die traditionellen Orden im Mittelalter einem Haus zugehörig erklärte, wurde allen weiblichen Religiosen seit dem späten 13. Jahrhundert vorgeschrieben, den topografischen Ort ihrer Weihe keinesfalls mehr zu verlassen.² Für die weiblichen Konvente des franziskanischen Ordens bedeutete es eine besondere Herausforderung, die ordenstypische Praktik des Wanderns und Pilgerns in der Welt umzusetzen, ohne sich vom Ort des Klosters und an diesem der monastischen Klausur physisch zu entfernen.³ Für diese Klostergemeinschaften ist eine Vielzahl von Praktiken der Bewegung zu beobachten, die nicht nur den liturgischen Alltag strukturierten, sondern zugleich ein Selbstverständnis zwischen Diesseits und Jenseits in der Nachfolge Christi ermöglichten. Gleichzeitig verließen auch Angehörige weiblicher Konvente ihren Klosterstandort temporär oder dauerhaft. Neben den regulären Klosterneugründungen, zu denen versierte Schwestern aus „vorbildlichen“ Klöstern an einen anderen Klosterstandort ziehen und dort über eine bestimmte Zeit helfen mussten, eine neue Gemeinschaft aufzubauen, führten Auseinandersetzungen und Angriffe in Situationen von Krieg, sozialen Unruhen und Pandemien dazu, dass
Mimi Sheller, John Urry. The New Mobilities Paradigm. Environment and Planning A: Economy and Space 38: 2 (2016), 207– 226; Mimi Sheller. From Spatial Turn to Mobilities Turn. Current Sociology 65:4 (2017). 623 – 639. Für eine kritische Lektüre danke ich Mareike Böth (Universität Kassel). Gisela Muschiol. Klausurkonzepte. Mönche und Nonnen im 12. Jahrhundert. Habilitationsschrift Universität Münster, 2005, 101. Annette Kehnel, Anne Müller. Dauer durch Wandeln. Von Mönchen und Mauern – von Wandelgängen im Kloster und von Wanderungen durch die Welt. In Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnungen zwischen Verstetigung und Transformation, hg. von Stephan Müller, Gary S. Schaal, Claudia Tiersch. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2002, 107– 119.
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Ordensangehörige zu Migration gezwungen waren. In besonderem Maße traf das auf die europäischen Klöster während der Reformationsbewegungen des 16. Jahrhunderts zu, aufgrund derer sie sich einer Vielzahl von Angriffen auf ihre Lebensform bis hin zu Schließungen und Zerstörungen ihrer Häuser ausgesetzt sahen und an andere Orte migrierten.⁴ In meinem Beitrag fokussiere ich Mobilität aus der Perspektive der Praktiken des sich Bewegens bzw. des Bewegtwerdens, also der körperlichen Bewegung von Akteur*innen von einem Ort A zu einem Ort B, innerhalb verschiedener topografischer Maßstäbe, Zeitlichkeiten und Richtungen. Die Produktion von Raum selbst erfolgt über eine Bewegung von Körpern mit einer Richtung. Durch Praktiken von Bewegung kann die Verknüpfung von Körpern und Räumlichkeit im Zusammenwirken mit Zeitlichkeit und Subjektivität fassbar werden. Am Beispiel der Chronik der Villinger Klarissen untersuche ich Praktiken von Mobilität in Bezug auf die Konfigurationen von Körper, Bewegung und Ort innerhalb der Repräsentationen monastischer Klausur und frage danach, wieviel Bewegung und Bewegungsfähigkeit zugleich möglich und notwendig ist, um als Subjekt „Klarisse“, also als Schwester des zweiten franziskanischen Ordens, anerkannt zu werden. Die imaginären Klausurraumproduktionen der Villinger Klarissen zeigen die Klausur als multidimensionalen Raum, in dem verschiedene Bildwelten der Heilsgeschichte sowie Traditionen der Ordensgeschichte wie das Pilgern verknüpft werden. Diese erzeugen einen Raum der Lebensform, der sich als eine Möglichkeit versteht, die Lebensform Klarisse unter den topografisch eingeschränkten Bedingungen eines spätmittelalterlichen städtischen Klosters zu organisieren. Wieviel Bewegung und welche Bewegungsfähigkeit sind möglich, notwendig, erlaubt und verboten, um als Klarisse akzeptiert zu werden? Die Basis dieser Untersuchung bilden Klosterchroniken. Sie verknüpfen die historisch-chronologischen Erzählungen der Klostergemeinschaft mit der Darstellung ihrer räumlichen Verfasstheit und Selbstverortung.⁵ Die Praktiken der
Eine systematische Untersuchung zu Klöstern und Migration steht bislang aus. Exemplarisch sind für die Reformationszeit die Klarissenkonvente Pfullingen und Genf, die Franziskanerinnen von St. Leonard in St. Gallen und die Dominikanerinnen von St. Katharinental in Diessenhofen/ TG zu nennen, deren Migrationserfahrung sich in Berichten materialisierte. Übergreifend zur Auswirkung der Reformation auf Klöster vgl. Eike Wolgast. Die Einführung der Reformation und das Schicksal der Klöster im Reich und in Europa. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2015. Zu gattungstheoretischen Überlegungen chronikalischer Quellen für eine raumorientierte Geschichtsschreibung vgl. Raingard Esser, Susanne Rau, Martina Stercken. Raum. In Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historiografie (ca. 1350 – 1750), hg. von Susanne Rau, Birgit Studt. Berlin: Akademie Verlag 2010, 445 – 448.
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Bewegung innerhalb dieser Klosterchroniken bieten einen Zugriff auf die Grenzen, Differenzen und Asymmetrien des diskursiven Feldes der Lebensform, in dem sich die Akteur*innen verorten.⁶ Für diese Fragestellung erweist sich die Raumfigur des Zwischenraumes als vielversprechendes Analysekonstrukt, um Praktiken der Mobilität im Zusammenhang mit Subjektivierung erfassen und ordnen zu können. Als Möglichkeit des täglichen Praktizierens unter den einschränkenden Bedingungen der Klausur eines städtischen Klosters eröffnet zwischenräumliches Handeln durch pragmatische, temporäre Neukonstruktionen Möglichkeiten, eine Lebensform unter Beachtung normativer Bedingungen und Einschränkungen zu erreichen, in der die größtmögliche Annäherung an die männlich dominierte franziskanische Tradition anerkennbar wurde. Zwischenräume verstehe ich hier als Räume, die angepasst an die jeweilige aktuelle Notwendigkeit erzeugt werden und die agency der Akteur*innen innerhalb des Normensystems repräsentieren. Zwischenräume verweisen „auf ein besonderes Feld von Praktiken im Raum, die in einem Zwischenbereich stattfinden“.⁷ Der Zwischenraum hebt die Differenz zu den normativ strukturierten Klausurräumen und der „weltlichen“ Gesellschaftsordnung hervor, zugleich zum Normensystem einer zweigeschlechtlich strukturierten theologischen Epistemologie und dem Kirchenrecht. Im Folgenden werden die durch Bewegung strukturierten zwischenräumlichen Konstruktionen bei der Produktion des Klausurraums am Klosterstandort im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Mobilität und Subjektivierung diskutiert. Welche Bewegungsmöglichkeiten gehören zur Lebensform? Wie kann die imitatio Christi, das konstitutive Ideal der Bettelorden, als eine räumliche Praxis erzählbar werden?
Zur Untersuchung der Lebensform aus topologischer Perspektive, jedoch ohne Einbeziehung der Kategorie Geschlecht, am Beispiel der franziskanischen forma vitae vgl. Giorgio Agamben. Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform. Frankfurt am Main: Fischer, 2012. Eine topologische Bestimmung von Lebensform, Raum und Kollektivität unter Einbeziehung der Kategorie Geschlecht zeigt meine Dissertationsschrift Topologien von Gemeinschaft. Eine raumanalytische und geschlechtertheoretische Untersuchung weiblicher monastischer Lebensformen (1455 – 1548) (Publ. in Vorbereitung, erscheint 2021/2022). Uwe Wirth. Zwischenräumliche Bewegungspraktiken. In Bewegen im Zwischenraum, hg. von Uwe Wirth, Julia Paganini, Tina Bawden. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2012, 7– 34, hier 7.
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2 Observante Klausur und eigene Räume Die Chronik des „Bickenklosters“, des Klarissenkonventes in Villingen im Schwarzwald, ist das Zeugnis einer aktiven und schöpferischen Lebensgestaltung als Konvent der Observanz. In dieser europäischen Reformbewegung, die während des gesamten 15. Jahrhunderts andauerte, wurden in allen monastischen Orden die bisherigen Lebensweisen geprüft und im Sinne einer Rückbesinnung auf eine vermeintlich intakte vergangene Zeit vereinheitlicht und neu reglementiert. Insbesondere die weiblichen Gemeinschaften waren von den Veränderungen betroffen, die sich auf der Ebene räumlicher Ordnung materialisierte. Die Klostergebäude wurden um- oder neugebaut und für das „richtige“ Leben in strikter Klausur hergerichtet. Eine korrekt eingerichtete und ausgeführte Klausurpraxis signalisierte die erfolgreiche Reform und symbolisierte die nach dem vermeintlichen Niedergang des bisherigen die wiederhergestellte Ordnung des Ordenslebens.⁸ Klausur (claustrum: das Abgeschlossene, Eingesperrte) ist als der abgeschlossene Bereich einer Klosteranlage definiert, der nur den Personen vorbehalten ist, die unmittelbar der Gemeinschaft angehören. In einem zusammenhängenden Ensemble von Gebäuden, deren Struktur und Ausstattung in den Ordensregeln und Statuten festgelegt wurde, vollzieht die Gemeinschaft am topografischen Ort des Klosters mit ihren Praktiken den Raum der Klausur. Dieser Klausurraum ist vice versa konstitutiv für die Gemeinschaft eines Konventes. Diese Raumordnung lässt sich als ein Komplex ineinander verschachtelter und einander überlagernder Räume begreifen, deren Grenzen nach außen und innen verschlossen, jedoch zum Teil durchlässig, flexibel und erweiterbar konzipiert sind.⁹ Vgl. Barbara Steinke. Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster zwischen Klosterreform und Reformation. Tübingen: Mohr Siebeck, 2006, 45 – 54; Heike Uffmann. Wie in einem Rosengarten. Monastische Reformen des späten Mittelalters in den Vorstellungen von Klosterfrauen. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2008, 42– 50; Marie-Luise Ehrenschwendtner. Creating the Sacred Space Within. Enclosure as a Defining Feature in the Convent Life of Medieval Dominican Sisters (13th–15th c.). Viator 41: 2 (2010), 301– 316, hier 303 f.; Stefanie Monika Neidhardt. Autonomie im Gehorsam. Die dominikanische Observanz in Selbstzeugnissen geistlicher Frauen des Spätmittelalters. Berlin: Lit Verlag, 2017, 100 – 108. Vgl. grundlegend Gérard Huyghe. La clôture des moniales des origines à la fin du XIIIme siècle. Étude historique et juridique. Roubaix: J. Verschave-Hourquin, 1944; Paul Meyvaert. The Medieval Monastic Claustrum. Gesta 12: 1– 2 (1973), 53 – 59; Jean Leclercq. La clôture. Points de repère historiques. Collectanea Cisterciensia 43 (1981), 366 – 376; Jane Tibbetts Schulenburg. Strict Active Enclosure and Its Effects on the Female Monastic Experience (ca. 500 – 1100). In Medieval Religious Women. Distant Echoes, hg. von John A. Nichols, Lillian Thomas Shank. Kalamazoo, Mich.: Cistercian Publications, 1984, 51– 86; Muschiol, Klausurkonzepte.
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Die Erzeugung des Klausurraums bedarf der spezifischen Praktiken der Bewohnenden unter Einbezug bestimmter Objekte. Wenngleich die Klausur nicht ausschließlich an ein Klostergebäude gebunden ist, darf dieses jedoch nicht dauerhaft fehlen. Die Wirksamkeit der Klausurpraktiken verweist, wie in diesem Abschnitt zu zeigen ist, auf eine Dynamisierung des Ortes, an dem sich Klausurräume befinden können. Das Spannungsfeld zwischen dem Beharren auf einer Klausur am immer gleichen Ort und den historischen Bedingungen des regelmäßigen freiwilligen oder erzwungenen Unterwegsseins im Sinne der imitatio Christi verunmöglicht es, die Ortsgebundenheit im Sinne der geografischen Verortung eines Container- oder Behälterraumes zu interpretieren.¹⁰ Diese Reformen resultierten in einer gesteigerten Schriftproduktion weiblicher Religiosen, die sich über die eigene Lebensweise in neuer Perspektive Rechenschaft ablegten und sich mit den eigenen Möglichkeiten innerhalb des Rahmens, der kirchenrechtlich und von den Ordensoberen für sie gesteckt war, auseinandersetzten.¹¹ Die Nürnberger Klarissen sahen das Aufzeichnen ihrer „Klarissenchronik“ aus der Reformzeit als Möglichkeit, sich selbst zu regieren und innerhalb ihrer Netzwerke die eigenen Entwürfe und Auseinandersetzungstechniken auszutauschen und zu verbreiten.¹² Die Klarisse Ursula Haider (1413 – 1498) wurde 1480 aus ihrem Konvent in Valduna abberufen, um in Villingen ein Klarissenkloster einzurichten, das den neuen Reformstandards vom Leben in Armut und Klausur entsprach.¹³ Neben der
Zur Genealogie des „Schachteldenkens“ vgl. Stephan Günzel. Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung. Bielefeld: Transcript, 2017, 60 – 69. Vgl. Neidhardt, Autonomie im Gehorsam. Vgl. Nürnberger „Klarissenchronik“ (München, Bayerisches Nationalmuseum, 1191, fol 42r), zit. nach Eva Schlotheuber. Bücher und Bildung in den Frauengemeinschaften der Bettelorden. In Nonnen, Kanonissen und Mystikerinnen. Religiöse Frauengemeinschaften in Süddeutschland. Beiträge zur interdisziplinären Tagung vom 21. bis 23. September 2005 in Frauenchiemsee, hg. von Eva Schlotheuber, Helmut Flachenecker, Ingrid Gardill. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008, 241– 262. Als Beispiel für einen solchen Austausch vgl. die Gemeinschaftsfreundschaft zwischen den Klarissen in Villingen und dem Kloster Paradies bei Konstanz sowie den Kontakt zwischen der Villinger Äbtissin Ursula Haider und Angela Varnbühler, Priorin des Dominikanerinnenkonvents in Sankt Gallen, vgl. Undine Brückner. Freundschaft zwischen Nonnen. Oxford German Studies 36: 2 (2007), 195 – 211, hier 203 f. Zur Biographie Ursula Haiders in diesem Abschnitt vgl. Hildegard Rech. Äbtissin Ursula Haider, *1413 – 1498. Ein Beitrag zur Heimatgeschichte von Villingen. Villingen: Wiebelt in Komm., 1937; Siegfried Ringler. Art. Ursula Haider. In Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 3, hg. von Wolfgang Stammler, Kurt Ruh, Karl Langosch, Burghart Wachinger. Berlin: de Gruyter, 1981, 399 – 403; Friedrich Wilhelm Bautz. Art. Haider, Ursula. In Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 2: Faustus von Mileve bis Jeanne d’Arc, hg. von Friedrich Wilhelm Bautz. Herzberg: Bautz, 1990, 478 – 479.
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Organisation der Bautätigkeiten für das Haus agierte sie auch als „geistige Baumeisterin“, um in ihrem Konvent das richtige Klosterleben im perfekten Kloster einzuüben. Ihre in der Chronik hinterlassenen Predigten sind Unterweisungen in der Klausurpraxis und bringen ein besonderes Konzept von Klausur hervor, um das es in diesem Beitrag gehen soll.¹⁴ Die Raumkonzepte der Chronik für die Klausur sind durch zwei thematische Aspekte charakterisiert. Erstens beschreibt Ursula Haider den Raum der Klausur als Christus-Imago, also als den Körper Jesu Christi mit seinen Stigmata als Zeichen der Passion in all ihren Manifestationen. Zweitens beinhaltet der Chroniktext Anweisungen zu geistlichen Übungen, die den Raum der Klausur in verschiedene Zellen strukturieren, in denen sich jede Schwester zu den entsprechenden Tagzeiten aufzuhalten habe. Diese Zellenräume werden innerhalb der Topografie der Heilsgeschichte verortet und repräsentieren Teile der „heiligen“ Landschaft von Jerusalem und seiner Umgebung. Die Verknüpfung der Zellenräume mit den Orten der Heilsgeschichte korrespondiert mit dem Engagement Ursula Haiders für ihren Konvent, päpstliche Ablassbriefe für die wichtigsten Pilgerstätten in Rom und Jerusalem zu erhalten und diese innerhalb des Klausurgebäudes stellvertretend für eine real stattfindende Pilgerfahrt auszustellen.¹⁵ Den Villinger Klarissen wird der Klausurraum als Ressource für eine aktive Form der Christusnachfolge produktiv gemacht. Die imitatio Christi stellt sich darin als ein Setting von raumbezogenen und raumproduzierenden Praktiken für die Aneignung von Welt, das Ausleben von Frömmigkeit und die Gestaltung des Lebens nach der Ordensregel dar. In der textlichen Ausgestaltung werden der Körper Christi und die Heilsgeschichte in räumlichen Konfigurationen erfasst, denen die verschiedenen Bereiche des täglichen Konventslebens und die regelkonformen Praktiken der Lebensführung in Form von Bewegungsabläufen eingeschrieben werden. Diese Raumimaginationen erzeugen Zwischenräume innerhalb der regelkonformen Klausur, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.
Überliefert im Klosterarchiv St. Ursula Villingen, Litt. BB 1. Zitiert wird aus der Edition: Juliana Ernst. Chronik des Bickenklosters zu Villingen 1238 bis 1614, hg. von Carl Jordan Glatz. Tübingen 1881. Im Folgenden zit.: VillChron [Seitenzahl Handschrift] / c [Kapitelnummer Edition], [Seitenzahl Edition]. Vgl. Edith Boewe-Koob. Das Kloster Sankt Clara am Bickentor zu Villingen. In Villingen und Schwenningen. Geschichte und Kultur, hg. von Heinrich Maulhardt. Villingen-Schwenningen: Kuhn, 1998, 171– 194, hier 178 f.; Renate Stegmaier-Breinlinger. „Die hailigen Stett Rom und Jerusalem“. Reste einer Ablaßsammlung im Bickenkloster in Villingen. Freiburger Diözesanarchiv 91 (1971), 176 – 201, hier 177.
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3 Sich bewegen im Christuskörper: Klausur als Tempel und Zelle In ihrer Neujahrsansprache an ihre Gemeinschaft von 1495 entwickelt Ursula Haider das mystische Motiv des Wohnens im Körper Christi zu einem Raumkonzept für die gesamte Klausur.¹⁶ Sie präsentiert ihren Schwestern ein Geschenk, das sie während einer Wanderung durch „das ganze gnadtreich Jerusalem und alle hailige ort“ auf einem Markt erstanden habe. Dabei handelte es sich um „einen gar schenen tempel“, den sie einem Kaufmann abgekauft habe, um ihn „uf den Schwarzwaldt in mein finster krankenstiblin“ zu bringen.¹⁷ Bei diesem Tempel handele es sich um eine einzigartige Kostbarkeit, vergoldet und mit Edelsteinen ausgestattet, die mit fünf großen Kapellen und insgesamt 6666 Altären versehen sei, alle vom Papst geweiht und mit Ablässen versehen. Allein der Chor des Tempels beinhalte über tausend Altäre und mitten im Raum einen Karfunkelstein, dessen Licht den gesamten Tempel von Altar zu Altar erleuchte.¹⁸ Es handele sich bei diesem Gebäude um nichts Geringeres als den „allerheiligsten leib[s] unsers herren Jesu Christe“, dessen Bauteile die verschiedenen, durch Wunderzeichen gekennzeichneten Körperteile repräsentierten.¹⁹ So bilde der Chor das Haupt mit den eintausend Wunden der Dornenkrone, die als Altäre fungierten. Der Karfunkelstein verweise auf die göttliche Lehre aus dem Mund Christi, der nachzufolgen sei.²⁰ Die fünf Kapellen repräsentierten die „hailigen fünf wunden“, „die fünf allerclaresten liebzeichen Christi“.²¹ Innerhalb dieser Kapellen befänden sich jeweils Altäre, die von den unzähligen Wunden des gemarterten Leibes Christi überzogen seien.²²
Das schriftliche Werk Ursula Haiders liegt ausschließlich in verarbeiteter Form vor, da ihre Texte in die so bezeichnete „Chronik“ der Villinger Klarissen von 1637 aufgenommen wurden, einer historiografischen Arbeit der Äbtissin Juliana Ernstin (1589 – 1665), die 1637/38 unter Einbeziehung von Haiders Werk sowie verschiedener weiterer überlieferter Quellen wie Urkunden, Berichte über die Reform, einer Vita und weiterer biografischer Notizen zum Leben Ursula Haiders sowie Zeitzeug*innenberichte die Geschichte des Klosters von seiner Gründung 1480 bis zum Jahr 1614 aufzeichnete. Vgl. Charlotte Woodford. Nuns as Historians in Early Modern Germany. Oxford u. a.: Clarendon Press, 2002. VillChron 19a-b / c 18, 44. VillChron 19b-20a / c 18, 44 f. VillChron 20a / c 18, 45. VillChron 20b / c 18, 46. VillChron 20b / c 18, 46. VillChron 20b / c 18, 46.
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Der Christus-Tempel im Raum der Klausur wird als Anlage beschrieben, in der alle Schwestern so oft wie möglich und zeitlich unbegrenzt umhergehen und Andacht in den Kapellen und vor den Altären halten mögen. Eine jede könne sich nach ihrem Belieben eine Kapelle oder einen Altar für sich auserwählen. Der Tempel gehöre allen gemeinsam, da es sich um den „blutbreitigam“ Christus handele, mit dem alle gleichermaßen durch das Gelübde verbunden seien.²³ Der Klausurraum wird auf diese Weise in seiner Größe ausgedehnt, vervielfältigt und verschachtelt und ermöglicht zwischenräumliches Handeln, nämlich den Aufenthalt unabhängig voneinander und ohne einander zu sehen. Diese Raumkonstitution wird in zwei Modi aufgebaut. Zunächst wird die Anlage des Tempels mit den enthaltenen Ortsbeziehungen beschrieben. Auf die Lagebeziehungen innerhalb des Tempels verweisen Markierungen wie „ob[n]en in dem Chor des tempels“ und „In mitten im chor“.²⁴ Zugleich werden bereits erfolgte sowie zukünftig auszuführende Handlungen angegeben. So sei die Äbtissin selbst den gesamten Tempel abgelaufen, um alle 6666 Altäre in den Chören und Kapellen abzuzählen.²⁵ Das Licht des Karfunkelsteins inmitten des Tempels wird als göttliche Lehre und Wegweiser beschrieben, „dadurch mir gewissen und gefürt werden von einer capel und altar zue dem anderen“.²⁶ Die körperliche Bewegung der Schwestern innerhalb des Tempels wird somit zum Nachfolgen des Lichts der göttlichen Lehre, dem Evangelium. Dieses führt die Schwestern „von einer capel, ja von einer wunden zu der anderen“.²⁷ Als weitere Handlungsanweisung beauftragt Haider die Schwestern, die fünf Kapellen des Tempels, die die Wunden Christi verkörpern, „oft andechtig heimsuechent und herzlich ehrent“.²⁸ Sie mögen dort jederzeit hineingehen und die Altäre möglichst oft besuchen. Diese räumliche Repräsentation monastischer Klausur, in die die Architektur eines Tempels in der Gestalt des Körpers Jesu Christi eingelassen ist, korrespondiert mit dem verbreiteten Sujet spätmittelalterlicher Meditationstexte, in denen die Bewegung der Seele anhand heils- und frömmigkeitsgeschichtlicher Inhalte in architektonischen Arrangements evoziert wurde. Basierend auf einem antiken Verständnis des Leibes als dem Gefäß der Seele, die für ihre andachtssuchende Bewegung auf Erinnerungstechniken angewiesen sei, dienten architekturmeta-
VillChron 21a / c 18, 47. VillChron 19b-20a / c 18, 45. VillChron 19b-20a / c 18, 45. VillChron 20b / c 18, 46. VillChron 20b / c 18, 46. VillChron 20b / c 18, 46.
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phorische Techniken als feste Strukturen, in denen die Seele wie ein „Avatar“ der jeweiligen Person auf Wanderung geschickt wird.²⁹ Die Architekturmetapher des Tempels mit seinen 6666 Altären als perfekte Anleitung für das meditative Sich-Versenken in der Tradition der Christusnachfolge eröffnet zugleich eine erweiterte Perspektive im Hinblick auf die Raumkonstitution und deren intermediale Bezugnahmen. Mit der Beschreibung der Christuskörper-Tempelanlage durch Lagebeziehungen als Raumordnung sind zugleich Wegbeschreibungen verknüpft, die als Handlungsanweisungen und Bewegungsanleitungen dienen.³⁰ Die Raumkonstitution in der Villinger Chronik zeigt in ihrer Beschreibung der Klausur als Tempel in Gestalt des Christuskörpers in den Text eingelassene, raumerzeugende und raumordnungskonstituierende Praktiken, die das Ideal der Christusnachfolge verräumlichen und in nachvollziehbare Bilder und Bewegungsabläufe zerlegen. Die Beschreibung der Lagebeziehungen innerhalb der Klausur-Tempelanlage liefert darüber hinaus einen Hinweis auf intermediale kartografische Bezüge.³¹ Dies wird noch deutlicher in der Präsentation einer weiteren Raumkonstitution der Klausur, die Ursula Haider in der Neujahrsansprache des Folgejahres 1496 entwirft. In der Semantik von Klausur und Pilgerschaft entwickelt sie eine Raumaneignung, die Hinweise auf das Einsinken intermedialer kartografischer
Vgl. Cornelia Logemann. Baupläne der Andacht. Meditative Architekturen in der nordalpinen Manuskriptkultur des Spätmittelalters. In Orte der Imagination – Räume des Affekts. Die mediale Formierung des Sakralen, hg. von Elke Koch, Heike Schlie. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, 253 – 277, hier 268 f. Zum architektonischen Schreiben in Spätmittelalter und Renaissance vgl. David Cowling. Building the Text. Architecture as Metaphor in Late Medieval and Early Modern France. Oxford: Clarendon, 1998. Das Nebeneinander dieser beiden Modi kann zunächst in der Konzeption der Raumaneignung von Michel de Certeau erfasst werden, die raumordnungsabbildende Lagebeschreibungen als Karte (carte/map) von raumerzeugenden Handlungsanweisungen als Wegstrecke (parcours/path) abgrenzt. Die im ausgehenden 15. Jahrhundert verstärkt auftretenden literarischen Repräsentationen von Raum seien als eine Verschachtelung von Karten und Wegstrecken anzusehen, die eine Verflechtung des Sehens als Erkennen einer Raumordnung (Karte) und der Bewegung als raumkonstituierende Praktik (Wegstrecke) impliziere, vgl. Michel de Certeau. Kunst des Handelns. Berlin: Merve Verlag, 1988, 221 und 223; Marian Füssel. Tote Orte und gelebte Räume. Zur Raumtheorie von Michel de Certeau S. J. In Special Issue: Space/Time Practices and the Production of Space and Time, hg von Sebastian Dorsch, Susanne Rau. Historical Social Research/ Historische Sozialforschung 38: 3 (2013), 22– 39, hier 34. Diese über de Certeau hinausgehende mediale Perspektive auf die Konstitution von Raum ist darauf ausgerichtet, die „Territorialität und Zeichenhaftigkeit der Raumkonstitution in einer grundlegenden Theorie der Medialität von Raum miteinander zu verknüpfen“, vgl. Jörg Dünne. Die kartographische Imagination. Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit. Paderborn: Wilhelm Fink, 2011, 19.
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Bezugnahmen in das klösterliche Schreiben liefert. Nach der Verehrung des Tempels verleiht die Äbtissin ihren Schwestern jetzt „dray gaistlich, lustig erbauten zeelen, allen in gemein und iedwederer in sonderheit“.³² Mit diesen geistlichen Zellen ausgestattet sollen die Schwestern weder jetzt noch in Zukunft die Notwendigkeit haben, andere, physisch-materielle Zellen im Kloster zu bauen, denn diese würden dem Willen Christi und Klaras, dem Armutsgebot und der vita communis („der heiligen gemaind“) widersprechen. In Ermangelung dieser physisch-materiellen Zellen, die den Schwestern in einem reformierten Kloster idealerweise nicht oder nicht mehr zur Verfügung stehen sollten, werden nun die geistlichen Zellen umso bedeutsamer.³³ Haider konzipiert diese drei Zellen als Räume, die einerseits gemeinschaftlich zugänglich seien und in Gebrauch genommen werden könnten, also jeder Schwester zu allen Zeiten zur Verfügung stünden. Gleichzeitig seien diese Räume so angelegt, dass die Schwestern einander weder sehen noch hören könnten und nicht erführen, was die anderen darin täten, solange diese es nicht wollten. Aus diesem Grunde seien Vorhänge, Türen oder Winkel in den Zellen überflüssig, „da iedliche hat guete weüte und freiheit in disser zeelen und bleibt doch ungeihrt und vermerht in ihrer andacht“.³⁴ Die Zellen beinhalteten darüber hinaus den in der vorausgegangenen Neujahrspredigt gewidmeten Tempel zu ihrer freien Verfügung.³⁵ Damit werden die Möglichkeiten zwischenräumlichen Handelns beträchtlich erweitert und der ersten Raumimagination hinzugefügt. Der Aufenthalt in den drei Zellen wird an die liturgischen Tagzeiten geknüpft und ist zum „wohnen und bleiben mit herzen, seel und gemüet“ in der ersten Zelle VillChron 21b/ c 18, 48. „[…] also dass ir und euwere nachkömling niemals kein andere zeel in dissem gegenwürtigen armen Sant-Claracloster wölent oder sollent bauen. Dan sicher glaubent mir, meine kinder, das uns andere beschlossne und schen erbauen zeelen ganz nit gebüren nach dem exempel unsers allerliebsten gesponsen, auch unser allerhailigsisten muetter sant Claren. Dan sy sein zuewider der hailigen armuet der volkomenheit nach, sie sein zuewider der hailigen gemaind und in suma, sie seind ein anfang und ursach der aigenthumlichen hoffart und aller unfreündlichkeit.“ VillChron 21b/ c 18, S. 48 f. Haider entspricht mit ihrer Bewertung der materiellen Zellen als Beginn und Ursache der „hoffahrt“ den Normen eines observanten weiblichen Konvents. Trotz des Gemeinschaftsideals der Observanz waren Klausurgebäude mit Einzelzellen oder abgetrennten Bereichen sowohl bei den schon bestehenden Konventen als auch den Reformgemeinschaften möglich. Ob während der grundlegenden Instandsetzung des Hauses am Bickentor für das Leben eines Konventes der einzurichtende Schlafbereich abgegrenzte Raumstrukturen erhielt, ist bis dato nicht rekonstruierbar. Die leicht apologetische Formulierung in der Chronik deutet darauf hin, dass es keine gemauerten Einzelzellen gegeben habe. Eine angedeutete bauliche Begrenzung ist jedoch denkbar. VillChron 22a/ c 18, 49. VillChron 21b-22a/ c 18, 48 f.
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von der Komplet bis zur Prim des folgenden Tages, in der zweiten von der Prim bis zum Mittag und in der dritten vom Mittag bis zur Komplet vorgesehen.³⁶ Neben dieser zeitlichen Struktur, die 24 Stunden des liturgischen Tages umfasst, weisen die Zellen eine spezifische räumliche Ausgestaltung mit einer weiteren Zeitlichkeit auf. Nicht nur enthalten sie den Tempel in Gestalt des Körpers Christi und sind von unendlicher Ausdehnung, so dass man einander darin nicht begegnen muss. Die drei Zellen sind zugleich mit den Orten der Passion Christi verknüpft und dadurch in der Topografie der Heilsgeschichte verortet. Die erste Zelle ist auf dem Ölberg vor der Stadt Jerusalem gebaut und enthält zwei Fenster. Durch das erste habe Jesus vor seiner Gefangennahme geschaut und die Missetaten der Menschen erblickt. Durch das zweite habe er die Nöte und Mühen derjenigen sehen können, die ihm als Jünger und Freunde nachfolgten. Durch die Fenster zu blicken beinhalte die Aufgabe, mit Christus mitzuleiden und während der Nachtzeit gleich Jesu in Gefangenschaft zu beten und zu schlafen. Besonders sei zu beachten, dass die Betrachtung der Verfehlungen anderer stets schnell um die Anschauung der eigenen Sündhaftigkeit ergänzt wird, auf die zu blicken sei wie „durch disses fensterlin unserer eignen armuetselikeit“.³⁷ Die zweite Zelle steht auf dem Berg Calvarie (Golgatha) und ist mit nur einem Fenster versehen. Von diesem aus lasse sich bis Nazareth und Bethlehem und das gesamte gelobte Land und über die Stadt Jerusalem schauen. Von hier aus könne auch der Kreuzweg mit der gesamten Passion gesehen werden. Der vorgesehene Aufenthalt von der Prim bis zum Mittag, also am Vormittag, entspricht dem Vormittag der Kreuzigung Jesu. Hier lasse sich in besonderer Weise der gemarterte Leib Christi mit seinen Wunden und dem „seüfzent sterbendes Herz“ betrachten und dem Begehren nachgehen, im Mitleiden das Gleiche wie Christus erleben zu wollen.³⁸ Dieser imaginierte Zellenraum ist mit detaillierten Angaben zu seiner Innenarchitektur beschrieben. Er erlaubt die Bewegung der Blickrichtung von einem inneren (Mit‐)Leiden zu einem Hinausblicken durch das geöffnete Fenster hindurch und in einer Panoramaschau über die Landschaft der Heilsgeschichte.³⁹ Gefolgt von einer Marienandacht hätten die Schwestern dann in die dritte Zelle zu gehen, die imaginiert auf dem Berg Tabor errichtet ist und wieder zwei Fenster enthält, durch die sich das himmlische Jerusalem sowie das Fegefeuer anschauen lassen.⁴⁰ Diese beiden Orte würden es den Schwestern ermöglichen, sich in begrenztem Maße an der Gnade Gottes zu erfreuen, indem sie den Blick auf
VillChron 22a/ c 18, 59. VillChron 22b/ c 18, 50. VillChron 23b/ c 18, 52. VillChron 23a / c 18, 51. VillChron 23b-24a / c 18, 52– 54.
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den auferstandenen, erlösten Christus richten können. Dort sollten sie jedoch genau wie Christus selbst nur kurz verweilen, um den Blick sogleich wieder durch das zweite Fenster mitleidend auf die Unvollkommenheit der Menschen in Gestalt der Seelen im Fegefeuer zu richten.⁴¹ Die Schulung der Schwestern in der Christusnachfolge erfolgt hier also eindeutig durch Raumpraktiken, die an Blickrichtungen geknüpft sind. Diese drei beschriebenen Zellen stehen in einem hierarchischen Verhältnis zueinander in Bezug auf das Wissen, das über das in ihnen Erlebte geteilt werden darf. So sei das in der dritten Zelle Erlebte und Erfahrene, „was gott für gnaden in eür herz eingüest hat in disser himlischen zeel“, zu bewahren, ohne darüber zu sprechen.⁴² Die Bewahrung als Heimlichkeit und Geheimnis ermögliche eine größere „Verklärung“ des Erlebten. Die Erfahrungen aus den ersten beiden Zellen jedoch sollen nicht nur erzählt, sondern im Falle der Erlebnisse auf dem Berg Golgatha sogar verkündet werden: „Dan diese zeel stett darum in mitten in der welt, das es nit verborgen sein sol, sonder allen menschen offenbar“.⁴³ Die Zelle, von der aus sich das Kreuzigungsgeschehen beobachten und nachempfinden lasse, sei zugleich für alle Menschen offen, wie sie die Möglichkeit für jede einzelne böte, sich darin zu verschließen und „niemals darus gehen“.⁴⁴ An diesem Zellenraum verknüpft sich also gleichsam die Frömmigkeitspraxis der Schwestern mit der aller gläubigen Christen durch die Vorstellung einer potentiell gemeinsamen Raumnutzung. Dieser Brückenschlag von der Frömmigkeitspraxis im Konvent zur überzeitlichen, universellen Frömmigkeit aller Gläubigen nimmt seinen Ausgangspunkt im zwischenräumlichen Handeln der Schwestern in den Zell-Imaginationen ihrer Klausur. In dieser zweiten Neujahrspredigt Haiders werden zwei raumkonstitutive Aspekte wirksam. Wie bereits in der ersten Ansprache wird hier die zeitgenössische Passionsfrömmigkeit, mit deren Praktiken das Leiden Christi besonders intensiv nachempfunden werden soll, in architektonischen Metaphern erlebbar durch das Konstrukt einer zugleich exklusiven, einer jeder einzeln zugänglichen wie auch weltöffentlichen Zelle auf dem Berg Golgatha. Durch die Architektur der Frömmigkeit wird das Bild des Wohnens in Christus plastisch herausgestellt. Die Konzeption der Lebensform in der Christusnachfolge erfährt dadurch ihre räumliche Struktur.
VillChron 24a / c 18, 53. VillChron 24a / c 18, 54. VillChron 24a / c 18, 54. VillChron 24a / c 18, 54.
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Zweitens wird das Sehen selbst als eine aktive Praktik konzipiert. Das Wissen aus dem Gesehenen in der Zelle auf dem Ölberg von der Nacht von Christi Gefangennahme macht die einzelnen zu Zeug*innen der Heilsgeschichte: Aber was ir sehent und betrachtent in der zeel des olgartens, daruan mögent ir wol röden, dan der herr wöckte sein jünger, dass sie alle ding sehen und mitleiden mit im hetten. Er war auch nit still oder haimlich gefangen, sondern im angesicht ihrer augen und in der ganzen statt umb gefüert, von einem richter zum anderen.⁴⁵
Das Sehen als aktive und produktive Praktik geht hier über den optisch-physiologischen Vorgang hinaus und schließt das Sehen als einen mentalen Vorgang mit ein.⁴⁶ In Bezug auf die Klausurimaginationen der Villinger Chronik wird das Potential des Sehens als raumkonstituierende Praktik besonders evident. Ursula Haider verweist auf die Möglichkeit für ihren Konvent, das Leiden Christi und dadurch die Heilsgeschichte „im Angesicht ihrer Augen“ wahr werden zu lassen und bedient sich dafür der spezifischen Zellenkonstruktion.
4 Allein-Sein und Gemeinsam-Sein: Raum und Selbst Im folgenden Abschnitt nehme ich die Subjektivierungswirkungen der zwischenräumlichen Bewegungspraktiken in den Blick. Ursula Haiders Entwurf, die Klausur als dynamische Überlagerung von Räumen zu konzipieren, in denen sich die Heilsgeschichte zugleich separat für jede einzelne Schwester und in einem gemeinsam geteilten Erfahrungsraum erleben lässt, repräsentiert die Möglichkeit der angemessenen Christusnachfolge in größtmöglicher räumlicher Ausdehnung bei zugleich begrenzten physischen und topographischen Bedingungen. Diese Klausurraumproduktion von Räumen einzelnen und gemeinsamen Erlebens ist vor dem Hintergrund franziskanischer Raumkonzepte des Selbst, die mit der Entwicklung gebauter Klausurräume im Verlauf des Spätmittelalters verzahnt sind, zu erschließen. Zugleich steht die Chronikerzählung mit den darin verarbeiteten Predigten in der Tradition mittelalterlicher Meditationen, die den lite-
VillChron 24a / c 18, 54. So beschreibt Peter von Limoges in seinem Traktat „De Oculo Morali“ aus den 1270er–1280er Jahren das Sehen als Vorgang, der die Fähigkeiten des körperlichen Auges (oculum corporis) und des mentalen Auges (oculum mentis) verbindet, vgl. Michelle M. Sauer. Architecture of Desire. Mediating the Female Gaze in the Medieval English Anchorhold. Gender & History 25:3 (2013), 545 – 564, hier 548 f.
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rarischen Raum mit Metaphern von Architektur ausgestalteten und die wiederum in einem intermedialen Bezug zu bildlichen Darstellungen von Architektur standen. Die Dimension der Technik medialer Raumproduktion wird noch um die Sphäre des kartografischen Schreibens erweitert, die sich um 1500 mit der Entstehung neuer Formen der Darstellung von Welt-Ordnung entwickelte.⁴⁷ Die Imagination der drei Zellen gleicht in dieser Anlage der in der vorausgegangenen Neujahrspredigt Haiders entwickelten Konzeption der Klausur als Tempel in Gestalt des Körpers Christi. Durch die jedem einzelnen Raum und Raumabschnitt zugewiesenen Praktiken entstehen jeweils Räume, die jede einzelne in der Klausur lebende Person umgeben sollen und in die zu gehen sei, wenn die Erfordernisse des Alltags befürchten lassen, von den Idealen der Lebensform abzuweichen. In dieser Weise wird der um die einzelne Person herum organisierte Raum als eine Haltung ihrer Lebensform sichtbar, die buchstäblich Halt zusichert. Dabei bestimmen der Aufenthalt der Schwestern, also die jeweilige Ortsbezogenheit, der Zeitpunkt, ihr Blick bzw. ihr Sehen ihre Subjektivierung, das heißt ihre Wahrnehmung von sich selbst im Referenzrahmen von Allein-Sein und Gemeinschaftlich-Sein. Die Predigten Ursula Haiders zur Klausur als Tempel und als Zellen, in denen die Heilsgeschichte aufgeführt werden kann, liefern Entwürfe des Selbsts in seiner räumlichen Konstituierung. Das Selbst als eine architektonische Struktur zu begreifen und dadurch Subjektivierung zu erzählen, also ein Wissen und eine Vorstellung von sich selbst in räumlichen Metaphern wiederzugeben, ist Thema theologischer Literatur seit der Antike und setzte sich bis zum Beginn der Frühen Neuzeit in vielfältigen Erscheinungsformen fort.⁴⁸ Die physisch-materiellen räumlichen Metaphern der Architektur erwiesen sich als besonders geeignet, Imaginationen von den Räu-
Zum Einfluss kartografischen Wissens auf die Produktion von Literatur in der Frühen Neuzeit vgl. Dünne, Die kartographische Imagination. Eine Untersuchung zur Einlassung veränderten Welt-Wissens in klösterliche historiografische Schriften insbesondere in weiblichen Gemeinschaften wäre im Untersuchungszeitraum aus der Perspektive von Geschlecht auf Raum und Epistemologie ein vielversprechendes Projekt. Das Konzept von Räumen im Inneren des Menschen, bereits bei Augustinus entwickelt, wurde im Verlauf des Mittelalters über verschiedene Architekturmetaphern kommuniziert und ausgestaltet, wie das Seelenkloster, Burgen oder Gärten. Vgl. Mirko Breitenstein. Das ’Haus des Gewissens’. Zur Konstruktion und Bedeutung innerer Räume im Religiosentum des hohen Mittelalters. In Geist und Gestalt. Monastische Raumkonzepte als Ausdrucksformen religiöser Leitideen im Mittelalter, hg. von Jörg Sonntag. Berlin, Münster: Lit Verlag, 2016, 19 – 55, hier 22 f. Zu den prominentesten Autor*innen der Thematik zählen im 12. Jh. Hildegard von Bingen mit dem Haus des Herzens sowie die Seelenburg bei Teresa von Ávila im 16. Jh., vgl. Breitenstein, Das ’Haus des Gewissens’, 26 und 30.
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men, die der eigenen Person zur Verfügung stehen und diese ausmachen, zu entwickeln.⁴⁹ Die Konzepte der inneren menschlichen Räume, die über die Raumkonfigurationen des Klosters und besonders seiner Zellen allegorisch vermittelt wurden, gelangen als Wissen vor allem dominikanischer und augustinischer Mystik zum Wissensangebot der Villinger Klarissen.⁵⁰ Dazu tritt eine dezidiert franziskanische Auseinandersetzung mit dem Raum des Klosters und seiner Verortung in der „Welt“, die das Selbst als Ergänzung oder Verlängerung des Klosterraumes und als Ausgleich zu seiner in den Anfängen nomadischen Konzeption entwickelte. David von Augsburg setzt die Seele gewissermaßen kongruent zum Einzelraum der Zelle und denkt den Körper als äußeren menschlichen Raum in Verbindung zum äußeren physischen Raum des Klosters oder seiner Umgebung, dem Raum der Gemeinschaft.⁵¹ Beide Räume sind gleichrangig und unabdingbar notwendig für ein monastisches Leben und werden in den religiösen Praktiken miteinander verbunden, die den Raum der jeweils anderen Sphäre mitkonstituieren. Das innere Haus als Ort der Seele beziehungsweise als die Seele selbst wird über Raumkonzepte erfahrbar gemacht.⁵²
Die Diskurse um das verräumlichte Selbst im Entwurf eines Innenraumes wurden individualisierungsgeschichtlich im Sinne der Entwicklung eines grundlegenden anthropologischen Bedürfnisses nach Selbstbezug und Vereinzelung gedeutet, vgl. Breitenstein, Das ‚Haus des Gewissens‘, 55. Für eine ordensgeschichtliche Perspektive vgl. Nikolaus Staubach.Vita solitaria und vita communis. Der Innenraum als Symbol religiöser Lebensgestaltung im Spätmittelalter. In Außen und Innen. Räume und ihre Symbolik im Mittelalter, hg. von Nikolaus Staubach,Vera Johanterwage. Frankfurt am Main, New York: Peter Lang, 2007, 279 – 298, hier 289. Zur monastischen Zelle als Entstehungsort der abendländisch-christlichen Subjektivierungsgeschichte, die Subjektivierung als Prozess der Unterwerfung versteht, vgl. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004. Zu Lektüren der Villinger Klarissen vgl. Marie-Luise Ehrenschwendtner. Jerusalem behind Walls. Enclosure, Substitute Pilgrimage, and Imagined Space in the Poor Clares’ Convent at Villingen. The Mediaeval Journal 3:2 (2013), 1– 38, hier 12– 17. Der Franziskaner David von Augsburg (1200 – 1272) erweiterte in seiner Schrift „Vom inneren und äußeren Menschen“ die bereits von dem zisterziensischen Gelehrten Wilhelm von Thierry (†1148) entwickelte Idee der Seele als dem Innenraum des Menschen, der durch seine Zelle schützend umgeben wird, vgl. Gert Melville, Anne Müller: Franziskanische Raumkonzepte. Zur symbolischen Bedeutung des inneren und äußeren Hauses. Revue Mabillon 21 (2010), 105 – 138, hier 108; Cornelius Bohl. Geistlicher Raum. Räumliche Sprachbilder als Träger spiritueller Erfahrung, dargestellt am Werk „De compositione“ des David von Augsburg (Franziskanische Forschungen 42). Werl: Dietrich-Coelde-Verlag, 2000. Die Konzeption eines Inneren als Behausung der Seele lässt sich über einen langen Zeitraum als spirituelle Tendenz in unterschiedlichen Orden antreffen, wie allein die Hinweise auf Hildegard von Bingen, Ursula Haider und Teresa von Ávila und deren ordensübergreifende Lektüren zeigen.
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Wurde den Franziskanerbrüdern der Aufenthalt in abgegrenzten virtuellen Räumen zur Fokussierung normativ verordnet, so existierten für die Klarissen von Anfang an feste Häuser mit eingebauter Klausur. Dort wurde ihre Konzentration auf Frömmigkeitspraktiken in jedem Fall weniger durch die Kommunikation mit der Stadtöffentlichkeit unterbrochen als im Falle der Franziskaner. Zugleich und inmitten der Diskurse um die Verstärkung gemeinschaftlichen Lebens in den Ordensreformen des 15. Jahrhunderts verordnete Ursula Haider ihren Schwestern ebenfalls die regelmäßige Fokussierung auf eine Wahrnehmung von sich selbst bei der Christusnachfolge. Indem sie in den beiden Neujahrspredigten virtuelle Räume zum gesonderten Aufenthalt erschuf, eröffnete sie jeder Schwester gesondert die Möglichkeit, durch die Meditationsthemen der Passion die Heilsgeschichte an sich selbst nachzuvollziehen. Durch die Gebundenheit an die Taktung des liturgischen Tagesablaufs und die für alle gültige Passionsgeschichte waren diese imaginären Räume zugleich kollektiv genutzte Räume.⁵³ Beide Varianten der Raumnutzung können als zwischenräumliches Handeln verstanden werden. Eine weitere Dimension der Raumproduktion der Villinger Klarissen in ihrer Chronik wird in der Aneignung franziskanischer Traditionen deutlich, wie sie die durch ihre geschlechtliche Zuweisung an einen topografischen Ort gebundenen Schwestern durch größtmögliche Annäherung an die Raumpraxis der Franziskaner erreichen konnten. So lassen sich die Klausurimaginationen der Ursula Haider auch als eine Möglichkeit deuten, Zwischenräume für das eigene Denken als epistemische Alternative zu den dominanten Denk- und Wissensstrukturen der theologisch-monastischen Diskurse des Mittelalters zu produzieren.⁵⁴ Die zur Predigt offiziell nicht zugelassene Ursula Haider schuf mit den virtuellen Klausurräumen Räume der eigenen Definitionsmacht exklusiv für die Konventsmitglieder, die durch die „Herzensgeheimnisse“ aus der Zelle auf dem Berg Tabor noch verstärkt wurden.⁵⁵ Der Aufenthalt und das Erleben in den Zellen waren stets
Vgl. Eva Schlotheuber. Norm und Innerlichkeit. Zur problematischen Suche nach den Anfängen der Individualität. Zeitschrift für Historische Forschung 31:3 (2004), 329 – 357, hier 356 f. Schlotheuber bezieht zudem die Empirie weiblicher monastischer Gemeinschaften für die Entwicklung einer „anthropologischen“ Lesart von Räumlichkeit und Subjektivierung ein, ein nach wie vor selten praktizierter historiografischer Ansatz. So formuliert Hildegard von Bingen in ihrem Brief an den Zisterzienser Bernhard von Clairvaux – der in den Reformdiskursen des 12. Jahrhunderts mit Abstand die übergeordnete Position einnahm – , „Aber drinnen in meiner Seele bin ich gelehrt.“ „[…] sed intus in anima mea sum docta.“ Zit. nach Helmut Feld. Mittelalterliche Klosterfrauen im Spannungsfeld von Kommunität und religiöser Individualität. In Das Eigene und das Ganze. Zum Individuellen im mittelalterlichen Religiosentum, hg. von Gert Melville, Markus Schürer. Münster: Lit Verlag, 2002, 621– 650, hier 639. In der Figur der occulta cordis, einer auf patristische Literatur zurückgehenden mittelalterlichen Lehre vom Geheimnis, wird das Herz als der Austragungsort konkurrierender Mächte ent-
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zugleich allein und gemeinsam möglich. In der Christusnachfolge wurden AlleinSein und Gemeinsam-Sein nicht hierarchisch voneinander unterschieden.
5 Unterwegssein zu besonderen Orten Neben den lokalen Erfordernissen der in die Stadtöffentlichkeit integrierten Häuser der Franziskaner und der klausurierten Klarissen bestimmt das Paradigma der peregrinatio religiosa, „das fromme Unterwegssein zu einem Ort bes[onderer] Heilsvermittlung“, als ein weiterer Aspekt die franziskanische Raumproduktion.⁵⁶ Durch das Unterwegssein in der Welt als Fremde und der damit verbundenen Präsenz in Person und gepredigtem Wort als konstitutives Merkmal der männlichen Mitglieder der Bettelorden grenzten sich diese mit umfangreichen Pilgerreisen und Missionsfahrten vom Prinzip der stabilitas loci der traditionellen Orden ab.⁵⁷ Da den klausurierten weiblichen Religiosen jedoch weder die Möglichkeit des physischen Wanderns noch des Predigens außerhalb ihrer Häuser zur Verfügung stand, konnten diese die gründungsstiftende Losung von der Welt als Kloster nicht in der gleichen Weise umsetzen und Wegstrecken über geografische Räume hinweg zurücklegen. Um dieser Herausforderung zu begegnen, entwickelten viele weibliche Gemeinschaften Möglichkeiten, in imaginierten Räumen die Praxis des Pilgerns nachzuvollziehen. Dazu gehörten die künstlerische Ausgestaltung der Klausurräume mit Bildern und Figuren heilsgeschichtlicher Motive sowie die Einrichtung von Ablass-Stationen, die kongruent zu den Orten auf den Hauptpilgerwegen und -zielen Ablässe versprachen.⁵⁸ Die Villinger Klarissen entwarfen ein solches Programm, das Wandern in der Welt zu ermöglichen, indem sie die Klausur als imaginären Welt-Raum ausgestalteten. Ursula Haider ließ, angeregt durch Lektüren von Pilgerberichten, alle heiligen Stätten der Pilgerfahrten sowie die Städtebeschreibung auf Pergament worfen. Obwohl bestimmte Geheimnisse nur von Gott gesehen und gewusst werden, bildet sich sein Gehalt gleichwohl im Äußeren des Menschen ab, vgl. dazu Peter von Moos. „Herzensgeheimnisse“ (occulta cordis). Selbstbewahrung und Selbstentblößung im Mittelalter. In Schleier und Schwelle. Geheimnis und Öffentlichkeit, hg. von Aleida Assmann, Jan Assmann. München: Fink, 1997, 89 – 109, hier 91– 93. Vgl. L. Schmugge. ‚Pilger, I. Früh- und Hochmittelalter‘. In Brepolis Medieval Encyclopaedias – Lexikon des Mittelalters Online, 2148 – 2149. Vgl. Kehnel, Dauer durch Wandeln, 108. Vgl. Marie-Luise Ehrenschwendtner.Virtual Pilgrimages? Enclosure and the Practice of Piety at St Katherine’s Convent, Augsburg. The Journal of Ecclesiastical History 60:1 (2009), 45 – 73, hier 66 f, zum Phänomen des virtuellen/spirituellen Pilgerns bei Dominikanerinnen.
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aufschreiben und an verschiedenen Stellen in der Klausur anbringen.⁵⁹ Auf Haiders Engagement hin erteilte Papst Innozenz VIII. 1491 die gewünschten Ablässe für die Repräsentationen beinahe aller heiligen Stätten in Jerusalem, auf dem Sinai und in Rom im Kloster in gleicher Höhe wie jene an den Originalschauplätzen.⁶⁰ Damit wurde das Kloster als ein „Neues Jerusalem“ eingerichtet, indem die Pilgerorte Jerusalem und Rom symbolisch zu erreichen waren und mit einem Ablass belohnt wurden. In der Villinger Chronik wurde das Wandern mit der Herausforderung des Lebens in Klausur als dezidiert weiblicher Form des Religiosentums in einer Weise verknüpft, in der der Anspruch zu beobachten ist, ein Leben in Christusnachfolge unter anderen räumlichen Bedingungen als die der männlichen Ordensmitglieder zu organisieren und zu begründen.⁶¹ Mit der Einrichtung von Pilgerorten in der Klausur wurden das Wandern in der Welt und die Reproduktion der Orte der Heilsgeschichte durch die Körper der Pilgernden – der Zweck jeder peregrinatio – innerhalb der Mauern ermöglicht.⁶² Eine jenseitige Dimension erhielt diese Raumstruktur zusätzlich durch Ursula Haiders Grablege in der 1494 geweihten
Insbesondere der Pilgerbericht von Stephan Fuchs, dem Beichtvater der Villinger Klarissen, über Jerusalem von 1483, vgl. Stegmaier-Breinlinger, „Die hailigen Stett Rom und Jerusalem“, 178 f.. 1492 wurden die Bezeichnungen auf Tontafel eingetragen und im Kloster angebracht und die Pergamentblätter ersetzt, vgl. Boewe-Koob, Das Kloster Sankt Clara, 178 f.; Stegmaier-Breinlinger, „Die hailigen Stett Rom und Jerusalem“, 178 f. Auch männliche Religiosen praktizierten das Konzept virtuellen Pilgerns zur Steigerung der Frömmigkeit, jedoch gingen damit auch disziplinarische Erwägungen einher. Aus der Befürchtung von „Ausschweifung“ während des Pilgerns heraus wurden den observanten Franziskanern 1459 das Privileg der Stationsablässe für die sieben römischen Hauptkirchen bzw. Pilgerkirchen gewährt, vgl. Hubert Frank. Der „Besuch der sieben Kirchen“ als religiöse Übung der ultramontanen Observanten. Franziskanische Studien 37 (1955), 260 – 272, hier 260 f. Bildliche Materialisierungen von Pilgerorten innerhalb der Klausur weiblicher Gemeinschaften zeigen bspw. die Konvente in Helfta, Engelthal und Augsburg, vgl. Ehrenschwendtner,Virtual Pilgrimages, 65 f. Die Schwestern des Dominikanerinnen-Konventes Augsburg bestellten als Reaktion auf die Einführung der strengen Klausur in ihrem Haus Tafeln mit der Darstellung der römischen Pilgerkirchen aus der Werkstatt Hans Holbeins d. Ä., den sog. Basilikazyklus, vgl. Heidrun Stein-Kecks. Der Kapitelsaal in der mittelalterlichen Klosterbaukunst. Studien zu den Bildprogrammen. München, Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2004, hier 204 f. Die Aktualisierung der Heilsgeschichte in der mittelalterlichen Pilgerpraxis ist als Zusammenspiel von Körpern und den Orten der Pilgerschaft zu verstehen, die beide als Träger des Heiligen produziert werden, vgl. Jörg Dünne. Pilgerkörper – Pilgertexte. Zur Medialität der Raumkonstitution in Mittelalter und früher Neuzeit. In Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive, hg. von Jörg Dünne, Hermann Doetsch, Roger Lüdeke. Würzburg: Könighausen &Neumann, 2004, 79 – 97, hier 80.
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Ölbergkapelle der Klosterkirche.⁶³ Die Materialisierungen von Orten der Heilsgeschichte in der Klausur durch Ablasstafeln sind zudem intermedial mit der oben erörterten Imagination der drei Zellen in der Villinger Chronik verknüpft.⁶⁴ In Verbindung mit der Darstellung der Klausur als Christus-Imago ist die Villinger Klausur als ein komplexes räumliches Aushandlungsgefüge für die Subjektivierung als Teil der Gemeinschaft in Christo und seiner Nachfolge zu verstehen. In ihren verschiedenen Ausgestaltungen überlagern sich Diesseits und Jenseits in der Klausur durch die permanente Wiederholung der Heilsgeschichte, die jeder Schwester in einem gewissen Rahmen zur eigenen Gestaltung oblag. Eigensinniges Handeln ist in der Konzeption eines Klarissenlebens dennoch nicht vorgesehen, wird es doch als Widerspruch zur Generaltugend des Gehorsams verstanden und widerspricht dem konstitutiven Armutsverständnis. Wer einen eigenen, abweichenden Willen kultiviert, weicht von der Form des gemeinsam ausgerichteten Kollektivs aus. Vor diesem Hintergrund enthielten die neu errichteten Klausurstrukturen auch den Anspruch, baulich eine Vereinzelung der Konventsschwestern zu verhindern, indem entweder gar keine Einzelzellen eingerichtet wurden oder diese einsehbar für alle gestaltet wurden. Gleichwohl erfolgten diese Debatten innerhalb einer Umbruchphase, in der die bisherige formenreiche Ausdifferenzierung weiblicher Klöster auf neue Ideen einer Rückbesinnung traf, die zugleich innerhalb einer normativen Homogenisierung stattfand. Die Ordensreformen erfolgten innerhalb von Institutionalisierungsprozessen, die radikal binärgeschlechtlich weibliche Klöster zu vereinheitlichen suchten und die Verwaltung ihres Besitzes zentralisiert an die Stadt- oder Landesregierungen übergaben. Die schriftliche und künstlerische Auseinandersetzung mit der Klausurgestaltung wie bei den Villinger Klarissen liefert ein Beispiel für das Handeln zwischen Norm, Struktur und agency, das durch einen Zugriff über (Zwischen‐)Räumlichkeit und Bewegung fassbar wird. In den beschriebenen Raumproduktionen überlagern sich kartografische Beschreibungen des Körpers Christi (Tempel) und der Heilsgeschichte (drei Zellen), die die Lebensform in der Klausur selbst zu einer Karte werden lassen.⁶⁵ Bei
Vgl. Boewe-Koob, Das Kloster Sankt Clara, 181. Vgl. FN 60. Die Gestaltung des Tempels bzw. seiner kartografischen Darstellung als Christuskörper korrespondiert mit den Weltkartendarstellungen des späten Mittelalters, in der Erdteile in Form heiliger Figuren wiedergegeben wurden, vgl. Claudia Bruns. Europas Grenzdiskurse seit der Antike. Interrelationen zwischen kartographischem Raum, mythologischer Figur und europäischer Identität. In Grenzen in Europa. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, hg. von Michael Gehler, Andreas Pudlat. Hildesheim: Olms, 2009, 17– 64, hier 24.
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diesen Raumrepräsentationen handelt es sich um eine Verräumlichung des Ideals der Christusnachfolge, das in nachvollziehbare Bilder, Orte und Bewegungsabläufe zerlegt wird und zwischenräumliches Handeln impliziert. Dadurch wird die Christusnachfolge als Angebot und Aufforderung zur fortdauernden Aktualisierung bereitgestellt.⁶⁶ In besonderer Weise werden die in den Regeltexten der Klarissen angelegten Bewegungsmetaphern visualisiert, die die imitatio Christi als Weg entwerfen, auf dem zu gehen die Klara-Regel eine Landkarte bereitstellt.⁶⁷ So wird die imitatio ein dezidiert weiblicher Zwischenraum, in dem durch transgressive Aneignungen die größtmögliche Annäherung an männlich gerahmte franziskanische Raumproduktionen ermöglicht wurde.
6 Fazit Die Villinger Chronik erweist sich als ein komplexes Gefüge von Klausurraumproduktionen. Diese sind durch eine Vielzahl von Orten und Räumen gekennzeichnet, die sich überlagern können und sollen. Sie verknüpfen verschiedene mediale Elemente wie kartografische Erzählungen und Verweise auf materiell eingerichtete Orte im Klausurgebäude. Durch Anleitungen zu Bewegungspraktiken von Körper und Seele wie dem Gehen von einem Raum oder Ort in/zu dem anderen, dem Sehen, dem Mitleiden, dem Nachfolgen, dem Gebet werden Handlungsanweisungen für den Aufenthalt in der Klausur gegeben, die darauf abzielen, die Lebensform als Bewegung zu vollziehen. Die Bewegungsmöglichkeiten in einander überlagernden Räumen sind normativ eingebettet im Spektrum von wollen, können, sollen, müssen, dürfen. All diese Modi sind konstituierende Bedingungen für den Aufenthalt des Subjektes in der Klausur. Man darf, so oft es geht, die einzelnen Bauteile des Christustempels aufsuchen, zugleich besteht die Erwartung seitens der Klostergemeinschaft, dies auch so oft wie möglich zu tun und zu wollen. Ebenso darf man die drei Zellen mit ihren jeweiligen Funktionen aufsuchen, hat sich aber an die dort erwarteten Praktiken des Sehens, Mitfühlens und Gehens zu halten und die zeitlichen Abläufe zu beachten. Im Bewegungsskript für das Leben in der Klausur fallen Freiwilligkeit, Erwartung und Zwang innerhalb des Normensystems zusammen.
Vgl. Dünne, Pilgerkörper, 83. Vgl. Benedikt Mertens, OFM. Die Dynamik des geistlichen Weges: Bewegung und Fortschritt im Vokabular der Klaraschriften. In Klara von Assisi. Zwischen Bettelarmut und Beziehungsreichtum. Beiträge zur neueren deutschsprachigen Klara-Forschung, hg. von Bernd Schmies. Münster: Aschendorff, 2010, 33 – 41.
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Das Wohnen und Sich-Bewegen in Christus lässt das individuelle Leben und seine Form, die ihm durch die Ordensregel gegeben wird, zusammenfallen.⁶⁸ Subjektivität von Angehörigen der Franziskaner ist normativ männlich gedacht. Dieses Subjekt ist mobil, ständig in Bewegung an möglichst vielen Orten der Welt, sei es durch Predigen, Pilgern oder in missionarischen Kontexten. Männliche Franziskaner haben das Repertoire der Bewegung innerhalb der Klausur zur Verfügung, sind aber nicht darauf beschränkt. Die Klausurraumpraktiken der permanenten Bewegung und Beweglichkeit, wie sie die Villinger Chronik zeigt, die auf den topografischen Ort der Klausur festgelegt sind, zeigen das Bestreben einer größtmöglichen Annäherung an das normative Ideal franziskanischer Subjektivität, indem das Mobilitätsideal durch Raumpraktiken interpretiert wird. Die Klausurraumproduktion in der Villinger Chronik zeigt vielfältig zwischenräumliches Handeln, das es den Klarissen ermöglicht, sich einzeln und unabhängig von der direkten Gegenwart anderer aufzuhalten und wahrzunehmen. Zugleich ermöglicht es, vor allem durch die Konzeption der Zellen, die Verbindung der eigenen Frömmigkeitspraxis zu der weltlicher Glaubender herzustellen. Durch zwischenräumliches Handeln wird die agency der Klarissen in ihrer physisch-materiellen Klausur selbst erweitert, genauso aber auch die epistemologische agency als weiblicher Zweig des franziskanischen Ordensgefüges. Die Lebensform selbst wird als Weg und Karte sichtbar, auf der sich Christus nachfolgen lässt, auch wenn die weiblichen Religiosen durch die geschlechtliche Zuweisung topografisch beschränkt waren. In den Predigten Haiders, im Textraum der Chronik und damit der gemeinschaftlichen Frömmigkeitspraxis der Klarissen verknüpfen sich die Entwürfe von Bewegung in den Zwischenräumen der Klausur mit dem übergeordneten Programm des Wanderns auf dem Pfad der Christusnachfolge. Indem der Klausurraum kartografisch vermessen wird, lässt sich die Lebensform der peregrinatio innerhalb geschlossener Räume nicht nur im Sinne eines „als ob“, sondern „genauso wie“ installieren. Diese zwischenräumlichen Bewegungspraktiken sind zwar einem asymmetrischen Verhältnis des geschlechtlich bestimmten Außen/Innen unterworfen, können aber zugleich durch ihren Anspruch, eine größtmögliche Annäherung an das Ideal des mobilen Subjektes zu erreichen, als transgressive Aneignung räumlicher Praktiken verstanden werden. Dieser Überschuss von Eigensinn ist im traditionellen Vorbild der Ordensgründerin Klara von Assisi bereits angelegt, deren Beharren auf dem Armutsprivileg, das eine Gleichberechtigung mit den
Vgl. Agamben, Höchste Armut.
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männlichen Ordensangehörigen bedeutet hätte, nur im Tausch gegen die Akzeptanz eines Lebens in Klausur aufrechtzuerhalten war. Ursula Haiders Entwurf eines vielfältig verschachtelten Klausurraums, der am begrenzten topografischen Ort Räume unendlicher Anzahl und Weite ermöglichte, in denen Alleinsein und Gemeinsam-Sein kein Widerspruch sein musste, weist eine solche Spur von Eigensinn ebenfalls auf. Sind Raumpraktiken das Feld, in dem sich die Geschlechterdifferenz zugleich am wirkmächtigsten niederschlägt, so ist zwischenräumliches Handeln das Mittel ihrer Transgression für die Herstellung von Zugehörigkeit. Mit der Klausurraumproduktion wird die subversive Aneignung von Wissen, Tradition und Anerkanntwerden als mobiles Subjekt durch Raumpraktiken möglich und kann zugleich in die Geschichte des Ordens eingehegt werden.
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Räumlichkeit und Geschlecht in mittelalterlichen Ordensnormen Space and Gender in the Context of Medieval Monastic Norms: Departing from an aspect of Michel Foucault’s concept of heterotopias applied to monasteries in the Middle Ages, this paper proposes to conceptualize transitional spaces in-between, which refer to different types of relations between a convent and its surroundings or within a convent. These interspaces are analyzed within monastic rules from Pachomius of Esneh and Caesarius of Arles to Benedict’s Rule, Augustine’s Rule and the Constitutiones Sancti Sixti de Urbe. A gender-based perspective guides the inquiry. Die Frage eines Dazwischen oder von Übergangsräumen stellt sich in besonderer Deutlichkeit für Lebensformen,¹ denn sie finden in der Welt statt, aber nehmen im Blick auf ihre Sicht-, Hör- und sonstige Wahrnehmbarkeit unterschiedliche Nähe- oder Fernerelationen zu ihr ein. Hier soll jedoch nicht im Sinn des Geheimnisses und der Verborgenheit weitergefragt werden, sondern im Sinn von Wahl einer Lebensform, die eine mehr oder weniger freiwillig übernommene Abgeschiedenheit von der alltäglichen Welt mit sich bringt. Solche Lebensformen gehen mit spezifizierten Weltanschauungen einher, die sich näherhin vor allem in religiösen Glaubenssystemen entfalten. In vielen Religionen gilt als dominierender Ort des Rückzugs von der Welt das Kloster.² Mit Michel Foucaults Konzept der „hétéro-topies, les espaces absolument autres‟, der Heterotopien, der vollkommen anderen Orte,³ lässt sich Kloster als ein wohlgeordneter Ort der Transformation, versehen mit Öffnungs- und Schließsystemen und freiem Zutritt nur für Initiierte, vorstellen.⁴ Kloster in der
Zum Begriff vgl. Rahel Jaeggi. Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2014, Kap. 1.1: Lebensform: Begriff und Phänomen. Die genannten Begriffe finden sich als Parameter eigenen Forschens bei Christina Lutter. Zwischen Hof und Kloster. Kulturelle Gemeinschaften im mittelalterlichen Österreich. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag, 2010, 8. Vgl. Achim Hack. Kloster. In Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien, hg. von Christoph Auffarth, Jutta Bernard, Hubert Mohr, Bd. 2, Stuttgart: J.B. Metzler, 1999, 191– 193. Michel Foucault. Les hétérotopies. In: Ders. Die Heterotopien. Les hétérotopies. Der utopische Körper. Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Übers. von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. 4. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2019, 37– 52, hier 41 und 11. Foucault, Les hétérotopies, 47, 49. https://doi.org/10.1515/9783110758306-009
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Welt und zugleich fern von ihr lässt jedoch auch nach der Raumhaltigkeit von Kloster in seiner Relation zu es umgebenden Räumen fragen. Diese Frage sei für mittelalterliche Jahrhunderte angeschnitten. Sie ist der mediävistischen Forschung, hier in lateineuropäischer Perspektive, nicht ganz neu, ging es doch unter jüngeren kulturwissenschaftlichen Aspekten darum, angesichts historisch nachweisbarer Kontakte, Einflussnahmen und Austauschprozesse zwischen Klöstern und den sie umgebenden gesellschaftlichen Gruppen die Vorstellung von einer strikten Abgrenzung zwischen weltlichem und monastischem Leben zu differenzieren.⁵ Hier soll dies exemplarisch an Normen zönobitischen Lebens untersucht werden. Wie wurden in ihnen Kontakte und Übergangszonen konzeptualisiert? Öffneten sich in ihnen Räume eines Dazwischen oder der Vermittlung zwischen Lebenswelten? Was war welchen Personen unter welchen Umständen in der Annäherung an und beim Eintritt in Zwischenräume erlaubt oder wurde ihnen ermöglicht? Welche Zwischenräumlichkeit konstituierenden Praktiken von Bewegungen, „Zwischenräumliche Bewegungspraktiken“,⁶ lassen sich ausmachen? Dabei ist anzunehmen, dass sich nicht eigene Zeitregime, die, wie es meist der Fall ist, den Aufenthalt „Im Dazwischen“ zeitlich eingrenzen,⁷ mit den beobachtbaren Zwischenräumen verbinden. In ihrem strukturierenden Anspruch war und ist die Welt der monastischen Lebensformen binär den beiden Geschlechtern männlich und weiblich folgend gegliedert. Dies gilt auch bei Doppelklöstern, in der jüngeren Forschung als „symbiotische Konvente“ untersucht,⁸ denn die gemeinsamen Strukturen ba-
Christoph Dartmann. Kommentar zur Sektion „Wirkung von Innovationen in die Welt“. In Innovation in Klöstern und Orden des Hohen Mittelalters. Aspekte und Pragmatik eines Begriffs. Berlin: Lit Verlag, 2012, 65 – 71, hier 67. Uwe Wirth. Zwischenräumliche Bewegungspraktiken. In Bewegen im Zwischenraum, hg. von Uwe Wirth, unter Mitarbeit von Julia Paganini. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2012, 7– 34. Vgl. Isabella Augart, Sophia Kunze, Teresa Stumpf. Zur Einführung. In Im Dazwischen. Materielle und soziale Räume des Übergangs, hg. von Isabella Augart, Sophia Kunze und Teresa Stumpf. Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 2020, 7– 16, hier 7. Stephanie Haarländer. Doppelklöster und ihre Forschungsgeschichte. In Fromme Frauen – unbequeme Frauen? Weibliches Religiosentum im Mittelalter, hg. von Edeltraud Klueting. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verlag, 2006, 27– 44, passim. Ohne Einbezug dieser Überlegungen Haarländers Christiane Ulrike Kurz. „Ubi et est habitatio sororum et mansio fratrum“. Doppelklöster und ähnliche Klostergemeinschaften im mittelalterlichen Österreich (Diözese Passau in den Ausdehnungen des 13. Jahrhunderts). Wien: Universität Wien, 2010, 9, 15 – 23, 29 – 53. Nicht inhaltlich einbezogen auch Stephanie Haarländer. „Schlangen unter den Fischen“. Männliche und weibliche Religiosen in Doppelklöstern des hohen Mittelalters. In Frauen und Kirche, hg. von Sigrid Schmitt. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2002, 55 – 69. Noch unpublizierte Habilitationsschrift: Stephanie Haarländer. Symbiotische Konvente männlicher und weiblicher Religiosen.
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sierten auf einer räumlichen Trennung der Geschlechter bei diversen Aktivitäten des alltäglichen und des geistlichen Lebensvollzugs, die sich nicht nur durch die grundlegende Asymmetrie der Geschlechter in Bezug auf die Priesterwürde begründete.⁹ Unter dem Aspekt der Geschlechterdichotomie ist die Frage nach Zwischenräumen noch zusätzlich durch die Notwendigkeit, Übergangsräume für etwa die Sakramentenspende durch einen Priester zu konfigurieren, markiert. Dies lässt grundsätzlich nach geschlechtskonnotierten Räumen monastischen Lebens fragen, wie sie von Normen eröffnet und von Praktiken – hier nicht zu thematisieren – erfüllt und gegebenenfalls verändert werden.
1 Normen monastischer Orden: Geschlechter, Räume und Zwischenräume Regula werden Sammlungen von Normen geistlichen Lebens genannt, die oft mit den Namen derjenigen verbunden werden, die mit ihnen ein Kloster eingerichtet haben oder eingerichtet haben sollen.¹⁰ Als Corpus normierender Sätze besitzen Regulae eine methodisch durch Überlieferungs- und Textkritik der handschriftlich überkommenen Versionen erarbeitete Geschichte, aber als Normen haben die hier zu betrachtenden Regeln in einer in mittelalterlichen Zeiträumen festgestellten Form Wirksamkeit über Jahrhunderte entfaltet und üben sie weiterhin aus. Etwa notwendig werdende Ergänzungen oder Reformierungen geschahen nicht durch Veränderungen der Regula, sondern wurden in Gestalt weiterer Texte, Consuetudines – Gewohnheiten, Gebräuche, Gepflogenheiten – in je eigener textueller
Konzeption und Realität einer umstrittenen Lebensform im Mittelalter [Arbeitstitel] (2003). URL: https://mittelalter.geschichte.uni-mainz.de/dr-phil-habil-stephanie-haarlaender/ (06.12. 2020). Zu den Schwierigkeiten zu verallgemeinernden Aussagen darüber zu gelangen, vgl. Haarländer, Doppelklöster, 32– 33. Zu Rollen und Anwesenheiten von Männern in Frauenkommunitäten vornehmlich des späten 11. und 12. Jahrhunderts vgl. Fiona J. Griffiths. Nuns’ Priests’ Tales. Men and Salvation in Medieval Women’s Monastic Life. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2018. Die Historizität des Benedikt von Nursia als eine einzige Person und als Urheber der Regula Benedicti lässt sich nicht zur Gänze sichern; vgl. Johannes Fried. Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München: Verlag C.H. Beck, 2004, 344– 357 mit 434– 441. Zur Forschungsgeschichte dazu vgl. Georg Jenal. Sub Regula S. Benedicti. Eine Geschichte der Söhne und Töchter Benedikts von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag, 2018, 44– 48; zum Benedikt in den Dialogi Gregors d.Gr. zugeschriebenen Lebenslauf ebd., 48 – 51.
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Konfiguration vorgenommen.¹¹ Regulae entnommene Aussagen müssten daher immer auf historische Textzustände – soweit regional oder lokal überliefert – bezogen werden, wenn Praktiken untersucht werden sollen. Dabei wäre auch nach der gebrauchten Sprache, Latein und/oder eine Volkssprache in einer raumzeitlich identifizierbaren schreibsprachlichen Varianz, zu fragen. Für die Lebensformen mittelalterlicher Mönche und Nonnen ist in der Perspektive einer longue durée gesehen der Übergang vom Anachoretentum zum zönobitischen Leben bedeutsam gewesen.¹² Er lässt sich insbesondere mit Raumkategorien beschreiben, geht es doch darum, dass die Distanzen, die Zwischenräume, zwischen zuvor eremitisch lebenden Menschen reduziert werden, indem sie – idealiter – in einem Gebäude zusammenkommen, um gemeinsam spirituellen und liturgischen Praktiken nachzugehen. Aus dem Anachoretentum erwachsend, war die erste Regel, die das zönobitische Leben von Mönchen regeln sollte, diejenige des Pachomius von Esneh (um 292– 346/347), der nach seiner Zeit als Soldat in der römischen Armee, seinem Eintritt in eine christliche Gemeinschaft und seiner Taufe 314 sieben Jahre unter der Anleitung des Asketen Palamon als Anachoret gelebt hatte, um nach dessen Tod bis dahin verstreut lebende Männer in Oberägypten um sich zu versammeln. Nach Konflikten und einem ersten Scheitern erstellte er eine monastische Regel für sein Kloster und unterstützte seine Schwester, in kurzer Entfernung ein Kloster für christliche Frauen zu errichten, die ebenfalls nach seiner Regel lebten. Die Gründungen des Pachomius sollten schließlich neun Männerklöster und zwei Frauenklöster umfassen.¹³
Vgl. Gert Melville. Regeln – Consuetudines-Texte – Statuten. Positionen für eine Typologie des normativen Schrifttums religiöser Gemeinschaften im Mittelalter. In Regulae – Consuetudines – Statuta. Studi sulle fonti normative degli ordini religiosi nei secoli centrali del Medioevo. Atti del I e del II Seminario internazionale di studio del Centro italo-tedesco di storia comparata degli ordini religiosi (Bari/Noci/Lecce, 26 – 27 ottobre 2002 / Castiglione delle Stiviere, 23 – 24 maggio 2003), hg. von Cristina Andenna und Gert Melville. Münster i.W.: Lit Verlag, 2005, 5 – 38. Wieder veröffentlicht unter dem Titel: Regeln – Consuetudines-Texte – Statuten. In Frommer Eifer und methodischer Betrieb. Beiträge zum mittelalterlichen Mönchtum, hg. von Cristina Andenna und Mirko Breitenstein. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2014, 160 – 186. Für Beispiele, gegebenenfalls auch unter Einbezug der jeweiligen Klosterarchitektur, vgl. die Beiträge in: Consuetudines et Regulae. Sources for Monastic Life in the Middle Ages and the Early Modern Period, hg. von Carolyn Marino Malone und Clark Maines. Turnhout: Brepols, 2014. Vgl. Maria Mossakowska Gaubert. Anachorètes et cénobites égyptiens. Cohabitation, échanges (IV–Xe siècles). In Interaction, emprunts, confrontations chez les religieux. Antiquité tardive – fin du XIXe siècle. Actes du VIIIe colloque international du CERCOR, célébration du trentenaire, Saint-Étienne, 24 – 26 octobre 2012, hg. von Sylvain Excoffon, Daniel-Odon Hurel, Annick PetersCustot, Saint-Étienne: Publications de l’Université de Saint-Étienne, 2015, 31– 48. Heinrich Bacht. Das Vermächtnis des Ursprungs. Studien zum frühen Mönchtum II. Pachomius – Der Mann und sein Werk. Würzburg: Echter Verlag, 1983, 18 – 31. Zum Leben des Pachomius
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Die Regel des Pachomius ist in der erstmals vermutlich nach 368 niedergeschriebenen Vita über ihn überliefert.¹⁴ In einer der griechischen Viten, hier gelesen in der deutschen Übersetzung in der Bibliothek der Kirchenväter, wird Pachomius von einer Stimme zur Gründung eines Klosters berufen und erhält von einem Engel eine Tafel mit den Regeln, nach denen die Mönche leben sollen; erwähnt werden Kleidung und Lebensweise (Kap. 5).¹⁵ Nach einer Phase letztlich nicht gelingenden Handelns (Kap. 6 und 7) nimmt er infolge der Intervention eines Engels erneut Männer als Mönche auf, die er anleitet, gänzlich der Welt und ihrer selbst zu entsagen. Ein liminaler Zwischenraum zeigt sich an der Tür: An ihr steht Pachomius Rede für jeden Klopfenden, aber durch sie müssen auch diejenigen gegangen sein, die von ihm Askese lernen und sie mit ihm leben wollen. Die Regeln, die er auf ihre Bitten hin zusammenstellt, gelten der Kleidung, der Nahrung und dem Schlaf; dafür geeignete Mönche werden ausgewählt, die „äußeren Klosterbedürfnisse“ zu besorgen (Kap. 8).¹⁶ Die Person des Priesters, den Pachomius für die Sakramentenspende kommen lässt, erscheint als ein grenzüberschreitender Anderer (Kap. 9).¹⁷ Allerdings überschreiten sowohl Pachomius als auch Brüder mit ihm oder ohne ihn die Schwelle nach außen, wenn dies für nötig gehalten wird oder etwa die Gründung neuer Klöster es erfordert (z. B. Kap. 10, 11, 12, 21, 33, 36).¹⁸
nach den Vitae über ihn vgl. auch James M. Drayton. Pachomius as Discovered in the Worlds of Fourth Century Christian Egypt, Pachomian Literature and Pachomian Monasticism: A Figure of History or Hagiography? Sydney: Department of Studies in Religion, University of Sydney, Australia, 2002, URL: https://ses.library.usyd.edu.au/bitstream/handle/2123/481/adtNU20030224.12284502whole.pdf;jsessionid=4 A433F25ED5F8F2 A593E7EA78 A5FB84B?sequence=1 (20.12. 2020), 43 – 55. Zu den unter der Leitung des Pachomius stehenden drei Männerklöstern und einem Frauenkloster im Nomos Panopolis vgl. Johannes Hahn. Gewalt und religiöser Konflikt. Studien zu den Auseinandersetzungen zwischen Christen, Heiden und Juden im Osten des Römischen Reiches (von Konstantin bis Theodosius II.). Berlin: Akademie Verlag, 2004, 227– 228. Zu den koptischen, griechischen, arabischen und verschiedentlich in europäische Sprachen übersetzten Versionen der Viten über Pachomius vgl. Susanne Hausammann. Gottes Wort und unsere Wörter. Der Umgang mit dem Wort Gottes in den Kirchen östlicher und westlicher Tradition. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagsgesellschaft, 2013, 109 mit Anm. 9; Bacht, Das Vermächtnis, 10 – 13. Vgl. auch Drayton, Pachomius, 105 – 122. Leben des heiligen Pachomius (Vita Pachomii). In: Athanasius, Ausgewählte Schriften Band 2. Aus dem Griechischen übersetzt von Anton Stegmann und Hans Mertel. München: Kösel-Verlag, 1917, URL: http://www.unifr.ch/bkv/kapitel45 – 4.htm (20.12. 2020). Hausammann, Gottes Wort, 109, Anm. 9 zufolge ist entgegen Mertel die Vita prima vor der Vita altera zu bevorzugen. Leben des heiligen Pachomius, URL: http://www.unifr.ch/bkv/kapitel45 – 7.htm (20.12. 2020). Leben des heiligen Pachomius, URL: http://www.unifr.ch/bkv/kapitel45 – 8.htm (20.12. 2020). Leben des heiligen Pachomius, URL: http://www.unifr.ch/bkv/kapitel45 – 9.htm, http:// www.unifr.ch/bkv/kapitel45 – 10.htm, http://www.unifr.ch/bkv/kapitel45 – 11.htm, http://www.
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Die Regel des Pachomius wird hier nach der lateinischen Übersetzung des Sophronius Eusebius Hieronymus († 420) und in deren deutscher Übersetzung von Heinrich Bacht SJ gelesen. Die 404 entstandene lateinische Übersetzung stellt die einzige vollständige und nicht verkürzte Übertragung der Regel dar. Sie bildet die Grundlage des weitreichenden Einflusses, den die Pachomiusregel in der Geschichte des monastischen Lebens ausgeübt hat; ihn bezeugt auch die große Zahl erhaltener Handschriften.¹⁹ „Praecepta“ – „Gebote“ ist der Name, der sich, insbesondere vom Griechischen ausgehend, als grundlegende Bezeichnung erkennen lässt.²⁰ In seiner „Praefatio“ zeigt sich Hieronymus an der hochdifferenzierten Ordnung innerhalb der Pachominianischen Klöster interessiert, die er von „vir[i] apostolic[i]“ – Männern in der Nachfolge der Apostel Christi, mithin arm lebend – bewohnt sieht.²¹ Die „Praecepta“ setzen mit der Ankunft eines Neulings ein, die als ein Durchgang durch einen Zwischenraum charakterisiert wird: „1. Wer als Neuling in die Collecta der Heiligen eintritt und wen der Pförtner ordnungsgemäß von der Klosterpforte her eingeführt hat und wem er einen Platz im Konvent der Brüder angewiesen hat, der darf seinen Sitzplatz oder Rang nicht verändern, bis ihn der Oikiakos, d.i. der Vorsteher seines Hauses, zu dem Platz hinüberführt, der ihm rechtens gebührt.“²² Offensichtlich wird der Prozess des Eintretens performativ inszeniert, und dem Pförtner als Akteur des Übergangs obliegen dabei weiterreichende Aufgaben als nur die Hut der Pforte zum Kloster. Zwischenräume lassen sich dabei ausmachen. Im 49. Abschnitt werden sie genau erkennbar: Wer zur Klosterpforte kommt, um als Bruder aufgenommen zu werden, soll zunächst dem „Vater des Klosters gemeldet werden“. Während einiger Tage, die er „draußen vor der Pforte“ verbringen muss, werden ihm das Vaterunser und so viele Psalmen, wie er lernen kann, beigebracht; zudem muss er Rechenschaft ablegen, dass er nicht wegen einer bösen Tat davongelaufen ist, unter keines Menschen Gewalt steht und auf seine Eltern verzichten sowie seinen Besitz verachten können wird. Bei Eignung
unifr.ch/bkv/kapitel45 – 20.htm, http://www.unifr.ch/bkv/kapitel45 – 32.htm, http://www.unifr.ch/bkv/kapitel45 – 35.htm (20.12. 2020). Bacht, Das Vermächtnis, 43 – 44. Bacht, Das Vermächtnis, 114, Anm. 1. Bacht, Das Vermächtnis, 65 – 70, Zitat 69. „1. Qui rudis collectam sanctorum ingreditur, et quem per ordinem ianitor ab ostio monasterii introduxerit, et sedere fecerit in conventu fratrum, non ei licebit sedendi locum vel ordinem commutare, donec eum transferat οἰκιακός, id est praepositus domus suae, ad locum qui ei rite debetur.“ Bacht, Das Vermächtnis, 82 mit 118 – 121: Anm. 8a–16. „Haus – domus“ ist als eine Organisationseinheit im Kloster zu verstehen.
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bis zu diesen Punkten soll er auch in die übrigen Regeln des Klosters eingeführt werden. Im Anschluss soll ihm das Gewand der Mönche angelegt und er dem Pförtner übergeben werden, damit dieser ihn „zur Zeit des Gebetes vor das Angesicht aller Brüder“ führe und er sich auf den ihm zugewiesenen Platz setze.²³ Die Klosterpforte und die Pforte des Gästehauses erscheinen in zumindest vier sich anschließenden Abschnitten (50.–53.) als Zwischenräume in Übergangsszenarien. Ein Eingeladener kann nur über die Pforte des Gästehauses von dafür Zuständigen aufgenommen werden (50.). Kleriker oder Mönche werden mit größerer Ehrerbietung und einer evangeliumsgemäßen Fußwaschung ins Gästehaus aufgenommen (51.). Weltlich Lebende oder Bettler oder Frauen sollen einzeln an diversen Orten untergebracht werden (52.). Insbesondere Frauen sollen mit besonderer Sorgfalt behandelt werden und einen abgetrennten und verschlossenen Raum („separatum et clausum locum“) fern jeglicher Nachbarschaft zu Männern zugewiesen bekommen, damit sich die Brüder frei ihrem Dienst widmen können, ohne dass ein Anlass zu Schmähungen entstehen kann (ebd.). Verwandtenbesuch kann nach Erlaubnis nur in Begleitung eines zuverlässigen Bruders außerhalb der Klosterpforte (beim Gästehaus?) gesehen werden; als Gabe mitgebrachte Speisen kann nur der Pförtner entgegennehmen (53.).²⁴ Jenseits der Klosterpforte gilt für Einzelne das Prinzip der Begleitung durch einen zuverlässigen Mitbruder (56.), sei es, dass ein Mönch einen erkrankten Angehörigen oder Verwandten besuchen darf (54.) oder sei es, dass er durch Gebot des Vaters des Klosters an der Beerdigung eines Angehörigen oder Blutsverwandten teilnehmen darf (55.). Treffen sie bei ihrer Rückkehr auf jemanden, der einen Verwandten im Kloster sucht, so dürfen sie ihm in keinem Fall Auskunft geben. Umgekehrt darf auch im Kloster nicht berichtet werden, was sie außerhalb getan oder gehört haben (57.).²⁵ Der durch die Klosterpforte und ihren Akteur, den Pförtner, generierte Zwischenraum ist vonseiten des klösterlichen Binnenraums konfiguriert sowie mit aufeinander folgenden Instanzen bis zum Vater des Klosters besetzt, aber er behält die Potenz des Übergangs. Die innerklösterlichen, mit Regeln versehenen Raumgrenzen kreieren Räume, jedoch nicht Zwischenräume diesen Typs.²⁶ In textkritisch nicht eindeutig klärbarer Weise endet der erste Teil der „Praecepta“ in seinem vorletzten Kapitel (143.) mit Bestimmungen über die Zu-
Bacht, Das Vermächtnis, 92– 93. Bacht, Das Vermächtnis, 93 – 97; Zitat 94. Bacht, Das Vermächtnis, 96 – 97; vgl. 103 – 104: Abschnitte 84.–86. Zu den Regeln Distanzen zwischen den Körpern aufrecht zu erhalten vgl. Albrecht Diem. Das monastische Experiment. Die Rolle der Keuschheit bei der Entstehung des westlichen Klosterwesens. Münster: Lit Verlag, 2005, 47– 50.
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gänglichkeit des Nonnenklosters [sic]. Besuche sind nur demjenigen erlaubt, der dort seine Mutter, Schwester, Tochter oder Verwandte oder Geschwisterkinder oder die Mutter seiner Kinder hat. Eine Notwendigkeit muss gegeben sein und ein nach Alter und Lebenswandel bewährter Mann muss ihn begleiten. Den Übergang gestalten Männer: Nachdem der Vater des Klosters benachrichtigt worden ist, schickt er zu den „seniores“, die „für den Dienst bei den Nonnen bestellt sind“, und diese treffen die Besucher und gehen mit ihnen zu den jeweiligen Nonnen. Über weltliche Dinge darf mit letzteren nicht geredet werden.²⁷ Ein zur Außenwelt Übergänge vermittelnder Zwischenraum ist für sie in diesem Szenario ihres klösterlichen Lebens als „virgines“ nicht gegeben. Als älteste erhaltene Regel für Nonnen gilt die „Regula sanctarum uirginum“ des Caesarius von Arles (469/470 – 542),²⁸ die dieser für das 512 in Arles geweihte Frauenkloster Saint-Jean verfasst hat,²⁹ das von seiner Schwester Caesaria der Älteren sowie anschließend von seiner Nichte Caesaria der Jüngeren geleitet wurde.³⁰ Die Regel, die Caesarius in Bearbeitungsschritten in den Jahren 512 bis 534 erstellt hat, sieht im Rahmen ihrer ersten 35 Kapitel, der sogenannten Urregel, eine nach einer einjährigen Probezeit erfolgende lebenslange Einschließung der Nonnen vor, die, derart vor der Welt geschützt, ihr auf der Basis einer Gemeinschaft in christlicher „perfectio“ mit ihrem Gebet dienen.³¹ In den ergänzenden Kapiteln 36 – 47 werden nach Maßgabe des neu in der Regel auftauchenden Arguments der „fama“ Bestimmungen eingeführt oder verschärft, die den klösterlichen Raum als einen geheimen abschließen und auch die Kommunikation der Äbtissin mit der Außenwelt stark einschränken. Kontakte dürfen nur im „salutatorium“ des Klosters stattfinden, in dem die Äbtissin in Anwesenheit zweier
Bacht, Das Vermächtnis, 113 – 114. Caesarius of Arles: Life, Testament, Letters. Translated with notes and introduction by William E. Klingshirn. Liverpool: Liverpool University Press, 1994. Vgl. William E. Klingshirn. Caesarius of Arles. The Making of a Christian Community in Late Antique Gaul. Cambridge: Cambridge University Press, 1994. Zu Person und Werk vgl. Diem, Das monastische Experiment, 154– 162. Diem, Das monastische Experiment, 162– 167, 168 – 202 zu sämtlichen Schriften des Caesarius zum klösterlichen Leben. Vgl. Thomas Schilp. Norm und Wirklichkeit religiöser Frauengemeinschaften im Frühmittelalter. Die Institutio sanctimonialium Aquisgranensis des Jahres 816 und die Problematik der Verfassung von Frauenkommunitäten. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1998, 136 – 144. Caesaria II, Abbess of Saint Jean of Arles (ca. 550). In Sainted Women of the Dark Ages, ed. and transl. by Jo Ann McNamara and John E. Halborg, with E. Gordon Whatley. Durham, London: Duke University Press, 1992, 112– 114. Diem, Das monastische Experiment, 173 – 185. In seiner wenig rezipierten Mönchsregel fordert Caesarius für Mönche nur, dass sie lebenslang in der klösterlichen Gemeinschaft bleiben, d. h. Beständigkeit („perseverantia“) üben; vgl. ebd., 193 – 200.
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oder dreier Schwestern Gäste begrüßen kann und das auch der Raum dorthin verbannter Nonnen ist, die sich anhaltend ungehorsam verhalten haben.³² Im dritten Teil der Nonnenregel, der „Recapitulatio“ und dem Schlusskapitel, werden neben anderen die Bestimmungen zur einschließenden und zur ausschließenden Klausur erneut thematisiert. Im letzten Kapitel stellt Caesarius fest, dass er, ausgenommen den Zugang zur Marienbasilika, sämtliche Zugänge zum Kloster um dessen „fama“ willen habe zumauern lassen. Die Basilika, Außenraum im Sinn des Klosters und Grablege der Nonnen, durfte von ihnen zu Lebzeiten nicht betreten werden. Eine Verletzung der Klausur in der einen wie in der anderen Richtung wäre nur über die beigesetzten Körper der Nonnen und dann auch des Caesarius von Arles hinweg möglich gewesen.³³ Hier wie in anderen, ähnlichen Fällen³⁴ gewinnt der Außenraum Kirche zusätzlich den Charakter eines Zwischenraums vor dem Innenraum Kloster. Kommunikationen sind in ihm nun nur noch mit den Toten möglich, etwa in Gestalt einer Bitte am Grab um Gebetserhörung. Im Bereich der lateinischen christlichen Kirche ist für Jahrhunderte die Regula Benedicti die grundlegende Norm zönobitischen Lebens gewesen.³⁵ Sie bezieht sich auf eine einzelne Klosterfamilie von Mönchen.³⁶ Diese ist von der Spitze ausgehend konzipiert, indem der Abt an den Anfang der Regel gestellt und in allen Dimensionen als ein Vater entfaltet wird. Er lehrt, bestimmt und befiehlt nur, was dem Gebot Christi entspricht. „Sein Befehl und seine Lehre sollen wie Sauerteig göttlicher Heilsgerechtigkeit die Herzen seiner Jünger durchdringen.“³⁷ Die Beziehungen zur Außenwelt werden im Alltag wesentlich von zwei Amtsträgern geregelt: dem „cellararius“ [sic] und dem „ostiarius“ an der Klosterpforte. Der Cellerar ist für die Liegenschaften, die Beschaffung von allem Benötigten, die Vorratshaltung und die Nahrungsmittelverteilung zuständig und führt Aufsicht
Diem, Das monastische Experiment, 185 – 190. Diem, Das monastische Experiment, 190 – 193. Vgl. Diem, Das monastische Experiment, 191– 193. Vgl. Jenal, Sub Regula S. Benedicti, 19, zur Textgeschichte: 25 – 28. Zum mittelalterlichen monastischen Leben unter der Regula Benedicti vgl. Christoph Dartmann. Die Benediktiner. Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, 2017. Jenal, Sub Regula S. Benedicti, 29: Die Regula Benedicti enthält keinerlei Hinweis auf Frauengemeinschaften. RB 2; Zitat; Regula Benedicti. Die Benediktusregel. Lateinisch / Deutsch. Herausgegeben im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz. 4. verb. Aufl. Beuron: Beuroner Kunstverlag, 2006, 82/83. Zu den Aufgaben des Abts und dem absoluten Gehorsam seinen Entscheidungen gegenüber vgl. Jenal, Sub Regula S. Benedicti, 29 – 30; zur Strafhoheit des Abts bei allen Stufen von Bestrafung ebd., 40; zur Verpflichtung aller auf die Regel ebd., 43 – 44.
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über das Kloster; er folgt in seiner Amtsführung den Weisungen des Abts.³⁸ Der Pförtner ist Hüter des Übergangs zwischen Kloster und es umgebender Welt; seine Zelle neben der Pforte³⁹ mag aufgrund ihrer Lage als ein Zwischenraum erscheinen, aber dazu passende Funktionen, wie etwa ein Raum temporär begrenzter Aufenthalte Anderer zu sein, werden der Zelle des Pförtners nicht zugeschrieben. Bei – gebotenen – Reisen von Brüdern wird nicht ein Zwischenraum bei der Abreise und bei der Rückkehr thematisiert, sondern Rituale im Oratorium und das Schweigen der Rückkehrer über das, was sie gesehen und gehört haben,⁴⁰ werden für das Gelingen der Übergänge gefordert. Beim Umgang mit Gästen ist die Zahl der Rituale, die bereits vor der Aufnahme als Gäste einsetzen, höher und trägt in ihrer Art dem Glaubenssatz Rechnung, dass in Gästen Christus aufgenommen wird. Gäste, mit denen Kontakt nur haben darf, wer dazu beauftragt ist, haben ihre Betten in einem eigenen Raum („cella hospitum“). Vor allem jedoch wird eine eigene Küche für den Abt und die Gäste, die unvorhergesehen eintreffen können, betrieben, um die Brüder nicht in Unruhe zu versetzen.⁴¹ Diese Regelungen eröffnen partikulare Räume innerhalb des Klosters, die als solche auf Dauer gestellt sind. Sie werden überdies für diejenigen genützt, die neu als Bruder in das Kloster aufgenommen werden möchten. Sie müssen ein längeres, raumzeitlich determiniertes Verfahren durchlaufen. Es beginnt vor der Klosterpforte, vor der der Klopfende vier oder fünf Tage ausharren muss und setzt sich, falls er danach eingelassen worden ist, in der „cella hospitum“, in der er für einige Tage bleibt, fort. Anschließend lebt er in der „cella noviciorum“, in der die Novizen, betreut von einem geeigneten, erfahrenen Bruder, leben; sowohl ihre geistliche Ausbildung als auch Essen und Schlafen finden im Raum der Novizen statt. Drei Mal, nach zwei, nach sechs und nach vier Monaten wird dem Petenten die Regula Benedicti vorgelesen, und er hat jeweils die Wahl zu bleiben oder frei zu gehen. Die Aufnahme in die Gemeinschaft („in congregatione“) bedingt „nach dem Gesetz der Regel“, dass der Bruder von nun an das Kloster nicht verlassen und die Regel nicht aufgeben darf.⁴² Sollte er dennoch eines Tages das Kloster
RB 31, passim; vgl. Jenal, Sub Regula S. Benedicti, 34– 35. RB 66; vgl. Jenal, Sub Regula S. Benedicti, 35. RB 67; vgl. Jenal, Sub Regula S. Benedicti, 40. Zur Reisekleidung reisender Brüder vgl. RB 55,13 – 14 (vgl. unten S. 223 mit Anm. 44). RB 53; Zitat: Regula Benedicti, 234/235,21. Vgl. Jenal, Sub Regula S. Benedicti, 37. RB 56: Sind jedoch weniger Gäste da, kann der Abt Brüder an seinen Tisch rufen; um der Disziplin willen soll er jedoch immer einen oder zwei Ältere bei den Brüdern lassen. RB 58; Zitate: Regula Benedicti, 244/245,5 und 246/247,14– 15. Vgl. Jenal, Sub Regula S. Benedicti, 38 – 39. RB 61; Der Gaststatus gilt zunächst auch für fremde Mönche, die ins Kloster aufgenommen werden möchten.
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verlassen wollen, so ist kein Zwischenraum eines Übergangs vorgesehen, sondern die Sachen des Klosters werden ihm ausgezogen und er wird hinausgeworfen.⁴³ Die Kleiderkammer, in der die eigenen Kleidungsstücke der Brüder, die sie bei ihrer Ankunft im Kloster getragen haben, für den Fall eines Austritts aufbewahrt werden, mag daher als ein Ort des Zwischenräumlichen angesehen werden, aber sie wird nicht als Raum anwesender Körper, sondern als Raum verschiedener Kleidungstypen thematisiert: Hier lagern von den Mönchen abgelegte Kleidungsstücke für die Armen und etwas bessere mönchische Gewänder, die für Reisen entliehen werden können.⁴⁴ Sollten Brüder Verfehlungen begehen, so greifen vielstufige, langwierige Verfahren, die nach zweimaliger geheimer Ermahnung raumzeitliche Maßnahmen innerhalb des Klosters vorsehen. Sollte danach ein Bruder das Kloster verlassen müssen, so geschieht dies ebenfalls übergangslos.⁴⁵
2 Konventleben nach der Augustinusregel und dominikanisch inspirierten Konstitutionen Für seine Brüdergemeinschaft wie für die Frauengemeinschaft von Prouille hat Dominikus (um 1170 – 1221) die Regula Augustini, der er als Kanoniker des Reformkapitels von Osma selbst verpflichtet war, vorgesehen und zwar in der Form der Regula recepta.⁴⁶ Die Augustinusregel eignete sich überdies für die Predi-
RB 58,27– 28; die gegenwärtige Übersetzung von „proiciatur“ lautet: „man […] entlassse ihn“; vgl. Regula Benedicti, 250/251,28. RB 29: Eine Wiederaufnahme ist bis zu drei Mal möglich; dabei wird nicht ein Zwischenraum genützt, sondern der Bruder wird auf der letzten Rangstufe eingeordnet. Vgl. Jenal, Sub Regula S. Benedicti, 39 – 40. RB 55,9 – 14 (vgl. Anm. 40). RB 23 – 30. Vgl. Anm. 43. Isnard W. Frank. Die Dominikanerinnen als Zweiter Orden der Dominikaner. In Fromme Frauen – unbequeme Frauen? Weibliches Religiosentum im Mittelalter, hg. von Edeltraud Klueting. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verlag, 2006, 106 – 125, hier 107– 108, zur Regula recepta ebd., Anm. 8: In der von den Predigerbrüdern rezipierten Form der Regula Augustini folgt auf den ersten Vers des Ordo monasterii, der älteren Regel des Augustinus, das gesamte Praeceptum. Vgl. Paul D. Hellmeier. Die Stellung des Studiums im frühen Predigerorden vor dem Hintergrund seiner Gründung aus der Chorherrentradition. In Die deutschen Dominikaner und Dominikanerinnen im Mittelalter, hg. von Sabine von Heusinger, Elias H. Füllenbach OP, Walter Senner OP und Klaus-Bernward Springer. Berlin, Boston: De Gruyter, 2016, 123 – 141, hier 124. Deutsche Übersetzung der Regel: Augustinus. Die Regeln des heiligen Augustinus, übertragen von P. Dr. Winfried Hümpfner O.E.S.A. […]. In: Hans Urs von Balthasar. Die großen Ordensregeln. Einsiedeln: Johannes Verlag, 51984, 135 – 171, Praeceptum: 161– 171.
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gerbrüder, da sie das Leben der Apostel zum Vorbild des Gemeinschaftslebens nahm.⁴⁷ Das gemeinschaftliche Leben in der Nachfolge der Apostel impliziert, nach Bedürftigkeit, mithin nicht nach eigenem Gutdünken, Nahrung und Kleidung zugeteilt zu bekommen (Apg 4, 32, 35; Kap. 1, 4, 5, 8). Raumregime werden in der Augustinusregel kaum berührt. Gemeinschaftlich und in Eintracht im Kloster zu wohnen sind die obersten Ziele (Kap. 1); das Oratorium als Ort des gemeinsamen und des individuellen Betens ist nicht durch anderes Tun mit Störungen zu füllen (Kap. 3). Der Außenraum wird zum Thema, wenn es um Gänge außerhalb des Klosters geht (Kap. 6). Diese sollen gemeinsam und mit einem dem Stand der Brüder gemäßen Auftreten ausgeführt werden. Für den derart als öffentlich konfigurierten Raum kommen, wie auch für die Kirche, die am Ende des Kapitels erwähnt wird, sogleich zwischengeschlechtliche Blicke ins Spiel. Sie werden nicht verboten. Sündhaft ist jedoch, ein sexuelles Begehren in den Blick zu legen oder es gern auf sich gewendet zu sehen. Zum Schutz dürfen sich daher die Brüder gegenseitig überwachen, zumal dies Gottes Willen entspreche. Das sechste Kapitel schließt: „Wenn ihr also in der Kirche beisammen seid und überall, wo Frauen sind, wachet gegenseitig über eure Reinheit; denn Gott, der in euch wohnt, will euch auch auf solche Weise durch euch selbst behüten.“⁴⁸ Der Notwendigkeit „eine[r] solche[n] Zuchtlosigkeit der Augen“ mit gestuften Verfahren zu begegnen, ist das folgende Kapitel gewidmet (Kap. 7). In dessen vorletztem Satz wird verallgemeinernd festgestellt, dass analog „bei der Aufdeckung, Verweisung, Anzeige, Überführung und Bestrafung anderer Sünden“ zu verfahren sei,⁴⁹ d. h. dass die Frage des unerlaubten, geschlechterkonnotierten Begehrens einen oberen Rang in der Hierarchie der potenziellen Verstöße gegen die Ordensnorm einnimmt. Andere nötige Gänge, etwa „zu den Bädern“, können die Brüder nur mindestens zu zweit oder zu dritt antreten; das Recht der Auswahl von Begleitern liegt bei dem Oberen.⁵⁰ Die Augustinusregel wurde zuerst 1216 durch consuetudines ergänzt, die sich zu Teilen erschließen lassen. Auf dem ersten Generalkapitel der Dominikaner 1220 in Bologna wurden constitutiones in Auftrag gegeben, die im Folgejahr vorlagen. Da constitutiones in einem festgelegten Verfahren geändert werden konnten, muss jeweils erkennbar sein, welche Redaktion und welcher Textzustand analysiert
Walter Senner OP. Konsens, Konflikt, päpstlicher Eingriff. Die ‚Säuberungsaktion‘ in der Teutonia 1330 – 1334. In Die deutschen Dominikaner und Dominikanerinnen im Mittelalter, hg. von Sabine von Heusinger, Elias H. Füllenbach OP, Walter Senner OP und Klaus-Bernward Springer. Berlin, Boston: De Gruyter, 2016, 383 – 419, hier 383 – 384. Augustinus. Die Regeln, 165. Augustinus. Die Regeln, 166). Augustinus. Die Regeln, Kap. 9, 168.
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werden. Auf Basis einer Redaktion, die 1241 vom Generalkapitel angenommen worden ist, lässt sich zusammenfassen, dass die constitutiones eine Verfassung des Ordens darstellten, in der das jährlich tagende Generalkapitel als höchste Autorität, die Ordensämter auf allen Ebenen, die Gliederung des Ordens nach Provinzen, die Dispens als „Befreiung von der Teilnahme an einzelnen Akten der Observanz“ durch Obere im Fall von „Unvereinbarkeiten zwischen Seelsorge, Studium und klösterlichem Leben mit gemeinsamen Gebeten und Mahlzeiten“ sowie die Aufnahme in den Orden geregelt wurden.⁵¹ Die Konstitutionen für Dominikanerinnen⁵² sind nicht im Wortlaut überliefert. Sie dürften jedoch in die Konstitutionen des Klosters San Sisto im Süden des antik-historischen Rom eingegangen sein. Mit dessen Reform hatte Papst Honorius III. 1219 Dominikus († 1221) beauftragt.⁵³ Diese Constitutiones Sancti Sixti de Urbe, die auch Gewohnheiten des nahe gelegenen stadtrömischen Frauenklosters S. Maria in Tempulo enthielten, sind ihrerseits nicht im Wortlaut überliefert, sondern in der Überarbeitung für die in Deutschland 1227 mit einer Bulle Papst Gregors IX. approbierte Ordensgemeinschaft der Magdalenerinnen. Diese waren dabei der Regula Benedicti verbunden mit den Konstitutionen der Zisterzienser unterstellt worden.⁵⁴ Mit einer 1232 ausgestellten Erneuerung der Bulle hatten die Magdalenerinnen von Gregor IX. die Regula Augustini mit den überarbeiteten Konstitutionen von San Sisto erhalten.⁵⁵ Aber auch zahlreichen anderen Frauenkommunitäten im deutschen Sprachraum, die nicht notwendig von Dominikanern betreut wurden, verliehen Päpste in diesen Jahren und Jahrzehnten die Regula Augustini und die Constitutiones Sancti Sixti de Urbe als Normen des Gemeinschaftslebens.⁵⁶ Wenn im Folgenden letztere in der den Magdalenerinnen verliehenen Form gelesen werden, ohne einen Rekurs auf die Fassung für die frühen dominikanisch betreut lebenden Schwestern zu versuchen, so trägt dies
Vgl. Senner, Konsens, Konflikt, päpstlicher Eingriff, 384– 389, Zitate: 388. Frank, Die Dominikanerinnen, 107– 108. Zur weiteren Entwicklung vgl. auch Sigrid Hirbodian. Die Dominikanerinnen – ein Überblick. In Die deutschen Dominikaner und Dominikanerinnen im Mittelalter, hg. von Sabine von Heusinger, Elias H. Füllenbach OP, Walter Senner OP und KlausBernward Springer. Berlin, Boston: De Gruyter, 2016, 21– 36, hier 24. André Simon. L’Ordre des Pénitentes de Ste Marie-Madeleine an Allemagne au XIIIme siècle. Thèse […]. Fribourg, Suisse: Imprimerie et librairie de l’Œuvre de Saint Paul, 1918, 31– 32; Frank, Die Dominikanerinnen, 112, Anm. 18. Simon, L’Ordre des Pénitentes, 23 – 28. Simon, L’Ordre des Pénitentes, 29, 32– 37. Frank, Die Dominikanerinnen, 113 – 114.
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der komplexen, im Einzelnen auch kontrovers diskutierten Überlieferungslage Rechnung, die hier nicht entfaltet werden kann.⁵⁷ Die Konstitutionen boten diejenigen Normen, die das Konventsleben zunächst der Schwestern von San Sisto und hier der Magdalenerinnen in allen Aspekten näher bestimmten, als es die Regula Augustini tat.⁵⁸ Im Blick auf ihre räumliche Reichweite war jede Schwester an ihr Professkloster gebunden, es sei denn sie würde aus nötigem Grund an einen anderen Konvent desselben Ordens versetzt (I.1.).⁵⁹ Alle Räume, außer „in locutorio“ mit besonderer Erlaubnis und im Kapitel „in hora capituli“, sind vom Schweigen der Schwestern geprägt. „In operatorio“ kann für die Arbeit Nötiges leise besprochen werden, am Fenster mit Erlaubnis der Priorin, und diese kann bei Notwendigkeit oder Nützlichkeit in anderen Räumen das Sprechen erlauben (VII.).⁶⁰ Als eine schwere Schuld gilt, mit einer auswärtigen Person ohne Erlaubnis oder gegen die Statuten des Ordens verstoßend oder allein mit jemand anderem als dem Beichtvater gesprochen zu haben (XIII.4., 12.).⁶¹ Im Abschnitt über die Frequenz des Tonsurschneidens wird an einem Beispiel erkennbar, wie neben den „moniales“, den Schwestern, Brüder und Konversen in die Konstitutionen einbezogen sind.⁶² Einen Zwischenraum im Konvent bilden die Fenster im Sprechzimmer (XVI.). Um den ordnungsgemäßen
Simon, L’Ordre des Pénitentes, 35: Gregors IX. Bulle ist vollständig in einer Kopie Papst Nikolaus’ IV. von 1291 erhalten (das Original in Nikolaus’ IV. Register stand Simon nicht zur Verfügung; ebd., 142, Anm. 2); dies entfernt die Überlieferung noch weiter von dem Entstehungszeitraum der Konstitutionen. Die Entwicklung dominikanischer Konstitutionen insgesamt wird seit zumindest Jahrzehnten diskutiert; zu aktuellen Forschungsständen vgl. Senner, Konsens, Konflikt, päpstlicher Eingriff, 384– 385 mit Anm. 7– 9, 11. Zu Rezeptionen der Konstitutionen vor und nach Erlass der neu redigierten Konstitutionen von 1241 vgl. Frank, Die Dominikanerinnen, 114. Edition (auf unterschiedlichen Überlieferungsträgern beruhend): Simon, L’Ordre des Pénitentes, 142– 153 (mit der Bezeichnung „Institutions des Sœurs de Saint-Sixte de Rome“). Zum Inhalt der Konstitutionen von San Sisto vgl. ebd., 38 – 46. Simon, L’Ordre des Pénitentes, 144: „[…] promittat obedienciam, loci stabilitatem et ordinis, vivere sine proprio ac eciam continenter; domum illam, in qua professionem fecerit, nullatenus egressura, nisi ad conventum alium eiusdem ordinis ex causa necessaria transferatur.“ Simon, L’Ordre des Pénitentes, 145. Simon, L’Ordre des Pénitentes, 147– 148. Simon, L’Ordre des Pénitentes, 146; vgl. ebd., 38: „L’Ordre de Saint-Sixte […] est un Ordre double: il comprend un élément féminin et un élément masculin. La partie principale de l’institution est incontestablement représentée par le monastère des Sœurs.“ Zu den Aufgaben der Männer vgl. ebd., 44– 45. Das letzte Kapitel der Regel (XXV.; ebd., 153) legt fest, dass die Brüder der Regula Augustini folgen. Wenn möglich, sollen mindestens sechs Brüder in einem Konvent sein, von denen mindestens drei Priester sein sollen.
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Umgang mit ihnen zu gewährleisten, sind drei „de maturioribus et religiosioribus sororibus“, reifere und religiös besonders gefestigte Schwestern, eingesetzt, von denen mindestens zwei bei einem Gespräch dabei sind. Sprechen darf, wer eine Erlaubnis vom Prior oder der Priorin hat, aber die andere beobachtet als Zeugin aufmerksam Worte und Nicken der Sprechenden. Sowie sie „quid minus honestum et discretum audierit aut religioni contrarium“, etwas weniger Anständiges und Taktvolles oder gegen den Glauben⁶³ Verstoßendes hört, soll sie den Sprechenden sofort Schweigen auferlegen und so schnell wie möglich die Priorin oder den Prior informieren. Die Strafe soll der Größe des Verstoßes entsprechen. Den praktischen Bedürfnissen des Konvents wird Rechnung getragen, indem die Priorin und die drei „cellerarie“ mit dem Prior und den „cellerariis exterioribus“ am Fenster sprechen können; die Zeuginnen müssen dabei ebenfalls anwesend sein.⁶⁴ Die Klausur der Schwestern („clausura monialium“) ist als höchst geschützter Innenraum eines Konvents anzusehen. Er ist jedoch nicht gänzlich verschlossen. Die Zugänglichkeit stellt sich vornehmlich als ein Problem männlicher Präsenz in einer Klausur von Frauen dar. So setzt das Kapitel (XVII.) mit der Feststellung ein, dass kein Bruder die Klausur betreten dürfe, es sei denn mit einem Kardinal, einem Bischof oder einem päpstlichen Legaten oder in Fällen, in denen es die vorliegende Regel erlaube. Innerhalb der Klausur dürfe er mit keiner [Schwester] sprechen, außer er habe die Erlaubnis eines höheren „prepositus“ oder des Provinzials. Letzterer darf einmal im Jahr, zur Zeit der Visitation, die Klausur betreten, sowie bei einer vom Ordensmeister („prepositus generalis“) festgestellten Notwendigkeit. Kann eine schwer erkrankte Schwester nicht am Fenster⁶⁵ beichten oder die Kommunion oder die Salbung empfangen, so dürfen der Priester und reife Messdiener in ihren heiligen Gewändern eintreten, um die Handlung zu vollziehen; nichts anderes darf jedoch geredet werden. Wer aufgrund einer Notwendigkeit die Klausur betritt, muss mindestens zwei gut beleumundete Menschen bei sich haben – im Maskulinum formuliert –, denen drei religiös gefestigte Schwestern folgen und sie beobachten, bis sie die Klausur wieder verlassen. Mit dem „fenestrarius“ dürfen die Schwestern mit Erlaubnis der Priorin am Fenster über die praktischen Bedürfnisse des Konvents sprechen; die „fenestrarie“ müssen üblicherweise diese Erlaubnis nicht einholen. Ein Gespräch mit Auswärtigen bedarf letzterer jedoch. Schuld und Strafe derer, die bei Raub
Hier dürfte nicht die Bedeutung ‚Orden‘ für „religio“ gemeint sein, da dafür der Begriff „Ordo“ eingesetzt wird. Simon, L’Ordre des Pénitentes, 150. Zu den Aufgaben des Priors und der „cellerarii exteriores“ finden sich Angaben in XVIII.; ebd., 151. Vgl. auch XXIII. zu „procuratores“ für äußere Angelegenheiten und ordensinternen „procuratrices“; ebd., 153. Hier und im Weiteren handelt es sich um das Fenster der Klausur.
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oder Brand die Klausur betreten und [mit Schwestern] sprechen, pflegen erlassen zu werden. Die Pflegerinnen des Gartens dürfen bei Notwendigkeit wenige Worte mit dem, der den Garten betreut, wechseln, wenn der Gärtner so beschaffen ist, dass von ihm höchst unwahrscheinlich nicht einmal ein leichter böser Verdacht ausgehen kann. Diejenige, die jenseits der genannten Fälle mit irgendjemandem spricht, verbleibt in der Buße schwerer Schuld, bis der „prepositus“ die Absolution erteilt.⁶⁶ Schwestern können zu einem anderen Konvent ihres Ordens reisen. Sie benötigen dazu Briefe des Ordensmeisters („prepositus generalis“) – oder dessen, den er stellvertretend damit beauftragt hat – oder des Provinzials (XIX.).⁶⁷ Als Raum eines Dazwischen lassen sich mithin die Fenster charakterisieren. Mit engen Gittern bewehrt, halten sie beidseitig die Köpfe und Oberkörper der Sprechenden auf Distanz. Sie ermöglichen den Austausch von Worten und lassen eingeschränkt die Anwendung des Sehsinns zu. Als Übergangszonen sind sie hochgradig reguliert, indem Genehmigungen und die Anwesenheit zusätzlicher Personen – Schwestern – erforderlich sind. Dass die Klausur unter, auch raumzeitlich konnotierten, besonderen Bedingungen zugänglich ist und dass Schwestern zu ordenseigenen Klöstern reisen können, generiert nicht temporäre Zwischenräume, da die Markierungen der Räume – verschlossener Binnenraum, Außenwelt – erhalten bleiben.
Conclusio: Klösterliche Heterotopie und Zwischenraum Auch am Ende einer exemplarischen Suche nach Zwischenräumen in Ordensnormen stellt sich Michel Foucaults eingangs erwähntes Konzept der „hétérotopies, les espaces absolument autres‟ als adäquat dar, um Klöster und Konvente raumtheoretisch zu fassen. Die Frage nach Zwischenräumen mag in derlei binären Strukturen zunächst keinen Bezug zu Orten oder Räumen erlangen können. Ein Dazwischen normativ zu konfigurieren war jedoch von Beginn zönobitischen Lebens an unhintergehbar, denn kein Mensch wird – zumindest im Sinn der Normen – in einen Raum abgeschlossener geistlicher Lebensformen hineingeboren.
Simon, L’Ordre des Pénitentes, 150 – 151. Zu schwerer Schuld vgl. XIII., ebd., 147– 148; über ihr liegen schwerere Schuld (XIV.), ebd., 148 – 150 und schwerste Schuld, die „incorrigibilitas“ (XV.), ebd., 150. Simon, L’Ordre des Pénitentes, 152: Die Besucherinnen erhalten einen Platz im Refektorium und im Dormitorium wie die anderen Schwestern auch.
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Der heterotope Raum Kloster oder Konvent ist jedoch in vielen Fällen nicht nur von einer Umkehr („conversio“) zu einem regelgeleiteten, nichtklerikalen, geistlichen Leben gekennzeichnet, sondern auch durch die anhaltende Notwendigkeit, mit der umgebenden Welt zumindest geringfügig zu kommunizieren, um die eigene Subsistenz zu gewährleisten. Dies zeigt die Stiftungspraxis nicht nur mittelalterlicher Jahrhunderte. Da gegebenenfalls diesseits und jenseits von Kloster- und Konventsmauern Mitglieder derselben, regional zu verortenden Familien lebten und handelten, konnten Konflikte in den geschlossenen anderen Raum hineinwirken; das hat zum Beispiel die Konfliktforschung gelehrt.⁶⁸ Ob Zwischenräume und Übergangsräume im Sinn der Ordensnormen dabei immer gewahrt worden sind, lässt sich angesichts solcher Themen fragen. Die heterochronen Züge, die sich an bestimmten, etwa liturgischen, Merkmalen, wie dem durch die Stundengebete geprägten Tagesablauf in Kloster oder Konvent beobachten lassen, verstärken die Andersartigkeit des heterotopen Raums, und es wäre zu überlegen, ob nicht Ordensreformprozesse als Bewegungen, Versuche der Verschiebung zurück zum für ursprünglich gehaltenen Heterotopen interpretiert werden könnten. Eine spekulative Überlegung sei an den Schluss gestellt. In der Geschichte des zönobitischen Lebens zeigt sich – geschlechterübergreifend –, dass Ordensregeln immer wieder der Ergänzung durch consuetudines oder constitutiones bedurft haben, um die Praxis des Gemeinschaftslebens im jeweiligen Orden zu regeln. Die Konfigurierung von Zwischenräumlichkeit erscheint dabei als ein wesentlicher Faktor, und es fragt sich, ob nicht diese ein Merkmal der Unterscheidung zwischen Ordensregeln aus eremitischer Tradition oder aus einer Tradition der Apostelnachfolge bildet.⁶⁹ In letzterer, in der Predigen für auch die Welt außerhalb der Mauern des eigenen Konvents eine wichtige Rolle spielt, wäre dann die Modellierung von Räumen des Übergangs und des Dazwischen von größerer Bedeutung als in ersterer. Jedenfalls scheint Heterotopie ohne Zwischenräume nicht lebbar (gewesen) zu sein.
Steffen Patzold. Konflikte im Kloster. Studien zu Auseinandersetzungen in monastischen Gemeinschaften des ottonisch-salischen Reichs. Husum: Matthiesen Verlag, 2000. Individuelle Devianz untersucht Thomas Füser. Mönche im Konflikt. Zum Spannungsfeld von Norm, Devianz und Sanktion bei den Cisterziensern und Cluniazensern (12. bis frühes 14. Jahrhundert). Münster: Lit Verlag, 2000, 11– 13. Diese Überlegung ruht auf der oben S. 223 – 224 mit Anm. 47 erwähnten Feststellung Walter Senners OP auf, dass sich die Augustinusregel u. a. deswegen für die Predigerbrüder geeignet habe, „weil sie nicht das Einsiedlerleben zum Vorbild nahm, sondern das der Apostel“; vgl. Senner, Konsens, Konflikt, päpstlicher Eingriff, 383 – 384.
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4. Zwischenraum und Ordnung
Florian Dirks
Das früh- und hochmittelalterliche Westfrankenreich (9. –11. Jahrhundert) – ein Land der Zwischenräume? Early and High Medieval West Francia (9th-11th century) – A Land of “InBetween” Spaces? The era of Charlemagne, as we know it from the annals of history, was filled with the military campaigns of the Frankish king and emperor. In these reports, time and space are categories of interest that mostly center on the ruler. However, the Carolingian sources can also be read with a spatial perspective in mind. How did Carolingian authors express their spatial theory in their texts? How do historiographical narratives and legal documents, such as private charters, contrast?
1 Einführung Im spätkarolingischen Westfrankenreich, das sich nach dem Vertrag von Verdun 843 im Lauf des Hochmittelalters zum historischen Frankreich entwickeln sollte, kam es ab dem Ende des 9. Jahrhunderts zu umfassenden Veränderungen der politischen Landschaft.¹ Aus zahlreichen Grafschaften, die bis dahin mehr oder weniger fest dem König unterstanden hatten, entwickelten sich zunehmend eigenständige politische Räume unter mehr und mehr autonomen Akteuren, die um
Zu Verdun siehe Peter Classen. Die Verträge von Verdun und Coulaines 843 als politische Grundlagen des westfränkischen Reichs. Historische Zeitschrift 196 (1963): 1– 35; Johannes Fried. Die Formierung Europas 840 – 1046. München: Oldenbourg, 2008, 3. Aufl., 65; Janet L. Nelson. La partage de Verdun. In De la mer du Nord à la Méditerrannée. Francia Media. Une région au coeur de l’Europe (c. 840–c. 1050), Michèle Gaillard, Michel Margue, Alain Dierkens, Hérold Pettiau (eds.). Luxembourg: CLUDEM, 2011, 241– 254; Philippe Depreux. Le partage de l’Empire à Verdun (843) et les conditions d’exercice du pouvoir au haut Moyen Âge. In L’écrit et le livre peint en Lorraine, de Saint-Mihiel à Verdun (IXe-XVe siècles). Actes du colloque de Saint-Mihiel (25 – 26 octobre 2010), Anne-Orange Poilpré (ed.). Turnhout: Brepols 2014, 17– 41; siehe auch Burkhard Apsner. Vertrag und Konsens im früheren Mittelalter: Studien zur Gesellschaftsprogrammatik und Staatlichkeit im westfränkischen Reich. Trier: Kliomedia 2006 und Adelheid Krah. Die Entstehung der „potestas regia“ im Westfrankenreich während der ersten Regierungsjahre Kaiser Karls II. (840 – 877). Berlin: Akademie-Verlag, 2000; vgl. dagegen die Thesen von Ursula Penndorf. Das Problem der „Reichseinheitsidee“ nach der Teilung von Verdun (843). Untersuchungen zu den späten Karolingern. München: Arbeo-Gesellschaft, 1974. https://doi.org/10.1515/9783110758306-010
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Anteilnahme an der Herrschaft konkurrierten und die bisher allein auf den König eingeschworenen Große unter ihrer regionalen Herrschaft selbst anführten.² Angesichts der in letzter Zeit manifestierten separatistischen Bestrebungen in Katalonien und anderen Regionen Europas ist dies ein Thema, das auch aktuelle Bezüge aufweisen kann.³ Darüber hinaus ist hier auch die Frage zu stellen, inwiefern sich der literaturwissenschaftliche Ansatz des ‚Chronotopos‘ nach Michail Bachtin auf frühmittelalterliche Texte und geschichtswissenschaftliche Fragestellungen anwenden lässt.⁴ Welche raumzeitlichen Merkmale in Bezug auf die Ausübung von Herrschaft und ihre Verortung in Raum und Zeit werden in den Quellen der Zeit des 9. bis 11. Jahrhunderts sichtbar? Indem man Vorstellungen raumzeitlicher Kategorien der früh- und hochmittelalterlichen Zeitgenossen im Hinblick auf Handlungen sowie Verortungen in historiographischen Texten untersucht, lassen sich Vorstellungen über herrschaftliche Räume gewinnen. Dabei spielt es durchaus eine Rolle, welche Vorstellungen über die eigene Zeit sowie die zeitliche und räumliche Herkunft der jeweiligen Herrschaftsträger gebräuchlich waren.⁵ In einem ersten Schritt soll untersucht werden, ob und wie sich diese Vorstellungen voneinander unterscheiden. In einem weiteren Schritt wird nach dem materiellen Ausdruck dieser Konkurrenz um Herrschaft gefragt, die sich zumeist in der Anlage von Klöstern, von urbanen Zentren oder auch von Residenzen sowie Befestigungsanlagen manifestieren konnte. Zunächst seien nun die Begriffe Raum und Zeit für den Zeitraum des 9. bis 11. Jahrhunderts, also die zeitgenössischen Raumvorstellungen, beleuchtet. In einem zweiten Schritt fragt der Beitrag nach raumzeitlichen Merkmalen der späten Karolingerzeit, hauptsächlich anhand westfränkischer Beispiele. Drittens fragt der Text nach materiellen Ausdrucksweisen von Herrschaft, nach der Aus-
Jan Dhondt. Études sur la naissance des principautés territoriales en France (IXe-Xe siècle). Brügge: Tempel, 1948; siehe nun Florian Mazel. Des familles de l’aristocratie locale en leurs territoires: France de l’ouest, du XIe au XIe siècle. In Les élites et leurs espaces. Mobilité, rayonnement, domination (du VIe au XIe siècle, Philippe Depreux, François Bougard, Régine Le Jan (Hg.). Turnhout: Brepols, 2007, 361– 398 und Florian Mazel. Féodalités 888 – 1180. Paris: Belin, 2010. Siehe die Zusammenstellung z. B. von http://www.spiegel.de/thema/unabhaengikeitsreferendum_kataloniens_2017/ (letzter Abruf: 31.03. 2019). Zur Einordnung vgl. Michael C. Frank. Chronotopoi. In Handbuch Literatur Raum, Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hg.). Berlin und Boston: De Gruyter, 2015, 160 – 169. Dies ist eine der Leitfragen in den Arbeiten von Hans-Werner Goetz. Siehe auch die ihm gewidmete Festschrift Hans-Werner Goetz. Vorstellungsgeschichte: Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter. Bochum: Winkler, 2007.
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gestaltung der Anlage von Klöstern, Residenzen sowie Befestigungen, also nach den Raumpraktiken, um sie auf einer Meta-Ebene zu diskutieren.
2 Raum und Zeit im 9. Jahrhundert Wie lassen sich die Begriffe Raum und Zeit für das 9. Jahrhundert füllen? Das 9. Jahrhundert ist aufgrund der Quellenlage günstiger für eine solche Analyse als die nachfolgende Zeit, die für das westfränkische Reich zunächst ohne chronikalische Überlieferung ist.⁶ Im Spiegel der offiziösen karolingischen Historiographie, die mit den Annales Vedastini bis zum Jahr 900 berichtet⁷, finden sich durchaus unterschiedliche Deutungen dieser zwei Begriffe, die für die Fragestellungen des vorliegenden Bandes im Zentrum stehen. Hatten sich noch spätantike Autoren wie Ausonius, der Erzieher des späteren römischen Kaisers Gratian, im 4. Jahrhundert in dichterischer Beschreibung ihre Umwelt vorgestellt⁸, finden sich in vielen Darstellungen des 9. Jahrhunderts Schwerpunkte auf den Bewegungen des Herrschers durch den Raum sowie die Zeitpunkte, an denen er im Raum, dem Reich also, unterwegs war. Für den großen Karlsbiographen Einhard spielte der Raum in seiner sogenannten Vita Karoli, der Lebensbeschreibung Karls des Großen, besonders im Lichte des militärischen Engagements seines Herrschers eine Rolle.⁹ Einhard beschreibt kleine Räume, in denen sich Karls Heer bewegte oder auf die Gegner wartete. Es sind vor allem Grenzen und die landschaftliche Beschaffenheit in dieser Erzählung von großem Wert, nicht zuletzt für die elitäre Nachwelt, die als Publikum aus ihrer eigenen Lebenswelt als Große des Reichs sowie am Hof des Herrschers selbst militärische Erfahrungen machte. Raum wird kontrolliert, er wird überwunden, und er wird verwaltet. Im siebten Kapitel zu den Sachsenkriegen Karls des Großen schilderte Einhard den Verlauf der Grenze zwischen dem bereits fränkisch besetzten und beherrschten Teil der ehemals römischen Provinz Germania und den von den Kriegern Karls bekämpften, erst noch vollständig zu christianisierenden Sachsen:
Siehe den Überblick von Jean Dunbabin. West Francia: The kingdom. In The new Cambridge Medieval history. Band 3, c. 900–c. 1024, Timothy Reuter (ed). Cambridge: Cambridge University Press, 1999, 372– 397. Annales Vedastini, Georg Heinrich Pertz (Hg.). Monumenta Germaniae Historica. Scriptores. Bd. 2. Hannover: Hahn, 1829, 196 – 209. D. Magnus Ausonius. Mosella. Kritische Ausgabe, Übersetzung, Kommentar von Joachim Gruber. Berlin: De Gruyter, 2013. Einhardi Vita Karoli Magni, Oswald Holder-Egger (Hg.). Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum. Bd. 25. Hannover und Leipzig: Hahn, 1911, 6. Aufl.
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„[…] die Grenze zwischen uns und den Sachsen verlief fast überall in der Ebene, mit Ausnahme weniger Stellen, wo größere Waldungen oder Bergrücken das beiderseitige Gebiet klar trennen[…]“.¹⁰ Hier sind also vornehmlich militärische Belange von Bedeutung. Es gibt eine Grenze zu den in jener Zeit als Gegner angesehenen Sachsen.¹¹ Um Teile des fränkischen Heeres Karls des Großen möglichst effektiv gegen sie bewegen zu können – die Spezialität der Franken unter den Karolingern waren schwere Panzerreiter, eine Erscheinungsform, die auch zur Zeit der normannischen Eroberung Britanniens durch Wilhelm im 11. Jahrhundert sehr beliebt war und bis zum 15. Jahrhundert als Ritter maßgeblich bleiben sollte – benötigte man, fast wie bereits zu Zeiten der Römer mit ihren schwer gepanzerten Fußtruppen, möglichst ebenes, aber doch offenes Gelände.¹² Außerdem war es gut zu wissen, wo Bergrücken oder größere Wälder mögliche Vorstöße in das gegnerische Gebiet behindern würden oder ein mutmaßliches Einsickern sächsischer Krieger besonders großen Erfolg haben würde, unentdeckt zu bleiben. Insofern profitierten die weltlichen Großen davon, (spät‐)antike Schriftsteller, die über militärische Taktiken schrieben, zu lesen und ihr Wissen einzusetzen.¹³ Gleichwohl ist dieser Bericht sowohl eine Rückschau Einhards, der bekanntlich nach dem Tod Karls des Großen schrieb, als auch eine Belehrung für die Zeitgenossen am Hof Ludwigs des Frommen.¹⁴ Die Zeit spielt, ganz in christlichen Traditionen des Kirchenjahres, insbesondere dann eine Rolle, wenn sich der reisende König mit Gefolge durch den Raum bewegt, Botschaften und Gesandte empfangen oder ausgesandt werden. Für die Annalen, die Jahrbücher, gibt das Jahr die Struktur vor, in der sich der Herrscher durch den Raum bewegt und an den hohen Kirchenfeiertagen – Ostern,
Einhard, Vita Karoli, Kap. 7: „[…] termini videlicet nostri et illorum poene ubique in plano contigui, praeter pauca loca, in quibus vel silvae maiores vel montium iuga interiecta utrorumque agros certo limite disterminant […]“. Bernard S. Bachrach, David S. Bachrach. Landscapes of Defense: At the Nexus of Archaeology and History in the Early Middle Ages. Francia 42 (2015): 231– 252 und Walter Goffart, „Defensio patriae“ as a Carolingian Military Obligation. Francia 43 (2016): 21– 40; siehe auch Hans-Werner Goetz. Social and military institutions. In The New Cambridge Medieval History, Rosamond McKitterick (ed). 1995 – 2000. Cambridge: Cambridge University Press, 451– 480. Timothy Reuter. Carolingian and Ottonian warfare. In Medieval warfare. A history, Maurice Hugh Keen (Hg.). Oxford: Oxford University Press, 1999, 13 – 35. Siehe dazu Thomas F. X. Noble. Secular Sanctity. Forging an Ethos for the Carolingian Nobility. In Lay Intellectuals in the Carolingian World, Patrick C.Wormald, Janet L. Nelson (Hg.). Cambridge: Cambridge University Press, 2007, 8 – 36 und die weiteren Beiträge des Sammelbandes zu weltlichen Literaten/Wissenden. Steffen Patzold. Ich und Karl der Große. Das Leben des Höflings Einhard. Stuttgart: Klett-Cotta, 2014.
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Pfingsten, Weihnachten – in mehr oder minder bedeutenden Pfalzen gastiert. Dabei überrascht in Teilen umso mehr die genaue Vorhersagbarkeit des Aufenthaltsortes einer Gesandtschaft oder eines Heeres, wie sie bei Nithard nachweisbar ist.¹⁵
3 Raumzeitliche Merkmale der späten Karolingerzeit Während also die Umwelt im frühen Mittelalter allgemein eher von kleinen Räumen her gedacht wurde, bestand das große Frankenreich unter Karl dem Großen und seinem Sohn Ludwig dem Frommen doch aus einem großen, als Reich gedachten Raum, der durch seine sich voneinander in Rechtswelt und Tradition unterscheidenden Regionen gegliedert war.¹⁶ Lange Zeit hielt sich bei den Historiographen das Bild der Teilreiche oder auch Reichsteile, den nach ethnischer Herkunft gegliederten Regna, also etwa Aquitanien, Burgund, etc. Verfassungsgeschichtlich stellt sich die Forschung mithin ein Frankenreich vor, das die Zeitgenossen besonders seit der Teilung von Verdun 843 in drei großen Teilen beherrschten, das am Ende der 880er Jahre für eine kurze Zeit wiedervereint und schließlich als das lotharingische Mittelreich in ein West- und ein Ostreich aufgeteilt wurde.¹⁷ In diesem immer noch einen Großteil Westeuropas umspannenden fränkisch geprägten Raum handelten die herrschenden Eliten, von denen handschriftlich überlieferte Texte erzählen. Kann man vom Chronotopos in den Quellen zum westfränkischen Reich sprechen? Chronotopische Zusammenhänge fließen in erster Linie aus erzählenden Texten, in unserem Fall aus Historiographie. Der Begriff des Chronotopos nach Bachtin wird hier also verstanden als Beziehung zwischen dem Wann und dem Wo einer erzählten Szene oder Handlung in den narrativen Texten, die zumeist in der Rückschau auf erfahrenem Wissen von Mönchen oder anderen Geistlichen basierend niedergeschrieben wurden. Parallel dazu tauchen in diesen
Bernard S. Bachrach, David S. Bachrach. Nithard as a Military Historian of the Carolingian Empire, c. 833 – 843. Francia 44 (2017): 29 – 56. Jennifer R. Davis. Charlemagne’s Practice of Empire. Cambridge: Cambridge University Press, 2015. Siehe dazu die Kontroverse zwischen Johannes Fried und Hans-Werner Goetz, beispielsweise Johannes Fried. Der karolingische Herrschaftsverband zwischen „Kirche“ und „Königshaus“. In Historische Zeitschrift 235 (1982): 1– 43 und Hans-Werner Goetz, Regnum: Zum politischen Denken in der Karolingerzeit. In Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 104 (1987): 110 – 189.
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Quellentexten immer wieder auch Zwischenräume der Herrschaft auf. Damit sind hier geographische Räume gemeint, in denen sich eine Ausübung von Herrschaft fränkischer Könige und deren Grafen nicht gänzlich manifestieren konnte, beispielsweise in den als Marken bezeichneten Grenzräumen ohne feste administrative Gliederung, oder auch an den für uns heute ungeklärten Übergängen zwischen einzelnen Grafschaften. Die Grafschaften, wie sie in der deutschsprachigen Diskussion des 20. Jahrhunderts aufscheinen und sich in den narrativen Texten zu erkennen geben, sind durch einen Grafen als herrschende Figur unterhalb der Herzöge und dem König geprägt, der u. a. richterliche Gewalt ausübte und dafür zuständig war, Steuern und Abgaben zu sammeln und sie an den König abzuführen. In den narrativen Texten sind diese Grafschaften oft räumlich umrissen. Zugleich aber schöpfen wir Wissen über dieselben Grafschaften aus rechtlichen Texten, die wir als Urkunden bezeichnen. Hier sind die Grafschaften im Gegensatz zu den narrativen Texten mehr an den Personen orientiert. Der Graf ist dabei der Richter über Personen, die auch an Orten außerhalb des eigentlich als Grafschaft zu fassenden Raumes leben konnten. Die für das westfränkische Reich des späten 9. Jahrhunderts zur Verfügung stehenden Annalen von Saint-Bertin sowie von Saint-Vaast bieten für die Frage nach Chronotopoi sowie nach Zwischenräumen eine gute Grundlage. Die Forschung ist sich sehr sicher, dass die Annalen von Saint-Bertin ab der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts durch Erzbischof Hinkmar von Reims niedergeschrieben worden sind. Dieser war aufgrund seiner Stellung am Hof Karls des Kahlen und in Reims sehr gut unterrichtet. Daher finden sich zahlreiche Nachrichten aus beinahe allen Regionen des westfränkischen Reichs.¹⁸ Welche Zwischenräume werden überliefert? Wenn für das westfränkische Reich von kleinen Räumen ausgegangen werden kann, dann drücken sich diese meist in der Form von Grafschaften aus.¹⁹ Doch gab es andere, ineinander über-
Die neuesten Ergebnisse der Forschung zu Hinkmar sind versammelt in Hincmar of Rheims. Life and work. Rachel Stone, Charles West (Hg.). Manchester: Manchester University Press, 2015. Florian Dirks. Handlungsspielräume der westfränkischen Eliten auf Ebene der Grafen. Trajectoires. Hors série 2 (2017), http://journals.openedition.org/trajectoires/2226. Eine weitere Arbeit konnte aufgrund diverser Umstände noch nicht publiziert werden und war eigentlich für die Tagung „Espaces ecclésiastiques et seigneuries laïques. Définitions, modèles et conflits en zones d’interface (IXe–XIIIe siècles) / Kirchliche Räume und weltliche Herrschaften. Definitionen, Modelle und Konflikte in Kontaktzonen (9.–13. Jahrhundert). Atelier de jeunes chercheurs soutenu par l’Université franco-allemande, le laboratoire ACP (Université Paris Est Marne-la-Vallée) et l’Institut Historique Allemand de Paris, organisé par T. Martine, J. Nowak et J. Schneider“ im April 2018 vorgesehen, siehe https://rmblf.be/2018/02/07/colloque-espaces-ecclesiastiques-et-seigneu ries-laiques-definitions-modeles-et-conflits-en-zones-dinterface-ixe-xiiie-siecles-kirchliche-rau me-und-weltliche-herrschaften-definitionen/ (31.08. 2021).
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gehende Herrschaftsräume oder solche, in denen die Zuständigkeit von Herrschaft nicht klar voneinander abgrenzbar war? Diese Frage nach dem Vorhandensein von Zwischenräumen lässt sich durchaus mit ja beantworten. Zum einen griffen weltliche und geistliche Räume – oder vielmehr weltlich beherrschte und geistlich beherrschte Räume – zumindest im 9. Jahrhundert in der Praxis weitestgehend nicht ineinander. Die Grafen kamen ihren Aufgaben nach und übten ihre Herrschaft über die in ihrem pagus, dem ihnen unterstehenden Gebiet, lebenden Menschen aus – der Zuschnitt der geistlichen Räume konnte derweil ineinander übergehen, was bekanntlich auch heute noch der Fall ist – bis hinunter auf die Ebene der Pfarrei.²⁰ Zum anderen war das Wirtschaftsleben von unterschiedlichen Ausprägungen des in der Forschung verwendeten Begriffs der sogenannten Grundherrschaft geprägt.²¹ Eine Grafschaft war für die Zeitgenossen relativ klar als Raum definiert, aus dem der Graf Abgaben erheben durfte. Im Gegensatz dazu durften aus dem durch Geistliche beherrschten Raum keine Abgaben erhoben werden. Hier sehen wir auch einen merkwürdig anmutenden Zwischenraum in der Forschung: Rechtsgeschichte auf der einen,Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf der anderen Seite.²² Doch zeigen die Quellen auch eine nicht geringe Zahl von Bereichen, die man als Zwischenräume in einem geographischen Sinne ansprechen kann. Zunächst sind hierbei die sogenannten Marken anzusprechen. Sie stellten im west- wie ostfränkischen Reich großflächige Zonen der Peripherie dar, in denen die sogenannten Markgrafen „die Verteidigungsanstrengungen der Grafen zum Schutz des von allen Seiten bedrohten Königreichs zu koordinieren“ hatten, wie Jean Favier in seinem Beitrag zum Handbuch der Geschichte Frankreichs ausgeführt hat.²³
Zu solchen Verschränkungen, auch zwischen Reich und Region, siehe Florian Mazel. La Provence entre deux horizons (843 – 1032): Réflexion sur un processus de régionalisation. In De la mer du Nord à la Méditerrannée. Francia Media. Une région au cœur de l’Europe (c. 840–c. 1050), Michèle Gaillard, Michel Margue, Alain Dierkens, Hérold Pettiau (Hg.). Luxembourg: CLUDEM, 2011, 453 – 486. Die sogenannte Grundherrschaft ist seit Jahrzehnten ein vieldiskutierter Forschungsbegriff. Siehe dazu Ludolf Kuchenbuch. Abschied von der „Grundherrschaft“. Ein Prüfgang durch das ostfränkisch-deutsche Reich 950 – 1050. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 121 (2004), 1– 99; siehe auch Hans-Werner Goetz. Frühmittelalterliche Grundherrschaften und ihre Erforschung im europäischen Vergleich. In Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs, hg. von Michael Borgolte, Ralf Lusiardi. Berlin: Akademie Verlag, 2001, 67– 87. Die Grafschaftsdiskussion wurde in Deutschland lange geführt. Siehe Roman Deutinger. Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit. Ostfildern: Thorbecke, 2006, 146 – 165. Jean Favier. Frankreich im Zeitalter der Lehnsherrschaft 1000 – 1515. Stuttgart: DVA, 1989, 37.
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Diese Markgrafen, vielfach von Andrea Stieldorf und anderen untersucht, bildeten zunächst ein Zwischenglied zwischen den karolingischen Königen und den Grafen. Oft wurden sie nach erlittenen Niederlagen der Grafen eingesetzt, so auch Bernhard von Septimanien, dessen Karriere am Hof ein jähes Ende nahm. Dieser Bernhard versah seine Dienste als Markgraf von Toulouse bzw. über die sogenannte Spanische Mark.²⁴ Auch die sogenannten Aprisionäre sind ein Thema von Zwischenräumen, die sich in oder nahe der Spanischen Mark finden lassen. Noch zur Herrschaftszeit Karls des Großen kam es auf der Iberischen Halbinsel südlich der Pyrenäen zu einer Ausdehnung des seit 711 eingerichteten Kalifats bzw. Emirats Al-Andalus. Parallel dazu nahm Karl der Große seinen herrscherlichen Auftrag, Beschützer der Christenheit zu sein, wahr. Menschen, die noch zuvor als Christen friedlich südlich der Pyrenäen gelebt hatten, flüchteten sich an den Hof Karls nach Aachen, um ihn um Beistand zu bitten. Um ihnen zu ermöglichen ihr Leben in Frieden weiterzuführen, stattete Karl sie mit Ländereien im Bereich nördlich der Pyrenäen aus, unter dem Recht des sogenannten aprisio. Diese Rechtsform unterschied sich nach den neuesten Forschungen von Cullen Chandler und Jonathan Jarrett von der allgemein üblichen Besitzform des Frankenreichs dahingehend, dass die von ihr betroffenen Personen von Abgaben befreit wurden, aber für die Nutzung des Landes die Erlaubnis des Königs benötigten. Weil diese königlichen
Andrea Stieldorf. Die Begriffe marca und marchio in den Kapitularien Karls des Großen und Ludwigs des Frommen. In Vielfalt der Geschichte. Lernen, Lehren und Erforschen vergangener Zeiten. Festgabe für Ingrid Heidrich zum 65. Geburtstag, hg. von Sabine Happ, Ulrich Nonn. Berlin: VWB, 2004, 64– 85; Andrea Stieldorf. Adel an der Peripherie im Streit mit dem höfischen Zentrum. In Streit am Hof im frühen Mittelalter , hg. von Matthias Becher, Alheydis Plassmann. Göttingen: V & R Unipress, 2011, 223 – 246; Andrea Stieldorf. Marken und Markgrafen: Studien zur Grenzsicherung durch die fränkisch-deutschen Herrscher. Hannover: Hahn, 2012; siehe auch bereits Julia M. H. Smith. „Fines imperii“. The marches. In The New Cambridge Medieval History 1995 – 2000, hg. von Rosamond McKitterick. Cambridge: Cambridge University Press, 169 – 189; zum Bereich südlich der Pyrenäen bereits Odilo Engels. Die „Autonomie“ der Pyrenäengrafschaften Pallars und Ribagorza und das karolingische System der Schutzprivilegierung. In Reconquista und Landesherrschaft. Studien zur Rechts- und Verfassungsgeschichte Spaniens im Mittelalter, Odilo Engels. Paderborn: Schöningh, 1989, 51– 78; Odilo Engels. Schutzgedanke und Landesherrschaft im östlichen Pyrenäenraum (9.–13. Jahrhundert). Münster: Aschendorff, 1970; Cullen J. Chandler. Charlemagne’s Last March: The Political Culture of Carolingian Catalonia, 778 – 987. Dissertation, Purdue University, 2003; Jonathan Jarrett. Rulers and Ruled in Frontier Catalonia, 880 – 1010. Pathways of Power. Woodbridge: Boydell and Brewer, 2010.
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Genehmigungen zu einem großen Teil überliefert sind, wissen wir viel über die als Aprisionäre bezeichneten Siedler des fränkischen Teils Kataloniens.²⁵ Wendet man sich von der Historiographie als Quellengattung ab und den Urkunden zu, so begegnet man ebenfalls sowohl raumzeitlichen Kategorien als auch Beziehungen zwischen Räumen. Auch Zwischenräume in einem anderen als einem geographischen, nämlich vielmehr einem herrschaftlichen Sinne werden, besonders in Privaturkunden der Spanischen Mark, sichtbar. Denn, sofern Literatur sowie die Tradierung von Rechtsgeschäften als Einschreibung betrachtet werden, bilden sich Chronotopoi bzw. Heterochronotopoi in Privaturkunden ab.²⁶ Untersucht man das erhalten gebliebene Material der Urkunden, die Grafen ausgestellt haben, so muss man zwischen den bis in die heutige Zeit überlieferten Originalen sowie den lediglich in kopialer Überlieferung kirchlicher Provenienz erhaltenen Texten unterscheiden.²⁷ Die Originale lassen sich mittels der TelmaDatenbank „Chartae Gallicae“²⁸ für einen Recherche-Zeitraum der Jahre 843 – 900 sortiert nach der Herkunfts-Diözese des Benefiziärs (ohne Königs- und Bischofsurkunden, aber mit Testamenten) ausgeben. Hierdurch lassen sich die erhaltenen Urkunden bequem erschließen und auswerten. Die zahlenmäßig ungleich größere Gruppe der Kopial-Überlieferung in Chartularien der vielfältigen Klöster des westfränkischen Reichs ist in der Telma-Datenbank ebenfalls erfasst, sodass eine regional differenzierte Auswertung durchführbar ist. Eine solche regional differenzierte Analyse sollte allerdings die regional spezifischen Eigenheiten der Urkunden-Landschaften des Westfränkischen Reichs berücksichtigen, wie sie neben anderen zuletzt Mark Mersiowsky herausgearbeitet hat.²⁹ Welche Grafen stellten im Westfränkischen Reich Urkunden aus? Eine Durchsicht der Telma-Datenbank nach den verschiedenen Diözesen ergibt ein durchaus disparates Bild. Das Verhältnis von Grafen und Klöstern ist nach wie vor nicht hinreichend geklärt, wie auch die Ergebnisse von Florian Mazel sowie die verschiedenen Beiträge einer Tagung des Institut Franco-Allemand de Sciences
Cullen J. Chandler. Between Court and Counts: Carolingian Catalonia and the Aprisio Grant, 778 – 897. Early Medieval Europe 11 (2002): 19 – 44; Jonathan Jarrett. Settling the Kings’ Lands: Aprisio in Catalonia in Perspective. Early Medieval Europe 18 (2010): 320 – 342. Zu nicht-herrscherlichen Urkunden siehe Reinhard Härtel. Notarielle und kirchliche Urkunden im frühen und hohen Mittelalter. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2011 und die Beiträge in: Die Privaturkunden der Karolingerzeit. Peter Erhart, Karl Josef Heidecker, Bernhard Zeller (Hg.). Zürich: Graf, 2009. Zu den Originalen siehe nun Mark Mersiowsky. Die Urkunde in der Karolingerzeit: Originale, Urkundenpraxis und politische Kommunikation. Wiesbaden: Harrassowitz, 2015, zu den original erhaltenen Grafenurkunden sowie der ‚Archivpraxis‘ der Grafen. Online zugänglich unter URL: http://www.cn-telma.fr/chartae-galliae/index/ (31.03. 2019). Ebenda, vgl. Privaturkunden.
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Historiques et Sociales in Frankfurt am Main gezeigt haben.³⁰ In seiner Einführung betrachtet Charles Mériaux die Hauptstränge der bisherigen Forschung und stellt die noch zu bearbeitenden Desiderata vor. Die abschließende Zusammenfassung der Erträge der Tagung durch Michél Margue betont einmal mehr die regionalen Unterschiede. Dabei treten durchaus mehrere Phänomene parallel auf, wie das Voranschreiten der Entwicklungen in der einen Region gegenüber dem Zurückbleiben in einer anderen Region. Gab es also Regionen mit VorreiterCharakter? Das Kloster Alaón, auf das gleich noch einmal eingegangen werden wird, vergrößerte seinen Besitz durch den Ankauf von Ländereien in der Umgebung.³¹ Auch der laut katalanischer Nationalgeschichtsschreibung erste Herzog Kataloniens, Wilfred der Haarige (Katalanisch: Guifré el Pilós), schrieb seinen Machtzuwachs durch Privaturkunden in die Geschichte ein.³² Er konnte ebenfalls durch den Kauf von Ländereien seinen Machtbereich vergrößern. Bei ihm handelt es sich um jemanden, der vermeintliche Zwischenräume auszunutzen vermochte. Der ferne westfränkische König Odo hatte kaum weitere Interessen südlich der Pyrenäen, so dass Wilfred durch Ankauf und Stiftung mit Ripoll ein Eigenkloster als dynastische Grablege aufbauen konnte, in dem seine Tochter Emma Äbtissin wurde. Die Privaturkunde als Dokument des Rechtsgeschäfts schreibt dieses in die lokale Überlieferung ein und sorgt zumindest idealerweise für ewige Erinnerung an Verkäufer bzw. Schenker.³³ Insofern kann man hier einen Zwischenraum der Herrschaft sehen, der durch einen machtbewussten Großen ausgenutzt wurde. Bereits Wilfred machte sich daran, Land, das eigentlich dem König für die Verteilung als „aprisio“ zustand, selbst an sich zu nehmen und es gewinnbringend durch Agenten bzw. Personen, die man heute unweigerlich als Makler bezeichnen könnte, an Siedler weiter verkaufen zu lassen.³⁴
Siehe die Ergebnisse https://journals.openedition.org/trajectoires/2178 (31.03. 2019). Cartulario de Alaón (Huesca), José Luis Corrall Lafuente (Hg.). Zaragoza: Anubar Ed., 1984; Francisco Castillón Cortada. Documentos del monasterio de Santa María de Alaón y de sus prioratos de Santa María de Vilet y Chalamera. Argensola 110 (1996): 287– 326. Roger Collins. Charles the Bald and Wilfred the Hairy. In Charles the Bald. Court and kingdom, Margaret T. Gibson, Janet L. Nelson (Hg.). Aldershot/Hampshire: Variorum, 1990, 2. Aufl., 169 – 188; Ramón D’Abadal I De Vinyals. Els Comtats de Pallars i Ribagorça: Primera Part. Barcelona: Inst. d’Estudis Catalans, 1955. Siehe dazu u. a. Geoffrey Koziol. The Politics of Memory and Identity in Carolingian Royal Diplomas: The West Frankish Kingdom (840 – 987). Turnhout: Brepols, 2012, der allerdings nicht ohne Widerspruch gelesen wurde. Dieser Mechanismus hat Parallelen zum Verkauf von Land an Menschen aus Holland in den sogenannten Hollerkolonien im nordwestdeutschen Raum des 12. Jahrhunderts. Siehe Adolf E.
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4 Materialität von Herrschaft in Bauten: Klöster, Befestigungen und Residenzen Die herrschaftlichen Zwischenräume befanden sich allerdings nicht im imaginären Raum, sondern drückten sich materiell/konkret in Bauwerken aus. Welche Rolle spielte also die Manifestation von Macht in Architektur für die raumzeitlichen Merkmale der späten Karolingerzeit, besonders im Westfränkischen Reich? Für das späte 9. Jahrhundert gilt bereits, was für die nachfolgenden zwei Jahrhunderte von umso größerer Bedeutung wurde. Die Menschen formten die Landschaft durch Klöster und Befestigungsanlagen. Waren Klöster ein Ausdruck für die Abkehr von der Welt sowie für eine weitgehend strukturierte Wirtschaftstätigkeit der Menschen, so drückte sich in Befestigungsanlagen die zunehmende Konkurrenz zwischen den Trägern von Herrschaft aus.Weltliche Macht zeigte sich im Westfränkischen Reich in eigentümlicher Verkettung von Titeln und Ämtern – Grafschaften und Laienabbatiate – sowie in der Tatsache, dass die Großen sich das Recht des Königs anmaßten, Befestigungen zu errichten.³⁵ Um die Mitte des 9. Jahrhunderts wurden aufgrund der zunehmend unübersichtlichen Gemengelage infolge der Normannenangriffe auf das europäische Festland Befestigungen immer notwendiger. Durch eigenmächtige und wenig koordinierte Befestigungsbauwerke einiger Grafen im Norden und Westen des Westfrankenreichs sah sich Karl der Kahle dazu bewogen, das königliche Regal des Befestigungsbaus mit dem Edictum Pistense 864 zu erneuern, das bereits unter seinen Vorgängern bestanden hatte.³⁶ Nur der König durfte forthin Befestigungen errichten oder musste sie genehmigen. Bereits Karl der Große hatte verfügt, dass Befestigungen nur durch den König errichtet werden durften, oder zumindest lediglich mit seiner Zustimmung. Diese Bestimmung erneuerten Ludwig der Fromme und auch Karl der Kahle als Könige des Westfränkischen Reichs durch herrscherliche Erlasse in Form der sogenannten Kapitularien sowie durch Urkunden. Diesem Regal zum Trotz lassen sich besonders das 10. und 11. Jahrhundert als Zeiträume bezeichnen, die durch burgähnliche Befestigungen, vor allem die sogenannte Motte, geprägt waren. Bewegt man sich in semantischen Zu-
Hofmeister. Holländersiedlungen an Weser und Elbe 1113 bis 2013: 900 Jahre Bremer Hollerland. Bremisches Jahrbuch 92 (2013): 19 – 46. Siehe inzwischen die Arbeiten von McNair, z. B. Fraser Alexander McNair. The development of territorial principalities between the Loire and the Scheldt, 893 – 996. Diss. masch., University of Cambridge, 2015. Edictum Pistense, Alfred Boretius und Victor Krause (Hg.). Monumenta Germaniae Historica. Capitularia regum Francorum. Bd. 2. Hannover: Hahn, 1897, 310 – 328.
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sammenhängen und betrachtet die Wahl der Wörter, die für die Bezeichnung der Lage eines Grundstücks bei der Übertragung an ein Kloster im Formular einer Privaturkunde genutzt wurden, finden sich in der Spanischen Mark zumeist die Befestigungen wieder, denn übertragener Besitz nahe bei einem castrum wurde auch so bezeichnet. Stellt man weitere Studien im Sinne einer Wortgeschichte an und lässt sie zusammenfließen mit der Geschichte des Landesausbaus, dann kommt man zu aufschlussreichen Ergebnissen, die ein Zusammentreten von Befestigungen als Merkmale einer früh einsetzenden Territorialisierung in der Spanischen Mark ergeben. Dieses Zusammentreten ist sonst, so meine These, nur in Gebieten mit Rodungsherrschaften des 11. Jahrhunderts festzustellen. Die früheste Urkunde aus Alaón in diesem Sinne datiert auf die 820er Jahre, als eine gewisse Aldena einen Weinstock „in castro Orritense“ an Abt Teodored von Alaón verkauft.³⁷ Ebenfalls an das Kloster verkaufen die Mönche Garsao und Udiscalcus ihrem Abt Centullus einige „terras quem habemus de alode parentum nostrorum“.³⁸ Laut der Urkunde liegen sie sogar „terras in territorio Orritense“.³⁹ Im selben April 847 kaufte Centullus noch mehr Land. Ein gewisser Isael verkaufte ihm und dem Kloster zwei Streifen Land. In der betreffenden Urkunde wird erneut die Lage bezeichnet mit „terram in territorio Orritense“, diesmal in der villa Olbe.⁴⁰ Auch der Besitz der Lebila, verkauft an eine Personengruppe für Alaón im Mai 858, ist ähnlich bezeichnet. Hier ist das Land gelegen „ipsa tera in villa que nominator Torocone, que est apendicio de castro Oritense“.⁴¹ Dieses Muster der Wortnutzung, das ein Zeichen für Territorialisierung sein kann, taucht nicht nur in den Privaturkunden des Klosters Alaón des 9. Jahrhunderts auf, sondern auch bei anderen Klöstern, beispielsweise in den Urkunden aus Lavaix, wo ebenfalls im 13. Jahrhundert ein Chartular erstellt wurde. Bei der geringen Anzahl der Urkunden aus dem 9. Jahrhundert sind allerdings fast alle Texte mit eben jenem Muster ausgestattet. Alle nutzen die Terminologie von „castrum“⁴² und „terra“.⁴³ Auch in Bezug auf Klöster ließe sich von Zwischenräumen sprechen, besonders im westfränkischen Reich, wo es im Verlauf der Regierungszeit Karls des
Cart. Alaón, Nr. 4 = CC III, Nr. 7. Cart. Alaón, Nr. 25 = CC III, Nr. 37, 847 April 12. Ibid. Cart. Alaón, Nr. 26 = CC III, Nr. 38. Cart. Alaón, Nr. 44 = CC III, Nr. 54. Eine öffentliche Straße begrenzte eine Seite des Grundstücks, siehe auch CC III, Nr. 74. Die Liste ließe sich mühelos erweitern. Cart. Lavaix fol. 62’ = CC III, Nr. 17. Zum Beispiel Cart. Lavaix fol. 59’ = CC III, Nr. 47; Cart. Lavaix fol. 47 = CC III, Nr. 90; Cart. Lavaix, fol. 48 = CC III, Nr. 91.
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Kahlen und besonders unter seinen Nachfolgern Ludwig dem Stammler, Karl dem Dicken und Odo bis um das Jahr 900 zunehmend üblich wurde, dass lokal mächtige Grafen mit dem Laienabbatiat eines Klosters ausgestattet wurden. Das heißt, hier lässt sich das Laienabbatiat als Zwischenraum begreifen, mit dem die herrschenden Eliten ihre Macht sowohl in der geistlichen als auch in der weltlichen Sphäre vermehren konnten. Rechtlich gesprochen gab es dabei fließende Übergänge. Laienäbte waren keine Priester, durften also nach dem Kirchenrecht weiterhin verheiratet sein und Familien gründen. Zugleich führten sie aber trotz ihrer Position als Vorsteher eines Klosters kein wirklich gottesfürchtiges mönchisches Leben. Das Laienabbatiat war für die Großen mehr Prestige als religiöse Erfüllung.⁴⁴ Gerade die mächtigsten Herrschaftsträger, die Herzöge und Markgrafen, sammelten solche Laienabbatiate, um eine möglichst starke politische Position durch möglichst großen monetären wie militärischen Rückhalt zu bekommen. In der Spanischen Mark sowie zunächst in Flandern führte dieses Sammeln von Ämtern schließlich dazu, dass Männer wie Wilfred der Haarige und Balduin der Eiserne von Flandern in den 870er–890er Jahren in eine extrem große Konkurrenz zum König traten.⁴⁵ Betrachtet man nun einzelne Klöster wie Saint-Riquier nahe der Kanalküste im Norden⁴⁶ oder Alaón in der Spanischen Mark an der Grenze zwischen den Grafschaften Pallars und Ribagorza, werden Unterschiede in der verfassungsrechtlichen Stellung der Abteien sichtbar. Während in Saint-Riquier ein Laienabbatiat bestand, dessen Inhaber bereits unter Karl dem Großen als abbas et comes ⁴⁷, also Abt und Graf, bezeichnet wurde, war Alaón trotz seiner Lage in der Peripherie der an sich schon peripher gelegenen Spanischen Mark nicht mit einem Laienabt versehen; vielmehr handelte es sich um ein geistliches Unternehmen, das auch nicht wie viele andere Klöster durch Schenkungen größer werden konnte, sondern zumeist durch Ankauf von Land von Freien der Umgebung wuchs. Ähnliche Beobachtungen lassen sich für Residenzen machen, die aber
Siehe dazu die Studie von Dhondt sowie Christoph Haack. Die Krieger der Karolinger. Kriegsdienste als Prozesse gemeinschaftlicher Organisation um 800. Berlin: De Gruyter 2020, 125. Collins, Wilfred sowie Paul Haine. Le comté de Flandre dans la 2e moitié du IXe siècle. Brüssel: Universität Brüssel, 2001. Friedrich Möbius. Die karolingische Reichsklosterkirche Centula (Saint-Riquier) und ihr Reliquienschatz. Eine Fallstudie zum lebensweltlichen Verständnis frühmittelalterlicher Religiosität. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2013. Zitiert nach Möbius, Die karolingische Reichsklosterkirche.
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eher in den größeren Städten, die bereits zur Zeit der Römer bestanden hatten, zu finden waren.⁴⁸
5 Zusammenfassung Zwischenräume in der Geschichte des Westfrankenreichs im frühen und hohen Mittelalter sind eine Thematik, an der sich Mechanismen der Historiographie ebenso wie solche im Herrschaftsaufbau geistlicher und weltlicher Natur aufzeigen lassen. Gerade die Gemengelage unterschiedlicher Rechtsräume wie Lebensräume ist es, die die Zeit des 9.–11. Jahrhunderts für diese Fragestellung interessant macht. Dabei lassen sich vormoderne Herrschaftsformen nicht auf starr abgegrenzte Bereiche reduzieren, sondern sollten immer im Einzelfall betrachtet werden. Mit der Frage nach Zwischenräumen lassen sich gewisse Muster erkennen, die besonders in peripheren Gebieten begegnen. Bereits im 9. Jahrhundert begegnen Begriffe in katalonischen Privaturkunden, die sich der in Nordwesteuropa erst im 11. Jahrhundert sichtbar werdenden sogenannten Territorialisierung zuschreiben lassen. Mit den Begriffen pagus und castrum sind dabei zwei Räume angesprochen, die das gesamte Hochmittelalter hindurch nach wie vor wichtig bleiben sollten – die dörfliche Struktur der Grafschaft sowie der befestigte Ort, mithin die Burg. Die Marken als dezidiert herrschaftliche Zwischenräume sowie zugleich als erzählte Zwischenräume der fränkischen Jahrbücher manifestieren Chronotopoi nach Bachtin. Sicherlich wäre ein Vergleich der Gegebenheiten der Spanischen Mark mit den übrigen Marken des spätkarolingischen Frankenreichs geboten. In Bezug auf raumzeitliche Merkmale bietet das Frühmittelalter also durchaus lohnenswerte Quellenbestände. Die karolingisch dominierte Spanische Mark des 9. Jahrhunderts hatte zwar keinen lang andauernden Bestand, gab aber für manche Entwicklungen in der Diplomatik wie in der Verfassungs-, der Wirtschafts- und der Sozialgeschichte richtungsweisende Impulse.
Zu Residenzen siehe die Arbeiten von Renoux. Annie Renoux. Palatium et castrum en France du Nord (fin IXe-début XIIIe siècle). In The Seigneurial Residence in Western Europe AD c 800 – 1600, Gwyn Meirion-Jones, Edward Impey, Michael Jones (Hg.). Oxford: Archaeopress, 2002, 15 – 25.
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Florian Dirks
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Björn Klein & Felix Krämer
Zwischenraum: Der Fall Murray Hall in transsektionaler Perspektive
In-Between Space: The Murray Hall Case in Transsectional Perspective: According to the New York World and various other newspapers in the United States and around the world, Murray Hall was known as a man who died as a woman in 1901. In this essay, we historicize the body practices and intermediate dimensions of his transgressions using a transsectional approach that analyzes the story of Murray Hall, a New Yorker bail bondsman, democrat and man-abouttown— a story we only know of because the mass press’s fixation on an assumed genuine truth of gender. The transsectional intermediate spaces and body practices are interrogated by an extension and interpretation of heterotopian, smooth and striated spaces. Reading the sensationalized articles of the mass press against the grain, we propose to abandon distinct as well as ambiguous notions of identity in historical analysis and instead ask for body potentials, affective economies, ambivalences and intrinsic schisms of gender history. The transsectional approach does not solely focus on sections, identities and the interrelatedness of the social body because we understand that it does not capture the withdrawals from assumed identity categories and the waywardness and abundance of potentials of lived body practices within intermediate spaces, as seen in “the astounding life history of Murray Hall.”
1 Einleitung Murray Hall lebte sechzig Jahre als Mann und starb als Frau – so lautete die Überschrift in einer der auflagenstärksten Zeitungen der Stadt um die vorletzte Jahrhundertwende, der New York World. Es sei die – so der Untertitel – erstaunliche Lebensgeschichte eines Arbeitsvermittlers, der zwei Frauen hatte, mit den Jungs trank, sportlich war und sein Geheimnis bis zum Ende für sich behielt. Nur durch den Tod wurde es enthüllt.¹ Murray Halls Körper wurde nach seinem Tode am 16. Januar 1901 in Manhattan von einem Gerichtsmediziner als weiblich
N.N. Known as a man for sixty years, she died a woman, Astounding Life History of Murray Hall, The Sixth Avenue Employment Agent, „Murray H. Hall“ had two wives, drank with the boys, was sporty, but kept her secret to the end, death alone revealing it. The New York World 18. Januar 1901, 3. https://doi.org/10.1515/9783110758306-011
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identifiziert. Er hatte also im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als Mann und Lokalpolitiker in New York gelebt. Der Leichenbeschauer befand nicht nur über das „wahre“ Geschlecht, sondern insinuierte, dass Hall sich vor seinem Tode als Mann kleidete, um seine geschäftlichen und politischen Aktivitäten zu fördern. Murray Halls Geschichte wurde in unzähligen Tageszeitungen der USA sensationalisiert und fand sogar Aufnahme in Magnus Hirschfelds Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen.² Es ist eine Passing-Geschichte wie es sie im 19. Jahrhundert des Öfteren gab.³ Motive mochten sein, dem traditionellen Rollenverständnis als Frau zu entfliehen, Zugang zu ökonomischen Mitteln zu erhalten, um sich in der Stadt bewegen zu können und, wie wir im Fall Murray Halls vermuten, um sich einen Zwischenraum, eine verwirklichte Utopie zu erschließen innerhalb eines Gesellschaftssystems, das fundamental auf ein patriarchal dominiertes binäres Zweigeschlechtermodell ausgerichtet war. Verweist das Zuordnungsproblem nun schon auf eine Zwischenräumlichkeit in einem solchen Körper? Vielleicht noch nicht auf den ersten Blick. Allerdings waren die Berichte über ihn unterfüttert mit fassungslosen Körperbetrachtungen, gepaart mit Spekulationen zu familiären Konstellationen und zynischen Kommentaren zu Frauenrechten, gerade so, als entstamme Murray Hall einer anderen Welt, eben einem Zwischenraum. Jenseits der medialen Zuweisung und Sensationalisierung, denen Halls Körper nach dem Tode keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen vermochte, gibt es eine zwischenräumliche Dimension der Körperlichkeit im Tun und in widerständigen Praktiken. Nur der transsektionale Blick, der nicht zwischen den Sektionen und Identitätsteilen seiner Existenz hängen bleibt, nicht allein nach „der Wahrheit“ um eine biologische Fixierung von Geschlecht und dessen Interagieren mit dem Sozialen kreist, sondern die belebte Grenzüberschreitung einfängt, kann dies erfassen, so unsere Hypothese.Wie das „Netzwerk Körper“ mit Gilles Deleuze fragt: „What Can a Body Do?“⁴ wollen wir in dem vorliegenden Text der Frage weiter nachgehen, ob sich die intersektionalen Achsen der Unterdrückung aus
Magnus Hirschfeld. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Berücksichtigung der Homosexualität. Leipzig: Max Spohr Verlag, 1901, 583. Passing unterläuft historisch gesättigte Identifizierungspraxen und macht Grenzüberschreitungen möglich. Die Praktik des Passing ist nachgewiesen für historisch wirkmächtige Differenzkategorien wie z. B. race, class und gender. Für die Kategorie Geschlecht bedeutet dies in geschlechtlich binär organisierten Gesellschaften, unter anderen die dem als gegenüberliegend gedachten Geschlecht zugeordnete Kleidung zu tragen, bestimmte Gesten, Mimiken, Praktiken und Verhaltensweisen zu affirmieren, anzupassen oder zu negieren. Für Quellen zum 19. Jahrhundert siehe insbesondere: Jonathan Ned Katz. Gay American History, Lesbians and Gay Men in the U.S.A. New York: Meridian, 1992 [1976]. Netzwerk Körper (hg.). What Can a Body Do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Campus, 2012.
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Halls Körper heraus in Widerstandspotentiale übersetzen oder gar zu Fluchtlinien verlängern lassen.⁵ Wo diese in einem Körper oder um diesen herum zusammenkommen, dort bilden sich möglicherweise immer wieder neue Verläufe von Zwischenräumen. Zwischenräume sind also mehr als Verlaufsformen von Praktiken und weniger als fixierbare Orte zu verstehen. Um diesen mehrfach dimensionierten Kreuzungen bzw. Verlaufs- und Verteilungsformen folgen zu können, müssen – das wäre unser theoretisches Plädoyer – die Blickrichtungen jene transsektionalen Bewegungen aufnehmen, um die sich der Körper immer wieder gebildet hat und neu strukturieren musste, in denen er existierte und widerständig oder gewaltvoll auf sich und andere wirkte. Wir fragen also, was eine Wahrnehmung der transsektionalen Bewegungen und Materialisierungen in der zeiträumlichen Geschichte um die Person zu Tage fördert und wo und wie darin Macht wirkt. Das bringt uns umgehend zu der quellenkritischen Frage: Kann eine transsektional angelegte Forschungspraxis, die tief in der Geschichte und Gegenwart der rechts- und medizinwissenschaftlichen eingebetteten Sensationalisierung und Disziplinierung „falscher“ Raumkörperpraktiken und damit nicht-normativer Konzeptionen und Vorstellungen von Leben verhaftet ist, neue Wege aufzeigen, geschichts- und kulturwissenschaftliche Fragen zu stellen? Welche konkreten Raumkörperpraktiken, Widerstände und Potentiale in Murray Halls New Yorker Umfeld lassen sich anhand der Quellenlage überhaupt herauspräparieren? Wie kann das Verfolgen seiner Geschichte funktionieren, wenn die überlieferten Quellen selbst Teil eines Prozesses waren, über welchen Trans-, Queer- und Interkörperpraktiken verunmöglicht werden sollten? Im Hinblick auf den Umgang mit den Quellen soll dabei insbesondere gezeigt werden, welche Einschreibepraktiken, Verwischungen, Ausstreichungen sich im transsektionalen Verfolgen von Körpern im Politischen und damit von Macht im Zwischenraum nachvollziehen lassen, die durch eine Perspektive auf die intersektionale Repression des Subjekts allein nicht zu erfassen wären.⁶ Aus diesem Blickwinkel ist die Suchbewegung nach einem Zwischenraum in Murray Halls Körperpraktiken das Ziel. Wir werden uns im ersten Abschnitt dieses Aufsatzes mit dem raumtheoretischen Konzept der Heterotopie bei Foucault auseinandersetzen.⁷ Wir fragen an
Zum Begriff der Fluchtlinie: Gilles Deleuze, Félix Guattari. Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Berlin: Merve, 1992, 19. Zu Intersektionalität als geschichtswissenschaftliche Perspektive: Vera Kallenberg, Jennifer Meyer, Johanna M. Müller (hg.). Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven für alte Fragen. Wiesbaden: Springer VS, 2013. Michel Foucault. Von anderen Räumen. In Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Jörg Dünne, Stephan Günzel (hg.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006 [1967/
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der Stelle, wie Körper – in diesem Falle der Murray Halls – als Teil eines Raumes verstanden werden können, als Teil eines Raumes, der sich nicht, oder eben nur postum, in ein vorhandenes Ordnungsmuster einsortieren lässt. Es handelt sich um einen Raum, der also zugleich einen Körper realisierte und verwirklichte, der scheinbar außerhalb der historisch produzierten Wirklichkeit existiert. Diese Raumkörperkonstellation bildete eine Heterotopie – im Sinne Foucaults – und generierte einen Überschuss an Realität, verstanden als eine verwirklichte Utopie, ein Zwischenraum, dem realen, wirklichen und institutionellen Bereich der Gesellschaft zugehörig. Zugleich konnte dieser Überschuss an Realität alle anderen realen Orte einer Kultur in Frage in stellen.⁸ Was uns daran besonders interessiert, ist, dass sich diese Raumkörperkonstellation nicht in ein binäres Verständnis einer Geschlechterordnung fügen lässt und damit einen Zwischenraum bildete. Nachdem wir Halls Körper in diesem Raum verortet haben, wollen wir im nächsten Teil des Aufsatzes diesen Raumkomplex zwischen glatten und gekerbten Raum schieben und erproben, wo sich hier ein organloser Körper ausbreiten lässt, wie ihn Deleuze und Guattari – wiederum im Anschluss an Foucaults Raumdenken – konzipiert haben.⁹ Wir wollen fragen, ob sich Murray Halls Körper nicht als radikal gegen die Vergeschlechtlichung gewendet lesen lässt, wie der organlose Körper, der sich mit Deleuze und Guattari ebenfalls gegen seine Geschlechtlichkeit richtet und gegen diese rebelliert.¹⁰
1984], 317– 329. Vgl. außerdem: Aenne Gottschalk, Susanne Kersten, Felix Krämer (hg.). Doing Space while Doing Gender: Eine Einleitung. In Doing Space while Doing Gender – Vernetzungen von Raum und Geschlecht in Forschung und Politik, (dies.). Bielefeld: transcript, 2018, 21. Foucault, Von anderen Räumen, 320. Der gekerbte Raum ist ein organisierter und hierarchisierter Raum, der von Verkehrs- und Handelswegen durchzogen ist und der sich vom glatten Raum, in dem eine variable Nutzung des Raums möglich ist (im Beispiel von Guattari und Deleuze die Wüste und die sie durchziehende Nomad*innen oder das Meer als glatter Raum par excellence vor seiner Vermessung durch Breitenund Längengrade) unterschieden wird. Der organlose Körper folgt einer ähnlichen offenen Vernetzung, ist offen, in der Lage jedes Axiom und jede Bewegung zu affirmieren und unterscheidet sich von stratifizierten (zum Beispiel in diesem Falle binär vergeschlechtlichen) Körpern. Vgl. Aenne Gottschalk, Susanne Kersten, Felix Krämer (hg.). Doing Space while Doing Gender: Eine Einleitung. In Doing Space while Doing Gender – Vernetzungen von Raum und Geschlecht in Forschung und Politik, (dies.). Bielefeld: transcript, 2018, 24– 26. Gottschalk, Doing Space, 26 – 29.
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2 Heterotopische Raumkörperpraktiken Bevor wir die Spuren zwischen den Zeilen der sensationalistischen Zeitungsberichte zum (toten) Körper Halls aufsuchen können, wollen wir uns noch einmal umsehen nach den Heterotopien, den verwirklichten Utopien. Foucault identifiziert als Heterotopien unterschiedlichste Orte und ordnet diese nach sechs Grundsätzen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Konstante aller menschlichen Gruppen sind und sich je nach Gesellschaftsform in Krisen- und Abweichungsheterotopien unterscheiden lassen. Hier nennt Foucault das Gymnasium, das als Krisenheterotopie im 19. Jahrhundert entstand, als auch der Militärdienst die Funktion einer Krisenheterotopie einnahm, sodass die ersten Äußerungen männlicher Sexualität nicht in der Familie stattfanden, sondern anderswo. Sanatorien, Gefängnisse und die Altersheime bezeichnet Foucault dagegen als Abweichungsheterotopien, da in einer sich herausbildenden Arbeitsund Freizeitgesellschaft Untätigkeit als Abweichung definiert wurden. Heterotopien haben als weiteren Grundsatz genau festgelegte Funktionen, wie der Friedhof als ein Ort, der mit allen Orten der Stadt in Verbindung steht, die sich räumlich verlagern, je nachdem welchen Stellenwert sterbliche Überreste hatten, beispielsweise während der Tod sich in Gesellschaften individualisierte. Die Heterotopien besitzen ferner die Fähigkeit Orte, die eigentlich nicht „miteinander verträglich sind“, zu verbinden, wie das Theater, das Kino, der Teppich und der Garten.¹¹ Wenn der Garten die kleinste Parzelle der Welt ist, wie Foucault annimmt, ein heiliger Mikrokosmos für die Perser*innen, der einst wie ein viergeteiltes Rechteck für die vier Teile der Welt stand, der Nabel der Welt, von welcher Bedeutung sind dann die diese Gärten bevölkernden Körper? Das gleiche ließe sich für die weiteren Beispiele Foucaults fragen: Was sind die Heterotopien der Zeit, die Museen und Bibliotheken, die Feste und Jahrmärkte, die auf Akkumulation der Zeit ausgerichteten Heterotopien ohne die Körperpraktiken, die diese sogenannten Heterotopien konstituieren? Die Antwort liegt in Foucaults Beispielen für die Heterotopien selbst, die ihm zufolge stets ein System der Öffnung und Abschließung voraussetzen. Aber dieses Öffnen und Abschließen funktioniert schließlich nur, wenn sich in diesen Räumen Menschen bewegen, diese produzieren, sie überund durchschreiten, sich in diesen aufhalten, sie durch bestimmte Körperpraktiken mit Sinn und Bedeutung füllen, Ordnungen dabei durchqueren und die Dinge so neu verteilen. Das als wirkmächtiges Dispositiv im 19. Jahrhundert etablierte binäre Geschlechtersystem ist mehr als nur eine Ordnung. Es hat episte Foucault, Von anderen Räumen, 324.
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mischen Charakter, es formte Wissen, Überzeugungen und Gewissheiten, Sinn und Bedeutungszusammenhänge, in denen gedacht wurde und werden konnte, stratifizierte öffentliche wie private Räume und bedingte Raumkörperpraktiken als Teil des Dispositivs.¹² Entsprechend ist auch das heterotope Potential ein gewaltiges, das gegen diese Ordnung aufgebracht werden musste. Das hat wiederum weitreichende Implikationen für den epistemologischen Blickwinkel, der die Wissensproduktion als Verkörperung und Vergeschlechtlichung im materiellen Kontext von space und place zu erfassen versucht. Insbesondere war dies der Fall in den Transgender Studies und unter feministischen Geograph*innen seit Mitte der 1990er Jahre.¹³ Ausgehend von Foucaults Überlegungen zu den Heterotopien stellt sich also die Frage, inwiefern das Leben Murray Halls Teil einer verwirklichten Utopie in einem gegengeschlechtlich – also gegen die normative Ordnung der Geschlechter – organisierten Raum war, eine verwirklichte Utopie, die als gegenhistorisches Werden und damit als ein körperpraktischer Zwischenraum verstanden werden kann. Entsprechend der Beschreibung dieser Hetero(chrono)topie wird dieser Zwischenraum als institutionell geprägter Ort untersucht, der in der Summe seiner Relationen alle anderen Orte und Körper in Frage stellt und ins Gegenteil verkehrt. Die subjektiven Raumkörperpraktiken Murray Halls – sich zu vernetzen, sich um andere zu sorgen, sich zu kümmern, zu prügeln, trinken, etc. – stehen im Zusammenhang mit lokalpolitischen Orten wie der Tammany Hall. Murray Hall war Mitglied dieser politischen Interessengruppe, die als Suborganisation der Demokratischen Partei in New York City städtische Ressourcen und Posten besetzte.¹⁴ So wie das Geschlechterverhältnis in einer sich verändernden modernen kapitalistischen Gesellschaft wie den USA kein zufälliges ist, sondern zutiefst historisch und von Macht durchdrungen, sind die konkreten lokalpolitischen und außenpolitischen raumstrukturierenden Praktiken im Klassensystem auch keine Zufälle, sondern Wesen einer Gesellschaft im Ganzen. Wenn „Heterotopien […] kleine, abgegrenzte Bereiche für jene Dinge, die sich nicht in die vorhandenen Ordnungsmuster einsortieren lassen, da sie sich unseren Bezeichnungen immer
Vgl. die Diskussion mit Mechthild Bereswill, Ines Kappert und Simona Pagano, Macht, Raum, Geschlecht? Perspektiven auf gegenwärtige Politiken. In Gottschalk, Doing Space, 289. Nancy Duncan. BodySpace, Destabilizing Geographies of Gender and Sexuality. London: Routledge 1996; Susan Stryker, Stephen Whittle. The Transgender Studies Reader. New York: Routledge, 2006. Vgl. Terry Golway. Machine Made Tammany Hall and The Creation of Modern American Politics. New York: Liveright, 2014.
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wieder entziehen“¹⁵, bilden, dann lässt sich ein unscheinbares Netzwerk aus Senatoren, Freund*innen, Familienmitgliedern, Gefangenen, die Hall als Kautionsagent betreute und in Arbeit vermittelte dort finden, worin Murray Hall agierte und das er mitbetrieb. Die Veränderungen in den Medizin- und Rechtswissenschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die laut Foucault eine Armada von neuen Köper- und Subjektkategorien der Devianz geschaffen haben¹⁶, sind ein wichtiges Brennglas, um die biopolitischen Disziplinierungen nachvollziehen zu können, die auf Hall und den von ihm belebten Zwischenraum wirkten. Konkrete und partikulare Raumkörperpraktiken fehlen allerdings bei Foucault. Verkörperungen innerhalb der Geschlechterordnung lassen sich nicht ohne weiteres auf einer mikro-historischen und alltagsgeschichtlichen Ebene nachvollziehen, wenn wir beim Heterotopie-Ansatz Foucaults im engeren Sinne bleiben. Weder Verkörperung noch Vergeschlechtlichung bzw. deren Durchquerung sind bislang mitgedacht. Foucault macht keine Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Sphäre, zumindest keine, die geschlechterpolitisch relevant wäre. Es sind allerdings verschiedene Unterdrückungsachsen involviert – neben Geschlecht auch Klasse – weshalb Halls Position auch als intersektional begriffen werden könnte. Dann wäre Halls Position im eigenen Zwischenraum auf die Überschneidung von eindeutigen Identitätsmuster festgestellt. Eine Analyse des Netzwerks um Murray Hall, der als Mann lebte und sich durch New York bewegte und temporär – bis zu seinem Tod – einen körperlichen Zwischenraum etablieren konnte, sollte allerdings auch nicht allein intersektional begriffen werden, weil wir sonst Körperpraktiken, Handlungen, seine eigenen Identifizierungen und vor allem das transgressive Leben der Zeitgenoss*innen überhaupt nicht als historisch wahrnehmen können. Daher muss die heterotopische Raumfiguration, wie Hall und seine Bekannten die Dinge im Raum verteilten, auch auf eben diese queeren Raumkörperpraktiken hin betrachtet werden. So rücken räumliche Dissonanzen, bestimmte Formatierungen von institutionellen Orten, Utopien und Heterotopien mit Affektökonomien in den Blick. Diese Perspektivierungen sind integraler Bestandteil einer historischen Transsektionalitätsanalyse. Doch was sind nun diese subjektiven, konkreten und partikularen Raumkörperpraktiken? Zuerst müssen wir dafür zurück zu den Beschreibungen von Murray Hall und wie sein Leben in der Presselandschaft ausgeleuchtet und retrospektiv umgedeutet wurde, denn wir haben keine Egodokumente zur Hand. Es sind Zeitungsberichte vorhanden, die zurückübersetzt werden müssen aus einer
Michel Foucault. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Berlin: Suhrkamp, 1974, 20. Michel Foucault. The History of Sexuality, An Introduction. New York: Pantheon, 1978, 43.
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heteronormativ geprägten Sprache in eine minoritäre dem Netzwerkcharakter von Transpersonen Rechnung tragende Sprache, um so nicht die vermeintliche Sensation um die Maskerade zu reproduzieren, sondern das politische Potential unscheinbarer Bewegungen zwischen den Zeilen zu lesen. Dadurch ist es möglich, nicht nur die Geschlechterpolitiken einer bestimmten Zeit besser zu verstehen, sondern ebenso Rückschlüsse ziehen zu können auf die inter- und transsektionalen normativen Settings jener Vergangenheit.¹⁷ Die folgende Analyse bietet ein solches Beispiel. Am 18. Januar 1901 wurde in mehreren Zeitungen des Landes gleichzeitig über Murray Hall berichtet. In der Chicago Daily Tribune hieß es „Woman Lives as a Man: Death Reveals Secret of Murray H. Hall in New York,“ in der Washington Post „Masqueraded for Years as a Man,“ in der New York Times „Woman long posed as Man,“ im Brooklyn Daily Eagle wurde Thomas S. Martin, Mitglied des Kongresses und der Demokratischen Partei, in der Überschrift zitiert: „Senator Martin Amazed at News that ‚Murray Hall‘ was a Woman – Says Place Won’t be Filled by a ‚Her’ Again“ und im Newark Daily Advocate aus Ohio hieß es schlicht „Tammany Brave a Woman, Not a Man.“¹⁸ Es folgten über knapp drei Monate immer wieder Berichte über Murray Hall in den ganzen USA. Noch Jahre später – in ähnlichen Passing-Geschichten – taucht Murray Hall als Referenzgröße in den Tageszeitungen auf.¹⁹ Der ausführlichste Bericht ist der in der Einleitung angesprochene Artikel in der New York World „Known as a Man for Sixty Years, She Died a Woman“, der ebenfalls am 18. Januar veröffentlicht wurde, in dem die geschlechtliche Verunsicherung des Autors mit der Passing-Geschichte Halls deutlich wird. In diesem Zeitungsbericht finden wir Zitate von Weggefährt*innen, Mitarbeiter*innen und Verwandten Halls, die ihn als eine laute, redselige, zu unzüchtigen Scherzen aufgelegte Person – einen „man-about-town“ – beschreiben. In einem extra vom Rest des Zeitungsartikels abgetrennten Infoblock wird eine kleine
In einem weiteren Analyseschritt hat das ebenso Konsequenzen für eine Geschichte der Gegenwart, in der diese Netzwerke von queeren Raumkörperpraktiken nicht nur eine Genealogie, sondern auch eine neue Auseinandersetzung mit normativen, patriarchalen Strukturen und den Widerstandsräumen zulassen. N.N.Woman Lives as a Man: Death Reveals Secret of Murray H. Hall in New York. Chicago Daily Tribune 18. Januar 1901, 1; N.N. Masqueraded for Years as a Man. Washington Post 18. Januar 1901, 1; N.N.Woman long posed as Man. New York Times 18. Januar 1901, 2; N.N. Senator Martin Amazed at News that „Murray Hall“ was a Woman – Says Place Won’t be Filled by a „Her“ Again“. Brooklyn Daily Eagle 18. Januar 1901, 1; N.N. Tammany Brave a Woman, Not a Man. Newark Daily Advocate 18. January 1901, 1. N.N.Women who wore trousers. The Washington Post, 3. November 1907: 3; N.N. Girls ’married’ for 7 years. Chicago Daily Tribune 31. Januar 1908, 4; N.N. Famous women in male attire. The Washington Post 8. März 1908, 2.
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Auflistung mit der Überschrift „Some things that Murray Hall did“ in fetten Lettern abgedruckt: She voted the Tammany ticket for thirty-odd years. She was a member of the Iroquois Club, the political body of the Fifth Assembly District. She smoked cigars and chewed tobacco, She was a confirmed poker player. She drank beer and whiskey and liked to stay out late with her political friends. She attended all of the district chowder parties. She nearly knocked out a policeman who attempted to arrest her.²⁰
Benutzt der Haupttext durchweg das männliche Pronomen für Hall, also die Geschlechteridentifizierung, die Hall selbst gewählt hatte, wird hier jeder Praktik das weibliche Pronomen „she“ vorangestellt. Damit werden Männern zugeschriebene und vorbehaltene Verhaltensweisen gesondert aufgelistet, aber einer weiblichen Akteurin zugeordnet. In der Überschrift, der Bildunterschrift und den Zwischenüberschriften des Artikels wird durchweg das weibliche Pronomen für Hall genutzt oder das männliche Pronomen in Anführungszeichen gesetzt, während im Haupttext Hall interessanterweise das männliche Pronomen durchgehend ‚zugestanden‘ wird. Dieser journalistische Umgang zeigt das Passing Halls und die von der Spur dieses Weges hervorgerufene Blockade, ein fluideres Geschlechterverständnis zu denken und zuzulassen. Dieser Journalismus zeigt also, wie die räumlichen und politischen Körperpraktiken von marginalisierten Gruppen und Personen ins Raster geraten, wenn diese sich nicht in einem binären Zweigeschlechtermodell verorten lassen. Sie unterminieren die instabile Kohärenz eines binären Systems, welches unter anderem eine Teilung zwischen öffentlichem und privatem Raum vornimmt.²¹ Diese Trennung ist hier durch das Passing Halls und die Reterritorialisierung eines gegenderten Raums ins Wanken geraten, und nach Gayatri Chakravorty Spivak wäre diese Dekonstruktion der binären Einteilung zwischen privat und öffentlich konsequenterweise eine feministische Aktivität.²² Gleichzeitig wurde aber ein Männlichkeitsbild re-affirmiert und in den Stadtraum getragen, welches klar nach heteronormativen Mustern funktionierte. Dennoch ist dieser Zwischenraum als gegengeschlechtlich zu verstehen, worauf wir weiter unten noch zurückkommen werden. Nun gibt es Passing-Geschichten schon weit vor Murray Hall. So hat sich zum Beispiel Deborah Sampson 1782 unter dem Alias Robert Shurtleff in die Kontinentalarmee eingeschrieben, um im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ge-
N.N. Known as a man for sixty years, 3. Nancy Duncan, BodySpace, 127. Gayatri Chakravorty Spivak. In Other Worlds, Essays in Cultural Politic. New York: Routledge, 1988, 103.
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gen Großbritannien zu kämpfen.²³ Während Sampson/Shurtleff alleine aus ihrem Heimatort Plympton, Massachusetts fortzieht, zeigt sich bei der Betrachtung Halls aber, dass hier an einem Ort ein kleines Netzwerk gebildet wurde, das die Binarisierung zwischen privat und öffentlich einerseits re-inszeniert, durch ein in der Öffentlichkeit performtes Bild von Heteronormativität im Privaten aber ein widerständiges homosoziales Netzwerk ausbildete. Hall lebte mit seiner Frau und einer adoptierten Tochter zusammen und versorgte als Arbeitsvermittler, Kautionsagent und Lokalpolitiker unter anderem entlassene Gefangene mit Lohnarbeit. Das Private, traditionell verstanden als „the domestic, the embodied, the natural, the family, property, the ‚shadowy interior‘ of the household, personal life, intimacy, passion, sexuality, ‚the good life‘, care, a haven, unwaged labor, reproduction and immanence,“²⁴ wird hier nicht aufgelöst, aber es wird im Rahmen der individuellen Möglichkeiten umgearbeitet in einen alternativen, geschlechtlich nicht-normativen Lebensentwurf. Jenseits dieser verwirklichten Utopie scheint es, als müsse die Autor*in der New York World noch auf die Untersuchung des Gerichtsmediziners warten, um sich letztlich für eine Erzählung der Hauptfigur zu entscheiden: Mann oder Frau. Dabei ist das Verdikt in der Überschrift doch schon gesprochen: „She died as a woman.“ Aber Hall starb nicht nur als Frau, sondern, so die New York World weiter, als potentiell mörderische Frau. Ein ehemaliger Angestellter Halls, der von der New York World aufgesucht und interviewt worden war, soll bei einer Reinigung des Kellers in seinem Haus eine Box mit einem Skelett gefunden haben. Der „wirkliche“ Murray Hall wurde der Geschichte im Artikel nach von seiner Frau ermordet und im Keller verscharrt. Die Frau habe dann die Identität von Hall übernommen. Diese Geschichte wird nie bestätigt oder revidiert. Aber sie ist nun in der Welt und damit als realitätsstiftende Reaktion auf die Existenz des Zwischenraums zu begreifen, der gewissermaßen mit dem Skelett im Keller verscharrt werden sollte. Es ist die Geschichte eines Mannes, der in der Logik der Zeitungen kein Mann war, aber dennoch männliche Verhaltensweisen performte. Durch diesen kurzen weder verifizierten noch kommentierten Einschub einer männlichen Leiche im Keller wird der Text, ohne direkt darauf hinzuweisen, in die Nähe von den zu diesem Zeitpunkt beliebten Monster- und lesbischen Vampir-
Katz, Gay American History, 212. Im späten 18. Jahrhundert ist ein anderes Geschlechterdispositiv als im späten 19. und zu Beginn des 20. Jahrhundert zu beobachten. Markant an diesen Geschichten ist, dass sie nur auffallen, wenn es zum Skandal kommt, weil die Person im geistlichen oder militärischen Stand war. Sonst gibt es jede Menge anderer Fälle vor Gericht, in denen diese lediglich kommentiert und nicht skandalisiert werden. Das gilt zumindest für die Frühe Neuzeit. Danke an Muriel González Athenas für den Hinweis. Duncan, BodySpace, 128.
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Erzählungen gerückt. Die Romane von Bram Stoker, Robert Louis Stevenson, Oscar Wilde, Henry James waren erst zehn bis zwanzig Jahre alt und wurden auch deshalb erfolgreich, weil sie von Körpertransformationen, von „normalen Personen“, die sich in Vampire verwandelten, von Blutsaugern und kaltblütigen Mörder*innen und sexuellen Sünder*innen handelten. Der Körper ist in den gothic novels des ausgehenden 19. Jahrhunderts Aushandlungsfläche, -agent und -produzent, vielmehr als eine gothic novel-Architektur oder Landschaft. Darum sollten wir auch in einer geschichtswissenschaftlichen Betrachtung den transsektionalen Blick auf die Spielräume und Transgressionen solcher Körper schärfen. Zudem ist – jenseits der Geschlechtergrenzen – das Feld der Differenzkategorien ein anderes als das gegenwärtige, weswegen die Kategorien der Intersektionalität class, race und gender hier auch nur bedingt oder adaptiert angewandt werden können.²⁵ Jedenfalls deutet alles darauf hin, dass Hall ein umfassendes und unterstützendes Netzwerk in Downtown New York aufgebaut hatte, das aus Ärzten, Lokalpolitikern und Kleingewerbebetreibenden bestand, und er in seiner Freizeit nur mit Frauen verkehrte: His aversion to the society of men was well known. Not unless business or politics demanded, did he have anything to say to men. No man was employed in his bureau. His customers were all women. His companions in his drinking haunts were women.²⁶
Das würde die Geschichte auf den ersten Blick interessant für eine intersektionale Analyse machen; hier spielen mindestens zwei Kategorien eine entscheidende Rolle. Er wendet sich gegen eine Unterdrückung von Frauen und verbindet dies mit dem Aufbau eines emanzipatorischen Netzwerks. Was in dieser Analyse aber vermutlich wenig zum Vorschein kommen würde, wären Halls durch die Quellen scheinenden Körperpraktiken, die in einem spezifischen historischen Zeitraum stattfanden, in dem anders gesättigte Diskursformationen wirkmächtig waren. Halls Arzt habe ihn bis zu seinem Tod „als Mann“ betreut, gab als Todesursache Brustkrebs an und übergab den Toten an einen ihm bekannten Gerichtsmediziner, der allerdings gar nicht für ihn zuständig war. Im New York World-Artikel wird insinuiert, dass der Hausarzt nach Halls Tod und der ‚Entdeckung‘ seines ‚wahren Geschlechts‘ das Einschalten der Presse vermeiden wolle, gleichzeitig aber den offiziellen Weg gehen musste und die Behörden informierte. Letztlich riss der lokal zuständige Gerichtsmediziner den Fall an sich. Das Leben Murray Halls wurde komplett neu geschrieben. Die Zeitungen berichten nun ausführlich über
Vgl. dazu Mommertz, Monika. Theoriepotentiale ‚ferner Vergangenheiten‘: Geschlecht als Markierung/Ressource/Tracer, L’Homme, Z.f.G., 26, 1 (2015), 79 – 97. N.N. Known as a man for sixty years, 3.
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Halls Leben, interviewen seine Verwandten und druckten Auszüge aus den gerichtlichen Befragungen mit seiner Tochter. Von den Zeitungen in den USA zieht sich die Spur der Berichterstattung bis nach Großbritannien, wo unter anderem der Weekly Scotsman einen Artikel über Hall veröffentlicht. Durch diesen Artikel wird auch der Sexualwissenschaftler Havelock Ellis auf Hall aufmerksam und nimmt den Fall in sein Buch Studies in the Psychology of Sex: Sexual Inversion auf, welches 1901 zum ersten Mal erscheint. Ellis schreibt hier, dass Halls wirklicher Name Mary Anderson und sie aus Schottland in die USA eingewandert sei.²⁷ Die letzten 30 Jahre vor ihrem Tod habe sie in New York City als Mann gelebt. Hall wird post mortem zwangsgeoutet, so hat es den Anschein. Ist das nun die Signatur von heterotopischen Räumen im oben beschriebenen Sinne? Ist es ein im Sinne Foucaults verwirklichter utopischer Raum, den wir hier sehen? Foucault unterscheidet in seinem raumtheoretischen Abriss „Von anderen Räumen“ zwischen inneren und äußeren Räumen. Der Raum, der für das heutige Denken grundlegend ist, sei demnach der Raum der unmittelbaren Wahrnehmungen und der Träumereien.²⁸ Dieses wäre in Foucaults Lesart der innere Raum, den er in Abgrenzung zu den äußeren Räumen versteht. Die Menge von Relationen zwischen den inneren und äußeren Räumen wiederum realisieren Orte, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen und die einander nicht überlagern können. Die Orte, die ihn wiederum interessieren, sind die, denen bestimmte Eigenschaften zukommen, also die in Verbindung mit allen anderen Orten stehen, „so dass sich alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen gespiegelt und über sie der Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren.“²⁹ Es sind so ferner die Utopien – die Orte ohne realen Ort – von den Heterotopien zu unterscheiden, den zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörenden Orten, die gleichsam Gegenorte darstellen, also tatsächlich verwirklichten Utopien.³⁰ Auch diesen schreibt Foucault innere und äußere Räumlichkeit zu und generiert dadurch eine Binarisierung, wie sie sich auch in den Wortpaaren und Gegenüberstellungen von Leib und Seele, Innen und Außen, Subjekt und Objekt und eben auch von Mann und Frau wiederfinden lassen. In der transsektionalen Analyse fallen innere und äußere Räumlichkeit zusammen und lassen sich nicht trennen. Halls affirmierende Art und Weise heteronormative Männlichkeit zu praktizieren, produzierte gleichzeitig ein minoritä Havelock Ellis. Studies in the Psychology of Sex: Sexual Inversion. Philadelphia: F.A. Davis Company, 1915 [1901], 246– 7. Foucault, Von anderen Räumen, 319. Foucault, Von anderen Räumen, 320. Foucault, Von anderen Räumen, 320.
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res Potential Netzwerke im Untergrund zu gründen, die im nahen Familienkontext vermutlich eine trans-lesbische Partnerschaft sicherte. Hall war zweimal mit einer Frau verheiratet und hinterließ eine Frau und eine Tochter. Die Heterotopien erschaffen also nicht Körper an sich, sondern Körper und Körperpraktiken lassen Heterotopien überhaupt erst entstehen, durch die sich innere und äußere Räumlichkeit verschränken. Es gibt weder konkrete Orte noch Utopien oder gar Heterotopien, ohne die sich in diesen bewegenden Körper und durch Menschen betriebene soziale Gefüge. Diesen Bewegungen und Regungen kann geschichtswissenschaftlich nur nachgespürt werden, wenn wir den beschriebenen Körperpraktiken folgen und diese raumzeitlich kontextualisieren. Die intersektionale Analyse kann Körperpraktiken mitanalysieren, wenn Körper, Körperpraktiken und Körperlichkeit als die verdichtete materielle Voraussetzung von Subjektivität verstanden werden, wenn der Körper – nach Elisabeth Grosz – als Ort und Raum der Einschreibung bestimmter Modi von Subjektivität begriffen wird.³¹ Diesen Einschreibungen kann nur mit einer widerständigen und zumeist gefahrvollen und aufwendigen Praxis entgegengetreten werden, wie wir bislang schon den Ausschnitten aus den Artikeln über Murray Halls vermeintlich betrügerisches Leben entnehmen konnten. Wenn wir aber nicht in Sektionen und verdichteten Identitäten verharren wollen, sondern wenn Körper und Subjektivitäten sich vervielfältigende, grenzüberschreitende Bewegungen vollziehen, dann kann Halls Körper nur als eine verwirklichte Utopie verstanden werden, die transsektional verfasst ist und agiert. Wir sehen dann in dem Netzwerk, in dessen heteronormativer Gegenwart und gleichzeitig weit vorauseilender Fluchtlinie eine eigene Heterotopie.
3 Organlose Körper im glatten Zwischenraum Im Anschluss an Foucaults Konzeption der heterotopischen Verteilung der Dinge im Raum haben Gilles Deleuze und Félix Guattari Überlegungen zu glatten und gekerbten Räumen angestellt.³² Überträgt man das Beispiel Murray Halls auf diese Begriffe, so könnte sein Netzwerk den heteronormativen Raum seiner Zeit geglättet haben. Im Gegensatz zum glatten Raum, in dem Materialität und Körper in den Stoffen aufzugehen scheinen, korrespondiert der gekerbte Raum mit einem organisierten und klar abgrenzbaren Körper. Im gekerbten Raum werden orga Elizabeth Grosz, Bodies-Cities. In Sexuality & Space, Beatriz Colomina (hg.). New York: Princeton Architectural Press, 1992, 241– 254, 241. Deleuze und Guattari beschreiben im letzten Kapitel von Tausend Plateaus (1992) jene beiden Raumfigurationen des gekerbten und des glatten Raumes – vgl. 657– 693.
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nisierte und definierte Körper innerhalb definierter und organisierter Raumstrukturen reproduziert. Die moderne Geschlechterdifferenz ist ein Muster hierfür. Der glatte Raum korrespondiert dagegen mit einem unorganisierten, mit einem unbestimmten, bei Deleuze und Guattari einem organlosen Körper. Kann Halls Körper nun als so ein organloser Körper gelesen werden, bevor jener oben erwähnte Gerichtsmediziner die Deutungshoheit erlangte? Halls Körper bewegte sich jedenfalls durch den heteronormativen und patriarchalen Raum, konnte nicht festgelegt oder festgesetzt werden. Und in einer solchen Körperraumbewegung wird ein organloser Körper bei Deleuze und Guattari verteilt, wird in diesem erst mit Intensitäten beschrieben. Nun weisen sie zudem darauf hin, dass beide Raumarten – das Gekerbte wie das Glatte – immer nur in Übergängen bzw. Übergangsstadien ineinander existieren können – also die beiden Raumarten miteinander korrespondieren und in Konkurrenz zueinander stehen. So hatte Hall in glatten, äußerlich unscheinbaren und scheinbar eindeutigen und doch immanent uneindeutigen Verhältnissen gelebt. Erst die nachträgliche Einschreibung in die biologistische Geschlechterrolle „Frau“ soll ihn aus dem glatten in einen gekerbten Raum überführen. Das Beispiel zeigt dementsprechend, dass Gekerbtes wie Glattes und in ihnen ablaufende Prozesse keinesfalls frei von Macht und Gewalt entstehen und verlaufen, auch wenn diese je in unterschiedlichen Bereichen wirken. Deshalb reicht auch an dieser Stelle Intersektionalität als Erklärungsmodell nicht aus.³³ Würde man die Suche nach den Unterdrückungsachsen in dem Fall Murray Halls nun intersektional betreiben, wäre der Blick für die Mehrdimensionalität der Raumbewegung zwischen glattem und gekerbten Raum verstellt. Sowohl Halls Leben im Netzwerk und dem glatten Raum als auch die nachträgliche Kerbung führen in eine transsektionale Sphäre. Hierin ist Hall Teil eines Zwischenraumes, der nicht etwa ‚falsch‘ organisiert ist oder seine Weiblichkeit maskiert oder verschleiert, sondern – bezieht man den historischen Kontext ein – radikal gegengeschlechtlich. Da sich die heterosexistische Zweigeschlechterordnung extrem patriarchal ausrichtete, muss der Zwischenraum gegen dieses System als Gesamtes gerichtet sein. Das liegt an der ausschließenden Textur und der Negation eines Zwischenraumes, deren Spuren sich in den sensationalistischen Berichten in einer Bereinigungsstrategie ausdrücken. Die spätere ‚Bereinigung‘ in den Zeitungsartikeln ist innerhalb der Raumkonzeption von Deleuze und Guattari
Vgl. zu einer ausführlicheren Darstellung von Intersektionalität: Klein, Krämer, Transsektionalität, 105 – 117; sowie: Nina Mackert. Kimberlé Crenshaw: Mapping the Margins (1991). Oder: Die umkämpfte Kreuzung. In race & sex: Eine Geschichte der Neuzeit. 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen, Olaf Stieglitz, Jürgen Martschukat (hg.). Berlin: Neofelis, 2016, 50 – 56.
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eine den Raum wiederum kerbende Bewegung. Der Zwischenraum, den Hall und andere erschaffen hatten, glättete den Raum nach innen. Was bedeutet diese Konzeptionalisierung aber für die Körper innerhalb der Raumstruktur und wie lassen sich die Fluchtlinien des Netzwerks innerhalb des dynamisch-fluiden Körpers, dem dieses Sich-Entziehen zugeschrieben wird, in die Körpertheorie von Deleuze und Guattari einlesen? Der organlose Körper ist ja jener, der zunächst gerade nicht festgelegt ist, sich nicht festlegen lassen will auf männlich/weiblich, hetero-/homosexuell, schwarz/weiß, jung/alt, disabled/ablebodied, Tier/Mensch. Der organlose Körper entzieht sich diesen Kategorien nicht nur, sondern schafft seine eigenen Existenzbedingungen durch die eigene Undefiniertheit – mehr noch: Er schafft sich die eigene Existenz erst durch aktivistische Desorganisation als körperpolitische Dissidenz. Er ist in chaotischen Sedimentschichten gewissermaßen chronoheterotopisch verteilt – lebt im Falle Halls in und durch sein Netzwerk, das gegen die Ordnung gestrickt ist. Doch wirken seine Affizierungen womöglich in die Zukunft und können dadurch Geschichte und Raum als Differenzgeschichte und Raumdifferenz schaffen. Und in ihrer Produktivität verkörpern solche Körper das Interesse, dass sie als offen bzw. durchlässig zu begreifen und nur in ihren affektiven Bewegungskulturen zu verstehen sind. Sie sind nur zu erkennen, wenn man ihren transsektionalen Bewegungen in die Zwischenräume hinein folgt. Dabei ermöglicht es eine solche Verortung des organlosen Körpers, ein Schlaglicht auf geschlechtliche Organisation von Körpern zu werfen. Denn da auch vergeschlechtlichte Körper in Repräsentationsräumen des Sozialen entstehen und existieren, zeigen sich Raum und Geschlecht (auch) im organlosen Körper aufeinander bezogen, ohne dass die Annahme einer Vorgängigkeit des einen die Dynamik des anderen verdecken kann. Daher kann die Geschichte Murray Halls nicht als Maskerade gelesen werden, sondern als eine Transformation im Sinne des organlosen Körpers. Die tragische Wendung – seine nachgelagerte Einkerbung – erlebt die Geschichte im Moment der Obduktion durch den Gerichtsmediziner, der Feststellung eines weiblichen Geschlechts und der Veröffentlichung in den Zeitungen. Das beraubt nicht nur Murray Hall, sondern alle Mitglieder seines Netzwerkes der Intensitäten, die ihre Körper zuvor belebten, mit denen sie affektiv um die Desorganisation und ihre Existenz streiten konnten. Dies geschieht durch die Organisation des (Geschlechts‐)Körpers im Repräsentationsregime; hier durch die mediale – in Zeitungsberichten festgehaltene – Vermessung und Verortung: Murray Hall, age sixty, white, with a residence at 145 Sixth avenue […] he came to New York thirty years ago and opened an employment bureau at Sixth avenue and Twenty-third street
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[…] business was prosperous […] Just four feet seven inches high, with delicate hands and very small feet […| weighed just about 100 pounds.³⁴
Diese Vermessungen und Verortungen sind wie das Wiederzurückführen des organlosen Körpers in den gekerbten Raum. Es gibt keine Empathie für den Tod eines Menschen, es wird nicht weiter auf die Brustkrebsdiagnose eingegangen, die womöglich ein erstes Anzeichen für die Geschlechtersegregation darstellt.³⁵ Mit dem antizipierten Ergebnis der Obduktion des Leichenbeschauers beginnt der Artikel in der New York World vom 18. Januar 1901: „Coroner Zucca will hold an inquest to-day (sic) on the body of Murray Hall and will then decide officially as to the sex of the deceased.“³⁶ Das Ergebnis der Untersuchung – wie schon in der Überschrift des Artikels zu lesen – ist vorab bekannt, Murray Hall stirbt für den Großteil der Nachwelt als Frau. Die Artikel in den Zeitungen förderten in den kommenden Monaten weitere Stimmen und Stimmungen zu Tage, die durchweg sensationalistisch im Ton die Versuche zeigen, die Verwirrung der ins Wanken geratenen heteronormativen Raumkörperperformanz wieder zu bereinigen. Ein sprechendes Beispiel für die politische Dimension ist in der New York Times vom 7. März 1901 nachzulesen. Hier wird berichtet, wie das Wahlrecht in New York State – aufgrund des Falls Murray Halls – neu ausgerichtet werden musste. Die sogenannte Malby Bill, benannt nach Senator William Malby Nelson, ging im März durch den New Yorker Senat, um – so steht es im Zeitungsartikel – „Crimes against the elective franchise“ also „Verbrechen gegen das Wahlrecht“ zu verhindern. Der politische Gegner Senator Donnelly hingegen bezichtigte Nelson im selben New York Times Artikel der willkürlichen Spionage über das New Yorker Wahlsystem, um sich selbst so noch mehr Macht zu übertragen.³⁷ Nelson entgegnet Donnelly, dass es einen guten Grund gebe, Verbrechen gegen das Wahlrecht rechtlich ahnden zu können: „[W]e want to stop violations if we can, including instances like those of Murray Hall.“³⁸ Murray Hall als Beispiel
N.N. Known as a man for sixty years, 3. In den USA wurden durch Willam Stewart Halsted seit 1882 die ersten Mastektomien vorgenommen. William Stewart Halsted. The results of operations for the cure of cancer of the breast performed at the Johns Hopkins Hospital from June, 1889 to January 1894. In Annals of Surgery 20 (1894), 497. N.N. Known as a man for sixty years, 3. N.N. Crimes Under Election Law New York Times 8. März 1901, 3: „You remove District Attorneys for not answering telegrams.You appoint hundreds of special detectives.You put the third degree on people in order to make them confess to things that they know nothing of, but you are not successful in obtaining a sufficient number of convictions. So your want to confer more power, said Senator Donnelly.“ N.N. Crimes Under Election Law, 3.
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anzuführen für die Notwendigkeit der besseren Überwachung des Wahlrechts im Staate New York ist eng verbunden mit den durch die Geschlechtersegregation hervorgerufenen Ängsten und Affektökonomien. Die Zielrichtung dieser Logik war eindeutig: Frauen gehörten nicht in politische Ämter! Dass es diese Ängste am Rande der Heterotopie, zwischen glatten und gekerbten Räumen und vor dem Zwischenraum gab, die sich an Frau-Sein und Weiblichkeit hefteten, wird deutlich, wenn wir die Aussagen im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen in Deutschland zu Murray Hall vergleichend heranziehen: Hall verkehrte viel in Gasthäusern und Kneipen, sass (sic) aber meist mit Frauen oder Mädchen zusammen. In politischen Versammlungen war Hall als kluger, sachkundiger und besonnener Redner geachtet und lieferte somit den Kämpferinnen für Frauenrechte starke Beweise für ihre Bestrebungen.³⁹
Es ist eine transphobe und misogyne Grundierung, die diese politische Sorge untermalt. Aber dennoch ist an der Stelle auf das Potential zu verweisen, das in einem doppelten Verständnis von Performativität liegt. Dieses beginnt nicht bei individuellen oder empirisch erfassbaren Zusammenhängen, sondern bei Körpern und Praktiken und den Geschichten an ihren identitären Übergängen, Uneindeutigkeiten und inneren Spaltungen. Entsprechend ist die Möglichkeit der zeiträumlichen Verschiebung mitzudenken. Murray Halls Leben war Teil jener performativen Verschiebung, die nur über die Bevölkerung und Belebung des Zwischenraumes zu verwirklichen war – als realisierte Utopie, wie wir es oben bereits benannt haben. Da es im transsektionalen Zwischenraum keine Gruppen gibt, die nicht längst verschoben, durchquert oder überschritten wären, sondern nur Körper, rücken ein- oder zweideutigen Identitäten aus dem Blickfeld. Dies öffnet den Blick für mögliche Überschreitungen von Zugehörigkeiten. Im nächsten Schritt wurde die Geschichte Halls und seines Netzwerkes aber schon wieder gekerbt, was wiederum ein wirkmächtiger performativer Moment war, innerhalb dessen die Zweigeschlechternorm über den organlosen Körper triumphiert. Wie Deleuze und Guattari an anderer Stelle beschreiben, lässt sich auch die epistemische Gewalt an Murray Halls Körper in seiner Vergeschlechtlichung als Frau fassen: „Der oK heult: Man hat mir einen Organismus gemacht! Man hat mich zu Unrecht gefaltet! Man hat mir meinen Körper gestohlen! Das Gottesgericht reißt ihn aus seiner Immanenz heraus und macht ihm einen Organismus, eine Signifikation, ein Subjekt.“⁴⁰
Magnus Hirschfeld, Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Berücksichtigung der Homosexualität. Leipzig: Max Spohr Verlag, 1901, 583. Deleuze, Kapitalismus und Schizophrenie, 218.
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Dennoch beinhaltet auch dieses – auf den ersten Blick schließende Moment – jene Offenheit des Rahmens, den Judith Butler jeder Performativität zuschreibt.⁴¹ Durch die Sensationaliserung in den Medien wurde auch die Möglichkeit des glättenden Zwischenraumes publik. Das mag angesichts der Gewalt der Vereindeutigung zunächst eine optimistische Lesart sein. Dennoch zeigt sich hier, dass die prinzipielle Historizität und Performativität vor allem über Transsektionalität erkennbar wird – und eben nicht allein in der Beschreibung von Mehrfachunterdrückung, wie sie durch das Konzept der Intersektionalität richtig hervorgehoben wird. Dass auch die gewaltvollste Vereindeutigung der Zeitgenossen nicht auf die Familienökonomie Halls durchschlagen konnte, soll hier ein vorerst letzter Blick auf die Geschichte zeigen. Murray Hall war laut des Autors der New York World bis 1898 – dem Zeitpunkt des Todes seiner Frau – verheiratet. Sie lebten und arbeiteten beide in Lower Manhattan und seine Ehefrau, deren Name im Artikel nicht genannt wird, „was known as the head of the family“.⁴² Hall führte zuletzt ein Beschäftigungsbüro und war oft als Kautionsvermittler im Jefferson Market Polizeigericht tätig. Das Beschäftigungsbüro, das Polizeigericht, das Standesamt, der Iroquois Club – Treffpunkt und Netzwerk der Demokraten in New York – all diese Orte setzten einen männlichen Körper voraus. Von Halls Frau erfahren wir außer ihrem Todestag und ihrer Funktion innerhalb der Familie nicht viel. Dennoch wird sie im Zeitungsartikel ebenfalls körperlich vermessen und beschrieben als: „handsome woman six feet high and nearly twice his own [Murray Halls] weight“. – Sie hatte zu den genannten Einrichtungen keinen Zugang, nicht in den Funktionen, in denen Hall dort auftrat. Sie beide adoptierten ein Mädchen, welches bei Halls Tod 22 Jahre alt war und somit zur einzigen Erbin wurde. Heiratsund Verwandtschaftsverbindungen waren um 1900 in New York City allgegenwärtige institutionelle Netzwerke, um den binären geschlechtersegregierten Kontext für Erziehung und die familiäre Weitergabe von Vermögen und Wohlstand zu gewährleisten. Hall konnte dieser damit verbundenen epistemischen Gewalt ein Netzwerk entgegensetzen, geschaffen durch die Adaption und das Umcodieren von binären geschlechtlichen Raumkörperpraktiken. Das zeigt sich in den Reaktionen der Institutionen nach seinem Tod. So wird die Frage um das Erbe zu einem der zentralen Punkte, welcher in der Presse der USA in den folgenden Monaten diskutiert wird. Dies zeigt zugleich aber auch den Einsatz, den Hall bis zuletzt – bis kurz vor seinem Tod – aufzubringen hatte, um dieser Zweigeschlechternorm einen Zwischenraum entgegenzusetzen. Sein Testament setzte er in der Gegenwart von zwei Frauen namens Louisa Perkins und Esther
Judith Butler, Frames of War: When Is Life Grievable? London, New York: Verso, 2009. N.N. Known as a man for sixty years, 3.
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O’Donnell am 8. April 1900 auf. Er vermachte sein Erbe seiner Tochter Imelda A. Hall.⁴³ Er versuchte, sein Netzwerk durch diese Vererbung auf die Zeit nach seinem Tod auszuweiten, den existenziellen Zwischenraum zu verstetigen, was durch das New York State Nachlassgericht nicht verhindert werden konnte. Das Erbe wurde laut den Tageszeitungsberichten ausgezahlt.⁴⁴ Im Formular zum Antritt des Erbes war der Nachlassverwalter und Richter Thomas Moran zuerst unschlüssig, welches Geschlecht Hall im Dokument zugeordnet werden soll. Er entschied sich für die weibliche Form, obwohl das Testament von Murray Hall verfasst worden war.⁴⁵ Die Adoption hingegen wurde für ungültig erklärt.⁴⁶ Allerdings bekam Imelda Hall Grundbesitz im Wert von 100 Dollar und bewegliches Vermögen in Höhe von 125 Dollar zugesprochen.⁴⁷
4 Schluss Der Blick auf das Passieren der Grenzen eröffnet eine neue Perspektive der Geschlechter-, Körper- und Raumgeschichte und ermöglicht es, Quellen zwischen den Zeilen zu lesen. So kann transsektionales Verfolgen die Spuren der Bewegungen freilegen, die einen Zwischenraum der Macht erkennbar werden lassen. Darüber werden gewaltvolle Zurichtungen patriarchaler Strukturen ebenso wie Möglichkeiten des Durchquerens erkennbar, die in einer auf Intersektionalität ausgerichteten Geschlechtergeschichte selbst nicht zu erkennen wären. Neben der immer noch – entgegen aller reaktionären Verlautbarungen – starken Unterrepräsentanz der Geschlechter-, Frauen-, Trans- und Lesbengeschichte ist insbesondere die Geschichte des Passings zu wenig fokussiert in der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen, aber auch in der Geschlechtergeschichte im Speziellen. Dies ist durch die Körperpraktik selbst begründet. Die Körper mussten, wollten, sollten sich einer Zuschreibung entziehen, um (anders) leben zu können. Am Beispiel Murray Halls zeigen sich widerständige Raumkörperpraktiken, deren Ziele und Absichten oftmals aus Gründen der Sicherheit und körperlichen Inte-
N.N. Murray Hall, woman, ‘his’ will filed for probate in the New York Court. Arizona Republican 25. März 1901. N.N. Murray Hall, woman., N.N.Will of Murray hall, the Man-woman. Washington Post 19. März 1901. N.N. Murray H. Hall’s will, woman who posed a man leaves a very small estate. New York Times 20. März 1901, 16. N.N. Murray Hall’s will tangle, a puzzling and unique case for the lawyers to wrangle over. The Daily Northwestern 4. Februar 1901. N.N. Murray Hall’s will.
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grität im Verborgenen blieben. Historische lesbische Gemeinschaften, Transgeschichten und Solidaritäten sind am detailliertesten ausgearbeitet, wenn sie in Bar-Szenen und sozialen Bewegungen auftauchen. Beides sind Felder, über die eher Quellenmaterial existiert, existieren kann – als Quellen, die mit Raumkörperpraktiken zu tun haben, die im Geheimen Widerstand leisten, wie dies bei Murray Hall der Fall war. Transsektionalität verschiebt die Blickrichtung auf die Grenze – sowohl auf die Überschreitung als auch auf die Vermachtung ihrer Stabilisierung. Denn die Journalist*innen verweisen in ihren Berichten zur angeblichen Maskerade und ins Wanken geratenen Fixierung auf das patriarchale Zweigeschlechtersystem als Norm und auf Expert*innen aus den Rechts- und Medizinwissenschaften. Und jenes Dispositiv macht die Unsicherheit um Halls Körper postum zu der Spur des Zwischenraums, den wir in diesem Beitrag anhand der verfügbaren Textquellen ausgeleuchtet haben. – Es ist die Spur eines performativen Zwischenraums, welcher, das deutet der Begriff des Patriachats an, auch noch einer komplexen und kritischen Betrachtung von Männlichkeit bedarf. Dies wäre eine andere Geschichte – die Geschichte der hegemonialen Männlichkeit, wie sie anderen Orts betrieben wurde. Dem Ansatz der Transsektionalität ist es eigen, die Geschichten an verschiedenen Fluchtlinien zu verfolgen, hier mit dem Fokus auf die Raumkörperpraktiken. Im Sinne einer politischen Geschlechtergeschichte gibt es gute Gründe, die von uns gewählte Perspektive für eine Analyse der queeren Trans-Geschichte einzunehmen. So ließen sich zusätzlich zu der genannten hegemonialen Männlichkeitsgeschichte noch die Geschichte von Affektökonomien in Bezug auf Murray Hall und weitere Passing-Geschichten ausbuchstabieren. Insbesondere wäre eine weitere Fluchtlinie des transsektionalen Verfolgens, zu untersuchen, wie Geschlechterrollen in dem politischen System der USA am Ende des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts verwoben mit einem imperialistischen weißsuprematistischen kapitalistischen Patriachat – worin eben hegemoniale Männlichkeit der hauptsächliche Beanspruchungsort ist – umkämpft und dabei immer gleichzeitig auch als krisenhaft in Szene gesetzt wurden. Dennoch, die Gegenorte und Zwischenräume entstanden auch in diesen temporären Zuständen immer wieder. Sie sind oft aufgrund ihrer eigenen Wirkmächtigkeit nicht leicht zu erkennen. Die hegemonialen Praktiken waren aber ebenfalls, das ist mitzudenken, so gut verschleiert, dass sie in den Körpern affiziert werden konnten und als vermeintliche Natürlichkeit verstanden und erlebt wurden. Diesen Geschichten ist Transsektionalität entlang der unzähligen und disparaten Fluchtlinien weiter auf der Spur.
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Sona Lisa Arasteh-Roodsary
Der flexible Raum. Zum topologischen Raumbegriff nationalistischer Kulturkritik am Beispiel von Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher The Flexible Space. On Topological Notions of Cultural Space in Julius Langbehn’s Rembrandt als Erzieher: In the late 19th century, works of cultural criticism often bear the mark of nationalistic ideology. Most of these populist texts struggle to make a coherent argument. Their difficulty in maintaining a coherent argumentative structure connects to a dilemma that is based on their concept of culture itself: Nationalistic ideology conceives of ‘culture’ primarily as a transcendent hierarchical structure while also believing ‘culture’ to be mostly consistent with a specific topographic space. Taking Julius Langbehn’s Rembrandt als Erzieher as an example of nationalistic cultural criticism, this article sketches the interdependence of culture, its spatial configuration and the argumentative structure of the text in three steps. Firstly, the article argues that Langbehn’s nationalistic concepts of culture are flexible to the point of being topological models because they are more inclined to represent and establish power relations than cartographic cultural realms. Secondly, they still relate to topographic relations that notoriously differ from their conceptual counterpart. In arguing for this inconsistent model of culture, this discrepancy leads to semantic erosion: notions of ethnicity, nationality and culture are continuously and exhaustingly being redefined without any consistency. Thirdly, thus lacking a semantic ‘common ground’, Langbehn’s text offers a seemingly repetitive structure that reveals itself to be necessary in order to reconstruct the meaning of each of these precarious semantics. The inconsistency resulting from a logically problematic model of culture therefore manifests not only as the erratic and volatile way Langbehn argues but also as an evident topological structure.
1 Verortungsprobleme Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert werden im deutschsprachigen Raum gehäuft weltanschauliche Texte publiziert, die unter dem Vorzeichen nationalistischer Ideologeme die Kultur der Moderne anprangern. Zu diesem Korpus gehören unter anderem die Polemiken Paul de Lagardes und Houston https://doi.org/10.1515/9783110758306-012
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Stewart Chamberlains Erfolgswerk Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. Solche Werke sind Teil eines antimodernen Diskurses, der den „osmotischen Reflexionsmodus“¹ Kulturkritik zum Indikator für „veränderte mentale Lagen und politische Konstellationen“ macht.² Derart verstanden als Modus der reflexiven Schau ermöglicht Kulturkritik schließlich Kritikbefunde zu artikulieren, die die Gesamtheit der Kultur betreffen; im Namen der Kulturkritik können also alarmistische Verfalls- und Dekadenzdiagnosen getroffen werden:³ Das deutsche Volk ist in seiner jetzigen Bildung überreif; aber im Grunde ist diese Ueberreife nur eine Unreife; denn der Bildung gegenüber ist die Barbarei stets unreif […]. Ueberkultur ist thatsächlich noch roher, als Unkultur.⁴
Diese und vergleichbare Diagnosen durchziehen die nationalistische Kulturkritik Rembrandt als Erzieher. Die Kampfschrift Julius Langbehns gehört zu den wirkungsmächtigsten Kulturkritiken des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der enorme Erfolg des Werkes, das 1890 zunächst anonym erscheint und bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts die 76. Auflage erreicht⁵, mutet aus heutiger Perspektive bizarr an: Die Argumentation Langbehns erscheint derart assoziativ, diffus, sprunghaft und widersprüchlich, dass dem dadurch entstehenden Kohärenzdefizit bei der Lektüre kaum beizukommen ist. Dennoch, das Kulturpamphlet Langbehns avanciert zu einer der einflussreichsten reaktionären Kulturkritiken Georg Bollenbeck. Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München: Beck, 2007, 112. Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, 200. Vgl. Theo Jung. Zeichen des Verfalls. Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, 22. Julius Langbehn. Rembrandt als Erzieher. 45. Auflage. Leipzig: C. L. Hirschfeld, 1900 [1890], 3. Die im Folgenden zitierten Stellen sind textidentisch mit den früheren Ausgaben des Werks, unterscheiden sich aber durch die im Verlaufe der Editionsgeschichte hinzugefügten Kapitel in den Seitenangaben. Laut Berndt Berendt existieren insgesamt drei unterschiedliche Fassungen des Buches. Ab der zweiten Auflage des Werks prägte die Modernekritik Langbehns ein offener Antisemitismus, der die jüdische Glaubensgemeinschaft recht umstandslos mit der Moderne identifizierte und diffamierte. Allein im Jahr nach seiner (anonymen) Erstveröffentlichung erreichte das Werk Langbehns seine 39. Auflage. Bis 1937 erreichte es die 76. Auflage. Innerhalb der ersten drei Jahre wurden etwa 60.000 Exemplare verkauft. Hilfreich für diesen Verkaufserfolg waren neben einem anonymisierten Selbstlob, das marketingstrategisch eingesetzt wurde, auch der geringe Preis von zwei Mark.Vgl. Berndt Berendt. Zwischen Paradox und Paralogismus. Weltanschauliche Grundzüge einer Kulturkritik in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts am Beispiel August Julius Langbehn. Frankfurt a. M. et al: Peter Lang, 1984. Vgl. weiterführend Johannes Heinßen. Historismus und Kulturkritik. Studien zu deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003, 124.
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des deutschsprachigen Raums. Die Anklage, die Langbehn gegen den „rapiden Verfall“ des „geistigen Leben[s] des deutschen Volkes“⁶ richtet, schließt sich an eine Reihe konservativer Kulturkritiken an, deren Kulturdefinition nationalistisch, biologistisch und zumeist antisemitisch geprägt sind. Die Schriften von Langbehns Zeitgenossen Paul de Lagarde und Houston Chamberlain sind weitgehend ähnlich beschaffen. De Lagarde, der bei der Erstpublikation von Langbehns Werk im Verdacht steht, dieses verfasst zu haben, beklagt emphatisch den „Verfall Deutschland[s]“⁷; Chamberlain legt mit dem Buch Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, das 1899 erscheint, eine nationalistische Geschichtsphilosophie vor, die den Beginn der Zivilisation im Aufstieg der Germanen erblicken will.⁸ Pointiert lässt sich also zusammenfassen: Rembrandt als Erzieher ist das Kind einer Zeit, in der reaktionäre Kulturkritik Konjunktur hat. Ihre Fortsetzung finden die populistisch verflachten Kulturkritiken eines Langbehn, de Lagarde oder Chamberlain folgerichtig zunächst in der völkischen Bewegung des beginnenden 20. Jahrhunderts, die sich ideengeschichtlich wiederum im Nationalsozialismus fortsetzt.⁹ Implizit steht Langbehn mit seiner inkonsistent argumentierten Kulturkritik im Zeichen einer Entwicklung des 19. Jahrhunderts, die den Modus der Kulturkritik¹⁰ unter dem Vorzeichen weltanschaulicher Positionierungen instrumentalisiert¹¹ und Kulturkritik komplexitätsreduzierend auf ihre widersprüchliche Grundstruktur zurückwirft: Kulturkritik artikuliert immer Kritik an der eigenen Kultur aus dieser Kultur heraus und generiert damit notwendigerweise eine Va-
Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 1. Paul de Lagarde. Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik. Ein Vortrag gehalten im November 1853. In Deutsche Schriften. Gesammtausgabe letzter Hand von Paul de Lagarde. 5. Auflage. Göttingen: Becker & Eidner, 1920 [1878], 18 – 39, hier 19. Vgl. Houston Stewart Chamberlain. Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. Erste Hälfte. 23. Auflage. München: Bruckmann, 1938 [1899]. Chamberlain spricht bereits im Einleitungskapitel unter dem Unterkapitel „Angelpunkt“ von der „welthistorischen Bestimmung“ (6) der Germanen. Vgl. Anja Lobenstein-Reichmann. Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“. Diskursive Tradition und begriffliche Fäden eines nicht ungefährlichen Buches. In: Identitätsentwürfe in der Kunstkommunikation. Studien zur Praxis der sprachlichen und multimodalen Position im Interaktionsraum „Kunst“ hg. von Marcus Müller, Sandra Kluwe. Berlin: De Gruyter, 2012, 295 – 318. Vgl. dazu Georg Bollenbeck. Kulturkritik: ein unterschätzter Reflexionsmodus der Moderne. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 137 (2005), 41– 53 sowie ausführlicher Georg Bollenbeck. Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders. München: Beck, 2007. Vgl. zu der weltanschaulichen Dimension der Kulturkritik Langbehns: Anna Brasch. Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der ›Kolonie‹ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2017; vgl. zu Langbehn insbesondere, 57– 59.
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riante des Beobachterparadoxons. Schließlich ist sie konzeptuell selbst dem kritisierten Gegenstandsbereich der Kultur zugehörig.¹² Gerade für Kulturkritiken, die aus einem reaktionären, nationalistischen Kulturverständnis entstehen, bedeutet das eine doppelte Prekarisierung. Nicht nur sind sie als Kritik implizit gegen sich selbst gerichtet; auch ist die Popularität radikalnationalistischer Deutungsmuster von ihrer analytischen Unschärfe abhängig.¹³ In Bezug auf die räumliche Konzeptionen nationalistischer Kulturkritiken ist bemerkenswert, dass diese populistischen Kulturkritiken zwar Bezug auf biogeographische und geopolitische Theoriebildungen nehmen, die sich im 19. Jahrhundert zunehmend etablieren¹⁴, aber ihr Konzept des ,Kulturraums‘ immer seltsam inkonsistent anmutet. Bei ihrer räumlichen Umsetzung laborieren nationalistische Kulturkonzepte primär daran, eine Kulturhierarchie zu entwerfen. Ihr Raumbegriff impliziert potenziell einen Expansionsgedanken¹⁵, der sich auch in kolonialen Ansprüchen, wie sie beispielsweise de Lagarde explizit und Langbehn implizit artikulieren, zeigt. Hierarchien allerdings sind relationale Konstrukte, die sich nicht ohne Weiteres auf kartographische Anordnungen übertragen lassen. Aus diesem Missverhältnis ergibt sich die im Folgenden behandelte Frage, wie die derart notwendige Flexibilität des ,Kulturraums‘ argumentativ gewährleistet wird.¹⁶ Dass in der Tat nationalistische Kulturbegriffe ,Verortungsprobleme‘ mit sich bringen, lässt sich auch an den Werken der Heimatkunstliteratur anschaulich machen, die unter dem Einfluss von Langbehns Rembrandt als Erzieher stehen. Das Werk Langbehns hat seine wohl größte Rezeptionswirkung – außerhalb seiner immer noch andauernden Verwendung in rechtsextremen Kreisen – in der Literatur der Heimatkunstbewegung gefunden. Unberührt von der Widersprüchlichkeit seiner Ausführungen behauptet sich Rembrandt als Erzieher hier als Stichwortgeber einer künstlerischen Bewegung, die ländlich idyllisierte Heimatvorstellungen als Ideal und Gegenbild zur Großstadtliteratur etabliert. Der bekannteste Vertreter in diese Kategorie fallender Bauernromane, der Pastor Gustav
Vgl. Ralph Konersmann. Kulturkritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008, 25. Vgl. erweiternd Jung, Zeichen des Verfalls, 22– 27. Vgl. Peter Walkenhorst. Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im deutschen Kaiserreich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2007, 83. Vgl. Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, 48 – 59. Vgl. Werner Köster. Die Rede über den ,Raum‘. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts. Heidelberg: Synchron, 2002. Der vorliegende Beitrag ist im Zuge der Arbeit an meinem laufenden Promotionsprojekt zu literarischer Kulturkritik zwischen 1890 – 1910 an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster entstanden.
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Frenssen, veröffentlicht 1905 einen Roman namens Hilligenlei, in der die Jesusgeschichte kurzerhand in das norddeutsche Heideland verlegt wird, um die Utopie des ,Heiligen Landes‘ (= Hilligenlei) zu legitimieren. An die Grundproblematik dieser „Verortung der Kultur“ schließen sich also vier Probleme an: (1.) Der Kulturbegriff (populistischer) Kulturkritik ist doppelt gefährdet. Zunächst ist Kulturkritik per definitionem auch gegen sich selbst gerichtet – sie ist schließlich Produkt der kritisierten Kultur. (2.) Weitergehend krankt der nationalistische Kulturbegriff daran, dass er bemüht ist, hierarchische, also relationale Kulturordnungen in eine kartographische Anordnung zu übertragen. Diese Schwierigkeit führt (3.) zu der Notwendigkeit, einen Kulturbegriff von hoher inhaltlicher Flexibilität zu formulieren, der unterschiedlichste geschichtsphilosophische Legitimierungen genauso zulässt, wie er auch ein expansives Anspruchsdenken unterstützt. Zuletzt folgt (4.) aus einem nationalistischen Kulturbegriff eine aufgrund dieser logischen Hemmnisse erschwerte Argumentation. Begründet ist dies durch die notwendige Flexibilität des Kulturbegriffes: Wenn ,Kultur‘ simultan ein kartographisches (Staats‐)Gebiet, eine historische Legitimation für Nationenbildung und ein expansives Anspruchsdenken in sich vereinen soll, dann ergeben sich semantische Inkonsistenzen und Leerstellen, die die Kohärenz der Argumentations(struktur) gefährden. Derlei ,Verortungsprobleme‘ sind deswegen, so meine Leitthese, letztlich auch argumentative Hindernisse. Um dieses Verhältnis von ,Kulturraum‘ und Argumentationsstruktur näher zu betrachten, ist Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher ein geeignetes Beispiel – gerade weil die Schrift keine innovative Kulturkritik darstellt, sondern die konventionellen kulturkritischen Topoi der reaktionären Flügel des Wilhelminischen Kaiserreichs versammelt. Im Folgenden will ich zunächst illustrieren, welche Raumvorstellung von Kultur mit welchen Mitteln in Rembrandt als Erzieher evoziert wird. Darauf aufbauend werfe ich im zweiten Schritt einen genaueren Blick auf die Konsequenzen, die diese Raum- respektive Kulturkonzeption auf die argumentative Struktur und damit auf die Oberflächenstruktur des Textes hat.
2 (Topologische) Räume der Kultur Die nationalistische Ordnung von ,Kulturräumen‘ hängt in erheblichem Maß von einem etatistischen Kulturverständnis ab. Spätestens seit Johann Gottfried Herder ist im deutschsprachigen Raum ,Kultur‘ mit der Vorstellung einer körperanalogen Kultur, eines Kulturorganismus verbunden, der das kollektive geistige Kondensat einer Nation symbolisiert und verräumlicht. Herder begründet insbesondere in der Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Bei-
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trag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts von 1774 die Vorstellung eines konzeptuellen Zusammenhangs zwischen Nationalität, Sprache und Kultur.¹⁷ Von einem individuellen Attribut, das einzelnen Personen zukommt, wird Kultur so zu einem Distinktivum menschlicher Kollektive und Beschreibungswort für deren Entwicklungszustand. ,Kultur‘ avanciert zu einem Fortschrittsnarrativ, dessen semantische Basis die Auffassung des Begriffes als Kollektivsingular für Nation beziehungsweise Volk bildet.¹⁸ In der Nachfolge Herders wurde der Kulturbegriff so zu einem Raumbegriff (so z. B. in „Kulturraum“, „Kulturkreis“), der bis in die Gegenwart hinein genutzt wird, um nationalistische und kulturimperialistische Raumvorstellungen zu verteidigen und zu legitimieren. Etatistische Kulturvorstellungen gewinnen im 19. Jahrhundert vor allem durch biogeographische und geopolitische Theoriebildungen an Präsenz. In diesem Zusammenhang sind insbesondere der Geograph und Ethnologe Friedrich Ratzel sowie der Ethnologe Leo Frobenius zu nennen. Ratzels Name ist der Nachwelt vor allem für die Einführung des Begriffes ,Lebensraum‘ durch einen gleichnamigen Essay in den Kulturdiskurs bekannt. Das Konzept, das Ratzel von Ernst Haeckel adaptiert, verbindet sozialdarwinistische Deutungs- und Argumentationsmuster mit kulturgeographischen Ordnungen. Daraus folgert Ratzel einerseits, dass eine Abhängigkeit von geographischer Umgebung und Kulturentwicklung besteht. Andererseits forciert diese Transferleistung die Beschreibung von Staaten als Organismen.¹⁹ Der Ethnologe Leo Frobenius steht seinerseits in der Nachfolge von Ratzel, den er unter anderem in seiner Publikation Die Kulturkreislehre von 1897 namentlich nennt.²⁰ Frobenius etabliert in Bezugnahme auf den afrikanischen Kontinent, wie in dem eben genannten Titel bereits alludiert, den bis heute po Wilhelm Perpeet. Kulturphilosophie. Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), 42– 99 hier 43. Perpeets Aufsatz ist eine ausführlichere Fassung des gleichnamigen Artikels im Historischen Wörterbuch der Philosophie. Auf diesen wird darum hier nicht eingegangen. Vgl. außerdem ausführlicher Jörg Fisch. Zivilisation, Kultur. In Geschichtliche Grundbegriffe. Band 7, hg. von von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Stuttgart: Klett-Cotta, 1997, 711. Herders organischer Kulturbegriff, der den Relativismus einzelner ,Kulturkreise‘ beschwört, findet insbesondere in der entstehenden Völkerpsychologie eine dankbare Rezeptionsgemeinde. Vgl. Dietrich Mühlberg. Herders Theorie der Kulturgeschichte in ihrer Bedeutung für die Begründung der Kulturwissenschaft. Zeitschrift für Volkskunde und Kulturgeschichte 27 (1984), 9 – 26. Vgl. Fisch, Zivilisation, Kultur, 711. Zu der Geschichte dieser Analogie vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde. Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper. In Geschichtliche Grundbegriffe. Band 4, hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Stuttgart: Klett-Cotta, 1978, S. 519 – 622. Zum Konzept des Kulturkreises bei Ratzel vgl. Bernhard Streck. Diffusionism and Geopolitical in the Work of Friedrich Ratzel. In On the Centenary of Ratzel’s Politische Geographie. Europe Between Political Geography and Geopolitics, hg. von Marco Antonsich, Vladimir Kolossov, M. Paola Pagnini. Rom: Societa geografica italiana, 2001, 51– 66.
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pulären Ausdruck des ,Kulturkreises‘. Seine recht wahllos definierte Kulturkreislehre verbindet Frobenius mit kulturorganismischen Vorstellungen. „Die Kultur“, erklärt er umstandslos „ist ein Lebewesen“²¹, das verschiedene Lebensalter wie „Geburt, […] Kindes-, […] Greisenalter[…]“²² durchlaufe. Ratzels und Frobenius’ Lehren sind jedoch keine singulären Erscheinungen, sondern anschauliche Exempel eines Kulturdiskurses, der zunehmend geographische, nationalistische und organismische Zusammenhänge unter dem Zeichen eines dezidiert kulturtheoretischen Zugangs miteinander vermengt und als diskursives Wissen verfügbar macht. In der populistischen Kulturkritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts stoßen diese Querverbindungen auf fruchtbaren Boden, weil sie den weltanschaulichen Instrumentalisierungen der Kulturkritik eine pseudowissenschaftliche Legitimität verleihen. Ein zentrales Motiv konservativer Kulturkritik an der Kultur der Moderne stellt das Beklagen einer Entfremdungsoder Fragmentarisierungserfahrung dar. Üblicherweise geht mit dieser Beschwerde die Klage um den Verlust transzendentaler Ordnungsmodelle einher. Die Nation steht als überhöhtes Identitätskonstrukt diesen Entwicklungen als eine Art metaphysischer Fluchtpunkt entgegen, der von diesem neu diskursivierten Wissen genährt wird. Im Hinblick auf die geographische Verortung von (National‐)Kultur in dem hier angeführten Beispieltext Rembrandt als Erzieher sind diese einführenden Ausführungen aus zwei Gründen aufschlussreich. Zum Ersten bemüht Langbehn eine Argumentation, die sich stark um eine Legitimierung durch geokulturelle beziehungsweise geopolitische Plausibilisierungen bemüht. Ein Beispiel dafür stellt die nachstehend zitierte Passage dar, in der Langbehn das Wirken der „niederdeutsche[n] Kolonisation“ beschreibt: In der nordwestdeutschen Tiefebene liegt das Zentrum dieser großartigen Bestrebungen [d. h. die „niederdeutsche Kolonisation“]; von hier aus verbreitet sich niederdeutsche Gesinnung und Gesittung in einem Halbkreise ausstrahlend, über die gemäßigte Zone unserer Erde; der Bezirk ihrer Thätigkeit gleicht einem ausgebreiteten Fächer oder, wenn man will, dem kunstvollen Gewebe einer Spinne. Der engste konzentrische Ring desselben zieht sich von der russischen bis zur holländischen Grenze Deutschlands; und er ist in mancher Hinsicht von entscheidender Bedeutung. Die „Getreuen von Jever“ hielten ganz besonders zum ersten deutschen Reichskanzler; es giebt vielleicht ein geheimes, tieferes Band, welches die Bewohner der deutschen und außerdeutschen Nordseeküste mit jenem Träger der
Leo Frobenius. Ausfahrt. Von der Völkerkunde zum Kulturproblem. Frankfurt a. M.: Abteilung, 1925, 258 Frobenius, Ausfahrt, 250.
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deutschen Nationalitätsidee verbindet; das Zentrum eines Kreises steht zu seiner Peripherie stets in engerer Beziehung als zu dem dazwischen liegenden Raume.²³
Mit dem „Niederdeutschtum“ ist auch bereits die prominenteste argumentative Figur von Rembrandt als Erzieher genannt, die eine Reihe von Widersprüchlichkeiten mit sich führt. Als prototypischer „Niederdeutscher“ wird der titelgebende Rembrandt eingeführt, auf dessen ,deutsche‘ Tugenden – insbesondere die des ebenso unpräzise definierten „Individualismus“ – Langbehn eine Rückbesinnung fordert. Der „Niederdeutsche“²⁴ nimmt in der Argumentation den Platz eines Hilfskonstrukts ein, das völkische Zugehörigkeit suggerieren soll.²⁵ Die Bedeutung des Konzepts ,Individualismus‘ entzieht sich einer präzisen Definition.²⁶ Langbehn nutzt es zur Beschreibung des Distinktionsgrades eines Volkes²⁷ gegenüber anderen Kulturen, an anderer Stelle erscheint ,Individualismus‘ als Gütesiegel für ,natürliche‘ Kunst.²⁸ Implizit thematisiert Langbehn diese konstante begriffliche Unschärfe selbst, wenn er den Unterschied zwischen ,natürlicher‘ und ,unnatürlicher‘ Kunst analogisch erläutert: Natürliche und künstliche Weine lassen sich chemisch garnicht unterscheiden; was beide dennoch scharf voneinander trennt, ist der Mangel oder das Vorhandenseinsein des Aroma’s, der Blume; dieser Begriff ist für die bisherige Wissenschaft nicht faßbar; und doch ist er es allein, auf den es in solchem Fall ankommt. Individualismus ist die Blume des Lebens.²⁹
Diesem definitonsverschleiernden Nimbus entspringt die argumentative Möglichkeit, ,Individualismus‘ einerseits als charakterliches Prädikat³⁰ zu verwenden, andererseits aber einen elitistischen Nationen- und Kulturbegriff zu deklarieren,
Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 146. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 15. Als linguistische Kategorie bezeichnet „niederdeutsch“ plattdeutsche Mundarten. Unter dem Begriff „niederdeutsch“ bzw. „Niederdeutschtum“ sammeln sich allerdings ab dem 19. Jahrhundert nationalistische Strömungen, die das Niederdeutschtum mit einer alten germanischen Sprachkultur gleichsetzen und unter dieser Prämisse homogene Kultur- und Nationsvorstellungen propagieren. Vgl. Ulf-Thomas Lesle. Identitätsprojekt Niederdeutsch. Die Definition von Sprache als Politikum. In: Sprache, Literatur, Raum, hg. von Robert Langhanke. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2015, 693 – 741. Ein erster, kryptischer Definitionsversuch des Begriffs findet sich auf den einleitenden Seiten: „,Der kommt am weitesten, der nicht weiß, wohin er geht‘ erklärte Cromwell und sprach damit das Grundwesen alles Individualismus aus.“ Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 3. Vgl. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 207. Vgl. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 233. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 233. So z. B. in Bezug auf den Idealtypus Rembrandt. Vgl. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 9.
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der geographisch konnotiert ist. Diese Inkongruenz zwischen einem geographischen Kulturbegriff und einer kulturell bedingten, charakterlichen Disposition führt Langbehn auf den eingangs diagnostizierten Krisenzustand der Kultur zurück. „Bezeichnend“, sei es für den „exzentrischen Charakter der Deutschen“, dass „ihr nationalster Künstler [d. h. Rembrandt] ihnen nur innerlich, nicht auch politisch angehört; der deutsche Volksgeist hatte sozusagen den deutschen Volkskörper aus den Fugen getrieben“.³¹ Zum Zweiten, und das klingt in dem ersten der beiden angeführten Zitate bereits durch die Relationalbezeichnungen „Peripherie“ und „Zentrum“ an, überführt Langbehn diese kartographische Ordnung in eine relationale Anordnung. Derartige Relationismen werden in Rembrandt als Erzieher besonders häufig mit zwei Legitimationsfiguren dargestellt, dem Kreis und der Achse. Sie fungieren als eine Form von geometrisch anwendbaren Skalen. Langbehn konzipiert in seiner Kulturkritik eine Art geometrisch inspiriertes Ordnungsmodell, dessen „mathematisch-künstlerische[] Strukturverhältnisse“³² letztendlich eine Art metaphysischer Weltrahmen, ein „Gerippe aller Dinge“³³ bilden soll. Was er im weiteren Verlauf mit dem Stichwort „Tektonik der Natur“³⁴ benennt, ist der Entwurf eines Kulturkonzepts, das erlaubt, den ,Organismus‘ Kultur, Interkulturalität und die Einheitlichkeit des Weltganzen im Rahmen einer so benannten „höheren Mathematik“³⁵ funktional wieder innerhalb „naturhafter“, weil „physikalischer“³⁶ Prinzipien verbunden zu denken. Eine konkret darauf bezogene Ausarbeitung stellt das Kapitel „Höhere Mathematik“³⁷ dar, dessen Ausführungen gar in einer „künstlerisch […] und mathematisch bindenden Weltformel“³⁸ münden. Die Sorglosigkeit, mit der Langbehn dies begründet – weil sowohl „Inhalt der Welt“ als auch die „Zahl der Ansichten“ auf dieser unendlich seien, könne man das Weltgesetz als „Unendlich mal Unendlich“³⁹ beschreiben – entspricht der argumentativen Fahrlässigkeit, die Rembrandt als Erzieher im Generellen prägt. Wohl auch darum findet sich den Ausführungen Langbehns keine klare funktionale Differenzierung zwischen der mathematischen und der kultu-
Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 9. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 65. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 68. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 64 f. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 68. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 89, 103. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 62 f. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 235. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 235.
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rellen Bedeutungsebene der der Mathematik entlehnten Figuren, dem Kreis und der Linie beziehungsweise der Achse. Dass die daraus abgeleiteten „Strukturverhältnisse“ eine klare metaphysische Orientierungsfunktion übernehmen, wird deutlich, wenn Langbehn den in Abgrenzung zum kritisierten „Professorenthum“ hochgelobten Bauern in eine Linienmetaphorik mit einreiht und als prototypisches Ideal darstellt: Beider Beruf [d. h. des Königs und Dichters] reicht, wie in seiner Art der des Bauern, vom Zentrum der Erde bis zur Peripherie des Himmels, vom echten Menschenthum bis zum echten Gottesgnadenthum: und ihren vorherbestimmten bleibenden Stand haben sie dort, wo diese Linie die Peripherie der Erde schneidet: nämlich in dem Stück Erde, aus dem sie und für das sie geboren sind. […] Kranke Naturen halten es für eine Eigenthümlichkeit des Ideals, daß es unendlich fern sei; und es ist doch unendlich nah; die Heimath ist das Ideal.⁴⁰
Nähe und Ferne werden anhand der Entfernung vom Erdzentrum auf Linie gemessen und mit Bedeutung aufgeladen, wobei die Nähe offensichtlich für eine Natur- bzw. Heimatnähe steht, die mit einer ihr entrückten transzendenten Instanz („Gottesgnadenthum“) über eine Linie konzeptuell verbunden ist. Verstanden als ganzheitlich wirkendes Strukturprinzip plausibilisiert Langbehn die ,Linie‘ als zusätzlich formgebendes Gesetz menschlicher Evolution: [D]er Geist des Menschen, mag er nun sonst sein was er will, [ist] auf alle Fälle erst ein Ergebnis seiner besonderen körperlichen mathematisch-künstlerischen Strukturverhältnisse [d. h., dass er aufrecht geht] […]. Der Mensch ist ein denkendes Wesen, weil er eine gerade Linie bildet. […] [D]ie äußeren sinnlichen Formenverhältnisse des menschlichen Körpers, in ihrer Summe, geben eine Silhouette des inneren geistigen Lebens, welches ihn beseelt; und zwar in genereller wie individueller Hinsicht.⁴¹
Möglicherweise nimmt Langbehn hier Bezug auf die Forschung des Embryologen und Anthropologen Karl von Baer. Im Gegensatz zu der Darwinschen Lehre vertritt unter anderem von Baer ausgehend von seiner Embryonalforschung den Gedanken einer teleologisch ausgerichteten Evolution des Menschen. So äußert er die Ansicht, dass „der aufrechte Gang ein Ausdruck von der höheren Entwicklung des Hirnes ist, so wie diese der Ausdruck einer höheren geistigen Anlage“⁴². Die kolonialistische, kartographische Variante der ,Linie‘ ist in der Argumentation Langbehns die „Achse des künftigen deutschen Geisteslebens“, die Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 133. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 65. Karl von Baer. Ueber Darwin’s Lehre. In Studien aus dem Gebiete der Naturwissenschaften. Mit zweiundzwanzig in den Text gedruckten Holzschnitten von Karl von Baer. St. Petersburg: Schmitzdorff, 1876, 337.
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„auf die Nordsee“ gerichtet sein müsse, weil sie dann zu dem „magnetischen Strom aller Bildung, welcher seit jeher vom Südosten nach Nordwesten die nördliche Hälfte unseres Erdballs durchzogen hat“ parallel laufe.⁴³ Diese beschriebenen „Achsenverschiebungen“⁴⁴ rütteln an konventionellen nationalen Identitätskonstruktionen. Sie werden „in einem Prozess der Übertragung auf interkulturelle Gemengelagen abgebildet“ und dienen dazu, dass das von „Langbehn heraufbeschworene ,erlösende’ Kunstzeitalter auf der Grundlage von expansiven Grenzverschiebungen gedacht wird“.⁴⁵ Die ideologische Aufladung der Argumentationsfigur ,Linie‘ bzw. ,Achse‘ hat so vornehmlich den Effekt, hegemoniale Ideen eines kolonialistischen Kulturimperialismus zu verteidigen.⁴⁶ Die zweite zentrale mathematische Denkfigur des ,Kreises‘ knüpft an diese kolonialistische Facette des Achsenbegriffs an. Sie bezeichnet gleichermaßen Einfluss- und Wirkungsraum wie Identität der Kulturen, die in der Konzeption Langbehns von dem Spannungsverhältnis zwischen „Zentrum und Peripherie“⁴⁷ geprägt sind. Dem kulturellen Zentrum, dem Kreismittelpunkt, spricht Langbehn die Kraft zu, eine Art kulturellen Einflusses auf die Umgebung abzugeben.⁴⁸ Die eigentümliche Eigenschaft des idealtypischen „Niederdeutschen“ sei es, „von einem festen und gegebenen Zentrum gleichmäßig in die Unendlichkeit hinauszustrahlen“⁴⁹. Wie exakt diese „Strahlkraft“ der Kulturkreise, die Langbehn Kulturen so konzeptuell einschreibt, nun das Verhältnis von dem ,kulturellen Kern‘, dem Zentrum, und der Peripherie strukturiert, wird nicht genauer erläutert, sondern als das „geheimnisvolle Wechselspiel zwischen Zentrum und Peripherie“ verklärt, das sich von der „Mathematik auf das Volksleben“ übertrage. ⁵⁰ Dass die genauen Parameter dieses methodischen Transfers notorisch unbestimmt bleiben, deutet bereits an, dass im Fokus der Argumentation keine semantische oder logische Kohärenzbildung steht. Vielmehr ist es ein Versuch, eine Kulturhierarchie physi-
Vgl. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 170 f. (Hervorhebung S. A.-R.). Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 2. Eva Wiegmann-Schubert. Fremdheitskonstruktion und Kolonialdiskurs in Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher. Ein Beitrag zur interkulturellen Dimension der Kulturkritik um 1900. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4:1 (2013), 59 – 94, hier 61. Zur Semantik des Koloniebegriffes um 1900 im Allgemeinen vgl. Brasch, Moderne – Regeneration – Erlösung, 369 – 370. Für eine Erläuterung der Funktion von Koloniesemantik als Mittel der Identitäts- und Fremdheitskonstruktion in Rembrandt als Erzieher vgl. Wiegmann-Schubert, Fremdheitskonstruktionen und Kolonialdiskurs. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 84. Vgl. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 60, 146, 239, insbesondere 271. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 271 Vgl. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 279.
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kalischer Unumstößlichkeit mithilfe von Anleihen aus anderen Disziplinen zu begründen. Der holistische Anspruch von Langbehns vorgeblich ,mathematisch‘ strukturiertem Welt- und Kulturmodell tritt klar zutage, wenn er die Funktionsweise von Organismen im biologischen Sinne, Gesellschaften und des Weltgefüges anhand einer Kreisstruktur analogisiert: Das alles Organische beherrschende Prinzip der Zelle, mit ihrem Zellenkern, ist hier aufs soziale Gebiet übertragen. Und dieses berührt sich wieder mit kosmischen Verhältnissen; der Bauer, der auf Grundbesitz begründet ist und ein Stück der Erdoberfläche sein eigen nennt, tritt dadurch in ein ganz direktes Verhältnis zum Erdzentrum; und durch dieses wieder zum Weltzentrum wie zum Herrn der Welt. […] im organischen Bau der Welt berührt sich auch das Entfernteste; eben darauf beruht die Harmonie desselben. ⁵¹
Die Bezugnahme auf die Zelltheorie Rudolf Virchows verdeutlicht eine zentrale Argumentationsstrategie des Textes: Natürlich liegt das Aufgreifen der Zelltheorie auch darin begründet, dass ihre Provenienz in der Biologie eine besondere Anschlussfähigkeit an organismische Staats- und Kulturvorstellungen begünstigt. Dennoch wird gerade im Abgleich mit den Figuren von ,Linie‘ und ,Kreis‘ deutlich, dass die Argumentation des Textes letztlich auf eine maximale Komplexitätsreduktion zugunsten einer interdiskursiven Verwendbarkeit abzielt. Diese Erosion konzeptioneller Tiefe erstreckt sich weiter als in eine reine Metaphorisierung. Sie zielt vielmehr darauf, durch umstandslose Übertragungen („das Prinzip der Zelle […] ist hier aufs soziale Gebiet übertragen“) den Eindruck zu erwecken, eine Art katalogartige Aufzählung von ,Weltgesetzen‘, von ,Prinzipien‘ zu betreiben. Bei der Definition Langbehns bleibt indes auch fraglich, inwiefern das „Prinzip der Zelle“ und „des Kreises“ überhaupt semantische Differenzen aufweisen, identisch gedacht werden oder nur zwei synonyme Begriffe für ein Metaprinzips darstellen. Unberührt von diesem definitorischen Hindernis bleibt aber, dass sowohl Kultur selbst als auch jeder ihrer Bestandteile nach einem einheitlichen Prinzip – sei dies nun als „Prinzip der Zelle“ oder als Kreis vorgestellt – funktionierend gedacht werden. Weil Kultur so als prinzipiell universelles Bezugssystem konzeptualisiert wird, ist der Kulturbegriff, für den Langbehn zumindest aus diesen strukturellen Prinzipien heraus argumentiert, ein enorm flexibler und unscharfer. Er bietet Vorteile, weil die Vorstellung von Kultur(en) als aufeinander liegenden konzentrischen Kreisen es zum Ersten ermöglicht, von einem kollektiven, kulturstiftenden Zentrum auszugehen und insofern eine konkret hierarchische Begründungslogik bedient. Zum Zweiten bietet ein solcher
Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 131 (Hervorhebung S. A.-R.).
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Kulturbegriff die Option, Kulturen zwar voneinander unterschieden vorzustellen, sie aber gleichzeitig als ineinander aufgehend zu imaginieren und insofern die hegemoniale Idee einer kulturellen Einverleibung zu formulieren. In Sachen argumentativer Kohärenz geht ein derart konturschwacher Kulturbegriff aber mit Einbußen einher, weil völlig unterdefiniert bleibt, in welchem Verhältnis der Kulturbegriff zu seinen Inhalten (z. B. Nationszugehörigkeit) steht. Das ist vornehmlich dem monistischen Ansatz Langbehns geschuldet, der Kultur strukturell, d. h. nach ihrer prinzipiellen Funktionsweise, zu beschreiben sucht, aber zwischen ihren Bestandteilen und ihr selbst nicht zu differenzieren in der Lage ist, weil sie eben als strukturell identisch aufgefasst werden. Weil die Beschreibungspriorität Langbehns auf dem strukturellen Aspekt von Kultur liegt, löst sich der Kulturbegriff, der in Rembrandt als Erzieher formuliert wird, von einer konkret topographischen Fixierung nationaler Kulturen. Das Potenzial einer derart wechselhaften Argumentationsstrategie liegt in einem dezidiert integrativen Kulturkonzept. Einfach gesprochen: Weil sie „ausstrahlt“, wird alles innerhalb ihres Wirkungskreises, der zumindest grundsätzlich unbeschränkt ist, der „ausstrahlenden“ Kultur zugerechnet. Langbehns Kulturkritik ist darum auch nicht eine holistische Kritik an der Kultur, sondern eine Kritik an der nicht-mehr-holistischen, einer fragmentierten Kultur, in der „Dinge […] aus ihrem organischen Zusammenhang gerissen sind“. In der Folge werde auch Kunst „ohne diese organische Umgebung […] heimatlos“⁵². Sie, die Kulturkritik, setzt dort an, wo der kulturelle Subsumptionsmechanismus gestört ist. In Konsequenz formuliert diese „mehrschichtige[] Neuvermessung der Wirklichkeit“⁵³ kein topographisch definiertes Kulturmodell, sondern eines, das sich präziser als Kulturmodell mit topologischen Eigenschaften fassen lässt: Bezogen auf die wenigen Prinzipien der „Höheren Mathematik“, die in der Argumentation Langbehns angeführt werden, sind demnach die mathematische ,Formel‘ der ,Strahlkraft‘ der konzentrischen Kreise wie auch die bis ins Metaphysische reichende Achsen letztendlich vor allem Ordnungsprinzipien, nach denen der kulturell zu erfassende Raum relational konzipiert wird. Kultur, entworfen als ,konzentrischer Kreis‘, ordnet sich anhand von Äquivalenzbeziehungen. Für einen völkisch-nationalistisch motivierten Kulturbegriff bedeutet ein topologisch
Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 17. Heinßen, Kulturkritik zwischen Historismus und Moderne, 129. Weiterführend gibt Heinßen die Konsequenz dieser „Neuvermessung“ als „Auflösung konventionalisierter Beziehungen und Zusammenhänge“ (129) an. In dem hiesigen Zusammenhang kann dieser Schluss Heinßens nur als bedingt korrekt gelten, zumal zwar die Mittel von Langbehns Kulturmodellierung und – argumentation entkonventionalisiert sind, aber keineswegs die dahinterstehenden Kritikpunkte beziehungsweise das dahinterstehende Kulturideal.
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funktionierendes Kulturmodell vor allem eine erhöhte argumentative Flexibilität. Ein solcher Kulturbegriff erfasst Kultur dann auch nicht primär phänomenologisch, sondern als Abstraktum, das phänotypischen Ausprägungen übergeordnet ist. Für eine (proto‐)völkisch-nationalistische Kulturkritik wie Rembrandt als Erzieher wiederum bietet ein derartiges ,Metamodell‘ den Vorteil, dass ein holistischer Kulturanspruch keine konzeptuellen Schwierigkeiten erzeugt, weil es den geglaubten Überlegenheitscharakter der eigenen Kultur nicht gefährdet; die Verhältnisse der Hierarchie bleiben erhalten: Die Figur des ,Kulturkreises‘ strukturiert Kultur als Spannungsfeld zwischen Zentrum und Peripherie, Nähe und Ferne. Sie gibt stauch- und dehnbare Bezugssysteme vor, keine exakten Standpunkte innerhalb dieser Systeme. Gleichzeitig verwehrt ein topologisches Kulturmodell das, was für einen nationalistischen Kulturbegriff um 1900 essentiell scheint: eine eindeutige geographische und historische Zuordnung. So sehr Rembrandt als Erzieher sich auch um die Suggestion völkisch-national besetzter, kartographierbarer Räume bemüht⁵⁴, erscheinen diese Anstrengungen wegen der Widersprüchlichkeit ihrer Argumentationslogik diffus und unzureichend: Die „Kolonie“⁵⁵ Berlin „ist […] nordamerikanisch“⁵⁶, aber gleichzeitig „Deutschlands politische Hauptstadt“;⁵⁷ das Konzept des ,Niederdeutschthums‘, dem neben dem Niederländer Rembrandt auch Shakespeare, Bacon, Bismarck und Luther zugerechnet werden, arbeitet von vorneherein auf eine De-Lokalisierung des Kulturbegriffs hin. Ähnlich verfährt die Argumentation mit einem geschichtlich verankerten Kulturbegriff. Anstelle einer historischen Kontinuität evoziert Langbehn, wie Johannes Heinßen herausarbeitet, zum Zweck der Identitätsstiftung die unhistorische Vorstellung einer ,Volksphysiognomie‘, die sich in der Zeit nicht verändert. […] Geschichte wird im Hinblick auf naturalistische Konstanten gedeutet; sie rückt damit in einen naturalistisch definierten, d. h. gesetzhaft beschreibbaren Kontext ein, dem die ,Große Erzählung‘ des 19. Jahrhunderts und das heißt zugleich: ihre Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit zum Opfer fallen.⁵⁸
Beispiele dafür sind das Konstrukt des „Niederdeutschthums“ und der Versuch, „Kulturbewegungen“ als Parallele zu der Stromrichtung „große[r] Flüsse“ vorzustellen. Vgl. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 150. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 120, außerdem auf 162. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 118. Vgl. auch 117. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 119. Heinßen, Kulturkritik zwischen Historismus und Moderne, 127– 128. Heinßen deutet dieses Verfahren als Umsetzung und Weiterentwicklung von „Nietzsches Forderung nach einer monumentalischen Historie“, 127.
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Dass völkische Identitätsentwürfe und darauf basierende Kulturmodelle ihre Funktionalität nicht primär über geographische und historische Konstanten gewinnen, ist kein distinktives Merkmal der Langbehnschen Kulturkritik. Wenngleich zum Beispiel Paul de Lagarde eine klarere Differenzierung von Nationsund Kulturbegriff vorlegt als in Rembrandt als Erzieher zu finden ist, fordert auch er klar eine Enthistorisierung der deutschen Identitätsstiftung: Wenn man ganz bitter sein wollte, könnte man fragen, ob es denn in dem ganzen weiten Deutschland keine Seele gibt, die Einspruch gegen das Glück erhebt, Erbin von fünf und mehr Jahrtausenden zu sein? Keine, die fühlt, daß dieser überkommene Reichtum uns arm macht […]? Keine, die einsieht, daß etwas weniger Kultur recht viel mehr geschichtliche Kraft bedeuten würde?⁵⁹
Die Ausprägung allerdings, mit der die argumentative Funktionalität des Kulturmodells über seine topologischen Eigenschaften gewonnen wird, ist im Falle von Langbehns Rembrandt als Erzieher ausgesprochen stark. Was hier heuristisch als Topologisierung des Kulturmodells beschrieben wird, ist eher als Kollateraleffekt einer Argumentation zu verstehen, die ihre Funktionalität mithilfe einer derartigen Flexibilisierung zu retten versucht. Letztlich wird so immer ein doppelter Kulturraum argumentiert: zum einen eine nationalistische Kulturutopie, die außerhalb einer konkreten kartographischen Verwirklichung platziert wird; zum anderen ebenso die kartographische Konkretion, deren Zusammenhang mit dem idealisierten, potenziellen Kulturraum der Kulturutopie über eine topologische Beziehung hergestellt wird. Diese ,Raumdoppelung‘ verweist noch einmal auf den speziellen Status, den der in Rembrandt als Erzieher postulierte Kulturraum einnimmt, denn die Differenzierung zwischen nationalistischer Kulturutopie und ihrer topographischen Konkretion, die hier vorgenommen wird, stellt eben lediglich eine heuristische Unterscheidung dar. Abseits dieser Unterteilung kann das, was als Kultur beziehungsweise Kulturraum in concreto in der Polemik Langbehns ausgestellt wird, nur als eine Art Zwischenraum erfasst werden, der Elemente topographischer Konkretion beinhaltet und mit Aspekten einer Kulturutopie vermengt, die kontrafraktische Staatsgrenzen und Nationszugehörigkeiten postuliert. Kultur muss in diesem Sinne immer hybrid gedacht werden: gleichzeitig als topographisch und geographisch realer Raum sowie als virtueller Raum, der die Summe aller möglichen räumlichen Konkretionen der Kultur darstellt. Die Ironie von Rem-
Paul de Lagarde. Ueber die gegenwärtige Lage des deutschen Reiches. In Deutsche Schriften. Gesammtausgabe letzter Hand von Paul de Lagarde. 5. Auflage. Göttingen: Becker & Eidner, 1920 [1878], 106 – 182, hier 138.
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brandt als Erzieher und vergleichbaren Kulturkritiken besteht darin, dass gerade das Changieren zwischen diesen Aspekten des nationalistischen Kulturmodells den Versuch, ein solches glaubhaft zu propagieren, ad absurdum führt. Schließlich offenbart gerade die angestrengte Bemühung, ein derart gestaltetes Kulturmodell mithilfe der Hybridisierung letztlich unvereinbarer Konzepte zu behaupten, einerseits, dass jene propagierte Kulturvorstellung ein Konstrukt ist, das bei genauerer Betrachtung keineswegs als ,natürlich‘ im Sinne einer völkischen Authentizitätskategorie glaubhaft gemacht werden kann. Andererseits verweist dieser Umstand auf das unauflösliche Paradox des völkischen ,Kulturraums‘: Er kann überhaupt nur als hybrides Konstrukt, als seine eigene Negation, konzeptualisiert werden.
3 Argumentative Sakkaden Der topologische Kulturbegriff, dessen sich Langbehn implizit bedient, hat also im Wesentlichen zwei Vorteile, die unabdingbar für die Argumentation eines imperialistisch ausdeutbaren Kulturbegriffes sind: Zum Ersten geht mit einem topologischen Kulturverständnis eine erhöhte Flexibilität des zu erfassenden geographischen Kulturraumes einher. Dem Expansionsanspruch der als überlegen gedachten Kultur wird damit Rechnung getragen. Zum Zweiten verschleiert dies, dass die Legitimation jener als überlegen gedachten Kultur ein äußerst prekäres Unterfangen ist. Durch die Möglichkeit beliebiger (topographischer) Ausdehnung und Stauchung des Kulturraumes werden Legitimationsoptionen wie das Argument, Rembrandt sei der ,Niederdeutsche‘, der Prototyp des Deutschtums, schließlich erst eröffnet. Mit diesem flexiblem Kulturmodell hängt die diffuse Beschaffenheit von Langbehns Kulturkritik zusammen: Sie spiegelt die Inkonsistenz des ihr zugrundeliegenden Kulturbegriffs wider, indem eine Reihe von widersprüchlichen Argumenten und Definitionen fast stakkatohaft aneinandergereiht werden. In Bezug auf die argumentative Kohärenz von Rembrandt als Erzieher bleibt deswegen die Frage bestehen, wie sich derartige Kohärenzdefizite zu einem Kulturmodell mit topologischen Eigenschaften verhalten. Auf Ebene des discours zeigen sich Unstimmigkeiten in der Langbehnschen Argumentation bereits dadurch, dass Rembrandt als Erzieher eine Masse an Wiederholungen und assoziativen Reihungen versammelt, die teils widersprüchliche Semantiken und Definitionen miteinander verbinden und deren inhaltliche Unbeständigkeit so visuell, d.h. nur auf Basis lexemischer Identität, übertünchen. Zumindest auf den ersten Blick zeigt dieser Mangel der semantischen Konsistenz von Langbehns Argumentation einen Widerspruch an.
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Schließlich besteht das Distinktivum populistischer Kulturkritik darin, eine hermeneutisch möglichst leicht zugängliche Botschaft⁶⁰ zu formulieren. In Rembrandt als Erzieher ist dieser Widerspruch geradezu ostentativ ausgestellt, weil der Diskurstext sich selbst im Vergleich mit den Kulturkritiken, auf die er Bezug nimmt, durch seine sprunghafte Argumentationsstruktur auszeichnet. Bereits die Kapitelstruktur verweist auf eine disparate Argumentation, die durch Wiederholungen ihre mangelnde argumentative Verknüpfungsleistung überdeckt; Kapiteltitel werden unsystematisch und ohne erkennbare systemische Zuordnung wiederholt. Ein besonders augenfälliges Beispiel dieser von semantischem Ballast befreienden Verknüpfungsleistungen durch rein assoziative Reihungen findet sich in einem Abschnitt zu nationalistischer Farbensymbolik, der Langbehn das eigene Kapitel „Schwarzrothgold“ widmet: Die Farbe des Eisens, welches alle Völker befriedet und das deutsche Volk befreite, ist schwarz; schwarz ist auch die Farbe der Erde, welche der Bauer pflügt und welcher der vaterländische Künstler seine besten Kräfte verdankt; fügt man dies dunkelste aller Elemente zu jenen beiden andern, zu Blut und Gold: so hat man die Farben des einstigen idealen Deutschlands Schwarz Roth Gold. Wenn es irgend eine Farbzusammenstellung giebt, die vornehmer ist als beide, so ist es: Schwarzrothgold. Rubens hat die letztere zuweilen mit bewunderungswürdigem Effekt angebracht; so in dem Bilde des bethleminischen Kindermorders zu München und in seinem bekannten „Liebesgarten“. Die Farbgebung der Rembrandt’schen Bilder bewegt sich sogar vorzugsweise in diesem Dreiklang; wiewohl gedämpfterer und darum auch vornehmer Weise als es bei dem großen vlämischen Virtuosen der Fall ist. Zu den schwarzen und goldigen Tönen, welche im wesentlichen die Rembrandt’sche Palette beherrschen, gesellt sich häufig als ein dritter entscheidender Faktor das dunkle Bluthroth. Rembrandt malte schwarzrothgold. Und es ist vom malerisch-technischen Gesichtspunkte aus bezeichnend, daß zwischen dem dunklen und dem hellen Element, zwischen der tiefschwarzen Finsterniß und dem goldigen Lichtreflex, aus welchem sich fast jedes seiner Gemälde zusammensetzt, jenem bluthrothem Farbenton oft die Vermittlerrolle zufällt. Blut bindet. Dieser Maler ist ein Dichter; seine Bilder sind Volkslieder; sie sind im Volkston gehalten; und sogar in den Farben des Volks.⁶¹
Die zitierte Passage zeigt eindrücklich, dass Langbehn sich einer assoziativen Argumentation bedient, die in der Lage ist, zwischen verschiedenen Ebenen zu wechseln und derart konstant Querverbindungen und Überblendungen zwischen den verschiedenen Bildbereichen von Kunst, nationalistischer Symbolik und Farbsymbolik herstellt. Dass diese assoziativen Zusammenhänge anstelle
Vgl. Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, 50. Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 308 – 309.
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von kausalen als Begründung hervorgebracht werden, gefährdet allerdings auch argumentative Zusammenhänge, die die Folge dieser assoziativen Reihungen übersteigen, weil sie auf deren optischer Präsenz fußen. Mit anderen Worten: Sie destruieren eine das Werk durchziehende semantische Konsistenz. Jede Definition, jede Begriffsbestimmung und jede Konzeptnennung bleibt eine semantische Momentaufnahme ohne zwingende Wirkung für den Rest des Werkes. Deswegen kann Langbehn sich zwar vordergründig in emphatischem Jubel einer nicht näher bestimmten, vergangenen deutschen Hochkultur üben⁶², aber Einzelkapitel übergreifende Zusammenhänge sind beinahe völlig zugunsten derartiger Einschübe ausgeblendet, die performativ Begründungszusammenhänge etablieren. Der Vorteil dieser semantischen Maximalreduktion liegt wie beschrieben in der Möglichkeit, jederzeit, mit jedem Argument umfassende Querverbindungen und Überblendungen vorzunehmen. Gleichzeitig führt diese hohe semantische Inkonsistenz der Arguments- und Begriffsbildung dazu, dass sich die disparate Struktur, die Rembrandt als Erzieher prägt, in einer Art Verweis- und Wiederholungsstruktur verfestigt. Das liegt darin begründet, dass gerade weil der Text hinsichtlich seiner semantischen Ebenen hochgradig inkonsistent verfährt, die logische Kontiguität der Argumentationsstruktur beinahe völlig außer Kraft gesetzt ist. Der Text ist dementsprechend, um eine minimale Lesbarkeit zu garantieren, auf ständige Wiederholungen und semantische Neukonstituierungen beziehungsweise Rekonstruktionen angewiesen. Langbehns Text ist, das bleibt zu betonen, ein extremes Beispiel. Aber in der Rigorosität, mit der er sich kulturkritischer Topoi und Verfahren bedient, bleibt er auch ein dankbares Exempel der Konsequenzen, die diese auf Verfahrensebene mit sich tragen. Beispielhaft ersichtlich wird das bereits an dem Prinzip der „Individualität“, das für die Argumentation Langbehns von zentraler Bedeutung ist und dessen Definitionen ebenso diffus sind, wie sie auch sprunghaft und gehäuft auftreten.⁶³ Diese Sprunghaftigkeit ist als eine Art argumentative Sakkade sogar visuell erfassbar:
So zum Beispiel in der Formulierung: „Dann werden die Kulturleistungen des Deutschen sich denen früherer Jahrhunderte würdig anreihen; sie werden nicht nur materieller sondern auch idealer Ort sein.“ Langbehn, Rembrandt als Erzieher, 191. So auf Seite 3 und 4 viermal, auf Seite 8 und 9 ebenso, auf Seite 11 zweimal, auf Seite 112 dreimal, auf Seite 178 und 179 je einmal. „Oberflächlich“ bedeutet an dieser Stelle, dass nur direkte Definition mit Satzkonstruktionen wie „Individualität ist […]“ berücksichtigt wurden.
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Abb. 1-3: Seite 3, 4 und 119
Alle mit Rotmarkierung versehenen Stellen formulieren unterschiedliche Aspekte von Langbehns nationalistischem Konzept des „Individualismus“. Teils widersprechen sich diese Ausführungen bereits auf derselben Seite. Sie verweisen aber in der Wiederholung des Lexems stets aufeinander. Die Wiederholungen beziehen sich damit auch weniger auf eine konkrete semantisch feststehende Definition eines Konzepts. Vielmehr erfüllen sie zwei Funktionen: Zum Ersten erwecken sie wenigstens oberflächlich den Eindruck einer argumentativen Einheitlichkeit, indem sie durch die identischen Lexeme deren semantische Erosion zumindest augenscheinlich überdecken. Zum Zweiten bietet diese assoziative Repetitionsstruktur in Bezug auf die Zugänglichkeit der einzelnen Kapitel den enormen Vorteil, dass jeder der zwei- bis maximal fünfseitigen Artikel autonom lesbar ist. Dabei bleiben die Kapitel argumentationslogisch auf eine möglichst einfache Rekonstruierbarkeit ihrer argumentativen Fäden angewiesen. Die Aushebelung einer den einzelnen Kapiteln übergeordneten, logischen Kontiguität macht die Beweisführung Langbehns zumindest punktuell enorm zugänglich, weil sie – im übertragenen Sinne – ebenso einer topologischen Ordnung gehorcht: Bar einer feststehenden Semantik gewinnen die Konzepte und Begriffe ihre Bedeutung immer aus einem kontextuellen Netz an Verweisen und Assoziationen. Rembrandt als Erzieher scheint insofern weniger von einer den Kapiteln übergeordneten argumentativen oder narrativen Kohärenz abhängig, als von einem Argumentationsverfahren, das ungeachtet ihrer semantischen Altlast, Begriffe wie „Individualismus“, „Bildung“ und „Kultur“ von ihrem jeweiligen Erscheinungskontext mithilfe einer assoziativen Verweisstruktur, die die topologische Flexibilität des geographischen Kulturmodells zu imitieren scheint, erschließt. Diese
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letzte Behauptung, dass dieses sprunghafte und unsystematische Vorgehen als eine Art rezeptionsästhetische Strategie die Zugänglichkeit des Textes steigert, mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Dass allerdings ,gehaltlosere‘ Zusammenhänge von assoziativen Reihungen, die auf lexematisch, etymologisch oder rein assoziativ gemachten Verknüpfungen beruhen, logisch-semantischen vorgezogen werden, lässt sich implizit daran zurückbinden, dass das zugrundeliegende Kulturkonzept der Kulturkritik an einer Reihe von Inkonsistenzen krankt. Schließlich eröffnet auch diese Verweisstruktur eine enorme argumentative Flexibilität; logische Widersprüche werden unter dem Mantel dieses argumentativen Verfahrens unter den Teppich gekehrt. Auf linguistischer Ebene hat dieses Vorgehen zudem noch eine weitere Konsequenz, die die hybride Konzeption des zugrunde liegenden Kulturmodells spiegelt. Dass das Argumentationsverfahren in Rembrandt als Erzieher optisch erfassbare Muster produziert, impliziert eine Untergewichtung der Signifikate. Mit der grundlegenden linguistischen Unterscheidung zwischen Signifikat und Signifikant werden Inhalts- (Signifikat) und Bezeichnungsseite (Signifikant) eines sprachlichen Zeichens benannt. Im Falle der Polemik Langbehns ergibt sich eine deutliche Betonung der Signifikanten, schließlich steht die Bedeutung von Begriffen an jeder Stelle des Textes neu zur Diskussion. Insofern erzwingt das hier artikulierte, nationalistische Kulturkonzept mittelbar sogar seine Existenz in einem linguistischen Zwischenraum: nämlich zwischen einem stabilen Signifikat und mehreren, kontextuell variablen Signifikaten.⁶⁴ Auch dieser semiotische Spagat stellt gerade die Gemachtheit der Bedeutung von identitätspolitisch aufgeladenen Begriffen und Konzepten wie dem „Niederdeutschen“ aus. Es gehört damit zu der Ironie eines solchen Argumentationsverfahrens, dass ausgerechnet bei dem Versuch, eine imperialistisch brauchbare Kulturvorstellung zu propagieren, der Anklang dekonstruktiver Methodik zu finden ist. Zusammenfassend sei noch einmal festgehalten: Julius Langbehns Rembrandt, als Erzähler verfügt über einen notorisch inkonsistenten Begriff von Kultur. Weil in der nationalistischen Deutung von ,Kultur‘ durch Langbehn ein hierarchischer und geographischer Anspruch formuliert wird, der in sich einander widersprechende Kulturvorstellungen vereinen muss, konstruiert Langbehn über Umwege ein Kulturmodell, das – zumindest heuristisch – topologisch zu nennen ist und sich hochintegrativ für unterschiedlichste Definitionen und Konzeptualisierungen zeigt. Da sich allerdings dadurch eine grundlegende se Vgl. erweiternd für das (logozentrische) Konzept eines Leerraums zwischen Signifikat und Signifikant Derridas Konzept der différance. Jaques Derrida. Linguistik und Grammatologie. In Grammatologie von Jaques Derrida. Übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, 49 – 130.
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mantische Instabilität in die Kulturkritik schleicht, können die Ausführungen Langbehns nicht mehr auf vorgängige Definitionen und feststehende Bedeutungen Bezug nehmen. Ersatzweise generieren sie ihre Zusammenhänge deswegen auf einer oberflächlichen Ebene, deren lexematische Ähnlichkeitsbeziehungen bereits visuell erfassbar sind und dem Text die optische Makrostruktur argumentativer Sakkaden verleihen. Implizit trägt die paradoxe Grundstruktur von Kulturkritik auf diese Weise allerdings auch dazu bei, die Zugänglichkeit der einzelnen Argumente und Kapitel des Textes unabhängig von ihrer Einbettung in den Gesamtkontext des Textes zu steigern.Weil die kulturkritische Argumentation des Beispiels Rembrandt als Erzieher nicht primär auf semantischen oder narrativen Zusammenhängen basiert, lassen sich die Bedeutungen je kontextuell anhand einer assoziativen Verweisstruktur erschließen.
4 Topologische Kultur, topologischer Text: ein Zusammenhang Was hier als topologisches Kulturmodell bezeichnet wurde, ist, um eine präzisere Formulierung zu bemühen, ein Kulturmodell, das seine minimale Stabilität über topologische Eigenschaften wahrt. Zumindest topologisch gedacht sind das Deutschland des „Niederdeutschen“ Rembrandt, Bismarcks und Bacons identisch. Gleichwohl bleibt eine Spannung zu den offensichtlich topographischen Entwürfen des Textes, die sich offensichtlich an einer eurozentrischen Kartographie orientieren, bestehen. Aufzulösen ist diese letztlich nicht, das Kulturmodell der populistischen, nationalistischen Kritik Langbehns bleibt logisch inkonsistent. Diese logischen und semantischen Inkonsistenzen erzeugen eine Spannung, deren Konsequenzen sich auf Basis der vorhergehenden Beobachtungen in vier Befunde versammeln lassen: (1.) Für nationalistische Kulturbegriffe bieten topologische Kulturmodelle einen dankbaren Rahmen. Sie vereinen den integrativen Kulturcharakter widerspruchsfrei mit einem abgesteckten kartografischen Gebiet und der angenommenen Überlegenheit der Kultur. Kulturelle Identität wird in einem solchen Kulturmodell anhand von Äquivalenzbeziehungen gewonnen und nicht über semantische Kongruenzen. Der Entwurf eines solchen ,Kulturraums‘ impliziert (2.), dass ,Kultur‘ nur als hybrides Konstrukt aus zwei Raumkonzepten, einem topographischen und einem ideellen, konzipiert werden kann. Weil eine Kongruenz zwischen ihnen nur topologisch gedacht werden kann, bewegt sich das, was im nationalistischen Sinne als ,Kultur‘ beziehungsweise als ,Kulturraum‘ argumentiert wird, stetig zwischen einem konkreten topographischen Raum und einem Kulturideal. An die Flexibilität eines solchen Kulturmo-
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dells (3.) schließt an, dass diffuse, sprunghafte und teils widersprüchliche Argumentationen entstehen. Sie produzieren auch auf der Textoberfläche eine Art optisch wahrnehmbarer Topologie, weil sie ihre semantische Kontur stets aus einem Netz an Verweisen aus ihrem jeweiligen räumlichen Kontext wiederherstellen müssen. Semantisch sind sie nicht identisch, sondern über ihre Äquivalenzbeziehungen definiert. Das wiederum erhöht die punktuelle Zugänglichkeit der Kulturkritik Langbehns enorm: Wenn Relationsstrukturen semantische Stabilität ersetzen, dann ist die situative Semantik besonders einfach rekonstruierbar und damit punktuell sehr zugänglich. Das mag, wenn auch diese Behauptung hier im Spekulativen verbleiben muss, auch ein Grund für die große Popularität von Rembrandt als Erzieher im Besonderen und für populistische Kulturkritik im Allgemeinen sein. Damit sind, um in der Rekapitulation der Befunde fortzuschreiten, (4.) ein inkonsistenter Kulturbegriff, ein topologisches Kulturmodell und eine defiziente Textkohärenz voneinander abhängige Variablen, die der Textoberfläche die Struktur argumentativer Sakkaden verleihen.
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5. Körper in Ausnahmesituationen
Nina Kreibig
„Fürchtet Euch nicht lebend begraben zu werden, aber sorget dafür, daß Ihr es nicht werden könnt“. Zur Raum-ZeitWahrnehmung des Todes in den Leichenhäusern des 19. Jahrhunderts “Fear not to be buried alive, but take care that you are not.” On space-time perception of death in 19th century waiting mortuaries: Waiting mortuaries increasingly emerged in the German states from the end of the 18th century onwards. The origin of their establishment can be seen in the fear of being buried alive, in which the hygienic concerns of the living also played a role from the beginning. Due to their specific architecture, the facilities and locations of waiting mortuaries can be interpreted as “in-between spaces” that stood out both spatially and metaphorically from traditional ideas and practices with regard to the European burial system. In the following, waiting mortuaries will be analysed as chronotopias according to Mikhail Bakthtin, with which other space (time) concepts may be applied, as well. Aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts existieren zwei unabhängig voneinander entstandene literarische Quellen, die den Besuch eines Münchener Leichenhauses¹ aus einer intimen Perspektive heraus schildern. Die eine stammt von
Anmerkung: Das Zitat aus dem Titel entstammt folgender Schrift: H. G. Licht bis anʼs Ende, oder ein Wort an alle deutschen Brüder! Breslau 1846, 8. In Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Akten des Kultusministeriums, I. HA Rep. 76, VIII A Nr. 4046: Einführung und Regelung der Leichenschau. Errichtung von Leichenhäusern 5, 1840 – 1849, [o. Paginierung]. Wer sich hinter der Namensabkürzung H. G. verbirgt, konnte nicht endgültig ermittelt werden, allerdings gab sich die schlesische Dichterin und Sozialreformerin Friederike Kempner in ihrer Autobiografie als Autorin einer Schrift mit dem Titel “Licht bis anʼs Ende” an, vgl. Friederike Kempners Autobiographie vom Jahre 1884, hg. von Gerhard Pachnicke. Aus dem Nachlaß Brümmer der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau. Bd. XXX. 1989, 141 – 171, hier 170. Dabei handelte es sich wahrscheinlich um das Leichenhaus auf dem (Alten) Südlichen Friedhof vor dem Sendlinger Tor, vgl. Christine Rädlinger. Der verwaltete Tod. Eine Entwicklungsgeschichte des Münchener Bestattungswesens. München: Buchendorfer, 1996, 86 – 100; siehe auch: Marion Ursula Stein. Das Leichenhaus. Zur Entwicklung einer Sepulkralarchitektur in Deutschland im 18. https://doi.org/10.1515/9783110758306-013
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Nina Kreibig
der englischen Künstlerin Anna Mary Howitt (1824– 1884)², die andere von dem US-amerikanischen Schriftsteller Samuel Langhorne Clemens, besser bekannt unter dem Pseudonym Mark Twain (1835 – 1910).³ Beide Künstler beschreiben eindringlich die spezifische Atmosphäre einer Institution nicht allein des deutschen Bestattungswesens, die allgemein erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den deutschen Staaten eingeführt worden war. Den Ausgangspunkt dieser Entwicklung bildete die weit verbreitete Angst davor lebendig begraben zu werden (Abb. 1).⁴ Leichenhäuser sollten vermeintliche Scheintote, bei denen der Tod nach damaliger medizinischer Expertise nicht sicher nachgewiesen werden konnte, davor beschützen, vorschnell für tot erklärt zu werden. Diese sollten in den Räumlichkeiten aufgebahrt und durch einen angestellten Wächter beobachtet werden, um eine definitive Gewissheit des erfolgten Todes zu gewährleisten und einer zu frühen Beerdigung zuvorzukommen. Darüber hinaus hatte die Errichtung der Leichenhäuser auf den aus dem Stadtbereich ausgelagerten Friedhöfen die Aufgabe, der Sorge um die Lebenden vor schädlichen Leichenausdünstungen sowie möglichen epidemischen Krankheiten Rechnung zu tragen.⁵ Im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Städten konnten in München auch Schaulustige das 1818 errichtete Leichenhaus auf dem (Alten) Südlichen Friedhof besuchen, um die in den Leichensälen aufgebahrten Verstorbenen durch eine Glasscheibe zu betrachten.⁶ Bald schon entwickelte sich der Besuch der Ein-
und 19. Jahrhundert. Marburg/Lahn: Philipps Universität, Diss., Hochschulschrift, 1992, 148; Ordnung und Einrichtung der Leichen-Anstalt in der k[öniglich] b[ayerischen] Haupt- und Residenzstadt München, enthalten in Schreiben des Magistrats der Stadt München und dem Bürgermeister Mittermayr, an den Berliner Magistrat, 12. März 1819, § 1. In Landesarchiv Berlin, Magistratsakten, A Rep. 004, Nr. 63: Leichenschau, Errichtung von Leichenhäusern und Bestimmungen bei Beerdigungen 4, 1865 – 1867, 135– 145. Vgl. Anna Mary Howitt. An Art Student in Munich. 2. Bde., Bd. 2. London: Longman, Brown, Green and Logmans, 1853. Vgl. Mark Twain. Life on the Mississippi. Bearb. u. eingeleitet von Karl-Heinz Schönfelder. Halle/ Saale: Niemeyer, 1956. Vgl. Stein, Leichenhaus, 2. Vgl. Hans-Kurt Boehlke. Über das Aufkommen der Leichenhäuser. In Wie die Alten den Tod gebildet. Wandlungen der Sepulkralkultur 1750 – 1850, hg. von Hans-Kurt Boehlke. Mainz: Hase & Koehler, 1979, 135– 146, hier 141. Carl Schwabe, der ein vielzitiertes Werk über das zweite Leichenhaus in Weimar verfasste, konstatierte einen solchen Publikumsverkehr im Münchener Leichenhaus unzweideutig als „Übelstand“, vgl. Carl Schwabe. Das Leichenhaus in Weimar: nebst einigen Worten über den Scheintod und mehrere jetzt bestehende Leichenhäuser; sowie über die zweckmässigste Einrichtung solcher Anstalten im Allgemeinen. Leipzig: Leopold Voss, 1834, 14.
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Abb. 1: Das Wiedererwachen eines Scheintoten vor den Augen seiner Ehefrau_Wellcome Collection. Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).
richtung zu einer touristischen Attraktion, die 1864 in einem Baedeker-Reiseführer folgendermaßen angepriesen wurde: Niemand möge München verlassen, ohne dieses weite Todtenfeld durchwandert zu haben. […] Die mittleren Räume der Arkaden dienen als Leichenhaus, man sieht durch die Fenster immer eine Anzahl, besonders Kinderleichen, in Blumen und Schmuck.⁷
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts verbrachte Anna Mary Howitt einige Zeit in München, wo sie sich ihrem Kunststudium widmete. Während dieser Zeit veröffentlichte sie zudem Artikel über die Stadt, die 1853 unter dem Titel An Art Student in Munich publiziert wurden. In einem der Artikel beschreibt die Künstlerin den Besuch eines Münchener Leichenhauses:
K[arl] Baedeker. Deutschland nebst Theilen der angrenzenden Länder bis Strassburg, Luxemburg, Kopenhagen, Krakau, Lemberg, Ofen-Pesth, Pola, Fiume. Handbuch für Reisende. 1. Theil, Oesterreich, Süd- und West-Deutschland. 11. verb. Aufl. Coblenz: Karl Baedeker, 1864, 261.
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This afternoon there was a regular thaw; nevertheless I set out from the studio to the Cemetery, which is precisely at the other end of Munich. […] Walking up the long pathway of the burial-ground, between the hundreds of crosses and monuments crowding thickly upon each other, with the bells tolling solemnly meanwhile from the Cemetery-chapel, I felt how, now entering the city of the dead, the joyous activity of the old part of Munich through which I had just passed stood forth in strange and striking contrast. Yet people thronged the broad pathway; crowds were hastening along, – men, women, and children, rich and poor.Whither were they bending their steps this miserable, dirty day? Now a funeral train encountered the thong, and the people stepped aside upon the spongy graves as it passed, bowing before the up raised crucifix. When I neared the cloistered wall which separated the old from the new burial-ground, I perceived a still denser crowd. What could be the attraction? At once it flashed upon me that the attraction was the Dead-House, – the living were come to visit the dead! And such was the case. Large windows, or rather doors, open out of the Dead-House into the cloisters. Here people congregate and gaze in at the corpses. […] When a space at the window offered itself, I also looked through it. […] Looking within, I saw a solemn room where various corpses were arranged upon biers, and where many empty biers were awaiting corpses. In the centre of the room lay the statue-like figure of a young girl […]. She lay as if in trance; her hands were crossed upon her breast; a delicate gauze veil flowed over her down to her feet. A grove of greenhouse flowers bloomed around her pillow […]. And without, the crowd murmured and crushed upon each other, and went and came in active enjoyment […] to the mass it was simply vulgar excitement and pastime.⁸
In seinem 1883 zeitgleich in den Vereinigten Staaten und Großbritannien publizierten Werk Life on the Mississippi erinnerte sich Mark Twain ebenfalls an die Besichtigung eines örtlichen Leichenhauses während seines Aufenthalts in München: Toward the end of last year, I spent a few months in Munich, Bavaria. […] One day, during a ramble about the city, I visited one of the two establishments where the Government keeps and watches corpses until the doctors decide that they are permanently dead, and not in a trance state. It was a grisly place, that spacious room. There were thirty-six corpses of adults in sight, stretched on their backs on slightly slanted boards, in three long rows – all of them with wax-white, rigid faces, and all of them wrapped in white shrouds. Along the sides of the room were deep alcoves, like bay windows; and in each of these lay several marble-visaged babes, utterly hidden and buried under banks of fresh flowers, all but their faces and crossed hands. Around a finger of each of these fifty still forms, both great and small, was a ring; and from the ring a wire led to the ceiling, and thence to a bell in a watchroom yonder, where, day and night, a watchman sits always alert and ready to spring to the aid of any of that pallid company who, waking out of death, shall make a movement – for any, even the slightest, movement will twitch the wire and ring that fearful bell. I imagined myself a death-sentinel
Howitt, Art Student, 168 – 172.
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drowsing there alone, far in the dragging watches of some wailing, gusty night, and having in a twinkling all my body stricken to quivering jelly by the sudden clamor of that awful summons!⁹
Howitt und Twain rekurrieren in ihren emotional gefärbten Ausführungen im Besonderen auf den Kontext von Raum und Zeit im Zusammenhang mit dem Münchener Leichenhaus. Howitts Bericht verweist auf die räumlichen und zeitlichen Hemmnisse, die sie zurücklegen musste, ehe sie diese spezifische, von den Lebenden durch Distanz und Mauern separierte Welt der Toten betreten konnte, während Twain detailliert auf die räumliche Situation innerhalb des Leichenhauses fokussiert. Und obgleich diese andere Welt längst schon durch die Lebenden okkupiert war, schienen in dem Leichenhaus andere Gesetze zu herrschen. Während sich vor den Glasscheiben tumultartig die Schaulustigen sammelten und um die beste Sicht auf die Verstorbenen heischten, wirkte die Zeit jenseits davon erstarrt. Noch waren die Blumen, mit denen die Leichen geschmückt waren, frisch, noch zeigten sich keinerlei Spuren von Verwesung an den toten Körpern. Damit war die keineswegs intendierte Täuschung perfekt, die suggerierte, dass an diesem Ort, in diesen Räumen die Zeit stillstünde und der Tod zumindest ansatzweise zu kontrollieren sei. Das hier beschriebene Münchener Leichenhaus stellte keineswegs eine singuläre Erscheinung im 19. Jahrhundert dar. Vielmehr waren in zahlreichen (deutschen) Städten Institutionen dieser Art entstanden.¹⁰ Die Etablierung und der Gebrauch der Leichenhäuser bedeuteten einen erheblichen Bruch mit dem traditionellen Bestattungswesen, der sich in der Veränderung der regulären Totenbehandlung und der Bestattungspraktiken äußerte, die sich bisher auf das häusliche Umfeld bezogen hatten und nunmehr auf das Leichenhaus verlagert wurden.¹¹ Dies rief bisweilen innerhalb der Bevölkerung Ablehnung oder offenen Widerstand gegenüber den Einrichtungen hervor.¹² Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Nutzung der Leichenhäuser, von Ausnahmen – wie im Fall
Twain, Life, 276 – 277. In Bamberg wurde 1821 ein Leichenhaus errichtet, 1831 folgte der Bau einer solchen Einrichtung in Regensburg und 1842 bis 1846 in Saarbrücken, vgl. Stein, Leichenhaus, 124, 137, 146. Vgl. Tanja Jankowiak. Architektur und Tod. Zum architektonischen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer. Eine Kulturgeschichte. Mit einem Geleitwort von Thomas Macho. München: Fink, 2010, 237; Reiner Sörries. Ruhe sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs. Kevelaer: Butzon & Bercker, 2009, 158 – 159; Sabine Bobert. Die neuen Entwicklungen der Bestattungskultur aus theologischer Sicht. In Vom christlichen Umgang mit dem Tod. Beiträge zur Trauerbegleitung und Bestattungskultur, hg. von Klaus Grünwald, Udo Hahn. Hannover: Lutherisches Kirchenamt, 2004, 55 – 86, hier 56 – 57. Vgl. Herbert Derwein. Geschichte des christlichen Friedhofs in Deutschland. Frankfurt am Main: Franzmathes, 1931, 163.
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epidemischer Erkrankungen – abgesehen, fakultativ war¹³, so dass sich die hier beschriebene Situation nur auf jene Verstorbenen erstreckte, die willentlich durch testamentarische Verfügungen oder Anregungen der Angehörigen in eine derartige Einrichtung aufgenommen wurden. Die Aufbahrung der Leichen in den Sterbehäusern stellte auch weiterhin eine reguläre Praxis des Abschiednehmens dar.¹⁴ Der vorliegende Beitrag rückt die gesellschaftliche und soziale Bedeutung der neuartigen Institution „Leichenhaus“ in den Fokus seiner Betrachtung und fragt danach, wie diese anhand raum-zeitlicher Strukturen verstanden werden kann. Leichenhäuser werden in diesem Kontext als „Zwischenräume“ interpretiert, die sowohl reale Orte als auch Räume im Grenzbereich eindeutiger Zuschreibungen waren, innerhalb derer unterschiedliche, zum Teil auch konträre Bedeutungsinhalte miteinander konkurrierten und sich gegenseitig infrage stellten. In den vergangenen Jahren hat es zahlreiche Bemühungen gegeben, derartige Räume zu klassifizieren oder sich ihnen zumindest anzunähern.¹⁵ Obgleich im Folgenden primär das Konzept der „Chronotopien“ nach dem Literaturwissenschaftler Michail Bachtin auf die Leichenhäuser angewendet wird¹⁶, sollen mit Verweis auf weitere Raum-(Zeit‐)Konzepte die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten aufgezeigt werden, die sich im Fall der Leichenhäuser anbieten. Wenn wie-
Dies galt unter anderem für die Leichenhäuser in Münster, vgl. Friederike Schepper-Lambers. Beerdigungen und Friedhöfe im 19. Jahrhundert in Münster dargestellt anhand von Verordnungen und Archivalien. Münster: Coppenrath, 1992, 61– 65. Vgl. Dagmar Hänel. Bestatter im 20. Jahrhundert. Zur kulturellen Bedeutung eines tabuisierten Berufs. Münster: Waxmann, 2002, 65; Dominic Akyel. Die Ökonomisierung der Pietät. Der Wandel des Bestattungsmarkts in Deutschland. Frankfurt am Main: Campus, 2013, 152. An dieser Stelle sei nur auf eine kleine Auswahl an raumtheoretischen Konzepten verwiesen: Der Philosoph und Historiker Louis Marin führt in seiner sprachlichen Analyse des Begriffes „Utopia“ nach Thomas Morus das „Neutrale“ als einen Zwischenraum der Gegensätze ein, vgl. Louis Marin. Utopics. The Semilogical Play of Textual Spaces, Robert A Vollrath (trans.). Atlantic Highlands, NJ: Humanities Press, 1990, Xiii, Xv, Xix; Martina Löw verwendet den Begriff der „gegenkulturellen Räume“. Diese Form der Räumlichkeit entsteht nach Löw durch gesellschaftliche Aktivitäten, die sich gegen institutionalisierte Strukturen wenden, vgl. Martina Löw. Raumsoziologie. 7. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2012, 185 – 187; Ein weiteres in den Literatur- und Kulturwissenschaften verankertes Raumkonzept stellen die an kolonialen und postkolonialen Inhalten orientierten „Dritten Räume“ des Literaturwissenschaftlers Homi K. Bhabha dar. Bhabha versteht das Konzept der „Dritten Räume“ als „Zwischenraum“, das sich insbesondere auf Kulturen und den Prozess der Migration bezieht, vgl. Homi K. Bhabha. Die Verortung der Kultur, übers. von Michael Schiffmann, Jürgen Freudl. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen. Unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. Tübingen: Stauffenburg, 2007, 2, 55, 327, 335. Vgl. Michail M. Bachtin. Chronotopos, übers. von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008.
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derholt betont wird, dass sich „Zwischenräume“, wie im Fall der Heterotopien nach dem Philosophen und Soziologen Michel Foucault, durch eine Mehrzahl an Bedeutungen auszeichnen¹⁷, so muss auch erörtert werden, welche Lesarten sich bei den Leichenhäusern feststellen lassen. Dies betrifft im Besonderen die Wahrnehmung der Verstorbenen durch die Lebenden als potenzielle Scheintote und daraus resultierend die Frage nach dem Umgang mit diesen.
Rettung der (Schein‐)Toten – Schutz der Lebenden Ehe eine konkrete Auseinandersetzung mit den Leichenhäusern unter raumzeitlich fokussierten Fragestellungen möglich ist, bleibt noch zu klären, wie es zu der Entwicklung einer solchen Institution kam. 1742 publizierte der französische Mediziner Jacques-Jean Bruhier (1685 – 1756) seine Dissertation sur l’incertitude des signes de la mort, et l’abus des enterremens, & embaumemens pre´cipite´s ¹⁸, die als Ausgangspunkt eines europaweiten Angstphänomens interpretiert werden kann. Dabei war die Thematik keineswegs neu, denn bereits zwei Jahre zuvor war die auf Latein veröffentlichte Dissertation des dänisch-französischen Mediziners Jacques-Bénigne Winslow (1669 – 1760) zum gleichen Thema erschienen.¹⁹ Diese Arbeit war von Bruhier weitestgehend übernommen worden. Aber erst jetzt kam es zu einer verstärkten Resonanz sowohl durch die medizinische Fachwelt als auch durch gebildete Laien. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass die Publikation auf Französisch gedruckt wurde und damit eine größere Leser*innenschaft erreichte. Zudem war die Schrift mit einer erheblichen Anzahl vorgeblich wahrer, doch populär dargestellter Fälle von Scheintod angereichert. Diesen beiden Aspekten war es zu verdanken, dass Bruhiers Werk innerhalb weniger Jahre eine starke Verbreitung erfuhr und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.²⁰ Zwei Gesichtspunkte lassen die besagte Angst vor einem verfrühten
Vgl. Michel Foucault. Andere Räume. In Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, hg. von Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter. 5., durchgesehene Aufl. Leipzig: Reclam, 1993, 34– 46, hier 36 – 39, 42. Vgl. Jacques-Benigne Winslow. Dissertation sur l’incertitude des signes de la mort, et l’abus des enterremens, & embaumemens pre´cipite´. Traduite, & commentée par Jacques-Jean Bruhier. Paris: Morel, Prault, Simon, 1742. Vgl. Jacques-Benigne Winslow. Questio medico-chirurgica. An mortis incertae signa minus incerta a chirurgicis, quam ab aliis experimentis? Paris: Quillau, 1740. Vgl. Martina Kessel. Die Angst vor dem Scheintod im 18. Jahrhundert. Körper und Seele zwischen Religion, Magie und Wissenschaft. In Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststel-
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Begraben verständlich werden: Zum einen wurde die damalige Medizin von der Vorstellung dominiert, dass der Großteil der bekannten Todeskennzeichen als unsicher einzuordnen war. Obgleich viele der damals geläufigen Todesmerkmale sich mit den heutigen deckten, fiel die Interpretation und Akzeptanz gänzlich unterschiedlich aus.²¹ Der Zustand des Scheintodes war demnach eine temporäre Phase, die zwischen dem fraglos nachweisbaren Leben und dem tatsächlichen Tod angesetzt wurde.²² Der preußische Mediziner Christoph Wilhelm Hufeland (1762– 1836)²³ erkannte drei Phasen an, die den scheintoten Zustand auszeichneten. In der ersten Phase konstatierte er eine vollständige Bewegungslosigkeit der scheinbar Verstorbenen, wobei sich in ihrem Inneren durchaus noch Lebenskraft regen konnte. Sofern in dieser Phase ein angemessener äußerer oder innerer Reiz ausgelöst würde, bestünde die Möglichkeit, die Scheintoten ins Leben zurückzubringen.²⁴ Der Gedanke der Lebenskraftlehre, die Hufeland propagierte und vorantrieb, ging von einer Vitalität im menschlichen Körper aus, die abhängig der äußeren Umstände gesteigert oder verringert werden konnte.²⁵ In der zweiten Phase stellten sich die Scheintoten äußerlich ebenso dar wie in der ersten Phase, allerdings war ihre Lebenskraft bereits so stark dezimiert, dass auch die Organe in Mitleidenschaft gezogen waren, so dass die Möglichkeit einer lung, hg. von Thomas Schlich, Claudia Wiesemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, 126 – 159, hier 136. Vgl. Fr[iedrich] Nasse. Die Unterscheidung des Scheintodes vom wirklichen Tode; zur Beruhigung über die Gefahr, lebendig begraben zu werden. Bonn: Habicht, 1841, 42. Christoph Wilhelm Hufeland. Der Scheintod oder Sammlung der wichtigsten Thatsachen und Bemerkungen darüber in alphabetischer Ordnung, hg. und eingeleitet von Gerhard Köpf. Bern, Frankfurt am Main, New York: Lang, 1986 [1808], 170 – 173. Hufeland war seit 1801 Leibarzt des preußischen Königs und damit eine einflussreiche Persönlichkeit im Medizinalwesen, vgl. Manfred Stürzbecher. Beiträge zur Berliner Medizingeschichte des Gesundheitswesens vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter, 1966, 163, Anm. 28. Hinsichtlich der Beschäftigung mit dem Scheintod und des Diskurses um die Errichtung von Leichenhäusern galt Hufeland als einer der entscheidenden Akteure. Dies wird auch durch einen Zeitungsartikel deutlich, den Hufeland 1833 veröffentlichte und der eine erhebliche, auch überregionale Resonanz im Kontext der Leichenhausfrage auslöste, vgl. [Christoph Wilhelm] Hufeland. Der letzte Liebesdienst. Berlin, 8. Juni 1833. In Königlich Privilegirte [sic] Berlinische Zeitung zu Staats- und gelehrten Sachen (Vossische Zeitung), Nr. 131, [7– 8]. Vgl. Christoph Wilh[elm] Hufeland. Ueber die Ungewißheit des Todes und das einzige untrügliche Mittel, sich von seiner Wirklichkeit zu überzeugen und das Lebendigbegraben unmöglich zu machen; nebst einer Nachricht von der Einrichtung eines Leichenhauses in Weimar. Weimar: Glüsing, 1791, Bayerische Staatsbibliothek, Sign. Path. 1425, 21. URL: http://mdz-nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:bvb:12-bsb10475701– 9, (26.11. 2019), 11– 15. Vgl. Christoph Wilhelm Hufeland. Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, hg. von Alfred Maury,Volksausgabe, fünftes und sechstes Tausend. Berlin: H. Steinitz, [1896], 8.
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Wiederbelebung ausgeschlossen war. Aufgrund der äußeren Ähnlichkeit der Verstorbenen in den beiden ersten Phasen, musste in jedem Fall bis die dritte Phase eingetreten war²⁶, in der sich der Tod durch die Verwesung eindeutig zeigte, die Rettung des potenziellen Scheintoten im Fokus der Behandlung liegen. So verwundert es nicht, dass Hufeland 1808 zu der Schlussfolgerung kam: Die Gränzlinie zwischen Leben und Tod scheint bei weitem nicht so bestimmt und entschieden zu seyn, als man gewöhnlich glaubt und nach den gewöhnlichen Begriffen von Tod und Leben erwarten könnte. Es existirt ein Zustand, der auf keine Weise Leben, aber eben so wenig Tod genannt werden kann.²⁷
Konsequenterweise wurde als einziges sicheres Todesmerkmal die Verwesung betrachtet. Da diese mit einiger Zeitverzögerung auftreten kann²⁸, wurde die Forderung erhoben, die Leichen solange nicht zu beerdigen, bis die Fäulnis unmissverständlich nachgewiesen werden könne.²⁹ In diesem Kontext erließen zahlreiche deutsche Regierungen primär ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Verordnungen, nach denen eine Frist von 48 oder 72 Stunden zwischen Todesfeststellung und Beerdigung eingehalten werden musste.³⁰ Dieser Umstand zog neue Schwierigkeiten im Umgang mit den Verstorbenen nach sich. Da es aus hygienischen Gründen nicht tragbar schien, die Leichen drei Tage lang in den zum Teil sehr beengten Wohnverhältnissen der Städte zu belassen, wurde weitgehend ab dem späten 18. Jahrhundert die Forderung nach Einführung von Leichenhäusern erhoben.³¹ Eines der ersten deutschen Leichenhäuser, initiiert durch
Vgl. Hufeland, Ungewißheit, 15 – 16. Hufeland, Scheintod, 171. Vgl. Ingo Wirth, Hansjürg Strauch. Rechtsmedizin. Grundwissen für die Ermittlungspraxis. 2., neu bearb. Aufl. Heidelberg: Kriminalistik-Verlag, 2006, 20, 41. Vgl. unter anderen: Joh[ann] Gottfr[ied] Taberger. Der Scheintod in seinen Beziehungen auf das Erwachen im Grabe und die verschiedenen Vorschläge zu einer wirksamen und schleunigen Rettung in Fällen dieser Art. Höheren Behörden zur Berücksichtigung und meinen Mitbürgern zur Beruhigung geschrieben. Hannover: Hahn, 1829, 83. F[riedrich] L[udwig] Augustin. Die Königlich Preußische Medicinalverfassung oder vollständige Darstellung aller, das Medicinalwesen und die medicinische Polizei in den Königlich Preußischen Staaten betreffenden Gesetze, Verordnungen und Einrichtungen. 7 Bde., Bd. 1. Potsdam: Horvath, 1818, 148. Für Preußen hatte das Königliche Generaldirektorium 1792 einen Versuch zur allgemeinen Einführung von beheizten und mit Wächtern besetzen Leichenhäusern gemacht, vgl. F[riedrich] L[udwig] Augustin. Die Königlich Preußische Medicinalverfassung oder vollständige Darstellung aller, das Medicinalwesen und die medicinische Polizei in den Königlich Preußischen Staaten betreffenden Gesetze, Verordnungen und Einrichtungen. 7 Bde., Bd. 2. Potsdam: Horvath, 1818, 149 – 150.
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Hufeland, wurde 1792 in Weimar eröffnet.³² Das Phänomen erreichte eine weite Verbreitung in Teilen der damaligen gebildeten Bevölkerung, die am Diskurs um die Gefahren des Scheintodes partizipierten.³³ Dies hing unmittelbar mit der Zuweisung prädisponierter Gruppen zusammen, die angeblich von einem Scheintod in besonderer Weise betroffen waren, und die Hufeland 1808 folgendermaßen zusammenfasste: Angstvolle – Betäubte – Blatternkranke – Convulsivische – Engbrüstige – Entathmete – Entkräftete (durch Entleerungen) – Entzückte – Epileptische – Erboßte – Erdrosselte – Erdrückte (besonders Säuglinge) – Erfrorne – Erhenkte – Erhitzte (beym Tanze) – Ermattete – Erschrockene – Erschlagene (vom Luftstreifschusse und Blitze) – Ertrunkene – Erwürgte – Fallsüchtige – Frauenzimmer – Freudetrunkene – Gebährende – Gefallene (von Höhen herab) – Gestürzte (vom Pferde) – Hypochondrische – Hysterische – Reichhustende – Kraftlose (nach körperlicher Anstrengung) – Kummervolle – Leidenschaftliche – Milzsüchtige – Nervenkranke – Neugeborene – Ohnmächtige – Pestkranke – Phlegmatische – Plötzlichsterbende – Schlaftrunkene – Schlagflüssige – Schwindliche – Sechswöchnerinnen – Starrsüchtige – Stickflüssige – Todtgeborene – Trostlose – Ueberladene (durch Nahrungsmittel) – Ungeborene (in hoch schwangern sterbenden Müttern) – Verblutete – Vergiftete – Verkümmerte – Verunglückte (in voller Lebenskraft) – Verzweifelte – Zerquetschte.³⁴
Bereits 1791 scheint der Umbau eines alten Beinhauses auf dem Südlichen Friedhof in München zu einem Leichenhaus stattgefunden zu haben und damit etwas früher als die Weimarer Einrichtung eröffnet worden zu sein, vgl. Steffi Röttgen. Der Südliche Friedhof von München.Vom Leichenacker zum Campo Santo. In Die letzte Reise. Sterben, Tod und Trauersitten in Oberbayern. Ausstellung im Münchner Stadtmuseum vom 4. Juli – 9. September 1984. Veranstaltet vom Münchner Stadtmuseum in Verbund mit dem Diözesanmuseum Freising, hg. von Sigrid Metken. München: Hugendubel, 1984, 285 – 301, hier 286; Das früheste Beispiel von Leichenhäusern ist für Österreich belegt, wo 1756 die Einrichtung von Leichenkammern angeordnet wurde, vgl. „Instruction: Die zweckmäßige Einrichtung der Todtenkammern bey den Pfarrkirchen, und auf den Leichenhöfen“, 10. September 1796. In Handbuch der Gesetzkunde im Sanitäts=und Medicinal=Gebiethe in alphabetisch=chronologisch und materienweiser Zusammenstellung für Sanitäts= und Polizeybeamte im Allgemeinen, und insbesondere für Aerzte, Wundärzte, Geburtshelfer, Hebammen und Apotheker, hg. von Joh[ann] Nep[omuk] Fr[anz] von Hempel-Kürsinger. 2. Bd. Wien: Kaiserliche Königliche Hof- und StaatsAerarial-Druckerey, 1830, 203. Innerhalb kurzer Zeit wurden zahlreiche fachmedizinische Werke in unterschiedlichen Sprachen publiziert, vgl. unter anderen: Johann Peter Brinkmann. Beweis der Möglichkeit, daß einige Leute lebendig können begraben werden, nebst der Anzeige, wie man dergleichen Vorfälle verhüten könne. Leipzig: Baerstecher 1772; Gottfried Stephan Hoffmann. Ueber den Scheintod und gewaltsamen Todesarten überhaupt; nebst den Mitteln zur Wiederbelebung der Verunglückten und zur Verhütung, daß niemand lebendig begraben werde. Eine Abhandlung. Koburg: Ahl, 1790; Joh[ann] Nep[omuk] Schosulan. Anleitung aller Arten des Scheintodes auf die faßlichste und sicherste Art zu erkennen und die Unglücklichen wieder zu beleben, besonders für Nichtärzte. Wien: Rötzel, 1803. Hufeland, Scheintod, 233.
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Bei dieser Aufzählung wird deutlich, dass sich kaum jemand in Bezug auf den Scheintod in Sicherheit wiegen durfte. Am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert erreichte das Angstphänomen seine Klimax, danach ebbte die Auseinandersetzung um die Thematik allmählich ab, ehe sie gegen Mitte respektive Ende des 19. Jahrhunderts sukzessive an Bedeutung verlor.³⁵
Struktur und Charakteristika der Leichenhäuser Bereits 1808 hatte Hufeland Kriterien für die Errichtung von Leichenhäusern formuliert.³⁶ Dabei war er von Anfang an bemüht gewesen, sowohl die Lebenden als auch die (Schein‐)Toten zu schützen. Die Berücksichtigung der Interessen der Lebenden zeigte sich in der hygienischen Forderung nach einer Erbauung der Leichenhäuser auf den extramuralen Friedhöfen.³⁷ Die Behandlung der (Schein‐) Toten hingegen war mit jener von Kranken vergleichbar, das heißt von Lebenden. Hufeland betonte dabei die räumliche und strukturelle Ausrichtung der Institute, indem er neben der notwendigen räumlichen Distanz der Leichenhäuser zu den Siedlungen eine ausreichende Belüftung sowie Beheizung der Gebäude anmahnte. Durch eine adäquate Erwärmung sollte schließlich der doppelte Vortheil erreicht [werden], einmal, daß der Frost nicht das noch übrige Leben vernichtet, und zweytens, daß durch die Wärme bey den wirklich Todten desto eher Spuren der Fäulniß und also Gewißheit des Todes erlangt wird.³⁸
Der für das Leichenhaus bestimmte (Schein‐)Tote sollte in einem Sarg, der mit Luftlöchern versehen war, und mit unbedecktem Gesicht vom Sterbehaus auf den Friedhof geschafft werden. Für den inneren Betrieb des Leichenhauses schlug Hufeland die Einstellung eines Wächters sowie die Oberaufsicht durch einen Arzt
Vgl. Gerlind Rüve. Scheintod. Zur kulturellen Bedeutung der Schwelle zwischen Leben und Tod um 1800. Bielefeld: transcript, 2008, 211; Ingrid Stoessel. Scheintod und Todesangst. Äußerungsformen der Angst in ihren geschichtlichen Wandlungen (17. bis 20. Jahrhundert). Köln: Forschungsstelle des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität zu Köln, 1983, 97. Hufeland, Scheintod, 152– 155. Vgl. Norbert Fischer. Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland. Köln,Weimar,Wien: Böhlau, 1996, 10; Barbara Happe. Die Entwicklung der deutschen Friedhöfe von der Reformation bis 1870. Tübingen: Vereinigung für Volkskunde, 1991, 181. Hufeland, Scheintod, 152.
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vor.³⁹ Die von dem Mediziner in die Diskussion eingebrachten Kriterien wurden in der Folgezeit beim Bau von Leichenhäusern weitestgehend aufgegriffen.⁴⁰ In dem vorliegenden Beitrag wird der Begriff „Leichenhaus“ unter anderem in Anlehnung an Hufeland als eine öffentliche – im Sinne weitestgehend allen Teilen der Gesellschaft zugängliche – Infrastruktur definiert, deren Zweck in der Aufbewahrung der Toten bis zur Beerdigung bestand. Dies fand statt, um einerseits das Begraben von Scheintoten zu vermeiden, andererseits aus hygienischen Gründen, insbesondere aufgrund von Seuchenprävention. Der erste Aspekt verlangte nach einer speziellen Architektur und Ausstattung der Einrichtungen. Generell wurde dabei aus Pietätsgründen eine Trennung der Geschlechter angestrebt⁴¹, so dass für die meisten Leichenhäuser zwei Säle, einer für Frauen und einer für Männer, angedacht waren.⁴² Obgleich die Leichenhäuser in vielerlei Hinsicht innovativ auf das traditionelle Bestattungswesen einwirkten, blieben tiefgehende gesellschaftliche Grenzziehungen davon ausgenommen, wie sich im Fall der Geschlechtertrennung zeigt.⁴³ In den Leichensälen sollten die Toten aufgebahrt werden und, wo vorhanden, und wie im Münchener Leichenhaus von Mark Twain beschrieben, durch Schnüre an Zehen und Fingern mit einem „Weckapparat“⁴⁴ verbunden werden, der ein potenzielles Wiedererwachen durch ein Klingelsystem unverzüglich anzeigen sollte. Die Aufsicht über das Gebäude hatte ein eigens zu diesem Zweck angestellter Wächter. Manche Leichenhäuser verfügten über eine Küche, eine Wohnung für den Wächter oder ein Arztzimmer.⁴⁵ Die räumliche Struktur, die in diesem Kontext jedoch relevant ist, zeigt sich primär in einer Wächterstube, von der aus der Wächter die Leichensäle überblicken
Hufeland, Scheintod, 153. Vgl. Stein, Leichenhaus. Die intendierte Geschlechtertrennung bezog sich im Idealfall auch auf das Wachtpersonal, wenn angeregt wurde, dass weibliche Leichen von Frauen und männliche Leichen von Männern beobachtet werden sollten, um der Gefahr der Nekrophilie entgegenzutreten, vgl. Schreiben des Königlichen Geheimen Regierungsrats Schweder an Unbekannt, Berlin, 28. Februar 1834. In Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Akten des Kultusministeriums, I. Ha Rep. 76 VIIIa, Nr. 4045, Einführung und Regelung der Leichenschau. Errichtung von Leichenhäusern, Bd. 4, 1833 – 1839, [o. Paginierung], [9 Seiten, hier 8]. Vgl. Stein, Leichenhaus, 114, 118, 120, 133. Eine solche Beschränkung galt vielerorts auch für die Aufnahme von Suizident*innen, denen zumeist eine Aufbahrung im Leichenhaus verwehrt wurde, wie für die Münsteraner Leichenhäuser nachgewiesen werden konnte, vgl. Schepper-Lambers, Beerdigungen, 66. Michael Benedict Lessing. Ueber die Unsicherheit der Erkenntnis des erloschenen Lebens. Nebst Vorschlägen zur Abhülfe eines dringenden Bedürfnisses für Staat und Familie. Berlin: Hirschwald, 1836, 132. Vgl. Stein, Leichenhaus, 17, 30, 81, 114.
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konnte, und die sich in dieser Form bei den meisten Einrichtungen findet.⁴⁶ Entscheidend für die Organisation war, dass die Leichen solange als potenziell Lebende betrachtet werden sollten, bis der Tod unumstritten nachgewiesen werden konnte. Sobald dies der Fall war, erfolgte die Beerdigung auf dem Friedhof. Die Leichenhäuser wurden von den Befürworter*innen bewusst in einem positiven Bild gezeichnet, indem sie als ästhetisch ansprechende, pietätvolle und hygienische Einrichtungen angepriesen⁴⁷ und damit zu einem Antagonismus gegenüber dem Leichenschauhaus stilisiert wurden, das unter anderem der polizeilichen Identifikation und Obduktion unbekannt aufgefundener Leichen galt (Abb. 2).⁴⁸ Während gegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts die Sorge um die Scheintoten bei der Errichtung von Leichenhäusern vielerorts im Vordergrund gestanden hatte, verschob sich das Interesse im Verlauf des 19. Jahrhunderts zugunsten genuin hygienischer Aspekte im Kontext der Einrichtungen. Spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die potenzielle Gefahr für die Lebenden durch vermeintliche Leichenausdünstungen der Verstorbenen relevanter und der ehemalige Ansatz zur Rettung von Scheintoten verlor in den Einrichtungen an Bedeutung.⁴⁹ Dieser Paradigmenwandel lässt sich unter anderem anhand von Elementen der Ausstattung ablesen. So wurden die „Weckapparate“ für Scheintote ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend seltener installiert und verwendet.⁵⁰ Gleichermaßen wurde die Notwendigkeit einer angemessenen Erwärmung der Leichenhäuser zum Schutz der potenziellen Scheintoten in Frage gestellt.⁵¹ Stattdessen wurden sukzessive Kühlungssysteme
Exemplarisch seien hier die Leichenhäuser von Speyer, Bamberg, Kaiserslautern und Weimar angeführt, vgl. Stein, Leichenhaus, 30, 75, 81, 92, 114, 123, 141, 147. Vgl. Jacob Atzel. Ueber Leichenhäuser vorzüglich als Gegenstände der schönen Baukunst betrachtet. Stuttgart: Metzler, 1796, 15. Vgl. Stefan Fayans. Handbuch der Architektur. 4. Teil: Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude. 8. Halbband, Heft 3: Bestattungsanlagen, Kirchen und Denkmale. Stuttgart: Kröner, 1907, 60 – 103, hier 61. Die folgenden Ausführungen bewerten die Leichenhäuser primär unter Berücksichtigung der Angst vor dem lebendig Begrabenwerden. Das bedeutet, dass die späteren, vom Hygienediskurs dominierten Aspekte weniger in die Analyse einbezogen werden. So verweist Moriz von Lasser darauf, dass in München 1898 sämtliche Wecksysteme für Scheintote aus den entsprechenden Einrichtungen entfernt wurden, vgl. Moriz von Lasser. Der neue östliche Friedhof zu München mit einer historischen Einleitung über das Münchener Begräbniswesen und die älteren Münchener Friedhöfe. München: Werner, 1902, 2– 3. Die Erwärmung der Leichensäle zum Schutz der Scheintoten vor Erfrierungen wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch regulär eingefordert, vgl. [?] Schneider. Das Leichenhaus
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Abb. 2: Das Pariser Leichenschauhaus_Wellcome Collection. Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).
eingerichtet, die einer als adäquat erachteten Scheintotenrettung zuwiderliefen.⁵² Auch der Gebrauch von Sektionssälen und eine Separierung der Verstorbenen auch untereinander durch die Einrichtung einzelner „Leichenzellen“ innerhalb der Leichenhäuser wurden zunehmend umgesetzt.⁵³
in Fulda, dessen Einrichtung und Gesetze. In Zeitschrift für die Staatsarzneikunde. Bd. 36, 18. Jg., 3. Vierteljahrheft. Erlangen (1838): 81– 99, hier 84. Beispielhaft kann an dieser Stelle das Mitte der 1860er-Jahre erbaute Leichenhaus der St. Georgen-Kirchengemeinde in Berlin gelten, vgl. [Paul] Erdmann. Capelle nebst Leichenhalle auf dem Friedhof der St. Georgen-Gemeinde in Berlin. Unter Mitwirkung der Königl. Technischen BauDeputation und des Architekten-Vereins zu Berlin. In Zeitschrift für Bauwesen, Jg. XX., (1870): 465 – 470, hier 469 – 470; Fayans betont, dass in denjenigen Einrichtungen, die als Leichenschauhaus dienten, die Temperatur heruntergekühlt wurde, um das Verwesen der Leichen zu verlangsamen, vgl. Fayans, Handbuch, 63, 88. Vgl. Erdmann, Capelle nebst Leichenhalle, 469.
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Chronotope Merkmale der Leichenhäuser nach Michail Bachtin Die besondere Relevanz des Raumes in Bezug auf die Leichenhäuser wurde bereits kurz im Kontext der beiden literarischen Quellen thematisiert. Im Folgenden wird der kombinierte Raum-Zeit-Aspekt mit Verweis auf den Theorieansatz der Chronotopien Michail Bachtins größere Berücksichtigung finden, der aufgrund seiner zahlreichen Spielarten einen mehrfachen interpretativen Zugang zu den Leichenhäusern ermöglicht. Der Terminus „Chronotopos“, den Bachtin Ende der 1930er-Jahre in die Literaturwissenschaft einbrachte⁵⁴, beschreibt in Anlehnung an die Mathematik und die physikalischen Naturwissenschaften einen „grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit- und Raum-Beziehungen“.⁵⁵ Dabei dominiert bei der Betrachtung der Zeitfaktor gegenüber dem Raumfaktor.⁵⁶ Wie die Germanistin Sylvia Sasse aufzeigen konnte, geht der Begriff nicht genuin auf Bachtin zurück⁵⁷, doch war er es, der den Terminus anfangs in der Literaturwissenschaft bekannt machte und seine Verwendung vorantrieb. Entscheidend ist hierbei die Fusion von Raum und Zeit zu einem „sinnvollen und konkreten Ganzen […]. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert“.⁵⁸ Bemerkenswert, insbesondere für die vorliegende Betrachtung, ist der Umstand, dass Raum und Zeit nach Bachtin nicht nur eine „untrennbare“ Allianz bilden, sondern auch immer „emotional-wertmäßig gefärbt“⁵⁹ sind. Diese „Vermittlung von Wertpositionen“ hat in dem Konzept einen höheren Stellenwert als eine rein formale Organisation des Chronotopos.⁶⁰ Von Belang ist die Aussage in Anbetracht der Entstehungsgeschichte der Leichenhäuser, die zweifelsohne als Resultat eines Angstphänomens sowie einer Intensivierung spezifischer Wertkategorien und Emotionen insbesondere an der Wende zum 19. Jahrhundert ver-
Vgl. Sylvia Sasse. Michail Bachtin zur Einführung. Hamburg: Junius, 2010, 141. Michail M. Bachtin. Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hg. von Edward Kowalski, Michael Wegner, übers. von Michael Dewey. Frankfurt am Main: Fischer, 1989, 7. Vgl. Tanja Dembski. Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lukács, Bachtin und Rilke.Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000, zgl. Berlin, Freie Univ., Diss., 1998, 185; Bachtin, Formen, 201. Sasse, Einführung, 141– 142. Bachtin, Formen, 8. Bachtin, Formen, 192. Dembski, Paradigmen, 186.
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standen werden können.⁶¹ Bachtin verweist in seinem Konzept darauf, dass es zahlreiche, durchaus auch miteinander gekoppelte Chronotopoi gebe und führt einige zentrale Varianten auf, denen er sowohl verschiedene Raum-Zeit-Verhältnisse als auch Bewertungen zuordnet.⁶² Orientiert man sich an diesen zentralen Chronotopoi, so bietet sich zuallererst der „Chronotopos der Begegnung“ in Verbindung mit dem „Chronotopos des Weges“ an. Bachtin betont hier die Zufälligkeit des Aufeinandertreffens der beteiligten Personen unterschiedlicher Konfessionen, Stände oder Altersstufen, insbesondere auch solcher gesellschaftlichen Gruppen, die ansonsten eher getrennt voneinander existieren:⁶³ Hier verknüpfen sich auf eigentümliche Weise die räumlichen und zeitlichen Reihen menschlicher Schicksale und Leben, wobei sie durch soziale Distanzen, die hier überwunden werden, komplizierter und konkreter werden. Das ist der Punkt, von dem aus die Ereignisse ihren Anfang nehmen, und der Ort, an dem sie vonstatten gehen. Die Zeit ergießt sich hier gleichsam in den Raum und fließt durch ihn hindurch (wobei sie Wege entstehen läßt).⁶⁴
Dieser Umstand zeichnet die Leichenhäuser maßgeblich aus. Wie aus der oben zitierten Textpassage Howitts deutlich wird, trafen die Verstorbenen und die Lebenden im gesellschaftlichen Mikrokosmos Leichenhaus in intimer Nähe aufeinander, die einander im Leben höchstens im Vorübergehen auf der Straße begegnet waren. Howitt beschreibt ausführlich die sorgsam herausgeputzte Leiche eines Studenten, der wie für den Besuch eines abendlichen Balls angekleidet war, während neben ihm der wenig beachtete Leichnam einer alten Frau ruhte, dem weder Blumen noch eine andere besondere Ausstattung beigegeben worden waren; dazu gesellten sich die Leichen einer jungen Braut und eines Kleinkindes:⁶⁵ And beyond these there were other rigid faces, old and young and middle-aged, glaring with a ghastly white from distant biers, all with stern profiles set towards the ceiling all with the wondrous print of death impressed upon them.⁶⁶
Zur veränderten Bewertung des Mitleides gegen Ende des 18. Jahrhunderts, vgl. Ute Frevert. Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen?“. In Geschichte und Gesellschaft 35 (2009): 183 – 208, hier 193. Bachtin, Formen, 202. Bachtin, Formen, 192. Bachtin, Formen, 192– 193. Howitt, Art Student, 169 – 171. Howitt, Art Student, 171– 172.
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Dieser Bericht hebt die Unterschiede der nebeneinander aufgebahrten Personen hervor und stellt eine – wenn auch nur entfernte – Verbindung zu Bachtins Situation des „Empfangssalons“⁶⁷ her. Zwar entstand zwischen den Verstorbenen keinerlei direkter Dialog, der kennzeichnend für die Salons war, doch geht aus den Beschreibungen der einzelnen Leichname durch Howitt hervor, dass eine Repräsentation der Verstorbenen und damit der eigenen sozialen Position durchaus von den Hinterbliebenen angestrebt wurde. Somit kann auf dieser Ebene das Bemühen um eine Konsolidierung von Reputation, wie Bachtin sie im Rahmen der Salons konstatiert, festgestellt werden. Das Leichenhaus wurde somit für die Verstorbenen zum letzten Ort der Zusammenkunft, ehe sie – jeder Leichnam für sich allein – in das Grab gelegt wurden. Wenn Bachtin schreibt, dass an einem solchen Ort „die Ereignisse ihren Anfang nehmen“⁶⁸, so galt dies hingegen nur für die Lebenden, denn für die Toten kehrte sich im Leichenhaus diese Aussage um.⁶⁹ Alles kam vielmehr zu einem endgültigen Ende, es sei denn, dass ein Wiedererwachen tatsächlich stattgefunden hätte, doch darüber liegen keinerlei positive Nachrichten vor. Aber der Chronotopos erstreckte sich gleichsam auch auf die lebenden Hospitant*innen des Leichenhauses. Howitt beschreibt eine Menschenmenge, bestehend aus Männern, Frauen und Kindern, die drängelnd, murmelnd oder lauthals schwatzend Unterhaltung in der Betrachtung der Verstorbenen suchte.⁷⁰ Dabei bildeten die Leichenhäuser nicht nur den metaphorischen Ausdruck eines Weges ab, der zurückgelegt werden musste, sondern waren fassbar ein Teil des Weges, der vom Sterbehaus über den Umweg des Leichenhauses letztlich bis zum Grab absolviert wurde. Die Beschreibung der Lokalität, mehr noch das Verhalten der Besucher*innenschaft erinnern an Orte, die unmissverständlich als Attraktion dienten. An dieser Stelle sei ein vergleichender Verweis auf das Wachsfigurenkabinett Marie Tussauds (1761– 1850) gewagt.⁷¹ Tussaud lernte ihr Handwerk bei dem Schweizer Philippe Curtius (1737– 1794), der in den Jahrzehnten von 1760 bis 1790 mehrere Wachsfigurenkabinette in Paris
Vgl. Bachtin, Chronotopos, 184. Bachtin, Formen, 193. Diese Aussage gilt jedoch nicht, sofern der Eintritt des Todes als tatsächlicher Beginn des ewigen Lebens nach christlicher Auslegung interpretiert wurde. Vgl. Howitt, Art Student, 69 – 172. Für den Hinweis danke ich Moisés Prieto; bereits Katharina Sykora weist auf eine vergleichbare Faszination beim Besuch von Leichenschauhäusern, Museen und Panoptiken hin und bezieht sich hierbei explizit auch auf die Wachsfigurenkabinette, wie man sie bei Madame Tussaud oder im Musée Grevin erleben konnte, vgl. Katharina Sykora. Die Tode der Fotografie, 2. Bde., Bd. 1: Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch. München: Fink, 2009, 437– 442.
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besaß.⁷² In den 1870er-Jahren reiste Marie Tussaud mit einer fahrenden Show durch Frankreich, 1802 kam sie nach London. Im Folgejahr begann sie ihr Konzept auch in England umzusetzen. Später erhielt ihr Gewerbe eine feste Lokalität in London.⁷³ Dort richtete sie einen Raum mit Wachsfiguren ein, deren Zweck darin bestand, den Besucher*innen Angst einzuflößen.⁷⁴ Dabei wurden Szenen von Hinrichtungen oder Gewalttaten, wie der Ermordung Marats, dargestellt.⁷⁵ Auch die bereits erwähnten Leichenschauhäuser fanden reges Interesse bei der Bevölkerung (Abb. 3 – 4). Über die Berliner Einrichtung des späten 19. Jahrhunderts berichtet der Kunsthistoriker Felix Hoffmann von der gelegentlichen Notwendigkeit, den Saal für die Öffentlichkeit mit Gewalt räumen zu müssen, da der Publikumsandrang zu groß war.⁷⁶ Auch wenn der inhaltliche Rahmen dieser unterschiedlichen Einrichtungen keineswegs in jedem Fall verwandt war, so kann womöglich vereinzelt eine vergleichbare Intention interpretiert werden, die das Publikum dazu animierte, ein Leichenhaus, ein Leichenschauhaus oder aber ein Wachsfigurenkabinett zu besuchen. In allen drei Fällen kann zum Teil ein Schauder erregender Moment angenommen werden, der den Anreiz zum Besuch dieser Einrichtungen darstellte. Im Fall des Leichenhauses oder des Leichenschauhauses kann das Schaudern durch das Bewusstsein der Nähe zu den Toten und der damit verbundenen Erkenntnis der eigenen Sterblichkeit ausgelöst worden sein, im Fall des Wachsfigurenkabinetts in den bisweilen grausigen Darstellungen der Chamber of Horrors, die explizit dem Zweck der Schreckensverbreitung diente.⁷⁷ Ein solcher Unterhaltungscharakter der Leichenhäuser – wenn auch nicht explizit der Reiz
Vgl. Emma McEvoy. Madame Tussaud’s Chamber of Horrors: Wounded Spectators, Perverse Appetites and Gothic History. In Gothic Tourism, Emma McEvoy (ed.). London: Palgrave Macmillan, 2016, 53 – 84, hier 57– 58. Vgl. McEvoy, Madame Tussaud, 53. Vgl. McEvoy, Madame Tussaud, 60 – 61. Vgl. McEvoy, Madame Tussaud, 56; Beatrice Margrith Hermanns weist darauf hin, dass die Darstellungen von Verbrechern zum „Standardrepertoire der Panoptiken des 19. Jahrhunderts gehör[t]en“ (Beatrice Margrith Hermanns. Musée Grévin. Von Staatsmännern, Mördern und historischen Helden. Das Konzept eines Pariser Wachsfigurenmuseums um 1900 und seine Umsetzung. München: Herbert Utz Verlag, 2005, zgl. München, Univ., Diss. 2005, 48). Vgl. Felix Hoffmann. Zwischen Leben und Tod. Inszenatorische und ikonografische Aspekte der postmortalen Fotografie. In UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit, hg. von Peter Geimer. Mit Beiträgen von Peter Geimer, Tom Gunnig, Felix Hoffmann, Uta Kornmeier, Petra Lange-Berndt, Hans-Jörg Rheinberger, Cornelius Reiber, Bernhard Siegert, Heiko Stoff, Margarete Vöhringer. Berlin: Kadmos, 2014, 139 – 161, hier 152– 153. Vgl. McEvoy, Madame Tussaud, 61.
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Abb. 3: Besuch des Pariser Leichenschauhauses_Wellcome Collection. Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).
des Schauderns – wurde im Fall der Münchener Einrichtung auch durch den oben aufgeführten Hinweis im Baedeker suggeriert.⁷⁸ Nur scheinbar widersprüchlich zum „Chronotopos der Begegnung“ respektive zum „Chronotopos des Weges“ ist eine mehrfache räumliche Trennung in Bezug auf die Leichenhäuser zu konstatieren: Die Einrichtungen entstanden auf den ausgelagerten Friedhöfen. Raum wurde hier somit in gewisser Weise gedehnt, indem sich die Anfahrtswege für die Besucher*innen erheblich verlängerten und damit eine zunehmende Distanzierung der Toten von den Lebenden befördert wurde. Obgleich sowohl Forderungen als auch Umsetzungen von Friedhofsauslagerungen aus dem innerstädtischen Bereich seit langem diskutiert wurden, lässt sich eine tatsächliche Realisierung vielerorts erst gegen Ende des 18. respektive zu Auf das Attraktionspotenzial von Leichenschauhäusern, die im Gegensatz zu den Leichenhäusern primär eine Identifikation und Obduktion der Verstorbenen vorsahen, geht Sykora ein und verweist in diesem Kontext auf den Unterhaltungswert dieser Einrichtungen bis ins 20. Jahrhundert hinein, vgl. Sykora, Tode, 431– 436.
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Abb. 4: Besuch des Pariser Leichenschauhauses_Wellcome Collection. Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).
Beginn des 19. Jahrhunderts nachweisen.⁷⁹ Die räumliche Trennung wurde aber auch zu einem Architekturelement der Leichenhäuser selbst. Die Gebäude sahen in ihrer inneren Struktur eine deutliche Grenzziehung zwischen dem Bereich der Lebenden (die Wohnung des Totenwächters und die Aufenthaltsräume der Trauernden) und den Sälen für die (Schein‐)Toten vor. Die Räumlichkeit, die gemäß der traditionellen Beerdigungspraxis mit den Toten geteilt wurde, indem man sie im Wohnhaus aufbahrte und in unmittelbarer Nähe zu den Lebenden bestattete, erfuhr durch das Novum „Leichenhaus“ zumindest im Fall einer Nutzung eine stärkere Ausdehnung. Räumlichkeit kann an dieser Stelle deshalb entweder als Indikator einer sozialen Distanzierung oder als Instrument derselben verstanden werden. Im Gegensatz zum Beispiel des Schlosses bei Bachtin, Vgl. Happe, Entwicklung, 27, 185 – 186; Ulrich Koppitz. Räumliche Organisation preußischer Städte im 19. Jahrhundert zwecks Funktionalität und Gesundheit. In Stadt, Krankheit und Tod. Geschichte der städtischen Gesundheitsverhältnisse während der Epidemiologischen Transition (vom 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert), hg. von Jörg Vögele, Wolfgang Woelk. Berlin: Duncker & Humblot, 2000, 259 – 274, hier 263 – 264.
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das die historische Zeit einer Gemeinschaft oder Gruppe einlagert, indem diese wie in einem Archiv in den Möbeln, den Wänden oder Fußböden gespeichert wird⁸⁰, findet sich ein solcher kollektiver Zeitspeicher im Fall der Leichenhäuser des frühen 19. Jahrhunderts nicht. Noch verwiesen sie auf keine lange und nennenswerte Geschichte, und auch die Erzählungen eines vorgeblichen Wiedererwachens von Scheintoten spielten sich zumeist auf den Friedhöfen oder in den Wohnhäusern und nicht in den Leichenhäusern ab (Abb. 5).⁸¹ Vielmehr korrelieren die Leichenhäuser in diesem Punkt mit dem Konzept der „Nicht-Orte“, das der Ethnologe Marc Augé in den 1990er-Jahren entwickelte.⁸² Die Nicht-Orte stehen bei Augé in Opposition zum anthropologischen Ort und verfügen im Gegensatz zu diesem weder über Identität, Relation noch eine eigene Historie.⁸³ Ein Nicht-Ort nimmt bei dieser Betrachtungsweise die Bedeutung von Raum ein und bildet damit einen klassischen Gegensatzbegriff zum Ort.⁸⁴ Der Entstehungshintergrund der Nicht-Orte liegt in der „Übermoderne“, ein Begriff, den Augé nicht näher datiert, der aber aus dem Kontext als die Jetztzeit interpretiert werden darf.⁸⁵ Anhand dieser „modernen“ Zuordnung wird auch die Ausrichtung der Nicht-Orte verständlicher, beziehen sie sich doch auf konkrete raum-zeitliche Situationen von Handel, Transit, Verkehr oder Freizeit. Diese Orte werden von Reisenden frequentiert, die von einem Ort zu einem anderen unterwegs sind. An den Nicht-Orten findet kein Verweilen im Sinne eines längeren Aufenthaltes statt und die Menschen werden lediglich anhand ihres ephemeren Status als Passagiere identifiziert.⁸⁶ Die Passage-Situation, die Nicht-Orte maßgeblich auszeichnet, findet sich als bezeichnende Eigenheit auch in den Leichenhäusern wieder. Gleiches gilt für das Verstreichen der Zeit als Wahrnehmung in Form von Intervallen. Insbesondere die inhaltliche Nähe zu den Nicht-Orten mit ihren modernen Ausrichtungen ist bemerkenswert, denn eine zeitliche Beschleunigung in Form von akzelerierten Prozessen, die als Kennzeichen der Moderne interpretiert werden kann⁸⁷, ist bei Leichenhäusern explizit nicht feststellbar. Hier zeigt sich ein umgekehrter Prozess, in dem die Zeit zwar nicht
Vgl. Bachtin, Formen, 195. Vgl. die Fallgeschichten bei Hufeland, Scheintod, 3, 39, 58, 112. Vgl. Marc Augé. Nicht-Orte, übers. von Michael Bischoff. 4. Aufl. München: Beck, 2014. Vgl. Augé, Nicht-Orte, 58, 83. Vgl. Augé, Nicht-Orte, 84. Vgl. Augé, Nicht-Orte, 83 – 84, 110. Vgl. Augé, Nicht-Orte, 96, 98, 103 – 104. Vgl. Reinhart Koselleck. Das 19. Jahrhundert – eine Übergangszeit. In Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Reinhart Koselleck. Berlin: Suhrkamp, 2010, 131– 150, hier 133.
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Abb. 5: Ein Totengräber wird Zeuge von dem Wiedererwachen einer Scheintoten_Wellcome Collection. Attribution 4.0 International (CC BY 4.0).
angehalten wird, aber in der Form, wie auf sie fokussiert wird, geradezu seziert, in ihre Einzelteile zerlegt und dadurch gedehnt wird, so dass es zumindest für Außenstehende den Anschein haben kann, als ob die Zeit stillstünde. Auffällig ist zudem der Bezug zum „Chronotopos der Schwelle“ nach Bachtin. Eine Schwellensituation kann unmittelbar auch auf eine Krise und Verwandlung verweisen und damit auf
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die Orte, an denen es zur Krise kommt, zum Fiasko und zur Auferstehung, zur Erneuerung, an denen Menschen sehend werden und Entschlüsse fassen, die ihr ganzes Leben bestimmen. Die Zeit in diesem Chronotopos ist im Grunde genommen ein Augenblick, dem gleichsam keine Dauer eignet und der aus dem normalen Fluß der biographischen Zeit herausfällt.⁸⁸
Eine Zuordnung von Krisen in historischen Kontexten erweist sich oftmals als schwierig, da sie eine Interpretation von Wahrnehmungen der damaligen Bevölkerung voraussetzt.⁸⁹ Wenn der Krisenbegriff an dieser Stelle dennoch verwendet wird, dann mit großer Zurückhaltung. Der Soziologe Jürgen Friedrich liefert unterschiedliche Krisendefinitionen, anhand derer er sich dem Begriff annähert. In der ersten Auslegung geht er davon aus, dass „[v]on Krisen […] immer dann gesprochen [wird], wenn ein etablierter, gesichert oder verlässlich erscheinender Sachverhalt fraglich und instabil zu werden droht“.⁹⁰ Beim Tod eines Menschen kann von einer solchen Instabilität ausgegangen werden, bedeutet dieses Ereignis doch das unwiderrufliche Ende des individuellen Lebens.⁹¹ Die Vorstellung eines potenziellen Scheintodes erleichtert diese Situation nur bedingt, steht die Bedrohung des eigenen Lebens oder des Angehörigen doch weiterhin zur Disposition, indem entweder die falschen oder gar keine Lebensrettungsmaßnahmen eingeleitet werden. Die Krise, die hier greifbar wird, ist in erster Linie jedoch eine der Lebenden. Sie stehen vor dem Wendepunkt, der sich vor ihren Augen abzeichnet. Die Toten sind davon bereits nicht mehr betroffen. Mit der Nutzung der Leichenhäuser überantworten ihre Angehörigen sie in fremde Hände. Die Toten erhalten nicht nur einen neuen, eigenen Raum, ehe sie bestattet werden, sondern werden an die Peripherie der Städte gebracht. Bereits mit dem Zurücklegen des Weges vom Sterbehaus zum Leichenhaus erfahren sie eine Distanzierung von dem
Bachtin, Formen, 198. Vgl. Günther Lotte. Normalitätsverlust, Prozess und Entscheidung. Zur Dramaturgie des Kriseninterpretaments. In Die Krise in der Frühen Neuzeit, hg. von Rudolf Schlögl, Philip R. Hoffmann-Rehnitz, Eva Wiebel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2016, 109 – 119, hier 109 – 110. Jürgen Friedrich. Gesellschaftliche Krisen. Eine soziologische Analyse. In Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, hg. von Helga Scholten. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2007, 13 – 26, hier 14. Vgl. Thomas H. Macho. Vom Skandal der Abwesenheit. Überlegungen zur Raumordnung des Todes. In Anthropologie nach dem Tode des Menschen: Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit, hg. von Dietmar Kamper, Christoph Wulf. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, 417– 436, hier 420 – 422.
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Raum, den sie zuvor bewohnt hatten. Sie werden aus der Gemeinschaft der Lebenden sukzessive ausgeschlossen.⁹² Ein letzter von Bachtin angeführter Chronotopos soll hier auf die Leichenhäuser übertragen werden.⁹³ Es handelt sich um die anhand des Motivs des Provinzstädtchens beschriebene Situation eines Ortes mit „zyklischer Alltagszeit“.⁹⁴ Die Zeitform stellt sich als ereignislos dar, lediglich geprägt durch sich wiederholende „Begebenheiten“⁹⁵: Die Zeit kennt hier keinen fortschreitenden historischen Verlauf, sie bewegt sich in kleinen Kreisen: in einem Tageskreis, einem Wochen-, einem Monatskreis, einem Kreis des ganzen Lebens. Der Tag ist nie ein Tag, das Jahr nie ein Jahr, das Leben nie ein Leben.Von Tag zu Tag wiederholen sich die gleichen alltäglichen Handlungen. […] Die Kennzeichen dieser Zeit sind einfacher und grob-materieller Art, sind mit den diesem Alltag entsprechenden Örtlichkeiten fest verwachsen.⁹⁶
Ein solcher Zustand herrschte auch in den Leichenhäusern vor. Das generell gesellschaftliche „Ausnahmeereignis“ des Todes musste im Leichenhaus zumindest für die beteiligten Angestellten aufgrund seines permanenten gleichförmigen Auftretens bald schon seinen Charakter als einschneidendes gesellschaftliches Ereignis verlieren und zu einer alltäglichen „Begebenheit“ werden. In diesem Modus der permanenten Wiederholung können selbst Abschiedsszenen im Leichenhaus ihre Bedeutung eingebüßt haben und bisweilen zu einer bloßen Tonspur der Emotionalität geworden sein, auch und gerade für den scheinbar unbeteiligten Beobachter, in diesem Fall den Totenwächter. Auch in dieser Eintönigkeit der Wiederholung findet sich der Verweis auf Augés Nicht-Orte, deren Transitcharakter der Inbegriff der Wiederholung ist. Prägnant ist indes der vollkommene Stillstand des Raumes. Solange den Toten der Status von Scheintoten zugesprochen wurde, existierten sie in einem vollkommenen Stillstand. Metaphorisch wird diese Reglosigkeit durch die Nutzung der „Weckapparate“ dokumentiert. Durch dieses Meldesystem einer jeden potenziellen Bewegung der (Schein‐)Toten wird der räumliche Stillstand in Form einer vollkommenen kör-
Zur Verbindung von Krise und Exklusion im Kontext der Chronotopoi vgl. Wolfgang Stephan Kissel, Franziska Thun-Hohenstein. Vorwort. In Exklusion. Chronotopoi der Ausgrenzung in der russischen und polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts, hg. von Wolfgang Stephan Kissel, Franziska Thun-Hohenstein. München: Sagner, 2006, 7– 11, hier 9. Tatsächlich ließe sich die Liste noch verlängern, wenn z. B. auch das Beispiel des Salons herangezogen würde, vgl. Bachtin, Formen, 196 – 197. Bachtin, Formen, 197. Bachtin, Formen, 197. Bachtin, Formen, 197– 198.
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perlichen Regungslosigkeit symbolisiert. In diesen Ort des Stillstandes trat nun die Zeit in den Vordergrund. Alles war bestimmt vom Warten auf ein potenzielles Wiedererwachen oder dem Einsetzen von eindeutigen Todeszeichen. Es fand kein respektive kaum aktives Handeln statt. Das Warten verlief vielmehr lautlos, reglos und kontrolliert. Insbesondere in dem Akt des permanenten Beobachtens durch den Wächter scheint die Zeit zäher vorangeschritten zu sein als in der Außenwelt. Damit wurde der Raum, und nur dieser Raum, zum „Kokon“ für die darin befindliche Zeit, und nur diese Zeit. Die spezifische Mischung aus Dehnung und Stillstand der Zeit konnte nur in diesen vier Wänden stattfinden, da nur hier die Bedingungen dazu existierten. Neben dieser ersten Zeit-Raum-Dehnung findet sich indessen noch eine weitere, hier primär zeitliche Dehnung. Denn mit der Einführung einer gesetzlichen Frist zwischen Todesfeststellung und Bestattung kam es zu einer Dilatation des Todesereignisses respektive des -moments, die erst mit dem Einsetzen der Verwesung oder vergleichbaren Indizien des sicher erfolgten Todes ein Ende fand. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wandelte sich zudem die Bedeutung des Zeitbegriffes innerhalb der Leichenhäuser. Solange der Scheintod als ernsthafte Option in Betracht gezogen wurde, zeigten sich trotz des Nimbus scheinbarer Zeitlosigkeit und Ruhe in den Einrichtungen, Bemühungen um eine passive Beschleunigung der Zeitabläufe, indem die Leichenhäuser beheizt wurden. Dies erfolgte unter anderem, um die Verwesung zu beschleunigen und damit Sicherheit über den Tod zu erlangen und die Bestattung vollziehen zu können. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der Scheintod immer weniger als realistische Gefahr betrachtet wurde, war man hingegen bemüht, den Verwesungsprozess aus hygienischen Gründen durch Einführung von Kühlsystemen in den Leichenhäusern hinauszuzögern. Mehr oder weniger losgelöst von dem zeitlichen und räumlichen Geschehen der Außenwelt können die Leichenhäuser je nach persönlicher Bewertung als Oase oder Asyl begriffen werden oder als skurrile, weil aus heutiger Sicht zuvorderst unverständliche Orte, aber auch als Schreckensorte, wo der Tod sein ganz eigenes Regiment führte, solange, bis es ihm beliebte, unmissverständlich durch die Verwesung aufzutreten. Damit zeigt sich auch die von Bachtin eng an Raum und Zeit gekoppelte Emotionalität. Kaum kann man sich eine gefühlsmäßig stärker aufgeladene Lokalität vorstellen, in der Hoffnung, Angst, Sorge und Trauer auf derart unvergleichliche Weise interagierten. So erging es auch Howitt und Twain. Während erstere die umstehende, belustigte und durch den Anblick der Verstorbenen scheinbar angeregte Menschenmenge der Schaulustigen als unangenehm wahrnahm, wurde die Malerin wiederum von unscheinbaren Alltagsgegenständen gerührt, wie einem Paar Schuhe, die in der Einrichtung eine
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gänzlich eigene Symbolik erhielten.⁹⁷ Emotional bewegt suchte Howitt nach ihrem Besuch des Leichenhauses das Alleinsein und die Ruhe am Ufer der Isar.⁹⁸ Sowohl die Weite des Raumes als auch die Stille der Zeit hatte sie bei den Verstorbenen im Leichenhaus nicht finden können, weil die Lebenden den Raum der Toten allzu markant für sich beanspruchten. Angst, Abscheu oder Ekel hingegen schien die Künstlerin bei ihrem Besuch nicht empfunden zu haben. Ganz im Gegensatz zu Mark Twain, den bei der Vorstellung seiner eigenen Leiche in den Räumlichkeiten des Leichenhauses das Grauen packte.⁹⁹ Um was für Räume handelte es sich letztlich bei den Leichenhäusern im gesamtgesellschaftlichen Kontext? Für wen waren sie bestimmt, die Verstorbenen oder doch die Lebenden? Und welchen Status nahmen die Toten dort ein? Als „Zwischen“- oder „Schwellenräume“¹⁰⁰ innerhalb der vertrauten Gesellschaft boten sie neue Vorstellungen über den Tod, die Verstorbenen und den Umgang mit denselben an. Ihrem ursprünglichen Impetus folgend bedeutete dies, traditionelle Konzepte infrage zu stellen und innovative Ideen zu befördern. Dieser Ansatz findet sich in annährend allen Raumkonzeptionen, die das „Zwischen“ betonen, welches das Vertraute mit dem Neuen verbindet.¹⁰¹ Das Moment der Friktion, das diesen Räumen eigen ist, wird von Foucault und dem Soziologen Kevin Hetherington auch für die Heterotopien postuliert. Die Heterotopien sind die „Anderen Räume“, die sich widerständig gegen normierte Strukturen verhalten.¹⁰² Entscheidender ist jedoch der Verweis auf den utopischen Gehalt, der ihnen innewohnt.¹⁰³ Hier findet zum Teil eine intendierte Verknüpfung mit dem Begriff des „Neutralen“ statt, wie ihn der Philosoph und Historiker Louis Marin
Vgl. Howitt, Art Student, 170, 172. Vgl. Howitt, Art Student, 172. Vgl. Twain, Life, 276 – 277. Vgl. Arnold van Gennep. Übergangsriten (Les rites de passage). Mit einem Nachwort von Sylvia M. Schomburg-Scherff, übers. von Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff. Frankfurt am Main: Campus, 1986, 27, 29; Bernhard Waldenfels. Schwellenerfahrung und Grenzziehung. In Grenzgänger zwischen Kulturen, hg. von Monika Fludernik, Hans-Joachim Gehrke. Würzburg: Ergon, 1999, 137– 154, hier 153. Vgl. dazu: Bhabha, Verortung, 2, 56 – 58; Daniel Romuald Bitouh. Liminalität, Hybridität und Identität. Zu Joseph Roths Inszenierung der Grenze als Subversion der Metaphysik von Identität. In Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik. Anwendung. Reflexion, hg. von Anna Babka, Julia Malle, Mathias Schmidt, unter Mitarbeit von Ursula Knoll.Wien, Berlin: Turia + Kant, [2012], 167– 181, hier 170. Vgl. Foucault, Räume, 39. Vgl. Kevin Hetherington. The Badlands of Modernity. Heterotopia and Social Ordering. London, New York: Routledge, 1997, 52.
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vorlegte.¹⁰⁴ Das „Neutrale“ bildet bei Marin den verbindenden, aber auch trennenden Zwischenraum: The neutral is the threshold limiting the inner and the outer, the plays where exit and enter reverse and are fixed in this reversal; it is the name for all limits, provided by the thought of the limit: contradiction itself.¹⁰⁵
Die Infragestellung des Bestehenden ist ein Charakteristikum der „Zwischenräume“. Dass deren Potenzial hingegen deutlich weiter gefasst werden kann, zeigt Ursula Reiber, wenn sie darauf verweist, dass der Versuch einer Aufhebung bestehender Grenzen im Kontext der „Dritten Räume“ nach Homi Bhabha nicht zwangsläufig der entscheidende Aspekt sein muss, sondern vielmehr die Option einer Annäherung beider Pole durch kommunikativen Austausch und Erfahrung besteht.¹⁰⁶ Dieser Ansatz postuliert somit eine Form von Brückenfunktion des „Dritten Raumes“, die bereits Marin für das „Neutrale“ konstatierte. Durch diese Interpretation verliert der wie auch immer definierte „Zwischenraum“ seine abschreckende, da als fremd wahrgenommene Wirkung. Das Moment der Begegnung, auf das bereits im Zuge der Chronotopien rekurriert wurde, bleibt damit nicht wertfrei. Der „Zwischenraum“ zeichnet sich primär als kommunikative Zone aus, in der trotz der vereinzelten Beibehaltung traditioneller Strukturen innovatives Denken und Handeln möglich ist. In ihrer Bewertung von Inseln als Heterochronien und Chronotopien verweisen die Literaturwissenschaftler Michael Ostheimer und Sabine Zubarik auf die Bedeutung der Verbindung derselben mit dem umgebenden Raum: Von einer Insel ist die Überlegung, was wohl jenseits des Horizonts liegen mag, nicht wegzudenken. Damit ist die Frage gestellt nach dem nächsten Kontinent, seiner Entfernung und seiner Bedeutung. Mit dieser Perspektive auf die kontinentale Verbindung, ob gekappt, potentiell oder tatsächlich vorhanden, erfährt der Status des Insularen eine Einschränkung, die Möglichkeit der vollkommenen Insularisierung eine Verletzung.¹⁰⁷
Nach dieser Lesart können auch Leichenhäuser beschrieben werden, die zugleich Orte und Räume darstellten, die nicht ohne die Bezugnahme auf die Kultur der Vgl. Marin. Utopics. Marin, Utopics, xix. (Hervorhebung im Original). Vgl. Ursula Reiber. Adiaphora – dritter oder vierter Raum? In Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik. Anwendung. Reflexion, hg. von Anna Babka, Julia Malle, Mathias Schmidt, unter Mitarbeit von Ursula Knoll. Wien, Berlin: Turia + Kant, [2012], 279 – 298, hier 285. Michael Ostheimer, Sabine Zubarik. Einleitung. In Inseln und Insularitäten. Ästhetisierungen von Heterochronie und Chronotopie seit 1960, hg. von Michael Ostheimer, Sabine Zubarik. Bonn: Wehrhahn, 2016, 7– 15, hier 13.
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Lebenden zu denken waren. Der spezifische zeitliche Faktor, der den Leichenhäusern eigen war, enthob diese Architekturen dem Zugriff der lebendigen Welt; die räumliche Struktur hingegen band sie an das Leben. Zuletzt war eine gänzliche „Insularisierung“ auch hier nicht denkbar. Ihre ursprüngliche Rechtfertigung erhielten die Einrichtungen letztlich durch die Verbindung zum Leben, die Hoffnung auf Wiederbelebung, die Nähe zur verstorbenen Person, von der nur der Körper übriggeblieben war. Ohne die Verkettung von Leben und Tod, von Lebenden und Verstorbenen, die auf räumlichen und zeitlichen Parametern beruhte, hätte die Institution „Leichenhaus“ ihre spezifische Bedeutung verloren.
Fazit Die Institution „Leichenhaus“ kann sowohl als Chronotopie nach Bachtin als auch als Nicht-Ort nach Augé interpretiert werden. Darüber hinaus bieten sich zahlreiche weitere raum-(zeitliche) Konzepte zur Anwendung an, die abhängig von ihrer Ausrichtung neue Interpretationsschwerpunkte hervorbringen können. Die von der Literaturwissenschaftlerin Tanja Dembski beklagte „Universalität des Begriffes“¹⁰⁸ und eine daraus ableitbare Beliebigkeit der Chronotopoi findet sich als Kritik auch gegenüber anderen Raum-Zeit-Konzepten.¹⁰⁹ Trotz der inhaltlichen Schwachstellen ebendieser Konzeptionen überwiegen ihre Vorteile, die sich zeigen, sobald man sie benützt, um die Bedeutung von Raum und Zeit im Kontext der Leichenhäuser zu erfassen. Zusammenfassend zeigt sich, dass im Fall der Leichenhäuser mehrere miteinander verflochtene Chronotopoi existierten. So waren die Einrichtungen von zeitlicher Dehnung bei gleichzeitigem Stillstand geprägt, während die Konzentration auf das Vergehen der Zeit oder präziser, auf die akribische Wahrnehmung von Kennzeichen der Zeit dabei in den Vordergrund rückte und unmittelbar mit dem räumlichen Zustand korrelierte. Gleichzeitig waren die Leichenhäuser Orte,
Dembski, Paradigmen, 189 – 190. Hier bezogen auf Heterotopien nach Michel Foucault, vgl.Vittoria Borsò. Grenzen, Schwellen und andere Orte. „…La geographie doit bien etre au cœur de ce dont je m‘occupe“. In Kulturelle Topografien, hg. von Vittoria Borsò, Reinhold Görling. Stuttgart: Metzler, 2004, 13 – 41, hier 29; Benjamin Genocchio. „Discourse, Discontinuity, Difference: The Question of ‚Other‘ Spaces“. In Postmodern Cities and Spaces, Sophie Watson, Katherine Gibson (eds.). Cambridge, Oxford: Blackwell, 1995, 35 – 46, hier 36 – 39; Michel Foucault. Die Heterotopien. France Culture, 7. Dezember 1966. In Die Heterotopien/Les hétérotopies. Der utopische Körper/Le corps utopique. Zwei Radiovorträge, hg. von Michel Foucault, übers. von Michael Bischoff, mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, 7– 22.
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in denen Krisen, Verwandlungen und Begegnungen verstärkt zum Ausdruck kamen. Der „Zwischenraum“, den die Leichenhäuser abbildeten und zugleich erzeugten, zeigt sich anhand einer tatsächlichen räumlichen Distanz zwischen den Siedlungen der Lebenden und den extramuralen Friedhöfen. Diese Entfernung war aber auch ein Ausdruck der metaphorischen sozialen Distanz zwischen Lebenden und Toten, die mit der Nutzung eines Leichenhauses eintrat, indem elementare Aspekte der Beerdigungspraxis geändert und zudem die Verstorbenen in fremde Hände gegeben wurden. Obgleich lang gehegte traditionelle Vorstellungen, wie das Bemühen um eine Geschlechtertrennung oder soziale Distinktionen innerhalb der Einrichtungen, auch für die Leichenhäuser propagiert wurden¹¹⁰, konnten dergleichen aus praktischen Gründen oftmals nicht realisiert werden. Auch deshalb bildeten die Leichenhäuser das Potenzial, neue Strukturen einer sozialen Interaktion innerhalb der Einrichtungen zu implementieren, indem wiederholt darauf verwiesen wurde, dass gesellschaftliche Grenzziehungen hier zugunsten einer lebensrettenden Programmatik zumindest teilweise infrage gestellt wurden. Wenn der praktische Arzt Carl Schwabe 1834 emphatisch über das Leichenhaus in Weimar berichtet, dass dort die Verstorbenen „ohne Rücksicht auf Stand, Alter, Religion [und] Geburtsort“ aufgenommen werden sollten, so zeugt dieser Ansatz von dem Potenzial, die bestehenden gesellschaftlichen Grenzen zumindest zu überdenken.¹¹¹ „Zwischenraum“ bedeutet hier in erster Linie die Parallelität von Möglichkeiten eines neuen sozialen Ordnens und Hinterfragens vertrauter gesellschaftlicher Wertkategorien¹¹², die in den unterschiedlichen chronotopen Lesarten einen Ausdruck erhalten. Eine gänzlich andere Form von zeitlicher Relevanz wird im vorliegenden Fall deutlich, wenn man die weitestgehende Vergessenheit der einstmaligen Bedeutung der Leichenhäuser berücksichtigt. Viele der Leichenhäuser des 19. Jahrhunderts haben den Zweiten Weltkrieg oder bauliche Eingriffe nicht überstanden. Bei jenen hingegen, die noch immer als Architekturen existieren, ist zumindest innerhalb der Bevölkerung – die Fachwelt, die sich mit der Thematik beschäftigt, sei an dieser Stelle ausgenommen – der einstige Rettungsgedanke von Scheintoten unbekannt. Im besten Fall wird hier der hygienische Ansatz erinnert, der insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Tragen kam, manchmal nicht einmal dieser. Dann werden die Bauten allein auf Trauerkapellen oder gar So wurde im Münchener Leichenhaus eine Trennung nach Wohlstand betrieben, vgl. Boehlke, Aufkommen, 144. Vgl. Schwabe, Leichenhaus, 34. Darin sieht Hetherington das entscheidende Potenzial und die Relevanz von Heterotopien, vgl. Hetherington, Badlands, Viii.
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Verwaltungsgebäude reduziert. Somit scheint es im Fall der Leichenhäuser keine „Bindungskraft erinnerungsträchtiger Orte“¹¹³ gegeben zu haben oder aber diese war nicht ausreichend, um sich im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung festzusetzen.
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Sylvia Wehren
Ungeheuerlich Tierisches entgegen edler Menschlichkeit. Aufklärungspädagogik zu Kinderkörpern in Zwischenräumlich- und Zwischenzeitlichkeit Monstrous (animality) against noble humanity. Enlightenment pedagogy on children’s bodies in interspace and intertemporality: This article explores the connection between humans and animals in late enlightenment pedagogy. It focuses on the anthropocentric construction of education, which is analysed from a body-historical perspective. With regards to the early pedagogical discourse on physical education, special attention will be given to the construction of interspaces and interims because the child and its body are located as standing between animal and human. Lexicon entries, programmatic writings about education, and educational diaries are used as sources.
1 Einleitung Der folgende Beitrag versteht sich als bildungshistorischer Versuch das diskursive Zusammenspiel von Mensch und Tier zu erkunden. Damit greift er eine zentrale anthropologische Figur der Moderne und damit auch der Pädagogik auf.¹ Besondere Aufmerksamkeit soll auf der anthropozentrischen Konstruktion des kindlichen Körpers liegen, da, so Giorgio Agamben, die diskursiven Unterscheidungen von Mensch und Tier zumeist das Innere der Körper durchziehen.² Untersucht wird der frühpädagogische Diskurs über die sogenannte ‚physische Erziehung‘ in der Spätaufklärung am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, weil sich in jenem Feld nicht nur das Sprechen über Erziehung und Körper theoretisch verquickt, sondern das Kind auch als ein von Körper-
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Sylvia Wehren
lichkeit beherrschtes Wesen gilt, menschlich und tierisch zugleich. Durch das zeitgenössische pädagogische Streben nach Überwindung der „Thierheit“³ im Kind und der Hervorbringung der „Würde der Menschheit“⁴ durch Erziehung, entsteht eine ambivalente Konstruktion von kindlicher Körperlichkeit, der durch ein Nachdenken über die Figurationen von Zwischenräumen und Zwischenzeiten nachgegangen werden kann. Als Quellen sind programmatisch-pädagogische Schriften bürgerlicher, protestantischer Pädagogik in den Mittelpunkt der Betrachtungen gestellt, die auf den Diskurs über die ‚physische Erziehung‘ Bezug nehmen, u. a. werden Lehrbücher und Nachschlagewerke der Pädagogik zur Grundlage genommen. Ergänzend werden einige der sogenannten ‚Vätertagebücher‘ hinzugezogen, die die ehemals an der Universität Halle angesiedelte Forschungsgruppe um Pia Schmid als Quellen für die bildungshistorische Forschung erschlossen hat.⁵ Die Tagebücher sind deshalb von besonderem Interesse, da sie mit wissenschaftlich-empirischem Anspruch für eine pädagogisch interessierte Öffentlichkeit geschrieben wurden. Sie ermöglichen den Blick auf die Praktiken der Erziehung, insofern ergänzen diese Quellen die programmatisch-theoretischen Debatten. Den historischen Ausführungen vorangestellt wird jedoch der körpersystematische Ansatz des Beitrags, um Theorie und Geschichte der Erziehung sinnvoll miteinander in Beziehung zu setzen.
2 Systematische und historische Perspektivierungen von kindlichen Körpern Im Zuge des sogenannten body turns ⁶ sind auch in der Erziehungswissenschaft hinsichtlich der theoretischen Bearbeitung von Körperlichkeit und Leibempfinden paradigmatische Verschiebungen entstanden. Bereits seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ergaben sich deshalb neue und produktive Debatten in Bezug auf die physischen und sinnlichen Dimensionen menschlichen Seins.⁷ Die
Immanuel Kant. Ueber Pädagogik, hg. von Friedrich Theodor Rink. Königsberg: Friedrich Nicolovius, 1803, 20. Kant, Ueber Pädagogik, 119. Pia Schmid. Väter und Forscher. Zu Selbstdarstellungen bürgerlicher Männer um 1800 im Medium empirischer Kinderbeobachtungen. Feministische Studien 18: 2 (2000), 35 – 48. Grundlegend dazu Robert Gugutzer. Body Turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld: Transcript Verlag, 2006, 9 – 53. Zum erziehungswissenschaftlichen Forschungsstand: Adrian Schmidtke. Körper und Erziehung in historischer Perspektive: Theorien, Befunde, und methodische Zugänge – ein Forschungsüberblick. Pädagogisches Seminar der Georg-August-Universität. Göttingen, 2008. URL: web-
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Diskussion zielte längere Zeit auf eine Dekonstruktion biologistischer Vorstellungen und naturhafter Bezüge, in dieser Beziehung ist von einer Diskursivierung der Debatten über Körper und Leib zu sprechen. Diese wurden von Beginn an maßgeblich von dem Ansinnen getragen, der Leibvergessenheit pädagogischer Theorie zu begegnen.⁸ Menschliche Körper und erlebte Leiblichkeit werden nun als sozial konstruierte, gesellschaftlich wirksame und historisch kontingente Phänomene gedacht und bearbeitet. Die (Re‐)Integration von Körper und Leib in erzieherische Kontexte wird dabei nicht nur als erforderlich angesehen, ebenfalls wird betont, dass dies kritischer Aufmerksamkeit und hoher Reflexionskraft bedarf. In diesem Rahmen haben die bisherigen bildungshistorischen Rekonstruktionen, die darauf fokussiert waren, die geschichtlich gewachsenen, ideologischen Verhältnisse von Körper und Erziehung für pädagogische Wissenskontexte zu beschreiben, vor allem die repressiven Seiten der Pädagogik thematisiert.⁹ Körper gelten in dieser kritischen Perspektive als die ersten Orte gesellschaftlicher Zumutungen im Erziehungsprozess sowie als Medien der permanenten und performativen Einschreibung von machtbesetzten sozialen Bedingungen.¹⁰ Antje Stache bemerkt in diesem Zusammenhang: Spricht man über Körperkonzeptionen und pädagogische Theorien in einem Atemzug, ist die Geschichte der Disziplinierung das naheliegendste Phänomen. Erziehung und Körperzüchtigung scheinen unauflösbar aufeinander verwiesen zu sein.¹¹
doc.sub.gwdg.de/pub/mon/2008/schmidtke.pdf (18.08. 2021). Allgemeiner und umfassender zum Stand der Körperforschung, auch mit Fokus auf pädagogische Perspektiven: Maren Lorenz. Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte (Historische Einführungen 4). Tübingen: edition diskord, 2000. Klaus Mollenhauer. Korrekturen am Bildungsbegriff. In Zeitschrift für Pädagogik, 33:1 (1987), 7– 10. Eine aktuelle Studie: Jana Johannson. Der Körper als Kriegsschauplatz von Erziehung – ein historischer Exkurs. In Erziehung, Gewalt, Sexualität: Zum Verhältnis von Geschlecht und Gewalt in Erziehung und Bildung (Schriftenreihe der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft), hg. von Claudia Mahs, Barbara Rendtorff. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich, 2016, 37– 56. Eine der ersten bildungshistorischen Studien: Wolfgang Dreßen. Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industrialisierten Bewußtseins in Preußen/Deutschland. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein, 1982 und eine weitere ältere, aber einschlägige Arbeit: Ludwig A. Pongratz. Schule als Dispositiv der Macht – Pädagogische Reflexionen im Anschluss an Michel Foucault. Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 66:3 (1989), 289 – 308. Schmidtke, Körper; Käte Meyer-Drawe. Leiblichkeit. In Historisches Wörterbuch der Pädagogik, hg. von Dietrich Benner, Jürgen Oelkers. Weinheim, Basel: Beltz Verlag, 2004, 603 – 619. Antje Stache. Habitualisierung und Indoktrination – Die Zucht des Körpers als Erziehungsmittel. In Indoktrination und Erziehung, hg. von Henning, Schluß. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007, 122.
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Für erziehungswissenschaftliche Zusammenhänge sind in dieser Hinsicht die Kritiken aus den Forschungskontexten der Historischen Anthropologie bedeutsam geworden; insbesondere die Arbeiten, die aus den internationalen Forschungsverbünden um Dietmar Kamper und Christoph Wulf entstanden.¹² Unter Rückbezug auf diese Kontexte ist davon auszugehen, dass die gesellschaftliche Hervorbringung und die soziale Einhegung von Individuen, mittels ihrer Körper und Leiber im Rahmen von pädagogischen Beziehungen, durch eine auf Dauer gestellte diskursive Degradierung von Körperlichkeit getragen wird; oder anders ausgedrückt, dass das deutschsprachige pädagogische Denken von Körper und Leib einem spezifischen Dualismus folgt, der nicht nur Körper bzw. Leib von Geist bzw. Seele trennt, sondern der auch beide Dimensionen menschlichen Seins – Physis und Psyche – hierarchisch zueinander in Beziehung setzt.¹³ Dies führt zu einer fortwährenden diskursiven Abwertung von Körper und Leib sowie zu einer ebenso dauerhaften Überhöhung von Geist und Seele in der Pädagogik, womit gleichfalls Kategorien wie Rationalität, Moralität und Vernunft in der Rede über Erziehung begünstigt werden.¹⁴ Trotz diverser Problematisierungsversuche setzt sich diese Tradition des Denkens bis in die aktuelle pädagogische Theorie fort. So gelten, auch vor dem Hintergrund kritischer Überlegungen zu Körper und Leib, immer noch geistig-seelische Prozesse und kognitiv-moralische Fähigkeiten als die zentralen Ziele von Erziehung. Daher wird diese in theoretischer Perspektive
Hugo Kükelhaus, Rudolf zur Lippe. Entfaltung der Sinne. Ein ‚Erfahrungsfeld‘ zur Bewegung und Besinnung. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1982; Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.). Die Wiederkehr des Körpers. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1982; Dietmar Kamper, Volker Rittner (Hg.). Zur Geschichte des Körpers. Perspektiven der Anthropologie. München: Hanser, 1976; Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.). Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte. Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 1989; Gunter Gebauer, Dietmar Kamper, Dieter Lenzen, Gert Mattenklott, Christoph Wulf (Hg.). Historische Anthropologie. Zum Problem der Humanwissenschaften heute oder Versuche einer Neubegründung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1989. Sylvia Wehren: Erziehung – Körper – Entkörperung. Forschungen zur pädagogischen Theorieentwicklung (Historische Bildungsforschung). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt, 2020. Die Begriffe Körper/Leib und Seele/Geist werden in der Erziehungswissenschaft je nach Kontext gebraucht, sowohl synonym als auch theoretisch voneinander geschieden. Zum Beispiel rekurriert die pädagogische Phänomenologie stärker auf die Rede vom Leib, hingegen ist in der systematischen Erziehungstheorie der Bezug zum Körperbegriff ausgeprägter. Für diese bildungshistorische Arbeit gelten die Bezeichnungen als analytische Kategorien, deren Verwendung sich an den historischen Quellen orientiert. Kamper, Wiederkehr des Körpers, 12– 15. Eine aktuellere Publikation, die im Rahmen dieser neuen Auseinandersetzungen entstand, ist z. B. Christoph Wulf, Jörg Zirfas (Hg.). Handbuch Pädagogische Anthropologie. Wiesbaden: Springer Verlag, 2014.
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zumeist als die Herausbildung der „psychischen Dispositionen“¹⁵ oder als „moralische Kommunikation“¹⁶ zwischen Individuen gedacht, stets werden damit jene menschlichen Bereiche hervorgehoben, die sich nicht auf die Physis des Menschen beziehen. Körperpädagogische Ziele sind infolgedessen zumeist nicht primär in erziehungstheoretische Perspektiven integriert.¹⁷ Hinsichtlich einer Geschichte von Erziehung sind die Degradierungen der körperlichen respektive der leiblichen Dimensionen von Menschen nicht nur mit der verfestigten diskursiven Trennung von Körper und Geist zu erklären, sondern auch – so die These des folgenden Beitrags – mit einer spezifisch anthropozentrischen Ausrichtung pädagogischer Theorie, die eine besondere Stellung des Menschen in der Welt behauptet und beständig fortschreibt. Diese Ausrichtung ist – das sei hier nur kurz angemerkt – auch von androzentrischen, klassistischen und rassifizierenden Motiven durchzogen, da, wie feministische und postkoloniale Wissenschaftskritik zuallererst gezeigt hat, seit der Verwissenschaftlichung von anthropologischen Zusammenhängen in der Epoche der europäischen Aufklärung, Menschsein nicht nur über die Fähigkeit zur Vernunft als normativer Bezugshorizont, sondern auch über die Sozialkategorien weiße und bürgerliche Männlichkeit definiert ist.¹⁸ Die historisch verfestigte Sonderstellung des männlichen, bürgerlichen und weißen Menschen zeigt sich für körperhistorische Per-
Wolfgang Brezinka. Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. Analyse, Kritik, Vorschläge (Gesammelte Schriften 4). 5. Aufl. München, Basel: Ernst Reinhart Verlag, 1990, 95. Jürgen Oelkers. Erziehung. In Historisches Wörterbuch der Pädagogik, hg. von Dietrich Benner, Jürgen Oelkers. Weinheim, Basel: Beltz Verlag, 2004, 303. Wehren, Körper, 47– 68. Claudia Honegger. Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. 1750 – 1850, 2. Aufl. Frankfurt, New York: Campus Verlag, 1992. Im Weiteren: Sarah Reimann. Die Entstehung des wissenschaftlichen Rassismus im 18. Jahrhundert (Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte 104). Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2017; Karin Hausen. Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 202). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2013; Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt (Hg.). Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, 2. Aufl. Münster: Unrast Verlag, 2009 [2005]; Sandra Harding. Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, 3. Aufl. Hamburg: Argument Verlag, 1999; Gudrun Hentges. Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und ‚Wilden‘ in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts, Schwalbach: Wochenschau Verlag, 1999; Karin Hausen, Helga Nowotny (Hg.). Wie männlich ist die Wissenschaft? 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1990 [1986]. Für das Feld Allgemeiner Pädagogik im Zusammenhang mit Verwissenschaftlichungsprozessen erziehungswissenschaftlicher Theorie: Juliane Jacobi. Wie allgemein ist die Allgemeine Pädagogik? Zum Geschlechterverhältnis in der wissenschaftlichen Pädagogik. In Unbeschreiblich weiblich. Aspekte feministischer Wissenschaft und Wissenschaftskritik, hg. von Walter Herzog. Chur: Rüegger, 1991, 193 – 206.
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spektiven auch an der diskursiven Verhältnisbestimmung von Mensch und Tier – ein Feld, das im Folgenden näher untersucht werden soll. Gerade die Zeit der Aufklärung ist für die Geschichte der pädagogischen Theoriebildung von besonderer Bedeutung, da sich im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert die Wissenschaft von der Erziehung begründete.¹⁹ In dieser Zeit wurden daher jene Denksysteme paradigmatisch ausgebildet, die auch für die aktuelle Erziehungs- und Bildungstheorie ihre Wirksamkeit entfalten. Für den Zusammenhang von Erziehung und Körper ist in dieser Hinsicht der Diskurs über die ‚physische Erziehung‘ der Kinder relevant,²⁰ der zeitgenössisch nicht nur auf die generelle körperliche, sondern auch auf die frühkindliche, private Erziehung fokussiert und damit genau auf jene Phase des kindlichen Seins, die nach damaligen Vorstellungen der „Mensch mit den Thieren gemein hat“²¹, so Immanuel Kant (1724– 1804) in seiner durch Friedrich Theodor Rink (1770 – 1811) herausgegebenen Vorlesung Ueber Pädagogik von 1803. Kindliche Körper wurden in dieser Weise mit Rohheit, Wildheit und Tiersein assoziiert, so galt gerade das junge Kind als ein Wesen, das die „Tierheit im Menschen“²², wie Kant an anderer Stelle bemerkt, noch nicht überwunden habe. Kinderkörper wurden auch mit Bezug auf die vermeintlich tierischen Anteile als Ort der Sünde und der triebhaften Gefahr verstanden, die nur durch die Entwicklung der Fähigkeiten zur Vernunft gebändigt werden können.²³ Deshalb, so Kant in pädagogischer Perspektive und in einer zeittypischen Auffassung, müsse durch Erziehung vermittels „Disziplin oder Zucht die Tierheit in die Menschheit“²⁴ verwandelt werden. Auch wenn sich aufklärerisch, entgegen älterer Vorstellungen von der Erbsünde, zunehmend auch leibfreundliche Tendenzen in der bürgerlichen, protestantisch
Jens Brachmann. Der pädagogische Diskurs der Sattelzeit. Eine Kommunikationsgeschichte. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, 2008; Heinz-Elmar Tenorth. Erziehungswissenschaft. In Historisches Wörterbuch der Pädagogik, hg. von Dietrich Benner, Jürgen Oelkers. Weinheim, Basel: Beltz Verlag, 2004, 342– 357; Christa Kersting. Die Genese der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Campes „Allgemeine Revision“ im Kontext der neuzeitlichen Wissenschaft. Weinheim: Deutscher Studienverlag, 1992. Lydia Kunze. „Die physische Erziehung der Kinder“: Populäre Schriften zur Gesundheitserziehung in der Medizin der Aufklärung. Marburg: Hochschulschrift, 1971. Kant, Ueber Pädagogik, 35. Immanuel Kant. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Königsberg: Friedrich Nicolovius, 1793, 22. Hartmut Böhme, Gernot Böhme. Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. 3. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, 1996 [1983], 9 – 23. Kant, Ueber Pädagogik, 2.
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geprägten Aufklärungspädagogik zeigen²⁵, so bleibt doch die Vorstellung, dass es die tierischen bzw. körperlichen Anteile im jungen Menschen seien, die gelingende Erziehung hindern, gängig. Spezifische zeitliche und räumliche Perspektiven in Bezug auf das Verhältnis von Erziehung und Körper begleiten diese Auffassung und folgen aus ihr: So gilt in körperpädagogischer Hinsicht das junge Kind als auch defizitäres Wesen, das aufgrund seiner überbordenden Körperlichkeit und damit durch die Abwesenheit von Verstand und Vernunft charakterisiert werden kann. Gleichzeitig jedoch sei eine Potenz zur Menschlichkeit in ihm angelegt, auch sei es – in langsamer Abkehr von erbsündlichen Vorstellungen – im Zustand der naturhaften Unschuld zu betrachten.²⁶ Da die diskursiven Verortungen der tierischen und menschlichen Aspekte seiner selbst im Körper und an den Organen vermutet wurden – wie Agamben herausstellt, ist dies eine theoretische Kontinuität der Moderne – ²⁷, entstehen durch die pädagogische Bestimmung des Menschlichen direkt am und im Kind „Zone[n] der Unbestimmtheit“²⁸ in der Rede über den kindlichen Körper. Diese werden zeitgenössisch als Orte des Zwischens in Raum und Zeit theoretisiert, was sich z. B. in pädagogischen Vorstellungen ausdrückt, die permanent betonen, dass das Kind ein Mensch im Werden sei. Im Zedler-Universallexikon, der umfassendsten deutschsprachigen Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, heißt es in diesem Sinne unter dem Stichwort ‚Kind’: Bey folgender Abhandlung nehmen wir das Wort Kind von den ersten Lebens-Jahren eines Menschen, in welchem der Gebrauch des Leibes und der Seele noch schwach und unvermögend sind, deswegen es die Lateiner durch infans geben, welches so viel ist als nicht reden können […] tut. Nicht als wenn es [das Kind] gar noch nicht reden könnte, sondern weil es zu dem Verstande noch nicht kommen ist […].²⁹
Die wichtigsten kindlichen Eigenschaften sind damit zwar durch Abwesenheit oder Unvermögen beschrieben, aber auch durch ein ‚noch nicht‘ in Bezug auf den Verstand – der Prozess der Erziehung soll diesen Zustand beseitigen. Das Kind könne vielleicht schon ein paar Worte sagen bzw. sich rudimentär verständigen, aber aufgrund eines fehlenden geistig-seelischen Vermögens, wird es hauptsächlich als ‚infans‘ und damit als ‚unsprechend‘ und ‚nicht redend‘ definiert. Dies ist ein bedeutsames anthropozentrisches Motiv, da Sprache als ein zentrales
Wehren, Körper, 199 – 225; Meyer-Drawe, Leiblichkeit, 612– 614. Baader, Die romantische Idee des Kindes, 67– 68, 257– 258. Agamben, Tier im Menschen, 30. Agamben, Tier im Menschen, 31. Johann Heinrich Zedler. Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Aller Wissenschaften und Künste. Bd. 15 – K. Halle, Leipzig: Johann Heinrich Zedler, 1737, Sp. 640.
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Merkmal in der Vorstellung vom Menschen gilt.³⁰ Ähnliches findet sich im „Wörterbuch der deutschen Sprache“, das von Joachim Heinrich Campe (1746 – 1818) verfasst und herausgegeben wurde. Campe, der als Pädagoge und pädagogischer Publizist bereits zeitgenössisch große Bekanntheit erlangte, kann als einer der führenden Vertreter der philanthropischen Strömung in der spätaufklärerischen Erziehungsbewegung gelten. Auch in seinem Wörterbuch sind die Einträge zu Säugling und Kind mit einem Verweis auf deren noch nicht vorhandenen Verstandesfähigkeiten versehen. Exemplarisch sei an dieser Stelle aus dem Eintrag zu ‚Säugling‘ zitiert. Campe bildet Beispielsätze, um die damalig gängigen Bedeutungsvarianten des Begriffs kenntlich zu machen. Unter anderen diesen: „Uneigentlich, eine mit einem Säugling besonders in der Verstandesschwäche und Unerfahrenheit zu vergleichende Person“.³¹ Auch der folgende Eintrag findet sich: „Ein Greis an Jahren, ein Säugling an Verstande“.³² In beiden Fällen wird die erste Phase der Kindheit nicht nur wieder defizitär gekennzeichnet, durch die Abwesenheit von etwas oder das Unvermögen etwas zu tun, sondern gleichzeitig und implizit als Statuspassage, die sich insbesondere dadurch beschreiben lässt, dass das Kind in einem Zustand des Werdens verhaftet sei. Implizit ist der Gedanke angelegt, dass das Kind sich erst durch die Herausbildung von Verstand zu seiner ‚normalen‘ Menschlichkeit entwickle. Das Kind ist in dieser Hinsicht noch nicht ganz Mensch. Es wird damit qua seiner ihm eigenen Materialität nicht nur performativ auf ein Dazwischen in der Zeitlichkeit, sondern auch auf Zwischenräumlichkeit gestellt, dies im Konnex von Tierheit und Menschsein. Als zwischenräumlich gilt der Körper des Kindes, weil sich in ihm sowohl die tierischen Triebe und Leidenschaften befinden, wie auch die bereits im Keim angelegten Fähigkeiten zu den Verstandestätigkeiten. Das Kind ist damit jedoch weder Tier noch Mensch, der Körper noch unentschieden und ungerichtet in seinen Entwicklungsmöglichkeiten. Das Wesen des Kindes ist damit beides und keines, es wird als zwischen den tierischen und menschlichen Potenzen inszeniert. Als zwischenzeitlich gilt der kindliche Körper, weil nun Erziehung permanent, chronologisch und prospektiv an diesem agieren muss, in durch die Natur bestimmten Phasen. Erziehung zielt in diesem Sinne auch einhegend auf das Tierische am Raum des Körpers, um das zukünftig Menschliche zu ermöglichen. Der kindliche Körper ist damit ein auf kurze Dauer gestelltes Objekt der Erziehung, das dennoch höchste pädagogische Aufmerksamkeit verlangt. In dieser Haltung schreibt der Pädagoge Friedrich Ludwig Jahn (1778 – 1852), auf den sich maßgeblich die Agamben, Tier im Menschen, 30. Joachim Heinrich Campe. Wörterbuch der deutschen Sprache. U-Z. Bd. 4. Braunschweig: Schulbuchhandlung, 1810, 44. Campe, Wörterbuch, 44.
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Deutsche Turnbewegung und damit eine spezifische Art der Körperpädagogik begründet: Mit seiner Geburt ist der Menschensäugling an die Welt geknüpft; an die physische, tierisch durch seine Bedürfnisse; an die sittliche, geistig durch sein Recht. Es ist sein Vorrecht zum Vernunftwesen erzogen zu werden.³³
Auch Jahn zielt auf die Entwicklung von Verstandestätigkeit in der Erziehung; so sei es das Recht des Kindes, zu einem Wesen erzogen zu werden, das sich durch Vernunft auszeichne. Die Grenze zwischen Tier und Mensch ist dementsprechend bestimmt. Er assoziiert die Physis des Säuglings mit Tierischem, dieser sei physisch und tierisch durch seine Bedürfnisse geprägt. Sittlichkeit und Geistestätigkeit hingegen seien ein zukünftiges Ziel der Erziehung, sie lägen zunächst zwar nur als Möglichkeit, aber auch als Notwendigkeit im Kind vor. Erst durch das Vorrecht der Erziehung könne beides zur Ausbildung und das Kind zur vollendeten Menschlichkeit kommen. Der kindliche Körper wird nach dieser Anschauung als ein Objekt angesehen, das über die Zeit zu einem anderem werden muss, gerade durch die Arbeit des Erziehenden am Körper des Kindes, um an diesem den Menschen hervorzubringen. In pädagogischer Hinsicht ist deshalb ein permanentes Agieren des Erziehenden in der Statuspassage – im Zwischen – von Nöten, unter Beachtung der ihr eigenen Dynamiken. Es ist daher von prozessualen und transitorischen Erziehungs- und Bildungsvorstellungen zu sprechen, die den kindlichen Körper als einen Ort begriffen, an dem sich nicht nur erzieherische Utopien von einer Verbesserung des Menschengeschlechts und Vorstellungen über den idealen bürgerlichen Körper einlagerten, sondern zu dem auch Dinge, Praktiken und Umgebungen entwickelt wurden, um die Aufgabe der Vermenschlichung in der Gefahren- und Potenzzone Körper anzugehen.
3 Das Verhältnis von Erziehung und Körper Kant insistiert, dass es gerade Erziehung sei, die die allgemeine menschliche Entwicklung vorantreiben könne. Denn „hinter der Education steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur“.³⁴ Es sei entzückend sich vorzustellen, daß die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit
Friedrich Ludwig Jahn. Deutsches Volksthum. Lübeck: Niemann und Comp., 1810, 169. Kant, Ueber Pädagogik, 9.
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angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklicheren Menschengeschlechte.³⁵
Wie sich damit zeigt, sind die Vorstellungen von bürgerlicher Erziehung nicht nur auf Individualentwicklung, das heißt auf die Vervollkommnung und Vermenschlichung des Einzelnen angelegt, sondern vielmehr auf die Weiterentwicklung von Gesellschaft; Ontogenese und Phylogenese werden in dieser Hinsicht verschränkt.³⁶ Das Kind wird damit in zweifacher Weise gefordert. Es muss nicht nur erwachsen werden, sondern gleichsam mit seiner Entwicklung über die eigene Gattung hinausreichen und eine verbesserte Version des Menschseins erreichen. Der kindliche Körper wird damit auch als ein Ort verstanden, der seine eigene Natur gesellschaftlich überschreiten muss. Auch in dieser Hinsicht wird das Unbestimmte der Form in Raum und Zeit benötigt, da die Bestimmungen erst durch die Ansprüche einer prospektiv angelegten Erziehung gesetzt werden. Mit dem Bezug auf Glückseligkeit bei Jahn, die noch auf die eudämonistische antike Philosophie ausgerichtet ist, welche eine ausgeglichene, gelungene Lebensführung durch die Arbeit am Selbst und an den Lebensweisen anstrebt, geht dieser zeitgenössisch typische Erziehungsoptimismus, der sich auch in Allmachtphantasien versteigt, mit einem starken Anspruch auf die Notwendigkeit von Erziehung einher. Denn, so Kant an anderer Stelle: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts als was die Erziehung aus ihm macht“.³⁷ Die anthropozentrische Stoßrichtung pädagogischen Handelns formulierte der aufklärerische Philosoph Moses Mendelsohn (1729 – 1786) in seiner Schrift Ueber die Frage: Was heißt aufklären? bereits 1784, also zwanzig Jahre zuvor. Zwei Monate vor Kants berühmten Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? unterlegte Mendelssohn seine Reflexionen über Bildung mit dem Grundsatz: Ich setzte alle Zeit die Bestimmung des Menschen als Maß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen, als einen Punkt, worauf wir unsere Augen richten müssen, wenn wir uns nicht verlieren wollen.³⁸
Kant unterteilt in dieser Hinsicht seine Erziehungskonzeption in die dafür entscheidenden Phasen. Um das Kind zum Menschen werden zu lassen, sei erst
Kant, Ueber Pädagogik, 9. Baader, Die romantische Idee des Kindes, 66. Kant, Ueber Pädagogik, 7. Moses Mendelssohn. Ueber die Frage: was heißt aufklären? Berlinische Monatsschrift, 4 (1784), 194– 195.
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Wartung und Disziplinierung, folgend Zivilisierung, Kultivierung und Moralisierung von Nöten. Wartung und Disziplinierung sind bei Kant auf die körperliche Erziehung in früher Kindheit orientiert. Während Kant unter Wartung die körperliche Pflege und die erste physische Betreuung des Kindes versteht, heißt Discipliniren […] suchen zu verhüten, daß die Thierheit nicht der Menschheit, in dem einzelnen sowohl, als gesellschaftlichen Menschen, zum Schaden gereiche. Disciplin ist also bloß Bezähmung der Wildheit.³⁹
Damit zielt Disziplinierung zwar wie Wartung auf eine längerfristige Einflussnahme des Erziehenden auf den kindlichen Körper.Während Wartung jedoch den Körper gesund erhält, da das Kind sich noch nicht allein versorgen kann, dient Disziplinierung zur Begrenzung der wilden, tierischen Anteile, die dem Kind zu eigen sind. Disziplinierung sei daher, differenziert Kant aus, negativ, d. h. verhütend ausgerichtet, eben in jener Hinsicht, dass sie „blos Fehler abhält“.⁴⁰ Daneben enthalte sie jedoch auch Unterweisung und Anführung des Kindes, insofern kultiviere sie auch. Diese letzte Ergänzung Kants verweist auf die sozialisatorischen Aspekte von disziplinierender Körperarbeit, da eben nicht nur Tierheit und Wildheit verhindert, sondern auch spezifisch menschliche Eigenschaften hervorgebracht werden sollen. Gerade in den ersten Jahren ginge es daher bei der Erziehung, an dieser Stelle sei ein weiteres Mal Jahn zitiert, um die „Menschlichmachung durch Erregung eigener Selbsthäthigkeit“.⁴¹ Denn es sei die Fähigkeit zu eigenständigem Handeln, welche sich über die eigene Körperlichkeit hinwegsetzen sowie die Tierheit und Wildheit dauerhaft bannen könne. In dieser Weise ermögliche es das willkürliche Tun, das pädagogisch in Gang gebracht werden müsse, die Räume des Zwischens zu verlassen. Die Sphären des Unbestimmten am Kind – das diffuse und triebhaft gesteuerte körperliche Wirken, das durch unausgebildete geistig-seelische Fähigkeiten ungehindert tätig ist – bekämen dadurch Form, Richtung und Festigkeit. Dies soll u. a. mittels Gewöhnung geschehen, um auf diese Weise über Zeit und Raum das Tierische am Kind zu bändigen. So solle z. B. nach Kant, der Mensch wie das Tier „eine bestimmte Zeit“ zum Schlafen haben, „damit der Körper nicht in seinen Funktionen gestört werde“⁴², aber anders als das Tier sollen Kinder nur zu gesellschaftlich festgelegten Zeiten essen, weil es dem Menschsein in diesem Fall nicht „sehr zuträglich“ sei „die Thiere zum Beyspiele
Kant, Ueber Pädagogik, 20. Kant, Ueber Pädagogik, 28. Jahn, Deutsches Volksthum, 170. Kant, Ueber Pädagogik, 57.
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anzuführen“⁴³, da diese im Unterschied zu Menschen Nahrung wählen – wie z. B. Gras – die nicht sehr nahrhaft sei. Jedes Handeln müsse jedoch ethisch gerahmt werden, damit es ein gutes Handeln werde. Es gelte daher, in Bezug auf Erziehung auch die menschliche Fähigkeit zu Sittlichkeit und Moral im Sinne der Vernunft zu befördern. Aufgrund dieser allgemeinen Auffassung postuliert Campe in seinem Aufsatz Ueber die früheste Bildung junger Kinderseelen im ersten und zweiten Jahre der Kindheit von 1785, der in der 16-bändigen Allgemeinen Revision, der ersten großen pädagogischen Enzyklopädie, veröffentlicht wurde: Aber auch des kleinsten Kindes Seele kann ihren Willen auf eine Weise äußern, die, wenn sie ihr zur Fertigkeit werden sollte, sie dermahleinst entweder zu einer guten oder zu einer bösen Seele machen wird. Sie kann freundlich und nachgebend seyn; sie kann aber auch zürnen, sich erbosen, etwas Schädliches begehren, halsstarrig seyn, u.s.w. lauter Handlungen, die vor der Entwicklung seiner Vernunft nur thierisch, keineswegs schon sittlich gut oder sittlich böse sind […].⁴⁴
Die Tätigkeiten der Seele sind in der Perspektive Campes zunächst als weder gut noch böse begriffen. Vor der Entwicklung von Vernunft gelten sie ihm einzig als ‚thierisch‘, erst durch den Prozess der Versittlichung werden sie zu guten oder bösen Handlungen, die dann die ganze Seele entweder zu einer guten oder zu einer bösen Seele mache. Kindliches Handeln wird damit auch als ein moralisches Moratorium verstanden, in dem Kinder, solange sie von Körperlichkeit und tierischem Verlangen getrieben werden, noch nicht voll umfänglich für ihre Willensäußerungen verantwortlich zu machen sind. Damit ist die frühe Kindheit in ihrer Gesamtheit qua Körperlichkeit als eine Übergangsphase von Raum und Zeit konzipiert, die gänzlich unter anderen Bewertungsmaßstäben steht als die Erwachsenenwelt. Die Vorstellungen von Körperlichkeit, die im zeitlichen und räumlichen Dazwischen angesiedelt sind und sich durch Unbestimmtheit auszeichnen, übersetzen sich damit in erziehungstheoretische Bestimmungen. In Hinsicht auf die Versittlichung des Kindes brauche es Erziehung in und durch Gesellschaft. Johann Stuve (1752– 1793), der als Schulreformer und Pädagoge ebenfalls in der Allgemeinen Revision veröffentlicht, schreibt in seinem Aufsatz über die Allgemeine[n] Grundsätze der Erziehung hergeleitet aus einer richtigen Kenntniß des Menschen: Kant, Ueber Pädagogik, 57. Joachim Heinrich Campe. Ueber die früheste Bildung junger Kinderseelen im ersten und zweiten Jahre der Kindheit. In Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, hg. von Joachim Heinrich Campe, Bd. 2. Hamburg: Carl Ernst Bohn, 1785, 139.
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Der Mensch, sich selbst überlassen, abgesondert von seines Gleichen, bleibt an Leib und Geist unausgebildet, ist ein armseliges, verstandloses Thier, und würde in Jahrhunderten kaum merkliche Schritte zur Vollkommenheit machen.⁴⁵
Stuve betont damit, dass sowohl Leib als auch Geist ausgebildet bzw. im Erziehungsprozess zu formen sind. Jedoch – so die allgemeine Auffassung – sei es gerade der Leib, der die Gefahren birgt auf dem Weg zur Vervollkommnung der Seele, denn unausgebildet bleibe das Kind von Körperlichkeit und damit von tierischem Verlangen beherrscht. In seiner Schrift Philanthropische Aussichten redlicher Jünglinge, ihren denkenden und fühlenden Mitmenschen zur Erwegung übergeben von 1775 erklärt der Philosoph und Publizist Isaak Iselin (1728 – 1782) in pädagogischer Hinsicht und ebenfalls in eudämonistischer Rahmung: Wenn du den Menschen als ein empfindendes handelndes mit der gröbern Hülle des Leibes umgebenes Wesen siehst, so sagst du dieses Wesen ist bestimmt Glückseligkeit zu empfangen, und Glückseligkeit mitzutheilen. – Die Empfindung setzt ihn [den Menschen] mit dem Thier in eine Classe. – Durch das Vermögen zu handeln (d. h. sich selbst nach Willkühr den Stoff zur Empfindung vorzulegen) – erhebt er sich über dasselbe. – Die gröbere Hülle des verweslichen Leibs unterscheidet ihn von andern handelnden Wesen, die nicht in einem solchen Leibe wohnen.⁴⁶
Handeln und Empfindung sind damit auf spezifische Weise zueinander gestellt. Der Mensch – respektive dessen Seele – sei als gleichsam himmlisches, überzeitliches Wesen, welches nur auf Lebenszeit mit einer gröberen Hülle, der Hülle des Leibes, umgeben ist, zur göttlichen Glückseligkeit bestimmt. Nur die Empfindung, die Äußerung des vergänglichen Leibes, setzt den Menschen mit dem Tier gleich. Durch das Vermögen zum Handeln, oder wie Jahn formulierte, zur Selbsttätigkeit, könne jener sich jedoch über diesen Missstand erheben. Daraus erwachse der Erziehungsauftrag. Tiere könnten keinen moralischen Charakter ausbilden, deshalb sei es in der frühen Phase der Erziehung des Kindes die Aufgabe von Erziehenden, es zur Vermenschlichung zu führen. Im Medium des Körpers, der potentiell die überzeitliche Seele des Menschen gefährde, müssen deshalb die Empfindungen in tätiges und sittliches Handeln übersetzt werden.
Johann Stuve. Allgemeine Grundsätze der Erziehung hergeleitet aus einer richtigen Kenntniß des Menschen in Rüksicht auf seine Bestimmung, seine körperliche und geistige Natur und deren innigste Verbindung, seine Fähigkeit zur Glükseligkeit und seine Bestimmung für die Gesellschaft, In Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, hg. von Joachim Heinrich Campe, Bd. 2. Hamburg: Carl Ernst Bohn, 1785, 314. Isaak Iselin. Philanthropische Aussichten redlicher Jünglinge, ihren denkenden und fühlenden Mitmenschen zur Erwegung übergeben. Basel: Johann Schweighauser, 1775, 2.
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Dabei drohe beständig Gefahr, sowohl in individueller als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Christoph Wilhelm Hufeland (1762– 1836), königlicher Leibarzt, Mediziner und Verfasser einer der bekanntesten Schriften zur körperlichen Erziehung Guter Rat an Mütter über die wichtigsten Punkte der physischen Erziehung der Kinder in den ersten Jahren, welche bereits zu seinen Lebzeiten in mehreren Auflagen erschien, schreibt in seiner Geschichte der Gesundheit nebst einer physischen Karakteristik des jetzigen Zeitalters von 1812: […] dass die Menschheit allerdings einen Standpunkt ihres physischen Lebens erreicht hat, der noch nicht da war, und der höchst wunderbar und eigenthümlich gestaltet ist. Das Wesentliche scheint darin zu bestehen, dass die thierische Kraft immer mehr verloren geht und die Geistigkeit die Oberhand erhält. Hier aber eben tritt der gefährlichste Moment ein. – Nimmt jene Verfeinerung eine falsche Richtung, wird blos die Entkörperung immer weiter getrieben, ohne eine neue Kraft an die Stelle zu setzen; geht die thierische Kraft verloren ohne die thierische Natur; so erzeugt eine solche Verfeinerung am Ende Schattenbilder, Mittelwesen, die nicht Körper und auch nicht Geist sind, erhöht die Zerstörbarkeit und die zerstörenden Potenzen zugleich und beschleunigt so den Untergang. – Woher soll nun Rettung – physische Regeneration der Menschheit – kommen? – Etwa durch physische Heilmittel, kalte Bäder, magnetische Zauberkräfte? – […] Oder durch abhärtende physische Erziehung? – Was kann sie helfen, ohne eine bessere moralische? Denn Wilde wollen und können wir nicht wieder haben.⁴⁷
Hufeland formuliert nicht nur eine Einschätzung darüber, in welchem Zustand sich die Menschheit seiner Auffassung nach befände, nämlich in einem Zustand, in dem ‚Entkörperung‘, die durch zunehmende Vergeistigung vorangetrieben werde, sondern er entwickelt auch ein Gefahrenszenario: Würde die physische Erziehung nicht durch Moralbildung ergänzt, käme es zur Ausbildung von Mischwesen, die weder ganz körperlich noch vollendet geistig wären. Das Kind, ja die ganze Menschheit, bliebe dann in jenem frühkindlichen Zwischenstadium als unvollendetes Wesen gefangen. Deshalb müsse zu einer bestimmten Zeit die Entwicklung des Menschlichen erfolgen, da sich der Raum der Unbestimmtheit und die Zonen des Zwischens sonst in der Ausbildung von ‚Schattenbildern‘ und ‚Mittelwesen‘ im Äußeren zeigen würden. Die ganze Menschheit würde sich in Wildheit ergehen, denn einzig die tierische Natur, die alleine zu einer instinktiven und selbstorganisierten Entwicklung fähig sei, bliebe dem nicht erzogenen Kinde erhalten. Hufeland strebt ob dieser Gefahr eine allgemeine geistige Erneuerung an, die auch die richtige pädagogische Behandlung des Körpers ermöglichen
Christoph Wilhelm Hufeland. Geschichte der Gesundheit, nebst einer physischen Karakteristik des jetzigen Zeitalters. Eine Vorlesung in der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin: Realschul-Buchhandlung, 1812, 32– 33.
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würde. Dazu schreibt Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1766 – 1837), Pädagoge und pädagogischer Schriftsteller, Philosophie- und Theologieprofessor sowie Leiter von Erziehungsinstituten, in seinem ersten Band der Erziehungslehre von 1802, ganz in bürgerlicher Perspektive, die sich auch zum ‚Pöbel‘ hin abzugrenzen sucht: Die harmonische Ausbildung der Empfindung durch die Sinneswerkzeuge, nach diesen Winken der Natur, ist eines der Hauptgeschäfte der ersten Erziehung. Wie störend ein unharmonisches Ueben eines Sinnes ist, seht Ihr an der gewöhnlichen Art, wie es bey dem Pöbel zugeht. Da ist der Sinn des physischen (und leider nur dieses) Geschmacks und des Gefühls herrschend! Wie muß z. B. das Kitzeln die Kinder zur Thierheit herabziehen. Dagegen können die beiden obersten Sinne nicht genug geübt werden, weil man nicht genug Gegengewicht gegen das Thierischwerden in das Kind legen kann.⁴⁸
Nicht nur plädiert Schwarz in der bürgerlichen Erziehung des Kindes für eine harmonische Ausbildung der Empfindungen, sondern er unterstellt auch, dass andere gesellschaftliche Gruppen – in diesem Fall durch den ‚Pöbel‘ markiert – genau jenen Prozess der vermeintlichen Vervollkommnung des Menschen nicht vollziehen würden. Beispielhaft führt er die Praktik des Kitzelns an, die als Symptom einer falschen körperlichen Erziehung anzusehen sei; sie wird bei Schwarz für die Ausprägung und Erhaltung der Tierheit im Menschen verantwortlich erklärt. Schwarz präferiert demgegenüber die Ausbildung der ‚oberen Sinne‘ bzw. der geistigen Vermögen⁴⁹, um einen Ausgleich zu den physischen Sinnen des Schmeckens und des Fühlens zu schaffen. Wiederholt zeigt sich der kindliche Körper als offener und unbestimmter Raum; denn welche Art des Menschseins durch Erziehung hervorgebracht wird – die bürgerliche oder die des Pöbels – werde erst durch die praktische Pädagogik bestimmt. Damit befindet sich der kindliche Körper nicht nur zwischen Tier und Mensch, sondern auch zwischen den gesellschaftlichen Welten, die ihrerseits stärker einem „tierischen“ oder einem „vollendet menschlichen“ Dasein zugeneigt sein können. Mit gleichem Anspruch formuliert Schwarz an anderer Stelle: Ihr sehet ein Kind, mit welchem man fast nichts vornimmt, als daß man es füttert. Das Essen und Trinken wird also seine Natur ganz einnehmen, und so wird seine Lebensgeschichte hauptsächlich im Thierischen bestehen; denn die einmal so in dem Niederen fest gehaltene
Friedrich Heinrich Christian Schwarz. Erziehungslehre. Erster Band. Die Bestimmung des Menschen. In Briefen an erziehende Frauen. Leipzig: Göschen, 1802, 185 – 186. Panajotis Kondylis. Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2002 [1981].
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Kraft wird sich auch nun überall im Niederen entwickeln, und daher wird z. B. auch der Geschlechtstrieb auf niedere Weise zum Vorschein kommen.⁵⁰
Beschäftigt man das Kind bzw. dessen obere Sinne nicht, so die Auffassung von Schwarz, wird denn auch sein Wesen fast gänzlich im Tierischen und damit im Niederen des Pöbels verbleiben. Die Nähe zum Tier ist hier mit den Grundbedürfnissen nach Essen und Trinken wie auch mit sexueller Entwicklung verknüpft. Bürgerliche Erziehung müsse daher eigentlich immer, also auch im Rahmen körperlicher Erziehung, auf die geistig-seelische Erhöhung des Menschen zielen. Damit sind auch christliche Vorstellungen, die auf die Erlangung des Seelenheils des Menschen ausgerichtet sind, pädagogisch verarbeitet.⁵¹ „Der Bestimmung des Menschen hienieden“, so Stuve daher, sei es „ein Mittelding zwischen Engel und Thier zu seyn“.⁵² Erstrebenswert sei jedoch einzig die Annäherung des bürgerlichen Menschen an himmlische bzw. geistig-seelische Vermögen.
4 Väterliche Beobachtungen: Das Erwachen der Vernunft Die Tagebücher, die nun folgend Beachtung finden, wurden zwischen 1786 und 1799 publiziert. Sie stellen einen ersten Versuch in der Geschichte der modernen Pädagogik dar, frühkindliche Erziehung in Form von privaten Beobachtungsprotokollen empirisch zu beschreiben. Sie dienen der Ergänzung der bislang aufgerufenen programmatischen Schriften. Ein erster Teil des Vatertagebuchs von Immanuel David Mauchart (1764– 1826), das Tagebuch über die allmähliche körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes, wurde 1798 veröffentlicht. Es enthält Beschreibungen über die Entwicklungen seiner Tochter Charlotte im ersten Jahr nach ihrer Geburt im April 1794.⁵³ Maucharts Aufmerksamkeit im Tagebuch ist von Beginn an auf die Ent-
Schwarz, Erziehungslehre, 159. Käte Meyer-Drawe. Zum metaphorischen Gehalt von „Bildung“ und „Erziehung“. Zeitschrift für Pädagogik, 45: 2 (1999), 165 – 168; Jürgen Oelkers, Fritz Osterwalder, Heinz-Elmar Tenorth (Hg.): Das verdrängte Erbe. Pädagogik im Kontext von Religion und Theologie. Weinheim, Basel: Beltz Verlag, 2003. Stuve, Allgemeine Grundsätze, 298. In den Vätertagebüchern sind nur wenig geschlechtliche Unterscheidungen hinsichtlich der körperlichen Erziehung der beschriebenen Kinder zu erkennen, so ist in diesem frühen Alter eine eher geschlechtsindifferente Körperpädagogik in Bezug auf das Spannungsfeld von Tier und
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wicklung von menschlicher Vernunft und geistiger Fähigkeit gelegt. Es werden zwar auch körperliche Ereignisse beschrieben, deutlich wird jedoch, dass Mauchart die Entwicklungen geistig-seelischer Fähigkeiten mit ungleich größerer Spannung erwartet und kommentiert. Seine ersten Sätze im Tagebuch über seine Tochter lauten: In den 3 ersten Tagen durchaus keine sichtbare Apperception, kein merkliches Afficiert werden von Gegenständen irgend eines Sinnes, das Gefühl ausgenommen. Nichts als instinktmäßige Begierde nach der Muttermilch und Geschrei bei Empfindungen des Schmerzens oder der Unbehaglichkeit und dabey viel Schlaf. – Jedoch schien ihm schon das entweder angenehme Empfindungen zu verursachen, oder unangenehme zu vermindern, wenn man es auf die Arme nahm, und herum trug.⁵⁴
Mauchart stellt die Abwesenheit von ‚Apperception‘ fest – also das Fehlen von bewusster Wahrnehmung bzw. von eigenständigem Denken aufgrund von Wahrnehmung. Er bringt diesen Umstand sogleich mit dem Vorhandensein von einem tierischen Vermögen in Verbindung, dem Instinkt. Nicht nur ist in diesem Zitat das Kind dadurch, wie auch in den vorangegangenen Beispielen, als in Teilen tierhaft beschrieben, sondern die Aufmerksamkeit in der Beschreibung der Entwicklungen ist spezifisch auf die Entwicklung geistiger Fähigkeiten gerichtet. Der Körper des Kindes gerät dabei in die Beobachtung, dieser wird aufmerksam auf Anzeichen von Menschlichkeit hin untersucht. Die erzieherische Fürsorge der Erziehenden, die das Kind auf den Arm nehmen und tragen, wird zudem in Beziehung zu möglichen menschlichen Regungen gesetzt. Deutlich wird an den Aufzeichnungen jedoch auch, dass die Beziehung, die Mauchart zu seiner Tochter aufnimmt, aus heutiger Perspektive zunächst eher distanziert und unpersönlich erscheint. An dieser Stelle im Tagebuch heißt es „ihm“ und „es“.⁵⁵ Das setzt sich später fort, es ist z. B. von „sein Gesicht“⁵⁶ die Rede und immer wieder von „es“.⁵⁷ Ebenso wird der Namen des Kindes zunächst nicht genannt. Zum Eindruck, dass in den frühneuzeitlichen Quellen die elterlichen Beziehungen wenig emotional erscheinen, wurde mehrfach die Vermutung geäußert, dass dies kausal mit der hohen Säuglings- bzw. Kindersterblichkeit jener Zeit in Verbindung zu bringen
Mensch zu konstatieren. Daher thematisiert dieser Beitrag nicht stärker die Kategorie Geschlecht, obwohl diese zu den wirksamsten sozialen Differenzlinien gehört. David Immanuel Mauchart. Tagebuch über die allmähliche körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes. Geb. den 7 April 1794. Nach Campe′schen Methode. Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften. Tübingen: Felsecker, 1798, 269. Mauchart, Tagebuch, 269. Mauchart, Tagebuch, 269. Mauchart, Tagebuch, 269 – 270.
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sei.⁵⁸ Die Überlegungen dazu gehen in mindestens zwei Richtungen. Einerseits wurde längere Zeit die These vertreten, dass die Eltern-Kind-Beziehung und vor allem die Mutter-Kind-Beziehung nicht stark emotional besetzt gewesen sei und deshalb die Kinder weniger Aufmerksamkeit bekommen hätten. Fehlende Emotionalität bzw. Liebe trage somit zu größerer gesundheitlicher Gefährdung bei. Die mangelnde Zuwendung habe beispielsweise zu fehlender Hygiene und dies wiederum zu Krankheit und Tod geführt. Andererseits wurde angenommen, dass Eltern und insbesondere Mütter gerade aufgrund der hohen Kindersterblichkeit keine starke emotionale Bindung haben aufbauen können, da das Überleben des Kindes als nicht gesichert erschien und daher eine gefühlsmäßige Bindung möglicherweise als zu riskant empfunden worden sei.⁵⁹ Beide Richtungen der Argumentation werden aktuell abgelehnt, vielmehr wird diskutiert, dass sich Gefühlskulturen in den geschichtlichen Verläufen doch hoch divers zeigten, weshalb sie auch aus heutiger Perspektive manches Mal unverständlich erscheinen.⁶⁰ Zudem wird angenommen, dass die historischen Lebenswelten zu vielgestaltig gewesen seien, weshalb sehr diverse Eindrücke entstehen können, was es nicht erlaube, eine allgemeine Tendenz zu formulieren.⁶¹ In Anbetracht körperhistorischer Überlegungen ließe sich jedoch, gerade im Hinblick auf anthropozentrische Gehalte historischer Wissenszusammenhänge, eine weitere Argumentationslinie zu der distanziert wirkenden Beschreibung Maucharts entwickeln. Später im Tagebuch zeigt sich nämlich, dass er sehr wohl eine körperlich nahe und emotional intensive Beziehung zu seinem Kind einnimmt, wie exemplarisch seine folgenden Beschreibungen der Verhältnisse zwischen Vater und Tochter zeigen: Wenn sie mich etwas essen oder trinken sieht, das sie auch gern hätte, so deutet sie zuerst darauf hin, dann reicht sie mir ihre Hand, nimmt sie meine, und hat sie lieb, bietet mir auch ihre Backen hin.⁶²
Juliane Jacobi. Versorgte und unversorgte Kinder. In Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, hg. von Meike Sophia Baader, Florian Eßer, Wolfgang Schroer. Frankfurt, New York: Campus Verlag, 2014, 21– 41; Richard van Dülmen. Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit: Erster Band. Das Haus und seine Menschen: 16.– 18. Jahrhundert, 4. Aufl. München: C. Beck Verlag, 2005 [1990], 96 – 100. Rüdiger Schnell. Haben Gefühle eine Geschichte? Aporien einer History of emotions. Teil 1. Göttingen: V&R unipress, 2015, 815 – 816. Bettina Hitzer. Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen. H-Soz-Kult, 23. November 2011. URL: www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1221 (18.08. 2021). Jacobi, Versorgte und unversorgte Kinder, 23 – 24. Mauchart, Tagebuch, 233.
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In der Beziehung zwischen Vater und Kind haben sich offenbar Gewohnheiten entwickelt, die körperliche Nähe und liebevolles Miteinander umfassen. Bezeichnend ist nun, dass der Wechsel von ‚es‘ zu ‚sie‘ im Text mit den Beschreibungen des Erwachens der „sinnlich selbsthätigen Aufmerksamkeit“⁶³ korrespondiert und damit, zumindest nach Auffassung Maucharts, mit den Vorboten des Erwachens menschlicher Vernunft und damit mit der Vermenschlichung des Kindes. So heißt es im Tagebuch, dass sich „mit der sechsten Woche […] vieles“ änderte.⁶⁴ Es habe sich das „erste holde Lächeln“ gezeigt, zudem „Wohlgefallen“ beim Hören von Gesang oder rhythmischen Klängen.⁶⁵ Ab der achten Woche seien dann die „ersten schwachen Versuche des Sprachvermögens“ zu erkennen, ab der zehnten Woche Spuren von „Gedächtnis und sinnlicher Urtheilskraft, dadurch, daß es Personen von einander unterschied“.⁶⁶ Mauchart wechselt im Zuge dieser Beschreibungen zu einer geschlechtlich differenzierten Benennung seines Kindes. Zum einem gebraucht er neben dem Pronomen ‚es‘ häufiger die Pronomen ‚sie‘ und ‚ihr‘ – „sie“ sei nach längerer Abwesenheit größer geworden und lächele häufiger.⁶⁷ Zum anderem beginnt er, von dem „Mädchen“⁶⁸ zu sprechen. Gleichzeitig intensivieren sich die Beschreibungen von emotionaler Nähe. Man kann also die These vertreten, dass Mauchart in dem Maße, wie er am Körper des Kindes menschliche – d. h. vernunftsbezogene – Regungen erkennen kann, Prozesse emotionaler Bindung sprachlich vollzieht. Insofern ließe sich sagen, dass er die gefühlsmäßigen Bande mit jenen Anteilen am Kind knüpft, die zeitgenössisch als menschlich verstanden wurden. Dass diese Entwicklungen für Mauchart noch keinen abgeschlossenen Prozess darstellen und daher auch Charlotte sich immer noch auf dem Weg zur Vernunft und damit auch auf dem Weg zu einer sich vervollkommnenden Menschlichkeit befindet, wird an Einträgen aus dem siebten und elften Monat ersichtlich. Im siebten Monat des Tagebuchs schreibt Mauchart folgende Beobachtung auf: Der Sinn des Geruchs, der nach dem Urtheile der meisten Erzieher sich unter allem zuletzt äußert, und dem Erwachen der Vernunft unmittelbar vorangehen soll, fängt auch schon an sich zu entwikeln. Ich hielt ihr neulich etwas stark riechendes an die Nase, und sie verzog das Gesicht, und wandte sich weg.⁶⁹
Mauchart, Tagebuch, 271. Mauchart, Tagebuch, 271. Mauchart, Tagebuch, 271. Mauchart, Tagebuch, 271. Mauchart, Tagebuch, 272. Mauchart, Tagebuch, 275. Mauchart, Tagebuch, 280.
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Mit diesen Formulierungen zeigt sich sehr deutlich, dass Mauchart seine Tochter trotz verschiedener Anzeichen von Selbsttätigkeit eben noch nicht als vernunftmäßiges Wesen interpretiert, sondern sie immer noch in einer Zwischenzone, die erzieherisch begleitet werden muss, verortet. Denn die Tochter zeigt sich nun sensibel auf Gerüche, Mauchart testet dies mit etwas stark Riechendem. Dies war für ihn ein deutliches Zeichen, dass die Vernunft seiner Tochter bald erwachen würde. Die Anzeichen des Körpers, die erzieherisch zu deuten sind, geben damit Auskunft darüber, ob die Entwicklung des Kindes zum Menschen voranschreitet. Noch ist für Mauchart beides denkbar – misslingende und gelingende Erziehung – weshalb er diesem Prozess der Entwicklung größte Aufmerksamkeit schenkt. Daher schreibt er auch noch im elften Monat: Seitdem man ihr einigemale einen Apfel auf dem Ofen gebraten hat, drängt sie sich nun öfters gegen den Ofen hin, wenn nun ein Apfel darauf liegt, so bezeugt sie eine große Freude, sieht sie aber keinen, so fängt sie an zu weinen. Ein Beweis von Gedächtnis, Ideenassoziation, und Schlüssen, wie sie das vernunftähnliche Vermögen macht.⁷⁰
Charlotte agiert, nach Auffassung Maucharts, auch noch nach fast einem Jahr ihres Lebens, nur ‚ähnlich‘ der Vernunft. Mauchart wartet zu diesem Zeitpunkt also immer noch auf Zeichen einer sich voll ausbildenden menschlichen Vernunft. Die Reaktionen des Kindes lassen ihn jedoch darauf schließen, dass sich die ‚Vermögen‘ dazu – z. B. das Gedächtnis – bereits entwickeln, und sie lassen darauf schließen, dass sich im Inneren des Kindes die Unbestimmtheit in eine menschliche Ordnung verwandelt. In ähnlicher Weise argumentiert Friedrich Wilhelm Jonathan Dillenius (1754– 1815), evangelischer Pfarrer, Pädagoge und Übersetzer, der ebenfalls ein Tagebuch über seine Tochter Friederike, die im Januar 1786 zur Welt kam, angefertigt hat. Er assoziiert die ersten Sinnesentwicklungen seines Kindes nicht wie Mauchart mit Instinkt, sondern mit Triebentwicklungen. Diese verortet er der Seele als angeboren⁷¹, sie seien aber nicht als höhere vernunftgemäße Geistestätigkeiten aufzufassen, sondern einem Vermögen gleich, dass Tiere und Menschen gleichermaßen besäßen.⁷² Dillenius sieht es als seine Aufgabe an, seinem Kind beizubringen, diese Triebe richtig zu gebrauchen und zu lenken.⁷³ Er schreibt:
Mauchart, Tagebuch, 288. Friedrich Wilhelm Jonathan Dillenius. Fragmente eines Tagebuchs über die Entwicklung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Anlagen eines Kindes. Braunschweigisches Journal (1789), Heft 11, 320 – 342, 337. Dillenius, Fragmente, 338 – 340. Dillenius, Fragmente, 340.
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Gleich den Tag darauf [der Tag nach ihrer Geburt] suchte sie Nahrung, und sog die Brust ohne Angewöhnung. Der Trieb sich zu nähren, oder, der Selbsterhaltungstrieb, ist also nicht nur einer der frühesten […], sondern ohne Zweifel der allerfrüheste, allererste Trieb aller Menschen und Thiere.⁷⁴
Der ‚Trieb sich zu nähren‘ ist noch für Mensch und Tier kennzeichnend, Dillenius kann hier noch nicht unterscheiden. Erst mit späteren Trieben des Kindes ist dies möglich. Nach dem Selbsterhaltungstrieb zeigen sich für Dillenius der „Trieb zur Neugierde“⁷⁵, der „Gesellschafts-Trieb“⁷⁶, der „Trieb sich andern gefällig zu machen“⁷⁷, der „Trieb zur Beschäftigung“⁷⁸, der „Trieb sich zu Vergnügen“⁷⁹, später dann weitere Triebe. Wie Mauchart wartet Dillenius beim Beobachten der sich zeigenden Triebe auf die Zeichen vernunftgemäßer Geistestätigkeiten. So fragt er sich am 2. August, das Kind ist nun über ein halbes Jahr alt: Wenn man mit ihm an der Treppe ist, drängt es schon fort – auf die Gasse, und wenn das Treppenglöckchen schellt, so sieht es sich um, wo dies Schellen herkomme? Es will also die Ursache davon wissen. Ist dies nicht Vernunft? Und – wenn es so ist – hat nicht der Recensent des Revisionswerks, in der allgem. Schulbibliothek, Th. 11. P. 71. den Hern. Rath Campe ohne Grund widersprochen, wenn er sagt: er zweifle, ob die Vernunft bei einem Kinde im dritten und vierten Viertel des Jahrs erwachse?⁸⁰
Dillenius diskutiert dieses Thema vor dem Hintergrund zeitgenössischer Überlegungen. Im Gegensatz zu einem Rezensenten des Revisionswerks äußert er die Auffassung, dass sich Vernunft vielleicht doch schon im dritten oder im vierten Viertel des ersten Jahres des Kindes, und nicht erst später, zeigen könne. Auch andere Personen bezieht er in seine Überlegungen ein. Dillenius schreibt bereits im März, das Kind ist drei Monate alt: D. Christian zu Winnerden schreibt mir heute: Der frühe körperliche Wachsthumstrieb lasse auch auf gute Geistesthätigkeiten schließen, auf deren Entwicklung ich nun um so aufmerksamer seyn will.⁸¹
Dillenius, Fragmente, 320. Dillenius, Fragmente, 333. Dillenius, Fragmente, 334. Dillenius, Fragmente, 334. Dillenius, Fragmente, 335. Dillenius, Fragmente, 336. Dillenius, Fragmente, 336. Dillenius, Fragmente, 324– 325.
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Später im Tagebuch überlegt Dillenius grundsätzlicher, wie sich denn überhaupt Vernunft und die höheren Geistestätigkeiten seines Kindes zeigen könnten. So fragt er an einer Stelle: „Und wie kann es denken, da es noch nicht reden kann“?⁸² Auch Dillenius nimmt die Fähigkeit zur Sprache als Zeichen für menschliches Denken; Denken ohne Sprache scheint ihm unmöglich. Das Kind kann erst durch Sprache aus seinem Zustand hinaustreten, bis dahin gilt es abzuwarten und pädagogisch aufmerksam zu sein, dies auch – wie im Folgenden zu zeigen ist – unter Zuhilfenahme von körperlicher Strenge.
5 Erziehungspraktiken am kindlichen Körper: Gewöhnung und Abhärtung Der kindliche Körper gilt auch den schreibenden Vätern zum einen als Medium der Erziehung, durch das und mittels dessen Erziehung vollzogen werden kann, zum anderen verstehen sie diesen auch als risikobehaftet. Wie Kant sieht z. B. Dillenius „die Notwendigkeit von Zucht“ bzw. von Erziehung „in der animalischen Natur des Menschen“, da diese es sei, die allererst „gebändigt werden“ müsse.⁸³ Dillenius betont z. B. ausdrücklich, dass der kindliche „Trieb zur Verteidigung“⁸⁴, den er an seiner Tochter wahrnähme, zwar ein natürlicher sei, doch später „viel Schmerzen […] verursachen“⁸⁵ werde, wenn er nicht in die rechten Bahnen komme, weshalb er es denn für nötig erachte, „daß ich dich [seine Tochter], von heute an so leite, daß du ihn in seinen gehörigen Schranken erhalten lernest“.⁸⁶ So nimmt er sich vor, bis seine Tochter selbst das rechte Maß verstehen könne, „durch allerlei Hindernisse […] diesen Trieb einzuschränken“.⁸⁷ Seine Erziehungspraktiken zielen infolgedessen auf die permanente Begrenzung von tierisch konnotierter Körperlichkeit, insbesondere durch die Praktiken der Gewöhnung und Abhärtung. Angestrebt wurde u. a. die frühe Regulierung der Verdauungs- und Ausscheidungsorgane, Unempfindlichkeit gegen Witterungs- und Umweltbedingungen sowie die Fähigkeit zu spartanischem Erdulden. Dies sollte mittels frühkindlicher Leibesbehandlung und Leibesübung, insbesondere der Gewöhnung an möglichst einfache Ernährungs- und Lebens-
Dillenius, Fragmente, 339. Kant, Ueber Pädagogik, 165. Dillenius, Fragmente, 339. Dillenius, Fragmente, 340. Dillenius, Fragmente, 340. Dillenius, Fragmente, 340.
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weisen, umgesetzt werden. Die Praktiken der Erziehung sind damit auf längere Dauer angelegt und weisen stets über die Anwendung in der Gegenwart hinaus, da sich die Pädagogen an einer zukünftigen Idee des Kindes orientieren und den aktuellen Status nur vermittelt über körperliche Anzeichen erkennen können. Sichtbar wird dies gerade an der Technik der Gewöhnung zur Abhärtung des Kindes. Die Beschreibungen von Christian Ludwig Lenz (1760 – 1833), der die körperliche Erziehung seiner Tochter Thusnelda Gertrud – 1791 geboren – in seinem Tagebuch festhielt, stechen insbesondere durch eine Erziehung hervor, die auf Askese, Härte und Kargheit setzt, wobei die Orientierung an naturhaften Bedingungen im Vordergrund der Argumentation steht. So müsse das Wasser, mit dem Thusnelda gewaschen wird, stets die Temperatur der Außenluft haben, auch stünden die Fenster und Türen zumeist offen, sie trüge auch in Kälte nur wenig Kleidung, würde nicht gewindelt und läge keinesfalls in bequemen Wiegen. Darüber hinaus würde Thusnelda ausschließlich von ihrer eigenen Mutter gestillt, möglichst ohne Zusatznahrung und bekäme nur im Notfalle Medikamente.⁸⁸ Dabei geht es Lenz stets um die Dauer der einzelnen Anwendungen und die Permanenz der Abhärtungsrituale, so finden sich typischerweise Beschreibungen wie die folgende: So wie am ersten Morgens ihres Lebens, so auch ferner alle Tage ohne Ausnahme bis heute, ward sie mit so kaltem Wasser über dem ganzen Körper und Kopf gewaschen, als es jedesmahl augenblicklich vorher aus der Quelle kam. Nie, selbst im härtesten Winter nicht, ließ man das Wasser überschlagen. Schon am ersten Vormittage, einige Zeit nach jenem kalten Waschen, wurde sie heraus ins Freye getragen, erst ganz nackend von einem sanften und nicht kaltem Regen erfrischt und dann ihr noch besonders der Kopf, an dem Brunnen (dessen Strahl aber selbst auf des starken Mannes Haupt nicht fallen darf) gewaschen.⁸⁹
Auch die nachfolgenden Beschreibungen zeigen, dass es Lenz insbesondere daran gelegen war, den kindlichen Körper möglichst unbedeckt und fortlaufend jeder Witterungsbedingung auszusetzen, um durch eine derartige Gewöhnung Unempfindlichkeit zu erzeugen. Diese ist darauf angelegt, Unabhängigkeit zu schaffen, indem sie körperliche Befindlichkeiten in der Alltagswahrnehmung von Thusnelda zum Verschwinden bringt. Seiner Tochter ist es, den Beschreibungen zufolge, trotz Regen und Kälte, weder zu kalt, noch wird sie unruhig.
Christian Ludwig Lenz. Körperliche Erziehung der Thusnelda Gertrud Lenzinn zu Schnepfenthal in ihren ersten Lebensjahren. Archiv der Erziehungskunde für Deutschland. VIII Beyträge zur pädagogischen Erfahrungskunde. Weißenfels: Friedrich Severin, 1794, 163 – 166. Lenz, Körperliche, 164– 165.
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Und seitdem ist ihr Kopf (Hals, Brust, Unterarme und Beine aber von der Geburt an) immer ganz unbedeckt gewesen; selbst in den allerkältesten Winternächten, wo das Wasser in derselben Eckkammer, deren Fenster immer bis an den Abend und oft bis zur Schlafzeit offen standen, gefror, hat sie mit bloßem Haupte gelegen, und doch kein Ohr erforen; auch ist sie nie vor Kälte unruhig und schlafloß geworden.⁹⁰
Dabei setzten seine von ihm präferierten Erziehungspraktiken auch auf Übertreibung der natürlichen Bedingungen. Lenz erscheint es z. B. angebracht, seine Tochter regelmäßig unter Wasser zu tauchen. An ihrem siebenten Lebenstage wurde die Kleine zum erstenmahle mit dem Kopfe und Körper im Brunnentroge vor dem Haus ganz unter die Oberfläche des Wassers hinunter getaucht; welches eben so und eben daselbst (mit Ausnahme einiger wenigen Tage, wo z. B. der Brunnentrog fast ganz zugefroren, oder es um denselben her allzuglatt war) von da an bis heut, alle zwey Tage, auch wenn es schneyete, regnete, stürmte, das Eis armdicke am Brunnen hieng, und in der heftigsten schneidensten Kälte, geschehen ist.⁹¹
Als einzige Vorsichtsmaßnahme gilt es Lenz, die Abhärtung durch „kaum bemerkliche Grade“⁹² zu steigern und jeden plötzlichen „Sprung hierinn sorgfältigst“⁹³ zu vermeiden. Nur mit dieser allmählichen Steigerung sei die „vollkommenste Gesundheit“⁹⁴, wie sie Thusnelda ihrem Vater zufolge in ihrem ersten Lebensjahr gezeigt habe, zu erreichen. Deutlich wird auch, dass diese Art der Behandlung möglichst früh beginnen müsse, weshalb sowohl vorgeburtliche Sorge als auch die Umstände der Geburt im damaligen Verständnis als erzieherisch relevante Gegebenheiten begriffen wurden. Der noch nicht als vernunftgemäß deklarierte Wille der Kinder wird dabei des Öfteren als hinderlich verstanden. Karl Friedrich Bahrdt (1740 – 1792), ebenfalls pädagogischer Schriftsteller u. a. neben seiner Tätigkeit als Theologiedozent, schreibt in einer Anmerkung im Revisionswerk zum bereits zitierten Aufsatz von Campe Ueber die früheste Bildung: Ich bin ganz […] fürs Willenbrechen, wenn es durch vernünftige Mittel, und zur rechen Zeit geschieht. […] In den ersten anderthalb Jahren […] in der ersten Epoche […] würde ich das Kind wie ein Thier behandeln, und es gewöhnen, seinen Willen nach dem meinigen zu stimmen, so oft ich das nöthig fände.⁹⁵
Lenz, Körperliche, 165 – 166. Lenz, Körperliche, 166 – 167. Lenz, Körperliche, 168. Lenz, Körperliche, 168. Lenz, Körperliche, 168. Anmerkung Bahrdt in Campe, Ueber die früheste Bildung, 332– 333.
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Dies ist einer der seltenen Fälle, in denen die Nähe des Kindes zum Tiersein nicht nur defizitär beurteilt wird, sondern als nutzbares Faktum seinen erzieherischen Einsatz findet. Das Kind, so Bahrdt, sei eine Zeitlang gerade wie ein Tier zu behandeln, damit dessen Wille sich dem erzieherischen unterordnen könne. Erst später, wenn der gerichtete Wille im Kind Raum greife, sei es als Mensch zu verorten. Dies ist als didaktische Möglichkeit durchaus plausibel, da das junge Kind nach zeitgenössischen Vorstellungen als Tier leichter pädagogisch zu behandeln sei. Wie bereits an einem Beispiel von Kant erörtert, dient auch den Tagebuchschreibenden die Tierwelt als geistige Anregung zu naturgemäßen Erziehungspraktiken. Exemplarisch sei hier zusätzlich das Tagebuch von Moritz Adolph Winterfeld (1744– 1819) zitiert, der zwar Major war, aber sich als solcher ebenfalls an einem pädagogischen Schriftstellertum interessiert zeigte. Er schrieb in seinen Aufzeichnungen: „Will man wohl geleitet seyn, so folge man der Natur, die man oft an Thieren am besten lernen kann“.⁹⁶ Diese Bezugnahme zur Natur brach sich jedoch an den Vorstellungen bürgerlicher Erziehung. Tiere würden nämlich, so Winterfeld schnell einschränkend, ihre Jungen lecken. Es sei nun aber den Müttern nicht zuzumuten, genau dies nachzuahmen, daher solle man wenigstens auf eine Art verfahren, die das Lecken so gut wie möglich ersetzen könne, zum Beispiel das Waschen des Kindes mit „verschlagenem“⁹⁷, das heißt mit abgestandenem Wasser, das dann eine ähnliche Temperatur habe wie der Mutterkörper. Damit zeigt sich die Natur als Orientierung und Maßstab für erzieherische Verhältnisse; Menschsein jedoch wird als eigene zivilisierte und kultivierte Sphäre entworfen. Die Annäherung an die Natur sei nur hinsichtlich der Stärkung des Körpers und damit der Funktionalisierung des Menschen für bürgerliche Einsätze zu gebrauchen, Wildheit und Rohheit hingegen gelte es nicht nur im Kind, sondern auch in den Erziehungspraktiken zu vermeiden.
6 Schlussbetrachtung Der Beitrag befragte das Quellenmaterial auf seine körperhistorischen Bezüge, um dem anthropozentrischen Gehalt spätaufklärerischer pädagogischer Theorie im Tier-Mensch-Vergleich nachzugehen. Dass dies lückenhaft ist sowie weitergehend größerer Kontextualisierungsarbeit bedarf, sei an dieser Stelle vorausgesetzt.
Moritz Adolph von Winterfeld. Tagebuch eines Vaters über sein neugeborenes Kind. Braunschweigisches Journal, 2 (1789), 408. Winterfeld, Tagebuch, 408.
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Völlig vernachlässigt wurde zum Beispiel die Explikation der anthropologischen und philosophischen Bezüge in den hier vorgestellten pädagogischen Überlegungen. Im Mittelpunkt des Beitrages stand eher die Frage, auf welche Weise der kindliche Körper im Konnex zwischen Tier- und Menschheit konstruiert wurde und welche raum-zeitlichen Vorstellungen damit verbunden waren. Auch wurde herausgearbeitet, welche erzieherischen Praktiken in diesem Bezugssystem vorgeschlagen waren und wie die soziale Umwelt zum als natürlich und triebhaft gedachten Körper in Beziehung gesetzt wurde. Es zeigte sich nun im Überblick ein klares Bestreben von Pädagogen der Spätaufklärung, eine solche auf den Körper des Kindes bezogene Pädagogik zu befördern, die das Menschsein hervorbringt und gegenüber der Tierheit abgrenzt, um gerichtete Seelentätigkeiten zu erzeugen. Zu den Vorstellungen von Erziehung gehört damit eine ins pädagogische gewendete, jedoch christlich geprägte Anthropologie. Gerade an der Ausrichtung des protestantisch-pädagogischen Diskurses auf die geistig-kognitiven Vermögen des Menschen tritt zutage, dass die anthropologischen Diskussionen im Grunde genommen ältere christlich-religiöse Debatten um das Seelenheil des Menschen aufnehmen und fortführen. Säkularisierungstendenzen führen daher – da Seele, Gott und Moral zusammenhängen – direkt zu Fragen der sittlichen und moralisch-normativen Ausrichtung des Lebens. Mit der Abwendung von der christlichen Vorstellung einer Erbsünde Vorstellungen sowie der Hinwendung zu zukunftsoffenen und gestaltbaren Lebenserwartungen der Aufklärungszeit verstärkte sich der soziale Druck auf das Individuum, zudem rekurriert das Bestreben der „Heilung des freien Willens durch Erziehung“⁹⁸ direkt auf das bereits antik verhandelte Leib-Seele-Problem. In der Tendenz wird in diesem Rahmen der Einfluss des Leibes als das Moment angesehen, das das Sündhafte und Schlechte im Wesen eines Menschen hervorbringen kann. Vor allem körperbezogene Willensäußerungen des Kindes wurden daher in einen engen Zusammenhang zu gesellschaftlich-moralischem Fehlverhalten gestellt und ihre Einhegung und Disziplinierung als vordringliches Ziel erzieherischen Handelns begriffen. Dem für Sünde anfälligen Körper mit seinen tendenziell moralisch verwerflichen Trieben könne der Mensch – so die zeitgenössische Auffassung – allein durch Vergeistigung respektive durch Vernunft begegnen, beides müsse durch Erziehung hervorgebracht werden. Körperpädagogik zielt in diesem Sinne auch auf die ‚Sakralisierung‘ der Kinderseele durch Vernunft. Der kindliche Körper selbst ist als unbestimmter Raum konzipiert, der nicht nur ein moralisch-sittliches, son Fritz Osterwalder. Die Heilung des freien Willens durch Erziehung. Erziehungstheorien im Kontext der theologischen Augustinus-Renaissance im 17. Jahrhundert. In Das verdrängte Erbe. Pädagogik im Kontext von Religion und Theologie, hg. von Jürgen Oelkers, Fritz Osterwalder, HeinzElmar Tenorth. Weinheim, Basel: Beltz Verlag, 2003.
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dern auch ein sozialisatorisch-gesellschaftliches Moratorium erzeugt. Dadurch entstehen Konstruktionen von Zwischenzuständen und Zwischenphasen. Das junge Kind trägt sowohl tierisch-körperliche als auch menschlich-geistige Anteile in sich; es erklärt sich in seinem Sein weder durch das eine noch durch das andere. Vor allem wird es als Wesen mit der Potenz des Werdens gedacht, das durch Erziehung grundlegend und körperbezogen Richtung und Form bekommen muss. Dadurch gilt es jedoch auch als defizitär und durch Unvermögen sowie tierische Triebe bestimmt. Beides im Zusammenhang – das Kind als zukünftiger Mensch und als defizitäres Mischwesen in jungen Jahren – konstituiert immer wieder diskursive Räume des Zwischen. Erziehung wird daher als zeitlich und räumlich permanentes und performatives Handeln in der Phase früher Kindheit verstanden, die gleichzeitig das Menschsein befördern und die Triebe und Leidenschaften einhegen will. Gewöhnung und Abhärtung, beides auf Dauer gestellte Praxen der Erziehung, fungieren deshalb als alltägliche körperpädagogische Zugriffsweisen – beide setzen vordringlich auf Körperdisziplinierung. Das „Ende der Erziehung“ sei daher, Campe beschreibt es in dieser Hinsicht sehr genau, „erst bei völliger Reife des Körpers“ gegeben.⁹⁹
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Zwischen Himmel und Erde. Formen der asketischen Zwischenräumlichkeit am Beispiel der syrischen Säulenheiligen Between Heaven and Earth. Asceticism as a Form of Interspatiality in the Case Studies of the Syriac Stylites: The paper interprets Simeon The Elder (389 – 459) as a figure of interspatiality. Simeon was the first Stylite Monk and the founder of this particular form of Christian asceticism. Starting from an analysis of related hagiographical documents, the figure of Simeon will be examined as an example of interspatiality that operates at four different levels: 1) Spatial: Simeon lives on a column in the Syriac desert, and he is hence literally and physically between heaven and earth; 2) Social: Detached from mundane affairs due to his embracing ascetics, Simeon is frequently asked to act as the advisor super partes both in worldly and political matters; 3) Anthropological: Simeon, via his asceticism, is an intermediate figure between supernatural beings (God and the angels) and inhabitants of the Earth (men and animals); 4) Monastic: Simeon is also an intermediate figure between anchorites and cenobites.
1 Einleitung Seit dem allerersten Vorkommen bei Sophokles¹ und in noch größerem Ausmaß bei Platon² und Aristoteles³ verwendet die griechische Sprache das Verb ἀσκέω nicht mehr nur im homerisch klassischen Sinne von „adorning something in which technical skill is involved“⁴, sondern ebenso, um eine gewisse Form des Übens zu beschreiben, vor allem physischer Art.⁵ Mit Philon von Alexandreia beginnt der Begriff u. a. die Bedeutung von „religious life“⁶ anzunehmen: Diese Sinnrichtung hat insbesondere prominente Wissenschaftlerinnen und Wissen-
Vgl. Hermigild Dressler. The Usage of ᾿Aσκέω and Its Cognates in Greek Documents to 100 A.D. Washington D.C.: The Catholic University of America Press, 1947, 7. Vgl. Dressler, Usage, 15. Vgl. Dressler, Usage, 20. Dressler, Usage, 1. Dressler, Usage, 25: „A more significant meaning perhaps is found in Aristotle, where ἄσκησις seems to mean endurance“. Dressler, Usage, 63. https://doi.org/10.1515/9783110758306-015
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schaftler, wie Pierre Hadot⁷ und Michel Foucault⁸ dazu veranlasst, einen interpretativen Zusammenhang zwischen Askese und Philosophie aufzustellen, indem erstere zur philosophischen Lebensform par excellence gemacht wird. Wenn sich die oben genannten Wissenschaftler vorrangig (hier sei zu heuristischen Zwecken eine Generalisierung vorangestellt) der Problematik gestellt haben, was Askese aus dem Blickwinkel der Subjektivierungspraktiken ist oder besser gesagt, wie das Subjekt den Weg einer (asketischen) Praxis einschlägt, die zum Ziel hat, sich selbst sowohl auf körperlicher Ebene als auch spirituell zu verändern, so ist die Gegenseite, genauer gesagt die soziale Funktion der Askese, ein weniger untersuchtes Feld, vor allem aus theoretischer Sicht: Während es an historiographischen Untersuchungen zu den Verbindungen zwischen Askese und den spezifischen historischen Epochen nicht fehlt⁹ und ebenso wenig an soziokulturellen Analysen, die die asketischen Strömungen in ihren Herkunftskontext einbetten¹⁰, so bleibt eine Untersuchung, die auf die Struktur des asketischen Phänomens und im Allgemeinen auf die Rolle abzielt, welche die Asketen jeweils über ihr spezi-
Besonders bezeichnend unter den zahlreichen Arbeiten des französischen Philosophen ist der in Pierre Hadot. Wege zur Weisheit. Oder Was lehrt uns die antike Philosophie? übers. von Heiko Pollmeier. Berlin: Eichborn, 1999 [1995] veröffentlichte Versuch einer Neulektüre der gesamten Geschichte der antiken Philosophie unter dem Gesichtspunkt der Askese als Übung. Die gesamte zwischen 1980 und 1984 entstandene Produktion des französischen Philosophen lässt sich auf diese Strömung zurückführen. Siehe dazu insbesondere: Michel Foucault. Die Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981 – 1982, übers. von Ulrike Bockelmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009 [2001]; Michel Foucault. Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der Anderen II – Vorlesungen am Collège de France 1983 – 1984, übers. von Jürgen Sehröder. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2010 [2009]; Michel Foucault. Technologien des Selbst. In Schriften in vier Bänden. Bd. IV, hg. von Daniel Defert, François Ewald unter Mitarb. von Jacques Lagrange, übers. von Michael Bischof. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005 [1988], 966 – 999, sowie Michel Foucault. Der Gebrauch der Lüste – Sexualität und Wahrheit II, übers. von Ulrich Raulff, Walter Seitter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986 [1984] und Michel Foucault. Die Sorge um sich – Sexualität und Wahrheit III, übers. von Ulrich Raulff, Walter Seitter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989 [1984], 53 – 94. Vgl. die Rekonstruktion von Peter Brown in Bezug auf den spätantiken Kontext der Askese: Peter Brown. Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, übers. von Martin Pfeiffer. München: Hanser, 1991 [1988], 227– 346. Zum Kontext der Askese in Syrien bleiben die beiden Bände von Arthur Vööbus unverzichtbar: Arthur Vööbus. History of Asceticism in the Syrian Orient. A Contribution to the History of Culture in the Near East. Bd. I: The Origin of Asceticism. Early Monasticism in Persia. Louvain: Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium, 1958 und Arthur Vööbus. History of Asceticism in the Syrian Orient. A Contribution to the History of Culture in the Near East. Bd. II: Early Monasticism in Mesopotamia and Syria. Louvain: Corpus Scriptorum Christianorum Orientalium, 1960.
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fisches Auftauchen im geschichtlichen Moment hinaus für ihre Bezugsgesellschaft hatten, noch ein Desideratum der Forschung.¹¹ Im vorliegenden Beitrag wird ein Versuch in diese Richtung unternommen: Ausgehend von der Untersuchung eines spezifisch asketischen Phänomens, und zwar jenes der syrischen Säulenheiligen im Allgemeinen und der Figur des ersten Styliten, Simeon Stylites des Älteren (ca. 389 – 459), im Besonderen, soll eine theoretisch-interpretative Hypothese aufgestellt werden, die folgendermaßen zusammengefasst werden kann: Die Askese kann (auf einer allgemeinen theoretischen Ebene) als eine Form der Zwischenräumlichkeit betrachtet werden in Bezug auf den Kontext, in dem sie ausgeübt wird.Wie in Folge gezeigt wird, haben die historischen Figuren der Asketinnen und Asketen immer wieder durch ihre physischen Übungen und ihre soziale Präsenz einen autonomen Raum erschaffen, der sich zwischen den üblichen konkreten und symbolischen Koordinaten der jeweiligen Gesellschaften verorten lässt: Sei er räumlich-architektonisch (§ 2), sozio-politisch (§ 3), anthropologisch (§ 4) oder religiös (§ 5). Demnach – dies ist die vorliegende Arbeitshypothese – kann die Askese selbst, und nicht nur die spezifische historische Figuration des Stylitismus, als eine mögliche Figuration der Zwischenräumlichkeit verstanden werden. Das Phänomen des Stylitismus – ein Begriff, der eine bestimmte Form der Askese beschreibt, die darin besteht, auf einer Säule über mehr oder weniger lange Zeitabschnitte hinweg im Gebet zu verweilen – ist trotz seiner Bekanntheit, die sich bis heute in einigen idiomatischen Wendungen der Alltagssprache gehalten hat¹², in wissenschaftlichen Studien verhältnismäßig wenig dokumentiert. Nach wie vor ist das fast ein Jahrhundert alte Werk Les Saints stylites (1923) des
Die Notwendigkeit einer Soziologie der Askese konstatiert auch Volkhard Krech. Überlegungen zu einer Soziologie der Askese, in Askese. Entsagung und Disziplinierung: lokale Traditionen im Vergleich, hg. von Lidia Guzy, Hildegard Piegeler. Tübingen: Köhler, 2002: 11– 24. Einer der wohl relevantesten theoretischen Ansätze auf dem Gebiet der historisch-religiösen Forschungen in diesem Sinne ist mit Sicherheit jener von Richard Valantasis. The Making of the Self. Ancient and Modern Asceticism. Eugene: Cascade, 2008. Eine eher allgemeine philosophische Theorie der Askese als Antrieb der Zivilisation ist im Jahr 2009 von Peter Sloterdijk vorgeschlagen worden:Vgl. Peter Sloterdijk. Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009. Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache gibt eine eher ‚übertragene‘ Bedeutung als ausgerechnet vorrangige wieder, was den Begriff „Säulenheiliger“ betrifft: „eine berühmte, von vielen als verehrungswürdig und als Autorität auf einem bestimmten Gebiet wahrgenommene Person“. Vgl. Säulenheilige. In DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, https://www.dwds.de/wb/Säulenheili ge (13.08. 2019).
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Bollandisten Hippolyte Delehaye¹³ die noch gültige Referenzsammlung der Hagiographien der Säulenheiligen, die die Texte in der Originalsprache enthält und einen kritischen Apparat sowohl der Quellen als auch des sozialen, geschichtlichen, politischen und wirtschaftlichen Kontextes anbietet. Dieser Studie wird das jüngere Werk der drei Franziskaner Peña, Castellana und Fernandez Les Stylites syriens ¹⁴, das 1975 veröffentlicht wurde, zur Seite gestellt. Abgesehen von diesen beiden umfangreichen Studien fehlt immer noch eine systematische Analyse des Phänomens des Stylitismus. Der Mangel und die Lückenhaftigkeit der Quellen einerseits, die vor allem nur den Begründer der Bewegung Simeon betreffen, und die allgemeine Betrachtung des Stylitismus als regionales Phänomen andererseits, haben mit Sicherheit die Rezeptionsgeschichte gekennzeichnet. Der Stylitismus kann in der Tat als ein marginales Phänomen innerhalb des anachoretischen syrischen Mönchtums¹⁵ betrachtet werden, das im Kontextes der antiken Askese¹⁶ sicherlich als ein besonderer Fall gilt, jedoch ist es letztlich nicht so anders als andere extreme Formen der Askese. Es erscheint dabei immer notwendiger, das Phänomen in seiner Gesamtheit und als eine Art Bewegung¹⁷ zu erfassen, auch angesichts der zahlreichen, noch unentdeckten Forschungsmöglichkeiten: die praktisch nicht vorhandene Behandlung des Phänomens des weiblichen Stylitismus¹⁸ sowie die fehlende Einstimmigkeit der Forscherinnen und Forscher selbst in Bezug auf die Rekonstruktion der zentralen Eigenschaften der Bewegung.¹⁹ Da an dieser Stelle nicht auf eine ausführliche Analyse des Stylitismus als Bewegung eingegangen werden kann, wird nach einer spezifischen methodologischen Herangehensweise fortgefahren: In einem ersten Schritt wird der am besten dokumentierte Stylit und Begründer der Bewegung vorgestellt – Simeon
Vgl. Hyppolite Delehaye. Les Saints stylites. Bruxelles, Paris: Société des Bollandistes, Librairie Auguste Picard, 1923. Vgl. Ignace Peña, Pascal Castellana, Romuald Fernandez (Hg.). Les Stylites syriens. Mailand: Editions de la Custodie de T.S., 1975. Obwohl sich das Werk der drei gelehrten Franziskaner zum Verdienst macht, ebenfalls auf die ‚kleineren‘, vergessenen oder von der Tradition vernachlässigten Säulenheiligen einzugehen, enthält ihre Studie teilweise methodologische Lücken, indem auf hypothetische oder indirekt und häufig andeutende Weise vorgegangen wird oder sie sich auf mündliche Bezeugungen der örtlichen Bevölkerung stützt. Vgl. Sebastian Paul Brock. Early Syrian Asceticism. Numen 20:1 (1973): 1– 19: 3. Vgl. Vööbus, History, Bd. II, 208 – 223. Vgl. Delehaye, Saints, CXXXIX–CXLI. Vgl. Hyppolite Delehaye. Les Femmes stylites. Analecta Bollandiana, 27 (1908): 391– 392. Die Forscherinnen und Forscher scheinen insbesondere in Bezug auf die Möglichkeit geteilter Meinung zu sein, ob in heidnischen Vorläufern das ursprüngliche Modell des Stylistismus zu finden ist. Für eine detailliertere Diskussion dieser Frage vgl. unten Kapitel 2.
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der Ältere. Ausgehend von der Untersuchung seiner Hagiographie wird daraufhin, soweit dies möglich ist, eine Generalisierung vollzogen, die über die Analyse des einzelnen Heiligen hinaus das Phänomen des Stylitismus im Allgemeinen beschreiben soll, um daraus Schlussfolgerungen von größtenteils theoretischem Charakter zu ziehen.
2 Das Leben des Heiligen Simeon Stylites der Ältere: Quellen und wichtige Ereignisse Die Forschung hat zum Leben Simeons drei Hauptquellen²⁰ überliefert, aus deren Überschneidungen und kritischem Vergleich man ein allgemeines, relativ wahrheitsgetreues Bild des Heiligen, seines sozialen, ökonomischen und politischen Bezugsrahmens sowie seiner asketischen Praxis ziehen kann. Die drei Quellen sind²¹: 1) Das 26. Kapitel²² der auf Griechisch verfassten Historia Religiosa von Theodoret, Bischof von Cyrrhus (ca. 393 – 466), eine wichtige Figur in den theologischen Debatten der Zeit²³, der den Heiligen persönlich kennenlernte und seinen hagiographischen Bericht noch zu Lebzeiten Simeons im Jahr 444 schrieb.²⁴
Für die anderen Quellen vgl. Hans Lietzmann (Hg.). Das Leben des Heiligen Simeon Stylites, übers. von Heinrich Hilgenfeld. Leipzig: Heinrichs Buchhandlung, 1908: 180 – 197 und 223 – 228. Im vorliegenden Aufsatz wird die jüngste in moderner Sprache vorliegende Übersetzung der Vita Simeons verwendet, und zwar jene von Robert Doran, die zudem den Vorteil hat, dass sie eine zweifache Vergleichsübersicht bietet zwischen der syrischen Vita, der griechischen Vita und der Vita nach Theodoret sowie auch unter den verschiedenen Versionen der Manuskripte der syrischen Vita des Heiligen: Vgl. Robert Doran. The Lives of Simeon Stylites. Kalamazoo: Cistercensian Studies, 1992. Außerdem ist Dorans Version im Vergleich zu denen, die bei Lent und Hilgenfeld untersucht werden, die vorhergehenden Übersetzer aus dem Syrischen, deren Versionen dennoch ebenso berücksichtigt wurden, auch die einzige, die drei weitere Manuskripte der syrischen Vita berücksichtigt: vgl. Frederick Lent. The Life of St. Simeon Stylites: A Translation of the Syriac Text in Bedjan’s Acta Martyrum et Sanctorum vol. IV. Journal of the American Oriental Society 35 (1915 – 17): 103 – 198 und Lietzmann, Leben, 1– 179. In den uns überlieferten Versionen des Werkes gibt es dreißig Kapitel. Gemäß der Rekonstruktion von Paul Devos hatte der Text ursprünglich 28 Kapitel, von denen das Kapitel 24 jenes zu Simeon war. Vgl. Paul Devos. La Structure de l’Histoire Philothée de Theodoret de Cyr. Le Nombre de Chapitres. Analecta Bollandiana 97 (1979): 319 – 335. Vgl. die kurze biographische Skizze, wiedergegeben bei Doran, Lives, 36 – 37. Vgl. Doran, Lives, 37.
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2)
Die griechische Vita Simeons, die (mit nicht näher angegebener Datierung) nach dem Tod des Heiligen von einem gewissen ‚Antonius‘ verfasst wurde, eine Figur, zu der kaum Hinweise überliefert sind, wenn nicht die in der Hagiographie selbst aufgeführten, die ihn zu einem der ersten und nahestehendsten Jüngern des Heiligen machen.²⁵ 3) Die syrische Vita des Simeon, die auf das Jahr 473 zurückgeht und die entgegen aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Kreise der Mönche von Qal‘āt Sim‘ān stammt, dem imposanten Kloster, das um die Säule des Heiligen nach dessen Tode errichtet wurde.²⁶
Jenseits des narrativen Modus, dessen Stilelemente und Ausdrucksweisen von dem offensichtlichen und explizit hagiographischen Anliegen gekennzeichnet sind, stellt die Figur, die sich dabei herausbildet, sicherlich eine Persönlichkeit abseits des Gewöhnlichen dar, einzigartig ebenso wie – streckenweise – widersprüchlich: Ein außergewöhnlicher Mann, im Hinblick auf sein Charisma und die Fähigkeit, extreme physische Leiden über Jahre hinweg zu ertragen, unbeugsam in seinem Glauben und in seinem Streben nach Buße und von Zeit zu Zeit sogar jähzornig gegenüber den Personen, die ihn umgaben. Einerseits war Simeon Held und ‚Athlet‘ des Glaubens, andererseits war er ebenso gnadenloser Geißler der Sünder²⁷, der Juden, der Heiden und jener, die nicht die ‚Orthodoxie‘ verfolgten
Vgl. Doran, Lives, 46, 51. Vgl. Doran, Lives, 53 – 54. An dieser Stelle sei betont, dass Doran hier lediglich eine Vermutung äußert, die sich auf den modus narrandi der syrischen Vita stützt, welche dazu neigt, den klösterlichen Kreis von Tell‘Adā (das erste Kloster, in dem Simeon als Mönch tätig war) eher in ein schlechtes Licht zu rücken. Doran vermutet zudem, dass die syrische Vita durch die Hervorhebung des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Simeon und den Schülern, die ihm zu Lebzeiten dienten und die dann den Kern der Mönche von Qal‘āt Sim‘ān bilden würden, diesem klösterlichen Kreis auch einen gewissen Vorrang gegenüber dem Kreis der Mönche von Telneshin gibt. Delehaye (Saints, VIII) und Lietzmann (Leben, 215) neigen hingegen dazu, dem Kloster von Telneshin einen größeren Einfluss gegenüber der hagiographischen Tradition Simeons zuzugestehen, wobei ersterer die These ‚politischer‘ Hintergründe, wie einer Rivalität der Klöster, als Grund der Divergenzen in den hagiographischen Traditionen (Delehaye, Saints, XII), ablehnt. Susan Ashbrook Harvey hat auf überzeugende Weise die drei Hagiographien diskutiert als drei unterschiedliche Arten – je nach theoretischem Ansatz der Hagiographen – , über das syrische Klosterwesen zu berichten: vgl. Susan Ashbrook Harvey. The Sense of a Stylite: Perspectives on Simeon the Elder. Vigiliae Christianae 42:4 (Dezember 1988): 376 – 394. Als Beispiel sollen hier lediglich die in der syrischen Vita wiedergegebenen Worte Simeons ausreichen, die er an einen Dieb richtete, der für seine Sünden bestraft wurde: „‚God has rewarded you according to your deeds so that your punishment is without mercy‘“ (Robert Doran. The Syriac Life of Saint Simeon Stylites. In Doran, Lives, 103 – 198: 125).
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und die demnach häufig mit qualvollen Krankheiten, Plagen und grausamen Toden bedroht, wenn nicht sogar bestraft wurden.²⁸ Simeon war auch ein Mensch seiner Zeit: Schlichter bei Streitgesprächen sowohl in alltäglichen Fragen, die an ihn von den umgebenden Gemeinschaften²⁹ herangetragen wurden, als auch bei dogmatischen Disputen und sogar bei politischen Angelegenheiten, die ihm vom Kaiser höchstpersönlich zugetragen wurden.³⁰ Er war gefürchtet, wurde geliebt, verehrt, angehört, vor allem aber bewundert für das, was als einzigartiger Lebensstil betrachtet wurde, eine Einzigartigkeit, auf die im Folgenden näher eingegangen wird. Aber insbesondere war er das, was man einen „Transzendenzvermittler“³¹, beziehungsweise eine Figur des Dazwischen nennen kann, die genau durch diesen intermediären Status, durch ihre Zwischenräumlichkeit, Menschen, symbolische Reiche, unterschiedliche und – gewissermaßen – unermessliche Mächte und geistige Kräfte in Verbindung bringen konnte. Bevor zu einer detaillierteren Analyse der unterschiedlichen Figurationen der Zwischenräumlichkeit übergegangen wird, die anhand der Figur des Simeon gezeigt werden können, ist jedoch eine kurze Nachzeichnung seines biografischen Profils notwendig, die im Folgenden ausgehend von den oben erwähnten hagiographischen Sammlungen durchgeführt wird.³²
Die göttlichen Strafen, die den treffen, der nicht an Simeon glaubt, sind derart unterschiedlich: Sie reichen vom Tod eines Mönchs in Tell’Adā, der, da er den Heiligen auf die Probe stellen wollte, Blut erbrechen musste und nach zwei Tagen starb (vgl. Doran, Syriac Life, 113), über Elefantiasis, die einen Dieb traf (vgl. Doran, Syriac Life, 124), bis hin zur Besessenheit durch Dämonen, die einen anderen traf und seinen Mund deformierte und ihn zu Selbstverstümmelung führte (vgl. Doran, Syriac Life, 125). Vgl. Peter Brown. The Rise and the Function of the Holy Man in Late Antiquity. Journal of Roman Studies 61 (1971): 80 – 101: 90 und Susan Ashbrook Harvey. Embodiment in Time and Eternity: A Syriac Perspective. St. Vladimir’s Theological Quarterly 43:2 (1999): 105 – 130: 116. Vgl. Doran, Lives, 19. Es wird jedoch der Stylit Daniel sein, der eine wahrhaftig politische Karriere einschlägt und der mehrere Male von den Kaisern Leo (ca. 401– 474) und Zenon (ca. 440 – 491) aufgesucht wurde: Delehaye, Saints, XLV–LVIII. Hier wird, wenn auch in einem anderen Sinn, der Ausdruck „Transzendenzvermittler“ aufgenommen, den Antje Kahl in ihrem thanatologischen Werk verwendet: vgl. Antje Kahl. Der tote Körper als Transzendenzvermittler. Spiritualisierungstendenzen im gegenwärtigen Bestattungswesen. In Die Leiche als Memento Mori: interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Tod und totem Körper, hg. von Dominik Groß, Julian Glahn, Brigitte Tag. Frankfurt am Main, New York: Campus, 2010, 203 – 238. Die drei Viten stimmen lediglich auf genereller Ebene in Bezug auf die Hauptetappen des Lebens des Heiligen überein: Die Aktivität als Hirte im Jugendalter, die Bekehrung, die ersten asketischen Erfahrungen, der Eintritt in das Kloster von Tell‘Adā, das Verlassen des Klosters und die Isolationsphase als auch die asketischen Praktiken in der Umgebung von Telneshin und
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Simeon wird gegen Ende des vierten Jahrhunderts (wahrscheinlich im Jahr 389)³³ in Sisan, in der Nähe von Nikopolis, als Sohn einer christlichen Familie, die ihn taufen ließ, geboren; er hatte einen Bruder (der syrischen Vita nach)³⁴ und kümmerte sich im Jugendalter gewöhnlich um die Herde der Eltern. Seine religiöse Berufung zum Christentum ereignete sich laut der Hagiographien als er noch sehr jung war und vollzog sich (darin stimmen sie überein) ‚spontan‘: Simeon wurde nicht von der Familie auf die Mönchslaufbahn gebracht. Im Anschluss an seine Entscheidung für ein religiöses Leben, die anlässlich einer heiligen Messe getroffen wurde, gab sich Simeon dem Mönchstum hin, zunächst in Begleitung einiger Kameraden (Vita nach Theodoret)³⁵ und anschließend im Kloster von Tell‘Adā (um das Jahr 403 herum), wo er für einen Zeitraum von drei (griechische Vita)³⁶ bzw. neun bis zehn Jahren (syrische Vita und nach Theodoret) verweilte und wo er angesichts seiner extremen, von den Mitbrüdern ungern gesehenen Selbstkasteiungen auf große Integrationsschwierigkeiten traf, die sogar dazu führten, dass er das Zönobium verlassen musste. Nach diesem Lebensabschnitt in Gemeinschaft verbrachte Simeon einen Zeitraum von ungefähr fünfzehn Jahren als Eremit in der Nähe von Telneshin und unterzog sich verschiedenen extremen Formen der Askese: So lebte er beispielsweise drei Jahre lang in Abgeschiedenheit und Einsamkeit in einer Hütte, auf die er wiederum einen Zeitraum vollkommen unter freiem Himmel folgen ließ, ohne sich vor Unwettern zu schützen und sich innerhalb eines Steinkreises aufhielt, den er selbst errichtet hatte, und wo der Heilige sich an einen großen Stein gekettet niederließ. letztlich – ausgenommen die Version nach Theodoret – der Bericht über den Transport des Körpers des Heiligen nach Antiochia nach seinem Tod. Zu den zwischen diesen Phasen liegenden Ereignissen sind die drei Versionen in praktisch allem uneins. Einigkeit findet sich nur in zwei Fällen: jener des Konversionserlebnisses Simeons und hinsichtlich einer Episode, die sich während des Klosteraufenthalts in Tell‘Adā ereignet hatte, wo sich der Heilige einer besonders extremen Form der Buße unterzog, indem er sich ein Seil unter die Kutte um den Körper festzog, das schmerzhafte Risse und Fleischgeschwülste hervorrief. Vgl. Doran, Lives, 54– 55. Die im Folgenden aufgezählten biographischen Ereignisse sind diejenigen, sofern nicht anders verzeichnet, die von Doran auf den Seiten 16 – 18 wiedergegeben werden, wo ein zusammenfassendes Profil vom Leben des Heiligen geboten wird und von Almut-Barbara Renger, Alexandra Stellmacher. Der Asketen- als Wissenskörper. Zum verkörperlichten Wissen des Simeon Stylites in ausgewählten Texten der Spätantike. Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 62 (2010): 313 – 338: 326. Vgl. Delehaye, Saints, XXIV. Vgl. Doran, Syriac Life, 103. Vgl. Robert Doran. The Life of Saint Simeon Stylites by Theodoret Bishop of Cyrrhus. In Doran, Lives, 69 – 84: 71. Vgl. Robert Doran. The Life and Daily Mode of Living of the Blessed Simeon the Stylite by Antonius. In Doran, Lives, 87– 100: 91.
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Es war auch in der Nähe von Telneshin, als Simeon die Entscheidung traf, sich auf seiner ersten Säule niederzulassen, der Ort der Askese, die ihn berühmt machen würde. Dem Aufstieg auf die Säule folgt ein augenblicklicher Anstieg der bereits beträchtlichen Bekanntheit des Heiligen³⁷, was dazu führt, dass die Säule Simeons über einen Zeitraum von Jahrzehnten hinweg Zielort von Pilgerreisen und Kultobjekt wird. Simeon verweilt auf der Säule, die im Verlauf der Zeit durch weitere (vier nach Theodoret und der syrischen Vita, drei nach der griechischen Vita) immer höhere (bis zu einer Höhe von insgesamt 36 und 40 Ellen, bzw. 16 bis 18 Metern)³⁸ ersetzt wird, für einen Zeitraum von zwischen insgesamt 37 (nach syrischer Vita) und 47 Jahren (griechische Vita)³⁹ bis zu seinem Todestag im Jahr 459. Die an den Tod des Heiligen anschließenden Ereignisse, wie dies häufig in derlei Fällen geschieht, haben mit dem Transport und der schwierigen Verortung des Leichnams/der Reliquie zu tun, die ihre definitive Unterbringung in Antiochia findet, nachdem eine Delegation von sechshundert Soldaten den heiligen Körper vor einer Gruppe Araber retten musste.⁴⁰ Wie jedoch Antony Eastmond⁴¹ anmerkt, wird vielmehr noch als der Körper Simeons dessen Säule Objekt von Kult und Verehrung, indem um sie herum ein Kloster errichtet wurde, das mindestens bis in das 12. Jahrhundert hinein blühendes Pilgerzentrum und Symbol des spirituellen Erbes des Heiligen bleiben wird.⁴² Die zentrale Rolle, die Simeons Säule in der Bildung seines Profils als „holy man“⁴³ spielt, ist der Grund, weshalb in der vorliegenden Arbeit mit einer sowohl materiellen als auch historischen Analyse eben dieser begonnen wird, um die Untersuchung des Phänomens des Stylitismus voranzubringen.
Vgl. Delehaye, Saints, XXVII. Vgl. Doran, Lives, 17 und Delehaye, Saints, XXVIII. Vgl. Delehaye, Saints, XV–XVI. Vgl. Delehaye, Saints, XXXIII. Vgl. Anthony Eastmond. Body vs. Column: The Cults of St Simeon Stylites. In Desire and Denial in Byzantium: Papers from the Thirty-First Spring Symposium of Byzantine Studies, University of Sussex, Brighton, March 1997, hg. von Liz James. Aldershot, Brookfield, Singapore, Sydney: Ashgate Variorum, 1999, 87– 100. Vgl. Eastmond, Body vs. Column, 93. Vgl. Brown, Rise and Function, 80.
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3 Zwischen Heidentum und Christentum: Die Säule und die Statue Ausgehend von der Säule Simeons sowie den Säulen der Styliten im Allgemeinen besteht die Möglichkeit, eine generalisierende Definition zu geben, die verschiedene hagiographische Berichte zusammenführt, um einen Eindruck davon zu vermitteln, was Peña als eine Art ‚ideale‘ Säule⁴⁴ beschreibt: Eine Säule, die eine Vorstellung von den materiellen Eigenschaften der Säulen der Styliten widerspiegelt, jedoch aufgrund der fehlenden archäologischen Fundstücke keine materialgetreue Beschreibung einer dieser Säulen ist. Die Säule wurde in der Regel vom Styliten selbst⁴⁵ oder mit Hilfe seiner engsten Vertrauten⁴⁶ errichtet, oder es handelte sich um eine bereits bestehende Säule⁴⁷, auf die der Säulenheilige stieg. Bei den bekanntesten Säulenheiligen, wie bei Simeon dem Älteren und dem Heiligen Lazaros⁴⁸ (ca. 968 – 1054), wurde von den Autoritäten oder den Getreuen – ad maiorem dei (bzw. stiliti) gloriam – der ursprünglichen Säule eine noch höhere Säule zur Seite gestellt, was mit dem Anstieg der Bekanntheit des Heiligen einherging. Auf der Säule gab es in den meisten Fällen eine mit Geländer versehene Plattform (vermutlich aus Holz, da keine davon erhalten blieb), auf der sich das Leben des Säulenheiligen abspielte.⁴⁹ In einigen Fällen, nicht jedoch bei Simeon, befand sich auf der Säule eine regelrechte kleine Zelle samt Dach.⁵⁰ Um die Basis der Säule herum, in einem Bereich, der mandra genannt wurde, ließen sich die Gläubigen nieder, die häufig eine richtige kleine Siedlung bildeten. Unter ihnen würden dann diejenigen, die dem Heiligen am nächsten standen, in vielen Fällen beginnen, eine klösterliche Vorläufer-Gemeinde aufzubauen, die nach dem Ableben des Styliten den Ort (und die Säule) verehrte. Bis heute werden unter den Forscherinnen und Forschern vehement die Fragen der architektonischen Vorgänger der Säulen und die der möglichen Vorläufer der Säulenheiligen diskutiert. Vgl. Ignace Peña. Martyrs du temps de paix: les stylites. In Peña, Castellana, Fernandez, Stylites, 24– 84: 34. Vgl. Peña, Martyrs, 33. Vgl. Peña, Martyrs, 33. Vgl. Peña, Martyrs, 33. Vgl. Peña, Martyrs, 33. Vgl. Peña, Martyrs, 39 – 42. Dies ist der Fall bei Daniel (ca. 409–ca. 493), der beinahe in Folge einer eisigen Nacht auf der Säule zu Tode gekommen war. Als der Kaiser Leo von dem Vorfall erfuhr, ließ er gegen das Ansinnen des Heiligen eine Überdachung auf die Säule bauen, um den Styliten zu schützen (vgl. Delehaye, Saints, XLIX).
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Die Positionen hierbei können in zwei größere Lager zusammengefasst werden: Erstere behaupten, derlei Praxis sei zum Zeitpunkt der Einführung durch Simeon im Panorama der Geschichte der Askese vollkommen neuartig. Dies ist der Standpunkt, den sowohl Delehaye⁵¹ und Lent⁵² als auch jüngere Forscher und Forscherinnen wie Almut-Barbara Renger und Alexandra Stellmacher⁵³ vertreten sowie auch mehrere antike Hagiographen: Sowohl Theodoret⁵⁴ als auch der Verfasser der syrischen Vita⁵⁵ widmen einen durchaus langen Abschnitt der Apologie des Stylitismus, indem sie diese Praxis auf einen unergründlichen göttlichen Willen zurückführen („I myself cannot accept that his standing occurred without divine dispensation“⁵⁶ gesteht Theodoret), der – unter anderem – auch in biblischem Kontext viele bedeutende Figuren zu ungewöhnlichen, aber deshalb nicht weniger heiligen Verhaltensweisen und Lebensformen veranlasst hat, wie die folgende Liste von Beispielen berühmter christlicher Figuren veranschaulicht: Again as he desired he gave them laws and commandments: to the household of Adam, not to eat of the tree; to the sons of Seth to have nothing to do with the household of Cain; to Noah the rainbow and the indissoluble covenant; to Abraham the sign and seal of circumcision; to Moses, the Sabbath and the keeping of the law. He clothed Elija with zeal glowing like a flaming fire. He had Isaiah walk before him naked and barefoot. He commanded Jeremiah to put on his neck the yoke and its collar. He said to Ezechiel, ‘Shave your beard and your head with a razor, and put your baggage on your shoulder. Breach the wall and go out as though one departing’. To Hosea a holy prophet he commanded, ‘Take a harlot as your wife’. […] So therefore it pleased his Lord that Mar Simeon stand on a pillar in these days […].⁵⁷
Hingegen behauptet das zweite Forschungslager, dass das Phänomen des Stylitismus nur in Verbindung mit der antiken Bildhauerei⁵⁸ verstanden werden kann: In der Antike war es nämlich allgemeiner Brauch, auf eine Säule eine Statue zu stellen, die sowohl einer Gottheit gewidmet werden als auch die Darstellung eines tatsächlich existierenden menschlichen Wesens sein konnte.⁵⁹ Bekannte Bei-
Vgl. Delehaye, Saints, CLXXXV. Vgl. Lent, Life, 103. Vgl. Renger, Stellmacher, Der Asketenkörper, 322. Vgl. Doran, Life (Theodoret), 75 – 76. Vgl. Doran, Syriac Life, 179 – 180. Doran, Life (Theodoret), 75. Doran, Syriac Life, 180. Vgl. Robert Heidenreich. ΣΤΥΛΙΤΑΙ. Säulenstatuen in der Antike. Forschungen und Berichte. Archäologische Beiträge 12 (1979): 61– 69 + 5. Tafel. Vgl. Heidenreich, ΣΤΥΛΙΤΑΙ, 64– 67.
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spiele gab es sowohl in Griechenland⁶⁰ als auch in Rom.⁶¹ Zudem war ausgerechnet in Syrien die religiöse Verehrung architektonisch-vertikaler Bestandteile eine sehr alte und konsolidierte Praxis: Bei den arabischen Nomadenbevölkerungen (die vielleicht nicht grundlos einer ganz besonderen Faszination für die Figur Simeons unterlagen, durch ihn sogar massenweise konvertierten und soweit gingen, dass sie – wie bereits gesehen – die Herausgabe des Leichnams nach dessen Tod verlangten) bestand zum Beispiel der so genannte Baetyl-Kult darin, konisch zulaufend geformte Steine auf Anhöhen oder an Kultstätten aufzustellen, wohin man regelmäßig zurückkehrte und die verehrt wurden.⁶² Diese Kultform erfuhr – aller Wahrscheinlichkeit nach⁶³ – im syrischen Raum eine eigenständige Entwicklung, bei der die konisch geformten Steine mit darauf gestellten oder eingravierten menschlichen Darstellungen ergänzt wurden. Die Hauptquelle über diese Form des Kultes ist der griechische Schriftsteller syrischer Herkunft Lukian von Samosata (ca. 120 – 180/192 v.Chr.) mit seinem Werk De Dea Syria. Hier beschreibt Lukian in aller Detailfülle den Kult der syrischen Göttin Atargatis in Hierapolis und eines damit verbundenen Brauches, der darin bestand, eine Statue ohne besondere Eigenschaften, die lediglich ‚Zeichen‘, ‚Standarte‘ [semeion]⁶⁴ genannt wurde, auf einen Altar zu stellen: In der Mitte […] steht ein anderes vergoldetes Bild, den anderen keineswegs ähnlich. Es hat keine eigenthümliche Form, sondern trägt eine aus allen übrigen Götterbildern zusammengesetzte Gestalt. Die Assyrier selbst nennen es das Wunderbild [semeion], indem sie ihm keinen eigenen Namen geben, und eben so wenig über seine Herkunft und Bedeutung Etwas zu sagen wissen.⁶⁵
Vgl. Heidenreich, ΣΤΥΛΙΤΑΙ, 64– 65. Vgl. Heidenreich, ΣΤΥΛΙΤΑΙ, 66 – 67. Vgl. David T. M. Frankfurter. Stylites and Phallobates: Pillar Religion in Late Antique Syria. Vigiliae Christianae 44 (1990): 168 – 198: 180 – 184. Vgl. Frankfurter, Stylites and Phallobates, 180 – 181 und George R. H. Wright. The Heritage of the Stylites. Australian Journal of Biblical Archaeology, 1:3 (1970): 82– 107: 92– 95. Letzterer hatte bereits in einem einige Jahre zuvor erschienenen Artikel seiner Position Ausdruck verliehen, nach welcher er Fortführungslinien zwischen Phallobatismus und Stylitismus sieht. George R. H. Wright. Simeon’s Ancestors (or The Skeleton on the Column). Australian Journal of Biblical Archaeology, 1:1 (1968): 41– 49. Vgl. J.L. Lightfoot. Commentary, Appendix II. In Lucian. On the Syrian Goddes, übers., hrsg. u. kommentiert von J.L. Lightfoot. Oxford: Oxford University Press 2003, 540 – 547. Lukian von Samosata. Die Syrische Göttin. In Lucian’s Werke, Bd. XIV, übers. von August Friedrich Pauly. Stuttgart: J. B. Metzler, 1831, 1719 – 1751: 1742.
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In Lukians beschriebenem semeion sah man⁶⁶ eine Verschmelzungsform zwischen dem arabischen Kult der Baetyl, der ursprünglich ohne menschliche Figuren auskam, und dem griechisch-römischen Brauch, nach welchem auf den höchsten Punkt einer Säule eine menschliche Gestalt gestellt wurde. Zu diesem ästhetischen Kontext, der von der antiken Bildhauerei und dessen syrischen Abwandlungen abgeleitet ist, kommt ein weiterer äußerst interessanter kultischer Präzedenzfall hinzu, der abermals bei Lukian beschrieben wird: Der Platz, auf welchem der Tempel steht, ist eine Anhöhe, die so ungefähr mitten in der Stadt liegt und von einer doppelten Mauer umgeben ist. Die erste Mauer ist schon alt, die andere nicht lange vor unserer Zeit erbaut worden. Der Vorhof des Tempels sieht nach Mitternacht und hat eine Größe von ungefähr hundert Klaftern. In demselben stehen die Phallen, so Bacchus [Διόνισος] gestiftet, und deren Höhe dreißig Klafter beträgt. Auf einen dieser Phallen steigt zweimal in jedem Jahre ein Mann, und hält sich sieben Tage lang auf der Spitze desselben auf. Als Ursache dieses Brauchs wird Folgendes angegeben. Das Volk glaubt, der Mann verkehre in dieser Höhe mit den Göttern selbst, und bete Heil und Segen auf ganz Syrien herab: denn je näher er den Göttern stehe, desto besser vernehmen sie seine Gebete. […] Das Aufsteigen aber wird auf folgende Weise bewerkstelligt. Der Mann wirft ein langes Seil um sich und um den Phallus; steigt hierauf an kleinen Hölzern, die nur so weit aus dem Phallus herausragen, um die Fußspitze darauf setzen zu können, hinan, indem er mit jedem Tritt das Seil, indem er es schüttelt, wie die Fuhrleute das Leitseil, in die Höhe wirft. Wer dieses noch nicht gesehen, dagegen aber gesehen hat, wie man in Arabien, Aegypten und anderwärts auf die Palmbäume steigt, wird verstehen, wie ich es meine. Wenn er aber auf dem Gipfel angelangt ist, läßt er ein anderes, sehr langes Seil, das er bei sich hat, herab, und zieht an demselben Holz, Kleider, Geräthe aller Art, kurz Alles, was er bei sich haben will, hinauf. Daraus erbaut er sich eine Art Nest, worin er sitzt, und, wie gesagt, eine Zeit von sieben Tagen ausharren muß. Und nun kommen von allen Seiten Leute herbei und bringen Gold und Silber, Etliche auch Kupfer. Dieß legen sie unten am Phallus nieder, sagen Jeder seinen Namen, und gehen wieder von dannen. Ein Mann, der dabei steht, ruft den Namen hinauf: und wenn der oben Sitzende ihn vernommen, verrichtet er für denselben sein Gebet, wobei er zugleich an ein kupfernes Instrument schlägt, das einen sehr starken und scharfen Ton von sich gibt.⁶⁷
Die Säule von Simeon wird gut 100 km weit von den hier von Lukian beschriebenen phallobatai entfernt errichtet. Die Debatte über die möglichen Einflüsse der Tradition der phallobatai auf den Stylitismus wird offen und hitzig unter den Forscherinnen und Forschern ausgetragen, und es scheint, als sei – zumindest für den Moment – noch nicht das letzte Wort gesprochen. Im Lichte der gegensätzlichen Interpretationen erscheint es jedoch sinnvoll, eine intermediäre Haltung in Bezug auf mögliche heidnische Vorgänger der Säule Simeons einzunehmen, die
Vgl. Hans J. W. Drijvers. Cult and Beliefs at Edessa. Leiden: Brill, 1980, 126 ff. Lukian, Die Syrische Göttin, 1738 – 40.
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keine komplette Ablehnung, aber auch keine unhinterfragte Akzeptanz der Hypothese der direkten Abstammung des Stylitismus von den Praktiken der phallobatai mit sich bringt. Wie tatsächlich auch Frankfurter⁶⁸ behauptet hat, ist es, wenn auch eine direkte Beeinflussung zwischen Phallobatismus und Stylitismus weder möglich noch auf Dokumentarebene belegbar ist (auch weil das Phänomen der phallobatai bereits vor der Geburt Simeons zu einem Ende gekommen zu sein schien⁶⁹), ebenfalls unmöglich, die vielen Hinweise darauf zu ignorieren, dass zu dem Zeitpunkt, als Simeon auf eine Säule steigt, Stelen, Säulen und im allgemeinen Steinformationen auf Anhöhen an Durchgangsorten und mit einer Kultfigur an deren Spitze (aus Fleisch und Blut oder aus Stein) über Jahrhunderte hinweg bereits ein grundlegender Teil der syrischen Vorstellungswelt gewesen waren. Es ist kein Zufall, dass an mehreren Stellen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ein Auffinden vorchristlicher Modelle im Stylitismus für möglich halten, das Mythologem der axis mundi ⁷⁰ heranziehen, das durch Mircea Eliade berühmt wurde.⁷¹ Säulen, heilige Bäume, Türme, Glockentürme, Minarette, wären demnach als ‚Weltachsen‘ bzw. als Verbindungen zwischen Himmel und Erde, zwischen Menschlichem und Göttlichem zu interpretieren, die zugleich Brennpunkte darstellen, in denen die Energien der Erde zusammenlaufen. Die Säule Simeons sowie die der Styliten im Allgemeinen können auf historischkultureller Ebene in diese Tradition eingereiht werden, da sie sich eben genau diese Zwischenräumlichkeit zu eigen macht. Insofern stellt die Figur Simeons eine nahezu perfekte intermediäre Instanz dar, als er zwischen Erde und Himmel vermittelt⁷², aber auch – folgt man der Hypothese der Kontinuität – zwischen heidnischer und christlicher Welt. Er wird als derjenige stilisiert, der mit den Göttern und mit und für die Menschen spricht, jedoch von einer privilegierten, in der Höhe gelegenen und andersartigen Position aus, und als jemand, dem Kraft seiner über-menschlichen Eigenschaften Gott seine Botschaften und seinen Willen anvertraut, der den Menschen angetragen werden soll.
Vgl. Frankfurter, Stylites and Phallobates, 171– 177. Vgl. Delehaye, Saints, CLXXX. Zu einer Anwendung dieses Konzeptes auf die Figur Simeons vgl. Charles M. Stang. Digging Holes and Building Pillars: Simeon Stylites and the „Geometry“ of Ascetic Practice. Harvard Theological Review, 103:4 (2010): 447– 470: 464– 470. Vgl. Mircea Eliade. Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016 [1984], 36 – 41 und 47– 51. Vgl. Peña, Martyrs, 30.
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In diesem Kontext sollte vielleicht an eine immer wiederkehrende Tatsache aus den hagiographischen Erzählungen erinnert werden: Auch unter Seefahrern galt Simeon als Bezugsheiliger, den sie während Stürmen oder bei Schiffbrüchen beschworen, aber auch ganz allgemein unter Menschen, die über das Meer fuhren. Simeon stellte in der Tat, von der Höhe seiner Säule aus – als Symbol der stabilitas schlechthin – einen festen Bezugspunkt für diejenigen dar, die mit dem Schiff auf dem instabilen Wasser umhertrieben und ihr Leben aufs Spiel setzten. In diesem Sinne stellt die Säule Simeons einen privilegierten Zwischenraum dar: Sie fungiert nicht nur als Medium zwischen Himmel und Erde, Menschlichem und Göttlichem, sondern wird auch mit der symbolischen Bedeutung eines sicheren Hafens aufgeladen, als ein Ort auf halber Strecke zwischen dem Reich des Wassers (= Unsicherheit, Chaos, Dämonen⁷³) und der Erde (= Reich der Menschheit, des Gesetzes).
4 Zwischen Herrschaft und Herrlichkeit: Macht und Spiritualität Wie in den vorherigen Abschnitten gezeigt wurde, darf die Bedeutung der antiken Bildhauerei nicht außer Acht gelassen werden, sobald man von Styliten spricht: In der griechisch-römischen Antike wurden des Öfteren Helden, Götter und Kaiser in Form von Statuen auf Säulen geehrt. Eine dieser Statuen durch den eigenen Körper zu ersetzen war kein Vorgang von geringem symbolischem Gehalt. Dies bemerkten allen voran Simeons ägyptische ‚Kollegen‘ aus dem Kloster, die, als sie von seiner asketischen Praxis erfuhren, nicht zögerten, ihm mit der Exkommunikation zu drohen: Die Anschuldigung lautete, dass er sich mit seinen Praktiken mit Christus und den Heiligen vergleichen wolle und die derart extrem waren, dass sie den Verdacht von Narzissmus nahelegten. Wie in vielen anderen in den Hagiographien wiedergegebenen Episoden auch, in denen Simeon sich der Anklage des „Hochmuts“ stellen muss, wird hier eine zentrale Komponente des Phänomens der Askese herangezogen: ihr politischer Effekt. Von der Höhe seiner Säule aus beeinflusste Simeon die Menge und erhob sich zum Vorbild, nicht unbedingt, was die Praxis an sich betrifft (so sehr er auch von auf ihn folgenden Säulenheiligen nachgeahmt wurde, so hielt sich das Phänomen des Stylitismus doch in Grenzen), sondern vielmehr in Bezug auf Rechtschaffenheit und Distanzierung von materiellen Dingen. Von einem psycho-historischen Standpunkt aus scheinen einige Überlegungen Friedrich Nietzsches aus der Vgl. Doran, Syriac Life, 151– 173.
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dritten Abhandlung Zur Genealogie der Moral ⁷⁴, die sich ‚asketischen Idealen‘ widmet, genau diesen kritischen Punkt aufzunehmen, was die Konstruktion der Autorität des Asketen (in unserem Fall des Styliten) betrifft: Das Inaktive, Brütende, Unkriegerische in den Instinkten contemplativer Menschen legte lange ein tiefes Misstrauen um sie herum: dagegen gab es kein anderes Mittel als entschieden Furcht vor sich erwecken. […] Dies thaten sie, als Menschen furchtbarer Zeitalter, mit furchtbaren Mitteln: die Grausamkeit gegen sich, die erfinderische Selbstkasteiung – das war das Hauptmittel dieser Machtdurstigen Einsiedler und Gedanken-Neuerer, welche es nöthig hatten, in sich selbst erst die Götter und das Herkömmliche zu vergewaltigen, um selbst an ihre Neuerung glauben zu können.⁷⁵
Für Nietzsche gibt es demnach Asketen (nicht zu verwechseln mit den höchst kritisierten ‚asketischen Priestern‘), die in gewisser Weise Respekt verdienen und die ein beträchtliches Ausmaß an ‚Wille zur Macht‘ besitzen, denen jedoch zugleich bewusst ist, dass sie davon nicht ausreichend zur Verfügung haben, um sich ausschließlich mit körperlichen Mitteln über andere erheben zu können. Anstatt also Gewalt gegen andere auszuüben, üben sie diese auf spektakuläre Weise an sich selbst aus – mit extremen Selbstgeißelungspraktiken – und verschaffen sich so Respekt und allgemeine Bewunderung. Die radikale Distanzierung der Säulenheiligen von materiellen Dingen wurde, wie Peter Brown⁷⁶ aus einem historischen Blickwinkel, aber im Einklang mit Nietzsche argumentiert, als eine Art ‚Garantie‘ gesehen: Wer sich solch extremen Formen der Askese unterzieht, wurde notwendigerweise als eine Figur super partes betrachtet, die an materiellen Gütern und Fragen keinerlei Interesse hat und genau deshalb immer wieder zu Rate gezogen wurde. Es ist eben diese Stellung der Zwischenräumlichkeit zwischen Verachtung der Welt und weltlicher Aktivität, in die sich der Stylit begibt. Simeon, ebenso wie zahlreiche andere auf ihn folgende Säulenheilige⁷⁷, teilte seine Zeit sehr sorgfältig in Gebet, asketische Praxis und Beratung sowohl einfacher als auch adeliger Personen ein, sollten diese wundersame Heilung benötigen oder Rat in ethischen, theologischen oder pragmatischen Fragen. Er wurde auf seiner Säule sogar zur Monophysitismus-Debatte befragt – die zu der Zeit wahrscheinlich heftigste theologische Kontroverse im östlichen Christentum. So war es aus unterschiedlichsten Gründen ein Vorgang von nicht unbedeutendem politischem und symbolischem Gewicht, wenn ein Stylit zu Rate Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral. In Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. VI.2, hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Berlin, New York: De Gruyter, 1968 [1887], 257– 430. Nietzsche, Genealogie, 377– 378. Vgl. Brown, Rise and Function, 92– 93. Vgl. Peña, Martyrs, 50 – 51.
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gezogen oder sogar dazu bewogen wurde, von seiner Säule herabzusteigen: Die Kaiserin Theodora II. (805/807– 867) beispielsweise bat alle byzantinischen Styliten, ihre Säulen zu verlassen, um für die Genesung ihres Gemahls Theophilos (800/805 – 842) zu beten.⁷⁸ Noch beeindruckender war der ‚Marsch‘ der Styliten anlässlich der ikonoklastischen Kontroverse, die zugunsten der Verwendung von Bildern in den byzantinischen Chroniken von den Säulen herabstiegen.⁷⁹ Der vielleicht sensationellste Fall, der auch in den Chroniken der Zeit den meisten Widerhall gefunden hat, ist jener von Daniel Stylites, der, rasend vor Zorn über die Usurpation des kaiserlichen Throns durch Basiliskos, dem Beschützer der Monophysiten, von seiner Säule hinabstieg und (in einer Sänfte getragen, da die asketischen Praktiken seine Fähigkeit zu laufen dauerhaft beeinträchtigt hatten⁸⁰) sich nach Konstantinopel begab, um den Usurpator zu rügen und ihn (mit Erfolg) aufzufordern, Reue zu zeigen und um Erlösung zu beten.⁸¹
5 Zwischen Gott und Tier: Engel, Löwe, Schlange Die Historia Religiosa gibt über Simeon eine Anekdote wieder, laut der ein Pilger aus der Stadt Rabaena dem Säulenheiligen folgende Frage stellte: „Tell me, in the name of that truth which has converted the human race to itself, are you human or an incorporeal nature?“.⁸² Auf die Nachfrage des Styliten hin, was der Grund für eine derartige Frage sei, antwortete der Besucher „I hear everyone talking about how you neither eat nor sleep, both of which are characteristic of humans, for no one who has a human nature can live without food or sleep“.⁸³ Um jeden Zweifel über seinen völlig menschlichen Status auszuräumen, ließ er den Pilger zu sich auf die Säule steigen und zeigte ihm seinen ausgezehrten und von der extremen Askese geplagten Körper und versicherte ihm außerdem, dass er wie alle anderen Menschen feste und flüssige Nahrung zu sich nehme.⁸⁴ Die Anekdote zeigt auf sehr prägnante Art und Weise, wie sehr der Säulenheilige von den eigenen Zeitgenossen als Inkarnation einer absoluten Alterität, als Anomalität jenseits des Menschlichen wahrgenommen wurde. Den Unwettern, den glühenden Sommern sowie den eisigen Wintern Syriens ausgesetzt, predigte
Vgl. Delehaye, Saints, CXL–CXLI. Vgl. Peña, Martyrs, 63. Vgl. Delehaye, Saints, LII. Vgl. Delehaye, Saints, LII–LIII. Doran, Life (Theodoret), 82. Doran, Life (Theodoret), 82. Vgl. Doran, Life (Theodoret), 82.
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und betete Simeon und unterzog sich sehr langem Fasten. Seine körperlichen Übungen waren legendär, wie eine von Theodoret nicht ganz ohne Ironie erzählte Anekdote wiedergibt: „[…] Sometimes he bends over many times and offers worship to God. Once one of my attendants counted one thousand, two hundred and forty-four, but then was distracted and lost count“.⁸⁵ Nicht etwa der Heilige ist derjenige, der aufgrund der wiederholten Beugungen ermüdet, sondern der Betrachter, der es nicht mehr schafft mitzuzählen. Was die Wahrnehmung des Säulenheiligen als menschliches Wesen umso schwieriger macht, ist die bereits erwähnte ‚ikonographische‘ Dimension seiner Askese, die ihn wie eine Statue auf einer Säule erscheinen lässt oder ihn sogar aufgrund seines Predigens und Betens mit ausgebreiteten Armen mit einem Kreuz identifizierbar macht. Diese Gleichsetzung des Säulenheiligen mit einem Kreuz, das Transzendieren seiner Identität als menschliches Wesen hin zu einer rein symbolischen Dimension, ist besonders offensichtlich, wenn man die zahlreichen stilisierten Darstellungen der Styliten berücksichtigt, die bei Fernandez in seinen Studien von 1975 gezeigt werden.⁸⁶ Wenn die Identifizierung von Styliten mit einem Repräsentanten (Engel) oder einem Symbol (Kreuz) der Transzendenz innerhalb der Ausdrucksformen der christlichen Hagiographie und Bildhauerei verstanden werden kann, sind wiederum diejenigen Episoden eigenartig, in denen Simeon zusammen mit Tieren dargestellt oder auf metaphorischer Ebene direkt mit einem Tier identifiziert wird. Die Ikonographie bildet Simeon häufig auf seiner Säule so ab, als sei er von einer Schlange bedroht, die sich hinaufschlängelt, um den Asketen zu erreichen. In Wirklichkeit vermittelt die hagiographische Erzählung, von der sich die Ikonographie inspirieren lässt, etwas anderes und handelt keineswegs von einer Bedrohung, sondern eher von einer Wunderheilung: A large growth came up on a female serpent and, because of her sufferings, she tried to leave for about one mile when the male, suffering her pains with her, took hold of the female, and they came to Lord Simeon. When they arrived at his pillar, they separated from one another, for the female did not dare to be seen by the righteous man, but went into the women’s section. The male came in the midst of that crowd and prostrated himself before the pillar, shaking his head up and down, and prayed to the righteous man. When the crowd saw the huge size of the snake, they ran away from it, but when he saw this holy Simeon said to the crowds, ‘Do not run away, brethren, for he has truly come here to pray. His female is very ill and has gone into the women’s section.’ He said to the snake, ‘Take up clay from the ground and carry it to your wife. Place it on [her] and breathe on it, and it will heal her.’ The snake took some clay and went to his wife.When the crowd saw it they followed him to see what he
Doran, Life (Theodoret), 81. Vgl. Romuald Fernandez. Le Culte et l’iconographie des stylites. In Peña, Castellana, Fernandez, Stylites, 163 – 217: 186 – 194.
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would do. They saw the female standing upright outside the barrier, and she had a large growth. The [male] snake took the clay, placed it on [her] and breathed on her and, in the presence of all, it healed her. He then took her and went away, and when the crowds saw this mystery, they glorified God.⁸⁷
Mit dieser erlösenden Geste scheint Simeon sogar fähig zu sein, die urgeschichtliche Feindschaft, die Mensch und Schlange trennt, zu Gunsten einer pietas für die Lebewesen zu überwinden, einer pietas, die die Grenzen des Menschlichen überwindet und sich ganz auf den Bereich des Kreatürlichen erstreckt. Zudem dient die Schlangenepisode abermals dazu, die Fremdheit Simeons gegenüber der Sphäre des Menschlichen zu unterstreichen: Er schafft es, mit einem Wesen in eine Beziehung zu treten (und dieses sogar zu erlösen), das keine sprachliche Mittel besitzt und historisch als Feind der Menschheit par excellence gilt. Die Nähe zum Reich des Nicht-Menschlichen, nicht nur auf seiner höchsten Stufe (als Engel), sondern auch der niedrigsten (als Tier) wird erneut dort markiert, wo das gebieterische Sprechen des Heiligen – dem ein hartherziges Gemüt und der Befehlston nicht fremd waren – mit dem Brüllen eines Löwen verglichen wird, eines Tieres, dessen Darstellung auf Säulen nicht unüblich war: „He roared like a lion, and smote all who belong to the wrong side“.⁸⁸ Der Stylit, der fest auf seiner Säule verankert ist und fern ab von der Erde erscheint, verliert auch die typischen Eigenschaften des Menschlichen im Allgemeinen: Mit seiner Löwenstimme, die täglich mit transzendenten Realitäten kommuniziert, denen er näher zu stehen scheint als den Menschen, stellt er sich in einen intermediären Raum zwischen der Welt des Menschlichen und der des Unmenschlichen und nimmt je nach Erzählung tierische oder göttliche Züge an.
6 Zwischen Individuum und Kollektivität: Anachorese und Zönobitentum Wie ein prägnanter Abschnitt aus Michel Foucaults Vorlesungen am Collège de France aus den Jahren 1981– 82 zeigt, ist der grundsätzliche Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Askese der zwischen Form und Regel: Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Aspekt, den es richtig zu erfassen gilt, denn er macht eine der Trennungslinien zwischen jenen philosophischen Übungen und der christlichen
Doran, Life (Antonius), 227. Doran, Syriac Life, 189.
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Übung aus. Man darf nicht vergessen: Die Tatsache, daß das Leben ein „geregeltes“ zu sein hat, stellt ein ganz bedeutendes Element der christlichen Geistigkeit dar. […] Das philosophische Leben, das Leben, wie es die Philosophen vorschreiben und definieren und das man dank einer techne erlangt, unterliegt keiner regula (Regel), sondern einer forma (Form). Es ist ein Lebensstil, es ist eine Form, die man seinem Leben zu geben hat.⁸⁹
Diese Unterscheidung hat auch innerhalb der christlichen Welt Gültigkeit, insbesondere wenn man die ersten beiden Jahrhunderte nach Christus betrachtet. Gerade in dieser Zeit stehen sich extreme individualistische, anachoretische Bewegungen, in denen der Einzelne die eigene Lebensform auswählt, oft klösterlichgemeinschaftlichen Bewegungen gegenüber, die stärker reglementiert sind und deren Lebensweise – ausgehend von der allerersten Klosterregel, der des ExSoldaten Pachomius (287– 347) – gemäß eines schriftlich genau festgehaltenen Kanons kodifiziert ist.⁹⁰ Die (Ordens‐)Regeln von Basilius von Cäsarea (ca. 330 – 379) im Osten und jene von Benedikt von Nursia (480/490–ca. 547) im Westen sind die beiden Kodizes, denen schrittweise die Mönche folgen und dabei mögliche individualistische Züge auflösen werden, die dem ursprünglichen anachoretischen Mönchtum innewohnten⁹¹, oder besser gesagt, sie gliedern sie in eine kirchlich-klösterliche, gut reglementierte Ordnung ein. Allerdings sind zu Zeiten Simeons diese anachoretischen Züge sowie (teilweise bizarren⁹²) asketischen-individualistischen Lebensformen noch sehr präsent. Ein Beleg für die Spannung zwischen den Lebensformen der Anachoreten und der Zönobiten ist – und es lohnt sich dies erneut zu erwähnen – das Exkommunikationsschreiben, das der Heilige von einigen ägyptischen zönobitischen Mönchen erhalten hatte⁹³, die ihm einen gewissen Mangel an Demut in seiner asketischen Praxis vorwarfen. Eine weitere Episode, die vor dem Aufstieg Simeons auf die Säule liegt, erweist das Spannungsfeld zwischen Einzelnem und Kollektiv in klösterlichem Kontext als noch problematischer und emblematischer. Die Episode erhält umso mehr Bedeutung, als dass sie eines der äußerst seltenen Ereignisse ist, die sowohl in der syrischen als auch in der griechischen Vita und sogar in jener nach Theodoret wiedergegeben sind. Sie geht auf Simeons Aufenthalt in Tell‘Adā zurück und bezieht sich auf eine besonders schmerzhafte Foucault, Hermeneutik, 515 – 516. Zu einer Rekonstruktion dieser Dichotomie mit besonderem Fokus auf Kleinasien vgl. Susanna Elm. „Schon auf Erden Engel“: Einige Bemerkungen zu den Anfängen asketischer Gemeinschaften in Kleinasien. Historia: Zeitschrift für Alte Geschichte, 45:4 (1996): 483 – 500. Vgl. auch dazu Brock, Early Syrian Asceticism, 13. Vgl. Elm, Schon auf Erden Engel, 484– 486. Vgl. Delehaye, Saints, CLXXIX. Vgl. Peña, Martyrs, 29.
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Geißelung des Körpers, die der Heilige praktizierte und die ihm im Umfeld des Klosters, in dem er sich aufhielt, große Schwierigkeiten bereitete. In der griechischen Vita⁹⁴ wird die Episode auf lebhafte (und grausige) Weise erzählt: He […] wrapped [a] rope around his whole body. […] So he remained a year or more with the rope wrapped around his flesh, and it ate into his flash so that the rope was covered by the rotted flash of the righteous man. Because of his stench no one could stand near him, but no one knew his secret. His bed was covered with worms, but no one knew what had taken place.⁹⁵
Abgesehen von der Episode an sich ist auch die Reaktion der Mitbrüder von besonderem Interesse. Die anderen Mönche, neben ihrem Entsetzen und ihrer Abscheu für die ekelerregenden Wunden Simeons, begeben sich empört zum Abt, nicht (nur) wegen der Unannehmlichkeiten für das gemeinschaftliche Leben, sondern auch, weil die extremen Praktiken Simeons sie demütigen, indem sie als offensichtlicher Beleg dafür stehen, dass sie selbst keine derart asketische Widerstandskraft besitzen. Der asketische Individualismus Simeons wird gleichsam angeklagt, das Prinzip des gemeinschaftlichen klösterlichen Lebens in Gefahr zu bringen: Die Lebensregel, der alle Mitbrüder sich anpassen müssen. „This man wants to undo the monastery and certainly the rule which you handed down to us“⁹⁶, beschweren sich Simeons Mitbrüder beim Abt. Nach diesem Zwischenfall, der zudem nicht der erste dieser Art ist, muss Simeon das Kloster verlassen und kehrt nicht mehr dorthin zurück. Der Stylitismus entsteht demnach – wenn auch nicht in direkter Opposition – so doch als Alternative zur klösterlich-zönobitischen Lebensform des Mönchtums. Wie viele andere Formen des Anachoretismus endet auch diese damit, dass sie letztlich eingegliedert wird, wie die hagiographischen Berichte⁹⁷ und die archäologischen Funde zeigen: Peña, Castellana und Fernandez haben eine Art Standard-Modell in Bezug auf die Positionierung der Säule innerhalb eines klösterlichen Kontextes festgelegt, das außer der Säule selbst noch die Hütte desjenigen Mönchs vorsah, der sich um den Styliten kümmerte, sowie die Unterkünfte der Pilger und Mönche und einen Brunnen.⁹⁸ Auch unter diesem Aspekt kann man in der Figur des Säulenheiligen jene Züge der ‚Zwischenräumlichkeit‘ wiederfinden, die in den vorhergehenden Abschnitten besprochen wurden: Der Stylitismus, der sich als asketisch-individualistischer
Während die syrische Vita und jene nach Theodoret lakonischer sind: vgl. Doran, Lives, 63. Doran, Life (Antonius), 88 – 89. Doran, Life (Antonius), 89. Sowie jener des Heiligen Lazaros, der vor seinem Tod die Klosterregel vorgab, der seine Schüler folgen sollten: vgl. Delehaye, Saints, CVII. Peña, Martyrs, 77.
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Impuls gegenüber der reglementierten Starrheit der Zönobiten behauptete, wird zu einem bedeutenden Teil des sozialen und religiösen Lebens im spätantiken Syrien, um schließlich wieder in die Welt des Zönobiums eingegliedert zu werden, als zentrale Quelle der Anziehungskraft für Pilger, die ihrerseits mit ihrer Präsenz und ihren Gaben die örtlichen monastischen Haushalte unterstützten.
7 Schlussbemerkungen: Askese als Zwischenraum? Die Figur von Simeon Stylites verkörpert, wie die vorhergehenden Überlegungen aufgezeigt haben, verschiedene Formen der Zwischenräumlichkeit: eine intermediäre Räumlichkeit unter unmittelbar materiellem Blickwinkel, die durch die Säule repräsentiert wird; eine sozio-politische, die vom Heiligen Kraft seiner spirituellen Autorität als Vermittlerinstanz zwischen verschiedenen sozialen Kräften verkörpert wird; eine symbolische, die in der kollektiven Vorstellungswelt der Zeit durch seine sonderbare Stellung zwischen den Polen des Göttlich-Engelhaften und dem des Tierischen ausgedrückt wird; und schließlich eine im Umfeld des ursprünglichen Christentums, indem er eine Instanz an der Schnittstelle zwischen anachoretischindividualistischer und kollektivistisch-klösterlicher Bewegung darstellt. Diese Eigenschaften können im Zuge einer Abstraktionsleistung auf eine theoretische Ebene übertragen werden, um daraus ein interpretatives Modell des asketischen Phänomens abzuleiten, das insbesondere das Auftreten einer ‚anderen Räumlichkeit‘ in Bezug auf den sozialen Kontext unterstreicht. Der Asket stellt in der Tat, so könnte man ausgehend von einigen Überlegungen nach Arnold Gehlen⁹⁹ behaupten, eine sozial ‚symptomatische‘ Figur im etymologischen Sinne des Begriffs dar: eine Art ‚Symptom‘ des sozialen Missstands. Dort wo asketische Formen auftauchen, ist es, als würde sich gleichsam eine Diskrepanz innerhalb der homogenen Ordnung der Institutionen auftun, eine Art Zwischenraum, die einen kritischen Blick von außen zulässt. Der Asket wäre demnach derjenige, der, um die berühmte Dichotomie aufzugreifen, die im Johannes-Evangelium Ausdruck findet (Johannes, 17: 14– 18), „in dieser Welt“ aber nicht „von dieser Welt“ ist: besser gesagt, derjenige, der
Vgl. Arnold Gehlen. Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Bonn: Athenäum, 1956, 109: „Es gibt Zeiten, in denen die Welt der Ideen so abgegriffen und so kursgängig und rotationsverbreitet geworden ist, dass man in ihr nicht mehr produktiv werden kann, weil der Widerstand in ihr selbst fehlt – dann wird das Ideelle nur über die Askesekonzentration hinweg glaubhaft“.
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gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Welt ist; „extime“¹⁰⁰, möchte man eine prägnante Definition des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan verwenden oder „exzentrisch“¹⁰¹, wenn man mit Helmuth Plessner innerhalb der deutschen philosophischen Anthropologie bleiben möchte. Diese extimité des Asketen ist gekennzeichnet von seiner Lebensführung: Hinsichtlich der Lebensweise seines sozialen Umfeldes verhält sich der Asket andersartig und zwar mit offener Ablehnung der Konventionen und Überzeugungen des eigenen Zeitalters. Der Asket ist ein „Neinsagenkönner“¹⁰², um eine Definition von Max Scheler zu verwenden, der sich dazu entschließt, die eigene Unzufriedenheit gegenüber einem bestimmten status quo zu zeigen und zwar nicht mittels eines direkten Vorgehens gegen das Vorhandene, sondern vielmehr mittels einer Veränderung seiner selbst. Diese Veränderung, wie auf spektakuläre Weise von Simeon dargelegt wird, stützt sich auf eine konstante Ausübung, die auf die Modifizierung der Subjektivität in ihrer physisch-psychisch-sozialen Totalität abzielt. Die Geißelungsübungen Simeons, aber auch z. B. die klösterlichen Regeln, sind Praktiken, die aufzeigen, wie zentral die Bildung einer neuen Subjektivität¹⁰³ für die Askese ist: eine Subjektivität, die in sich selbst die Ressourcen findet, jene im status quo vorgefundenen Mängel auszugleichen. Außerdem praktiziert der Asket eine Lebensform, die man auch ‚öffentlich‘ nennen könnte: Er lehnt die eigene Herkunftsgesellschaft ab und macht diese Absage publik. Diese öffentliche Ablehnung schafft einen außerordentlichen sozialen Raum innerhalb der Gesellschaft, eine Art asketisch-kritische Sphäre – eine Zwischenräumlichkeit eben –, in der die Kritik jedoch nicht ausdrücklich oder sprachlich ausgeübt wird, sondern in Form einer performativen Praxis der Selbstveränderung zum Ausdruck kommt. Der Asket antwortet nicht mit einer Veränderung der Welt auf Problematiken und auf soziale Unzumutbarkeit, sondern mit der revolutionären Veränderung seiner selbst. Die Kritikform der Askese ist demnach Teil einer eigenen performativen Politik, die auf den charismatischen Machtraum der vom Asketen selbst durchgeführten Übungen gründet. Diese Kritik muss zudem, um glaubhaft zu sein, zeitlich andauern und die Subjektivität, die sie in die Tat umsetzt, gänzlich verändern, so dass sie ununterscheidbar von den Praktiken selbst wird. Der Asket wird in diesem Sinne Sprachrohr dessen, was man als eigentümliche ‚Politik der
Jacques Lacan. Le Séminaire, Livre XVI. D’un Autre à l’autre. Paris: Seuil 2006 [1969], 249. Der Bezug besteht hierbei zum Konzept der ‚exzentrischen Positionalität‘, die in Helmuth Plessner. Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin, New York: De Gruyter, 1975 [1928] entwickelt wurde. Max Scheler. Die Stellung des Menschen im Kosmos. In Gesammelte Werke, Bd. IX, hg. von Manfred Frings. Bonn: Bouvier, 1995 [1928], 7– 73: 54. Vgl. Giorgio Agamben. Höchste Armut. Ordensregel und Lebensform, übers. von Andreas Hiepko. Berlin: Fischer, 2012 [2011].
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Vorbilder‘¹⁰⁴ definieren könnte, in der die Botschaft der Veränderung durch die Lebensform selbst übermittelt und zum Ausdruck gebracht wird, die durch die Anstrengung der ausgeführten Subjektivierungspraxis erreicht wird: In dieser Hinsicht ist die forma vitae Simeons und der Säulenheiligen im Allgemeinen besonders emblematisch. Diese haben in der Tat durch ihre Askese eine Rolle mit sozialer und politischer Relevanz angenommen, ohne jedoch den klassischen politischen cursus zu verfolgen: Es ist allein ihr asketischer ‚Wille zur Macht‘ – um es mit Nietzsche zu sagen –, der ihre soziale Rolle hervorruft. Das Zusammenspiel dieser Eigenschaften – zusammenfassend gesagt: Askese als performative Übung, Askese als Kontrast-Praxis hinsichtlich des status quo, Askese als zeitlich andauernde Praxis, die ein Subjekt, das sie ausführt, radikal verändert und Askese als ‚öffentliche‘ Praxis, die darauf abzielt, auf andere einzuwirken – bildet, mit den Säulenheiligen als besonders emblematischen Beispielen, einen spezifischen sozialen Raum, in dem es möglich erscheint, den Asketen zu verorten: In einem Raum, der geradezu als Zwischenraum definiert werden kann, insofern der Asket zwischen Individuum und Kollektivität, zwischen Politischem und Unpolitischem, zwischen ‚festem‘ Subjekt und Subjekt ‚im Werden‘, zwischen Religion und öffentlichem Raum situiert ist, ohne jedoch eindeutig auf eine dieser konstitutiven Polaritäten reduziert werden zu können.
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6. Körper in raumzeitlicher Aneignung
Kristin Platt
Der Körper im Zwischenraum von literarischen Zukunftsvorstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts The Body in the “In-Between” Space of Literary Concepts of the Future at the Beginning of the 20th Century: This analysis examines perceptions of the future in the interwar literature to argue that in the 1920s and 1930s the present was interpreted as an “interspace”. Two notions face each other: the notion of a crisis-laden present that must be overcome, and the notion of an interspace that is necessary to develop a scientific perspective that also includes “the other” and “other thinking”. In the article, contemporary novels are juxtaposed with aspects from works by Bergson, Simmel, and Cassirer. The literary grasp of the future is based on the implementation of a materialized understanding of time, the idea of spatio-temporal contexts in which man can intervene, as well as the search for the inner connection between time and life or time and body. In the interwar period, the future is concretely inscribed in the bodies, which no longer only bear the traces of the times, but also become actors themselves, overcoming individuality. A materialized thinking searching for fulfillment contradicts a relational thinking uncovering orders of knowledge. Eröffnen sich in Entwürfen von Zukunft überhaupt „Zwischenräume“, anders gefragt, betrifft das Zukunft-Denken überhaupt das Denken von Zwischen-Räumen? Legt man zugrunde, dass Zukunft allein aus einer Gegenwart heraus denkbar wird, als gegenwartsgebundene Erwartung oder auch als Phantasiebild stets bereits in Phänomenen der Gegenwart erkennbar ist,¹ dann wäre der Raum der Zukunft eine gegenwartsgebundene Antizipation und Ausdehnung. Er hätte keine eigene Ordnung und keine eigenen umgrenzenden Charakteristika. Daher wäre zunächst zu klären, wie überhaupt mit dem Denken der zeitlichen Bereiche von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft das Reden über den Raum einhergeht. Hat dann ein Zwischenraum eine Präsenz, die uns gerade die Geltung von Zeit und Raum bewusst werden lässt, oder wird mit dem Zwischenraum die
Stefan Willer. Zur literarischen Epistemologie der Zukunft. In: Wissens-Ordnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Literatur, hg. von Nicola Gess und Sandra Janßen. Berlin/New York: de Gruyter, 2014, 224– 260. https://doi.org/10.1515/9783110758306-016
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Möglichkeit von Übergängen und Transformationen, Auflösung und Neubildung deutlich? Nimmt man die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in den Blick, fallen in Bezug auf die politischen und literarischen Beschäftigungen mit Zukunft vor allem Fragen an den Raum auf: an die Stabilität eines deutschen Kulturraums, an die Stellung Deutschlands in der geographischen Ordnung Europas, an die Sicherung der Überseegebiete. Fraglos sind auch bereits vor dem Ersten Weltkrieg Unruhe und Stimmungen der Unsicherheit erkennbar, die als Hinweise für Denkfiguren eines Zwischenraums gelesen werden können. Michael M. Bachtin hatte mit der Beobachtung von „Chronotopoi“ darauf aufmerksam gemacht, dass die Zuschreibung von Sinn auf einer Erfahrung der Konstruktion raum-zeitlicher Ordnungen basiert.² Jede Sinnbildung an eine Erfahrung müsse „eine zeitlich-räumliche Ausdrucksform annehmen“, und damit eine „Zeichenform, die wir hören und sehen können“.³ Die Chronotopoi sind Beziehungen, die sich unterscheiden in Bezug auf das jeweilige Tempo einer Zeit, ferner hinsichtlich des jeweiligen Verhältnisses zwischen Mensch und Objekt sowie zwischen Privatem und Öffentlichem. Die literarischen Chronotopoi können, wie Bachtin betonte, mit „realen historischen“ Chronotopoi jeweiliger Epochen in Beziehung gesetzt werden. Die raum-zeitliche Ordnungsstruktur, die der Weltauffassung einer bestimmten Epoche zugrundeliegt, werde dabei jedoch nicht gespiegelt, sie determiniert die narrativen Figuren nicht. Eher könnte man in Bezug auf Bachtins Entwurf von einem Korrelations-, anstatt von einem Repräsentationsverhältnis sprechen. Literarisch angeeignet werden „immer nur bestimmte – unter den jeweiligen historischen Bedingungen zugängliche – Aspekte des Chronotopos, und es bildeten sich lediglich bestimmte Formen der künstlerischen Widerspiegelung des realen Chronotopos heraus“.⁴ Zeit selbst gewinnt für Bachtin im Chronotopos an Sichtbarkeit, denn sie öffnet sich erst durch chronotopische Figuren der Möglichkeit, in narrativen Formen repräsentiert zu werden. „Chronotopos“ ist somit die zeitliche Erfassung eines Raumes sowie ebenso eine Materialisierung der Zeit im Raum. Dynamiken der Zeit und Weiten oder Engen des Raumes bedingen sich nicht, sie fügen sich zu bestimmten wahrnehmbaren Figuren allein zusammen. Nicht Bedingungsverhältnisse, sondern die Relationalität von Wechselbeziehungen ergeben somit ein zeit-räumliches Verhältnis. Daher würde mit Bachtin durch die Ausweitung der Gegenwart in eine Zukunft kein Zwischenraum entstehen. Zukunft wäre mit Bachtin als eine spezi-
Michail M. Bachtin. Chronotopos. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008 (zuerst russ. 1975), 196. Bachtin, Chronotopos, 196. Bachtin, Chronotopos, 8.
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fische Figur mit einer bestimmten Temporalität zu verstehen, die es erlaubt, einen Raum und eine Zeit zu identifizieren. Die chronotopische Figur würde sogar eine „Zeit-Ganzheit“⁵ beweisen, da sie befähigt, die abstrakte, sich selbst nicht präsentierende, sondern als Präsenz beschreibbare Zeit in den drei Zeitstufen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Abfolge zu konkretisieren. Das Reden über Zeit in der Verbindung zum Raum und die Deutung von „Zeiterfahrungen“ und „Raumerfahrungen“ ist seit dem Ende des 18. Jahrhunderts integrierter Teil der Reflexion technischer, sozialer und politischer Entwicklungen. Die modernisierenden Entwicklungen werden als Veränderungen raumzeitlicher Erfahrungen gedeutet beziehungsweise über diese charakterisiert: Bestimmte technische Errungenschaften sind durch Zeit- und Raumfiguren fest markiert. Die Eisenbahn bedeutet Beschleunigung und Ausdehnung, die Fotographie eine Sichtbarmachung und ein Festhalten des Moments, das Grammophon, das die bildliche durch die stimmliche Aufzeichnung ergänzt, verdichtet nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern lässt einen Augenblick wiederholbar und teilbar werden. Die Frage nach der Kausalverbindung zwischen Raum und Zeit beantwortete Arthur Schopenhauer mit der Überlegung, dass beide, Raum und Zeit, Veränderungen nicht einzeln erfahren, sondern in einer Verbundenheit: Veränderungen betreffen „jedesmal einen bestimmten Teil des Raumes und einen bestimmten Teil der Zeit zugleich und im Verein“, sodass auch „die bestandlose Flucht der Zeit mit dem starren unveränderlichen Beharren des Raumes“ einer bedingenden Verbindung nicht widerspräche.⁶ Vergangenheit und Gegenwart sind für Schopenhauer „(abgesehen von den Folgen ihres Inhalts) so nichtig als irgend ein Traum“; die Gegenwart ist nur Zwischenraum, eine „ausdehnungs- und bestandlose Gränze“.⁷ Das Wesen der Wirklichkeit entstehe zwar durch das „Zugleichseyn vieler Zustände“, aber das Substanzielle dieser Wirklichkeit werde erst in der Veränderung deutlich. Daher habe jede Materie einen Ursprung im Raum und einen in der Zeit.⁸ Die Gegenwart aber bedeute eine Uneindeutigkeit dieser Materialisierungen. In Thematisierungen des 19. Jahrhunderts entstehen in Bezug auf das ZeitDenken nicht nur Figuren von Beschleunigung und Verlangsamung, Nähen und Fernen, ferner die Assoziation von Beschleunigung und Moderne, sondern auch politische Vorstellungen, historische Entwürfe und literarische Texte, in denen Bachtin, Chronotopos, 196. Arthur Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, hg. von Ludwig Berndl. München: Georg Müller, 1912 (zuerst 1819), 11. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, 8. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, 12.
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das menschliche Schicksal am Schicksal der Zeit geprüft wird.Vergangenheit wird nicht mehr als alternativlos betrachtet, Zeit nicht mehr als Mythos erzählt, sondern als Realität erforscht. Doch das vielleicht auffallendste Motiv, das zur Jahrhundertwende hervortritt, ist die Suche nach dem verbindenden Ganzen (in der Biologie oder einer politischen Natur von Räumen), das durch Überwindung gegenwärtiger Zustände erreichbar sein werde.⁹ In welcher Substanz, welcher Kraft, welchem Träger wird die Fähigkeit liegen, eine zukünftige kulturelle Ganzheit und damit eine kulturelle Stärke zu gewährleisten? Die Imagination eines neuen Möglichkeitsraums wird zur handlungsleitenden Idee. Bereits Henri Bergson hatte gegen eine Materialisierung von Zeit argumentiert und dazu aufgezeigt, wie Zeit nicht mehr mit Weltvorstellungen in Verbindung stehe, sondern durch die Definition moderner Handlungsräume bedingt sei. Dort, wo eine Gegenwart unbestimmt wird, verändere sich zunächst das Wissen über die Vergangenheit. Die Vergangenheit werde zur Möglichkeit. Diese möglich werdende Vergangenheit bildet zur Vorstellung einer ontologischen Wirklichkeit „unserer“ Vergangenheit einen deutlichen Gegensatz: In demselben Maße, wie die Wirklichkeit sich erschafft als etwas Unvorhersehbares und Neues, wirft sie ihr Bild hinter sich in eine unbestimmte Vergangenheit; sie erscheint so als zu jeder Zeit möglich gewesen, aber erst in diesem Augenblick beginnt sie, es immer gewesen zu sein, und gerade darum sage ich, daß ihre Möglichkeit, die ihrer Wirklichkeit nicht vorausgeht, ihr vorausgegangen sein wird, sobald die Wirklichkeit aufgetaucht ist.¹⁰
Beide Gestaltveränderungen, das Unsicherwerden der Gegenwart und das Kontingentwerden des Vergangenen, entstehen somit zugleich.¹¹ Bergson deckt kein Ursachenverhältnis auf, sondern eine Wechselbeziehung als „Spiegelverhältnis“, das heißt eine konsequente Relativität, in der die Bedingung das Verständnis vom Gegenstand selbst betrifft: Das Mögliche ist also das Spiegelbild des Gegenwärtigen im Vergangenen; und da wir wissen, daß das Zukünftige einmal Gegenwärtiges sein wird, daß der Spiegeleffekt sich pau-
Vgl. dazu Michael Weingarten. „Hunger nach Ganzheit“ – Probleme einer fachwissenschaftlichen Kontroverse. In Leben und Geschichte. Anthropologische und ethnologische Diskurse der Zwischenkriegszeit, hg. von Thomas Keller und Wolfgang Eßbach. München: Wilhelm Fink, 2006, 61–81. Henri Bergson. Das Mögliche und das Wirkliche [1930]. In Denken und schöpferisches Werden: Aufsätze und Vorträge. Meisenheim am Glan: Westkulturverlag Anton Hain, 1948 (zuerst: La penseé et le mouvant. Essais et conferences. Paris: Alcan, 1934), 120-121. Auf diese Gleichzeitigkeit macht Andreas Buller aufmerksam: Theorie und Geschichte des Spurbegriffs. Entschlüsselung eines rätselhaften Phänomens. Marburg: Tectum, 2016, 39.
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senlos weiter fortsetzt, sagen wir, daß in unserer aktuellen Gegenwart, die die Vergangenheit von morgen sein wird, das Bild von morgen schon enthalten ist, obwohl wir nicht imstande sind, es schon festzuhalten.¹²
Für Bergson wird ein biologisches wie ein soziales Universum durch die Dauer alles Lebenden konstruiert, wobei mit der Idee der Zeit nicht zuletzt versucht wird, diese „Dauer“ zu begreifen und sie einer teleologischen Ordnung zuzuführen.¹³ Das Gefühl, „daß wir Schöpfer unserer Absichten, unserer Entscheidungen, unserer Akte und dadurch unserer Gewohnheiten, unseres Charakters, unseres Selbst sind“, erlaubt die Bildung von Zeitstufen und damit das Denken unterschiedlicher Eigenschaften von Gegenwart und Vergangenheit: bestimmt und unbestimmt, geordnet und ungeordnet. Die Verräumlichung temporaler Eigenschaften ist folglich als eine Strategie der Deutung von Erfahrungen und des Ordnens von Welt zu sehen. Die damit entstehende Vorstellung einer Einheit des Erfahrungsraums ist eine Illusion, die sowohl die Wahrnehmbarkeit von Zeit betrifft, als auch die Orientierungen im Raum. Diese Illusion betrifft jedoch nicht nur die Wahrnehmung von Einheitlichkeit, sondern auch die Wahrnehmung von Ordnung. Bergson macht darauf aufmerksam, dass das Denken von Zeit ein Ordnung herstellendes Denken ist, das sich von der „Unordnung“ absetzt, indem diese als Nichts oder Leere beschrieben wird (aufgrund der Abwesenheit oder Unsicherheit von Zeit). Doch es sei gerade die „Unordnung“ der Dauer, die den Überfluss der Existenz in sich trage. Ähnlich verhalte es sich mit dem Raum; denn zwar sei jedem „Ding“ ein Raum inhärent, allerdings sei Raum kein Behälter, in dem die Existenz sich verwirkliche.¹⁴ Die Ausdehnung von Zeit in Richtung Vergangenheit und Zukunft, die wir mit räumlichen Vorstellungen reflektieren, ist für Bergson, der die Vorstellung von fortschreitenden Entwicklungsstufen mehr als deutlich ablehnt, eine Art „Vorraum“, sicherlich nicht ein „Zwischenraum“ im Sinne einer Unbestimmtheit, bestimmten Ordnung oder Umgrenztheit, sondern die Erfahrung einer Dauer, die für Bergson die Zeit selbst ist. Dauer als eigentliche Zeit wird durch ihn als eine noch nicht einer raum-zeitlichen Bestimmung von Erfahrung und Identität zugeordnete Erfahrung verstanden; eine Erfahrung also, die nur in einer Art „Zwischenraum“ machbar ist, aber allein hier der eigentlichen Zeit nahe kommt.
Bergson, Das Mögliche und das Wirkliche, 121. Bergson, Das Mögliche und das Wirkliche, u.a. 111–112. Bergson, Das Mögliche und das Wirkliche, 115: „Sowie wir dagegen über die Wirklichkeit nachdenken, machen wir aus dem Raum einen Behälter“.
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Die Wirklichkeit, so wie wir sie unmittelbar wahrnehmen, kennt keine Leere. Sie hat Ausdehnung, genau so wie sie Dauer hat, aber diese konkrete Ausdehnung ist nicht der unendliche und unendlichfach teilbare Raum, den die Intelligenz sich als Feld ihrer Konstruktionen gibt. Der konkrete Raum ist den Dingen wesenhaft.¹⁵
So kann die Erfahrung der Dauer als „Zeit“ zwar verbunden sein mit einem Raum, doch ist Dauer, durée, nie räumlich. Als ein wesentlicher Aspekt menschlicher Erfahrung von Leben ist diese Dauer nicht objektivierbar. Sie ist Bedingung eines Bewusstwerdens, doch mit dem Bewusstwerden gerade Veränderung in eine andere Kategorie (Zeit) und andere Beziehungen (Raum). Bergson entwirft Vergangenheit als Vorstellung, die durch die Gegenwart konturiert wird, er stellt dieser eine Zukunft gegenüber, die durch die Gegenwart gebildet wurde, sowie eine Zukunft, die selbst die Gegenwart konkret bestimmt. Aber in Wahrheit liegt in dem Virtuellen hier mehr als im Reellen, im Bild des Menschen mehr als im Menschen selbst, denn das Bild des Menschen ist erst möglich, wenn man sich zuerst den Menschen selbst gibt und dann noch einen Spiegel.¹⁶
Das Verhältnis der Menschen zu ihren Spiegeln ist daher kein Reflexionsverhältnis, sondern eine Beziehung, die sich aus den Positionen im Raum ergibt sowie aus den sich aus diesen Positionen eröffnenden Benennungen und Präsentationen. So entsteht der Bergsonsche Zwischenraum der Gegenwart nicht durch die von der Spiegeloptik möglichweise nicht erfassten Stellen, sondern durch den Menschen, der die Spiegel im Raum positioniert, um im jeweiligen Bild seine Gegenwart, aber auch seine Vergangenheit und Zukunft beschreiben zu können. Der Zwischenraum entsteht nicht durch zeitliche oder räumliche Bruchstellen, sondern durch die Art, wie der Mensch seinen Spiegel aufstellt. Zeit und Raum bilden in dieser Analyse keine Bezugssysteme (zwischen Augenblicken und Dingen), sondern sie fügen sich zur Perspektive einer Wahrnehmung. Erst dadurch, dass Zeit von der Perspektive auf Schicksal, Religion und Geschichte in das Handeln der Menschen gelegt ist, wird sie zu einer bestimmbaren Manifestation.¹⁷ Die sich nun öffnende, weil definierbare Zukunft, wird, wenn man von Bergson aus weiterdenken möchte, in der Zwischenkriegszeit zu einer Herausforderung, weil sie als Ungewissheit verstanden werden kann. Diese Ungewissheit
Bergson, Das Mögliche und das Wirkliche, 115. Bergson, Das Mögliche und das Wirkliche, 121. Zu einer solchen Diskussion siehe auch Jean Gebser. Einbruch der Zeit. Schaffhausen: Novalis, 2008 (2. Aufl., zuerst 1995).
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geht mit dem Eindruck unsicherer Zeitfiguren einher: Bleiben wir in der Gegenwart stehen, kommen wir zu schnell in der Zukunft an? Ergänzend zu diesen ersten theoretischen Perspektiven sollen im Nachfolgenden kurz weitere Vorstellungen von Zwischenräumen skizziert werden, um mit den folgenden Perspektiven nicht zuletzt eine Annäherung an die politischen Einstellungen vorzunehmen, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in unterschiedliche politische Wechselwirkungen begleiteten: Dabei geht es zum einen um die Idee eines Zwischenraums, wie er in literarischen Zukunftsvisionen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt worden ist, zum anderen um eine Vorstellung von Zwischenräumen in kulturphilosophischen und sozialtheoretischen Schriften derselben Zeit. Dabei wurde der eine Zwischenraum als Risiko und Gefahr erkannt, seine Überwindung wurde als notwendig gesehen, weil er Kultur und Zukunft unmöglich mache. Der andere Zwischenraum wurde als Ergebnis einer Distanzierung gesehen, welche gerade zur Kulturentstehung führen würde. Diese zweite Perspektive, die in den Schriften von Ernst Cassirer und Georg Simmel, aber auch Sigmund Freuds und Aby Warburgs entdeckt werden kann, entwickelte sich nicht nur parallel, sondern, wie nicht zuletzt in Bezug auf Cassirers Widerspruch zu Heideggers Raum- und Zeit-Denken deutlich gemacht werden kann, explizit als Auseinandersetzung mit einem Denken, das anstrebte, Zeit und Raum den Ordnungen eines sozialen Handelns zu unterwerfen.
Der Zwischenraum der Zwischenkriegszeit (1): Gefahren und Risiken In der Handlung eines 1911 erschienenen Romans von Otto Schultzky löst der Halleysche Komet eine tiefe religiöse und soziale Krise aus. Der Protagonist Ormud geht den biographischen Weg von der Religion in die Wissenschaft und wird Astronom. Jedoch will er nicht die Sterne, sondern das Geheimnis der Existenz ergründen, das in einem „Geistplasma“ vermutet wird. Ormud, der mit seiner Forschung die Entwicklung vom Astronomen zum psychologischen Wissenschaftler nachzeichnet (?), versucht dieses „Geistplasma“ zu differenzieren, um den kulturellen Fortschritt Deutschlands zu beschleunigen. Das Geistplasma ist also ein aus der organischen Erblichkeit entstehendes für uns noch übersinnliches, sagen wir ein wesenheitliches Kraftgebilde das, gleichsam qualitativ geschichtet, der Zeitdimension zustrebt; in das die lebenden Menschen gemäss Begabung hineinranken, und dem die Toten ihre Seelen übergeben entweder eine gewisse Individualität beibehaltend oder darin sich lösend. Identisch mit der häufig zum Ausdruck kommenden Verbändlichkeit unter den Menschen – Tiere sind nicht ausgeschlossen – reprä-
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sentiert es ihr Jenseits; es ist ihre psychische Erblichkeit und wird gemäss des Fortentwickelungsgesetzes aus der Schöpferkraft mit wachsender Macht und Herrlichkeit imprägniert.¹⁸
Der Roman,¹⁹ der seinen Protagonisten in traditionelle soziale Beziehungsmuster stellt – kirchliche Autoritätsfiguren, von denen sich Ormud emanzipiert; ein Förderer und seine Tochter, wobei Ormud sich in die Tochter verliebt und anschließend von dem Vater löst –, schließt sich an eine Vielzahl zeitgenössischer Deutungen von Kultur an: so, wenn die „unfertige Kulturbildung“ der Slawen betont wird oder Juden durch „Wucher“ charakterisiert sind.²⁰ Gerade das Jüdische, das als „oberflächlich“ betrachtet wird, „vornehmlich der Kunst gewidmet“, daher „gemütvoll aber gewissenleer“²¹, gilt als Paradigma für eine Haltung, die sich der Erkenntnis verschließt. Die innere Kraft, zur leitenden Weltraumnation zu werden, liegt in den „drei kulturgewaltigen germanischen Grossmächte[n]“.²² Das Reisen in den Weltraum ist „Wandern“, wo sich „vor uns […] die märchenschöne Perspektive [dehnt,] in deren Ferne das gebietende Herrengeschlecht der Weltraummenschheit verführerisch winkt“.²³ Dabei ist unter Beweis zu stellen, ob man dem Irdischen verbunden bleibt oder sich einlässt auf das „Geistplasma“ und in der „geistplasmatischen Gemeinsamkeit“ aufgeht. Die Reise zum Mars, zum Sirius und zu diversen anderen Sternen lässt Ormud die Grenzenlosigkeit einer „bionomischen“ Schöpfungsidee erkennen und macht ihn selbst zum Propheten – während auf der Erde gewaltvolle Unruhen sich abwechseln. Die Weltraumreise, die Schultzky in seinem Roman entwirft, um die Frage der („organischen“ und „geistigen“)²⁴ Fortentwicklung von Kultur zu thematisieren, ist nicht nur eine übergreifende Einheit. Zeit ist Substanz, Kraft und Existenz. Die „Seele“ wird aus der Zeit geboren.²⁵ Trotzdem von Vergangenheit und Zukunft reden zu können beziehungsweise zu müssen, basiere darauf, dass es ein „Hinterland“ gibt; das, was wir als zufällig und schicksalhaft wahrnehmen, hinter dem sich jedoch das Geheimnis der Schöpfung verbirgt.
O[tto] Schultzky. Modernismus. Ein Weltraum-Roman. Potsdam: A. Stein’s Verlagsbuchhandlung, 1911, 88. Zur Romanhandlung siehe auch Roland Innerhofer. Deutsche Science Fiction 1870–1914. Wien u.a.: Böhlau, 1996, 327–330. Schultzky, Modernismus, 47. Schultzky, Modernismus, 30–31. Schultzky, Modernismus, 40. Schultzky, Modernismus, 64. Schultzky, Modernismus, 83. Schultzky, Modernismus, u.a. 9.
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Die Ewigkeit der Linie von Vergangenheit zur Zukunft, welcher diese Welt in der Zeiterscheinung oder im Zeitempfinden entlang läuft, würde die wahnige Hoffnungslosigkeit in jedem Gegenwartspunkte verkörpern, wenn nicht das Schattenhafte der evolvierenden Zufälligkeiten auf die Offenbarung schliesse, dass diese gespenstige Kraftlinie – Kraft und Zeit sind identisch – ein Hinterland haben müsse, und zwar die Zeitfläche voller Wunder und Herrlichkeit. Die Geheimnisse des Werdenden krystallisieren heuristisch zur Zeitfläche des Seienden […]. Darüber und alle Rätsel lösend türmt die Zeitdimension; sie ist die Urkraft, woraus Chaos sich zur Welt differenzierte und zur Wesenheit fortdauernd vergöttlicht.²⁶
Der hier kurz vorgestellte, zweifellos in der Folge der Reise sowohl exzentrisch als auch diffus wirkende Roman gehört zu einer Gruppe von frühen deutschsprachigen „Science Fiction“-Werken, die im Rahmen eines von der Fritz Thyssen– Stiftung geförderten Forschungsprojekts untersucht werden.²⁷ Die zum Korpus gehörenden Texte sind zumeist zwischen 1918 und 1938 erschienen. Sie stellen die Frage nach der zukünftigen Gestaltung von Mensch und Gesellschaft, eben als „Zukunftsromane“, und sind dabei in hohem Maße Literarisierungen politischer Affekte der Zeit. Bemerkenswert ist das bemühte Festhalten an der Einheit von Zeit und Raum, die ja die Vorstellung einer linearen Kulturentwicklung erst möglich macht.²⁸ Ebenfalls ist das Bestreben hervorzuheben, den Protagonisten in der Kohärenz seines Körpers nicht aufzulösen. Otto Schultzky, der seine Protagonisten zwischendurch in anderen Personen reinkarniert oder ihre Molekülstruktur durch elektrische Ströme verändert, geht zumeist einen anderen Weg. Die Manipulation der Körper selbst soll ermöglichen, die Macht der existentiellen Materie zu erkennen. „Obgleich seine Individualität genetisch verschwommen war“²⁹, offenbart sich dem Protagonisten, dass er zum Halbgott geworden ist, dass Materie ohne Geist eigentlich existenzunfähig wäre; der letztere allein lagert in der Zeitdimension, welche den stofflichen Zufälligkeiten und der Schattenhaftigkeit des Raumes erst die Wirklichkeit des Seins anheftet.³⁰
Die Reise in die Zukunft ist eine Reise auf der Suche nach der Vollständigkeit der Existenz, nach Erfüllung einer Einheit von Person und Kulturentwicklung. Auch Schultzky, Modernismus, 10–11. Forschungsprojekt: Der verdichtete Raum. Sprache, Text und weltanschauliches Wissen in deutschsprachigen Zukunftsromanen der 1920er und 1930er Jahre (gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung; Beginn der Förderung: Mai 2017), Projektleitung Kristin Platt/Monika SchmitzEmans. Schultzky, Modernismus, 256. Schultzky, Modernismus, 257. Schultzky, Modernismus, 258.
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wenn der Protagonist irritiert wird und nicht wirklich bewältigen kann, dass er seine genetische Vorbestimmung überwinden muss und überwunden hat, bleibt das hohe Ziel: zu zeigen, dass Kulturentwicklung und Erfüllung eine Linie bilden und der Körper dann Erfüllung findet, wenn er sich diesem Prinzip hingibt. Schultzkys Roman lässt sich unschwer mit zeithistorischen Diskursen zusammenlesen, wobei er selbstverständlich nicht reduziert werden kann auf die Funktion einer Reflexion von Existenzideen, die mit Beginn der Jahrhundertwende in unterschiedlichen Wissensfeldern bearbeitet werden. Auffallend ist jedoch, dass der biologisch-kulturelle Körper, der von Schultzky auf die Reise in eine Zukunft geschickt wird, nicht individuelle Handlungsräume erkundet oder dem Unsicheren der Moderne folgt, sondern nach Wegen der Loslösung von Religion, Tradition und politischer Ordnung forscht – um bei Religion und Kultur anzukommen. Zu Beginn der Reise suchen die Protagonisten Erkenntnis, am Ende der Reise wartet Erfüllung. Das teleologisch-biologische Prinzip, das Schultzky zitiert, zeigt nicht zuletzt auf die Autorität, die biologische Ideen in den Diskursen um 1900 bereits beanspruchen.³¹ Der Übergang in die Zukunft vollzieht sich bei Schultzky über den Gestaltwechsel der Menschen – bei einer Stärkung der Zeitlinien, da die Zeit selbst Substanz und Kraft ist. Moderne ist damit kein Bruch, keine Erschütterung, sondern eine Phase, die zur Emanzipation auffordert. Die Reise ist vielleicht Moment, sie ist auch Auflösung von Raum, doch dies dadurch, da sie sich vom Zwischenraum der unsicheren Existenz entfernt. Bemerkenswert ist, dass in den deutschsprachigen Zukunftsromanen der 1920er und 30er Jahre das Motiv der Zeitreise eher selten aufgenommen worden ist, mit dem der Roman von H. G. Wells zweifellos weit herausragt. Auch ein Würfel könne in Wirklichkeit nicht existieren, so fordert der Protagonist des Romans Die Zeitmaschine (1895) von Herbert George Wells in der spannenden „Einführung“ zum Roman heraus. Jeder Körper müsse, damit wir ihn als wirklich annehmen, eine Ausdehnung in vier Dimensionen haben: „Länge, Breite, Tiefe – und Dauer“. Während die ersten drei Dimensionen Ausdehnungen des Raumes seien, würde die vierte Dimension eine Ausdehnung der Zeit betreffen. Es herrscht jedoch die Neigung, zwischen den ersten drei Dimensionen und der vierten einen unwirklichen Unterschied zu machen, weil sich zufälligerweise unser Bewußtsein inter-
Benjamin Bühler. Lebende Körper. Biologisches und anthropologisches Wissen bei Rilke, Döblin und Jünger. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2004, 27–30.
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mittierend vom Anfang unseres Lebens bis zum Ende eine Richtung der vierten Dimension entlang bewegt.³²
Der Protagonist legt im Streit mit Interessierten, darunter ein Psychologe, ein Arzt, ein Bürgermeister, ein Journalist, dar, dass allein das Bewusstsein die Linie der Zeit imaginiert habe. Die Unabhängigkeit der vierten Dimension zu beweisen, würde nicht nur des Beleges bedürfen, dass der Raum bei einer Zeitänderung konstant bleibt, sondern auch einer Veränderung der Wahrnehmung. Aber Sie haben Unrecht, wenn Sie sagen, wir können uns in der Zeit nicht hin und her bewegen. Wenn ich mich zum Beispiel eines Ereignisses sehr lebhaft erinnere, gehe ich zum Moment seines Geschehens zurück: ich werde geistesabwesend, wie Sie sagen. Ich springe auf einen Moment zurück. […] ein zivilisierter Mensch […] kann im Ballon gegen die Schwerkraft steigen, und warum sollte er nicht hoffen, daß er einmal werde imstande sein, seine Fahrt die Zeitdimension entlang zu unterbrechen oder zu beschleunigen oder sogar umzukehren und in entgegengesetzter Richtung zu wandern?³³
Eine Zeitreise verbindet in der Zeit – was zunächst, wie Stefan Willer betont, Ungleichzeitigkeit erfahren lässt.³⁴ Um dieses möglich zu machen, verankert Wells seinen Roman nicht nur erzählerisch, sondern auch mit der reflektierenden Rahmenhandlung in einer vierdimensionalen Raum-Zeit-Beziehung. Nicht zuletzt zeichnet Wells, wie Willer herausarbeitet, auch Widersprüche und Ambivalenzen des Zeitreisens: den „Gegensatz zwischen der potenziell endlosen, nach Jahrmillionen zählenden planetarischen Zeit, durch die sich der Zeitreisende bewegen kann, und der begrenzten Lebenszeit (lifetime) des Erzählers, der ungeduldig auf die Rückkehr des Reisenden wartet“, Widersprüche zwischen Zeitlogiken und Erzählökonomien,³⁵ unaufgelöste Fragen an die Ich-Identität des Zeitreisenden. H. G. Wells suchte gerade die Dynamisierung von Zeitvorstellungen ins Zentrum der Erzählung zu stellen. Die Zeit lässt sich im Roman Richtung Vergangenheit und Zukunft bereisen. Sie fordert mit veränderten Längen heraus: Während nur einige Stunden in der Romanzeit der Gegenwart vergehen, verstreichen während der Reise in das Jahr 802701 acht Tage. Die Möglichkeit, Zeit als veränderlich wahrzunehmen, lässt die Frage an die Fortentwicklung der Menschheit
H. G. Wells. Die Zeitmaschine. Minden in Westfalen: J. C. C. Bruns, 1900 (zuerst: The Time Machine: An intervention. London: Heinemann, 1895; New York : Henry Holt and Comp., 1895), 2-3. Wells, Die Zeitmaschine, 8. Stefan Willer. Zurück in die Zukunft, vorwärts in die Vergangenheit. Zeitreisen in Literatur und Film. Interjekte 5 (2014), 36–51. Willer, Zurück in die Zukunft, 42.
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stellen, an die Beziehung zwischen Zeit und Geschichte sowie die Verfahren, Imagination (Wahnsinn) und Wirklichkeit (Wahrnehmung) zu unterscheiden. Wenn man so will, dann vergisst der Ballon, den der Zeitreisende im Dialog der Rahmenhandlung als Beispiel nutzt, während er in die Zukunft fliegt, nicht den Ort, von dem aus er gestartet ist (und zudem kann er auch zu diesem Ort zurückkommen). Ausgangspunkt für die Reise in die Zukunft ist die Startwiese in der Gegenwart, dies jedoch nicht, weil der Startort der Ort der Wirklichkeit ist, sondern weil er im Moment der Erzählung als Wirklichkeit bestimmt wird. Diese Form des Reisens zur Entdeckung einer neuen Welt, die sich ganz konkret in eine Irritation der Zeit begibt, ist keineswegs jene Methode, die in den deutschen Zukunftsromanen der Zwischenkriegszeit präferiert wird. Auch wenn in den Romanen „Reisen“ fiktionalisiert werden, sind die Räume, die Start- und Zielpunkt bilden, nicht austauschbar, das heißt der Standort des Betrachters wird höchst selten relativiert. Der mit seinen Werken über viele Jahre populäre Schriftsteller Hans Dominik erläuterte im Vorwort zum Roman Die Macht der Drei (1922), dass sein Text als Folie einer Voraussage verstanden werden soll, noch konkreter: als Ort, an dem eine Klärung zukünftiger Entwicklungen beginnen und dadurch ein Weiterdenken dieser Entwicklungen möglich werden kann: „Mehr als jede vorhergehende Epoche ist unsere Zeit für solche Voraussagen geeignet“.³⁶ Zukunft ist in der Gestalt der Frage nach der Zukunft der Generationen und der Zukunft des Wissens in der Zwischenkriegszeit ein zentrales Diskursfeld.³⁷ Konkret geht es auch in den Romanen um Voraussagen, die an der politischen und sozialen Wirklichkeit geprüft werden wollen. Oder, wie im Text von Dominik, um „Weltschöpfungen“, die sich selbst anbieten als Reflexionsmedien dessen, was gesellschaftliche Diagnosen in den 1920er Jahren in besonderer Weise bestimmt: die Entdeckung der „Krise“ als ein gesellschaftseigenes Phänomen, das zum Handeln auffordert, sowie darüber hinaus die Durchsetzung einer Notwendigkeit, Zukunft zu gestalten. Das Bild der Weltschöpfung, noch uneinheitlich und verworren im neunzehnten Jahrhundert, hat sich in unsern Tagen zur harmonischen Einheit entwickelt. Kraft und Stoff, die beiden Gegenpole einer früheren dualistischen Naturanschauung, sind in unserer fortgeschrittenen Erkenntnis wesenseins geworden, und diese Erkenntnis bedeutet die Morgenröte eines neuen, energetischen Zeitalters. Eines Zeitalters, das sich zu unserer Steinkohlen- und
Hans Dominik. Die Macht der Drei. Berlin: Scherl, 1935 (zuerst 1922), hier: Vorwort, V. Vgl. dazu Poetisch-politische Imaginationen: Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit, hg.von Kristin Platt und Monika Schmitz-Emans (erscheint 2020).
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Dampfmaschinenzeit etwa verhalten dürfte, wie diese zu der Epoche der Steinzeit- und Höhlenmenschen.³⁸
Im Zentrum der literarischen Werke steht eine konzentrierte Arbeit an Bildern, die eine wahrgenommene „Unruhe“ der Zeit fortzuschreiben suchen: Zwischen Natur und technischem Fortschritt, Moral und Freiheit, Abendland und neuen Werten, messbarer und unendlicher Zeit, beherrschbarem und unbeherrschbarem Raum sind die Romanhandlungen insbesondere um den Entwurf handlungsfähiger Generationen zentriert. Der Entwurf einer Generation, die ihren Weg in die Zukunft sucht und sich diesen handelnd bahnt, zeigt eine Gruppe von Menschen, die losgelöst agiert von Familienbindungen und Erbfolgen. Im Zukunftsgenre kommen Generationenbrüche zum Ausdruck.³⁹ Der jungen Generation, die in die Zukunft sehen kann, werden die Alten gegenübergestellt, die durch ihre Trägheit und Blindheit den Weg in die Zukunft zu verhindern drohen. Doch vielleicht schenkt man diesen Erfahrungen vergangener Generationen […] heute ein wenig leichter Glauben, wenn [der Autor] es unternimmt, in romanhafter Form jene großen Möglichkeiten zu schildern, die nach seiner Überzeugung das Antlitz der Erde und die Lebensformen der Menschheit in den kommenden Jahrzehnten von Grund auf umgestalten werden.⁴⁰
Die Manifeste der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind in besonderer Weise auf der Figur politischer Generationen basiert. Die Definition als Generation erlaubt eine (Selbst‐)Bestimmung als Gruppe, die zunächst außerhalb der gültigen politisch-sozialen Definitionen steht. Die Generation ist als Träger in der Lebenszeit verortet, nicht in der Struktur politischer Bewegungen. Sie unterscheidet sich vom vormodernen Generationsverständnis, da sie keine vertikalen Beziehungen mehr abbildet. Mit Darwin ist es möglich geworden, das generationale Element auch horizontal zu lesen, noch wichtiger: Generationen als Träger materieller Veränderungen zu erkennen. In einer Vielzahl literarischer und politischer Schriften wird die neue Generation als ein Träger von Zielen erkannt, die über die Geschichte hinausragen. So auch bei Oswald Spengler⁴¹, der die politische Generation als Akteur konturiert. Dies erfordert unter anderem eine starke Abgren-
Dominik, Die Macht der Drei, V. So auch Eva Kreisky. „Die Phantasie ist nicht an der Macht …“.Vom Verschleiß des Utopischen im 20. Jahrhundert. Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 29:1 (2000), 7–28, hier 10. Dominik, Die Macht der Drei, VI. Oswald Spengler. Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. München: C. H. Beck, 1933, ix.
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zung, hier nicht mehr nur von den Vätern, sondern vor allem von vorangegangenen Generationen: Ist in dem, was sich heute in allen weißen Ländern, die am Kriege beteiligt waren, unklar genug, die „Jugend“, die „Frontgeneration“ nennt, überhaupt schon ein tragfähiges Fundament für solche Männer und Aufgaben der Zukunft vorhanden? Die tiefe Erschütterung durch den großen Krieg, die alle Welt aus den trägen Illusionen von Sicherheit und Fortschritt als dem Sinn der Geschichte herausriß, zeigt sich nirgends deutlicher als in dem seelischen Chaos, das er hinterließ.⁴²
Die Generation holt aber auch die moderne Entwicklung ins Vertraute zurück. Die Generation ist Träger der kulturellen Stärke, Träger eines Genies und einer Schöpfungskraft. So erörterte Spengler (ein wenig hallt das „Geistplasma“ nach): Genie ist – wörtlich – die Schöpferkraft, der heilige Funke im einzelnen Leben, der in Strömen von Generationen rätselhaft auftaucht und erlischt und plötzlich ein Zeitalter weithin erleuchtet.⁴³
Generationen erscheinen als idealisierte Gruppen, die den „Takt“ einer Zeit in sich tragen, und damit als eine Kraft, die sowohl Natur als auch Technik überragt.⁴⁴ Teil einer Geschlechterfolge zu sein, sich einer Vergangenheit zu vergewissern, verstelle den Weg in die Zukunft. Und wir Menschen des 20. Jahrhunderts steigen sehend hinab. Unser Blick für Geschichte, unsere Fähigkeit, Geschichte zu schreiben, ist ein verräterisches Zeichen dafür, daß sich der Weg abwärts senkt. Nur auf dem Gipfel hoher Kulturen, bei ihrem Übergang zur Zivilisation, tritt für einen Augenblick diese Gabe durchdringender Erkenntnis auf.⁴⁵
Der Mensch ist bestimmt durch seine Zeit, und in dieser hat er sich „im Kampfe mit einer gegebenen Welt“ durchzusetzen: „Dieser Kampf ist das Leben“.⁴⁶ In der Herausforderung durch die moderne Lebenswelt und Technik steht der Mensch vor dem [e]inzige[n] Fall in der gesamten Geschichte des Lebens, daß das Einzelwesen aus dem Zwang der Gattung heraustritt. […] Der Mensch ist der Schöpfer seiner Lebenstaktik ge-
Spengler, Jahre der Entscheidung. Erster Teil, 141. Oswald Spengler. Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens. München: C. H. Beck, 1932, 51. Spengler, Der Mensch und die Technik, 6–7. Spengler, Der Mensch und die Technik, 12. Spengler, Der Mensch und die Technik, 13.
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worden. Sie ist seine Größe und sein Verhängnis. Und die innere Form dieses schöpferischen Lebens nennen wir Kultur.⁴⁷
Die Generation löst sich nicht mehr von den Vätern, sondern von der Gattung. In dem apokalyptischen Szenario, das der Schriftsteller Anton Steininger in Weltbrand 1950 entwirft, folgt einem vernichtenden Weltkrieg zwischen Europa und Asien, in dem zunehmend und eskalierend das sogenannte „B-Gas“ eingesetzt wird – die Opfer haben inzwischen eine Zahl von 32 Millionen weltweit erreicht –, der Brand der Landschaften. Zwar wird ein Friedensvertrag unterzeichnet, doch während sich die Nachricht vom Ende des Krieges verbreitet, eskalieren die Brände zum Weltbrand.⁴⁸ Johannes Egghard, Ingenieur und einer der Hauptprotagonisten der Handlung, beschließt, mit den Flugschiffen, sogenannte „Stahlfische“, Proviant, Saatgut und Flüchtlinge aufzunehmen, im Übrigen auch eine Ziege, und in 8000 Tausend Meter Höhe das Erlöschen des Weltbrandes abzuwarten. Die Passagiere des Flugschiffs werden Zeugen einer unbarmherzigen Vernichtung. Es ist der dritte Tag seit der Katastrophe. Die Sicht auf die Erde ist von einer undurchdringlichen rauen Wolkenschicht verdeckt, durch die nun die Jacht allmählich tiefenwärts steuert. Unendliche, durch die Hitze der Katastrophe ausgelöste Regenböen beherrschen die Dreitausendmeterzone und überschütten als ungeheure Wolkenbrüche die Erde mit ihren Wassern. Ab und zu läßt eine Lücke den Blick auf die wallenden Urdämpfe und die riesenhaften Nebelschwaden frei, aus denen sich wie in der Schöpfungsgeschichte Land, Wasser und Luft aufs neue gebären.⁴⁹
Das Raumschiff als Arche Noah und die Erzählung von dem Wiederaufkeimen biologischen Lebens auf der Erde wird ergänzt durch die Erzählung der dadurch möglich werdenden Neuschöpfung von Kultur. „[…] Wir aber werden eine neue Kultur gründen … und du und ich vielleicht auch noch mehr: Ein neues Geschlecht getreuer Ekkehards, die die Welt betreuen und unser Werk weiterführen sollen, wenn wir einmal nicht mehr sind. Willst du…?“ Da schlingt Brigitte errötend beide Arme um seinen Hals und flüstert ihm verschämt ein leises, festes „Ja“ ins Ohr. Er aber reißt sie an sich und erstickt ihren Mund mit seinen Küssen.⁵⁰
Es ist bemerkenswert, dass Steininger nicht nur Natur und Kultur vernichtet, sondern (in hoher Zahl und ziemlich großzügig) auch Menschen. Brigitte, die
Spengler, Der Mensch und die Technik, 25. Anton Steininger. Weltbrand 1950. Ein utopischer Roman. Berlin: Verlag der Zeit-Romane, 1932. Steininger, Weltbrand 1950, 244–245. Steininger, Weltbrand 1950, 248.
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weibliche Hauptprotagonistin, die sich von einer Komintern zu einer Soldatin der sogenannten „Rotkreuz“-Kolonnen meldet und nach Sowjetrussland an die Front geht, erlebt den Krieg, der nichts anderes ist als ein Vernichtungskrieg, von beiden Seiten. Steininger löst in den Kriegsszenen die Handlungen der Menschen in ein reines Gewaltgeschehen auf und die Opfer in eine biologische Materie. Tod hinterlässt keine Leichen, sondern tote Körper, tote Materie. Es gibt keinen Übergang des Sterbens, der Tote hat keinen sozialen Status als Verstorbener. Der Flammenwerfer aber, von der Kameradin geführt, frißt von neuem lodernde Breschen in die anstürmenden Menschenleiber und erfüllt die Luft mit einem grauenhaften Gestank von angebranntem Menschenfleisch. Von würgendem Ekel überwältigt, schwinden Brigitte die Sinne. Dann, da sie wieder zu sich kommt, steht die Sonne am Horizont wie eine riesengroße rote Scheibe, als hätte sie all das Feuer und Blut des Schlachtfeldes aufgesaugt. Der Angriff ist abgeschlagen. Reserven sind da. Ein neuer Tag beginnt. Was für ein Tag… Das Trommelfeuer hat wieder eingesetzt, reißt die Eingeweide der Erde auf und gräbt die Toten ein, die das Gelände bedecken, leblos und steif, wie morgenstarre Maikäfer, die man vom Baum geschüttelt.⁵¹
Die Figur des lebenden Körpers ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine eigene Wissensfigur.⁵² Über die Frage nach dem Körper werden in Ansätzen von Anthropologie und Biologie, Philosophie und Soziologie, Psychologie und Psychoanalyse sowohl die technologische Entwicklung als auch ein neues Lebens- und Kulturpathos zusammengebracht.⁵³ Der Körper codiert aber auch die Zerstörung, die Zivilisationsunfähigkeit, die Schwäche. Die Denkfiguren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind ja bereits vielfach hinsichtlich gerade auch des Körperbildes untersucht worden: Im Genre des Zukunftsromans fallen vor allem die nationalistischen und rassischen Zuschreibungen an die Körper auf, Stereotypisierungen, eine Ineinandersetzung von Natur und Kultur, aber eben auch die Bereitschaft, immer wieder große Zahlen von Menschen zu opfern, um sie einem neuen Ziel zuzuführen – das letztlich ein neues, blondes, starkes Deutschland ist, in dem die Blumen wieder blühen. Hans Dominik schreibt in seine (unzähligen) Romane die menschliche Machbarkeit von Entwicklung – aber auch die menschliche Machbarkeit von Katastrophen ein. Die radikal vernichtenden, letzten Katastrophen sind stets menschenverursacht. Im Roman Atlantis (1925), der im Jahr 2000 spielt, wird das Weltgeschehen von drei Machtblöcken bestimmt: dem europäischen Staatenbund, einem afrikanischen Kaiserreich und einem amerikanischen Reichsver-
Steininger, Weltbrand 1950, 162. Bühler, Lebende Körper, 10. Bühler, Lebende Körper, 15.
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bund. Der afrikanische Kaiser Augustus lässt am Tschadsee einen tiefen Schacht in die Erde bohren, um Karbid zu fördern und die afrikanische Wirtschaft zu stärken. Zeitgleich verfolgt eine amerikanische Minengesellschaft die Verbreiterung des Panamakanals durch Sprengungen. Ein Krieg droht. Zudem steht ein Unglück (trotz der europäischen Warnungen) durch die Sprengungen bevor. Die Katastrophe geschieht: Eine Landbrücke bricht zusammen, der Golfstrom wird umgeleitet. In Nordeuropa kommt es zu einer Panik, eine neue Völkerwanderung Richtung Süden beginnt. Kaiser Augustus versucht, um sein Ziel der Rassengleichheit zu erreichen, Südafrika zu bewegen, möglichst viele Nordeuropäer aufzunehmen. In der Folge nimmt die Katastrophe ihren weiteren Verlauf. Eine Region in der Nähe von Spitzbergen hebt sich aus dem Meer; ebenfalls eine Region in der Nähe Rügens: Dies aber sind Ergebnisse einer Wunderwaffe, gesteuert durch einen hypnotischen Charakter, durch „teleergetische“ Konzentration. Als Ergebnis der Landverschiebungen und Zusammenbrüche entsteht auf altem Land ein neues Land: Atlantis. Auf diesem wird von den Protagonisten ein „NeuHamburg“ gegründet. Und zwischen dem neuen Atlantis und der Neuen Welt das breite, blaue Wasser des Golfstroms … Die Welt, wie sie einst war, als älteste Sage begann … […] Atlantis hieß das Ziel derer, denen der heimische Boden zu eng, zu fremd geworden war. Atlantis! Der Schrei ging durch die ganze Welt. Neues Land! Neues Leben! Hin zu ihm! […] Neuland für Millionen. Neue Stätten für die Menschheit! […] Ein neuer Mensch, den es drängte zu neuem Leben, […].⁵⁴
Die Erzählungen der Zukunftsromane zeigen Gesellschaften, die nicht mehr Opfer von Katastrophen sind, sondern die sich, so wie bei Dominik, selbst zum Opfer machen: durch Verschließen der Augen vor dem technischen Fortschritt, durch Festhalten an überkommenen Sozialstrukturen, durch einen Verlust von Werten. Auffallend ist in den Texten der Zwischenkriegszeit eine Sicherheit, dass Zukunft erschlossen werden kann. ⁵⁵ Noch auffälliger: Sie kann von Menschen erschlossen werden, die zumeist auch körperlich unverändert aus den Geschehnissen hervorgehen. Allenfalls erfahren die Protagonisten eine Vervollkommnung. Ihr Körper ist jedoch Materie, die einer übergeordneten Kontinuität gehorcht.
Hans Dominik. Atlantis. Leipzig: August Scherl, 1925, 116–117. Mateusz Cwik. Die Präsenz der Zukunft. Die Ästhetik und Poetik der Zukunftsontologie in der Weltraumliteratur zwischen 1750 und 1850. In Der (neue) Mensch und seine Welten. Deutschsprachige fantastische Literatur und Science-Fiction, hg. von Paweł Wałowski. Berlin: Frank und Timme, 2017, 31–45, hier 37.
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Das Dasein der Zukunft findet durchaus auch in fremden Räumen, das heißt auf fremden Planeten statt. Aber die Gewähr für die Zukunft ist nicht der Raum – und nicht einmal die technische Errungenschaft. Es ist der Mensch selbst, der sich vervollkommnet, der eine neue Kultur gründet – der den richtigen Partner findet und dann auch Kinder zeugt. Die Geschehensdarstellungen werden unmittelbar an die Handlungen der Personen gebunden. Persönlichkeitsentwicklung und eine Weltentwicklung werden zusammengeführt. Der Mensch wird nicht als wesentlich denkendes oder vorstellendes, sondern als wesentlich sprechendes Wesen verstanden⁵⁶, sein Sein in der Welt konstituiert sich durch sprachlichen und handelnden Bezug. Er entdeckt nicht erzählend Vergangenheit und Zukunft, sondern gestaltet mit Handeln und Sprache Zukunft „neu“. Hans Ulrich Gumbrecht hat in seiner Studie Präsenz herausgearbeitet, dass wir zum einen Präsenz, Körperlichkeit und Materialität der Welt nicht nichtsprachlich denken können. Zum anderen sichern wir unsere Beziehung zur Welt, die immer eine Präsenzwerdung von Welt ist, gerade über die sprachliche Form des Erzählens. Das Erzählen von Zeiten dient der Gewahrwerdung der Kohärenz der angenommenen Wirklichkeit. Der Entwurf von Präsenz in einer fiktionalisierten Zukunft schafft dabei eine Verbindung zwischen Körper, Sprache und Individuum, die sich selbst zu einem Zeit-Raum schließt und damit den Wirklichkeitssinn der Gegenwart beglaubigt. Und ist nicht der Erfolg von Identitätsvergegenwärtigung mittels Geschichten primär an die Möglichkeit gebunden,Vorvergangenheit,Vergangenheit und Gegenwart von Systemen als je homogene Zeiträume zu repräsentieren?⁵⁷
Gumbrecht analysiert folglich eine Präsenz der Welt, die als körperlich-leibliche Begegnung und Auseinandersetzung mit fühlbarer, damit also stofflicher Materie, verstanden werden kann⁵⁸: „Was ‘präsent’ ist soll für Menschenhände greifbar sein, was […] impliziert, daß es unmittelbar auf menschliche Körper einwirken kann.“⁵⁹ Als zweite Form erörtert er eine Präsenz der Sprache, die als materiale, stoffliche Dimension der in der Welt zur Erscheinung kommenden sprachlichen Signifikanten selbst zum Tragen komme.⁶⁰ David Lauer. Sinn und Präsenz. Über Transparenz und Opazität in der Sprache. In Hide and Seek. Das Spiel von Transparenz und Opazität, hg. von Andreas Wolfsteiner und Markus Rautzenberg. München: Fink, 2010, 311–324. Hans Ulrich Gumbrecht. Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004, 10. Siehe dazu auch Lauer, Sinn und Präsenz. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, 11. Vgl. Lauer, Sinn und Präsenz.
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In den Zukunftsromanen führt Sprache in die Ordnungen und Unordnungen, die Materialität und die Krisen der Gegenwart und Zukunft ein. Sprache wird als ein kulturelles Material verstanden, das andere Welten aufschließt. Diese Beobachtung führt vor allem zu dem aus seiner Zeit weit herausragenden Roman Berge Meere und Giganten (1924) von Alfred Döblin. Der Roman zeichnet eine weite Entwicklung nach: vom 23. bis in das 27. Jahrhundert. Döblin hatte sein Werk 1921 begonnen, 1924 erschien es in Berlin, 1932 veröffentlichte er eine gekürzte Fassung. Der ursprüngliche Roman umfasst 621 Seiten, unterteilt in neun Bücher. Die Romanhandlung zu skizzieren ist eine tatsächlich nicht einfache Aufgabe, denn Döblin entzieht der Handlung systematisch die individuellen menschlichen Handlungsakteure. Die Erde drehte sich in Tag und Nacht. Trug Erdteile Meere Gebirge Flüsse mit sich. Gab von Jahr zu Jahr neuen Sommer und Winter von sich. Wälder wurden von ihr hochgewälzt; sie stürzten ein; sie trieb neue auf. Schmetterlinge hauchte sie für ein paar Tage hin. Fische Landtiere Ameisen Käfer Schnecken wuchsen und zerfielen.⁶¹
Der Roman zeigt zwar einige Herrscherfiguren, ausgearbeitete Protagonisten und ein auf individuellen Handlungen basiertes Geschehen präsentiert er jedoch nicht. Geschlechter treten an die Stelle der Protagonisten. Die zentrale Handlung wird in Buch Eins und Zwei eröffnet: Es gibt starke Migrationsströme, besonders von Afrika nach Europa. Um die Menschen zu ernähren, wird ein Verfahren der „Lebensmittelsynthese“ entwickelt – diese führt aber zu negativen Umweltfolgen und letztlich zum Uralischen Krieg. Um diesen zu beenden, kommt es zu diversen weiteren Naturkatastrophen. In Buch Drei und Vier geht es um Metropolen. Berlin wird zum Thema. Ein Konflikt zwischen Technikbejahung und Technikverneinung wird deutlich, Berlin wird zerstört. In Buch Fünf bis Neun wird der Aufbruch zu neuen Territorien beschrieben. Von Island aus wird die Enteisung Grönlands geplant. Um Energie zu gewinnen, wird Island zerstört (es wird das Feuer der Vulkane benötigt). Ausgelöst durch die Enteisung, werden urzeitliche Lebewesen am Pol erweckt, die dann den westlichen Kontinent einnehmen und die Menschen angreifen. Zunächst versuchen die Menschen, diese Urtiere zu bekämpfen, doch es zeigt sich, dass das Blut dieser Tiere eine tödliche Wirkung hat, weshalb die Menschen gezwungen sind, unter die Erde zu flüchten und dort neue Siedlungen zu gründen. Unter der Erde suchen die Menschen einen Weg, um gegen die Kreaturen zu kämpfen; sie machen sich das Blut zunutze und erschaffen mit Hilfe organischen Materials biotechnische Giganten (diese sogenannten Turmmen Alfred Döblin. Berge Meere und Giganten. Frankfurt am Main: Fischer, 2013 (zuerst Berlin: Fischer, 1924), 13.
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schen zerstören dann die urzeitlichen Wesen). Nun kommt es zur Wiedervereinigung der Giganten mit der Natur, wodurch es den Menschen möglich wird, an die Erdoberfläche zurückzukehren. Döblin entwickelt zum einen das Szenario gigantischer Städte mit zentraler Energieversorgung und einer hoch komplizierten Infrastruktur⁶², zum anderen die Zerstörung und dann auch Verödung der Natur. Der Mensch reagiert, indem er biologisch-organisch Leben reproduziert. Den Ausgangsstoff dazu bildet er selbst – sowohl in den gruseligen „Meki“-Laboren, in denen Nahrungsmittel synthetisiert werden, aber auch in der Verschmelzung der Menschen zu Giganten. Eine die Syntax auflösende Sprache, die sich den Dynamiken der Entwicklungen beugt, führt durch die gewaltvollen Bilder. Es gibt kein glückliches Ende oder ein Ende der Entwicklung, sondern ein Bewegen des Menschen zwischen unterschiedlichen materiellen Körper- und Lebensformen. Der Roman von Döblin ist absolut alleinstehend – und lässt sich eigentlich vor dem Hintergrund der anderen hier kurz vorgestellten Zukunftsromane zunächst nur schlecht lesen. Und doch gehört er gleichermaßen in die Zeit der 1920er Jahre. Eine Zeit, die wir als „Zwischenkriegszeit“ benennen, die sich aber selbst als Zeit der Erwartung verstand. Döblin hat die Frage nach der Zukunft der Gesellschaft und der Zukunft des Individuums in seinem Roman in radikaler Weise mit „Materie“ beantwortet, er hat den Menschen auf einen Organismus reduziert, der durch Blut-, Licht- und Sauerstoffsynthesen lebt und mutiert. Zukunft ist im Roman ein Gefühl der kommenden Gewalten, die man bereits fühlen kann, von denen die Romanhandlung sprechen will, und die doch eben eine Macht oder Gewalt betrifft, die nicht menschlich ist und über die daher nicht so berichtet werden kann, als wäre sie ein äußeres Ereignis. „Was habt ihr mit mir vor. Was bin ich in euch. Ich muß sprechen von euch, was ich fühle. Denn wer weiß wie lange ich noch lebe.“⁶³ so stellt Döblin in einer „Zueignung“ vor allem Beunruhigung an den Beginn des überwältigenden Buches. In seinen essayistisch-wissenschaftlichen Schriften hat Döblin, der ja Mediziner und Psychiater war, diese Motive gleicherweise vertieft. So erörterte er in einem Essay, der in der Sammlung Unser Dasein (1933) publiziert wurde: Wir sahen das Individuum, und es war ein Organismus, ein Werkzeugträger, er senkte seine Werkzeuge, seine Organe als Pflanzenwurzeln in die Erde, verklammerte sich mit der Erde, um Wasser, Salze und andere Nährstoffe durch sich fließen zu lassen, entwickelt ein Gerüst,
Götz Müller. Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1989, 224. Döblin, Berge Meere und Giganten, 9.
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das seinen ganzen Werkzeugaufbau tragen sollte, den Stamm, Stiel, Wurzelanker, trieb Blätter, welche Luftgase aufnehmen sollte, bildete Grünstoff in seinen Oberflächenzellen, welcher imstande war, strahlige Energie an die Pflanze zu binden.⁶⁴
Döblin ging es nicht nur um die Frage des Verhältnisses von Natur und Ich-Bewusstsein, sondern um die Einsicht in die eigentümliche menschliche Gestaltungsfähigkeit, das heißt die Beschreibung der Fähigkeit des Menschen, mit dem Ziel, Leben an sich zu erhalten, Welten zerstören zu können, und dann auch in Zwischen-Räumen zu leben, in Zwischenwelten zu überleben, weil der Mensch ein Streben hat: Materie zu werden und dadurch Präsenz zu sein. Über diesen Aspekt lassen sich die unterschiedlichen Romane der Zwischenkriegszeit, die es sich zur Aufgabe machten, eine Zukunft in die Gegenwart zu holen oder besser: die Gegenwart in Richtung einer Zukunft weiterzuerzählen, dann doch überraschend verbinden. Denn es ist diesen Romanen die Frage nach der Zukunft von Person und Kultur mehr als gemeinsam. Was die Romane textlich als Zukunft eroberten, das waren keine Zwischenwelten. Gerade war es eine selbstgestellte Aufgabe der Romane, solche Zwischenwelten zu überwinden, um Zukunft zu gewinnen. Die Herausforderung bestand im erwarteten Existenzkampf. Der literarische Weg in die Zukunft ist nicht ein Weg in die phantastische Welt unbekannter materieller und psychischer Erfahrungen, sondern ein Weg, der Eindeutigkeit suchte und zu diesem Zweck die Überwindung des Dazwischens. In den deutschen Zukunftsromanen ging es um deutsche Zukunft; bei Döblin um die Erkenntnis von Dasein. In mehreren Zukunftsromanen wird der (Rück‐)Gewinn von personaler Integrität über kraftgestärkte, handlungsfähige Identität beschrieben. Bei Döblin wurde der Gewinn personaler Integrität auf der Akzeptanz einer Leib-Seele-Dualität basiert. Einerseits ging es also um Zukunft über eine kulturelle Präsenzwerdung, andererseits um eine materielle Präsenz. Die Kraft zur Zukunft kam in den Diskursen der 1920er Jahre nicht aus der Gegenwart, nicht aus Ressourcen einer Vergangenheit, sondern aus der Wiederentdeckung von Eigentlichkeit und der Stärkung von Ganzheitlichkeit und einer Präsenz, die außerzeitlich gültig sind. Das Ziel, Eindeutigkeit zu erreichen, wurde beschritten über die Definition der Gegenwart als Zwischenwelt, die zu überwinden (auch mit Gewalt) notwendig sei; dies nicht, um, wie Wells, zu erkennen, dass wir erzählend Zeiten konstruieren, sondern um wieder von einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reden zu können.
Alfred Döblin. Unser Dasein. Frankfurt am Main: Fischer, 2017, 357–358 [oder: ‚357f.‘ – bitte im Text einheitlich anwenden] (zuerst: Berlin: S. Fischer, 1933).
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Der Zwischenraum der Zwischenkriegszeit (2): Distanzierungen Die „Wirklichkeit“ eines Objekts, seine Präsenz, seinen Körper und seine Materialität, machen wir, so Ernst Cassirer, von der Überzeugung abhängig, daß es einen Teil des Raumes einnimmt und alles andere von ihm ausschließt. Die Individualität des Dinges beruht letzten Endes darauf, daß es in diesem Sinne räumliches „Individuum“ ist – daß es eine eigene „Sphäre“ besitzt, in der es ist und in der es sich gegenüber allem anderen Sein behauptet. ⁶⁵
Ist der Raum tatsächlich eine „Gegebenheit“ oder nicht doch ein Ergebnis einer „symbolischen Formung“?⁶⁶ Cassirer hebt hervor, dass wir Erfahrung bestimmen, indem wir „Ausdehnungen“ bestimmen⁶⁷, wobei er den Begriff der „Ausdehnung“ selbst nicht räumlich verstanden haben will, sondern auf die Wahrnehmung von Nähen und Fernen in der Relation bezieht, zum Beispiel der Relation zwischen Objekten oder Erwartungen. Der Raum „als konstruktives Schema“ ist eine jeweils „bestimmte Beziehung“.⁶⁸ Er entsteht als Teil der Erfahrung nicht als Spiegel oder Repräsentation eines wirklichen Raumes, sondern als Beschreibung eines Verhältnisses, das erst eine räumliche Perspektive bewusst machen lässt. Insofern wäre für Cassirer nur der „Zwischenraum“ wahrnehmbar, weil uns die Räumlichkeit allein als Dimension der Ausdehnung in der Erfahrung bewusst wird. Mit dieser Darlegung und der Konzentration auf den Phänomencharakter des Räumlichen widerspricht Cassirer explizit der Vorstellung des „geformten“ und auch des „notwendigen“ Raumes, den Heidegger dem Objekt zuerkennt, sowie der Überlegung einer bedingenden Räumlichkeit von Erfahrung.⁶⁹ Was wir „den“ Raum nennen: das ist nicht sowohl ein eigener Gegenstand, der sich uns mittelbar darstellt, der sich uns durch irgendwelche „Zeichen“ zu erkennen gibt; sondern es ist vielmehr eine eigene Weise, ein besonderer Schematismus der Darstellung selbst.⁷⁰
Ernst Cassirer. Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis. Hamburg: Felix Meiner, 2010, 160. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 160. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 162. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 163. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 167, Fußnote 64. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 168.
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Raumerfahrung ist für Cassirer das Ergebnis einer „Vergegenständlichung“, die der „Seinserfassung und Seinsbestimmung“ dienen soll, wobei die Rede von der Raumerfahrung ermöglicht, eine Wahrnehmung „in bestimmte Gebiete und in bestimmte Richtungen“ zu teilen, was den Raum nicht mehr unteilbar erscheinen lässt. Die damit erfolgte Loslösung vom Mythos lässt nun auch nach den Kräften des Raums fragen.⁷¹ Es entstehe die Differenz zwischen „Hier“ und „Dort“, „Anwesend“ und „Abwesend“.⁷² Die einzelnen „Orte“ erscheinen nicht mehr lediglich durch gewisse qualitative und fühlbare Charaktere voneinander geschieden; sondern es treten an ihnen bestimmte Relationen des „Zwischen“, der räumlichen Ordnung auf.⁷³
Für Cassirer bestätigt sich mit dem Aspekt der Raumvorstellungen nicht allein, wie zentral das menschliche Bewusstsein auf der Symbolfunktion basiert. Er stellt auch dar, wie die Begriffsbildung zum Ordnungsangebot für Erfahrungen wird und damit zur Erfahrungsordnung selbst.⁷⁴ Die Zeitvorstellungen werden in dieser Perspektive vor allem dort relevant, wo es um einen Ausdruck für das Existentielle und Lebendige geht, das Sein, den Anfang und ein „Mündigwerden“.⁷⁵ Die Gegenwart, die ohne definierte raumzeitliche Ausdehnung bleiben würde, als ein „Noch-nicht“ oder ein „Nicht-mehr“, wird als „Vielheit“ verstanden, das dem Sein fern ist, das ihm entweder „vorausliege“ oder das Sein bereits „hinter sich gelassen habe“.⁷⁶ Die Segmentation von Zeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schafft insofern erst die Möglichkeit, von einer Einheit der Zeit zu sprechen – und ein „Jetzt“ zu gestalten.⁷⁷ Das Ich findet und weiß sich nur in der dreifachen Form des Zeitbewußtseins, während andererseits die drei Phasen der Zeit sich nur im Ich und kraft des Ichs zur Einheit zusammenschließen.⁷⁸
Das Aufbrechen der Idee eines raum-zeitlichen Seins im Rahmen der Relativierung von Wissen und Wahrnehmung lässt sich auch im „Zwischenraum“ Aby Warburgs lesen, der das Gedächtnis als vermittelnde Instanz einführte, um
Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 169. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 171. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 171. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 187. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 186 (u.a.). Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 187 (u.a.). Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 189 (u.a.). Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, 193 (u.a.).
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„Dauer“ zu erkennen.⁷⁹ Aber das Gedächtnis schafft auch Distanz, es ermöglicht eine Unterscheidung von Zugehörigem und Außen. Für Warburg sind es gerade Verfahren des „Distanzschaffens“ und die Entstehung eines „Distanzbewusstseins“, über die ein „Zwischenraum“ eröffnet wird, womit er Praktiken der Orientierung und der Entfernung als Bedingung für Kultur herausstellt. Mit dem Bild des „Zwischenraums“ eröffnete Warburg direkt die Einleitung zum Atlas Mnemosyne: Bewußtes Distanzschaffen zwischen sich und der Außenwelt darf man wohl als Grundakt menschlicher Zivilisation bezeichnen; wird dieser Zwischenraum das Substrat künstlicher Gestaltung, so sind die Vorbedingungen erfüllt, daß dieses Distanzbewußtsein zu einer sozialen Dauerfunktion werden kann, die durch den Rhythmus von Einschwingen in die Mater und Ausschwingen zur Sophrosyne jenen Kreislauf zwischen bildhafter und zeichenmäßiger Kosmologik bedeutet, deren Zulänglichkeit oder Versagen als orientierendes geistiges Instrument eben das Schicksal der Kultur bedeutet.⁸⁰
Warburg distanziert sich von der Idee, dass Kultur durch Weltaneignung entsteht, insofern, da Kultur für ihn bedeutet, ein künstlerisches Substrat, also eine letztlich symbolische, jeweils „gemachte“ Form(el) erkennen zu können, die angesichts der Verfahren von Annäherung und Distanzierung eine gewisse Kohärenz aufweist. Die menschliche Fähigkeit zur Annäherung und Distanzierung liegt nicht zuletzt in der „Bildersprache der Geberde“⁸¹, die sich zitierend oder verfremdend zu symbolischen Kontexten verhalten kann. Dieser Gedanke ist später von Vilém Flusser aufgenommen worden, der in der Geste ein vom Körper losgelöstes Verfahren der Aufnahme einer Beziehung mit Vergangenheit erkannte.⁸² Im Übrigen entwarf auch Hannah Arendt einen „Zwischenraum“, den sie als objektiven Bereich des sozialen Miteinanders sah, in dem aus „lebendig Handeln und Sprechen“, einem „ganz und gar verschiedenen Zwischen“, Kommunikation und Interessen entstehen.⁸³ Es ist höchst bemerkenswert, dass Arendt die Dis-
Vgl. dazu einführend insbesondere Hartmut Böhme. Aby Warburg zwischen Archaismus und Moderne. Kunstgeschichte und Zeitgenossenschaft 1 (2017), 9–18. Ders. Aby M. Warburg (1866– 1929). In Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, hg. von Axel Michaels. München: C. H. Beck, 1997, 133–157. Aby Warburg: Mnemosyne Einleitung. In Aby Warburg. Werke in einem Band. Auf der Grundlage der Manuskripte und Handexemplare hg. und kommentiert von Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig. Berlin: Suhrkamp, 2010, 629–639, hier 629. Warburg, Mnemosyne Einleitung, 638. Vilém Flusser. Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf u.a.: Bollmann, 1991. Hannah Arendt. Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper, 2018 (19. Aufl., zuerst München: Piper, 1967; The Human Condition, Chicago, Il.: The University of Chicago Press, 1958), 225; Siehe dazu auch Jörn Ahrens. Wie aus Wildnis Gesellschaft wird. Kulturelle Selbstverständi-
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tanzen zwischen den einzelnen Menschen in den umfassenden „Zwischenraum der Welt“, der sich als „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ zeigt, integriert, die Raumdistanzen dabei aber auflöst.⁸⁴ Die unterschiedlichen „Zwischen“, die sie vorsieht, betreffen die Lebensgeschichten der Menschen, ihre Beziehungen zu Erfahrungen, Familien, überlieferten Anderen. Das „Zwischen“ bringt die Vergangenheit in das Bezugssystem der Menschen mit ein, und ermöglicht so, dass sich „eine“ Erzählung des Lebens ausbildet.⁸⁵ Nicht zuletzt zu Homi Bhabha könnte der Gedanke eines „Zwischen“ weitergelesen werden, wie Aby Warburg ihn (wesentlich konsequenter, vielleicht auch radikaler) aufgeworfen hatte. Dabei beschreibt Bhabhas „Third Space“ einen über die Veränderung von Wahrnehmung und diskursiven Positionierungen zu gewinnenden und gestaltenden Raum der Differenz. Dieser ist nicht nur ein Raum der „Anderen“, sondern ein Bereich, in dem sich die Bedeutungen zudem durch veränderte Lagen (Überlagerung, Displacement) ergeben. Der „Dritte Raum“ ist für Bhabha sowohl physisch als auch metaphysisch, er ist nicht abgegrenzt – und kulturschaffend: The intervention of the Third Space of enunciation, which makes the structure of meaning and reference an ambivalent process, destroys this mirror of representation in which cultural knowledge is customarily revealed as integrated, open, expanding code. Such an intervention quite properly challenges our sense of the historical identity of culture as a homogenizing, unifying force, authenticated by the originary Past, kept alive in the national tradition of the People.⁸⁶
Einzufügen wären in einen theoretischen Überblick zudem die Passagenriten von Arnold van Gennep oder die Überlegung, ob Manuel Castells mit „space of flows“ die Architektur eines sozialen Zwischenraums im Blick hatte. Bemerkenswert ist, dass sich in diesen Thematisierungen die Frage nach Grenzen kaum stellt, hingegen die Überlegung hinsichtlich der Möglichkeit von Bewegungen in Zwischenbereichen in den Vordergrund tritt. Diese Beobachtung führt nicht nur zu Cassirer zurück, sondern auch zu Georg Simmel, der die Relationalität der Bedeutungen von Raum und Zeit in ein Wandern übersetzt hatte. Das Typische sei das Reden über die „Macht der Zeit“, so notierte Georg Simmel zum menschlichen „Kausaltrieb“, „formale Bedingungen“ für „produk-
gung und populäre Kultur am Beispiel von John Fords Film „The Man Who Shot Liberty Valance“. Wiesbaden: Springer VS, 2012, 90–91. Arendt, Vita Activa, 225. Arendt, Vita Activa, 226–228. Homi K. Bhabha. The Location of Culture. London/New York: Routledge, 1994, 37.
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tive Ursachen“ zu halten⁸⁷ (also sowohl „Geist“ als auch „Plasma“ in Gegenständen zu suchen). In Bezug auf den Raum verhalte es sich nicht anders. Gerade wenn Deutungen von Geschichte „das Raummoment derart in den Vordergrund“ stellen, dass „die Grösse oder Kleinheit der Reiche, die Zusammendrängung oder Zerstreutheit der Bevölkerungen, die Beweglichkeit oder Stabilität der Massen usw.“ als Aspekt des Räumlichen gedeutet werden, bestehe das Risiko, den Raum selbst als Ursache zu sehen.⁸⁸ Sicherlich hätten Reiche „Umfänge“ und stünden Menschen nah oder fern zueinander. Doch sei nicht der Raum selbst Bedingung eines Gemeinschaftslebens, hingegen bestimme die Erwartung an diesen Raum die Form von Staaten oder Gemeinschaften. Dazu gehört das, was man die Ausschließlichkeit des Raumes nennen kann,⁸⁹ das heißt die Erwartung, gerade wenn Gegenstände im Zusammenhang mit einem Raum gesehen werden, von einer Einheit des Raumes auszugehen. Diese Einzigkeit des Raumes teilt sich also den Gegenständen, insoweit sie bloss als raumfüllend vorgestellt werden, mit, und dies wird für die Praxis an denjenigen besonders wichtig, von denen wir gerade die Raumbedeutung besonders zu betonen und zu benützen pflegen.⁹⁰
Georg Simmel bestimmt den Raum also nicht selbst als symbolische Idee, sondern als eine kulturelle Figur, mittels welcher symbolische Bedeutungen von Gruppen oder Identitäten nicht nur konstruiert werden, sondern in der diese auch repräsentiert sind. Denn eine örtliche Ausdehnung habe immer schon, so erkennt Simmel, soziologische Zusammenhänge bestimmt. Der Raum als Ausdehnung gab bestimmten Lebensformen als „Rahmen“ eine Orientierung. So haben sich im Raum des Gebirges andere Lebensauffassungen und Sozialstrukturen ausgebildet als bei Gemeinschaften des Wanderns (durch die Wüste). Allerdings werde der Raum als Rahmen auch deshalb als „Existenzraum“ verstanden, da es „innerhalb des Räumlichen“ ein verborgenes Zeitmoment gebe. Die Studie von Ernst Cassirer lässt sich somit konkret als Ergänzung zu Georg Simmels Analysen lesen, da Simmel sowohl die Differenz als auch den Zusam-
Georg Simmel. Soziologie des Raumes. In Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (des „Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtspflege des Deutschen Reiches“ Neue Folge), hg. von Gustav Schmoller, 27:1 (1903), Leipzig: Duncker und Humblot, 1903, 27–71, hier 27.Vgl. auch die Fassung in: Georg Simmel. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe Band 11. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2018 (9. Aufl., zuerst 1992), 687. Simmel, Soziologie des Raumes, 28 (687). Simmel, Soziologie des Raumes, 29 (690). Simmel, Soziologie des Raumes, 29 (690).
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menhang zwischen dem Symbolischen des Raums und einer kulturellen „Raumgebung“ beobachtete. Dass der soziale „Rahmen“ des Raums mit starken Grenzen wahrgenommen werde, sei nicht zuletzt durch das integrierte Zeitmoment begründet, das Entwicklung und Ewigkeit wahrnehmen lässt und den existentiellen Charakter der sozialen Beziehungen zum Ort noch verstärke: […]die wechselwirkende Einheit, die funktionelle Beziehung jedes Elementes zu jedem gewinnt ihren räumlichen Ausdruck in der einrahmenden Grenze.⁹¹
Die Grenze erschuf Illusionen innerer Zusammengehörigkeit. Und obwohl Nähen oder Entfernungen etwas über soziale Formen einer Gruppe aussagen, obwohl Raum auch erfahrbar ist, kommt die Grenzziehung nicht den natürlichen Formen einer Gemeinschaft nach. In der Grenze spiegeln sich nicht die soziale Bedingungen in einer Art natürlicher Eigenheit oder natürlicher Unterschiedlichkeit. Die „Extensität des Raumes“ folgt den Übereinkünften und Gewohnheiten, den Kulturbedingungen einer Gemeinschaft in Bezug auf die angenommene oder durchgesetzte „Intensität“ ihrer Beziehungen. Man macht sich selten klar, wie wunderbar hier die Extensität des Raumes der Intensität der soziologischen Beziehungen entgegenkommt, wie die Kontinuität des Raumes, gerade weil sie objektiv nirgends eine absolute Grenze enthält, eben deshalb überall gestattet, eine solche subjektiv zu legen. Der Natur gegenüber ist jede Grenzsetzung Willkür, selbst im Falle einer insularen Lage, da doch prinzipiell auch das Meer „in Besitz genommen“ werden kann.⁹²
Georg Simmel lenkte den Blick auf das Phänomen der „Entgrenztheit“, womit er Verfahren beschrieb, über Verschiebungen natürliche Grenzen auszudehnen oder Verhältnisse zwischen Gruppen zu verändern. Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.⁹³
Diese Beobachtung lässt sich konkret für den Zwischenraum der Zwischenkriegszeit diskutieren. In der Form der Fähigkeit des Einzelnen, sich zu distanzieren, sieht Simmel die Chance des modernen Individuums, verschiedene zeitliche Ordnungen und kulturelle Vergesellschaftungen zu leben. Als Ausdehnung oder Verschiebung wäre dieser Zwischenraum im zeitgenössischen Verständnis
Simmel, Soziologie des Raumes, 33 (694). Simmel, Soziologie des Raumes, 33 (695). Simmel, Soziologie des Raumes, 35 (697).
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jedoch ein Raum der Unbestimmtheit. Georg Simmel nennt diese Raumperzeption „Dunkel“. Der Zwischenraum des Dunkeln setze einen „ganz besonderen Rahmen, der die Bedeutsamkeit des Engen und des Weiten zu einer eigentümlichen Vereinigung bringt“.⁹⁴ Indem man nämlich nur die allernächste Umgebung übersieht, und hinter dieser sich eine undurchdringliche schwarze Wand erhebt, fühlt man sich mit dem Nächststehenden eng zusammengedrängt, die Abgegrenztheit gegen den Raum jenseits des sichtbaren Umfanges hat ihren Grenzfall erreicht: dieser Raum scheint überhaupt verschwunden zu sein.⁹⁵
Das Dunkel schafft einen Raum, dessen Grenzen man nicht mehr sieht, in dem man sich nicht bewegt, weil man der Ränder unsicher ist. Zugleich mit der Unsicherheit werden jedoch Ausdehnung und Enge zusammen erfahren, Raum und Existenz legen sich übereinander: Man „fühlt sich von einem phantastisch-unbestimmten und unbeschränkten Raum umgeben“⁹⁶, der zugleich die Ängste des Eigenen deutlich werden lässt und als Raum der existentiellen Entscheidung wahrgenommen wird. Durch die „ganz einzige Steigerung und Kombination der einschliessenden und der sich expandierenden räumlichen Begrenzung“ wird besonders deutlich, dass die Definition von Grenzen nicht durch die Wechselwirkung von sozialen Beziehungen zu natürlichen Beziehungen entsteht, sondern durch die Wechselwirkung sozialer Beziehungen mit Ängsten und Begehren in Bezug auf Macht, Politik, Existenz.
Schluss Zeit und Raum werden in der Zwischenkriegszeit unverrückbar in einen Zusammenhang gestellt und in die Schicksalsfrage an die Zukunft von Kultur und Leben eingeschrieben. Zweifelsohne werden auch heute Veränderungen von Identitätsund Gesellschaftsvorstellungen über Zeitfiguren zum Ausdruck gebracht: Mit dem Bild der Ausdehnung ebenso wie mit dem Bild der Verkürzung von Zeit werden Risiken und Krisen beschrieben, denn diese fordern mit der Entstehung von Zwischenräumen heraus, mit noch nicht bedeutungssicheren Erfahrungen.⁹⁷
Simmel, Soziologie des Raumes, 39 (704). Simmel, Soziologie des Raumes, 39 (704–705). Simmel, Soziologie des Raumes, 39 (705). Hartmut Rosa. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005. Armin Nassehi. Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008 (zuerst 1993).
Der Körper im Zwischenraum von literarischen Zukunftsvorstellungen
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Einschneidende politische Veränderungen, radikale persönliche Einschnitte werden häufig mit dem Bild des Stehenbleibens der Zeit, besonders komplexe Ereignisse mit dem Bild der Beschleunigung narrativiert. Dass die Figur eines Zwischenraums nicht zur Beschreibung eines Rettungsraums oder Nottresors dient, sondern im Gegenteil zur Verstärkung der Risikohaftigkeit der Lage, ist darin begründet, dass die Gefahr höher erscheint, wenn sich eine Situation einer temporalen Situierung entzieht. Wenn die Präsenz einer Erfahrung nicht als Gegenwart bezeichnet werden kann, sondern eine „Außerzeitlichkeit“ oder „Jederzeitlichkeit“ assoziiert,⁹⁸ dann ist auch Existenz außerzeitlich oder jederzeitlich und damit relativ. Der Zwischenraum widersetzt sich der anthropologischen Forschung, da wir davon ausgehen, dass gerade hochdifferenzierte Gesellschaften aus einer Vielzahl von Räumen bestehen, die der Einzelne betreten und über die er hinweg eine Kohärenz und Kontinuität seiner Handlungen und seines Selbst denken kann. Die Auflösung der zeit-räumlichen Bedingungen ist beunruhigend, weil sie neben dem Risiko des individuellen Orientierungsverlusts auch eine Distanz zu angenommenen Kultur- und Geschichtserzählungen bedeutet. Die vorliegende Studie legte den Blick auf den Beginn des 20. Jahrhunderts und skizzierte zwei Deutungen, die nebeneinander festgestellt werden können: Der Zwischenraum als kulturschaffende Distanzierung sowie der Zwischenraum als Gefahr, als Risiko, als Unsicherheit. Georg Simmel hatte diese beiden Perspektiven bereits erkannt und mittels der Metaphern des sozialen Rahmens und des sozialen Dunkels in Beziehung zueinander erörtert. Bergson, Simmel und Cassirer haben die Wirklichkeit von Zeit und die Wirklichkeit von Körper von der wahrgenommenen, narrativierten, selbst- und fremdbezüglichen Zeit über Fragen an die Bedingungen von Erkenntnis und Ordnungen nicht nur differenziert, sondern die Bedeutung von Repräsentationen in kulturellen Zusammenhängen aufgezeigt. In den hier kurz vorgestellten literarischen Thematisierungen aus dem außergewöhnlichen politisch-poetischen Genre der deutschsprachigen Zukunftsromane der Jahre 1910 bis 1938 ging es primär um die Frage, wie der Fortschritt von Wissen einen Weg zeigt aus Unsicherheit und Unbestimmtheit. Die Notwendigkeit von Umgestaltungen und Neugestaltungen kann man verallgemeinernd als diskursiven Ausgangspunkt der Texte bezeichnen. Die Rede über Zukunft selbst führt insbesondere zur Forderung von Brüchen – eine Forderung, die Gewalt nicht nur nicht ausschloss, sondern zur unumgänglichen Bedingung machte. Zeit, Leben,
Dies diskutiert Karlheinz Stierle. Text als Handlung. Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft. München: Wilhelm Fink, 2012, 69.
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Körper, Kultur werden dabei zumeist ganzheitlich gedacht – oder sollten ganzheitliche Realisierungen finden. Der literarische Griff in die Zukunft basiert auf der Durchsetzung eines materialisierten Zeitverständnisses, der Idee von raum-zeitlichen Zusammenhängen, in die der Mensch eingreifen kann, sowie der Suche nach dem inneren Zusammenhang zwischen Zeit und Leben beziehungsweise Zeit und Körper. In der Zwischenkriegszeit wird Zukunft konkret auch in die Körper eingeschrieben, die nicht mehr nur die Spuren der Zeiten tragen, sondern auch selbst, Individualität überwindend, zu Akteuren werden. Ein materialisiertes, Erfüllung suchendes Denken gerät dabei mit einem relationalen, Wissensordnungen aufdeckenden Denken in Widerspruch. Dieser Widerspruch wird in den literarischen Texten der Zukunftsromane wiederholt thematisiert – nicht, um ihn zu lösen. Er wird hingegen konkret zum Beweis der Instabilität der perzipierten Gegenwart. Aufgehoben wird dieser Widerspruch dann nicht selten in gewaltigen Vernichtungswellen von Kontinentverschiebungen, Weltbränden, Epidemien oder Weltkriegen. Während die vorliegende Studie auf der Frage danach basiert, wie kulturelles Wissen entsteht, muss man die Frage nach dem Ort, an dem die Zukunftsromane zum Nationalsozialismus stehen, kaum noch eigens formulieren. Kulturelles Wissen lässt sich als sprachliches, im Generationenprozess übersetztes und kontinuiertes Wissen annähern. Einerseits finden Kontinuierungen bestehender Norm- und Wert-Zusammenhänge statt, die, übersetzt und parallelisiert im Rahmen eines Erfahrungswissens oder hier vor der Folie literarischer Narrative, bestimmte Kontingenzen für Identitätserzählungen gewähren. Andererseits entstehen im kulturellen Wissen gerade jene Verschiebungen, die es überhaupt möglich machen, Vergangenheit zu denken. Wir denken etwas als Vergangenheit, wenn wir ihm eine Relevanz in der Gegenwart zuerkennen. Und wir denken etwas als Zukunft, wenn wir vorher die Frage nach der Geschichte beantwortet haben. In der Gegenwart der Zwischenkriegszeit treffen sich die literarischen Ortsbestimmungen nicht nur mit den politischen Bewegungen. Die Präsenz der Gegenwart wird gemeinsam geteilt. Und zu dieser Präsenz gehört in besonderer Weise die Erwartung einer gewaltvollen nahen Zukunft wie die Sicherheit, dass nach dieser Gewalt eine neue Zeit der Stabilität, Macht und Blüte wartet.
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Oskar Terš
Die mumifizierten Körper der Maria Candia-Gruft als Zwischenraum der Nichtverwesung
The mummified bodies of the Maria Candia crypt as an in-between space of non-decay: From the middle of the 16th century, crypt burials were offered by churches and monasteries to provide the members of the respective parish circles a proper burial. The proximity to the sanctuaries of the church was supposed to guarantee the long sleep until resurrection. The crypt is a space between death and resurrection. Those who purchased a place in the crypt for themselves wanted to be guaranteed that their dead bodies would remain near the sanctuaries until the Last Judgment. Accordingly, crypt burial was normally only possible for the wealthy upper class of society, but the following article also includes people who could never have afforded a crypt burial based on their trade or financial means. The crypt itself functions as an in-between space of a dead society, in which the class boundaries are lifted and the blacksmith comes to rest next to the count. On closer inspection, many of the preserved bodies in these vault rooms have become mummies. It can therefore be assumed that mummification played a certain role in the selection and pricing of a funeral. A particularly large number of mummies were found under the church in the socalled Maria Candia crypt, over which the icon of Maria Candia had its altar. Due to miraculous effects, it was transferred to the high altar after a certain time, yet the place above the crypt did not remain empty but was replaced by the dead body of the catacomb saint Julius, which also represents a heterotopia. This crypt is outside the foundation walls of the church, increasing the actual space of the crypt between the sacrum and profanum. The mummies, in their manifestation of the dead and yet living bodies, form a heterotopia, which for some is supplemented with a heterochrony, since they only rest in it for a limited time. To what extent did the mummified body itself represent an intermediate space of non-decay? Due to the condition of the body that has been preserved, the deceased is in a heterotopia of the dead-living phenomenon, which only applies to the space between the crypt in the heterochrony where the deceased rests. Accordingly, if mummies are created in a crypt without human intervention, this no longer only fills the space between the burial site, but becomes a heterotopia of non-decay.
https://doi.org/10.1515/9783110758306-017
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Einleitung Gruftbestattungen waren ab der Mitte des 16. Jahrhunderts eine gefragte Beerdigungsform, welche von Kirchen und Klöstern angeboten wurde, um den Mitgliedern der jeweiligen Pfarrzirkel ein standesgemäßes und der Zeit entsprechendes Begräbnis anzubieten. Die ständige Nähe zu den Heiligtümern der Kirche nach dem Tod sollte den langen ungestörten Schlaf bis zur Auferstehung garantieren¹, da in der Gruft, anders als auf Friedhöfen, keine Umbettungen oder Entfernungen der Toten stattfinden sollten.² War und ist es auf den Friedhöfen üblich, dass nach einer bestimmten vorgegebenen Liegezeit die Überreste des Begräbnisses wieder ausgegraben und der Platz neu vergeben wurde, so stellt eine Gruft einen Zwischenraum zwischen Tod und Auferstehung dar. Wer sich einen Gruftstellplatz leistete, verlangte für sein Geld auch die Garantie, dass sein toter Körper bis zum Jüngsten Gericht unangetastet in der Nähe von Heiligtümern verblieb, was seinen entsprechenden Preis hatte. Dementsprechend war eine Gruftbestattung normalerweise nur für die begüterte Oberschicht der Gesellschaft möglich, doch finden sich im folgenden Beispiel der Toten von St. Michael auch Personen, die sich eine Gruftbestattung anhand ihres Gewerbes oder ihrer finanziellen Mittel nie hätten leisten können. Die am 17. Juni 1772 am hitzigen Fieber im Alter von 15 Jahren verstorbene Tänzerin Margaretha Delfin³, dürfte ihr Gruftbegräbnis einem Gönner (wenn nicht sogar Liebhaber) verdankt haben, während andere mit einem Naheverhältnis zur Kirche selbst, wenn schon nicht mit einem kostenfreien, so zumindest mit einer vergünstigten Gruftbeisetzung rechnen konnten.⁴ Die Gruft an sich fungiert demnach auch als Zwischenraum einer toten Gesellschaft, in welcher die Standesgrenzen aufgehoben sind und der Schmied neben dem Grafen zum Liegen kommt, wenn es bestimmte Begleitumstände so wollen. Die Gruft-
Reiner Sörries. Ruhe sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs. Kevelaer: Butzon und Bercker Verlag, 2009, 115 – 116. In der Gruft unter St. Michael gab es anhand von Kirchenrechnungen nachgewiesene Grufträumungen, bei denen wahrscheinlich zerfallene Särge in den Gruftboden vergraben wurden.Vgl. Kirchendiener Quittungen wegen der ihnen gegebenen Besoldung, auch wegen des Anzündens der Gassenlaternen, Grufträumung und Richten der Uhr. In Michaeler Kollegs Archiv, Wien (MIKA) II. 21. 4. Allerdings ist nicht davon auszugehen, dass ein einmal in die Gruft gelassener Sarg diese wieder verließ, wenn es von den Angehörigen nicht genehmigt und angeordnet war. Totenprotokolle St. Michael, Bd. 8, MIKA 03 – 08, 493. Hier z. B. der ehemalige Regens Chori der Kirche Johann Gabriel Gerstner, der am 17. Dezember 1729 an der Wassersucht stirbt und dessen Begräbniskosten den Kirchenaufzeichnungen entsprechend, vom Prior der Kirche nachgesehen wurde. Vgl. Totenprotokolle St. Michael, Bd. 5, MIKA 03 – 05, 140.
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anlage von St. Michael wurde jedoch in preislich unterschiedlichen Grufträumen konzipiert, sodass manche Stellplätze dann tatsächlich nur von adeligen oder großbürgerlichen Mitgliedern der Gesellschaft belegt werden konnten. Bei genauerer Betrachtung sind viele der erhalten gebliebenen Körper in diesen Grufträumen zu Mumien geworden, weshalb zumindest theoretisch davon ausgegangen werden kann, dass die Tatsache der Mumifikation in der Auswahl und der Preisgestaltung eines Begräbnisses eine gewisse Rolle gespielt hatte. So wurde der erhalten gebliebene Körper als reiner und dem Himmelreich näher angesehen als der verweste oder skelettierte. Besonders viele Mumien fanden sich unter der Kirche in der sogenannten Maria Candia-Gruft, über welcher die Ikone der Maria Candia ihren Altar hatte. Jene wurde während der 21-jährigen Belagerung Kretas durch die Osmanen nach Wien gebracht und setzte hier ihre bereits früher begonnene Wunderwirkung fort. Aufgrund dieser wurde sie nach einer gewissen Zeit auf den Hochaltar transferiert, doch blieb der Platz des Altars über der Gruft nicht leer, sondern wurde durch den gleichfalls eine Heterotopie darstellenden toten Körper des Katakombenheiligen Julius ersetzt. Außerdem liegt diese Gruft außerhalb der Grundmauern der Kirche, womit der eigentliche Zwischenraum der Gruft sich zusätzlich zu einem zwischen Sacrum und Profanum steigert. Die Mumien, in ihrer Erscheinungsform des toten und doch lebenden Körpers, bilden darin eine Heterotopie, welche bei manchen mit einer Heterochronie ergänzt wird, da sie nur eine bedingte Zeit in dieser, für sie nur als „Übergangsgruft“ eingerichteten, Gruft ruhen.⁵ Die eigentlich vorgenommene Zeit des Verbleibs bis zum jüngsten Gericht wird durch die ungeplante Exhumierung wegen der Verordnung von Familienmitgliedern unterbrochen und beendet. Hinsichtlich dieser Tatsachen sollen die Fragestellungen behandelt werden, inwieweit der mumifizierte Körper an sich einen Zwischenraum der Nichtverwesung darstellt, was auch für Mumien außerhalb von Grüften gilt. Wegen dieses Umstandes des erhalten gebliebenen Körpers befindet sich der Verstorbene in einer Heterotopie der toten Lebenderscheinung, welche jedoch nur für den Zwischenraum der Gruft zur Geltung kommt in der Heterochronie, die er dort ruht. Entstehen demnach ohne menschliches Zutun Mumien in einer Gruft, so erfüllt diese nicht mehr nur den Zwischenraum der Begräbnisstätte, sondern wird zu einer Heterotopie der Nichtverwesung.
Vgl. Michel Foucault. Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Berlin: Suhrkamp, 2005, 11. Foucault bezeichnet mit dem Begriff Heterotopie Räumlichkeiten, die ihre vorgegebenen Normen für bestimmte Zeiten nicht einhalten oder nach eigenen Regeln funktionieren. Diese werden von einer ihnen zugrunde liegenden Zeitstruktur, der Heterochronie, begrenzt.
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Maria Barbara von Schmid und die Gruft unter St. Michael Die Gruftanlage unter St. Michael zu Wien erstreckt sich unter der gesamten Kirche und ist in mehrere unterschiedlich benannte Gruftkammern unterteilt. Sie wurde ab der Mitte des 17. Jahrhunderts von den Mitgliedern des Ordens der Barnabiten angelegt, die von den Habsburgern nach Wien geholt worden waren, um den sich immer mehr ausbreitenden Protestantismus mittels katholischer Grundtugenden in die Schranken zu weisen.⁶ Während der Zeit der Gruftbestattungen wurden hierher einstmals mehr als 2000 Särge gebracht, von denen heute noch 212 zugängliche Holz- und 33 Metallsärge erhalten sind, in denen die sterblichen Überreste der Toten in unterschiedlichen Erhaltungszuständen ruhen. 182 dieser Särge sind soweit intakt, dass deren Inhalte untersucht werden können. Dabei wurden 33 Mumien und 17 teilmumifizierte Körper aufgefunden. Die 33 komplett mumifizierten Körper wurden allerdings nur in einem zusammenhängenden Bereich der Gruft nachgewiesen, der früher aus drei abgetrennten Grufträumen bestand, die bei Bauarbeiten 1829/30 jedoch zusammengelegt worden waren.⁷ Eine dieser Gruftmumien liegt in Sarg Nr. 11. Dieser Sarg stand bis zum Jahr 2013 in der etwas abseits gelegenen Priestergruft direkt unter dem Hochaltar. Seine Nummer wurde ihm in den 1950er Jahren von Adolf Mais zugewiesen⁸, seines Zeichens Direktor des Volkskundemuseum Wiens, der als erster versucht hatte, die noch vorhandenen, unbeschädigten Särge der Gruftanlage zu beschreiben und zu katalogisieren. Vor seinem Bemühen darum gab es nur die ein gutes Jahrhundert früher gemachten Aufzeichnungen Karl Linds, dessen Beschreibungen allerdings nur mit Abstrichen zuverlässig objektiv sind und der seinen Bericht mit den Worten abschloss: „froh ist jeder, der nach vollendetem Besuch den Rücken diesem Reich der Todten wendet“.⁹ Während Lind eine detaillierte Beschreibung der Totengedenkinschriften innerhalb der Kirche zusammenstellte, sind seine ins Fantastische gehenden Schilderungen der Gruft nur bedingt zu gebrauchen, vor allem auch deshalb, weil er die Anlage 30 Jahre nach
Vgl. Oskar Terš. Der Bedeutungswandel der Hofpfarrkirche St. Michael für die Wiener Gesellschaft zwischen dem Konzil von Trient und den Josephinischen Reformen. In: Bulletin der Polnischen Historischen Mission, Nr. 12, Würzburg 2017, 417– 453. Vgl. Baumeister Conto. MIKA XIV. 175. 4. Adolf Mais. Die Gruftbestattungen zu St. Michael in Wien. In: Kultur und Volk. Beiträge zur Volkskunde aus Österreich, Bayern und der Schweiz. Festschrift für Gustav Gugitz. Wien 1954, 256. Karl Lind. Die St. Michaelskirche zu Wien. In Berichte und Mittheilungen des Altertums-Vereines zu Wien, Bd. 3. Wien: Prandl und Meyer, 1859, 25.
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der Stabilisierung und Erneuerung des alten Gruftgewölbes besuchte und somit nicht mehr ihren Originalzustand gesehen hatte. So erfährt man bei ihm nichts Näheres über den Zustand oder die Anzahl der Särge, außer, dass sie die Gewölbe füllten, was jedoch nicht darauf rückschließen lässt, in welchen der unterschiedlichen Grufträume wie viele Särge standen, geschweige denn, dass er versucht hätte, eine Inventarisierung vorzunehmen. Mais hingegen zählte 221 noch in ihrer Gesamtheit existierende Särge. Die niedrigsten Ziffern seines Inventars vergab er an jene in der Priestergruft, in welcher er 16 Särge verortete. Sarg Nr. 11 inklusive der darin befindlichen Mumie soll als erstes Beispiel für den Zwischenraum bestehend aus der Gruft und dem darüber liegenden Kirchenort dienen. Die Priestergruft, in welcher der Sarg in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckt wurde, befindet sich in der perfekt geosteten Kirche im östlichsten Teil, die folgende von Mais angewendete Ziffernfolge wird dann mit den weiter im Westen liegenden Grüften fortgesetzt, sodass die höchsten Sargnummern in der am westlichsten befindlichen Berchtold Selb-Gruft neben dem Portikus zu finden sind. Die Ziffern wurden von Mais und seinen Gehilfen auf Metallplättchen graviert und diese mittels kleiner Nägel an die Särge geschlagen. Da sich das Klima in der Gruft ab dem 20. Jahrhundert, nachdem die Kirche vom Orden der Salvatorianer übernommen worden war und die Gruft wieder besucht werden konnte, verschlechterte und einige Bereiche der Gruftanlage nach einer Bombendetonation während des Zweiten Weltkrieges unter von außen eingetretenem Wasser zu leiden hatten, sind viele dieser Plättchen jedoch so stark korrodiert, dass nicht mehr alle heute noch existierenden Särge mit denen von Mais markierten übereinstimmen. Jene 16, welche Mais in der Priestergruft aufgefunden hatte, sind jedoch weiterhin identifizierbar, so auch Sarg Nr. 11. Allerdings standen die Särge nicht immer in jenem Raum, in welchem sie die Kirchendiener nach der jeweiligen Beisetzung abgestellt hatten. In einem Plan, den der Holzrestaurator Peter Kopp im Jahr 2005 angefertigt hatte¹⁰, stehen mit 17 Särgen einer mehr in der Priestergruft als noch bei Mais. Bei der letzten Bestandsaufnahme des Jahres 2019 waren es hingegen nur 12. Auch Sarg Nr. 11 befindet sich nicht mehr in der Priestergruft und wurde zur Zeit seiner Bestattung auch nicht dort abgestellt, sondern in jener Gruftkammer, für deren Benutzung am meisten gezahlt werden musste, der Maria Candia-Gruft. Sarg Nr. 11 lässt sich nämlich genau einer historischen Beisetzung zuordnen, welche in den Pfarrarchiven dokumentiert ist.
Peter Kopp. Plan Michaeler Gruft, Zustandsbeschreibung der Särge und Lage der Mumien 2005. In Die Michaeler Gruft. Retten, was zu retten ist. Hg. von Alexandra Rainer. Wien: Johannes Rossek, 2005, 158.
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Dieser Umstand, dass ein Sarg und der darin liegende Leichnam mit höchster Genauigkeit bestimmt werden können, ist bei den meisten Särgen der Michaelergruft nicht gegeben, da sie über keine individuelle Kennzeichnung verfügen. Eine solche wären z. B. Inschriftentafeln mit den Lebensdaten des Verstorbenen oder einer kurz gefassten Personenbeschreibung, welche aber original angebracht nur mehr an vier Sargdeckeln zu finden sind. Manche andere Tafeln sind von den Särgen abgefallen oder wie auch die Plättchen Mais‘ so stark korrodiert, dass sie nur mehr schwer entzifferbar und noch schwerer ihrem einst zugehörigen Sarg zuordenbar sind. Selten findet sich auf den Särgen ein auf den Deckel gemaltes Sterbejahr, noch seltener lässt sich anhand der im Sarg befindlichen sterblichen Überreste auf den einst Lebenden rückschließen, so man nicht kostspielige und auch nur bedingt genaue, naturwissenschaftliche Prozeduren wie dendrochronologische Untersuchungen¹¹ des verwendeten Holzes zu Rate zöge, um feststellen zu können, bis zu welchem Jahr der Tod des darin liegenden Corpus‘ eingetreten sein musste. Genauere Rückschlüsse die sterblichen Überreste in den Särgen direkt betreffend ließen sich durch Röntgenanalytik oder Computertomographie erzielen¹², doch werden diese Methoden, abgesehen von ihren Kosten, auch aus theologischen Gründen nur ungern gesehen, da die Gruft und alles in ihr Befindliche der darüber gebauten Kirche zusteht und die Toten auch heute noch in jenem heiligen Boden bestattet liegen, in welchem die einstmals Lebenden beigesetzt werden wollten, um ungestört auf die von ihnen erhoffte Auferstehung zu warten. Sarg Nr. 11 kann jedoch ohne technische Hilfsmittel einer Verstorbenen zugeordnet werden, ist er doch der einzige intarsierte Sarg der Gruft, welchen die
Unter Dendrochronologie, der „Wissenschaft des Baumalters“, wird eine Datierungsmöglichkeit mittels der Jahresringe von Bäumen bezeichnet. Im Falle der Särge in der Gruft müssten von jedem Einzelbrett eines Sarges mehrere ca. fünf cm große Stücke entfernt werden, welche dann anhand der aufscheinenden Jahrringe auf das Baumalter hin untersucht werden. Dieses wird mit Jahrringtabellen abgeglichen, wie z. B. dem Hohenheimer Jahrringkalender, der eine lückenlose Chronologie bis ins Jahr 10.461 v.Chr. aufweist ( https://botanik.uni-hohenheim.de/ar chaeo-palaeo_dendro_hoh-jahrringkalender (Zugriff vom 18.06. 2020). Da die Särge der Gruft mit hoher Wahrscheinlichkeit aus den Jahren 1720 – 1783 stammen, müssten alle Sargbretter bestimmt werden können, womit bekannt werden würde, wann der dafür verwendete Baum gefällt worden war. Die in dem Sarg liegende Leiche kann somit nicht vor dem Zeitpunkt des Fällens verstorben sein, was den Todeszeitpunkt weiter einschränkt. Allerdings würde diese Untersuchung, führte man sie bei allen noch existierenden Särgen durch, einen größeren Kostenaufwand bedeuten. Kurt W. Alt, Frank J. Rühli. Mumieneinblicke – Röntgenanalytik und Computertomographie. In Mumien. Der Traum vom ewigen Leben. Hg. von Alfried Wieczorek, Michael Tellenbach,Wilfried Rosendahl. Mannheim: Philipp von Zabern, 2007, 220 – 222.
Die Mumien der Maria Candia-Gruft als Zwischenraum der Nichtverwesung
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Abb. 1: Jahreszahl 1762 auf Sarg Nr. 40 in der Herrengruft. Foto: Benedikt Lorsbach
Jahreszahl 1740 und die Buchstabenkombination M.B.V.S. als Intarsien auf dem Deckel zieren.
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Abb. 2: Sarg der Maria Barbara von Schmid in der Herrengruft. Foto: Benedikt Lorsbach
Die Buchstabenkombination steht für „Maria Barbara von Schmid“, welche am 5. Oktober 1740 im Alter von 59 Jahren starb und ein 225 Gulden teures Begräbnis erhielt, wie sich aus dem Eintrag ihrer Bestattungsrechnung in den Kirchenbüchern rückschließen lässt. Diese Rechnungen befinden sich unter dem Namen „Specificationes Funerum“ im Michaeler Kollegsarchiv (MIKA) und wurden seit dem Jahr 1722 vom jeweiligen Mesner der Kirche geführt und im Archiv des Barnabitenordens, entweder gebunden oder in losen Blättern, aufbewahrt. Für den Preis, den das Begräbnis der Maria Barbara von Schmid gekostet hatte, hätte man drei Tagelöhner ein Jahr lang jeden Tag bezahlen können, was die Summen, die für Gruftbestattungen ausgegeben wurden, ein wenig veranschaulichen mag. Über die Verstorbene selbst lassen sich nur jene biographischen Daten festhalten, die in den Dokumenten der Archive St. Michaels selbst noch vorhanden sind. Sie wird in den Totenprotokollen als „wohledle Jungfrau“ bezeichnet, die nach ihrer Aufbahrung in St. Stephan nach St. Michael zur Beisetzung in die
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Maria Candia-Gruft gebracht worden war.¹³ In der Wiener Stadtzeitung, zu dieser Zeit noch Wiener Diarium genannt, wird in der veröffentlichten Parte¹⁴ am 8. Oktober 1740 noch hinzugefügt, dass sie im Reichmannischen Haus verstarb, das einst Ecke Tuchlauben und Graben stand.¹⁵ Diese Adresse befand sich somit außerhalb des Pfarrzirkels von St. Michael, doch war es eigentlich nur Einwohnern und Einwohnerinnen des jeweiligen Pfarrzirkels gestattet, in der Kirche desselben beigesetzt zu werden. Allerdings wurden für verdiente Besucher und Besucherinnen, wie auch Mentoren und Mentorinnen der Kirchen immer wieder Ausnahmen geschaffen, die dann meist auch vice versa finanziell vergolten wurden. Im Fall der verstorbenen von Schmid lässt sich dies aus einem weiteren Dokument herauslesen¹⁶, das sich im Archiv befindet und eine Notiz der Universalerbin Anna Regina Edle von Reichmann darstellt, ihres Zeichens Schwester der Toten, was die Todesadresse des Reichmannischen Hauses erklärt. In diesem Dokument bestätigt der Probst der Kirche Ignaz Heidenreich, zwei silberne Gürtel im Wert von 68 Gulden erhalten zu haben, aus denen er eine Krone für das Heiligenbild der Maria Candia fertigen lassen sollte, denn so hatte es die Verstorbene in ihrem Testament auf Seite 15 vermerkt. Das Testament selbst ist leider nicht im Archiv erhalten geblieben. Dieses Geschenk wird jedoch einer von vielen Gründen gewesen sein, wieso man darüber hinwegsah, dass Maria Barbara von Schmid von außerhalb des Pfarrzirkels in der Gruft bestattet werden durfte. Silberdevotionalien zur Verehrung der Maria Candia waren nicht unüblich: Aus dem Jahr 1726 hat sich eine Notiz im Archiv erhalten, dass einige Silberopfer des Altares zuerst geschätzt und dann entfernt worden waren.¹⁷ Es wurden wegen von Schmids gönnerhaftem Bezug zur Kirche auch weitere Zugeständnisse gemacht, denn es steht in den Funeralspezifikationen, dass mit Bewilligung des Probstes Heidenreich zum ersten Mal das „schöne Bahrtuch“ zu
Totenprotokolle St. Michael, Bd. 6, MIKA 03 – 06, 145. Die aus dem Italienischen „dare parte“, also „Nachricht geben“, abgeleitete Form der „Parte“ bezeichnet den in Österreich ab dem 17. Jahrhundert üblichen Brauch, nach dem Tod eines Familienangehörigen über einen Dienstboten kleine Totenzettel verteilen zu lassen. Der Inhalt dieser Zettel waren nicht nur die Lebensdaten der verstorbenen Person, sondern auch der Zeitpunkt des Begräbnisses, da man auf zahlreiches Erscheinen bei den Beisetzungen Wert legte. Bei Personen von höherem Stand wurde die Parte auch in der Zeitung veröffentlicht. Vgl. Kathrin von der Lage-Müller. Text und Tod. Eine handlungstheoretisch orientierte Textsortenbeschreibung am Beispiel der Todesanzeige in der deutschsprachigen Schweiz. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1995, 222. Wiener Diarium. 08. Oktober 1740, 7. Maria Barbara Teresia v. Schmidtin Betrf. (undatiert). MIKA XII. 134. 20. Specification (Schätzung) einiger Silberopfer, die vom Maria Candia Altar entfernt wurden anno 1726. MIKA II. 22. 8.
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einem Preis von 8 Gulden über den Sarg ausgebreitet worden war.¹⁸ Hierbei handelt es sich jedoch um einen Aufzeichnungsfehler des Schreibers, da das schöne Bahrtuch bereits bei früheren Beerdigungen verwendet worden war, zu einem Kostenpunkt von 6 Gulden. Jenes, welches bei von Schmids Beisetzung erwähnt wird, wird in Zukunft als „reiches Bahrtuch“ bezeichnet werden und bis zum Jahr 1762, ab welchem die ersten Reformen Josephs II. zu greifen beginnen und die Kosten für die Bestattungen herabgesetzt und beschränkt wurden, nur mehr 91 Mal zum Einsatz kommen, durchwegs bei Bestattungen von Adeligen. Bei insgesamt knapp 2000 Bestattungen zwischen 1724 und 1783 war dieser Posten ein seltener Luxus. Auch die weiteren Leistungen, die in den Funeralspezifikationen aufgelistet sind, wie auch der Stellplatz in der Maria Candia-Gruft an sich, zeichnen das Bild einer illustren Beisetzung einer vermögenden Person. Abgesehen von ihrer als Universalerbin festgesetzten Schwester lässt sich jedoch keine weitere Verwandtschaftsbeziehung in der damaligen Wiener Gesellschaft feststellen. Eine solche zu dem bekannten Wiener Barockmaler Johann Georg Schmidt zu suchen, der zur gleichen Zeit in Wien wirkte, und dass sie etwa seine verlorene Schwester gewesen sein könnte, mag zwar verlockend sein, aber unwahrscheinlich, da Johann Georg Schmidt keine Aufträge in St. Michael verwirklicht hatte und somit kein familiärer Bezug zur Kirche hergestellt werden kann, wie dies bei anderen Familien durchaus der Fall ist. Ebenso wurde Johann Georg Schmidt nach seinem Tod am 15. September 1748 außerhalb von Wien, am Friedhof St.Veith in der Nähe von Krems beigesetzt¹⁹, sodass es zu keiner Familienzusammenführung nach dem Tode kam, was sonst in den Grüften unter St. Michael immer wieder praktiziert wurde, wie sich aus den Kirchenbüchern des Barnabitenarchivs herauslesen lässt.²⁰ Auch unter den anderen Toten der Gruft mit den Nachnamen Schmidt/
Funeral Spezifikationen, Bd. 6, MIKA XXV. 6, 134. Pfarrbereich Stadt Krems mit Friedhofskapelle. Diözesanarchiv St. Pölten (DAStP), Bd. 03 – 06, 385. Bei jenen Gruftbestattungen der Jahre 1724– 1783, in denen sich die Familienzugehörigkeiten und Gruftbestattungen aus den Totenprotokollen und Funeral Spezifikationen eindeutig herauslesen lassen, stehen 897 Einzelbestattungen (766 Erwachsene, 131 Kinder) zu 309 Bestatteten mit Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen in der Gruft liegenden. Die hohe Anzahl von Einzelbestattungen liegt, wie auch im Fall der Maria Barbara von Schmid zu sehen ist, an den in der Gruft beigesetzen Witwen (113 Tote) und früh verstorbenen Ehefrauen (94 Tote). Erst dann folgt die erste Gruppe an männlichen Toten bestehend aus den Mitgliedern des Ordens (30 Tote). Die höchste Zahl der alleine in der Gruft Bestatteten ist jedoch jene der früh verstorbenen Kinder, welche sich auf 131 beläuft. Die meisten von ihnen wurden in der dafür vorgesehenen Vesperbildgruft beerdigt (103), nur eine kindliche Tote fand ihre letzte Ruhe in der Maria Candia-Gruft.
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Schmid lässt sich auf Basis der Totenprotokolle keine Verwandtschaftsbeziehung herstellen. Maria Barbara von Schmid scheint also entschieden zu haben, als einzige ihrer Familie alleine unter dem Heiligenbild der Maria Candia zu verwesen. Doch genau das ist mit ihrem Körper nicht geschehen. Ein erstes bekanntes Foto ihres Sarges und toten Körpers wurde zur Zeit Adolf Mais‘ gemacht. Auf dieser Schwarz-Weiß-Fotographie sieht man den geöffneten Sarg und den darin liegenden unverwesten Leichnam. Bis auf die Lippen und Teile der Nase ist das Gesicht noch vollständig erhalten und in ein Kissen mit schwarzem Überzug eingesunken. Auch die Hände und Finger sind vollständig mumifiziert, einzig am linken Unterarm kann man die Ellen- und Speichenknochen erkennen, welche blank liegen. Aus den 1970er Jahren existiert eine weitere Schwarz-Weiß-Fotographie des damaligen Priors der Kirche Waldemar Posch, welche nur den Oberkörper der Mumie zeigt und auf der bereits Risse in der Gesichtshaut wie auch das eingesunkene rechte Auge zu erkennen sind. Beide Fotographien zeigen den Sarg in einer Nische der Priestergruft, welche die am schlechtesten klimatisierte Gruft der gesamten Anlage ist. Im Jahr 2019 ist sowohl der Polster als auch die Gesichtshaut bereits komplett zerfallen und der Schädel skelettiert, ebenso fehlen Grabbeigaben wie ein Rosenkranz, der auf Mais‘ Bild noch zu sehen ist.
Abb. 3: Mumie der Maria Barbara von Schmid. Fotos: Unbekannt, Waldemar Posch, Benedikt Lorsbach
Aufgrund dieser glücklicherweise erhaltenen Fotodokumentation muss davon ausgegangen werden, dass Maria Barbara von Schmids Leichnam bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts komplett mumifiziert war, in den letzten Jahrzehnten jedoch zusehends verfallen ist. Der Grund für die Mumifikation könnte der ursprüngliche Standort ihres Sarges innerhalb der Gruft gewesen sein: die Maria
Alle Zahlen wurden vom Autor aus den Kirchenbüchern statistisch erfasst und noch nicht veröffentlicht.
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Candia-Gruft, in der sich auch heute noch die meisten Gruftmumien St. Michaels befinden.
Verschiedene Arten der Mumifikation und Mumifizierung Bevor ich auf das Spezielle des Zwischenraums Maria Candia-Gruft eingehe, muss jedoch jener Zwischenraum, den bereits eine Gruftmumie oder genauer gesagt, die Mumie an sich, darstellt, genauer beleuchtet werden. Mumien, die zwar äußerlich betrachtet Lebenden ähneln, rein rechtlich gesehen aber Sachen sind, stellen somit einen hybriden Körper zwischen Leben und Tod dar.²¹ Der Tote ist demnach ein Bild des einst Lebenden, welches durch den Vorgang des Sterbens erschaffen wurde.²² Die äußeren Begebenheiten entscheiden, ob aus einem toten Körper eine Mumie entstehen kann oder ob er den Weg alles einstmals Lebenden geht. Bei Gruftmumien liegt eine natürliche Mumifikation vor aufgrund des Ortes, an welchem sich der Leichnam befindet. Damit ist sie von der künstlichen Mumifizierung zu unterscheiden, bei der mittels unterschiedlicher Hilfsmittel versucht wird, die Verwesung des Leichnams zu verhindern, was Foucault als großen utopischen Körper beschreibt, der die Zeit überdauert.²³ Diese Hilfsmittel sind im Falle einer Mumifizierung meist die Entnahme der inneren Organe und die Einbalsamierung der Leiche mit unterschiedlich wirksamen Mitteln, weshalb die so entstehenden Mumien oftmals skelettierte Extremitäten haben, wie z. B. die ägyptischen Mumien oder die Mumien in der Kapuzinergruft von Palermo. Zu dieser Art der Mumifizierung würden auch die geräucherten Leichen der Stammesältesten des Volkes der Hamtai in Papua Neuguinea zählen, welche nach erfolgter Mumifizierung auf Holzstühle gebunden werden. Diese Stühle werden dann auf Erdwällen oberhalb der Dörfer positioniert, damit die Verstorbenen über ihr Dorf auch nach dem Tod wachen können.²⁴
Vgl. Gert Baumgart, Hagen Schaub. Der ewige Leib. Mumien in österreichischen Sammlungen und Grüften. Wien: Verlagshaus der Ärzte, 2003, 11– 17. Hans Belting. Aus dem Schatten des Todes. Bild und Körper in den Anfängen. In Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, Constantin von Barloewen (Hrsg.). München: Diederichs, 1996, 92– 136, hier 94. Michel Foucault. Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Berlin: Suhrkamp, 2005, 27. Die komische Karriere der Mumien von Koke. Roland Schulz, GEO, 01.05. 2010. http://www.re porter-forum.de/fileadmin/pdf/Gern_Gelesen/Die%20komische%20Karriere%20der%20Mu mien%20von%20Koke.pdf (31.07. 2020).
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Bei einer Plastination hingegen, wie sie heutzutage angewendet wird, um Leichen vor dem Verfall zu bewahren, werden, einfach erklärt, die Körperflüssigkeiten durch eine formalinhaltige Flüssigkeit ersetzt, um die Zersetzung der Arterien zu verhindern. Um dieses Verfahren erfolgreich anzuwenden und einen Toten künstlich für die Ewigkeit zu erhalten, muss jedoch damit so rasch wie möglich nach dem eingetretenen Tod begonnen werden, denn sowie die Autolyse, der Leichenabbau, einsetzt, wird es immer schwieriger bis unmöglich, den Körper durch Plastination zu erhalten.²⁵ Selbiges mussten erst vor ein paar Jahren auch jene Verehrerinnen und Verehrer des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez einsehen, die 2013 versuchten, seinen Leichnam nach dem Vorbild Lenins und Maos zu erhalten, nur um letztlich festzustellen, dass die Autolyse den Körper bereits zu sehr zersetzt hatte.²⁶ Somit ruht der tote Chávez heute in einem geschlossenen Steinsarkophag, anstatt, wie geplant, in einem Glassarg in einem Museum ausgestellt zu sein. Eine natürliche Mumifikation tritt dann ein, wenn wegen der äußeren Umstände die Autolyse blockiert oder extrem verlangsamt wird. Dadurch, dass dies ohne menschliche Einwirkung geschieht, gerät die natürliche Mumifikation in der Wahrnehmung in die Nähe der Unverweslichkeit, welche früher als gottgegeben angesehen und dem betroffenen Körper den Nimbus der Heiligkeit verleihen konnte. Gleichzeitig findet sie sich jedoch auch im Aberglauben, Vampire und Wiedergänger betreffend, wieder, womit die durch Mumifikation entstandene Mumie sowohl Wunder als auch Schrecken sein kann. Oder anders gesagt, sie trifft unter den Menschen die Gottgesegneten und die Gottverfluchten.²⁷ Der kulturwissenschaftliche Hintergrund wäre in diesem Fall das Antlitz eines Abwesenden, das sich im Tod erhält und dieses Hybride, was eine Mumie an sich bereits ausmacht, zu einem Abbild transformiert.²⁸ Da es sich dadurch vom eigentlichen Vorgang der Verwesung abgrenzt und eine Heterotopie toten Lebendigerscheinens erschafft, wird die unwirkliche Möglichkeit einer Vermeidung des Todes erzielt, obwohl der Tod an sich vorhanden ist. Das Spiegelbild, der Ja-
Vgl. Carlos Thomas. Makropathologie: Lehrbuch und Atlas zur Befunderhebung und Differenzialdiagnostik. Stuttgart: Schattauer, 2003, 2. Letzte Ruhe für Hugo Chávez. Tagesanzeiger, 16.03. 2013. https://www.tagesanzeiger.ch/aus land/amerika/Letzte-Ruhe-fuer-Hugo-Chavez/story/26875854?track. (29.07. 2019) Marco Frenschkowski. Die Unverweslichkeit der Heiligen und der Vampire. In Vampirismus und magia posthuma im Diskurs der Habsburgermonarchie. Hg. von Christoph Augustynowicz, Ursula Reber, Wien: LIT, 2011, 53 – 69, hier 53. Thomas Macho. Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich. In Jan Assmann. Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, 99 – 101.
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nuskopf ²⁹, entstehend durch den mumifizierten Toten, entbehrt jeder Normalität und wird zum Abbild, zum Idol oder Schrecken, der sich nach früherer Erklärung der Gottgegebenheit und nach heutiger den natürlichen Abläufen widersetzt. So ist auch im 21. Jahrhundert das Auffinden von natürlich entstandenen Mumien meist eine kleinere Sensation, wenn vielleicht auch nicht mehr religiöser Gründe wegen. Gleichermaßen existiert auch weiterhin der Aberglauben gegenüber dem ewigen Fleisch, wie erst im Februar 2019 die Dubliner Mumie „Der Kreuzritter“ erfahren musste, welche in der Gruft von St. Michan in einer Nacht-und-NebelAktion enthauptet worden war.³⁰ Eine der berühmtesten durch Mumifikation entstandenen Mumien ist jedoch jene des Mannes aus dem Tisenjoch, bekannt unter ihrem Kosenamen Ötzi. Sie ist eine „Feuchtmumie“, in ihren Körperzellen ist noch Feuchtigkeit gespeichert.³¹ Obwohl sie Jahrtausende im Permafrost lag und dadurch gefriertrocknete, dehydrierte sie wegen der wechselnden Jahreszeiten nicht komplett. Das Gletschereis und die Witterung fungieren mit ihren körpererhaltenden Konditionen ähnlich wie die Gruft und schaffen einen Zwischenraum der Nichtverwesung. Zu dieser Art von Mumien zählen auch die toten Bergsteigerinnen und Bergsteiger des Mount Everests, an denen jedes Jahr von neuem die Massen vorbeisteigen werden und von denen der eine oder die andere für immer dort bleiben wird. Dieses Schicksal ereilte 2019 den Briten Robin Fisher, der während des Abstiegs kollabierte, aus der Menschenschlange heraus neben die Route stürzte und dessen Leichnam immer noch in seinem Seil verheddert dort hängt.³² Einige dieser Toten gelten mittlerweile als Wegmarken oder Orientierungspunkte, so auch die erste Deutsche, die 1979 auf dem Gipfel des Everests stand, Hannelore Schmatz. Nachdem sie während des Abstiegs nach einer Nacht in der Todeszone vor Erschöpfung gestorben war, war ihre mumifizierte Leiche in sitzender Haltung
Der sogenannte „Wendekopf“ vereint auf zwei Seiten ein lebendes Gesicht wie auch einen Schädel und zählt zu den echten Memento mori-Motiven. Er stellt ein Prognosticum dar, das den unvermeidbaren Tod bereits im Lebenden zeigt und wurde deshalb gerne als Kleinplastik in Rosenkränzen oder als Verzierung von Epitaphen und Särgen verwendet (Vgl. Reiner Sörries. Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, Bd. 1. Braunschweig: Thalacker Medien, 2002, 383). St Michan’s, Dublin: Vandals decapitate 800-year-old crusader. BBC. 26. Februar 2019. https:// www.bbc.com/news/world-europe-47364081. (29.07. 2019). Angelicka Fleckinger. Menschen aus dem Eis. In Mumien. Der Traum vom ewigen Leben. Hg. von Alfried Wieczorek, Michael Tellenbach, Wilfried Rosendahl. Mannheim: Philipp vom Zabern, 2007, 38. Peter Beaumont. British climber latest to die on Everest amid overcrowding. The Guardian. 25. Mai 2019. https://www.theguardian.com/world/2019/may/25/british-climber-latest-to-die-oneverest-amid-overcrowding-robin-fisher. (29.07. 2019).
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festgefroren zwanzig Jahre lang für die Bergsteiger auf der Südroute zu sehen, bis ein Windstoß die Mumie die Khangshung-Wand hinabschleuderte.³³ Mit dem herrschenden Klimawandel werden immer mehr bis jetzt verschollene Leichen vom Eis der Berge freigegeben und somit ihren Zwischenraum, der sie zu Mumien werden ließ, verlassen. Manche von ihnen werden geborgen und bestattet werden, womit ihre Heterotopie des als lebend erscheinenden Toten in der Welt der Lebenden erlischt. Dass Feuchtmumien demnach immer der Witterung ausgesetzt sind unterscheidet sie, wie im Fall des kalten Manns vom Tisenjoch, auch von den tatsächlichen Kältemumien wie zum Beispiel den Toten der Franklin-Expedition aus dem Jahr 1846. Die drei Toten auf Beechey Island in Kanada, John Torrington, John Hartnell und William Braine wurden kurz nach ihrem Tod in Gräber in Permafrost eingelassen, wo ihre Leichen vollständig dehydrierten³⁴ und auch keinen weiteren Temperaturschwankungen mehr unterworfen waren. Gleiches gilt für die in Sibirien aufgefundenen Mammutmumien, wobei diese anhand der Todesart unterschieden werden müssen. Während das Mammutkalb „Dima“ tatsächlich in Eiswasser ertrank, ist die bekanntere und besser erhaltene „Ljuba“ eigentlich eine Moorleiche, welche dann von Permafrost umschlossen wurde. Der Unterschied von Kältemumien und Moorleichen, welche auch als Giftmumien bezeichnet werden, besteht darin, dass die Giftmumie unter komplettem Sauerstoffausschluss entsteht, in welchem vorhandene Gerbstoffe das Wachstum der Mikroorganismen während der Autolyse verhindern. So sind Giftmumien, die gleich nach ihrer Bergung fachgerecht behandelt werden, da sie sonst rasant in sich zusammenschrumpfen und verschimmeln, wie z. B. das „Mädchen“ von Windeby I, oft besser erhalten als Kältemumien und geben ähnlich gute Fallstudien ab wie der Jahrhundertfund des Ötzis. ³⁵ Allerdings können Giftmumien meist nur für sich alleine untersucht und erforscht werden, da sie ohne Hinweise die örtliche Umgebung betreffend und meist auch alleine aufgefunden werden. Eine Moorleiche gezielt zu finden, wie dies bei anderen Mumien der Fall sein kann, ist praktisch unmöglich. Eine weitere natürliche Mumifikation geschieht durch die Einwirkung von Salz auf den Leichnam. Diese Salzmumien sind praktisch gepökelt, das Salz aus der Umgebung ist in den toten Körper eingedrungen und hat das Wachstum der
Carsten Holm. Der magische Gipfel. Der Spiegel. (28.04. 2003). https://www.spiegel.de/spie gel/print/d-26950174.html. (29.07. 2019). Fleckinger. Menschen. 49. Michael Gebühr, Sabine Eisenbeiss. Moorleichen – Funde, Deutung und Bedeutung. In Mumien. Der Traum vom ewigen Leben. Hg. von Alfried Wieczorek, Michael Tellenbach, Wilfried Rosendahl. Mannheim, Philipp von Zabern, 2007, 61– 63.
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Mikroorganismen während der Autolyse gestoppt.³⁶ Bei Salzmumien sind nicht nur der Körper an sich, sondern auch noch die Organe und Weichteile vorhanden, was sie in einem sehr lebendig wirkenden Zwischenraum erscheinen lässt.Wegen genau dieses Umstands sind jedoch nicht viele erhalten geblieben. Wurden welche in früheren Zeiten in den Salzbergwerken von Hallstatt oder Hallein gefunden, so ließen die damaligen Kumpel aus Angst und Aberglauben den jeweiligen Stollen einstürzen, wodurch die Mumie zerstört wurde.³⁷ Oder der aufgefundene Tote wurde für einen getauften Kumpel aus dem Mittelalter gehalten und am örtlichen Friedhof bestattet.³⁸ Wegen dieser Vorgehensweise sind viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon überzeugt, dass wichtige Hinweise zur Kultur der Kelten verloren gegangen sind, da es sich bei diesen Salzmumien mit hoher Wahrscheinlichkeit um Kelten gehandelt hatte.³⁹ Anders verhält es sich bei dem Fall der Salzmumien von Zandschan im Iran, welche aus dem Salzbergwerk geborgen worden waren. Sie wurden erst nach und nach ab 1993 entdeckt und werden seit 2008 wissenschaftlich untersucht. Somit sind sie die ersten Salzmumien, die dank ihrer Ausstellung in Museen über ihren Zwischenraum im Bergwerk erzählen können. Als letzte Art der Mumifikation gilt die Selbstmumifikation, bzw. -mumifizierung, je nachdem, ob man diesen Akt als künstlich vom einst Lebenden gewollt ansieht oder als natürlichen Vorgang während der Autolyse wertet. Diese in Japan unter den buddhistischen Mönchen entstandene und Sokushinbutsu bezeichnete Praxis, um das Nirwana zu erreichen, entspricht einer mehrjährigen Entsagung von Nahrung sowie der Vergiftung des Körpers.⁴⁰ Durch unterschiedliche Strapazen wird der Körper des Mönches so ausgemergelt, dass es ihm nicht mehr möglich ist, feste Nahrung zu sich zu nehmen. Gegen Ende des Prozesses wird Tee aus den Blättern des giftigen Urushi getrunken, was zu einem Absterben jener inneren Organismen führen soll, die den Leichnam zersetzen. Die meisten der Mönche, die versuchten sich selbst zu mumifizieren, sind jedoch ganz normal verwest und wurden zwar wegen ihrer Ausdauer und Leidensfähigkeit bewun-
Wilfried Rosendahl. Natürliche Mumifizierung – selten, aber vielfältig. In Mumien. Der Traum vom ewigen Leben. Hg. von Alfried Wieczorek, Michael Tellenbach, Wilfried Rosendahl. Mannheim: Philipp von Zabern, 2007, 23 – 35, hier 29. Baumgart/Schaub. Ewiger Leib, 33. Ekkehard Kleiss. Zum Problem der natürlichen Mumifikation und Konservierung. Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie 59, 2 (1967), 204– 215, hier 206. Bernhard Maier. Geschichte und Kultur der Kelten. München: C.H.Beck, 2012, 67. Melanie Janssen-Kim. Lebende Buddhas – Mumien in Japan. In Mumien. Der Traum vom ewigen Leben. Hg. von Alfried Wieczorek, Michael Tellenbach, Wilfried Rosendahl. Mannheim 2007: Philipp von Zabern, 142.
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dert, doch nicht als wahrer Buddha angesehen. Jene wenigen, die tatsächlich mumifizierten, sind heute in ihren jeweiligen Klöstern ausgestellt, wo sie verehrt werden und durch ihre schiere Existenz das Dharma verbreiten.⁴¹ Dieses Phänomen sollte auch für das einstige Oberhaupt der Buddhisten in Burjatien, DashiDorzho Itigilov, gelten, dessen Körper auch fast 100 Jahre nach seinem Tod im Lotussitz verweilt und kaum verwest erscheint. Allerdings wurde bei forensischen Untersuchungen 2015 festgestellt, dass sein Körper nach dem Tod mit Salzbinden umbunden wurde und wahrscheinlich noch andere präparierende Maßnahmen getroffen worden waren, die seine Leiche somit zu einer Salzmumie werden ließen, mit der sich Vladimir Putin 2013 zu einer Konversation traf.⁴²
Der Zwischenraum Maria Candia-Gruft unter St. Michael All diese Arten der Mumifikation treffen jedoch nicht auf Maria Barbara von Schmid in der Michaelergruft zu. Sie ist, wie praktisch alle Mumien in Kirchengrüften und Friedhöfen, eine Trockenmumie. Damit ein Leichnam austrocknet, muss während der Autolyse ein ständiger Luftzug in der Umgebung des Toten herrschen, was zu einem raschen Entzug von Wasser führt. Gleichfalls muss ein trockenes Klima gegeben sein, damit jene Körpersäfte, die den Leichnam während der Fäulnis verlassen, keine Zersetzungserscheinungen am Corpus bewirken. Diese Zersetzung, die in Grüften trotz aller der Mumifikation entgegenkommenden Umstände natürlich einsetzte, zeigte sich in Faulgasen, die sich im Brust- und Bauchbereich der Leiche bildeten, die Haut des Toten rissig machten und mit einem hörbaren Laut entwichen. Dieser Laut führte zum Aberglauben des Leichenschmatzens, von dem Kirchendiener und Totengräber berichteten, weil sie sich in ihrer Fantasie ausmalten, die Verstorbenen würden in ihren finsteren Särgen an ihren Leichentüchern nagen, wenn diese Geräusche ertönten. Diese Fantasie wurde so wahrheitsgetreu vorgetragen, dass das Phänomen von Michael Ranft 1734 wissenschaftlich zu einer Dissertation verarbeitet worden war.⁴³
Tullio Federico Lobetti. Ascetic practises in Japanese religion. New York: Routledge, 2014, 136. The Russian President visited Ivolginsky Datsan. Ria Novosti. Tibet House in Moscow. http://ti bethouse.ru/2013/datsan-01-en.html. (29.07. 2019). Michael Ranft. TRACTAT von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern, Worin die wahre Beschaffenheit derer Hungarischen VAMPYRS und Blut-Sauger gezeigt, Auch alle von dieser Materie bißher zum Vorschein gekommene Schrifften recensiret werden. Leipzig: Teubner, 1734.
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Waren die Särge jedoch gut verschlossen und nur der permanente Luftzug strömte durch wenige offene Ritzen des Holzes, so war die Wahrscheinlichkeit einer Austrocknung des Leichnams sehr hoch. Je weniger Ritzen im Sarg, desto besser, und Särge aus Hartholz mit einer Darrdichte von mindestens 600 kg/m3 weisen diese Eigenschaft auf. Bei den Mumien der Michaelergruft kommt noch die Besonderheit dazu, dass die Toten auf Hobelspäne gebettet wurden, welche die austretende Leichenflüssigkeit aufsaugte, und Tiere, die in den Sarg gelangt waren, fraßen nicht nur an der Leiche selbst, sondern mehrheitlich an den Sägespänen. So findet man zwar bei manchen Mumien, aber auch Skeletten, Fliegenpuppen im Bauch- und Genitalbereich, was darauf schließen lässt, dass die Beerdigung im Sommer stattfand und die Leiche vor der endgültigen Bestattung bereits mehrere Tage aufgebahrt gewesen war, doch konnten die Tierchen die Zersetzung des Körpers nicht vollenden, geschweige denn nachhaltig vorantreiben. Zusammenfassend muss also davon ausgegangen werden, dass die Wahrscheinlichkeit, dass der Verstorbene in der Michaelergruft einer Mumifikation ausgesetzt war, umso höher war, wenn er einen Sarg aus Hartholz mit viel Sägespänen in einer zugigen Abteilung der Gruft hatte und in den kalten Jahreszeiten verstorben war. Diese Eckdaten markieren demnach auch den hier aufzufindenden Zwischenraum, der letztlich jedoch aus drei ineinander verwobenen Zwischenräumen besteht: a) Die Mumifikation an sich, wie oben beschrieben. b) Die Örtlichkeit der Maria Candia-Gruft als sakraler unter einem profanem Raum. c) Der Anspruch der Unverweslichkeit, um mit geheiligtem Fleisch bei der Auferstehung zu erscheinen, was durch die Heterotopie der Ikone Maria Candia erreicht werden soll. Der Ort, an dem sich die Maria Candia-Gruft befindet, liegt außerhalb der Kirchenmauern St. Michaels. Die Gruft selbst misst an ihrer breitesten Stelle fast sieben Meter und ist knappe vierzehn Meter lang. Sie ist asymmetrisch gegraben, besteht aus einem schmäleren und einem breiteren Raumteil. An ihrer äußeren Längsseite befinden sich zwei Lüftungsschächte, die in den darüber liegenden Michaelerdurchgang münden und die Gruft mit Frischluft versorgen. In dem schmäleren Raumteil steht ein Stützpfeiler, was in keiner der anderen Grüfte der Fall ist, wobei jedoch unklar ist, ob er sich bereits von Anfang an dort befunden hatte oder erst während der Umbauarbeiten 1829/30 eingefügt worden war.⁴⁴ Ebenso besitzt die Gruft heute keinen Zugang vom Kirchenboden her,
Vgl. Baumeister Conto. MIKA XIV. 175. 4.
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Abb. 4: Maria Candia-Gruft, im hinteren Bereich rechts ein Lüftungsschacht. Foto: Benedikt Lorsbach
sondern kann nur von der Gruftanlage selbst betreten werden. Ob es während der Gruftbelegungen im 18. Jahrhundert eine eigene Gruftplatte gab, kann vor Ort nicht verifiziert werden, da das Gewölbe ebenso in den 1829/30er Jahren erneuert wurde und weder ein Durchbruch in der Decke noch ein Fundament im Boden ersichtlich ist, wie dies in anderen Teilgrüften durchaus noch zu sehen ist. In den Bestattungsrechnungen wurde jedoch immer ein Posten für das Steinheben mit vier Gulden verrechnet, weshalb davon auszugehen ist, dass einstmals eine eigene Gruftplatte den Eingang zur Maria Candia-Gruft bildete.⁴⁵ Ebenso gab es in der Kirche selbst lange eine Schautafel, die darauf hinwies, dass sich hinter zwei massiven hölzernen Beichtstühlen der ehemalige Abgang in die Maria CandiaGruft befunden habe, jedoch ohne Angabe von Belegen dafür.⁴⁶ Die einzelnen Bereits bei der ersten Bestattung in der Gruft wird das Heben des Steins mit 3 Gulden verzeichnet, was darauf schließen lässt, dass sie von Anfang an dafür vorgesehen war, eine Gemeinschaftsgruft zu werden. Vgl. Funeral Spezifikationen, Bd.1, MIKA XXV. 1, 335. Die Beichtstühle selbst sind zu schwer, um das Vorhandensein eines solchen Abgangs ohne größere Vorbereitungen und dem Einsatz schweren Geräts zu überprüfen. Wann genau die
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Gruftkammern der gesamten Anlage wurden erst während der oben erwähnten Bauarbeiten der 1830er Jahre miteinander verbunden. Der jetzige eineinhalb Meter tiefe Eingang innerhalb der Gruftanlage befindet sich am südlichen Ende der Herrengruft und führt durch die Grundmauern der Kirche hindurch. Somit liegt die Gruft nicht mehr unter der Kirche selbst, sondern unter dem heutigen Michaelerdurchgang, der den Michaelerplatz mit der Habsburgergasse verbindet. Das unter einem profanem Ort eine Gruft gegraben wurde, ist ungewöhnlich, allerdings befand sich während früherer Zeiten um die Kirche der Friedhof, womit der Platz an sich zumindest einst geweiht war. Dort, wo sich einstmals der Gruftstein der Maria Candia-Gruft befunden haben mag und über dem heutigen unterirdischen Durchgang im Gruftgewölbe steht der Altar des Heiligen Julius, der etwas genauer beleuchtet werden muss. Julius ist der einzige Katakombenheilige, der seinen Weg in die Michaelerkirche fand. Seine Vita ist nicht nachweisbar; er wurde als kindlicher Märtyrer ausgewiesen, der bereits mit zehn Jahren sein Martyrium erlitten haben soll und dessen Leichnam Anfang des 18. Jahrhunderts als Geschenk des Papstes nach Wien kam. Kaiserin Maria Theresia verehrte den Heiligen und betete oft an seinem Grab, das sich ursprünglich in der kaiserlichen Schatzkammer befand.⁴⁷ Am 26. Dezember 1746 wurde er von der Kaiserin der öffentlichen Verehrung in der Kapelle der Welschen Nation in der Jesuitenkirche übergeben. Pietro Metastasio, jener Wiener Hofdichter, der 1782 selbst in der Michaelergruft bestattet werden sollte, dichtete einen Lobgesang auf den Heiligen Julius, und an seinem Feiertag wurden gut besuchte Kinderprozessionen abgehalten. Zahlreiche überlieferte Gebetserhörungen trugen dazu bei, Julius als Schutzpatron der Wiener Kinder zu erachten.⁴⁸ Nachdem der Orden der Jesuiten verboten worden war, übergab Maria Theresia die Reliquien 1773 der Michaelerkirche, wo er jedoch eine längere Zeit für die Öffentlichkeit nicht zu sehen war. Erst während des 200-jährigen Barnabitenjubiläums 1826 wurde der ursprüngliche Maria Candia-Altar von dem Architekten Johann Zobel und dem Bildhauer Franz Käßmann in den heutigen Julius-Altar umgestaltet. Jener Platz im Südosten des Querschiffes war bereits seit 1377 mit einem Altar versehen, welcher der Spielleutebruderschaft diente, ab dem
Beichtstühle an diese Stelle gerückt worden waren, lässt sich nicht mehr feststellen, doch standen sie bereits im 19. Jahrhundert dort, da Josef Wenzel Reichelt 1861 feststellt, dass sie einen unter ihnen liegenden Grabstein verdecken. Vgl. Josef Wenzel Reichelt. Die k.k. Hof-Stadtpfarr- und Collegiums-Kirche zu St. Michael in Wien. Wien: M. Auer, 1861, 25. Don Ignaz Thomas. Maria aus Kandien. Beschreibung des Ursprungs der k.k. Hofpfarrkirche zum heiligen Michael. MIKA XIII. 148. 1. Anonym. Andächtige Verehrung des Heiligen Blutzeug Julius. Wien: Leopold Kirchberger, 1774, 55.
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16. Jahrhundert erhielt er das Patrozinium der Heiligen Nikolaus und Leopold, bis er 1634/35 abgetragen wurde, um dem späterem Maria Candia-Altar Platz zu machen, welcher bis 1782 währte. Die Geschichte des Julius ist deswegen maßgeblich, weil jener Raum innerhalb der Kirche, der seit ihrem Bestehen einen aufgewerteten Status hatte, auch nach den Reformen Josephs II. seinen Status als abgegrenztes Heiligtum behielt, wie die Neugestaltung des Altars durch Zobel und Käßmann beweist.⁴⁹ Julius wird auf der rechten Seite liegend in einem gläsernen Sarg präsentiert.
Abb. 5: Ikone des Heiligen Julius. Foto: Benedikt Lorsbach
Sein Schädel ist von einer Krone geziert und auf die rechte Hand gestützt, während seine linke Hand an seiner linken Hüfte liegt. Das Gesicht und der gesamte Körper, abgesehen von seinen Händen und Füßen, sind nicht zu sehen. Dadurch, dass Julius‘ Überreste in Stoffe eingenäht sind, ist nicht zu erkennen, ob er skelettiert oder mumifiziert ist. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass er, wie alle anderen Katakombenheiligen, die nach Mitteleuropa gebracht
Dehio Wien. I. Bezirk – Innere Stadt, 115.
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worden waren, skelettiert ist.⁵⁰ Bei genauer Betrachtung seiner Füße, die in reich verzierte Sandalen gesteckt wurden, wirken seine Zehen jedoch mumifiziert oder sie wurden zumindest so hergerichtet, dass sie diesen Anschein erwecken. Allerdings findet sich im Kunstgutinventar des Klosterarchivs kein Hinweis darauf, dass das ursprüngliche Skelett jemals ausgetauscht oder modifiziert worden wäre.⁵¹ Die Tatsache, dass der Ort, unter dem sich die Maria Candia-Gruft befindet, mit einem Körper, der wegen seines angeblich erlittenen Martyriums als lebend dargestellt wird, ausgestattet ist, macht die gesamte Örtlichkeit zu einer etablierten Heterotopie, die Wunder des ewigen Fleisches symbolisierend. Die aufgestützte und somit nur als ruhend implizierende Darstellung des Heiligen Julius soll von der Unverweslichkeit zeugen, die den Standort des Eingangs in die Maria Candia-Gruft signalisiert. Auch mehr als 50 Jahre nach der letzten Bestattung in der Maria Candia-Gruft 1764 ist dieser Ort durch die Übertragung des Katakombenheiligen weiterhin mit einer besonderen Verehrung und Wirksamkeit gekennzeichnet. Was aber eigentlich die Heterotopie im südlichen Querarm St. Michaels ausmacht, ist die Ikone der Maria Candia, welche eben dort zwischen 1673 und 1782 verehrt wurde.
Die Ikone Maria Candia Dem kunsthistorischen Befund nach handelt es sich bei der Maria Candia um eine Ikone vom Typus Hodegetria was bedeutet, dass Maria das Kind im Arm hält, welches mit der rechten Hand segnet und mit der linken Hand eine Pergamentrolle umfasst. Der Maria Candia-Altar, welchen es ursprünglich zierte, wird bereits in einem undatierten Lageplan, der aber mit ziemlicher Sicherheit aus den 1640er Jahren stammt, unter den Kapellen der Kirche erwähnt, zwischen dem Apostel- und dem Anna-Altar gelegen.⁵² Wegen verschiedener wundersamer Geschehnisse, die sich rund um die Maria Candia ereignet haben sollen, nahm dieser Altar sehr schnell eine Sonderstellung gegenüber den anderen Altären von St. Michael ein. Der Orden der Barnabiten ließ mehrere Schriftstücke drucken, die neben konkreten Gebeten für dieses Heiligenbild auch Legenden und Entstehungsberichte beinhalten. Im Barnabitenarchiv sind mehrere davon erhalten, das älteste wurde von Don Francisco Axenbrunner, seines Zeichens Barnabitenpriester bei St. Michael, Paul Koudounaris. Katakombenheilige – Verehrt, verleugnet, vergessen. München: Grubber Media GmbH, 2014, 23. Schriftliche Information von Constanze Gröger, St. Michael Wien, am 25.07. 2019. Plan über die ursprüngliche Lage der Altäre in der Michaelerkirche. MIKA II. 22. 3. a.
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Abb. 6: Hochaltar mit der Ikone Maria Candia. Foto: Robert Passini
1731 verfasst, also zu jener Zeit, als die Maria Candia ihr Patrozinium noch an der Stelle des heutigen Juliusaltares hatte.⁵³ Das Deckblatt schmückt ein Stich der Ikone Maria Candia, welche „auf dem sogenahnten Pest=Altar besonders zur Pestzeit Verehret wird“.⁵⁴ Gewidmet ist das Büchlein Carolina Reichsgräfin Fuchs von Bimbach und Dornheim, einer geborenen Mollard. Auf den ersten vier Seiten wird der Stifterin Fuchs-Mollard gehuldigt, die Zeit ihres Lebens eine großzügige Gönnerin des Gnadenbildes, wie auch des Barnabitenordens war. Als sie jedoch am 27. April 1754 starb, wurde sie nicht in der Gruft bestattet, obwohl sogar eine Familiengruft der Mollards unter dem Chor zur Verfügung gestanden hätte. Dies hatte den einfachen Grund, dass Fuchs-Mollard die geliebte Erzieherin der Kaiserin Maria Theresia gewesen war und bis heute als einzige Nichthabsburgerin in der Kapuzinergruft ruht, um ihrem Ziehkind auch im Tode nahe zu sein.⁵⁵ Nur das ihrem Leichnam entnommene Herz und die Eingeweide wurden in separaten
P. Don Francisco Axenbrunner. Kurtzer und gründlicher Bericht von dem grossen/heiligen/ und gnaden-reichen Wunder-Bild Mariae aus Candia. MIKA II. 22. 26. Bericht. MIKA II. 22. 26, 2. Karl Vocelka, Lynne Heller. Die Lebenswelt der Habsburger: Kultur- und Mentalitätsgeschichte einer Familie. Graz: Styria, 1997, 314.
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Urnen in die Mollardgruft unter St. Michael gebracht und für die Summe von tausend Gulden wurden 30 ewige Messen am Maria Candia-Altar gestiftet.⁵⁶ In dem ihr gewidmeten Büchlein folgt eine mehrseitige Vorrede, wie das Bildnis der Maria Candia zu verehren sei, bis dann auf eben dieses tatsächlich eingegangen wird. In siebzehn Anmerkungen wird die Ikone wie folgt beschrieben: Die erste Anmerkung hebt die unter venezianischer Herrschaft stehende Insel Kreta mit ihrer Hauptstadt Candia, dem heutigen Heraklion, hervor, welche so gut beschützt geschildert wird, dass sie als „gleichsam unüberwindlich angesehen“⁵⁷ wird. Diese Beschreibung macht die Einnahme durch „Achmet, oder Mahomet, Türkischer Ertz= und Erbfeind der Christen“⁵⁸ 1669 umso dramatischer und lässt jenen Mythos, der später die Ikone umschweben wird, bereits auf den ersten Seiten entstehen. Die zweite Anmerkung befasst sich mit der Entstehungsgeschichte des Bildes, und nachdem kleinlaut eingestanden wird, dass es sich bei dem Bild in St. Michael möglicherweise nicht um das Original handeln könnte, da „mehrere solte gemeldet werden“⁵⁹, wird jedoch noch auf der gleichen Seite klargestellt, dass das Original vom Evangelisten Lucas mit Wachs und Farben auf ein Brett gemalt wurde, was mit Belegen des römischen Historienschreibers und damaligen Bibliothekars der Wiener Hofbibliothek, Peter Lambeck, untermauert wird. Ebenso erfahren der Leser und die Leserin, dass man es in Jerusalem verehrte und es dort bereits erste Wunder zu wirken begann. Die Anmerkungen drei bis sieben beschäftigen sich mit dem Aufenthalt des Bildes in Konstantinopel und wie es in die St. Nicolaikirche von Kreta kam, bis Axenbrunner im achten Kapitel den Weg nach Wien beschreibt. Nach einem Vergleich zwischen Venedig und den Osmanen, der zwar die Hauptstadt in der Gewalt letzterer überlässt, aber die Befestigungen und Häfen der Republik Venedig zuspricht, wurde die Maria Candia von General Heinrich Ulrich von Kielmannsegg zu Schiff nach Wien gebracht, wie es von Balthasar Olivicciani, Adjutant des vorgenannten Generals, in der neunten Anmerkung erklärt wird.⁶⁰ Olivicciani bekennt darin während seines Wienaufenthalts am 16. April 1680 unter Eid, dass er Zeuge war, wie das Bild während einer Messe in Heraklion herabfiel und somit auf das Graben der Osmanen unter der Kirche aufmerksam machte. Die Verteidiger gruben den Besatzern entgegen, sodass
Fuchs, Gräfin Charlotte, geb. Gräfin v. Mollart Stiftung jährl. 30 hl. Messen. MIKA III. 28. 11. Bericht. MIKA II. 22. 26, 2. Bericht. MIKA II. 22. 26, 3. Bericht. MIKA II. 22. 26, 4. Bericht. MIKA II. 22. 26, 21.
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„eine zimliche Zahl von denenselben in die Lufft gesprenget“⁶¹ wurde. Da die Stadt aber verloren war, verließ die aus Venedig geschickte österreichische Verstärkung wieder die Insel. Ulrich von Kielmannsegg wird danach in Axenbrunners Büchlein nicht mehr erwähnt und seine Person wird ebenso ein wenig zu einem Mythos, da sich viele unterschiedliche Angaben zu ihm finden. Sein Todesjahr wird oft fälschlicherweise mit 1682 angegeben, nur in der Familienchronik der Kielmannseggs findet sich mit 1676 zwar das richtige Jahr, jedoch mit dem 2. August der falsche Tag.⁶² Wie der Regionalhistoriker Hans Helmut Görtz herausgefunden hat⁶³, wurde in den Totenbüchern der ehemaligen Peterskirche zu Speyer am 18. August 1676 vermerkt, „dass Herr General Kielmanseck, so ahn der rothen Ruhr gestorben den 18.ten Augusti; ligt ahn der Craticul unter dem Stein N.o 6“. Die zehnte Anmerkung enthält noch ein weiteres Zeugnis von der Echtheit des Gemäldes, diesmal von Theophanus Maurocordatus, dem Erzbischof von Psaroxanien, dem heutigen Chios, der St. Michael besucht und die Ikone sofort als identisch mit der auf Kreta gesehenen identifiziert. Die elfte Anmerkung gibt dann das für St. Michael ausschlaggebende Wunder wieder, die Heilung des Barnabitenpaters Don Casimir Dembski von der Pest 1679. Als Dembski sich während der großen Pest von Wien wegen seiner Pflege von Erkrankten selbst mit der Seuche infiziert hatte, betete er eine Nacht vor dem Bildnis der Maria Candia, um sich dann zum Sterben niederzulegen. Allerdings wurde er am nächsten Tag von seinen Brüdern völlig genesen unter dem Bild entdeckt. In der zwölften Anmerkung wird diese Heilung bestätigt, und zwar durch Frater Joseph aus dem Lazarett, der „zwey Pest=Beulen in beeder Schooß“ Dembskis gesehen und verarztet hatte, wie auch vom Pestarzt Johann Christoph Resch, der an Dembski „meine gute Mittl zum Schwitzen gebraucht“⁶⁴, ihn jedoch aufgibt und am nächsten Tag dann „gantz erstummet und ertattert Certum est, gewiß ist es, diese Cur ist meinen Mittl gantz nicht zuzuschreiben“⁶⁵ gestehen muss. Als weitere Zeugen melden sich noch Thomas Holtzer zu Wort, der Wundarzt des Lazaretts, und die beiden barmherzigen Brüder Romano Antonio und Philippo Gabel. Die dreizehnte Anmerkung beschreibt noch das Zypressenholz des Altars, die Anmerkungen vierzehn bis siebzehn wie man das Bild verehren soll inklusive der properen Gebete.
Bericht. MIKA II. 22. 26, 23. Eduard Georg Ludwig William Howe Graf von Kielmannsegg/Erich Friedrich Christian Ludwig Graf von Kielmannsegg. Familienchronik der Herren, Freiherren und Grafen von Kielmannsegg. Leipzig/Wien: Brockhaus, 1872, 40. Schriftliche Auskunft von Hans Helmut Görz ohne Angabe der Quelle per E-Mail am 14.03. 2019. Bericht. MIKA II. 22. 26, 35. Bericht. MIKA II. 22. 26, 35.
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Ein weiteres Büchlein, von Josephus Gögger 1738 geschrieben, befasst sich ausführlicher mit der Pestgeschichte und weniger mit der Ikone selbst.⁶⁶ Ihre Reise nach Wien wird in wenigen Sätzen abgehandelt, um dann gleich zur Heilung des Paters Dembski zu wechseln. Die Geschichte ist in ähnlichen Worten erzählt, auch Doktor Resch wird namentlich erwähnt, doch führt sie ebenso an, dass Pater Dembski „erst im Jahr 1683 in einer natürlichen Krankheit gestorben“⁶⁷ sei. Diese Behauptung lässt sich jedoch nicht mittels der Totenprotokolle der Kirche bestätigen, da der Tod von Dembski in keiner Aufzeichnung festgehalten wurde, weder 1683 noch in anderen Jahren.⁶⁸ Abgesehen von einem Entlassungsbrief aus dem Lazarett mit einer Beglaubigung, dass er genesen sei, findet sich in den Archiven nichts zu dem Pater, der das Wunder Maria Candia erfahren hatte.⁶⁹ Gögger, dessen Tod am 4. Dezember 1752 sehr wohl, wie auch seine Beisetzung in der Priestergruft, verzeichnet wurde, beschreibt noch eine zweite Geschichte aus dem Jahr 1470, die sich zu Rom zugetragen haben soll und in der, dank Gebeten zur Maria Candia, ebenso niemand mehr an der Pest starb. Weitere Bestätigungen der Wunderwirkung Maria Candias wurden von Pater Carolus Jung verfasst⁷⁰, wie auch einige von einem anonymen Schreiber angefertigte Gebetszettel erhalten geblieben sind.⁷¹ Die Barnabiten setzten also viel daran, den Aufbau eines Wunderglaubens um die Ikone zu erreichen, was insofern auch gelang, da sich das Heiligenbild als fixer Bestandteil in der Wiener Gesellschaft des 18. Jahrhundert etablierte und die Örtlichkeit im Querschiff als Heterotopie der Heiligkeit Bestand hatte. Selbiges widerspiegelt sich auch in den gestifteten Messen, denn nicht nur Fuchs-Mollard ließ für sich Messen bei Maria Candia abhalten, sondern noch mindestens zehn Geistliches Hülfs= Mittel/Wider Giftige Seuche/ und Pest oder Andacht/ Zu der Gnadenreichen Bildnuß Mariae aus Candia. Wien 1738. MIKA II. 22. 28. Hülfs=Mittel. MIKA II.22.28, 8. Auch Waldemar Posch gibt das Sterbedatum Dembskis mit dem 09.06.1683 an, doch bezieht er sich in diesem Fall auf eine Liste von Barnabiten, die in Wien gewirkt haben, welche erst 1864, also 200 Jahre später, aufgestellt wurde (Series R.Patrum Barnabitarum V.Fratrum Conversorum ab anno MDCXXVI in Germania degentium vel per aliquot temporis ibi morantium. A Don Severino Cancell. Provinciae 8. Juni 1864 confecta et finita. Hs. MIKA XVI. 189. 2ª, 65. Vgl. Waldemar Posch. P. Don Casimir Dembsky aus Neisse und die Pest in Wien 1679. Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 25. Breslau: Holzner, 1984, 311. P. Don Casimir Dembsky Entlassung aus dem Lazarett mit amtlicher Beglaubigung seiner wunderbaren Heilung anno 1680, 12. Feber. MIKA II. 22. 10. g. Manuscript zu dem in Druck erschienenen Büchlein „Nachrichtliche Abhandlungen von dem Muttergottes Gnadenbild Maria von Candia“ von P. D. Carolus Joseph Jung. MIKA.II.22.10.a. Gebetszettel mit Bild Maria Candia, 14 Stück je 4 Seiten. Inschrift: Gnadenreiche Bildnuß der Göttl. Mutter Maria auß Candia in der Kayserl. Hoff-Pfarr Kirchen Cong: Cler: Reg: S:Pauli bey S.Michael in Wienn.– Mappe H 17, B 11. MIKA II. 22. 29.
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weitere Personen, wie aus erhalten gebliebenen Stiftsbriefen zwischen 1680 und 1777 hervorgeht, was dem Orden mehrere tausend Gulden an Einnahmen bescherte. Der Aufbau einer Heterotopie innerhalb der Kirche war für die Barnabiten eine äußerst lukrative Angelegenheit. Um diesen Zwischenraum jedoch, im wahrsten Sinne des Wortes, zu vertiefen, wird zusätzlich zu der innerkirchlich existierenden Heterotopie noch ein unterkirchlicher Zwischenraum geschaffen.
Die ersten Bestattungen in der Maria Candia-Gruft Wenn man davon ausgeht, dass bis 1672 alle Gemeinschaftsgrüfte unter der Kirche gegraben worden waren und auch bereits zahlreiche Bestattungen in denselben stattgefunden hatten, so ist die Maria Candia-Gruft die zeitlich jüngste der Gemeinschaftsgrüfte. Sie wurde das erste Mal am 24. Mai 1724 in den Totenprotokollen erwähnt⁷², als Baron Johann Gottfried von Kielmannsegg „in die Crufften beym Canti Aldar“ beigesetzt wurde, womit ihre erste Belegung genau datiert werden kann, was bei Gemeinschaftsgrüften eine Seltenheit ist. Bei dem Toten handelt es sich um den Neffen jenes Generals, der die Ikone Maria Candia vor den Osmanen gerettet und nach Wien gebracht hatte. Johann Gottfried von Kielmannsegg starb in Inzersdorf nahe Wien und wurde zwei Tage später in die Michaelerkirche gebracht, wo er „vor dem Altar der heil. Mutter Gottes von Candia“⁷³ begraben wird. Er war niederösterreichischer Landrechtsbeisitzer im Herrenstand unter Karl VI.⁷⁴, dürfte aber ein eher ruheloser Charakter gewesen sein, wie es auch in der Familienchronik der Kielmannseggs geschildert wird.⁷⁵ Historiker aus Bad Bramstedt, von jenem Gut, das Kielmannsegg durch die Heirat mit Christine von Oertzen zufiel, sehen in ihm sogar einen Bigamisten und Gewalttäter, der den damaligen Marktflecken unrechtmäßig veräußert haben soll.⁷⁶ Da diese neue Gruft sowohl in den Sterbebüchern wie auch in den Wiener Diarien eindeutig namentlich erwähnt wird, ist unklar, wieso man lange davon ausgegangen war,
Totenprotokolle St. Michael Bd. 4, MIKA 03 – 04, 143. Wiener Diarien 1724, 8. Franz Karl Wissgrill. Schauplatz des landsässigen Nieder-Oesterreichischen Adels vom Herrenund Ritterstande. Bd. 5. Wien: Franz Seitzer, 1804, 124. Eduard Georg Kielmannsegg, Erich Friedrich Kielmannsegg. Familienchronik der Herren, Freiherren und Grafen von Kielmannsegg. Leipzig/Wien: Brockhaus, 1872, 52– 54. Max Röstermundt. Johann Gottfried von Kielmannsegg. Alt-Bramstedt.de. 19.02. 2016 http:// www.alt-bramstedt.de/roestermundt-johann-gottfried-von-kielmannsegg. (28.07. 2019).
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dass sie erst ab 1732 existiert haben sollte.⁷⁷ Nach Johann Gottfried von Kielmannseggs Beisetzung erfolgte jedoch eine fast zweijährige Pause bis die nächste Beerdigung stattfand. Für eine neu fertiggestellte Gruft ist diese lange Zeit ungewöhnlich, wurden Gruften doch deswegen gegraben, um den Einwohnerinnen und Einwohnern des Pfarrzirkels die Möglichkeit eines ehrenvollen und auch prestigeträchtigen Totenganges zu ermöglichen. Zum Vergleich: Bei der mit 40 Gulden Stellkosten zweitteuersten Grablege St. Michaels, der Herrengruft, vergingen gerade einmal sechs Monate zwischen den ersten als gesichert anzusehenden Bestattungen, im Jahr 1724 fanden sie bereits zweimonatlich statt. In der Maria Candia-Gruft wurden erst am 12. Jänner 1726 und am 26. Oktober 1733 die nächsten Toten beigesetzt. Ab diesem Jahr steigerte die Gruft aber ihre Attraktivität als Ort der letzten Ruhe, und bis 1740 fand jährlich eine Beisetzung statt, zwischen 1740 und 1751 waren es dann mehrere im Jahr.
Abb. 7: Jährliche Gruftbelegungen der Maria Candia-Gruft. Statistik: Oskar Terš
Diejenigen, welche sich diese Gruft als Ruheplatz aussuchten, ließen sich diese Entscheidung auch einiges kosten. Das Patent Maria Theresias von 1751, welches die Gestaltung der feierlichen Beisetzungen stark einschränkte und unterschiedlich teure Stadtklassen zu festgesetzten Preisen und Zusatzleistungen vorschrieb, ließ den Zulauf dann jedoch versiegen, und nach diesem Datum Alexandra Rainer. Maria-Candia-Gruft. In Die Michaeler Gruft. Retten, was zu retten ist. Hg.von Alexandra Rainer. Wien: Johannes Rossek, 2005, 104– 107, hier 104.
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wurden nur mehr sechs Personen in der Maria Candia-Gruft bestattet. Bei diesen sechs Namen kann von Familienzusammenführungen ausgegangen werden, da diese Verstorbenen bereits einen Angehörigen in der Maria Candia-Gruft oder zumindest in einer anderen Gruftkammer unter der Michaelerkirche hatten. Den klaren Wunsch, wie ihn Maria Barbara von Schmid hatte, als einziges Familienmitglied unter der Ikone der Maria Candia zu liegen, kann in diesen Jahren der bereits einsetzenden Aufklärung nicht mehr festgestellt werden. Zusammengefasst gesehen fanden nur zwischen 1724 und 1767 Bestattungen in dieser Gruft statt, wohingegen die anderen Grufträume zwischen 1672 und 1783 belegt worden waren. Zu den Besonderheiten gegenüber den anderen Gruftkammern St. Michaels gesellt sich somit auch der Umstand, dass in 43 Jahren nur 34 Menschen in der Maria Candia-Gruft bestattet worden waren, zwölf Frauen und 21 Männer, aber nur eine Jugendliche. Heute befinden sich noch 26 Särge in der Maria Candia-Gruft, davon 17, die bereits zu Zeiten von Mais hier standen, wobei aber anzuzweifeln ist, dass alle diese Särge auch ursprünglich dort gestanden hatten. Wie im gegenteiligen Fall des Sarges Nr. 11 der Maria Barbara von Schmid, der von der Maria Candia-Gruft in die Priestergruft gestellt worden war, wurden sicherlich auch Särge aus anderen Gruftkammern in die Maria Candia-Gruft gebracht.⁷⁸ In elf der heute dort stehenden Särge befinden sich Mumien in unterschiedlichem Erhaltungszustand.
Demographische Untersuchung der Toten in der Maria Candia-Gruft Abseits der heute in der Gruft stehenden Särge ist es wichtiger das Hauptaugenmerk auf jene Särge zu lenken, die Adolf Mais 1952 in der Gruft vorgefunden hatte. In jenem Gruftplan, den Mais in den 1950er Jahren anfertigen ließ, standen 24 Särge mit den Nummern 84– 107 in der Maria Candia-Gruft, die er damals fälschlicherweise als Pfarrgruft bezeichnet hatte. In 18 jener Särge, die Mais in der Gruft verortet hatte, befanden sich Mumien, in zwei Särgen waren Körperteile
Dies kann leicht ersehen werden, weil sieben der dort abgestellten Särge mit Jahreszahlen verziert sind, nämlich 1740 (Nr. 11), 1741 (Nr. 106), 1763 (Nr. 105), 1766 (Nr. 29), 1767 (Nr. 92), 1769 (Nr. 88) und 1781 (Nr. 104), und von den genannten Jahren nur in den Jahren 1740 und 1741 Bestattungen in dieser Gruft stattfanden. Ab 1751 fanden die verbliebenen sechs Beerdigungen nicht mehr jährlich statt. Da es keine Aufzeichnungen darüber gibt, wohin welche Särge im Laufe der Zeit gestellt wurden, sind die auf die Särge gemalten Jahreszahlen nur ein mit Vorsicht zu genießendes Hilfsmittel.
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teilweise mumifiziert, nur in vier Särgen waren die Toten komplett skelettiert. Abgesehen von den oben bereits erwähnten Särgen, welche Jahreszahlen tragen, die zu keiner aufgezeichneten Bestattung in der Maria Candia-Gruft passen, könnten die verbleibenden 18 Särge bereits ursprünglich dort gestanden haben. Anthropologische Untersuchungen ergaben bei diesen 18 Särgen, dass es sich bei den darin liegenden Toten um elf Frauen und sieben Männer handelt. Da jedoch rein anthropologische Untersuchungen von Mumien wenig über das Sterbealter des jeweiligen Leichnams aussagen können, weil die Knochen nicht frei liegen, ist es schwierig, die erhaltenen Körper mit den Aufzeichnungen in den Sterbebüchern abzugleichen. Dafür müssten die weiter oben erwähnten Praktiken der Röntgenanalytik oder Computertomographie angewandt werden. Vertraut man jedoch darauf, dass jene 18 Särge seit ihrer Bestattung durchgehend in der Maria Candia-Gruft standen, plus Sarg Nr. 11, der eindeutig identifiziert werden konnte, so sind sämtliche Särge aus dieser Gruft mit Mumien belegt. Aus diesem Grund wurden im 20. Jahrhundert auch nachweislich vier Särge aus der Maria Candia-Gruft in die Herrengruft gebracht, damit die Mumien den Touristen gezeigt werden konnten. Bis in die 1960er Jahre wurden den Besuchern der Gruft viel mehr Mumien als heute gezeigt, die vermutlich alle aus der Maria Candia-Gruft stammten und gegenwärtig auf drei verschiedene Grüfte verteilt liegen.⁷⁹ Seitens der Bestatteten handelt es sich bei den Belegungen der Maria Candia-Gruft um eine für den Hochadel und Diplomaten zur Verfügung gestellte Gruft, was auch die hohe Stellgebühr von 50 Gulden erklärt – mit der einen Ausnahme: Dem Tuchhändler Ferdinand Wührer, der sich als Bürgerlicher 1742 diese Gruft geleistet hat. Er hätte sich auch in der zweitteuersten Gruft, der „Herrengruft“ bestatten lassen können, welche mit 40 Gulden Stellplatzgebühr um zehn Gulden günstiger war als die Maria Candia-Gruft. Bei den Gesamtpreisen, die ein barockes Begräbnis erforderte, kann diese preisliche Differenz jedoch bei vermögenden Personen keine Rolle gespielt haben und es muss einen anderen Anreiz gegeben haben, sich zwischen der Herren- und der Maria Candia-Gruft zu entscheiden. Begräbnisse in der Maria Candia-Gruft mit allen zusätzlichen Leistungen, die ein Kondukt dieser Klasse voraussetzte, waren unter 200 Gulden nicht zu haben. Verglichen dazu kostete ein durchschnittliches Begräbnis in der günstigsten Gruft unter St. Michael, der Taufstubengruft, mit allen Zusatzleistungen im Durchschnitt um die 40 Gulden. Johann Adolph von Metsch, der frühere Hofvizekanzler, hält mit 730 Gulden und 30 Kreuzern den Rekord des teu-
Vgl. Oskar Terš. Legenden und Fakten zu den Mumien von St. Michael. Friedhof und Denkmal. Jahrgang 62 (2017): 22– 27.
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ersten Begräbnisses in den Grüften unter St. Michael.⁸⁰ Mit dieser Summe hätte man die Jahresgehälter von vier Tenören an der Kaiserlichen Hofkapelle bezahlen können.⁸¹ Der erste nach Baron Kielmannsegg, der eine Bestattung in der Maria Candia-Gruft verlangte, war 1726 Ercole Giuseppe Lodovico Turinetti Marchese di Prié⁸², seines Zeichens Vertrauter von Prinz Eugen und sowohl piemontesischer als auch österreichischer Gesandter in London und Rom. Er sollte nicht der letzte Gesandte bleiben, der diese Gruft als Ruhestatt wählte, auch Johann Carl Banni, der Abgesandte der unter österreichischer Herrschaft stehenden Republik Lucca, ließ sich 1735 hier bestatten⁸³, und mit Ludwig Casimir Freiherr von Lanczynsky gesellte sich 1751 auch ein russischer Abgesandter zu ihnen.⁸⁴ Ein Detail am Rande, war doch Johann Carl Banni einer von nur vier Verstorbenen, die sich in den Sommermonaten, in seinem Fall am 23. Juni, in der Maria Candia-Gruft bestatten ließen. Wie bereits in der Beschreibung der Mumifikation erwähnt ist die Gefahr, dass Fliegenpuppen den Leichnam schneller zersetzen, in den warmen Jahreszeiten größer. Bei der in Sarg Nr. 97 befindlichen männlichen Mumie sieht man Zersetzungserscheinungen an den Weichteilen des Bauches wie auch der Genitalien, aber auch an den Händen. Da sich in der Brust ein Schnitt befindet, wird das Herz des Verstorbenen für eine separate Bestattung herausgenommen worden sein. Dass es sich bei diesem Toten tatsächlich um den Botschafter Banni handeln könnte, untermauert noch die Sargbemalung, welche in Gelb/Rot gehalten ist, den Farben der Republik Lucca. Da jedoch weder der Sarg restauriert noch die Mumie genauer untersucht wurde, bleibt es auch in diesem Fall nur bei Mutmaßungen. Die Maria Candia-Gruft kann nach heutigen Maßstäben als geschäftsmäßig ertragreichste Gruft des Barnabitenordens bezeichnet werden, lukrierte doch ein einzelnes Begräbnis in dieser Gruft durchschnittlich so viel, wie alle Begräbnisse eines Jahres in der neben dem Turm gelegenen Taufstubengruft. Die Toten der Maria Candia-Gruft waren von hohem Stand, verfügten allerdings nicht über eine eigene Familiengruft, weder in ihren Besitztümern noch in der Gruftanlage der Kirche an sich oder sie waren zu weit von ihrer Heimat entfernt, um dorthin in absehbarer Zeit transferiert werden zu können. Eine genaue Aufarbeitung jener Persönlichkeiten, welche die Maria Candia-Gruft als letzte Ruhestätte wählten, kann hier aus Platzmangel nicht gegeben werden, aber die Existenz wie auch die
Funeral Spezifikationen, Bd. 6, MIKA XXV. 6, 134. K.J. Kutsch/Leo Riemens. Großes Sängerlexikon. München: De Gruyter, 2003. Bd. 7, 4718. Totenprotokolle St. Michael, Bd. 4, MIKA 03 – 04, 230. Totenprotokolle St. Michael, Bd. 6, MIKA 03 – 06, 66. Totenprotokolle St. Michael, Bd. 7, MIKA 03 – 07, 338.
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Abb. 8: Verfallende mumifizierte Hände in Sarg 97. Foto: Benedict Lorsbach
bewusste Nutzung des Zwischenraumes soll anhand des Ehepaars von Sinzendorf gezeigt werden, für die die Gruft auch eine mehrjährige Heterochronie darstellte.
Die Maria Candia-Gruft als Heterochronie am Beispiel der Familie Sinzendorf Die dritte Belegung der Maria Candia-Gruft erfolgte am 26. Oktober 1733 durch Rosina Catharina Isabella von Sinzendorf, geborene von Waldstein und Ehefrau des Obersthofkanzlers Philip Ludwig von Sinzendorf. Sie starb mit zweiundfünfzig Jahren in einer der in der geheimen Hofkanzlei befindlichen Wohnungen an innerlichem Brand und wurde mit allen Ehren in einem eigens errichteten Zimmer in der Kirche aufgebahrt und nach den dreitägigen Exequien in die Gruft hinabgelassen.⁸⁵ Zwar bestand zu dieser Zeit bereits eine kleine Herrschaftsgruft der Sinzendorfs an Stelle der heutigen Sakristei der Gföhler Pfarrkirche in Jaidhof, Funeral Spezifikationen, Bd. 4, MIKA XXV. 4, 203.
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nordöstlich von Krems an der Donau⁸⁶, doch scheint diese nicht Platz genug gehabt zu haben, um neue Belegungen aufzunehmen. Auch von Seiten ihrer Eltern, den Waldsteins, existierte keine Familiengruft, die Burg Waldstein im heutigen Tschechien stand zu dieser Zeit bereits als Ruine. Doch mögen das alles nur nebensächliche Probleme gewesen sein und die Sinzendorfs entschieden sich ganz bewusst, nach ihrem Tod in der Maria Candia-Gruft zu liegen. Immerhin hatte Philip Ludwig vor seiner weltlichen Karriere bereits eine Domherrenstelle in Köln inne und war auch ursprünglich für eine geistliche Laufbahn vorgesehen gewesen. Wenn man Mailáth glauben darf, so war er auch ein Mensch, der fortwährend auf seinen eigenen Vorteil bedacht war, was sich mit dem auf ihn und seine Familie übertragenen Prestige, das mit der Maria Candia-Gruft verbunden war, erklären würde.⁸⁷ Während der Umbauarbeiten des Schlosses Jaidhof ließ Johann Wilhelm von Sinzendorf, der Sohn der Vorgenannten, eine neue Gruft erbauen und am 21. April 1761 die Körper seiner Eltern aus der Maria Candia-Gruft exhumieren und in diese Gruft überführen.⁸⁸ In den Totenprotokollen ist das Datum der Überführung jedoch mit 11. März 1761 angegeben, wie ein später eingefügtes Notandum bei dem Eintrag von Rosina Sinzendorf festhält.⁸⁹ Beim Todeseintrag ihres Mannes neun Jahre später am 11. Februar 1742 findet sich ein solches Notandum jedoch nicht, obwohl er zur gleichen Zeit wie sie überführt worden war. Bis zum 17. April 1926 standen die Särge, welche einen Innensarg hatten und aus Eiche getischlert waren, frei in dieser neuen Gruft, dann wurden sie unter der Kapelle versenkt und eingemauert. Der Sarg Philipp Ludwigs von Sinzendorf trägt die Aufschrift „PLSRIHTCAS“, die Abkürzung für „Philippus Ludovicus Sacri Romani Imperii Haereditarius Thesauarius Comes a Sinzendorf“ und wäre so einer der wenigen Särge der Michaelergruft gewesen, der, abgesehen von den memento mori-Bemalungen, auch beschriftet gewesen wäre, so er in der Gruft verblieben wäre. In seinem Sarg befindet sich ein verlöteter Kupferkessel, wie auch der mumifizierte Leichnam eine Narbe auf der Brust hatte, da das Herz wohl für einen anderen Bestattungsort vorgesehen war. Ähnliches sieht man, wie bereits erwähnt, auch an dem Toten im Sarg Nr. 97 in der Maria Candia-Gruft, womit denkbar ist, dass auch sein Herz für eine Bestattung an einem anderen Ort entnommen worden war.
Walter Enzinger. Heimatbuch Jaidhof – Von der Herrschaft zur Gemeinde. Gföhl: Edition Nordwald, 1992, 58 – 59. Johann Graf Mailáth. Geschichte des Österreichischen Kaiserstaates, Bd. IV. Hamburg: Friedrich Perthes, 1842, 489. Stephan Biedermann. Gföhl, seine Pfarr-, Herrschafts- und Marktgeschichte. Zum 600-jährigen Jubiläum 1327– 1927. Gföhl: Pfarramt Gföhl, 1927, 23. Totenprotokolle St. Michael, Bd. 5, MIKA 03 – 05, 335.
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In dem am 17. April 1926 ausgestellten Gedenkprotokoll, das angefertigt wurde, als die Särge der Sinzendorfschen Gruft „in eine für diesen Zweck neu ausgegrabene und ausgemauerte Gruft im Boden der Gruftkapelle versenkt und endgiltig beerdigt“⁹⁰ wurden, wurden die Särge und die Toten noch einmal beschrieben, bevor man sie den Augen der Lebenden entzog. In der Gruft standen sich die Särge des Ehepaares schräg gegenüber und beide waren mit einem Messingschild versehen.Während jenes von Philipp Ludwig oben bereits entziffert wurde, gibt es eine solche Entzifferung bei Rosina von Sinzendorf nicht. Auf dem Schild ihres Sarges stand „RCCASNCAW 1733“ was ihrem Namen und Titel „Rosina Catharina a Sinzendorf nata Comes a Waldstein“, gestorben 1733 entsprechen könnte. Da es der einzige Sarg der Gruft ist, der das Sterbedatum 1733 aufweist, muss es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um die besagte Ehegattin handeln. Auch ihre Leiche gab Rätsel auf, denn „die Anwesenden konnten nicht konstatieren ob [der Sarg] einen Mann oder eine Frau enthält. Vermutet wird eine Frau. Kleidung schon unkenntlich“.⁹¹ Diese Anmerkung lässt darauf schließen, dass ihr Leichnam keine Mumifikation mehr aufwies, was jedoch angesichts der Transferierung auch wahrscheinlich ist. Beide Särge scheinen unbemalt gewesen zu sein, wird doch bei anderen Särgen die Bemalung in der Beschreibung ausdrücklich verzeichnet. Als am 15. Dezember 1761 eine Tochter des Gruftgründers in Jaidhof, Johann Wilhelms von Sinzendorf, im kleinen Fürst Dietrichsteinischen Haus in der Herrengasse mit dreiundzwanzig Jahren verstirbt, vermerken die Funeral Spezifikationen der Kirche bereits, dass sie „auf d. herrsch. Gut Gföll abgefüret worden“⁹² sei. Trotzdem wurden ein Begräbnis „Erste Stadtclass de Jura“ für 102 Gulden und drei Kreuzer ausgerichtet und zweitägige Exequien abgehalten.⁹³ Ihr Sarg wird unter Nr. 2 im Gedenkprotokoll verzeichnet und soll ebenso aus Eichenholz getischlert, jedoch „mit leichter weiss-schwarz-roter Bemalung“⁹⁴ verziert sein und ein Messingschild mit der Inschrift ISRICAS 1761 besitzen, was wieder ihren Namen, Stand und Sterbejahr erkennen lässt. Ihre Überreste werden nur mit „enthält einen Frauenleichnam“⁹⁵ beschrieben und geben nichts über Kleidung oder Mumifikation preis. Sie ist das letzte namentlich erwähnte Mitglied der Familie Sinzendorf in den Aufzeichnungen von St. Michael. Zwei jung verstorbene Söhne
Erna Glück. Gedenkprotokoll. Zur Verfügung gestellt von Verena Aschauer, GVB Jaidhof. Glück. Gedenkprotokoll, S. 2. Funeral Spezifikationen, Bd. 10, MIKA XXV. 10, 192. Funeral Spezifikationen, Bd. 10, MIKA XXV. 10, 192. Glück. Gedenkprotokoll, S. 2. Glück. Gedenkprotokoll, S. 2.
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Johann Wilhelms, Franz Richard, gestorben 1737⁹⁶ im Alter von neun Monaten, und Ludwig, gestorben 1731⁹⁷ mit 20 Monaten, verblieben jedoch in einer anderen Gruft St. Michaels, der Herrengruft, und wurden nicht in die Familiengruft umgebettet.
Ausblick Dieser kurze Überblick über die Sterbegeschichte einzelner Mitglieder der Familie Sinzendorf zeichnet ein Bild des in St. Michael erkennbaren Zwischenraums, wie es in aller Kürze gezeigt werden kann. Während Rosina Catharina von Sinzendorf in einer Zeit starb, zu der Beisetzungen in der Maria Candia-Gruft zwar noch nicht alltäglich waren, aber trotzdem von einem außerordentlichen Prestige zeugten, da sie ein Vielfaches verglichen mit den Beisetzungen in anderen Grufträumen kosteten, erfolgte das Begräbnis ihres Mannes zu einer Zeit, in der die Maria Candia-Gruft bereits vollends in der Wiener Gesellschaft etabliert war und sich auch einige andere Würdenträger für diese Gruft als Grablege entschieden hatten. Der 1736 verstorbene Johann Peter Graf von Arrivabene hatte sogar in der Einleitung der Inschrift seines Epitaphs, welches am fünften Pfeiler des südlichen Seitenschiffes der Kirche angebracht ist, vermerken lassen, dass er in der Maria Candia-Gruft ruhe. Bis zum Jahr 1761, als die aufklärerischen Tendenzen des Herrscherhauses jedoch bereits erkennbar waren und die Habsburgerfamilie nicht mehr so viel Wert darauf legen musste, mit Hilfe katholischer Praktiken die Reformation in Wien zurückzudrängen, verschob sich auch der Zwischenraum der Maria CandiaGruft und ihrer Toten. Hatten die Brüder des Barnabitenordens jahrzehntelang mittels viel Einfallsreichtum und Legendenbildung den Zwischenraum der Maria Candia-Gruft und die Heterotopie der Unverweslichkeit des Fleisches geschaffen und vielleicht die natürliche Mumifikation in der dortigen Gruft zu ihren Vorteilen genutzt, so schrumpft dieser nach den Josephinischen Reformen wieder in sich zusammen, ohne jedoch komplett aufgegeben zu werden. Der tiefgläubige und prestigesüchtige Adel schätzte diesen Ort auch weiterhin, und wenn auch die unterirdische Möglichkeit der Wunderwirksamkeit unterbunden wurde, wurde sie doch mit der Transferierung der Ikone auf den Hauptaltar und jener des Heiligen Julius auf den ehemaligen Maria Candia-Altar weiter aufrecht erhalten. Wurden früh verstorbene Kinder in diesem Zwischenraum nie bestattet, wie es u. a. bei den
Totenprotokolle St. Michael, Bd. 6, MIKA 03 – 06, 304. Totenprotokolle St. Michael, Bd. 5, MIKA 03 – 05, 196.
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Abb. 9: Epitaph des Johann Peter von Arrivabene. Foto: Benedikt Lorsbach
Söhnen des Johann Wilhelm Sinzendorf geschah, so waren sie auch in anderen Grufträumen von keiner solch großen Bedeutung, als dass sie analog zu den Leichnamen der Erwachsenen umgebettet worden wären. Die Gruft an sich fun-
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gierte als Schutzraum, wie es Andreas Ströbl⁹⁸ bezeichnet, ein Raum, der die Körper der Verstorbenen absichert, konserviert und bestenfalls mumifiziert, damit die Toten dann ihrem Glauben nach in ihrem Fleisch bei der Auferstehung Gott schauen können.⁹⁹ Inwieweit das auch damals bereits bekannte Phänomen der Mumifikation bewusst genutzt wurde, um nicht nur eine Heterotopie, sondern auch eine lukrative Einnahmequelle zu erschaffen, ist jedoch im Moment leider nur Spekulation, da es im mitteleuropäischen Raum nur versteckte Hinweise darauf gibt.¹⁰⁰ In anderen Regionen, wie in der wohl prominentesten aller Gruftanlagen, der Kapuzinergruft in Palermo, ist hingegen ganz klar nachweisbar, dass nach Entrichtung eines Entgeltes der natürlichen Mumifikation des Verstorbenen mittels künstlicher Mumifizierung nachgeholfen wurde, um einen Zwischenraum für die betuchten Mitbürger nach dem Tod zu erschaffen. Dass der italienische Orden der Kapuziner diese Möglichkeit in Palermo zeitgleich mit der ersten Gruftgrabung des italienischen Ordens der Barnabiten unter St. Michael anbot, kann natürlich auch nur Zufall sein. Um die Bedeutung der Maria Candia-Gruft, wie jedoch auch der gesamten Gruftanlage St. Michaels weiter zu untersuchen und die Tatsachen von Zwischenräumen und Heterotopien zu untermauern, bräuchte es jedoch weitreichende, vor allem naturwissenschaftliche Untersuchungen und Analysen, wie die bereits erwähnte Dendrochronologie für die Altersbestimmung der Särge oder eine Computertomographie der noch vorhandenen Mumien, um sie gegebenenfalls den einstmals Verstorbenen zuweisen zu können und somit mehr über die Hintergrundmotivationen für die Bestattungen in den einzelnen Gruftgewölben herauszufinden. Gleichfalls ist eine penible Sichtung des Barnabitenarchivs von Nöten, welches bislang nur überblicksartig katalogisiert wurde. Die erwähnte Baumeisterrechnung für die Umbauten der Gruft wurde nur zufällig in einem aus vielen anderen Rechnungen bestehendem Konvolut gefunden, weshalb eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass noch weitere Dokumente wie Rechnungen, Stiftsbriefe oder Testamente im Archiv zu finden sein könnten, welche die Entstehung und Belegung der Gruft neu auszuleuchten vermögen. Ähnliches gilt für die Archive des Barnabitenordens selbst, welche sich in Mailand und Rom befinden und gleichfalls noch Dokumente die Gruft betreffend bergen könnten. Eine
Andreas Ströbl. Von wegen Grusel! In Grüften hat sich der Glaube unserer Ahnen konserviert. Zeitzeichen 8 (2018): 55. J.P. Silbert. Des heiligen Augustinus zwey und zwanzig Bücher von der STADT GOTTES. Wien: J.B.Wallishausser, 1826, 1025. Vgl. Andreas Ströbl. Entwicklung des Holzsarges von der Hochrenaissance bis zum Historismus im nördlichen und mittleren Deutschland. Düsseldorf: Fachverlag des deutschen Bestattungsgewerbes, 2014, 14– 15.
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Kurzvisite des Autors im Mailänder Archiv konnte die Grabung der Priestergruft datieren, weshalb es auch in diesem Fall von Wichtigkeit wäre, die Bestände durchzugehen, um den Zwischenraum der Maria Candia-Gruft für die Bedeutung der Michaelergruft zu festigen. Der offensichtlich geschaffene Zwischenraum der Maria Candia-Gruft durch die Barnabiten, wie auch die Heterotopie der entstandenen Mumien und des Heiligen Platzes des Altars hebt die Gruft unter St. Michael von anderen Grüften ab und besitzt eine Einmaligkeit in der Geschichte der Gruftgrabungen.
Quellen- und Literaturverzeichnis Archivalische Quellen Diözesanarchiv St. Pölten (DAStP) Pfarrbereich Stadt Krems mit Friedhofskapelle, Bd. 03 – 06, 385 Michaelerkollegsarchiv (MIKA) 03.01 – 09 Totenprotokolle (TP) TP 03 – 04, 143 TP 03 – 05, 196 und 335 TP 03 – 06, 145 und 304 TP 03 – 08, 493 II. 21. 4. Kirchendiener Quittungen wegen der ihnen gegebenen Besoldung, auch wegen des Anzündens der Gassenlaternen, Grufträumung und Richten der Uhr. II. 22. 3. a. Plan über die ursprüngliche Lage der Altäre in der Michaelerkirche. II. 22. 8. Specification (Schätzung) einiger Silberopfer, die vom Maria Candia Altar entfernt wurden anno 1726. II. 22. 10. a. Manuscript zu dem in Druck erschienenen Büchlein „Nachrichtliche Abhandlungen von dem Muttergottes Gnadenbild Maria von Candia“ von P. D. Carolus Joseph Jung. II. 22. 10. g. P. Don Casimir Dembsky Entlassung aus dem Lazarett mit amtlicher Beglaubigung seiner wunderbaren Heilung anno 1680, 12. Feber. II. 22. 26. Kurtzer und gründlicher Bericht von dem grossen/heiligen/ und gnaden-reichen Wunder-Bild Mariae aus Candia. P. Don Francisco Axenbrunner. Wien 1731. II. 22. 28. Geistliches Hülfs= Mittel/Wider Giftige Seuche/ und Pest oder Andacht/ Zu der Gnadenreichen Bildnuß Mariae aus Candia. Wien 1738. II. 22. 29. Gebetszettel mit Bild Maria Candia, 14 Stück je 4 Seiten. Inschrift: Gnadenreiche Bildnuß der Göttl. Mutter Maria auß Candia in der Kayserl. Hoff-Pfarr Kirchen Cong: Cler: Reg: S:Pauli bey S.Michael in Wienn.– Mappe H 17, B 11. III. 28. 11. Fuchs, Gräfin Charlotte, geb. Gräfin v. Mollart Stiftung jährl. 30 hl. Messen. Original Stiftbrief v. 27. Mai 1754. 1.000 fl. Stiftungskapital. XII. 134. 20. Maria Barbara Teresia v. Schmidtin Betrf. (undatiert). XIII. 148. 1. Maria aus Kandien. Beschreibung des Ursprungs der k.k. Hofpfarrkirche zum heiligen Michael, Don Ignaz Thomas. XIV. 175. 4 Baumeister Conto.
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Jahreszahl 1762 auf Sarg Nr. 40 in der Herrengruft. Foto: Benedikt Lorsbach. Abb. 2: Sarg der Maria Barbara von Schmid in der Herrengruft. Foto: Benedikt Lorsbach. Abb. 3: Mumie der Maria Barbara von Schmid. Fotos: Unbekannt, Waldemar Posch, Benedikt Lorsbach. Abb. 4: Maria Candia-Gruft, im hinteren Bereich rechts ein Lüftungsschacht. Foto: Benedikt Lorsbach. Abb. 5: Ikone des Heiligen Julius. Foto: Benedikt Lorsbach. Abb. 6: Hochaltar mit der Ikone Maria Candia. Foto: Robert Passini. Abb. 7: Jährliche Gruftbelegungen der Maria Candia-Gruft. Statistik: Oskar Terš.
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Abb. 8: Verfallende mumifizierte Hände in Sarg 97. Foto: Benedikt Lorsbach. Abb. 9: Epitaph des Johann Peter von Arrivabene. Foto: Benedikt Lorsbach.
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Der Körper der Zukunft: RaumZeit in frühneuzeitlichen Blicken in die Zukunft The body of the future: space-time in Early Modern views into the future: The uncertainty of one’s own future is something that people were probably afraid of throughout the ages. This fear nourished their desire to reduce this risk. In Early Modern Venice, it was normal practice to consult mantic experts such as fortune-tellers in order to obtain advice concerning personal affairs and important decisions. Although the provision of this type of advice or the consultation of a diviner were prohibited and monitored by the authorities, both used to be common practice. This paper aims to highlight a special form of fortune-telling as exemplified by examples from the Venetian inquisition trials: angelisation in which a virgin was instructed to make contact with angels to gain information on future contingencies or hidden spaces. The paper argues that the pure body of the medium which played a decisive role was an in-between space, a heterotopic space and a heterochronotopos and claims “the sex of purity” as an analytic category within this context.
1 Einleitung Du hast gestanden, […] Du und Fiordelisa, Deine Tochter, in Deinem Haus das Experiment mit der Phiole durchgeführt haben, das Euch der großartige Meister Daniel Malipiero gelehrt hat dergestalt, wie man es hier in Venedig macht, wo eine Jungfrau oder eine schwangere Frau zum Einsatz kommt, wie er jetzt sagt, dass deine Tochter schwanger war, bei diesem Experiment kommen geweihte Kerzen zum Einsatz, die dir der genannte großartige Meister Daniel Malipiero gegeben hat, auf Knien mit Gebeten den Teufel unter dem Namen des Heiligen Engels und des Weißen Engels anrufend, hast du den Engel angerufen und ihn für seine Heiligkeit bezahlt, sie wollen zukünftige und geheime Dinge wissen […].¹
„Hai confessato con tua sagnetta, et permissione, che stai tuo genero, e fiordelisa tua figliola habbiano fatto in casa tua l’esperimento dell’inghistera insegnatoli dal magnifico messer Daniel Malipiero al modo, che si fa qui a Venezia con si interuento d’una uergine, o donna grauida, come all’hora dice, che era grauida tua figliola, nel qual esperimento ci interuenero candelle benedette, che gli diede el detto magnifico messer Daniel Malipiero genuflessioni, preci inuocando il Demonio sotto nome d’Angelo santo, et Angelo biancho, chiamando quello Santo pagandolo per la sua santità, ricercono saper cose future, et secrete […].“, s. Archivio Storico del Patriarcato di Venezia, Criminalia sanctae inquisitionis, busta 3, Nr. 3, f. 9r (Francesco Barozzi, 1587). Im Folgenden wird „busta“ (= Mappe) abgekürzt mit „b.“. https://doi.org/10.1515/9783110758306-018
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So heißt es in einem Auszug aus einer Akte des historischen Diözesanarchivs von Venedig. Es handelt sich um ein kleines handgeschriebenes Buch im DIN A 5Format, das eine Zusammenfassung der Anklagepunkte gegen einen Mann namens Francesco Barozzi und dessen, was er gestanden hat, zu sein scheint. Bei diesem Dokument handelt es sich nicht um den gesamten Inquisitionsprozess mit den zugehörigen Verhören, sondern um eine Zusammenfassung dessen, was Barozzi² anscheinend in seiner Vernehmung im Jahr 1587 geäußert hat, sowie gleichzeitig eine Bewertung dessen. Im Kern dreht sich die Schilderung darum, dass hier jemand „zukünftige und geheime Dinge“ erfahren wollte und für diesen Zweck zu bestimmten Mitteln griff, mithin wird eine Art der Zukunftsvorhersage geschildert. Eine wesentliche Rolle bei den Bemühungen, in die Zukunft blicken zu können, scheint hier eine Person zu spielen, die als Jungfrau oder als schwangere Frau beschrieben wird, nämlich Barozzis Tochter. Mehrere Personen, so scheint es, haben sich an einem bestimmten Ort versammelt, um etwas über ihre noch ungewisse Zukunft zu erfahren. Dazu greifen sie auf das mantische, also zukunftsdeutende Mittel der Engelsbefragungen oder so genannten Angelisierungen³ zurück. Bei einer Engelsbefragung diente jemand als Medium für andere, die einen Engel hinsichtlich räumlich und zeitlich verborgener Dinge zu befragen wünschten und der Person dafür entsprechende Instruktionen erteilten. An diese vermeintlich mit Engeln kommunizierende Person wurden besondere Anforderungen gestellt: Sie musste rein sein, um die Engelsbotschaften empfangen zu können. Als rein galten jungfräuliche Personen, das heißt sowohl Kinder unabhängig von ihrem Geschlecht bis zur Pubertät als auch schwangere Frauen aufgrund ihrer Leibesfrucht.⁴ Bereits in antiken Vorstellungen galten Kinder bis zum Pubertätsalter als Träger besonderer Kräfte, die mit Engeln kommunizieren konnten und daher gerne als Medium eingesetzt wurden.⁵
Barozzi, der zwischen Venedig und Candia (Kreta) lebte, galt als einer der führenden Mathematiker seiner Zeit. Als solcher bewegte er sich in den wissenschaftlichen Kreisen Mitteleuropas, vgl. Federico Barbierato. Nella stanza dei circoli. Clavicula Salomonis e libri di magia a Venezia nei secoli XVII e XVIII. Milano: Edizione Sylvestre Bonnard, 2002, 113. Beides sind keine Fachbegriffe, insbesondere bei „Angelisierung“ handelt es sich lediglich um meine Übersetzung und Substantivierung des italienischen „angelicare“ aus den Quellen. Barbierato, Nella stanza, 115; vgl. auch Monika Frohnapfel-Leis.Wer ist rein genug oder: Wie ruft man Engel an? Beispiele für einen besonderen Umgang mit der ungewissen Zukunft im frühneuzeitlichen Venedig. In Anne Conrad (Hg.). Spannungen. Religiöse Praxis und Theologie in geschlechtergeschichtlicher Perspektive (SOFIE 23. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung). St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2019, 169 – 187, hier 173 – 177. Margarethe Ruff. Zauberpraktiken als Lebenshilfe. Magie im Alltag vom Mittelalter bis heute. Frankfurt am Main und New York: Campus-Verlag, 2003, 37.
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Engelsbefragungen unter Zuhilfenahme jungfräulicher Personen sind ein Thema, das bislang in der kulturwissenschaftlichen Forschung noch sehr wenig Beachtung gefunden hat. Für Venedig hat Federico Barbierato das Phänomen in seinen Publikationen zu magischen Praktiken vor der venezianischen Inquisition ebenso gestreift wie Fabiana Veronese.⁶ Dennoch stellt dies keine exklusiv venezianische zukunftsdeutende Praxis dar: Auch für das Reich gibt es Hinweise auf diese Rolle von Kindern bei der Durchführung zukunftsdeutender Praktiken, so etwa bei dem Leib- und Hofarzt Johannes Hartlieb, der bereits Mitte des 15. Jahrhunderts für den bayerischen Markgrafen Johann von Brandenburg im Rahmen einer Art Bestandsaufnahme aller verbotenen magischen Praktiken auch diverse zukunftsdeutende Aktivitäten schildert, für deren Durchführung die Anwesenheit eines „reinen Kindes“ als Voraussetzung geschildert wurde, welches zu den Themen, die den Durchführenden interessierten, befragt wurde.⁷ Im frühneuzeitlichen Venedig war die Anwendung zukunftsdeutender, also mantischer oder divinatorischer Praktiken ebenso verboten wie an der Tagesordnung. Die venezianische Inquisition überwachte, verfolgte und bestrafte Personen, die im Verdacht standen, für sich oder andere die Zukunft zu deuten.⁸ Der Markt für magische und sonstige, darunter auch divinatorische Schriften, war in Venedig aufgrund der Bedeutung der Stadt als renommiertem Druckort, Handelsund Knotenpunkt für die unterschiedlichsten Schriften sehr groß.⁹ Für Venedig
Barbierato, Nella stanza dei circoli, 115; Fabiana Veronese. ‚L’orrore del sacrilegio‘. Abusi di sacramenti, pratiche magiche e condanne a morte a Venezia nel primo ventennio del settecento. Studi Veneziani, N.S. 52 (2006), 265 – 342, hier 333. Ich danke Federico Barbierato für entscheidende Hinweise und Erläuterungen zum Thema Angelisierungen. Johannes Hartlieb. Buch aller verbotenen Kunst. Untersucht und hg. von Dora Ulm. Halle a. d. Saale:Verlag von Max Niemeyer, 1914 [1456], z. B. 37 f. in den Kapiteln zu Hydromantie oder S. 51 in den Kapiteln über Pyromantie, so etwa im Kapitel 84 „ain rains chind, es sey maid oder kneblin“; Frank Fürbeth, Magische Texte in mittelalterlichen Bibliotheken. In Peter-André Alt/Jutta Eming/ Tilo Renz/ Volkhard Wels (Hg.). Magia daemoniaca, magia naturalis, zouber. Schreibweisen von Magie und Alchemie in Mittelalter und Früher Neuzeit (Episteme in Bewegung 2). Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2015, 165 – 188, hier 165. Ein profunder Kenner sowohl der venezianischen Inquisition als auch des Buchmarkts im frühneuzeitlichen Venedig ist Federico Barbierato. Er hat sich besonders mit dem Studium von dortigen devianten religiösen Glaubensausübungspraktiken beschäftigt, s. Federico Barbierato. Attraverso la censura. La cicolarzione clandestina dei testi proibiti nella Repubblica di Venezia fra oralità e scrittura (secoli XVII-XVIII). Rivista di storia del cristianesimo 9, 2 (2012), 385 – 404; Federico Barbierato. The Inquisitor in the Hat Shop. Inquisition, Forbidden Books and Unbelief in Early Modern Venice. Farnham: Ashgate, 2012; sowie Giovanni Romeo. L’Inquisizione nell’Italia moderna. Roma/Bari: Editori Laterza, 2002. Federico Barbierato. La letteratura magica di fronte all’Inquisizione veneziana fra ‘500 e ‘700. In Carlos Gilly/Cis van Heertum (Hg.). Magia, Alchimia, scienza dal ‘400 al ‘700. L’influsso di
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als Untersuchungsort ist die Quellenlange dank der Aktivitäten der venezianischen Inquisition, die religiöse abweichende Glaubensausübungspraktiken verfolgte und bestrafte, besonders gut. Im dortigen Historischen Staatsarchiv¹⁰ sind unzählige Fälle mantischer Praktiken dokumentiert, 126 befinden sich ferner im bischöflichen Diözesanarchiv. Gibt es einen Mehrwert, wenn man hier den Zwischenraum als Methode anwendet und falls ja, welchen? Der Zwischenraum der Angelisierung entsteht durch die Anwendung eines arkanen, also im Geheimen zirkulierenden Wissens trotz aller Verbote zum Zwecke des Hinausgreifens aus dem „normalen“ zirkulären Zeitablauf im „Raum des Erlaubten“ in einen verbotenen und durch die venezianische Inquisition sanktionierten Raum, zumindest was den Umgang mit der Ungewissheit der Zeit betrifft. Insofern ist es im Falle der venezianischen Engelsbefragungen durchaus methodologisch sinnvoll, nach Zwischenräumen zu fragen. Dies soll im vorliegenden Beitrag gezeigt werden, weshalb der Versuch unternommen wird, sich dem frühneuzeitlichen Phänomen der Zukunftsdeutungen anzunähern, indem diese als eine von Zwischenräumlichkeit geprägte Praxis angesehen wird – eine Handlungsoption, die der Körperlichkeit als räumlicher Voraussetzung bedarf, um wirksam zu werden. Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der Rolle des Körpers bei einer besonderen Ausprägung von Zukunftsdeutung, nämlich dem Angelisieren. Es scheint, als ob die Anforderungen an die Körperlichkeit bei dieser zukunftsdeutenden Praktik ganz besondere gewesen seien. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob man diese besondere Körperlichkeit bei Engelsbefragungen als einen Zwischenraum und speziell als einen Heterochronotopos interpretieren kann. Dabei soll nach den Zwischenräumen gefragt werden, die durch diese temporär herausgehobene Art der Körperlichkeit entstanden. Auch zwischenräumliche Strukturen in Bezug auf Ort und/oder Zeit sollen ausgelotet werden. Dabei sollen folgende Überlegungen leitend sein: 1. Das hier verwendete Konzept des Zwischenraums lehnt sich eng an jenes von Homi Bhabha beschriebene an. Was Bhabha mit dem „in-between-space“, dem Zwischenraum, meint, ist ein Phänomen kultureller räumlicher Strukturen, das gleichermaßen imaginiert und real auftreten kann. Kennzeichnend für diese Zwischenräumlichkeit ist ferner eine Übergangsdynamik, die
Ermete Trimegisto/Magic, Alchemy and science 15th-18th Centuries. The influence of Hermes Trismegistus, Bd. 1. Firenze: Centro Di, 2002, 135– 175; Barbierato, The Inquisitor in the Hat Shop, v. a. 265 – 295; Barbierato, Attraverso la censura; Barbierato, Nella stanza dei circoli; Filippo de Vivo. Information and communication in Venice. Rethinking Early Modern Politics. Oxford [u. a.]: Oxford University Press, 2009. Archivio di Stato di Venezia (ASV), Savi all’Eresia, Sant’Ufficio, Registro 303.
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Bhabha auch als „translation, hybridity oder third space“ bezeichnet.¹¹ Grundlegende Idee dieses gedanklichen Gebildes ist, dass viele Räume zugleich real und imaginiert sind und darüber hinaus noch auf eine dritte Weise existieren können. Das bedeutet, dass beispielsweise ein Gebäude, das eine „normale“ Nutzung als Wohnhaus einer oder mehrerer Familien genießt, durch die Anwendung von Magie oder divinatorischer Praktiken zu einem Raum verbotenen Wissens wird, in dem etwa durch Wahrsagerei ein Herausgreifen oder „Ausbrechen“ aus dem zirkulären Zeitablauf hinein in einen „Dritten Raum“ stattfindet – zu diesem Fall des „Ausbrechens“ unten mehr. Hier angesetzt und weitergedacht wäre der Dritte Raum bzw. Zwischenraum bei Zukunftsdeutungen das „Dazwischen“ zwischen mehreren denkbaren Zeiten, zwischen dem „normalen“ Zeitablauf, der Gegenwart und der zukünftigen Zeit, in die durch die Anwendung von Divinatorik gewissermaßen vorgreifend hineingeschaut wird. Mit dem „Dritten Raum“ in seiner Eigenschaft als hybride können bipolare Konzepte überwunden werden, insbesondere dort, wo diese an ihre Grenzen stoßen. Eine weitere Überlegung ist: Bei Zukunftsdeutungen greift man aus der Zeit heraus, man blickt aus der Gegenwart in die Zukunft, befindet sich also gewissermaßen zwischen beiden, weil man bei der Anwendung von Mantik sich nicht mehr ganz in der gegenwärtigen Zeit befindet, aber auch noch nicht richtig in der zukünftigen angelangt ist. Zukunftsdeutende Praktiken als das „Dritte“ sind gekennzeichnet durch ihr Pendeln zwischen den beiden anderen Zeiten beim Versuch, „binäre Denkstrukturen zu überwinden und dabei dennoch auf sie bezogen zu bleiben“.¹² Der so entstehende hybride zeitliche Raum verweist auf die Zukunft, gründet aber in der Gegenwart, durch die er bedingt ist. Religion, mithin alle Formen des Transzendenten, sollen hier als Zwischenraum bzw. als Dritter Raum betrachtet werden, weil es um die Kommunikation mit einem nicht greifbaren und nicht verortbaren, einem jenseits der „menschlichen“ Räume existierenden Transzendenten geht. Dies schließt Magie und Mantik als Ausprägungen von Religion, wenn auch in der Regel devianter Art, ein.
Uwe Wirth (Hg.). Bewegen im Zwischenraum (Wege der Kulturforschung 3). Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2012, 11; Homi Bhabha. The location of culture. London/ New York: Routledge, 1994, 38 f. Claudia Breger und Tobias Döring. Einleitung: Figuren der/des Dritten. In Dies./Ders., Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 30). Amsterdam/Atlanta: Rodopi, 1998, 1– 18, hier 3.
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Versteht man Zwischenräume als „Verlaufsformen von Praktiken und weniger als fixierbare Orte“¹³, dann kann man (auch) in zukunftsdeutenden Praktiken, hier den Angelisierungen, einen solchen Zwischenraum sehen. Die Bedeutung des Körpers spielt bei diesen zwischenräumlichen Annahmen eine entscheidende Rolle. So ist es bei Angelisierungen wichtig, die Engelsbefragung von einer „reinen“ Person durchführen zu lassen. Bei dieser Person muss insbesondere der Körper rein sein, zum Teil auch der Geist. Was man in der Frühen Neuzeit darunter verstanden hat, soll weiter unten besprochen werden. Diese Überlegungen zur Rolle des Körpers führen mich zu folgender These: Durch Reinheit wird der Raum entgrenzt. Reinheit hebt damit (körperliche) Beschränkungen auf und löst eine Entgrenzung des Raumes aus. Hieran schließt die Überlegung an, ob der sich noch verändernde Körper von Kindern im Gegensatz zu jenen von Erwachsenen einen Zwischenraum darstellt, weil seine endgültigen Grenzen noch nicht erkennbar sind. Ist damit ein Merkmal des Zwischenraumes erfüllt, nämlich das Fehlen von sichtbaren Begrenzungen bzw. die Ungewissheit darüber, wo der Körper nach Ende der Wachstums- und Veränderungsphase „enden“ wird? Die gleichen Überlegungen gelten für Schwangere mit ihren ungeborenen Kindern, die sich beide in einer Veränderungsphase – bei der Mutter von begrenzter Dauer – befinden. Hinzu kommt die Ungewissheit in Bezug auf das, was die Zukunft bringt, die Angst vor der Unkontrollierbarkeit wichtiger, den Menschen individuell betreffender Entwicklungen, mithin Kontingenz und Reduktionsbestrebungen derselben durch Versuche, in die Zukunft zu blicken: Kann man auch hier in der Ungewissheit der Zukunft über das, was kommen wird, einen Zwischenraum sehen? Oder auch ein Herausgreifen aus der gerade präsenten Zeit, ein Phänomen, das an die von Michael Bachtin beschriebene „Abenteuerzeit“ erinnert? Wären Zukunftsdeutungen somit eine Form des Heterochronotopos, der von Bachtin beschriebenen „Raumzeit“? Weil die Anwendung divinatorischer Praktiken im frühneuzeitlichen Venedig verboten war, wäre sie ein verbotenes Hinausgreifen in einen verbotenen Raum.
Der Mehrwert einer Herangehensweise, die Zwischenräumen nachspürt, besteht darin, dass man beim Versuch, die räumlichen Strukturen eines (historischen) Phänomens auszumachen und sie als einen Analyserahmen für die jeweilige Untersuchung aufzuspannen, genauer hinschaut und so „mehr sieht“, differen-
Vgl. den Beitrag von Klein und Krämer im vorliegenden Band: Klein, Björn und Felix Krämer. Zwischenraum: Der Fall Murray Hall in transsektionaler Perspektive, S. 255.
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zierter sieht¹⁴ in dem Sinne, dass man auslotet, was den jeweiligen Raum ausmacht: nämlich die Frage, wodurch der Raum gekennzeichnet ist, also seine Ausdehnung, seine Begrenzungen, aber auch seine Akteure. Der Zwischenraum wäre damit ein erkenntnisleitendes methodisches Hilfsmittel, das für die Erforschung des Umgangs mit frühneuzeitlichen zukunftsdeutenden Praktiken bzw. allgemeiner gesprochen des frühneuzeitlichen Umgangs mit Kontingenz hilfreich sein kann.
2 Der Wunsch nach dem Aufdecken des Ungewissen: Mantik als Kontingenzreduktion Die Wahrnehmung von Zeit im Alltagshandeln von Individuen und Gemeinschaft war in der Frühen Neuzeit eine zirkuläre, d. h. man ging davon aus, dass das Leben der Menschen oder auch Ereignisse wie die Ernte oder der Vogelflug gewissen sich stetig wiederholenden Abläufen folgte und insofern kreisförmige Eigenschaften hatte.¹⁵ Diesem Zeitkonzept konträr gegenüber bzw. vielleicht auch einfach neben ihm stand der Wunsch, räumlich und zeitlich noch Verborgenes zu erfahren, um so dem Zufall aktiv handelnd zu begegnen oder um Unsicherheiten in Hinblick auf wichtige Entscheidungen oder Vorhaben zu reduzieren. Dieser Wunsch ließ die Menschen erfinderisch werden und trieb sie dazu an, unterschiedlichste mantische Praktiken für unterschiedliche Bedürfnisse zu entwickeln. War man also beispielsweise im Begriff, eine längere Reise anzutreten, wollte man heiraten, stand der Abschluss eines wichtigen Geschäfts bevor oder war man am Ausgang einer Klageerhebung gegen die eigene Person interessiert, so war der Gang zu mantischen Expertinnen und Experten nicht unüblich. Auch der Ausgang von Unglücksfällen oder Extremsituationen wie schlimme Krankheiten oder Unfälle, Krisen, Kriege und Teuerungen ließen Menschen zukunftsbefragende Techniken nachfragen und anwenden.¹⁶ Zu den in der Frühen Neuzeit zur Anwendung gekommenen mantischen Praktiken gehören das Legen von Horoskopen oder Karten ebenso wie die Tech-
Susanne Rau. Raum: Theorien und Konzepte – eine Annäherung. In Angela Kaupp, (Hg.). Raumkonzepte in der Theologie. Interdisziplinäre und interkulturelle Zugänge. Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag, 2016, 21– 38, hier 24. Lucian Hölscher. Die Entdeckung der Zukunft (Europäische Geschichte). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag 1999, 27 f. Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, 27 f.; Ruff, Zauberpraktiken, 25 – 63.
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niken des Kristalllesens, Handlesens (Chiromantie)¹⁷, des Kordelwerfens¹⁸, Befragungen aus der Erde (Geomantie)¹⁹, des Feuers (Pyromantie)²⁰ und des Wassers (Hydromantie)²¹ und auch Geister- und Engelsbefragungen.²² Ihnen gemein ist, dass man versuchte, Künftiges oder räumlich noch Verborgenes vor der dafür eigentlich reifen Zeit zu erfahren bzw. zu „sehen“. Auch in Schreibkalendern (Almanachen) drückt sich dieser tief im Menschen verwurzelte Wunsch aus. Eine weitere Möglichkeit, vor der Zeit Kommendes zu erfahren, sah man in Träumen, die man versuchte im Hinblick auf Zukünftiges zu deuten, sei es individuell ausgerichtet oder eher Inhalte, die das Schicksal einer ganzen Gemeinschaft betrafen, bisweilen mit politisch aktuellem Hintergrund.²³
Veronese, ‚L’orrore del sacrilegio‘; für Venedig siehe z. B. den Inquisitionsprozess gegen Rocco Loccatello aus dem Jahr 1637, s. ASV, Savi all’Eresia, Sant’Ufficio, b. 94 und Appolonia Dandola, 1686, s. ASV, Savi all’Eresia, Sant’Ufficio, b. 124; ferner die Prozesse gegen Antonio Saldagna, 1579, s. Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 44 und gegen Gramatio Metallo, 1590, s. Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 66. Für Venedig siehe z. B. den Inquisitionsprozess gegen Angela Mirialdi aus dem Jahr 1628, s. ASV, Savi all’Eresia, b. 86 oder gegen Laura Malipiero, 1649, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 104. Für Kursachsen siehe Ulrike Ludwig. Hellsichtige Entscheidungen. Kurfürst August von Sachsen (1526 – 1586) und die Geomantie als Strategie im politischen Alltagsgeschäft. Archiv für Kulturgeschichte 97 (2015), 109 – 127. Für Venedig siehe z. B. den Inquisitionsprozess gegen Barbara Masa aus dem Jahr 1678, s. ASV, Savi all’Eresia, Sant’Ufficio, b. 120 oder erneut gegen Rocco Loccatello von 1637, s. ASV, Savi all’Eresia, Sant’Ufficio, b. 94. Fritz Boehm. Hydromantie. In Hanns Bächthold-Stäubli (Hg.). Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, Bd. 4. Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1987 [1927– 42], 548 – 574. Vgl. Claire Fanger. Virgin Territory: Purity and divine knowledge in late medieval cataptromantic texts. Aries 5, 2 (2005), 200 – 224; Claire Fanger (Ed.). Invoking Angels. Theurgic ideas and practices, thirteenth to sixteenth centuries (Magic in History). University Park, PA: Pennsylvania State University Press, 2012; Richard Kieckhefer. Magic in the Middle Ages (Cambridge Medieval Textbooks). Cambridge [u. a.]: Cambridge University Press, 1989. Für venezianische Fälle siehe z. B. die Fälle von Giovanni (oder: Giulio) Morosini (1579), b. 44, Giovanni Battista Rompiascio (1686), b. 124, b. 44, Elena Draga (1571), b. 30 und Laura Malipiero (1649), b. 104 sowie die Prozesse gegen Alfonso Ortis und Gaspare Varisco (1571), b. 31 und gegen eine Frau namens Franceschina aus dem Jahr 1588, b. 63 [alle in ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio]. Peer Schmidt, Gregor Weber (Hg.). Traum und res publica. Traumkulturen und Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock (Colloquia Augustana 26). Berlin: Akademie Verlag, 2008; Claire Gantet. Der Traum in der Frühen Neuzeit. Ansätze zu einer kulturellen Wissensgeschichte. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2010.
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3 Heterochronotope Elemente der Zukunftsbefragung oder: Mantik als zwischenräumliches Mittel zum Aufbrechen der RaumZeit Techniken der Zukunftsbefragungen zeichnen sich u. a. dadurch aus, dass sie von der bestehenden, gerade erlebten Zeit in eine noch nicht präsente Zeit vorgreifen. Derart soll, so zumindest die Hoffnung der Mantik Praktizierenden und Nachfragenden, ein Blick in zeitlich noch Verborgenes möglich werden, um so, bevor die eigentliche Zeit gekommen ist, Informationen zu bestimmten Umständen zu erhalten, die wichtig sein könnten für aktuelle persönliche Entscheidungen. Durch dieses Hinausgreifen aus der gegenwärtigen Zeit werden zeitliche und räumliche Strukturen aufgebrochen, weil dem eigentlichen Zeitpunkt für das Erfahren eines Umstands vorgegriffen wird. Auf diese Art und Weise wird eine noch nicht präsente und noch nicht reale Zeit konstruiert, eine „Zeit im Zwischenraum“. Auf Michel Foucault geht die Überlegung zurück, räumliche Strukturen unter bestimmten Bedingungen als „andere Räume“ oder „Heterotopien“ zu bezeichnen. Dazu gehören, so Foucault, „gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen“.²⁴ Ein des nachts verlassener Platz inmitten der Stadt, an dem jemandem aus der Hand gelesen wird, eine Straßenecke, an der eine Kordel geworfen wird, ein Zimmer eines Hauses, in dem eine Engelsbefragung stattfindet: Dies alles sind konkrete, lokalisierbare Räume, die durch die performative Praxis der Zukunftsdeutungen jedoch „außerhalb“ der üblichen Räume liegen; sie werden zu Heterotopien. Eine sehr wichtige Eigenschaft der Heterotopien, wie von Foucault beschrieben, möchte ich besonders hervorheben, dass sie nämlich „ein System der Öffnung und Abschließung voraus[setzen], das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht“.²⁵ Das heißt, der Zugang zu ihnen ist sehr speziell: Er ist entweder erzwungen (z. B. bei Gefängnissen) oder es bedarf einer bestimmten Erlaubnis, festgelegten Gesten oder Reinigungsritualen. Manche der „anderen
Vgl. Michel Foucault. Von anderen Räumen. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. In Daniel Defert/François Ewald (Hg.). Michel Foucault. Schriften in vier Bänden, Band 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, 931– 942, hier 935 [„Des espaces autres“ [1967/1984] In Michel Foucault. Dits et écrits, Bd. 4. Paris 1994, 752– 762, zuerst in: Architecture, Mouvement, Continuité 5 (1984), 46 – 49]. Foucault, Von anderen Räumen, 940.
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Räume“ scheinen offen zu sein, sind es in Wirklichkeit jedoch nicht. Dies trifft auf den Zugang zu Wissen über die Anwendung und Deutung magischer Praktiken zu: Da es sich um Wissen über als verboten eingestufte Techniken handelt, kursierte das Wissen darüber im Untergrund. Im arkanen Wissen über divinatorische Praktiken ist insofern ein heterotopes Merkmal zu sehen, als dieses Wissen aufgrund seines offiziellen Verbotenseins streng reglementiert war. Genaue Zahlen liegen nicht vor, doch ist davon auszugehen, dass nur wenige mantische Experten wussten, wie die jeweilige zukunftsdeutende Praktik auszuführen und wie ihr Ergebnis zu deuten war. Je nach Art und Weise der Zukunftsdeutung war ihre jeweilige Ausführung einfacher oder komplexer. Auch das Wissen darüber, wer dem Kreis dieser Experten zuzurechnen war, an wen man sich also im Bedarfsfall wenden konnte, kann als arkan gelten. All dieses Wissen kann man einerseits als Zugangsbeschränkung und gleichzeitig andererseits als Schlüssel dazu ansehen. Wie beispielswiese Angelisierungen durchzuführen waren, findet sich in dem Buch „Ars angelicandi“ bzw. „De arte angelicandi“. Dieses im Auftrag einer anderen Person kopiert zu haben gesteht im Laufe seines vor der venezianischen Inquisition geführten Prozesses der Angeklagte Patre Gasparo Varisco.²⁶ Doch Angelisierungen weisen nicht nur heterotope räumliche Strukturen auf, sondern zugleich auch zeitliche, mithin raum-zeitliche. Die von dem Literaturwissenschaftler Michail Bachtin eingeführte Denkfigur der „RaumZeit“, des Chronotopos, ursprünglich dem von ihm untersuchten epischen Ritterroman entlehnt, beschreibt den untrennbaren Zusammenhang von Zeit und Raum, deren Ganzheitlichkeit und Einheit, bei dem die Zeit zur vierten Dimension des Raumes wird. „RaumZeit“ schließt den zeitlichen Aspekt räumlicher Strukturen explizit mit ein.²⁷ Was Bachtin für den Chronotopos im Ritterroman annimmt, möchte ich im Folgenden auch auf Praktiken frühneuzeitlicher Zukunftsdeutungen übertragen: Er spricht von einem „subjektiven Spiel mit der Zeit“, einer „Verletzung elementarer zeitlicher Korrelationen und Perspektiven“, die im Chronotopos einem „subjektive[n] Spiel mit dem Raum“ entsprächen, mithin einer „ebensolche[n] Verletzung elementarer räumlicher Relationen und Perspektiven“.²⁸ Durch die Anwendung zukunftsdeutender Praktiken werden elementare zeitliche Elemente
ASV, Savi All’Eresia Sant’Ufficio, b. 31, 11v–12r. Michail Bachtin, The Dialogic Imagination. Four Essays. Ed. by Michael Holquist (University of Texas Press Slavistic Series 1). Austin: University of Texas Press, 2008, 95; Michail M. Bachtin, Chronotopos (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1879). Berlin: Suhrkamp, ³2014, 83 f.; Sabine Schmolinsky. The Production of Future. Chronotope and Agency in the Middle Ages. Historical Social Research 38 (2013), 3, 93 – 104. Bachtin, Chronotopos, 83.
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aufgebrochen, indem seitens der Akteure bereits vor der „eigentlichen“ Ankunft eines bestimmten Zeitpunktes versucht wird, etwas über zukünftige Räume zu erfahren, d. h. man möchte in noch zeitlich verborgende Räume blicken. Dasselbe gilt auch für noch räumlich Verborgenes oder Verstecktes, Entwendetes, wie Beispiele u. a. aus Venedig sowie von Johannes Hartlieb aus dem Reich zeigen. So muss sich im Jahr 1588 etwa eine Frau namens Franceschina vor dem venezianischen Offizium verantworten, weil ihr vorgeworfen wird, eine Angelisierung in Auftrag gegeben zu haben, um zu erfahren, wer ihr eine Aktenmappe entwendet hat.²⁹ Diese wiederzufinden scheint ihr ein großes Anliegen zu sein, da sie eigens dafür eine Angelisierung in Auftrag gibt. In den Schilderungen Johannes Hartliebs über die Praxis im Reich finden wir im 57. Kapitel seines „Buches der verbotenen Kunst“ den Auszug „Wann nun der maister den knaben also vor jm hat, so haißt er jn sehen, was er sech, vnd frägt dann nach dem schatz, diebstal oder sunst wärnach er will“.³⁰ Versteht man unter dem Begriff des Chronotopos die in sich kohärente RaumZeit, so kann man sie mit dem durch Michel Foucault geprägten Begriff des „anderen Ortes“, der Heterotopie verbinden, wodurch sich die neue Figur des „Heterochronotopos“ ergibt. Damit soll in Anlehnung an die „anderen Orte“, die zwar innerhalb der üblichen Orte existieren und dennoch gänzlich außerhalb von ihnen liegen³¹, eine „andere Raum-Zeit“ beschrieben sein. Kommen mantische Praktiken zur Anwendung, um etwas über räumlich oder zeitlich (noch) Verborgenes zu erfahren, so gleicht dies einem Hinausgreifen aus den üblichen raumzeitlichen Strukturen, einem aktiven sich dem Zufall Entgegenstellen. Dies erinnert an die „Abenteuerzeit“, die der Literaturwissenschaftler Michail Bachtin beschrieben hat, wenn sich nämlich ein Protagonist in der von ihm so genannten Abenteuerzeit bewegt, in der die „normalen, realen und gesetzmäßigen Zeitreihen abreißen“.³² Bedingt durch die Götter, den Zufall oder auch das Schicksal nimmt die übliche Zeitabfolge einen anderen Lauf; Gesetzmäßigkeiten werden verletzt, was dazu führt, dass bekannte, erwartbare Abläufe eine unerwartete und nicht vorhergesehene Wendung nehmen.³³ Auch in divinatorischen Praktiken ist eine solche „Einmischung“ in die regelmäßigen Zeitabläufe erkennbar, wird doch durch den Blick „hinaus“ eine Öffnung in der regelmäßigen Zeitstruktur ge-
ASV, Savi All’Eresia Sant’Ufficio, b. 63 [unpaginiert]. Hartlieb, Buch aller verbotenen Kunst, 38. Vgl. Foucault, Von anderen Räumen, 935. Bachtin, Chronotopos, 80. Bachtin, Chronotopos, 80.
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schaffen, durch die Zukünftiges und noch Verborgenes vor der dafür gekommenen Zeit gesehen werden kann, um Kontingenz handelnd zu begrenzen.³⁴ Auch an den Raum, in dem eine Engelsbefragung stattfinden sollte, wurden gewisse Voraussetzungen gestellt. So war es in der von Franceschina in Venedig beauftragten Angelisierung zuvor erforderlich, den Ort des Geschehens ähnlich wie in der Liturgiefeier in einer christlichen Kirche mit geweihten Kerzen und einem Tisch, der als Altar diente, herzurichten, auch die Anwendung von Weihwasser und Weihrauch gehörte dazu. Darüber hinaus mussten die Räume physisch verschlossen werden etwa durch das Schließen von Fenstern und Türen.³⁵ So wurde durch die Vorbereitung des Raumes als Ort einer Angelisierung aus einem „normalen Raum“ ein „anderer Raum“, in der Regel in zeitlicher und räumlicher Ko-Nutzung. In dieser heterochronotopen Struktur kann ein Zwischenraum gesehen werden. War bei einer beabsichtigten Engelsbefragung das Erfordernis der Reinheit erfüllt, mussten noch andere Bedingungen vorliegen: Die reine Person musste sich etwa hinknien, wie im Fall des angelisierten Jungen Domenico beschrieben, und auch die schwangere Frau aus dem Prozess gegen die Angeklagte Franceschina kniete nieder und hatte angezündete Kerzen in den Händen und sprach die Worte: „Heiliger Engel, weißer Engel, durch Deine Heiligkeit, durch meine Jungfräulichkeit, zeige mir, wer mir die Aktenmappe entwendet hat“.³⁶ Zum Einsatz kam ferner eine Phiole mit einer Kerze darunter.³⁷ Auch der Raum des Körpers des Mediums wird zu einem Zwischenraum: Einem durchlässigen Raum zwischen einem anderen Raum und einer anderen Zeit, der sich durch seine Hybridität auszeichnet: Er scheint räumlich und zeitlich flexibel und ungebunden. Dafür bedurfte es jedoch gewisser Voraussetzungen und Vorbereitungen, auf die im folgenden Kapitel einzugehen ist.
4 Der Körper der Zukunft Für die erfolgreiche Durchführung einer Engelsbefragung war, wie oben bereits erwähnt, die Beteiligung einer als „rein“ anzunehmenden Person von entschei-
Schmolinsky, The Production of Future, 95. ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 63 [unpaginiert]. ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 63 [unpaginiert]. Dies scheint das „Experiment mit der Phiole“ zu sein, das Barbierato erwähnt als venezianische Variante der Hydromantie, die in allen sozialen Schichten weit verbreitet gewesen sei, vgl. Barbierato, Nella stanza, 115 (dort Anm. 119). Dies vorgenommen zu haben wird auch dem eingangs erwähnten Francesco Barrozzi vorgeworfen, s. Archivio Storico del Patriarcato di Venezia, Criminalia sanctae inquisitionis, b. 3, Nr. 3, 9r.
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dender Bedeutung. Als rein in diesem Sinne galten Kinder ebenso wie schwangere Frauen aufgrund ihres Ungeborenen, das als noch „unverdorben galt“ und für das man eine besondere Reinheit annehmen durfte. Bei den Kindern als Protagonisten ist auffällig, dass die von ihnen geforderte Reinheit nicht mit einem Geschlecht verbunden war, sondern sowohl für Mädchen als auch für Jungen lediglich an das Erreichen eines bestimmten Alters geknüpft war.³⁸ Da hier das Geschlecht also nicht ausschlaggebend zu sein scheint, sondern allein die Tatsache der Reinheit, könnte man vorschlagen, in diesem Zusammenhang vom „Geschlecht der Reinheit“ zu sprechen.³⁹ Der reine Körper, so hat es den Anschein, steht jenseits der Kategorien von männlich und weiblich und überschreitet damit die üblichen Geschlechtergrenzen. Das „reine Kind“, sei es als geborenes oder noch ungeborenes Kind, löst sich aus der Beschränkung der körperlichen, geschlechtsspezifischen Materialität und wird durchlässig, um die Botschaft des befragten Engels zu erhalten und weiterzugeben. Es durchbricht so den Raum, den sein Körper normalerweise einnimmt, und greift aus in einen „anderen“ Raum, in einen Heterotopos. Es bewegt sich in einem Zwischenraum. Wie wurde nun also eine Angelisierung vorgenommen? Im bereits genannten Beispiel im Inquisitionsprozess gegen die beiden Angeklagten Padre Gaspare Varisco und Alfonso Ortis wurde am 10. Juni 1572 der Padre zum Ablauf der Angelisierung befragt, die er mit einem Jungen namens Domenico durchgeführt haben sollte: Frage: Nennt alle Zeremonien, die Ihr in jenem Haus mit diesem Jungen durchgeführt habt. Wann habt Ihr Gebete gesprochen? Antwort: Ich hatte meine Kutte und meine Stola und Heiliges Wasser und den Altar und das Kruzifix, die Madonna und die angezündeten Kerzen. Frage: Wie viele Kerzen? Antwort: Elf oder zwölf. Frage: Von welcher Farbe? Antwort: Weiße. Frage: Einfache oder geweihte? Antwort: Geweihte.
Also anders als es in historischer Perspektive viele Frauen erfahren mussten, wenn ihr Geschlecht mit Unreinheit assoziiert wurde, s. Anne Conrad. Heiligkeit und Gender. Geschlechtsspezifische Reinheitsvorstellungen im Christentum. In Peter Burschel/Christoph Marx (Hg.). Reinheit (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V. 12). Wien [u. a.]: Böhlau Verlag, 2011, 143 – 156, hier 150. Erste Überlegungen habe ich bereits angestellt in Frohnapfel-Leis, Wer ist rein genug, 184.
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Frage: Von wem geweiht? Antwort: In der Kirche San Salvador von einem der dortigen Brüder? [hier steht ein Fragezeichen] Frage: Wo habt Ihr sie gekauft? Antwort: An unterschiedlichen Orten. Frage: Wer hat sie gekauft? Antwort: Ich habe sie mir gekauft. Frage: Was haben sie gekostet? Antwort: Ich erinnere mich nicht, es waren Kerzen zu vier Unzen. Frage: Die Gebete, die Du vorgelesen hast, worauf waren sie geschrieben? Antwort: Auf Bembasina⁴⁰. Frage: Von wem hattet Ihr diese Gebete bekommen? Antwort: Diese Gebete habe ich gefunden, […]. Frage: Habt Ihr in diesem Haus die Messe gelesen? Antwort: Nein.⁴¹
Dieses Beispiel zeigt das Interesse des fragenden Inquisitors an der Ausstattung des Ortes, an dem die Angelisierung stattfand, aber auch daran, woher gewisse Gegenstände in die Verfügungsgewalt des Angeklagten kamen, wie etwa die geweihten Kerzen. Hier fragt er danach, woher sie stammen und wie sie beschaffen waren sowie nach ihrem Preis. Dies lässt vermuten, dass er eventuelle klandestine Netzwerke des „Devotionalienhandels“ innerhalb Venedigs versuchte aufzudecken und dazu Beteiligte an der verbotenen Praxis in Erfahrung bringen wollte. Im weiteren Verlauf des Verhörs geht es um die Voraussetzungen an den Körper des zu angelisierenden Jungen: Aufschlüsse darüber gibt der Junge Domenico selbst am 14.06.1572: Auf die Frage hin, was er im Haus des Meisters Thomaso gemacht habe, antwortete er, dass man Gebete vor einem Altar gesprochen habe. Die Inquisitoren wollten weiter von ihm wissen, ob er befragt worden sei, insbesondere dazu, ob er wisse, was in Frankreich und Spanien geschehe, was er bejahte. Frage: Auf welche Art und Weise?
Bembasina ist vermutlich eine Papierart. ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 31, 4v.
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Antwort: Der Meister Patre Gaspare nannte mir am Morgen und am Abend einige Gebete, und dann, wenn ich ins Bett ging, wollte er, dass ich mir meine Tücher unter den Kopf lege, und in der Nacht sah ich den Engel und er sagte mir, was er wissen wollte, und am Morgen sagte ich Patre Gaspare, was mir der Engel gesagt hatte. Frage: Wie war der Engel gekleidet? Antwort: Weiß. Frage: War er groß oder klein? Antwort: Er war groß. Frage: War er schön oder hässlich? Antwort: Er war schön. Frage: Ob er einige Worte wisse, um den Engel zu rufen. Antwort: Ja, Herr. Frage: Ob er die Worte sagen würde. Antwort: Wenn ich ihn rufe spreche ich fünf oder sechs Mal „Heiliges Licht, komm‘ zu mir“, und der Engel kommt. Frage: Wie lange ist es her, dass er nicht zu Dir gekommen ist? Antwort: Einen Monat oder zwei.⁴²
Das heißt, es gibt diverse Anforderungen, etwa wie der Junge seinen Kopf im Schlafen betten soll oder wie er den Engel anspricht, aber scheinbar keine an seinen Körper. Für das Gelingen der Angelisierung scheint ausreichend zu sein, dass er aufgrund seines jungen Alters als „rein“ gilt. Stellt der durch das junge Alter des Kindes sich noch im Wachstums- und Veränderungsprozess befindliche Körper einen Zwischenraum dar, der aufgrund seiner nicht starren Begrenzungen das Herausgreifen aus der präsenten Zeit in eine künftige erst möglich macht? Dies scheint jedenfalls Padre Gaspare in seinem Verhör vom 10.06.1572 zu bestätigen: Frage: Warum wolltest Du den Ausgang des Krieges von dem Jungen wissen? Antwort: Weil er rein und einfach ist […].⁴³
Weil der Junge „rein“ ist und „einfach“ kommt er für die Engelsbefragung als Medium in Frage. Muss also der Körper „rein“ sein oder die Seele? Vielleicht beides? ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 31, 10r. ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 31, 5r.
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Eine Beteiligung von Körper und Seele legt Patre Gaspares Aussage in seinem Verhör am 17. Mai 1572 nahe, wo er deutlich macht, dass es nicht nur um Reinheit am Körper geht: Die Person, die angelisiert ist, kann weder von Geistern noch von Gift noch von anderen schlechten Dingen angegriffen werden, wie es in dem Buch beschrieben ist, und auch ist die angelisierte Person wie ein Prophet und weiß vergangene, gegenwärtige und Dinge, die kommen werden, zu sagen.⁴⁴
Der „Besteller“ der Frühen Neuzeit der magischen Anleitungsliteratur, die Clavicula Salomonis, die auch in Venedig rege kursierte und kopiert wurde, lässt darauf schließen, dass es ein Erfordernis sowohl an den Körper als auch an den Geist gewesen sein muss.⁴⁵ Die Erfordernis der Jungfräulichkeit der angelisierten Person zeigt Patre Gaspare in seiner Befragung am 17. Mai 1572 auf: Auf die Frage, welche Bedingungen man in dem Buch bezüglich des Priesters findet, der angelisiert, und des Knaben, der angelisiert wird, antwortet er: „Es ist notwendig, dass der Priester gebeichtet und gefastet hat und dass der Knabe jungfräulich ist“.⁴⁶ Nicht nur an den Jungen werden somit Anforderungen gestellt, sondern auch an den Priester, der die Engelsbefragung durchführt. In der Beichte kann man eine Reinigung der Seele bzw. des Geistes sehen, im Fasten eine des Körpers und des Geistes. Jungfräulichkeit als Anforderung an den Körper ist eine Bedingung, die nicht an das Vorliegen eines bestimmten Geschlechts gebunden ist, sondern ausschließlich daran, „rein“ zu sein. Da dies ein anderes Verständnis von Geschlechtlichkeit in einem üblicherweise von einer bi-geschlechtlichen Vorstellung geprägten Umfeld darstellt, wird erneut vorgeschlagen, in diesem Zusammenhang von einem „Geschlecht der Reinheit zu sprechen.⁴⁷ Dies lohnt sich festzuhalten, waren Frauen doch über Jahrhunderte im religiösen Kontext häufig gerade aufgrund ihres Geschlechts, das als unzulänglich rein galt, Diskriminierungen ausgesetzt.⁴⁸ Bei der zukunftsdeutenden Praxis der Angelisierung scheint das Geschlecht hingegen keine Rolle gespielt zu haben.
ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 31, 12r. Claviculae Salomonis Et Theosophia Pneumatica, Das ist/ Die warhafftige Erkänntnüß Gottes/ und seiner sichtigen und unsichtigen Geschöpffen/ Die Heil. Geist-Kunst genannt: Darinnen der gründliche einfältige Weg angezeigt wird/ wie man zu der rechten wahren Erkänntnüß Gottes/ auch aller sichtigen und unsichtigen Geschöpffen/ aller Künsten/ Wissenschafften und Handwercken kommen soll. Wesel, Duisburg, Frankfurt: Andreas Luppius, 1686, 12– 17. ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 31, 13v. Vgl. Frohnapfel-Leis, Wer ist rein genug, 184. Conrad. Heiligkeit und Gender, 150; Frohnapfel-Leis, Wer ist rein genug, 177.
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Die eingangs formulierte These zur Rolle des Körpers bei Angelisierungen, wonach durch Reinheit der Raum entgrenzt werde und Reinheit damit (körperliche) Beschränkungen aufhebe und eine Entgrenzung des Raumes bedinge findet sich hier bestätigt: Ist die zu angelisierende Person „rein“, kann mit ihr die Zukunftsdeutung gelingen, der herkömmliche Raum kann aufgebrochen, entgrenzt werden, ein Blick in einen anderen, dritten Raum, jener der Zukunft, in einen heterochronotopen Raum erscheint den Akteuren möglich. Die Beschaffenheit des Körpers ist mithin von entscheidender Bedeutung bei diesem Vorhaben. Der sich noch verändernde, da noch nicht ausgewachsene und noch nicht an seinen räumlichen Grenzen angekommene Körper von Kindern weist zwischenräumliche Strukturen auf durch das Fehlen von sichtbaren Begrenzungen. Auch eine Schwangere befindet sich in einem zwischenräumlichen Prozess der Veränderung. Die Rolle, die Kinder bei den venezianischen Angelisierungen spielten, wirft viele Fragen auf. Eine davon wäre jene nach der Reaktion ihrer Eltern auf das Handeln ihrer Kinder. Ob die Eltern immer davon wussten und was sie davon hielten, lässt sich in den meisten Fällen nicht belegen. Im Fall des angelisierten Jungen Domenico, dessen Alter mal mit sieben⁴⁹ bzw. mit sieben bis acht Jahren⁵⁰ und mal mit zehn Jahren⁵¹ angegeben wird und der im Inquisitionsprozess gegen die beiden Spanier Patre Gaspare Varisco und Alfonso Ortis genannt ist, sagt Domenico selbst aus, dass seine Mutter nichts davon wisse, denn der Meister Gaspare habe ihm verboten, mit seiner Mutter darüber zu sprechen: „Weiß Deine Mutter, dass Du mit diesem Engel sprichst?“ Antwort Domenicos: „Nein, Herr“. Frage: „Hast Du es Deiner Mutter gesagt?“ Antwort: „Nein, Herr“. Frage: „Warum hast Du es ihr nicht gesagt?“ Antwort: „Weil es der Meister Patre Gaspare nicht wollte“.⁵²
Die Autorität des Meisters scheint für Domenico einen höheren Stellenwert zu haben als jene seiner Mutter. Domenico soll im Namen der Angeklagten, der Auftraggeber der Angelisierung, u. a. den Ausgang des Krieges gegen „die Türken“ erfragen. Damit gemeint ist der Ausgang der Seeschlacht von Lepanto 1571, aus der das Bündnis der „Heiligen Liga“ von Venedig, Spanien und dem Papst über die Flotte des Osmanischen Reiches als Sieger hervorging.⁵³ Eine weitere Frage
ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 31, 9v. ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 31, 2r. ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 31, 3v. ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, b. 31, 10r–v. Arne Karsten. Geschichte Venedigs (C.H. Beck Wissen), München: C.H.Beck, 2012, 90 f.
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wäre jene nach den Personen, die eine solche Angelisierung in Auftrag geben bzw. an diejenigen, die die erforderlichen Instruktionen erteilen.
5 Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag widmete sich der Rolle des Körpers bei Angelisierungen und fragte danach, ob in dieser Form der Zukunftsprognose ein heterochronotoper Zwischenraum zu sehen sei. Ferner wurde die These aufgestellt, dass die in diesem Zusammenhang notwendige Reinheit des Körpers raum- und zeitentgrenzende Funktionen habe. Frühneuzeitliche Zukunftsdeutungen in Form von Engelsbefragungen, bei denen Kinder oder schwangere Frauen als Medium für die Kommunikation mit einem Engel fungierten, verkörperten eine Form der Zwischenräumlichkeit, die zugleich heterochronotope Eigenschaften aufweist: Der als rein geltende Körper der Kinder bzw. der ungeborenen Kinder schwangerer Frauen weist noch keine starren Begrenzungen auf; als solcher ist er durchlässig und empfänglich für Engelsbotschaften hinsichtlich räumlich und zeitlich noch verborgener Belange, indem er bei dieser zukunftsdeutenden Praktik aus der gegenwärtigen Zeit und dem gegenwärtigen Raum hinausgreift und die RaumZeit zu einer „anderen“ werden lässt. Bei den Angelisierungen liegt in dreifacher Hinsicht ein Zwischenraum vor: Erstens als heterotoper Raum, der zwischen den „normalen“ Räumen besteht, zweitens als ein zwischen den Zeiten changierender Raum, da mit dem Versuch, in die Zukunft zu blicken, aus der normalen, zirkulär wahrgenommenen Zeit herausgetreten wird. Daher könnte man hier einen heterochronotopen Raum erkennen. Möchte man die erforderliche Reinheit als geschlechtliche Voraussetzung annehmen, liegt schließlich drittens ein Zwischenraum als zwischen den Geschlechtern stehend vor. Die These von der Entgrenzung des Raumes konnte insofern bestätigt werden, als es reine Körper waren, die das Hinausgreifen aus den bestehenden Zeit- und Raumstrukturen möglich machten. Auch das Konzept des Zwischenraumes hat sich für die Untersuchung zukunftsdeutender Praktiken wie Angelisierungen eindeutig als brauchbar erwiesen: Zwischenräumliche Strukturen von Körperlichkeit und RaumZeit lassen sich bei der im frühneuzeitlichen Venedig unter dem Begriff Angelisierung weit verbreiteten Form der Divination beobachten, die vielfältig zur Anwendung kamen. Bei diesen Engelsbefragungen war die Körperlichkeit desjenigen, der die Fragen an den Engel stellte und dessen Antworten an den Auftraggeber weitergab, von wesentlicher Bedeutung, musste er doch „rein“ sein, wie es in den Quellen heißt.
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Kulturgeschichtliche Studien zur Kindheit als historisches Phänomen, die in jüngerer Zeit vor allem von Claudia Jarzebowskis Arbeiten⁵⁴ angeregt wurden, können durch die Frage nach der Rolle von Kindern bei zukunftsdeutenden Praktiken wichtige Impulse erfahren. Da auch Kinder in der geschichtswissenschaftlichen Forschung inzwischen als eigenständige Akteurinnen und Akteure wahrgenommen werden⁵⁵, sollte der Blick auf diese Spielart von frühneuzeitlicher Kindheit gerichtet werden, die sich nicht nur in Venedig fand, sondern ebenso anderswo im christlichen Europa und daher vermuten lässt, dass das Phänomen darüber hinaus noch eine weitere geographische Verbreitung erfuhr. In das Forschungsfeld zu Kindheit in der Frühen Neuzeit integriert zu sein, macht Engelsbefragungen anschlussfähig für Fragen zu Kindheit und Jugend in der Vormoderne und holt sie aus der Ecke des Okkult-Magischen sowie der eines unbekannten Randphänomens heraus. Diese Einbeziehung von etwas scheinbar Ungewöhnlichem in andere Forschungsfelder zur vormodernen Geschichte zeigt dann dessen Alltäglichkeit und Verbreitung und kann wichtige Aufschlüsse geben zum Umgang mit Kontingenz in der Frühen Neuzeit.
Quellen- und Literaturverzeichnis Quellen Archivio Storico del Patriarcato di Venezia, Criminalia sanctae inquisitionis, b. 3, Nr. 3. Archivio di Stato di Venezia (ASV), Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, Busta 31 (Prozess gegen Alfonso Ortis und Patre Gaspare Varisco, Venedig, beide 1572). Archivio di Stato di Venezia (ASV), Savi all’Eresia, Sant’Ufficio, Registro 303. ASV, Savi all’Eresia, Sant‘ Ufficio, Busta 63 (Prozess gegen Franceschina, Venedig 1588).
Siehe beispielswiese Claudia Jarzebowski, „Kindheit“. In Enzyklopädie der Neuzeit Online. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachherausgebern herausgegeben von Friedrich Jaeger (06.12. 2018); http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_ edn_a2081000; Claudia Jarzebowski. „mit Weib und Kinderlein wider von der statt nach hauß gezogen.“ Kinder im Dreißigjährigen Krieg. Historische Zeitschrift, Beiheft 68 (2016), 219 – 244; Claudia Jarzebowski. Tangendo. Überlegungen zur frühneuzeitlichen Sinnes- und Emotionengeschichte. In Arndt Brendecke (Hg.). Praktiken der Frühen Neuzeit: Akteure, Handlungen, Artefakte (Frühneuzeit-Impulse 3). Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2015, 391– 404; Claudia Jarzebowski/Thomas M. Safley (Hg.). Childhood and Emotion Across Cultures 1450 – 1800. London/New York: Routledge, 2014; Claudia Jarzebowski. „[…] Er solle sich solches nicht einbilden lassen.“ Kinder unter Hexereiverdacht in Mecklenburg-Schwerin im 17. Jahrhundert. In Wolfgang Behringer/Claudia Opitz-Belakhal (Hg.). Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder (Hexenforschung 15). Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte, 2016, 69 – 86. Jarzebowski, Tangendo, 400.
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Weitere Fälle von Inquisitionsprozessen aus dem Bestand Savi all’Eresia, Sant’Ufficio des ASV: Rocco Loccatello, 1637, b. 94; Appolonia Dandola, 1686, b. 124; Antonio Saldagna, 1579, b. 44; Gramatio Metallo, 1590, b. 66; Angela Mirialdi, 1628, b. 86; Laura Malipiero, 1649, b. 104; Barbara Masa, 1678, b. 120; Giovanni (oder: Giulio) Morosini, 1579, b. 44; Giovanni Battista Rompiascio, 1686, b. 124; Elena Draga, 1571, b. 30. Hartlieb, Johannes. Buch aller verbotenen Kunst. Untersucht und hg. von Dora Ulm. Halle a. d. Saale: Verlag von Max Niemeyer, 1914 [1456]. Claviculae Salomonis Et Theosophia Pneumatica, Das ist/ Die warhafftige Erkänntnüß Gottes/ und seiner sichtigen und unsichtigen Geschöpffen/ Die Heil. Geist-Kunst genannt: Darinnen der gründliche einfältige Weg angezeigt wird/ wie man zu der rechten wahren Erkänntnüß Gottes/ auch aller sichtigen und unsichtigen Geschöpffen/ aller Künsten/ Wissenschafften und Handwercken kommen soll. Wesel, Duisburg, Frankfurt: Andreas Luppius, 1686.
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Autorinnen und Autoren
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Antonio Lucci, Dr. phil., Philosoph und Kulturwissenschaflter an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie assoziiertes Mitglied am Institut für Religionswissenschaft der Freie Universität Berlin. Forschungsinteressen: Askese; Rituale; Biopolitik; Kulturphilosophie; Kulturwissenschaft; Kulturtheorie; Wissensgeschichte; Italian Theory; Publikationen u. a.: True Detective. Eine Philosophie des Negativen, Wien: Turia+Kant, 2021; zusammen mit Jan Knobloch (Hgg.), Gegen das Leben, gegen die Welt, gegen mich selbst. Figuren der Negativität (Heidelberger Forschungen, Band 46), Heidelberg: Winter Verlag 2021; zusammen mit Esther Schomacher und Jan Söffner (Hgg.), Italian Theory, Leipzig: Merve Verlag, 2020; Askese als Beruf. Die Sonderbare Kulturgeschichte der Schmuckeremiten (IFK Lectures & Translations, Band 1), Wien: Turia+Kant, 2019; zusammen mit Thomas Skowronek (Hgg.), Potential regieren. Zur Genealogie des möglichen Menschen, Paderborn: Wilhelm Fink, 2018. Kristin Platt, PD Dr. phil., leitet das Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum und ist Privatdozentin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte betreffen Themen und Methoden der Genozid- und Gewaltforschung; psychische und soziale Traumatisierungsfolgen von Überlebenden politischer Gewalt; Ursachen individueller Aggression und Gewalt; Täterhandeln im Genozid; Kulturtheorie; Zeitkonzeptionen; Zukunftsvorstellungen und Gesellschaftsentwürfe 1900/1945. Jüngste Buchpublikationen: Die Namen der Katastrophe (erscheint 2021); zusammen mit Monika Schmitz-Emans (Hgg.) Poetisch-Politische Imaginationen. Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit, Berlin: De Gruyter, 2021; Fehlfarben der Postmoderne. Weiter-Denken mit Zygmunt Bauman, Hgg, Weilerswist-Metternich: Velbrück Wissenschaft, 2020. Babette Reicherdt, Dr. phil., Historiker:in; Mitglied der Forschungsgruppe “Erfurter RaumZeitForschung”; Forschungsinteressen: Zugehörigkeit und Mobilität in der Frühen Neuzeit; Räume und Räumlichkeit in historischer Perspektive; Geschichte religiöser Lebensformen; Geschlechtergeschichte, Queer History; Publikationen u. a.: Topologien von Gemeinschaft. Die monastische Lebensform der Klarissen um 1500. (SpatioTemporality / RaumZeitlichkeit 13). Berlin: De Gruyter 2022 (in Vorb.); Benedetta Carlini (1590 – 1661) und die Klosterzelle als Pornotopie: Raumproduktion und Sexualität in einem italienischen Nonnenkonvent im frühen 17. Jahrhundert. In Carolin Küppers, Martin Schneider (Hg.). Orte der Begegnung, Orte des Widerstands. Zur Geschichte homosexueller, trans*geschlechtlicher und queerer Räume (Edition Waldschlösschen 17). Berlin: 2018, 27 – 44. Matthias Rekow, Dr. des. phil., Historiker im Sammlungs- und Forschungsverbund Gotha “Natur – Wissenschaft – Geschichte” der Universität Erfurt, Forschungsbibliothek Gotha, sowie Mitglied der Forschungsgruppe “Erfurter RaumZeit-Forschung”; Forschungsinteressen: Frühneuzeitliche Geschichte; Bild- und Flugpublizistik, Reformationsgeschichte, Konfessionalisierung, Wissens- und Wissenschaftsgeschichte – insbesondere der Naturwissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert, Geschichte der Geodäsie und Kartographie; Publikationen u. a.: Physikstunden für den Herzog. Spuren experimenteller Naturforschung in der Residenzstadt Gotha an der Wende zum 19. Jahrhundert. In Gunhild Berg / Martin Mulsow / Julia SchmidtFunke (Hgg.). Das Schloss als Hörsaal. Christian Ludwig Lichtenberg und die residenzstädtische Wissensproduktion um 1800 (Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit), Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2021, 223 – 273; Ein Kabinett für den Herzog? Die Gothaer Sammlung mathematisch-physikalischer Instrumente, zusammen mit Erik Liebscher. In Berg / Mulsow / Schmidt-Funke (Hgg.), Schloss als Hörsaal, 319 – 398; Fliegende Blätter. Die Sammlung der
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Einblattholzschnitte des 15. und 16. Jahrhunderts der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, zusammen mit Bernd Schäfer / Ulrike Eydinger, hg. von der Stiftung Schloss Friedenstein, 2 Bde., Stuttgart: Arnoldsche Art Publishers, 2016. Anna-Katharina Rieger, Dr. phil., Klassische Archäologin an der Karl-Franzens-Universität Graz; Koordinatorin der International Graduate School “Resonant Self-World-Relations in Ancient and Modern Socio-Religious Practices” (Kooperation der Karl-Franzens-Universität Graz und dem Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Universität Erfurt); Mitbegründerin der DFG-Netzwerkforschgruppe zu “Ressourcen der Resilienz” (mit Christopher Schliephake und Andreas Hartmann, Universität Augsburg); Gründungsmitglied der AG Religionarchäologie in der AG “Theorien in der Archäologie”; Forschungsinteressen: Religionsarchäologie; Lived Ancient Religion; Landschaftsarchäologie; Archäologie arider Gebiete; Archäologie mobiler Gruppen; Wirtschaftgeschichte; Raum als Methode; Theorien in der Archäologie; östlicher und zentraler Mittelmeerraum; Publikationen u. a.: Heiligtümer in Ostia. Architektur, Ausstattung und Funktion von Heiligtümern in der römischen Stadt (Studien zur antiken Stadt 8). München: Verlag Dr. Pfeil, 2004; mit Valentino Gasparini, Maik Patzelt, Rubina Raja, Jörg Rüpke, Emiliano R. Urciuoli (hg.). Lived Religion in the Ancient Mediterranean World. Approaching Religious Transformations from Archaeology, History and Classics. Berlin, Boston: De Gruyter, 2020. Sabine Schmolinsky, Prof. Dr. phil., hat nach einem Studium der Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaft/ Soziologie und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München in Deutscher Philologie promoviert und wurde an der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften habilitiert. Seit 2009 ist sie Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Erfurt. Sie ist Mitglied der Forschungsgruppe “Erfurter RaumZeit-Forschung” und beschäftigt sich u. a. mit Konzepten von Zeit und Zukunft und von ‚Mittelalter‘, sowie mit der Kulturgeschichte religiöser Lebensformen und mediävistischer Selbstzeugnisforschung. Zu ihren Publikationen zählen: Raum und Recht. Visualisierung von Rechtsansprüchen in der Vormoderne hg. mit Anette Baumann und Evelien Timpener. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2020. Wer wird das Himmlische Jerusalem erbauen? Interpretationen in der Apokalypsenexegese des Alexander Minorita. In Geschichte vom Ende her denken. Endzeitentwürfe und ihre Historisierung im Mittelalter hg. von Susanne Ehrich und Andrea Worm. Regensburg: Schnell & Steiner, 2019, 147 – 157. Dialogue Situations. Considerations on Self-Identification in the Middle Ages. In Forms of Individuality and Literacy in the Medieval and Early Modern Periods, hg. von Franz-Josef Arlinghaus. Turnhout: Brepols, 2015, 303 – 317. The Production of Future. Chronotope and Agency in the Middle Ages. In Historical Social Research/Historische Sozialforschung 38:3 (2013), 93 – 104, Special Issue: Space/Time Practices and the Production of Space and Time, hg. von Sebastian Dorsch & Susanne Rau. Sich schreiben in der Welt des Mittelalters. Begriffe und Konturen einer mediävistischen Selbstzeugnisforschung. Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler, 2012. Oskar Terš, Germanist an der Universität Greifswald und freiberuflicher Historiker; Forschungsinteressen: Frühneuzeitliche Geschichte; Bestattungstraditionen und Räume des Todes; Thanatourismus; Verwesung, Mumifikation und Mumifizierung des menschlichen Körpers; Theaterpädagogik und ihr Einsatz im Unterricht; Publikationen u. a.: Die Nachtleichen St. Michaels zu Wien. Inszenierter Totenkult in den Straßen der Stadt. In Werner Telesko, Thomas Aigner (Hg.), Sakralisierung der Landschaft. Inbesitznahme, Gestaltung und Verwendung im Zeichen der Ge-
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genreformation in Mitteleuropa (Geschichtliche Beilagen zum St. Pöltner Diözesanarchiv 38). St. Pölten: Diözesanarchiv 2019, 91 – 109; Die Barnabiten von St. Michael in Wien – Die erfolgreiche Rekatholisierung einer Gemeinde. In Jiří M. Havlík – Jarmila Hlaváčková –Karl Kollermann (Hgg.). Monastica Historia, Band 4 Orden und Stadt, Orden und ihre Wohltäter. St. Pölten: Diözesanarchiv St. Pölten–Praha: Historický Ústav Akademie věd ČR, 2019, 285 – 309; Der Bedeutungswandel der Hofpfarrkirche St. Michael für die Wiener Gesellschaft zwischen dem Konzil von Trient und den Josephinischen Reformen. Bulletin der Polnischen Historischen Mission, 2017 (12), 417 – 453. Sylvia Wehren, Dr. phil., Erziehungswissenschaftlerin und Bildungshistorikerin an der Universität Hildesheim; Forschungsinteressen: historische Kinder- und Jugendtagebuchforschung, erziehungs-wissenschaftliche Körperforschung, Geschichte und Systematik von Erziehungsund Bildungstheorie, (post‐)digitale Medienbildung, Trans- und Posthumanismus in Theorie und Praxis; Publikationen u. a.: Erziehung – Körper – Entkörperung. Forschungen zur pädagogischen Theorieentwicklung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag, 2020; zusammen mit Britta Hoffarth und Susanne Richter: Digital Masculinities. YouTube, Ästhetik und männliche Körper. In Apelt, Friederike; Grabow, Jördis; Suhrke, Lisbeth (Hg.). Buzzword Digitalisierung. Relevanz von Geschlecht und Vielfalt in digitalen Gesellschaften (L’AGENda, Bd. 11). Opladen, Berlin, Toronto: Barbara Budrich, 2021, 109 – 134. Katja Weidner, Ass.-Prof. Dr. phil., Mittellateinische Philologin und Literaturwissenschaftlerin an der Universität Wien; Forschungsinteressen: Lateinische Literatur des Mittelalters; Jenseitserzählungen; Mittellateinische Erzählliteratur und Roman; Kulturwissenschaftliche Narratologie; Mediävistische Komparatistik; Publikationen u. a.: Navigatio sancti Brendani | Seereise des heiligen Brendan (Fontes Christiani 94). Freiburg i. Brsg. / Basel: Herder, 2022; Erzählen im Zwischenraum. Narratologische Konfigurationen immanenter Jenseitsräume im 12. Jahrhundert (Quellen und Forschungen 99 (333)). Berlin/Boston: deGruyter, 2020; Has fabellas decet igni tradere. Die Buchverbrennung als Rezeptionsreflex der Navigatio S. Brendani. In Christine Ratkowitsch (Hg.) Medialatinitas. Ausgewählte Beiträge zum 8. Internationalen Mittellateinerkongress (Wiener Studien, Beihefte 40). Wien 2020, 137 – 168; Das Warten des Iohannes parvulus. Eine Parodie eremitischer Selbstermächtigung. In Isabelle Oberle / Dennis Pulina (Hgg.). Heldenhaftes Warten in der Literatur, Freiburg im Breisgau 2020, 93 – 117.