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German Pages 242 [246] Year 1999
Die Ideenlandschaft der frühen Bundesrepublik zeigt ein doppeltes Gesicht. Als begriffliche Pole gegenwartsdiagnostischer und die Vergangenheit oder Zukunft thematisierender Erörterungen fungierten .Abendland' und .Amerika'. Die Berufung auf das Abendland erfüllte in geradezu Idealer Welse zentrale Anforderungen jener Zeit. Nationalistische Ressentiments wurden an den Rand gedrängt, und unter christlichem Banner gewann die .antibolschewistische' Option für den Westen auch in konservativen Kreisen breite Unterstützung. .Amerika' stand als Symbol für die erhoffte oder befürchtete Zukunft als Folge der rasanten zivilisatorischen Modernisierung. Zeittypische Züge der vornehmlich bildungsbürgerlich geprägten Diskurse der 50er Jahre werden In Fallstudien über die .Abendländische Akademie', die kulturellen Rundfunknachtprogramme des nordwestdeutschen Rundfunks, die Tagungen kirchlicher Akademien und die Vortragsprogramme von Amerika-Häusern differenziert dargestellt.
Axel Schildt
[BEI im
Schildt Zwischen Abendland und Amerika •
Ordnungssysteme Studien zur
Ideengeschichte der Neuzeit
r Herausgegeben von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Band 4
R.Oldenbourg Verlag München 1999
Axel Schildt
Zwischen Abendland und Amerika Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre
R.Oldenbourg Verlag München 1999
Als Teil der Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs Geschichtswissenschaft der Universität Hamburg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Die Deutsche Bibliothek
CIP-Einheitsaufnahme -
Schildt, Axel: Zwischen Abendland und Amerika : Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre / von Axel Schildt. München : Oldenbourg, 1999 (Ordnungssysteme ; Bd. 4) Zugl. Teildr. von: Hamburg, Univ., Habil.-Schr., 1992 ISBN 3-486-56344-0 -
© 1999 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D 81671 München Internet: http://www.oldenbourg.de -
Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen. Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Roman Clemens Spiel aus Form, Farbe, Licht und Ton. Dessau, Bauhaus, 1929. © Theatermuseum Köln Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht) Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München
Umschlagbild:
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ISBN 3-486-56344-0
Inhalt Einleitung
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1. Die Rettung des christlichen Abendlandes „Neues Abendland" und „Abendländische Akademie". 1.1 Das „christliche Abendland" Konjunkturen einer modernen -
Ideologie. -
1.2 Vom „Neuen Abendland" zur „Abendländischen Akademie"... 1.3 Gründung und Blütezeit der „Abendländischen Akademie"
(1952-1955)
.
1
21 24 39 56
1.4 Der Niedergang von „Neuem Abendland" und „Abendländischer Akademie".
68
2. Elitäre Diskurse zur Nachtzeit „Zeitgeist"-Tendenzen im Nachtprogramm und im Dritten Programm des Nordwestdeutschen und Norddeutschen Rundfunks.
83
3. Antworten auf die „Säkularisierung" zu Tagungen kirchlicher Akademien. 3.1 Die Evangelische Akademie Hermannsburg-Loccum. 3.2 Die Katholisch-soziale Akademie Franz-Hitze-Haus Münster
111 120 150
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-
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.
4. Die USA als Kulturnation
zu
den
Vortragsprogrammen der
Amerika-Häuser.
167
Ausblick.
197
Quellen und Literatur.
201
Abkürzungen.
235
Personenregister.
237
-
Vorwort Die hier vorgelegten Studien über die Ideenlandschaft der 50er Jahre sind im Rahmen des Projekts .„Modernisierung' und .Modernität' in der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre" (gefördert von der Stiftung Volkswagenwerk 1987-1990) entstanden und in meine am Fachbereich Geschichtswissenschaft der Universität Hamburg 1992 angenommene Habilitationsschrift eingegangen; deren größter Teil erschien als Buch unter dem Titel „Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und .Zeitgeist' in der Bundesrepublik der 50er Jahre"
(Hamburg 1995). Einige Fallstudien, die sich für eine separate Veröffentlichung eigneten und den Umfang jenes Buches vollends gesprengt hätten, bilden nun den Kern des vorliegenden Textes. Lediglich das erste Kapitel ist ausgehend von einigen Passagen der Habilitationsschrift beträchtlich ausgebaut worden. Dieser Hinweis auf den Entstehungszusammenhang ist notwendig zum Ver-
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ständnis von zwei Punkten. Zum ersten: Als ich seinerzeit mit der Arbeit an dem Projekt über die 50er Jahre begann, existierte zu vielen der angesprochenen Themen überhaupt noch keine zeitgeschichtliche Forschung. Mittlerweile ist sie in Gang gekommen, die Spezialliteratur wächst allmählich an. ich habe mich entsprechend bemüht, die seither erschienenen Arbeiten zumindest annotierend einzubeziehen. Zum zweiten: Für den Hintergrund der Fallstudien ist auf das erwähnte Buch „Moderne Zeiten" zu verweisen, auch hinsichtlich der ideengeschichtlichen Literatur über die 50er Jahre. Der Entstehungszusammenhang ist auch wichtig für den Dank, den ich für vielfältige Unterstützung abstatten möchte. Denjenigen, die ich im Vorwort von „Moderne Zeiten" nannte, sei noch einmal herzlich gedankt, allen voran Prof. Dr. Arnold Sywottek für seine Anregungen. Darüberhinaus gilt mein Dank den Leitern und Mitarbeitern der Institutionen, die Archivalien für die vorliegenden Fallstudien zur Verfügung stellten und zu ausführlichen Gesprächen bereit waren, namentlich Dr. Albrecht Beckel (t) von der Katholisch-Sozialen Akademie Münster und Dr. Jörg Calließ von der Evangelischen Akademie Loccum sowie Dr. Joachim Drengberg vom Norddeutschen Rundfunk in Hamburg. Mein herzlicher Dank gilt auch Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel für die interessanten Diskussionen im Rahmen der
Würzburger Workshops des von ihm geleiteten Projekts zur ,westernization' der Bundesrepublik. Dort entstand die Idee, das Manuskript in der von ihm mitherausgegebenen Reihe „Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit" zu veröffentlichen. Ihm wie den anderen Herausgebern, Prof. Dr. Dietrich Beyrau und Prof. Dr. Lutz Raphael, habe ich auch für die kritische Durchsicht des Manuskripts zu danken. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat durch einen Zuschuß dessen Drucklegung dankenswerterweise ermöglicht. Axel Schildt
Hamburg im Mai
1998
Einleitung Daß es lohnend sein könnte, die Bundesrepublik der 50er1) Jahre auch ideengeschichtlich zu untersuchen, spricht sich erst allmählich herum. Ein zählebiges Klischee ließ für diese Zeit lange eine mechanische Kausalität von wirtschaftlichem Wiederaufbau und purem Mammonismus im Denken der Menschen assoziieren. Dies ließ eine genauere Untersuchung der Ideenlandschaft überflüssig erscheinen. In Margarethe von Trotthas Film „Fürchten und Lieben" (1988), einer modernen Version von Anton Tschechows Novelle „Die drei Schwestern", bringt eine Protagonistin dieses Klischee voller Ekel auf den Punkt: „Alles dreht sich um Geld und Erfolg wie in den 50er Jahren". Auf der Rückseite dieser Schablone fungieren kleine isolierte Grüppchen nonkonformistischer Intellektueller und machtloser Dichter, die verzweifelt und hilflos gegen die Macht des Geldes und den politischen Betrieb des Bonner „Treibhauses" (Wolfgang Koeppen) opponierten; eine Sicht der Dinge, die bestärkt wird durch heiter illustrierte nostalgische und mitunter gutmütig satirische Verklärungen dieser Zeit als einer Epoche harmonischer Konsensfindung und fraglos akzeptierter traditioneller Wertvorstellungen in populären publizistischen
Erzeugnissen. Die Vorstellungen einer Schlachtanordnung von geistloser Macht und machtlosem Geist oder aber, je nach Werturteil, der ruhigen Fahrt des Staatsschiffes, begleitet von wenig belangvoller Intellektuellenkritik, jeweils zurückzuführen auf lange Traditionen der Gesellschaftsbetrachtung, unterschätzen die Bedeutung und verzeichnen die komplexe Struktur der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Als Gegenthese ließe sich sogar pointiert behaupten, daß es wohl nie zuvor in der deutschen Geschichte eine derart breite und massenmedial vermittelte gesellschafts- und kulturdiagnostische Diskussion als Dauerzustand gegeben hatte. Auch wenn es sich dabei im Kern noch um bildungsbürgerliche Selbstvergewisserung mit den ihr inhärenten deutschen Traditionen handelte: In den 50er Jahren lag der Beginn der heute exi-
stierenden „informierten Gesellschaft". Das allmählich sichtbar werdende Interesse an der Ideenlandschaft der 50er Jahre steht im engen Zusammenhang mit der zunehmenden zeitgeschichtlichen Hinwendung zur Geschichte der Nachkriegszeit insgesamt und über die Schwelle des Besatzungs-Kondominiums 1945/49 hinweg, und es kann sich nur mit der Historisierung der formativen Phase des westdeutschen Staates weiterentwickeln. Die Bedingungen dafür sind herangereift, seit sich die ForIm Unterschied zu allen anderen Dezennien (1920er, 1930er, 1960er Jahre usw.) spreche von den „50er Jahren" als eingeführter vereinfachender Bezeichnung, mit der gleichzeitig die Bedeutung von chronologischer Einheit und darüber hinausgehender sozialkultureller
')
ich
Bestimmung berücksichtigt wird.
2
schung
Einleitung zur
Frühgeschichte
der
Bundesrepublik
in den letzten Jahren intensi-
viert, inhaltlich differenziert und methodisch verfeinert hat2). Festgefügte und
politisch induzierte Geschichtsbilder und Lehrmeinungen sind dabei ins Wanken geraten, wie im folgenden sehr knapp skizziert werden soll, um den Rahmen für die Analyse der ideengeschichtlichen Entwicklung in den 50er Jahren abzustecken3). I.
Lange Zeit beherrschten gegensätzliche Stilisierungen eines ungebrochenen totalen Neuanfangs nach 1945 auf der einen und eines bald danach beginnenden restaurativen Prozesses auf der anderen Seite die Meinungsfronten. Allerdings sind einige Argumente für diese beiden Sichtweisen nicht abzuweisen. Festzuhalten bleibt, daß mit dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945, den wirtschafts- und ordnungspolitischen Entscheidungen der Jahre 1948/1949, der Währungsreform, dem Marshall-Plan und der Gründung der Bundesrepublik sowie ihrer folgenden westeuropäischen und transatlantischen ökonomischen und politisch-militärischen Integration langfristig ein umfassender gesellschaftlicher Neuanfang und eine über Jahrzehnte dauernde friedliche, von ungewohnten Wohlstandserfahrungen breiter Bevölkerungsschichten begleitete Erfolgsgeschichte des westdeutschen Teilstaates ermöglicht wurde, an die zu ihrem Beginn kaum jemand zu hoffen gewagt hätte4).
2) Vgl. Überblicksdarstellungen und Diskussionsbeiträge von Hans Günter Hockerts, Einführung zur Sektion „Die Bundesrepublik Deutschland im Umbruch 1955-1965", in: Bericht über die 37. Versammlung deutscher Historiker in Bamberg vom 12.-16. Oktober 1988, Stuttgart 1990; Martin Broszat (Hg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990; Anselm Doering-Manteuffel, Deutsche Zeitgeschichte nach 1945, in: VfZ, Jg. 41, 1993, S. 1-29; ders. (Hg.), Adenauerzeit. Stand, Perspektiven und methodische Aufgaben der Zeitgeschichtsforschung (1945-1967), Bonn 1993; Paul Erker, Zeitgeschichte als Sozialgeschichte, in: GG, Jg. 19, 1993, S. 206-238; Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte: Begriff, Methoden, Themenfelder, in: apuz, B 29-30, 1993, S. 3-19; Axel Schildt, Nachkriegszeit. Möglichkeiten und Probleme einer Periodisierung der westdeutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Einordnung in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: GWU, Jg. 44, 1993, S. 567-584. 3) Die hier vorgelegten Fallstudien entstanden im
Zusammenhang eines von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsprojekts „.Modernität' und .Modernisierung' in der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre", das am Historischen Seminar der Universität Hamburg unter Leitung von Prof. Arnold Sywottek durchgeführt wurde (1987-1990); vgl. Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und .Zeitgeist' in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995; dort auch zusätzliche Hinweise zur zeitgenössischen und Forschungsliteratur. 4) Aus der vorzugsweise zu Jubiläumsanlässen erschienenen Literatur über die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik vgl. Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hg.), Die zweite
3
Einleitung
Auch die in den 1970er Jahren lauter vertretenen Argumente für restaurative Tendenzen in der Frühphase der Bundesrepublik behalten einen Teil ihrer Gültigkeit. Wer wollte bestreiten, daß viele Hoffnungen zumal kleiner intellektueller Zirkel auf einen vollständigen Neuanfang in der Rasanz des Wiederaufbaus zerstoben, daß sich eine Patina von Alltäglichkeit über die existenziell empfundenen Diskussionen der Nachkriegszeit zu legen begann, mit der Normalisierung des gesellschaftlichen Lebens auch der traditionelle Gegensatz von Geist und Macht revitalisiert wurde? In der gehobenen Belletristik der 50er Jahre wurde dem ebenso Ausdruck verliehen, wie in kritischen Feuilletons die leibhaftige Rückkehr des „Hindenburg-Deutschen" (Eugen Kogon), z.B. im diplomatischen Korps des Auswärtigen Amtes, kritisch beleuchtet -
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wurde5). Vermittlungsversuche zwischen den beiden konträren Sichtweisen auf die Geschichte der Bundesrepublik gab es lange Zeit kaum. Man kann dies als ein Zeichen dafür deuten, daß sie zur Konstellation von Kaltem Krieg und Systemgegensatz zwischen Ost und West gehörten. Platte Legitimation ebenso wie krampfhafte Delegitimation des westdeutschen Staates und seiner Gesellschaft auf dem symbolischen Kampfplatz der Geschichte erfuhren allerdings bereits vor dem endgültigen Auslaufen der dahinter stehenden politischen Konstellation durch die deutsche Einigung nachhaltige Verunsicherungen. Seit den 1980er Jahren begann in breitem Ausmaß die Historisierung der bundesrepublikanischen Entwicklung, die das alte Gegensatzpaar Neuanfang-Restauration zunehmend als obsolet erscheinen ließ. Zum einen wurde gegen den Mythos des Neubeginns die sozialgeschichtliche Kontinuität betont, auf der trotz aller
Brüche die westdeutsche Geschichte basierte. Diese Kontinuität war gar nicht oder nur am Rande als eine Kontinuität der Eliten gefaßt, sondern wird als über das Fortleben von Milieus vermittelte Kontinuität als „Vblkskontinuität"6) -
begriffen.
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Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland Eine Bilanz, Stuttgart 1974; Walter Scheel (Hg.), Nach dreißig Jahren Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1979. 5) Die Kritik der „Restauration" war im übrigen keine ausschließlich linke Angelegenheit. Zum einen richteten sich die Artikel in den Frankfurter Heften, wo diese Begrifflichkeit am stärksten bemüht wurde, an erster Stelle gegen die Arbeiterparteien, die ihre Organisations-
...
strukturen
der Weimarer Zeit restauriert und den Weg zu einer neuen Politik nicht freizum anderen wurde von konservativ-protestantischer wie -katholischer Seite bisweilen auch die ausgebliebene umfassende Rechristianisierung und das als zu weltlich empfundene Grundgesetz der Bundesrepublik als Restauration angesehen (s. dazu Kaaus
gegeben hätten,
pitel 1). 6) Lutz Niethammer, Einleitung, in: ders. (Hg.), „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll". Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet (Lebensgeschichte und Sozialkultur, Bd. I), Berlin/Bonn 1983, S. 8; und insgesamt das LUSIR-Projekt der Gruppe um Lutz Niethammer (Hg.), Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960, 3 Bde., Berlin/Bonn 1983/85; vgl. auch den Sammelband von Werner Conze/M. Rainer
4
Einleitung
Zum anderen wurde die seit den 1970er Jahren geläufige diffuse Redeweise der „Restauration" mit der Frage konfrontiert, was denn nun restauriert worden sei, die Gesellschaft der 1920er Jahre, 1930er Jahre oder der Kapitalismus allgemein; und sollte der Begriff primär auf ökonomische, politische oder kulturelle Entwicklungen bezogen werden oder eine allgemeine Stimmungsvon
lage treffen?7) Daß die Restaurationsbegrifflichkeit der frühen Bundesrepublik nicht gerecht wurde, betonte Anfang der 1980er Jahre dezidiert Hans-Peter Schwarz; er schlug vor, stattdessen künftig „die in jeder Hinsicht aufregenden und interessanten gesellschaftlichen Wandlungsvorgänge in den fünfziger Jahren"8) in den Blick zu nehmen, „eine Periode aufregender Modernisierung9)" zu entdekken. Damit wurde ein Weg gewiesen, der es ermöglichte, die beispiellose wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung sowie den sozialen und kulturellen Wandel der westdeutschen Gesellschaft theoretisch anspruchsvoll zu interpretieren. Bei einigen der Zeithistoriker, die sich dabei des Modernisierungs-Paradigmas bedienten, mag auch die Intention eine Rolle gepielt haben eine volkspädagogisch bereits verankerte success story von der Legende zur Wissenschaft zu -
führen. In der Diskussion wurde allerdings wiederholt gefordert, über den modernisierenden Elementen in der westdeutschen Gesellschaft der 1950er Jahre nicht die Gegentendenzen zu ignorieren, die zuvor nur unzulänglich im Schlagwort der ,Restauration' hervorgehoben worden waren. Die Kennzeichnung der Frühgeschichte der Bundesrepublik als „Modernisierung unter konservativen Auspizien' "l0) war diesbezüglich ein erster Versuch, den Gegensatz von politischem Konservatismus (auch wenn diese Charakterisierung für die Adenauer-Regierungen problematisch ist) und technisch-wirtschaftlicher Modernisierung als Grundkonstante der neueren deutschen Geschichte der letzten wenigstens hundert Jahre begrifflich zu erfassen: Bereits im „autoritären Nationalstaat" des Kaiserreichs hatte es ein charakteristisches Miteinander von repressiver Politik, kulturpessimistischen Stimmungen sowie bürgerlich-wilhelminischer Fort-
Lepsius (Hg.). Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983; als Zwischenbilanz eines Verbundprojekts des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte in Münster zuletzt Matthias Frese/Michael Prinz (Hg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996. 7) Für Einzelnachweise zur Restaurationsbegrifflichkeit in der zeitgeschichtlichen Literatur vgl. die Einleitung in Schildt, Moderne Zeiten. 8) Hans-Peter Schwarz, Geschichtsschreibung und politisches Selbstverständnis. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Herausforderung für die Forschung, in: apuz, B 36/1982, S. 3-16 (Zitat: S. 6). 9) Ders., Die Ära Adenauer. Bd. I: Gründerjahre der Republik. 1949-1957, Stuttgart/Wiesbaden 1981, S. 382. 10) Christoph Kleßmann, Ein stolzes Schiff und krächzende Möwen. Die Geschichte der Bundesrepublik und ihre Kritiker, in: GG, Jg. 11, 1985. S. 476-494 (Zitat: S. 485). -
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Einleitung
schrittsgläubigkeit mit „nahezu unbegrenztem Vertrauen in die moderne Wissenschaft"1 ') gegeben. Auch den Lebensreform-Bestrebungen der Jahrhundertwende12) Ausgangspunkt zahlreicher sozialkultureller Entwicklungslinien des 20. Jahrhunderts13) war der Widerspruch von utopisch-technischem, z.B. eugenisch geprägtem Zukunftsoptimismus und irrationaler Rückwärtsgewandt-
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heit bis hin zur Germanenschwärmerei eigen14). Für die Gesellschaft der Weimarer Republik kann z.B. in den intensiven Debatten um die Rationalisierung (Stichworte: .Taylorisierung' und ,Fordismus') der Volkswirtschaft ein über alle politischen Lager hinwegreichender Konsens über die Notwendigkeit technischer Modernisierung konstatiert werden15). Hintergrund war die durch den Ersten Weltkrieg gefestigte Erfahrung, daß eine Chance für die Wiederherstellung deutscher Weltgeltung angesichts der überlegenen Rohstoff-Ressourcen anderer Großmächte allein in der wissenschaftlich-technischen Spitzenstellung in industriellen Schlüsselbranchen lag eine Erfahrung, auf der etwa die langfristigen militärischen Planungen seit den 1920er Jahren basierten. Für romantische Technikfeindschaft war auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums wenig Platz, eher bestimmten die Denkmuster des „reactionary modernism"16), also eine Kombination von Romantizismus und Technikbegeisterung, die Szene. Der deutschnationale -
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") Wolfgang J. Mommsen, Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde. Kultur und Politik im deutschen Kaiserreich 1870/1918, Frankfurt/Berlin 1994, S. 16; vgl. Gangolf Hübinger/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Intellektuelle im Kaiserreich, Frankfurt/M. 1993; Hermann Glaser, Bildungsbürgertum und Nationalismus. Politik und Kultur im Wilhelminischen Deutschland, Frankfurt/M. 1993; zuletzt Volker Drehsen/Walter Spam (Hg.), Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996. i2) Für einen ersten Überblick vgl. Corona Hepp, Avantgarde: Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. München 21992. 13) Vgl. den konzeptionellen Ansatz von August Nitschke u.a. (Hg.), Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930, Reinbek 1990; für die Architekturgeschichte Werner Durth, Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900-1970. Braunschweig/Wiesbaden 1986. 14) Aus der zeitgenössischen Literatur ist das letzte Kapitel von Theobald Ziegler, Die geistigen und socialen Strömungen des Neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 21901, zu empfehlen; in der Geschichtswissenschaft von der Einfühlsamkeit her unübertroffen ist die Studie von Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, München 1994 (Taschenbuch-Ausgabe); für die völkische Unterströmung vgl. neuerdings als breit angelegten Überblick Uwe Puschner u.a. (Hg.), Handbuch zur „Völkischen" Bewegung 1871-1918, München u.a. 1996. 15) Vgl. Detlev J.K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 111 ff; vgl. auch einige der Fallstudien in den beiden Sammelbänden: Manfred Gangl/Gérard Raulet (Hg), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, Frankfurt/M. u.a. 1994; Wolfgang Bialas/ Georg G. Iggers (Hg.), Intellektuelle in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. u.a. 1996. 16) Jeffrey Herf. Reactionary modernism. Technology, culture and politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge 1984.
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Einleitung
Medien-Tycoon Alfred Hugenberg mag in diesem Sinn als Symbolfigur eines radikalen konservativen Modernisierers gelten, der nach Übernahme des UfaFilmkonzerns (1927) sogar die Chance begriff, mit dem Instrument des gerade
aufgekommenen Tonfilms den Glanz vergangener Epochen vom „Flötenkonfür ideologische Zwecke zert von Sanssouci" bis zu „Der Kongreß tanzt" unterhaltsam und wirkungsvoll in Szene zu setzen17). Ein schwieriger Sonderfall, der seit Jahren zu immer neuen Diskussionsbeiträgen geführt hat, ist die Bewertung „moderner" Elemente in Politik, Wirt-
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schaft und Gesellschaft des „Dritten Reiches". Die hektische Konzentration aller wirtschaftlichen Kräfte auf die Lösung der Rüstungsprobleme, auf die Totalmobilmachung der „Volksgemeinschaft" für den Krieg, führte seit den 1930er Jahren in einigen wirtschaftlich und gesellschaftlich strategisch wichtigen Teilgebieten zur Forcierung kurzfristiger Rationalisierungs- und Effektivierungsstrategien. Der „subjektive Faktor" wurde dabei bis hin zur geschickten Vereinnahmung der neuesten Massenmedien, des Hörfunks und des Kinofilms, in zuvor nicht gekanntem Ausmaß einbezogen18). Verbunden war diese Kraftanstrengung allerdings mit dem Raubbau an der volkswirtschaftlichen Infrastruktur, bedenkenloser Staatsverschuldung, der finanziellen Austrocknung des Bildungswesens und der Wissenschaft sowie der Zerstörung rechtsstaatlicher Möglichkeiten und legaler öffentlicher Korrektive gegen den Katastrophenkurs der NS-Diktatur. Ob diesem in erster Linie zerstörerisch und selbstzerstörisch angelegten und außerdem für die sozialhistorische Prüfung langfristiger Trends zu kurz dauernden Regime eigenständige Modernisierungsimpulse zugemessen werden können, scheint danach zumindest zweifelhaft19). Auf der Ebene der Ideologie kann man eher davon ausgehen, daß im „Dritten Reich" Denkweisen, die sich für die Zwecke des Regimes funktionalisieren ließen, weiter existierten, z.T. in radikalisierter Form. So wirkte z.B. das Gegensatzpaar von extremer technischer Fortschrittsgläubigkeit und antiemanzipatorischen Zielen als ideologisches Element in der gelenkten Öffentlichkeit des „Dritten Reiches" extrem gesteigert fort20). Der Widerspruch der Affirmation technisch-industrieller Entwicklung bei gleichzeitiger Ablehnung ihrer sozialkulturellen Folgewirkungen war also
17) Vgl. Axel Schildt, Hugenberg ante portas. Rationalisierung mit nationalem Besen, in: Hans-Michael Bock/Michael Töteberg (Hg.), Das Ufa-Buch. Kunst und Krisen. Stars und Regisseure. Wirtschaft und Politik, Frankfurt/M. 1992, S. 190-195. 18) Vgl. als Überblick Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt im Faschismus. München 21992. 19) Aus der anhaltenden Diskussion vgl. u. a. Norbert Frei. Wie modern war der Nationalsozialismus?, in: GG, Jg. 19, 1993, S. 367-387; Axel Schildt, NS-Regime, Modernisierung und Moderne. Anmerkungen zur Hochkonjunktur einer andauernden Diskussion, in: Tel Aviver Jahrbuch, Jg. 23, 1994, S. 1-23. 20) Dies zeigte sich nicht zuletzt an der zwiespältigen Stellung zu „Amerika" als gleichzeitigem Symbol von Moderne und Demokratie; vgl. dazu neuerdings Philipp Gassert, Amerika im Dritten Reich. Ideologie, Propaganda und Volksmeinung 1933-1945, Stuttgart 1997.
Einleitung
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politisch-kulturelle Erscheinung der Nachkriegsgeschichte. Daß sie überhaupt als solche erscheinen mochte, lag u.U. an der kurzen Konjunktur von existenziell gestimmter Kulturbetrachtung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die bis in die frühen 50er Jahre hineinragte und ihrerseits auf Traditionen der späten 1920er und 1930er Jahre zurückgriff. Zentrale Stichworte keine
neue
finden sich z.B. in dem 1931 erschienenen berühmten Jubiläumsband (Band 1000) der Sammlung Göschen aus der Feder von Karl Jaspers21). In seinen Betrachtungen zur „geistigen Situation der Zeit" thematisierte er das „Massendasein und seine Bedingungen", „das Bewußtsein im Zeitalter der Technik" und die „Herrschaft des Apparats" in Wendungen, die offenbar nach 1945 durch die zwischenzeitlichen Erfahrungen von Intellektuellen mit dem NS-Regime und dem Weltkrieg an Überzeugungskraft noch gewonnen hatten22). Die Hegemonie düsterer Gegenwartsbetrachtung, die allerdings auch vorhandene kräftige Impulse zum Neuanfang überdeckte23), wich schon bald im Zuge des einsetzenden „Wiederaufbaus". Massenwohnungsbau, prosperierende Industrie, steigende Einkommen und neuartige Konsummöglichkeiten führten nicht nur zur Rekonstruktion vorheriger „Normalität", sondern trugen bereits die Keime eines gesellschaftlichen Strukturwandels in sich. Die Kurzformel „Modernisierung im Wiederaufbau" bietet als zusammenfassende Begrifflichkeit die Möglichkeit, Fragestellungen zu bilden, die der detaillierten Analyse der jeweiligen Gemengelagen und Charakteristika von Kontinuitäten und Neuerungen dienen24). Zunehmend wird dabei auch das Verhältnis von endogenen und exogenen Modernisierungsimpulsen einbezogen, wie sie für die 50er und 1960er Jahre unter den Stichworten „Amerikanisierung" und „Verwestlichung" und für die ideengeschichtliche Ebene mit der Begrifflichkeit der „Westernization" diskutiert werden25). Und schließlich beginnt in komparatistischer Perspektive
21) Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Leipzig 1931 (41932). 22) Eine intellectual history, die die Wendung vom radikalen Aktivismus zum elegischen Kulturpessimismus und über diesen wieder hinaus als Entwicklungsfigur von deutschen und nicht nur deutschen Intellektuellen über die Katastrophen des 20. Jahrhunderts berücksichtigen würde, gibt es bislang nur in ersten Ansätzen. Biographische Studien zu August Winnig, den Brüdern Ernst und Friedrich Georg Jünger, Hendrik de Man, Hans Zehrer und vielen anderen böten sich an; vgl. zu Friedrich Sieburg einige Hinweise in der germani-
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stischen Dissertation von Tilman Krause, Mit Frankreich gegen das deutsche Sonderbewußtsein. Friedrich Sieburgs Wege und Wandlungen in diesem Jahrhundert, Berlin 1993: auch zu diesem in der NS-Zeit und in der Bundesrepublik ebenso einflußreichen wie anregenden Publizisten steht eine geschichtswissenschaftlichen Kriterien genügende Biographie aus.
Zum kulturellen Frühling nach Kriegsende vgl. zuletzt Hermann Glaser u. a. (Hg.), So Anfang war nie. Deutsche Städte 1945-1949, Berlin 1989. 24) Vgl. als darauf bezogenen Sammelband Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993. 25) Hinzuweisen ist auf das Tübinger Projekt .„Westernization'. Forschungen zur politischideellen Entwicklung der westdeutschen Gesellschaft in den 50er und 60er Jahren" unter Leitung von Anselm Doering-Manteuffel; vgl. als Überblick ders., Dimensionen von Ame-
23)
viel
s
Einleitung
Entwicklung in der DDR26) als auch die westeuropäische Entwicklung insgesamt in den Blick genommen zu werden, nachdem zeitgenössische sowohl die
Beobachter schon Ende der 50er Jahre, von ähnlichen sozialkulturellen Entwicklungen in Westeuropa ausgehend, eine neuartige „Soziologie der Prosperität" imaginierten27).
II. Mit einer solchen Historisierung der westdeutschen Nachkriegsgeschichte erweiterte sich zum einen sukzessive der Untersuchungszeitraum zunächst auf die frühen 50er Jahre, dann auf das gesamte formative Jahrzehnt der Bundesrepublik und mittlerweile zunehmend auf die 1960er Jahre; zum anderen verbreiterte sich gleichzeitig das Themenspektrum. Nach der Geschichte der Politik in ihren klassischen Feldern kamen die Wirtschaft (weniger die Technik), dann soziale Strukturen und Milieus, schließlich die Sozialkultur im Alltag in den Blick, und ganz zuletzt wurden auch geistige und ideologische Strömungen entdeckt. Dieser fünfte Kontinent der Ideen wird gerade vermessen. Nur wenige Forscher und Forscherteams sind bislang mit unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden unterwegs, um erste Fixpunkte auf der Karte der westdeutschen Ideenlandschaft einzutragen. Notwendig sind aber noch eine Fülle von Einzelstudien, die auch in ihrer Verknüpfung in den nächsten Jahren viele Entdeckungen erwarten lassen. Um einen Eindruck vom vorläufigen Stand der Arbeit in diesem Themenfeld zu geben, sollen im folgenden einige Bereiche benannt werden, deren Kenntnis der zeitgeschichtlichen Analyse von Ideen und ihren Zusammenhängen erst nötigen Halt verleihen, über die aber noch sehr wenige Informationen vorliegen: Zahlreiche Foren, auf denen debattiert wurde, sind heute, zumindest hinsichtlich ihrer einstigen Bedeutung, vergessen und historiographisch nicht er-
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rikanisierung in der deutschen Gesellschaft, in: AfS, Bd. 35, 1995, S. 1-34; außerdem auf die dort abgefaßten Studien von Michael Hochgeschwender, Freiheit in der Offensive? Der Kongreß für kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998; Thomas Sauer, Westorientierung im deutschen Protestantismus. Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises, München 1998; Gudrun Kruip, Das „Welt"-„Bild" des Axel Springer Verlages. München 1998 (Bd. 1-3 der Reihe Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit. Hg. von Dietrich Beyrau, Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael). 26) Vgl. Jürgen Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993. Ernest Zahn, Soziologie der Prosperität. Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen des Wohlstandes, Köln/Berlin 1960; vgl. Axel Schildt, Sozialkulturelle Aspekte der westeuropäischen Integration in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten. Überlegungen zu einem geschichtswissenschaftlichen Forschungsfeld, in: Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. Kulturwissenschaftliches Institut. Jb. 1994, Essen 1995, S. 131-144.
27)
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faßt. Dies gilt z. B. für die Popularisierung schöner Literatur und wissenschaftlicher Diskussionen durch Taschenbuch-Reihen. Weder das Programm von „rowohlts deutscher enzyklopädie" (rde) in dessen Beirat versammelte sich unter der Herausgeberschaft des sich als Humanist bezeichnenden Ernesto Grassi eine Crème der europäischen und amerikanischen Intelligenz28) -, das mit seinem breiten wissenschaftlichen Spektrum eine wohl nicht unbeträchtliche geistige Wirkung entfaltete, noch die später auf schnelle politische Intervention hin konzipierte und bereits das Ende der Ära Adenauer begleitende „rororo aktuell"-Reihe sind bisher eingehend analysiert worden. Der gleiche Befund ergibt sich für die wissenschaftlich-kulturellen Reihen anderer großer Verlage (Fischer, List, Piper, Ullstein), von kleineren Häusern ganz zu schweigen. Und was auf die Taschenbuch-Reihen zutrifft, gilt ebenso für das sonstige Verlagsprofil auch großer Häuser. Zu verweisen wäre etwa auf den Verlag Eugen Diederichs, der Anfang der 50er Jahre mit Autoren wie Ferdinand Fried oder Giselher Wirsing an die jugendbewegten und konservativ-revolutionären Traditionen des Hauses seit der Jahrhundertwende anknüpfte29). Nicht erforscht ist das Programm des Düsseldorfer Econ-Verlags, einer für Übersetzungen populärer wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Literatur aus den USA zentralen Agentur30). Auch die interessante Frage, welche geistige Melange über Sammelbände des Bertelsmann-Verlags, dessen Mutterkonzern bereits Anfang der 60er Jahre mehr als die Hälfte des Marktes der Buchgemeinschaften kontrollierte, Eingang in bildungsbegierige Haushalte fand, harrt noch einer näheren Beantwortung31). Kaum erforscht ist bisher der Inhalt der überregionalen Tages- und der in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten noch erheblich gewichtiger als heut-
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zutage meinungsbildenden wichtigen Wochenzeitungen („Die Zeit", „Deutsche Zeitung", „Rheinischer Merkur", „Sonntagsblatt", „Christ und Welt",
28) Vgl. Michael Neher, Ernesto Grassi als Herausgeber von „rowohlts deutsche enzyklopädie". Kulturkritische Wurzeln, Konzepte und erste Anfänge, unveröff. MS 1993. 29) Ferdinand Fried (=Friedrich Zimmermann), Das Abenteuer des Abendlandes, Düsseldorf/Köln 1950; Giselher Wirsing, Schritt aus dem Nichts. Perspektiven am Ende der Revolutionen, Köln 1951 ; zur Geschichte des Diederichs Verlags vgl. neuerdings Gangolf Hübinger (Hg.), Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag Aufbruch ins
Jahrhundert der Extreme, München 1996. i0) Erwähnt sei nur die bahnbrechende Übersetzung von Vance Pacards „Hidden Persuaders": Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewußten in Jederman. Düsseldorf -
1958(41958). 31) Als Beispiel erwähnt sei der Sammelband aus dem Verlag C. Bertelsmann von H. Walter Bahr (Hg.), Wo stehen wir heute? Mit Beiträgen von Max Born, Martin Buber, Hans Freyer, Friedrich Heer, Hermann Heimpel. Karl Jaspers, Arthur Jores. Ernst Jünger, Klaus Mehnert, Max Picard, Josef Pieper, Adolf Portmann, Emil Preetorius, Wilhelm Röpke, Helmut Schelsky, Albert Schweitzer, Eduard Spranger, Helmut Thielicke, Frank Thieß, Arnold Toynbee, Gütersloh 1960.
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„Welt der Arbeit" usw.)32); auch die Analyse der tonangebenden „gehobenen" Zeitschriften-Publizistik („Gegenwart", „Frankfurter Hefte", „Merkur", „Monat", „Gewerkschaftliche Monatshefte", „Deutsche Rundschau", „Neue Rundschau", „Studium genérale", „Universitas" usw.) ist ansatzweise systematisch
lediglich für den Zeitraum des Besatzungs-Kondominiums 1945/49 geleistet worden33). Nur in Ansätzen wurde bisher auch der Anteil der elektronischen Medien, vor allem des Hörfunks, an den Gegenwarlsdiskursen analysiert; im Dunkel liegt auch die Bedeutung der zeittypischen Formen der Doppel-Vermarktung, z.B. von kulturellen Hörfunksendungen in Sammelbandform34). Kaum Beachtung fand bisher die Vortragstätigkeit vor verschiedenen
bisher
Clubs, Verbandsvertretern und in der Vereinsöffentlichkeit. Wie wurden ord-
nungspolitische Grundaussagen der Unternehmerverbände sozialphilosophisch untermauert35)? Welche Rolle spielten Soziologen für die theoretische Positionsbestimmung innerhalb der Gewerkschaften?36) Was wurde z. B. von welchen Intellektuellen auf den „Europäischen Foren" in Recklinghausen (als Programmbestandteil der Ruhrfestspiele) diskutiert? Welche zeitgenössischen
32)
Für einen exemplarischen Aspekt vgl. Markus Kiefer, Auf der Suche nach nationaler Identität und Wegen zur deutschen Einheit. Die deutsche Frage in der überregionalen Tagesund Wochenpresse der Bundesrepublik 1949-1955, Frankfurt/M. 1992. 33) Doris von der Brelie-Lewien, Katholische Zeitschriften in den Westzonen 1945-1949. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Göttingen 1986; Ingrid Launen, Politisch-kulturelle Zeitschriften in den Westzonen 1945-1949. Ein Beitrag zur politischen Kultur der Nachkriegszeit, Frankfurt/M. 1991 ; einen Überblick über die literarischen Zeitschriften Mitte der 50er Jahre als „seismographische Apparaturen" bietet der Begleitband zur Ausstellung Konstellationen. Literatur um 1955. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs. Deutsches Literaturarchiv im Schiller-Nationalmuseum, Marbach 1995, S. 49(ff.); vgl. jetzt für den „Monat" Hochgeschwender, Freiheit, S. 115ff., 133ff. 34) Ein Beispiel wären die im Stuttgarter Kröner-Verlag seit der Mitte der 50er Jahre erschienenen Sammelbände über zahlreiche Themen der Zeit, die aus Vortragsreihen im Süddeutschen Rundfunk hervorgegangen waren: Einige Beispiele: Johannes Schlemmer (Hg.), Die Bedrohung unserer Gesundheit (1956); ders. (Hg.), Christen oder Bolschewisten ( 1956); ders. (Hg.), Mensch und Menschlichkeit (1956); ders. (Hg.), Freiheit der Persönlichkeit (1958); ders. (Hg.), Probleme einer Schulreform (1959); s. Hinweise in Kapitel 2. 35) Vgl. z.B. Arnold Gehlen, Die gesellschaftliche Situation unserer Zeit, in: Unser Standpunkt unser Standort. Ansprachen und Vorträge auf der erweiterten Mitgliederversammlung der Landesverbände der industriellen Arbeitgeberverbände Nordrhein-Westfalen e.V., Düsseldorf 1960, S. 43-55; über das unternehmerverbandliche Engangement in Fragen der Bildenden Kunst berichtet Werner Bührer, Der Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie und die „kulturelle Modernisierung" der Bundesrepublik in den 50er Jahren, in: Schildt/Sywottek, Modernisierung, S. 583-595. 36) Zu untersuchen wäre z.B. der Einfluß der Soziologen-Schule um Helmut Schelsky auf die Bildungsarbeit des DGB in den 50er Jahren; vgl. zur Nachkriegssoziologie insgesamt Johannes Weyer, Westdeutsche Soziologie. 1945-1960. Deutsche Kontinuitäten und nordamerikanischer Einfluß, Berlin 1984. -
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Ideen bestimmten die Grundsatzdiskussion in den verschiedenen Berufskammern von denjenigen der Ärzte bis zu denjenigen der Handwerker? Westdeutschland erlebte in den 50er Jahren eine Blüte von speziell zum Zweck der Verständigung verschiedener Gruppen und zur gemeinsamen Reflektion von Vergangenheit und Gegenwart geschaffener Foren, hinter denen ein breites Spektrum von Organisatoren stand. Zu nennen ist das „Darmstädter Gespräch", das aus dem ursprünglichen künstlerischen und ästhetischen Bezirk herauskommend, spätestens mit der Erörterung des Verhältnisses von „Individuum und Organisation" (1953) zum Zentrum gesellschaftsbezogener Diskussionen avancierte37). Zu erinnern ist an die transatlantisch konzipierte Bewegung „Kongreß für die Freiheit der Kultur", deren wichtigste Treffen in WestBerlin und Hamburg (1950 und 1953) stattfanden38). Zu Dauer-Institutionen eines auf Geschichte, Gegenwart und Zukunft gerichteten gesellschaftlichen Gesprächs, das auf kulturelle und politische Integration durch offene Diskussion abzielte, wurden auch die Evangelischen Akademien, die bald nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Arbeit aufnahmen etwas früher als ihr katholisches Pendant (s. Kapitel 3). Und schließlich gab es Versuche der zunächst als Besatzung, dann als Partner fungierenden westlichen alliierten Mächte, eine politische Kultur zu inaugurieren, die das politisch verhängnisvolle deutsche „Sonderbewußtsein" überwinden sollte. Zu nennen sind Amerikahäuser (s. Kapitel 4) und in geringerem Umfang entsprechende britische und französische Institutionen. Die verschiedenen, zum großen Teil nur in Umrissen analysierten Foren zur Diskussion lassen sich als Netzwerk in der zeitgenössischen Ideenlandschaft verstehen, über dessen Struktur nur wenige Kenntnisse vor-
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liegen. Wichtige
Einsichten in dieses Netzwerk ließe sich über die Betrachtung der aktiven Teilnehmer gewinnen, die in Diskussionen und Kontroversen den „Zeitgeist" prägten. Es fällt rasch auf, daß es eine Reihe von immer wieder auftauchenden Protagonisten gibt, deren Biographie nur in einzelnen und meist bekannten Fällen zum Gegenstand der Forschung gemacht worden ist. Man könnte fast eine Art „Hitparade" von „Zeitgeist"-Repräsentanten der 50er Jahre benennen, bei der man wohl mit einigen Dutzend Namen auskäme. Zur Struktur der sich ausbildenden Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit gehörten zwei Trends. Zum einen gab es eine ganze Reihe von Universi-
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37) Vgl. Hans Gerhard Evers (Hg.), Das Menschenbild in unserer Zeit, Darmstadt 1950; Hans Schwippen (Hg.), Mensch und Technik. Erzeugnis Form -Gebrauch, Darmstadt 1952; Fritz Neumark (Hg.), Individuum und Organisation, Darmstadt 1954; Erich Franzen (Hg.), Ist der Mensch meßbar?, Darmstadt 1959; Eugen Kogon/Winfried Sabais (Hg.), Der Mensch und seine Meinung. Darmstadt 1961. 38) Zur Kongreßbewegung jetzt umfassend Hochgeschwender, Freiheit; zum Berliner Kongreß ebd. 176ff., zum Hamburger Kongreß 370ff.; ferner Peter Coleman. The Liberal Conspiracy: The Congress for Cultural Freedom and the Struggle for the Mind of Postwar Europe, London 1989. -
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tätsprofessoren und freien Schriftstellern, die von kirchlichen Akademien oder auf andere Foren geladen wurden und sehr gern der Einladung folgten, zum anderen vergrößerte sich eine intellektuelle Schicht, die akademische Diskussio-
für ein breiteres Publikum nicht nur „übersetzte", sondern damit auch eiInterpretationen verband. Die Bedeutung solcher Personen der zweiten Reihe, Programmdirektoren und Redakteure im Medienbetrieb oder Leiter kirchlicher Akademien, die für die Vermittlung an das Publikum oft von erstrangiger Wichtigkeit waren, ist noch weniger bekannt, weil sie zwar eine breite Wirkung entfalteten, im Unterschied zu den „großen Geistern" aber wenige originelle Ideen beisteuerten und deshalb die Biographen meist nicht für sich interessieren konnten39). Wichtig wären außerdem Gruppenbiographien, um gemeinsame Generationserfahrungen und daraus resultierende ähnliche ideologische Verarbeitungsmuster eine Quelle häufiger Referenzbezüge bis hin zu Zitationskartellen40) -, aber auch die später verlaufenden Verzweigungen in den zeitgenössischen Diskursen besser zu verstehen41)Schließlich ist die Ebene der Rezeption nahezu völlig unerforscht. Faßt man die geistigen Auseinandersetzungen der 50er Jahre hypothetisch, zuminnen
gene
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39)
Die
Sphäre dieser Ideenmakler und -Vermittler scheint z.B. auf in der Autobiographie Harry Pross, Memoiren eines Inländers 1923-1993, München 1993. 40) Vgl. z.B. die Ausführungen zur „nachgerade männerbündlerischen Freundschaft" zwischen dem Soziologen Helmut Schelsky, dem Anthropologen und Sozialphilosophen Arnold Gehlen sowie dem Psychiater Hans Bürger-Prinz von Klaus Dörner, Anmerkungen zu einem Brief Schelskys, in: Rainer Waßner (Hg.), Wege zum Sozialen. 90 Jahre Soziologie in Hamburg, Opladen 1988, S. 141-145 (Zitat: S. 141). 4i) Zu der in dieser Arbeit nur sparsam benutzten Diskurse-Begrifflichkeit soll angemerkt von
werden, daß Diskurse nicht als synonym für Ideen, Theorien oder gar
mittlerweile moDiskussionen fungieren. Als Diskurse sind nach Foucault die Aussagengebäude jener öffentlichkeitswirksamen Experten zu verstehen, die die kulturellen Ordnungen vorgeben, in denen die Menschen denken und handeln (vgl. Ute Daniel, Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft. Teil II, in: GWU, Jg. 48, S. 259-278 (hier S. 265 f.); zu unterschiedlichen Möglichkeiten der Konzeptualisierung der DiskurseBegrifflichkeit vgl. Peter Schöttler, Mentalitäten, Ideologien, Diskurse. Zur sozialgeschichtlichen Thematisierung der „dritten Ebene", in: Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt/M ./New York 1989, S. 85-136 (hier S. 102ff.)); thematisiert wird damit jene dritte Ebene zwischen wissenschaftlichen Denkgebäuden und lebensweltlicher Sphäre, die den Kern moderner Öffentlichkeit ausmacht, wobei nicht die postmoderne Annahme autonomer Diskurse und ihre immanente Analyse, sondern der Zusammenhang von Sinnproduktion und im weitesten Verständnis sozialen Interessen der Beteiligten leitend sein sollen (vgl. dazu Schildt. Moderne Zeiten, S. 305; Lutz Raphael. Diskurse. Lebenswelten und Felder. Implizite Vorannahmen über das soziale Handeln von Kulturproduzenten im 19. und 20. Jahrhundert, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.). Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 165-181 (hier S. 170)); in diesem Sinn akzentuiert die Diskurs-Begrifflichkeit sogar den Zusammenhang von geistiger und materieller Realität. Deren sparsame Verwendung scheint aber angeraten, weil Diskurse in jenem Zusammenhang oft nur noch als Machtfaktor zur gesellschaftlichen Disziplinierung aufgefaßt und analysiert werden, was angesichts der umfassenderen relativen Autonomie von Ideen m.E. nicht gerechtfertigt ist. disch
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dest im Kern, als Selbstverständigung des Bildungsbürgertums, so stellt sich allgemein die Frage nach der spezifischen Beschaffenheit des kulturellen Kapitals und der Erfahrungen dieses schwer zu bestimmenden Bevölkerungsteils der Nachkriegsgesellschaft42). Sehr hoch zu veranschlagen sind sicherlich die geistigen Kontinuitäten, die aus den 1920er Jahren in die 50er Jahre hineinreichen. Ortega y Gasset war von den 1930er bis zum Ende der 50er Jahre der in Westdeutschland meistverbreitete Philosoph43), Eduard Sprangers „Psychologie des Jugendalters" von 1924 erlebte ein Vierteljahrhundert später gerade seine 25. Auflage und bestimmte nach wie vor die Vorstellungen vom pädagogisch zu steuernden Sozialisationsprozeß der jungen Generation44). Weder gibt es eine Sozialgeschichte der diversen Lehrergruppen noch der Studenten, Journalisten, Juristen, Ärzte oder anderer freier Berufe für unseren Untersuchungszeitraum. Über die Segregation und Integration von verschiedenen überkommenen konfessionellen Milieus und politischen Lagern, die Entwicklung eines aufgeschlossenen städtischen Bildungsbürgertums als Publikum von verschiedenen Foren und als Konsument zeitgeistiger Publizistik ist gleichfalls nur sehr wenig bekannt. Die weitgehend unerforschten Ebenen der Ideenlandschaft, die Foren, die Akteure und das Publikum, bilden wiederum nicht nur den formalen Hintergrund für die eigentlichen Inhalte. Die Entfaltung des Diskutierens selbst wurde zeitgenössisch als Ausweis eines Lernprozesses der offenen bzw. sich öffenenden Gesellschaft gesehen45). Diese neue Struktur der Öffentlichkeit46) ist zu bedenken, wenn im folgenden einige inhaltliche Hauptströme der Ideenlandschaft in den 50er Jahren knapp skizziert werden47).
42)
Dies deutet auf das dringende Desiderat einer Sozialgeschichte des Bildungsbürgertums in der Nachkriegsgesellschaft hin. 43) Vgl. Francisco Sánchez-Blanco, Ortega y Gasset: Philosoph des Wiederaufbaus? Anmerkungen zu einer unbedachten Rezeption, in: Jost Hermand u.a. (Hg.), Nachkriegsliteratur in Westdeutschland, Bd. 2, Berlin 1983, S. 101-111; Schildt, Moderne Zeiten, S. 327f. **) Vgl. Hans W. Bähr/Hans Wenke, Eduard Spranger. Sein Werk und sein Leben, Heidelberg 1964. 45) Vgl. Hans Edgar Jahn, Rede. Diskussion. Gespräch, Frankfurt/M. 1954: Rüdiger Altmann, Das Problem der Öffentlichkeit und seine Bedeutung für die moderne Demokratie, Phil. Diss. Marburg 1954; Friedrich Lenz. Werden und Wesen der öffentlichen Meinung, München 1956. 46) Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt u.a. 1962 (l61986). 47) Vgl. als ersten Überblick vornehmlich über Literatur und „Schöne Künste" Hermann Glaser, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2: Zwischen Grundgesetz und Großer Koalition 1949-1967, München 1986; Jost Hermand, Kultur im Wiederaufbau. Die Bundesrepublik Deutschland 1945-1965, München 1986.
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III. Auffallend ist für die 50er Jahre zunächst eine Abschwächung und Akzentveränderung der in der Besatzungszeit noch intensiv geführten Debatte um Schuld und Verantwortung für die Durchsetzung des Nationalsozialismus und der NSDiktatur48). Die „Vergangenheitsbewältigung" der ersten Nachkriegsjahre mit
überwiegenden anthropologisierenden, massenpsychologischen und geschichtsphilosophischen Anteilen, in denen der Nationalsozialismus als quasi logische Entwicklung der Säkularisierung, der prometheischen Selbstüberhebung des Menschen seit der Renaissance, ausgegeben wurde, trug bereits entscheidende Anknüpfungspunkte für die Transformation in den zeitgenössischen antitotalitären Diskurs des Kalten Krieges in sich, der sich seit den späten 1940er Jahren anbahnte49). In dieser Sichtweise war zwar mit Hitlers „Drittem Reich" eine der totalitären Mächte verschwunden, die weitaus gefährlichere, der „Bolschewismus"50), war dagegen geblieben und bedrohte die Welt. Nicht nur ausweislich zahlreicher demoskopischer Erhebungen in der Bevölkerung allgemein, auch unter Intellektuellen galt es als ausgemacht, daß man sich nur in einer kurzen weltgeschichtlichen Kampfpause vor dem bald zu erwartenden Endkampf zwischen den beiden als Siegern aus dem Weltkrieg hervorgegangenen Supermächten USA und Sowjetunion befinde. Nachgedacht ihren
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wurde z. B. in der ersten Nummer des „Monat" von Bertrand Russell und Franz Borkenau, ob ein rascher präventiver Waffengang unternommen werden sollte,
48) Vgl.
u. a. Barbro Eberan, Wer war Schuld an Hitler? Die Debatte um die Schuldfrage 1945-1949, München 1985; Thomas Koebner, Die Schuldfrage. Vergangenheitsbewältigung und Lebenslügen in der Diskussion 1945-1949, in: ders. u.a. (Hg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939-1949, Opladen 1987, S. 301-329; Vera Bücker, Die Schulddiskussion im deutschen Katholizismus, Phil. Diss. Bochum 1989; Kurzreferate einschlägiger zeitgenössischer Bücher und Broschüren in Antiquariat Cobet: Deutschlands Erneuerung 1945-1950, Frankfurt/M. 1985. 49) Als Überblick Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, München/Zürich 1974; in
der Folge entstanden eine ganze Reihe von Arbeiten zu einzelnen Propaganda-Organisationen des Kalten Krieges auf westdeutscher Seite; vgl. etwa die Fallstudie von Kai-Uwe Merz, Kalter Krieg als antikommunistischer Widerstand. Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit 1949-1958, München 1987; der neueste Forschungsstand wird zusammengefaßt in der Einleitung von Hochgeschwender, Freiheit; zur „Vergangenheitsbewältigung" vgl. Axel Schildt. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Öffentlichkeit der Nachkriegszeit, in: Wilfried Loth/Bernd A. Rusinek (Hg.), Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der Nachkriegszeit, Frankfurt/M./New York 1998, S. 19-54. 50) Es ist wichtig, daß das zeitgenössisch überwiegend öffentlich verwandte Gegensatzpaar nicht „Demokratie gegen Stalinismus", sondern „Freiheit gegen Bolschewismus" hieß ein Kern der abendländischen Ideologie (s. Kapitel 1); zum Spektrum des Antikommunismus in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Klaus Körner, Von der antibolschewistischen zur antisowjetischen Propaganda: Dr. Eberhard Taubert, in: Arnold Sywottek (Hg.), Der Kalte Krieg Vorspiel zum Frieden, Münster 1994, S. 54-69. -
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bevor die Gegenseite über ein umfassendes Atomwaffenarsenal verfügte51). Die politische Kultur jener Zeit war geprägt von einer Atmosphäre des Dezisionismus, der mitunter durchaus intolerante Züge trug. Die Schlachtordnung eines Kreuzzuges der abendländischen Freiheit gegen den Totalitarismus gestattete es, ein breites Spektrum von demokratischen Sozialisten bis hin zu Konservativen zu integrieren, die ihre Reserven gegen Prinzipien westlicher Demokratie durchaus nicht aufgeben mußten, um sich in die antibolschewistische Phalanx einzureihen. Zumal in der kirchlichen Publizistik wurde weidlich das aus der Zwischenkriegszeit überkommene Muster der Parallelisierung von Liberalismus und Bolschewismus strapaziert. Und gleichgewichtig zur äußeren Gefahr fanden sich häufig mit kulturpessimistischer Tönung Technisierung, Vermassung und Entfremdung als innere Folgen der sozialkulturellen Modernisierung der Gesellschaft thematisiert52). Die Notwendigkeit einer verantwortlichen Elite und die Förderung von Sozialpartnerschaft' der Begriff der .Volksgemeinschaft' hingegen war seltener zu vernehmen standen um 1950 im Zentrum zahlreicher Erörterungen, wie die geistige Krise geheilt werden sollte. Zwar gab es nur in kleineren Teilen des Bildungsbürgertums eine Anhängerschaft für die Option einer deutschen Äquidistanz zum Westen wie zum Osten, wie sie sich etwa in irritierenden nationalneutralistischen Bündnissen zwischen konservativen Grüppchen und kommunistisch inspirierten Kreisen zeigte53). Doch herrschten bei gleichzeitiger Anerkennung amerikanischer politisch-militärischer Suprematie manifeste Überlegenheitsgefühle gegenüber der zivilisatorisch weit entwickelten, dafür allerdings geistig-kulturell zurückgebliebenen „neuen Welt" vor; traditionelle Dünkel der Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation prägten zumindest noch das erste Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg54). Auch die gleichzeitige virulente Europabegeisterung bezog einen Teil ihres Überschwangs aus abendländischen Ideologien, die nicht unbedingt die westeuropäisch-transatlantische Integration im Rahmen westlich-liberaler Ideen meinten, sondern eher auf einen supranationalen Föderalismus mit ständestaatlichem Gepräge abzielten (s. Kapitel 1). Um die Mitte der 50er Jahre änderten sich die politischen und gesellschaftli-
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Bertrand Russell, Der Weg zum Weltstaat, in: Der Monat, Jg. 1, 1949, H. 1, S. 4-8; Franz Borkenau, Nach der Atombombe, in: ebd., S. 9-16; vgl. Ilona Stölken-Fitschen, Atombombe und Geistesgeschichte. Eine Studie der fünfziger Jahre aus deutscher Sicht, Baden-Baden 1995, S. 59f. «) Vgl. dazu Schildt, Moderne Zeiten, S. 324ff. 53) Vgl. Rainer Dohse, Der Dritte Weg: Neutralitätsbestrebungen in Westdeutschland zwischen 1945 und 1955. Hamburg 1974. 54) Schildt, Moderne Zeiten, S. 398 ff; für das Fortleben traditioneller Kulturbegrifflichkeit über den Zweiten Weltkrieg hinaus vgl. Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/Leipzig 1994, S. 301 ff.; mit zahlreichen Beispielen für die westeuropäische Dimension der Amerikakritik Ulrich Cürten, Europäische Amerikakritik seit 1945. Ihr Bild vom Wandel des amerikanischen Weltverständnisses, Phil. Diss. Freiburg 1967; s. weitere Hinweise in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit.
51)
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chen Rahmenbedingungen und auch die Gestimmtheit darauf bezogener Diskurse allmählich. International war eine erste „Tauwetter"-Phase angebrochen. Zwar gab es danach immer wieder Rückschläge in der Entspannungspolitik nicht zuletzt durch die Krisen um Berlin und Kuba -, aber die Furcht vor einem baldigen Weltkrieg wich langsam und damit die Verkrampftheit, welche die öffentliche Atmosphäre zuvor gekennzeichnet hatte. Der Kalte Krieg hatte im Bewußtsein der Öffentlichkeit begonnen, seine Bedeutung zu verändern. Er wurde nicht mehr als unmittelbare Vorstufe offener kriegerischer Auseinandersetzungen, sondern als Systemgegensatz begriffen, der künftig vor allem auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik ausgetragen würde. Der SputnikSchock 1957 war nur ein Symbol für eine bereits zuvor einsetzende Debatte um die Frage, welches der beiden Weltsysteme langfristig seine Überlegenheit erweisen werde. Die innere Entwicklung der Bundesrepublik unterstützte den Trend zu einer Auflockerung konformistischer Meinungsfronten. Politisch hatte sich bald herausgestellt, daß „Bonn nicht Weimar" war. In der Bevölkerung gab es ausweislich demoskopischer Befunde zwar ein notorisch geringes Interesse an Politik und nur sehr geringe Kenntnisse über die Funktionsweise des parlamentarischen Systems, aber dafür eine steigende passive Akzeptanz des Bonner Staates. Die energische Lösung gesellschaftlicher Schlüsselprobleme, der Wohnungsnot durch den Sozialen Wohnungsbau, der schlechten Altersversorgung durch das dynamische Rentensystem, und der steigende allgemeine Wohlstand ließen die um 1950 angesichts der hohen Arbeitslosigkeit und der großen Zahl von noch nicht integrierten Flüchtlingen wahrgenommenen Gefahren politischer Radikalisierung verblassen. Die Veränderung der äußeren und inneren Rahmenbedingungen Westdeutschlands drückten sich in den zeitgenössischen Diskursen vor allem in zweierlei Hinsicht aus. Zum einen läßt sich eine Formveränderung des Konservatismus beobachten: die kulturpessimistische wurde zugunsten einer heroisch-sachlichen Strömung zurückgedrängt. Statt schrulligem Antiurbanismus à la Heidegger, Massenphobie und vagen elitären Ständevorstellungen als Korrektiv gegen das demokratische System kennzeichnete die Bejahung der mit dem Wiederaufbau vollzogenen politischen Veränderungen und sozialkulturellen Folgen und die Entdeckung der Ordnung in der nur scheinbar amorphen Masse durch kleine informelle Gruppen und familiäre Netzwerke auch in der Großstadt diese Strömung. Besonders deutlich läßt sich diese Veränderung in der Konsum- und Freizeitkritik der 50er Jahre verfolgen: Nicht mehr Askese gegen Konsumismus, sondern bewußte Beherrschung und gelassener Umgang mit den zivilisatorischen Hervorbringungen des „technischen Zeitalters" (Hans Freyer) machten danach die Persönlichkeiten aus, die zur modernen Elite gehören sollten55). Diese Denkfigur entstand in den 50er Jahren nicht gänzlich neu; -
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35) Vgl.
als Schlüsselschriften Hans
Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart
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allem der in der katholisch-theologischen Tradition bekannte Schöpfungsoptimismus kann als eine Quelle genannt werden56), an die auch von konservativ-protestantischen Theoretikern angeknüpft wurde. Das Ausmalen des friedlichen „Atomzeitalters" als neuer Epoche verschwenderischen Reichtums schien in besonderer Weise der Führung durch verantwortliche Eliten zu bedürvor
fen57).
Parallel zu dieser Formveränderung des Konservatismus drang eine liberale Grundströmung vor, die allerdings weniger als Opposition zum Konservatismus denn als Verbindung mit diesem fungierte. Kaum analysiert sind bislang
die Fäden zwischen neoliberalem und konservativem Gedankengut, die von liberaler Seite z.B. Denker wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow58) knüpften; sie schufen eine Mesalliance, die vielleicht als Neoliberalismus in konservativem Gehäuse zu beschreiben wäre. Noch weniger untersucht sind andere liberale Strömungen, die offensiv mit der deutschen Tradition der Mitte brachen und „das Licht aus dem Westen" suchten59). Ralf Dahrendorf wäre als einer der Protagonisten zu nennen, die Erkenntnisse der amerikanischen Sozialwissenschaft verbreiteten, um die westdeutsche Gesellschaft nach Westen zu 1955; Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Reinbek 1957; Peter R. Hofstätter, Gruppendynamik. Die Kritik der Massenpsychologie, Reinbek 1957; zur Rückseite dieser Entwicklung gehörte, daß der kulturpessimistische Part in den Diskursen der 50er Jahre immer stärker von „kritischen Theoretikern" wahrgenommen wurde nicht nur der „Frankfurter Schule" (vgl. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München/Wien 21987, S. 479ff), wie etwa das Beispiel von Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, München 1956. zeigt; zum Auslaufen der geisteswissenschaftlichen „Historischen Soziologie" am Beispiel von Freyer in den 50er Jahren vgl. u.a. Jerry Z. Muller, The Other God That Failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conservatism, Princeton 1987. S. 330 ff, 380 ff; Volker Kruse, Historisch-soziologische Zeitdiagnosen in Westdeutschland nach 1945. Eduard Heimann, Alfred von Martin, Hans Freyer, Frankfurt/M. 1994, S. 141 ff.; die Verbindungslinien von Adorno und Gehlen in den 50er Jahren hat in einer Hamburger Dissertation jüngst beleuchtet Christian Thies, Die Krise des Individuums. Zur Kritik der Moderne bei Adorno und Gehlen, Reinbek 1997. 56) Breit rezipierte Beiträge aus dem katholischen Spektrum: Friedrich Dessauer, Die Seele im Bannkreis der Technik, Frankfurt/M. 1945 (21952); Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Würzburg 1950; Joseph Höffner, Der technische Fortschritt und das Heil der Menschen. Dämonie und Eros der Technik, Paderborn 1953; Clemens Brockmöller, Christentum am Morgen des Atomzeitalters, Frankfurt/M. 1954. 57) Vgl. Stölken-Fitschen, Atombombe, S. 166ff.; interessanterweise gab es hier eine Trennung zwischen publizistischem mainstream, in dem die Atomenergie als Schlüssel für den westdeutschen Wiederaufstieg und als ziviles Projekt gegen die Atombombe fungierte, und der demoskopisch erhobenen Mehrheit der Bevölkerung, die das Atom mit dem Krieg assoziierte (ebd., S. 196ff.); vgl. Joachim Radkau. Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek 1983, S. 78 ff. 58) Vgl. als werkbiographischen Ausschnitt Kathrin Meier-Rust, Alexander Rüstow. Geschichtsdeutung und liberales Engagement. Stuttgart 1993. 59) Ferdinand von Cles, Licht aus dem Westen. Der Geist der neuen Welt, Köln 1957. -
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Von dort aus führten wiederum Verbindungslinien zu führenden sozialdemokratischen Theoretikern, die sich in ihrer Vision einer Vblkspartei künftig eher an angelsächsischem Pragmatismus als an sozialistischer Theorie orientieren und damit eine lange bestehende Lücke zwischen Theorie und Praxis schließen wollten auch hier wären geistige Entwicklungen bis zur Zwi-
öffnen60).
schenkriegszeit zurückzuverfolgen. Diese parallelen und miteinander zusammenhängenden Prozesse Modernisierung des Konservatismus, Verbreiterung von liberalen Strömungen und Verdrängung von sozialistisch-klassenkämpferischem Denken sind bereits von Zeitgenossen mit einer sich scheinbar vollziehenden „Entideologisierung" verwechselt und in das angeblich erreichte Endstadium der Geschichte, das „technische Zeitalter", eingeordnet worden. Die Plausibilität einer solchen Deutung entsprach offenbar dem allgemeinen Aufbruchsempfinden einer neuen intellektuellen Generation im Westen, wie es Daniel Bell in seinem paradigmatischen Werk über dieses Phänomen aus amerikanischer Sicht beschrieben hat61). Diese bis heute gängige Sichtweise paßt zum erwähnten Klischee der geistig langweiligen Wiederaufbau-Gesellschaft. Allerdings können mit der Annahme eines durch „Entideologisierung" entstandenen Vakuums schon die Entwicklungen des nächsten Jahrzehnts mit seinem spektakulären Höhepunkt von 1968 nur noch als „Reideologisierung" gefaßt -
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und nicht mehr historisch erklärt werden. Die großen Linien der Ideenentwicklung,
allem der Wandel vom Kulturbeschreiben nur einen idealtypipessimismus „moderneren" Positionen, schen Verlauf, der bei genauerer Betrachtung zahlreiche irritierende Phänomene zeigen dürfte, wie z. B. inmitten von Aufbruchshoffnungen auch eine neue Konjunktur von Zukunftsängsten zu Beginn der 1960er Jahre, am Ende der Ära Adenauer62). vor
zu
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60) Vgl. u.a. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1961 ; ders., Die angewandte Aufklärung. Gesellschaft und Soziologie in Amerika, München 1963; ausdrücklich ist zu betonen, daß der Bezug auf Amerika nicht nur von liberalen Denkern hergestellt wurde, wie z.B. die von Helmut Schelsky geförderte Riesman-Rezeption in der Bundesrepublik zeigt (vgl. Schildt, Moderne Zeiten, S. 330, 353). 61) Daniel Bell, The End of Ideology. On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, Glencoe/Ill. 1960; zur Interpretation der sozialwissenschaftlichen Konstruktionen Wolfgang Burisch, Ideologie und Sachzwang. Die Entideologisierungsthese in neueren Gesellschaftstheorien, Tübingen '1971 (hier zu Bell S. 115 ff.); für Einzelnachweise aus der zeitgenössischen Publizistik Axel Schildt, Ende der Ideologien? Politisch-ideologische Strömungen in den 50er Jahren, in: Schildt/Sywottek, Modernisierung, S. 627-635. 62) Hans Günter Hockerts, Das Ende der Ära Adenauer. Zur Periodisierung der Bundesrepublikgeschichte, in: Winfried Becker/W. Chrobak (Hg.), Staat, Kultur, Politik. Beiträge zur Geschichte Bayerns und des Katholizismus. Festschrift zum 65. Geburtstag von D. Albrecht, Kalimünz 1992, S. 461-475; Schildt, Moderne Zeiten, S. 424ff.
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Einleitung
IV. Die folgenden vier Fallstudien sollen Eindrücke von der Themenauswahl und den Diskussionen in zentralen Zentren für gesellschaftsdiagnostische Diskurse der 50er Jahre bieten. Dargestellt werden im ersten Kapitel die ideologischen Bemühungen um das „Abendland" im Umkreis der Zeitschrift „Neues Abendland", der „Abendländischen Aktion" und der „Abendländischen Akademie", die vor allem, aber nicht ausschließlich in konservativ-katholischen Kreisen als Konzept des politisch-gesellschaftlichen Neuanfangs virulent waren. Hier läßt sich eine eigentümliche zeittypische Mischung von kompromißlosem „Antibolschewismus", Rechristianisierungsvision, Reserven gegen die liberale Verfassung der westdeutschen Gesellschaft und supranationaler westeuropäischer Wertegemeinschaft verfolgen. Diese abendländische Gedankenwelt war im ersten Nachkriegsjahrzehnt eine sehr einflußreiche Unterströmung der westeuropäischen Integration und transatlantischen Allianz viel einflußreicher als heute angenommen und erst die dort vollzogene Konstruktion des Westens erklärt die erfolgreiche Integration konservativen Denkens in die Ideenlandschaft der Bundesrepublik. Im zweiten Kapitel werden die im gleichen Zeitraum verbreiteten kulturellen Rundfunknachtprogramme am Beispiel des Nordwestdeutschen Rundfunks betrachtet, die sich an ein intellektuell interessiertes Publikum richteten und vor allem unter Akademikern ein Stammpublikum besaßen. Das Spektrum der dort behandelten Themen und die immer wiederkehrenden kulturellen Deutungsmuster verweisen angesichts der Modernität des Mediums faszinierend auf eine existenzialisierend abendländisch-europäische Grundstimdie in ihrer Distanz gegenüber der zivilisatorischen Moderne und ihrem mung, Zelebrieren elitären geistigen Individualismus' einen Grundzug der Ideenlandschaft vor allem der frühen 50er Jahre beleuchtet. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den Tagungen je einer evangelischen und einer katholische Akademie (Hermannsburg-Loccum und Münster), die bei aller Gemeinsamkeit der intendierten Zuwendung der Kirche zur weltlichen Öffentlichkeit doch auch konfessionelle Akzentunterschiede zum Ausdruck bringen. Dabei wird dargestellt, welche hohe Bedeutung die kirchlichen Akademien für die Ideenlandschaft der 50er Jahre hatten, in welch starkem Maße sie aber auch, besonders die evangelischen, von ihr geprägt waren, eben weil diese wiederum gleichzeitig vielfältige religiöse Bezugspunkte aufwies. Das vierte Kapitel analysiert anhand des Vortragsangebots von drei Amerika-Häusern (Frankfurt, Heidelberg, München) die kulturellen Bemühungen der wichtigsten westlichen Besatzungs- und Bündnismacht. Im Kern handelte es sich dabei um die Profilierung der USA als Kulturnation gegenüber dem anfänglich abendländisch-konservativen mainstream des Bildungsbürgertums und der gesellschaftlichen Funktionseliten. Die vier Fallstudien zeigen aus unterschiedlichen Perspektiven die Bemü-
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20
Einleitung
hungen um geistige Orientierung in der Nachkriegsgesellschaft. Als Pole fungierten dabei zum einen die Rückbesinnung auf christlich-abendländische Traditionen und zum anderen die Erörterung der kulturellen und zivilisatorischen Moderne, für die „Amerika" als assoziationsreiches Symbol stand ein ideeller Ausdruck der gesellschaftlichen „Modernisierung unter konservativen Auspizien'", der Amalgamierung deutscher Traditionsbestände und westlicher Angebote die wiederum nicht immer ganz neu auf dem Markt waren. Zwischen „Abendland" und „Amerika" verlief der ideelle Weg der Bundesrepublik in eine westlich geprägte Gesellschaft, aber die Beschaffenheit dieses Weges ist noch wenig bekannt. Auffällig ist jedenfalls, daß die abendländische Thematik und Begrifflichkeit in allen Beiträgen, aber unterschiedlich dicht und -
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variabel konnotiert erscheint, ebenso wie die Vision „Amerika". Auch die auftretenden zeitgenössischen Diskutanten begegnen uns in der Regel nicht nur auf einem der betrachteten Foren, sondern mehrfach. Dies mag bisweilen Doppelungen von Aussagen ergeben und eher den Eindruck einer Kreisbewegung als eines dramatisch-progressiven Prozesses erwecken; es verdeutlicht aber nachdrücklich den zeitgenössischen Zusammenhang von „Abendland" und „Amerika": Die historischen, gesellschaftsdiagnostischen und -prognostischen Erörterungen verliefen wie zwischen zwei Magnetfeldern, von denen allerdings das abendländische im Laufe der 50er Jahre allmählich immer schwächer wurde. Und ähnlich verhielt es sich mit verwandten Polaritäten, etwa der Klage über die „Säkularisierung" und der Begrüßung des „Pluralismus". Allerdings muß nochmals betont werden, daß hier lediglich die Hauptstraße der Ideengeschichte der 50er Jahre vermessen wird Aspekte wie das Nachleben des Nationalismus, etwa unter den Stichworten „Nationalneutralismus" oder PreußenNostalgie, der in den 50er Jahren allerdings schwindende und erst ein Jahrzehnt später wieder auflebende Einfluß marxistischer Deutungsmuster und andere Teile der Ideenlandschaft harren noch eingehender Untersuchung. Ein wichtiger Punkt schließlich scheint in unserem Zusammenhang nur sporadisch auf: Nicht nur die Inhalte, sondern auch die diskursiven Formen sind zu beachten; sie änderten sich in den 50er Jahren nur allmählich radikal dann aber seit der Mitte der 1960er Jahre, als zahlreiche Diskussionsforen in eine tiefe Krise -
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gerieten. Angesichts
der langen Liste unerforschter Gebiete unserer Thematik muß also betont werden, daß es sich um Erkundungen handelt, die erst im Zusammenhang einer Gesamtübersicht über die Ideenlandschaft der Nachkriegszeit in ihrer Bedeutung adäquat zu würdigen sein werden. Der Weg dahin ist noch weit.
1. Die Rettung des christlichen Abendlandes „Neues Abendland" und „Abendländische Akademie" -
Der Kontrast ist beträchtlich und auffällig: Im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg war das zu erneuernde und das bedrohte „christliche Abendland" in aller Munde, bemüht von Politikern, Verbandsvertretern und Publizisten; bald danach, seit der Mitte der 1960er Jahre, verschwand die Abendland-Begrifflichkeit nahezu gänzlich aus den zeitdiagnostischen Diskursen und wurde „durch den säkularisierten Begriff Europa abgelöst (...), der den veränderten politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen besser entspricht", wie es in „Meyers Enzyklopädischem Lexikon" von 1971 heißt1). Der in der politischen Öffentlichkeit Westdeutschlands einstmals ideologisch zentrale AbendlandBezug wird selbst in der zeitgeschichtlichen Forschungsliteratur, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt, quasi als Begleitmusik der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung2). Allenfalls wird ex post die Pointe festgehalten, daß die „scheinbar rückwärtsgewandte Besinnung auf die abendländische Tradition" und die damit einhergehende Wendung gegen den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts dazu beitrug, „die Deutschen ihren Weg in die europäische Moderne finden zu lassen."3) So treffend die Zumessung einer solchen moder-
') Meyers Enzyklopädisches Lexikon,
Bd. 1, Mannheim u.a. 1971, S. 56; ähnlich: Brockin zwanzig Bänden. 17.. völlig neubearbeitete Auflage des Großen Brockhaus, Bd. 1, Wiesbaden 1966; hier wird auch darauf hingewiesen, daß seit der Kolonialisierung in den außereuropäischen Erdteilen Gesellschaftsformen entstanden seien, „deren geistiger Gehalt abendländisch ist. (...) Für das Abendland bedeutet diese Weltlage, daß es sich gleichsam selbst begegnet." (S. 28; ebenso in der Neubearbeitung 1986); während das „Abendland" in der Bundesrepublik in den Status einer deskriptiven Kategorie für die Kulturgeschichte des alten Europa überführt wurde (vgl. auch Der Große Brockhaus in zwölf Bänden. 18., völlig neubearbeitete Auflage, Bd. 1, Wiesbaden 1977, S. 15), betonten noch neuere DDR-Lexika die Charakterisierung des Abendland-Gedankens als Bestandteil einer „reaktionären Herrschaftsideologie" (Meyers Neues Lexikon, Bd. 1, Leipzig 1971, S. 25) für ein „imperialistisch-antisozialistisches Bündnis" (Bl Universal-Lexikon, Bd. 1, Leipzig 1985); inwiefern es zu einer neuerlichen politischen Aufladung des AbendlandTopos im Gefühl einer globalen islamischen Offensive kommen könnte, sei dahingestellt; vgl. als Beispiel der terminologischen Renaissance Sigrid Hunke, Vom Untergang des Abendlandes zum Aufgang Europas. Bewußtseinswandel und Zukunftsperspektiven, Rosenheim 1989. 2) Im einschlägigen Handbuch von Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969, München 1987, findet das „Abendland" keine Erwähnung, wohl aber die „Europa-Idee" (S. 24). 3) Heinz Hurten, Der Topos vom christlichen Abendland in Literatur und Publizistik nach den beiden Weltkriegen, in: Albrecht Langner (Hg.), Katholizismus, nationaler Gedanke und Europa seit 1800, Paderborn u.a. 1985, S. 131-154 (Zitat: S. 154); dieses Erklärungsmuster schon zuvor bei Anselm Doering-Manteuffel, Katholizismus und Wiederbewaff-
haus
Enzyklopädie
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1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
nisierenden Funktion wider Willen für die Abendland-Ideologie im nachhinein sein mag, kann doch die Feststellung einer „List der Geschichte" die Forschung nicht der Aufgabe entheben, den zeitgenössischen Inhalt des Abendland-Bezugs von den Intentionen der Protagonisten her zu rekonstruieren. Dann nämlich zeigt sich, daß die abendländische Westoption etwas anderes meinte als das, was der politische und sozialkulturelle Prozeß der „Verwestlichung" mit sich führte, der die Rechristianisierungs-Hoffnungen bald hin-
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wegspülte.
Daß das Abendland-Gedankengut bisher für die Jahre des Kondominiums nach dem Zweiten Weltkrieg kaum4) und für das Wiederaufbaujahrzehnt der Bundesrepublik überhaupt nicht näher untersucht worden ist, hängt mit einer Häufung von Problemen für eine Analyse zusammen, die hier nur knapp erwähnt werden sollen: Zu konstatieren ist für die Zeitgeschichte der frühen Bundesrepublik generell ein Nachhinken sozialhistorisch vermittelter Ideengeschichte hinter der konventionell ereignisorientierten Zeitgeschichte; die Historiographie der Parteien und Verbände hat bisher dem Umkreis der den Großorganisationen nahestehenden Zirkeln, Gesprächskreisen und Diskussionsforen wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl hier wichtige Grundlagen politischen Handelns breit erörtert wurden5). Der Begriff „Abendland" oszillierte begrifflich diffus zwischen allgemeinem bildungsbürgerlichem Wertehintergrund und politischen Konzeptionen, in denen „Abendland" wiederum Unterschiedliches bedeuten konnte, von der Wiederherstellung des mittelalterlichen sacrum Imperium bis zur Metapher für „antibolschewistischen" Widerstandswillen. Die Abendland-Ideologie rekurrierte zwar immer wieder auf theologische Argumentationsfiguren, aber es handelte sich doch um eine politische Ideolo-
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nung. Die Haltung der deutschen Katholiken gegenüber der Wehrfrage 1948-1955. Mainz 1981, S. 253; vgl. auch Schildt, Moderne Zeiten, S. 333ff. 4) Neben der genannten anregenden Skizze von Hurten ist zu erwähnen Jonas Jost, Der Abendland-Gedanke in Westdeutschland nach 1945. Versuch und Scheitern eines Paradigmenwechsels in der deutschen Geschichte nach 1945, Phil. Diss. Hannover 1994; Jost skizziert abendländische Bezüge bei Adenauer und anderen Politikern, in der katholischen Kirche und in der Zeitschriftenlandschaft der ersten Nachkriegsjahre; hinsichtlich der Zeitschriftenpublizistik ergiebiger zwei Arbeiten, die aus einem von Helga Grebing geleiteten Forschungsprojekt hervorgingen: Brelie-Lewien, Katholische Zeitschriften; Ingrid Laurien, Politisch-kulturelle Zeitschriften; zu erwähnen ist außerdem das Dissertations-Projekt bei Hans Mommsen von Dagmar Popping, Abendlanddenken Zur Kontinuität einer deutschen Denktradition bis 1949, unveröff. MS 1993. 5) So wird etwa bei Alf Mintzel, Die CSU. Anatomie einer konservativen Partei 1945-1972, Opladen 1975, die Zeitschrift „Neues Abendland" nicht einmal erwähnt, obwohl in die harten konzeptionellen Auseinandersetzungen in der CSU jener Zeit auch Redakteure der genannten Zeitschrift involviert waren. -
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
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gie; in der Unübersichtlichkeit der Nachkriegszeit, als die Kitchen für viele die letzte moralische Bastion repräsentierten, war dies nicht immer deutlich. Die Abendland-Ideologie stand in enger Beziehung zur zeitgenössischen Europa-Begeisterung, ging aber nicht völlig in dieser auf. -
Die Abendland-Ideologie war nicht einfach der Ausdruck oder gar synonym mit dem Konservatismus der Nachkriegszeit, obwohl sich fast alle Konservativen auf das „christliche Abendland" beriefen aber eben nicht nur sie. Der Abendland-Bezug stand quer zu den großen Ideologiegebäuden des Konservatismus und Sozialismus und überwölbte sie zeitweise. Die Abendland-Ideologie war eine Domäne vor allem katholisch-konservativer Kreise. Diese dürfen nicht mit dem zeitgenössischen intellektuellen Katholizismus insgesamt gleichgesetzt werden; Friedrich Heer, Walter Dirks, Eugen Kogon oder Romano Guardini, um einige katholische Denker jener Jahre zu nennen, hatten mit rückwärtsgewandten Abendland-Anrufungen wenig gemein. Es wäre aber auch falsch, abendländisches Gedankengut allein auf den katholischen Konservatismus zu beziehen; parallel avancierte bei protestantischen Konservativen, denen diese Terminologie in der Zwischenkriegszeit fremd gewesen war, das „Abendland" nach 1945 zu einem zentralen Topos. Im folgenden wird nach einer knappen Skizze der Abendland-Ideologie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und ihrer Hochkonjunktur im ersten Nachkriegsjahrzehnt ein publizistischer und vereinsmäßiger Zusammenhang beleuchtet, in dem sich vor allem katholische Konservative, aber auch einige konservative Lutheraner sammelten, die beanspruchten, das Gedankengut des „christlichen Abendlandes" als Kristallisationskern für die Ordnung nicht nur der westdeutschen Gesellschaft, sondern auch der supranationalen Beziehungen des Westens auszulegen. Es handelt sich dabei um die Zeitschrift „Neues Abendland" (1946-1958), die „Abendländische Aktion" (1951-1953) und die „Abendländische Akademie" (1952-1965), unter deren Diskutanten, Lesern, Freunden und Förderern sich prominente Angehörige der politischen Klasse im weiteren Sinne und des politischen Regierungslagers befanden. Diese bildeten einen lockeren organisatorischen Zusammenhang, dessen Bedeutung zeitweise, in den frühen 50er Jahren, nicht gering gewesen ist, und um den sich schon früh geheimnisvolle Legenden rankten6). -
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6) Leider war es trotz mehrmaliger Bemühungen nicht möglich, Zugang zu den internen Unterlagen von „Neuem Abendland", „Abendländischer Aktion" und vor allem „Abendländischer Akademie" in den 50er Jahren zu erhalten, die im Fürstlich Waldburg-Zeil'schen Gesamtarchiv lagern (Georg Fürst von Waldburg zu Zeil und Trauchburg war der wichtigste
Mäzen des abendländischen Verbunds und arbeitete in verschiedenen Gremien aktiv mit; s.u.); die Darstellung erfolgt auf Basis des reichlich vorhandenen veröffentlichten Materials und von Unterlagen im Diözesan-Archiv Eichstätt (DAEi); interessante Details ergab ein Gespräch mit Dr. Hans Hutter in Eichstätt am 13. 11. 1994; Dr. Hutter (CSU), langjähriger Oberbürgermeister von Eichstätt, war Gründungsmitglied und aktives Mitglied der „Abendländischen Akademie"; als eingetragener Verein, registriert in Ingolstadt, besteht diese Institution übrigens bis heute, und Dr. Hutter war bis zu seinem Ableben 1996 ihr Vorsitzender.
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1. Die
1.1 Das
Rettung des christlichen Abendlandes
„christliche Abendland" Konjunkturen einer -
modernen
Ideologie
Die Abendland-Vorstellung, auf die sich die publizistischen Erörterungen nach 1945 vor allem bezogen, fußte auf einer durchaus modernen, erst im 19. Jahrhundert aufgekommenen Ideologie7). Im Unterschied zu den bis dahin geläufigen Verwendungen von „Abendland" für das ganze christliche Europa gegen die Heiden bzw. gegen den arabischen und türkischen Islam8) wurde seither Friedrich Scnlegels „Philosophie der Geschichte" (1828) gilt zurecht als Wendepunkt9) unter dem „Abendland" geographisch und kulturell der Westen Europas, vor allem Kontinentaleuropa, meist unter Ausschluß der slawischen Völker, verstanden. Das „Abendland" avancierte zu einem zentralen Ideologem der Metternich-Ära10), gerichtet gegen die Ideen der französischen Revolution von 1789. Die Anrufung des „Abendlandes" war im übrigen keine katholische Spezialität. Namentlich Leopold Ranke ist zu erwähnen, der in der Einleitung seiner „Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation" (1839) die „Gefahr des Abendlandes" durch die doppelte Bedrohung von islamischer und heidnischer Seite ausmalte. Für ihn war es die historische Mission des Abendlandes, aus dem „kriegerisch-priesterlichen Staat" des Mittelalters schließlich den „Geist der Nationen" hervorzubringen. Im Anschluß an Ranke ging die Definition des Abendlandes durch die Trias Antike, Christentum, germanische und romanische Völker in die Schulbücher und Lexika ein11). Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts war auch das feuilletonistische Ausmalen des „abendländischen Kulturzerfalls" geläufig, der in Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes", erschienen am Ende des Ersten Weltkriegs, -
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7) Zur Kritik abendländischer Geschichtsmythen vgl. Geoffrey Barraclough, History in a Changing World, Oxford 1957. 8) Als antikes Vorbild dieser Konstruktion wird Herodot mit seiner Stilisierung eines Kampfes zwischen freiheitlichem Europa und despotischem Asien angesehen; verstreute Hinweise auf einzelne Traditionsbezüge finden sich bei Richard Faber, Abendland. Ein politischer Kampfbegriff, Hildesheim 1979. 9) Und eben nicht wie bisweilen behauptet Novalis, Die Christenheit oder Europa (1799); s. dazu die instruktiven Ausführungen von Oskar Köhler, Abendland, in: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Krause/Gerhard Müller in Gemeinschaft mit Horst Robert Balz u.a., Bd. 1, Berlin/New York 1977, S. 17-42 (hier S. 17f.); zur theologischen Dimension der Begriffsgenese vgl. auch Karl Rahner, Abendland, in: Lexikon für Theologie und Kirche. 2. Auflage, Bd. 1, Freiburg 1957, S. 16-21. 10) S. dazu die Habilitationsschrift von Heinz Gollwitzer, Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1951. S. 218 ff; Friedrich Heer. Abendland, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 1, Mann-
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heim u.a. 1971, S. 57-64 (hier S. 62). ") S. beispielhaft Pierers Universal-Conversations-Lexikon. Neuestes enzyklopädisches Wörterbuch aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe, Sechste, vollständig umgearbeitete Auflage, Bd. 1, Oberhausen/Leipzig 1875, Sp. 21-23.
1.1 Das
25
„christliche Abendland"
schließlich geschichtsphilosophisch überhöht wurde. Für Spengler kam vor dem Hintergrund seiner hier nicht zu erörternden Kulturkreislehre die abendländische Kultur an ihr Ende, aber nicht das Abendland selbst, das einer cäsaristischen Spätblüte entgegengehen sollte. „Die Heraufkunft des Cäsarismus bricht die Diktatur des Geldes und ihrer politischen Waffe, der Demokratie", hieß es an zentraler Stelle12), und als Vollstrecker dieser historischen Mission war das „Preußentum" ausersehen13). Der Erfolg von Spengler beruhte weithin auf dem vom Titel seines Hauptwerkes hervorgerufenen Mißverständnis, hier handle es sich um ein aktuelles Untergangsszenario. Dieses bot auch eine philosophische Begründung für den in rechtsintellektuellen Kreisen Anfang der 1920er Jahre gepflegten „heroischen Realismus". Eine rege Spengler-Debatte entbrannte in der ersten Hälfte der 1920er Jahre14), danach kam der Abendland-Begriffzeitweise etwas außer Mode, wurde im allgemeinen lexikalischen Verständnis lediglich als geographisch-kulturelle „zusammenfassende Bezeichnung für die westlichen Länder insbesondere des mittelmeerischen Kulturkreises" gefaßt15); im breiten Schrifttum der „konservativen Revolution" spielte das „Abendland" kaum eine Rolle: „Nation", „Volk", „Reich", „Mitteleuropa" bzw. „Zwischeneuropa" (Giselher Wirsing) waren hier zentrale Kategorien, während bei Befürwortern einer westeuropäischen Verständigung der Pan-Europa-Gedanke Verbreitung fand. Aufbewahrt wurde die Abendland-Begrifflichkeit und -Vbrstellungswelt seit der Mitte der 1920er Jahre vor allem in der großdeutsch-katholischen Vision des Reiches, die in Konkurrenz mit der kleindeutsch-preußischen Traditionslinie aber eine minoritäre Position innehatte16). Schriftsteller wie Alois Theodor Haecker17) und seit den 1930er Jahren Christopher Dawson mit seiner kul-
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12) Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1918/20, Bd. 2, S. 634. 13) Ders., Preußentum und Sozialismus, München 1920; vgl. Detlef Feiken, Oswald Speng-
ler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988, S. 95ff. 14) Vgl. u.a. Götz Briefs, Untergang des Abendlandes. Christentum und Sozialismus. Eine Auseinandersetzung mit Oswald Spengler, Freiburg 21921 ; Otto Dickel, Die Auferstehung des Abendlandes, Augsburg 1921 ; Manfred Schroeter, Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker, München 1922; zur breiten Spanne der Bewertung vgl. Heinz Herz, Morgenland Abendland. Fragmente zu einer Kritik „abendländischer" Geschichtsbetrachtung, Leipzig 1963, S. 49ff.; Mirko Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 269ff. ls) Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, 15., völlig neubearbeitete Auflage von Brockhaus' Konversations-Lexikon, Bd. 13, Leipzig 1932, S. 641 (Stichwort „Okzident", ein Eintrag von sechs Zeilen Länge). 16) Umfassend dargestellt von Klaus Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur (1929-1934), München 1969; mit einigen Akzentunterschieden Heinz Hurten, Deutsche Katholiken 1918 1945, Paderborn u.a. 1992, S. 144ff.; zum katholisch-abendländischen Denken von Henri Massis (Frankreich), Ramiro de Maeztu (Spanien) und Leopold von Andrian (Österreich) vgl. Hermann Dorowin, Retter des Abendlandes. Kulturkritik im Vorfeld des europäischen Faschismus, Stuttgart 1991. 17) Vgl. Jost, Abendland, S. 66ff. -
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1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
turhistorischen Konstruktion abendländischer Kultureinheit18) fanden ihr Publikum vornehmlich im katholischen Bürgertum. Mitte der 1920er Jahre sammelten sich katholisch-konservative, zumeist rheinische und süddeutsche Intellektuelle um die Zeitschrift „Abendland" gegen Preußentum, Bolschewismus und paneuropäische Bewegung, die als unchristlich abgelehnt wurde; andere katholische Periodika boten Platz für die Glorifizierung der „restlos erfüllten Kultureinheit" des mittelalterlichen Abendlandes19). Allerdings war der Abendland-Bezug selbst im katholischen Konservatismus nicht unumstritten, gab es doch „borussifizierte" Katholiken, etwa Martin Spahn oder Eduard Stadtler, die sich in ihrer Bismarck-Verehrung von niemand übertreffen lassen wollten20). Die Reichweite der Ausstrahlung des Abendland-Bezugs über die katholische Publizistik hinaus ist bisher nur in Umrissen ermittelt worden. Hinzuweisen ist auf Ernst Robert Curtius' Idee eines „lateinischen Europa", auf Carl Schmitts Reichs-Vorstellung (er benutzte den Begriff des „Abendlandes" nicht expressis verbis, aber den des „Reiches" synonym). Und hinzuweisen ist schließlich auf das 1936 in Bratislava von Emil Franzel veröffentlichte Buch „Abendländische Revolution"; diese war konzipiert als Rückbesinnung bzw. als Konservative Revolution, als Antwort auf den deutschen Nationalsozialismus wie italienischen Faschismus und als europäische Föderation gegen die USA und die Sowjetunion21). Franzel, der 1937/38 von der Sozialdemokratie zur Henlein-Bewegung wechselte, machte dann nach dem Zweiten Weltkrieg Karriere als eine der publizistischen Schlüsselfiguren des rechtskatholischen -
Abendland-Lagers (s. Anm. 103). In den sogenannten „Friedensjahren" des „Dritten Reiches" überlagerten antiwestliche, antisemitische, antiplutokratische und antibolschewistiscbe Phra-
1!i) Dawson ist ein Beispiel für solche Schriftsteller, deren breite Rezeption im Deutschen Reich bzw. später in der Bundesrepublik von den 1930er bis in die 1960er Jahre reichten: die meisten seiner deutschen Veröffentlichungen erfolgten in den 50er Jahren; besonders wichtig Christopher Dawson, Die Gestaltung des Abendlandes. Eine Einführung in die Geschichte der abendländischen Einheit, Leipzig 1935 (Frankfurt/M. 1961 (Fischer-Tb)); ders., Europa. Idee und Wirklichkeit, München 1953, ibs. das letzte Kapitel über den Kampf des „abendländischen Europa" gegen den „Bolschewismus"; zu Dawson vgl. Ernst Nolte, Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert. Von Max Weber bis Hans Jonas, Berlin/Frankfurt 1991, S. 456 ff. 19) Der Große Herder. Nachschlagewerk für Wissen und Leben. Vierte, völlig neubearbeitete Auflage von Herders Konversationslexikon, Bd. 1, Freiburg/Br. 1931, S. 22; vgl. Hurten, Topos, S. 137 ff. 20) Gabriele Clemens, Rechtskatholizismus zwischen den Weltkriegen, in: Langner, Katholizismus^. 111-129 (hier ibs. S. 118f). 21) Emil Franzel, Abendländische Revolution. Geist und Schicksal Europas, Bratislava 1936, ibs. S. 254ff.; wie wenig sich Franzeis grundlegendes antiliberales Geschichtsbild veränderte, zeigt der Vergleich mit seinem drei Jahrzehnte später veröffentlichten Werk über den Nationalsozialismus; ders.. Das Reich der braunen Jakobiner. Der Nationalsozialismus als geschichtliche Aufgabe, München 1964.
1.1 Das
„christliche Abendland'
27
für ein „Großdeutsches Reich" den Abendland-Gedanken22), der weitgehend in geduldete esoterische Bezirke der Literatur und Philosophie abgedrängt wurde23). Trotz aller Verschiedenheit speziell katholisch-abendländischer und nationalsozialistischer Ideologie, die sich im Kampf des Regimes gegen die Kirche ausdrückte, gab es ein Weiterleben abendländischer Gedankenwelt auch in der offiziösen Propaganda, im Schulunterricht usw., so daß Thomas Mann von einer „faschistischen Epoche des Abendlandes" sprach24). Gerade im Rußlandbild konvergierten und mischten sich antibolschewistische Elemente unterschiedlicher Provenienz25). Hier gab es ein gemeinsames Feindbild26), das den Überfall auf die Sowjetunion 1941 als „Abwehr der bolschewistischen Bedrohung von unserem Volk und Land" und als Befreiung Rußlands von der „Pest des Bolschewismus" (Bischof Clemens August Graf von Galen in seinem Hirtenbrief vom 14. September 1941) begrüßen ließ27). Die abendländische Sinngebung des Krieges im Osten beschränkte sich im übrigen nicht auf die katholische Kirche. Der Text des Treuetelegramms, das der Geistliche Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche beim Überfall auf die Sowjetunion an Hitler sandte, sprach vom „entscheidenden Waffengang gegen den Todfeind aller Ordnung und aller abendländischen Kultur"28). Und die abendländisch inspirierten Stellungnahmen der Kirchen wiederum drückten aus, was im Bürgertum als Legitimationsmuster weithin verbreitet war und in der Presse artikuliert wurde. Der deutschnationale Journalist Hans-Georg von Studnitz erklärte im „Berliner Lokalanzeiger" unumwunden: „Alle Staaten und Völker, die sich als Repräsentanten der christlich-abendländischen Kultur sen
22) Vgl. Friedrich Heer, Der Glaube des Adolf Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität, München/Eßlingen 1968, S. 349ff.; bei Rainer Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, Stuttgart 21989, S. 483 ff. wird die angeblich „moderne" und „revolutionäre" Ideenwelt des Nationalsozialismus bzw. Hitlers hingegen schroff abgesetzt von anderen zeitgenössischen Ideologien, die abendländische Anklänge (Mussolini und Franco) aufwiesen. 23) Zu erwähnen wären Werner Bergengruen als Abendland-Protagonist auch der Nachkriegszeit und für die Philosophie Max Bense, Die abendländische Leidenschaft oder Zur Kritik der Existenz. München/Berlin 1938. 24) Thomas Mann, Gesammelte Werke, Bd. 9, Frankfurt/M. 1960, S. 702; als Beispiel für den Versuch einer Synthese von abendländischem Reichsdenken und völkisch-rassistischen Konstruktionen vgl. in der Geschichtswissenschaft Christoph Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1938; 41942). 25) Eine Fülle von Hinweisen dazu in dem Sammelband von Hans-Erich Volkmann (Hg.), Das Rußlandbild im Dritten Reich, Köln u. a. 1994. 26) Programmatisch: Pius XI. Rundschreiben über den atheistischen Kommunismus (vom 19. März 1937), Recklinghausen 21951. 21) Zit. nach Heribert Smolinsky. Das katholische Rußlandbild in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und im „Dritten Reich", in: Volkmann, Rußlandbild, S. 323-355 (S. 350); im übrigen kam es in der katholischen Publizistik jener Zeit auch zu einigen antisemitischen Entgleisungen im abendländischen Antibolschewismus (ebd., S. 351). 28) Zit. nach Kurt Meier, Sowjetrußland im Urteil der evangelischen Kirche (1917-1945), in: Volkmann, Rußlandbild, S. 285-321 (S. 311 ).
28
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
(...) betrachten, haben sich an die Seite Deutschlands gestellt. (...) Das ganze Abendland ist angetreten. Adolf Hitler ist zum Heerführer Europas geworin seiner Reichstagsrede am 11. Dezember des europäischen Abendlandes" gegen den Bolschewismus, bei der den Germanen allerdings die Führung zugefallen sei, und erinnerte an die griechische und römische Kultur, die Abwehr der Hunnen und Mauren, wobei es sich auch jeweils nicht um nationale, sondern um europäische Abwehrkämpfe gehandelt habe30). Antisemitismus und AbendlandIdeologie konnten dabei durchaus im Zusammenhang erscheinen. Goebbels betonte in einem seiner Leitartikel für die Wochenzeitung „Das Reich", das „Judentum" stelle „eine fast tödliche Bedrohung nicht nur des Reiches, sondern der ganzen abendländischen Kultur" dar31). Nachdem in der ersten Phase des Rußland-Feldzuges germanische Unterwerfungsrhetorik und vereinzelte Freiheitsversprechen gegenüber der einheimischen Bevölkerung die NS-Propaganda beherrschten32), ließ die Kriegswende von Stalingrad die Anrufung des Abendlandes endgültig zu einem zentralen Ideologem der Nationalsozialisten avancieren. Hitler formulierte in seinem Tagesbefehl Ende Januar 1943: „Die Armee hält ihre Position bis zum letzten Soldaten und zur letzten Patrone und leistet durch ihr heldenhaftes Ausharren einen unvergeßlichen Beitrag zum Aufbau der Abwehrfront und zur Rettung des Abendlandes."33) Kompliziert wird die Analyse der Abendland-Ideologie im Zweiten Weltkrieg dadurch, daß auch Repräsentanten des konservativen Widerstands in dieser Vorstellungswelt zu Hause waren. Für den Außenpolitiker des GoerdelerKreises Ulrich von Hasseil handelte es sich um einen „Überlebenskampf des christlichen Abendlandes" gegen den Bolschewismus, wenngleich er das Slawentum als einen Bestandteil der gesamteuropäischen Kultur ansah34). In den
den."29) Dieser selbst beschwor 1941 explizit die „Verteidigung
29) Hans-Georg von Studnitz, Heerführer Europas. Das ganze Abendland ist angetreten, in: Berliner Lokalanzeiger, 28. 6. 1941; zur Biographie dieses einflußreichen Journalisten vgl. Nils Asmussen, Hans-Georg von Studnitz ein konservativer Journalist im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, in: VfZ, Jg. 45, 1997, S. 75-119. 30) Zit. nach Max Domaras, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen, Bd. 11/2. Halbband, Wiesbaden 1973, S. 1796; von diesen abendländischen Anleihen, obwohl von Heer, Glaube, längst ausführlich interpretiert, -
erfährt
man
nichts bei Zitelmann, Selbstverständnis.
31) Joseph Goebbels, Die sogenannte russische Seele, in: Das Reich, Nr. 29/1942. 32) Ortwin Buchbender. Das tönende Erz. Deutsche Propaganda gegen die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1978. 33) Tagesbefehl vom 24. 1. 1943, in: Domaras, Bd. II, 2. Halbband, S. 1974; die opportunistische Flexibilität der NS-Propaganda erwies sich dann in den letzten beiden Kriegsjahren immer deutlicher. Die SS z.B. warb und rekrutierte ihre europäischen Freiwilligen je nach Lage der Dinge sowohl mit germanischen wie auch mit abendländisch-europäischen Argumenten (Georges Lichtheim, Europa im zwanzigsten Jahrhundert. Eine Geistesgeschichte der Gegenwart, München 1979, S. 434 f.). 34) Gregor Schöllgen, Ulrich von Hasseil 1881-1944. Ein Konservativer in der Opposition,
1.1 Das „christliche Abendland"
29
Bemühungen um einen Separatfrieden mit den Westmächten, der durch ein antibolschewistisch-abendländisches Bündnis retten sollte, was noch zu retten war, ähnelten sich am Ende des Krieges Konzepte aus dem Widerstand und von einzelnen Repräsentanten des Regimes. Und abgesehen von solchen dezidierten politischen Inanspruchnahmen wurde die Besinnung auf das Abendland im Krieg zunehmend tröstliches Refugium für die christlich inspirierte „innere Emigration"35) und Bezugspunkt für das existenzielle Nachdenken über die globale Bedrohung durch den Weltkrieg36). Die verschiedenen Quellen und Verwendungsweisen des Abendland-Gedankens im Krieg erklären zu einem guten Teil die „rundum positive Bedeutung"37), die ihn nach 1945 umgab. Als inhaltlich schillerndes und „recht verschieden bestimmbares kulturphilosophisches und politisches Schlagwort"38) aktivierte es vor allem im Bildungsbürgertum ein breites Spektrum von Vorstellungen: bei den meisten diffuse Assoziationen hochkultureller Inhalte, auf deren Beschwörung bei kaum einer Rede zur Neueröffnung von Universitäten nach der „deutschen Katastrophe" verzichtet wurde39), bei Absolventen humanistischer Gymnasien zusätzlich die Besinnung auf das Verhältnis von „Hellas und Hesperien"40), bei wieder anderen stand es synonym für das allgemeine Krisenbewußtsein am „Aschermittwoch" (Georg Lukacs) nach nationa-
-
München 1990, S. 140; vgl. insgesamt Hans Mommsen, Das Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes, in: Hermann Graml (Hg.), Widerstand im Dritten Reich. Probleme, Ereignisse, Gestalten, Frankfurt/M. 1984, S. 14-92. 35) Reinhold Schneider, Stimme des Abendlandes. Reflexionen zur abendländischen Geschichte, Kolmar im Elsaß 1944; zur Bedeutung von Reinhold Schneiders „abendländischem Christentum" nach 1945 vgl. Faber, Abendland, S. 133 ff. 36) Vgl. etwa Eberhard Grisebach, Die Schicksalsfrage des Abendlandes. Sturmzeit. Grundlagenbesinnung. Aufbaugedanken, Bern/Leipzig 1942; Josef Ammann, Ewiges Abendland, Bern 1944. ") Nolte, Geschichtsdenken, S. 374f. 38) Ernst Wolf, Abendland, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 1, Tübingen 31957; Sp. 9; in der 2. Auflage 1927/28 dieses evangelischen Werks war das Stichwort „Abendland" nicht aufgenommen worden. 39) Das Beispiel Tübingen bei Hurten, Topos, S. 146. 4()) Das „gemeinsame europäische Interesse an einer neuen Besinnung auf das Wesen des Klassischen" fand seinen literarischen Niederschlag in: Antike und Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens. Hg. von Bruno Snell, Hamburg, Bd. 1 ( 1945), Bd. 2 ( 1946), Bd. 3 ( 1948), Bd. 4 ( 1954), Bd. 5 ( 1956); Zitat: Bd. 3, S. 8; vgl. Wolfgang Schadewaldt, Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur, Zürich/Stuttgart 1960; hoch im Kurs stand Jacob Burckhardt (schon im „Dritten Reich") als bildungsbürgerliche Trostlektüre; vgl. Hinrich Knittermeyer, Jacob Burckhardt. Deutung und Berufung des abendländischen Menschen, Stuttgart 1949; zu erwähnen sind auch Versuche, neben der antiken und christlichen die jüdische Komponente des „Abendlandes" zu betonen; vgl. Rudolf Pechel, Deutsche Gegenwart. Aufsätze und Vorträge 1945-1952, Darmstadt/Berlin 1953, S. 164f.
30
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
listischem Rausch41). So schloß z.B. Hans Freyers „Weltgeschichte Europas", veröffentlicht 1948, mit der Hoffnung, daß noch genügend abendländische Substanz erhalten sei, um eine Zukunft zu verbürgen: „Eine Zukunft, die wir uns hart denken, doch nicht trüb, karg, doch rein. Eine Zukunft abendländischer Art wenn wir nur wach bleiben."42) Die europäische „Neugestaltung des Abendlandes"43) wurde zum weithin anerkannten Ausweg erklärt, wobei die vor 1933 noch tiefen Gräben zwischen Paneuropa- und Abendland-Gedanken eingeebnet schienen44). Das „christliche Abendland" wurde als Leitbild der Pädagogik45) ebenso beschworen wie von Sozialphilosophen unterschiedlicher Provenienz46). In der Geschichtswissenschaft diente es zeitweise zur Zurückdrängung der dominierenden borussischen Nationalkonservativen, die nun selbst „neben den Vorzü-
Allerdings ist diese nationalgeschichtliche Perspektive zu relativieren, gab es doch Bewegungen zur abendländischen „Rechristianisierung" nicht nur in Deutschland, sondern auch in den alliierten Siegerstaaten, vor allem in den USA; vgl. Martin Greschat, Rechristianisierung' und .Säkularisierung'. Anmerkungen zu einem europäischen interkonfessionellen Interpretationsmodell, in: Jochen-Christoph Kaiser/Anselm Doering-Manteuffel (Hg.), Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland. Stuttgart u.a. 1990, S. 1-24. 42) Hans Freyer, Weltgeschichte Europas, Bd. 2, Wiesbaden 1948, S. 1011; das „Abendland" bemühten nun etliche Philosophen und Sozialwissenschaftler, zu deren Sprachschatz es zuvor nicht gehört hatte; s. etwa das Werk des eigenwilligen Rechtshegelianers Johann Plenge, Die Altersreife des Abendlandes, Düsseldorf 1948; vgl. Axel Schildt, Ein konservativer Prophet moderner nationaler Integration. Biographische Skizze des streitbaren Soziologen Johann Plenge (1874-1963), in: VfZ, Jg. 35, 1987, S. 523-570 (hier S. 569). 43) Louis Emrich, Europa 1975. Die Welt von morgen. Die technischen und kulturellen Perspektiven zwischen 1950 und 1975, Freiburg/Br. 1946, S. 32; als Antwort auf die NS-Rassenideologie wurde die Wiedereingliederung Deutschlands in die abendländisch-europäische Völkerfamilie gefordert von dem italienischen Philosophen Benedetto Croce, Europa und Deutschland. Bekenntnisse und Betrachtungen, Bern 1946, S. 28 ff. (verfaßt bereits 1943); vgl. auch die Überwindung des Nationalstaats als Quintessenz der Darstellung deutscher Religions- und Geistesgeschichte bei Franz Borkenau, Drei Abhandlungen zur deutschen Geschichte, Berlin 1947, S. 108f; das späte Abendland-Engagement Borkenaus wird in der werkbiographischen Diskussion seiner Beiträge zum Totalitarismus ignoriert; vgl. zuletzt William Jones, The Path from Weimar Communism to the Cold War. Franz Borkenau and the „Totalitarian Enemy", in: Alfons Söllner u.a. (Hg.), Totalitarismus. Eine Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997, S. 35-52; vgl. zum geistigen Bezugspunkt „Europa" auch Laurien, Politisch-kulturelle Zeitschriften, S. 248ff. ") Vgl. Faber, Abendland, S. HOff. 45) Wilhelm Flitner, Die abendländischen Vorbilder und das Ziel der Erziehung, Bad Godesberg 1947, S. 77, 92f.; ders., Europäische Gesittung. Ursprung und Aufbau abendländischer Lebensformen, Stuttgart/Zürich 1961 (Neuauflage unter dem Titel: Die Geschichte der abendländischen Lebensformen, München 1967). 46) Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung, Darmstadt 1950; vgl. das opus magnum von Alexander Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart. Eine universalgeschichtliche Kulturkritik, Erlenbach/Zürich 1950-1963.
41 )
1.1 Das
31
„christliche Abendland"
gen doch auch die Gefahren des Preußentums" (Gerhard Ritter)47) einräumten; die „abendländische Kultureinheit" bildete den gemeinsamen Bezugspunkt einer Vielzahl von geistig-kulturellen Zeitschriften der Nachkriegszeit48). Serge Maiwald, der erste Chefredakteur der Tübinger Zeitschrift „Universitas", ein Schüler von Carl Schmitt und christlich-orthodoxer gebürtiger Russe, begründete das neue Periodikum 1946 aus dem „Vertrauen auf die einheitsstiftende Kraft und die Sendung der Universitas-Idee in den christlichen Jahrhunderten der abendländischen Geschichte"49). Abendländisches Pathos beherrschte nicht zuletzt die neugegründeten bürgerlichen Parteien, vor allem die überkonfessionell konzipierte christliche Union, aber auch die Deutsche Partei50), und selbst die Freie Demokratische Partei sorgte sich um „Fortbestand und Fortbildung der abendländischen Lebensformen"51). Daß der Bezug auf das „Abendland" aber nicht nur als ideologische Verklärung der Wiederaufrichtung einer kapitalistischen Gesellschaft fungierte, unterstrich der linkskatholische Publizist Walter Dirks, der gegen die inflationäre leere Parole vom „Abendland" einwandte, das „Abendland" werde sozialistisch oder gar nicht sein52). Zu erwähnen ist schließlich die besondere regionale Bedeutung der abendländischen Bestimmung in den Debatten der Christlich-Sozialen Union (CSU) 1945/56. Hier ging es im Kern um die Auseinandersetzung, ob Bayern in defensiver Strategie als abendländische Festung in feindlicher Umwelt ausharren oder ob offensiv die bayerische Sendung für Deutschland betont werden sollte. Die z.T. hitzigen Debatten um diese Frage endeten mit dem Sieg der „reichstreuen" Tendenz53). Die angedeutete Breite des Bezugs auf das „Abendland" drückte die Hege-
47) Gerhard Ritter, Geschichte als Bildungsmacht. Ein Beitrag zur historisch-politischen Neubesinnung, Stuttgart 1946, S. 28; aus rechtskonservativer Sicht rückblickend Caspar Schrenck-Notzing, Charakterwäsche. Die amerikanische Besatzung und ihre Folgen, Stuttgart 1965, S. 243ff.; vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (Tb-Ausgabe), München 1993, S. 207 ff. 48) Vgl. Laurien, Politisch-kulturelle Zeitschriften, S. 195-214; Jost, Abendland-Gedanke, S. 284ff., 31 Iff.
49) Serge Maiwald, Zum zweiten Jahrgang, in: Universitas, Jg. 2, 1947, H. 1, S. 2. 50) Vgl. zuletzt Maria Mitchell, Materialism and Secularism: CDU Politicians and National Socialism, 1945-1949, in: The Journal of Modern History, Jg. 67, 1995, S. 278-308; Jost, Abendland, S. 109ff. 51 ) Leitsätze der FDP-Bundestagsfraktion
zur Außenpolitik 1950. zit. nach Wilfried Loth, Rettungsanker Europa? Deutsche Europa-Konzeptionen vom Dritten Reich bis zur Bundesrepublik, in: Hans-Erich Volkmann (Hg.). Ende des Dritten Reiches Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München 1995, S. 201-221 (Zitat: S. 216). 52) Walter Dirks, Das Abendland und der Sozialismus, in: Frankfurter Hefte, Jg. 1, 1946, -
H. 3, S. 67-76. 53) Ausführlich dokumentiert in: Die CSU 1945-1948. Protokolle und Materialien zur Frühgeschichte der Christlich-Sozialen Union. Hg. von Barbara Fait/Alf Mintzel unter Mitarbeit von Thomas Schlemmer, 3 Bde., München 1993; vgl. Mintzel, Geschichte, S. 272ff. (ibs. S. 288).
32
I. Die Rettung des christlichen Abendlandes
monie einer christlich-konservativen Strömung im ersten Nachkriegsjahrzehnt aus. Die Autorität der Kirchen stellte einen zentralen moralischen Stabilitätspfeiler dar, in besonderem Maße die der katholischen Kirche, die in der westdeutschen Bundesrepublik nicht mehr eine, im Deutschen Reich vordem traditionell gegebene, minoritäre Position einnahm. Die zeitweise nahezu ubiquitäre Durchsetzung der Abendland-Terminologie deutet sicherlich auf die hegemoniale Position des katholischen konservativen Denkens, aber auch die protestantische Seite verfügte über eine ideologische Abendland- Tradition, wenngleich diese vor 1945 durch nationalistische Bezüge überlagert gewesen war. In der evangelischen Publizistik wurde der Abfall von Gott seit der Renaissance und die französische Revolution, die Industrialisierung und Vermassung unter der Überschrift der „Säkularisierung" für 1933 verantwortlich gemacht und der Nationalsozialismus als Kulmination der „Krise des Abendlandes" (Helmut Thielicke) bzw. „abendländische Katastrophe" (Walter Künneth) entnationalisiert54). Diese Tendenz lag auch der Veröffentlichung des Historikers Gerhard Ritter, Berater der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) in den ersten Nachkriegsjahren, „Europa und die deutsche Frage" (1948) zugrunde. Es sei „voreilig und ungerecht", den Nationalsozialismus zum „Erblaster der Deutschen" zu erklären. Er gehöre „vielmehr in ein Zeitalter des allgemeinen Kulturverfalls, der Glaubenslosigkeit und des moralischen Nihilismus hinein (...) in den allgemeinen Verfall abendländisch-europäischer Kulturtradi-
tion."55)
Dabei fällt auf, daß in starkem Maße tonangebende Rechtsintellektuelle der letzten Jahre von Weimar nun als christlich geläuterte „konservative Revolutionäre" im Rahmen der evangelischen Publizistik, z.T. an exponierter Stelle, auftraten. Sie bemühten dort die „Säkularisierung" als Erklärungsmuster für die katastrophalen Zeitläufte. Hier sind Hans Zehrer, von 1948 bis 1953 Chefredakteur des vom hannoverschen Landesbischofs Hanns Lilje herausgegebenen „Sonntagsblatts", und Giselher Wirsing, Chefredakteur der vom württembergischen Landesbischof Theophil Wurm gegründeten Wochenzeitung „Christ und Welt" zu nennen. Beide waren ehemals führende Redakteure der rechtsintellektuellen Zeitschrift „Die Tat" gewesen, die vor 1933 gegen die parlamentari-
54)
Helmut Thielicke,
Fragen
des Christentums
an
die moderne Welt.
Untersuchungen
zur
geistigen und religiösen Krise des Abendlandes, Tübingen 1947; Walter Künneth, Der große Abfall. Eine geschichtstheologische Untersuchung der Begegnung zwischen Nationalsozialismus und Christentum, Hamburg 1947; vgl. Axel Schildt, Solidarisch mit der Schuld des Volkes. Die öffentliche Schulddebatte und das Integrationsangebot der Kirchen in Niedersachsen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Bernd Weisbrod (Hg.), Rechtsradikalismus in der politischen Kultur der Nachkriegszeit. Die verzögerte Normalisierung in Niedersachsen, 1995, S. 269-295 (hier S. 288ff.). 55) Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München 1948, S. 199. Hannover
über die
geschichtliche
1.1 Das „christliche Abendland"
33
sehe Demokratie für eine Militärdiktatur unter Einbeziehung „vernünftiger" Teile der NS-Bewegung geworben hatte. Hans Zehrer forderte nach 1945 in zahlreichen Leitartikeln des „Sonntagsblatts", die Schuld anzuerkennen, den Weg des Abendlandes verlassen zu haben. Erst durch Anerkennung dieser Schuld, so Zehrer, könne sich wieder das „Herrenbewußtsein" einer „Elite" bilden.56) Von hier aus ergaben sich Optionen, die von einer gewissen reservatio mentalis gegenüber dem neuen Bonner Staat und seinem Grundgesetz gekennzeichnet waren. Obwohl es eine autochthone konservativ-protestantische Wendung zum „Abendland" gab, war doch der intellektuelle Katholizismus die wichtigere und heftiger sprudelnde Abendland-Quelle57). Schwer zu bestimmen ist dabei die Gewichtung: war die katholische Berufung auf das „Abendland" eher deshalb hegemonial, weil sie ihrer Abstützung im gesamten sonstigen abendländisch gestimmten Umfeld sicher sein konnte, oder richtete sich dieses, zu beschreiben als Katholisierung der gesamten Gesellschaft, an der starken Position der katholischen Kirche aus? Daß der „ragende Bau der alten Katholizität, gleich einem gewaltigen Fremdkörper in die moderne Welt hineinragend"58), offenbar unerschüttert NS-Zeit und Weltkrieg überstanden hatte, war jedenfalls allgemein vorherrschender Eindruck. Die gemeinsame Bezugnahme auf das „christliche Abendland" in der katholischen Publizistik, ob in „Hochland", „Neue Ordnung" oder den „Stimmen der Zeit"59), sicherte dem Schlagwort eine zentrale Position in der gesamten publizistischen Öffentlichkeit. Der demonstrativ zur Schau gestellte katholische Optimismus und abendländische Offensivgeist wurde allerdings zunehmend von Tönen des enttäuschten Zweifels untermalt. Er war die Folge der notgedrungen einzugehenden Kompromisse bei der Wiederaufrichtung weltlicher Ordnung, die den katholischabendländischen Idealen fremd gegenüber zu stehen schien60).
56)
Hans Zehrer, Stille vor dem Sturm. Aufsätze zur Zeit, Hamburg 1949; vgl. Axel Schildt, Deutschlands Platz in einem „christlichen Abendland". Konservative Publizisten aus dem Tat-Kreis in der Kriegs- und Nachkriegszeit, in: Thomas Koebner u.a. (Hg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit, Opladen 1987, S. 344-369. 57) In der verdienstvollen Pionierstudie von Helga Grebing, Konservative Kritik an der Demokratie in der Bundesrepublik seit 1945, Frankfurt/M. 1971, S. 263 ff., erscheinen protestantische Publizisten allerdings lediglich als Anhängsel der allein dem katholischen Lager zugerechneten Abendland-Ideologie; vgl. zur Einordnung in die Geschichte des deutschen Konservatismus Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfangen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998. 58) Karl Muhs. Die Dialektik der Geschichte und die gegenwärtige Situation des abendländischen Geistes, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 105, 1949, S. 709-736 (Zitat: S. 735); vgl. die sensible Sichtung der geistigen Situation des Katholizismus schon bei Friedrich Heer, Europäische Geistesgeschichte, Stuttgart 1953, S. 651 ff. 59) Vgl. Brelie-Lewien, Katholische Zeitschriften, S. 137ff.; dies gilt vor allem für die Vorgabe von theologisch-historischen Argumentationslinien für die breit geführte „Schulddiskussion"; vgl. dazu für die katholische Seite Bücker, Schulddiskussion. 6()) Dies bezog sich etwa auf leidvolle Erfahrungen bei der katholischen Einflußnahme auf
34
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
An der Schwelle der 50er Jahre waren zwar die hochfliegenden kirchlichen Rechristianisierungs-Hoffnungen enttäuscht worden; aber gleichzeitig fand die Beanspruchung des „christlichen Abendlandes" nun eher noch weitere Verbreitung als in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die für die CDU treffend beschriebene Tendenz, „der Wille zur Rechristianisierung der Gesellschaft wandelte sich in den Willen, das christliche Abendland' gegen seine Feinde zu schützen"61), gilt cum grano salis für die gesamte politische Kultur Westdeutschlands. Im Vordergrund stand auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges eindeutig das „Abendland" als Kampfbegriff gegen den „Bolschewismus". Auf den abendländischen Antibolschewismus konnten sich ehemalige Gegner wie Befürworter des einstigen „Dritten Reiches" gleichermaßen beziehen62). Die erwähnte NS-Torschluß-Ideologie, Vorstellungen im Widerstand und katholische Reichsideologie seit den 1920er Jahren bildeten ineinanderströmende Quellen der begrifflichen Abendland-Konjunktur, die alle gesellschaftlichen Bereiche erfaßt hatte. Die Vertriebenen-Verbände betonten in ihrer Charta von 1950 das „Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis"63). Eine sehr ähnliche Formulierung gebrauchte Konrad Adenauer schon in seiner ersten Regierungserklärung im Bundestag64); besonders deutlich bekannte er sich dann bei seinem Staatsbesuch in Großbritannien im Dezember 1951 zum „Bewußtsein der abendländischen christlichen Werte"65);
Beratungen im Parlamentarischen Rat 1948/49; s. Bernhard Bergmann/Josef Steinberg (Hg.), In memoriam Wilhelm Böhler. Erinnerungen und Begegnungen, Bachem/Köln 1965, S. 81 ff. (Ausführungen von Adolf Süsterhenn); Töne der Ernüchterung auf dem Katholikentag 1948 erwähnt Wolfgang Löhr, Rechristianisierungsvorstellungen im deutschen Katholizismus 1945-1948. in: Kaiser/Doering-Manteuffel, Christentum, S. 25^U (hier S. 34); allerdings stand für die breite Öffentlichkeit noch die triumphale Präsentation kirchlicher Stärke im Vordergrund (72. Deutscher Katholikentag. Mainz, 1.-5.9.1948, Paderborn 1948; 73. Deutscher Katholikentag. Bochum 1949, Paderborn 1949). 61) Anselm Doering-Manteuffel. Die .Frommen' und die .Linken' vor der Wiederherstellung des bürgerlichen Staats. Integrationsprobleme und Interkonfessionalismus in der frü-
die
hen CDU, in: ders./Kaiser. Christentum, S. 88-108 (Zitat: S. 95). So bediente sich auch die Propaganda der neonazistischen Sozialistischen Reichspartei der Schablone Abendland versus Bolschewismus; vgl. dazu Otto Büsch/Peter Furth, Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland, Berlin 1957, S. 301. 63) Zit. nach Hans Edgar Jahn, Vertrauen, Verantwortung, Mitarbeit. Eine Studie über public relations Arbeit in Deutschland, Oberlahnstein 1953, S. 196. M) Vgl. Schildt, Moderne Zeiten, S. 337; zu Adenauers Strapazierung der Abendland-Terminologie im Kontext eines pragmatisch-politischen Ansatzes vgl. auch Michael Bosch, Ideelle Aspekte der Westintegration der Bundesrepublik bei Konrad Adenauer, in: Jürgen Heideking u.a. (Hg.), Wege in die Zeitgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Gerhard Schulz, Berlin/New York 1989, S. 182-195 (hier S. 184ff.); Jost, Abendland-Gedanke, S. 159-166; allgemein auch Francois Bondy, Selbstbesinnung, Selbstbestimmung: Kultur und Integration, in: Werner Weidenfeld (Hg.), Die Identität Europas, München/Wien 1986, S. 66-79. 65 ) Konrad Adenauer, Auf dem Weg nach Europa, Rede in London am 6. 12. 1951, dok. in Helga Haftendorn u.a., Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1982,
62)
1.1 Das „christliche Abendland'
35
auch bei der Ernennung des Literaten Wilhelm Hausenstein zum ersten Gesandten der Bundesrepublik in Paris spielte der christlich-abendländische Hintergrund eine wichtige Rolle66). Die angestrebte Einigung Europas bedeutete für Adenauer „ein Bollwerk des christlichen Abendlandes gegen den Bolschewismus"67). Diese Sichtweise bestimmte auch die Verlautbarungen der Unternehmer. In einer Broschüre des Bundes der Deutschen Industrie (BDI) zum fünfjährigen Bestehen der Organisation 1954 hieß es: „Die gesamte westdeutsche Industrie fühlt sich der westlichen Welt engstens verbunden und verpflichtet. Aus der abendländischen Kultur und ihren überkommenen Gesetzen leitet sie die beschwingenden Kräfte allen Widerstands gegen eine asiatische Überflutung her."68) In einer Grundsatzrede auf dem Gewerkschaftstag der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG) 1951 meinte das Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands, Georg Schneider: „Die politischen Prinzipien, für die wir damit eintreten, beinhalten (...) auch das Geistesgut der abendländischen Kultur, die in diesen Zeiten aufs stärkste bedroht ist.. ,"69) Ernst Jünger hatte in seinem vielbeachteten Essay „Der gordische Knoten" (1953) abendländische „Freiheit" und östlichen „Schicksalszwang" als „zwei menschliche Grundhaltungen" gegenübergestellt70), deren unversöhnlicher Gegensatz durch die Geschichte bis hin zum Kalten Krieg der Gegenwart zu verfolgen sei. Vor diesem Hintergrund wurde die „pathetische Abendland-Apotheose"71) der Ostwissenschaftler zelebriert, z.B. von dem in Hamburg lehrenden Historiker Hermann Aubin, der 1950 eine neue, vom Abendland besonders geprägte Ge-
(Zitat: S. 102); vgl. Hans-Peter Schwarz, Adenauer, Bd.l: Der Aufstieg 1876-1952, München 1994 (Tb-Ausgabe), S. 895; Arnulf Baring, Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie. Bonns Beitrag zur EWG, München 1969, S. 204. 66) Wilhelm Hausenstein (1882-1957), im „Dritten Reich" in der Redaktion der „Frankfurter Zeitung" (1934—1943), war 1940 zum Katholizismus konvertiert; vgl. Wilhelm Hausenstein, Pariser Erinnerungen. Aus fünf Jahren diplomatischen Dienstes. 1950-1955, München 1961, S. 17; vgl. Faber, Abendland-Gedanke, S. 127, 147 f.; Ulrich Lappenküper, Wilhelm Hausenstein Adenauers erster Missionschef in Paris, in: VfZ, Jg. 43, 1995, S. 101-102
S. 635-678. 67) Normen Altmann, Konrad Adenauer im Kalten Krieg: Wahrnehmungen und Politik 1945-1956, Mannheim 1993, S. 49 (ff.); vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Rheinischer Katholik im Kalten Krieg. Das „christliche Europa" in der Weltsicht Konrad Adenauers, in: Martin Greschat/Wilfried Loth (Hg.), Die Christen und die Entstehung der Europäischen Gemeinschaft, Stuttgart u.a. 1994, S. 237-246. 68) Zit. nach Oskar Negt, Gesellschaftsbild und Geschichtsbewußtsein der wirtschaftlichen und militärischen Führungsschichten. Zur Ideologie der autoritären Leistungsgesellschaft, in: Gert Schäfer/Carl Nedelmann (Hg.), Der CDU-Staat. Analysen zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, Bd. 2, Frankfurt/M. 41976, S. 359^124 (Zitat: S. 401 ). 69) Zit. nach Jahn, Vertrauen, S. 180. 70) Ernst Jünger, Der gordische Knoten, Frankfurt/M. 1953, S. 5, 21, 35. 71) Christoph Kleßmann, Osteuropaforschung und Lebensraumpolitik im Dritten Reich, in: Peter Lundgreen (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt/M. 1985, S. 350-383 (Zitat: S. 370). -
36
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
schichtsepoche nach „schmerzvoll-gewaltigen Wehen"72) heraufziehen sah. In einem Beitrag für die Bildungsarbeit der „Inneren Führung" der gerade gebildeten Bundeswehr grenzte er dabei das „Abendland" bzw. synonym „Resteuropa" als „Gegengewicht gegen die Bildung der beiden großen Machtblöcke" ab, wenn auch in erster Linie gegen den Osten73). Damit war eine häufig anzutreffende Bedeutungskomponente der Abendland-Begrifflichkeit angesprochen, die geistige Unabhängigkeit und Superiorität des europäischen „Abendlandes" sowohl gegenüber dem „Bolschewismus" als auch gegenüber dem materialistischen „Amerika". Kulturelle Äquidistanz und politisches Bündnis diese Formel charakterisierte das Bewußtsein und erleichterte die Integration vor allem protestantisch-konservativer Kreise in das Regierungslager; dabei wurde dem europäischen Abendland und als dessen Mitte Deutschland (analog dem antiken Athen) die geistige, den USA (analog dem alten Rom) die politisch-militärische Führung zugesprochen74). Diese ideologische Konstruktion war zu Beginn der 50er Jahre noch labil, als besonders im protestantischen Raum wirksame nationalneutralistische Strömungen nicht nur die kulturelle, sondern auch die politische Unabhängigkeit von beiden großen Lagern propagierten75). Gegen nationalistische Restbestände im deutschen Protestantismus forderte Eugen Gerstenmaier, einer der führenden evangelischen Repräsentanten der Union, immer wieder die Verteidigung des „christlichen Abendlandes" in seiner Vielfalt76), wie er stets hinzufügte und wandte sich gegen das ge-
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72)
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Hermann Aubin, Zwischen Altertum und Neuzeit. Einheit und Vielfalt im Aufbau des mittelalterlichen Abendlandes, in: Walter Hubatsch (Hg.). Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Festschrift für S. A. Kaehler zum 65. Geburtstag, Düsseldorf 1950, S. 15-42 (Zitat: S. 15); vgl. Deutschland und Europa. Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes. Festschrift f. Hans Rothfels. Hg. von Werner Conze, Düsseldorf 1951; Otto Branner, Abendländisches Geschichtsdenken, Hamburg 1954 (Rede anläßlich des 35. Jahrestages der Universität Hamburg). 73) Hermann Aubin, Abendland, Reich, Deutschland und Europa, in: Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politisch-historischer Bildung. Hg. vom Bundesministerium für Verteidigung. Innere Führung. Bd. 1, Tübingen 1957, S. 29-63 (Zitate: S. 62f). 74) Fried, Das Abenteuer des Abendlandes, S. 232 ff.; die „gewisse Selbständigkeit in dieser atlantischen Welt" (ebd., S. 225) sollte für das „im Sinne des Hellenischen Bundes" (ebd.) neugestaltete Europa u. a. in der gemeinsamen Beherrschung Afrikas zum Ausdruck kommen; vgl. Wirsing, Schritt aus dem Nichts, S. 304ff.; Serge Maiwald, Die Dritte Kraft, in: Universitas, Jg. 5, 1950, S. 1345-1350; vgl. auch die gewundene Begründung für die politische Westorientierung bei Walter Künneth, Politik zwischen Dämon und Gott. Eine christliche Ethik des Politischen. Berlin 1954, S. 584 f. 75) Vgl. Nolte, Deutschland, S. 287ff. 76) Eugen Gerstenmaier, Unsere christliche Verantwortung für Europa. Rede auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Essen am 25. August 1950, in: ders., Reden und Aufsätze. Zusammengestellt anläßlich seines 50. Geburtstages am 25. August 1956, Stuttgart 1956, S. 162-176 (hier S. 173).
1.1 Das
37
„christliche Abendland"
fährliche Ressentiment vom „katholischen Abendland"77), das die gemeinsame Verteidigung schwäche. Die Beschwörung des „Abendlandes" als von außen aus dem Osten bedrohter Gemeinschaft wurde ergänzt durch die Warnung vor innerer Aufweichung, die wiederum den äußeren Feinden zugute käme. Der bayerische Ministerpräsident Ehard (CSU) äußerte 1952 die „strategische Erwartung, daß ein politisch krankes Abendland am raschesten reif für das Moskauer Selbstbeglückungs-System gemacht wird."78) Auch der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Peter Altmeier (CDU), der in seinen Reden immer wieder auf die Rettung des „Abendlandes" zu sprechen kam, beschwor die Gefahr der inneren Verwahrlosung, z.B. bei der Rechtfertigung polizeilichen Einschreitens gegen den Film „Die Sünderin" mit Hildegard Knef, der den Unwillen der katholischen Kirche erregt hatte79). Ein beträchtlicher Teil der breit ausmalenden christlich-konservativ geprägten kulturpessimistischen Publizistik bezog aus dieser wiederholten Warnung bis in die 1960er Jahre hinein sein Leitmotiv80). Die pessimistische Gestimmtheit war dabei tendenziell eher auf der konservativ-protestantischen Seite als schon aus theologischen Gründen in der katholischen Publizistik anzutreffen81). Die Vorstellung der abendländischen Kulturzerstörung konnte allerdings auch als gänzlich immanentes Problem theoretisiert werden. Ein intellektuell anspruchsvolles Beispiel war das Buch des Soziologen Alfred Weber „Der dritte oder der vierte Mensch" (1953), in dem ein typologischer Gegensatz zwischen dem ganzheitlichen „dritten Mensch", dem „abendländischen Typ", und dem durch „anlagemäßige Desintegrierung" daraus entstandenen „vierten Mensch" konstruiert wurde. Dieser „vierte Mensch" war der in die „Gesamtverapparatung" als Hauptzug der „modernen Daseinsform" eingespannte -
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77) Ders., Evangelisches Abendland?, in: Christ und Welt. Jg. 6. 1953, Nr. 33 (Sondernummer zum Kirchentag) vom 12. 8. 1953. 78) Zit. nach Karl Bosl (Hg.), Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern. Abtlg. III. Bayern im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 9: Die Regierungen 1945-1952, bearbeitet von Fritz Baer, München 1976, S. 592 (vgl. auch ebd., S. 651). 79) Landtagsrede zum Aufführungsverbot des Filmes „Die Sünderin" am 14. 2. 1951, in: Peter Altmeier, Reden 1946-1951, Boppard am Rhein 1979, S. 340-345 (ein Schlüsseldokument konservativ-katholischen Kulturverständnisses in den 50er Jahren).
80) Vgl. etwa Anton Böhm, Epoche des Teufels. Ein Versuch, Stuttgart 1955; zum Gesamtkomplex Schildt, Moderne Zeiten, S. 324ff. 81) Vgl. das Panorama abendländischer Kulturzerstörung von Ferdinand Fried (=Friedrich Zimmermann), Der Umsturz der Gesellschaft, Stuttgart 1950; Helmut Thielicke, Der Nihilismus. Entstehung, Wesen, Überwindung, Tübingen 1950; Paul Althaus, Grundriß der Ethik, Gütersloh 21953; Friedrich Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem, Stuttgart 1953; für die katholische Seite als Kontrast das heitere Bild der Gegenwart in durchaus abendländischer Parteilichkeit bei Guardini. Ende der Neuzeit; Friedrich Dessauer, Erbe und Zukunft des Abendlandes, Hamburg 1956, S. 58f.
38
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
Funktionär, ein geschicbtsloses Wesen82), das dann als „Massenmensch" durch zahllose zeitgenössische Gesprächsforen kirchlicher Akademien, kultureller
und sozialwissenschaftlicher Erörterungen geiDie daraus zu ziehenden Konsequenzen vor allem die Bemühungen wurden ebenso häufig um eine christlich inspirierte „abendländische Elite" diskutiert. Stets ging es darum, wie im „Klimakterium zwischen Kultur und Zivilisation"83) der „Widerstand gegen abendlandwidrige Lebensformen"84) zu organisieren sei. Im Verlauf der 50er Jahre wurden die Widersprüche zwischen einer rasant sich modernisierenden und allmählich liberalem Gedankengut sich öffnenden Gesellschaft und der Vision eines „christlichen Abendlandes" immer größer. Als symbolischer Höhe- und Endpunkt der abendländischen Bewegung ist der 10. Juli 1955 anzusehen, als 60000 gläubige katholische und evangelische Christen im Augsburger Rosenau-Stadion sich zum Höhepunkt der Jahrtausendfeier der Schlacht auf dem Lechfeld im Jahre 955 versammelten; die vielbeachtete Hauptrede, es war sein erster öffentlicher Auftritt als Bundesaußenminister, hielt Dr. Heinrich von Brentano. Er sah eine „deutliche Parallele" zwischen der Ungarn-Schlacht vor tausend Jahren und der aktuellen politischen Lage: „Die Ähnlichkeit ist erschreckend. Damals standen vor den Toren des Abendlandes, vor den Toren dieser Stadt, in der wir weilen, die heidnischen Nomadenscharen des Ostens; Verderben und Untergang drohten. Jetzt stehen wiederum, nicht sehr viel weiter von dieser Stadt entfernt, die Massen des Ostens."85) Daß sich die Zeiten geändert hatten, zeigte sich an Reaktionen in der Öffentlichkeit, in der die aggressive Abendland-Terminologie als Gefährdung für außenpolitische Entspannungsversuche zunehmend auf kritische Stimmen stieß, die Überkonfessionalität bezweifelt86) und in der gefragt wurde, welche Kreise sich da in abendländischer Militanz übten.
Rundfunknachtprogramme sterte.
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Alfred Weber, Der dritte oder der vierte Mensch. Vom Sinn des geschichtlichen Daseins, München 1953 83) Friedrich Märker, Wandlungen der abendländischen Seele. Psychologische Bildnisse unserer Kulturepochen, Heidelberg 1953, S. 139; vgl. auch die Ausführungen von WalterGerd Bauer, Die Religion des Abendlandes. Gedanken zur Rechtfertigung des höheren Menschentums, Bd. 1, Hamburg 1952. 84) Herbert Cysarz, Überlieferung, Sintflut, Neuland, in: ders. u.a., Europa Nova. Tradition und Revolution, Wien 1951, S. 9-87 (Zitat: S. 16). 85) Zit. nach Abendland: Die missionäre Monarchie, in: Der Spiegel, Nr. 33/1955, S. 12-14 (Zitat: S. 12); vgl. zur Lechfeld-Feier 1955 Heer, Glaube, S. 542f.; Faber, Abendland-Gedanke, S. 34f; nicht erwähnt wird das abendländische Engagement Brentanos von Daniel Kosthorst, Brentano und die deutsche Einheit. Die Deutschland- und Ostpolitik des Außenministers im Kabinett Adenauer 1955-1961, Düsseldorf 1993. 86) Thomas Eil wein, Klerikalismus in der deutschen Politik, München 1955, S. 252.
82)
1.2 „Neues Abendland"
39
„Abendländische Akademie" -
1.2 Vom „Neuen Abendland" zur „Abendländischen Akademie" Damit wurde die Aufmerksamkeit auf den erwähnten publizistisch-intellektuellen Zusammenhang um „Neues Abendland" und die „Abendländische Akademie" gelenkt, der bereits ein Jahr nach Kriegsende entstanden war und in der ersten Hälfte der 50er Jahre seine beste Zeit erlebte. „Neues Abendland. Zeitschrift für Politik, Kultur und Gesellschaft" wurde von dem rheinisch-katholischen Föderalisten Johann Wilhelm Naumann in Augsburg gegründet und herausgegeben87). Die Titelwahl in Anlehnung an die Zeitschrift „Abendland" der 1920er Jahre sollte mit dem Zusatz „neu" das publizistische Anliegen ausdrücken, abendländische Traditionen fortzuführen und gleichzeitig in dieser Tradition gesellschaftliche Umkehr und einen neuen Anfang zu fordern. Im Editorial der ersten Nummer der Zeitschrift schrieb Naumann, es gelte, „der seit Treitschke, Droysen und Sybel verpreußten deutschen Geschichtsauffassung entgegenzutreten (...) Unsere Aufgabe soll es sein, den Ungeist eines preußischen Hochmuts, der Geschichtsfälschung und des vermassenden Militarismus zu bekämpfen (...) im Dienst der Erneuerung Deutschlands aus christlich-universalistischem Geist, also im Sinne echter abendländischer Geisteshaltung"; der Geschichtsprozeß hatte im Verständnis Naumanns dazu geführt, daß infolge der Zerstörung des abendländischen Universalismus durch die „Sucht der ratio, Dinge zu erklären, die nur glaubensmäßig zu sehen und zu finden sind (...), an die Stelle der Staatengemeinschaft des Heiligen Römischen Reiches (der) moderne Nationalstaat mit seiner letzten dämonischen Konsequenz, dem Nationalsozialismus", getreten war; Deutschland müsse nun „durch die Sühne seiner Schuld zur Mater occidentalis zurückfinden."88) Mit dieser Wendung reihte sich „Neues Abendland" in die mit geschichtlich-theologischen Konstruktionen bestrittene Schulddiskussion ein; apodiktisch formu-
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87) Naumann, geboren
1897 in Köln, hatte Philosophie, Geschichte, Volkswirtschaft und Listudierte, bevor er in der Weimarer Republik bei Tageszeitungen des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei journalistische Erfahrungen sammelte und im „Dritten Reich" teratur
(seit 1937) für das Päpstliche Missionswerk arbeitete. Ende 1945 wurde er zum Vorsitzenden des „Vereins der Bayerischen Zeitungsverleger" gewählt und erhielt nach dem Muster der Lizenzvergabe in der US-Zone gemeinsam mit dem Sozialdemokraten Curt Frenzel eine Lizenz für die „Schwäbische Landeszeitung"', obgleich er die Herausgeberschaft einer katholischen Tageszeitung angestrebt hatte; dies gelang erst 1948 mit der Gründung der „Augsburger Tagespost" (vgl. Brelie-Lewien, Katholische Zeitschriften, S. 77ff. auch für die folgenden Angaben zur Gründung von „Neues Abendland" (NA)). 88) Johann Wilhelm Naumann, Neues Abendland, in: NA, Jg. 1, 1946/47, H. 1, S. 1-3; vgl. auch Hegel und der preußische Geist, in: NA, Jg. 1, 1946/47, H. 5, S. 29-30: „Wie Hegel und Treitschke war auch Bismarck Vertreter der Macht-vor-Recht-Philosophie.(...) Mit dem Heraustreten des preußischen Staates aus der deutschen Geschichte entstand auch die staatlich subventionierte preußische Geschichtsbaumeisterei (mit dem) Geist der Fälschung (...) vor allem gegen Österreich". -
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40
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
lierte es Ferdinand Kirnberger: „Die deutsche Schuld besteht im wesentlichen im Abfall von der Idee des einstigen abendländischen Universalismus, also in der Hinwendung zum modernen Gedanken des nationalstaatlichen Etatismus."89) Während dabei in einigen Artikeln auch die Reformation in die Verantwortung einbezogen wurde kommentarlos gelangte sogar ein längerer Auszug von Thomas Manns Rede über Deutschland und die Deutschen mit der sehr kritischen Bewertung Luthers zum Abdruck90) -, schien bereits früh eine konfessionsversöhnende Tendenz auf, die in der Arbeit der „Abendländischen Akademie" in den 50er Jahren programmatisch vertieft wurde. In einem Gespräch mit der Zeitschrift „Neues Abendland" ging der katholische Theologe Erich Pryzwara von einem „beginnenden Niederbruch der Schranken zwischen Reformation und der katholischen Kirche" und der Notwendigkeit „abendländischer" Gemeinsamkeit aus91). Chefredakteur von „Neues Abendland" wurde zunächst Walter Ferber, der allerdings schon nach wenigen Monaten ausschied und die Leitung der „Föderalistischen Hefte" übernahm92). Ferber sah das „Neue Abendland" in einer gemeinsamen antipreußischen Linie mit den „Frankfurter Heften" und dem „Rheinischen Merkur", mit denen gemeinsam eine „föderalistisch-universalistische Geschichtsrevision" angestrebt werden sollte93). Die Mitarbeiter von „Neues Abendland" entstammten einerseits abendländisch-katholischen und föderalistischen Intellektuellenkreisen der Weimarer Republik94), auf der anderen Seite konnten einige junge Akademiker gewon-
89)
Ferdinand Kirnberger, Politische oder religiöse Schuld, in: NA, Jg. 1, 1946/47, H. 8, 5. 22-24 (Zitat: S. 22); Kirnberger (Jg. 1875), ein anfangs häufig vertretener Autor, war von 1928-1933 in Hessen Finanz-und Justizminister gewesen. Seine staatstheoretischen Gedanken entfaltete er in einer kleinen Broschüre, die in der von Johann Wilhelm Naumann herausgegebenen „Abendländischen Reihe" erschien: Ferdinand Kirnberger, Laiengespräche über den Staat, Augsburg 1947. 90) Thomas Mann, Charakter und Schicksal Deutschlands, in: NA, Jg. 3. 1948. S. 225-227; eine Übersetzung aus der Zeitschrift „Carrefour" (Paris); die deutschen Fassungen der am 6. Juni 1945 in der Library of Congress (Washington) gehaltenen Rede in der Neuen Rundschau (Stockholm, Oktober 1945) und in einer Broschüre des Suhrkamp-Verlags (Berlin 1947) fanden keine Erwähnung. 91 ) Das Problem Abendland. Ein Gespräch mit Erich Pryzwara, in: NA, Jg. 2, 1947, H. 3. S. 87-88 (Zitat: S. 87). 92) Ferber, geboren 1907 als Sohn eines Bergarbeiters in Gelsenkirchen, war nach dem Anschluß von Österreich 1938-1942 im KZ Dachau inhaftiert; nach der Überstellung in eine „Bewährungskompanie" gelang ihm die Flucht in die Schweiz, von wo er 1945 zunächst sein politisch-publizistischer Einfluß reichte immerhin so nach Freiburg zurückkehrte weit, daß er auf dem Bochumer Katholikentag 1949 die Grandsatzrede über die Einigung Europas halten durfte. Ferber ging 1953 wieder zurück in die Schweiz. 93) Walter Ferber, Geschichtliche Betrachtung zur Schuldfrage, in: NA, Jg. 1, 1946/47, H. 8, S. 24-25 (Zitat: S. 25). 94) Brelie-Lewien, Katholische Zeitschriften, S. 79f; die Kontinuität des abendländischen Diskurses im katholischen Intellektuellen-Milieu wird betont ebd., S. 138ff; vgl. dies.. Abendland und Sozialismus. Zur Kontinuität politisch-kultureller Denkhaltungen im Katho-
„Abendländische Akademie"
1.2 „Neues Abendland"
41
-
werden, darunter die Studenten der Geschichtswissenschaft Ernst Deuerlein und Franz Herre (Jg. 1926); zu den Autoren gehörten im ersten Jahrgang der Zeitschrift u. a. auch der bereits erwähnte sudetendeutsche Publizist Emil Franzel, der Jurist Ernst von Hippel, der Journalist Paul Wilhelm Wenger und als prominentes Aushängeschild der katholische Literat Reinhold Schneider95). Charakteristisch war für diesen Jahrgang die Mischung von christlich-abendländischen und föderalistischen Gedankengängen. Föderalismus war dabei nicht etwa im heutigen Verständnis als Begriff für die staatliche Struktur gemeint, sondern als „Weltanschauung"96) mit dem katholischen „Abendland" untrennbar verbunden97). Und von diesem weltanschaulichen Kern her ergab sich der anfänglich vorherrschende Affekt gegen die „neu- und undeutsche preußische Mentalität"98); von den jungen Mitarbeitern von „Neues Abendland" gehörte Franz Herre neben Ernst Deuerlein zu den vehementesten Kritikern der als nur halbherzig und taktisch verstandenen Distanz zu den dunklen Seiten Preußens, die Gerhard Ritter auf dem Historikertag 1949 formulierte, mit der Pointe übrigens, Ritter habe zu viel von „Westeuropa" und zu wenig vom „Abendland" gesprochen99). Preußen, so wurde immer wieder betont, sei das Durchgangsstadium der seit der Renaissance zu beobachtenden „Entwicklung zum Kollektivismus"1(X)) gewesen, der überhaupt erst „das Massenerlebnen
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der Weimarer Republik zur frühen Nachkriegszeit, in: Detlef Lehnert/Klaus Politische Teilkulturen zwischen Integration und Polarisierung. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1990, S. 188-219 (hier S. 190, 193, 196, 199); für die Kontinuität der Föderalismus-Diskussion von der Weimarer Republik zur frühen Nachkriegszeit vgl. Peter Heil. Föderalismus als Weltanschauung, in: Geschichte im Westen, Jg. 9, 1995, Bd. 2, S. 165-182; relativiert wird damit die Annahme, bei der Hochkonjunktur des Föderalismus nach 1945 habe es sich in erster Linie um historische Lernprozesse aus der Zeit des „Dritten Reiches" gehandelt, vertreten von Jochen Huhn, Lernen aus der Geschichte? Historische Argumente in der westdeutschen Föderalismus-Diskussion 1945-1949, Melsungen 1990; andererseits gilt gerade für „Neues Abendland", daß jüngere, neu hinzugekommene Mitarbeiter eine wichtige Rolle spielten. 95) Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 211 f., erwähnt ein Angebot an Franz Schnabel zur Mitarbeit (1946), dem sich dieser entzogen habe; vgl. auch ebd., S. 266ff., zum „Arbeitskreis christlicher Historiker" (1947-1955). 96) Heil, Föderalismus. 97) Vgl. Walter Ferber, Der Föderalismus (Abendländische Reihe, Bd. 5), Augsburg 1946, S. 93, 98f., 116; vgl. auch Franz Josef Hylander, Universalismus und Föderalismus als Erbe und Aufgabe des christlichen Abendlandes und des deutschen Volkes. Zur Katastrophe des Abendlandes, Teil 1, München 1946 (als Bd. 2 einer katholischen Buchreihe „Das andere Deutschland. Beiträge zum geistigen Wiederaufbau des Abendlandes und zum Kulturschaffen der Welt" im Verlag Dr. Schnell & Dr. Steiner). 98) Hegel und der preußische Geist, S. 30. 99) Vgl. Franz Herre, Selbstbesinnung der abendländischen Geschichtswissenschaft, in: NA, Jg. 4. 1949, S. 305-307; vgl. zur neuabendländischen Kritik an Ritter auch Schulze. Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 173. I0°) E. Schmittmann, Demokratie als personale Volksordnung, in: NA, Jg. 2, 1947, H. 1, S. 1-3 (Zitat: S. 1); die Verfasserin war die Witwe des Zentrums-Politikers und führenden Vertreters eines christlichen Föderalismus in der Weimarer Republik, Benedikt Schmitt-
lizismus
von
Megerle (Hg.),
42
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
nis (als) das eigentliche Betäubungsmittel des Nationalsozialismus"101) ermöglicht habe. Diese Sicht der Dinge wurde bisweilen mit einer harten Kritik am Verhalten der Katholiken unter Einschluß des deutschen Episkopats verbunden; es stünde der Kirche wohlan, „Volksbußwallfahrten (mit den) Kirchen-, Fürsten' an der Spitze" zu organisieren102). Die inhaltlichen Grundlinien von „Neues Abendland" waren zwar nicht umstritten, wohl aber deren Gewichtung. Erste Konflikte ergaben sich hinsichtlich der Präsentation der Zeitschrift als eher religiös oder stärker politisch geprägtes Organ. Die im ersten Jahrgang auffallend häufige Bebilderung mit frommen Motiven, Fotos von Kirchentüren, Heiligenbildern usw. empfand Chefredakteur Ferber als stilwidrig, während der Herausgeber Naumann darauf beharrte, so daß es zum Bruch kam. Nach einem Zwischenspiel von einem Dreivierteljahr, bis zum Herbst 1947, in dem Rupert Sigl (Jg. 1915) die Redaktionsleitung innehatte er wechselte danach zur Pressestelle der Bayernpartei trat mit Emil Franzel ein Publizist an die Spitze, der das „Neue Abendland" endgültig aus dem religiös geprägten Milieu der intellektuellen katholischen Zeitschriften auf einen dezidiert rechtskonservativen politischen Kurs führte103). Das Jahr 1948, in dem die bereits zuvor spürbare Konfrontation zwischen den alliierten Siegermächten offen zum Ausbruch kam, markierte auch für „Neues Abendland" die entscheidende politische Zäsur. Mit großer Genugtuung wurde die vatikanische Strategie registriert, ein Bündnis mit Truman gegen den „Bolschewismus" zu schmieden104). Zu dieser positiven Sicht auf die USA, denen gegenüber es nie eine solch haßerfüllte Ablehnung gegeben hatte wie z.T. in protestantisch-konservativen Kreisen, paßte politisch-kulturell die literarische Gloriole um den royalistischen „Anglo-Katholiken" T.S. Eliot. Dieser erfreute sich in der westdeutschen Kulturszene der Nachkriegszeit insgesamt hoher Wertschätzung als Beweis dafür, daß abendländisches Denken -
mann, der 1933 zusammen mit seiner Frau verhaftet wurde und im
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Konzentrationslager
Sachsenhausen 1939 umkam. 101 ) Gertrud Bäumer, Zur Problematik der Schuldfrage, in: NA, Jg. 1, 1946/47, H. 8, S. 16-19 (Zitat: S. 17). 102) Carl Klinkhammer, Die deutschen Katholiken und die Schuldfrage, in: NA, Jg. 1, 1946/47, H. 8, S. 12-16 (Zitat: S. 16); ich danke Alfons Kenkmann (Münster) für die Einsichtnahme in ein Interview, das er mit Carl Klinkhammer am 2. Dezember 1994 geführt hat. 103) Franzel (Jg. 1901) studierte Germanistik und Geschichte in Prag, München und Wien mit einem Stipendium der Sozialdemokratischen Partei (Promotion 1925); von 1919-1937 in der sozialdemokratischen Bildungs- und Pressearbeit, dann Übertritt zur Henlein-Bewegung; als sudetendeutscher Flüchtling 1945 nach Weilheim/Bayern, später München; Anschluß an die CSU (persönliche Freundschaft mit Franz Josef Strauß); weitgespannte publizistische Tätigkeit (auch unter den Pseudonymen Franz Murner, Timon, Witiko, Coriolan, Fortinbras, Franciscus), u. a. in der Vertriebenenpresse; vgl. die biographischen Angaben bei Brelie-Lewien, Katholische Zeitschriften, S. 81-83, 235. 104) C.C. Speckner, Der Vatikan zwischen Westblock und Kominform, in: NA, Jg. 3, 1948, S. 19-20.
„Abendländische Akademie"
1.2 „Neues Abendland"
43
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auch im angloamerikanischen Kulturkreis anzutreffen war105). Damit entstanden globale Weiterungen des „Abendlandes", während im übrigen das bikonfessionelle Deutschland mitunter als abendländische Brücke zwischen katholischem Süd-, West- und Mitteleuropa und protestantischem Nordeuropa betrachtet wurde106). Emil Franzel entwarf Ende 1948 eine erste große Skizze künftiger europäisch-abendländischer Politik unter den neuen Rahmenbedingungen. Er konstatierte die wirtschaftlichen Voraussetzungen europäischer Großmachtstellung, plädierte für eine politische Achse Paris-Madrid-Lissabon in Westeuropa, für eine gemeinsame europäische Armee und eine deutschfranzösische Verständigung107). In den beiden folgenden Jahren verschob sich der Akzent in den Aufsätzen Franzeis; als Ziel der Verständigung mit Frankreich, die in den Vordergrund rückte, wurde eine annähernd gleiche Stellung der beiden Länder in Europa anvisiert, basierend auf der wirtschaftlichen Hilfe und politisch-militärischen Stütze der USA108). Franzel sprach von einer „abendländischen Völkersymphonie", zu der die „Italiener, Spanier, Slawen, die Skandinavier wie die Holländer oder die Portugiesen" und die Engländer gehören sollten; „die Motive in dieser Symphonie geben aber in den entscheidenden Partien immer wieder Franzosen und Deutsche an."109) So wie in den ersten beiden Jahrgängen der Nationalsozialismus immer wieder als Konsequenz der „Säkularisierung" ausgemalt worden war, wurde nun der „Bolschewismus" zum Hauptfeind; als „radikalste Folge" und „Verwirklichung" der „Aufklärung" stelle er das „Dogma der Erfahrung" dem kirchlichen „Dogma der Offenbarung" entgegen. Vom „Bolschewismus" als „geistig-moralischem Phänomen" könne „jeder Mensch innerlich mehr oder weniger befallen sein", als „geistige Massenkrankheit und soziale Seuche" müsse er bekämpft werden110); in den Verdacht bolschewistischer Infizierung sollten in
i"5) F(ranz) Niedermayer, T.S. Eliot, in: NA, Jg. 3, 1948, S. 280-283 (Zitat: S. 280); ders., Literatur-Nobelpreisträger T.S. Eliot als Gesellschaftskritiker und Kulturphilosoph, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 697-701; zur allgemeinen Wertschätzung von Eliot s. auch das Kapitel zum Rundfunknachtprogramm des NWDR; interessant ist auch die Propaganda für den britischen Universalhistoriker Toynbee, den „englischen Besieger aus christlichem Geist" von Oswald Spengler; F(ranz) Niedermayer, Arnold Joseph Toynbee, in: NA, Jg. 5, 1950, Der
S. 121-128 (Zitat: S. 122).
106) Wilhelm Schmidt, S. 129-135.
Gegenwart
und Zukunft des Abendlandes, in: NA,
Jg. 3, 1948,
107) Emil Franzel, Europäische Zwischenbilanz, in: NA, Jg. 3, 1948, S. 321-326. 108) FranzMurner(=EmilFranzel),DasdeutscheVerhängnis,in:NA,Jg.4,1949,S. 161-164. 109) Emil Franzel. Frankreich und Deutschland als Träger des Abendlandes, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 1^1 (Zitat: S. 4); vgl. Karl Sedlmeyer. Mitteleuropa, ein sterbender Begriff, in: NA, Jg. 4, 1949, S. 228-231. "°) Ernst von Hippel, Der Bolschewismus, Duisburg 1948, S. 5, 9, 42, 46; daß es sich um die Neuauflage einer Veröffentlichung unter dem Titel „Der Bolschewismus und seine Überwindung" (Breslau 1937) handelte, unterstreicht die bereits erwähnte Unterstützung der NSPropaganda durch abendländische Ideologie, die es neben den Konfliktlinien zu beachten gilt.
44
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
den nächsten Jahren auch Linkskatholiken wie Walter Dirks geraten, mit denen in den ersten Jahren nach dem Krieg noch eine unpolemische Auseinandersetzung gesucht worden war111). Geführt wurde diese Auseinandersetzung unter dem Banner der „Freiheit", die allerdings nicht in liberaler Bedeutung, sondern in „christlicher Bindung" verstanden werden sollte112). Die Zäsur von 1948 bedeutete nicht, daß neue Ideen vertreten worden wären, sondern zeigte eine politische Akzentuierung zuvor eher historisch-theologisch diskutierter Themen an. Die Fundierung eines abendländischen Menschenbildes113) hatte von Beginn an im Zentrum der Aufmerksamkeit gestanden, und die Konsequenzen für die künftige staatliche Verfassung, bei der gegen die pure und bindungslose „Quantitätsdemokratie" polemisiert wurde, waren bereits 1947 in einer Broschüre von Ernst von Hippel ausführlich gewürdigt worden114); Ferdinand Kirnberger erörterte im gleichen Jahr vage die aus dem christlich-abendländischen Weltbild sich ergebende Notwendigkeit des Adels in einer Gesellschaft mit ständischer Gliederung, einem darauf basierenden Wahlsystem und einer monarchischen Spitze115). Als katholischer Denker, dessen prinzipienfester Kampf gegen den Liberalismus gefeiert wurde, galt der Spanier Donoso Cortés116). Das grundsätzliche Mißtrauen gegen den Parlamentarismus brachte schließlich Johann W. Naumann drastisch zum Ausdruck. Er wähnte die Funktionäre des Teufels „in allen Parteien, christliche nicht ausgenommen"117). Damit waren die Positionen zu den Verfassungsberatungen im Parlamentarischen Rat 1948/49 schon vorgeprägt. „Neues Abendland" stellte sich nicht hinter eine Partei, aber unterstützte energisch den Kampf der extremen Föderalisten in der Union und in den kleinen Rechtsparteien gegen das „verhängnisschwere Übergewicht Preußens" und forderte, daß das Grundgesetz nicht nach dem Vorbild der weltlichen Verfassung der Weimarer Republik konstruiert werden dürfe118). In einigen Artikeln von „Neues Abendland" wurde die besondere bayerische Sendung als „Vorposten für Deutschland" und „Vorposten für die
'") Vgl. Hans Eduard Hengstenberg, Christentum und Marxismus. Eine Auseinandersetzung mit Walter Dirks, in: NA, Jg. 2, 1947, S. 225-228. n2) Heinrich Kipp, Freiheit und Autorität, in: NA, Jg. 3, 1948, S. 165-165 (der Autor war ein jüngerer Jurist, der im NA auch unter dem Pseudonym Georg Pick schrieb). 113) Bernhard Lakebrink, Der abendländische Mensch, in: NA, Jg. 2, 1947, S. 289-292. 114) Ernst von Hippel, Vom Wesen der Demokratie, Bonn 1947, S. 50. 115) Kirnberger, Laiengespräche, S. 26ff., 47ff. 116) Vgl. Albert Maier, Donoso Cortés. Staatsmann und Christ, in: NA, Jg. 3, 1948, S. 305-309; im gleichen Jahrgang der Zeitschrift war ein Cortés-Brief aus dem Jahr 1849 abgedruckt worden (S. 74—75). "7) Johann Wilhelm Naumann, Der „Fürst dieser Welt", in: NA, Jg. 3, 1948, S. 1^1 (Zitat: S. 2). Il8) Emil Franzel, Zur Verfassung des deutschen Bundes, in: NA, Jg. 3, 1948, S. 257-260; zur Warnung vor der Orientierung an Weimar vgl. die ausführliche rechtspolitische Argumentation von Ernst von Hippel, Gewaltenteilung im modernen Staate, Koblenz 1948 (ibs. das Kapitel „Rousseau in der Weimarer Verfassung").
45
„Abendländische Akademie"
1.2 „Neues Abendland" -
Christenheit" hervorgehoben119). Programmatisch klang der Titel einer Veröffentlichung des Juristen Friedrich August Freiherr von der Heydte, der Anfang der 50er Jahre in die erste Reihe der neu-abendländischen Protagonisten aufrücken sollte. Er legte 1948 „Das Weißblaubuch zur deutschen Bundesverfassung" vor, in dem er dem „bayerischen Volk", das „ängstlich und mißtrauisch (...) das Tauziehen der Parteien in Bonn" beobachte, eine Stimme verleihen wollte. Besonders beklagte von der Heydte die norddeutsche Dominanz im Parlamentarischen Rat, die mangelnde Berücksichtigung des Föderalismus als Palliativ gegen die „Triebhaftigkeit der Masse" und das Fehlen des „göttlichen Sittengesetzes" dadurch bleibe der „Grundrechtskatalog tönende Phrase"120). Den antipreußischen Affekt brachte Emil Franzel besonders pointiert zum Ausdruck, als er feststellte, geopolitisch gehöre Thüringen, aber nicht Berlin zum Westen121). Die Demokratie sei nicht eine Frage des Wahlrechts, sondern „einzig eine Frage der Auslese"122), schrieb der Chefredakteur von „Neues Abendland", und besonders verwerflich sei das Verhältniswahlrecht123). Mit solchen Positionen demonstrierte die Zeitschrift ihr tief verwurzeltes Mißtrauen gegenüber dem liberalen Geist des neuen Grundgesetzes, das von der überwiegenden Mehrheit des Parlamentarischen Rates und vor allem von den großen Parteien nach langwierigen Verhandlungen einvernehmlich verabschie-
det worden war und dem auch die Kirchen ohne große Begeisterung zugestimmt hatten. Als besonders prononcierte Vertreter christlich-abendländischer Positionen galten im Parlamentarischen Rat der rheinland-pfälzische Justiz- und Kultusminister Adolf Süsterhenn, Vertrauensperson des katholischen Klerus und Schlüsselfigur in der CDU, dessen Karriere durch einen Autounfall im Frühjahr 1949 zu einem wichtigen Zeitpunkt unterbrochen wurde124), der spätere Fraktionsvorsitzende der CDU im Deutschen Bundestag und Außenminister Heinrich von Brentano und von der CSU Gerhard Kroll, den der britische Verbindungsoffizier Chaput de Saintonge schlicht als „a fanatic" charakterisierte125). Während die beiden erstgenannten in den 50er Jahren zum Freundes-
ll9) 12°)
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Ernst Deuerlein, Bayerns deutsche Aufgabe, in: NA, Jg. 4, 1949, S. 17-19. Friedrich August von der Heydte, Das Weißblaubuch zur deutschen Bundesverfassung und zu den Angriffen auf Christentum und Staatlichkeit der Länder, Regensburg 1948, S. 15, 131, 133; zur Biographie von von der Heydte (Jg. 1905) bis 1948 vgl. die Angaben ebd., S. 134. 121) Emil Franzel, Staatsform und geschichtlicher Raum, in: NA, Jg. 4, 1949, S. 47-51. 122) Ders., Zur Verfassung, S. 259. 123) Vgl. Murner (=Franzel), Deutsches Verhängnis. 124) Zu Süsterhenn (Jg. 1905) vgl. Baring, Außenpolitik, S. 206, 434; Schwarz, Adenauer, Bd. 1, S. 562; Mitte 1953 wurde er im SPIEGEL (29/1953) als potentieller Nachfolger von Adenauer als CDU-Vorsitzender genannt. 125) Rainer Pommerin, Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates. Porträtskizzen des britischen Verbindungsoffiziers Chaput de Saintonge, in: VfZ, Jg. 36, 1988, S. 557-588 (Zitat: S. 573); zur Position von Kroll in diesem Gremium vgl. Die CDU/CSU im Parlamentari-
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1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
kreis der Abendländischen Akademie gehörten, schob sich Kroll seit 1949 zunehmend in den Vordergrund der öffentlichen Auseinandersetzungen. Der aus Breslau stammende katholische Jurist und Volkswirt hatte zu dieser Zeit seine politische Karriere in der CSU schon beinahe hinter sich. 1946/47 war er Vorsitzender des Bezirksverbandes Oberfranken und Mitglied des Landesvorstandes der Partei gewesen, 1946 bis 1948 Landrat in Staffelstein und 1946 bis 1950 Abgeordneter des bayerischen Landtages126); Kroll zog es zur prinzipiellen weltanschaulichen Auseinandersetzung, deren Zentrum er zunächst auf dem Boden der abendländischen Geschichtsrevision verortete. Von 1949 bis 1951 fungierte er als Geschäftsführer des „Instituts zur Erforschung der nationalsozialistischen Zeit" in München, aus dem dann das „Institut für Zeitgeschichte" entstand. In dieser Eigenschaft geriet er in die vorderste Linie des Kampfes gegen die preußisch-nationalen Historiker; als er 1950 den Posten des Generalsekretärs in dem neuen Institut anstrebte, traf er auf den erbitterten Widerstand Gerhard Ritters, der ihn als „Intimfeind" ansah und mit der Drohung, andernfalls aus dem Beirat auszutreten, Krolls Bestallung verhindern konnte127). Dieser mußte sich einen neuen Kampfplatz suchen und fand ihn beim Kreis um „Neues Abendland". 1950 war die Zeitschrift in eine derart schwere wirtschaftliche Krise geraten, daß Redaktion und Verlag sich entschlossen, eine öffentliche Erklärung abzugeben. Darin hieß es, „das Wort vom Untergang des Abendlandes" sei „kein literarisches Schlagwort, sondern ein realer Alptraum"; und in eben dieser Situation, in der es existenziell um die „Rettung und Erneuerung des christlichen Abendlands" gehe, bestehe die Gefahr, daß das Blatt „sein Erscheinen einstellen" müsse, mit der Folge, daß die „Christlich-Konservativen und Föderalisten Deutschlands ohne ein meinungsbildendes, repräsentatives und in der Welt beachtetes Organ" wären; als Maßnahme wurde eine Halbierung des Heftpreises von 2 auf 1 DM angekündigt, um die Leserschaft zu erweitern128). Aber erst mit einem Verlagswechsel konnte einige Monate später die finanzielle Basis des Blattes gesichert werden. Im April 1951 erwarb Erich Fürst von Waldburg zu Zeil die Zeitschrift. In einer Mitteilung „An die Leser" kündigte der neubestellte Herausgeber Gerhard Kroll an, die Zeitschrift werde „sogar in erweiterter Form fortgeführt", die „geistige Richtung" bleibe „unverändert", aber die „brüchigen Grundlagen unserer Zeit werden eher noch stärker als bisher besehen Rat. Sitzungsprotokolle der Unionsfraktion. Bearb. und eingel. von Rainer Salzmann, Stuttgart 1981. I2f>) Zur Biographie von Gerhard Kroll (1910-1963) vgl. Die CSU 1945-1948. Bd. 3, Anhang; A(rcadius) R.L. Gurland, Die CDU/CSU. Ursprünge und Entwicklung bis 1953. Hg. von Dieter Emig, Frankfurt/M. 1980, S. 58, 60. 127) Vgl. Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 237; in NA, Jg. 7, 1952, S. 762, wurde Kroll übrigens als Gründer des Instituts genannt. 128) Mitteilung von Redaktion und Verlag Johann Wilhelm Naumann, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 285.
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leuchtet werden"; man werde nun „in die Phase der kämpferischen Auseinandersetzung eintreten" und nicht mehr allein die Geschehnisse kritisieren, sondern mit einer „Abendländischen Aktion" in der Öffentlichkeit in die Offensive gehen129). Das Gefühl des Ungenügens einer nur publizistischen Existenz war schon zuvor merkbar gewesen, z.B..in der interessierten und von Faszination nicht freien Beobachtung der „Moralischen Aufrüstung", einer zu Beginn der 50er Jahre einflußreichen religiösen Bewegung, selbst wenn deren Inhalte skeptisch betrachtet wurden130). Die Gründungsversammlung der „Abendländischen Aktion" fand dann am 25. August 1951 im Münchner Ärztehaus statt. Betont wurde im Bericht von „Neues Abendland" über dieses Ereignis, daß es sich um mehr gehandelt habe „als um eine bloße Protest- oder Restaurationsbewegung", und auch um mehr als eine Versammlung katholischer Konservativer; „Männer aller Berufssparten" seien „im Vorstand vereint, Wissenschaftler, Beamte des Staates, Wirtschaftler und Arbeiter, Katholiken wie Protestanten"; erster Vorsitzender wurde Gerhard Kroll, der auch das Hauptreferat beisteuerte; weitere Ansprachen hielten der Münchner katholische Historiker Georg Stadtmüller und der Bamberger evangelische Theologe Wolfgang Heilmann, der heftig den „liberalen Kulturprotestantismus" attackierte131). Bereits vor der Gründungsversammlung lag das von Gerhard Kroll verfaßte „Manifest der Abendländischen Aktion" vor; es trug den Titel „Grundlagen abendländischer Erneuerung" und war im Hausverlag „Neues Abendland" erschienen132). Kroll konzedierte darin der „freien Welt" unter der Führung der USA, „alle ihr verfügbaren Kräfte zusammenzuraffen, um sie dem Angriff des Bolschewismus entgegenzustellen"; aber es sei bisher nicht gelungen, „eine inhaltliche Bestimmung der Freiheit" vorzunehmen, sie werde im Westen nur „formal verstanden als eine Freiheit für beliebige Inhalte" mit der politisch entsprechenden Form der „Formaldemokratie", von der „der Westen anscheinend nicht lassen (könne), auch wenn ihre Schwäche offenbar wird", vor allem durch den Mißbrauch „staatsfeindlicher
129)
An die Leser, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 145; der Besitzer- und Verlagswechsel er hieß Neues Abendland G.m.b.H" bedeutete für Naumann den Abschied von der Monatszeitschrift; er konzentrierte sich seither auf die Herausgabe der in Regensburg (später Würzburg) erscheinenden „Deutsche Tagespost. Unabhängige Tageszeitung für abendländische Politik und Kultur", die für sich im NA mit „gesundem Föderalismus", „abendländischem Geist" und „universalistischem Weltbild" warb; Erich Fürst zu Waldburg-Zeil starb bereits ein Jahr später nach einem Jagdunfall, der Verlag blieb aber im Besitz der Familie. I3°) Es muß alles anders werden, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 67-68; zur „Moralischen Aufrüstung" vgl. die Selbstdarstellung von Peter Howard, Welt im Aufbau. Die Geschichte von Frank Buchman und den Männern und Frauen der Moralischen Aufrüstung, Hamburg 1951. I31) Abendländische Aktion, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 508-512; im Vorstand der Abendländischen Aktion war auch der neue Besitzer von Neues Abendland, Erich Fürst zu WaldburgZeil. ,32) Gerhard Kroll, Grundlagen abendländischer Erneuerung. Das Manifest der Abendländischen Aktion, München 1951. nun
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Um gegen den „Bolschewismus als ein in sich geschlossenes System" bestehen zu können, müsse aber die „westliche Welt" den Kampf gegen die „bloße formale Freiheit" als „Ausdruck des Nihilismus" aufnehmen und sich auf ihre seit dem Mittelalter verfallenen christlichen Bindungen besinnen133). Der Gedanke, daß man sich in einem modernen Religionskrieg, in einem „Krieg von Weltanschauungen"134) befinde, wie sich von der Heydte in „Neues Abendland" ausdrückte, bildete die Basis zahlreicher Artikel der Zeitschrift. Und wenn keine geistige Rüstung gegen den Feind zur Verfügung stehe, so die Folgerung, sei die Niederlage abzusehen. Ein junger Mitarbeiter, Hermann Graml, stellte die Frage, warum die an der Ostfront in Gefangenschaft geratenen Offiziere der Wehrmacht, die sich für das „Nationalkomitee Freies Deutschland" (NKFD) rekrutieren ließen, „eine geschlossene Gruppe von intelligenten, gebildeten Menschen aller Berufe, aller Gesellschaftsschichten Deutschlands und damit des Westens, beim ersten ernsthaften Zusammenstoß mit dem Bolschewismus versagt" hätten. Verantwortlich dafür machte er die „geistige Heimatlosigkeit", und die Folgerung lautete, daß „die politischen Parolen des Westens nicht mehr befähigt" seien, „den Abwehrkampf gegen den Osten" zu tragen. Der „pseudoreligiöse Charakter des Gegners" könne „nur durch Religion überwunden werden": „In der Herzkammer unserer Willensbildung muß der säkularisierte Begriff des Westens durch das Zukunftsbild eines erneuerten Abendlandes ersetzt werden."135) Die „Abendländische Aktion" verstand sich in diesem Sinn als eine „übervölkische"136) und überkonfessionelle Bewegung137), deren politische Basis zwar das westliche Bündnis darstellte, dem gegenüber aber die geistige Eigenständigkeit und Höherwertigkeit des „Abendlandes" verteidigt werden mußte. Wolfgang Heilmann, einer der wichtigsten evangelischen Mitstreiter der neuabendländischen Sache, erörterte dieses komplizierte Spannungsverhältnis Ende 1951 ausgiebig138). Unumwunden stellte er fest, daß „Ost und West (...)
Gruppen".
133) Ebd., S. 7-10. 134) Friedrich August
Freiherr von der Heydte, Krise der Neutralität, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 143-149 (Zitat: S. 149). 135) Hermann Graml, Das Nationalkomitee „Freies Deutschland", in: NA, Jg. 7, 1952, S. 676-680 (Zitate: S. 679f); wiederholt wurde bei der Erklärung des „Bolschewismus" auch mit der (schiefen) medizinischen Metaphorik des Fiebers gearbeitet, das in einem entkräfteten Körper den säkularisierten westlichen Gesellschaften sich widerstandslos ausbreite (Rafael Calvo Serrer, Revolution, Reaktion und Restauration, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 513-520; hier S. 513). I3*>) Kroll, Grundlagen, S. 81. 137) Schon 1950 erschien ein Aufsatz, in dem die staatsrechtlich-theologische Vision eines katholischen Imperiums der romanischen Völker entwickelt wurde, mit einem distanzierenden Vorspann, der diese Position als Einzelmeinung hinstellte: Alois Repper, Imperium Romanum Catholicum, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 217-223. 138) Wolfgang Heilmann, Christliches Gewissen zwischen West und Ost, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 597-606 (alle folgenden Zitate aus diesem Aufsatz). -
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1.2 „Neues Abendland"
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zwei dem Christen fremde, ja unchristliche Ideen" seien, und die USA und die Sowjet-Union als gleich „säkularisiert, unchristlich, ja atheistisch, voller Machtgier" angesehen werden müßten, wobei die eine Macht indirekt und elegant, die andere offen und brutal ihre Ziele verfolge; es ginge eben nicht um die simple Verteidigung der „europäisch-amerikanischen Zivilisation" bzw. von „Liberalismus, Individualismus, Privatkapitalismus" gegen „totalitäre Diktatur, Kollektivismus, Staatskapitalismus". Darauf folgte dann eine für das neu-abendländische Schrifttum dieser Phase typische realpolitische Wende der Argumentation. Wenn auch die „Massen bindungslos und flach im Totalitarismus wie im Liberalismus" seien, habe doch der Bolschewismus „zusätzlich zu allen negativen Erscheinungen, die ihn mit dem Liberalismus verbinden, noch etwas Teuflisches geboren: brutalste Versklavung aller Arbeitenden, physischen Terrorismus" usw., so daß sich West und Ost wie „geistige Zersetzung" gegen „bewußtes Verbrechertum" verhielten. Ausführlich wurde vor einem „Pharisäertum" gegenüber den USA sowie vor der Gefahr gewarnt, „Amerika nur durch die Brille des Neu-Amerikanismus, des Schmelztiegels in den Riesenstädten des Ostens (..) oder der Filmindustrie Hollywoods" zu sehen, denn auch in den USA gebe es wie auch immer kritikwürdige Formen des Chri-
stentums139).
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Der Drahtseilakt zwischen Westoption und Antiliberalismus beinhaltete die Gefahr des Absturzes in die politische Kritik. Als z.B. die Wasserstoffbombe in „Neues Abendland" 1950 als „totales geistiges und moralisches Armutszeugnis" der USA verurteilt wurde, beeilte sich Emil Franzel in einem Nachwort, diese „Einzelmeinung" zurückzuweisen140). Gleichzeitig wurde die innere gesellschaftliche und politische Ordnung von der „immer stärker und härter andrängenden Masse" bedroht gesehen; das Lamento über die „Situation des Massenmenschen" und über die „Abnahme der geistig-seelischen Substanz in unserer Epoche" beherrschte Anfang der 50er Jahre nach wie vor die Publizistik der Neu-Abendländler141). Die Familie, in ihrem Zustand zugleich Ausdruck des abendländischen Verfalls wie Ansatzpunkt abendländischer Erneuerung, bildete einen wichtigen Bezugspunkt im „Manifest der Abendländischen Aktion". Nur die „Wiedergeburt" der christlichen Ehe mit der darin gegebenen gottgewollten Ordnung könne auch die
ständige
139) Der Vermittlung eines solchen „gerechten" Amerikabildes hatte bereits 1949 eine Artikelfolge des damaligen Verlegers von „Neues Abendland" gedient, der im Rahmen einer re-education-Einladung einige Wochen die USA bereist hatte: Johann Wilhelm Naumann, Licht und Schatten aus USA. Gedanken zu einer Amerikafahrt, in: NA, Jg. 4, 1949, S. 257-261 ; 289-292; 328-330; 364-366. 140) Heinz von Homeyer, Das Ultimatum der Wasserstoffbombe, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 177-180 (Zitat: S. 177); E.F. (=Emil Franzel), Ein notwendiges Nachwort, in: Ebd., S. 181-183 (Zitat: S. 182). 141) Otto Heuschele, Menschen ohne Mitte, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 41-44 (Zitate: S. 43f.).
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I. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
der Gesellschaftspyramide" aufhalten142) und dem kulturellen Nihilismus Einhalt gebieten143). Politisch verantwortlich für die besorgniserregenden gesellschaftlichen Tendenzen, dies wurde auf öffentlichen Veranstaltungen der „Abendländischen Aktion" stets betont, sei der Liberalismus, der die gleichen Wurzeln wie der Marxismus aufweise144), bzw. die „demokratische Doktrin, von der die marxistisch-leninistische Lehre lediglich eine radikalere Form darstellt"145). Als Vorbild für das staatspolitische Denken wurde im „Abendländischen Manifest" zwar auch Donoso Cortés gewürdigt146), aber breiteren Raum erhielt der Bezug auf den für die Grundlegung des „Austrofaschismus" der Zwischenkriegszeit bedeutungsvollen Wiener Soziologen Otmar Spann. Von diesem ausgehend formulierte Kroll apodiktisch: „Als Träger der Regierungsverantwortung kann man nicht gleichzeitig Gott in seinem Gewissen und für sein Handeln verantwortlich sein und die Gesetze aus der Hand Dritter empfangen oder, wie es in der parlamentarischen Demokratie üblich ist, sogar noch vom Vertrauen des Parlamentes abhängig sein (eines Parlamentes, das selbst praktisch niemandem verantwortlich ist)." Der beste Schutz gegen die Hybris der Macht sei „zweifellos das ganz sichere Wissen um ein späteres Gerichtetwerden durch Gott", ein Bewußtsein, das in den alten Adelsgeschlechtern am ehesten aufbewahrt sei. „Für die Gegenwart gilt es zweifellos, das Ausleseverfahren mühsam neu zu gestalten." Aber es werde „immer nur ein kleiner Kreis von Menschen sein, der in der Lage ist, ein Urteil darüber abzugeben, wer sich zum Träger der höchsten Macht eignet." Die vage bleibende Beschreibung der Einsetzung eines Quasi-Monarchen war verbunden mit der Forderung einer „berufsständischen Gliederung" der Gesellschaft und einer daraus erwachsenden Ständeversammlung als Zweiter Kammer, die beim ersten Mal vom „Staatsoberhaupt" zu ernennen sei; sie sollte besondere Verantwortung für die Gesetzgebung tragen. Außerdem war als Parlament eine „Volkskammer" vorgesehen,
gefährliche „Nivellierung
142) Kroll, Grundlagen, S. 21,45; vgl. Emil Franzel, Die nivellierenden Tendenzen der Epoche, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 17ff. 143) Ausführlich zitierte Kroll im „Manifest" Hans Sedlmayr und machte sich dessen Aussagen zum „Verlust der Mitte" zu eigen (Kroll, Grundlagen, S. 32 f.); in den Auseinandersetzungen um den umstrittenen Kunstkritiker Anfang der 50er Jahre unterstützte ihn „Neues
Abendland" vehement und ließ ihn auch selbst in der Zeitschrift zu Wort kommen: Kulturnihilisten gegen Sedlmayr, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 306-307; Hans Sedlmayr, Vier Arten der Kunstbetrachtung, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 431—434; zur zeitgenössischen Besinnung auf abendländische Traditionen im Angesicht moderner Literatur vgl. Hans Egon Holthusen, Der unbehauste Mensch. Motive und Probleme der modernen Literatur, München 1951; ders., Ist Europa am Ende?, in: Universitas, Jg. 8, 1953, S. 963-970. 144) Alfred Berchtold, Gerechtigkeit und Freiheit, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 346-353 (hier S. 346, 348); es handelte sich um die Rede auf einer Kundgebung der „Abendländischen Aktion"; vgl. Wilhelm Andreae, Kritik des Liberalismus, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 587-596. 145) Erik von Kuehnelt-Leddihn, Wir und die Angelsachsen, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 11-16 (Zitat: S. 14). 146) Kroll, Grundlagen, S. 42f.
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„Abendländische Akademie"
1.2 „Neues Abendland" -
deren „Aufgabenbereich der Leistungsfähigkeit der Volksvertreter" entsprechen und die aus „indirekten Wahlen" hervorgehen sollte, „um die Qualität der Auslese zu verbessern". Die durch Kommunalwahlen bestimmten „Gemeinderäte" delegierten danach die Vertreter des Kreistags, diese des Bezirkstags usw. Die „fähigsten Leute" aus der „Völkskammer" könnten wiederum mit sachverständigen Vertretern der Berufsstände einen „Senat" bilden, der „viel geeigneter" sei, „Gesetze zu beraten oder zu verabschieden, als irgendein Parlament". Im übrigen falle die Entscheidungsgewalt im Konfliktfall selbstverständlich dem Staatsoberhaupt zu. So undeutlich die Regelungen im einzelnen blieben, so klar war doch das elitäre und antiparlamentarische Prinzip, das in manchem an die Idee des „Neuen Staats" in der Umgebung Franz von Papens Ende 1932 erinnerte: „Auf diese Weise würden die unseligen Parteigruppierungen überwunden, die das Volk zerreißen und jede sinnvolle Regierung unmöglich machen. Ein Volk, das sich in Parteien auflöst, ist ein sich zersetzendes Volk, das seine innere Einheit längst verloren hat. Der natürlichen Ordnung entsprechen die Berufsstände, nicht die Parteien."147) Auch wenn die Inhalte der neu-abendländischen Ideologie sich in der Propaganda der „Abendländischen Aktion" nicht im Kern verändert hatten, war doch die Sprache politischer und der Ton aggressiver geworden. In der dramatischen Hochzeit des Kalten Krieges wurden nun einerseits literarische und publizistische Gegner auf katholischer Seite „exkommuniziert", und andererseits strebte man eine Verbreiterung des konservativen Lagers an. Schneidend wurde (1951) Reinhold Schneider, der im „Neuen Abendland" anfangs noch als literarisches Aushängschild gedient hatte, wegen seines aufsehenerregenden und propagandistisch von der DDR genutzten Engagements gegen die Wiederbewaffnung abgefertigt; vorgehalten wurde ihm nicht politische Naivität, sondern „Geltungssucht" und „Selbstheiligung"148). Zu eigen machte sich Franz Herre in „Neues Abendland" die heftigen Angriffe der Historiker Franz Schnabel und Alois Dempf gegen Friedrich Heer ( 1951 ) wegen dessen Versuch einer positiven Sicht auf die Aufklärung einige Jahre später erfolgte ein weiterer Frontalangriff von Gerhard Kroll gegen die Abwertung des Mittelalters durch den „katholischen Aufklärer" Heer149). -
147) Ebd., S. 62-70. 148) Jos. Thielmann,
Zur jüngsten Entwicklung von Reinhold Schneider, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 363-365. 149) Franz Herre, Der Christ vor der Geschichte. Zu den Salzburger Hochschulwochen 1951, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 500-504; Gerhard Kroll, Heiliges oder unheiliges Reich? Bemerkungen zu Friedrich Heers abendländischer Geschichtsdeutung, in: NA, Jg. 11, 1956, S. 135-152; in seiner kürzlich erschienenen Autobiographie stilisiert sich Herre, der 1954
außenpolitischer Redakteur zum Rheinischen Merkur ging und 1962 als Chefredakteur Deutschen Welle wechselte, demgegenüber als Bekenner einer „an Maßstäben des Christentums wie der westlichen Aufklärung orientierten liberalen und demokratischen Politik" (Franz Herre, A wie Adenauer. Erinnerungen an die Anfänge der Bonner Republik, Stuttgart als
zur
1997, S. 121).
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1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
In einem umfangreichen Artikel rechnete Emil Franzel außerdem (1952) endgültig mit Walter Dirks ab, dem seine Nähe zu Marx nicht verziehen wurde. Allein die katholischen Theologen Bischof Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteier und Adolf Kolping sowie der österreichische Antisemit Lueger hätten auf sozialpolitischem Gebiet „Geschichtsbildendes und Bleibendes" geschaf-
fen, belehrte Franzel den Redakteur der „Frankfurter Hefte". Außerdem verbat sich dessen Angriffe auf das abendländische Spanien Francos150). Nachdem Walter Dirks es angesichts des Versuchs, ihn und Eugen Kogon „nicht nur zu Häretikern, sondern auch zu Wegbereitern des Bolschewismus zu machen", „für sinnlos" hielt, „in eine Diskussion eintreten zu wollen"151), meldete sich in „Neues Abendland" Gerhard Kroll zu Wort, der Dirks' Eindruck nicht etwa dementierte, sondern in beleidigtem Ton auf einer Klärung der Anklagepunkte beharrte: „Häresien werden nicht mehr als solche erkannt, Männer, die sich bemühen, ihre Mitchristen aus dem Todesschlaf zu wecken und die in den christlichen Raum eingedrungenen Gifte auszuscheiden, werden nicht etwa von den Atheisten oder Kommunisten, sondern von irregeleiteten Christen gesteinigt, beschimpft und niedergeschrien, gleichzeitig wird die ernsthafte Aussprache über die kritischen und strittigen Punkte verweigert."152) Der Sammlung und Verbreiterung des konservativen Lagers diente im gleichen Zeitraum die Mäßigung des antipreußischen Affekts, der das Gespräch mit protestantisch-konservativ gesinnten Kreisen behindert hatte. In einem programmatischen Aufsatz in „Neues Abendland" versuchte Emil Franzel Bismarck als Föderalisten zu vereinnahmen, der bei aller politischen Begrenztheit in seiner positiven historischen Bedeutung zu würdigen sei153). In einer anschließenden Diskussion mit dem konservativen katholischen USA-Remigranten Robert Ingrim ging es nur noch um den Streitpunkt, wie weit Bismarck in diesem Sinne neubewertet werden müsse154). Auf der Gründungsversammlung der „Abendländischen Aktion" 1951 wurde das Geschehen am 20. Juli 1944 als Beleg gegen die „billige Verdammung preußischen Wesens" angeführt155). In einem anderen Zusammenhang hatte Emil Franzel sogar die Männer des 20. Juli, die „letzte echte Elite, die wir besaßen", als Kronzeugen für die Noter
150) Emil Franzel, Walter Dirks und der Kommunismus, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 129-143 (Zitat: S. 132). 151) Walter Dirks, Die FH und der Marxismus, in: FH, Jg. 7, 1952, S. 237-252 (Redaktio-
nelle Vorbemerkung): der Artikel antwortete stattdessen auf einen kritischen Beitrag der von Dominikanern herausgegebenen Zeitschrift „Die neue Ordnung". 152) Gerhard Kroll, Eine Antwort, die keine war, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 337-341 (Zitat: S. 340). '») Emil Franzel, Das Bismarckbild in unserer Zeit, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 233-230. 154) Gespräch um Bismarck (Briefwechsel Robert Ingrim Emil Franzel), in: NA, Jg. 5, 1950, S. 289-290. 155) Abendländische Aktion, S. 510. -
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wendigkeit abendländischer Elitebildung gewürdigt156). Allerdings ließ sich der positive Preußen-Bezug offenbar nicht vereinheitlichen. Artikel, in denen das preußische Prinzip schlicht als „antikonservativ"157) abgelehnt wurde, fanden sich weiterhin in „Neues Abendland", und auch der Kampf gegen Gerhard Ritter, Hans-Joachim Schoeps und andere borussische Historiker wurde weiterhin mit harten Bandagen geführt158). Die Diskussion über Preußen war, wenn schon nicht gewollt, so doch zumindest zugelassen, und neben der Ablehnung Preußens fand sich auch die gemäßigte Verteidigung von dessen Traditionen allerdings nur ihres historischen Ranges, nicht aber die Propagie-
rung einer eventuellen Vorbildfunktion für die Gegenwart159). Als Fixpunkte der Sammlung verschiedener konservativer Kräfte galten Föderalismus160), berufsständische Gliederung und eine Zweite Kammer als Korrektiv zum schrankenlosen Parlamentarismus, während bei aller Sympathie und einigen Querverbindungen doch eine offene Parteinahme für die Monarchie vermieden wurde. Eine Erklärung des Vorstands der „Abendländischen Aktion" verwahrte sich besonders dagegen, daß die mit Otto von Habsburg angebahnte Zusammenarbeit bedeute, man propagiere eine „Donauföderation"161). Demonstrativ distanzierte sich Emil Franzel auch von Armin Mohlers Versuch einer Revitalisierung der „Konservativen Revolution" der 1920er Jahre, der einen Gegensatz von konservativem und christlichem Denken her-
ausgearbeitet hatte162).
156) Franz Murner (=Emil Franzel), Von Lassalle zu Schumacher, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 265-271 (Zitat: S. 266). 157) Bernhard Hülsmann, Schicksal des Konservatismus im deutschen Raum, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 401^110 (hier S. 405, 407f.). 158) Franz Herre, Preußens neue Ehre, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 607-614. 159) Hans Asmussen, Noch einmal Preußen, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 735-738; hier heißt es abschließend, daß eine „Auferstehung Preußens für Deutschland und Europa und die ganze Welt nicht erstrebenswert" sei; lediglich einmal kam in einem (deutlich als Gastbeitrag gekennzeichneten) Artikel ein konservativer Preußen-Apologet zu Wort: Hans Joachim Schoeps, Das Reich und die Wiederkehr Preußens, in: NA, Jg. 11, 1956, S. 255-258. I6()) Prominente Abendländler zählten zum „Bund deutscher Föderalisten" (Lagebesprechung der Föderalisten, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 586-588; Jahn, Vertrauen, S. 141 f.); ohne Föderalismus würden aus Europäern „genormte Einheitsmenschen der asiatischen Steppe" (Wolfgang Heilmann, Föderalistische Bilanz, in: NA, Jg. 8, 1953, S. 55). 161) Aus der Abendländischen Aktion (Vorstandsbeschluß vom 20. 10. 1951), in: NA, Jg. 6, 1951, S. 652-653; kurz zuvor war ausführlich die Bundestagsdebatte vom 10. 10. 1951 (166. Sitzung) dokumentiert worden, in der sich Vertreter der Deutschen Partei, unter ihnen Minister Joachim von Merkatz, als Anhänger der Monarchie bekannt hatten (Monarchiedebatte im Bundestag, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 637-644); vgl. auch die monarchistische Propaganda von Otto von Habsburg, Gedanken zur Staatsform, in: NA, Jg. 11, 1956, S. 111-120 (hierS. 113f.).
162) Armin Mohler. Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Grundriß ihrer Weltanschauungen, Stuttgart 1950, S. 118 ff.; Franz Murner (= Emil Franzel). Konservative Revolution/Romantik/Deutsche Bewegung, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 445^153.
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1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
Ebenso vorsichtig wie die konkrete Festlegung einer künftigen Staatsordnung vermieden die Neu-Abendländler parteipolitische Fixierungen. Daß die Sozialdemokratie als feindliche Macht zu gelten habe, wurde in deren Umkreis von niemand bestritten. „Die deutsche Gefahr heißt ausschließlich Kurt Schumacher", schrieb Franzel, und dessen Ziel sei die „restlose Liquidation Deutschlands"163); aber das hieß nicht, daß man völlig auf die Unionsparteien setzen könne. Die uneingeschränkte Sympathie galt allein Konrad Adenauer: ein „gütiges Geschick" habe „uns neben so vielen Nieten aus dem Losbeutel der Parteien diesen einen Treffer beschert."164) Ein halbes Jahr nach der Gründungsversammlung veranstaltete die „Abendländische Aktion" im großen Saal des neuen Münchner Kolpinghauses am 4. März 1952 ihre erste öffentliche Kundgebung. Die von einem Bläserchor eingerahmten Ansprachen in dem mit der Fahne der „Abendländischen Aktion" (weiß mit rotem Georgskreuz, in dessen Schnittpunkt der Doppeladler auf goldenem Grund) geschmückten Saal zeigten, daß die Initiatoren bereits Anlaß zur Rechtfertigung ihrer Ziele sahen. Der Historiker Georg Stadtmüller „betonte in seiner Rede mit Nachdruck, daß die Abendländische Aktion den Staat und die Wirtschaftsordnung von heute nicht bekämpfe, daß aber das seit 1945 errichtete staatliche Gebäude mehr einem „Behelfsheim" gliche, das nicht den Anspruch erheben kann, Abbild einer endgültigen Ordnung zu sein." Und Gerhard Kroll, der Vorsitzende der Vereinigung, meinte hervorheben zu müssen, daß man keine „gewaltsame und zwangshafte Einigung" der Gesellschaft anstrebe und es sich verbiete, die Aktion „leichterhand in die Ecke faschistischer Bewegungen hineinzuwischen".165). Eine komprimierte Zusammenfassung der positiven Ziele, die in einigen Punkten das „Manifest" konkretisierte, legte Kroll 1953 mit der Broschüre „Das Ordnungsbild der Abendländischen Aktion" vor. Besonders markant war die Verwerfung von „Klassenkampf und „Recht auf Aussperrung und Streik", Forderung nach Todesstrafe, Aufhebung des staatlichen Schulmonopols und die Bestimmung des „Staats als gottgewollte Ordnung" sowie daraus folgend die Ablehnung der „Lehre vom Gesellschaftsvertrag" sowie die Relativierung der Demokratie: „die Behauptung, daß nur derjenige Staat, der aus Massenwahlen unter Anwendung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts
163) Emil Franzel, Quo vadis Germania?, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 474-476 (Zitate: S. 476); vgl. Murner (= Franzel), Von Lassalle, S. 267. 164) E(mil) F(ranzel), Der Kanzler. Zum 75. Geburtstag Konrad Adenauers am 5. Januar 1951, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 1-3 (Zitat: S. 1); vgl. Robert Ingrim, Deutsche Sicherheitspolitik, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 49-65 (hier S. 65). 165) Zur ersten Kundgebung der Abendländischen Aktion am 4. März 1952 in München, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 242-245; die sonstigen Ansprachen gegen die „formalistische Gleichmacherei von Mann und Frau in der Ehe" und gegen die vom „Neoliberalismus geprägte These der,Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft' bewegten sich im Rahmen der katholischen "
Soziallehre.
1.2 „Neues Abendland"
„Abendländische Akademie"
55
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hervorgeht, der einzig wahre Staat sei, ist eine Irrlehre." Allerdings anerkannte
die „Abendländische Aktion", „daß auch die in einer Formaldemokratie nach der Lehre vom Gesellschaftsvertrag zustande gekommene Staatsgewalt von Gott ist, sie fordert daher von ihren Anhängern auch gegenüber einem solchen Staat gebührenden Gehorsam". Ziel bleibe es allerdings, die „Vergiftung des öffentlichen Lebens", die der „moderne Vielparteienstaat" verursacht habe, durch eine „Reform der Verfassungen" zu überwinden; „Berufsstände und im öffentlichen Leben erfahrene und geachtete Persönlichkeiten" seien an der Gesetzgebung zu beteiligen, und an der Spitze müsse „ein Präsident oder ein König" stehen, der „in erster Linie Gott in seinem Gewissen verantwortlich" sei. In einem Anhang wurde ein „konkretes Beispiel möglicher staatlicher Ordnung zur Diskussion" gestellt. Eine „Volkskammer", gewählt auf mindestens fünf Jahre in „mittelbarer oder unmittelbarer echter Personenwahl", sollte die Regierung kontrollieren und ihr „den Volkswillen kundtun"; daneben war ein „Senat" vorgesehen, zusammengesetzt zu einem Drittel aus gewählten Abgeordneten der „Volkskammer", zur Hälfte aus den Vertretern der Berufsstände und zu einem Sechstel aus „angesehenen Männern des öffentlichen Lebens", die das Staatsoberhaupt auf Lebenszeit berufen sollte. Der Senat hatte die Regierung zu beraten und das Staatsoberhaupt zu wählen, dieser wiederum sollte die Regierung berufen und entlassen können166). Während mit diesem Modell das Ziel einer vollständigen Erneuerung der Gesellschafts- und Staatsordnung aufrechterhalten wurde, zeigten doch die Präsentation als „Diskussionsvorschlag" und die bemühte Zurückweisung des „Faschismus"-Vorwurfs eine andere Akzentuierung. Das Grundgesetz der Bundesrepublik wurde nun, einem allgemeinen Zug in der rechtskonservativen Publizistik folgend, nicht mehr abgelehnt, sondern als ergänzungswürdig, als „Behelfsheim" (Stadtmüller) angesehen, in dem sich aber doch wohnen lasse. Damit siedelte sich die „Abendländische Aktion" am Rande der Verfassung an, mit der Hoffnung auf künftige Möglichkeiten der mehr oder minder behutsamen Revision im christlich-abendländischen Sinn. Die Aktivitäten der „Abendländischen Aktion" hatten allerdings zu diesem Zeitpunkt, 1953, bereits ihren Höhepunkt überschritten, denn die erhoffte öffentliche Resonanz, die aus der Existenz eines publizistischen Zirkel herausführen sollte, blieb gering.
I66) Das Ordnungsbild der Abendländischen Aktion, München 21953 S. 15, 18-21,24, 27, 31 f.
(4.-8. Tausend),
56
I. Die
1.3
Rettung des christlichen Abendlandes
Gründung und Blütezeit der „Abendländischen Akademie" (1952-1955)
Aus diesem Grund hatten sich schon im Frühjahr 1952 einige Freunde der „Abendländischen Aktion" zusammengefunden. Sie beschlossen die Gründung einer „Abendländischen Akademie" als Ort, an dem auf theoretisch anspruchsvollem Niveau und in christlicher Atmosphäre Kernprobleme abendländischen Denkens erörtert werden sollten167). Entgegen späteren Selbstdarstellungen war die Gründung der „Abendländischen Akademie" allerdings nicht als Konkurrenz zur „Abendländischen Aktion" Gerhard Krolls konzipiert worden, der in den ersten Jahren aktiv mitarbeitete. Im Hintergrund wirkte wie auch beim Verlagswechsel von „Neues Abendland" Erich Fürst von WaldburgZeil, der für die Arbeit der Akademie 15000 DM jährlich in Aussicht stellte168); Vorsitzender wurde der mittlerweile in Würzburg als Professor berufene Jurist Friedrich August Freiherr von der Heydte; im Vorstand waren ferner Georg Fürst von Waldburg zu Zeil und Trauchburg, Besitzer des Verlags „Neues Abendland", als stellvertretender Vorsitzender, Dekan Prof. Dr. Wilhelm Stählin, bis 1952 evangelisch-lutherischer Landesbischof von Oldenburg, nun in Bayern lebend, Pater Franz Georg Waldburg SJ, Eberhard Fürst von Urach, Dr. Wolfgang Heilmann als Studienleiter der „Abendländischen Akademie", Generalsekretär Ritter Georg von Gaupp-Berghausen, Verlagsleiter des Verlags „Neues Abendland", als Generalsekretär, Prof. Dr. Georg Stadtmüller und Dr. phil. habil. Helmut Ibach, der 1954 Chefredakteur von „Neues Abendland" wurde. Im Kuratorium vertreten waren u. a. Dr. Heinrich von Brentano (Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag und späterer Bundesaußenminister), Pater Gilbert Corman (Institut für katholische Sozialarbeit, Dortmund), Basilius Ebel OSB (Abt von Maria Laach), Freiherr Elimar von Fürstenberg (MdB Bayernpartei), Dr. Dr. Alois Hundhammer (CSU, Präsident des Bayerischen Landtags), Dr. Hans Hutter (CSU, Oberbürgermeister von Eichstätt), Dr. Lorenz Jaeger (Erzbischof von Paderborn), Dr. Richard Jaeger (MdB CSU, später Vizepräsident des Deutschen Bundestages), Walter von Keudell, Reichsminister a.D. (Ex-DNVP), Dr. Dr. Ernst Kuß (Generaldirektor der Duisburger Kupferhütte), Prof. Dr. Hugo Lang OSB (Abt von St. Bonifaz und in Andechs, München), Dr. Rudolf Lodgman von Auen (Vorsitzender des Verbandes der Landsmannschaften, München), Harald Lüdeke (Direktor der Bossong-Werke, Lintorf/Düsseldorf), Hasso von Manteuffel (General der Panzertruppen a.D.),
167) Der Gedanke eines solchen Forums dies zeigen die Gründungen der kirchlichen Akademien lag gewissermaßen in der Luft; namentlich der neu-abendländische Historiker Georg Stadtmüller hatte sich mit Vorträgen am Münchner „Neuen Forum" beteiligt (zu den Themen s. Jahn, Vertrauen, S. 103). 168) Gespräch mit Dr. Hans Hutter am 13. 11. 1994; ungenau ist die Darstellung von Jost, Abendland, S.40ff. -
-
1.3
Gründung und Blütezeit
57
Dr. Hans-Joachim von Merkatz (MdB DP und späterer Bundesratsminister), Dr.Dr.h.c. Hermann Pünder (MdB CDU), Dipl.-Ing. A. Karl Simon (Sudetendeutsche Landsmannschaft), Frau Prof. Benedikt Schmittmann (gemeint war die Witwe von Prof. Schmittmann (s. o.)), Dr. Joseph Schroffer (Bischof von Eichstätt), Hans Schuberth (CSU, Bundespostminister), Prof. D. Dr. Friedrich Karl Schumann (Evangelische Forschungsakademie, Hemer), Dr. Theodor Steltzer (CDU, Ministerpräsident a.D. von Schleswig-Holstein), Dr. Heinrich Weinkauff (Präsident des Bundesgerichtshofes), Paul Wilhelm Wenger (Redakteur des „Rheinischen Merkur") und Kurt Wüstenberg (Bundesrichter); hinzu kamen einige ausländische Mitglieder des Kuratoriums169). Es handelte sich beim Kreis der „Abendländischen Akademie" also zum einen um christlich-konservative Teile der politischen Klasse, vor allem aus den Unionsparteien und der DP schon Zeitgenossen fiel die Häufung von Adelsnamen auf -, um (wenige) Unternehmer sowie um einige hochrangige katholische Kleriker, während von evangelischer (bzw. von lutherischer) Seite nur in ihrer Kirche randständige Anhänger einer nominell überkonfessionellen, tatsächlich aber katholisch dominierten abendländischen Bewegung gewonnen werden konnten. Tonangebende evangelische Kräfte in der CDU (Hermann Ehlers) wahrten hingegen ebenso Distanz wie die konservative Fronde in der EKD (Otto Dibelius, Helmut Thielicke u. a.). Wilhelm Stählin drückte in der Erinnerung sein schmerzliches Bedauern darüber aus, „daß es mir trotz aller Bemühungen kaum gelang, weitere evangelische Kreise und führende Kirchenmänner für diese Arbeitsgemeinschaft zu gewinnen, sondern (ich) fast immer auf eine argwöhnische Zurückhaltung stieß, auf ein kaum verhehltes Mißtrauen, zu dem hier wirklich kein Anlaß war."170). -
169) Die personelle Besetzung der Gremien nach dem Stand des ersten Halbjahres 1953 in Abendländische Akademie 1953, in: DAEi; Ende 1953 wurden Prof. Dr. Theodor Oberländer (MdB BHE und Bundesvertriebenenminister), Dr. Heinrich Weitz (Präsident des Deutschen Roten Kreuzes) und Dr. Max ligner (Vorsitzender des Freundeskreises der Internationalen Gesellschaft für christlichen Aufbau. Heidelberg) aufgenommen; im Sommer 1954 wurden auch Heinrich Hellwege (MdB DP) und Franz-Joseph Wuermeling (CDU, Bundesfamilienminister) genannt; in einem Beirat waren ferner u.a. die Professoren Karl Buchheim, Ernst von Hippel, Johannes Hirschberger und Thomas Michels, Michael Schmaus sowie die evangelischen Theologen und Kirchenfunktionäre Hans Asmussen, Hans Dombois und Karl-Bernhard Ritter vertreten (Kuratoriums- und Beiratssitzung der Abendländischen Akademie, 21. 11. 1953, in: DAEi; Abendländische Akademie 1954, in: DAEi). 170) Wilhelm Stählin, Via Vitae. Lebenserinnerungen, Kassel 1968, S. 714; diesbezügliche Unterlagen in LKAN, Nl. Stählin 75; Eugen Gerstenmaier konnte immerhin mindestens einmal (1954) als Referent einer Veranstaltung der Abendländischen Akademie gewonnen werden; zu den evangelischen Teilnehmern der Abendländischen Akademie erscheint als Aufsatz von mir „Ökumene wider den Liberalismus. Zum politischen Engagement konservativer protestantischer Theologen im Umkreis der Abendländischen Akademie nach dem Zweiten Weltkrieg" in einem von Thomas Sauer hg. Bd. über kirchliche Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg (Stuttgart 1999).
58
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
Bekanntheit erlangte die „Abendländische Akademie" bald durch die in der wechselseitig als „fränkisches Padua" und „mittelfränkisches Rom" titulierten Bischofsstadt Eichstätt durchgeführten Jahrestagungen, deren erste unter dem Thema „Werte und Formen im Abendland" im August 1952 stattfand171). Dieses Treffen wurde mit 400 bis 500 Teilnehmern zu einer Heerschau der christlich- und vornehmlich der katholisch-abendländischen konservativen Intelligenz, wobei penibel auf Bikonfessionalität geachtet wurde. Zu den Themen sprach jeweils ein katholischer und ein protestantischer Referent: Die Themen lauteten „Die christliche Grundlage des Abendlandes" (Bischof a.D. Wilhelm Stählin; Prof. Dr. Leo Gabriel, Wien), „Sacrum Imperium" (Propst Hans Asmussen; Prof. Dr. Francisco Elias de Tejada-Spinola, Sevilla), „Die Gegenwartskrise der abendländischen Kultur" (Prof. Dr. Alois Dempf, München; Kirchenrat D. Gustaf Törnvall, Hällestad, Schweden), „Die Wertordnung in der abendländischen Kunst" (Dr. Alfons Rosenberg, Luzern; Dr. Wolfgang Heilmann, München), „Die Besinnung auf die Liturgie" (Kirchenrat D. Dr. Karl Bernhard Ritter, Marburg; Pfarrer Dr. Johannes Pinsk, Berlin); „Rechtspositivismus" (Prof. Ernst von Hippel; Prof. von der Heydte, Mainz). Tenor der Tagung, faßte Wolfgang Heilmann im Protokoll zusammen, war der gemeinsame Bezug auf das „Abendland", wobei die evangelischen Referenten, so sein Eindruck, „sich offensichtlich zu einer auch evangelischerseits neu erwachenden Katholizität bekennen"; dies gelte besonders für Hans Asmussen172), der übrigens im Eichstätter katholischen „St.Willibaldsboten" eigens als „ernster Luther-Forscher, der um die Wahrheit ringt" und auf dem „Weg zu einer Annäherung an die Mutterkirche" befindlich sei, vorgestellt wurde173). Auch im Bericht über die Jahrestagung in „Neues Abendland" wurde der überkonfessionelle Charakter der Veranstaltung hervorgehoben. Der Händedruck, den der katholische Eichstätter Bischof Schroffer und der ehemalige evangelische Bischof Stählin austauschten, wurde als „Ausdruck einer gemeinsamen abendländischen Verantwortung empfunden". Die „Abendländische Akademie" sei „gleichsam auf Anhieb aus jenem restaurad ven donaukatholischen Ghetto' erlöst, in das sie bisherige Vorurteile abzudrängen suchten."174) Ob diese optimistische Wertung Ausdruck ehrlicher Begeisterung oder taktischer Natur war, ist schwer zu bestimmen, denn immerhin war in „Neues Abendland" schon 1950 ,
171) Werte und Formen im Abendland. Jahrestagung der Abendländischen Akademie vom 6.-10. 8. 1952 in Eichstätt, hekt. Typoskript; einige der Beiträge wurden auch in NA abgedruckt; vgl. ibs. Wilhelm Stählin, Die christlichen Grandlagen des Abendlandes, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 641-650. 172) Werte und Formen, Einführung, S. 1. 173) St. Willibalds-Bote, Nr. 18 vom 24. 8. 1952, in: DAEi; Unterlagen zum Engagement von Hans Asmussen im Rahmen der Abendländischen Akademie in dessen Nl. im ACDP; vgl. Schildt, Ökumene wider den Liberalismus. 174) Helmut Ibach, Angst vor dem Herrschen, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 568-569 (Zitate: S. 568).
1.3
Gründung und Blütezeit
59
Ausdruck gebracht worden, daß Stählin und Asmussen „wohl über Offiziere", aber nicht über eine „Mannschaft" in der Evangelischen Kirche verfügten175). Eine der strategisch wichtigen Festlegungen galt der globalen Bestimmung des „Abendlandes"; im zusammenfassenden Bericht hieß es, die Frage sei offen geblieben, „ob zwischen der universalen Christenheit, deren politische Einigung im Sacrum Imperium einen die ganze Welt umspannenden Charakter tragen muß gleich ihren Widersachern, der Sowjetunion und der,demoliberalen UNO', und zwischen den Nationalstaaten nicht noch uralt geschichtlich geprägte Kulturgemeinschaften wie etwa das Abendland, Indien, Ostasien usw. in der föderativen Gliederung eine Zwischenstufe bilden sollten."176) Auch die Bedeutung des Einflusses der Antike auf das „christliche Abendland" blieb umstritten. Hinsichtlich des Verhältnisses von „Abendland" und „Amerika" wandte sich Alois Dempf strikt gegen die Tendenz, die USA aus dem „Abendland" auszuschließen177). Die noch ein Jahr zuvor vernehmlichen Stimmen, welche die kulturelle Distanz zwischen „alter" und „neuer Welt" hervorhoben, waren inzwischen auch in der Zeitschrift „Neues Abendland" verstummt. Der konservative USA-Remigrant Erik von Kuehnelt-Leddihn betonte dort, die „wahrhaft christliche Kulturerneuerung (sei) unser gemeinsames Problem von San Francisco bis Helmstedt"178), und selbstverständlich sei „Amerika integraler Bestandteil des Abendlandes"179); die große Scheide werde „nicht so sehr durch den atlantischen Ozean, sondern durch den Ärmelkanal repräsentiert"180). Diese Sichtweise wurde durch den republikanischen Wahlsieg in den USA 1953 befestigt. Robert Ingrim kommentierte in „Neues Abendland": „Der Triumph des Konservatismus in Amerika ist die Gelegenheit, die der europäische Konservatismus nutzen muß, um das Abendland nach anderthalb Jahrhunderten Tollheit in Ordnung zu bringen."181) Mit einiger Begeisterung wurden die Aktivitäten des McCarthy-Ausschusses gegen „unamerikanische Umtriebe" aufgenommen; McCarthy sei „wie eine gute Katze, die Ratten riecht und aufstöbert"182).Als die Kritik gegen dessen hysterische Aktivitäten zum
175) Kasch, Die Gegenwartsdialektik des Protestantismus, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 338; vgl. in diese Richtung gehend die Bewertung von Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. Frankfurt/M. 1971 (Tb-Ausgabe), S. 310. 176) Werte und Formen, Einführung, S. 2. 177) Alois Dempf, Die Gegenwartskrise der abendländischen Kultur, in: Werte und Formen, Typoskript S. 1. 178) Kuehnelt-Leddihn, Wir und die Angelsachsen, S. 11. 179) Ders., Die Angelsachsen und der Sowjetismus, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 71-78. I8Ü) Ders., Wir und die Angelsachsen, S. 11. 181) Robert Ingrim, Die Stunde des Konservatismus, in: NA, Jg. 8, 1953, S. 175-176 (Zitat: S. 176). 182) Ders., Das verzerrte Amerikabild, in: NA, Jg. 8, 1953, S. 421-424 (Zitat: S. 422); zum Amerikabild von Robert Ingrim vgl. Schildt, Reise zurück aus der Zukunft, S. 31 f.
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I. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
in den USA immer lauter wurde, wollte man in „Neues Abendland" höchstens „Formfehler" bei der Jagd nach den „roten Ratten" zugeben183). Die zweite Jahrestagung in Eichstätt 1953, für die vom Eichstätter Bischof wie im Jahr zuvor die gesamte Logistik (Tagungsräume, Unterbringung) zur Verfügung gestellt wurde184), führte etwa 250 Interessenten zusammen, die über das Thema „Der Mensch und die Freiheit" berieten185). Zum kulturellen Rahmen gehörte auch eine Lesung des Lyrikers Werner Bergengruen, der die Jahrestagungen der Akademie stets besuchte186). Über das Verhältnis von „Freiheit und Ordnung" sprachen Wilhelm Stählin, Ernst von Hippel und Friedrich August von der Heydte, zum Komplex der „Freiheit in der Heilsgeschichte" referierten Karl Buchheim vom Institut für Zeitgeschichte und Paul Schütz, die „Autonome Freiheit" behandelten Johannes Hirschberger, Karl Bernhard Ritter und der Schweizer Psychologe Max Picard, die „Vernichtung der Freiheit im Totalitarismus" thematisierten Hans Dombois, Valentin Tomberg und Gerhard Kroll. Abschließende Vorträge zur „Wiedergeburt der Freiheit" hielten Hans Asmussen und Johannes Pinsk. Einig war man sich in der Ablehnung der „höllischen Trinität ,Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit'" (Stählin) und in der Einsicht in den untrennbaren Zusammenhang von „Freiheit und Ordnung" sowie in die Unmöglichkeit einer Freiheit als „Subjektivität wertentbundenen Denkens" (von Hippel), der die „Freiheit der sittlichen Persönlichkeit" im Sinne von Donoso Cortés, dem „Philosophen der Freiheit und der Ordnung" (von der Heydte) entgegengehalten wurde; diese Freiheit sei durch den „Verlust der Bindung an Gott" und die damit einhergehende „Vernichtung der Tugend" (Kroll) entschwunden und müsse erneuert werden187). Die gegen die liberale Demokratie gerichtete Generallinie fand ihren Ausdruck einmal in der Unterscheidung von „Liberalität" als „Anerkennung alles echten Glaubens", also religiöser Toleranz, gegenüber dem „Liberalismus", bei dem „Liberalität" zur „höchst intoleranten Verabsolutierung eines vermeintlich endgültigen Verstandeswissens" verzerrt werde (Karl Bernhard Ritter); zum anderen wurde die „Beliebigkeit der Standpunkte" als „Bestandteil des Liberalismus" zur „Vorform des Totalitarismus" erklärt das „Teufelsrad" der Abwechslung von „Liberalismus" und „Tyrannis" müsse angehalten werden -
(Kroll)188). 183) William F. Buckley, Rote Ratten, in: NA, Jg. 10, 1955, S. 167-168 (Zitat: S. 167); vgl. auch Ernst August Nohn, Geist und „Geist" Amerikas, in: NA, Jg. 10, 1955, S. 477^186. 184) Kroll an Bischof Schroffer, 12. 1. 1953 und dessen Antwort vom 21. 1. 1953, in: DAEi. 185) Der Mensch und die Freiheit. Vorträge und Gespräche der (2.) Jahrestagung der Abendländischen Akademie 1953, München o.J. (1953). 186) Zur neu-abendländischen Hochschätzung dieses Dichters J.O. Zöller, Werner Bergengruen, ein KUnder der heilen Welt, in: NA. Jg. 12, 1957, S. 266-271. i87) Ebd.,S. 17,20,30,35, 105. I88) Ebd., S. 75, 108, 111 ; die Argumente Krolls auch für die Rechtfertigung der Monarchie bei Erik von Kuehnelt-Leddihn, Monarchie oder Monokratie, in: NA, Jg. 8, 1953,
1.3
Gründung und Blütezeit
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Die „Abendländische Akademie", deren Jahrestagung wie schon 1952 über die katholisch-konservativen Organe hinaus ein freundliches und respektvolles Presseecho erfahren hatte189), entfaltete in den beiden ersten Jahren ihres Bestehens eine beträchtliche Aktivität, die auf einer Kuratoriums- und Beiratssitzung der „Abendländischen Akademie" im November 1953 bilanziert werden konnte190). Basis dafür war die finanzielle Unterstützung durch den Fürsten Waldburg und die Duisburger Kupferhütte sowie die Übernahme der Hälfte der Kosten der Eichstätter Jahrestagungen durch die „Bundeszentrale für Heimatdienst" (die spätere „Bundeszentrale für politische Bildung"). Die technische Infrastruktur stellte der Verlag „Neues Abendland", in dessen Münchner Räumen die Akademieleitung arbeitete. Die Führungspersonen von Verlag, Zeitschrift und Akademie versahen ihre Ämter z.T. in Personalunion. Neben der Studienleitung gab es ein „Sozialreferat" und ein „Referat für übervölkische Ordnung", das vor allem Kontakte zur osteuropäischen Emigranten-Szene in München knüpfte; Absprachen und gegenseitige Mitgliedschaften gab es mit der „Deutschen Sektion des Internationalen Komitees zur Verteidigung der Christlichen Kultur", mit der „Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise", mit dem „Verband der deutschen Landsmannschaften" und mit der „Internationalen Gesellschaft für christlichen Aufbau". Auf der Kuratoriums- und Beiratssitzung im November 1953 hatte der Bundestagsabgeordente Dr. Hermann Lindrath aus Heidelberg auch die „herzlichsten Grüße" einer „ganzen Reihe von Fraktionskollegen der CDU aus Bonn" übermittelt und betont, daß die „Abendländische Akademie" eine Einrichtung sei, „von der wir als Bundestagsabgeordnete noch manches lernen können". Es sprach für das Selbstbewußtsein der Neu-Abendländler und für ihre Skepsis gegenüber der CDU, daß Paul Wilhelm Wenger daraufhin die „grundsätzliche Frage" aufwarf, ob diese eine Partei oder eine „echte Union" bilden werde. Es gebe Anzeichen dafür, daß die CDU „auf jede wirklich christliche abendländische Politik verzichtet". Der Chefredakteur von „Neues Abendland", Helmut Ibach, ergänzte: „Daß wir der CDU die geistigen Grundlagen entwickeln helfen, mögen die anwesenden Herren der Bundestagsfraktion zur Kenntnis nehmen und es nicht versäumen, in ihren Fraktionen darauf hinzuweisen, daß es Kreise gibt, die ihrem Ansinnen dienen."191) Als Ansatz solcher PolitikberaS. 147-158 (hier S. 147f., 155); als neu-abendländisches Grundlagenwerk ders., Freiheit oder Gleichheit? Die Schicksalsfrage des Abendlandes, Salzburg 1953. 189) Pressestimmen in Der Mensch und die Freiheit, S. 146-147. 190) Kuratoriums- und Beiratssitzung der Abendländischen Akademie am 21. 11. 1953, in: DAEi; die folgenden Angaben nach dem 18seitigen Protokoll. 191) Die Notwendigkeit verstärkten Eingreifens in die innerparteilichen Auseinandersetzungen zwischen konfessionell engstirnigen und überkonfessionell-abendländischen Kräften sowie zwischen „Zentralisten" und „Föderalisten" in der CDU wurde in „Neues Abendland" verschiedentlich thematisiert; vgl. Georg Strickrodt, Tagespolitik und kirchliche Verkündigung, in: NA, Jg. 9, 1954, S. 13-22; Franz Herre, Die Union ist mehr, in: NA, Jg. 9, 1954, S. 101-103.
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1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
tung sollte die Einrichtung von Arbeitskreisen mit jeweils wenigen Fachleuten dienen, deren Ergebnisse dann auf kleinen Tagungen mit den „betreffenden verantwortlichen Praktikern" erörtert werden sollten; als besonders dringliche Themen wurden die Reform der Steuerpolitik, Fragen des Familienrechts, das Problem „christlicher Wehrpolitik" und der „praktischen politischen Zusammenarbeit beider Konfessionen" vorgeschlagen. Eine Reihe von Kontakten hatte sich ins westliche Ausland und nach Österreich ergeben. Besonders intensiv war die Zusammenarbeit mit dem „Europäischen Dokumentationszentrum" in Madrid, mit dem „Österreichischen Collège Alpach" und dem Wiener „Institut für Donaufragen" sowie dem „Comité der Beneluxstaaten". Als wünschenswert bezeichnete der Vorsitzende von der Heydte auch die Anbahnung einer Zusammenarbeit mit den „Salzburger Hochschulwochen", den Evangelischen Akademien und mit dem „Institut für europäische Politik und Wirtschaft" der Universität Mainz192). Etliche Wochenendtagungen und Vortragsabende waren 1953 organisiert worden, z.T. mit prominenten Referenten wie den Professoren Franz Borkenau, Karl Buchheim, Alois Dempf, Hans Sedlmayr und Georg Stadtmüller, die ein breites Themenspektrum von der Außenpolitik bis zur Kunst traktier-
ten193). Ausgeweitet Halbjahr 1954,
wurde das seminaristische und Vortragsangebot im ersten in dem ca. zwei Dutzend Veranstaltungen stattfanden194), darunter ein Vortrag von Hans Asmussen an der Münchner Universität über „Heilsnot und Heilsgewißheit in den politischen Entscheidungen des Abendlandes" im Januar195), zwei „Rundgespräche" über „Naturrecht" bzw. „Naturrecht und Rechtspositivismus" im Bundesgerichtshof in Karlsruhe im Februar und April, eine Tagung im Kolleg St. Blasien „Über die Aufgaben des Offiziers
192) Dieses 1950 gegründete Institut hatte seine Zweckbestimmung 1953 in der Überwindung von überspitztem Nationalismus und verständnislosem Konfessionalismus „im Geist einer neuen christlich-abendländischen Haltung" gesehen (zit. nach Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 212; vgl. ders./Corinne Defrance, Die Gründung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Mainz 1992); in diesem Institut hatte von der Heydte anfänglich großen Einfluß. 193) Abendländische Akademie 1953, in: DAEi. 194) Abendländische Akademie 1954, in: DAEi. 195) Asmussen hegte nach der Bundestagswahl 1953 die Gewißheit, daß die Evangelische Kirchenleitung nun auf die CDU zugehen müsse gegen die ohne Basis dastehende „Clique Barth-Heinemann-Niemöller" (Hans Asmussen, Die evangelischen Kirchen nach der Wahl, in: NA. Jg. 8, 1953, S. 719-724; extrem zugespitzt gegen den „antirömischen Effekt" der EKD-Leitung ders., Rom, Wittenberg, Moskau. Zur großen Kirchenpolitik, Stuttgart 1956, S. 109f.; zur Hochschätzung Asmussens bein den Neu-Abendländlern vgl. Emil Franzel, Im Geist der Una Sancta, in: NA, Jg. 13, 1958, S. 92-93; eine kritische Biographie von Asmussen ist ein Desiderat kirchlicher Zeitgeschichte; einige Hinweise in Wolfgang Lehmann, Hans Asmussen. Ein Leben für die Kirche, Göttingen 1988). -
1.3
Gründung und Blütezeit
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in der EVG", an der auch Wolf Graf von Baudissin teilnahm196), eine „Abendländische Tagung zur Kieler Woche" im Juni, auf der Eugen Gerstenmaier ein Referat zum Thema „Restauration des Abendlandes" hielt und eine Jugendtagung in Vlotho an der Weser im Juli. Höhepunkt der Aktivitäten war die dritte Jahrestagung der „Abendländischen Akademie" in Eichstätt Ende Juli/Anfang August 1954, die unter das Thema „Staat, Volk, übernationale Ordnung" gestellt worden war197). Die Zahl der Vorträge war gegenüber den vorhergehenden Jahrestagungen auf zehn (an fünf Tagen) verringert worden, um mehr Möglichkeiten für Gespräche zu schaffen. Der abendländischen Einstimmung diente die Aufführung des eigens für die Jahrestagung als Freilichttheater inszenierten mittelalterlichen Stückes „Ludus de Antichristo" („Das Spiel vom Antichrist"), zu dem Bischof Stählin eine Einführung schrieb198). Das Thema der Jahrestagung sowie die Auswahl der Referenten demonstrierten die Bemühungen um eine Ausweitung der internationalen Kontakte. Sechs von zehn Vorträgen bestritten ausländische Gäste. Im einzelnen ging es um „Wesen und Aufgabe des Staates" (Prof. van der Veen, Utrecht; Prof. Lenz-Médoc, Paris), „Das Verhältnis von Volk und Staat" (Comte Francois de la Noe, Paris; Prof. Ulrich Scheuner, Bonn), das „Stufungsprinzip" (Prof. Ahlberg, Brunsvik/Schweden; Prof. Adolf Süsterhenn, Koblenz), „Übernationale Ordnung" (Marqués de Valdeiglesias, Madrid; Prof. Vedovato, Florenz; Prof. von der Heydte, Würzburg). Unter den Gästen der Jahrestagung befanden sich Josef Wintrich, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, und Richard Jaeger, mittlerweile Vizepräsident des Deutschen Bundestages199). Als Generalnenner der mitunter subtilen Erörterungen ergab sich das gemeinsame Ziel einer Erneuerung des „Abendlandes" durch eine übernationale Ordnung, welche durch die UNO nicht gewährleistet werden könne (Vedovato). „Abendland" sei zwar kein geographischer oder politischer, sondern ein christlicher Begriff (Ahlberg), aber dies hinderte die Referenten doch nicht, eine klare Frontstellung von supranationaler Gemeinschaft gegen internationale Verbindung (Heilmann) herauszustellen200). Zu dieser supranationalen Gemeinschaft gehörten als gesunder abendländischer Kern, wie in „Neues Abendland" und in der „Abendländischen Akademie" stets betont wurde, die Länder der iberischen Halbinsel. Schon seit der Übernahme der Redaktion von „Neues Abendland" durch Emil Franzel 1948 waren immer wieder Artikel plaziert worden, die zum Abbau der angeblich nur durch die Sowjetunion geschürten Entfremdung zwischen den USA und Spa-
196) Auf die abendländische Note des ersten staatsbürgerlichen Handbuchs der „inneren Führung" ist bereits hingewiesen worden (s. Anm. 72). 197) Staat, Volk, übernationale Ordnung. Vorträge und Gespräche der 3. Jahrestagung der Abendländischen Akademie 1954, München o.J. 198) Programm der Jahrestagung 1954, in: DAEi; Staat, Volk..., S. lOOff. 199) Helmut Ibach, Vom Sinn der neuen Akademien, in: NA, Jg. 9, 1954, S. 567-570. 20°) Staat, Volk..., S. 84f., 124f., 146f.
64
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
nien beitragen wollten201). Dabei orientierte man sich nicht an der liberalkonservativen kritischen Distanz zu Spanien, wie sie etwa der Philosoph Ortega y Gasset ausdrückte202), sondern am real vorfindlichen Spanien, dessen Krankenhäuser „modern" und dessen Strafvollzug „humaner" als der britische seien203). Es wurde sogar Befürchtungen über den in Spanien aufkeimenden „Neoliberalismus" Raum gegeben204), dem nur durch den Klerus Einhalt geboten werden könne. Insofern ergriff man nicht direkt für Franco Partei, sondern für einen Staat, in dem die Kirche erheblich mehr Einflußmöglichkeiten besaß als in Westdeutschland205). Ungeschmälert blieben z. B. in der Schulpolitik die Verdienste des spanischen Diktators im Bürgerkrieg, „in dem sich ganz eindeutig Christentum und Kommunismus gegenübergestanden" hätten206). Der Militärvertrag zwischen den USA und Spanien im Herbst 1953 wurde von dem Spanier Valdeiglesias, einem Funktionär des Madrider „Europäischen Dokumentationszentrums", in „Neues Abendland" als „Abschluß einer äußerst peinlichen Periode" bezeichnet 207). Aber „Neues Abendland" wirkte nicht nur als Agentur der Aufnahme Spaniens in die westliche Gemeinschaft, sondern überließ die Spalten der Zeitschrift auch der direkten Propaganda für die abendländische Vorbildfunktion dieses Landes. Valdeiglesias schrieb 1955: „Was Spanien vom Ausland noch zu lernen hat, sind also einige profane und nebensächliche Dinge; was es andererseits dem Ausland geben kann, kann fundamental sein für die Wiedergeburt des Abendlandes. Es ist das durch Humanismus, Rationalismus und Liberalismus unterdrückte Leitbild einer christlich-universalen Staats- und Weltordnung."208) Noch ungehemmter warb „Neues Abendland" für Portugal, und zwar deshalb, weil im Gegensatz zu Franco um den spanischen Diktator Salazar als „gläubigem Katholik, erfüllt von den staatsphilosophischen Ideen des hl. Thomas von Aquin (und) Kenner und überzeugter Anhänger der Soziallehren Papst Leos XIII.", ein regelrechter Personenkult entfacht werden konnte. Im -
-
201
) Vgl. etwa Spanien und die Alliierten, in: NA, Jg. 4, 1949, S. 347. 202) Gegen Ortega gerichtet vgl. Maximilian von Loosen, Europa von einem Spanier gesehen, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 187-193 (hier S. 192). 203) Franz Niedermayer, Wo ist das „wahre Spanien"?, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 110-115; ders. Spanien echtes Abendland, in: NA, Jg. 5, 1950, S. 293-294. 204) Ders., Spanien sucht Europa, in: NA, Jg. 7, 1952, 753-754. 205) Herbert Auhofer, Spanischer Katholizismus heute, in: NA, Jg. 8, 1953, S. 376-378; ders., Spaniens soziale Wirklichkeit, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 317-327. 206) Alfons Dalma, Spanisches Europäertum, in: NA, Jg. 8, 1953, S. 697-698 (Zitat: -
697); vgl. Faber, Abendland, S. 45ff. 207) Marques des José Ignazio Escobar Valdeiglesias, Spanien in Europa, in: NA, Jg. 9, 1954, S. 147-156 (Zitat: S. 155); als Beispiel für die breite katholisch-konservative Propaganda für die Aufnahme Spaniens in die westliche Völkerfamilie vgl. Richard Pattee/A.M. Rothbauer, Spanien Mythos und Wirklichkeit, Graz u.a. 1954. 208) Marques de José J. Escobar Valdeiglesias, Der Beitrag Spaniens, in: NA, Jg. 10, 1955, S. 285-291 (Zitat: S. 287); vgl. Hans von Gianellia, Spanisches Maß für Spanien, in: NA, Jg. 10, 1955, S. 572. S.
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1.3
Gründung und Blütezeit
65
Gegensatz zu den Linken Mussolini, Hitler und Stalin sei Salazar „ein Mann der Rechten, ein Konservativer"; nur „wer an die konventionellen Lügen der Formaldemokratie" glaube, könne in Portugal „eine Todsünde gegen die Freiheit" erblicken209). Der vehemente Einsatz für die iberischen Länder galt nicht nur der Brücke nach Afrika, sondern auch nach Südamerika. Otto von Habsburg, der dem neu-abendländischen Zusammenhang seit Anfang der 50er Jahre verbunden war, betonte in seinen Schriften, in denen er sich gegen billigen Antiamerikanismus verwahrte, immer wieder, daß Amerika nicht nur die USA, sondern auch das spanisch und portugiesisch geprägte Südamerika als katholisches Hinterland meine, das im Falle eines Atomkrieges überleben werde210). Die öffentliche Resonanz auf die dritte Jahrestagung 1954 war wiederum durchaus positiv und respektvoll gewesen. Über das Spektrum der katholischkonservativen Presse hinaus hatten auch die „Welt" und die „Zeit" das Treffen einer ausführlichen Würdigung für wert befunden211). In gewisser Weise als Fortsetzung wurde deshalb die nächste Jahrestagung schon im April 1955 unter dem Titel „Das Abendland im Spiegel seiner Nationen" erneut in Eichstätt abgehalten212). Über die „geistige Struktur und die historische Aufgabe ihrer Völker im Abendland" wurden 15 Vorträge gehalten (über die Schweiz, die Niederlande, Belgien, Frankreich, Irland, England, Norwegen, Schweden, Deutschland, Österreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland und Osteu-
ropa). Die einzigen beiden deutschen Referenten waren die Professoren Ulrich Scheuner (über Deutschland) und Hans Koch, der Direktor des Münchner Osteuropa-Instituts (über Osteuropa). Aus Österreich war interessanterweise der
2()9)
Emil Franzel, Portugal, der bestregierte Staat Europas, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 266-272 (Zitate: S. 268, 271, 272); vgl. Katholische Publizisten für Europa, in: NA, Jg. 6, 1951, S. 309-311; Franz Niedermayer, Portugals Denken zwischen Tradition und Gegenwart, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 307-311; ders., Ein Tag im Leben Antonio Oliveira Salazars, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 440^141 ; auch die abendländische Botschaft von Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit. Eine Kritik des Westens, Stuttgart 1954, S. 326, endete mit einer SalazarApologie; entsprechend auch die Gloriole um „Portugals großen Reformator Salazar" bei
Hellmuth Rössler, Größe und Tragik des christlichen Europa. Europäische Gestalten und Kräfte der deutschen Geschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. u. a. 1955, S. 756; zur Überlegenheit des portugiesischen über das spanische Leitbild vgl. Hispanófilo, Salazars iberische Rolle, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 328-332; die Auffassungen Salazars waren im übrigen auch im deutschen Sprachraum schon in den 1930er Jahren bekannt: Antonio O. Salazar, Portugal. Das Werden eines neuen Staates. Reden und Dokumente, Essen 1938. 210) Otto von Habsburg, Amerika und die europäische Integration, in: NA, Jg. 7, 1952, S. 321-324; ders., Probleme des Atomzeitalters, Innsbruck u.a. 1955, S. 57ff.; ders., Spanien und Europa, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 291-299; hingegen sei England „augenblicklich nicht als Teil Europas" zu betrachten (ders., Entscheidung um Europa, Innsbruck u.a. 1953, S. 17). 2") Staat, Volk..., S. 152ff. 2I2) Das Abendland im Spiegel seiner Nationen. Das Jahrbuch der Abendländischen Akademie 1955. 4. Jahrestagung der Abendländischen Akademie, München o.J. (1955).
66
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
in neu-abendländischen Kreisen wenig positiv aufgenommene Friedrich Heer geladen, aus Griechenland kam der konservative Verteidigungsminister Kanellopoulos. Sehr deutlich war das Bemühen erkennbar, die Gesprächsrunde zu erweitern, auch wenn inhaltlich nur wenige neue Akzente aufschienen. Das Jahr 1955 kündigte für die „Abendländische Akademie" eine wichtige Zäsur an. Der Einfluß reichte, wenn man den Namenslisten der Gremien folgt, politisch recht weit ins Zentrum der Macht, allerdings stagnierte die angestrebte Verbreiterung der personellen Basis seit einigen Monaten merklich. Eine Veröffentlichung des Vorsitzenden von der Heydte galt zu diesem Zeitpunkt dem Abbau des Vorurteils, man wolle einfach zurück zum Mittelalter; vielmehr werde es sich bei der angestrebten Reform von Staat und Gesellschaftsordnung um eine Synthese von Christianitas und Humanitas handeln, wobei offen blieb, ob es sich bei dieser Aussage um eine Rückzugsposition oder um das Ergebnis eines Lernprozesses handelte. Fixpunkt blieb in den neuabendländischen Veröffentlichungen der Kampf gegen die „Demokratur"213), die unbeschränkte parlamentarische Volksherrschaft, die „Gefahr der absolutistischen Demokratie"214). Die „Konsequenz der Demokratie" habe man 1933 erfahren, und der Nationalsozialismus sei eine „braune Demokratie" gewesen215). Einziges Gegenmittel blieb demzufolge die christlich-abendländische Erneuerung und als praktischer Ausdruck zunächst eine zweite berufsständische Kammer mit erheblichen Rechten216). Gegenüber den Gewerkschaften und der SPD herrschte weiterhin ein aggressiver Ton vor. Der DGB „trägt alle Zeichen einer totalitären Entwicklung in sich (und) jeder Totalitarismus schlägt leicht in Bolschewismus um", schrieb Helmut Ibach217), und Emil Franzel fragte nach wie vor polemisch, ob der „nationale Sozialismus, der mit Schumacher in der SPD ans Ruder kam, der Bindestrich-National-Sozialismus, (...) nicht aus dem Erbe des Nationalsozialismus" komme218). Gerade die durchaus wahrgenommene Abwendung der Sozialdemokratie von marxistischem Ge-
213)
Friedrich August Freiherr von der Heydte, Vom heiligen Reich zur geheiligten Volkssouveränität, Laupheim/Württ. 1955, S. 23; vgl. das in den Universitäten seinerzeit viel benutzte Lehrbuch von ders./Kurt Sacherl, Soziologie der deutschen Parteien, München 1955, ibs. S. 210f. (zur Bestimmung der „Elite"); bis 1953 war von der Heydte auch Leiter des „Staatsbürgerlichen Referats" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (Baring, Außenpolitik, S. 436; zahlreiche Hinweise zu Aktivitäten von der Heydtes in diesem Arbeitsfeld gibt Thomas Grossmann, Zwischen Kirche und Gesellschaft. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken 1945-1970, Mainz 1991); vgl. auch von der Heydte, Die modernen Chiliasmen, in: Anton Böhm (Hg.), Häresien der Zeit, Freiburg 1961, S. 277-293. 214) Hans-Joachim von Merkatz, Grundlagen konservativer Politik, in: Sonntagsblatt (Hamburg), Jg. 6, 1953, Nr. 36 vom 6. 9. 1953. 215) Martini, Ende, S. 94. 216) In diesem Zeitraum besonders vehement vertreten von Adolf Süsterhenn in: Staat, Volk..., S. 65f. 217) Helmut Ibach, Kinder einer Mutter, in: NA, Jg. 9, 1954, S. 641-642 (Zitat: S. 641). 218) Emil Franzel, Die braunen Erben, in: NA, Jg. 10, 1955, S. 65-66 (Zitat: S. 66).
1.3
67
Gründung und Blütezeit
dankengut, so die Pointe Georg Stadtmüllers, mache alle Ansätze eines christlich-marxistischen Dialogs überflüssig219). Auch die liberale Partei im Regierungslager und namentlich Thomas Dehler wurden hart attackiert. Franz Herre verbreitete sich über die „Leichenblässe des deutschen Liberalismus" mit seinen „nationalistischen Atavismen"220). In einer ruhiger argumentierenden Betrachtung der Gegenwart von Ulrich Scheuner wurde hervorgehoben, daß die westdeutsche Bevölkerung gefährlichen „schwärmerischen Heilslehren" und „Verlockungen" gegenüber immun geblieben sei: „die Ära des Nationalismus ist in ganz Westeuropa im Abklingen"221). Franz Herre triumphierte, die „fortschreitende Schwindsucht des BHE (sei) zugleich ein Symptom der Gesundung der Bundesrepublik und ihres Verfassungslebens"222). Die „Absage an jede Idee einer deutschen Mittlerstellung zwischen Ost und West"223) hatte sich in der deutschen Öffentlichkeit weithin durchgesetzt, wie nicht zuletzt die Abwahl Gustav Heinemanns als Präses der Evangelischen Kirche Deutschlands zeigte. Die Stilisierung des Ost-West-Gegensatzes zum Kampf zwischen „Christenglauben" und „Anti-Messias"224) schwamm im mainstream offiziöser Propaganda. Otto von Habsburg machte eine Rechnung auf, nach der 231 Millionen Kontinentaleuropäer 230 Millionen Russen gegenüberstehen würden, während 100 Millionen versklavte Osteuropäer sich auf die Seite des „Abendlandes" schlagen würden. Die Yalta-Linie sei „keine dauernde Grenze", und Europa werde „bis an die echten Grenzen Rußlands" heranrücken"225), zumal das kommunistische Weltsystem durch innere Machtkämpfe und Spaltung (zwischen China und Rußland) geschwächt werden würde226). Die bereits erwähnte Augsburger Feier der Lechfeld-Schlacht, auf der das Kuratoriumsmitglied der Akademie, Heinrich von Brentano, am 10. Juli 1955 seine erste öffentliche Rede als Bundesaußenminister mit starker antibolschewistischer Emphase gehalten hatte, demonstrierte den Einfluß des christlich-konservativen Abendland-Bildes weithin. Umso überraschender wirkten die kurz darauf einsetzenden vehementen politischen Angriffe gegen die „Abendländische Akademie", die ihren Niedergang zwar nicht verursachten, aber einleiteten.
219) Georg Stadtmüller, Abschied von Marx, in: NA, Jg. 9, 1954, S. 257-258.
220) Franz Herre, Liberalismus ohne Zukunft, in: NA, Jg. 10, 1955, S. 227-228. 221) Ulrich Scheuner, Die deutsche Bewußtseinskrise, in: NA, Jg. 10, 1955, S. 333-338 (Zitate: S. 335 f.).
222) S.
Franz Herre, Der
488).
Auszug
der Vertriebenen, in: NA,
223) Scheuner, Bewußtseinskrise, S. 334. 224) Habsburg, Probleme, S. 138. 225) Ders., Entscheidung, S. 20 f. 226) Franz Borkenau, Stalinismus und Habsburg, Probleme, S. 30. -
was
Jg. 10, 1955,
S. 487^188 (Zitat:
weiter?, in: NA, Jg. 8, 1953, S. 207-218;
68
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
1.4 Der Niedergang von „Neuem Abendland" und „Abendländischer Akademie" Die
Augsburger Rede Brentanos war der Aufhänger für eine Spiegel-síory einige Wochen später, am 10. August 1955. Sie sei „nicht etwa eine oratorische Fehlleistung" gewesen, vielmehr würden „weltanschauliche Vorstellungen solcher Art (...) ganz systematisch in einer Institution" entwickelt, in deren Kuratorium auch Brentano säße. In diesem Artikel des „Spiegel" wurde das Kuratorium der „Abendländischen Akademie" namentlich und bildlich vorgestellt, und es wurde ausführlich aus den beiden programmatischen Schriften der „Abendländischen Aktion" zitiert, die immerhin zwei bzw. vier Jahre alt waFestzuhalten sei, daß deren Verfassungsprojekt von der parlamentarischen
ren.
Demokratie „nur noch ein paar Vokabeln" übriglasse. Dennoch werde die „Abendländische Akademie" von der „Bundeszentrale für Heimatdienst" subventioniert und erfreue sich der Sympathie nicht nur hochrangiger Politiker, sondern auch des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, der die Jahrestagung 1954 besucht habe227). Die Informationen des „Spiegel" griff ein Münchner Student der Geschichtswissenschaft, Imanuel Geiss, im theoretischen Organ der Sozialdemokratie, der „Neuen Gesellschaft", auf. Dabei stellte er die neu-abendländische Gruppierung in den Zusammenhang von Angriffen auf die demokratische Ordnung der Bundesrepublik: „Die größere Gefahr geht dabei weniger von den neofaschistischen Kräften aus als vielmehr von den Bestrebungen, die unter „christlicher" Tarnung und unter dem Deckmantel einer antibolschewistischen „Erneuerung des Abendlandes" ein autoritäres Regime errichten wollen ähnlich dem, das unter Dollfuß in Österreich vor 20 Jahren bestand und heute noch in Franco-Spanien besteht."228) Im Deutschen Bundestag stellte der SPD-Abgeordnete Helmut Schmidt, gleichfalls unter Bezugnahme auf den Artikel im „Spiegel", eine Anfrage an den Innenminister. Diese Aktivitäten lösten in der Führung der „Abendländischen Akademie" einige Unruhe aus. In einer Gegendarstellung vom 14. September 1955 wies von der Heydte darauf hin, daß im „Spiegel" die Akademie für Aussagen der „Abendländischen Aktion" verantwortlich gemacht worden sei, mit der man in keinerlei Zusammenhang stehe und deren Aussagen man sich z.T. auch nicht zu eigen machen würde. Im Gegensatz zu den Verfassungsvorschlägen der „Abendländischen Aktion" sei er ein Anhänger der Gewaltenteilung. Dies wiederum rief -
227) 228)
Abendland (Spiegel Nr. 33, 1955). Imanuel Geiss, Auf dem Wege zum „Neuen Abendland", in: Neue Gesellschaft, Jg. 2, 1955, H. 6, S. 41-46 (Zitat: S. 41); hingegen erhielt die „Abendländische Akademie" in dem voluminösen Werk von Kurt P. Tauber, Beyond Eagle and Swastika. German Nationalism since the War, Wesleyan University Press 1967, S. 681, nur eine beiläufige Erwähnung als „cleric-monarchist, authoritarian Occidental Academy"; zumindest die Bestimmung als „monarchistisch" war wie im Fall der „Abendländischen Aktion" ungenau (s.o).
1.4 Der Niedergang
69
Gerhard Kroll auf den Plan, der die Rolle des .Bauernopfers' nicht annehmen wollte. In einer „Erklärung" vom 17. Oktober 1955 wandte er sich sowohl gegen die Darstellung im „Spiegel", in der mit „überwiegend aus dem Zusammenhang gerissenen Satzstücken" ein völlig verzerrtes Bild erzeugt werde, wie auch gegen die ihn kränkenden Absetzbemühungen von der Heydtes. Zwar sei die „Abendländische Akademie" keine Nachfolgeorganisation der seit 1953 nicht mehr bestehenden „Abendländischen Aktion", aber von der Heydte sei Vorstandsmitglied und mit deren Programmatik sowie speziell Krolls Arbeiten vollständig einverstanden gewesen, was er öffentlich und intern bekundet habe. Kroll schloß mit dem Ausdruck tiefer Enttäuschung: „Wenn sich nunmehr, nachdem dieses Anliegen in verzerrter Form öffentlichen Angriffen aus-
gesetzt ist, ehemalige Gründungs- und Vorstandsmitglieder bemüßigt fühlen,
ihre einstige Zugehörigkeit zur Abendländischen Aktion zu verleugnen, so ist dies nur ein Zeichen ihrer menschlichen Schwäche, aber kein Beweis gegen die redlichen Absichten der inzwischen längst vergangenen Abendländischen Ak-
tion."229) Im Bundestag beantwortete am 7. Dezember 1955 Innenminister Gerhard Schröder die Anfrage des Abgeordneten Schmidt „betreffend die Mitarbeit von Kabinettsmitgliedern bei der Abendländischen Akademie"230). Schröder gab zu Protokoll, daß das Kabinett bisher keinerlei Veranlassung gehabt habe, sich damit zu befassen, es „insbesondere keine Anhaltspunkte (gebe), daß es sich bei dieser Vereinigung um eine gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtete Organisation" handle, zumal kein formeller oder materieller Zusammenhang mit den in der Öffentlichkeit kritisierten Schriften der „Abendländischen Aktion" hergestellt werden könne. Auf die Zusatzfrage hin, ob bekannt sei, daß es sich durchaus um dieselbe Finanzquelle bei beiden Organisationen handle, sagte der Innenminister zu, daß man „sorgfältig prüfen" werde; und nachdem
Schmidt aus dem „Manifest" eine Stelle zitiert hatte, in der es hieß, ein Politiker könne nicht gleichzeitig von Gott und vom Vertrauen des Parlaments abhängig sein, kommentierte Schröder trocken: „Eine bemerkenswerte Stelle (...) unsere Prüfung wird umfassend sein." Diese Ankündigung zog weitere publizistische Aufmerksamkeit nach sich. Anfang Februar 1956 erschien ein Artikel in der „Frankfurter Rundschau", in dem ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuß gefordert wurde; in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" wiederum hob Hansjakob Stehle die Verbindung zum „Centro Europeo de Documentaciones" in Madrid und wirtschaftliche Verflechtungen mit der Sudeten-Presse hervor und kennzeichnete die „Abendländische Akademie" als Zentrum des Antiliberalismus und einer „Ideologie, in der sich konservative Strömungen des Katholizismus, Monar-
229) Diese Erklärung in: DAEi. 23°) Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 2. Wahlperiode 1953. Stenographische Berichte Bd. 27, Bonn 1955, S. 6196 (116. Sitzung vom 7. 12. 1955).
70
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
chismus, Reichsmystik und Kreuzzugsphantasien verschwistern" würden; allerdings sah er „kaum eine akute Gefahr für unsere Staatsordnung" von diesen Kreisen ausgehen, die sich im „politisch-geistigen Nebel (...) selbst bisweilen zu verirren scheinen"; von einer solchen Bedrohung zu sprechen, „hieße die
politische Phantastik redseliger Ideologen überschätzen."231). Im „Rheinischen Merkur" attackierte daraufhin der Neu-Abendländler Paul Wilhelm Wenger auf einer ganzen Seite „formaldemokratische Kapitolswächter" der „Funktionsdemokratie", die in Wirklichkeit nur deshalb auf die „Abendländische Akademie", eine „lose Konfiguration", einprügelten, um den Außenminister wegen dessen Augsburger Rede zur Strecke zu bringen und sich dabei der „zu eindeutig auf Dr. Kroll zugespitzten (Abendländischen) Aktion" bedienten232). Die Pressefehde wurde dann wieder im „Spiegel" aufgegriffen, der auch die Erklärung von Kroll aus dem Oktober 1955 verwertete. Das „Gemisch aus monarchistischen und klerikal-faschistischen Zutaten" sei nicht dessen persönliche Marotte gewesen, sondern habe die Zustimmung von der Heydtes gehabt233), wurde zutreffend festgehalten. Erst am 22. Februar 1956 reagierten Vorstand, Kuratorium und Beirat der „Abendländischen Akademie" mit einer öffentlichen Erklärung234) gegen die vom „Spiegel" „eingeleitete Pressekampagne" und den „Vorwurf verfassungsfeindlicher Umtriebe". Nach der Wiederholung der bekannten Abgrenzung von der „Abendländischen Aktion", die erneut als Privatunternehmen Krolls hingestellt wurde, schloß die Erklärung mit einem bemerkenswert deutlichen Bekenntnis „zu den Prinzipien des freiheitlichen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates, wie sie insbesondere im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland" niedergelegt seien. Zwei Tage später erklärte von der Heydte brieflich seinen Rücktritt als Vorsitzender235). Seit dem August 1955 sei die „Abendländische Akademie zur Zielscheibe linkstendierender Kräfte geworden", und „um dieser Hetze mit ge-
231)
Die Revolutionäre der Reaktion, in: Frankfurter Rundschau vom 6. 2. 1956; Hansjakob Stehle, Nebel über dem Abendland, in: FAZ vom 9. 2. 1956.
232)
Paul Wilhelm Wenger, Jakobinische Gespensterjagd. Zum Kesseltreiben gegen die Abendländische Akademie, in: Rheinischer Merkur, Jg. 11, 1956, Nr. 6 vom 10. 2. 1956. 233) Abendländische Akademie. Wo hört der Unsinn auf?, in: Der Spiegel, Nr. 7/1956, S. 18-19 (Zitat: S. 18). 234) „Ist die Abendländische Akademie verfassungsfeindlich?", 22. 2. 1956, in: DAEi; am 9. 3. 1956 veranstaltete die „Abendländische Akademie" in Bonn eine Pressekonferenz, auf der Fürst von Waldburg-Zeil, von Merkatz, der schleswig-holsteinische Ex-Ministerpräsident Steltzer und Bundestagsvizepräsident Jaeger die Fragen der Journalisten beantworteten
(vgl. Herder-Korrespondenz. 11/1956). 235) Von der Heydte an die Mitglieder
der Abendländischen Akademie, des Kuratoriums und des Beirats, 24.2. 1956, in: DAEi; welche Diskussionen dem eventuell vorausgingen, bleibt offen; Heydte hatte sich nach eigenem Bekunden (in der RUcktrittserklärang) schon Anfang Februar 1956 zu diesem Schritt entschlossen.
71
1.4 Der Niedergang
Nachdruck und entsprechender Wirkung entgegentreten zu könhätte es der „Unterstützung durch Gesinnungsfreunde als auch ausreinen", chender Zeit bedurft, um selbst antworten und jeder Verleumdung sofort entgegentreten zu können. Ich hatte weder das eine noch das andere". Für die Akademie, so Heydte, sei nun „eine straffere Führung (...) dringend erforderlich", für die er keine Zeit zur Verfügung habe. An die Spitze der „Abendländischen Akademie" trat daraufhin Georg Fürst von Waldburg zu Zeil. Die anstehende Jahrstagung konnte wie geplant im Juni 1956 stattfinden, diesmal allerdings nur drei- und nicht wie sonst fünftägig; mehr als 250 Personen waren der Einladung gefolgt236). In seiner Einführung ging der neue Vorsitzende ausführlich auf die politischen Angriffe ein und wiederholte die Abgrenzung von der „Abendländischen Aktion". Gegenüber dem Angriffsgeist vergangener Tagungen und der neu-abendländischen Publizistik war es symptomatisch, daß nun lediglich noch das „Grundrecht jeder freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft, daß man in Freiheit forschen und sprechen darf, für die „Abendländische Akademie" beansprucht wurde237). Den Pressestimmen nach zu urteilen gab es aber auch eine Atmosphäre des trotzigen Bekennens. Unter den Teilnehmern befanden sich u. a. Otto von Habsburg, Walter Görlitz („Die Welt"), Winfried Martini, Emil Franzel, der Dichter Werner Bergengruen, Richard Stücklen (CSU), Herbert Czaja und Bundesminister Joachim von Merkatz (DP). Richard Jaeger (CSU), Vizepräsident des Deutschen Bundestages, hielt eine ausführliche „Festrede zum Tag der Deutschen Einheit", in der er erklärte, die Deutschen seien „sehr bescheiden geworden", wenn sie nur noch realistischerweise die Vereinigung in den „Reichsgrenzen von 1937" forderten, wobei sie allerdings nicht auf „das Recht des Sudetendeutschtums auf seinen angestammten Siedlungsraum" verzichten könnten238). Debattiert wurde über zwei Themen, „Konservative Haltung in der politischen Existenz" und „Aufgaben und Möglichkeiten einer konservativen Politik". Zum ersten Komplex sprachen Wilhelm Stählin und der katholische Theologe Gustav Gundlach S.J. Die Eingangsthese von Stählin, der „Weg von dem Begriff des christlichen Abendlandes zu dem Begriff der konservativen Haltung (sei) ein sinnvoller und (...) notwendiger", weil die „Spannweite unserer gemeinsamen Verantwortung" größer sei, als daß sie durch das Wort „Abendland" völlig gedeckt werden könne, fand den energischen Widerspruch von Gundlach, der ein Festhalten am Begriff des „Christlichen Abendlandes"
nügendem
236)
Konservative
Haltung in
der
politischen
Existenz.
Vorträge
und
Gespräche
der 5. Jah-
restagung der Abendländischen Akademie 1956, München o.J. ( 1956); der stärkere Andrang als im Jahr zuvor wurde auf das „Kesseltreiben, das die Morgenthaupresse und ihre sorinistischen Hintermänner" entfesselt hätten, zurückgeführt (Konservative Politik, in: Deutsche Tagespost vom 22723. 6. 1956; Sorin war der erste Botschafter der Sowjetunion in Bonn). 237) Georg Fürst von Waldburg zu Zeil, Aufgabe und bisherige Arbeit der Akademie, in: Konservative Haltung, S. 9-11 (Zitat: S. 11). 238) Konservative Haltung, S. 83, 89.
11
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
und die Aufrechterhaltung einer strikten Abgrenzung des Konservatismus vom Liberalismus empfahl239). Zum zweiten Tagungsthema trugen von Merkatz und Wenger ihre Gedanken vor. Der Theoretiker der Deutschen Partei vertrat hier Auffassungen, die über das abendländische Gedankengut hinaus den avancierten „technokratischen" Konservatismus berücksichtigten. Man befinde sich „am Ende der Periode des Materialismus und des Positivismus, der Ideologien und der intellektuellen Fortschrittsmystik", und der Konservatismus seiner Partei stehe „ohne Vorbehalt auf dem Boden einer Verfassung, welche das ursprünglich liberale Prinzip der freiheitlichen parlamentarischen Demokratie verkörpert." Die Zukunft des Konservatismus sah er darin, daß an der Schwelle des atomaren Zeitalters eine „Gegenrenaissance auf der Grundlage des christlichen Glaubens" beginne, da nun Grenzen des Menschen erkennbar würden, die zur „Demut und Bescheidung" zwingen würden240). Wenger schloß sich in seinem aggressiver gehaltenen Vortrag zunächst der „anti-ideologischen" Bestimmung des Konservativen an und wandte sich gleichfalls gegen die „demiurgische Utopie des technischen Zeitalters". Die Probleme der Zukunft erforderten im Gegenteil eine auf einem festen christlichen Weltbild basierende Ordnung, wobei von ihm noch stärkerer Wert auf „echte Ratsorgane", „echte Senate" und eine „Verstärkung der überparteilichen Stellung der Staatsoberhäupter" gelegt wurde, weil die „bisherigen Verfassungsformen eines monokratischen Parlamentarismus" nicht ausreichten. Großes Gewicht erhielt die Kritik der unzureichenden Bildungsbemühungen im Westen und der populärkulturellen „Massenverderbnis". Wenger insistierte darauf, daß nur eine asketisch erzogene „gesunde Jugend" ein Garant dafür sei, dem „Bolschewismus" nicht zu unterliegen. Es ginge darum, jetzt nicht „die Nerven (zu) verlieren und auf der Basis eines wertneutralen individualistisch-autonomen Freiheitsbegriffs sich zur demoralisierenden Koexistenz bereit(zu)finden"241). In der von Richard Jaeger geleiteten Aussprache brachte Emil Franzel unter Beifall und Gelächter diese Haltung auf den Begriff: „Dieses nicht mit den Wimpern zucken, auch wenn man in Gefahr ist, vom „Spiegel" angeschossen zu werden. Das ist heute in Deutschland Zivilcourage." Es ginge darum, daß zunächst „eine kleine Zahl von Menschen durchhält", was nicht „auf dem Umweg über Parteipolitik" gelingen könne, wenngleich es eine „Tragik unserer jüngsten Entwicklung" ge-
239) Ebd., S. 12, 36f., 39; zum Werk
von Gundlach vgl. Freiheit und Verantwortung in der modernen Gesellschaft. FS für Gustav Gundlach, Münster 1962; vgl. entsprechend auch die Argumentation von Erik von Kuehnelt-Leddihn, Neukonservatismus und Neuliberalismus, in: NA, Jg. 11, 1956, S. 121-134. 24°) Konservative Haltung, S. 41 f., 45,49; verzichtet wurde hier auf den Gedanken, daß die „Menschenrechte des Grundgesetztes für „konservatives Denken" „unvollkommen" seien, weil „im Bereiche einer säkularisierten Sittlichkeit" angesiedelt (Joachim von Merkatz, Das Recht und die Pflicht zu konservativer Politik, in: NA, Jg. 11, 1956, S. 107-110 (Zitat: S. 107». 241) Konservative Haltung, S. 51, 54, 59, 61, 66, 69.
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1.4 Der Niedergang
sei, daß man nach dem großen Wahlsieg der CDU/CSU 1953 „diese Bewegung nicht durchdrungen (hatte) mit genügend viel konservativem Geist", weil „zuwenig konservative Männer da waren"242). Auf dieser Jahrestagung wurden politische Grundauffassungen erstmals als solche und nicht vermittelt über historische und philosophische Betrachtungen diskutiert. Einigkeit bestand unter den Teilnehmern, daß die Entwicklung zur „technischen Gesellschaft" das konservative Denken glänzend bestätigt habe bzw. eine „konservative Haltung" zwingend fordere. Unterschiede blieben aber zum einen bei der Berücksichtigung der herkömmlichen Kulturkritik besonders stark bei Wenger und in der Stellung zur Demokratie bestehen, wo es einen Spannungsbogen gab zwischen dem Bekenntnis zum Grundgesetz von Merkatz bis zur abschließenden Frage von Winfried Martini, ob denn die anzustrebende Überwindung der Gruppeninteressen „in der Demokratie und mit den Mitteln der Demokratie möglich" sei243). Das Presseecho244) auf diese Tagung trug, trotz des Aufsehens um die Akademie in den vorangegangenen Monaten, nicht weiter als bei den vorangegangenen Treffen. Während im „Rheinischen Merkur" gelobt wurde, daß nun zum „Gegenangriff gegen die „gouvernantenhaften" Kritiker vorgegangen worden sei, und auch die sonstige katholisch-konservative Presse von der „Deutschen Tagespost" bis zum „Münchner Merkur" nur freundliche Worte gefunden hatte, kritisierte Walter Görlitz in der „Welt" in seinem ansonsten sehr positiv ausfallenden Artikel Wengers „wenig dienliche Attacke wider vielerlei Auswüchse des Massenzeitalters". Hier sei die alte „reactio" zu spüren gewesen, während der Konservative den Willen haben müsse, „ruhig und fest die Probleme zu meistern". In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erneuerte Paul Noack die Sicht des Blattes: „Verfassungsgefährdendes haben wir aber nicht wesen
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gefunden."
Im Oktober 1955 teilte der Bundesinnenminister mit, daß nach den bisherigen Ermittlungen „kein Anlaß bestand", gegen die „Abendländische Akademie" einzuschreiten. Das Verfahren beim Oberbundesanwalt sei „mangels Verdachts eingestellt" worden245). Bereits zwei Wochen zuvor trafen sich die Mitglieder von Vorstand und Kuratorium in Neutrauchburg zu einem dreitägigen Konklave, um das Eichstätter Treffen auszuwerten und um Ideen für die näch-
242) Ebd., S. 74, 77: für die Auffassung, daß es keine konservativen Ideologien, sondern nur „Charakter und konservative Haltung" gebe, Emil Franzel, Versuch einer Deutung des Konservativen, in: NA, Jg. 11, 1956, S. 153-168 (Zitat: S. 166). 243) Konservative Haltung, S. 79.
244) Ebd., S. 93-110. 245) Agentur-Meldung des Bayerischen Rundfunks vom 25. 10. 1956, in: DAEi; im Spiegel, Nr. 45/1956, wurde aus der Begründung zitiert, beim ..Ordnungsbild" der „Abendländischen Aktion" habe es sich um „offenkundig wirklichkeitsfremde Vorschläge" gehandelt, bei der „Abendländischen Akademie" hingegen handle es sich um „hochgeachtete Persönlichkeiten, an deren Verfassungstreue kein Zweifel gesetzt werden könne".
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1. Die Rettung des christlichen Abendlandes
ste Jahrestagung zu sammeln246). Sehr intensiv wurde über das Problem der Technik und technischen Gesellschaft diskutiert, wobei Fürst Waldburg-Zei! die Formel prägte: „Der Konservative gestaltet aktiv das Dasein, während der Zukunftsgläubige von der Zeit getrieben wird." Für die nächste Jahrestagung gab es verschiedene Themenvorschläge, darunter „Konservative Sozialordnung im technischen Zeitalter" (Stählin), und als Termin wurde der Juni 1957 festgelegt. Diese Jahrestagung wurde dann abgesagt. Stattdessen traf man sich zu einer kleineren „Arbeitstagung" in Neutrauchburg unter dem Titel „Warum pflegen wir die Zusammenarbeit der Christen im Deutschen Raum?"247) In „Neues Abendland" wurden seit 1956 die Impulse des Eichstätter Treffens, daß die „moderne Technik" für die christliche Renaissance nicht nur kein Hindernis darstelle, sondern „sehr dienlich"248) sein könne, in zahlreichen Artikeln aufgegriffen. Wenger begründete eingehend seinen in Eichstätt geäußerten Gedanken, daß die riesigen Umweltprobleme der Zukunft den Parlamentarismus überforderten und gerade das „Atomzeitalter" eine „Ergänzung durch Senate" erfordere249); Kernspaltung und Automation, so Otto von Habsburg, machten Liberalismus und Marxismus obsolet250) und würden neue Chancen für das gefährdete christliche Weltbild schaffen, wie auch der in den zeitgenössischen Feuilletons vielschreibende Physiker Pascual Jordan betonte251). Erik von Kuehnelt-Leddihn konstatierte triumphierend, daß die Neoliberalen Röpke und Rüstow zum „christlichen Konservatismus" konvertiert seien252). „Modernistische" Anpassungsversuche des Christentums an das „Atomzeitalter" waren in dieser Sicht opportunistisch und überflüssig253), weil die Zukunft dem „christlichen Abendland" selbst entgegenkomme. In diesem Sinn stellte Gerhard Kroll, von dem sich die Neu-Abendländler noch zwei Jahre zuvor distanziert hatten, sein Ordnungsbild in die neue Zeit. Die Automation werde zur Auflösung der Großindustrie und Hochurbanisierung und zurück zum Hand-
246)
Konklave des Vorstands, Kuratoriums und Beirats der Abendländischen Akademie, 10.-12. 10. 1956 in Trauchburg, in: DAEi. 247) S. Abendländische Akademie 1958, in: DAEi. 248) Gundlach, in: Konservative Haltung, S. 34. 249) Wenger, in: ebd., S. 58ff; ders., Politik im Atomzeitalter, in: NA. Jg. 12, 1957, S. 53-60 (Zitat: S. 58 f.); vgl. Josef Magnus Wehner, Ist eine Kultur noch möglich? Aspekte und Deutung der Gegenwart, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 67-77. 25°) Otto von Habsburg, Die zweite industrielle Revolution, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 3-14 (hier S. 7). 251) Pascual Jordan, Aufgaben des Atornzeitalters, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 15-20 (hier S. 20); zu Jordans publizistischer Schützenhilfe für die Bundesregierung in Sachen atomarer Bewaffnung vgl. Stölken-Fitschen, Atombombe, S. 229ff. 252) Kuehnelt-Leddihn, Neukonservatismus und Neuliberalismus, S. 128, 133; ders., Von der Ökonomie zur Staatsphilosophie, in: NA, Jg. 13, 1958, S. 267-271 (hier S. 268). 253) vgl. die Polemik von Walter Hoeres, Brockmöllers Liquidierung des Abendlandes, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 339-347; bezogen auf das zeitgenössisch vielbeachtete Buch des Jesuiten Clemens Brockmöller, Christentum am Morgen des Atomzeitalters, Frankfurt/M. 1955 (s. dazu auch das Kapitel über das kulturelle Nachtprogramm des NWDR in diesem Bd.).
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1.4 Der Niedergang
werk und Familienheim führen254). Hier berührte sich die abendländische Vision mit der mittelständischen Familienpropaganda der Bundesregierung und der dafür zuständige Minister befand sich im Kuratorium der „Abendländischen Akademie". Allerdings wurde auch in „Neues Abendland" der sowjetische Sputnik als ernste Bedrohung dieser abendländischen Hoffnungen bewertet, die jedes Nachlassen der militärischen Wachsamkeit verbiete255). Die Mahnungen der Göttinger Physiker vor einer westdeutschen Atombewaffnung wies Emil Franzel empört als „Atompanik" zurück, die „innerhalb weniger Jahre zur Einbeziehung Deutschlands in das Satellitensystem der Sowjets führen" würde256). Es handelte sich jeweils um das schwierige Vermittlungsproblem, optimistisch das neue „Atomzeitalter" als Chance für das abendländische Leitbild zu begrüßen und gleichzeitig zu gewährleisten, daß nicht die politische Wachsamkeit gegenüber dem „Bolschewismus" nachlasse257). Gegenüber allen Blockaufweichungstendenzen Ende der 50er Jahre wurde die Altemativlosigkeit der „Anlehnung an den Westen"258) stärker als je zuvor beschworen. Der Historiker Ludwig Dehio sah das „Abendland" endgültig aufgehoben in den europäisch-atlantischen Integrationsbestrebungen259), und Joachim von Merkatz bewertete die NATO als wichtigsten Schutz gegen jede Form des Nationalismus260). Gegenüber solchen schon auf der Eichstätter Tagung 1956 geäußerten Auffassungen wurde nun, im letzten Drittel der 50er Jahre, zusätzlich sogar der Verzicht auf die Wiedervereinigung als „Thema Nr. 1 der deutschen Politik" gefordert, werde doch damit zwangsläufig der Sowjetunion „eine zentrale Position auch in der deutschen Innenpolitik" eingeräumt261). Aufsehen und erheblichen Unmut in der CDU verursachte 1958 der mit der offiziellen Wiedervereinigungspolitik unvereinbare sogenannte „Wenger-Plan" des Neu-Abenländlers Paul Wilhelm Wenger, die Idee einer entmilitarisierten Zone, in welche die östlichen Teile der Bundesrepublik, die DDR, Polen und die Tschechoslowakei einbezogen werden sollten262). Auch „Bayerns Sendung als Gegengewicht ge-
254)
Gerhard Kroll, Eine
Utopie wird Wirklichkeit. Der Mensch in der Vollendung des Ma-
schinenzeitalters, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 21-44 (hier S. 36ff). 255) Franz Herre, Völker, hört die Signale, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 354-357; Paul Wilhelm Wenger, Nochmals Kulturstaats-Apotheose?, in: NA, Jg. 13, 1958, S. 3-14 (hier S. 6). 256) Emil Franzel, Atompanik, Politik und Strategie, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 139-158 (Zitat: S. 140); vgl. Franz Herre, Quo vadis, Germania?, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 173-176 (hier S. 1731). 257) Wenger, in: Konservative Haltung, S. 66f.; Merkatz, Recht, S. 109. 258) Ders., Auf dem Spiel steht die Freiheit, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 119-123 (Zitat: S. 119).
259) Ludwig Dehio,
Zwischen Welt-Dualismus und Spätnationalismus, in: NA, Jg. 11, 1956, S. 203-211 (hier S. 205). 26°) von Merkatz, in: Konservative Haltung, S. 47. 261) Otto Bernhard Roegele, Herbst der Illusionen, in: NA, Jg. 12, 1957, S. 99-118 (Zitat: S.
101).
262) „Was
ich Bismarck
zum
Vorwurf mache". Ein
Spiegel-Gespräch
mit Paul Wilhelm
76
1. Die
Rettung des christlichen Abendlandes
gen den deutschen National-Einheits-Staatsgedanken" und als „Baustein des übernationalen freien Europa"263) wurde in dieser Phase wieder besonders betont, was in mancher Hinsicht an die Argumentationsmuster der unmittelbaren Nachkriegszeit erinnerte. Geblieben war die Kritik an der CDU, weil sie, wiewohl das einzige „nichtrestaurative" Element der Nachkriegszeit, kein „Programm einer Staatsreform" entwickelt habe264). Die CDU wurde letztlich dafür verantwortlich gemacht, daß die völlig richtige Politik des Bundeskanzlers so schlecht der Bevölkerung vermittelt werde265). Und wie die meisten Konservativen erfaßte auch „Neues Abendland" eine gewisse Besorgnis über die Zeit nach dem näherrückenden Ende der „Ära Adenauer"266). Obwohl die neu-abendländische Publizistik mit der Bestimmung einer „konservativen" bzw. „christlich-abendländischen" Haltung im „Atomzeitalter" ein Thema gefunden hatte, das in politischer und kultureller Hinsicht vielfältige Möglichkeiten der Erörterung bot, die durchaus genutzt wurden, kam 1958 das endgültige Ende für „Neues Abendland" und die schwerste Krise der „Abendländischen Akademie" vor ihrem faktischen Ableben Mitte der 1960er Jahre. In der ersten Nummer von „Neues Abendland" 1958 wurden die Leser davon unterrichtet, daß die Zeitschrift, obwohl die Auflage bis zuletzt höher gewesen sei als die zahlreicher anderer Periodika mit ähnlicher publizistischer Form, nach Ablauf des Jahres eingestellt werde. „Sehr gründliche Überlegungen und triftige Gründe" hätten den Herausgeber zu diesem Schritt veranlaßt; die Leser wurden aufgefordert, stattdessen die Zeitschrift „Dokumentation der Woche", herausgegeben vom Madrider „Europäischen Dokumentationszen-
trum",
zu
abonnieren267).
Die „Abendländische Akademie" war 1959 nicht mehr dazu in der Lage, eine Jahrestagung oder eine andere öffentliche Veranstaltung zu organisieren, obwohl Vorstand, Kuratorium und Beirat sogar einige Zugänge verzeichnen konnten und offenbar kein einziger prominenter Politiker, Richter oder Theologe sich durch die Angriffe auf die „Abendländische Akademie" zum Rückzug veranlaßt gesehen hatte268). In einer Stellungnahme des Generalsekretärs vom Februar 1958 wurde festgestellt, daß die „Angriffe der Linkspresse" seit Der Spiegel, Nr. 21/1958, S. 22-31; auch das Titelbild schmückte das Porträt des rheinischen Journalisten. 263) Emil Franzel, Bayerns Aufgabe, in: NA, Jg. 13, 1958, S. 291-301 (Zitate: S. 301); vgl. zum gleichen Zeitpunkt die sehr ähnlichen Argumente des bayerischen CSU-Politikers Hanns Seidel, Die deutsche Aufgabe Bayerns (Vortrag in der Aula der Universität München am 20. 2. 1958). in: ders., Zeitprobleme. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Aschaffenburg 1960. S. 274-300. 2