Diagramme zwischen Metapher und Explikation: Studien zur Medien- und Filmästhetik der Diagrammatik 9783839443514

Christoph Ernst develops the baselines of media and film aesthetics of diagrammatics - a trailblazing contribution to th

201 71 17MB

German Pages 594 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report
1.1 Film/Bewusstsein — Anfänge
1.2 Metapher und Explikation
1.3 Diagrammatisierung als Schlusspraxis
2. Theoretische Grundlagen und Kontexte
2.1 Diagrammatisierung im theoretischen Kontext
2.2 Diagrammatisierung als explikative Praxis
3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild
3.1 Grundpositionen der Peirce’schen Philosophie
3.2 Ikonizität, Schema und Diagramm
3.3 Diagrammatisches Denken als reflexives Denken
3.4 Perzeptive Diagrammatizität
3.5 Diagrammatische Denkbilder398
4. Veranschaulichung — Kreis, Ellipse und Diagramm in Agora
4.1 Antike Astronomie — Einleitende Stichworte
4.2 Die Vorwegnahme der kopernikanischen Wende in Agora
4.3 Agora — Kreis und Ellipse
4.4 Sicht und Einsicht — Diagrammatisches Schließen
4.5 Revolutions — Agora und Metapher
5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen
5.1 Grundpositionen der Kognitiven Metapherntheorie
5.2 Kinästhetische ›Image schemas‹
5.3 Metaphorisches Sehen und Diagrammatisierung erster Stufe
5.4 ›Image schemas‹ und Diagrammatisierung zweiter Stufe
6. Diagrammatisierung als mediale Transkription
6.1 Diagrammatisierung und die Rhetorik der Explikation
6.2 Alternative-History und Diagrammatisierung
6.3 Das Fernsehen und die Alternative-History
7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm
7.1 Diagrammatische Interpretation und Film
7.2 Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm
8. Schluss und Ausblick
Literaturverzeichnis
Filmverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Diagramme zwischen Metapher und Explikation: Studien zur Medien- und Filmästhetik der Diagrammatik
 9783839443514

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Christoph Ernst Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Präsenz und implizites Wissen  | Band 5

Die Reihe wird herausgegeben von Christoph Ernst und Heike Paul.

Christoph Ernst (PD Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Medienwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und forscht in den Bereichen Diagrammatik, Informationsvisualisierung und allgemeine Medientheorie, Theorie des impliziten Wissens und digitale Medien (insb. Interfacetheorie), Ästhetik und Theorie audiovisueller Medien sowie Kulturtheorie (insb. Interkulturalität und Fremdheit).

Christoph Ernst

Diagramme zwischen Metapher und Explikation Studien zur Medien- und Filmästhetik der Diagrammatik

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung meiner Habilitationsschrift, die unter dem Titel »Diagrammatische Denkbilder – Theoretische Studien zur Medien- und Filmästhetik der Diagrammatik« im Sommer 2015 an der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommen wurde. Die Lehrbefugnis wurde am 23.09.2015 erteilt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus nach der Vorlage von Angela Nentwig Satz: Justine Buri, Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4351-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4351-4 https://doi.org/10.14361/9783839443514 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt Vorwort............................................................................................................................ 9 1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report..................................................... 13 1.1 Film/Bewusstsein ‒ Anfänge...................................................................................... 19 1.2 Metapher und Explikation........................................................................................... 27 1.3 Diagrammatisierung als Schlusspraxis...................................................................... 34

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte.......................................................... 43 2.1 Diagrammatisierung im theoretischen Kontext......................................................... 44 2.1.1 Diagramme als Medien der Wissensgenerierung............................................. 47 2.1.2 Kulturtechnik und das Motiv des ›Vorrangs der Praxis‹.................................. 51 2.1.3 Zur Diskussion um 4E-Theorien der Kognition................................................. 58 2.1.4 Kognition und der weite Begriff von Medien.................................................... 69 2.1.5 Denken und Diagramm...................................................................................... 75 2.2 Diagrammatisierung als explikative Praxis................................................................ 82 2.2.1 Zur Diskussion um mediale Praktiken.............................................................. 84 2.2.2 Die pragmatistische Übersetzungstheorie Joachim Renns............................. 87 2.2.3 Explikation erster und zweiter Stufe............................................................... 92 2.2.4 Diagrammatisierendes Sehen als explikative Praxis?..................................... 99 2.2.5 Karte/Territorium und das Verhältnis von Medien und Zeichen....................... 106 2.2.6 Mediale Transkription nach Ludwig Jäger........................................................ 114 2.2.7 Grundlagen einer Theorie diagrammatischer Evidenz..................................... 124 2.2.8 Zwischen weiten und engen Begriffen von Diagrammatik............................... 128

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild.....................................133 3.1 Grundpositionen der Peirce’schen Philosophie.......................................................... 137 3.1.1 Pragmatische Theorie der Bedeutung.............................................................. 138 3.1.2 Alltagskreativität und schlussfolgerndes Denken........................................... 141 3.1.3 Die Relationalität der Zeichen und das Beispiel der Spur................................ 145 3.1.4 Wahrnehmung und der Kontakt mit der Realität.............................................. 151 3.2 Ikonizität, Schema und Diagramm.............................................................................. 153 3.2.1 Diagrammskelette ‒ Zum Verhältnis von Schema und Diagramm................... 154 3.2.2 Vorstellendes Begreifen und die Konstruktion eines Schemas....................... 156 3.2.3 Die Reflexivität der Wahrnehmung und der Weg zur Diagrammatik................ 161 3.3 Diagrammatisches Denken als reflexives Denken...................................................... 164 3.3.1 Zur Struktur der Peirce’schen Diagrammatik................................................... 165

3.3.2 Evidenz ‒ Diagramme als Ikons der Form von Relationen................................ 168 3.3.3 Diagramm und Denkbild.................................................................................... 172 3.3.4 Denken zwischen Fortsetzung und Auslegung................................................. 181 3.3.5 Doppelte Metaphorisierung: Denken als Bewegung und Kraft......................... 186 3.4 Perzeptive Diagrammatizität...................................................................................... 190 3.4.1 Die Peirce’sche Wahrnehmungstheorie und die Diagrammatik....................... 192 3.4.2 Wahrnehmung als abduktives Schließen.......................................................... 196 3.4.3 Die Diagrammatizität in der Wahrnehmung..................................................... 199 3.4.4 Zur Medialität des diagrammatischen Schließens........................................... 202 3.4.5 Reprise ‒ Praktiken der Diagrammatisierung.................................................. 205 3.5 Diagrammatische Denkbilder..................................................................................... 209 3.5.1 Schlussfolgerungen zeigen.............................................................................. 211 3.5.2 Das Diagramm und das Denkbild...................................................................... 215 3.5.3 ›Überblendung‹ ‒ Schemata in 3D................................................................... 219 3.5.4 Karte/Territorium und die Bedeutung von implizitem Wissen......................... 227 3.5.5 Diagrammatische Zeichen zwischen erster und zweiter Stufe....................... 231

4. Veranschaulichung — Kreis, Ellipse und Diagramm in Agora....................... 239 4.1 Antike Astronomie ‒ Einleitende Stichworte............................................................. 240 4.2 Die Vorwegnahme der kopernikanischen Wende in Agora......................................... 242 4.3 Agora ‒ Kreis und Ellipse............................................................................................ 244 4.4 Sicht und Einsicht ‒ Diagrammatisches Schließen.................................................... 246 4.5 Revolutions ‒ Agora und Metapher............................................................................. 250

5. Diagrammatik und metaporisches Sehen..............................................................253 5.1 Grundpositionen der Kognitiven Metapherntheorie................................................... 256 5.1.1 Kognitive Metapherntheorie............................................................................. 257 5.1.2 Metaphern als Inferenzen................................................................................. 260 5.1.3 Metapher und implizites Wissen....................................................................... 263 5.1.4 ›Basic-level categorization‹ und ›Image schemas‹........................................ 269 5.2 Kinästhetische ›Image schemas‹.............................................................................. 275 5.2.1 Was sind ›Image schemas‹?............................................................................. 277 5.2.2 ›Image schemas‹ als kinästhetische Relationen............................................. 283 5.2.3 Transformationen von ›Image schemas‹......................................................... 286 5.2.4 ›Image schemas‹ und Metapher....................................................................... 288 5.3 Metaphorisches Sehen und Diagrammatisierung erster Stufe.................................. 290 5.3.1 Metaphorisches Sehen als ›Sehen-gleichsam-als‹.......................................... 292 5.3.2 Der schematische Gehalt des metaphorischen Sehens................................... 295 5.3.3 Metaphorisches Sehen und Bildmetaphern...................................................... 298 5.3.4 Die Diagrammatizität des metaphorischen Sehens......................................... 304 5.4 ›Image schemas‹ und Diagrammatisierung zweiter Stufe........................................ 306 5.4.1 ›Image schemas‹ zwischen Kognitiver Semantik und Semiotik...................... 307 5.4.2 Analog/digital ‒ Formale Aspekte von Diagrammen........................................ 314 5.4.3 Kriterien der Erkenntniskraft eines Diagramms.............................................. 316 5.4.4 Zur Rekonfiguration von Diagrammen.............................................................. 321 5.4.5 ›Image schemas‹ und diagrammatische Ästhetik........................................... 331

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription............................................. 335 6.1 Diagrammatisierung und die Rhetorik der Explikation.............................................. 338 6.1.1 Die Herstellung eidetischer Objekte................................................................. 339 6.1.2 Rhetorische Bewegung und diagrammatisches Supplement........................... 344 6.1.3 Diagrammatisierung und die Idealität des Diagramms.................................... 346 6.2 Alternative-History und Diagrammatisierung............................................................ 348 6.2.1 Atlantis, Teleskop, Fotografie und Monumente auf dem Mars.......................... 351 6.2.2 Die Karte und die Affäre und die Marskanäle................................................... 354 6.2.3 Fotografie ‒ Das Mars-Gesicht und sein urbaner Kontext............................... 362 6.2.4 Drei Grundtypen diagrammatischer Explikation.............................................. 370 6.3 Das Fernsehen und die Alternative-History............................................................... 375 6.3.1 Der vierte Typ: Modellierende Diagrammatisierung......................................... 377 6.3.2 Überblendung und das mythische Denkbild..................................................... 389 6.3.3 Vage Ähnlichkeit: Kritische Postskripte........................................................... 400 6.3.4 Diagrammatisierung in der Fernsehdokumentation........................................ 409 6.3.5 Konsequenzen und Übergang........................................................................... 413

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm.................................... 419 7.1 Diagrammatische Interpretation und Film................................................................. 421 7.1.1 Film ≠ Diagrammatik?...................................................................................... 424 7.1.2 Diagrammatisierung und Intraface.................................................................. 427 7.1.3 Vom Interface zur Überblendung...................................................................... 433 7.1.4 Überblendung und filmische Metapher............................................................. 438 7.2 Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm................................................. 444 7.2.1 Denken als Kraft ‒ Zur Metaphorik des Denkens............................................. 445 7.2.2 A Beautiful Mind ‒ Transparenz und Intransparenz.......................................... 460 7.2.3 Inception ‒ Entfaltung und Explikation des narrativen Raumes...................... 473 7.2.4 Der feine Faden impliziten Wissens und Voyage dans la lune........................... 485 7.2.5 Zum »Metadiagramm« in Blow-Up.................................................................... 495 7.2.6 JFK ‒ Implizite und explizite Bildebenen.......................................................... 504 7.2.7 Star Trek & Co. ‒ Die mögliche Medialität der Karte........................................ 515 7.2.8 Zusammenfassung: Explikation als ›Display‹-Effekt....................................... 531

8. Schluss und Ausblick........................................................................................... 537 Literaturverzeichnis................................................................................................... 543 Filmverzeichnis............................................................................................................ 583 Abbildungsverzeichnis............................................................................................... 585

Vorwort Das vorliegende Buch beruht auf meiner 2015 an der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angenommenen Habilitationsschrift mit dem Titel »Diagrammatische Denkbilder – Theoretische Studien zur Medien- und Filmästhetik der Diagrammatik«. Für die Drucklegung wurden die Argumente als Ergebnis von Kritik und Hinweisen sowie in Auseinandersetzung mit neu erschienener Forschungsliteratur überarbeitet und der Text erweitert.1 Entstanden sind die Überlegungen über einen sehr langen Zeitraum. Der Text enthält Gedanken zur Medien- und Filmtheorie der Diagrammatik, die von ersten Entwürfen bis zu einem geschlossenen Manuskript mit Unterbrechungen zwischen 2009 und 2014 entwickelt wurden. Leider lässt die akademische Realität nicht immer genügend Zeit und Raum, um derartige Projekte ohne Komplikationen umzusetzen. So hat sich unter anderem durch zwei Hochschul- und diverse Stellenwechsel leider eine sehr lange Verzögerung der Publikation ergeben. Um der aktuellen Forschungslage aber zumindest partiell gerecht zu werden und die Gedanken der Arbeit anschlussfähig zu machen, wurden für die Drucklegung gegenüber der eingereichten Fassung noch eine Reihe von Änderungen am Text vorgenommen, die nachfolgend aufgelistet werden: Die Kapitelstruktur des ganzen Buches wurde etwas anders angeordnet, die Überschriften teilweise angepasst und einige der Abbildungen entfernt oder hinzugenommen. In Kapitel 1 wurden die Bemerkungen zum Forschungsstand aktualisiert sowie die einleitende Analyse zum Filmanfang von Minority Report präzisiert. Kapitel 2 hat die intensivste Überarbeitung erfahren. In der Zwischenzeit erschienene Publikationen zur Diagrammatik wurden nach Möglichkeit eingearbeitet. Zudem erschien mir eine detailliertere Diskussion der Kulturtechnik-Forschung angesichts ihrer Bedeutung für die Schnittstelle zwischen Diagrammatik und Medientheorie unumgänglich. Die entsprechenden Ideen gehen auf Impulse und Diskussionen während zweier Semester in Siegen (2014/2015) zurück. Darin eingebunden ist eine Ergänzung von Gedanken aus Robert Brandoms Philosophie sowie der Philosophie der Kognition, die im Kontext von Diskussionen zum Verhältnis von Kognition, Interfaces und implizitem Wissen in Bonn (2017) sowie zweier Workshops zur Diagrammatik in Flensburg (2016) und Berlin (2017) ausgearbeitet wurden. Im Zuge der Überarbeitung des Kapitels sind aus Gründen der Einheitlichkeit jetzt auch Abschnitte zur Medientheorie darin verwoben, die ursprünglich an späterer Stelle der Arbeit enthalten waren. In Kapitel 3 und 1 Die Titeländerung erfolgte in Rücksprache mit dem transcript Verlag.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

5 wurden die Argumente mit Blick auf den Forschungsstand aktualisiert, präzisiert und partiell erweitert. Das Kapitel 4 zu Agora ist aus Gründen der Veranschaulichung der Argumentation für die Buchversion neu in den Text eingefügt worden. Es beruht auf Ideen, die aus dem unmittelbaren Projektkontext stammen, dann aber separat veröffentlicht wurden und auf diese Weise jetzt auch als Teil der Hauptpublikation des Projektes publiziert werden können. Kapitel 6 wurde durch Umstellungen des Textes etwas gekürzt und aktualisiert, insbesondere aber die Anschlüsse zu den vorangehenden Kapiteln und zum nachfolgenden Kapitel 7 überarbeitet. In Kapitel 7 wurde auf Grundlage des neueren Forschungsstands die Herleitung angepasst, indem ein Abschnitt zur Metapherntheorie des Films gekürzt und umstrukturiert sowie neuere Aspekte aus der medienwissenschaftlichen Interface-Theorie eingefügt wurden. Die Analyse der Spielfilme wurden teils gekürzt und aktualisiert, teils anders angeordnet und ergänzt, insgesamt aber – so hoffe ich – gestrafft. Abschließend wurden noch die Einleitung und das Schlusswort auf den neusten Stand gebracht, zwischen den Kapiteln Verweise auf vorherige Ausführungen eingefügt sowie einige der englischen Schreibweisen vereinheitlicht.2 Bei aller Bemühung konnten einige wichtige neuere Forschungskontexte auch für die Drucklegung der überarbeiteten Fassung nicht mehr angemessen berücksichtigt werden. Dazu gehören insbesondere die neuere film- und metapherntheoretische Diskussion sowie die im internationalen Kontext sehr lebendige kognitionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Diagrammatik. Nach Möglichkeit wurden in solchen Fällen wichtige Punkte noch in den Haupttext eingefügt oder zumindest in den Fußnoten ein Verweis auf diese Kontexte eingebunden. Einiges davon wird zudem in kommenden Publikationen aufgegriffen werden. Der Text beinhaltet auch Ergebnisse, die während einer unter dem Projekttitel »Diagrammatische Denkbilder – Grundzüge einer Medien- und Filmtheorie der Diagrammatik im Anschluss an Charles S. Peirce und Gilles Deleuze« von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für insgesamt 19 Monate geförderten ›Eigenen Stelle‹ an der Universität Erlangen-Nürnberg erarbeitet werden konnten. Ich danke der DFG, eine kleine Summe der Restmittel dieses Projektes noch für die Finanzierung der Drucklegung verwenden zu dürfen. Für Unterstützung vor und während der Zeit in Erlangen danke ich sehr herzlich Kay Kirchmann, Antje Kley, Michael Lackner, Joachim Renn, Heike Paul, Andreas Nehring, Johanna Haberer, Peter Podrez, Steffen Bogen, Sebastian Honert, Juliane Engel und Katharina Gerund. Bei Britta Hartmann, Caja Thimm und Thomas C. Bächle und Regina Ring bedanke ich mich für ihre Unterstützung und Freundschaft und den produktiven Austausch seit der Zeit in Bonn. Jennifer Niediek vom transcript-Ver-

2 Die internen Verweise sind nach Kapiteln organisiert. Es wird nicht innerhalb eines der acht Kapitel verwiesen, sondern immer nur zwischen den Kapiteln. Englische Schreibweisen wurden häufig beibehalten, insbesondere bei der Diskussion der Kognitiven Semantik in Kapitel 5. Bei Filmanalysen steht ›TC‹ für Timecode und markiert Bezugsstellen in Filmen (Stunde, Minute, Sekunde). Punktuell, so etwa in Kap. 4, erfolgen Verweise auf Wikipedia zu allgemeinen Themen. Diese werden einmalig in den entsprechenden Fußnoten und nicht noch einmal separat im Literaturverzeichnis nachgewiesen. Hervorhebungen im Original wurden, soweit nicht anders ausgezeichnet, unmarkiert übernommen und nur eigene Eingriffe ausgewiesen.

Vorwort

lag hat das Projekt mit unendlicher Geduld betreut, Christian Wild von Hohenborn die Diagramme sehr schön umgesetzt. Ein besonderer Dank gilt Jan Wöpking und Birgit Schneider, die mir in Fragen der Diagrammatik über all die Jahre immer wieder wertvolle Anstöße und Impulse gegeben haben. Rainer Hörmann danke ich für seine großartige Hilfe bei Lektorat und Korrekturen, Elke Möller für ihre Ermunterungen und Unterstützung nicht nur bei diesem Projekt, sondern weit darüber hinaus. Last – but not least – möchte ich mich ausdrücklich bei Matthias Bauer und Jens Schröter bedanken. Ohne ihre Impulse, Begeisterung, Langmut, Unterstützung und Freundschaft wäre dieses Buch – und vieles mehr – niemals möglich gewesen. Verschiedene Ideen und Beispiele des vorliegenden Textes beruhen auf älteren Vorarbeiten, wurden in früheren Fassungen vorab publiziert oder sind in der Zwischenzeit in erweiterter Form separat erschienen. Meine erste Auseinandersetzung mit der Diagrammatik und den hier diskutierten Gegenständen war die mit Matthias Bauer verfasste Monografie »Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld« (Bauer/Ernst 2010). Die Diskussion von Ideen aus diesem Buch ziehen sich durch den ganzen Text. Im Hinblick auf die medien- und filmästhetischen Überlegungen sowie einzelne Beispiele sind besonders auf die Aufsätze »Explikation und Schema. Diagrammatisches Denken als Szene medialen Handelns« (Ernst 2014c) sowie »Moving Images of Thought – Notes on the Diagrammatic Dimension of Film Metaphor« (Ernst 2015a) zu nennen, die metapherntheoretische, semiotische und filmwissenschaftliche Gedanken aus Kapitel 3, 5 und 7 enthalten. Beispiele aus Kapitel 6 und 7, die im vorliegenden Text in neuer und erweiterter Form diskutiert werden, finden sich bereits in den Artikeln »The Mediation of Perception in Mythological Thinking. On Diagrammatic Explication, Speculative Reasoning and the Myth of the Martian Civilization« (Ernst 2012b) und »Diagrammatische Ikonizität. Diagramme, Karten und ihre Medienref lexion im Film« (Ernst 2014b). Zwei kleinere Artikel zu dem hier vertretenen Diagrammatik-Verständnis sind »Diagramm« (Ernst 2012a) und »Diagramm und Diagrammatik« (Ernst 2014a), die jeweils Aspekte aus Kapitel 2 enthalten. Separate Veröffentlichungen sind die Aufsätze »Transitivität und immersive Formen des Films. Eine Skizze am Beispiel von Inception« (Ernst 2015b), der eine Weiterführung von Kapitel 7.2.3 ist, und der mit Jens Schröter verfasste Text »Die Stereoskopie als Metapher und Medium des Wissens« (Ernst/Schröter 2015), der eine Neukontextualisierung von Aspekten aus Kapitel 3 und 5 enthält. Aus der eingereichten Fassung der Arbeit wurde ein Exkurs zur Fernsehserie aus Kapitel 7 herausgenommen und in neuer Fassung unter dem Titel »Thinking Wall und Diagramm. Die Pinnwand als Medium der Explikation am Beispiel der Fernsehserie ›Metal Evolution‹« (Ernst 2017c) veröffentlicht. Der Aufsatz »›Revolutions‹ – oder: Kreis, Ellipse und Diagrammatik in Agora« (Ernst 2019b) ist dagegen ein als Kapitel 4 in die vorliegende Monografie in leicht modifizierter Form eingefügter Text. Ich danke dem Universi-Verlag Siegen für die Einräumung der Rechte zum Wiederabdruck. Abschließend ist das gemeinsam mit Birgit Schneider und Jan Wöpking herausgegebene Buch »Diagrammatik-Reader. Grundlegende Texte aus Theorie und Geschichte« (Schneider/Ernst/ Wöpking 2016) zu nennen. Dieser Reader enthält Grundlagentexte zur Diagrammatik, von denen einige auch hier ausführlich diskutiert und in den Sektionseinleitungen kommentiert werden (Ernst 2016; Ernst/Wöpking 2016a; Ernst/Wöpking 2016b). Die Konzeption des Readers wurde teilweise im Kontext des Workshops »Diagramm und

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Bewegung« (2012) im Rahmen des oben genannten DFG-Projektes an der Universität Erlangen-Nürnberg entwickelt und während der Entstehungszeit der vorliegenden Überlegungen begleitend vorangetrieben.

1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report Der Begriff ›Diagrammatik‹ kann in einem engen und in einem weiten Sinn verstanden werden: Im engen Sinn beschreibt die Diagrammatik die konventionalisierte Gattung ›Diagramm‹ als ein zweidimensionales, materiell realisiertes, strukturähnliches Relationenbild, wie beispielsweise ein in einem Buch abgedrucktes Kreis- oder Baumdiagramm. In einem weiten Sinn ist die Diagrammatik dagegen eine ›diagrammatische‹ Praxis des Denkens.1 Die Wahrnehmung und das Denken vollziehen sich demnach auf Grundlage der Verwendung von diagrammatischen Zeichen, ohne dass zwingend ein Diagramm im konventionalisierten Sinn notwendig wäre.2 Um ein weit gefasstes, von der Semiotik inspiriertes Verständnis von Diagrammatik geht es in der vorliegenden Studie. Die Arbeit unternimmt den Versuch, die Diagrammatik als eine Praxis der Diagrammatisierung zu beschreiben und mit Überlegungen zu ihrer Bedeutung für die Medien- und Filmästhetik zu verbinden.3 Erkenntnisleitend ist ein weit gefasstes, »funktionalistisches« Verständnis von Diagrammatik in der Tradition von Charles S. Peirce.4 Die Diagrammatik von Peirce, die verschiedentlich medienphilosophisch gewendet wurde,5 wird aus pragmatistischer 1 Vgl. zur Frage, ob ein Diagramm ein ›Bild‹ ist, Beck/Wöpking 2014. Zur Konzeption einer solchen eng/ weit-Unterscheidung auch ihre Anwendung auf die Begriffe Zeichen und Interpretation bei Abel 2005, S. 13f. 2 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 17ff.; Ernst 2014a; Lischeid 2012, S. 21f.; Posner 2009, S. 214ff. 3 Soweit ich sehe, ist der Begriff ›Diagrammatisierung‹ gut eingeführt. Peirce verwendet den Begriff verschiedentlich. Vgl. etwa Peirce 2000/3, S. 132, wo es heißt, dass Diagrammatisierung zu einem (diagrammatischen) »System« führt, »durch das jeder Verlauf des Denkens mit Genauigkeit dargestellt wird«. Vgl. u.a. Hoffmann 2005; Tversky 2015, S. 100ff.; Wilharm 2015, S. 325ff. Ich bemühe mich um eine Konkretisierung, indem ich den Begriff mit dem Feld von Praktiken der Explikation assoziiere, paradigmatischer Weise der Explikation von implizitem Wissen. 4 Vgl. Wöpking (2016, S. 17f.) zur Kritik an einer »funktionalistischen« Perspektive in der Tradition von Peirce, wie sie auch in Bauer/Ernst 2010 vertreten worden ist. Eine Charakterisierung des Peirce’schen Diagramm-Begriffs als »funktionalistisch« findet sich auch in Beck/Wöpking 2014, S.  347f. Vgl. dagegen exemplarisch für eine Rezeption und Weiterführung der semiotischen Perspektive unter medienwissenschaftlichen Vorzeichen Wentz 2017 sowie im Erscheinen Irrgang 2020. Bemerkungen zu Diagrammatik und Medientheorie finden sich auch in Depner 2016, S. 205ff. 5 Vgl. die zahlreichen Arbeiten von Sybille Krämer (hier u. a. 2016) sowie zuletzt die auf zentrale Gedanken der Medienphilosophie zurückgreifende Studie von Wentz 2017, mit einem auf die neuere Debatte um 4E-Theorien der Kognition ( Kap. 2.1.3) und diversen Brückenschläge in die kontinentale Tradition zudem im Erscheinen Irrgang 2020.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Perspektive gegengelesen und durch kognitions- und metapherntheoretische Gedanken weitergeführt.6 Die Arbeit orientiert sich dabei an den Prämissen einer ›operativen Mediensemantik‹.7 Dort stehen Fragen, welche die Schnittstelle zwischen Kognition und Semiotik betreffen, im Vordergrund, was auch für medien- und filmästhetische Phänomene entscheidend ist.8 Für die Diagrammatik-Forschung im engeren Sinn besteht das Ziel der Arbeit darin, einen Beitrag dazu zu leisten, die Erklärungslücken, die zwischen weiter und enger gefassten Verständnissen der Diagrammatik bestehen, auf Ebene der Theoriebildung zu identifizieren, und Vorschläge zu unterbreiten, um sie zu schließen und in einen medien- und filmästhetischen Horizont zu stellen. Der zentrale Gedanke, der dafür veranschlagt wird, besteht darin, die Unterscheidung zwischen engen und weit gefassten Diagrammatikbegriffen als Unterscheidung zwischen solchen Ansätzen, die einen Begriff kognitiv-mentaler Diagramme formulieren und solchen Ansätzen, die dies ablehnen, durch das Verhältnis einer Explikation von implizitem Wissen zu ersetzen.9 Dazu wird nicht nur ein spezieller theoretischer Weg eingeschlagen, sondern auch ein spezifisches Motiv innerhalb der Diagrammatik-Diskussion verfolgt – nämlich der Zusammenhang des genannten Verhältnisses mit der Evidenz diagrammatischer, oder genauer: diagrammatisierender Praktiken.10 Die wichtigsten Thesen der Arbeit lauten: • Diagrammatisierungen sind Praktiken der Explikation: Diagrammatisierungen sind Praktiken der Explikation im Sinne eines ›Explizitmachens‹.11 Es ist möglich, sie in eine Diagrammatisierung erster Stufe, in der medial verkörperte Zeichen, etwa Bilder, ›diagrammatisiert‹ werden, und eine Diagrammatisierung zweiter Stufe, die ein Denken mit Diagrammen ist, zu unterscheiden. Beiden zugrunde liegt eine ›perzeptive‹ Diagrammatizität. • Denkbilder sind epistemologische Funktionselemente innerhalb von Praktiken der Explikation: Diagrammatische Zeichen etablieren ›Denkbilder‹, die insbesondere im Prozess der Etablierung und Stabilisierung von alternativen Deutungsmöglich-

6 Zumindest auf Ebene der theoretischen Prämissen ergeben sich hier auch Querbezüge zur jüngst entwickelten medienwissenschaftlichen Praxistheorie, wenngleich unter dieser Forschung ein sehr viel stärker sozialwissenschaftlich und empirisch ausgerichtetes Programm verstanden wird. Vgl. Gießmann 2018. 7 Vgl. insb. Ludwig Jägers (2012) Diskussion einer »operative[n] Logik der Mediensemantik«. 8 Vgl. etwa Buckland 2007. 9 Vgl. grundlegend auch Brandom 2000. 10 Siehe, wenn auch nicht näher ausgearbeitet, zur ›Evidenz‹ als einem Schlüsselbegriff diagrammatischer Dynamiken auch Bauer/Ernst 2010. 11 Der Zusammenhang von Diagrammatik und Explikation ist verschiedentlich bemerkt worden, so etwa in Bauer/Ernst 2010, S.  10, wo auf die »explikativen Funktionen« von Schaubildern verwiesen wird. Vgl. zudem Ernst 2014c; Ernst 2017b sowie Wöpking 2016, S. 44ff. Vgl. auch Wilharm 2015, S. 350. Rainer Totzke hat zum Abschluss eines Beitrags zur ›Assoziation‹ ebenfalls auf die Bedeutung einer Neukonzeption des Explikationsbegriffs im Kontext der Diagrammatik hingewiesen. Dabei beruft er sich, wie es auch hier geschieht, auf Ludwig Jäger. Vgl. Totzke 2012, S. 433f. Eine ebenfalls in diese Richtung interpretierbare Bemerkung zu Jäger findet sich auch bei Krämer 2005, S. 42f.; siehe auch den Ansatz bei Depner 2016, hier S. 210f.

1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report

keiten eine Rolle spielen und in einem Prozess der Ref lexion impliziter Wahrnehmungsschemata entstehen, der metaphorischen Charakter hat. • ›Image schemas‹ beschreiben eine diagrammatische Dimension metaphorischer Inferenzen: Es gibt eine Diagrammatizität in der Wahrnehmung, die in Gestalt sogenannter »image schemas« (Mark Johnson) dem impliziten Wissen zuzurechnen ist. Diese Dimension der Diagrammatik kann in metaphorischen Inferenzen beobachtet werden und gehört zu den Voraussetzungen der Bedeutung diagrammatischer Zeichen. • Diagrammatisierungen sind Praktiken medialer Transkriptionen: Diagrammatisierung umfasst als Praxis der Explikation einen Akt der medialen »Transkription« (Ludwig Jäger). Dies geht mit bestimmten Evidenzeffekten einher, deren epistemologische und rhetorische Aspekte für die Rolle von Diagrammatisierungen unter bestimmten diskursiven Bedingungen (Wissenschaft etc.) zentral sind. • Diagrammatik als Bezugspunkt filmischer Metaphorisierungen von Denken: In der Analyse von Spielfilmen kann die Diagrammatik als Praxis der Transkription am Beispiel von Metaphorisierungen des Denkens in sogenannten ›Szenen der Explikation‹ beobachtet werden. Diese Szenen artikulieren auch ein Wissen um die Medialität von Diagrammatisierungen in der Medienkultur generell. Diese Thesen werden im Folgenden in sieben Schritten entfaltet. Den Auftakt macht ein verlängertes Einleitungskapitel. Anhand der Analyse des Filmanfangs von Minority Report (2002) werden die Fragestellungen und die Theoriehorizonte der Arbeit exemplarisch dargelegt. Das zweite Kapitel Theoretische Grundlagen und Kontexte liefert das theoretische Rahmenkonzept. Die Diagrammatik wird auf Grundlage verschiedener sozial- und medientheoretischer Überlegungen als explikative Praxis gefasst und die Unterscheidung zwischen einer perzeptiven Diagrammatizität sowie einer Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe erläutert. Das dritte Kapitel Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild beschreibt mit dem Begriff des ›Denkbildes‹ ein in diagrammatischen Zeichen gebildetes Vorstellungsbild, das eine Ref lexion von Wahrnehmungsschemata erlaubt. In Abgrenzung zu logischen oder mathematischen Diskursen wird der Ansatz verfolgt, eine theoretische Perspektive zu entwickeln, für die der Zusammenhang von Diagrammatik und Metapher von besonderer Bedeutung ist. Das vierte Kapitel Veranschaulichung – Kreis, Ellipse und Diagramm in ›Agora‹ bietet als Zwischenschritt eine erste Illustration dieser Perspektive am Beispiel von Agora (2010). Das fünfte Kapitel Diagrammatik und metaphorisches Sehen diskutiert in Auseinandersetzung mit der Kognitiven Metapherntheorie das Argument, dass implizite »image schemas« für die Bedeutung diagrammatischer Zeichen eine zentrale Rolle einnehmen.12 Skizziert wird eine Perspektive auf die Diagrammatik, die sich auf die inhärente Semantik dieser Wahrnehmungsschemata am Beispiel von metaphorischen Inferenzen bezieht. Das sechste Kapitel Diagrammatisierungen als mediale Transkription gibt im Anschluss einen Einblick, welche Bedeutung Medialität in Praktiken diagrammatischen Denkens zukommt. Im Rahmen einer Fallstudie aus dem Kontext der sogenannten ›Alternative-History‹ werden verschiedene Formen von Diagrammati12 Ausgeblendet bleibt im Folgenden die insbesondere in strukturalistischen und poststrukturalistischen Diskussionen in der Medientheorie populäre Diskussion des Verhältnisses zwischen Metapher und Medialität. Vgl. dazu Tholen 2002, S. 19ff.; Winkler 2004b; Winkler 2007.

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sierungen identifiziert und nachvollzogen. Auf bauend auf Überlegungen zur Interface-Theorie und zur Theorie der filmischen Metapher thematisiert das siebte Kapitel Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm die Rolle von Diagrammatisierungen in Metaphern des Denkens im Spielfilm. In exemplarischen Analysen werden Querbeziehungen zwischen Praktiken der Diagrammatisierung und ihren epistemologischen Eigenarten über verschiedene Phänomenbereiche des Spielfilms und seiner Ästhetik hinweg beobachtet. Durch diesen weit ausgreifenden Argumentationsgang versucht die Arbeit, einen Beitrag zur weiteren Erschließung der Diagrammatik durch die Medienwissenschaft zu leisten. Verortet ist dieses Unterfangen in einem heterogenen Feld aus Ansätzen, welche die epistemologischen Konsequenzen des kulturellen Umgangs mit diagrammatischen Zeichen beobachten. Das Forschungsfeld ›Diagrammatik‹ hat in den letzten Jahren einen großen Popularitätsschub erfahren – ja es ist überhaupt erst explizit als Forschungsfeld benannt worden.13 Und die Entwicklung hält an. War die Diagrammatik Ende der 2000er-Jahre ein loses, unverbundenes Forschungsfeld, ist sie seit ca. zehn Jahren konsolidiert. Die Konturen der Geschichte und der Systematik der Diagrammatik werden klarer und fachspezifische Abgrenzungen und Zugriffe formuliert. Dennoch ist das Feld nach wie vor sehr heterogen. Daher ist die Arbeit bewusst interdisziplinär angelegt.14 Inzwischen ist eine Vielzahl von Arbeiten und Aufsätzen publiziert worden, die häufig neue und bisher kaum oder gar nicht beachtete Aspekte und Facetten der Diagrammatik aufdecken und ausführlich diskutieren. Gegenüber der bisherigen Forschung in der Medienwissenschaft setzt die Arbeit jedoch einen eigenen Akzent. Neben dem Entwurf eines Begriffs für die Praxis der Diagrammatisierung wird mit der Entscheidung, die Diagrammatik mit der Metapher zu verschränken, eine in der internationalen Forschung zwar verschiedentlich diskutierte,15 in der medienwissenschaftlichen Rezeption der Diagrammatik aber nicht beachtete Dimension thematisiert. Verbunden ist damit die Hoffnung, dass die epistemologische Diskussion um die Diagrammatik weiter in Richtung der Kultur- und Medienanalyse verschoben werden kann. In der Philosophie ist die Debatte um die epistemologische Leistung von Diagrammen vergleichsweise intensiv.16 In Nachbarschaft zur Medienwissenschaft

13 Das ist einer der Gründe, warum die Arbeit nicht den Forschungsstand in Gänze repräsentieren und thematisieren kann. Ich verzichte daher auf ein Kapitel zum Forschungsstand. Relevante Literatur wird in den jeweiligen Teilkapiteln diskutiert. Vgl. zu den Bestrebungen, das Forschungsfeld in seiner Heterogenität widerzuspiegeln, auch die Sammlung von Grundlagentexten in Schneider/Ernst/Wöpking 2016. Nachdrücklich hinzuweisen ist zudem auf die von Gerhard Dirmoser online kontinuierlich aktualisierte Plattform zur Diagrammatik-Forschung. Siehe http://gerhard_dirmoser.public1.linz.at, gesehen am 08. Mai 2020. 14 In diesem Sinne wird auch der Begriff ›Medienästhetik‹ unspezifisch als loser Oberbegriff für die Schnittstelle aus Wahrnehmung und Schlussfolgerung verwendet. Damit liegt das Verständnis von ›Medienästhetik‹ hier in etwa auf Linie dessen, was Jens Schröter (2013) darunter versteht. 15 Vgl. die skeptische Einschätzung eines derartigen Zusammenhangs bei Blackwell 1998. 16 Vgl. u.a. Hoffmann 2005; Krämer 1996; Krämer 2003b; Krämer 2006; Krämer 2009; Krämer 2016; Stjernfelt 2000; Stjernfelt 2007; Stjernfelt 2011; Wöpking 2010; Wöpking 2012; Wöpking 2016, einführend auch Ernst/Wöpking 2016a.

1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report

waren die Literaturwissenschaft17 sowie die Bild- und die Kunstwissenschaft die ersten Fächer, die sich der Diagrammatik gewidmet haben,18 auch kulturwissenschaftliche Arbeiten haben eigene Ansätze zur Diagrammatik vorgelegt,19 nicht zuletzt vor dem Hintergrund kulturvergleichender Perspektiven, so etwa in der Sinologie.20 Angewendet auf die technischen Bildmedien Fotografie, Fernsehen und Film wird die Lage allerdings disparater. Zur Fernsehserie liegen grundlegende Überlegungen vor, zum Film eine Reihe eher unverbundener Ansätze.21 Als ein wichtiges Thema hat sich über die letzten Jahre überdies die Interface-Forschung etabliert.22 Vor diesem Hintergrund stecken die Leistungen eines weit gefassten und aus der Semiotik heraus entwickelten Begriffs von Diagrammatik in der Möglichkeit, verschiedene Forschungsstränge zur Diagrammatik zu bündeln. Auf diese Weise können Ideen für Ansätze entwickelt werden, um die Diagrammatik für die Analyse von Bewegtbildmedien wie das Fernsehen oder den Film fruchtbar zu machen.23 Aus diesen Überlegungen möchte ich die Idee übernehmen, ›Diagramme‹ mit Schemata in Verbindung zu setzen, die bei der Verwendung und Auslegung medialer Formenbildung von Bedeutung sind.24 Ermöglicht es ein weit gefasster Begriff von Diagrammatik, kulturund medienwissenschaftliche Forschungsfelder jenseits der Gattung ›Diagramm‹ zu betrachten, so liegt die unverkennbare Gefahr eines semiotisch inspirierten Ansatzes in der Überdehnung des Diagrammbegriffs. Um den Ansatz zu präzisieren, wird das durch die Semiotik geprägte Forschungsdesign mit Gedanken der Metaphern- und der Medientheorie verbunden. Dabei mag es überraschen, wenn pragmatistische Positionen aus der Sozialtheorie eine gewichtige Rolle spielen, insbesondere die pragmatistische Theorie gesellschaftlicher Übersetzungsverhältnisse Joachim Renns.25 Diese theoretischen Diskurse liefern – auch in der reduzierten Form, in der hier auf sie zurückgegriffen wird – jedoch ein 17 Vgl. zum Verhältnis von Diagrammatik und Narration die Beiträge in Bleumer 2014; Lutz/Conrad/ Putzo 2014; Sesselmann 2017. Vgl. speziell zu Narration und Karte Ljungberg 2012. Ein sehr eigenständiges, editionsphilologisch relevantes Themenfeld erschließt die Studie von Ganslandt 2012, die dem Zusammenhang von Diagrammatik und Typografie nachgeht. 18 Pionierarbeit leisten Bogen 2004; Bogen 2005a; Bogen 2005b; Bogen 2006 sowie Bonhoff 1993. Vgl. zudem exemplarisch Bender/Marrinan 2010; Schmidt-Burkhardt 2009; Schmidt-Burkhardt 2012a; Schmidt-Burkhardt 2012b; Leeb 2012b. Vgl. zur Infografik Lischeid 2012. 19 Zu nennen ist z.B. Wilharm 2015, S. 314ff., der die Diagrammatik in weit ausgreifende Überlegungen zu Theorie der Szenografie und Inszenierung einbettet. 20 Vgl. zur Geschichte des Diagrammgebrauchs in China exemplarisch Lackner 1990; Lackner 1992; Lackner 1996; Lackner 2000; Lackner 2007. 21 Vgl. zur Fernsehserie die medienphilosophisch inspirierte Studie von Wentz 2017, siehe zur Filmtheorie der Diagrammatik dagegen die eingangs von Kapitel 7 genannten Titel ( Kap. 7). 22 Vgl. im vorliegenden Kontext u.a. Drucker 2011; Drucker 2013a; Drucker 2013b; Drucker 2013c; Drucker 2014; Ernst 2020b; Irrgang 2016 ( Kap. 7.1). 23 Vgl. bereits den Ansatz in Bauer/Ernst 2010. Dort wird versucht, über die Semiotik zwischen verschiedenen Diagrammatik-Traditionen und verschiedenen Fächern zu vermitteln. Eine Weiterführung in Richtung literaturwissenschaftlicher Perspektiven verfolgt Sesselmann 2017, hier insb. S.  76ff., medienwissenschaftlich dagegen den ebenfalls auf Peirce gestützten Ansatz bei Wentz 2017; im Erscheinen auch Irrgang 2020. 24 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 319ff. 25 Erkenntnisleitend sind hier Renn 2004; Renn 2005; Renn 2006b; Renn 2007; Renn 2008; Renn 2012.

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epistemologisches Grundgerüst, um die pragmatistische Seite des diagrammatischen Denkens besser verstehen und die Bedeutung diagrammatisierender Praktiken in der Medienkultur analysieren zu können. Allerdings kommen durch derartige Schwerpunktsetzungen auch eine Vielzahl von wichtigen Kontexten zu kurz. Einige Stränge und Themen der Diagrammatik-Forschung bleiben ausgeklammert. Dazu gehört etwa der Begriff des Diagramms in der poststrukturalistischen Tradition von Michel Foucault, Gilles Deleuze und Michel Serres. Das Diagramm wird dort als eine soziokulturelle Konfiguration von Bedingungen der Subjektivierung aufgefasst.26 Auf dieser Grundlage eine Theorie der Diagrammatik zu schreiben ist möglich, ja notwendig.27 Auch die Akteur-Netzwerk-Theorie (bzw. Akteur-Medien-Theorie)28 sowie andere Ansätze der Science-and-Technology-Studies (STS), die sich über die Jahre als sehr fruchtbare Diskussionskontexte erwiesen haben, sind als mögliche und eigenständige Grundlagen einer Diagrammatik zu nennen.29 Im vorliegenden Fall bleiben diese Perspektiven, mit Ausnahme der Arbeiten von Michael Lynch ( Kap. 6.1), allerdings unberücksichtigt.30 Einen ebenfalls nur stichpunktartig berührten Bereich bildet die Diskussion um das Darstellungspotenzial von Diagrammen in der philosophischen Logik, der Informatik und der Kognitionspsychologie. Diesen Ansätzen geht es um die Klärung der (logischen) Möglichkeiten von diagrammatischen Zeichensystemen. In einer erweiterten Form steht dort überdies die Frage zur Debatte, wie der Diagrammbegriff in der Informationstheorie oder der Forschung zur künstlichen Intelligenz nutzbar gemacht werden kann.31 Ähnliches gilt für die sich zunehmend stärker ausdifferenzierende Debatte um Informationsvisualisierung, die hier nur teilweise in ihren systematischen, nicht aber ihren historischen Aspekten beachtet wird.32 Konzentriert wird sich im Folgenden stattdessen auf die Perspektiven, Grenzen und Filiationen des semiotischen Verständnisses von Diagrammatik, speziell in Richtung medienwissenschaftlicher Themen. Angesichts des Forschungsstandes sind die angestrebten integrativen Überlegungen ein Entwicklungsschritt. In einer vereinheitlichten Theorie der Diagrammatik gehen sie nicht auf. Es sind theoretische Studien zur Bedeutung der Diagrammatik in der Medienwissenschaft. Die verschiedenen Teile der Arbeit greifen ineinander, bieten aber auch tiefergreifende Ausarbeitungen einzelner grundlagentheoretischer Zusammenhänge an. Teilweise werden dabei Terminologien und Unterscheidungen ausführlicher diskutiert, ohne dass diese dann durch die exemplarischen Analysen wieder26 Vgl. zu den Ansätzen von Michel Foucault und Gilles Deleuze Bauer/Ernst 2010, S. 311ff. 27 Vgl. die auf Deleuze (und ähnliche poststrukturalistische Kontexte) gestützte Arbeit von Reichert 2013. 28 Vgl. Thielmann/Schüttpelz 2013. 29 Vgl. etwa Gießmann 2017. 30 Überlegungen aus dem Kontext der ANT zur Diagrammatik finden sich in Latour 1990; Latour 2002, S. 36ff. 31 In Bächle et al. 2017 wird am Beispiel der Diagrammatik aufgezeigt, inwiefern diagrammatisches Denken im Sinne einer Kulturtechnik eine Herausforderung für maschinelles Lernen darstellt. Vgl. auch Lemon/Rijke/Shimojima 1999; Shimojima 1996; Shimojima 2001; Shin 2002; Shin 2012; Shin/Lemon 2018. 32 Vgl. die Klassiker Bertin 1974; Tufte 2006; zur neueren Forschung exemplarisch Lischeid 2012; Meirelles 2013; Ware 2013, siehe auch die historischen Bemerkungen in Ernst 2018a.

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aufgegriffen werden. Das Ziel ist, jeweils mögliche Denkwege aufzuzeigen. Ähnliches gilt für diverse Redundanzen, die sich im Gang der Arbeit nicht ganz vermeiden lassen. Dennoch, so die Hoffnung, werden die Argumentationszusammenhänge auch in dieser Hinsicht in einer Art dargeboten, die weiterführende Schritte ermöglicht. Diagramme produzieren, wie Peirce es nennt, ein »bewegtes Bild des Denkens«.33 Und auch wenn der Zusammenhang zwischen ›Denken‹ und ›Diagramm‹ inzwischen in den verschiedensten Varianten durchgespielt worden ist34 – warum nicht dieser Metapher noch einmal folgen und eine Denkbewegung durch verschiedene Felder vollziehen?

1.1 Film/Bewusstsein — Anfänge Das Auftaktbeispiel liefert eine kurze Analyse des Prozesses der Schemabildung am Anfang von Steven Spielbergs Film Minority Report (2002). Genauer gesagt handelt es sich um den Vorspann und die ersten beiden großen Sequenzen, und zwar die Eröffnungssequenz (bis ca. TC 00:01:55) und eine längere Expositionssequenz (ab TC 00:02:18), die den Protagonisten, das zu lösende Problem sowie das Setting der Handlung vorstellen. Spielbergs Science-Fiction-Thriller ist als eine Inszenierung der Gestensteuerung moderner Kommunikationsmedien ein fester Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses. Aus diesem Betrachtungswinkel ist der Film überbeansprucht. Weil der Film aber kanonisch ist, eignet er sich, um zu illustrieren, anhand welcher Gegenstände und im Rahmen welcher Herangehensweise sich der Zusammenhang von Diagrammatik und Film beobachten lässt.35 Wenn der Polizeichief John Anderton (Tom Cruise) den Bewusstseinsstrom von drei mit der Fähigkeit zur Zukunftsvorhersage begabten Jugendlichen, sogenannte ›Precogs‹, auf einem digitalen Display als Film vor Augen hat und den Bildstrom zu den Klängen von Schuberts Symphonie Nr. 7, h-Moll mit den Händen manipuliert, um eine Schlussfolgerung über den Ort eines unmittelbar bevorstehenden Mordes abzuleiten, den die Precogs in einer traumartigen Vision vorhergesehen haben, dann ist diese Szene mehr als ›nur‹ die Vorwegnahme einer neuen Interface-Technologie ( Abb. 1).36 Minority Report bietet eine medienref lexive Bezugnahme des Films auf eine Praxis, mit in einem Medium verkörperten Bildern umzugehen und diagrammatisch zu denken. 33 Peirce 2000/3, S. 193; vgl. Stjernfelt 2007, S. 89ff. 34 Einige der Titel lauten: Diagrammatik des Denkens (Reichert 2013), Thinking with Diagrams (Krämer/ Ljungberg 2016) oder Thinking Diagrams (Kolis/Kolis 2016). 35 Dass Minority Report etwas mit Diagrammatik zu tun hat, ist – angesichts des Bekanntheitsgrades des Beispiels wenig verwunderlich – nicht nur mir aufgefallen. Sybille Krämer hat das Beispiel auf der Tagung ›Bis auf Weiteres – Pinnwand und Serie‹ an der Bauhaus-Universität Weimar am 28./29.11.2013 zu Beginn ihres Vortrages erwähnt. Minority Report wird ebenfalls in der umfänglich auf Bauer/Ernst 2010 bezugnehmenden Studie von Stiefel 2013 erwähnt, hier insb. S. 91, Anm. 335, und S. 98. 36 In der Interface-Forschung wird der Film immer wieder als eine wichtige Referenz angeführt. Vgl. zu den Entwicklungskontexten des Interfaces Kirby 2010, S. 50f.; Murray 2012, S. 295f. Murray nennt Minority Report im Kontext von Erörterungen zur Bedeutung der menschlichen Hand als Medium semiotischer Gesten. Dieser Umstand ist wichtig, weil er an die konstitutive Bedeutung der Körperlichkeit für Zeichenhandlungen erinnert.

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Abb. 1: Anderton und das Interface: Dirigieren (TC 00:03:41). Quelle: Eigener Screenshot aus Minority Report, Steven Spielberg, DVD-Video, Twentieth Century Fox/Dream Works 2002.

Bereits die Ausgestaltung des medialen Dispositivs, in dem der Protagonist Anderton operiert – im Film wird das Medium »Holosphere« genannt37 – ist eine Metapher für eine der basalen Differenzen der Medialität des Films: der Differenz von Film und Bewusstsein.38 Andertons Aufgabe ist es, in den undeutlich über sein Display f lackernden Bildern des Gedankenstroms der Precogs Zusammenhänge über ein in der Zukunft liegendes Mordgeschehen zu entdecken. Zu diesem Zweck isoliert er per Hand einzelne Bildteile, vergrößert sie, setzt sie mit anderen Daten in Verbindung und montiert sie neu. Anderton verschafft sich so ein Gesamtbild, das ihm einen Eingriff am Ort des zukünftigen Mordes ermöglicht. Andertons investigative Tätigkeit, die in den Gedanken der Precogs enthaltenen Vorhersagen zu deuten, beruht also auf einer analytischen, mit den Händen vollzogenen Rekonfiguration des vor seinem Auge ablaufenden Bildmaterials. In den Bildern will Anderton Beziehungsverhältnisse aufdecken, die auf den Ort des zukünftigen Geschehens im Großraum Washington schließen lassen. Hier kommen wir zu einem ersten wichtigen Motiv: der Bedeutung des Mediums Holosphere für diese Praxis. Betrachtet man die skizzierte Ausgangslage unter Rückgriff auf die Differenz von Story und Plot – also von dem, was ein Betrachter aus einem gezeigten Material an Erzählung entnehmen kann, und dem, was an Abfolge von Bildern gezeigt wird –,39 verwickelt der Anfang von Minority Report den Einblick in das Innere des Bewusstseins der Precogs mit dem Motiv einer medialen Externalisierung dieses ›Innens‹ im ›Außen‹ des Displays der Holosphere, auf das Anderton blickt. Die Verwicklung von Innen und Außen wird konnotativ durch eine Hierarchie in der Aufteilung des Architektur- und Bildraumes zwischen Oben und Unten unterstützt.40 Die Precogs, deren 37 Das ist eine Bezeichnung aus dem Film selbst, die allerdings nicht ganz unproblematisch ist. Die Formulierung lautet: »Case #1109, previsualized by the Precogs and recorded on holosphere by Precrime’s q-stacks« (TC 00:03:10). Ich interpretiere es hier so – was streitbar ist –, dass das ganze mediale Dispositiv als »Holosphere« bezeichnet werden kann. 38 Vgl. zur Differenz von Film und Bewusstsein auch Jahraus 2004a, S. 78ff., S. 83, S. 87. 39 Vgl. Bordwell 1985, S. 48ff. 40 Vgl. die Bemerkungen zur Raumtheorie des Films bei Rohmer 1980. Vgl. dazu Christen/Martin 2016, S. 6ff.

1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report

mentale Subjektivität gezeigt wird, befinden sich in einem tranceartigen Halbschlaf. Sie liegen in einem Wasserbecken am Boden eines Kuppelrundbaus. Andertons Büro mit der Holosphere, auf deren Display er den Bewusstseinsstrom der Precogs in seiner externalisierten, also medialisierten Form sieht, ist an diesen Rundbau angegliedert, liegt aber oberhalb des Wasserbeckens mit den Precgos. Um die Positionen von Bedeutungsebenen und die konnotativen Analogien zwischen ihnen etwas besser illustrieren zu können, möchte ich mich in Anlehnung an George Lakoff und Mark Johnson einer rudimentären Form von Schaubild bedienen ( Abb. 2). Zunächst erhält man folgendes Setting:

Abb. 2: Ausgangssituation am Anfang von Minority Report. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an die Form des Schaubildes bei Lakof f, George/Johnson, Mark (2003): Metaphors We Live By. With a New Af terword, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 20.

Ihrem halbschlafartigen Zustand gemäß wird die visionäre Vorhersage der Precogs als eine traumartige Sequenz in Szene gesetzt. Während Anderton als Ermittler wach und bewusst im ›Außen‹ der Handlung agiert, ist das ›Innen‹ der Precogs aufschlussreich inszeniert. In ihrer Aussage, dass ein Mord geschehen ist, ist die Sequenz sehr klar. Die Gesichter der am Mord beteiligten Akteure sind deutlich zu erkennen. Unklar bleibt die Sequenz aber hinsichtlich der Hintergründe, Kausalitäten und weiteren Informationen über den Ort des Geschehens. Die Sequenz wird dem halbbewussten Zustand der Precogs entsprechend als eine Traumsequenz dargestellt. Durch die Holosphere, mit der die Precogs durch Sensoren verbunden sind, wird der Gedankenstrom der Precogs aus seinem Status mentaler Subjektivität herausgelöst und auf einem Display repräsentiert. Das Medium der Externalisierung des Gedankenstroms der Precogs, also die Holosphere, ermöglicht Anderton den Übertritt in die Perspektive einer objektiveren Beobachtung zweiter Ordnung. Diese Beobachtung zweiter Ordnung bezieht sich auf eine, durch ein Bildmedium zugänglich gemachte, subjektive Beobachtung erster Ordnung – also auf die mentale Subjektivität des Gedankenstroms der Precogs ( Abb. 3).41

41 Vgl. zur Theorie der Beobachtung Luhmann 1992, S.  68ff.; zur »strukturellen Koppelung« von Bewusstsein und Kommunikation (Umwelt) auch Luhmann 1998, S. 92ff.

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Abb. 3: Anderton und der Film auf dem Display (TC 00:05:54). Quelle: Eigener Screenshot aus Minority Report, Steven Spielberg, DVD-Video, Twentieth Century Fox/Dream Works 2002.

Der innere Gedankenstrom wird in das Außen des Displays der Holosphere projiziert. Auf dem Display wird der Gedankenstrom zum Gegenstand einer forschenden Praxis. Diese Praxis wird von den Eingriffsmöglichkeiten mit bedingt, die ihr das Medium bietet. Anderton kann dabei mit den Bildern nicht tun, was er will. Das Medium bietet ihm einen Spielraum an praktischen Möglichkeiten, um seine investigative Praxis durchzuführen. Ebenso, wie es erst ermöglicht, dass Anderton den Gedankenstrom der Precogs sieht, ist es gleichzeitig eine Bedingung für die Durchführung des Forschungsprozesses. In dieser utopischen Überformung der Holosphere als einem digitalen Bildbearbeitungsmedium, das direkt auf Bewusstseinsinhalte zugreift, steckt eine konnotative Anspielung auf eine zukünftige Filmtechnik, in der das Bewusstsein und der Film über die bisherigen Grenzen hinweg durch kognitive Interfaces miteinander verknüpft sind. Der Plot von Minority Report wird durch den subjektiven, visionären Traum der Precogs eröffnet. Ähnlich wie in The Matrix (1999) ist der Filmanfang, also das Logo der Filmstudios ›20th Century Fox‹ und ›Dreamworks‹ sowie die Opening Titels, im Szenenbild des folgenden Films gehalten – hier eine grau-bläuliche Wellenstruktur, die sich über das Bild zieht. Minority Report macht sich dabei wenig Mühe, die eröffnende Traumsequenz der Precogs nicht als ›filmisch‹ darzustellen.42 Die Traumsequenz, in der die Precogs den zukünftigen Mord ›sehen‹, ist subjektiv gehalten (Nahaufnahmen, unzusammenhängende Kausalitäten wie z.B. in einer stressbelasteten Situation etc.). In dieser Subjektivität ist sie zugleich implizit als filmisch akzentuiert. Bearbeitet wird von Anderton der Film aus dem Kopf der Precogs. Dennoch bleiben Zweifel, ob eine auf die metaphorische Bedeutung der Medialität des Films abgestellte Lesart wie diese plausibel ist. Liest man in den Film mit der Parallelisierung von Bewusstsein und Film vielleicht etwas hinein, was er nicht enthält? Nein, denn Minority Report greift diese implizite Markierung explizit wieder auf. Im Laufe der Story wird klar, dass sich Anderton nur per Holosphere, also einem Interface, das als filmisches Bildmedium erscheint, ein ›begriff liches Bild‹ von der Lage machen kann. Entscheidend ist dafür die Erzählperspektive: Während die implizite Zuschauerin mittels der Eröffnungssequenz des Films durch den Plot eine ›objektive‹ 42 Janet Murray (2012, S. 54) hat darauf hingewiesen, dass das Einfügen von Timelines in digitalen Interfaces das Medium Film metaphorisch remediatisiert. Auch die Holosphere verfügt eine solche indexikalisierende Leiste.

1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report

Perspektive auf das im Bewusstsein der Precogs vor sich gehende ›subjektive‹ Geschehen gewinnt, hat Anderton nur das Material zur Verfügung, das die Holosphere, also das Bildmedium, ihm zeigt.43 In der Story wird hervorgehoben, dass die subjektive Vision der Precogs eine von der Holosphere aufgezeichnete und auf dem Display ausgespielte ist. Aufgrund seines Bildstatus muss dieser Film aus den Köpfen der Precgos analysierend ausgelegt werden (es ist bekannt, dass ein Mord geschehen ist, aber die Umstände und der Ort sind unklar). Während das Medium Holosphere am Anfang von Minority Report die im Gebrauch implizite Bedingung des filmischen Geschehens – und zwar Plot und Story – ist, wird die Medialität der Holosphere durch die Entfaltung der Story sukzessive aus seiner Unsichtbarkeit herausgehoben. Diese Bedeutungsebene ist es, die man als »medienref lexiv« bezeichnen kann.44 Das medienref lexive Moment entsteht in der Differenz von Plot und Story. Die Perspektive der impliziten Zuschauerin und die Perspektive Andertons unterscheiden sich. Zur Semantik dieser Differenzierung aber gehört die Sichtbarmachung des Mediums der Holosphere ( Abb. 4) – eines Mediums, von dem deutlich wurde, dass es eine Anspielung auf das Medium Film ist.

Abb. 4: Sichtbarmachung des Mediums. Quelle: Eigene Darstellung.

Ein entscheidender Faktor bei der Interpretation der Sequenz ist die Bildästhetik des Übergangs vom Innen zum Außen – also vom unbewussten Traum der Precogs in den bewussten Zustand auf dem Display, auf dem Anderton agiert. Als Bewegtbildmedium ist der Film in der Lage, dies als einen Verlauf, also als einen prozesshaften Übergang, darzustellen. Durch die Externalisierung auf dem Display wird der Umstand explizit, dass der Film im Kopf der Precogs ein ebensolcher war. In dem Moment, in dem der Kopf des Precgos verlassen wird, kommt es zum Übergang in die intradiegetisch ›reale‹ Welt. Die Markierung ist die Überblendung einer Nahaufnahme des Auges des Opfers mit dem Auge eines der dieses Opfer vor dem geistigen Auge wahrnehmenden Precogs (TC 00:01:40f.). Die Kamera zoomt aus der Nahaufnahme des Auges in eine Großaufnahme des Gesichtes aus dem Kopf des Precogs heraus. Realisiert wird der Übergang von einer Nahaufnahme des Auges in eine Großaufnahme des Gesichts, die auch den 43 Vgl. zum impliziten Zuschauer auch Kuhn 2013, S. 108ff. 44 Vgl. zum Begriff der Medienreflexion Kirchmann/Ruchatz 2014, S. 9ff.

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Precog in seinem Wasserbecken enthüllt. Eine größere Einstellung wird gewählt, die ›top down‹ auf die Realität blickt. Dass auch die sprachliche Erzählebene bedient wird und der Precog »Murder« murmelt, verstärkt diese Markierung eines Übergangs vom ›inneren‹ Schlafzustand in den ›äußeren‹ Wachzustand. Der Sequenzübergang folgt der umgekehrten Richtung des üblichen Beginns einer Traumsequenz, also des Übergangs in das Innere eines Bewusstseins mit einem Zoom oder einer Fahrt in den Kopf.45 Im Zusammenspiel mit dem Ortswechsel vom ›Inneren‹ des Bewusstseins in das Äußere der Umgebung des Precogs handelt es sich um die Markierung des Übergangs zu einem wachen Bewusstsein der bewussten Wahrnehmung und des Denkens – also desjenigen Zustands, in dem gehandelt werden kann. Weiterführend akzentuiert wird der Übergang in den wachen Zustand durch den Kontrast des passiv-liegenden Precogs zum aktiv-handelnden Anderton. Anderton kommt nach einer weiteren Zwischensequenz zügig in das Bild gelaufen. Seine folgende analytische Praxis wird mit den Händen vollzogen. Für eine analytische Arbeit ist Anderton aufgrund der Gestensteuerung des Natural User Interfaces körperlich sehr aktiv.46 Die Exposition des Films ist an dieser Stelle beendet, der Übergang in die Story vollzogen.47 Minority Report verschränkt nicht nur die Ebenen des unbewussten, unten gelegenen Inneren mit dem bewussten, oben gelegenen Äußeren, sondern verbindet dies mit einem Prozess der explikativen Analyse des impliziten Films ( Abb. 5).

Abb. 5: Dynamischer Prozess der Entfaltung der Explikation. Quelle: Eigene Darstellung.

Die ref lexive Anbindung des subjektiven Traums der Precogs an ein Medium, das diesen Traum externalisiert, legitimiert rückwirkend den initialen Traum, der vom impliziten Zuschauer vermeintlich ›objektiv‹ gesehen wurde. Etwas, das in maximaler subjektiver ›Unmittelbarkeit‹ gezeigt wird – eine ›Unmittelbarkeit‹, die strukturell einem inneren Monolog entspricht –, enttarnt sich als eine Botschaft, die eher einem Bewusstseinsbericht entspricht, die also ›mittelbarer‹ ist, weil sie durch ein Medium, eben die Holosphere, vermittelt worden ist.

45 Vgl. auch Brütsch 2011, hier z.B. S. 187ff. 46 Vgl. zu dieser Klasse Interfaces einführend Rogers/Sharp/Preece 2015, S. 219ff. 47 Genauer: Es handelt sich um eine typische Story des Handlungskinos, und in diesem Fall sogar in einer reflexiven Variante des Bewegungsbildes nach Deleuze 1989.

1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report

Bereits dieses Setting erlaubt es, drei elementare Problemhorizonte zu identifizieren, die sich aus Sicht der Diagrammatik an diese Sequenz knüpfen. An erster Stelle steht eine medientheoretische Feststellung, die an dieser Stelle auf Grundlage von Niklas Luhmanns Systemtheorie formuliert werden kann. In der Explikation des zu Beginn des Films unsichtbaren Mediums wird ein »re-entry« der Differenz von Film und Bewusstsein in das von dieser Differenz Unterschiedene vollzogen.48 Das ›Innen‹ des Bewusstseins eines der den Mord wahrnehmenden Precogs wird sowohl in der Story als auch im Plot des Films als ein immer schon durch das ›Außen‹ eines Mediums präformiertes Geschehen dargestellt. Die strukturelle Beziehung, die als Zuschauer (und im Film Anderton) zum Bildmedium Film besteht, wird mitimpliziert, wenn es darum geht, innere Vorgänge auf die Leinwand zu bringen, also Bewusstsein zu ›zeigen‹. Die implizite Zuschauerin rückt zu Beginn damit in die Rolle einer Beobachterin erster Ordnung. ›Gesehen‹ wird nicht der ›wirkliche‹ Inhalt der Gehirne der Precogs. Gesehen wird das zunächst unsichtbare, durch das Medium der Holosphere (Anderton) bzw. den Filmanfang (impliziter Zuschauer) vorgezeichnete Geschehen im Kopf der Precogs. Ebenso wie Anderton kann die implizite Zuschauerin erkennen, dass sie immer schon in der Perspektive eines Beobachters zweiter Ordnung war. Durch diese Art der Umsetzung des re-entrys setzt sich der Film in eine explizite Beziehung zu seiner Medialität und etabliert so eine Bedeutungsebene, die man medienref lexiv nennen kann. Um eine medienref lexive Bedeutungsebene handelt es sich, weil – in Begriffen Luhmanns gesagt – das Verhältnis struktureller Koppelung zwischen Bewusstsein und Kommunikation als ein Medienproblem thematisch wird. Die wechselseitige Intransparenz zwischen Bewusstsein und Kommunikation wird durch Medien überbrückt.49 Das Medium macht der Kommunikation etwas zugänglich, was in der Kommunikation meist nur schwer zugänglich ist – die Wahrnehmungen des Bewusstseins als innere und äußere Wahrnehmungen, die in der Koppelung nicht von Bewusstsein und Kommunikation, sondern von Bewusstsein und Körper produziert werden. Die Kommunikation ist angesichts dieses für sie generell Unbeobachtbaren irritiert, fasziniert und insofern stimuliert.50 An zweiter Stelle steht, darauf auf bauend, eine metapherntheoretische Fest- und Fragestellung. Verwendet man einen Begriff wie Medienref lexion, gewinnt man wenig, außer, dass es ein Begriff für eine Operation der Wiedereinschreibung ist. Ref lexionen sind, zumal in der Sprache der Systemtheorie, Operationen, in denen System/ Umwelt-Grenzen – in diesem Fall die Grenze zwischen Film und Bewusstsein – im System thematisch werden.51 Die Frage, wie eine Ref lexion vollzogen wird, ist in der Wahl der Ausdrucksmittel für diese Ref lexion unbeantwortet. Hierbei spielt im gegebenen Fall die Metapher eine Rolle. Die rückwendende Explikation erfolgt nicht als eine ›Explikation‹ im philosophisch strikten Sinne, sondern, wie Oliver Jahraus ausgearbeitet hat, als ein bidirektionales Verhältnis »wechselseitiger Metaphorisierung« zwischen Film und Bewusstsein.52 48 Vgl. zum Begriff des re-entrys Luhmann 1992, S. 83ff. Vgl. auch Jahraus 2004a, S. 89ff. 49 Vgl. im vorliegenden Kontext Kirchmann/Ruchatz 2014, S. 23ff.; Jahraus 2004b, S. 309ff. 50 Vgl. Luhmann 1992, S. 11ff. 51 Vgl. Luhmann 1992, S. 481ff. 52 Vgl. Jahraus 2004a, S. 78ff., hier S. 77.

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Offenkundig erhält man durch den re-entry eine zweiseitige Form, deren Differenz – also die dritte Stelle –, die Bewegung des Mediums ist. Das Innen der Precogs wird in eine direkte Beziehung zu der Beobachtung eines impliziten Zuschauers gesetzt, die mit der Entfaltung der Diegese zur Perspektive von Anderton wird. Zugleich markiert der Film, dass diese Beziehung indirekt über das Außen eines Mediums vermittelt worden ist, also faktisch ein Beobachtungsverhältnis zweiter Ordnung darstellt. Die Form der Differenz ist die einer Metapher. Und die Metapher ist das Medium, das es erlaubt, die medienref lexive Anlage der Szene zu verstehen.53 Medienref lexion ist in diesem Beispiel besagte »wechselseitige Metaphorisierung« zwischen Film und Bewusstsein. Warum aber die Metapher? Der re-entry der Differenz von Film und Bewusstsein vollbringt eine Leistung, die Metaphern paradigmatisch erfüllen: »understanding and experiencing one kind of thing in terms of another«.54 Man ›versteht‹ das Bewusstsein der Precogs diegetisch als ›filmisch‹ und man erfährt diesen Umstand in dem Moment, in dem man den Film guckt. Die differenzlogisch argumentierende (de-)konstruktivistische Metapherntheorie steht mit dieser Beobachtung im Einklang. Wie David Wellbery gezeigt hat, ist die Metapher aus Perspektive differenzlogischer Ansätze durch die Operation eines re-entrys bzw. eines re-traits gekennzeichnet. Die Metapher ist, so Wellbery, die »Thematisierung einer Grenze als Paradoxie, als eine Einheit der Differenz und differentielle Einheit der metaphorisch relationierten Begriffe«.55 Die Grenze (Differenz) von Film und Bewusstsein wird in der Form Metapher ref lexiv thematisch und zugleich als eine Paradoxie ausgestellt, die auf einen impliziten Zuschauer hin entworfen ist. Medienref lexion ist hier also metaphorisch. Oder genauer: Die Metapher ist die Form von Medienref lexion, weil sie eine Relation, eine Beziehung zwischen Film und Bewusstsein herstellt. An dritter Stelle gilt es, medienspezifisch zu denken und die filmtheoretische Konsequenz auszuloten. Die Paradoxie wird in einer durch die wechselseitige Metaphorisierung bedingten Narration der filmischen Struktur verkörpert und durch den Zuschauer interpretiert.56 Im Fokus steht der re-entry. Der re-entry hat narratologisch eine »retroaktive« Anlage.57 Das Stilmittel des verdeckten Beginns – die Strategie, ein Geschehen nachträglich als Traum aufzudecken – ist die rätselhafte Konfiguration, die es unter Bedingungen der Metapher zu entschlüsseln gilt. Sie ist durch die Situation überschrieben, dass der Film und das Bewusstsein ein wechselseitiges metaphorisches Verhältnis ausprägen. Als Medium bildet der Film eine Grenze zum Bewusstsein. Zugleich ist er das Medium, mit dessen Hilfe man etwas über das Bewusstsein

53 Vgl. grundlagentheoretisch Tholen 2002, S. 19ff.; Winkler 2004b; Winkler 2007, im vorliegenden Kontext auch Scheid 2005, S. 17ff. und insb. Kirchmann/Ruchatz 2014, S. 21ff. 54 Lakoff/Johnson 2003, S. 5, im Orig. kursiv. 55 Wellbery 1997, S. 201f. Vgl. zum »re-trait« Derrida 1998, S. 213ff.; Derrida 1999; siehe zu dieser metapherntheoretischen Position auch Huss 2019, S. 159ff. 56 Etablierte Filmtheorien wie der Neoformalismus, aber auch die semiotische Kultur- und Erzähltheorie haben gezeigt, inwiefern die Rezeption eines Films ein hypothesenbildendes Geschehen ist. Vgl. Bordwell/Thompson 2004; Branigan 1984, S. 50ff. 57 Vgl. Brütsch 2011, S. 182ff.

1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report

erfährt. Das Medium wird zu der Bezugsgröße, welche die »entscheidende Rolle dabei spielt, ob Ereignisse als Traum oder Realität interpretiert werden«.58 Die wechselseitige Metaphorisierung zwischen Film und Bewusstsein führt mit narrativen Mitteln am Anfang von Minority Report vor Augen, inwiefern zwischen dem Bewusstsein und der Kommunikation eine Differenz besteht, die als eine Relation durch Medien – und darin: durch Metaphern – überbrückt wird.

1.2 Metapher und Explikation Was hat dies nun mit Diagrammatik zu tun? Als Erstes muss die Annahme aufgegeben werden, Diagrammatik sei eine Theorie der Gattung des Diagramms. Ein gattungstheoretisch identifizierbares Diagramm gibt es in Minority Report nicht zu sehen. Dennoch gibt es Hinweise auf die Diagrammatik als einem Erkenntnisverfahren »diagrammatischer Operationen«.59 Der im Film exponierte Übergang zwischen impliziter und expliziter Ebene liefert dafür das Beispiel. Der Übergang bildet eine Parallelität zwischen den Konnotationen unbewusst-schlafend-passiv/bewusst-wach-aktiv und implizit filmisch/explizit filmisch aus. Einher geht die Entfaltung der Story mit einer expliziten Ref lexion der Strukturlogik der Medialität des Verhältnisses von Bewusstsein und Film ( Abb. 6).

Abb. 6: Übergang zwischen impliziter und expliziter Ebene. Quelle: Eigene Darstellung.

Der Übergang fungiert als der Drehpunkt sowohl des ref lexiven re-entrys, des metaphorischen Transfers sowie der extra- und intradiegetischen Differenzierung der Handlungsebenen. Auf das ganze Anfangssegment bezogen, hat die Einheit des Prozesses nicht nur den Charakter einer Bewusstwerdung, sondern den einer Explikation. Deutlich wird dieser Umstand, wenn die vermeintliche Inkohärenz zwischen zwei Konnotationsebenen beobachtet ( Abb. 7). 58 Brütsch 2011, S. 191, siehe auch S. 192f. 59 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 9ff.

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Abb. 7: Vermeintliche Inkohärenz der Konnotationsebenen. Quelle: Eigene Darstellung.

Ich spreche von einer ›vermeintlichen‹ Inkohärenz, weil man auf die Idee kommen könnte, dass das Explizite mit dem Bekannten kohärent sein müsste. Dass das nicht der Fall ist, zeigt nicht nur die Metapherntheorie,60 sondern auch Minority Report: Anderton nutzt das Medium der Holosphere, um sich ein begriff lich-explizites Bild von der Lage zu machen, von der Anderton nur weiß, dass sie geschehen wird, deren Umstände ihm aber völlig unklar sind. Die Story von Minority Report folgt damit den Vorgaben des klassischen Handlungskinos. Es gibt ein Problem, von dem Anderton weiß (der Mord muss verhindert werden). Wesentlich mehr weiß er nicht. Anderton muss daher im Medium aktiv werden, um die Lage zu klären (was ihm selbstverständlich gelingt). Tatsächlich ist die Verschränkung von impliziter Traumstruktur der Precogs und expliziter Analysetätigkeit Andertons also kohärent. Minority Report liefert im Vollzug des Filmanfangs sogar die strukturelle Veranschaulichung eines philosophischen Phänomens. Jeder Akt der Explikation geht von einer impliziten Basis aus, die als bekannt vorausgesetzt sein muss und von der sich die Explikation ›hoch‹ arbeitet. Diese strukturelle Veranschaulichung wird mit Entfaltung der Handlung in ein orientierendes, das heißt ein raumbasiertes Problem verwandelt, bei dem das, was unbekannt ist, bis dato nicht im Raum lokalisiert wurde. Explikation bezieht sich hier allgemein auf eine als ›Entfaltung‹ bzw. ›Ausfaltung‹. Es geht also um viel mehr als das fachphilosophische Verständnis der Explikation eines alltags- oder fachsprachlichen Begriffs im akademischen Kontext ( Kap. 2.2.3). Die Entfaltung der Story kann mit diesem Begriff der Explikation bezeichnet werden, weil das regulär unsichtbare Medium (Eröffnungssequenz) ref lexiv zu einem sichtbaren Medium wird (Expositionssequenz). Das Problem des Films, also das Problem der Auslegung des Films aus dem Kopf der Precogs, wird als ein Problem der Übersetzung eines Traums (›unten‹) in analytische Begriffe des Denkens (›oben‹) thematisch. Übertragen in ein Schema sieht das so aus ( Abb. 8).

60 Zur Metapher, waches Bewusstsein wie z.B. Denken ›oben‹ zu lokalisieren und unbekanntes Wissen ›unerreicht‹ in einer Zukunft zu verorten, vgl. inklusive Schaubild Lakoff/Johnson 2003, S. 20f.

1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report

Abb. 8: Metaphorische Übersetzung des Traums in bewusstes Denken. Quelle: Eigene Darstellung.

Hier ist die bereits aufgeworfene Frage berührt: Was passiert im Prozess des Übergangs, also der Explikation? Minority Report ist in dieser Sache zwar konventionell, aber geschickt konzipiert. In der Kognitiven Metapherntheorie von George Lakoff und Mark Johnson findet sich eine Unterscheidung verschiedener Typen konzeptueller (kognitiver) Metaphern. Die Unterscheidung ist an der vorliegenden Stelle hilfreich, weil sie zur Ausdeutung der semiotischen Konnotationen in der Auftaktsequenz von Minority Report beiträgt. Konzeptuelle Metaphern lassen sich demzufolge in drei Typen untergliedern: • orientierende Metaphern, die einen abstrakten Gegenstandsbereich mit Hilfe der Raumrelationen der körperlichen Deixis beschreiben (›Bewusstsein ist oben, Emotionen sind unten‹); • onotologische Metaphern, die einen Gegenstandsbereich auf eine körperlich handhabbare Sache hin konkretisieren (›Zeit ist Geld‹); • strukturelle Metaphern, in denen ein unanschaulicher Gegenstandsbereich aus Perspektive eines konkreteren Gegenstandsbereichs betrachtet wird (›Argumentieren ist Krieg‹).61 Zieht man diese Differenzierung heran, wird im vorliegenden Beispiel ein struktureller Aspekt (Traum ist wie Film/Film ist wie Traum) in einen Komplex orientierender Aspekte aufgelöst. Das Schema ist: Traum ist unten, weil: ›emotional, implizit, passiv vs. Denken ist oben, weil: explizit, aktiv. Aus filmtheoretischer Perspektive ist es fragwürdig, einen kognitiven Begriff von Metapher derart umstandslos auf die semiotische Form des Films anzuwenden. Lösen lässt sich dieses theoretische Problem durch das Argument, konzeptuelle Metaphern im Sinne der Kognitiven Metapherntheorie als Rezeptionsschemata der semiotischen Konnotationen des filmischen Bildes zu verstehen.62 Konzeptuelle Metaphern sind in 61 Vgl. zu dieser Unterscheidung Lakoff/Johnson 2003, insb. S. 14ff., S. 25ff., S. 61ff. Betrachtet man die drei Aspekte von konzeptuellen Metaphern (orientierend, ontologisch, strukturell), ist diese Kategorisierung von Lakoff und Johnson ursprünglich als eine Klassifikation dreier getrennter Klassen von Metaphern gedacht gewesen. Später haben die Autoren postuliert, dass diese drei Aspekte Attribute aller konzeptuellen Metaphern sind. Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 264. 62 Vgl. zum Konnotationsbegriff in der Fotografie auch Barthes 2009a, S. 11ff. sowie die einschlägigen Stellen im Handbuch der Semiotik von Wolfgang Nöth (2000). Die Voraussetzung dafür ist, dass man dem Film eine semiotische ›Textualität‹ unterstellt, welche Konnotationen enthält. In der Filmtheorie ist die ›Textualität‹ des Films oft sehr weit gefasst, so etwa bei Britta Hartmann: »Text wird hier verstanden als relationales Objekt, gerichtet auf den Rezipienten, der die Elemente des Textes unter

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denjenigen Wahrnehmungsschemata wirksam,63 die auf Ebene der semantischen Kohärenz die Konnotationen der filmischen Bilder regulieren. Mit einer von Matthias Bauer entwickelten Unterscheidung aus der Diagrammatik-Forschung lässt sich feststellen, dass konzeptuelle Metaphern – sei es explizit, sei es implizit – ebenso prägend für das semiotische »Design« des Films sein können, wie für das »Layout«, das in der Rezeption aus diesem Design interpretiert wird.64 Kognitive Metaphern spielen in die konnotative Bedeutungsdimension des Films hinein. Sie sind dem Prozess des Ausund Zerspielens – also quasi eines »dis-plays« – des Films implizit. Dieser Gedanke beruht auf dem in der filmwissenschaftlichen Forschung weithin akzeptierten Verständnis der Rezeption von Filmen als einem schlussfolgernden Prozess.65 Da Filmanfänge, wie Britta Hartmann argumentiert hat, eine hohe semantische Dichte aufweisen, bietet sich der Anfang von Minority Report als ein gutes Beispiel an. Filmanfänge und filmische Paratexte wie Vorspanne instruieren mögliche Schlussfolgerungen über das Folgende.66 Im Design des Films werden die impliziten Rezeptionsregeln für die Handlung etabliert. Im Filmanfang ergeben sich Möglichkeiten der schematisierenden Verdichtung, so z.B. eine Verdichtung von Grundmotiven, die Beziehungsverhältnisse im Status von Interpretationsregeln präfigurieren.67 Wie geht das in Minority Report vor sich? Erzählt wird aus Perspektive der ersten Person. Diese Erzählperspektive etabliert auch die Beobachterposition, die später Anderton als Hauptfigur einnimmt, wenn der Film aus dem Kopf der Precogs auf seinem Display erscheint. Durch diese Parallelisierung der Perspektiven differenziert sich die implizite Zuschauerin aus, also die Zuschauerin, die Anderton quasi über die Schulter blickt. Die wechselseitige Metaphorisierung von Film und Bewusstsein wird als Thematisierung der Grenze zwischen Film und Bewusstsein exponiert. Die geläufige Metapher, dass der Film wie Bewusstsein ist und das Bewusstsein wie Film, ist somit präsupponiert und läuft als konnotative Bedeutungsebene mit. Die Holosphere ist die ›Schnittstelle‹, das Interface, an dem diese Metapher manifestiert wird. Dies ist deshalb gesondert zu erwähnen, weil dieses Interface, gegeben die Jahre 2002, in dem der Film produziert wurde, und 2054, in dem die Handlung spielt, als ein ›zukünftiges‹ Medium markiert ist. Dieses zukünftige Medium, das gemessen am Jahr 2002 den ›state of the art‹ der damaligen User Rückgriff auf die unterschiedlichsten Wissensbereiche und Schemata zu einem kohärenten Ganzen integriert und damit überhaupt für die Erfüllung filmischer Signifikation sorgt«. Vgl. Hartmann 1995, hier S. 102, Anm. 4. Auf eine ›Textualität‹ des Films können sich auch oft als stark divergierende oder sogar unvereinbar klassifizierte Theoriemodelle wie die semiotische und die neoformalistische Filmtheorie einigen. Vgl. z.B. Bordwell/Thompson 2004; Branigan 1992; Wulff 1999. 63 Dazu ist zu bedenken, dass die Theorie der kognitiven Metapher schematheoretisch argumentiert. Ich gehe darauf noch ausführlich ein und verweise an dieser Stelle nur auf Johnson 1987. 64 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 14, S. 70. Bauer 2015 rekurriert ebenfalls häufig auf diese Unterscheidung. Speziell für die Filmanalyse ist die Unterscheidung sehr hilfreich. 65 Vgl. Hartmann 1995, S. 104ff., weiterführend zu einer grundlegenden Theorie des Filmanfangs auch Hartmann 2009. 66 Vgl. zu filmischen Paratexten insb. Böhnke 2007. 67 Dieser Prozess kann durch den Begriff der strukturellen Metapher näher erklärt werden. Gleiches gilt für die deiktische Orientierung innerhalb der Räumlichkeit der erzählten Welt. Sie nimmt orientierende Metaphern in Anspruch. Ontologische Metaphern korrespondieren schließlich mit Aktionsmustern des Handelns mit Objekten in der Welt.

1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report

Interfaces darstellte, also, medienref lexiv betrachtet, ein logisches Folgemedium für den Film im Zeitalter vernetzter Computer. Die Erinnerung an das »cultural interface« Film ist in diesen Jahren, wie Lev Manovich gezeigt hat,68 noch sehr lebendig. Gleichzeitig wird in jenen Jahren aber auch klar, dass die Ära des Kinos vorbei ist und jene Ära anbricht, die inzwischen als »Post-Cinema« diskutiert wird.69 Der metaphorische Gehalt der Relation zwischen Film und Bewusstsein bricht sich hier ref lexiv im dargestellten Interface. Das medienref lexive Moment wird also durch die Darstellung des Interfaces gelenkt – und damit durch ein, wie Hans Dieter Hellige bemerkt hat, »Medium im Medium«,70 das im 20. Jahrhundert unter dem Eindruck der Human Computer Interaction als das durch Metaphern geprägte Medium angesehen werden kann, ist doch die am Interface festgemachte Abstimmung menschlicher Interaktion mit Computerprozessen immer auch ein metaphorisches Übersetzungsproblem.71 Damit gewinnt das Szenario eine medienhistorisch konnotierte Bedeutung: Das Medium Film wird in Gestalt eines zukünftigen Interfaces, das einen direkten Zugang zum Bewusstsein ermöglicht – und damit eine Leistung ermöglicht, die dem Film als einem »cultural interface« mitunter, sei es direkt oder indirekt, zugesprochen wurde – in einer fiktiven Zukunft re-imaginiert. In einer fiktiven, vom Standpunkt des Jahres 2002, und erst recht vom heutigen Standpunkt, aber durchaus als real möglich zu erachtenden, Zukunft kehrt der Film als ein phänomenales Merkmal des Bewusstseins in einem Setting fiktiver zukünftiger Medien (die in einem Film dargestellt werden) wieder.72 Diese strukturelle Metapher von Film als Bewusstsein, die auf dem Display des Holosphere-Interfaces zu einer materiell realisierten Metapher wird,73 ist über die Konnotationen der Bildkonfigurationen in eine orientierende Metapher in die Entfaltung der Narration eingewoben.74 Die Aufspaltung der Handlung durch die alternierende Montage in zwei Sequenzen, welche sich nach dem ref lexiven re-entry narrativ entfaltet, wird dementsprechend so exponiert, dass es für Anderton keine Frage ist, was geschehen wird, sondern wo. Andertons Problem ist, den Film auf dem Display so auszulegen, dass er eine Korrelation zwischen den Informationen, die er aus seiner Analysearbeit gewonnen hat, und einem Ort in der Diegese, wo der Mord stattfindet, herstellen kann. Anderton muss den Film also hinsichtlich von Rauminformationen ausdeuten. Diese Informationen muss er auf einer Karte lokalisieren, und schließlich einen Eingriff 68 Vgl. Manovich 2001, S. 69ff., hier 70. 69 Vgl. etwa Casetti 2010; Casetti 2015. 70 Vgl. Hellige 2008, hier S. 14, dort im Anschluss an Volker Grassmuck. 71  Vgl. den hervorragenden historischen Überblick über die verschiedenen Phasen der ›Human Computer Interaction‹ bei Hellige 2008, hier insb. S. 59ff. Vgl. zur Metaphorizität van den Boomen 2014. 72 Vgl. Weber 2008, der für die 1980er und 1990er-Jahre von »Wunschmedien« spricht. 73 Vgl. van den Boomen 2014, S. 48ff., hier zu Minority Report insb. auch S. 54. 74 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 3ff., S. 14ff. Kognition und Semiose sind ineinander gewoben, aber nicht aufeinander reduzierbar. Als Modell kann das Konzept der strukturellen Koppelung zwischen Bewusstsein und Kommunikation dienen, wie Niklas Luhmann es entwickelt hat. Die Forschung zeigt aber auch, dass dieses Modell nicht unproblematisch ist, speziell hinsichtlich des Aspektes des impliziten Wissens. Vgl. insb. Renn 2006b, S. 149ff., dazu auch Ernst 2013.

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im Territorium vornehmen (den Mord verhindern). Die wechselseitige, strukturelle Metaphorisierung zwischen Film und Bewusstsein wird somit unter den Vorgaben des Hollywood-Handlungskinos in eine Problematik der Orientierung im filmischen Raum verwandelt, als solche aber auf dem Display der Holosphere fokussiert, mithin ref lexiv fassbar. Durch den skizzierten Übergang wird die Situation einer Interaktion zwischen dem Bewusstsein und der Filmstruktur zu einem expliziten Problem in der Story. Mag dies bis zu diesem Punkt nachvollziehbar sein, ist allerdings unbeachtet geblieben, dass diese medienref lexive Ebene zugleich ein diagrammatisches Problem exponiert – leitmotivisch vorkodiert im Ausspielen der diagrammatischen Leitoperationen schlechthin: der Relation von Karte und Territorium.75 Die nahe liegende These lautet daher, dass Anderton – im Rahmen des geschilderten metaphorischen Szenarios – den Film am Display einer diagrammatisierenden Analyse unterzieht. Anderton rekonfiguriert die Bilder und ihre Elemente, betrachtet sie als Diagramm, und zwar zu dem Zweck, aus ihnen ein Denkbild zu gewinnen, welches mit einer Karte abgeglichen und dann auf das Territorium bezogen werden kann. Diese Deutung erschließt sich relativ leicht aus den metaphorischen Konnotationen des filmischen Textes. Die Differenz von Karte und Territorium ist nämlich nicht nur eine diagrammatische, sondern auch eine Leitmetapher innerhalb der Kognitiven Metapherntheorie.76 Medienref lexiv ist Minority Report nicht nur, weil das Problem des Mediums die Entfaltung der Story in dem Sinn strukturiert, dass die strukturelle Analogie von Film und dem Bewusstseinszustand des Traumes in orientierende Metaphern übersetzt wird, die aus dem Traum herausweisen. Der Film stellt zudem die Frage, wie man sich in filmischen Bildern schlussfolgernd orientiert. Innerhalb der Story muss Anderton – um sein Denkbild zu gewinnen – den durch die Holosphere, also das Interface, zur Verfügung gestellten Film am Display beobachten. Dazu abstrahiert er die Bildfolge, modelliert die Relationen auf der Fläche des Displays und leitet während dieser Rekonfiguration eine Schlussfolgerung ab. Anderton liest die Bilder also diagrammatisch, um dann den Ort des Geschehens im Raum identifizieren zu können. Der Film beansprucht dabei die ontologische Metapher, mentale Bilder als Dinge zu konzipieren, die manipulierbar sind. Diese Dinge sind die Bilder des Films aus dem Kopf der Precogs, die auf dem Display der Holosphere erscheinen. Bleibt man in konventionellen Begriffen der Übertragung einer Botschaft durch ein Medium von A nach B, dann bohrt ein Medium, metapherntheoretisch gewendet, eine Leitung bzw. einen Kanal zu etwas, das regulär in der Kommunikation unzugänglich ist: dem Traum, der im Inneren des Containers des Bewusstseins der Precogs ist und dort von der Holosphere abgelesen wird. Die ontologische Metapher korrespondiert mit der strukturellen Metapher ›Bewusstsein ist ein Container‹.77 Minority Report greift die ›Leitungs‹-Metapher in einer Zwischensequenz auf, in der gezeigt wird, dass es zum Dispositiv der Holosphere gehört, die Namen der Opfer und des Täters aufwendig in eine Art Billardkugel einzugravieren und durch ein Röhrensystem auf den Arbeits75 Vgl. in der literaturwissenschaftlichen Forschung bereits Bauer 1992, insb. S. 483ff. Vgl. zur paradigmatischen Bedeutung der Karte für die Medientheorie auch Krämer 2008, S. 298ff. 76 Das theoretische Schlüsselproblem der semantischen Bereiche von Metaphern wird bei Lakoff und Johnson als ›Mapping‹ beschrieben. Im Rahmen von Metaphern bilden diese Relationen das Fundament zahlreicher erkenntnistheoretischer Operationen. ( Kap. 5) 77 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 147f.

1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report

tisch von Anderton rollen zu lassen. Evoziert wird durch die Zwischensequenz sowohl das Motiv ontologischer Verkörperung wie auch das Motiv eines konkreten Anbohrens bzw. der Bau eines Kanales in das Bewusstsein der Precogs. Die Schnittstelle zwischen struktureller und orientierender Metapher wird auf diese Weise durch eine ontologische Metapher besetzt. Das Medium der Holosphere fungiert als diejenige Instanz, die das Bewusstsein als einen Innenraum für externe Beobachter (Anderton, impliziter Zuschauer, reale Zuschauerin) öffnet. Der medienref lexive Kontext markiert aber gleichzeitig – zu denken ist an den re-entry – die Paradoxie, dass diese Öffnung gar nicht anders als medial möglich ist bzw. gewesen wäre. Erst das Interface ontologisiert die Inhalte des Bewusstseins; erst das Interface, also das Medium, gibt ihnen eine handhabbare und beobachtbare Form, in und mit der Anderton denken kann. Das Interface ist als Medium die Bedingung der Bilder.78 Der ref lexiv-retroaktive Modus der Eröffnungssequenz von Minority Report ordnet das Verhältnis von strukturellen zu orientierenden Metaphern dabei auf eine bestimmte Art und Weise an, in der die strukturelle Metapher alternativ auch als ein Ergebnis von ontologischen und orientierenden Metaphern gesehen werden kann. Um Ähnlichkeiten zwischen zwei Gegenstandsbereichen zu sehen, muss ein Verständnis für diese vorhanden sein, z.B. dass Bewusstsein in einem ›Innen‹ ist. Erst dann kommt man auf die Idee, dass der Film strukturell ähnlich ist mit dem Bewusstsein. Die medienref lexive Anlage von Minority Report – also der Umstand, dass die implizit als medial markierte Darstellung des Films in der Eröffnungssequenz in eine explizit als von einem Medium ›Holosphere‹ hervorgebrachte überführt wird – führt vor Augen, dass mit konventionellen Begriffen von Übertragung in diesem Beispiel nicht viel zu gewinnen ist. Das Medium steht als ein Interface ›dazwischen‹, indem es eine Relation herstellt, und wird dabei praktisch benutzt.79 Minority Report illustriert somit, dass der Zugang zum Gehirn der Precogs ein medial ermöglichter ist – dass das Medium also zwar etwas Reales zeigt, aber diese Realität unter seinen Bedingungen steht. Diese Erkenntnis ist allerdings weit weniger interessant als die Frage, wie Anderton mit dem Medium umgeht – wie sich also mediale Struktur zum Mediengebrauch verhalten. Das ist der theoretische Ort des hier verhandelten Mediums, also des Interfaces, und der Diagrammatik. Denn Anderton denkt in der Auslegung des Films, den er sieht, diagrammatisch, oder präziser: nach dem Vorbild einer diagrammatischen Schlussfolgerung. Entscheidend für das Verständnis dieser Einschätzung ist, wie Anderton den Film aus dem Kopf der Precogs am Display im wörtlichen Sinne ›auslegt‹. Erste Indizien, die darauf hinweisen, dass man es mit einer diagrammatischen Schlussfolgerung zu tun hat, habe ich schon vorgestellt. Anderton denkt bewusst und schlussfolgernd. Sein Denken ist ein Möglichkeitsdenken im Sinne des Spurenlesens in einem gegebenen Bildmaterial. Unterstützt wird diese Deutung durch die zeitliche Komplikation, dass das Bildmaterial, das Anderton analysiert, das Bildmaterial eines möglichen Films ist. Der von Anderton analysierte Film stellt zwar intradiegetisch die Gegenwart dar. Diese Referenz auf das faktische Geschehen wird aber nie filmische Realität werden, wenn Anderton richtig handelt – es handelt sich also um einen virtuellen Film. Um die Darstellung dieses Prozesses als Diagrammatisierung verständlich

78 Mit Engell (2003, S. 53) könnte man sagen, das Medium macht die Bilder »denkbar«. 79 Eine Theorie des medialen ›Dazwischen‹ findet sich bei Tholen 2002; Tholen 2005; Tholen 2012.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

zu machen, müssen die Ausgangsüberlegungen zur Diagrammatik genauer umrissen werden.

1.3 Diagrammatisierung als Schlusspraxis Die Diagrammatik ist der Bezugspunkt für die filmische Darstellung von schlussfolgerndem Denken in einer Praxis medialer Transkriptionen, die im Wortsinn als ›Explikation‹ funktioniert ( Kap. 2.2.6). Wie bereits erwähnt, gilt es, Explikation hierbei in einem an den Literalsinn von lat. explicatio angelehnten Verständnis von ›Ausfaltung‹ zu verstehen, also nicht in dem auf die Sprachspiele der Philosophie und Wissenschaften eingegrenzten Sinn der Explikation eines Begriffs aus der natürlichen Sprache in eine Fachsprache. Anschließen kann man hierbei an die Etymologie von »explicatio«. Im Lexikon der Philosophie heißt es, explicatio bedeute »also dem Wortsinn nach nichts anderes, als daß das Thema, über welches der betreffende Autor gehandelt hat, völlig entfaltet vor den Augen der Leser liegt, wobei ursprünglich sogar nur die Pergamentund Papyrusrolle, auf welcher die Abhandlung geschrieben stand, gemeint war«.80 An diese Bedeutung schließt auch Bruno Latour an, der den Explikationsbegriff (innerhalb der Prämissen seiner Theorie) ebenfalls als Begriff für eine materielle Aus- bzw. Entfaltung mitsamt semiotischer Inskription versteht.81 Vor diesem Hintergrund lautet die erste Prämisse zur Erläuterung der These: Der Begriff ›Diagrammatik‹ bezeichnet keine Gattungstheorie, sondern die Theorie einer inferenziellen Praxis. An einer Stelle in diesem Inferenzprozess kommt es zur Ausbildung eines Denkbildes. Dieses Denkbild kann in Praktiken der explikativen Auslegung beobachtet werden. In Minority Report ist das Denkbild intradiegetisch ein metaphorisch supponiertes, aber nicht gezeigtes Vorstellungsbild, das Anderton quasi vor Augen steht. Dieses Denkbild entsteht, während Anderton das Bildmaterial des Films aus dem Kopf der Precogs diagrammatisierend rekonfiguriert. Doch inwiefern handelt es sich bei Andertons Schlusspraxis überhaupt um ein spezifisches diagrammatisches Schließen? Folgt man Frederik Stjernfelts durch die Arbeiten von Charles S. Peirce inspirierten Diagrammatik, dann umfasst das diagrammatische Erkenntnisverfahren drei große Schritte ( Abb. 9).

80 Vgl. Nobis 1972, Sp. 876; Menne 2002. Vgl. zum philosophischen Verständnis von Explikation Carnap 1959, S. 12ff.; Gabriel 1972; Prechtl 2004. Im vorliegenden Kontext auch Ernst 2017c; Ernst 2018a. 81 Vgl. Latour 2009, insb. S. 367.

1. Einleitung: Der Anfang von Minority Report

Abb. 9: Diagrammatisches Erkenntnisverfahren nach May und Stjernfelt. Quelle: Eigene Darstellung nach Stjernfelt, Frederik (2007): Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics, Dordrecht: Springer, S. 104.

Diese Skizze ist aus Stjernfelts Buch Diagrammatology übernommen.82 Die Schritte des diagrammatischen Denkens, die in diesem Schema enthalten sind, können so dargelegt werden: 1. Hypothese: Bezugnahme auf ein erklärungsbedürftiges Objekt und Formulierung einer Hypothese. 2. Konstruktion: Konstruktion eines Diagramms für diese Hypothese sowie Beobachtung des Diagramms und manipulierendes Experimentieren mit dem Diagramm. 2.1 Analytische Beobachtung der im Diagramm gegebenen und erkannten Verhältnisse. 2.2 Umarbeitung der im Diagramm erkannten Verhältnisse und Übergang zur Schlussfolgerung oder Veränderung der Relationen des Diagramms und erneutes schlussfolgerndes Durchlaufen des Diagramms. 3. Prüfung: Anwendung der mit Hilfe des Diagramms gewonnenen Schlussfolgerung in einer Folgehandlung. Aus der Perspektive der Semiotik beginnt diagrammatisches Denken mit der Konstruktion eines Diagramms zu dem Zweck, ein erklärungsbedürftiges Objekt zu erforschen.83 In Minority Report ist die Konstruktion des Diagramms in der Praxis von Anderton zu sehen, die Bilder des Films aus dem Kopf der Precogs als Diagramm zu verstehen. Wo aber kommt ein Denkbild ins Spiel? Minority Report liefert keinen fiktionalisierten Einblick in das Bewusstsein von Anderton. Wieso sollte man diese theoretische Größe annehmen? 82 Stjernfelt 2007, S. 104. Stjernfelt entlehnt sie einem Aufsatz von Michael May (1999, S. 186). Zur Beschreibung des Prozesses auch die Darstellung bei Hoffmann 2004, S. 298ff. Ich habe das Schema verschiedentlich verwendet und kommentiert, so in Ernst 2012b; Ernst 2014c, S. 117ff. 83 Der Begriff ›Objekt‹ wird hier im semiotischen Sinne verwendet, also die als eine notwendige Relation eines Zeichens auf ein ›Objekt‹. Was dieses Objekt ist, ist offen; als Objekte gelten also bei Weitem nicht nur materielle Gegenstände, sondern alle Entitäten, die in Zeichen repräsentiert werden können und insofern ein Teil der Relationalität des Zeichens sind. Vgl. hier weiterführend Schönrich 1999, S. 19ff., S. 105ff. Ich komme auf den Zeichenbegriff zurück ( Kap. 3.1).

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Ein solches kognitives Verständnis von Diagrammatik zu veranschlagen, ist zunächst nicht ohne Gefahr. In der Forschung ist dieser Begriff von Diagrammatik umstritten. Kognitive Begriffe von Diagrammatik überwinden die Begrenzungen der Gattungstheorie des Diagramms. Allerdings verwandelt sich die Diagrammatik unter ihren Händen zu einer hochabstrakten Erkenntnistheorie mit kognitivistischem Einschlag. Mit dem ›Diagramm‹ werden z.B. auch kognitive Schemata wie etwa ›mental maps‹ assoziiert. Was dann genau das Diagramm oder das Denkbild sein soll, bleibt oft unklar. Solche Probleme umschifft eine enger gefasste, tendenziell gattungstheoretische Perspektive. Zwischen diesen Extremen ist die semiotische Perspektive in der Tradition von Charles S. Peirce angesiedelt. Peirces Diagrammatik erweitert einerseits die Grundlage einer gattungstheoretischen Perspektive, indem sie von einer familienähnlichen Gruppe diagrammatischer Zeichen spricht. Diagramme können demnach in Gestalt verschiedener materiellen Formen wie Karten, Infografiken, Skizzen etc. vorkommen. Andererseits geht die Semiotik davon aus, dass mit diagrammatischen Zeichen gedacht wird. Diagramme haben eine bewusstseinsseitige Qualität, die ihnen spezifisch ist. Diagramme sind in dieser Hinsicht mit Begriffen wie dem Schema verwandt.84 Der dann zwangsläufig drohende Dualismus zwischen Materiellem und Mentalem wird von der Semiotik durch ihre pragmatistische Fundierung unterlaufen.85 Diagrammatische Schlussfolgerungen finden in einem sozialen Zusammenspiel von Wahrnehmung, Überzeugung und Handlung statt. Bedeutung haben Diagramme damit nur in Praktiken, und diese Praktiken schließen als Praktiken der Bezugnahme eine mentale Komponente ein ( Kap. 3.1 u. 3.2). Diagramme sind für Peirce somit Zeichen, die ihre Spezifik in Relation zu anderen Zeichen, z.B. einem Bild, nicht nur aus einer bereits als existent gesetzten Identität als Balkendiagramm oder mentale Karte gewinnen, sondern vor allem über die praktische Verwendung, in der sie eine Funktion erfüllen und in der sie, als Formen, wiederum Anschlusspraktiken ermöglichen. Ihre Bedeutung entsteht mithin nicht monokausal und verdankt sich nicht einfach einer Einschreibung in das ›Materielle‹ oder einer der Kultur und Gesellschaft entzogenen Dimension des ›Mentalen‹, sondern aus dem Zusammenspiel bedeutungskonstitutiver Dimensionen, zu denen auch eine kognitive Dimension zählt. Weit wichtiger als das Diagramm auf eine spezielle, historisch ausdifferenzierte Form zu begrenzen oder aber prinzipiell alle möglichen Entitäten wie Schemata oder mentale Karten umstandslos als Diagramme zu betrachten, ist für die Diagrammatik daher die kulturelle Funktion von Praktiken der Diagrammatisierung. Betrachtet man das Schaubild, sticht dabei insbesondere eine Funktion heraus: Diagramme erlauben die begriff liche Objektivierung eines erklärungsbedürftigen Sachverhalts. Diagramme leisten die Transkription eines Objektes in ein Diagramm, die einem ›for84 Vgl. auch Bauer/Ernst 2010, S. 319ff. 85 Im Folgenden soll im gängigen Sinn zwischen ›pragmatisch‹ und ›pragmatistisch‹ unterschieden werden. ›Pragmatisch‹ ist die Bedeutungsrelation des Gebrauchs der Zeichen, die – wie Charles Morris bekanntlich gezeigt hat – von der ›syntaktischen‹ und der ›semantischen‹ Bedeutungsrelation des Zeichens zu unterscheiden ist. ›Pragmatistisch‹ ist dagegen die breitere Kontextualisierung von Praxis und Handlung als Grundbegriffen der Philosophie im Sinne der Tradition des amerikanischen Pragmatismus, die von Charles S. Peirce, William James, John Dewey und anderen begründet wurde.

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schenden‹ oder ›explorativen‹ Zweck dient. Worin besteht aber die Spezifik dieser Praxis als diagrammatische genau? Der Schlüssel zu dieser Frage steckt im gegebenen Beispiel, in dem man ja kein explizites Diagramm sieht, in Moment des ›Durchspielens‹ bzw. der Rekonfiguration der als ›Diagramm‹, und damit in einer auf ihre strukturellen Merkmale hin betrachteten Bilder.86 Diagrammatisches Denken untersucht ein Objekt auf die in ihm implizierten Relationen hin. Eine Bilderfolge als Diagramm zu betrachten – die Bilderfolge zu diagrammatisieren – bedeutet, Beziehungsverhältnisse in den Formen wahrzunehmen und diese in einem doppelten Sinn ›auszulegen‹, also im Raum auszubreiten und die Verhältnisse zu interpretieren.87 Eine, wenn nicht sogar die wesentliche Erkenntnisleistung, die Peirce mit diesem Vorgang assoziiert, ist die Explikation von im Diagramm repräsentierten Beziehungsverhältnissen, die ohne das Diagramm implizit geblieben wären. Diagrammatik, oder eben: Diagrammatisierung, ist, so gesehen, eine Praxis der Explikation im Sinn einer allgemeinen und nicht auf die philosophischen Sprachspiele alleine festgelegten Praxis des »Explizitmachens«.88 Andertons Praxis als explizierende Diagrammatisierung zu beschreiben, erscheint vor diesem Hintergrund schon einleuchtender zu sein. Allerdings muss im vorliegenden Kontext auch beachtet werden, dass dieser Prozess in Minority Report in ein Feld metaphorischer Konnotationen eingebettet ist. Diese Konnotationen motivieren die Explikation innerhalb der filmischen Narration zusätzlich. Kann man dieser metaphorischen Ebene noch zusätzliche Einsichten abgewinnen? Dazu möchte ich noch einmal auf die Konstellation des Filmanfanges zurückkommen. Der implizite Zuschauer hat eine Sicht auf Andertons analytische Bemühungen. Und er hat eine Sicht auf das, was Anderton nicht hat, nämlich Einblick in das im parallel montierten Handlungsstrang sich auf bauende Mordgeschehen. Der implizite Zuschauer sieht mehr als Anderton. Folglich erzeugt es Spannung, zu beobachten, ob Anderton es in seiner Praxis der diagrammatisierenden Explikation schafft, den Film aus dem Kopf der Precogs so zu analysieren, dass er die richtigen Schlüsse zieht und den Mord verhindert. Soweit, so konventionell. Ebenso konventionell ist, dieses ›Mehr‹ an Wissen auf Seiten des Zuschauers durch die Ereignisse im zweiten Handlungsstrang zu dramatisieren. Die implizite Ebene der Eröffnungssequenz, die ja als unbewusste Ebene in der strukturellen Umwelt von Anderton markiert ist, wird mit der Entfaltung der Story in der Expositionssequenz in einem binären Schema (Parallelmontage) explizit; sie wandelt sich zu einem nachvollziehbaren begriff lichen Problem. Bemerkenswert ist allerdings, dass dabei im narrativen Layout ein Übergang von einer analog-dichten Ebene im Filmanfang zu einer binärer digital-differenzierten Ebene in der Entfaltung der Story enthalten ist. Durch die Umwandlung der wechselseitigen Metaphorisierung von Film und Bewusstsein, welche die erste Sequenz prägt, in eine orientierende Metapher, die dieses Verhältnis verräumlicht und so in eine dem Handlungskino gemäße Narration verwandelt, schreibt der Film das Verhältnis, das er zu Beginn zu dem Zuschauer exponiert hat, ref lexiv in seine Formenbildung ein. Denn genau diese Grenze wird zu einem intra-

86 Vgl. auch Bauer/Ernst 2010, S. 40ff., hier insb. S. 64ff. 87 Vgl. zum Begriff »Bilderfolge« ausführlich Wentz 2017. 88 Vgl. zu diesem Begriff von Explikation insb. Brandom 2001, S. 18f.

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diegetischen Problem, das Anderton – in der Relation von Karte und Territorium – zu lösen hat.89 Die implizite Bildstruktur der filmischen ›Außenseite‹ der ersten Sequenz wird durch den Übergang in der Narration der Folgesequenzen intradiegetisch – also auf der filmischen ›Innenseite‹ – zum expliziten Problem Andertons. Anderton wird an die Stelle des Beobachters gesetzt, dem in der ersten Sequenz der Film begegnet ist. Was folgt aus dieser Substitution? Für Anderton sind die in der Bildstruktur des Films aus dem Kopf der Precogs implizierten Informationen das Problem. Die implizite Bildstruktur dieses Films muss in ein explizites Strukturbild verwandelt werden, das Aufschluss über den Ort des Mords gibt. Dank der in den Konnotationen enthaltenen medienref lexiven Bedeutungsebene erzählt Minority Report daher nicht nur von Andertons Praxis, sondern exemplifiziert auch das Problem, von dem erzählt wird: Der Plot des Films stellt das Problem aus, vor das Anderton in der Story gestellt ist.90 Wenn der Filmanfang das in seinem Vollzug des Plots Implizite in der Story explizit zum Thema einer Explikation in einem filmischen Medium (der Holosphere) werden lässt, dann steckt in dieser Medienref lexion eine Referenz auf die prinzipielle filmische Möglichkeit, in der Kommunikation Bewusstsein darzustellen. Warum kann man diese Deutung vorbringen? Denkt man die oben genannte These einer »wechselseitigen Metaphorisierung« zwischen Film und Bewusstsein weiter,91 dann ist das Medium Film, idealtypisch gesprochen, auf zwei Arten in der Lage, metaphorische Beziehungen zum Bewusstsein zu evozieren: Als eine Operation erster Ordnung kann die filmische Form so konfiguriert werden, dass die formale Struktur einen Bewusstseinsinhalt ›evoziert‹, z.B. – wie in der intellektuellen Montage bei Sergej Eisenstein – einen abstrakten Gedanken.92 Als Operation zweiter Ordnung kann mittels filmischer Formen von einem Bewusstsein, seinen Wahrnehmungen oder Schlussprozessen erzählt werden. Dieses Bewusstsein ist das Bewusstsein eines Menschen oder aber einer mit Bewusstsein ausgestatten Maschine, z.B. HAL 9000 in 2001 – A Space Odyssey (1968) – also einer individuellen Entität zurechenbares Bewusstsein. Der Anfang von Minority Report erfüllt nicht das Kriterium, einen Bewusstseinsinhalt zu evozieren. Der Film thematisiert aber sehr wohl die Differenz zwischen einer Beobachtung erster Ordnung und einer Beobachtung zweiter Ordnung. Zu diesem Zweck wird die Differenz zwischen affektiv-impliziter Wahrnehmung (der Film aus dem Kopf der Precogs) und rational-explizitem Denken (die Analyse des Films aus dem Kopf der Precogs) etabliert. Diese Einsicht ist die Grundlage für folgende These: Wenn der konventionelle Spielfilm den Prozess des Denkens als eine bewusste Überzeugung, die in inferenziellen Prozessen gewonnen wird, darstellt, wird dieses ›Denken‹ häufig als diagram-

89  Vgl. hier auch Kirchmann/Ruchatz 2014, S. 18ff. 90 Vgl. zum Begriff der Exemplifikation auch Goodman 1997, S. 59ff. 91 Vgl. Jahraus 2004a, S. 78ff. 92 Vgl. Eisenstein 2006, S. 58ff. Vgl. im Kontext der vorliegenden Studien auch die Bemerkungen bei Bordwell 2005, S. 115ff., S. 123ff. In Kap. 7 waren ursprünglich einige Bemerkungen zu Eisenstein enthalten, die ich jedoch noch einmal überarbeiten und gesondert veröffentlichen möchte.

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matisches Denken visualisiert.93 Doch noch etwas kommt hinzu. Durch die medienref lexive Anlage des Filmanfanges zeichnet sich die Möglichkeit ab, diese Bezugnahme des Films auf diagrammatisches Denken auf mindestens zwei Ebenen zu untersuchen. Der Film kann nicht nur als Operation zweiter Ordnung von diagrammatischem Denken erzählen bzw. die Existenz dieses Denkens in der Kultur als paradigmatische Form für die Visualisierung von schlussfolgerndem Denken annehmen, sondern auch als Operation erster Ordnung vollziehen, was besagt, dass die filmische Konfiguration in einem sehr speziellen Sinne ›diagrammatisch‹ ist und entsprechende Erkenntnisleistungen ermöglicht.94 Andertons Auslegungsprozess ist eine Diagrammatisierung zum Zwecke einer Explikation. Diese Explikation ist nicht universell notwendig und auch nicht universell anwendbar. Sie ist unter spezifischen Bedingungen sinnvoll. Eine dieser Bedingungen ist gegeben, wenn Inhalte aus analog-kontinuierlichen, aber mehrdeutigen und undifferenziert repräsentierten Zeichen (den f lackernden Gehirnbildern der Precogs) in ein digital-diskontinuierliches, eindeutig und differenziert repräsentierendes Schema überführen will.95 Der Übergang von unbewusst/bewusst, implizit/explizit ist in Minority Report zugleich – das wird durch die medienref lexive Bedeutungsdimension ins Spiel gebracht – ein Übergang von dicht in disjunkt, von analog in digital ( Kap. 5.4.2). Dabei ist ein Übergang in zwei verschiedene Darstellungssysteme eingeschlossen – mithin eine Transkription. Anderton muss sich von den inhaltlich und formal dichten Bildern des Films aus dem Kopf der Precogs ein begriff liches Bild machen. Anderton muss diese Bilder entwirren, den Inhalt rational verstehen und ein überzeugendes Lagebild erstellen. Andernfalls handelt er falsch. Zentral ist der Umstand, dass Anderton zuerst den Bilderstrom nach relationalen Verhältnissen in einzelne Teile zergliedert. Dies geschieht im nachträglichen Einklang mit einer expliziten Verbalisierung. Der Übergang ist eine durch das Medium bedingte Integration von zwei verschiedenen Darstellungssystemen: dem Bild und der Sprache. Somit kann der Ort des diagrammatischen Schließens isoliert werden ( Abb. 10).

93 Durch die vorliegenden Studien wird diese These nicht in ihrem ganzen, weit gefassten empirischen Geltungsanspruch belegt. Ein solches Unternehmen wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Die Arbeit liefert aber theoretisches Rüstzeug, um ihr nachzugehen. Unter Bezug auf Gilles Deleuze ist sie bei Bauer/Ernst (2010, S. 194ff.) präfiguriert. Sie macht natürlich nicht nur für den narrativen Spielfilm Sinn. So wird die Diagrammatik gerne bemüht, um die mentale Subjektivität in der BBC-Serie Sherlock (GB, seit 2010) zu beschreiben. Vgl. Stiefel 2013, insb. 79ff. Vgl. inzwischen auch ausführlich Wentz 2017. 94 Vgl. hier auch Jahraus 2004a, S. 80f. sowie weiterführend die medienphilosophische These der sich selbst denkenden Medien bzw. des sich selbst denkenden Films, wie sie Lorenz Engell immer wieder formuliert hat. Vgl. Engell 2010; Engell/Bystricky/Krtilova 2010. 95 Vgl. Goodman 1997, S. 125ff. Zu Goodman erläuternd auch Hölscher 2005; im Kontext der Diagrammatik auch Depner 2016, S. 165ff.

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Abb. 10: Der Ort des diagrammatischen Schließens. Quelle: Eigene Darstellung.

Das Diagramm ist in Minority Report die am Display in explizierender Absicht diagrammatisierte und in einem Medium transkribierte Bildkonfiguration des Films aus dem Kopf der Precogs, die zugleich eine Ref lexion der impliziten Schemata ist, nach denen Anderton seine Welt wahrnimmt und deutet (z.B. muss er das Deutungsschema variieren, nachdem sich seine erste Analyse als falsch erweist). Noch einmal sei aber auch der Skepsis Raum gelassen. Irritierend mag noch immer sein, dass in Minority Report kein Diagramm im gattungstheoretischen Sinne zu sehen ist und man trotzdem von Diagrammatik sprechen kann. Sieht man also wirklich kein Diagramm? Doch, denn nach der vorliegenden These ist der Ort des Diagrammatischen der »Operationsraum«96 zwischen (a) den – im Körperschema fundierten – dirigierenden Gesten, die auf der verräumlichenden Fläche der Holosphere zwischen den Bildelementen Relationen herstellen, die also auf spezifische Weise Zeichen bearbeiten,97 (b) dem Medium des die Gestensteuerung ermöglichenden Natural User Interfaces, also der Holosphere, das diese Zeichen darstellt und die Möglichkeiten ihrer Nutzung vorstrukturiert und (c) den kognitiven Leistungen, die im Rahmen dieser Konstellation ermöglicht und vollzogen werden. Die Grundlage dieser Einschätzung ist die Darstellung von Andertons Analysepraxis (TC 00:03:30) unter den oben aufgezeigten medienref lexiven Gesichtspunkten. Erst wird der Raum abgedunkelt – eine offenkundige Referenz an das Kino-Dispositiv. Gleichzeitig ist die ›Leinwand‹, also die Holosphere, aber auch ein interaktiver Touchscreen. Damit auf die Ästhetik von Kontrollräumen und Kommandozentralen angespielt. Das Kollektiv, das sich vor diesem Display versammelt hat, geht koordiniert und arbeitsteilig vor. Dies darf als eine Referenz auf die Interfaces von »Group Decision Support-Systems« verstanden werden, wie sie in »War Rooms« zu finden sind.98 Das ist dahingehend eine medienref lexive Anspielung auf den Film, als für die Ära des ›Post-Cinema‹ die kollaborative Analyse eines Filmes die klassische hermeneutische Interpretation in entsprechenden Fankulturen, die sich quasi als ›Investigators‹ 96 Vgl. Krämer 2005. 97 Vgl. zur Diagrammatizität der Geste als einem Medium zwischen körperlicher Praxis und abstraktem Denken umfassend Tversky 2011; Tversky 2015; Tversky/Kessel 2014; Mittelberg 2012. insb. S. 204ff. Siehe im Kontext der Philosophie der Mathematik auch Giardino 2016, hier S. 97ff. 98 Vgl. Hellige 2008, S. 36.

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begreifen, abgelöst hat und es zu einer, wie Francesco Casetti es sehr treffend formuliert hat, Umwandlung der klassischen »attendance« in eine »performance« kommt.99 Eine investigative Performance bietet auch Anderton. Er beobachtet das Geschehen und stellt die Frage »Okay Howard, where are you?« (als Hintergrund: Howard ist der Mörder). Es geht explizit um das kartografische Problem des unklaren Ortes des Mordes. Und es geht darum, dass Anderton eine hypothesenbildende Arbeit vollzieht. Anderton trägt einen Datenhandschuh. Der Handschuh ermöglicht es ihm, die Bilder am Display zu sezieren. Durch das Bildmotiv einer Schere, die das Mordinstrument ist, wird Andertons Praxis somit medienref lexiv als Montagepraxis konnotiert. Jetzt beginnt die Detektivarbeit im Bildmaterial. Anderton extrahiert aus dem analog-dichten Bildstrom einzelne Bildelemente. Dieser Vorgang erzeugt neue Bildkonfigurationen, ordnet diese Bilder und dirigiert so das Material – über das Motiv des Dirigenten wiederum eine offensichtliche medienref lexive Referenz auf das Filmschneiden und die Rolle des Regisseurs. Im Unterschied zum Dirigieren sind die Gesten aber alles andere als rhythmisch. Es sind klare, lineare, analytische Bewegungen, also weniger im musikalischen Sinne dirigierend als vielmehr direktive Gesten, wie man sie heute von Touchpads kennt. Der Vollzug dieser Bewegungen strukturiert den Bildstrom in einer Fläche. Anderton wird so ermöglicht, einzelne der Elemente in Beziehung zueinander zu setzen.

Abb. 11: Fotografien aus Polizeidatenbank und ›Bewusstseinsfilm‹ (TC 00:05:45). Quelle: Eigener Screenshot aus Minority Report, Steven Spielberg, DVD-Video, Twentieth Century Fox/Dream Works 2002.

Die Inszenierung der Szene folgt der Metapher ›Denken als Objektmanipulation‹.100 Eine Konnotation dieser Metapher ist z.B. die Metapher ›Verstehen ist Greifen‹. Daher passt es ins Bild, dass Anderton von seinem Assistenten aufgefordert wird, etwas zu greifen, »Can you grab that?«, worauf hin Anderton entgegnet »It’s unclear«, und das ganze Ensemble am Display ›wegwirft‹ (TC 00:05:10). Angereichert und in Beziehung gesetzt wird die Analyse von Anderton mit anderen Daten aus den Polizeidatenbanken. Die Daten werden dabei – gegen jede Logik der Verwendung von zukünftigen Computern, aber sehr wohl im Einklang mit der auf Menschen zentrierten Agenda des Films – von Assistenten geliefert werden, z.B. die Gesichter möglicher Täter geliefert, 99 Vgl. Casetti 2010, S. 25ff. 100 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 240f.

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die mit dem Gesicht aus dem Kopf der Precogs parallelisiert werden können und so die Identifikation der Person per Ähnlichkeitserkennung erlauben ( Abb. 11). Noch deutlicher wird der Aspekt der Objektmanipulation, wenn Anderton den entscheidenden Hinweis (TC 00:08:12f.) im Bildstrom findet. Aus den unterschiedlichen Positionen eines Kindes in einem Bildframe – das Kind taucht auf der linken Seite und der rechten Seite eines Mannes auf – kann Anderton schließen, dass das Kind auf einem Spielplatz-Karussell (»merry-go-round«) steht. Der Rückschluss auf den Tatort ist jetzt möglich. Mit seinem Handschuh extrapoliert er die innere semantische Spannung des Bildstroms, den ungewöhnlichen und erklärungsbedürftigen Umstand, dass das Kind einmal links, einmal rechts ist und generiert so aus den widersprüchlichen Bildinformationen eine Regel, die ihm den richtigen Schluss auf das Karussell und auf den Ort des Geschehens ermöglicht ( Abb. 12).

Abb. 12: Der entscheidende Erkenntnismoment (TC 00:08:17): Quelle: Eigener Screenshot aus Minority Report, Steven Spielberg, DVD-Video, Twentieth Century Fox/Dream Works 2002.

Diese Regel kann Anderton ableiten, weil er sie durch seine manipulierende Praxis, mit den Bildrelationen isoliert, also das Bildmaterial des Films aus dem Kopf der Precogs in ein Inferenzschema verwandelt, welches ihm, in einer spekulativen Gesamtsituation, den Rückschluss ermöglicht. Der Schluss, der als eine Übersetzung des dicht-analogen Bildstroms in ein disjunkt-digitales Schema qua Transkription des Geschehens dargestellt wird, setzt an entscheidender Stelle, und zwar genau an der Stelle, an der Anderton seine entscheidende Einsicht hat, eine Reduktion und Verdichtung des Bildes, in dem das Kind auf der linken Seite ist, und des Bildes, in dem es auf der rechten Seite ist, voraus. Die Bilder werden von Anderton, dank der Möglichkeiten des Datenhandschuhs und des Interfaces, ›zusammengesehen‹ und vor seinem geistigen Auge, ohne dass uns Minority Report dies im Sinne mentaler Subjektivität zeigt, ›überblendet‹. Die Idee, die hinter dieser Darstellung der Analysepraxis in Minority Report steckt, ist die Verwandlung des Bildstroms in ein strukturiertes Ensemble einzelner Elemente, in ein Diagramm, das eine zielgerichtete Handlung initiiert oder instruiert. Und genau diesen Prozess beschreibt die Diagrammatik, wenn man sie als eine Praxis der Explikation versteht. Für den Prozess der medien- und filmästhetischen Darstellung und Ref lexion dieser Praxis der Diagrammatisierung soll im Folgenden eine theoretische Herleitung gefunden werden.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte In einem engeren, gattungstheoretischen Sinne sind Diagramme etwa in der Form der Infografik bekannt.1 Spätestens wenn man von einem engen Begriffsverständnis abweicht, sind Diagramme mehr: Damit man ein Kuchendiagramm, eine Karte und eine Skizze als Diagramme ansehen kann, muss davon ausgegangen werden, dass alle diese Formen auf teilweise miteinander nicht verwandte Eigenschaften referieren, die sich als ›diagrammatisch‹ klassifizieren lassen, ohne dass es ein explizites prototypisches Diagramm im engeren Sinne gäbe – sehr wohl aber diskursiv und kulturell variable, implizite Prototypen. Die Diagrammkategorie ist in einem weiter gefassten, pragmatistischen Verständnis eine regelhafte Verwendungspraxis einer Menge ähnlicher Zeichen. Diese Regel organisiert Zeichen in der Weise, dass verschiedene, dem Begriff nach nicht als Diagramm konventionalisierte Formen als Diagramme betrachtet werden können. Dazu gehören Formen wie die Karte, die Skizze und der Graph. Sybille Krämer fasst dies durch die Unterscheidung »Diagramm« und »Diagrammatischem«: »Im Folgenden wird sowohl von ›Diagramm‹ wie von dem ›Diagrammatischen‹ gesprochen. Während ›Diagramm‹ die visuelle Kombination von Zeichnung und Schrift in einem einzelnen, aus einem Fließtext visuell herausgehobenen schematisierten Bild meint, ist die Extension des Begriffes ›das Diagrammatische‹ umfänglicher: Dieser Begriff bezieht sich sowohl auf Diagramme im engeren Sinne wie auch auf andere Formen epistemisch nützlicher, visueller Darstellungen wie Notationen, Tabellen, graphische Modelle oder Karten. Unsere Intuition ist, dass sich an Diagrammen prototypisch aufweisen lässt, was in graduell variierenden Formen auch für die übrigen Mitglieder der Gruppe des Diagrammatischen gilt. Überdies gilt, worauf wir anfangs schon verwiesen: Wir gehen vom methodischen Primat der sichtbaren Strukturen inskribierter Oberflächen aus, unerachtet des Umstandes, in erkenntnisgeleitetem Gebrauch von Inskriptionen auch Diagramme als Vorstellungen mental hervorzubringen.«2 Über die Krämer’sche Unterscheidung hinaus ist zu bemerken, dass – weil die Zeichen nicht von ihrer Verwendung in Praktiken getrennt werden können –, ein weites Verständnis von Diagrammatik auch Möglichkeiten der Betrachtung von Zeichen als Dia1 Eine grundlegende Studie zum Zusammenhang von Diagrammatik und Infografik ist Lischeid 2012. Vgl. historisch auch Tufte 2006; Drucker 2014. 2 Krämer 2016, S. 60.

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grammen mit einschließt, etwa bei der Betrachtung von Schrift oder von Bildern auf eine implizite Diagrammatizität hin – eine Operation, welche die mentale Seite der Kognition stärker ins Spiel bringt als es bei Krämer geschieht.3 Was ein Diagramm in einer Kultur bedeutet, geht im weiten Verständnis von Diagrammatik nicht in dem auf, was sich in der Syntaktik seiner Form abbildet, sondern umfasst auch seine Semantik und seine Pragmatik.4 Diagrammatik ist in semiotischer Hinsicht also die Theorie einer Praxis der Verwendung einer bestimmten Gruppe von Zeichen. Für die Semiotik ist es nicht ausreichend, formale Eigenschaften von Diagrammen zu sondieren, um eine Diagrammatik zu begründen. Bildet die Verwendung von Zeichen als Diagrammen den Gegenstand, wird es notwendig, verschiedene Formen dieser Praxis zu unterscheiden. So können Zeichen zum Zweck der Narrativierung als Diagramme betrachtet werden. Abgeleitet sind diese Verwendungen aus der vermittelnden und ref lexiven Funktion von diagrammatischen Zeichen. Wenn aber Zeichen als Diagramme betrachtet werden, dann geht es in einem weit gefassten Diagrammatik-Verständnis um eine Diagrammatisierung von zeichenhaften Informationen, welche diese Verwendungen ermöglicht. Die Idee der folgenden Überlegungen lautet dabei, dass die Praxis der Diagrammatisierung eine Praxis der Explikation ist, die – als diese Praxis – entlang des Vorbilds der Explikation von implizitem Wissen beschrieben werden kann. Zunächst folgt ein stichpunktartiger Einblick über die Grundbegriffe und Forschungsfragen im Diskursfeld rund um die Begriff Diagramm, Diagrammatik und Diagrammatisierung. Begründet wird, warum es vor allem um die ›mediensemantische‹ Seite von Diagrammatik gehen soll (Kap. 2.1). Aus diesen Überlegungen heraus werden unter Bezug auf verschiedene Theoriebestände die Grundlagen des hier gewählten Zugangs erarbeitet und Diagrammatisierungen als explikative Praxis gefasst (Kap. 2.2). Die Unterscheidung in eine Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe, die um Ludwig Jägers Begriff der Transkription und die daran anschließende Evidenztheorie gebaut ist, steht am Ende des Kapitels.

2.1 Diagrammatisierung im theoretischen Kontext5 Eines der vielen Probleme, die sich der Diagrammatik-Forschung stellen, ist die Vieldeutigkeit ihres Grundbegriffs: des Diagramms. Es gibt mindestens drei aufeinander verweisende und historisch verknüpfte, aber auf unterschiedlichen Prämissen fußende und infolgedessen mit verschiedenen Gegenstandsbereichen verbundene und in unterschiedlichen disziplinären Zugriffen weitergeführte Bedeutungen. Einigkeit besteht darin, dass das Diagramm (griech. diagramma, geometrische Figur, Umriss) als eine anschaulich-sichtbare Visualisierung von räumlichen Beziehungsverhältnissen eines Bezugsobjekts anzusehen ist, in der die Strukturalität dieser Beziehungsverhältnisse repräsentiert wird. Die Repräsentationsleistung eines Diagramms behaup-

3 Siehe, der Sache nach, bereits den Ansatz in Bauer/Ernst 2010. 4 Vgl. die an Charles Morris angelehnte Formtheorie des Diagramms von Richards 1984. 5 In variierter Form sind Passagen aus Kap. 2.1 u. 2.2 in Ernst 2014a eingegangen.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

tet eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den Beziehungen zwischen Elementen im Diagramm und den Beziehungen zwischen den Elementen eines Objektes.6 Philosophisch konstituiert das Diagramm als Form einen strukturierten ›Denkraum‹. Inferenzen können in diesem Denkraum ref lexiv werden. Alexander Gerner schreibt: »arguments can be inferred, proved, refuted, and hypothesized«.7 Die Frage, wie diese Ref lexivität ausgebildet ist, ist mit dem Problem verknüpft, wo das Diagramm realisiert wird. An dieser Frage scheiden sich die Geister. So erscheint das das Diagramm in verschiedenen Kontexten als ein • darstellungstheoretischer Begriff für eine historisch entwickelte, materiell realisierte Bild- bzw. Zeichenklasse; • epistemologischer Begrif f für eine regelhafte, kognitive Anschauungsform im Rahmen inferenzieller Prozesse; • soziokultureller Begrif f einer die kognitive, materielle und semiotische Dimension umfassenden, historisch wandelbaren soziokulturellen Bedingung von Subjektivierung und Erkenntnis.8 Während der dritte Begriff vornehmlich in der poststrukturalistischen Philosophie bei Michel Foucault, Michel Serres und Gilles Deleuze verwendet worden ist,9 reicht die Geschichte der ersten beiden Varianten, in denen das Diagramm als Repräsentationsmedium und Erkenntnismittel in einem Schlussprozess thematisiert wird, in der Philosophie weit zurück.10 Nur einige historische Schlaglichter seien genannt: In der antiken Philosophie mit Fragen der Geometrie verknüpft, wird das Diagramm bei Platon im Dialog Menon (80e-86c) als Teil eines pädagogischen Experiments beschrieben, in dem durch die Rekonfiguration von Relationen eine in der Ausgangskonfiguration nicht explizite Schlussfolgerung erzielt wird.11 Über die Philosophie des Mittelalters und der Neuzeit, mit einem Höhepunkt im Werk von Nikolaus von Oresme,12 ist es Immanuel Kant, der in der Kritik der reinen Vernunf t und der Kritik der Urteilskraf t den Begriff des Schemas als Vermittlungsform zwischen der Mannigfaltigkeit der Anschauung und der Abstraktionsleistung des Verstandes diskutiert und damit den Prätext für die Diskussion der Diagrammatik durch Charles S. Peirce liefert.13 6 Vgl. die Ausführungen zu »raumbasierter Strukturisomorphie« bei Wöpking 2016, hier S. 14. Dort wird das Kriterium zur Grundlage eines allgemeinen Diagrammbegriffs: »Diagramme sind raumbasierte bzw. spatiale Strukturisomorphismen.« 7 Gerner 2010a, S. 175. 8 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 43f.; für ein anders gelagertes Dreierschema auch Beck/Wöpking 2014, S. 348. 9 Dieser Begriff hat, vermittelt über die nach wie vor anhaltende Prominenz dieser Philosophien, in der gegenwärtigen Forschung einigen Einfluss. Vgl. z.B. Gehring 1992; Reichert 2013. Eine jüngere Adaption auf die Fernsehserie findet sich bei Wentz 2017, insb. S. 284ff. 10 Vgl. die Beiträge in Gehring et al. 1992b. 11 Vgl. zu Platon Krämer 2016, S. 145ff. 12 Vgl. Wöpking 2016, S. 136ff. 13 Vgl. zur Geschichte der Diagrammatik auch Schneider/Ernst/Wöpking 2016. Einen exzellenten Überblick, der nicht auf eine einzelne Kultur, Epoche oder Form konzentriert ist, gibt Drucker 2014, insb. S. 65ff. Vgl. auch die ausgewählten Beispiele in Krämer 2016, S. 26ff., zu Kant S. 235ff.

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Teils unabhängig, teils ausgehend von Peirces Deutung, ziehen sich seitdem verschiedene Rezeptionslinien bis in die kulturwissenschaftliche Theoriebildung. Peirce verhandelt das Diagramm im Kontext seiner Theorie der Ikonizität als ein Phänomen struktureller Ähnlichkeit des Zeichens. Nach Peirce sind Diagramme dadurch gekennzeichnet, dass sie die »Relationen der Teile eines Dings durch analoge Relationen ihrer eigenen Teile darstellen«.14 Aufgrund dieser Eigenschaft ermöglichen Diagramme verschiedene Repräsentationsleistungen, etwa logische Ableitungen. Diese Funktion des Diagramms als Inferenzschema ergibt sich z.B. bei Teil-Ganzes-Relationen. Wichtige Forschungen sind hier in der Mathematik, der Informatik und den Kognitionswissenschaften zu finden. Dort wird das Diagramm im Kontext der Diskussion der logischen Potenziale von diagrammatischen Darstellungssystemen thematisiert, also in Fortführung von Fragen der Geometrie und der Graphenlogik, wie sie sich beispielsweise Leonhard Euler und John Venn gestellt haben und an deren Entwicklung auch Peirce maßgeblich beteiligt war.15 Eingeschrieben ist der Diskussion aber immer schon ein breiteres Verständnis vom Diagrammatik. Michael Hoffmann, der sich ebenfalls auf Peirce stützt, vermerkt: »Nach dem hier im Anschluss an Peirce zu Grunde gelegten Verständnis des Begriffs ›Diagramm‹ handelt es sich bei Diagrammen um Darstellungen von Relationen, die mit den Mitteln eines möglichst konsistenten Darstellungssystems konstruiert werden, seien dies axiomatisierte Theorien oder durch ihre Grammatik beschreibbare Sprachen oder sonstige Darstellungsmöglichkeiten. Für ›diagrammatisches Schließen‹ ist die Konstruktion von Diagrammen mit solchen Mitteln und das Experimentieren mit ihnen nach den Regeln des gewählten Repräsentationssystems wesentlich. Diagrammatisierung eröffnet so gleichsam eigenständige ›semiotische Welten‹, die durch die Rationalität des gewählten Darstellungssystems strukturiert sind.« 16 Auch wenn Hoffmann einen enger gefassten Diagrammbegriff bevorzugt, deuten seine Ausführungen an, dass Diagrammatisierung – verstanden als eine Praxis – auch im weiter gefassten Sinn ein Akt der Rationalisierung ist, der zwar in Diagrammen in besonders konsistenter Form vorliegt, prinzipiell aber nicht an einen engen Diagrammbegriff gebunden ist.

14 Im Original heißt es: »[…] those [icons, CE] which represent relations, mainly dyadic, or so regarded, of the parts of one thing by analogous relations in their own parts, are diagrams« (Peirce 1998a, S. 274). Vgl. hier auch Stjernfelt 2007, S. 90. Vgl. zudem Posner 2009, S. 217: »Ein Diagramm ist ein Zeichen, das auf einen anderen Gegenstand dadurch verweist, dass es Teile hat, zwischen denen Relationen bestehen. So kann eine Figur, die drei Seiten hat, welche sich an drei Punkten kreuzen, auf ein Dreieck verweisen, da ein Dreieck drei Seiten hat, die sich an drei verschiedenen Punkten kreuzen.« 15 Vgl. einführend die historischen Bemerkungen bei Drucker 2014, S.  52ff., S.  112ff. Weiterführende Auseinandersetzungen finden sich in Moktefi/Shin 2013; Shin 2002; Shin 2012. 16 Vgl. Hoffmann 2005, S. 4ff. hier S. 5, siehe auch S. 127f.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

2.1.1 Diagramme als Medien der Wissensgenerierung In dieser Hinsicht konkreter wird Johanna Drucker, die als Grundlage von grafischen Visualisierungen generell,17 insbesondere aber diagrammatischen, drei Basisoperationen identifiziert hat, die Hoffmanns Beobachtung einer Rationalisierung treffend kommentieren. Drucker stellt fest: »Visualizations and diagrams depend on the same basic graphic principles as other visual sign systems: the rationalization of a surface (setting an area or space apart so that it can sustain signification), the distinction of figure and ground (as elements of a co-dependent relation of forces and tensions in a graphical field), and the delimitation of the domain of visual elements so that they can function as a relational system (framing or putting them in relation to a shared reference). Without these basic principles, no graphical system can work.« 18 Interessant ist hier, dass die ›Rationalisierung‹ (»rationalization«) nicht auf die Rationalität des Darstellungssystems, sondern auf die Ebene der Isolierung einer Fläche bezogen wird, die zeichenhafte Einschreibungen tragen kann.19 Gemeint ist damit ein anderer Begriff von Rationalisierung, der sich aus einer Ebene körperlicher Interaktion herleitet. Darauf auf bauend werden dann Elemente wie Figur und Grund identifiziert, die Kräfte und Spannungen ausdrücken. Diese Kräfte und Spannungen haben – so kann man ergänzen – eine implizite Rationalität, die mit der dritten Ebene korrespondiert. Die dritte Ebene ist dann das, was auch bei Hoffman als rationales Darstellungssystem erscheint: die explizite Rationalität eines diagrammatischen Darstellungssystems. Druckers beeindruckende historische Aufarbeitung von verschiedenen Varianten diagrammatischer Visualisierungsformen macht es plausibel, das Feld der ›Diagrammatik‹ in dieser Weise zu erweitern. Dass Drucker sich im Kontext ihrer Beschäftigung mit Diagrammatik auch der Interface-Theorie zugewandt hat,20 ist nicht überraschend. Seit der Hochphase der Graphical User Interfaces von Anfang der 1980er bis ca. 2010 können Interfaces als ein primärer Gegenstand gelten, in dem, wie auch Janet Murray argumentiert hat, die – für alle Diagrammatik zentrale – verräumlichte Anordnung von Informationen zum Phänomen der Aushandlung von menschlicher Interaktion und maschineller Operativität wird.21 Im Hinblick auf die Organisation räumlicher Elemente und ihrer Beziehungen zueinander wird, so etwa von Sybille

17 Drucker (2014) spricht von »Visual Forms of Knowledge Production«. Einen ähnlichen Ansatz wie Drucker verfolgt auch Tversky 2011; Tversky 2015, hier insb. S. 100ff. 18 Drucker 2014, S. 71. 19 Vgl. auch Heßler/Mersch 2009a, S. 26, S. 33. Dort wird zwischen materieller Struktur des Diagramms als Raumding und semiotischer Räumlichkeit des diagrammatisierten Bezugsobjektes unterschieden. 20 Vgl. Drucker 2014, S. 138ff. 21 Vgl. Murray 2012, insb. S. 161ff. Zum Interface in Relation zur Operativität von Computern auch Distelmeyer 2017.

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Krämer, deshalb sinnvollerweise zwischen einem »Strukturraum« und einem »Bewegungsraum« unterschieden.22 Der Strukturraum ist der stabile und statische Raum der Orte, die in Beziehungen zueinander stehen; der Bewegungsraum hingegen ist ein temporärer Raum, der relativ zu den Bewegungen von Akteuren entsteht. Mit Blick auf ein Interface stellt Krämer fest: »Die beiden Raumaspekte schließen sich nicht aus, sondern ein. Das demonstriert das Navigationsgerät, welches den objektiven Strukturraum einer Karte in einen subjektiv orientierten Bewegungsraum transformiert.«23 Diese Unterscheidung wird von Krämer mit der Leitidee ihrer Diagrammatik bzw. Diagrammatologie in Verbindung gebracht: »So, wie der kartographische Impuls eine Strategie ist, Orientierungsprobleme unserer praktischen Mobilität zu lösen, so verkörpert die Kulturtechnik flächiger Inskriptionen in Gestalt von Schriften, Diagrammen, Graphen und Karten eine Strategie, Orientierungsprobleme unserer theoretischen Mobilität zu lösen. Kraft dieser Orientierungsleistung werden innerhalb theoretischer Domänen Denkoperationen ermöglicht, die anders kaum zu vollziehen wären. Flächige Inskriptionen können in Bewegungsräume des Denkens und Erkennens, der Einsicht und des Verständnisses, der Komposition und des Entwurfs und nicht zuletzt: der Wissensübermittlung verwandelt werden.«24 Ein ganz ähnliches Argument findet sich bei Johanna Drucker, die zwei Modi diagrammatischer Visualisierungen – eine geschlossene Form (»representations«), die statische Verhältnisse repräsentiert, und eine offene Form (»knowledge generators«), veranschlagt: »A basic distinction can be made between visualizations that are representations of information already known and those that are knowledge generators capable of creating new information through their use. Representations are static in relation to what they show and reference – a bar chart presenting statistics about voting patterns is a good example. Knowledge generators have a dynamic, open-ended relation to what they can provoke; for instance, a train time-table can be used to calculate any number of alternative itineraries.«25 Zwischen beiden Formen besteht nach Drucker eine Spannung, die als solche eine bedeutungstheoretische Fragestellung ist. »But however we classify the visualizations we use, they all require the same analytic approach to expose the workings of their graphical organization as meaning-producing. Diagrammatic images spatialize relations in meaningful way. They make spatial relations meaningful. And they do so according to conventions that embody assump22 Vgl. Krämer 2016, S. 18f., dort im Anschluss an Michel de Certeau. 23 Vgl. Krämer 2016, S. 18f., hier S. 19. 24 Krämer 2016, S. 19. 25 Drucker 2014, S. 65. Vgl. zur Produktivität und Performativität der Form in Diagrammen auch Drucker 2013a, hier S. 88: »These graphical expressions are themselves meaningful as forms – they are a kind of poetics, or poieisis, a bringing into being of meaning through making.«

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

tions about how we translate observation, sensation, perception of phenomena into knowable forms.«26 Drucker bringt hier die zentrale Frage der Forschung auf den Punkt, dass Diagramme und die mit ihnen assoziierten Praktiken der Diagrammatisierung als semantische Sachverhalte zu fassen sind, die nicht außerhalb der Sphäre der Zeichen stehen: »The coming into being of the grounds of meaning-production – through representational relations, formal structures, graphical expressions of logical and rhetorical principles – is deeply engaged with the intuitions that serve a single inquiry – how do structural relations participate in the production of meaning?«27 Und: »If a diagram is an image that works, that does something, as writers across the logical, historical, and philosophical spectrum suggest, then it provokes a reader’s engagement through its structures and the relations they express. A diagram is a graphic expression whose specific spatial and visual features constitute the semantic values. Diagrams are performative, as is clear from the cuneiform tablet and railway schedule examples, rather than representational. They use graphical means to express relations that might be expressed through other means – mathematical formulae, textual description, logical propositions.«28 Semantik ist hier nicht im engeren, linguistischen Sinn zu verstehen, sondern im umfassenderen Sinn als Begriff kultureller Semantik, wobei mediale Verfahren wie Diagrammatisierungen als »operative Logik« von kultureller Semantik anzusehen sind.29 Grundlagentheoretische Fragen der Diagrammatik knüpfen sich daher immer auch an die den alten Begriff der ›Aisthesis‹ betreffende Frage, wie – um Drucker zu paraphrasieren – Beobachtung, Sinneseindrücke und Wahrnehmungen in erkennbare räumliche Formen übersetzt werden. Ein Begriff, der diese Fragen kondensiert und grundlagentheoretisch in der Diagrammatikdebatte folgerichtig viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ist der des Schemas.30 In einem einf lussreichen Strang dieser Debatte gilt das Diagramm als ein Drittes, das, wie der Schema-Begriff bei Kant, zwischen dem Anschaulich-Phänomenalen, das als Einzelfall vorliegt, und dem Begriff lich-Konzeptuellen, welches eine

26 Drucker 2014, S. 66. 27 Drucker 2013a, S. 87. 28 Drucker 2013a, S. 90. 29 Vgl. dazu die Arbeiten von Ludwig Jäger, so etwa mit Blick auf das Verhältnis des Mentalen und der Sprache Jäger 2004, hier S. 15. Dort wird Medialität als die »Bühne der performativen Prozessierung kultureller Semantik« gefasst. 30 In diesem Zusammenhang ist die für die Rolle des Kant’schen Schematismus-Begriffs sehr aufschlussreiche Studie von Lidia Gasperoni (2016) hervorzuheben. Gasperoni zeigt, dass ein prozessuales Verständnis des Schemabegriffs eine Theorie der »Versinnlichung der Bedeutungserfahrung« liefern kann. Vgl. zur Diagrammatik insb. S. 116ff., S. 313ff.

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allgemeine Regel formuliert, vermittelt.31 Im Hintergrund dieser Diskussion schwingt die Frage mit, wie Wahrnehmungseindrücke zu Interpretationen werden. Die Erkenntniskraft und Kreativität solcher »dämonischer« Figuren des Dritten stehen im Zentrum einer langen Tradition der Thematisierung des Schema-Begriffs.32 Von Seiten der kognitiven Linguistik wird in diesem Kontext die Entwicklung einer ›kognitiven‹ Semantik vorangetrieben, die mit der Diagrammatik in Verbindung gebracht worden ist.33 Aus darstellungstheoretischer Perspektive ist das Diagramm daher als eine dritte Form der Darstellung zwischen Bild und Sprache prominent geworden. Vor allem in bildwissenschaftlichen Kontexten ist anhand von wissenschaftshistorischen Beispielen umfänglich aufgearbeitet worden, welche Bedeutung Diagramme bei der Visualisierung von unanschaulichen Daten haben oder welche Erkenntniskraft ihnen in den Praktiken der Erkenntnisproduktion zukommt.34 Im Fokus dieser Forschung steht die Frage, welche Repräsentationsmöglichkeiten diagrammatische Darstellungssysteme haben, die andere Darstellungssysteme nicht aufweisen, allen voran das Bild und die Schrift. An diese Debatte konnte sich auch die Literaturwissenschaft beteiligen, die Text-Bild-Relationen oder den Zusammenhang von Diagrammatik und Narration untersucht.35 Begreift man Medien als Umschlagplätze zwischen Präsentation und Repräsentation,36 ist es somit die Frage, von welcher Seite aus man die Diskussion angeht – von der Seite der interpretativen Erkenntnisprozesse, die mit mentalen Schemata vollzogen werden, oder von der Seite der Erörterung der Darstellungspotenziale von Diagrammen. Die erkenntnistheoretische Debatte um die Diagrammatik changiert somit zwischen der Analyse einer bestimmten Form der Wahrnehmung (Kognition) und einer bestimmten Form der Darstellung. Aufgrund ihres Bestrebens, die Dinge aus Perspektive einer Beobachtung zweiter Ordnung zu betrachten,37 hat die Medienwissenschaft in dieser Diskussion einiges zu sagen. Ebenso, wie das Fach davon profitiert, die Diagrammatik in das Portfolio medienwissenschaftlicher Forschung aufzunehmen und zur Analyse der eigenen Gegenstandsbereiche zu nutzen,38 kann es seinerseits auch einen Beitrag zur übergeordneten interdisziplinären Debatte leisten. Insbesondere kann die Medienwissenschaft dazu beitragen, die Problematik der medialen Verkörperung von diagrammatischen Erkenntnisprozessen weiter auszuarbeiten.39 31 Vgl. Gasperoni 2016, hier S. 89ff.; Krämer 2016, S. 247ff.; Mahrenholz 2011, S. 258ff.; Stjernfelt 2000. 32 So die Formulierung von Mahrenholz 2011, S. 258, dort in Anlehnung an Platon. Vgl. zur Figur des Dritten die Beiträge in Eßlinger et al. 2010. Vgl. auch Gasperoni 2016, S. 89ff. 33 Vgl. etwa Eco 2000; Lakoff 1987; Stjernfelt 2007. Einen Überblick über die Schnittmenge zwischen Semiotik und kognitiver Linguistik bzw. Kognitionswissenschaften gibt der zweite Band der Textauswahl in Stjernfelt/Bundgaard 2011. Vgl. zur Debatte um Ikonizität an den Schnittstellen zur kognitiven Semiotik auch die Beiträge in Johansson/Skov/Brogaard 1999 sowie den frühen Band Eco/ Santambrogio/Violi 1988. 34 Vgl. u.a. Heintz/Huber 2001; Heßler/Mersch 2009b; Bredekamp/Schneider/Dünkel 2008. 35 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 109ff.; Lapacherie 1990 sowie die Beiträge in Bleumer 2014. 36 Vgl. Krämer 2008, S. 25ff. 37 Vgl. hier auch Pias 2011, S. 16f. 38 Vgl. exemplarisch Irrgang 2016; Wentz 2017. 39 Vgl. dazu im Erscheinen auch Irrgang 2020.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

Angesichts der Komplexität der aufgeworfenen Problemhorizonte sind gleichwohl sehr unterschiedliche Herangehensweisen möglich. Im Folgenden entscheide ich mich für eine vergleichsweise traditionelle Perspektive, die relativ nah an der interdisziplinären Debatte orientiert und dabei auch bestimmte Kontexte bewusst ausblendet. Dazu gehört etwa eine tiefergreifende Diskussion poststrukturalistisch inspirierter Definitionen des Diagramm-Begriffs.40 Für medienwissenschaftliche Ansätze, die etwa Begriffe wie den des ›Dispositives‹ stark machen, mag diese Entscheidung als bedauernswert oder gar problematisch empfunden werden. Mir geht es jedoch um andere theoretische Traditionen, insbesondere semiotische, pragmatistische und kognitionstheoretische Ideen, in denen die Diagrammatik als eine inferenzielle Praxis aufgefasst wird. Der wesentliche Anschlusspunkt dafür ist der doppelte Medienbegriff der Kulturtechnikforschung.

2.1.2 Kulturtechnik und das Motiv des ›Vorrangs der Praxis‹41 Die deutsche Diagrammatik-Forschung hat insbesondere durch die Arbeiten von Sybille Krämer durch die Kulturtechnikforschung entscheidende Impulse erfahren.42 Interessanter Weise ist das Programm dieser Forschung aber auch, in anderem Kontext, von Johanna Druckers ausformuliert worden. Anlässlich ihrer Forschung zu einem »diagrammatic writing« schreibt Drucker: »Diagrammatic writing makes use of graphical organisation for semantic effects. lt engages principles that are integral to logical and philosophical reflections on the processes of meaning-production, but employs them in the rhetorical and poetical spaces of applied design. This shifts the discussion from abstractions to particulars, from discussions of matters of distinction or difference to descriptions of specific practices. Diagrammatic techniques used in note taking express associative thinking about ideas and arguments. The diagrammatic imagination emerges in handwritten doodles and whiteboard sketches, in marginalia and commentary, in outline forms and elaborate lists.« 43 Drucker wendet sich hier gegen eine Perspektive, die von den Differenzen zwischen Medien ausgeht, und betont stattdessen, dass es nötig sei, spezifische Praktiken der »diagrammatic imagination« zu beobachten, die in sehr unterschiedlichen Formen beobachtet werden können. Im Einklang mit der Überlegung, dass Medien und Zeichen nicht deckungsgleich sind, sondern Medien dasjenige sind, worin die Zeichen ›prozessiert‹ werden,44 bemerkt auch Alexander Gerner: »[…] diagrams can be defined as visual-graphic schemata that form and perform arguments in a visual medium«.45 Den hier verwendeten Begriff eines »visual mediums« kann man in einem engeren und einem weiteren Sinn verstehen. Zum einen erscheinen Diagramme als konventio40 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 311ff. 41 Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch Ernst 2017b, S. 7ff., S. 15ff. 42 Siehe programmatisch Krämer/Bredekamp 2003; Krämer 2005; Krämer 2006. 43 Drucker 2013a, S. 100f. 44 Vgl. Winkler 2008b. 45 Gerner 2010a, S. 175.

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nalisierte Zeichen, die in einem ›visuellen Medium‹ zu kommunikativen Zwecken verwendet werden, zum Beispiel als Abbildung in einem Buch oder als grafische Darstellung in einem Film.46 Davon abzugrenzen ist ein weit gefasster Medienbegriff, in dem schon die Praxis des Einzeichnens von Relationen in den Sand oder das Einzeichnen von Linien in eine Konfiguration von Zetteln an einer Pinnwand als Diagrammatisierungen in einem ›visuellen Medium‹ durchgehen. Was hier anklingt ist die kulturtechnische Umformulierung des Medienbegriffs, wie sie insbesondere bei Bernhard Siegert und Erhard Schüttpelz zu finden ist.47 Kulturtechniken beziehen sich demnach einerseits auf die Praktiken des Umgangs mit in Medien repräsentierten, konventionalisierten Zeichen wie Lesen und Schreiben (Schrift), Malen und Zeichen (Bild) oder Rechnen (Zahl), aber auch auf Diagramme, Karten und Messverfahren. Sind diese Kulturtechniken an einen engen Begriff von Medien im Sinne von ›Medien der Kommunikation‹ gebunden, so bildet andererseits ihre Eigenschaft, ›Praktiken‹ zu sein, die Brücke zu einem weiter gefassten Medienverständnis, demzufolge auch materielle Objekte, z.B. Türen, als Medien der Welterschließung aufzufassen sind. Wie etwa Erhard Schüttpelz ausführt, prozessiert etwa die Tür eine für den ›Zugang‹ zur Welt grundsätzliche Differenz wie Innen/ Außen.48 In diesem weit gefassten Sinn sind Medien gegenüber etablierten Differenzen ein ›Drittes‹. Sie erschließen die Welt über ›technische‹ Praktiken und suggerieren durch die Gewöhnung an diese Praktiken eine Natürlichkeit des Umgangs mit der Welt.49 Der Schlussfolgerung, dass dieser doppelte Medienbegriff auf eine »abschließende Identifizierung mit Kulturtechniken«50 hinauslaufe, muss man dabei nicht folgen, um sich die Vorteile eines solchen, von der Praxis her konzipierten, Verständnisses von Medien zunutze zu machen.51 Grundsätzlich betrachtet wird von der Kulturtechnikforschung eine sowohl aus dem philosophischen Pragmatismus als auch der sozialwissenschaftlichen Theoriediskussion gut bekannte Perspektive einer Priorisierung der Praxis verfolgt.52 Anschaulich auf den Punkt gebracht ist diese Perspektive in der wohl am meisten zitierten Formulierung der Kulturtechnikforschung. Sie stammt von Thomas Macho:

46 Eine mögliche Unterscheidung ist die in (a) »sinnliche Wahrnehmungsmedien« wie Luft oder Schall, (b) »semiotische Basismedien« wie Sprache, Schrift, Bild, Ton, Zahl und (c) »technische Verbreitungs-, Speicher- und Verarbeitungsmedien« wie Telegrafie, Fotografie, Radio, Fernsehen, Film sowie den Verwendungen des Computers als Medium. Vgl. Luhmann 2001, S. 81ff.; Sandbothe 2005, S. XV. Diagramme sind im Kontext der semiotischen Basismedien Bild, Schrift, Ton und Zahl zu sehen. Vgl. zu diesen Basismedien im Kontext einer Theorie des Darstellens Mersch 2003. 47 Vgl. Schüttpelz 2006, S. 89f., dort mit Blick auf die Arbeiten von Bernhard Siegert. 48 Vgl. Schüttpelz 2006, S. 89. 49 Vgl. auch Siegert 2011, S. 117. 50 Schüttpelz 2006, S. 90. 51 Vgl. zu dieser Debatte auch die Diskussion um den Begriff der »Operationskette« bei Maye 2010, S. 127f., S. 131f. Zur neueren Debatte vgl. Heilmann 2016. 52 Vgl. aus philosophischer Perspektive auch Bertram 2003. Bei Johanna Drucker wird aus der Privilegierung der Praxis allerdings keine Kritik von Strukturtheorien abgeleitet. Vielmehr peilt sie deren Wiederentdeckung an. Vgl. bereits Drucker 2013b, S. 4f.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

»Kulturtechniken – wie Schreiben, Lesen, Malen, Rechnen, Musizieren – sind stets älter als die Begriffe, die aus ihnen generiert werden. Geschrieben wurde lange vor jedem Begriff der Schrift oder des Alphabets; Bilder und Statuen inspirierten erst nach Jahrtausenden einen Begriff des Bildes; bis heute kann gesungen und musiziert werden ohne Tonbegriffe oder Notensysteme. Auch das Zählen ist älter als die Zahl. Zwar haben die meisten der bekannten Kultur gezählt oder bestimmte Rechenoperationen durchgeführt; aber sie haben daraus nicht zwangsläufig einen Begriff der Zahl abgeleitet.«53 Vor dem Hintergrund von Johanna Druckers Ausführungen lässt sich dieser Gedanke leicht auf die Differenz von Diagramm und Diagrammatisierung übertragen. Diagrammatisierung findet demnach in Praktiken statt, ohne dass man im gattungstheoretischen Sinn ein Diagramm zur Hand haben muss. Vor der Differenz kommt die Praxis. Allerdings sind auch die ideengeschichtlichen Voraussetzungen zu beachten. Im Pragmatismus, sei es in den US-amerikanischen Traditionen oder den Varianten pragmatischen Denkens, die in der kontinentalen Tradition der Philosophie zu finden sind,54 und in der Sozialtheorie ist diese ›Vorrang der Praxis‹-Perspektive schon oft ausformuliert worden.55 Originell ist der Ansatz deshalb hier zunächst einmal nur vor dem Hintergrund interner Debatten in der Medientheorie, wie sie ab ca. Anfang der 2000er-Jahre geführt wurden. Seit Mitte der 1990er-Jahre war die medientheoretische Debatte durch eine schleichende Erschöpfung der differenzlogischen Konstruktivismen geprägt. Eine entscheidende theoretische Frage der frühen 2000er-Jahre war, wohin die Einsichten und Annahmen dieses Paradigmas weiterentwickelt werden müssen. Als einer der wichtigsten Diskussionskontexte erweis sich dabei die Frage nach der Verschränkung der Praxis mit einem neuen Denken der Technik. Im philosophischen Pragmatismus, der stark durch die Sprachphilosophie geprägt ist, hat diese Seite von Praktiken nur sehr wenig Beachtung gefunden. Offener für die Technik waren Vermischungen des Pragmatismus mit kontinentalen Traditionen, etwa an der Schnittstelle zur Phänomenologie.56 In der medientheoretischen Rezeption der ›Vorrang der Praxis‹-Perspektive noch bedeutsamer war dann allerdings die sozialtheoretische Debatte um eine praxistheoretische Begründung von Sozialität, haben diese Diskurse doch nicht nur als erste wirklich von einer ›Praxistheorie‹ gesprochen, sondern auch Einsichten aus dem Umfeld der Science-and-Technology-Studies (STS), so etwa die in der Medientheorie sehr prominente Akteur-Netzwerk-Theorie, vollumfänglich berücksichtigt.57 Geht man also auf die Frage zurück, wie eine ›Vorrang der Praxis‹-Perspektive theoretisch begründet werden kann, ergeben sich sehr verschiedene Möglichkeiten. Eine der Schlüsselfragen betrifft die Rolle, die man dem Körper in Kulturtechniken zuspricht.58 Selbst im Rahmen der Kulturtechnikforschung ist eine ›Vorrang der Praxis‹-Perspektive nicht zwangsläufig deckungsgleich mit einer ›Technik-zuerst‹-Per53 Macho 2003, S. 179. Vgl. Maye 2010, S. 121f.; Schüttpelz 2006, S. 87; Siegert 2011, S. 98. 54 Vgl. die Darstellung des pragmatistischen Denkens bei Brandom 2011b. 55 Vgl. die grundlegenden Beiträge zum »Practice Turn« in Schatzki/Knorr-Cetina/Savigny 2001. 56 Vgl. dazu weiterführend unter Rückgriff auf Don Ihde im Erscheinen die Arbeit von Irrgang 2020. 57 Vgl. Reckwitz 2003. 58 Vgl. Maye 2010, S. 122f.; Schüttpelz 2006, S. 89f.; Siegert 2011, S. 99f.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

spektive. Vor diesem Hintergrund soll hier ein Schritt hinter die aktuelle, durch die Techniktheorie geprägte, Debatte zurückgegangen und eher (medien-)philosophische Motive aufgegriffen werden. Zwar wird ausgehend von einem Vorrang der Praxis gedacht, dabei aber nicht die Verschränkung von Praxis mit Technik betont gestellt, sondern die Frage nach der Konstitution von Bedeutung. Der Ausgangspunkt für dieses Unterfangen ist die von Robert Brandom so bezeichnete »fundamentalpragmatische« Grundunterscheidung, die Joachim Renn aus Anlass einer Diskussion von Fragen des Kulturvergleichs auf die Differenz zwischen impliziter, praktischer Zugangsweise und expliziter (begrif f licher), repräsentierender Darstellungsweise gebracht hat. Diese Unterscheidung besagt, dass alle expliziten, repräsentierenden Darstellungsweisen auf Grundlage von impliziten, praktischen Zugangsweisen ausformuliert sind, also alle explizite Repräsentation in einer Darstellungsweise eine Praxis ist, die wiederum eine implizite, praktische Zugangsweise voraussetzt.59 Folgt man Robert Brandom, dann findet sich diese Unterscheidung in der Tradition der pragmatistischen Philosophie in verschiedenen Denkfiguren, die allesamt auf besagten »fundamental pragmatism«60 hinauslaufen. Mit der klassischen Unterscheidung Gilbert Ryles wird in diesen Ansätzen alles »knowing-that«, also alles Wissen-dass, als Variante eines »knowing-how«, eines Wissen-wie, aufgefasst. Die im Denken manifestierte Ausbildung von Überzeugungen eines »knowing-that«, also von Überzeugungen, dass etwas der Fall ist, muss in Begriffen eines »knowing-how« dessen gefasst werden, wie etwas in einer Gemeinschaft getan wird.61 Eingeschlossen ist darin nun aber auch eine starke Betonung des Gegensatzes zwischen »skillful practice« und »explicit representation« – und zwar in dem Sinn, dass die Repräsentation nicht das Erste ist, von dem her sich Bedeutung entwickelt. Den Anfang bilden vielmehr Praktiken, aus denen in verschiedenen Schritten der Konkretisierung explizite Repräsentationen hervorgehen.62 Die Praktiken sind sowohl auf Ebene der impliziten Zugangsweise als auch auf Ebene der expliziten Darstellungsweisen somit in die materielle Umwelt verstrickt und in die Welt der sozialen Normen eingebunden. Indirekt hat die Kulturtechnikforschung hierauf reagiert, indem sie eine Priorität der Technik im Umgang mit der materiellen Welt veranschlagt, wobei die Technik allerdings nicht der Kultur gegenübersteht, sondern eine soziale Hervorbringung ist. Gegen dieses Argument ist wenig einzuwenden, es hat aber einen blinden Fleck, der für erkenntnistheoretische Debatten rund um die Diagrammatik zu beachten ist. Praktiken nur auf die Technik zu beziehen, ist in dem Moment zu einseitig, wenn dieser Ansatz dazu führt, dass die kognitive Seite von Praktiken übersehen wird. Diese Seite besteht darin, dass Praktiken – das ist ein zentrales Argument bereits der Philosophie von Charles S. Peirce ( Kap. 3.1) – den Vollzug von Inferenzen, also Schlussfolgerungen, einschließen. Über die kognitive, für alle Analyse von ›Denken‹ aber entscheidende, Seite von Praktiken erfährt man in der technikzentrierten Kulturtechnikforschung nicht allzu viel. In dieser Hinsicht sind vielmehr Ansätze aus der 59 Vgl. Renn 2005, S. 200f. 60 Vgl. Brandom 2011b, S. 9ff. 61 Vgl. Brandom 2011b, S. 9. Mit Heidegger gesagt, wird, wie Brandom bemerkt, die »Vorhandenheit« in Begriffen der »Zuhandenheit« erklärt. 62 Vgl. Brandom 2011b, S. 11.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

Philosophie bzw. Kognitionswissenschaft besser aufgestellt, die, wie man kulturtechniktheoretisch sagen würde, die Semantik ›epistemischer Praktiken‹ zum Gegenstand haben. Allerdings ergibt sich dann das Problem, dass die Rolle der Kognition auf eine Weise erklärt werden muss, in der das Verhältnis der materiell-kausalen und die sozial-normativen Aspekte von Kognition nicht unbestimmt bleibt. Eine streitbare, aber sehr klare Einschätzung hat Robert Brandom im Kontext seiner Problematisierung der Begriffe der Repräsentation und der Inferenz gegeben. Nach Brandom muss man von einer dreigliedrigen Unterscheidung zwischen »Subpersonal representations«, »Practical abilities (practices) that are cognitive in some broad sense« und »Personal level representations« ausgehen.63 Hinter dieser Unterscheidung verbirgt sich folgende Aufgliederung: • »Subpersonale Repräsentationen« sind Interaktionen der Kognition mit der Umwelt, die automatisiert sind und als Kausalitäten beobachtet werden können. • »Praktische Fähigkeiten, die kognitiv im weitesten Sinn sind«, sind Inferenzen auf Ebene impliziter Zugangsweise, die als ein Wissen-wie soziokulturellen Normen unterliegen. • »Repräsentationen auf personaler Ebene« sind Inferenzen auf Ebene expliziter Darstellungsweise, die sich einem Prozess des Explizitmachens verdanken (bewusstes Denken). Nach Brandom ist die Aufgabe der Kognitionswissenschaft, die Ebene der subpersonalen Repräsentationen zu beschreiben, die als Kausalitäten in der Interaktion mit der Welt beobachtbar sind. Davon abgegrenzt werden müssen jene kognitiven Praktiken, die als Teil einer impliziten Zugangsweise entstehen, und solche personalen Repräsentationen, die als explizite Darstellungsweise vorliegen. Während die subpersonalen Repräsentationen aus kausalen Beziehungen entstehen, handelt es sich bei den beiden Letzteren um normative, also durch Kultur und Gesellschaft vermittelte, inferenzielle Zusammenhänge.64 Brandom erläutert dies unter Inanspruchnahme der Unterscheidung zwischen einer praktischen und einer diskursiven Intentionalität so: »Level (c) is the explicit properly propositional level, at which rules and principles are formulated that can express what is implicit at level (b). Level (b) is practical intentionality, and level (c) is discursive intentionality. Level (a) causally explains level (b) […]. The fundamental pragmatism claim is that level (c) is to be understood, explained, or explicated in terms of level (b). Cognitive science is the business of postulating inner subpersonal representations in order to explain various kinds of skillful practice or ability.« 65 Für Brandom gilt somit, dass die Erklärung der Konstitution von Ebene (b), also die Ebene von kognitiven Praktiken im soziokulturellen Sinn, eine Ebene der kausalen Begriffe (a) einschließt. Was nach Brandom aber nicht geht, ist (b) in Begriffen von

63 Brandom 2011b, S. 12. 64 Brandom 2011b, S. 11f. 65 Brandom 2011b, S. 12.

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(c) zu erklären, also die impliziten kognitiven Praktiken in Begriffen der expliziten Repräsentation.66 Brandoms Aufgliederung macht deutlich, dass es keinen Begriff von Praxis ohne einen Begriff von Kognition gibt, umgekehrt aber ein Begriff von Praxis etabliert werden, der, wie es die Kulturtechnikforschung ebenfalls geltend macht, nicht bei der Ebene der expliziten Repräsentation ansetzt. Somit bezieht sich eine ›Vorrang der Praxis‹-Perspektive auf einen Vorrang von Ebene (b), schließt im Übergang von Ebene (a) zu Ebene (b) aber eine kognitive Implikation mit ein. Die implizite Ebene der praktischen Fähigkeiten, die kognitiv im weitesten Sinn sind, bestimmt einerseits die subpersonale Ebene kognitiver Leistungen, die kausal, aber nicht normativ sind – also folglich auch keinen normativen Wahrheitsbedingungen unterliegen. Andererseits sind die impliziten Praktiken den expliziten Repräsentationssystemen vorgeordnet, etwa diagrammatischen oder algorithmischen. Dafür setzt Brandom unter Berufung auf Wilfrid Sellars den Begriff der »materialen Inferenzen« ein. Innerhalb der Debatte um den Status der formalen Logik in der Philosophie beschreibt dieser Begriff den Umstand, dass material richtige Inferenzen, die sich aus der Bedeutung von Begriffsgehalten der Alltagssprache ergeben, den formallogisch richtigen Inferenzen, die von diesen Bedeutungen absehen können, systematisch vorgeordnet sind.67 Zurückgewiesen wird von Brandom auf diese Weise die Gleichsetzung einer inferenziellen Gliederung mit einer logischen Gliederung. Diese Gleichsetzung führt nach Brandom dazu, dass die materialen Inferenzen gegenüber der formalen Logik als abgeleitet erscheinen, tatsächlich aber als vorrangig anzusehen sind.68 Gelesen vor dem Hintergrund seines eigenen philosophischen Entwurfs, klassische Begriffe der Referenz und der Repräsentation durch Begriffe der Inferenz zu ersetzen, bezieht sich Brandom somit auf den Umstand, dass die begriff lichen Gehalte in sprachlichen Äußerungen, die im Rahmen von Sprechhandlungen als Prämissen und als Konklusionen dienen können, als Inferenzbeziehungen der jeweiligen empirischen Ausdrücke in einer Sprache verstanden werden können. Aus der Feststellung ›Jetzt ist ein Blitz zu sehen‹ kann die Folgebeziehung ›Bald ist ein Donner zu hören‹ abgeleitet werden; wenn man sagt, ›Pittsburgh liegt westlich von Princeton‹, dann kann man ›Princeton liegt östlich von Pittsburgh‹ daraus ableiten.69 Brandom stellt fest: »Die Billigung dieser Inferenzen ist Teil des Begreifens und Beherrschens dieser Begriffe, ganz unabhängig von irgendeiner spezifisch logischen Kompetenz.«70 Brandom versteht das Akzeptieren und Argumentieren auf Grundlage dieser Inferenzen mithin als ein praktisches Beherrschen dieser Begriffe. Eine gesonderte formale logische Kompetenz, von der diese Inferenzen als verkürzte Formen angenommen werden, muss nach Brandom nicht auf Ebene des praktischen Wissens-wie angenommen werden. Fundamentalpragmatisch stellt er fest: »Eine wichtige Überlegung lautet, daß sich das 66 Vgl. Brandom 2011b, S. 13. 67 Vgl. Brandom 2001, S. 76ff., dazu auch Jäger 2004, S. 27, sowie ausführlich Bernstein 2016, S. 203ff. Dort wird eine aufschlussreiche Querbeziehung zum dialektischen Denken Adornos hergestellt und Brandoms Ideen auf diese Weise für ein erweitertes Verständnis von Materialität geöffnet. 68 Vgl. Brandom 2001, S. 76. 69 Brandom 2001, S. 76. 70 Brandom 2001, S. 76.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

Konzept formal gültiger Inferenzen ganz unproblematisch aus dem der material richtigen Inferenzen definieren läßt, wohingegen es den umgekehrten Weg nicht gibt.«71 Wendet sich Brandom hier gegen einen Begründungsanspruch der formalen Logik innerhalb sprachphilosophischer Debatten, der für einen Vorrang des (impliziten) Beherrschens von Praktiken gegenüber einer (expliziten) logischen Formalisierung insistiert,72 so lässt sich in der Gegenrichtung allerdings auch fragen, inwieweit Brandoms eigenes Verständnis von materialer Inferenz über seinen pragmatistischen Ansatz heraus in Richtung kognitiver und materieller Sinndimensionen überschritten werden muss. Gibt es – die Schlagworte »Verkörperung« und »Exteriorität« sind hierfür einschlägig73 – ›tiefere‹ Schichten und andere, auch nicht an die Sprache gebundene, Formen ›materialer Inferenzen‹, die auf ein breiteres inferenzielles Geschehen in der Interaktion mit der Umwelt verweisen? Aus Sicht der Diagrammatik ist beispielsweise die Rolle von körperlichen Praktiken wie denen der Geste interessant. Nach Einschätzung von Barbara Tversky sind Gesten unterhalb der Ebene der Sprache angesiedelt und verbinden dort mentale Repräsentation mit spezifischen Praktiken dahingehend, als sie dem abstrakten Denken den Raum als eine Bedeutungsdimension, die aktiv für Inferenzen genutzt werden kann, erschließen: »Gestures and diagrams are deeply intertwined; both are created by actions of the hands. Diagrams can be viewed as crystallized gestures.«74 Betroffen ist von dieser Frage insbesondere die Grenze zwischen subpersonalen Repräsentationen und Praktiken, die im weitesten Sinne kognitiv sind, nämlich genau dann, wenn herausgearbeitet wird, inwiefern es Inferenzen gibt, die im impliziten Wissen der Praktiken, die im weitesten Sinne kognitiv sind, inferenziell an der Entstehung von Bedeutungen beteiligt sind, ohne dass sie deshalb in eine problematische Begründung sozialer und kollektiver Leistungen aus dem ›Geist‹ münden. Wie sieht es also mit einer ›kognitiven‹ Semantik innerhalb der Praktiken aus, die im weitesten Sinne kognitiv sind – eine Semantik also, die, führt man den Gedanken weiter, auch dazu führen könnte, dass der Begriff der ›subpersonalen Repräsentation‹ aufgegeben (und potenziell durch den einer subpersonalen Inferenz ersetzt) werden müsste? Brandom zielt mit seinen Bemerkungen zu subpersonalen Repräsentationen vor allem auf jene Formen von Kognitionswissenschaft ab, die in Begriffen der mentalen Repräsentation denkt.75 Was bei Brandom außen vor bleibt, sind solche neueren Philosophien der Kognition, welche die Kognition im Framework der sogenannten 4E-Theorien als »embodied«, »embedded«, »extended« und »enacted« auffassen.76 Der Begriff der Repräsentation wird dabei durch Funktions- und Praxisbegriffe ersetzt. Die kognitionswissenschaftliche Debatte nähert sich in diesen Kontexten einem pragmatistischen Verständnis an und wirft auch das Problem der Technik neu auf.

71 Brandom 2001, S. 79. 72 Vgl. auch Bernstein 2016, S. 204. 73 Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild 2013b; Koch/Krämer 1997. 74 Vgl. Tversky 2015, hier S. 113. Vgl. auch Tversky 2011; Tversky/Kessel 2014. 75 Vgl. auch Jäger 2004, S. 20. 76 Vgl. aus Sicht der Philosophie der Kognition Walter 2017, S. 452ff.; mit Blick auf Embodiment und allgemeine Bildtheorie auch Krois 2011.

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2.1.3 Zur Diskussion um 4E-Theorien der Kognition 77 Diese Zusammenhänge lassen sich durch eine Erweiterung von Brandoms Begriff der materialen Inferenz fassen, die hier gleichwohl nur tentativ erfolgen kann. Dass diese Denkrichtung aber nicht abwegig ist, zeigt ein exemplarischer Blick in die neueren 4E-Debatten. Vorab ist dazu einerseits zu konstatieren, dass wesentliche Einsichten der 4E-Theorien aus pragmatistischen und phänomenologischen Positionen heraus entwickelt wurden (oder diese zumindest kritisieren).78 Andererseits ist es offensichtlich, dass Debatten aus diesem Feld mit der auch in der Kulturtechnikforschung diskutierten Frage nach der »Exteriorität des Geistes« abgeglichen werden können.79 Die 4E-Theorien bilden bereits eine ganze Weile einen Bezugspunkt der Debatten um Diagrammatik,80 insbesondere im internationalen, aber auch im deutschsprachigen Kontext.81 Im Fokus steht dabei die sogenannte »Philosophie der Kognition«.82 Als Ausgangspunkt auch einer kognitionswissenschaftlichen Diskussion kann, in variierter Form, die bereits erwähnte Differenz zwischen impliziter Zugangsweise und expliziter Darstellungsweise dienen.83 Diese Unterscheidung geht in Kontexten von 4E-Theorien mit der These einher, dass die kognitiven Prozesse, die den praktischen Zugang zur Welt kennzeichnen, als etwas angesehen werden können, das mit der Welt unmittelbar und direkt verf lochten bzw. in diese eingebettet ist. Zwischen der Unmittelbarkeit eines praktischen Weltverhältnisses und der größeren Mittelbarkeit der expliziten Zugangsweisen wird ein Abhängigkeits- und Fundierungsverhältnis gesehen. Die größere Nähe zur Welt auf Ebene der praktischen Zugangsweise ist gegenüber expliziten Weltzugängen dabei nicht nur primär, sondern begründet, wenngleich auf unterschiedliche Weise, die Form von Kognition in diesen expliziten Zugängen. Die Unterscheidung zwischen praktischen Zugängen, die durch implizites Wissen instruiert sind, und expliziten Bezügen auf die Welt, die einen Begriff von Repräsentation voraussetzen, schreibt sich im Feld kognitionswissenschaftlicher For77 Für wertvolle Hinweise und Kritik zu diesem Abschnitt danke ich Thomas C. Bächle. Siehe für die im Folgenden diskutierte Perspektive auf 4E-Theorien und Diagrammatik auch den von mir mitverfassten Text Bächle et al. 2017, insb. S. 181ff. 78 Vgl. den hervorragenden Überblick über die 4E-Theorien und ihre philosophischen Einflüsse bei Fingerhut/Hufendiek/Wild 2013a. 79 Vgl. Koch/Krämer 1997. Dazu auch Ernst 2017a; Ernst 2017b. Vgl. zur Praxistheorie in der Medienwissenschaft die Beiträge in Bräuchler/Postill 2010; Dang-Anh et al. 2017 sowie programmatisch Gießmann 2018. Vgl. auch im vorliegenden Kontext zudem die Beiträge in Renn/Ernst/Isenböck 2012. Die Differenz zwischen eher dem Konstruktivismus und eher dem Pragmatismus zugeneigten Ansätzen beschreibt bereits Sandbothe 2001. 80 Bereits bei Bauer/Ernst 2010 wird darauf hingewiesen, insbesondere bin ich aber durch Jan Wöpking 2012 darauf aufmerksam gemacht worden. Eine Arbeit, die im weiteren Sinne in diese Richtung anschlussfähig, ist Depner 2016. Vgl. zudem Krämer 2016, S. 11ff. sowie einige der Beiträge in Krämer/ Ljungberg 2016. Im Erscheinen auch Irrgang 2020. 81 Einen sehr guten Einblick in die internationale Diskussion geben die Arbeiten von Barbara Tversky, siehe insb. Tversky 2011; Tversky 2015; Tversky/Kessel 2014. Die Monografie Tversky 2019 konnte hier nicht mehr berücksichtigt werden. Siehe zu Tversky auch Giardino 2016, S. 97ff.; Ernst 2020b. 82 Vgl. Walter 2017. 83 Vgl. zur implizit/explizit-Differenz aus eher kognitionswissenschaftlicher Perspektive auch Kirsh 2009.

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schungen unter der für den Diskurs spezifischen Annahme fort, dass die Kognition über implizite Dimensionen des Weltbezugs konstitutiv in die materielle Umwelt »erweitert« und »ausgedehnt« ist.84 Um den Grundgedanken nachvollziehen zu können, ist zunächst zu berücksichtigen, dass die These von einer Ausdehnung der Kognition mit einem älteren Verständnis von Kognition bricht. In diesem älteren Verständnis wird Kognition als ein Prozess aufgefasst, der im Vollzug von deduktiven und induktiven problemlösenden Inferenzen besteht, die auf interne symbolische Repräsentationen angewiesen sind.85 Wirkmächtig hat Susan Hurley diese ältere Sichtweise als das »Sandwich-Modell« der Kognition bezeichnet. Nach Hurley lautet die Grundannahme dieses Modells, dass eine vertikale lineare Gliederung von Wahrnehmung, Denken und Handeln gibt, in der Wahrnehmung zu Kognition, und Kognition führt zu Handlung führt.86 Kognition ist demnach ein ausschließlich im Gehirn angesiedelter Prozess des schlussfolgernden Denkens, das auf internen Repräsentationen beruht, dank dem Inputdaten aus der Wahrnehmung verarbeitet und in einen motorischen Output umgesetzt werden können.87 Wie Sven Walter überblickend illustriert hat, ist es über die letzten Jahrzehnte zu einer Neuformulierung des Kognitionsbegriffs gekommen.88 Folgenden Punkt dieser Neuformulierung kann man im Anschluss an Walters Ausführungen exemplarisch hervorheben: Wahrnehmung und Handlung sind nicht nur der Input und der Output von Kognition. Die Kognition ist kein drittes Element zwischen Wahrnehmung und Handlung, sondern der Begriff der Kognition schließt Wahrnehmungen und Handlungen mit ein.89 Kognitive Prozesse sind mehr als nur Inferenzen, die in Abhängigkeit von internen (symbolischen) Repräsentationen im Gehirn entstehen. Es muss neu über die Grenzen der Kognition – und das heißt auch: ihre Integration in die Umwelt – nachgedacht werden.90 Kognition ist nicht nur die Verarbeitung eines Inputs aus der Welt, sondern in die materiellen und die normativen ›Strukturen‹ bzw. ›Netzwerke‹ der (sozialen) Welt ausgedehnt.91 Körper und Umwelt sind nicht von der Kognition zu unterscheiden und auch nicht nur sekundäre Mittel. Sie sind jeweils für die Konstitution von Kognition mitverantwortlich.92 Vermutlich sind diese Kritikpunkte in der einen oder anderen Form bekannt.93 Was man allerdings auch sehen muss: Die 4E-Theorien bringen unter ihren vier Schlagwörtern, also »enacted«, »extended«, »embodied« und »embedded«, zwar dahingehend 84 Vgl. Clark/Chalmers 2013. 85 Vgl. hierzu überblickend die Darstellung bei Walter 2014, S. 55ff. 86 Vgl. Hurley 2013, S. 379f., S. 382ff. 87 Vgl. Hurley 2013, S. 379f. 88 Vgl. Walter 2014. Dabei arbeitet Walter auch die Position von Susan Hurley ein. An anderer Stelle spricht er in Bezug auf den weiter gefassten Kognitionsbegriff von einem »liberaleren« Verständnis von Kognition. Vgl. Walter 2017, hier S. 446. 89 Vgl. Walter 2014, S. 67ff. 90 Vgl. Walter 2014, S. 80ff. 91 Vgl. Walter 2014, S. 90ff. 92 Vgl. Walter 2014, S. 55ff. 93 Diese Ideen wurden teilweise im Abgleich mit den phänomenologischen und pragmatistischen Traditionen der Philosophie entwickelt. Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild 2013a, insb. S. 19ff.

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verwandte Überlegungen vor, dass sie, im Großen und Ganzen, die genannten Prämissen teilen. Das heißt aber nicht, dass sie deckungsgleiche Ansätze sind. Obwohl also alle diese Positionen beispielsweise behaupten, dass Kognition nicht nur im Kopf stattfindet, sondern, in einem jeweils näher zu bestimmenden Sinne, ›externalisiert‹ ist, handelt es sich um ein heterogenes Forschungsfeld.94 Insbesondere in der Frage der Konsequenzen der These einer Exteriorität bzw. Externalisierung der Kognition hat sich in der Debatte eine Spannung zwischen ›Embodiment‹-Theorien und ›Extented-Mind‹-Theorien ausgebildet.95 Im Zentrum dieser Spannung steht, oft unterschwellig, mitunter aber auch ausdrücklich, die Frage nach implizitem Wissen. Illustrieren kann man dies, im Geiste des besagten knappen Einblicks in eine komplexe Diskussion, unter Rückgriff auf die von John Haugeland vorgebrachte Kritik an Brandoms Philosophie – und der Problematisierung, die Haugelands eigene Position erfahren hat. In seinem viel rezipierten Aufsatz Mind Embodied and Embedded, auf Deutsch Der verkörperte und eingebettete Geist (1995),96 kritisiert John Haugeland den Ansatz von Robert Brandom, indem er ihn zu einer Gruppe »interrelationistischer« Theorien rechnet.97 Nach Haugeland bemühen diese Theorien »[…] typischerweise die Prämisse, dass das Geistige (oder wenigstens das Kognitive) irgendeine wesentliche Eigenschaft wie Intentionalität und Normativität besitzt und gehen dann zu der Behauptung über, dass diese Eigenschaft nur durch Teilhabe an einem überindividuellen Netzwerk von Relationen möglich ist«.98 Brandoms pragmatistische Philosophie und seinen semantischen Holismus rechnet Haugeland hier hinzu, weil dieser »die für das Denken und seinen Gehalt konstitutiven Normen als durch eine bestimmte Gemeinschaf t instituiert [ansieht, C.E.], d.h. in Relation zu dem Praktiken und Reaktionen von anderen«.99 Haugeland charakterisiert hier das, was Brandom mit seinem Begriff der Praktiken, die im weitesten Sinne kognitiv sind, zu fassen vermag: Kognitive Praktiken, die auf impliziten Wissen beruhen, sind als normative Praktiken zu verstehen. Recht hat Haugeland auch, wenn er geltend macht, dass dieser semantische Holismus Brandoms »kognitive Phänomene als Elemente irgendeiner Klasse von Phänomenen [auffasst, C.E.], von denen jedes seinen bestimmten Charakter nur durch festgelegte Relationen zu den anderen Elementen haben kann, wobei dieser bestimmte Charakter eigentlich in nichts anderem besteht als in seinem ›Ort‹ im größeren Zusammenhang oder im Ganzen.«100 Für Haugeland besteht nun aber ein Problem des interrelationistischen Denkens darin, zu strikt zwischen dem Physikalischen und dem Normativen zu unterscheiden, also zwischen subpersonalen Repräsentationen und Praktiken, die im weitesten Sinn 94 Einen einführenden Überblick geben auch die entsprechenden Kapitel in Stephan/Walter 2013. 95 Vgl. tiefergreifend zu der auch hier wiedergegebenen Problematik die Beiträge in Kiverstein/Clark 2009, insb. die Einleitung der Herausgeber. 96 Vgl. Haugeland 2013, zur Rezeption siehe Kiverstein/Clark 2009, S. 1. 97 Ich referiere diese Kritik Haugelands an Brandom auch in Ernst 2019a, dort im Zusammenhang mit Fragen der Philosophie künstlicher Intelligenz und ihrem Verhältnis zu Fragen des implizitem Wissens. 98 Haugeland 2013, S. 105. 99 Haugeland 2013, S. 105f. 100 Haugeland 2013, S. 106.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

kognitiven Charakter haben. In verschleierter Form schreibt sich damit, jedenfalls in Haugelands Augen, bei Brandom ein Geist/Körper-Dualismus fort. Der Körper fällt nur auf die Seite der kausalen Verhältnisse, die in die Konstitution subpersonaler Repräsentationen hineinspielt. Für die Semantik normativer Inferenzen ist er nicht weiter von Bedeutung. Haugeland stellt fest: »Die interrelationistischen Ansätze behalten […] die prinzipielle Unterscheidung zwischen dem Geistigen und dem Körperlichen bei. Diese Unterscheidung spiegelt sich in Kontrasten wie Syntax versus Semantik, Raum der Gründe versus Raum der Ursachen oder intentionales Vokabular versus physikalisches Vokabular (man beachte, dass alle diese Kontraste nach höherer versus ›niedere‹ Ebene oder innere versus äußere ›Sphäre‹ klingen).« 101 Diese Kritik an Brandom erfolgt bei Haugeland eher en passant, geht es ihm doch vorrangig darum, Brandoms Denken als keine echte Alternative zu einem repräsentationalistischen Verständnis des Geistigen zu erweisen. Das eigentliche Ziel ist also ein anderes, nämlich dieses: »Der Gegensatz zu dieser Trennung – oder diesem Arsenal von Unterschieden – ist nicht der interrelationistische Holismus, sondern etwas, das ich gerne die Innigkeit der Verkörperung und Einbettung des Geistes in der Welt nennen möchte. Der Ausdruck ›Innigkeit‹ soll nicht nur eine notwendige Verbindung oder Abhängigkeit nahelegen, sondern vor allem eine Art Vermengung oder Einheitlichkeit von Geist, Körper und Welt. Er soll ihre Trennung ganz unterlaufen.« 102 Haugeland referiert zwei Grundvorstellungen von Kognition:103 Auf der einen Seite stehen Modelle, die eine auf Repräsentation beruhende Symbolverarbeitung annehmen und diese Symbolverarbeitung von der Wahrnehmung sowie der Handlung trennen. Auf der anderen Seite gibt es Modelle, die von einer »skillful interaction« mit der Umwelt ausgehen und dabei eine nicht trennbare Einheit von Wahrnehmung, Denken und Handlung voraussetzen: »Die primäre Instanz ist […] die Interaktion, die Wahrnehmen und Handeln zugleich involviert und in Echtzeit ablaufen lässt.«104 In dieser zweiten Gruppe von Theorien ist eine Umwandlung (»Transduktion«) von Umgebungsinformationen in Repräsentationen und daraus resultierenden Handlungsimpulsen nicht mehr vorgesehen. Vielmehr geht es, so Haugeland, der sich an dieser Stelle auf Hubert Dreyfus beruft, um die Differenz »Transduktion versus gekonnte (skillful) Interaktion«.105 Entscheidend ist also, dass im zweiten Fall eine direkte Beziehung 101 Haugeland 2013, S. 106. 102 Haugeland 2013, S. 106f. 103 Diese Vorstellungen stehen bei Haugeland im Kontext einer Debatte zu KI und Robotik. 104 Haugeland 2013, S. 122. 105 Vgl. Haugeland 2013, S. 125ff., Hervorh. C.E. Ein Denkbild, um diese Differenz näher zu illustrieren, ist den Arbeiten von Robert A. Wilson zu entnehmen. Demnach gehen die repräsentationalistischen Theorien davon aus, dass Kognition wie ein Hodometer ist, in dem alle Radumdrehungen gezählt und mit der Annahme multipliziert werden, dass jede der Umdrehungen des Hodometers X Metern entspricht. Theorien, die eine praktische Einbettung vorsehen und ganz (bzw. teilweise) auf den

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zwischen dem Medium des Weltbezugs und der Struktur der Welt gegeben ist. Diese zweite Art des Weltzugangs wird von Haugeland (und anderen Autoren im Feld der ›Embodiment‹-Theorien) als etwas begriffen, das durch den Körper etabliert wird.106 Haugelands griffige Formel für diese direkte Form des Weltzugangs lautet: »Wahrnehmen statt Repräsentieren«:107 »Der Raum der Gründe […] wird häufig als etwas vorwiegend oder gar ausschließlich Menschliches betrachtet; und es ist ja vorwiegend das logische Schließen, das auf Inputund Output-Schnittstellen angewiesen ist, um Wahrnehmungen und Handlungen zu ermöglichen […]. Demgegenüber möchte ich vorschlagen, dass der menschliche Geist viel inniger mit seinem Körper und mit seiner Welt verquickt ist als jede andere Art von Geist und dass gerade darin sein besonderer Vorteil besteht.« 108 Haugeland präzisiert seine Überlegung, indem er davon spricht, dass der Körper strukturelle Kopplungen mit weiter »Bandbreite« ermöglicht. Diese »weitbandbreitigen« Kopplungen korrelieren mit praktischen Skills.109 »[D]ie Wahrscheinlichkeit, dass erfahrenes und geschicktes [skillful] Tun in einer komplexen Situation von einer weitbandbreiten Koppelung profitiert, ist ebenso hoch wie die Sensibilität dieser Koppelung für genau diese Situation […].«110 Der Körper wird von Haugeland also als fähig zu »gekoppelter, weitbandbreitiger Interaktion« angesehen.111 Inspiriert durch eine innovative Roboterarchitektur von Rodney Brooks, mit der er sich in seinem Text ausführlicher befasst, schreibt er: »Jedes Subsystem […] ist ein wenig mental, ein wenig körperlich und ein wenig weltlich. Hält man sich an [das, C.E.] Prinzip der Intensität der Interaktion, so bedeutet dies, dass die primäre Unterteilung nicht die in Geist, Körper und Welt ist, sondern in Ebenen, und dass sie auf mannigfaltige Weise quer zu jener Unterteilung steht.«112 Haugelands Begriff der geschickten (»skillfull«) Interaktion zieht Geist, Körper und Welt zusammen und arrangiert sie, ähnlich dem Gedanken Susan Hurleys, nicht als eine vertikale, sondern als eine horizontale Einheit, die jeweils enge Verstrickungen der als körperlich gedachten Kognition nicht nur in die Welt sozialer Normen, sondern in die Materialität der Welt voraussetzt. Die Pointe ist freilich, dass die Welt der Bedeutung über diese Grenze mithinausgeht, dass also – auf Ebene impliziten Wissens – die Konstitution von Bedeutung als einem inferenziellen Prozess eine breitere GrundRepräsentationsbegriff verzichten, konzipieren Kognition dagegen wie ein Hodometer, das immer dann, wenn eine Umdrehung stattfindet, X Meter aufzeichnet. Vgl. Wilson 2004, S. 163f. Auf Wilson und das zitierte Beispiel verweist auch Clark 2013, S. 448f. Vgl. für einen Überblick zu starken und schwachen Repräsentationsbegriffen Walter 2017, S. 455ff. 106 Inwiefern dieser Körper aber ein menschlicher sein muss, ist eine andere Frage, orientiert sich Haugeland bei seinen Ausführungen doch an der Robotik. In der Frage menschlich/nicht-menschlich kann man eine Bruchlinie bei Haugeland erkennen, die eine weitere Erörterung Wert wäre. 107 Haugeland 2013, S. 120. 108 Haugeland 2013, S. 126. 109 Haugeland 2013, S. 122. 110 Haugeland 2013, S. 122. 111 Haugeland 2013, S. 125. 112 Haugeland 2013, S. 120.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

lage hat. Brandoms sozialpragmatische Perspektive ist damit nicht wirklich berührt und schon gar nicht infrage gestellt. Haugeland deutet aber an, dass es auf Ebene der Kopplung zwischen subpersonalen Repräsentationen und Praktiken, die kognitiv im weitesten Sinn sind, engere Übergänge und Beziehungen gibt, die bei Brandom nicht berücksichtigt werden. Medienwissenschaftlich interessant ist insbesondere Haugelands Kritik, dass klassische Verständnisse von Geist und Denken als symbolischer Repräsentation bei einem wahrnehmungsfreien Begriff von Denken herauskommen, in dem logisches Denken und besonders »formale Deduktion«, die auch von Maschinen ausgeführt werden kann, das Leitbild sind:113 »Auf diese Weise wird die Wahrnehmung auf einen peripheren Kanal reduziert, durch den das Problem zuerst aufgeworfen wird und beiläufig Fakten geliefert werden. Man könnte sie ebenso gut durch einen Fernschreiber ersetzen.«114 Und kurze Zeit später: »Das Besondere am Fernschreiber ist jedoch, dass es sich um ein Gerät mit enger Bandbreite handelt – d.h. um das exakte Gegenteil einer engen Kopplung.«115 Konsequenterweise wird der Körper dann bei Haugeland zu einem Modus besagter »weitbandbreitiger Interaktion« und der engen Kopplung mit der Welt. Auch wenn Haugeland sich dabei wehrt, dieses innige Verhältnis von Geist und Körper auf irgendeine Art von »Schnittstelle« zu reduzieren, sondern als »eine einzige eng verwobene Einheit« fassen will, entgeht er, nicht zuletzt dank seiner Inspiration aus der Robotik, nicht dem Problem, dass auch er Annahmen über »Schnittstellen« bzw. »Interfaces« trifft.116 Jene hohe Intensität der Interaktion zwischen Geist, Körper und Welt, von der Haugeland spricht, verdankt sich zuallererst den Spezifika des Körpers als Interface. Haugeland geht es bei der Diskussion von Bedeutung also nicht um mentale Repräsentation,117 auch nicht um einen ausschließlich über Gesellschaft begründeten Begriff von Inferenz.118 Vielmehr will er aufzeigen, dass, wie zitiert, die »primäre Instanz die Interaktion [ist], die Wahrnehmen und Handeln zugleich involviert und in Echtzeit ablaufen lässt«.119 Dieser Interaktionsbegriff bildet als eine Form von ›innig‹ in die Welt ›eingebetteten‹ und ›verkörperten‹ Praktiken eine Matrix, aus der heraus sich bedeutungstragende Inferenzen entwickeln. In einem viel weitreichenderen, aber auch weniger gut definierten Sinn als bei Brandon, wird damit ein alternativer Begriff von ›materialen‹ Inferenzen gedacht, die beispielsweise auch Gestaltqualitäten umfassen.120 113 Vgl. Haugeland 2013, hier S. 121. 114 Haugeland 2013, S. 121. 115 Haugeland 2013, S. 121. 116 Betrachtet man Haugelands »Fernschreiber«-Bild, dann ist seine Verwendung des Interface-Begriffs auch historisch interessant. Wie Peter Schaefer gezeigt hat, wird der Interface-Begriff Ende des 19. Jahrhunderts aus Kontexten der Strömungsdynamik und des Energietransfers zwischen verschiedenen Materialien von William Thomson 1888 auf die Telegrafie bezogen, wo er fortan »conduits for communication« beschreibt. Vgl. Schaefer 2011, hier S. 173. 117 Vgl. Haugeland 2013, S. 133ff. 118 Vgl. Haugeland 2013, S. 136. 119 Haugeland 2013, S. 122. 120 Vgl. zur ›Gestalt‹ kognitionstheoretisch auch Ware 2013, S. 179ff.

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So überzeugend diese Argumente sind, im Rahmen der 4E-Theorien ist an ihnen substanzielle Kritik geübt worden. Aus dem Lager der Extended-mind-Theorie kommt Gegenrede. Hierbei ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Extended-mind-Theorie nicht gegen die oben erwähnte »Exteriorität« der Kognition argumentiert. Vielmehr wird eine andere Art der Exteriorität bzw. Externalisierung der Kognition vertreten. Ein Vorwurf gegenüber den ›Embodiment‹-Theorien lautet, aufgrund der Fokussierung auf die Wahrnehmung einem »New-Wave-Körperzentrismus«121 zuzuneigen. Worum geht es bei Extended Mind? Den Anfang markiert ein Text von Andy Clark und David Chalmers mit dem Titel The Extended Mind (1998).122 Dort argumentieren Clark und Chalmers für eine Ausdehnung des Begriffs des Kognitiven, wobei sie einen »aktiven Externalismus« bzw. einen »extended functionalism« vertreten.123 Vereinfacht gesagt, lautet ihre Überlegung, dass kognitive Systeme in der Weise in die Umwelt verstrickt sind, dass die Teilelemente des Systems sich in einer wechselseitig ergänzenden, funktionalen Beziehung befinden. Bei funktional äquivalenter Rollenübernahme sind die Teilelemente des Systems gegeneinander austauschbar, weil sie das gleiche kognitive Ergebnis produzieren. Dies wird als »Paritätsprinzip« bezeichnet: »Wenn, sobald wir uns einer Aufgabe stellen müssen, ein Teil der Welt wie ein Prozess funktioniert, der – würde er im Kopf vollzogen – von uns, ohne zu zögern, als Teil eines kognitiven Prozesses anerkannt würde, dann ist (so behaupten wir) dieser Teil der Welt tatsächlich ein Teil des kognitiven Prozesses. Kognitive Prozesse laufen nicht (alle) nur im Kopf ab!« 124 Prominent führen Clark und Chalmers dazu das Gedankenspiel des Alzheimer-Patienten Otto an, für den sein Notizbuch eine funktional äquivalente Rolle zum Gedächtnis der gesunden Inga erfüllt: »Das Notizbuch spielt für Otto dieselbe Rolle wie das Gedächtnis für Inga.«125 Das Notizbuch führt Otto zu genau den handlungsleitenden Überzeugungen, die Inga ohne das Notizbuch haben kann. »In beiden Fällen ist die Information zuverlässig da, wenn sie gebraucht wird, dem Bewusstsein verfügbar und verfügbar, um das Handeln zu leiten, genauso wie wir es von einer Überzeugung erwarten.«126 Clark und Chalmers erwähnen dieses Beispiel, um zu zeigen, »dass Überzeugungen teilweise durch Merkmale der Umwelt konstituiert sein können, wenn diese Merkmale die richtige Art von Rolle bei der Steuerung kognitiver Vorgänge spielen«. Die Schlussfolgerung lautet: »Wenn das so ist, erweitert sich der Geist in die Welt hinein.«127 Nicht zufällig wird mit dem Medium des Notizbuchs und der Funktion der Erinnerung eine der klassischen medialen Konstellationen als Bezugspunkt für die avisierte Begründung der Externalisierungsthese gewählt. Wichtig für die Begründung dieses Argu121 Clark 2013, S. 463. 122 Vgl. Clark/Chalmers 2013. 123 Vgl. Clark/Chalmers 2013, S. 208ff. Vgl. auch Kiverstein/Clark 2009, S. 2. 124 Clark/Chalmers 2013, S. 207. 125 Clark/Chalmers 2013, S. 214. 126 Clark/Chalmers 2013, S. 215. 127 Clark/Chalmers 2013, S. 213.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

ments ist für Clark und Chalmers die Unterscheidung zwischen »pragmatic actions« und »epistemic actions«, welche die Autoren einer Studie von David Kirsh und Paul Maglio entnehmen und die ein diagrammatisches Beispiel par excellence bemüht. In ihrer breit rezipierten Untersuchung aus dem Jahr 1994 hatten Kirsh und Maglio an einem dezidiert diagrammatischen Beispiel, nämlich der Rotation von sogenannten »Zoids« in dem Computerspiel Tetris, diese beiden Handlungstypen unterschieden. Das Argument leuchtet sofort ein: Die effizienteste Art der Problemlösung in Tetris besteht darin, die Spielteile (»Zoids«) zu drehen und hin- und her zu bewegen, bevor eine Entscheidung gefallen ist, wo sie hinfallen sollen.128 Die ›Zoids‹ an einer bestimmten Stelle zu platzieren und somit zum Bestandteil eines übergeordneten Handlungsplans zu machen, ist damit keine explizite Praxis, die im Kopf entsteht. Vielmehr ist der Handlungsplan eine Folge einer eher impliziten Manipulation der Objekte in einem medialen »Operationsraum« im Sinne Sybille Krämers. Kirsh und Maglio schreiben: »We have found that some of the translations and rotations made by players of this video game are best understood as actions that use the world to improve cognition. These actions are not used to implement a plan, or to implement a reaction; they are used to change the world in order to simplify the problem-solving task. Thus, we distinguish pragmatic actions – actions performed to bring one physically closer to a goal – from epistemic actions – performed to uncover information that is hidden or hard to compute mentally.« 129 Von Bedeutung ist im vorliegenden Zusammenhang zum einen der nicht näher beachtete Umstand, dass ein Interface, also ein technisches Medium, vorhanden sein muss, das derartige »epistemic actions« ermöglicht, andererseits die Rolle der Körperlichkeit. Die Frage lautet, ob die »epistemic actions« als verkörperte Praktiken den »pragmatic actions« zugrunde liegen. Vermutlich würde hier jeder Ansatz aus dem Kontext der ›Embodiment‹-Theorie zustimmen und postulieren, dass die Handlungspläne der »pragmatic actions« durch somatisches implizites Wissen automatisierte Routinen von kognitiven Leistungen sind, die in »epistemic actions« gewonnen wurden.130 Aus Sicht der Extended-mind-Theorie ist das jedoch dann problematisch, wenn es zu einer Privilegierung eines vorgängigen Körperwissens führt. Der ›Embodiment‹-Theorie entgegengehalten wird, dass weder repräsentationsbasierte Inferenzen noch ein für den Körper spezifisches implizites Wissen, sondern nur die funktionalen Entsprechungen zwischen (materiellen) Teilelementen eines kognitiven Gesamtzusammenhangs das Entscheidende sind. Das Beziehungsverhältnis zwischen dem Körper, seinen Skills und der Kognition wird von der Extended-mind-Theorie somit weniger eng gefasst, als dies etwa bei Haugeland der Fall ist. Ganz auf dieser Linie argumentiert Clark in einem neueren Text mit dem Originaltitel Pressing the Flesh (2008).131 Er konstatiert, dass im Feld der ›Embodiment‹-Theorien eine Doppeldeutigkeit des Verkörperungsbegriffs übersehen wird. Verkörperung kann demzufolge zwei Dinge bedeuten: Verkörperung 1 (›embodied‹) im Sinne der 128 Vgl. Kirsh/Maglio 1994, siehe auch Krämer 2005; Walter 2014, S. 72f. 129 Kirsh/Maglio 1994, S. 513. 130 Vgl. zu einer Deutung im Kontext der Diagrammatik Giardino 2016, S. 95ff. 131 Vgl. Clark 2013.

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Summe der Merkmale von (menschlicher) Körperlichkeit (z.B. implizites Wissen um ›einen Körper haben‹), und Verkörperung 2 (›extended‹) im Sinne der Menge von Operationen zwischen materiell gegebenen Elementen in der Umwelt (z.B. automatisierte Realisierung von Schlussfolgerungen).132 Im Kern läuft seine Kritik darauf hinaus, dass ›Embodiment‹-Theorien zwar zu Recht auf die Rolle des Körpers zur Konstitution von Kognition im Sinne der allgemeinen Externalisierungsthese hinweisen. Sie überzeichnen aber den »besonderen Beitrag«133 des Körpers, weil sie unterschätzen, dass der Körper nur ein Teilelement eines größeren materiellen Zusammenhangs ist. Clark nennt diesen Zusammenhang den »[G]rößeren Mechanismus«.134 Clarks Argument zerschneidet somit, frei nach Gilles Deleuze, das »sensomotorische Schema«,135 das zwischen menschlichem Körper und dem epistemischen Umgang mit einem (Wahrnehmungs-)Medium besteht. Die kognitive Leistung der Externalisierung wird auf materielle Verkörperungen aller Art bezogen. Clark begreift die Verkörperung Typ 1 als einen nicht-andersartigen Fall von Verkörperung Typ 2. Auf diese Weise macht er Platz für einen funktionalistischen Ansatz, der den Körper als ein nicht-spezielles Interface in einem größeren Konzert von ›interoperablen‹ Schnittstellen auffasst. So heißt es: »Körperliche Handlungen sind […] ein Teil der Mittel, mit denen bestimmte rechnerische und repräsentationale Operationen umgesetzt werden können. Doch der kognitive Prozess wird zu dem Prozess, der er ist, schlicht durch sein funktionales Profil (die spezifische Menge von Übergängen von einem Zustand zum nächsten, durch die Input und Output vermittelt werden). Der Unterschied liegt nur darin, dass dieses funktionale Profil nicht allein zum neuronalen System mit seinen Inputs und Outputs gehört, sondern zum gesamten verkörperten System, das in der Welt verortet ist.« 136 Illustrieren kann man diesen Unterschied zur ›Embodiment‹-Theorie am Beispiel der Einschätzung des impliziten Wissens. Bei Haugeland ist das implizite Wissen dasjenige Wissen, das die konstitutive Rolle, die der Körper für die Kognition spielt, in Gestalt von »skillful interaction« begründet. Eine wesentliche Besonderheit des Körpers zeigt sich in der praktischen Realität von implizitem Wissen, das in »gekoppelten, weitbandbreitigen Interaktionen« gegeben ist, die als Effekt derjenigen Schnittstellen möglich werden, über die der Körper verfügt. Clark fasst die Bedeutung von implizitem Wissen dagegen anders: Für Clark ist implizites Wissen eine spezifische Form von »Gewandtheit« des Umgangs mit der 132 Vgl. Clark 2013, insb. S. 452ff. Diese Unterscheidung ist auch für das Verständnis der kognitionswissenschaftlich fundierten Diagrammatik von Barbara Tversky wichtig, fokussiert diese sich doch vor allem auf Verkörperung 1, lässt aber medientheoretische Lücken hinsichtlich Verkörperung 2. Vgl. Tversky 2011; Tversky 2015; Tversky/Kessel 2014. Anders bei Krois (2011, insb. S. 195ff.), wo der Pragmatismus von Charles S. Peirce und die Semiotik in diese Richtung gelesen werden. Siehe zum Motiv der ›Verkörperung‹ aus medienphilosophischer Sicht im Erscheinen auch Irrgang 2020. 133 Vgl. Clark 2013, S. 437. 134 Vgl. Clark 2013, S. 437. 135 Vgl. Deleuze 1989; Deleuze 1991. Der Begriff des »sensomotorischen Schemas« ist ein Kernbegriff insbesondere im ersten Band von Deleuzes Theorie. 136 Clark 2013, S. 447.

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Gesamtheit der Materialität der Welt, die sich auch, aber eben in keiner Weise in privilegierter Form, auf das implizite Körperwissen und anhängige Skills erstreckt. Zum Testfall wird ihm dafür die Medialität einer Interface-Technologie, nämlich (Tele-)Präsenzerfahrungen:137 »Umfangreiche Arbeiten zu den Technologien der Telepräsenz legen nahe, dass das menschliche Gefühl von Präsenz – sich an einem bestimmten Ort im Raum zu befinden –, vollkommen von unserer Fähigkeit bestimmt wird, in geschlossene Interaktionsschleifen einzutreten, in denen willentliche Sensorbewegungen neue sensorische Inputs hervorbringen, und von unserer Fähigkeit, zumindest auf einige Gegenstände einzuwirken, die sich somit in sensorischer Reichweite befinden. Das Gefühl, dass wir unseren Körper ›bewohnen‹ (anstatt ihn gewissenhaft zu kontrollieren), wird von der Gewandtheit bestimmt, mit der wir die Sensoren und Aktoren so steuern, dass eine erfolgreiche Interaktion ablaufen kann.« 138 Wenn Haugeland behauptet, implizites Wissen in Form von körperlichen Skills illustriere eine zentrale Besonderheit des Körpers im Prozess der Konstitution von Wissen, so reklamiert Clark am Beispiel von (Tele-)Präsenzerfahrungen und ihren Interfaces, dass das implizite Wissen körperbasierter Skills genau dies nicht begründen kann. Vielmehr ist es ein Wissen um die interaktive Kontrolle von »Sensoren und Aktoren«, für die der Körper ein austauschbares materielles Medium unter vielen ist.139 Medienwissenschaftlich ist es aufschlussreich zu beobachten, in welchem Maße in der Philosophie der Kognitionswissenschaft mit medientheoretisch relevanten Überlegungen argumentiert wird. Das Unternehmen der 4E-Theorien ist als ein medientheoretisches Unternehmen lesbar.140 Das gilt im vorliegenden Beispiel in beiden Richtungen, also sowohl mit Blick auf Fragen des Embodiments wie auch auf die Dezentrierung einer körperzentrierten Perspektive bei Clarke, die sich in Richtung entsprechender Theorieperspektiven aus dem Umfeld der derzeit aktuellen Science-and-Technology-Studies, aber auch des Poststrukturalismus und der Systemtheorie adaptieren lässt. Der Gegensatz zwischen ›Embodiment‹ und ›Extended Mind‹ läuft auf die Frage hinaus, ob der Körper als Zentrum eines, frei nach Clark, ›großen Zusammenhangs‹ gesehen werden muss oder nicht. Darin steckt nicht nur das Problem, ob Kognition erweitert ist, sondern, wie Haugeland zeigt, vor allem die Frage, ob dieser Zusammenhang ohne die Schnittstellen des Körpers als Faktor aus der Konstitution von Bedeutung gedacht werden kann. Gegeneinander stehen ein im Vergleich zu Brandoms Denken breiter angelegter, das Embodiment einschließender, semantischer Holismus 137 Vgl. zum Verhältnis von implizitem Wissen und Präsenz weiterführend O’Regan/Noë 2013, insb. S. 361ff. Vgl. ohne Bezug auf die kognitionswissenschaftliche Debatte auch die Beiträge in Ernst/ Paul 2013b. 138 Clark 2013, S. 461. 139 Implizites Wissen ist für Clark damit – in direktem Gegensatz zur ›Embodiment‹-Theorie – eine Fähigkeit, auch die eigene körperliche Disposition zu überwinden. 140 Vgl. exemplarisch für die Auseinandersetzung mit der These vom Körper als Interface Hansen 2004; Hansen 2006 sowie die nicht-anthropozentrische Weiterführung in Hansen 2011. Zur Filmtheorie auch Jeong 2013.

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inklusive einer breiter angelegten ›materialen Logik‹ und ein einen holistischen Anspruch erhebender Funktionalismus, der die funktionale Rollenübernahmen kognitiver Prozesse jedoch nicht aus der Spezifik des Embodiments erklären will. Auf einen Bruchpunkt verweist die Frage, inwieweit der Begriff von implizitem Wissen einen menschlichen Körper und an diesen Körper gebundene Wissensformen voraussetzt.141 Aus medientheoretischer Sicht ist es diese Spannung, die auf die Notwendigkeit verweist, eine Präzisierung des Medienbegriffs vorzunehmen. Wie im Anschluss an Haugelands Überlegungen festgestellt wurde, ist es für das Verständnis eines ›direkten‹ Zugangs zur Welt notwendig, Annahmen über die Beschaffenheit der ›Schnittstellen‹ (bzw. Interfaces) des Körpers zu treffen, die ihn zur ›Kopplung‹ mit der Umwelt befähigt.142 Dem folgend sind dann aber auch diejenigen Leistungen, die für diese körperlichen Schnittstellen prägend sind, von solchen Prozessen abzugrenzen, von denen die Extended-mind-Theorie überzeugt ist. Clarks Verweis, dass unterschiedliche Begriffe von ›Verkörperung‹ am Werk sind, ist wichtig. Für eine Präzisierung des, hier in Form des ›Interfaces‹ in Erscheinung tretenden, Medienbegriffs reicht das aber nicht aus. Zu unklar bleibt – um nur einen Aspekt zu benennen –, was genau die Gegenstände und die Umstände in der materiellen Umwelt, die für eine Einbettung und Ausdehnung der Kognition typisch sind, von den Gegenständen und den Umständen unterscheidet, die diese Kriterien nicht erfüllen. Haugeland hat in einem anderen Zusammenhang eine Kritik an Clark vorgelegt. Dort wirft er Clark vor, die normative Rolle der Sprache für die Entwicklung der Kognition zu unterschätzen.143 Haugeland argumentiert in diesem Kontext eher auf Linie von Brandom. Das ist kein Widerspruch zu seiner Kritik an Brandom. Es zeugt nur davon, dass Haugeland sieht, dass der bei Brandom vertretene Sozialpragmatismus und sein holistischer Ausgangspunkt nicht falsch ist, aber auf breitere Grundlagen gestellt werden muss. Daran kann man medienwissenschaftlich anknüpfen. Haugeland rundet seine Ausführungen in Der verkörperte und eingebettete Geist mit einem für die Kulturtechnik-Forschung bemerkenswerten Abschnitt ab. Unter der Überschrift »Dem Bedeutungsvollen innewohnen« fragt er: »Wie viel von dem, was eine Kultur über das Leben und die Umwelt gelernt hat, findet sich in ihren Gebrauchsgegenständen oder Praktiken ›verschlüsselt‹?«144 Was dann folgt, ist eine Aufzählung von Beispielen aus der Landwirtschaft, aus Institutionen bzw. Organisationen und 141 Vergleichbare Debatten um die Bedeutung des menschlichen Körpers für eine Theorie impliziten Wissens finden sich auch in der Forschung zum impliziten Wissen, so beispielsweise in den Arbeiten von Harry Collins (2001, 2012). 142 In der Systemtheorie steht der Begriff der »strukturellen Kopplung« nicht von ungefähr in einer engen Beziehung mit dem Medienbegriff. Vgl. auch Ernst 2013. 143 Haugeland bemerkt: »Clark’s blindness, however, is in the other eye. To judge from what he says, he doesn’t see the relevance of social normativity at all« (Haugeland 2002, S. 30). Und an anderer Stelle: »I suggest that we can’t really have understood the human mind-and, in particular, with regard to its very distinctive capacity (perhaps only a few thousand years old) to seek objective truth – until we have understood its capacity for faithful commitment. But this is quite different from anything like a belief or a desire, let alone competent negotiation of the immediate environment. This essential topic for cognitive science has, I think, not yet even made it to the scientific horizon« (Haugeland 2002, S. 35f.). 144 Haugeland 2013, S. 140.

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aus wissenschaftlichen Laboren, die dazu dient, deutlich zu machen, dass explizite und abstrakte Bedeutungen auf einer breiten Schicht von Praktiken auf bauen, die zuallererst das Wissen in diesen Feldern formieren: »Trotz all ihrer Explizitheit und Abstraktheit ist Wissenschaft ebenso weltbezogen wie Landwirtschaft, Industrie und Verwaltung.«145 Von diesen Praktiken separiert betrachtet Haugeland »die augenfälligsten Äußerungen der menschlichen Intelligenz […], nämlich Texte, Bilder, Karten, Diagramme, Programme usw.«146 – Medien der Kommunikation also, von denen Haugeland annimmt, dass ihre Verwurzelung in Praktiken deshalb gerne übersehen wird, weil man sie mit einem traditionellen Begriff von »Geist« assoziiert. »Man muss sich hier vor zwei Fallstricken in Acht nehmen. Erstens lenkt diese Ähnlichkeit unsere Aufmerksamkeit von der Radikalität der Behauptung ab, dass die Intelligenz dem innewohnt, was Bedeutung hat, nämlich der Welt. Dabei handelt es sich nicht nur um Bücher oder Aufzeichnungen, sondern um Straßen, Pflüge, Büros: Labore und Gemeinschaften. Zweitens legt sie den Traditionalistinnen und Traditionalisten leicht folgenden Gedanken nahe: ›Äußere Repräsentationen gehören der Intelligenz nicht wirklich an, es sind lediglich Hilfsmittel, die der eigentlichen Intelligenz – dem Geist im Inneren – Inhalte vermitteln oder solche aufbewahren, über die sie ansonsten nicht verfügen würde.‹ Ich hoffe, dass wir jetzt in der Lage sind, diese Fallstricke zu umgehen. Wir dürfen nun mir Zuversicht sagen, dass ›der große Hausrat an Information‹ […], den die Zivilisation angesammelt hat, zusammen mit dem übrigen Hausrat die Wohnstatt des Verstehens bildet.« 147 Aus Anlass einer der Philosophie der Kognition gewidmeten Diskussion beschreibt Haugeland hier in Ansätzen das, was heute unter dem Begriff ›Kulturtechnik‹ in die Medienwissenschaft eingemeindet ist. Und mehr noch, mit seiner Unterscheidung zwischen Praktiken, die bedeutungsvoll im weiteren Sinn sind, und den Praktiken in diesem Feld, die als etablierte symbolische Kommunikation erscheinen, nimmt er auch den engen und weiten Begriff von Medien vorweg.

2.1.4 Kognition und der weite Begriff von Medien In der Kulturtechnikforschung unterscheiden sich der enge und der weite Begriff von Medien insofern, als der enge Begriff im Sinne der Repräsentation der bekannten semiotischen Basismedien (Schrift, Bild, Zahl etc.) aufgefasst wird. Der weite Begriff wird dagegen als eine praktische Interaktion mit der Welt gefasst. Die Kulturtechnikforschung will also den engen Begriff von Medien, der sich auf explizite, repräsentierende Darstellungsweisen konzentriert, durch das Einklagen einer ›Vorrang der Praxis‹-Perspektive unterlaufen. Programmatisch fassen diese Abwendung von expliziten, repräsentierenden Darstellungsweisen schon 2003 Sybille Krämer und Horst Bredekamp, wenn sie mit dem Kulturtechnikbegriff einen Einspruch gegen die »Dis-

145 Haugeland 2013, S. 141. 146 Haugeland 2013, S. 141. 147 Haugeland 2013, S. 141f.

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kursivierung der Kultur« verbinden148 – also einen Einspruch gegen die Dominanz eines Verständnisses von Medien als Medien der Kommunikation und der diskursiven Repräsentation formulieren. Vor diesem Hintergrund liegt es nah, auf Ebene des weiten Begriffs von Medien die Materialität und die Technik als die Größen zu veranschlagen, die gegen eine als ›semiotisch-repräsentativ‹ aufgefasste ›kommunikative‹ Betrachtung von Medien in Stellung gebracht wird. Deutlich wird das bei Bernhard Siegert. Siegert bemerkt: »Die Medienanalysen, die heute unter dem Titel der Kulturtechnikforschung als ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften operieren, rücken unscheinbare Wissenstechniken wie Zettelkästen, Schreibwerkzeuge, Diskursoperatoren oder Disziplinierungen wie das Verbundsystem aus Alphabetisierung, Fibel, Schiefertafel und Leseverhalten an den Grund kultureller Errungenschaften und Umbrüche. Schreiben, Lesen und Rechnen erweisen sich in dieser Betrachtung als Körper- und Medientechniken, nicht als Geistestechniken oder kommunikatives Handeln. Sie sind Abrichtungen des gelehrigen Körpers, die immer schon vermengt sind mit Zählsteinen, Schreibflächen, Instrumenten, Tastaturen und anderen Medientechniken.« Als Argument, das auf die Abgrenzung zwischen einer auf ›Text‹, ›Diskurs‹ und ›Interpretation‹ ausgelegten Medienanalyse auf der einen Seite und einer auf deren materielle und technische Bedingungen abzielenden Kulturtechnikforschung auf der anderen Seite abzielt, ist das sehr überzeugend. Allerdings bringt der Vorstoß auf eine ›grundlegendere‹ Ebene als die Ebene der Kommunikation und der Repräsentation von Zeichen auch neue Probleme mit. Die dem Technikbegriff eingeschriebene Ambivalenz, im engen Sinn die »Hardware« der Artefakte und Maschinen zu bezeichnen,149 in einem weiteren Sinn aber eben auch »technische Praxen« und »Körpertechniken«,150 macht das Problem greif bar: Für die Kulturtechnikforschung gilt eindeutig der zweite Fall. Wenn das aber so ist, wo endet dann dieser weitere (und auch ›weichere‹) Begriff von ›Technik‹? Wenn eine Körpertechnik als ›Technik‹ durchgeht, was ist dann mit der Rhetorik? Und wenn die Rhetorik sich als Kulturtechnik eines in bestimmter Weise konditionierten Körpers qualifiziert, ist man dann nicht auch bei der Sprache?151 An dieser Stelle steht man vor dem Problem, dass die oben erwähnte Einordnung von praktischen Verwendungsweisen einer Tür (als dem Prozessieren einer Innen/ Außen-Differenz) erst durch ein Wissen mitkonstituiert wird, das zwar nicht aus-

148 Vgl. Krämer/Bredekamp 2003. 149 Vgl. im vorliegenden Kontext auch den Bezug zu Michel Serres Untersuchungen des Gnomons bei Maye 2010, S. 126. 150 Vgl. pointiert Winkler 2008a, S. 91. Vgl. auch Maye 2010, S. 124: »Das Wort ›Technik‹ oder ›technisch‹ meint in diesem Sinne also eine je spezifische Art der Delegation (Verschiebung und Verteilung von Handlungsmacht), die nicht einfach nur auf ein technisches Medium verweist oder darin aufgeht, sondern eine Verkettung von Handlungen und Macht und Wissen darstellt, die kulturschaffend wirksam ist.« 151 Vgl. zur Sprache auch Maye 2010, S. 135. Maye (2010, S. 126) bemerkt kritisch gegenüber dem Kulturtechnikbegriff: »Auch fehlt es an Gegenbegriffen, d.h. es fällt schwer zu sagen, welche Prozesse und Tätigkeiten dezidiert nicht als Kulturtechnik zu begreifen sind und wie sich der Begriff der Kulturtechnik von einem traditionellen Handlungs- und Kommunikationsbegriff unterscheidet.«

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schließlich, aber wesentlich durch Kognition und auch durch Semiose mitgeprägt wird – damit aber vor der Folie eines kognitiven und semiotischen Verständnisses von Kulturtechniken, das eigentlich von dem technikzentrierten Ansatz auf die Ebene des repräsentierenden und kommunikativen, engen Medienbegriffs eingegrenzt werden soll. Man muss zwar nicht Lesen und Schreiben können, um eine Tür zu öffnen, aber ein Begriff von Zeichen, in dem Zeichen als Mittel und Instrumente angesehen werden und auf dieser Grundlage eine Einhegung der Zeichen stattfindet,152 kann auch nicht die Lösung sein. Kognition und Semiose sind also, wenn man es im Sinne der neueren Philosophie der Kognition denkt, auch auf Ebene eines weiten Medienbegriffs vollumfänglich relevant.153 Diese Rückfragen sind nicht als ein prinzipielles Gegenargument gegen eine Engführung der ›Vorrang der Praxis‹-Perspektive mit der Technik gemeint. Sie heben allerdings drei Prämissen dieser Verknüpfung hervor, die in Kontexten der Kulturtechnikforschung schnell bei der Hand sind, die aber dennoch nicht unproblematisch sind. Zu nennen sind, erstens, die Prämisse, dass die Praxis zu einer quasi-apriorischen Instanz erklärt wird, die alle semiotische Strukturbildung unterläuft; zweitens die Prämisse, die Praxis von der kommunikativen Diskursivität zu unterscheiden und dies aus einer Auseinandersetzung mit den ›hard facts‹ der Technik zu begründen; drittens die daraus resultierende Prämisse, dass dieses Denken von Materialität und Technik her im engeren Sinn eine Art ›Vorrang‹ vor der kommunikativen Diskursivität hätte. Alle drei Prämissen stellen in ihren jeweiligen Kontexten vieles klar, sind aber dann problematisch, wenn sie zu einer einseitigen Begründung einer pragmatistischen Perspektive führen. Der weite, technische Medienbegriff kann nicht einfach vom engeren, kommunikativen Medienbegriff getrennt werden, weil die Praktiken, die dem engeren Medienbegriff zugerechnet werden, also etwa kommunikative Repräsentation von Zeichen, den weiten Medienbegriff in dem Moment bereits durchziehen, in dem es zur Inanspruchnahme eines weiten Technikbegriffs kommt.154 Eine auf Materialität und Technik fokussierte ›Vorrang der Praxis‹-Perspektive ist in Fragen der Kognition dem strikten Funktionalismus der Extended-Mind-Theorien mitunter nicht unähnlich. Dass die Konstitution von Bedeutung in der Praxis auch perzeptive und normative Faktoren einschließt, ist nicht wirklich von Relevanz für eine derartige Perspektive. Die Rolle von Kognition und Semiose in einem Prozess der praktischen Interaktion mit der Welt, also auf Brandoms Ebenen (a) und (b), wird zugunsten von Materialität und Technik überschrieben und die Ausdehnung und Verstrickung der Zeichen in die Welt zugunsten eines (relativ eng umgrenzten) Verständnisses von Kognition und Semiose im Sinne traditioneller, diskursiver medialer Repräsentation unterschätzt. Differenzen wie ›Innen/Außen‹ sind zweifelsohne in der Auseinandersetzung mit Materialität und Technik konstituiert. Als solche sind sie aber auch kognitive Basisschemata eines ›Embodied minds‹, die auf Ebene impliziten Wissens insbesondere die semantische Konzeptbildung in alltäglichen Praktiken mitanleiten ( Kap. 5). Ebenso sind die Zeichen, zumindest im pragmatistischen Zeichenbegriff von Peirce, nicht einfach nur diskursiv repräsentierte Strukturen, sondern normative Mittel des prak152 Vgl. Maye 2010, S. 135, wo die Zeichen in eine Reihe mit den Artefakten gestellt werden. 153 Vgl. im Kontext auch Heilmann 2016. 154 Vgl. auch die ähnlich gelagerte Kritik bei Heilmann 2016, hier insb. S. 26ff.

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tischen Wahrnehmens, Denkens und Handelns. Eine ›Vorrang der Praxis‹-Perspektive kann nicht deckungsgleich mit einer Fokussierung auf ›Technik‹ im engeren Sinn sein. Im weiteren Sinn von Technik, ohne den es wiederum keinen weiteren Sinn von Medien geben kann, sind die Kognition und die Semiose konstitutiv zu beachten. Mittels einer ›Vorrang der Praxis‹-Argumentation gegen die »Diskursivierung der Kultur« in der Medienwissenschaft anzugehen, war daher als theoriepolitisches Argument in den frühen 2000er-Jahren ein zweifelsohne notwendiger Schritt, um der konstruktivistischen Umklammerung von Dekonstruktion, Diskursanalyse und Systemtheorie zu entkommen. In der Sache aber ist das Projekt auch kritisierbar, weil es unter anderem zu der Annahme geführt hat, dass die Materialität und Technik bei Anlass einer Diskussion von Praktiken der Ebene des Diskurses und der Zeichen vorrangig sei. Bernhard Siegert bemerkt etwa, dass Kulturtechniken in »ein mehr oder weniger komplexes Akteur-Netzwerk« eingebunden sind, das »technische Objekte und die Handlungsketten einbegreift«. Im Sinne des weiten Medienbegriffs wird dieses Netzwerk dann als die Grundlage der »symbolischen Techniken des Bild-, Schrift- und Zahlgebrauchs« aufgefasst.155 Wählt man an genau dieser Stelle andere theoretische Referenzen, um eine ›Vorrang der Praxis‹-Perspektive zu begründen, dann wird deutlich, dass es verschiedene Netzwerke gibt, die einander durchdringen. In einer moderaten Lesart kann man Haugelands »Innigkeit« dann nicht nur als ein Plädoyer gegen einen Funktionalismus der Externalisierung lesen, der allen möglichen materiellen Entitäten und Konstellationen kognitive Agency zuschreibt, sondern auch als Argument für einen Bedeutungsholismus, der nicht rein sozialtheoretisch-normativ ist. Schränkt man den Erklärungsanspruch mithin ein, findet man hier weitere interessante Argumente, um den Körper und seine kognitive Rolle in Fragen der Semantik hineinzudenken. Auf Ebene des weit gefassten Medienbegriffs wird dies mit Blick auf die Rolle von Metaphern gut deutlich. Metaphern entstehen aus Praktiken der Interaktion mit Objekten. Sie sind in die Welt verstrickte inferenzielle Relationen, über welche die Bedeutung eines Medienobjektes in einem kulturellen Kontext erschlossen wird.156 Metaphern sind also Formen von Inferenzen, die aus der innigen Verf lechtung des Körpers und der Wahrnehmung mit der Welt hervorgehen. Sie erschließen auf eine praktische Art Verständnismöglichkeiten von Welt und machen neue Gebrauchs- und Handlungsmöglichkeiten von Objekten fassbar. Bisher nicht gut verstandene Zusammenhänge, etwa kausale Sachverhalte, werden durch Metaphern mit gut verstandenen Zusammenhängen in Beziehung gesetzt und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Erweiterung von Wissen und zum Lernen von Praktiken.157 Aus Sicht eines durch das 4E-Framework geprägten Verständnisses von Kognition ist es daher kein Widerspruch, sondern nur folgerichtig, dass die am weitesten in die praktische Dimension vorgedrungene Metapherntheorie eine kognitive Theorie ist, die zur Frühphase der 4E-Theorien gerechnet werden kann: die Metapherntheorie von George Lakoff und Mark Johnson.158 Diese Theorie beruht auf der Annahme, dass ko155 Vgl. Siegert 2011, hier S. 117. 156 Man kann auch materielle Metaphern postulieren. Vgl. van den Boomen 2014, S. 48ff. 157 Vgl. Pinker 2014, S. 318ff., hier insb. S. 320. 158 Vgl. zur Bedeutung dieser Theorie im Kontext von ›Embodiment‹-Diskursen Wilson/Foglia 2015, S. 5ff.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

gnitive Metaphern (»konzeptuelle Metaphern«) von Inferenzen – Lakoff und Johnson sprechen auch von »mappings« – geprägt sind, welche die Welt über Verständnisrahmen erschließen, die der Körperlichkeit des Menschen entstammen und in konkreten Körpertechniken wirksam sind.159 Im Folgenden wird daher angestrebt, die ›weiche‹, nicht auf die Technik im engeren Sinn zielende Dimension von diagrammatisierenden Praktiken ins Zentrum zu stellen. Es geht nicht um die Praktiken des ›material webs‹ der technischen Artefakte, mit deren Hilfe diagrammatische Zeichen hergestellt werden, sondern um das ›semantic web‹, also um die Bedeutung dieser Zeichen, wie sie sich, um noch einmal Robert Brandoms »Inferenzialismus« anzuführen, weniger aus kausalen, denn aus übersetzenden Medienpraktiken ergeben, deren Bedeutung sich also stets aus einem Holismus der anderen Zeichenpraktiken ergibt.160 Hinter diesem Ansatz verbirgt sich – um das nochmals zu betonen – kein Gegenprogramm zu einer auf Materialität und Technik fokussierten Kulturtechnikforschung, sondern ein komplementäres Unternehmen. Der Ansatz geht nicht von einem Primat von Materialität und Technik aus, sondern von einer Gleichursprünglichkeit verschiedener Faktoren. Inspiriert ist dieser Gedanke einer Gleichursprünglichkeit durch die Differenzierung von drei Registern der Handlungsidentifikation in der Gesellschaftstheorie von Joachim Renn. Renn nimmt für den Prozess der Handlungsidentifikation ein »semantisch typisiertes Register«, ein »intentionales« Register und ein »materielles« Register an. Besonders wichtig ist dabei Renns Idee, dass keines der drei Register für sich isoliert auftritt. Die Register stehen sich in der performativen Einheit einer Praxis wechselseitig als Ressource zur Verfügung.161 Diese Gleichursprünglichkeit kann – adaptiert für den vorliegenden Kontext – als Gleichursprünglichkeit dreier Dimensionen gefasst werden, die sowohl auf Ebene impliziter Zugangsweise wie auch expliziter Darstellungsweise kopräsent sind. Zu nennen ist zunächst die kognitive Dimension – Kognition verstanden dabei im Rahmen des 4E-Frameworks und insbesondere hinsichtlich von ›Embodiment‹-Theorien. Wichtig sind für eine im skizzierten Sinn pragmatistisch informierte Lesart der Diagrammatik besonders kognitive Schemata eines ›Embodied Minds‹, die in ihrer Regelhaftigkeit nach Prinzipien der Rezeptionserfahrung und Aufmerksamkeitsökonomie organisierte Strukturen des impliziten Wissens (im vorliegenden Fall sind vor allem »image schemas« und konzeptuelle Metaphern wichtig  Kap. 5.1 u. 5.2) aufzufassen sind.162 Als solche spielt ihre konzeptionelle Leistung für die Wahrnehmung (Perzeption) in die mit Handlungsplänen und ihrer Variation verknüpften Gewohn-

159 Vgl. Lakoff/Johnson 1999; Lakoff/Johnson 2003 ( Kap. 5). 160 Vgl. Brandom 2011a, S. 72f. 161 Vgl. Renn 2006b, S. 201ff., hier S. 203. 162 Ein weiter schematheoretischer Begriff von Kognition ist in semiotischen Kontexten üblich. Vgl. z.B. die Definition bei Abel 2005, S. 22: »›Kognition‹ in ihrem weiten Sinne verstanden als geistiger Akt der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen sowie der Applikation organisierender Muster, Schemata und Konzepte.« Jene geistigen Akte sollen jedoch – im Unterschied zu vielen semiotischen Ideen – aus dem Moment der ›Verkörperung‹ der Kognition (im Sinne von ›Embodiment‹), insbesondere der organisierenden Schemata, erklärt werden. Vgl. Fingerhut/Hufendiek/Wild 2013a, S. 19ff. Vgl. weiterführend Fingerhut/Hufendiek/Wild 2013b, insb. die Sektion »Verkörperung und Einbettung«.

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heiten (›Habits‹) hinein. Diese Schemata sind im Übergang von Brandoms subpersonalen Repräsentationen und kognitiven Praktiken im weitesten Sinn angesiedelt. Die materielle Dimension erscheint als Faktizität der technischen Mittel, mit denen körperlich (z.B. haptisch) gehandelt werden kann. Gemeint sind hier die materiellen ›constraints‹ für mögliche Kombinationen von Formen im Sinne des engen und des weiten Medienbegriffs. In dieser Dimension geht es um diagrammatische Zeichen als an materielle Medien, wie etwa das Papier, gebundene Raumdinge.163 Mit dieser Dimension sind zudem alle Fragen der technischen Herstellung eines Medienprodukts verbunden; sie schließt aber auch andere materielle Substrate ein, die im Umgang mit diesen Formen als materielle Voraussetzungen diagrammatischer Schlüsse oder als Grundlage für Inskriptionen fungieren.164 Die semiotische Dimension beschreibt die soziokulturelle Verwendung von Zeichen und den Regeln ihrer Verwendung. In Praktiken der Bezugnahme sind diagrammatische Zeichen Teil von ausdifferenzierten, soziokulturellen Kommunikationszusammenhängen (Kunst, Wissenschaft etc.) und ihren Darstellungssystemen, wie z.B. Textsorten und Bildtypen (Diagramme als Gebrauchsbilder vs. Kunstbilder)165 sowie Gattungen und Genres (z.B. Baumdiagramm, Kreisdiagramm etc.). In der semiotischen Dimension wird überdies normativ reguliert, welche Inferenzen mit Diagrammen realisiert werden und in welchen kulturellen Praktiken (Narration etc.) ein Diagramm verwendet wird.166 Auch hier ist also der weite Begriff von Medien zwingend eingeschlossen. Überdies besteht insbesondere über den Schemabegriff ein enger Zusammenhang zwischen Zeichen und Kognition. Diese drei Dimensionen spielen irreduzibel zusammen, wenn – wie für die Diagrammatik typisch – das Diagramm als ›Medium des Denkens‹ postuliert wird. Eingedenk der Differenz zwischen praktischer Zugangsweise und repräsentierender Darstellungsweise ist – will man wirklich von ›Denken‹ sprechen – dabei gleichwohl entscheidend, dass das Motiv des Übergangs zwischen impliziter und expliziter Ebene theoretisiert wird. Genau dies soll im Folgenden unter dem Leitbegriff der Explikation geschehen, wobei Explikation mit Ludwig Jäger als explizierende Transkription gefasst werden wird. Explikation ist dabei immer auch, zumindest im Sinne Brandoms, ein Explizit-Machen167 – was im Sinne der Gleichursprünglichkeit eben nicht nur materielle und semiotische Aspekte von Praxis einschließt, sondern auch kognitive, 163 Hier ist an die Unterscheidung zwischen materieller Struktur des Diagramms als Raumding und semiotischer Räumlichkeit des diagrammatisierten Bezugsobjektes bei Heßler/Mersch (2009a, S. 26) zu erinnern. Vgl. im Kontext einer Diagrammatik der Narration auch Putzo (2014b, hier S. 84, S. 92). Dort wird teils in einem dualistischen Schema gedacht, das zwischen semiotischer Räumlichkeit und kognitivem Modell unterscheidet, teils darauf hingewiesen, dass diese Unterscheidung problematisch sei. 164 Der Begriff der »materiellen Substrate« findet sich in der Medientheorie Luhmanns. Vgl. dazu Khurana 2004, S. 99ff. 165 Vgl. den Beitrag von Majetschak 2005b. 166 Ursprünglich schien es mir sinnvoll, diese drei Dimensionen als ›kognitiv-perzeptiv‹, ›materiell-exterior‹ und ›semiotisch-kodifiziert‹ zu beschreiben. Damit sollte der Fokus speziell auf die Wahrnehmung in der Kognition, die sichtbare Äußerlichkeit und die normative Regelhaftigkeit der jeweiligen Kategorien gelegt werden. Allerdings gehen damit wesentliche Aspekte verloren, so zum Beispiel der Umstand, dass Kognition mehr ist als nur Wahrnehmung. 167 Vgl. Brandom 2001, S. 9ff., hier insb. S. 18ff.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

insbesondere das Moment des Bewusstwerdens und der Evidenz.168 Überblendet man das Motiv des Denkens mit dem Motiv des Explizit-Machens, dann muss man – bevor man die Kognition technisch (materiell) oder eher ›kulturalistisch‹ (semiotisch) ›erweitert‹ (oder umformuliert), allerdings erst einmal sehen, was kognitionswissenschaftlich unter ›Denken‹ verstanden wird.

2.1.5 Denken und Diagramm Um ein Verständnis für eine zeitgenössische Theorie des Denkens – also nicht der Kognition im Ganzen, sondern des ›Denkens‹ im Speziellen – zu entwickeln, lässt sich auf Michael Tomasello verweisen.169 Für Tomasello hat das ›Denken‹ im engeren Sinn mehrere »Schlüsselkomponenten«. Er nennt: »(1) die Fähigkeit, Erlebnisse ›offline‹ für sich selbst kognitiv zu repräsentieren; (2) die Fähigkeit, Schlußfolgerungen zu simulieren oder zu vollziehen [sowie, CE] diese Repräsentationen kausal, intentional und/logisch umzuwandeln; und (3) die Fähigkeit, sich selbst zu beobachten und einzuschätzen, wie diese simulierten Erlebnisse zu spezifischen Verhaltensergebnissen führen können – und auf diese Weise eine umsichtige Verhaltensentscheidung zu treffen.« 170 Während auch Tiere in der Lage sind, abstrakte Begriffe über Situationen und Entitäten in der Umwelt zu bilden, liegt die Besonderheit des menschlichen Denkens in der Fähigkeit, »ein und dieselbe Situation oder Entität unter unterschiedlichen und sogar widersprüchlichen sozialen Perspektiven begriff lich zu fassen«.171 Gleiches gilt für kausale und intentionale Schlüsse sowie für die Überwachung des Handlungserfolges. Tiere ziehen diese Schlüsse über die Umwelt ebenfalls und überwachen auch ihr Tun hinsichtlich des instrumentellen Erfolges. Menschen dagegen ziehen überdies ref lexive Schlüsse über sich selbst und überwachen ihr Handeln auch hinsichtlich »normative[r] Perspektiven und Maßstäbe«. Die menschliche Kognition ist damit in zwei Dimensionen verstrickt, die materielle Umwelt und die soziokulturelle Umwelt.172 Vor diesem Hintergrund identifiziert Tomasello drei Komponenten des Denkens: 1. schematische kognitive Repräsentation, 2. Simulation und Schlussfolgern und 3. Selbstbeobachtung des Verhaltens.173 ›Denken‹ entsteht demnach aus situationsgebundenen Wahrnehmungen von Umweltmerkmalen, die als »Typen, also in einer verallgemeinerten, schematisierten oder abstrakten Form« repräsentiert werden müssen,

168 Dafür findet sich eine Bestätigung in der kognitionswissenschaftlichen Theorie von Barbara Tversky. Dort wird betont, dass »sketches and gestures«, die als ›diagrammatisch‹ verstanden werden, sowohl dialogisch als auch im Selbstgespräch zur reflexiven Klärung von Gedanken verwendet werden, indem das Denken »reexternalized« (Tversky/Kessel 2014, S. 207) wird. 169 Tomasello (2014, S. 210) erwähnt Peirce auch als einen Gewährsmann für die These, dass sozial normierter Zeichengebrauch höhere Formen der Kognition zuallererst ermöglicht hat. 170 Tomasello 2014, S. 17. 171 Tomasello 2014, S. 17. 172 Vgl. Tomasello 2014, hier S. 17. 173 Vgl. Tomasello 2014, S. 24ff.

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»um kreative Schlußfolgerungen zu ziehen«.174 Für die Denkprozesse entscheidend sind typisierte »Mustermodell[e]«, die in einem Prozess der »Schematisierung« synthetisiert werden und »Objektkategorien, Ereignisschemata und Situationsmodelle« umfassen.175 Der Akt der Identifikation eines derartigen ›Typs‹ kann man mit Ludwig Jäger als ein jeweils »allgemeines und situationsenthobenes Konzept« fassen, in dem ein ›crossmodales‹ – das heißt über verschiedene Sinnesmodalitäten verteiltes – Wissen über Objekte, Ereignisse oder Situationen Wissen synthetisiert ist.176 Dieser ›Typ‹ erlaubt Schlüsse über diese Gegenstände und ihre Verhältnisse zueinander, in der Metaref lexion aber auch über den ›Typ‹ (bzw. das ›Konzept‹ selbst).177 Für diese Schlussfolgerungen im Bereich der Bedeutungskonventionen einer Gemeinschaft ist die (wesentlich semiotische) Fähigkeit entscheidend, sich Szenarien im Modus des ›als ob‹, also mit den Mitteln der Imagination, vor Augen zu führen. Tomasello nennt das »Simulation«, beschreibt damit aber eine Leistung der Imagination. Auf bauend auf Inferenzen, die Informationen über kausale und intentionale Verhältnisse geben, schließen die Schlussfolgerungen des Denkens stets viele mögliche Szenarien ein (inklusive irrealer Szenarien).178 Dabei ist das imaginative Variieren dieser möglichen Szenarien eine Fähigkeit, die – in dieser Sache ist sich der Kognitionswissenschaftler Tomasello mit einem Philosophen wie Brandom einig – über die Interaktion mit der soziokulturellen Umwelt vermittelt wird. Der Grund für diese Einigkeit ist die privilegierte Rolle, die das Explizitmachen für die Entstehung schlussfolgernden Denkens hat. Für Tomasello hat schlussfolgerndes Denken nämlich grundsätzlich zwei Seiten: Eine selbstreferenzielle, in der man zu einer Überzeugung gelangen will, und eine fremdreferenzielle, in der man mit anderen in einem durch logische Schlussfolgerungen geleiteten Dialog über verschiedene mögliche Überzeugungen steht.179 Die selbstreferenzielle Fähigkeit zu schlussfolgerndem Denken ist dabei für Tomasello aus dem fremdreferenziellen Austausch abgeleitet. Erst zwischenmenschliche Kooperationen machen es nötig, dass man seine Überzeugungen in einem Spiel aus Geben und Verlangen von Gründen explizieren muss: »Insgesamt ist diese Fähigkeit, Gedanken durch verschiedene inferentielle Beziehungen (prototypischerweise dadurch, daß man Gründe und Rechtfertigungen liefert) mit anderen Gedanken zu verknüpfen (sowohl die der anderen als auch die eigenen), entscheidend für die menschliche Vernunft im allgemeinen, und sie führt zu einer Art wechselseitiger Verknüpfung zwischen allen potentiellen Gedanken einer Person in einem holistischen ›Netz von Überzeugungen‹.« 180

174 Tomasello 2014, S. 27. 175 Tomasello 2014, S. 28. 176 Vgl. Jäger 2004, hier S. 33. 177 Vgl. Tomasello 2014, S. 28. 178 Vgl. Tomasello 2014, S. 29f. 179 Vgl. Tomasello 2014, S. 164ff. 180 Tomasello 2014, S. 168.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

Dieses Zitat ist im Grunde eine Paraphrase der Philosophie Brandoms. Aufschlussreich ist überdies auch Tomasellos Einschätzung der Funktion des Explizitmachens für die Entwicklung des Denkens: »Der Schlußstein von allem […] ist die Internalisierung dieser verschiedenen interpersonalen Prozesse des Explizitmachens von Dingen in das individuelle rationale Denken oder Schlußfolgern. Das Explizitmachen von Dingen, um das Verständnis eines Empfängers zu erleichtern, führt den Kommunizierenden – vielleicht in einer Art von innerem Dialog – zu einer Simulation dessen, wie sein geplanter Kommunikationsakt wohl verstanden werden könnte, und zwar bevor er tatsächlich eine Äußerung produziert.« 181 Jenes »Netz der Überzeugungen« ist, mit Brandom gesagt, ein normatives Netz, innerhalb dessen es zu einem Verlangen und Geben von Gründen kommt. Hier entstehen die soziokulturellen Praktiken des Explizitmachens, die nach Tomasello das schlussfolgernde Denken maßgeblich prägen. Schlussfolgerndes Denken ist daher kein rein ›natürlicher‹ und schon gar kein rein ›innerlicher‹ Prozess. Auch sind die Leistungen des Denkens für Tomasello nicht vom Vollzug alltäglicher Praktiken abgeschnitten. Vielmehr ist der ›Off line‹-Modus so zu verstehen, dass das Denken als Explizitmachen eine Veränderung des Aggregatzustandes von ›online‹ vollzogenen Praktiken ist. Menschen haben die kognitive Fähigkeit ausgebildet, nicht nur den Erfolg der eigenen Praktiken, sondern auch der eigenen Simulationen ref lexiv zu kontrollieren – was eine wichtige Fähigkeit in Problemsituationen ist, die nach einem Explizitmachen verlangen.182 Traditionell wird die Medialität dieser Leistungen als sprachliche Leistungen beschrieben. Ludwig Jäger etwa stellt mit Blick auf die einschlägige linguistische Diskussion fest, dass der Übergang von, um im Bild zu bleiben, ›Online‹- zu ›Off line‹-Modus im Explizitmachen durch die folgenden – von mir an dieser Stelle nach Jäger paraphrasierten, Momente gekennzeichnet ist: • Es kommt zu einem Übergang von situationsgebundenem zu situationsentkoppeltem Denken. • Es findet ein Umschalten von der motorischen Interaktion mit externen Objekten in einen Modus des Umgangs mit tendenziell anlasslosen Repräsentationen statt. • Die Erinnerung und die Vorwegnahme von vergangenen oder zukünftigen Szenarien spielt eine zentrale Rolle. • Es kommt zu einer dualen Beobachtung von online und off line gegebenen Sachverhalten. • Es werden Zuschreibung eines Ich-Bewusstseins erzeugt, das die Ergebnisse seines Handelns über Raum und Zeit hinweg prozessiert (ref lektiert).183 Explizitmachen ist somit entscheidend für die bei Tomasello diskutierte Fähigkeit des menschlichen Denkens, »Metarepräsentationen« hervorzubringen, die insbesondere 181 Tomasello 2014, S. 168f. 182 Vgl. Tomasello 2014, S. 31. 183 Ich folge mit diesen Punkten Jäger 2004, S. 34f.

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durch das sprachliche Merkmal der »Kompositionalität« und »Rekursivität« geprägt sind.184 Wenn es aber um die Fähigkeit geht, sich mit sprachlichen Mitteln »Handlungspläne kreativ im Arbeitsgedächtnis vorzustellen und durchzuspielen«,185 bewegt man sich nicht nur in der Welt der Zeichen, sondern auch im Kontext der Frage, welche Zeichen wie und zu welchem Zweck für welche Inferenzen verwendet werden. Inwiefern ist die sprachliche Praxis also eine für das Denken zwar priorisierte Zeichenpraxis, die als solche implizite kognitive Praxis aber in einem Verhältnis zu anderen Zeichenpraktiken steht? An dieser Stelle ergibt sich ein Defizit bei Tomasello. Obwohl er, erkennbar inspiriert durch Brandom, die soziokulturelle Normativität von Denken anerkennt und die enge Verbindung des Denkens mit der Sprache hervorhebt, weist er den Zeichen eine relativ späte Bedeutung im Prozess des Denkens zu. In seinem Modell beschränkt er die Rolle von Zeichen auf die höchsten Stufen des Denkens, die sich auf Ebene der expliziten Darstellungsweise bewegen, wie etwa in den Naturwissenschaften oder der Mathematik. Geschuldet ist das einem missverständlichen Zeichenbegriff. Denn Tomasello vereinnahmt ausgerechnet Peirces Philosophie für die These, gezeigt zu haben, dass explizite Formen des Denkens nur innerhalb schriftlich vermittelter sozialer Konventionen möglich seien.186 Diese soziale Dimension der Semiose spielt bei Peirce zweifelsohne eine Rolle. Die Semiose selbst aber setzt bereits auf Ebene der schematischen kognitiven Repräsentation, Simulationen und Schlussfolgerungen sowie der Selbstbeobachtungen des Handelns an, also an der Schnittstelle zwischen den Brandom’schen »subpersonalen Repräsentationen«, mithin Kognition im Sinne kausaler Relationen in der Interaktion mit der materiellen Umwelt, und den »praktischen kognitiven Fähigkeiten«, also Kognition im Sinne einer durch ein ›knowing-how‹ angeleitete Praxis oder, in der hier verwendeten Terminologie: der Ebene impliziter Zugangsweise. Dieser deutlich breitere Zuschnitt der Zeichentheorie bei Peirce führt dazu, dass die Philosophie von Peirce etwas fassen kann, was Tomasello nicht näher beachtet: die Unterschiede zwischen verschiedenen Formen von Zeichenpraxis. Im Vorgriff auf die ausführlichere Diskussion von Peirce gesagt ( Kap. 3) wird im Rahmen der Peirce’schen Ref lexionen auf Diagramme eine Theorie entwickelt, in der insbesondere auch die anschaulich-phänomenalen Anteile begriff lich-konzeptueller Inferenzen diskutiert werden. Es geht Peirce um einen im Verhältnis von Wahrnehmung und Denken angelegten ref lexiven ›Eigenwert‹ auf Seiten diagrammatischer Zeichen gegenüber der sprachlichen Informationsverarbeitung. In diesem Eigenwert stimulieren und instruieren diagrammatische Zeichen das Denken. Ein Eigenwert fällt den diagrammatischen Zeichen dabei unter anderem deshalb zu, weil sie in einer eigenen Beziehung zu jenen inferenziellen Typisierungen stehen, die bei Tomasello als »Mustermodelle« erscheinen – also die Schemata für Objekte, Ereignisse und Situationen. Mit Peirce ist es daher möglich Prozesse zu fassen, die bei zeitgenössischen Autoren wie Tomasello, aber auch Brandom, weit weniger Beachtung erfahren. Der Rückbezug diagrammatischer Zeichen bis auf Ebene perzeptiver Akte bei Peirce ist zudem 184 Vgl. Tomasello 2014, hier S.192, dort unter Verweis auf Dan Sperbers Arbeiten. 185 Tomasello 2014, S. 193. 186 Vgl. Tomasello 2014, S. 210.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

der Grund, dass es nicht hinreichend ist, die Diagrammatik von einer kulturell konventionalisierten Größe des Diagramms her zu entwickeln. Dieses Verständnis von Diagramm setzt auf Ebene der expliziten Darstellungsweisen an, bei Peirce geht es aber um einen pragmatistischen Ansatz, also um ein Denken, dass der Praxis im Sinne einer impliziten Zugangsweise den Vorrang vor expliziten Repräsentationen einräumt ( Kap. 3.5).187 In der Form, die Peirce ihr gegeben hat, behandelt die Diagrammatik auch nur in einem sehr speziellen Sinn eine Theorie des Diagramms als einer konventionalisierten Form.188 Das Missverständnis, von Peirce eine solche Theorie zu erwarten,189 entsteht, wenn man Begriffe wie ›diagrammatisches Denken‹ aufruft. Man kann Peirce so verstehen, dass es ihm um das Verhältnis von Inferenzen des ›Denkens‹ geht, die auf Ebene der impliziten Zugangsweise ›diagrammatisch‹ sind, und die in den expliziten Darstellungsweisen als Tomasello’sche »Metarepräsentationen« realisiert und ref lektiert werden können. Der Argumentationsweg führt aber nicht von einer Explikation der zeichenhaften oder kommunikativen Merkmale der Repräsentationsform des Diagramms zu einer Grammatik dieser Diagramme. Analog zur Kulturtechnikforschung bilden Erwägungen zu Praktiken, die sich als Diagrammatisierungen fassen lassen, vielmehr den Ausgangspunkt. Diagramme sind dabei eine von verschiedenen relevanten semiotischen Formen innerhalb dieser Praktiken, allerdings eine dahingehend privilegierte, als sie eine explizite Ref lexionsform für Diagrammatisierungen aufgefasst werden können. Wenn man in der Diagrammatik jetzt eine Theorie der Teile einer inferenziellen, denkenden Praxis sieht, die so verfährt, wie es ein Diagramm tut, also ›diagrammatisch‹, dann kann man mit Peirce sagen, dass diese Schlussfolgerung durch eine metaphorische Analogie mit dem Diagramm als Zeichenklasse beschrieben werden kann und als ideal in einem Diagramm realisiert angesehen wird. Beschrieben wird mithin immer auch eine Diagrammatisierung vor dem ausdifferenzierten Diagramm.190 Die zentralen Leistungen des Denkens, so auch die Leistung des Explizitmachens, werden somit von einem anderen Ausgangspunkt erklärt, als durch die enge Verklammerung von Denken und Sprache, die sich bei Tomasello oder auch Brandom findet. Dem Begriff ›diagrammatisches Denken‹ liegt, zumindest in dieser Lesart, die Idee zugrunde, dass die Gattung des Diagramms typische Merkmale einer Art des Denkens aufweist, die in Beziehung mit dieser Art des Denkens gesetzt werden, prinzipiell aber auch ohne Diagramm (im gattungstheoretischen Sinn) in Erscheinung tre187 Das allerdings führt bei Peirce zu einem Defizit im Hinblick auf eine Theorie des impliziten Wissens. 188 Dies geschieht insbesondere im Rahmen der Theorie der existenziellen Graphen im Hinblick auf raumlogische Aussagen. Es ist kein Zufall, dass die Peirce’sche Diagrammatik in der Literatur zur Informationsvisualisierung, soweit ich sehen kann, eine bestenfalls nebensächliche Rolle spielt. Vgl. etwa Meirelles 2013; Ware 2013. Wenn die Semiotik näher berücksichtigt wird, dann Bertin 1974. Übersehen dagegen ist Richards 1984. 189 Das gilt nicht für die philosophischen Diskurse, die sich mit der raumbasierten Logik der Existenziellen Graphen befassen. Aber auch hier: Es bleibt eine philosophische oder, etwas weiter gefasst, erkenntnistheoretische, also auch von Kognitionswissenschaft, Psychologie etc. betriebene, Diskussion innerhalb der Wissenschaft. 190 Vgl. hier auch Drucker 2013a, S. 91: »The principles of diagrammatic thinking are not exclusive to graphical expressions, but their graphicality makes them legible and also makes their historical lineage apparent.«

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ten können.191 Diagrammatisches Denken ist vielmehr eine Art des Denkens, die man, auf Grundlage einer metaphorischen Relation, in Begriffen des Diagramms betrachten und verstehen kann ( Kap. 3.3.5).192 In ähnlicher Weise schreibt Barbara Tversky, dass Diagramme einen Einblick »into the structure of the thought that generated them« erlauben, als solche aber insofern paradigmatisch für das Denken stehen, als dies zugleich eine Einsicht »into the correspondences between thought and the visual-spatial expressions of thought« sei.193 Zwar beruht die Einschätzung von Tversky auf bestimmten Annahmen über die Räumlichkeit des menschlichen Kategoriensystems ( Kap. 5.1). Aber dennoch: Entscheidend ist die Perspektive, dass das Diagramm dahingehend idealtypisch Einblick in das Denken gibt, als es Denken im Vollzug zeigt, also ein »Thinking in Action«194 ist. Ist diese Perspektive einmal etabliert, wird auch klarer, warum das, was in einem praktischen Prozess des Denkens als ›Diagramm‹ fungiert, eine heuristische Übergangskonstruktion ist, die in der inferenziellen Auseinandersetzung mit Darstellungssystemen und ihren wechselseitigen Konfigurationsverhältnissen etabliert wird. Wie an diagrammatischen Zeichen studiert werden kann, entstehen in konventionellen Diagrammen oder in als Diagrammen gelesenen Zeichen ›Denkbilder‹, die als Metarepräsentationen gefasst werden können. Das Denkbild kommt ins Spiel, wenn aus der Wahrnehmung eines Phänomens heraus – um innerhalb der Peirce’schen Parallelisierung zu bleiben – die Notwendigkeit entsteht, eine ›Diagrammatisierung‹ vorzunehmen, wenn es also notwendig wird, ein diagrammatisches Darstellungssystem zu konstruieren und mit diesem zu denken.195 Allerdings müssen bei Anlass der Frage nach der Differenz zwischen verschiedenen Zeichenpraktiken und ihrer Funktion für das Denken auch die Leerstellen der Semiotik im Blick behalten werden. Eine dieser Leerstellen betrifft die Rolle der Medien. Peirce hat keine Medientheorie entwickelt. Peirce hatte aber ein Gespür für die semiotischen Unterschiede verschiedener expliziter, repräsentierender Darstellungssysteme. Und dieses Gespür führt zu einer medientheoretischen Dimension. Exemplarisch festmachen kann man das an der Frage Kants nach der Vermittlung zwischen Anschaulich-Phänomenalem und Begriff lich-Konzeptuellem durch ein ›Schema‹. Diese Vermittlung wird oft metaphorisch durch die mediale Differenz zwischen Bild und Sprache/Schrift erklärt.196 Man sagt dann, die Anschauung sei wie das ›wahr191 Vgl. am Beispiel der Infografik (als ›Diagramm‹) auch Lischeid 2012, S. 29: »›Diagrammatisches Denken‹ ist […] demnach nicht notwendig an die Darstellungsform des ›Diagramms‹ gebunden, das Genre des Diagramms bildet aber umgekehrt einen prototypischen Stellvertreter eines solchen Denkens, da es sich vor anderen, anschaulicheren Darstellungsformen gerade durch ihren höheren Abstraktionsgrad in der Relationierung ihrer verbalen und visuellen Sinnelemente auszeichnet.« 192 Wie gezeigt werden soll, kann man diese Relation aus einer Lektüre von Peirce heraus als metaphorisch verstehen und die Metapher dabei auch systematisch ernst nehmen, bildet sie doch eine Brücke zur Ebene der diagrammatischen Anteile der impliziten Zugangsweise ( Kap. 3.3). 193 Tversky 2015, S. 100. 194 Vgl. Tversky/Kessel 2014. 195 Vgl. Hoffmann 2005, S. 157ff. 196 Gottfried Boehm (2007, S.  121) bemerkt zu den epistemologischen Funktionen von Kants Schema-Begriff: »Was uns fehlt, ist das Scharnier, welches das Abstrakt-Unsichtbare mit dem Konkret-Sinnlichen flexibel verschränkt, ein missing link.«

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

nehmungsnähere‹ Medium des Bildes und der Begriff sei wie das ›begriff lichere‹ Medium der Sprache bzw. der Schrift.197 Allerdings sind es verschiedene Fragen, ob man in der Nachfolge Kants überlegt, wie das Schema zwischen Anschaulich-Phänomenalem und Begriff lich-Konzeptuellem vermittelt, oder ob man sich darauf konzentriert, zu beobachten, wie das Diagramm (im Sinne eines Quasi-Schemas) als externalisierte Form zwischen bildlichen und sprachlichen Formen der Darstellung seinen eigenen Raum reklamiert.198 Der Schemabegriff wird zum Schlüsselbegriff, um die Übersetzungsfunktion des Diagramms zu bestimmen. Sybille Krämer bemerkt daher pointiert, dass Diagramme aufgrund ihrer Stellung »als ein Drittes […] wie ›Übersetzungsapparate‹ zwischen Heterogenem« funktionieren.199 Dies führt noch einmal zurück zu der Frage, was das Diagramm für das Explizitmachen als einem Schlüsselprozess des Denkens so gut qualifiziert. Im Vorgriff auf die Interpretation von Peirce gesagt ( Kap. 3) ist das Diagramm eine so wichtige Zeichenklasse, weil Peirce von der Form der Interaktion fasziniert war, die zwischen verschiedenen Ebenen besteht, auf denen man das Wirken von Diagrammatisierungen beobachten kann. Diese Faszination rührt aus dem Verhältnis, das diagrammatische Darstellungssysteme zur Ausbildung von Metarepräsentationen unterhalten. Mit einem Diagramm kann man eben ›denken‹ und das Denken – als Denken in Zeichen, die bereits in der Wahrnehmung enthalten sind – ref lexiv werden lassen. Materielle Diagramme, etwa Peirces »existenzielle Graphen«, können dann aber auch als explizite Modelle von Merkmalen von Denkprozessen einstehen, die anderweitig implizit ablaufen.200 Dieses Ref lexionspotenzial für das Denken ergibt sich aus dem Umstand, dass diagrammatische Darstellungen auf eine Art das Denken stimulieren, die man nicht nur als eigenständige Art der Darstellungsweise, sondern – pragmatistisch gewendet und auf die ganze Breite des Denkprozesses bezogen – als die Praxis einer produktiven Wissenserweiterung fassen kann, die neben der Sprache und im Austausch mit ihr einen eigenen Erkenntniswert reklamiert. Diagramme können neues Wissen generieren, weil sie dazu anregen, dass man in verräumlichten Relationen neue Möglichkeiten erkennt, also eine imaginative Leistung des ›Möglichkeitsdenkens‹ vollzieht – im Tomasello’schen Sinn also zum Beispiel in einem Prozess des Explizitmachens inferenzielle Abwägungen über Handlungspläne trifft.201 Eben das kann man im Sinne 197 Den Begriff des Bildes als »wahrnehmungsnahem« Medium findet man u.a. bei Sachs-Hombach 2005. 198 Vgl. Krämer 2016, S. 86. 199 Krämer 2016, S. 86. 200 Peirce spricht für diese implizite Schemata (ebenso wie sein Interpret Umberto Eco) auch von einem »Diagrammskelett« ( Kap. 3.2.1). Aufgrund der für sie typischen bildlich-räumlichen Verfassung als ›Relationenbilder‹ haben diese Diagramme gegenüber der Sprache, der Schrift, aber auch gegenüber abstrakten oder gegenständlichen Bildern, bei der Repräsentation von Denkprozessen bestimmte Vor- und Nachteile. Diese Vor- und Nachteile werden in der Philosophie vor allem in Bezug auf ihr logisches Potenzial und die Relevanz von Diagrammen in der Geometrie hin diskutiert und sind seit Langem ein Gegenstand entsprechender Spezialdiskurse. Vgl. u.a. Shimojima 1996; Shimojima 2001; Shin 2002; Shin 2012; Wöpking 2016. 201 Vgl. die Beispiele in Drucker 2014, S. 2ff. Vgl. zum Zusammenhang von Abduktion (als neues Wissen generierendem Schluss), Wahrnehmung und diagrammatischem Denken bei Peirce auch Hoffmann 1999; Hoffmann 2004, S. 301f. Für diese Funktion von Diagrammen interessiert sich auch die

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Tomasellos als ›ref lexive‹ Perspektive auf die das Denken kennzeichnenden Inferenzen begreifen.

2.2 Diagrammatisierung als explikative Praxis Philosophisch ist die Position von Peirce interessant, weil sie die Diskussion des Diagramms als eines semiotischen Darstellungssystems, das zum Zweck der Repräsentation verwendet wird, mit der Diskussion des Diagramms als einer kognitiven Kategorie verbindet – insbesondere mit der Frage, wie in der Wahrnehmung schlussfolgernd interpretiert wird und sich die Begriffe (Überzeugungen) des Denkens konstituieren. Für die Medientheorie ist die Peirce’sche Verbindung von Interpretation und Wahrnehmung mit Repräsentation und Darstellung ebenfalls von großem Interesse, bestätigt sie doch die These, dass das Denken, und die Klärung von Beziehungen und Inhalten des Denkens, ›mediale‹ Sachverhalte sind. Das Verhältnis eines konventionellen Verständnisses von Diagramm im engen Sinn, also von ›Diagramm‹ auf Ebene expliziter, repräsentierender Darstellungsweise, und ›Diagramm‹ im weiten Sinn, also Praktiken der Diagrammatisierung auf Ebene impliziter Zugangsweise, die etwa vom Schema-Begriff her entwickelt werden kann, zu rekonstruieren, ist daher eine Schlüsselaufgabe, die im Folgenden nicht nur auf ihre medientheoretische Überformung hin zugeschnitten, sondern in diesem Zuge auch als Praxis der Explikation entwickelt werden muss. Für kritische Ohren klingt dieser Ansatz verdächtig nach einer weiteren Variante von Medienapriorismus.202 Einer solchen Position wäre der Ansatz auch zuzurechnen, würde er behaupten, dass die Leistungen diagrammatischer Zeichen und ihr Zusammenspiel mit den Prozessen der Interpretation von einem Medium her als deren Bedingung der Möglichkeit determiniert wären. Zu konstatieren, dass ein Medium, zum Beispiel ein Blatt Papier, auf das ein Diagramm gezeichnet wird, in der Praxis notwendig ist, heißt aber nicht, zu behaupten, dass das Diagramm vom Blatt Papier ›festgelegt‹ werden würde. Das Medium hat einen Einf luss, weil es das Darstellungssystem des Diagramms möglich macht und praktische Eingriffsmöglichkeiten bietet. Aber kein Medium determiniert alle Praktiken des Umgangs mit ihm. Hier bewährt sich das Argument der Dekonstruktion: Es besteht eine prinzipielle Offenheit im Verhältnis von zeichenhaften und nicht-zeichenhaften Praktiken.203 Daher empfiehlt es Forschung zu Informationsvisualisierung, allerdings meist mit bestenfalls peripherem Bezug auf Peirce. Vgl. Ware 2013, S. 6f. 202 Vgl. zur Opposition zwischen »Medienapriorismus« und »Medienmarginalismus« Krämer 2003a sowie die Weiterentwicklung des Gedankens bei Krämer 2004a; Krämer 2008; Krämer 2010. Vor der Konjunktur der Praxistheorie wurde diese Position durch konstruktivistische Theorien geprägt. Wenngleich nicht strukturtheoretisch begründet, sind entsprechende Argumentationsfiguren nach wie vor prominent, wobei ehemals der ›Struktur‹ zugeschriebene Funktionen nunmehr auf die ›Praxis‹ übertragen werden (insb. die Ermöglichungs- und Begrenzungsfunktionen). So heißt es bei Harun Maye (2010, S. 121): »Im medienwissenschaftlichen Diskurs […] bezeichnen Kulturtechniken […] Praktiken und Verfahren der Erzeugung von Kultur, die an der Schnittstelle von Geistes- und Technikwissenschaften ansetzen und als Bedingung der Möglichkeit von Kultur überhaupt begriffen werden.« 203 Vgl. Bertram 2008.

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sich, den Prozess medialer Ermöglichung ergänzend zur Ebene der diskursiven Konstitution von Bedeutung in den Medien als eine im Gebrauch begrenzte Ermöglichung anzusehen. Allerdings ist es zu einfach, auf Topos zu beharren, wonach die Medien die ›harten‹ Bedingungen der ›weichen‹ Zeichenzirkulation sind. Diese Position, die in einer Zeit entstanden ist, in der es eine Neuerung war, Kultur und Kommunikation von der Seite ihrer materiellen ›Hardware‹ zu betrachten, hat ihre unbestrittenen Verdienste. Dennoch ist sie philosophisch und sozialtheoretisch problematisch. Medien sind immer auch durch das beeinf lusst, was sie semiotisch vermitteln. Wie etwa Hartmut Winkler gezeigt hat, lässt sich dies strukturtheoretisch für die Ökonomie der Zirkulation von Zeichen modellieren.204 Die Medien passen sich an das an, was man mit den in ihnen verkörperten Zeichen tun kann. Medien unterliegen deshalb insofern einem Wandel, als ihre ›Ermöglichungsfunktion‹ darin besteht, Praktiken des Umgangs mit Zeichen zu ermöglichen. Jedoch wird diese Ermöglichungsfunktion durch das, was sie ermöglicht – die Praxis des Umgangs mit Zeichen – selbst wieder verändert. Diese Einschätzung ist im Fall der Diagrammatik von umso größerer Bedeutung, als sowohl das kreative als auch das explikative Potenzial von Diagrammen darin besteht, wie die in einem Diagramm dargestellten Relationen rekonfiguriert werden – also mit dem Diagramm etwas zu tun, mit ihm in einem wissenserweiternden Sinn schlussfolgernd zu handeln. Aus einem Diagramm Schlussfolgerungen abzuleiten, geschieht im Rahmen einer Rekonfiguration der im Diagramm dargestellten Relationen. Folgt man Peirce, läuft dieser Prozess so ab, dass entweder eine Erkenntnis realisiert wird, die im Diagramm angelegt ist, also keine größere Arbeit notwendig ist, oder aber eine neue Einsicht, die so vorher nicht im Diagramm enthalten war ( Kap. 3.3.5). Entscheidend ist die Art der Konstruktion und des Umgangs mit dem Diagramm. Im Anschluss an eine in der Diagrammatik-Forschung weit verbreitete Formulierung kann man von einem »epistemischen Gebrauch« von Diagrammen sprechen, der die Grundlage einer explikativen Funktion von Diagrammatisierungen bildet.205 Auf diese Art ist es auch möglich, Peirces pragmatisch begründete Theorie der Diagrammatik so zu verstehen, dass sie ihr Augenmerk auf ein (aus einem größeren Zusammenhang selektiertes) Kontinuum aus diagrammatischen Praktiken richtet.206 Dies jedoch führt zurück zu der zentralen Frage: Was kommt ›zuerst‹ – ein weit gefasstes Konzept von Diagrammatik, das in der Kognition beginnt und auch ohne Diagramme im engeren Sinn auskommt oder zwei eng gefasstes Konzept, das sich auf das Denken mit Diagrammen im engeren Sinn konzentriert? Können medientheoretische Überlegungen in dieser Frage etwas beitragen?

204 Vgl. Winkler 2004a. 205 Vgl. Wöpking 2016. 206 Ich verwende den Kontinuums-Begriff im Sinne einer Kontinuität von Praktiken. Peirce’s eigene Kontinuums-Theorie wird sehr gut aufgearbeitet und fruchtbar gemacht bei Wentz 2017, hier insb. S. 121ff.

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2.2.1 Zur Diskussion um mediale Praktiken Von Diagrammatisierungen als ›Praktiken‹ und zumal ›medialen Praktiken‹ zu sprechen klingt vielleicht schnell einleuchtend, allerdings ist die Rede von einer »medialen Praxis« oder »Medienpraktiken« ist keineswegs so selbstverständlich, wie ihr ubiquitärer Gebrauch in der zeitgenössischen Medienwissenschaft suggeriert.207 Der Unterschied, den Medien in der Kultur machen, ist in der Medienwissenschaft bis ca. Anfang/Mitte der 2000er-Jahre durch (de-)konstruktivistische Ansätze (Poststrukturalismus, Systemtheorie) beschrieben worden. Während der ›radikale Konstruktivismus‹ seine ›radikale‹ Sprengkraft lange verloren hat, ist ein konstruktivistischer Grundkonsens in der Medientheorie nach wie vor sehr lebendig. Die Varianten konstruktivistischer Theorien treffen sich in der Überlegung, Medien als verzeitlichte und verräumlichte, historisch kontingente, relationale Anordnungen zu begreifen, also als Strukturen, Diskurse, Dispositive oder Systeme.208 Medien sind die Wahrnehmung und die Kommunikation bestimmende Strukturen, die eine Auswahl aus einer Menge von Möglichkeiten treffen. Dadurch, dass diese »Differenz der Medien«209 Möglichkeiten eröffnet und andere ausschließt, machen Medien über Raum und Zeit ausgedehnte Fortsetzungen der Kommunikation wahrscheinlicher (und andere unwahrscheinlicher). In dieser Beschreibung gelten Medien als eine Form von »Quasi-Transzendentalien«.210 In dieser Beschreibung sind Medien kulturimmanente Bedingungen der Möglichkeit und der Unmöglichkeit von Kommunikation. Als in einer Kultur hervorgebrachte Entitäten eröffnen Medien innerhalb der Kommunikation Möglichkeitshorizonte. Medien irritieren die Gesellschaft, indem sie kommunikative Möglichkeitsüberschüsse in die Gesellschaft einspeisen, die in kulturellen Formenbildungen abgearbeitet, fortgeschrieben und vergrößert werden.211 Der Akt der medialen Ermöglichung wird vor differenzlogischem Hintergrund als eine zugleich trennende und verbindende Operation gedacht und kann an differenzierungstheoretische Überlegungen gebunden werden.212 Dieser – in unspezifischer Anlehnung an Sybille Krämer gesagt – ›strukturlogische‹ Blick auf Medien verdankt seine Durchsetzung in der Medienwissenschaft nicht 207 Vgl. zur Diskussion um ›Medienpraktiken‹ auch Bräuchler/Postill 2010; Dang-Anh et al. 2017; Gießmann 2018. 208 Die Debatte um eine ›Medienökologie‹ sowie andere, neuere technikphilosophische Großtheorien aus dem Feld der digitalen Medien können hier nicht berücksichtigt werden. Vgl. Hörl 2011. 209 Vgl. Tholen 2002; Tholen 2005; Tholen 2012. 210 Vgl. Waldenfels 1998, S. 55ff., der sich hier auf quasi-apriorische Ordnungen wie Diskurse und Dispositive bezieht. Auch die Medien können als solche quasi-apriorischen Ordnungen aufgefasst werden. 211 Vgl. Baecker 2007, S. 7ff. 212 Vgl. auch Renn 2006a. Mit Blick auf Niklas Luhmann schreibt Andreas Ziemann (2006, S. 8) zur Irritation durch die Medien Schrift, Buchdruck, Fernsehen und Computer: »Jedes Mal wurde die Gesellschaft dadurch unter Anpassungsdruck und Rekombinationszwang gesetzt, und jedes Mal hat sich ›durch jede nachfolgende Errungenschaft die Gesamtgesellschaft unter Einschluß ihrer schon älteren Möglichkeiten rekonstituiert‹ […]. Die allgemeine Richtung dieser (massen-)medialen Entwicklung lässt sich erstens als Ausweitung kommunikativer Erreichbarkeit beschreiben, zweitens als Erhöhung kommunikativer Integration und drittens als Differenzierung hoch spezieller Kommunikationsformen.«

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zuletzt der technizistischen Medientheorie.213 Verstanden als ein Strukturbegriff vermeidet er, zumindest in neueren Varianten, jedoch die einseitige Fixierung auf die technische Entwicklung. Andreas Ziemann etwa schreibt: »Medien sind die notwendige Infrastruktur sozialer Prozesse und der modernen (Welt) Gesellschaft; Medien entstehen aus (r)evolutionären Wechselwirkungen mit Gesellschaftsstrukturen, bevor sie sich dann eigenlogisch etablieren; Medien konstituieren, strukturieren und limitieren oder erweitern fortlaufend Handlungen und Kommunikationen […].«214 Diese Fixierung auf Medien als quasi-apriorische Bedingungen, so etwa der Wahrnehmung, hat dazu geführt, dass die – erneut mit Krämer gesprochen – ›gebrauchslogische‹ Sicht auf Medien durch die Fokussierung auf den Strukturbegriff in der Medienwissenschaft unterbelichtet geblieben ist.215 Die Interaktionsebene mit den Medien, der Mediengebrauch, darf als situative Größe in den verschiedenen Anschlusshandlungen von Kommunikation jedoch nicht außen vor bleiben. Wie die aus der Kulturtechnikforschung heraus entwickelten Argumente zeigen, muss das konstruktivistische Paradigma revidiert werden. Die Frage nach der Einbettung von Medien in Praktiken hat sehr viel Aufmerksamkeit erfahren, ein wesentlich aus der sozialwissenschaftlichen Forschung heraus entwickeltes praxistheoretisches Programm ist inzwischen in der Medienwissenschaft etabliert. Angesichts der Digitalisierung der Medienlandschaft und den daraus resultierenden Unzulänglichkeiten älterer Diskurse um Intermedialität216 – wird nicht zuletzt aus berechtigten methodologischen Gründen – eine Neuorientierung auf Grundlage des Begriffs der besagten »Medienpraktiken« verfolgt.217 Versteht sich diese Debatte dabei primär als Fortführung (und inzwischen mitunter auch Kritik) der Kulturtechnik-Forschung, soll an dieser Stelle jedoch ein anderer Weg eingeschlagen werden. Dabei geht es nicht um die Entwicklung einer eigenständigen ›Praxistheorie‹, sondern um die Sichtung auf die Praxis bezogenen Theoriefiguren innerhalb medientheoretischer und medienphilosophischer Diskurse, wie sie sich im Ausgang aus der Debatte um Performativität gebildet haben.218 Dies ist deshalb wichtig, weil diese eher ältere Debatte die Verschränkung von Praktiken mit der pragmatistischen Frage nach der Rolle von Semiotik – und somit der nach der Konstitution von Bedeutung ( Kap. 3.1) – stärker in den Vordergrund rückt, so etwa in Hartmut Winklers semiotisch inspirierter Medientheorie,219 Sybille Krämers Kritik am Medienapriorismus220 oder Ludwig Jägers ›operative Mediensemantik‹.221 213 Vgl. Krämer 2008, S. 33ff. 214 Ziemann 2006, S. 9. 215 Vgl. Krämer 2008, S. 35. 216 Vgl. hier insbesondere Schüttpelz/Gießmann 2015, S. 23ff. 217 Vgl. Gießmann 2018, hier insb. S. 96ff. 218 Im erweiterten Sinne zu nennen sind hier auch medientheoretische Überlegungen zu »Szenarien medialen Handelns«. Vgl. Wolfsteiner/Rautzenberg 2013. 219 Winkler 2004a; Winkler 2008b. 220 Krämer 2008. 221 Jäger 2002; Jäger 2012.

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Diese Theorien orientieren sich an Begriffen wie Praxis und Handlung als den leitenden Größen der medientheoretischen Beschreibung und stellen dabei eine Fortführung der in den Kulturwissenschaften stark rezipierten Debatte um die Verschränkung des Performativitäts- mit dem Medialitätsbegriff um 2000 dar.222 Die Debatte um Performativität konnte das intentionalistische sprechakttheoretische Verständnis von Performanz um ein Denken von Praxis als einem in materielle Kontexte eingebetteten Vollzug erweitern.223 Die Karriere von verwandten Begriffen wie ›Iterabilität‹, später auch ›Operativität‹ hat hierdurch einen wichtigen Anschub erfahren.224 Diese Begriffe sollten auch Medien als ›performative‹ Instanzen verständlich machen. Speziell an den Schnittstellen zu ästhetischen Theorien ist der Begriff ›Performativität‹ über die Jahre allerdings zu einem vagen Oberbegriff geworden, der mitunter mehr verschleiert, als er noch sachlich beschreibt.225 Allzu oft dient Performativität als Residualkategorie, in die alle möglichen – durch die theoretische Notwendigkeit eines Denkens einer etwas hervorbringenden Leistung von Praktiken aufgeworfenen – Theorieprobleme hineinprojiziert werden. Diese Kritik ändert allerdings nichts daran, dass die Performativitätsdebatte die Theoriefigur eines ›Vorrangs der Praxis‹ in die medientheoretischen Diskurse eingespeist hat, von der die heutigen Diskurse noch zehren und die zwischenzeitlich zu einer kleinen Debatte um »postkonstruktivistische« Theorieperspektiven geführt hat.226 Aufgesetzt werden soll die nähere Diskussion von Winkler, Krämer und Jäger daher auf zunächst auf einen speziellen Zusammenhang aus dem Kontext dieser Debatte, der meines Wissens in der Medienwissenschaft bisher kaum rezipiert wurde:227 die Übersetzungstheorie des Soziologen Joachim Renn.228 Renns Theorie ist nicht nur deshalb aufschlussreich, weil sie eine pragmatistisch fundierte, gesellschaftstheoretische Alternative zum derzeit in der Medienwissenschaft dominanten ANT- und STS-Paradigma darstellt, sondern eben auch nicht in die ausgetretenen Pfade der konstruktivistischen Theorien zurückfällt.229 Wie kaum eine andere Sozialtheorie hat Renn überdies das Problem der Explikation impliziten Wissens zum Gegenstand gemacht.230 Begreift man Diagrammatisierungen als explikative epistemische Praktiken (bzw. Praktiken des Denkens) im Übergang von impli222 Vgl. Mersch 2002a; Mersch 2002b; Mersch 2003; Krämer 2002; Krämer 2004b. 223 Vgl. auch den Überblick bei Wirth 2002. 224 Vgl. hier auch Schneider 2016. 225 Vgl. dazu auch Ernst 2012c. 226 Vgl. Renn/Ernst/Isenböck 2012. Die Absicht dieser Theoriediskussion ist (bzw. war) es, praxistheoretische Perspektiven als kritisches Korrektiv auf konstruktivistische Theoriemodelle zu beziehen. Inzwischen ist dies in kultursoziologischen Kontexten, wenngleich mit einem eher auf die STS konzentrierten Schwerpunkt, aufgegriffen worden. Vgl. Gertenbach 2019. Mit Blick auf die Diskussion von Peirce ( Kap. 3) setze ich also auf eine andere Karte als es etwa Versuche tun, die Systemtheorie und Peirce zusammenzudenken. Vgl. zu dieser älteren Diskussion grundlagentheoretisch Scheibmayr 2004, medienphilosophisch Engell 2005. 227 Vgl. überblickend zu sozialwissenschaftlichen Praxistheorien Postill 2010 und insb. Reckwitz 2003. 228 Vgl. Renn 2004; Renn 2006b. 229 Vgl. hier auch Gertenbach 2019, S. 65. 230 Andere Funktionszuschreibungen an die Diagrammatik sind natürlich ebenfalls möglich. Vgl. etwa Hoffmann 2011a, S. 192f.

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ziter Zugangsweise zu expliziter Darstellungsweise, bietet es sich an, die sozialtheoretische Kontextualisierung des Ansatzes über diese Theorie vorzunehmen. Dafür muss allerdings etwas weiter ausgeholt und der Ansatz (wenn auch stark verkürzt) referiert werden.

2.2.2 Die pragmatistische Übersetzungstheorie Joachim Renns Um Praktiken der Diagrammatisierung medienwissenschaftlich als explikative Praktiken beschreiben zu können, lässt sich an die Exposition eines erweiterten Begriffs der ›Übersetzung‹ anknüpfen, wie Joachim Renn ihn in seiner Grundlegung einer pragmatistischen Gesellschaftstheorie verwendet hat.231 Aus praxis- und handlungstheoretischer Perspektive führt Renn – beeinf lusst durch Jürgen Habermas’ Gesellschaftstheorie – den Prozess der Ausdifferenzierung von spezialisierten Problemlösungs- und Problemerzeugungseinheiten wie sozialen Teilsystemen (Recht, Kunst, Politik etc.) in der Idee zusammen, dass diese Prozesse von der normativen Bindungskraft geteilter kultureller Horizonte abstrahieren. Gesellschaftliche Integration findet unter den Regeln der Integration der jeweiligen Systeme statt, also unter ihrer Eigendynamik. Ausgehend von der Mehrfachzugehörigkeit von Subjekten zu verschiedenen Teilsystemen verschärft sich damit, so Renns Ansatz, die Frage nach der Bindung zwischen den Teilordnungen der Gesellschaft in einer Situation, in der von einer Pluralität verschiedener Teilordnungen sowie der Pluralität der jeweiligen »Koordinationsprinzipien« auszugehen ist.232 Renns umfassende Theorie hat in der Soziologie zwischenzeitlich einiges Interesse hervorgerufen.233 Das Theoriegebäude kann, zumal in seinen verschiedenen Einf lüssen aus den Theorien Ludwig Wittgensteins, Jürgen Habermas’, Niklas Luhmanns, Alfred Schütz’, John Deweys und Martin Heideggers, hier nicht in Gänze wiedergegeben werden. Stattdessen möchte ich einige der epistemologischen Prämissen aufgreifen, die das Verhältnis von implizitem zu explizitem Wissen betreffen. Mit Hilfe eines generalisierten Begriffs von Übersetzung versucht Renn, die Grundlage für ein pragmatistisches Denken von Austausch- und Grenzbeziehungen zwischen »Integrationseinheiten« (wie z.B. sozialen Systemen) zu schaffen.234 Dabei orientiert er sich am Leitproblem kultureller Fremdheit.235 Theoriestrategisch erweist sich diese Orientierung als geschickter Schachzug, weil die mit dem kulturell Fremden einhergehende Differenz nicht nur das Schlüsselproblem gesellschaftlicher Integration darstellt, sondern auch prototypisch die theoretischen Probleme in der Beschreibung sozialer Differenzen hervortreten lässt. 231 Vgl. insb. Renn 2005; Renn 2006b. Ich habe Renns Arbeiten immer wieder aufgegriffen. Angedeutet wird die Relevanz von Renns Arbeiten für die Diagrammatik bereits in Bauer/Ernst 2010, S. 21ff. Vgl. im weiteren medientheoretischen Kontext auch Ernst 2013. 232 Vgl. Renn 2006b, S. 78. 233 Vgl. u.a. Schwinn 2008. Einschränkend ist zu sagen, dass ich die neuere Weiterentwicklung der Theorie Renns nicht mehr rezipieren konnte. Inzwischen ist auch eine medientheoretische Ausformulierung des Programms angekündigt, die aber zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Manuskripts noch nicht verfügbar war. Vgl. Renn 2020. 234 Vgl. Renn 2006b, S. 157ff. 235 Vgl. Renn 2005; Renn 2007.

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Renn zufolge sind im Umgang mit kultureller Fremdheit als einem Denken von Grenzbeziehungen zwei Extrempositionen zu beobachten: eine repräsentationalistische und eine konstruktivistische:236 Repräsentationalistische Theorien kompensieren kulturelle Fremdheit durch Rekurs auf eine hypothetisch identische, explizite Bedeutung. Diese explizite Bedeutung wird als universell gleich erkennbar angenommen. Fremdheit wird dadurch auf eine relative Fremdheit eingeschränkt.237 Konstruktivistische Positionen verfallen in das andere Extrem. Sie lassen vorrangig selbstreferenzielle Eigenkonstruktionen einer systemischen Ordnung zu. Fremdes figuriert infolgedessen, etwa in der Phänomenologie bei Bernhard Waldenfels,238 als ein radikal Fremdes, das sich bestenfalls in Momenten des Entzugs und der Überschreitung von Ordnung zeigt. Dadurch wird die Koordination zwischen den radikal differenten Ordnungen problematisch.239 Um einen Mittelweg zu finden, bringt Renn seinen weit gefassten Übersetzungsbegriff in Anschlag.240 Auf bauend auf einem breiten Verständnis von Sprache, wie es u.a. bei Wittgenstein zu finden ist,241 begreift Renn ›Übersetzung‹ als ein generelles Prinzip der medialen Welterschließung. Der Sprache fällt hierbei besondere Bedeutung zu, weil die Kompetenz zur Beherrschung der Sprache – also das Vermögen, unendliche Sätze mit endlichen Mitteln zu bilden – als ein Muster für soziale Praxis angesehen werden kann: »Die Sprachkompetenz des Menschen ist […] konstitutiver Bestandteil menschlicher Handlungskompetenz«242, heißt es auch bei Christian Stetter.243 Renn geht davon aus, dass die Übersetzung in einem weit gefassten Sinn paradigmatisch am Beispiel der Übersetzung als explikativer Sprachpraxis, also am Beispiel des Alltagsverständnisses von Übersetzung zweier verschiedensprachlicher Texte, beobachtet werden kann. Diese Übersetzung ist eine explikative Praxis, die eine ›mediale‹ Komponente einschließt. Für Renn stellt die explikative Sprachpraxis damit ein Substrat des größeren Kontinuums von Übersetzungspraktiken dar, in dem ein allgemeines epistemologisches Prinzip, das im alltäglichen sozialen Handeln zu finden ist, ref lexiv objektivierbar wird.

236 Vgl. Renn 2006b, S. 128ff. 237 Vgl. Renn 2006b, S. 135ff. 238 Vgl. u.a. Waldenfels 1998. 239 Vgl. Renn 2006b, S. 144ff., S. 98f. 240 Der Begriff weist Ähnlichkeiten mit dem erweiterten Übersetzungsbegriff von Robert Brandom auf. Bei Brandom erscheint Anschluss durch Übersetzung als Gegenbegriff zu einem Anschluss durch natürliche Kausalität. Das Bezugsproblem ist also die Differenz Natur/Kultur: »Wir behandeln ein Verhaltenselement als Ausdruck einer sozialen Sprachpraxis statt als objektiven Prozess, wenn wir es übersetzen statt es zum Gegenstand einer kausalen Erklärung zu machen. Hierbei ist die Verwendung des Ausdrucks ›Übersetzung‹ in einem erweiterten Sinn zu verstehen, so dass er jede Transformation einer Fähigkeit zum Vollzug einer Menge sozialer Praktiken in die Fähigkeit zum Vollzug einer anderen Menge sozialer Praktiken umfasst.« Vgl. Brandom 2011a, hier S. 72. 241 Vgl. Renn 2006b, S. 202ff. 242 Stetter 2012, S. 180. 243 Harry Collins (2012, S.  106) nennt die Beherrschung des Straßenverkehrs als ein Beispiel für diese Idee. Hat man eine Menge von Verkehrsregeln gelernt, dann kann man die Praxis explizieren, wird aber von der unterschiedlichen Auslegung der Regeln in China, Italien, Großbritannien und Deutschland immer wieder irritiert.

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Um die Epistemologie von Übersetzungen, zumal in der grundlegenden Bedeutung, die sie haben sollen, zu verstehen, zeigt Renn im Durchgang durch die Traditionen der Übersetzungstheorie, dass die Übersetzung seit der literarischen Moderne als ein Prozess erachtet wird, die einen Ausgangs- und einen Zieltext nicht einfach ineinander überträgt, sondern miteinander in eine differenzielle Beziehung setzt.244 Weder verschmelzen Übersetzungen einen Ausgangs- und einen Zieltext, noch übertragen sie eine Botschaft bruchlos. Übersetzungen sind weder identisch oder different. Sie behalten den Charakter von Annäherungen an ihr Ziel, was ihnen epistemologischen Entwurfscharakter sichert.245 Dieser Entwurfscharakter wird implizit vorausgesetzt, wenn man einem Text den Status einer Übersetzung zuspricht. Für das Problem des Verhältnisses von implizitem zu explizitem Wissen ist es daher wichtig, dass die Übersetzung im Prozess ihres Vollzuges ein tertium comparationis benötigt, das als ein Vergleichspunkt und ein Maßstab für die Übersetzung dient. In einer Übersetzung wird ein Drittes entworfen, entlang dessen sich der Übersetzungsprozess entfaltet. Dieses Problem projiziert Renn auf die repräsentationalistischen und konstruktivistischen Positionen zurück: Weder kann, wie beim Repräsentationalismus, in einer Übersetzung eine als ›gleiche‹ erkannte Identität in wechselseitigen Bezugnahmen unterstellt werden, noch ist der Konstruktivismus hinreichend, da er von einer Abschließung radikal getrennter und füreinander inkommensurabler Ordnungen (Systeme etc.) ausgeht. Kaschiert der Repräsentationalismus nach Renn also die kulturelle Differenz von Fremdheit, indem er ein allgemeingültiges, explizites tertium comparationis unterstellt, auf das Ausgangs- und Zieltext hin verglichen werden können, so überzeichnet der Konstruktivismus das Problem der Unvergleichbarkeit zwischen einander fremden Kulturen. Die Behauptung der Inkommensurabilität radikal differenter Integrationseinheiten (Ordnungen, Systeme etc.) übergeht, dass sie einen Vergleich des (vermeintlich) Unvergleichlichen bereits voraussetzt, um überhaupt zur Diagnose einer radikalen Unvergleichbarkeit zu gelangen.246 Im Unterschied dazu geht Renn mit seinem Übersetzungsbegriff von Beziehungen aus, in denen fallweise ein gemeinsames tertium comparationis ausgebildet wird. Dieses tertium comparationis wird in den jeweiligen Ordnungen unterschiedlich repräsentiert, bildet aber in der Situation geteilter Praxis einen impliziten Bezugspunkt.247 Um diese für seine Theorie zentrale Idee pragmatistisch auszuarbeiten, variiert Renn die Unterscheidung zwischen impliziter Zugangsweise und expliziter Darstellungsweise, indem er sie als Ebene »impliziter Bezugnahme« und als Ebene einer »expliziten Artikulation« fasst.248 Versteht man Übersetzung als eine alltägliche Interpretationspraxis, dann kann auf Ebene der impliziten Bezugnahme ein in Praktiken präsentes implizites tertium comparationis vorausgesetzt werden. Dieses implizite tertium comparationis, das jeweils einem Register der Handlungsidentifikation angehört, wird – auf Ebene der expliziten Artikulation – innerhalb verschiedener Ordnungen jeweils unterschiedlich 244 Vgl. Renn 2006b, S. 161ff. 245 Vgl. Renn 2006b, S. 172. 246 Vgl. Renn 2006b, S. 151ff.; Renn 2005, hier S. 196. 247 Vgl. Renn 2006b, S. 151ff. 248 Vgl. Renn 2006b, S. 153.

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repräsentiert.249 Auf Ebene der impliziten Bezugnahme kann es aber als Einheit einer gemeinsamen Praxis vorausgesetzt werden. Obwohl also in einem gesellschaftlichen Teilbereich wie der Wissenschaft oder der Kunst die semantischen Repräsentationen auf ihrer expliziten Ebene unterschiedlich ausfallen können, gelingt über das implizite tertium comparationis der Anschluss an eine Handlung – gelingt also die Fortsetzung von Kommunikation. Die Absicherung der Existenz dieses impliziten tertium comparationis wird bei Renn mit den Mitteln eines durch die Sprachphilosophie inspirierten Pragmatismus vorgenommen.250 Besonders wichtig ist für Renn Ludwig Wittgensteins Bedeutungstheorie. Wittgenstein versteht die Kopräsenz in einer Situation gemeinsamer Praxis als Muster, um mit Fremdheit, etwa einer fremden Sprache, umzugehen.251 Gemeinsame Praktiken in geteilten Situationen haben den Status eines impliziten tertium comparationis, sofern auf der ›expliziten‹ Ebene – also der Ebene der sprachlichen Interpretation von Handlungen – das radikale Missverstehen (Fehlinterpretation) jederzeit möglich und sogar wahrscheinlich ist, nichtsdestoweniger aber durch die Orientierung an einer geteilten Bezugspraxis ›implizit‹ ein Maßstab der Übersetzung erzeugt wird und auch erhalten bleibt. Inspiriert ist dieser Gedanke durch eine Bedeutungstheorie, in der die Konstitution von Bedeutung als ein Prozess konzipiert wird, der – wie es bei Wittgenstein ausgeführt ist – in der praktischen Einheit einer Regel und ihrer Verwendung liegt. Dieser Prozess hängt davon ab, in welchen Kontexten (und nicht-sprachlichen Aktionen) ein Ausdruck gebraucht und verknüpft wird.252 Die Verschränkung der Regel mit einer Praxis ereignet sich in der Weise, dass die korrekte Anwendung einer Regel nicht durch die Regel selbst zu garantieren ist.253 Es ergibt sich eine Differenz zwischen Regeln und den Regeln der Anwendung der Regel: »rules do not contain the rules for their own application«, wie Harry Collins diesen Punkt prägnant zusammenfasst.254 Ein implizites tertium comparationis kann angenommen werden, weil in einer pragmatistischen Perspektive das »Bedeutungsgeschehen«255 kein idealer Gegenstand ist, sondern die Bedeutung in der Einheit der Vielzahl von möglichen Anwendungsfällen liegt.256 Das Problem der Regelfolge, in dem das sozialtheoretische Grundproblem des Verhältnisses von Praxis und Struktur angelegt ist, verbindet die implizite Bezugnahme

249 Ich halte diese Idee Renns für eine entscheidende Theoriefigur und habe in verschiedenen anderen Kontexten darauf Bezug genommen, so etwa in Ernst 2008; Ernst 2018b. 250 ›Pragmatismus‹ schließt hier die anglo-amerikanische Tradition (von Peirce bis Putnam) und die europäische Linie (von Wittgenstein bis zu Schütz) ein. Vgl. Esfeld 2001. 251 Vgl. Renn 2006b, S. 172. 252 Vgl. Renn 2006b, S. 173. 253 Vgl. Renn 2006b, S. 173. 254 Collins 2001, S. 110. Vgl. weiterführend die ausführliche Diskussion des Regel-Regress-Arguments bei Gascoigne/Thornton 2013, S. 81ff. 255 Vgl. zu diesem Begriff Bertram 2002. 256 Vgl. Renn 2006b, S. 173. Dies bringt Renns an Wittgenstein angelehntes Argument mit Peirces »Pragmatischer Maxime« in Verbindung ( Kap. 3.1.1). Auch Peirce denkt Bedeutung von einem Primat der Praxis her und bindet die Bedeutung eines Begriffs an die Vielzahl von Fällen seiner praktischen Verwendung.

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mit einem starken Begriff von implizitem Wissen.257 In Renns Theorie kommt diesem Begriff von implizitem Wissen besondere Bedeutung zu. Implizites Wissen ist für Renn nicht einfach etwas Unthematisches, das, um Renns Analogie zu verwenden, wie eine Karteikarte, die aus einem Karteikasten gezogen wird, durch den Akt des Herausziehens aber jederzeit thematisch gemacht werden könnte.258 Implizites Wissen ist ein Wissen, das sich im Vollzug einer Praxis situationsgebunden und performativ artikuliert, weshalb es präsentischen Charakter hat.259 Durch eine Thematisierung in einer Folgepraxis ist es nur teilweise explizierbar und unterliegt im Prozess seiner Explikation einer umformenden Veränderung.260 Renn zeigt durch diesen Bezug auf einen starken Begriff von implizitem Wissen, dass die praktische Dimension des Gebrauchs von Zeichen vor dem Hintergrund von implizitem Wissen gelesen werden muss. Dieser Ansatz ist ein signifikanter Unterschied zu Medientheorien, die auf ein poststrukturalistisch informiertes Konzept von Performativität zurückgreifen und in den ausgetretenen Bahnen der Repräsentationskritik verbleiben.261 Die pragmatistische Philosophie hat im Ausgang von Peirce gezeigt, dass Bedeutung in der praktischen Verf lechtung von Handlungen besteht.262 Die Bedeutung eines Begriffs liegt nicht allein in der expliziten Bedeutung eines Begriffs, sondern in der Vielzahl der ähnlichen Fälle, in denen der Begriff in Situationen angewendet und mit nicht-sprachlichen Praktiken verbunden wird.263 Der starke Begriff von implizitem Wissen bezeichnet somit ein Praxiswissen, das Teil einer alltäglichen, situativen Handlungskreativität ist.264 Wenn die Regeln einer Praxis, wie Wittgenstein vorführt, die Bedeutung eines Begriffs nicht als Aktualisierung eines einheitlich-expliziten Musters steuern, sondern dieses ›Muster‹ in einer Menge ähnlicher Anwendungsfälle besteht, dann sind die Regeln nichts, das von der Prozesshaftigkeit ihrer Aktualisierung getrennt wäre. Soziale Situationen der Verwendung der Wörter einer Sprache sind in ihrer Anwendung niemals vollständig determiniert,265 sondern beruhen auf einer impliziten Anwendungssicherheit, einem »impliziten Sinn

257 Collins 2001 diskutiert das Problem ebenfalls als ein Kernproblem der Theorie impliziten Wissens. Vgl. kritisch zu Collins auch Gascoigne/Thornton 2013. 258 Vgl. Renn 2004, S. 234. 259 Vgl. zum Zusammenhang von Präsenz und implizitem Wissen auch Ernst/Paul 2013a. Ähnliche Argumente finden sich bei Gascoigne/Thornton 2013. 260 Vgl. Renn 2004, S. 234, S. 239. Vgl. zudem Renn 2015. Dort wird die Umformung als ein Übergang eines ›Gehalts‹ in eine ›funktionale Rolle‹ in einem sozialen Kontext beschrieben. Die Umformung ist ein Aspekt, der speziell in der Philosophie mitunter vergessen wird. Gascoigne/Thornton (2013, S. 192) begrenzen die Umformung etwa auf die Kodifizierung, behaupten sie aber nicht für die Artikulation als solche. Für die Medientheorie steckt – als Konsequenz der Performativitätsdebatte – bereits in der Artikulation eine Umformung, womit die Medientheorie. Auch Renn orientiert sich an einem starken Performativitätsbegriff. 261 Ein Beispiel ist Sybille Krämers (2001) Rekonstruktion der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts. 262 Vgl. Renn 2006b, S. 174f. 263 Vgl. Renn 2006b, S. 173. 264 Der Bezugspunkt Renns ist hier Hans Joas (1996) Theorie des kreativen Handelns. Vgl. Renn 2006b, S. 235ff., insb. S. 268ff. Vgl. zur ›Situation‹ auch Ziemann 2013. 265 Vgl. Renn 2004, S. 237f.; Renn 2006b, S. 173f.

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für Angemessenheit«.266 Der Übergang vom Bekannten zu Unbekannten ist damit nicht festgelegt. Ein expliziter Status des Wissens in Praktiken würde die Praxis unmöglich machen.267 Renn betont durch den Rückgriff auf diese pragmatistischen Gedanken, dass die situative Kreativität auf einer implizit automatisiert ablaufenden Stufe noch nicht mit dem Problem des ›Neuen‹ (etwa im Sinne von neuem Wissen) verbunden ist, sondern dass jede Verwendung von generalisierten Regeln ein nichtprognostizierbares Element aufweist, welches normalisiert wird.268 Abweichungen von der Regel werden auf dieser Stufe der Handlungskreativität als unproblematisch erachtet. Implizites Wissen ist dabei primär strukturerhaltendes Wissen269 – ein Wissen, das Anschlusshandlungen wahrscheinlicher macht.270

2.2.3 Explikation erster und zweiter Stufe 271 Kommt es nun zu einer Situation, die ein Explizitmachen erforderlich macht, dann bildet eine situative Kreativität den Ausgangspunkt, die in einem metaphorischen Herstellen von Vergleichsmöglichkeiten zwischen ähnlichen Fällen besteht.272 Mit Renn lässt sich das herausarbeiten und exemplarisch auf ein Beispiel aus der Diagrammatik-Forschung beziehen. Innerhalb der Diagrammatik-Forschung argumentieren auf die Gattung des Diagramms ausgerichtete Ansätze häufig über die historische Inventarisierung der Geschichte der Form,273 oder auch über die Klärung von bestimmten Funktionen von Diagrammen, etwa in der Geometrie.274 Das Diagramm als epistemologischen Generalbegriff veranschlagende Theorien hingegen tendieren zu einer Betrachtung von Diagrammen in ein Kontinuum diagrammatischer Zeichen, in dem die Kategorie des Diagramms synonym mit einem Begriff für die Form von Struktur wird.275 Für solche Ansätze ist im Grunde jedes Bild, das eine Struktur zeigt – oder noch schärfer formuliert: jedes Strukturbild, das aus einer Form als eine erkennbare Struktur abgeleitet werden kann –, ein ›Diagramm‹.276 Ist es also auf der einen Seite reduktionistisch, nur die Gattung des Diagramms zu beobachten, so ist es auf der anderen Seite begründungspf lichtig, die Diagrammatik auf Basis einer sehr weit reichenden Theorie des Diagramms zu entwerfen. In beiden Perspektiven vermischen sich unterschiedliche Ebenen der Diagrammatik. Da es in 266 Renn 2004, S. 238. Vgl. auch Stetter 2012, S. 192f. 267 Vgl. Renn 2004, S. 235f. 268 Vgl. Renn 2006b, S. 300. 269 Vgl. Renn 2006b, S. 301. 270 Vgl. Renn 2006b, S. 303. 271 Diese Unterscheidung ist in kürzerer Form auch enthalten in Ernst 2015a, S. 255ff. und Ernst 2019b ( Kap. 4). 272 Vgl. auch Renn 2006b, S. 317ff. 273 Doch wo beginnt und wo endet sie? Vgl. etwa die kunsthistorische Studie von Bonhoff 1993. 274 Vgl. auch die Ausführungen zur Geometrie in Wöpking 2016. 275 Das ist eines der systematischen Probleme in Bauer/Ernst 2010. 276 Struktur sei hier ganz klassisch definiert als eine Menge von Elementen und der Relationen zwischen ihnen.

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den vorliegenden Studien darum geht, ein weit gefasstes Verständnis von Diagramm zu vertreten, möchte ich die Probleme dieser Theorien noch etwas vertiefen und dann auf die Ausführungen bei Renn zurückbeziehen. Typisch für die weite Perspektive, welche das Denken mit Diagrammen in einem diagrammatischen Denken mit Zeichen aufgehen lässt, ist das folgende Zitat aus der in vielerlei Hinsicht grundlegenden Arbeit Diagrammatology von Frederik Stjernfelt:277 »Take a photograph of a tree – it is an icon in so far as not previously explicit information may gathered from it – say, e.g. the fact that the crown of the tree amounts to two thirds of its overall height. This fact was remarked nowhere earlier, neither by the photographer nor the camera nor the developer – and by noticing it you performed a small experiment of diagrammatic nature: you took the trunk of the tree and moved upward for your inner gaze in order to see it cover the height of the crown twice, doing a bit of spontaneous metric geometry, complete with the implicit use of axioms like the invariance of translation. Of course, this is an ordinary icon in so far as nobody constructed it with diagrammatic intention. Nevertheless, you used it – in actu – that way. This continuum between diagrams proper (be it pure or empirically) and diagrammatic use of ordinary icons show the centrality of the diagram for the icon category as such.«278 Stjernfelt beschreibt einen vor dem geistigen Auge vorgenommenen Prozess diagrammatischen Denkens. Auffällig ist die Differenzierung zwischen den »diagrams proper« und einem »diagrammatic use of ordinary icons«. Die Diagrammatik, so Stjernfelt im Einklang mit Peirce, ist Teil eines Kontinuums zwischen einem in der Wahrnehmung »in actu« vollzogenen diagrammatischen Gebrauch von ikonischen Zeichen, also Zeichen, die, wie Stjernfelt betont, erst ›diagrammatisiert‹ werden, und einem davon zu unterscheidenden Gebrauch von »diagrams proper«, also Diagrammen im engeren, gattungstheoretischen Sinne. Dieses diagrammatische Kontinuum bezieht sich auf das in der Peirce’schen Philosophie vorgezeichnete Argument, dass Diagramme als Artikulationen einer kulturspezifischen Zeichenform in einer ref lexiven Beziehung zu einer epistemologischen Praxis stehen, die als ›diagrammatische‹ allen Zeichenhandlungen inhärent sein kann. Gleichwohl stellt sich – zumal für die Medienwissenschaft – die Frage, wie diese Beziehung ausgestaltet ist. Ist es schon ›diagrammatisches Denken‹, wenn der narrative Fluss einer Erzählung vor dem geistigen Auge auf mögliche Verzweigungen hin analysiert und mögliche Optionen durchgespielt werden?279 Stjernfelts Argument würde das nah legen. Das Problem jedoch ist, dass dann die Grenzen der Diagrammkategorie unscharf zu werden drohen. 277 Ich konzentriere mich hier auf einen kleinen, in systematischer Hinsicht aber weiterführenden, Teilaspekt von Stjernfelts Ansatz. Die weit ausgreifende Argumentation bei Stjernfelt philosophisch zu rekonstruieren, wäre eine eigenständige Forschungsarbeit. Im Rahmen des vorliegenden Interesses, ein spezifisches Verständnis von Diagrammatik für die medienwissenschaftliche Diskussion vorzuschlagen, kann das nicht geleistet werden. Die Zeitschrift für Semiotik hat Stjernfelts Buch eine ganze Ausgabe gewidmet. Vgl. Posner/Debus 2009. Für die weitere Auseinandersetzung mit Stjernfelts Buch sei auf diese Beiträge verwiesen, insb. auf Krois 2009 und Pape 2009. 278 Stjernfelt 2007, S. 101. Vgl. zu dieser Stelle auch Brunner 2009, S. 347f. und Posner 2009, S. 223. 279 Joachim Paech (2002, S. 133ff.) hat unter Berufung auf Gilles Deleuzes Begriff des Bewegungsbildes die Kategorie des Diagramms als einer epistemologischen Größe im Nachvollzug filmischer Bewe-

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In welche Probleme sich Stjernfelt manövriert, wird klar, wenn man bedenkt, dass Stjernfelt von Peirce noch einen zweiten Aspekt übernimmt. Stjernfelt sagt, wenn auch nur beiläufig, dass die diagrammatisierende Art der Wahrnehmung der Explikation von Implizitem diene. Gleichzeitig unterstellt er, dass diese Art der Explikation als eine Form des schlussfolgernden Sehens in der Wahrnehmung »in actu« vollzogen wird. Dies aber kann nur bedeuten, dass diese Schlussfolgerungen im Regelfall routinisiert und automatisiert ablaufen. Dass es eine ›diagrammatisierende‹ Einstellung des Sehens gibt, wie Stjernfelt sie beschreibt, sei hier gar nicht bestritten. Klar ist aber auch, dass der Gedanke in der Art, wie Stjernfelt ihn denkt, in die problematische Figur einer ›impliziten Explikation‹ mündet, in der diagrammatisches Denken als eine Praxis der Explikation im Sinne eines Explizitmachens, synonym wird mit schlussfolgerndem Denken in der Wahrnehmung generell. Stjernfelt verwendet den Diagrammbegriff, um Prozesse impliziter Wahrnehmung mit Prozessen höherer Ordnung, in denen Diagramme ein Teil von komplexen Handlungen sind, auf eine Ebene zu rangieren. Das ist es, was ihn an Peirces Verwendung der Diagrammkategorie fasziniert. Garantieren soll dies der Klammerbegriff des Kontinuums, der an dieser Stelle als Kontinuität von Handlungsereignissen aufzufassen ist.280 Zwar ist es plausibel, davon auszugehen, dass die Wahrnehmung eine ref lexive Einstellung zulässt, die das von Stjernfelt geforderte ›explikative Sehen‹ ermöglicht. Es ist aber nicht plausibel, zwischen dieser Einstellung und anderen Praktiken des diagrammatischen Denkens ein bruchloses Kontinuum anzunehmen und dieses Kontinuum unter den Begriff der Explikation zu stellen. Die Annahmen eines ›Pansemiotismus‹, in dem die Kategorie des Zeichens das Schmiermittel für ein solches Argument legitimieren könnte, sind medientheoretisch fragwürdig.281 Für meine Begriffe ist Stjernfelts Gedanke reizvoll, aber nicht ohne Fallstricke. Sozialtheoretisch werden die unterschiedlichen Geltungsansprüche verschiedener Formen der Explikation übergangen und ein unref lektierter Begriff von implizitem Wissen unterstellt; medientheoretisch fallen die verschiedenen Formen der medialen – wie Ludwig Jäger das genannt hat – »Transkriptionen« unter den Tisch, die zwischen der Wahrnehmung und verschiedenen Formen der medialen Repräsentation von Diagrammen bestehen.282 Ansätze zu einer Lösung dieser Probleme ergeben sich, wenn – erstens – der Status einer ›perzeptiven Diagrammatizität‹ in der Wahrnehmung präzisiert, von Praktiken der Diagrammatisierung unterschieden und als Prozess im impliziten Wissen beschrieben wird, der als semantische Operationen zu verstehen ist (dies verweist auf die bereits erwähnte Rolle der Metapherntheorie) und – zweigungsbilder vorgeschlagen. Das wäre ein vergleichbarer Abstraktionsgrad. Vgl. zu Deleuze auch Ernst 2010. 280 Vgl. zum Kontinuum bei Peirce auch Stjernfelt 2007, S. 23ff. Ich konzentriere mich hier auf die Aspekte des Kontinuum-Begriffs, die nicht im mathematischen Sinn verstanden werden, sondern pragmatisch auf die Kontinuität alltäglicher Praktiken verweisen. Vgl. kritisch zu Stjernfelt auch Hoffmann 2009. 281 Gleiches gilt für die bei Stjernfelt affirmierte Phänomenologie. Zumindest als Bewusstseinsphilosophie muss die Phänomenologie in medientheoretischen Zusammenhängen, nach den einschlägigen Kritiken im 20. Jahrhundert, etwa durch Jacques Derrida, als sehr problematisch erachtet werden. 282 Vgl. Jäger 2002; Jäger 2012.

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tens – der Prozess der Diagrammatisierung als praktischer Strukturierungs- und Ref lexionsprozess in einem Kontinuum der medialen Brüche und der ›übersetzenden‹ Übergänge gedacht wird. Die darauf auf bauende Grundüberlegung ist es, das Problem des Verhältnisses zwischen Stjernfelts ›diagrammatischem Gebrauch gewöhnlicher Ikons‹ als einer Einstellung von Wahrnehmung mit dem sozialen Gebrauch von Diagrammen zwar als Kontinuum, aber nicht als bruchloses Kontinuum zu beschreiben. Vielmehr ist es, mit Blick auf die Differenz von impliziter Zugangsweise und expliziter Darstellungsweise, plausibler, dieses Kontinuum entlang des Verhältnisses der Explikation von implizitem Wissen zu beobachten, dieses Verhältnis medientheoretisch als Transkription zu fassen und auf diese Weise die ›ver-zeichnenden‹ Übersetzungen hervortreten zu lassen, welche die Praktiken der Diagrammatisierung als mediale Praktiken in den Blick bringen.283 Dies führt zurück zu Renns Übersetzungstheorie. Eine Übersetzung beginnt nach Renn als ein situatives und spontanes Herstellen von Vergleichsmöglichkeiten, das in alltäglichen Situationen des schlussfolgernden Handelns zur Anwendung kommt und sich zu komplexeren Praktiken der Übersetzung weiterentwickelt. Vor dem Hintergrund des Problems des Übergangs vom Bekannten zum Unbekannten kann Renns Übersetzungsbegriff an dieser Stelle mit Frederik Stjernfelts Überlegungen zum diagrammatisierendem Gebrauch gewöhnlicher ikonischer Zeichen in Beziehung gesetzt werden. Bei Stjernfelt geht es um ein Sichtbarmachen von zuvor unbekannten Informationen. Als eine, wie man dies nennen kann, Explikation erster Stufe setzt dieser Prozess dort ein, wo die basale Übersetzung als Generierung von ähnlichen Fällen ref lexiv wird. Folgt man Stjernfelt, sind Diagrammatisierungen Praktiken, die dazu dienen, dasjenige, was als ›funktionale Struktur‹ nicht befragt wurde, explizit zu machen. Dies können, wie im Fall von Stjernfelt, Wahrnehmungsschemata sein, die variiert werden, um etwas an einem Objekt explizit zu machen. Explizit gemacht wird damit eine funktionale Struktur innerhalb der Wahrnehmung, die sich als implizites Wissen begreifen lässt. Dieser Begriff eines funktionalen Charakters von implizitem Wissen geht auf Michael Polanyi zurück. Für Polanyi ist die Verbindung zwischen Wahrnehmung und implizitem Wissen darin fassbar, dass ein ›proximaler‹ Term A, der in der Wahrnehmung nur insoweit in Erscheinung tritt, als man einen ›distalen‹ Term B erwartet.284 In der Erwartung von Term B verlässt man sich auf den ersten Term A. Term A ist also ein in der Perzeption aktiver Term, der konstitutiv für Term B ist. In der Erwartung von Term A wird er nicht explizit, sondern ist supponiert. Polanyis Metapher dafür ist, dass der fungierende Term A ›näher‹ (proximal) am Körper ist als der zweite Term B (distal). Aufgrund seiner Nähe zum Körper wird er nicht ›gesehen‹. Der proximale Term A kann somit als ein implizites, am Körper orientiertes Schema aufgefasst werden, das die explizite Identifikation und Klassifikation des Terms B ermöglicht:

283 Vgl. zum Begriff des ›Ver-zeichnens‹ Bauer/Ernst 2010, S. 55. Auf die Medialität des ›Verzeichnens‹ weist (im Rahmen einer »neurosemiologischen Theorie der sprachgeleiteten Konzeptgenese«) auch Fehrmann 2004 hin, hier insb. S. 172ff. 284 Vgl. Polanyi 1985, S. 18f.

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»Wir richten unsere Aufmerksamkeit von den einzelnen Merkmalen auf das Gesicht und sind darum außerstande, diese Merkmale im einzelnen anzugeben. Und ebenso würde ich sagen, daß wir uns auf unser Gewahrwerden kombinierter Muskelleistungen verlassen, wenn wir uns der Ausführung einer Kunstfertigkeit zuwenden. Wir richten unsere Aufmerksamkeit von diesen elementaren Bewegungen auf die Durchführung ihres vereinten Zwecks und sind daher gewöhnlich unfähig, diese elementaren Akte im einzelnen anzugeben. Wir können dies als die funktionale Struktur des impliziten Wissens bezeichnen.«285 Die funktionale Struktur impliziten Wissens, die Polanyi für die menschliche Wahrnehmungspraxis veranschlagt, hat zur Metapher seiner ›Unsichtbarkeit‹ geführt. Harry Collins vermerkt: »[…] implizites Wissen ist unsichtbar, seine Unsichtbarkeit ist sein definitorisches Charakteristikum«.286 Wenig verwunderlich ist es daher, dass die Metapher in der Medientheorie häufig da auftaucht, wo es um den Mediengebrauch geht, etwa bei Hartmut Winkler und Sybille Krämer.287 So ist beispielsweise von einer »›An-Aisthetisierung‹ der Medien in ihrem Gebrauch« die Rede.288 Man braucht ein Verfahrenswissen darum, wie man expliziert.289 Medien treten als solche Technologien in Erscheinung, die ihren Gebrauch naturalisieren. Wie konnotativ auch dem Beispiel aus Minority Report zu entnehmen war ( Kap. 1), profiliert dies das Interface als zentrales Medium eines auf den Gebrauch konzentierten Medienbegriff.290 Wenn aber der Medienbegriff für den Explikationsbegriff systematisch entscheidend ist – und auch das zeigt Minority Report – dann ist das implizite Wissen um Explikation immer auch ein Mediengebrauchswissen. Diese Unsichtbarkeit des Mediums im Gebrauch kann mit dem Gedanken abgeglichen werden, dass jede Explikation als eine Praxis der Auslegung wieder eine implizite Fortsetzung ist – also eine in ihrem Vollzug implizite Praxis der Explikation. Zum einen sichern Medien den Anschluss von Praktiken an anderen Praktiken (bzw. systemtheoretisch die viel zitierte ›Fortsetzung von Kommunikation‹). Zum anderen bildet sich in der Praxis der Explikation eine als ›natürlich‹ wahrgenommene, ›unsichtbare‹ Verwendungsweise als paradigmatischen Medien der Explikation heraus. Wie im Fall anderer Praktiken auch, etwa das Spurenlesen,291 kann es dann auch zu Veränderungen von Praktiken der Explikation kommen, wenn sich das Medium oder der Gebrauch des Mediums ändert, in dem expliziert wird. Wie für andere Autoren auch, ist für Renn der Übergang von Sprache in die Schrift das Musterbeispiel der Medialität von Explikation.292 Die Schrift kann sich explizierend auf die Sprache beziehen. Während Kommunikation nicht ohne »irgendeine Art

285 Polanyi 1985, S. 19. Vgl. zur funktionalen Struktur impliziten Wissens auch Renn 2015, S. 121ff. 286 Collins 2012, S. 92. 287 Vgl. Krämer 2008, S. 25ff.; Winkler 2008a, S. 297ff. 288 Krämer 2010, S. 78. 289 Vgl. Ryle 2009b, S.  235: »A scientist, that is, primarily a knower-how and only secondarily a knower-that«. 290 Vgl. zur »Transparenz« von Interfaces etwa Jäger/Kim 2008. 291 Vgl. Krämer/Kogge/Grube 2007. 292 Vgl. auch Renn 2006a.

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von Mediengebrauch funktionieren kann«,293 hängen Explikationen erster und zweiter Stufe jeweils an »besonderen Medien«.294 Der Medienbegriff ist für den Explikationsbegriff somit auch aus Renns Perspektive systematisch zentral.295 Der Eigenwert der besonderen Medien für die Explikation ergibt sich aus ihren jeweiligen Möglichkeiten zur Umformung der zu explizierenden Zeichen. Die Schrift objektiviert die Sprache nicht nur, indem sie ihr diejenige Gestalt gibt, durch welche die Sprache als Gegenstand von Explikationen zweiter Stufe im Wissenschaftssystem traktiert werden kann. Als Medium ›naturalisiert‹ die Schrift die Repräsentation von Sprache. Diejenigen Praktiken, die Schrift verwenden, verwenden sie so, als ob sie verschriftlichte Sprache sei.296 Ausgehend von einem bestimmten Mediengebrauch, transformieren sich Übersetzungen in Explikationen zweiter Stufe.297 Allerdings darf der zwar triviale, aber dennoch wichtige Punkt nicht übersehen werden, dass die Schrift als Medium der Explikation auch neue Möglichkeiten einführt. Diese Möglichkeiten können von ihrem allgemeinen Verständnis als verschriftlichter Sprache abweichen. Dazu gehört etwa die Möglichkeit, Sprache zu visualisieren und im Raum anzuordnen.298 Die Schrift hat – daran hat im Kontext der Diagrammatik vor allem Sybille Krämer erinnert – eine visuelle Dimension, die beispielsweise eine Diagrammatisierung von Sprachstrukturen erst möglich macht.299 Über die Funktion von Schrift als Medium der Transzendenz der Sprachsituation hinaus liegt das Irritationsmoment der Schrift in der Transformation von Schrift in einen zweidimensionalen »Operationsraum«.300 Explikationen ziehen mithin als ›Auslegungen‹ auch hieraus ihr Kapital. Diagrammatisierungen bilden daher Möglichkeiten des Explizitmachens von impliziten Schemata aus. Mit Renn gedacht, ist die Ebene der situativen Handlungskreativität bewusstseinsphilosophisch allerdings nicht als Übergang in eine theoretische Einstellung zu denken. Vielmehr beruht diese Kreativität auf einem metaphorischen Verfahren, das aus der basalen, impliziten Übersetzung als dem Prozess des Herstellens von Vergleichsmöglichkeiten in die Explikation erster Stufe mitgeführt wird:301 »Die Explikation impliziten Wissens erster Stufe bleibt dem analogischen Verknüpfen von Einzeldingen und -gegenständen verbunden, bei dem implizit aufgefasste Merk293 Renn 2006b, S. 374. 294 Renn 2006b, S. 374. 295 Vgl. auch Renn 2006b, S. 371. Da Explikationen das Irritations- und Transformationsmoment eines Medienwechsels voraussetzen können, folgert Renn (2006b, S. 373): »Der Medienbegriff nimmt in unserem Zusammenhang […] eine Schlüsselposition ein.« 296 Vgl. auch Krämer 1996. 297 Zu beachten ist, dass die hier vorgestellte Unterscheidung zwischen Explikation erster und zweiter Stufe nicht mit den vier Stufen der Übersetzung identisch ist, die Renn als Übersetzung I-IV bezeichnet. Vgl. Renn 2006b, S. 283ff., S. 322ff., S. 366ff., S. 443ff. Renns deutlich feingliedrige Unterscheidung wird von mir an dieser Stelle nicht aufgegriffen. 298 An dieser Stelle sei noch einmal an die Etymologie von ›explicatio‹ erinnert ( Kap. 1.3). 299 Vgl. Krämer 2003b; Krämer 2006. 300 Vgl. Krämer 2005. 301 Das ist ein Unterschied zu Stjernfelts (2007) Versuch, die Diagrammatik mit der »eidetischen Variation« bei Edmund Husserl in Verbindung zu bringen.

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male von Situationen und Problemlösungen durch metaphorische Erweiterungen des Symbolgebrauches übertragen werden auf andere Situationen und Probleme, die den ersten entweder faktisch oder hinreichend entsprechen oder entsprechend ›gemacht‹ werden.«302 Die Generalisierung bleibt eine, wie es bei Renn heißt, »metaphorische Übertragung«.303 Entgegen der allgemeinen Ansicht sind Metaphern in dieser Theorie also nichts Außergewöhnliches, sondern basale inferenzielle Prozesse des Verständlichmachens von Neuem und Unbekanntem.304 Explikationen zweiter Stufe stabilisieren und kodifizieren diese Zusammenhänge.305 Wie Renn bemerkt, wird die »metaphorische Einheit der Gebrauchsweise« von Zeichen in einer Praxis »zur abstrakten Bedeutungsidentität«306 verdichtet. Durch die Explikation zweiter Stufe entstehen Typen von einheitlichen Fällen, die auf generalisierender Abstraktion beruhen.307 Als Verwendungsformen von Zeichen, z.B. in der Sprache, lassen Explikationen zweiter Stufe explizite Regelsysteme wie ›Grammatiken‹ entstehen, die Manifestationen von in der Praxis ausgehandelten, kulturellen Wahrheitsansprüchen sind.308 Sie unterliegen normativen Bedingungen, die ihren Wahrheitsstatus garantieren. Mit Blick auf Stjernfelts Beispiel handelt es sich hierbei um den Unterschied zwischen (a) einer in eine Fotografie eingezeichneten Relation (erste Stufe) und (b) der Verwendung eines bereits konventionalisierten Diagramms (zweite Stufe). Die Künstlichkeit solcher Regelsysteme (›Grammatiken‹) wird häufig mit dem Vollzug der Praxis verwechselt – etwa so, wie man in der Wissenschaft die Grammatik einer Sprache mit der Performativität des Sprachvollzugs verwechselt.309 Als Diagrammatisierungen sind Explikationen erster Stufe im vorliegenden Fall also Versuche, Wahrnehmungen (und ihre Schemata) zu explizierend zu variieren, Explikationen zweiter Stufe dagegen operieren auf Grundlage von konventionalisierten Diagrammen. Während die Funktion von Wahrnehmungsschemata in Explikationen erster Stufe tendenziell darin besteht, einen Prozess der durch »Ähnlichkeit gestützte[n] Wiederholbarkeit«310 zu garantieren, die in einem Medium betrachtet werden und mit denen in einem sehr weit gefassten Sinn ›experimentiert‹ werden kann, abstrahieren Explikationen zweiter Stufe von der situativen Implikation in einer leiblich zuhandenen Umgebung und

302 Renn 2004, S. 240. 303 Renn 2004, S. 240. 304 Diese Theorie der Metapher verbindet sich mit einem kreativen Prozess der Variation von Schemata. Fasst man Schemata als Regeln, können auf unterschiedliche Arten transformiert werden. Sowohl explizite als auch implizite Abweichungen von der Regel und die daraus resultierenden Umschreibungen sind möglich. Vgl. Renn 2006b, S. 318. 305 Das ist die Renn’sche »Übersetzung III«. Vgl. Renn 2006b, S. 366ff. 306 Renn 2006b, S. 368. An dieser Stelle sind wichtige Querbezüge in ein Verständnis von Metapher als kooperativer Interaktion möglich. Vgl. filmtheoretisch Müller/Kappelhoff 2018, S. 64ff. 307 Vgl. Renn 2006b, S. 369. 308 Vgl. auch Renn 2004, S. 234. 309 Vgl. Renn 2006b, S. 371. 310 Renn 2006b, S. 371.

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werden zu formalisierten Objekten der Übersetzung von Sachverhalten.311 Ist die Explikation erster Stufe eine Praxis der Herstellung von Ähnlichkeiten zum Zweck der Normalisierung einer Deutung (als iterativer Regularität), setzen Explikationen zweiter Stufe die Ref lexion von konventionalisierten, abstrakten Formen, voraus.312 Mit diesem sowohl die Metapher als auch die Medien einbindenden Konzept einer ›Explikation erster und zweiter Stufe‹ lässt sich ein weiter und ein enger gefasster Begriff von Diagrammatisierung als explizierender Praxis formulieren. Weil der Begriff der Explikation aber anhand des Problems der Explikation von implizitem Wissen entwickelt werden soll, ist es notwendig, die Konturen des erwähnten ›starken‹ Begriffs von implizitem Wissen zu schärfen und den Bezug zur perzeptiven Dimension der Diagrammatik zu klären, die bei Stjernfelt anklingt.

2.2.4 Diagrammatisierendes Sehen als explikative Praxis? Frederik Stjernfelts Unterscheidung zwischen dem diagrammatischen Gebrauch ikonischer Zeichen in der Wahrnehmung und dem Denken mit Diagrammen als materiellen Formen kann nicht auf die Differenz zwischen impliziter Wahrnehmung und expliziter Ref lexion reduziert werden. Auf eine derartige Weise ein ›diagrammatisches Kontinuum‹ zu begründen, wäre eine Verkürzung. Es würde die Bedeutung beider Praktiken falsch einschätzen. Ist von einem starken Begriff von ›implizitem Wissen‹ die Rede, sind die Verhältnisse komplexer.313 Aus pragmatistischer Perspektive gilt das implizite Wissen als Ressource, ohne die das bewusste, schlussfolgernde Denken eine problematische Situation nicht adäquat bewältigen könnte. Explikationen sind keine bruchlosen Thematisierungen dieses Wissens. Sie sind Übersetzungen. Eine Explikation ist nicht in der Lage, die strukturelle Bedeutung von implizitem Wissen für Praktiken vollständig zu explizieren.314 Bei Gilbert Ryle heißt es analog zu der auch von Robert Brandom veranschlagten fundamentalpragmatischen Perspektive: »[…] knowledge-how cannot be built-up by accumulation of pieces of knowledge-that.«315 Zu diesem starken Begriff von implizitem Wissen schreibt Jens Loenhoff: »Der starke, fundamentalpragmatisch angelegte Begriff behauptet, dass ein Wissen-wie stets Vorrang vor einem Wissen-dass hat. Der praktische Umgang genießt gegenüber der Sphäre theoretischer Reflexion epistemologische Priorität, d.h. dass explizites Wissen, manifeste Überzeugungen und theorieförmige Explikationen nur vor dem Hintergrund impliziter praktischer Fähigkeiten verständlich werden. Ansätze, 311 Das medienwissenschaftliche Interesse an »immutable mobiles« (Bruno Latour) oder »boundary objects« (Susan Leigh Star) kann hier ansetzen. 312 Vgl. Renn 2006b, S. 372. 313 Vgl. zur neueren Forschung zum impliziten Wissen die Beiträge in Adloff/Gerund/Kaldewey 2015; Ernst/Paul 2013b; Loenhoff 2012c. Ich konzentriere mich hier auf eine bestimmte Tradition der theoretischen Modellierung impliziten Wissens. Andere Konzepte sind möglich, etwa wenn man die Querbeziehungen zwischen Medientheorie und den Science-and-Technology-Studies folgt. Ein guter Startpunkt für poststrukturalistisch inspirierte Ansätze ist auch Rheinberger 2005, S. 61ff. 314 Vgl. Renn 2004. 315 Ryle 2009b, S. 233.

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die geneigt sind, einen starken Begriff von impliziten Wissens zu vertreten, auch wenn sie dies nicht immer mit dem Begriff ›implizites Wissen‹ tun, sind der Überzeugung, dass ein vorprädikatives Wissen, wie Handlungen vollzogen werden, primär gegenüber dem propositional artikulierten thematischen Wissen ist. Mit der Annahme des grundlegenden Status des Handelns und seiner primär sinnkonstitutiven Dimension verabschieden sie die Idee eines fundierten Bewusstseins und begreifen implizites Wissen als weder repräsentierbar noch vollständig explizierbar.« 316 Ein derart weit gefasster Begriff von implizitem Wissen fordert einen ebenso weit gefassten Begriff von Explikation. Wird das implizite Wissen als ein Praxiswissen begriffen, erscheinen die Explikationen von implizitem Wissen als soziale Folgepraktiken, die implizites Wissen in geänderter Form in neue Handlungsgewissheiten – nämlich die der Explikation – übersetzen.317 Explikationen sind folglich zu bestimmten Zwecken ausdifferenzierte und eingeübte Praktiken. Eine Explikation macht zuvor nicht beachtete Phänomene ›sichtbar‹. In dieser Funktion ist die Explikation ein Ausdruck des historisch kontingenten Umgangs einer Kultur mit Wahrheit und Problemlösung. Explikationen umfassen ein in einem kulturellen Kontext normativ anerkanntes Inventar an Praktiken und Medien der Explikation.318 Von großer Bedeutung ist dabei die soziokulturelle Bedingtheit von implizitem Wissen.319 Harry Collins findet hierfür eine anschauliche Analogie: »Wir kennen nur einen Weg, implizites Wissen zu erwerben, und der besteht darin, mit anderen zusammenzukommen, die es schon besitzen. Implizites Wissen ist wie eine Kopfgrippe, die wir nicht mit der Post versenden, uns aber von anderen in unserer Nähe ›einfangen‹ können.«320 Implizites Wissen ist für Collins also an körperliche (Ko-)Präsenz in sozialen Situationen gekoppelt.321 Die soziale und kulturelle Beschaffenheit des impliziten Wissens zu durchdenken, ist ein Schlüsselthema von praxis- und handlungstheoretischen Ansätzen. Aus praxis- und handlungstheoretischer Perspektive beziehen sich Praktiken der Explikation ref lexiv auf die ›stummen‹, durch implizites Wissen geprägten, Fortsetzungen von Kommunikation und Handlungen, also auf das Ereignis der Verknüpfung von Regel (Struktur) und Anwendungsfall der Regel (Praxis).322 Implizites Wissen steht 316 Loenhoff 2012a, S. 16f. Vgl. auch Renn 2015. 317 Vgl. Renn 2006b, S. 362ff.; Loenhoff 2012a, S. 24. 318 Vgl. Renn 2004, S. 234. 319 Ich konzentriere mich hier exklusiv auf die Positionen bei Renn und Loenhoff. Die umfassende soziologische Debatte, zu der u.v.a. eine Diskussion von Pierre Bourdieus Begriff des »Habitus« notwendig wäre, kann nicht erfolgen. Vgl. Bourdieu 1987, S. 97ff.; Bourdieu 1992. 320 Collins 2012, S. 92. 321 Vgl. auch Ernst/Paul 2013a. Philosophisch zudem Gascoigne/Thornton 2013. Allerdings wird dort – was medien- und kulturtheoretisch problematisch ist, durch die Demonstrierbarkeit von implizitem Wissen seine bruchlose soziale Teilbarkeit gerechtfertigt. Diese Vermittelbarkeit von explizitem Wissen relativiert Collins (2012) durch das fundamentalpragmatistische Argument, dass das explizite Verständnis von explizitem Wissen jeweils wieder implizites Wissen voraussetzt und damit das explizite Wissen kontextspezifisch situiert. 322 Für Harry Collins ist die kollektiv-soziale Form impliziten Wissens keine starke Form des impliziten Wissens, sondern die einzige Form von implizitem Wissen, die nicht explizit gemacht werden kann. Vgl. Collins 2012, S.  107. Das ist ein wichtiges Argument gegenüber der Reduktion des impliziten

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hierbei für ein ›stummes‹ Wissen um die Anwendung von Regeln. Orientiert an Michael Polanyis Verständnis von implizitem Wissen als einem »tacit knowledge« ist es in der Forschung daher gängig geworden, das implizite Wissen mit sensomotorischen Skills wie etwa dem Musizieren, Fahrradfahren, Schwimmen etc. zu verrechnen.323 Als paradigmatisches implizites Wissen gilt das somatische implizite Wissen.324 Angesichts der Bedeutung impliziten Wissens für die Durchführung von Praktiken greift diese Einschätzung allerdings zu kurz. Überdies droht die Gefahr, aus dem Primat des Körpers auf eine Opposition zwischen dem ›universellen‹ Körper und den ›partikularen‹ kulturellen Kontexten zu schließen.325 Gegenargumente liefert, neben anderen Ansätzen, die Perspektive von Jens Loenhoff.326 Ebenso wie Polanyi argumentiert Loenhoff für die Unhintergehbarkeit eines starken Begriffs von implizitem Wissen. Wie auch Collins, legt Loenhoff seinen Begriff aber breiter an, als Polanyi dies tut.327 In Loenhoffs Perspektive ist das implizite Wissen auch in Form des personalen Körper- und vor allem Kontextwissens von der »Rechtfertigungspraxis einer Sprachgemeinschaft«328 abhängig. Diese soziokulturelle Dimension von implizitem Wissen zeigt sich etwa am Beispiel der Fallibilität des impliziten Wissens. Überdies bedarf das implizite Wissen der responsiven Anerkennung und ist sanktionierbar.329 Implizites Wissen ist folglich abhängig von Situationen der Handlungskoordination in kooperativen sozialen Situationen.330 Bei Renn findet sich ein Beispiel von Explikation in der Übersetzungspraxis, das Loenhoffs Argument bestätigt. Wie die Übersetzungsforschung zeigt, vergleichen Übersetzer nicht nur die expliziten lexikalischen Begriffe zweier Sprachen, also etwa das deutsche Wort ›Situation‹ und das englische ›situation‹, sondern auch die praktischen Verwendungen von Begriffen in den jeweiligen Sprachen, mithin die praktischen Kontexte der Verwendungen der Worte.331 Die Diskussion um die Bedeutung Wissens auf personales Wissen bei Gascoigne/Thornton 2013 – insbesondere, wenn dort personales Wissen und Praktiken unmittelbar miteinander verrechnet werden. Hierbei wird übersehen, dass Praktiken eine Verstrickung in die materielle und soziale Realität haben, die über die Konstitution von ›personalem‹ Wissen hinausgeht. Vgl. die Debatte um Performativität und Praxis in der Medien- und Kulturtheorie, etwa die Beiträge in Kertscher/Mersch 2003. 323 Vgl. Polanyi 1985, S. 13ff. 324 Vgl. Collins 2012, S. 102ff. 325 Eine philosophische Theorie des impliziten Wissens findet sich bei Gascoigne/Thornton 2013. Allerdings reduzieren die Verfasser die Problematik des impliziten Wissens auch auf die Dimension des personalen Wissens. 326 Und auch Harry Collins. Vgl. Collins 2012, insb. S. 105ff. Ich folge hier allerdings dem Ansatz von Loenhoff und Renn, siehe auch Renn 2015. 327 Vgl. Loenhoff 2012a, S. 16f. 328 Loenhoff 2012a, S. 11. Vgl. auch Renn 2015, S. 122f., S. 132f. 329 Vgl. Loenhoff 2012a, S.  12. Dieser Punkt wird auch bei Gascoigne/Thornton (2013, S.  3) zum Ausgangspunkt einer Bestimmung von implizitem Wissen. Implizites Wissen ist nicht kalkulierbar, folgt aber trotzdem einem »genuine standard of correctness«. 330 Vgl. Loenhoff 2012a, S. 12ff. Vgl. zu einer medienphilosophischen Lesart des bei Michael Tomasello entwickelten Begriffs der Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit Bauer 2003. 331 Ein Beispiel für diesen Prozess ist die Suche nach lexikalischen Alternativen in der Zielsprache, so etwa die Frage, ob man ein Verb in der Ausgangssprache durch eine alternative Wortklasse ersetzt. Vgl. Renn 2006b, S. 176.

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eines Wortes in einer Praxis wird dabei an der Verwendung des Wortes in einem Horizont möglicher Praktiken ausgerichtet. Die Grundlage, um die Entscheidung zu treffen, dass zwischen Ausgangs- und der Zielsprache eine lexikalische Veränderung vorgenommen werden muss, beispielsweise ein Adjektiv in der Ausgangssprache durch ein Verb in der Zielsprache ersetzt wird, ist durch ein in der Praxis konstituiertes implizites tertium comparationis angeleitet. Dieses implizite tertium ist eine Vorstellung über die Verwendungspraxis eines Wortes in der Ausgangs- und der Zielsprache. Renn betont, es handele sich bei diesem Vorstellungsbild um die Vorstellung einer idealisierten »Szene […], in der die zu übersetzende Angelegenheit spielt«.332 Als implizites tertium entsteht die proto-narrative, schematische Szene der idealen praktischen Verwendungssituation eines Begriffs. In der Kommunikation zwischen den Akteuren wird dazu das imaginäre Moment eines kollektiv geteilten ›als ob‹ eingeführt, in dem besagte mögliche alternative Sprachpraktiken am Beispiel einer idealisierten ›Handlungsszene‹ erörtert werden.333 Mit Matthias Bauer kann man in diesem Fall von einer schematischen Handlungsszene sprechen, die in der Diskussion variiert wird.334 Als eine stereotype Standardszene einer Sprachpraxis – wie zum Beispiel einem Satz – verweist die Szene also auf ein Praxiswissen, das mit einer idealisierten Handlungssituation assoziiert ist, die ihrerseits in einem Moment des ›als ob‹ imaginiert wird.335 Renn hebt nun hervor, dass in der Artikulation der Szene in mündlicher Sprache als dem Konstitutions- und Objektivierungsmedium des Nachdenkens über Alternativen eine Schlüsselrolle zufällt. Das szenische Vorstellungsbild ist kognitiv bei den Beteiligten supponiert, sofern ein in der semiotischen Praxis des Sprachgebrauchs benanntes Vorstellungsbild mit Wissen um seine praktische Angemessenheit verbunden wird. Es ist dieses Sprachwissen, das im Akt der Externalisierung im mündlichen Gespräch objektiviert und als Wissen ›über Sprache‹ expliziert wird. Für das im Abgleich mit dem impliziten Sprachwissen durchgeführte ›Durchspielen‹ der Szene im Sinne der Möglichkeit, die Szene abzuwandeln, ist dieser Vorgang von großer Bedeutung. Denn all das geschieht, ohne dass in dieser sprachlichen Explikation explizite Regeln angegeben würden, vielmehr wird das implizite Wissen für sprachliche Angemessenheit diskutiert. Die Schwelle, welche die ›Übersetzung‹ von implizitem in explizites Wissen markiert, steckt damit in der Frage, ob in der mündlichen Artikulation die implizite, kognitiv repräsentierte Vorstellung der szenischen Situation wiedergegeben werden kann. In dem Beispiel wird die zu klärende implizite Regelhaftigkeit des Gebrauchs von Wörtern über den Bezug auf standardisierte Szenen des Gebrauchs dieser Wörter in Praktiken expliziert. Diese Explikation beruht auf der Artikulation von impliziten 332 Vgl. Renn 2006b, hier S. 176, Anm. 39, Hervorh. C.E. 333 Dieser Zusammenhang mit der Szene wird in einem anderen Kontext mit Blick auf Renns Arbeiten auch bei Ernst 2008 angedeutet. 334 Vgl. Bauer 2003; Bauer 2005c. 335 Dies entspricht der sprachphilosophischen und linguistischen Praxis, sprachliche Phänomene an konstruierten Sätzen zu diskutieren, etwa in der Pragmatik. Vgl. Meibauer 1999. Die Konstitution des Vorstellungsbildes in diesem ›als ob‹ ist wiederum nichts anderes als ein, mit Frederik Stjernfelt (2007, S. 83ff.) gesagt, »imaginary moment«. In dieser Logik würde es sich dabei bereits um einen diagrammatischen Gebrauch gewöhnlicher Zeichen handeln. Vgl. auch die Ausführungen zur Diagrammatizität der Syntax in Bauer/Ernst 2010, S. 109ff.

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Sprachverständnissen. Derartige Sprachverständnisse können zwar benannt, aber ihrerseits nicht zu expliziten Regeln verfestigt werden. Als ein Praxiswissen bleiben sie dem in veränderter Form artikulierten, nichtsdestoweniger aber impliziten Sinn für Angemessenheit verpf lichtet. Keines der in der Kommunikation zirkulierenden Verständnisse des impliziten tertiums (der ›Handlungsszene‹) wird daher eine adäquate explizite Repräsentation sein, egal welche Darstellungsweise gewählt wird. Das Wissen um eine Praxis der Explikation, also um die Übersetzung, kodifiziert sich nicht zu festen Regeln.336 Die Praktiken der Explikation gehören somit auch keiner ›anderen Welt‹ als das implizite Wissen an. Auch greifen sie von keiner ›anderen Welt‹ objektiv auf das implizite Wissen zu. Explikationen entstehen vielmehr aus unhinterfragten Problemlösungspraktiken in alltäglichen Handlungssituationen wie dem angemessenen Sprachhandeln.337 Durch dieses Argument wird Renns Gedanke einer Parallelisierung von implizitem Wissen mit dem Vollzug einer Praxis nachdrücklich bestärkt. Wenn sich implizites Wissen nicht auf stummes Körperwissen reduzieren lässt, sondern ein im umfassenden soziokulturellen Sinne praktisches Wissen ist,338 dann kann es sich bei implizitem Wissen um nichts handeln, das ontologisch different als eine eigene ›Entität‹ in einer Handlung steckt. Stattdessen ist die Praxis die Form des impliziten Wissens – und sei es eben als Praxis der Explikation.339 In diesem Lichte betrachtet, ist es schwierig, das implizite Wissen universalistisch als etwas ›natürlich‹ Gegebenes zu verstehen, das jenseits der Normativität einer Kultur liegt. Wenn der unhinterfragte Gebrauch von Sprache als Paradigma des starken Begriffs von implizitem Wissen dient, ist ein solcher Universalismus ausgeschlossen. In Renns Beispiel wird deshalb klar, dass Explikationen von implizitem Wissen als kultursensitive und mithin sozialen Normen unterliegende Formen von ›Abstraktionen‹ anzusehen sind. Diese Abstraktionen werden zu impliziten Praktiken der Explikation, die sich iterativ in Explikationsgewohnheiten (gleichsam ›Deutungsroutinen‹) bewähren und Anerkennung erfahren. Von dieser Einschätzung ist auch die Idee betroffen, Praktiken der Diagrammatisierung als Explikationen zu verstehen. Eine ›implizite‹ Möglichkeit des diagrammatischen Denkens im Sinne des von Stjernfelt diskutierten diagrammatischen Gebrauchs gewöhnlicher Ikons, die in der Wahrnehmung stattfindet, und eine ›explizite‹ Form des Denkens mit ausdifferenzierten Diagrammen als derartigen Medien der Explikation zuzulassen, wirft erneut die Frage nach dem Kontinuum zwischen verschiedenen Ebenen der Diagrammatik auf. Wie ist das Verhältnis zwischen einer als ›explikativ‹ angenommenen Art des Sehens gedachten Diagrammatisierung mit Explikationen erster Stufe und zweiter 336 Vgl. zum Zusammenhang von Sprachkompetenz und implizitem Wissen weiterführend die Studie von Gascoigne/Thornton 2013. Dort heißt es zum Verhältnis von Kodifizierbarkeit und Artikulierbarkeit: »Tacit Knowledge stands opposed to the principle of codifiability (PC) but not the principle of articulacy (PA)« (Gascoigne/Thornton 2013, S. 168f.). Die Position Renns scheint mir hier aufschlussreicher, sofern sie bereits für die Artikulation eine Umformung ansetzt. Damit liegt sie näher an medientheoretischen Argumenten. 337 Vgl. Loenhoff 2012a, S. 13. Geltung hat dies auch für die Diagrammatik, die eine Vielzahl ›vortheoretischer‹ Formen wie spontane Skizzen und beiläufige Zeichnungen kennt. Vgl. Gansterer 2011. 338 Vgl. dazu auch Reckwitz 2003. 339 Vgl. auch Loenhoff 2012a, S. 15ff.

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Stufe ausgestaltet? Oder einfacher gesagt: Wie finden eine Diagrammatik, die diagrammatische Zeichen als kognitive Größe annimmt, mit einer Diagrammatik auf dem Papier zusammen? Um diesen Punkt vertiefend zu diskutieren, kann der erste Teil des Zitates von Stjernfelt in Erinnerung gerufen werden: »Take a photograph of a tree – it is an icon in so far as not previously explicit information may gathered from it – say, e.g. the fact that the crown of the tree amounts to two thirds of its overall height. This fact was remarked nowhere earlier, neither by the photographer nor the camera nor the developer – and by noticing it you performed a small experiment of diagrammatic nature: you took the trunk of the tree and moved upward for your inner gaze in order to see it cover the height of the crown twice, doing a bit of spontaneous metric geometry, complete with the implicit use of axioms like the invariance of translation.«340 Wenn es stimmt, dass – wie Stjernfelt schreibt – es in der Praxis des Sehens Formen der intentionalen Einstellung gibt, die eine solche ›Explikation‹ leisten können,341 dann wird deutlich, dass Stjernfelt das diagrammatische Kontinuum zwar als ein Kontinuum der Explikation beschreibt, in seinem Ansatz wird aber die Frage zu wenig beachtet, wie der diagrammatische Gebrauch gewöhnlicher Ikons als eine Wahrnehmungsleistung mit den expliziten, sozial sichtbaren Praktiken des Gebrauchs von Diagrammen und ihren Medien zusammenpasst. Betrachtet man Stjernfelts Idee, eine vor dem geistigen Auge vollzogene Praxis der Diagrammatisierung als eine explizitmachende Praxis zu begreifen, dann bezieht sich diese Praxis nicht einfach nur auf ein Objekt, an dem sie etwas expliziert – in Stjernfelts Fall der auf der Fotografie abgebildete Baum. Als diese Praxis einer Explikation, die in der Wahrnehmung »in actu«, wie Stjernfelt meint, vollzogen wird, ist sie eine Art und Weise des Sehens, die sich ihren Status als Explikation nicht bewusst macht. Damit aber kann sie keine Explikation mehr sein. Die Explikation muss ihrerseits ein implizites Wissen um ihre Regelhaftigkeit der Verwendung als Praxis der Explikation voraussetzen.342 Folgt man dem Argument, dass Explikation als eine Praxis des Denkens ein kooperativer, sozialer Sachverhalt ist, dann expliziert man nicht einfach, sondern man muss wissen, wie man expliziert – und es muss anerkannt werden, dass man expliziert. Im Umkehrschluss zeigt dieses Problem, dass Praktiken der Explikation niemals vollständig beschrieben sind, wenn sie nur als ›Abstraktionen‹ gefasst werden, die implizites Wissen thematisch werden lassen. Jede Explikation ist ihrerseits eine Praxis, die als solche auslegungsbedürftig ist. Und noch etwas kommt hinzu. Stjernfelt spricht von einem Bewusstseinsakt. Im Unterschied zu Renns Argument, das implizite Wissen nicht nur als körperliche Praxis zu verstehen, sondern auch Phänomene wie den unhinterfragten Gebrauch von 340 Stjernfelt 2007, S. 107. 341 In seinem Buch Diagrammatology versucht Stjernfelt (2007) nicht umsonst, Husserls »eidetische Variation« als eine diagrammatisierende Praxis zu verstehen. 342 Joachim Renn hat inzwischen das Konzept eines »second order tacit knowledge« als Bedingung für Explikationen in Spiel gebracht: »[W]e need to know that knowing how has certain properties and we need to know how it is to have or to employ tacit knowledge in order to detect the difference between tacit knowledge and its explication.« Vgl. Renn 2015, hier S. 130, siehe auch S. 131.

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Sprache und vergleichbare Praktiken dem Bereich des impliziten Wissens zuzurechnen, liegt bei Stjernfelt ein sozial ›unsichtbares‹ Phänomen vor. ›Implizite‹ Praktiken der Explikation, wie Stjernfelt sie beschreibt, mögen in ihrer Bedeutung für das Erkenntnissubjekt zwar als Phänomene im (Denk-)Bewusstsein gegeben sein, doch sind sie nur von einer sozial manifesten Praxis her verständlich und gerechtfertigt. Dieses ›Apriori des Soziokulturellen‹, das bei Renn und Loenhoff für das implizite Wissen veranschlagt wird, ist in diesem Fall folgerichtig. Was am Bezugsobjekt – also in diesem Fall dem ›Baum‹ auf der Fotografie – an impliziten Relationen explizit vor dem geistigen Auge gesehen wird, kann nur dann als gesichertes ›Wissen‹ gelten, wenn es sozialer Rechtfertigung unterliegt. Die ›innere‹ Einsicht muss der ›äußeren‹ Praxis einer legitimen Deutung folgen. Diesen Punkt gegenüber Stjernfelt hervorzuheben zielt nicht darauf ab, Stjernfelts Ansatz unterstellen zu wollen, er sei gegenüber Fragen der pragmatischen Geltung von Wissen indifferent. Und dennoch ergeben sich hier Rückfragen in Bezug auf die diagrammatische Erkenntnisleistung. Im ersten Teil des Zitates beschreibt Stjernfelt die diagrammatisierende Art der Wahrnehmung als eine explizitmachende Praxis. Diese Praxis ist als eine implizite Form des diagrammatischen Denkens dargestellt, ein »kleines Experiment diagrammatischer Art«. Diese diagrammatisierende Praxis erster Stufe erscheint also so wie die öffentliche Praxis einer körperlichen Handlung. Man hat den Stamm des Baumes vor dem geistigen Auge ›nach oben bewegt‹ und mit der Baumkrone ›überblendet‹, um festzustellen, dass die Baumkrone als zwei Drittel der Gesamthöhe ausmacht. Stjernfelt diskutiert die kognitive Praxis des diagrammatischen Denkens hier in der Weise, dass sie ähnlich verläuft wie die soziale Praxis eines diagrammatischen Explizierens als einer sozialen, in der Erkenntniskraft der Metapher vorgezeichneten, Praxis des Vergleichens. Das Bild eines Baumes wird vor dem geistigen Auge ›manipuliert‹, weil ein Teil des Baumes mit einem anderen Teil ›überblendet‹ wird. Das ist eine Schlüsselprämisse der Peirce’schen Theorie des diagrammatischen Denkens, die Stjernfelt von Peirce übernimmt. Prägend ist allerdings auch die Idee, abstrakt-analytische Formen des Denkens am Beispiel von Metaphern körperlicher Praktiken zu beschreiben.343 Die Begriff lichkeiten legen zumindest die Vermutung nah, dass hier eine konkrete Tätigkeit das Vorbild ist, die das tertium der übersetzenden Diagrammatisierung als einer Form von Explikation abgibt. Im Sinne einer ›internen‹ Praxis vor dem geistigen Auge ist die Praxis der Diagrammatisierung eine über das implizite Wissen motivierte inferenzielle Praxis des Denkens, die nicht ohne ›externe‹ Praktiken körperlicher und sozial eingebetteter Handlungsvollzüge gedacht werden kann. Praktiken, die als körperliche Erfahrungen im Außen gemacht werden, bilden mithin die sprachlichen Metaphern, um die Erkenntnisleistung vor dem geistigen Auge zu beschreiben. Das ›Außen‹ des Körpers und der Praxis schreibt sich, über Metaphern des Gebrauchs, in die Erkenntnisleistung jener ›explizitmachenden‹ Wahrnehmung ein, die nach Stjernfelt vor dem geistigen Auge als eine bestimmte Verhältnisse am Objekt erkennende, perzeptive Diagrammatisierung abläuft. Relativierend könnte man einwenden, dass dies zwar für Stjernfelts Beschreibungssprache gilt, damit aber nichts über die Sache selbst gesagt ist. Dennoch ist es möglich, auch die stärkere These zu 343 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 235ff.

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verfolgen. Statt die Explikation schon im diagrammatisierenden Sehen beginnen zu lassen und dann ein Kontinuum diagrammatischer Praktiken anzunehmen, kann man umgekehrt davon ausgehen, dass ein diagrammatisierendes Sehen, funktionsäquivalent zu einem impliziten tertium comparationis, zum impliziten Bezugspunkt übersetzender und darin explikativer Praktiken der Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe wird. Die Annahme lautet also, dass es die bei Stjernfelt als ›reine‹ Erkenntnisleistung mentaler Art formulierte diagrammatisierende kognitive Operationen nicht in dieser purifizierten Form gibt, dass sie als ein semiotischer Erfassungsakt im Sehen aber auch nicht nicht exisiert, sondern vielmehr gleichzeitig mit materiellen Aspekten in Erscheinung treten. Umgekehrt stellt eine auf Praktiken fokussierte Herangehensweise aber auch die Aufgabe, die Grenze zwischen materieller und semiotischer Dimension zu ref lektieren. Und das wirft noch einmal sehr grundsätzlich die Frage nach dem Verhältnis von Zeichen und Medien auf.

2.2.5 Karte/Territorium und das Verhältnis von Medien und Zeichen Traditionell wird das Verhältnis von Medien und Zeichen so formuliert, dass ›Medien‹ die materielle Außenseite der Zeichen sind. Diese Herangehensweise verdankt sich nicht zuletzt der Einsicht, dass eine allein auf die Semiotik gestützte Medientheorie unzureichend wäre. Die Semiotik hat ein Verständnis für grundsätzliche mediale Funktionen von Zeichen wie Adressierbarkeit, Iterabilität, Kontextwechsel oder Speicherbarkeit entwickelt.344 Ihre Bedeutung für die Medientheorie liegt aber eher auf der Ebene einer allgemeinen Theorie der Medialität.345 Semiotische Analysen sind zwar in der Lage, Differenzen zwischen Typen von Zeichen zu beschreiben. Erst der Blick auf die materiellen Bedingungen medialer Dispositive erlaubt jedoch die Ausarbeitung einer Perspektive auf Mediendifferenzen. Im Rückgriff auf dekonstruktivistische, diskursanalytische, technikzentrierte und phänomenologische Ansätze ist die Debatte um das Verhältnis von Materialität und Zeichen seit den späten 1990er-Jahren mit der Debatte um Performativität verknüpft worden.346 Die Diskussion beginnt dabei üblicherweise bei einer Problematisierung des Prozesses der Ausdifferenzierung der Zeichen. Die Zeichen treten in Differenz zur Umwelt und sind in Praktiken von anderen Gegenständen in dieser Umwelt abgegrenzt.347 Die Medialität der Zeichen ist dabei das, was die Zeichen der materiellen Umwelt in ihre Funktion als Medien, die in dieser Umwelt etwas ›vermitteln‹, übergehen lässt. Diese ›mediale Verkörperung‹ von Zeichen deutet auf besagte materielle ›Außenseite‹ hin. Wie etwa in der Performativitätsdebatte betont worden ist, lässt sich dem Verhältnis von Zeichen und Medien die Eigenschaft zusprechen, durch ihre Verschränkung mit der Wahrnehmung einen die semiotischen Basismedien überschreitenden ›Über-

344 Zur Rolle der Semiotik als einer historischen Vorbedingung der Medientheorie und Medienphilosophie einführend u.a. Hartmann 2000, S. 117ff., weiterführend die Studie von Pruisken 2007, S. 66ff. 345 Vgl. z.B. Roesler 2003. 346 Vgl. Krämer 2004b. 347 Vgl. die Auslegung der Dekonstruktion bei Bertram 2008.

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schuss‹ aufzuweisen.348 Als Überschuss ist z.B. die Irritation derjenigen Möglichkeiten zu fassen, die sich aus einer anderen Betrachtung der medialen Verkörperung einer als ›semiotisches Basismedium‹ ausdifferenzierten Menge an Zeichen ergeben.349 In einer beiläufigen Bemerkung schreibt Niklas Luhmann, das Medium Schrift sei nicht ausschließlich als verschriftlichte Sprache ›medial‹.350 Für die Sprache und die Schrift ist demnach, neben ihrer Eigenschaft als verschriftlichter Sprache, zu bedenken, dass sie auch aufgrund der Gestalt ihrer wahrnehmbaren Form für das Bewusstsein faszinierend ist. Was für die Sprache als »extrem unwahrscheinliche Art von Geräusch, das wegen dieser Unwahrscheinlichkeit hohen Aufmerksamkeitswert und hochkomplexe Möglichkeiten der Spezifikation besitzt«, gilt, gilt nach Luhmann auch für die »enormen, immer noch unterschätzten Auswirkungen [der] Optisierung von Sprache«,351 also für ihre Sichtbarmachung in der Schrift. Unterschätzt können diese Auswirkungen der »Optisierung von Sprache« aber nur sein, wenn das Deutungsmuster der Medialisierung der Sprache in der Schrift die wahrnehmbare ›Außenseite‹ der Schrift nicht mitbeachtet. Veranschlagt wird bei Luhmann somit eine im weitesten Sinne ›medienästhetische‹ Perspektive: In der Schrift sieht man die Sprache – und man sieht sogar noch mehr: Man sieht den Text und eine räumliche Fläche, in welcher der Text – üblicher Weise heißt es: ›linear‹ – organisiert ist. Diese Spatialität von Schrift wird so ›ausgelegt‹, dass die Schrift vorrangig eine zeitliche Sequenzierung der Sprache darstellt. Luhmanns Verweis auf die »Optisierung« hebt im Unterschied zu der Standardperspektive auf die Schrift somit hervor, dass die räumliche Dimension der Schrift nicht nur der Sprache als Text eine Gestalt gibt, sondern die Schrift selbst eine Räumlichkeit – und damit: eine Sichtbarkeit und Bildlichkeit – aufweist, die nicht mit derjenigen deckungsgleich ist, die sich aus der kulturell routinisierten Verwendung der Schrift als verschriftlichter Sprache ergibt.352 Teils parallel zu der Frage, wie sich derartige Überschuss-Verhältnisse zwischen semiotischen Basismedien wie der Schrift und dem Bild ausgestalten, teils in direkter Auseinandersetzung mit ihnen ist im Anschluss an die Performativitätsdebatte, insbesondere bei Sybille Krämer oder Hartmut Winkler, eine Theoretisierung der Grenze zwischen materiellen und semiotischen Aspekten vorgenommen worden,353 die auf eigene Art pragmatistische Motive aufgegriffen hat und an die es im vorliegenden Kontext wichtig ist, zu erinnern.354 348 Dieser Überschuss ist in phänomenologisch inspirieren Medientheorien oft als sich entziehende Größe gefasst worden. Vgl. Mersch 2002a; Mersch 2002b; Mersch 2006, S. 219ff.; Mersch 2010. Dies geht einher mit einer Privilegierung der Kunst als der Sphäre zur Beobachtung dieses Überschusses. Vgl. Mersch 2006, S. 225ff. 349 Vgl. zur Kritik an der Überschuss-Rhetorik des Performativitätsparadigmas am Beispiel des Präsenz-Begriffs auch Ernst 2013. 350 Vgl. hier auch Krämer 1996. 351 Luhmann 1998, S. 110. 352 Das entspricht dem, was insbesondere Sybille Krämer unter der Überschrift »Schriftbildlichkeit« verhandelt hat. Vgl. Krämer 2003b; Krämer 2006; Krämer 2009; Krämer 2012; Krämer/Cancik-Kirschbaum/Totzke 2012. Vgl. auch die Beiträge in Grube/Kogge/Krämer 2005. 353 Zwar neigt Krämer mitunter dazu, die Semiotik auf eine strukturlogische Theorie zu reduzieren, ihre Unterscheidung zwischen Zeichen und Medien ist aber dennoch von großem Wert. Vgl. Krämer 2008, dazu mit knappen kritischen Überlegungen Ernst 2012c. 354 Andreas Reckwitz (2003, S. 283) hat demgemäß darauf hingewiesen, dass die Debatte um Performativität zu den begründenden Faktoren einer praxistheoretischen Perspektive in den Sozialwis-

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Der entscheidende Punkt dieser Debatten ist, semiotische und materielle Dimension in ihrer Verf lechtung verständlich zu machen. Dass sowohl die materielle als auch die semiotische Dimensionen irreduzibel für die Medientheorie sind, hat Hartmut Winkler anlässlich einer Klarstellung zum Verhältnis von Medientechnik und Zeichen bemerkt: »Es erscheint vollständig sinnlos, eine Medienwissenschaft weiter zu treiben, die allein auf das Symbolische starrt, oder, herausgerissen aus der Sphäre des Realen, allenfalls die Medientechnik als legitimen Gegenstand akzeptiert.«355 Zurück auf das Beispiel Luhmanns bezogen lässt sich das so verstehen, dass die Medialität eines Mediums darin besteht, über Gewohnheit im Gebrauch eine bestimmte Wahrnehmungs- und Gebrauchsweisen zugesprochen zu bekommen, die mit einer normalisierten Funktion des Zeichengebrauchs einhergehen (Schrift als verschriftlichte Sprache). Von ihrer Materialität her betrachtet sind stets aber auch andere Verwendungsweisen zuzulassen, die von den gewohnten Gebrauchsweisen abweichen (Betrachtung der optischen Dimensionen der Schrift).356 Dieser stärkere Fokus auf die konkrete Rolle des Gebrauchs von Medien wird bei Krämer, indirekt aber auch Winkler, allerdings auch mit einer Relativierung der insbesondere von konstruktivistischen Positionen vertretenen These einer Autonomie der Medien verbunden.357 Krämer etwa wendet gegen einen solchen »Medienapriorismus« ein, dass, ebenso wie die Zeichen sich erst durch Medien konstituiert werden, die Konstitutionsfunktion der Medien keinem Selbstzweck geschuldet ist: »Die technisch-institutionelle Schließung [der Medien, C.E.] […] hat vor allem anderen den Ef fekt, das Symbolische als Symbolisches freizustellen. Obwohl sie im Tatsächlichen operiert, dient die systemische Schließung dem Symbolischen«.358 Medien normalisieren also bestimmte Formen des Zeichengebrauchs. Die durch Medien konstituierte und stabilisierte Sinndimension der Zeichen wird als Teil der ›tatsächlichen‹ Welt (als Welt der ›unmittelbaren‹, materiellen Wirkzusammenhänge, der Notwendigkeit, der Kausalität, des Reaktionszwanges etc.) wahrgenommen. Krämer und Winkler folgen damit einer Erklärung von zeichenhafter Bedeutung, die nicht über die innere Welt des Geistigen, sondern über die äußere Welt materieller Darstellungssysteme und des praktischen Umganges mit ihnen argumentiert.359 Zeichenhafte Denkprozesse sind auf Medien angewiesen, weil sie nur in Medien ihre Inhalte objektivieren und organisieren können. Im Unterschied zu werkzeughaften Gebrauchsdingen sind die Zeichen als Medien im Sinne von Erkenntnismitteln (und nicht als Werkzeuge) zu denken, weil sie ein Teil einer Praxis sind, in der eine mittelbare Distanz zu dieser Welt des ›Tatsächli-

senschaften gerechnet werden muss. Diese Beobachtung würde ich für die Medienwissenschaft unterstützten, allerdings wird diese Rolle der Performativitätsdebatte eher wenig beachtet. 355 Winkler 2004a, S. 93. 356 In eine solche Richtung kann man Kay Kirchmanns (1998, S. 46ff.) Ansatz ausdeuten, Medialität als Relationalität zu modellieren. 357 Programmatisch kommt das in dem von Horst Bredekamp und Sybille Krämer gegen das diskurstheoretische Paradigma veranschlagten Begriff der ›Kulturtechnik‹ zum Ausdruck. Vgl. Krämer/ Bredekamp 2003. Praktiken der Diagrammatisierung sind Kulturtechniken der Explikation. 358 Winkler 2004a, S. 256. 359 Vgl. hier auch Jäger 2012, S. 18f.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

chen‹ aufgebaut wird.360 Was an den Zeichen somit ›medial‹ ist, erlaubt diese ›Distanznahme‹, die durch die technischen Eigenschaften der Medien immer mitkonstituiert und erweitert wird. Die Zeichensphäre kann mit Hartmut Winkler als Sphäre eines »Probehandelns« aufgefasst werden.361 Nach Winkler ist das Zeichenhandeln eine Menge von Praktiken, die gegenüber den materiellen Kausalverhältnissen in der Umwelt einen Sonderbereich ausbildet und die durch technische Medien konstituiert und beeinf lusst wird.362 Lassen sich diese Grundlagen dieser Prozesse bereits aus der Performativitätsdebatte heraus mit verschiedenen Begriffen wie ›Verkörperung‹, ›Exteriorität‹ oder auch ›Externalisierung‹ fassen,363 so erweist sich Winklers Begriff einer Probehandlung als Begriff für die referenzielle Distanz der Zeichen zu einer Welt des ›Tatsächlichen‹ als sehr treffend. Die Zeichen ermöglichen demnach eine auf materiellen Bedingungen gegründete Distanznahme und Ref lexion der Welt, in der die materielle Dimension nicht das ›Außen‹ der Zeichen darstellt, von dem her die Zeichen erst ihre Bedeutung beziehen. Dafür entwirft Winkler eine graduelle Abstufung von Performativität als Kriterium für die Wirksamkeit von Handlungen.364 Winklers Charakterisierung von semiotischen Bezugnahmen als Probehandlungen, in der Zeichen die Ausbildung von auf die Welt bezogenen Hypothesen ermöglichen, unterstellt somit aber auch, zumindest implizit, eine pragmatistische Betrachtungsweise der Semiose, in der die Probehandlung auf Ebene des alltäglichen semiotischen Handelns angesiedelt ist. Für Winkler sind es mithin die Differenzierungen der Grenze zwischen der Welt der Zeichen und ihrer materiellen Voraussetzungen, welche durch die spezifischen Verwendungsweisen von Medien praktisch ausgehandelt werden. Dieser Ansatz hat erhebliche Vorteile. Die Medialität von Zeichen wird nicht aus einem Gegensatz, sondern dem Zusammenspiel von Zeichen mit Materialität erklärt. Gleichwohl erscheint es notwendig, auf bauend auf Winklers Ansatz, verschiedene Typen von Probehandlungen zu unterscheiden. So kann im Anschluss an die Performativitätsdebatte etwa überlegt werden, ob der mit ›Denken‹ einhergehende Prozess der Auslegung und Interpretation von Zeichen durch Analogien zum Prozess der Interpretation von »Spuren« gestellt werden kann.365 Generell aber liefert das Performativitätsparadigma für diese Spezifizierung nur einen unscharfen Rahmen. Die übergeordnete Frage, die sich im Phänomen verschiedener möglicher Gebrauchsweisen von Schriftmedien spiegelt, ist folglich, wie die durch Performativität gewonnene Perspektive für eine Theorie explizierender Bezugnahmen zugeschnitten werden kann.366 Das Problem, das dabei entsteht, ist, klären zu müssen, auf welcher Ebene man ansetzt. Dies wird in einem Zitat von Frank Hartmann schön deutlich. Hartmann ver-

360 Vgl. auch Winkler 2004a, S. 225. Das schließt allerdings nicht aus, Zeichen metaphorisch als ›tools‹ oder eben ›Werkzeuge‹ zu verstehen. 361 Vgl. Winkler 2008b. Vgl. zu Diagrammen als Medien der Probehandlung Posner 2009, S. 214f. 362 Weshalb das Materielle in der Medientheorie oft in einen Gegensatz zum Sinn als Einheit der Differenz von Aktualität und Potenzialität tritt. 363 Vgl. bei Koch/Krämer (1997) etwa »Exteriorität des Geistes«. 364 Vgl. Winkler 2008b, S. 213. 365 Vgl. Jäger 2012, S. 18ff. Vgl. auch Wirth 2008, S. 17f.; Krämer 2008, S. 276ff. 366 Vgl. auch Krämer 2008, S. 34f.

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weist auf eine Bemerkung von Marschall McLuhan, der bereits die (elektronischen) Medien in Gänze als »›Technology of explicitness‹«367 bezeichnete: »Epochale Techniken der Explizitmachung sind für McLuhan Alphabet, Druckerpresse und schließlich Elektrizität bzw. Elektronik. Diese Kulturraum (Umwelten) schaffenden Technologien verfolgen ein nicht-subjektivistisch gedachtes Konzept von Sich-Zeigen. Dabei geht es weniger um zwischenmenschliche Kommunikation als um die Übertragungs- und Präsentierungsleistung von Medien.« 368 Die Externalisierung im Sinne medialer Präsentation an sich wird hier als eine »Explizitmachung« beschrieben, was aber ausdrücklich von einem auf Kommunikation bezogenen Begriff von Explikation abgegrenzt wird. Macht dieses Zitat damit klar, dass eine technisch-materielle Dimension als einem Teilbereich in Praktiken der Explikation irreduzibel ist, so ist umgekehrt zu konstatieren, dass ein Begriff von Explikation im kommunikativen Sinn seinerseits ohne die semiotische und kognitive Dimension sinnlos, weil unspezifisch ist.369 Um an dieser Stelle einseitigen strukturlogischen Begründungsansprüchen aus dem Weg zu gehen, hat an Sybille Krämers eine Perspektive auf die »Heteronomie« der Medien eingefordert.370 Für Krämer liegt der Mehrwert der Medientheorie nicht darin, die Bindung von semantisch gehaltvollen Bezugnahmen unter die Bedingung eines Aprioris ›autonomer‹ Medien zu stellen, wie es etwa in technikzentrierten und konstruktivistischen Ansätzen geschieht, in denen die Strukturlogik von kulturellen Semantiken an die historisch-kontingenten Ermöglichungsbedingungen von Medien gekoppelt wird.371 Vielmehr muss an die Stelle eines letztlich strukturlogisch begründeten Quasi-Apriori der Medien eine Perspektive treten, die auf durch die semiotische und die kognitive Dimension soziokulturell bestimmte Praktiken des Mediengebrauchs abzielt.372 Zu den paradigmatischen Fällen, anhand dem dies veranschaulicht werden kann, gehört für Krämer der Gebrauch des diagrammatischen Mediums der Karte.373 Krämer geht es dabei ausdrücklich um einen Umgang mit Karten, in dem die Karte ein »räumliches Territorium in einer handgreif lichen Darstellung« so zeigt, »dass wir uns innerhalb dieses Territoriums dann handelnd orientieren können. Es geht also um Karten, die wir einsetzen, um uns auf eine außerhalb der Karte gegebene ›Realität‹ zu beziehen, in welche wir als Kartennutzer praktisch eingelassen sind«.374 Mit der Exposition der Karte/Territorium-Differenz folgt Krämer einer der privilegierten Analogien, wenn es um die Epistemologie semiotischer Bezugnahmen generell geht.

367 Zit.n. Hartmann 2010, S. 103. 368 Hartmann 2010, S. 103. 369 Vgl. dagegen Hartmann 2010, S. 103ff., der unter Rekurs auf Max Bense die technische Richtung einschlägt. 370 Vgl. Krämer 2004a; Krämer 2008, S. 20ff. 371 Vgl. Krämer 2008, S. 20ff. 372 Vgl. überblickend zum Grundlagenthema des Verhältnisses von Handlung, Praxis und Struktur und ihrer Relevanz für die Kulturwissenschaften Göbel 2011; Hörning 2011; Münch 2011. 373 Vgl. Krämer 2008, S. 298ff. 374 Krämer 2008, S. 299f.

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In semiotischen Kontexten wurde die Karte/Territorium-Differenz oft als Analogie verwendet, um das referenzielle Verhältnis der Zeichen zur Welt zu beschreiben. Die Analogie besagt, dass die Zeichen so wie Karten sind. Zeichen organisieren als Karten die Komplexität eines Territoriums und machen praktisch eine Orientierung in einer Welt der Gegenstände und Sachverhalte möglich – eine Tatsache, wobei die Konstitution eines semantischen Begriffs von ›Territorium‹ in der Regel als praktische Verfestigung eines Schemas beschrieben wird. Bei Hartmut Winkler heißt es entsprechend: »Zeichen sind Schemata. Sie verdoppeln nicht die Welt, sondern sie liefern ein knappes, strukturiertes Raster, das die extensive Vielfalt der Welt reduziert, strukturiert und lesbar macht. Zeichen sind dem Bezeichneten gegenüber auf spezifische Weise verdichtet; die Erfahrung mit vielen konkreten Pferden (und die Erfahrung mit Äußerungen über Pferde) mündet in das abstrakte Konzept ›Pferd‹.«375 Unter dem Einf luss des a poststrukturalistischen Paradigmas formulierte man diese Analogie lange Zeit so, dass die Karte, also die Zeichen, das Territorium, also die Realität, niemals erreicht, oder aber – das wäre die medientheoretische Wendung – dass die Karten mit dem Territorium deckungsgleich sind. Referenzskeptisch wollte man nur noch Zeichen sehen, die als Modelle dasjenige sind, was man von der Wirklichkeit hat.376 Vor allem ein Aspekt der Analogie von Karte und Territorium spricht jedoch gegen derartige skeptische Engführungen. Das Verhältnis von Karte und Territorium muss nämlich nicht zwingend als eine Analogie zum Referenzverhältnis zwischen Zeichen und Wirklichkeit gedacht werden, sondern kann auch als ein Problem der Umformung zwischen semiotische Formen der praktischen Bezugnahme aufgefasst werden, genauer: zwischen einer impliziten Orientierung in dem Territorium ohne Karte (als externalisiertem Medium) und einer expliziten Orientierung in dem Territorium mit der Karte.377 Orientiert an Gilbert Ryles Philosophie ist aus pragmatistischer Sicht festzustellen, dass der in der expliziten Orientierung durch die Karte etablierte Bezug auf das Territorium ein anderer ist als der in der impliziten Orientierung ( Kap. 3.5.4).378 In der Karte können mögliche andere Wege, die von den etablierten Routinen abweichen, gesehen werden. Die Vorstellung, die man bei der expliziten Orientierung mit der Karte vom Territorium vor Augen hat, ist eine andere Vorstellung als diejenige, die in der Orientierung ohne Karte verwendet wird. Das ref lexive Potenzial der Karte als Medium besteht dann darin, nicht nur – in Winklers Worten gesagt – eine andere Art der medialen Probehandlung zu ermöglichen, sondern auch die Differenz zwischen beiden Vorstellungen hinsichtlich der Realität zu thematisieren. In der expliziten Orientierung mit der Karte wird ein implizites Verständnis vom Territorium mithin mit einer neuen Denkmöglichkeit konfrontiert; die Karte erscheint als ein Medium in Praktiken des Explizitmachens des eigenen Verhältnisses 375 Winkler 2008b, S. 213f. 376 Oft sagt man, die Modelle der Sprache seien bloße Metaphern. Vgl. Nietzsche 1999, zu Nietzsches Metapherntheorie inzwischen auch Huss 2019, S. 53ff. 377 Konstruktivistische Vereinnahmungen von Peirces Semiotik übersehen oft dessen Realismus. Und den Realismus übersehen sie, weil die Semiotik lange Zeit vom Pragmatismus abgetrennt betrachtet wurde. Vgl. die Kontextualisierung von Peirces Position bei Nagl 1992, S. 136ff. sowie die Rekonstruktion des Peirce’schen Realismus aus Perspektive der Medientheorie Ludwig Jägers bei Trantow 2012. 378 Vgl. Ryle 2009a.

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zum Territorium. Der andere Typ von Praxis ist dabei durch die Differenz des Umgangs mit dem Medium ›Karte‹ in den jeweiligen Praktiken definiert, also durch die Möglichkeiten, welche durch die Mediatisierung ohne eine Karte und Handlungen mit einer Karte konstituiert werden. Eine Karte referiert dergestalt auf diejenigen Praktiken, die ohne Karte im Territorium vollzogen werden, dass sie durch einen Akt der Umformung (im Fall der Karte: z.B. der Projektion etc.) gegenüber diesen Handlungen andere Praxismöglichkeiten eröffnet. Aus semiotischer Sicht setzt diese Formulierung des Karte/Territorium-Verhältnisses die Karte damit in eine Beziehung zum Denken, und zwar zu einem Denken in Zeichen. Versteht man unter einer Karte die Variante eines Diagramms, dann erlaubt diese Prämisse auch das Argument, dass Diagramme und diagrammatisches Denken als ein Modell für das Denken in Zeichen im Ganzen betrachtet werden können.379 Auf Grundlage dieser Übersetzungsfunktion kann die Karte (bzw. das Diagramm) zu einer Kategorie avancieren, die ref lexiv auf allgemeine Funktionsprinzipien der Semiose als einer Theorie des schlussfolgernden Handelns mit Zeichen projiziert wird – eine These die bei Peirce entfaltet wird ( Kap. 3).380 Eine der epistemologischen Konsequenzen dieser Betrachtungsweise ist es, die Differenz zwischen Karte/Territorium nicht als eine Analogie zwischen einer Karte (Zeichen) und einer der Karte fremden Wirklichkeit (Territorium) auszulegen. Vielmehr geht es um die Reformulierung als eines Problems zwischen unterschiedlichen Modalitäten des semiotischen Zuganges zur Welt. Sowohl die Orientierung ohne Karte als auch die Orientierung mit Karte sind semiotische Phänomene, müssen aber zwei unterschiedlichen Arten des Zeichenhandelns, also zwei unterschiedlichen Typen von Praktiken, zugerechnet werden. Das Repräsentationsverhältnis zwischen Karte und Territorium wird auf diese Weise pragmatistisch aufgelöst. Die Karte kann Aspekte des Territoriums repräsentieren, ist als solche Repräsentation aber eine Umformung des Territoriums, die in Verhältnissen praktischer Schlussfolgerungen steht. Die Probleme der Referenz von Zeichen können zwar nur in Begriffen der Inferenzen zwischen den Zeichen und ihren Verwendungen formuliert werden. Dort aber können sie formuliert werden.381 Aus medientheoretischer Sicht liefert diese semiotische Position eine wichtige Relativierung referenzskeptischer Annahmen, übersieht aber gleichzeitig die Medialität der Karte. Fügt sich diese über den Pragmatismus informierte semiotische Lesart also 379 Genau davon zehrt, wenn auch unterschwellig, die Diskussion der Karte bei Krämer 2008. 380 Vgl. zur intrasemiotischen Übersetzbarkeit von Zeichen Wirth 2008, S.  37ff.; hier auch Heßler/ Mersch 2009a, S. 34f. Das Verhältnis intrasemiotischer Übersetzbarkeit wird bei Bauer/Ernst 2010 unter Bezug auf Paul Ricœurs Triade aus »Präfiguration«, »Konfiguration« und »Refiguration« hermeneutisch formuliert. 381 Zumindest mit der Peirce’schen Philosophie wird man deshalb keine referenzskeptische Position begründen können. Vielmehr plädiert diese Philosophie dafür, dass nur semiotische Inferenzverhältnisse zur Klärung dieser Referenzen zur Verfügung stehen. Das ist auch ein Kerngedanke der bereits erwähnten Theorie einer ›operativen Mediensemantik‹ die Ludwig Jäger (2012, S.  17) vorgelegt hat. Dies schränkt überdies die Möglichkeiten der Vereinnahmung seiner Philosophie durch den radikalen Konstruktivismus für meine Begriffe stark ein. Das Missverständnis der (de-)konstruktivistischen Positionen ist, aus diesem Vorrang der intrasemiotischen Sphäre auf eine Unüberwindbarkeit der Grenze zwischen intra- und transsemiotischer Sphäre geschlossen zu haben. Vgl. zu dieser Kritik umfassend Renn 2012. Vgl. mit Bezügen zur Dekonstruktion dagegen weiterführend Schönrich 1990, zur Systemtheorie Jahraus 2001; Scheibmayr 2004.

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gut in den Kontext einer gebrauchslogischen Betrachtung von Medien, hat Krämer in ihrer Diskussion der Heteronomie der Medien dennoch einen wichtigen Punkt, wenn sie darauf hinweist, dass die »›natürlichen‹ Umgangsformen mit heteronomen Medien […]« für ihr »reibungsloses Funktionieren« eine »Selbstneutralisierung und Selbstausblendung« benötigen.382 Diese ›Unsichtbarkeit‹ der Medien – Krämer spricht von »Transparenz« – löst Krämer dahingehend auf, als sie die implizit/explizit-Unterscheidung nicht auf Ebene der Beziehung zum Territorium ansiedelt, sondern in Beziehung zum Medium der Karte selbst. Das, was hier was explikative Umformung bezeichnet wird, wird also nicht auf Ebene der Fremdreferenz (Territorium) ausgearbeitet, sondern auf Ebene der Selbstreferenz (Karte). Die explikative Funktion von Medien, die in der Umformung des praktischen Verhältnisses zum Territorium beobachtet werden kann, muss mithin auch selbstref lexiv gewendet werden und sich auf die Explikation der Medialität des Mediums ›Karte‹ selbst beziehen. Expliziert man die Medialität der Karte selbst, dann kann man z.B. dasjenige entdecken, was bei Winkler als Ergebnis der Wechselwirkung zwischen Performativität und Materialität beschrieben wird, nämlich die im Medium der Karte »›festgeronnenen‹, jedoch mehr oder weniger verborgenen Handlungs-, Darstellungs- und Nutzungskontexte«, die überhaupt erst die Ausdifferenzierung des Mediums ›Karte‹ bedingt haben.383 Entlang bestehender Medien und der Begriffe, die wir von ihnen haben, lassen sich, wie Krämer betont, die »Spuren« der Praktiken rekonstruieren, die schon am Werk sind, bevor es die Karte als Karte gibt.384 Das Einzelmedium Karte wird also auf die in ihm niedergelegten Praktiken des Kartenlesens hin analysiert. Handelt es sich hierbei offenkundig um eine Argumentation, die enge Querbezüge zur Kulturtechnikforschung aufweist, so ist aus Sicht der These, dass sich materielle, semiotische und kognitive Dimensionen wechselseitig implizieren können, zu bedenken, dass diese selbstref lexive Perspektive, wie sie in der Medientheorie exponiert und meist über in die Materialität eingeschriebene ›Spuren‹ von Praktiken analysiert wird, systematisch von der fremdreferenziellen Gebrauchslogik der Karte im semiotischen Sinn abhängig ist. Krämer stellt fest, dass man sich ref lexiv über die Medialität der Karte überhaupt nur klar werden kann, wenn man die Karte aus ihrem regulären Gebrauch herauslöst, es zu einem »Absehen von ihrer praktischen Ingebrauchnahme als Orientierungsmedium innerhalb eines Territoriums«385 komme. Das bedeutet nichts anderes, als dass die fremdreferenziell-semiotische Funktion der Karte, die ihrerseits eine explikative Funktion hat, ausgesetzt werden muss – Krämer spricht sogar von einer »epoché« im Sinne Husserls.386 Das aber kann nur bedeuten, dass überhaupt erst einmal eine bestehende Praxis des Kartenlesens inklusive einer explikativen Funktion der Karte für das Denken in der Referenz auf ein Territorium bestehen muss, bevor es zu derartigen selbstref lexiven Wendungen kommen kann. Streng genommen ist im Fall dieser Selbstref lexion auch noch ein Medienwechsel impliziert, muss die selbstref lexive Analyse des Mediums Karte auf die in ihrer Materialität sedimentierten Spuren des Kartenlesens hin doch mutmaßlich selbst wieder unter Hinzunahme anderer 382 Krämer 2008, S. 304. 383 Vgl. Krämer 2008, hier S. 304. 384 Krämer 2008, S. 303. 385 Krämer 2008, S. 305. 386 Vgl. Krämer 2008, S. 305.

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Medien erfolgen, mindestens aber unter der Inblicknahme der Karte auf ihre Verfassung als Medium, was in der dann beispielsweise auf die Analyse eines diagrammatischen ›Zwischenstatus‹ der Karte zwischen Sprache und Bild hinausläuft. Zusammenfassend illustriert die Diskussion um das Verhältnis von Karte und Territorium, dass sich nicht nur das Argument vom ›Vorrang der Praxis‹ bestätigt und die Differenz Karte/Territorium auch mit der Differenz zwischen impliziter Zugangsweise und expliziter Darstellungsweise überblendet werden kann. Entscheidend ist, dass die Erkenntniskraft explikativer Medienpraktiken in Phänomenen der Umformung begründet liegt. Ist es dabei unzweifelhaft, dass eine solche Umformung in Überschuss-Phänomenen begründet liegt, die etwa an der Grenze von semiotischer und materieller Dimension zu beobachten sind, so zeigt eine nähere Diskussion der Argumente doch auch, dass dies nicht dahingehend gedacht werden sollte, als eine Art Apriori des Materiellen begründet werden kann, ist doch jede selbstref lexive Explikation der Materialität der Karte systematisch abhängig von bereits bestehenden semiotischen Regularitäten der Bezugnahme auf ein Territorium. Eine nähere Bestimmung der Epistemologie diagrammatischer Explikationen muss daher medientheoretisch davon ausgehen, dass sich im Sinne der genannten Prämissen einer pragmatischen Übersetzungstheorie die verschiedenen Dimensionen jeweils wechselseitig zur Verfügung stehen, aber nicht gegeneinander priorisiert werden können. Will man mithin die Spezifik diagrammatischer Explikationen untersuchen, benötigt man eine Theorie, die in der Lage ist, mit dynamischen Verhältnissen der Umformung von in Praktiken implizit als geltend gesetzter Annahmen in explizite Verhältnisse umzugehen. Eine Grundlage dafür liefert Ludwig Jägers Theorie der medialen Transkription, die im Folgenden zunächst zusammengefasst und dann für die Frage, wie Diagrammatisierung als explikative Praxis verstanden werden kann, nutzbar gemacht werden soll.

2.2.6 Mediale Transkription nach Ludwig Jäger387 Die neuere deutschsprachige Forschung der Diagrammatik ist in starkem Maße der Etablierung der Bildwissenschaften im Laufe der 2000er-Jahre verpf lichtet. Eines der wesentlichen Argumente dieser Forschung ist der Aufweis einer ›Eigenlogik‹ von Bildern – und in der Folge auch Diagrammen – gegenüber anderen ›Medien‹. Ein wirkmächtiger Diskussionskontext für diese Perspektive auf Diagramme ist die Geschichte wissenschaftlicher Visualisierungen.388 Martina Heßler und Dieter Mersch fragen mit Blick auf die Medialität der Visualisierung abstrakter Daten etwa danach, was bei der »der Transformation von Signalen in visuelle Schemata sowie bei deren Rückübersetzung in theoretische Aussagen und deren Weiterverarbeitung durch Algorithmen etc. [geschieht]«.389 Wissenschaftliche Verwendungen von Diagrammen, etwa zur Informationsvisualisierung, werden als Übersetzungen zwischen den verschiedenen Formen der Zeichen und Medien lesbar gemacht und von einer »Sichtbarmachung« durch Diagramme gesprochen,390 also einer spezifischen Form der medialen »Wahr387 Auf Jägers Theorie der Transkription bin ich an verschiedenen Stellen, insb. aber in Ernst 2014c eingegangen. 388 Vgl. die Beiträge in Heßler/Mersch 2009b. 389 Heßler/Mersch 2009a, S. 18. 390 Vgl. Heßler/Mersch 2009a; Krämer 2009.

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nehmbarmachung«.391 ›Medial‹ ist die Wahrnehmbarmachung dabei nicht in der Art, dass eine nicht-mediale Wahrnehmung durch ein Medium vermittelt wird, sondern dass eine medial präformierte Wahrnehmung in ein anderes Medium übersetzt wird. Mediale Wahrnehmbarmachung ist eine Transkription zwischen verschiedenen Formen der Medialisierung und darin ›intermedial‹.392 Im Lichte dieser Annahme ist die Diagrammatik häufig die an Diskussionen der Interaktion zwischen den semiotischen Basismedien Schrift und Bild gebunden worden.393 Wird dem Diagramm als einer Ref lexionsform der Verf lechtungen von Wahrnehmung, Sichtbarkeit und Denken bereits in der Semiotik eine besondere Bedeutung zugesprochen, die über eine Betrachtung etwa von Karten als Medien einer synoptischen Zusammenschau verschiedener Zeichenformen hinausgeht,394 gilt die Neugier der bildwissenschaftlich inspirierten Forschung zu Sichtbarmachung insbesondere der epistemischen Kraft, die sich aus dem Zusammenhang von Räumlichkeit und Denken ergeben.395 Sei es explizit, sei es implizit rücken dabei Prozessbegriffe zur Erfassung der epistemischen Leistung von Diagrammen ins Zentrum, etabliert etwa »Performanz«, später dann in starkem Maße »Operativität«.396 Bettina Heßler und Dieter Mersch schreiben zum Beispiel: »Dabei inhäriert dem ›Diagrammatischen‹ wie ›Graphematischen‹ eine eigenständige Form von Performanz. Es handelt sich um eine operative Performanz, die den Kern ihrer visuellen Argumentation ausmacht, soweit sie im ›Schrift-Bild-Raum‹ Handlungen vollziehen, die Abhängigkeiten, Extremwerte, Isomorphien oder Ähnliches evident machen.« 397 Denkt man in den klassischen medientheoretischen Bahnen, ist wohl unstrittig, dass semiotische Basismedien Bild, Schrift und Zahl in die Dispositive technischer Übertragungs-, Speicher- und Verarbeitungsmedien integriert sind. Diese Medien stellen die Zeichen, die selbst Medien sind, unter ihre je eigenen Bedingungen. Ob ein Bild ein Gemälde, eine Skizze, eine Fotografie oder ein Filmbild ist, macht für die Ikonizität des Bildes jeweils einen Unterschied. Allerdings wird hier auch darauf hingewiesen, dass Medien nicht nur strukturlogisch unterschiedliche Wahrnehmungs- und Rezeptionsmodalitäten ermöglichen, sondern auch gebrauchslogisch unterschiedliche Bearbeitungsmöglichkeiten. Diagramme erlauben sowohl in der Art der verräumlichten Repräsentation von Relationen als auch in der Art des Umgangs mit ihnen eine prak391 Vgl. Krämer 2008, S. 261ff. 392 Vorbereitet wird diese Perspektive durch Argumente wie das Nelson Goodmans, die semiotische Flexibilität von Diagrammen an die Praktiken eines ›Messens‹ zu binden. Für Goodman stellt dies nicht nur die besondere epistemologische Leistung von Diagrammen dar, sondern schließt auch einen Akt der Transformation ein ( 5.4.2). 393 Vgl. zu den Basismedien Wort, Bild, Ton und Zahl Mersch 2003. Vgl. zur ›Außenseite‹ auch Mersch 2002a; Mersch 2002b; siehe auch Mersch 2010. 394 Vgl. Nöth/Schmauks 1998. 395 Vgl. Heßler/Mersch 2009a, S. 12f. 396 Vgl. Krämer 2009, wo die epistemische Leistung von Diagrammen in Begriffen einer »operativen Bildlichkeit« beschrieben wird. 397 Heßler/Mersch 2009a, S. 33.

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tische Ref lexion inferenzieller Prozesse. Diesem Argument ähnlich, schreiben Heßler und Mersch zum Diagrammatischen: »Skripturale und bildliche Mittel verweisen wechselseitig aufeinander, sodass logische oder relationale Beziehungen durch ein System visueller Parameter sichtbar gemacht werden können. In diesem Sinne bedeuten sie Sichtbarkeit und Sichtbarmachung des Denkens«.398 Heßler und Mersch setzen mit dieser (im Rückbezug auf die Arbeiten Sybille Krämers gemünzten) Bemerkung mithin voraus, dass das im »Diagrammatischen« etablierte Sehen von verräumlichten Relationen eine besondere Beziehung zum Denken und vor allem zur Herstellung von Ref lexionsmöglichkeiten aufweist. Diese Eigenschaften des »Diagrammatischen« sind es, die im Diagramm dank seiner Verschränkung von bildlichen und schriftlichen Zeichen als Schlussprozesse sichtbar gemacht werden sollen. Zwar bietet ein Begriff wie »operative Performanz« durchaus eine Möglichkeit, den für alle Diagrammatik grundlegenden Umstand zu beschreiben, dass Diagramme Denken zeigen und in diesem Zeigen eine, in Anlehnung an Barbara Tversky und Angela Kessler gesagt, ›Denk-Aktion‹ vollziehen.399 Was allerdings erforderlich ist, ist eine Begriff lichkeit, die das Moment des Übergangs in Denken genauer fasst. Das gilt zumal dann, wenn es nicht immer leicht ist, diese epistemische Leistung zwischen verschiedenen »intravisuelle[n] Überlagerungen und Überlappungen« und »intermediale[n] Transformationen«400 zu unterscheiden. Sybille Krämer hat diese medientheoretische Perspektive mit ihrer Version einer Diagrammatik verbunden. Dabei setzt sie auf den Begriff der »Transfiguration«, um die mediale Umformung zu denken, welcher die Erkenntnis durch das Zeichnen einer Linie, etwa auf einem weißen Blatt Papier, unterliegt.401 In Formulierungen wie der eines »heteronom-autonomen Doppelcharakters des Strichs«402 kommt die Notwendigkeit, das Verhältnis von Praxis und Struktur medientheoretisch neu denken zu müssen, schön zum Ausdruck. Krämers eigene, auf die Aufarbeitung des Diagrammgebrauchs in der Philosophiegeschichte abzielende, »Diagrammatologie«403 ist dabei an dieser Stelle weniger interessant als ihre gebrauchslogische Bestimmung der medientheoretischen Kontexte der Diagrammatik. Dieser Hinweis ist für die Einordnung von Praktiken der Diagrammatisierung als Explikationen eine wichtige Grundlage, weil sie den Anschluss der Diagrammatik an Ludwig Jägers operative Mediensemantik ermöglicht.404 Anstelle des Begriffs der »Transfiguration«, der im weiteren Verlauf der Metapherntheorie vorbehalten bleibt ( Kap. 5.3.2), setze ich deshalb auf den Begriff der »Transkription«.405 Um den Begriff der »Transkription« herum entwickelt hat Ludwig Jäger seine Theorie als ein allgemeines Konzept medialer Bezugnahmepraktiken entworfen, das zum Verständnis der diskursiven Funktion von Diagrammatisierungen als explizierenden Praktiken sehr hilfreich ist. Transkriptionen sind Formen des Medienge398 Heßler/Mersch 2009a, S. 32. 399 Vgl. Tversky/Kessler 2014. 400 Heßler/Mersch 2009a, S. 37, im Orig. kursiv. 401 Vgl. Krämer 2010; Krämer 2012, S. 85ff.; Krämer 2016. 402 Krämer 2012, S. 85, im Orig. kursiv. 403 Vgl. Krämer 2009; Krämer 2010; Krämer 2012. 404 Jäger 2012, S. 17. 405 Vgl. zur Rezeption Ludwig Jägers in der Medienwissenschaft exemplarisch Hiebler 2018, S.  227ff. Dort findet sich auch ein Vergleich mit der Position Dieter Merschs.

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brauchs, die zur Herstellung von kommunikativer Anschlussfähigkeit höherer Ordnung dienen, etwa als Wechsel in die ref lexive Spracheinstellung oder als schriftliche Fixierung eines gesprochenen Gegenstandes. Die Verfahren der expliziten Bezugnahme sind nach Jäger Praktiken der Lesbarmachung (also auch Wahrnehmbarmachung) von kulturellem Sinn. Ähnlich wie Jacques Derrida sieht Jäger die skriptuale Metaphorik auch für nicht-sprachliche und nicht-schriftliche Darstellungssysteme als gültig an. Mit dem Begriff der Transkription sollen die intra- und intermedialen Prozesse der bezugnehmenden Umschreibung medialer Formen erläutert werden. Jäger entwickelt dafür drei grundlegende Begriffe: 1. Prätexte als Bezugsobjekte, aus denen in Transkriptionen ein Skript selektiert wird;406 2. Skripte als die durch Transkriptionen hergestellten Ausschnitte eines Darstellungssystems; 3. Postskripte als Überprüfungen und Infragestellungen der normativen Geltung von Transkriptionen und Skripten.407 Jäger stellt seine Ideen unter den Grundgedanken einer ›umformenden Hervorbringung‹. Transkriptionen, etwa ein aufgeschriebener sprachlicher Dialog, transformieren einen Prätext, also das mündliche Gespräch, in Skripte und machen sie somit wahrnehmbar und lesbar. Diese Transformation wird als Hervorbringung betrachtet. Mediale Transkripte mündlicher Performanzen, also die aufgeschriebene Gesprächspassage, formen die situative Einbettung des Gesprächs um (Körpersprache, Stimme, Gesten etc. gehen verloren) und versetzen sie durch diese Transkription in einen autonomen Status. Dabei kommt es zu einer Virtualisierung des Präskriptes. Jäger schreibt: »Das Skript erhält durch seine transkriptive Erzeugung gleichsam Interventionsrechte gegen die mögliche Unangemessenheit der Transkription.«408 Diese Interventionsmöglichkeiten ergeben sich aus Konventionen und Kodifizierungen, aber auch aus der Art der Mediendifferenz, die zwischen den Typen von Medien besteht: Eine in der ref lexiven Spracheinstellung vorgenommene Transkription, die im Verlauf eines Gesprächs einem Redebeitrag mündlich ein besonderes Gewicht zuspricht, indem sie den Beitrag paraphrasiert, liefert andere Interventionsmöglichkeiten und Interventionsrechte als eine schrif tliche Fixierung des Redebeitrages, auf den über Raum und Zeit hinweg zurückgegriffen werden kann. Im zweiten Fall ist die Transkription eine Externalisierung durch die andere materielle Verkörperung und ihre jeweiligen semiotischen Merkmale (Schrift). Transkriptionen sind also umformende Wahrnehmbarmachungen von medial verkörperten Zeichen, die rekontextualisiert und readressiert werden.409 Diese Wahrnehmbarmachungen, dies wird im Begriff der »Interventionsrechte« angedeutet, implizieren im Prozess des kommunikativen Anschlusses immer auch einen Möglichkeitsüberschuss: Jäger bemerkt: »Die Transkription konstituiert also in gewissem Sinne nicht nur das Skript, sondern sie öffnet über den bestimmten Weg, den sie durch das Netzwerk der Prätexte nimmt, zugleich auch andere Navigations-Optionen, andere Lektüren, deren Unangemessenheit sie im gleichen Maße postuliert, in dem sie dieses Postulat Legitimationsdiskursen aussetzt.«410 Wenn ein Skript durch Transkription lesbar gemacht wird, dann wird es mit einem normativen 406 Vgl. Jäger 2002, S. 30. Jäger spricht auch von »Präskripten«. Vgl. etwa Jäger et al. 2010, S. 303. 407 Vgl. Jäger 2002, S. 35. 408 Jäger 2002, S. 33. 409 Vgl. Jäger 2012, S. 16. 410 Jäger 2002, S. 33.

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Status versehen, aus dem sich Angemessenheitskriterien ableiten lassen.411 Transkriptionen erzeugen Unbestimmtheiten, »Möglichkeiten des Zweifels, der Korrektur und der Bestreitung« – also Möglichkeiten, in denen Postskripte entstehen können, die das Spiel weiterer Lektüremöglichkeiten offenhalten.412 Mediendifferenzen spielen dabei eine wichtige Rolle. Wenn eine intramediale Bezugnahme qua ihrer Ref lexivität eine Gesprächssequenz zum Skript einer Transkription macht, die zur Grundlage und zum Gegenstand einer Folgedebatte wird, in der die Wahrheit und die Geltung sowohl des Gegenstandes als auch des Verfahrens der Transkription bestätigt oder angezweifelt werden, dann gilt dies für intermediale Bezugnahmen erst recht. Intermediale Transkriptionen sind als Aktualisierungen von Skripten immer auch Virtualisierungen, in denen die in Medien verkörperten Zeichen um- und neuarrangiert werden.413 Verbunden sind diese Überlegungen bei Jäger mit einer Theorie der Bezugnahme, in der kultur- und erkenntnistheoretische Aspekte unter einem medientheoretischen Dach vereinigt werden. Jägers Ausgangspunkt bildet die pragmatistische Position, dass Bezugnahme auf eine Realität in »Begriffen der Fähigkeit erklärt werden muss, mit Zeichen auf Zeichen Bezug zu nehmen«,414 oder, wie Jäger an anderer Stelle schreibt: »Die Semiosis ist […] nicht nur das soziale Feld subjektkonstitutiver Leistungen, sondern uno actu zugleich die semiologische Bühne, auf der sich jene kulturellen Welten in ihrer begriff lichen Ordnung konstituieren, in denen und in Bezug auf die die Subjekte handeln.«415 Jäger begreift die Zeichen (Semiosphäre) also als den Ort, an dem nicht nur die Erkenntnisleistungen, sondern auch die Gegenstände durch hypothesenbildende Bezugnahmen konstituiert sind. Ihre Bedeutung kann weder durch eine materielle Welt noch durch einen kognitiven präsemiotischen ›Geist‹ garantiert werden.416 Um diesen Zwischenraum medialer Operationen abzugrenzen, nennt Jäger für seine Theorie medialer Bezugnahme fünf Grundprinzipien. Ich stelle diese Prinzipien hier nach Jägers Ausführungen paraphrasiert und kommentiert dar, gebe ihnen allerdings eine etwas andere Reihenfolge: Das erste Prinzip ist das der Spur. Dieses Prinzip ist im Kontext von Jägers Externalismus zu lesen. Es führt, wie auch Uwe Wirth argumentiert, die semiotische Kritik an der Transzendentalphilosophie wie dem Kant’schen Schematismus fort ( Kap. 3.2).417 Wie schon die Semiotik, an die Jägers Prinzip angelehnt ist, zeigen konnte, sind kognitive Schlussfolgerungsprozesse, die sich auf die kategoriale Orientierung in der Welt beziehen, auf die Öffentlichkeit der materiellen und semiotischen Dimensionen der Zeichen, die orientierende Raster zur Verfügung stellen, angewiesen. Erst historisch 411 Jäger 2002, S. 34. 412 Vgl. Jäger 2002, hier S. 33. 413 Betrachtet man Jägers Begriffstrias, dann drängt sich auch eine Parallele zu Paul Ricœurs Trias aus »Präfiguration«, »Konfiguration« und »Rekonfiguration« auf, wie sie bei Bauer/Ernst (2010) rezipiert und in der Diagrammatik-Forschung weitergedacht wird. Eine ähnliche Beobachtung findet sich bei Hiebler 2018, S. 229. 414 Jäger 2012, S. 18. 415 Jäger 2012, S. 22. 416 Vgl. Jäger 2012, S. 23. 417 Vgl. auch Wirth 2008, S. 18ff.

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wandelbare Zeichen ermöglichen kommunikative Bezugnahmen, also in »Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit« identifizierbare und objektivierbare Gegenstände und Sachverhalte.418 Als Teil des Gef lechtes intra- und intermedialer Bezugnahmen ist die Konstitution von Sinn und Bedeutung und aller darauf auf bauender Erkenntnisbeziehungen möglich.419 Diese Erkenntnisbeziehungen können paradigmatisch als Praktiken des Spurenlesens verstanden werden. Durch die Nachträglichkeit des Bezugs des Skripts auf den Prätext und das in ihm Repräsentierte stellen Transkriptionen eine Ausdeutung des Skripts als einer vorgängigen Spur dar. Die Spur steht für die praktischen Erkenntnisbeziehungen, die aufgrund der Semiose gegeben sind. Im Übergang von den Zeichen zu ihrer medialen Verkörperung ist das zweite (eng mit der Spur verbundene) Prinzip der Medialität angesiedelt. Jäger konzipiert seinen Begriff von Medialität in Anlehnung an die Debatte um Performativität. Demnach konstituiert und differenziert die mediale Verkörperung die Zeichen. Die Medien sind keine neutralen Übertragungsmedien von Zeichen. Sie wirken auf die Form von Zeichen – man kann sogar sagen: auf die Zeichen als Form – ein.420 Wenn die Zeichen nicht auf ein transsemiotisches ›Original‹ verweisen und Bezugnahmen nur in verschiedenen Formen der Zeichenhandlungen ausgeführt werden können, dann deshalb, weil die Zeichenhandlungen durch Transkriptionen in jeweils verschiedenen Varianten vorliegen, für die, wie Jäger anmerkt, »kein prämediales Original« existiert.421 Medialität steht also für die ›Vermitteltheit‹ von Erkenntnisbeziehungen im Zusammenspiel von Wahrnehmung, Denken und Handlung. Das dritte Prinzip ist das der Übersetzung. Der Begriff ›Übersetzung‹ adressiert bei Jäger die Organisation von Bezugnahmen. Die Bezugnahmen in Zeichensystemen differenzieren zwischen Fremd- und Selbstreferenz. Fokussiert werden kann nicht nur auf die Formen (Gehalte), sondern auch auf die, systemtheoretisch gesagt, »medialen Substrate« und die Medien der Bezugnahme.422 Diese Ref lexion auf die Medialität der Hervorbringung von Bezugnahmen ist für Jäger eine Art und Weise, den »Verwendungssinn«423 von Skripten zu ref lektieren, also der Gebrauchsweisen, etwa der Schrift. Das Wissen um diese Gebrauchsweisen von Medien gehört nach Jäger zu den Bestandteilen desjenigen Wissens, das notwendig ist, um die semantischen Gehalte von Bezugnahmen zu explizieren. Dieser Vorgang kann – analog zu Renns Überlegungen – als Übersetzung konzipiert werden.424 Übersetzung bedeutet in Jägers Verständnis, dass in der Transkription nicht nur ein dargestellter ›Gehalt‹, sondern vor allem auch die Art und Weise der medialen Darstellung umgeformt wird. Diese Art und Weise der medialen Darstellung ist pragmatisch über die routinisierten Gebrauchsweisen von Medien erschlossen. Dass beispielsweise ein Bild etwas zeigt (Was) und sich als Bild (Wie) zeigt, ist ohne den Horizont der Praktiken des Umgangs mit dem

418 Vgl. Jäger 2012, S. 18. Vgl. auch Bauer 2003. 419 Vgl. Jäger 2012, S. 19. 420 Vgl. kritisch dazu Krämers (2008) Intervention zugunsten der Neutralität der Medien. 421 Vgl. Jäger 2012, S. 25ff., hier S. 27. 422 Vgl. zu diesen bei Niklas Luhmann verwendeten Begriffen Khurana 2004. 423 Vgl. Jäger 2012, S. 22ff., hier S. 23. 424 Vgl. Jäger 2012, S. 22ff.

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Bild als einem in der Praxis als ausdifferenziert identifizierten Medium Bild unverständlich.425 Das vierte Prinzip ist das Prinzip der Rekursion. Man kann dieses Prinzip auch als eine temporäre Stillstellung fassen. Figuren der Rekursion, wie etwa die Metalepse, sind als Selbstreferenzen wichtige Quellen der Ref lexion. Als solche sind sie ein grundlegender Mechanismus von Transkriptionen. Transkription (also die Herstellung von Skripten) vollzieht sich als Praxis einer wiederholenden Dekontextualisierung und Rekontextualisierung von semantischen Gehalten in Bezugnahmen.426 Die Schrift ist der bekannteste Bereich einer solchen rekursiven Stillstellung von Sprache. Die Transkription von Sprache in Schrift versetzt die Sprache qua Medialität der Schrift in einen neuen Kontext, stellt die Sprache temporär still und eröffnet neue Möglichkeiten zu ihrer Bearbeitung, die eine formal unterschiedlich realisierte intermediale Referenz auf die Sprache behalten.427 Das kulturell lange Zeit dominant als verschriftlichte Sprache angesehene Medium der Schrift kann mündliche Sprache simulieren, also als Schrift in den Hintergrund treten, oder aber die Bildlichkeit der Sprache herausarbeiten etc.428 An die Rekursion knüpft sich daher ein wesentliches Moment des Möglichkeitsschubs, den Transkriptionen auslösen: Jede Rekursion provoziert neue Möglichkeiten der Verkettung in Transkriptionen, die selbst de- und rekontextualisierende Praktiken sind. Das fünfte und letzte Prinzip ist das der Störung. Hierbei handelt es sich, obwohl der Begriff dies erst einmal nicht vermuten lässt, um einen Aspekt des impliziten Wissens. Jägers in Auseinandersetzung mit der medientheoretischen Forschung entwickelter Gedanke lautet, dass die Medialität der Zeichen in ihrer Performanz hinsichtlich der Unsichtbarkeit bzw. Durchsichtigkeit (Transparenz) und der Sichtbarkeit der Zeichen (Störung) unterschieden werden kann.429 Wenn das Prinzip der Übersetzung das Moment einer Transkription beschreibt, in dem die medialen Bedingungen von Bezugnahmen mitref lektiert und expliziert werden, dann ist es eine Aufgabe von Transkriptionen, für Übergänge von Störungen zu Transparenz zu sorgen. Das Ziel medialer Transkription ist, wie Jäger das treffend nennt, ein »Realismus des Mediatisierten«.430 Dieser Realismus führt zu der Feststellung, dass Handlungskrisen habitualisierter Bezugnahmen (also Probleme des Anschlusses von Praktiken an Praktiken) den Realismus eines Mediums prekär und zu allererst das Medium als Medium eines Realismus erkennbar werden lassen.431 Einerseits können Störungen, entgegen einer einseitigen Identifikation der Störung als Moment des spektakulären Zusammenbruchs, auch ganz triviale Funktionsstörungen in einem normalen Ablauf sein, 425 Anders gelagerte Übersetzungsbegriffe hat Sybille Krämer in die Medientheorie eingebracht. Während sie sich in dem Entwurf ihres Botenmodells von Medialität u.a. an Walter Benjamin orientiert (vgl. Krämer 2008, S.  176ff.), wird Übersetzung in den Verbindungen dieses Modells mit der Diagrammatik als Attribut eines Apparates gefasst, also als Übersetzungsleistung eines technischen Mediums (vgl. Krämer 2010, S. 89ff.). 426 Vgl. Jäger 2012, S. 29. 427 Vgl. Jäger 2012, S. 29f. 428 Vgl. auch Krämer 1996. 429 Vgl. Jäger 2012, S. 30f. 430 Jäger 2012, S. 30f. 431 Vgl. Jäger 2012, S. 31.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

die kaum auffallen. Jäger plädiert für eine Normalisierung des Störungsbegriffs. Andererseits knüpft Jäger die Störung an die Unsichtbarkeit der Medien und definiert diese Unsichtbarkeit als Habitualisierung im Gebrauch, also unter Bezug auf Theorien des impliziten Wissens.432 Jäger rückt den Störungsbegriff somit in einen pragmatistischen Kontext. Seine fünf Grundprinzipien führen Jäger dazu, mediale Transkription und Explikation sehr eng zusammenzudenken.433 Erkenntnisleitend ist dabei der Versuch, die epistemologischen Auswirkungen von Transkriptionen anhand der Beispiele der Transformation historischer Quellen in ein Darstellungssystem, der Transformation von mündlicher Sprache in Schrift und der Explikation von implizitem Regelwissen auszuarbeiten.434 Was dabei die genannten fünf Grundprinzipien und diese drei Anwendungsbereiche zusammenhält ist das Motiv eines »Ver-zeichnens«, das Jäger in Anlehnung an Kant formuliert und das in der Diagrammatik-Forschung ebenfalls zentral Erwähnung gefunden hat. So zitiert Jäger im Rahmen eines Beitrags zur Theorie der Schrift Friedrich Kaulbach mit den Worten, bei Kant müsse die »Vernunft aus sich herausgehen und zu dem in Raum und Zeit Gegebenen übergehen«.435 In der Kritik der Urteilskraf t ist entsprechend die Hypotypose, die Kant in eine schematische und eine symbolische unterscheidet, das Verfahren, in dem die Einbildungskraft dem Begriff eine Anschauung zur Seite stellt. Sie bildet einen Teil der produktiven Einbildungskraft.436 Jäger folgt Kants Erweiterung der Schematismus-Lehre in der Kritik der Urteilskraf t und versteht die Schematisierung als Semantisierung437: Ein Begriff wird demnach in der Anschauung »verzeichnet«.438 Diese Metapher hat materielle Konnotationen in Richtung der Praxis des Zeichnens, sie impliziert aber auch, dass etwas ›ver-zeichnet‹, also zwar registriert, aber durch die registrierende Beschreibung auch verzerrt wird.439 Dieser Rekurs auf das Motiv des ›Ver-zeichnens‹ bestimmt den Umschlagpunkt zwischen einer kognitiven schematischen Hypotypose und der semiotischen symbolischen Hypotypose.440 Dieser Umschlagpunkt ist – in den Begriffen Jägers – der einer Transkription:441 »Die symbolische Hypotypose, so sehr sie uns auch überhaupt eine Bedeutung der Idee erschließt, verhüllt diese in demselben Maße, in dem sie sie uns verständlich macht. Die Erläuterung der Idee ist zugleich ihre Verhüllung, ihre symbolische Um-Schrift ein 432 Vgl. Jäger 2012, S. 31. 433 Vgl. auch Renn 2006b, S. 371ff. 434 Vgl. Jäger 2002, S. 32. 435 Jäger 2009, S. 98. 436 Vgl. Jäger 2009, S. 103f. 437 Vgl. Jäger 2009, S. 104. 438 Jäger 2009, S. 104. 439 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 55. Vgl. mit linguistischem Erkenntnisinteresse auch Fehrmann 2004. Ist die Schematismuslehre der Bezugspunkt medienästhetischer Überlegungen halte ich den Begriff der »Verzeichnung« aus der medienwissenschaftlichen Fachlogik heraus für anschlussfähiger als den Begriff der »Versinnlichung«, der bei Gasperoni 2016 bevorzugt wird. 440 Vgl. Jäger 2009, S. 108ff. 441 Vgl. Jäger 2009, S. 112.

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Umweg, der nicht wirklich zum Ziel führt, kurz: ein Prozess, in dem das Erläuterte entzogen – oder wie man auch sagen könnte – letztlich unaufgeklärt bleibt.« 442 Die Transkription stellt eine Umformung dar, in der das Skript sich in Beziehung zu einem Präskript setzt: Sie ist Umformung und Darstellung des Präskriptes in einem Zug. Diese Beziehung wiederum kann in einem sehr grundlegenden Sinn als Explizitmachen verstanden und nach dem Muster der Relation zwischen Karte und Territorium begründet werden. Am Beispiel der Explikation von impliziten Regeln heißt es bei Jäger etwa: »Die Regelformulierung verhält sich also zum impliziten Regelwissen wie die Karte zur Ortskundigkeit«.443 Bezieht sich diese Aussage auf die Explikation von implizitem Wissen generell, so lässt sie mit Blick auf die schematheoretische Begründung der Transkription aber auch so lesen, dass die explikative Funktion von Transkription, insbesondere aber auch ihre Überzeugungskraft, zwar aus ›intra-‹ und ›intermedialen‹ Überschussverhältnissen bezieht, ihre Semantik aber tiefergreifenden Quellen verdankt. Der Hinweis auf den Schematismus ist dabei insofern grundlegend, als Jäger damit die Grenze zwischen Kognition und Zeichen bestimmt. Im Hinblick auf die oben stehenden Ausführungen führt das jedoch zu der Frage, wie weit das, was bei Brandom als »subpersonale Repräsentationen« von »Praktiken, die im weitesten Sinn kognitiv sind« abgegrenzt wird, nicht schon auch materiell in die Welt verstrickt ist. Gerade am Beispiel der Schemata lässt sich sehr gut nachweisen, dass diese genau nicht einfach als ›kognitive Schemata‹ zu verstehen sind, sondern ihre Semantik immer auch aus semiotischen ( Kap. 3) und materiellen Interaktionen konstituiert wird ( Kap. 5). Für ein Verständnis von Diagrammatik, in dem Diagrammatisierungen als variable Formen der Explikation verstanden werden sollen, hat Jägers grundlagentheoretische Begründung von intra- und intermedialer Transkription durch eine Rückführung auf die Hypotypose und den Schemabegriff eine systematische Konsequenz: Es gibt eine am Beispiel der Explikation impliziten Wissens beschreibbare praktische Ebene der Konstitution der Semantik diagrammatischer Explikation, die sich ›intra-‹ und ›intermediale‹ Überschussverhältnisse zwischen Medien für explikative Zwecke zu Nutze macht, diesen aber systematisch vorgeordnet ist. Auch die Herleitung einer Diagrammatik aus bereits konstituierten strukturellen Mediendifferenzen – paradigmatisch: Bild vs. Schrift und das ›Diagramm‹ als ›hybrides Drittes‹ – ist dieser Ebene verpf lichtet. Thematisieren kulturtechnische Positionen auf Grundlage der Annahme eines ›Vorrangs der Praxis‹ und eines damit verknüpften weiten Medienbegriffs bereits diese Ebene, so scheint es im Hinblick auf die genannten philosophischen und kognitionswissenschaftlichen Argumente notwendig, sich hier um eine integrative Perspektive zu bemühen, die zumindest über eine Theorie kognitiver Aspekte mentaler Subjektivität verfügt. Sieht man das zentrale Phänomen der Diagrammatik mit Barbara 442 Jäger 2009, S. 113. Der Pragmatist und Semiotiker Peirce hat an dieser Stelle den Begriff des »Zeichens« eingesetzt, der Semiotiker, Linguist und Medientheoretiker Jäger seinen Begriff der »Transkription«, den er in der Tradition der ästhetischen Hypotypose sieht. Vgl. Jäger 2009, S. 114ff. Rolf Nohr (2012) hat versucht, hieraus eine Diskurstheorie der Hypotypose zu entwerfen, die – Jägers Theorie aufgreifend – für die Analyse bildrhetorischer Evidenzverfahren genutzt wird. 443 Jäger 2002, S. 32.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

Tversky darin, ein »Thinking in Action« zu zeigen, so bedeutet das, dass in Diagrammen Denken vollzogen wird, Diagramme als Gegenstände gleichzeitig aber auch als idealtypische Exemplifikation von Denken angesehen werden können. Die eigentlich schwierige Frage ist die, ob damit auch eine Aussage über einen ›diagrammatischen‹ Charakter des Denkens selbst gemacht werden kann. In dieser Frage divergieren enge und weite Begriffe von Diagrammatik, sofern letztere diese starke These vertreten und daraus ableiten, dass man von diagrammatischem Denken auch ohne Rückbezug auf spezifische Diagramme sprechen kann.444 Tversky teilt diese These und begründet sie, nicht zufällig, über eine eng mit ›Embodiment‹-Theorien ( Kap. 5) verf lochtene Annahme über die Bedeutung von Gesten für das menschliche Kategoriensystem – also letzten Endes über eine auf Ebene der implizit-situierten Integration des Körpers in soziale Praktiken. Pointiert heißt es: »diagrams can be regarded as the visible traces of gestures just as gesturing can be regarded as drawing pictures in the air.«445 Die Grundlagen von Diagrammatik werden hier als abhängig von »actions in space«446 erachtet und somit direkt auf Ebene von Praktiken verortet, die in der Interaktion mit externalisierten Formen von Diagrammen komplexe »spractions« ausbilden – definiert als »spatial-abstraction-action interconnections«, in denen das implizite Vollziehen von Praktiken im Raum mit dem expliziten Denken in spezifischen medial realisierten Formen der Repräsentation spatialer Variablen verklammert ist.447 Liegt eine Ebene der praktischen Interaktion mit der Welt vor aller Schrift/ Bild-Differenz und anhängiger Hybriditätsdebatten, so läuft dieses Argument Gefahr, eine relativ unspezifische Idealisierung der Übergänge zwischen besagten »actions in space« und der Vielzahl möglicher medialer Formen der Repräsentation räumlicher Relationen vorzunehmen. Umso mehr ist das der Fall, wenn Tversky Diagramme als Medien ansieht, die »insight into the structure of the thought that generated them as well as into the correspondences between thought and the visual-spatial expressions of thought«448 ermöglichen – wenn sie also die doppelte Bedeutung von Diagrammen als Medien des Denkens und Repräsentationen von Denken betont. Tversky selbst bietet keine Theorie dafür an, wie man vom impliziten Vollzug von »actions in space« auf das explizite Denken von Diagrammen (aller Art) einwirkt.449 Medientheoretisch ist deshalb Ludwig Jägers Begriff der Transkription so wichtig. Denn im Lichte dieses Arguments ist es egal, ob man einen engen oder weiten Begriff von Diagrammatik veranschlagt: Die Erkenntniskraft von Diagrammatisierung – und erst Recht ihre Beurteilung als Ausdruck von ›Denken‹ – ist wesentlich eine, die aus der Tatsache erwächst, dass durch Diagrammatisierungen vermittels Transkriptionen Explikationen

444 Vgl. Tversky 2011; Tversky 2015; Tversky/Kessel 2014. 445 Tversky 2011, S. 527. 446 Tversky 2011, S. 527. 447 Tversky 2011, S. 499, S. 528. Vgl. auch Tversky/Kessel 2014, S. 219. 448 Tversky 2015, S. 100. 449 Betonen die eben zitierten Definitionen eher den impliziten Vollzug, so neigt eine neuere Definition von »spraction« eher der expliziten Seite zu. Vgl. Tversky 2015, S. 99, S. 114. Abgeschwächt stellt sich das Problem als Problem des Übergangs von »Diagrams without Paper« (S. 112) zu den verschiedenen Formen der ›Diagrams with paper‹ (oder anderen Medien).

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vollzogen werden, die offenkundig für das Denken (und die Selbstauf klärung des Denkens) einen besonderen Evidenzwert haben.

2.2.7 Grundlagen einer Theorie diagrammatischer Evidenz Anknüpfend an seine Theorie der Transkription hat Ludwig Jäger auch zur Evidenz grundlegende Überlegungen angestellt, auf die an dieser Stelle zurückgegriffen werden kann. Folgt man Jäger, dann können diagrammatische Explikationen – als Praktiken der räumlichen ›Auslegung‹ von Verhältnissen – auch als Praktiken der (Wieder-) Herstellung von Evidenz betrachtet werden und mithin als Evidenzverfahren,450 die sich auf einen ›impliziten‹ Sachverhalt beziehen.451 Wird etwas expliziert, kommt es zu einer transkriptiven Umformung des Explikats. Nicht nur wird etwas vertrautes Unthematisches in etwas unvertrautes Thematisches verwandelt. Auch das unvertraute Thematische muss so gefasst werden, dass es wieder als vertraut Unthematisches in praktische Routinen zurückübersetzbar ist. Explikationen zeigen daher nicht nur durch verfremdende Umformungen einen Sachverhalt auf, sondern sie müssen diesen Sachverhalt idealer Weise so konzipieren, dass dabei eine epistemologische ›Gewissheit‹ hergestellt wird.452 Für die Theorie der Explikation ist deshalb eine Theoretisierung von Verfahren der Erzeugung von Evidenz zentral.453 Wie Jäger darlegt, haben Evidenzverfahren zwei Ebenen: die Ebene der Attributierung von Sinn, welche die »Mikroebene kommunikativer Performanz«454 darstellt und die Ebene der Inszenierung von Sinn, welche »die Makroebene rhetorischer Strategien und ihrer diskursiven Formate«455 ist. Die erste Ebene bezieht sich auf implizite kognitive Gewissheit, die zweite Ebene auf explizite normative Geltung.456 Jäger führt dies in seiner Unterscheidung zwischen »epistemischer« und einer »diskursiver Evidenz« weiter. Demnach lässt sich die »epistemische Evidenz der semiologischen Ebene der Attributierung von Sinn und die diskursive Evidenz der rhetorischen Ebene der pragmatischen Inszenierung kultureller Semantik zuordnen«.457 Ausführlicher heißt es bei Jäger:

450 Vgl. Jäger 2006. 451 Auf die Bedeutung des Evidenzbegriffs wird bereits in Bauer/Ernst 2010 hingewiesen, wo ein Kontinuum aus »Evidenzprinzip«, »Virtualitätsprinzip« und »Kontinuitätsprinzip« angenommen wird. 452 Auch wenn sich die Philosophie gerne mit dem ersten Aspekt zufriedengibt, ist ein aus dem engen Kreis der fachphilosophischen Sprachspiele herausgelöster, weit gefasster und praxistheoretisch angelegter Explikationsbegriff ohne den zweiten Aspekt undenkbar. 453 Aus dem breiten Feld der Forschung zu Evidenz greife ich die Theorie von Ludwig Jäger heraus. Siehe weiterführend zuletzt auch Jäger/Lethen 2009; Lethen/Jäger/Koschorke 2015. 454 Jäger 2006, S. 39. 455 Jäger 2006, S. 39. 456 Vgl. Jäger 2006, S. 39. 457 Jäger 2006, S. 45. Jäger hat die epistemische Evidenz inzwischen als einen spezifischen Fall »semantische Evidenz« gefasst. Vgl. Jäger 2015, S. 50ff., hier S. 46: »Unter semantischer Evidenz verstehe ich also – kurz gesagt – die unproblematische Geltung von medialem Sinn, wobei die diskursiven Verfahren selbst, denen sich dieser Sinn in seiner Geltung verdankt, solange gleichsam durchsichtig, transparent bleiben, solange sich die Verständigung in Formen störungsfreier Konsensualität der an ihr beteiligten Akteure vollzieht.«

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

»Epistemische Evidenz wird also als ein Modus der Vertrautheit verstanden, in dem Sinn für ein individuelles Bewusstsein entweder als ›Selbsthabe‹ oder als Ergebnis einer ›Selbstgebung‹ gegeben ist. Diskursive Evidenz dagegen tritt in der Regel da auf den Plan, wo Argumentation aus Mangel an epistemischer Evidenz nicht nur nicht überflüssig, sondern gerade gefordert ist […]. Während epistemische Evidenz also den subjektiven mentalen Zustand unmittelbarer Gewissheit der semantischen Geltung von Zeichen meint (ein Zustand, der freilich durchaus irritierbar ist), bezieht sich der zweite Typus auf Verfahren der Evidenzgewinnung, die sich diskursiver, in der Regel in prozedualen Grammatiken organisierter Mittel wie Beweis, Argumentation und Erklärung bedienen. Dabei braucht in diesem Fall die diskursiv generierte Evidenz (eines Urteils, einer Erkenntnis etc.) nicht notwendig die Form eines subjektiven Überzeugungserlebnisses anzunehmen; die Legitimität ihrer Geltung verdankt sich bei der so hervorgebrachten Evidenz nämlich nicht notwendig dem mentalen Zustand unmittelbarer Gewissheit, sondern in erster Linie der diskursiven Grammatik, durch die die Legitimität von Geltungsansprüchen herbeigeführt wurde.« 458 Epistemische Evidenz ist nach Jäger als »Evidenz durch Verfahren« und diskursive Evidenz als »Evidenz als Verfahren«459 anzusehen. Diagrammatisierende Explikationen sind in diesem Sinne Evidenzverfahren, die in Richtung der »Sichtbarkeit im öffentlichen Raum« tendieren. Dort kann »das Verfahren hinsichtlich seiner prozedualen Schritte nachvollzogen und hinsichtlich seiner Schlüssigkeit eingesehen werden«.460 Jäger geht davon aus, dass diskursive Evidenzverfahren, um Geltung zu haben, nicht notwendig Anschluss an die Gewissheit epistemischer Evidenz benötigen,461 wenngleich dieses Ideal aber zweifelsohne als Anspruch vorhanden ist. Epistemische Evidenz hingegen kann nicht ›wahr‹ oder ›falsch‹ sein, sondern nur die verschiedenen Formen diskursiver Evidenz.462 Dies hängt maßgeblich damit zusammen, dass in diskursiver Evidenz die transkriptiven Verfahren offengelegt werden, um die Schritte der »Herbeiführung« von Evidenz nachvollziehbar zu machen.463 Im Lichte dieses Ansatzes ist etwa die oben erwähnte, bei Frederik Stjernfelt geschilderte, diagrammatisierende Betrachtung des Baumes medientheoretisch problematisch, mag sie zwar epistemische Evidenz haben, aber keine explikative Geltung. An diesem Punkt könnte man stehen bleiben und Diagrammatisierungen Explikationen im Sinne der ›explizitmachenden‹, verräumlichten Transkription fassen. Die Stabilisierung dieses Sehens ist ein Produkt dieser Verfahren, wobei die Kritik dann lauten würde, dass in Stjernfelts Beispiel diese diskursiven Verfahren zu wenig beachtet werden. Allerdings ist es auch notwendig, zu sehen, worum es in Explikation geht: Eine Explikation reklamiert diskursive Autorität. Und ein Schlüsselelement dieser Autorität ist der kognitive Evidenzwert dieser Explikation. Was somit wichtig ist, ist die Art der Beziehung zu klären, die zwischen epistemischer Evidenz und diskursiver Evidenz besteht, ist diese Beziehung doch in diesem Fall nichts anderes als die 458 Jäger 2006, S. 45f. 459 Jäger 2006, S. 45f. 460 Jäger 2006, S. 46. 461 Vgl. Jäger 2006, S. 46. 462 Vgl. auch Jäger 2015, S. 50f.; Renn 2006a, S. 59f. 463 Vgl. Jäger 2015, S. 54.

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Beziehung zwischen einem diagrammatisierenden Sehen als einer kognitiven Kapazität des Denkens und einer spezifischen, soziokulturell ausdifferenzierten Form von diagrammatisierender Explikation. Dies entspricht dem Übergang von der Annahme einer ›perzeptiven Diagrammatizität‹ in die Formen von Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe. Wie Jäger im Querbezug zu seinem Argument, Transkription bereits auf Ebene von Schema und Zeichen als externalisiertes Verfahren zu begreifen, feststellt, steht die diskursive Evidenz »in der Tradition der Rhetorik, deren operative Mittel bewirken, dass sich am Ende des Verfahrens, dessen Schlüssigkeit sich unter den Augen eines Publikums bewähren muss, die Evidenz einer argumentativ herbeigeführten Einsicht«.464 Diagrammatisierungen sind, im Kontrast zu dem engen und sehr formalen Verständnis von Explikation in der analytischen Philosophie, daher nie ohne rhetorische und inszenatorische Praktiken zu verstehen, sichern doch erst diese Praktiken ihre Verf lechtung mit den Normen einer Diskursart und einer Gemeinschaft. Wendet man Jägers Theorie auf den vorliegenden Kontext an, dann zielen Diagrammatisierungen auf die Integration unterschiedlicher Formen epistemischer Evidenz in diskursive Evidenz bzw. von Gewissheit und Geltung. Die oft zitierte diagrammatische ›Anschaulichkeit‹ von Diagrammen erweist sich als eine Formel für diesen Vorgang. Wenn Jäger die Tradition der Kant’schen ›Hypotypose‹ die Versinnlichung eines ›Vor-Augen-Stellens‹ als das Paradigma nicht nur für Transkriptionen, sondern auch für Evidenzverfahren referiert,465 dann trifft er einen also auch einen heißen Kern der Diagrammatik. Rein diskursiv betrachtet ist diese Tendenz zur Iteration epistemischer Evidenz exemplarisch an der rhetorischen Autorität zu studieren, die Diagramme im Kontext von Schrift/Bild-Verhältnissen einnehmen.466 Die diskursive Bedeutung von Diagrammen ergibt sich in diesen Kontexten aus ihrer Reputation als ›idealen‹ Formen der mathematischen oder wissenschaftlichen Beweisführung. Sie ist besonders dann sehr hoch, wenn das jeweilige Diagramm eine epistemische Gewissheit provoziert, die noch auf Inferenzen beruht, deren inhärente Schlussfolgerungen auf leicht verständliche Weise logisch sind (oder zumindest logisch erscheinen). Damit aber zielt die rhetorische Qualität von diagrammatisierenden Praktiken der Explikation diskursiv immer auch auf die Wiederherstellung epistemischer Evidenz im Sinne eines unhinterfragten (unthematischen) Vollzugs einer Zeichenpraxis. Die Diskussion zum impliziten Wissen hat dabei allerdings auch gezeigt, dass die Differenz zwischen epistemischer Mikroebene und diskursiver Makroebene nicht dahingehend missverstanden werden darf, dass es auf der Mikroebene kein Prozess des Explizitmachens gäbe. Als Praxis der Diagrammatisierung beginnt die Diagrammatik an der Schnittstelle zwischen kognitiver und semiotischer Explikation im Vollzug einer schematisierenden Praxis, also am Übergang von – ob man diesen Begriff Brandoms glücklich findet oder nicht – »subpersonalen Repräsentationen« und »Praktiken, die kognitiv im weitesten Sinn« sind. Für Joachim Renn und Jens Loenhoff ist epistemische Evidenz als Ebene impliziter Gewissheit die Mikroebene einer zwar im

464 Jäger 2015, S. 52. 465 Vgl. Jäger 2006, S. 43ff., siehe zudem Jäger 2009. 466 Vgl. weiterführend zur Sprache/Bild-Differenz im Rahmen seiner Evidenztheorie Jäger 2015.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

Sinne impliziten Wissens ›stummen‹, in ihrer Geltung aber diskursiven Praxis der Explikation.467 Passend ist in diesem Zusammenhang, dass Jäger seine Überlegungen zu Evidenz auch mit gesellschaftstheoretischen Annahmen verknüpft. Vor differenzierungstheoretischen Hintergrund stellt er fest, dass mit Verlust von »auf unerschütterlichen Fundamenten gegründeten Wissens […] der Aufstieg von Modellen verfahrensgenerierter Evidenzauszeichnung von Wissen«468 zu verzeichnen sei. Als »mediale Prozeduren«469 entstehen in Reaktion hierauf verschiedene Evidenzverfahren. Ihre Aufgabe ist es, diskursspezifische »Schauplätze der Evidenz« hervorzubringen. Darunter versteht Jäger »Aushandlungsbühnen, auf denen die kulturelle Semantik ihre Sinnzuschreibungen prozediert bzw. in ihren verschiedenen dispositiven Formaten Sinn unter den Bedingungen von Rhetoriken der Evidenz inszeniert«.470 Wenn für Jäger die Transkription dabei aber nicht auf die soziostrukturelle Makroebene begrenzt,471 sondern auch auf der Mikroebene einer epistemischen Evidenz durch Verfahren wirksam ist, dann lenkt dies den Blick zurück auf die Evidenz der Praxis des diagrammatisierenden Sehens, wie Stjernfelt sie andeutet. Diese Wahrnehmungseinstellungen sind als kognitive Praktiken im weitesten Sinn zu betrachten, die auf zuvor unhinterfragt geltende oder implizite Sachverhalte explizitmachend Bezug nehmen.472 Allerdings ist die kognitive Operation in seiner Geltung als zeichenhafte inferenzielle Operation bereits abhängig von medialen, das heißt materiell externalisieren und kollektiv regulierten semiotischen Verfahren. Was oben als Diagrammatisierung erster Stufe bezeichnet wurde, beschreibt damit also einen weit gefassten Begriff von Diagrammatik, der auf eine in der Perzeption angelegte, implizite ›Diagrammatizität‹ auf baut, ohne deshalb die konventionalisierte Form des Diagramms angewiesen zu sein. Was Stjernfelt nicht genau genug herausarbeitet ist, dass diese Diagrammatisierung erster Stufe vielmehr Verfahren der (Wieder-)Herstellung epistemischer Evidenz eines in Stjernfelts semiotischen Prämissen vorausgesetzten ›diagrammatisierenden Sehens‹ betrifft. Das diagrammatisierende Sehen, das Stjernfelt beschreibt, ist insoweit an diskursive Evidenzverfahren rückgebunden, als es keine in »monomedialer Selbstevidenz«473 gegebene Innerlichkeit des Bewusstseins sein kann. Auch wenn dieses explizitmachende Sehen eine epistemische Evidenz reklamiert, gewinnt es seine Bedeutung im Rahmen transkriptiver Praktiken der Diagrammatisierung. Die Evidenz von explizitmachenden Inferenzen mag also epistemisch erscheinen, verdankt sich aber als Evidenzverfahren dem, was man hier als ›Diagrammatisierung erster Stufe‹ bezeichnen kann. Die epistemische Evidenz dieses Sehens ist also – über die bei 467 Eine Erkenntnisformen wie die Metapher – verstanden als ein inferenzielles Verfahren – sind an der Schnittstelle dieses Übergangs von Kognition in Semiose dabei mitimpliziert. 468 Jäger 2006, S. 43. 469 Jäger 2006, S. 43. 470 Jäger 2006, S. 43. »Schauplätze der Evidenz« können als ein übergreifender Begriff für die Menge an ›Sonderzonen‹ oder ›Sonderräumen‹ betrachtet werden, die auf Ebene von Diagrammatisierungen zweiter Stufe etwa als »diagrammatische[r] Bildraum«. Vgl. Beck 2016, S. 82. 471 Vgl. Jäger 2009. 472 Vgl. hier auch Jäger 2015, S. 42ff. 473 Jäger 2006, S. 41.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Stjernfelt aufgeführten Argumente zur Semiotik hinaus – einer, im Jäger’schen Sinne transkriptiven, das heißt ›ver-zeichnenden‹, Ref lexion verpf lichtet.474 Öffnet sich somit einerseits ein Diskussionsfeld an den Schnittstellen von Kognition, Semiose und Materialität hinsichtlich der Frage, wie eine als ›diagrammatisches Denken‹ exponierte Art der Wahrnehmung in ihre materielle und soziale Umwelt integriert ist, so macht Jägers Evidenztheorie klar, dass epistemische Evidenz immer von diskursiver Evidenz durchwirkt ist. Annahmen über eine ›diagrammatische‹ Art des ›denkenden Sehens‹ sind als Formen epistemische Evidenz in ihrer Geltung von diskursiver Evidenz abhängig. Was genau die Verfahren sind, die diese Evidenz erzeugen, ist jedoch eine andere Frage. Stjernfelt beschreibt eine Situation, die ohne die Betrachtung eines spezifischen Diagramms auskommt, sehr wohl aber ein Objekt diagrammatisierend ›sieht‹. Sofern dieses Verfahren in Analogie zu körperlich ausagierten materiellen Praktiken beschrieben wie etwa das händische An- und Umordnen von Objekten oder das Einzeichnen von abstrahierenden Linien voraussetzt, kann man hier von einer Form der Diagrammatisierung erster Stufe sprechen. Eine andere Situation wäre es, wenn ein dezidiert diagrammatisches Darstellungssystem für die Explikation genutzt würde, also auf Grundlage von Diagrammen im engeren Sinn gedacht wird. In diesem Fall kann man von einer Diagrammatisierung zweiter Stufe sprechen.

2.2.8 Zwischen weiten und engen Begriffen von Diagrammatik Ein weiteres Beispiel Frederik Stjernfelts vermag diese Zusammenhänge im Sinne noch einmal anders zu illustrieren. Stjernfelt schildert, wie der Chemiker August Kekulé auf die Idee kam, die Anordnung der Kohlenstoffatome von Benzol als ›Ring‹ zu konzipieren.475 In einer berühmten – und nicht zufällig filmreifen – Geschichte beschreibt Kekulé demnach, wie er vor einem Feuer saß und sah, wie die Flammen einen Feuerring gebildet haben. In einer Art Wachtraum erinnerte ihn der Feuerring an die mythologische Gestalt des Ouroboros, also an eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Dies veranlasste Kekulé dazu, die Anordnung der Atome im Benzolmolekül nicht als Kette, sondern als Ring zu denken – also dem diagrammatischen Darstellungssystem der Chemie ein anderes Schema zugrunde zu legen. Stjernfelt schreibt: »That discovery thus formed a spontaneous case of diagrammatical reasoning, realized in the shape of metaphors. The flame was taken as a metaphor of the snake which, in turn, was taken as a metaphor of the carbon chain – a structure of metaphors held together by the common diagram of a piece of line, able to bend. The spontaneous diagram experiment argued that the Carbon chain, just like a snake, was able to form a ring, and subsequent chemical analysis corroborated the idea, leading to a major breakthrough in organic chemistry.« 476

474 Dieser Übergang kann auch in Anlehnung an kognitionspsychologische Begriffe formuliert werden. Man kann hier auf »Dual-Process«-Theorien zurückgreifen. Vgl. Kahnemann 2011, S. 32ff. 475 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 102. 476 Stjernfelt 2007, S. 102.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

Das Beispiel bestärkt die Vermutung, dass Metaphern als inferenzielle Operationen im Prozess des diagrammatischen Sehens eine zentrale Rolle einnehmen, wobei – folgt man Stjernfelt hier – die Struktur der Metaphern durch ein »Diagramm« zusammengehalten werden. Das »spontane« (also situative) »diagrammatische Experiment« ist ein Experiment, das durch eine metaphorische Analogiebildung einen Sachverhalt explizit macht. Kekulé hat in den Flammen eine Schlange gesehen, deren Ringförmigkeit er als Schema auf die Struktur der diagrammatischen Beschreibung von Benzol beziehen konnte. Den Schritt in die mediale Repräsentation übergeht Stjernfelts Bericht an dieser Stelle. Um sein Moment der explizitmachenden Bewusstwerdung (epistemische Evidenz) aber wirklich zu explizieren, wird Kekulé sich auf einen medialen »Schauplatz der Evidenz« begeben und innerhalb der Strukturformeln der Chemie experimentiert haben, bis er innerhalb der Regeln und der Logik des gewählten Darstellungssystems eine angemessene Form finden konnte. Kekulés ›Benzoltraum‹ und sein Heureka-Erlebnis ist vielfältig diskutiert worden. Alan Rocke verweist etwa auf die retrospektive Entstehung der Ouroboros-Geschichte und verwirft sie als eine Überinterpretation. Das hindert ihn freilich nicht, auf Grundlage der Theorien von Colin McGinn die Bedeutung einer kreativen Form des ›Sehens‹ und des visuellen Denkens in der Chemie zu diskutieren.477 Von besonderer Bedeutung ist die konzeptuelle Verknüpfung disparater Erkenntnis- und Wissensbereiche, also eine metaphorische Operation.478 Der Bedeutung einer kreativen Objektmanipulation vor dem geistigen Auge, in der abstrakte chemische Strukturformeln gegenständlich betrachtet und folglich mit kulturellem Wissen aus sehr unterschiedlichen Domänen angereichert werden, waren sich die Chemiker im 19. Jahrhundert gleichermaßen bewusst. Speziell die Umdeutung der Kant’schen Kategorie der ›Anschauung‹ in ein neues Verständnis von ›Anschaulichkeit‹ war in dieser Zeit in naturwissenschaftlichen Kreisen, so auch bei Kekulé, im Umlauf.479 Nicht zuletzt deshalb ist Stjernfelts Interpretation richtig. Dennoch begreift Stjernfelt bereits das ›Sehen‹ Kekulés als »diagrammatical reasoning«.480 Zwischen dem Feuerring und der Ouroboros-Schlange besteht eine strukturelle Ähnlichkeit. Das durch Einbildungskraft angeleitete explizitmachende diagrammatisierende Sehen erweist sich angesichts derartiger struktureller Ähnlichkeitsverhältnisse als ein metaphorisches Sehen ( Kap. 5.3). Zu einer Diagrammatisierung zweiter Stufe würde der Erkenntnisprozess erst, wenn Kekulé nicht nur im Sehen vermutet, dass die Modellierung als Ring innerhalb der Bedingungen des Systems korrekt sein könnte, sondern wenn sich die als Metapher realisierte Hypothese innerhalb der diskursiven Wahrheitsbedingungen chemischer Strukturformeln und ihrer Verwendung in der Chemie bewahrheitet – wenn also das Schema des Rings im diagrammatischen Darstellungssystem der Chemie eine

477 Vgl. McGinn 2007a. Vgl. zudem Rocke 2010, S. 312 ff, S. 324ff. 478 Vgl. Rocke 2010, S. 314ff., hier S. 318. Rocke verweist an dieser Stelle auf die Theorie des »conceptual blendings« von Gilles Fauconnier und Mark Turner (2002), die wiederum durch die Metapherntheorie von George Lakoff und Mark Johnson beeinflusst ist. Eine interessante Anwendung dieser Theorie findet sich im Kontext einer Erörterung des Verhältnisses von Karte, Narration und Diagramm bei Ljungberg 2012, S. 162ff. 479 Vgl. Rocke 2010, S. 331f. 480 Diese Einschätzung würde Hoffmann 2009 wohl nicht teilen.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Schlussfolgerung motiviert, auf deren Grundlage das Darstellungssystem rekonfiguriert und eine alternative Beschreibung von Benzol möglich wird.481 Am Problem der Evidenz von Explikationen, wie es sich im Rahmen von Stjernfelts sehr weit gefasstem Diagrammatik-Begriff stellt, wird die Staffelung der verschiedenen Facetten von Diagrammatik, die sich im Übergang von einem weiten zum einem engeren Verständnis ergeben, sehr schön deutlich. In Bezug auf die in diesem Kapitel diskutierten theoretischen Zusammenhänge und ausgreifend auf den weiteren Gang der Arbeit kann man diese Staffelung wie folgt zusammenfassen: Perzeptive Diagrammatizität Betrifft kognitive Aspekte der Wahrnehmung Fokus auf der Phänomenologie des wahrnehmenden Explizitmachens ›Diagramme‹ als Schemata im Übergang zwischen Kognition und Semiose Teil der kognitiven Ausstattung des Menschen Allgemeine Fähigkeit der Variation mentaler Modelle Semantik begründet über allgemeine Eigenschaften der Kognition Impliziert in Akten des ›metaphorischen Sehens‹ Kognitive Praxis auf Ebene des impliziten Wissens Epistemische Evidenz als Ergebnis ›kognitiver‹ Aktionen Sehr weit gefasstes Diagrammatik-Konzept (z.B. Kognitionswissenschaft, Semiotik) Diagrammatisierung erster Stufe Betrifft kulturelle Praktiken diagrammatisierender Explikation Fokus auf Verfahren explikativer medialer Transkriptionen ›Diagramme‹ als Medien zur Explikation eines Objektes (Skizze, Karte etc.) In unterschiedlichen Kulturtechniken realisierte Praxis Variation eines medial verkörperten Objektes Semantik auf Grundlage von Mediendifferenzen (z.B. Fotografie/Karte) Interpretation via metaphorischer Ähnlichkeit Übersetzung von impliziter Zugangsweise in explizite Darstellungsweise Evidenz als Ergebnis diskursiver Verfahren auf medialen Schauplätzen Weiter gefasstes Diagrammatik-Konzept (z.B. Medientheorie, Ästhetik) Diagrammatisierung zweiter Stufe Betrifft die Epistemologie von spezifischen Diagrammen Betrachtung von Diagrammen im konventionellen Sinn ›Diagramme‹ als ausdifferenzierte Darstellungssysteme Variation eines medial verkörperten Diagramms Semantik auf Grundlage der Merkmale spezifischer Diagrammtypen Metaphern als sedimentierte Aspekte der Bedeutung eines Diagramms Explikation von in Diagrammen enthaltenen impliziten Aspekten Diskursive Evidenz durch Denken in Diagrammen Denken in ausdifferenzierten diagrammatischen Darstellungssystemen Enger gefasstes Diagrammatik-Konzept (z.B. Mathematik)

481 Über die beteiligten Medien erfährt man in dem Bericht bei Stjernfelt nichts.

2. Theoretische Grundlagen und Kontexte

Weite und enge Begriffe von Diagrammatik divergieren nicht nur hinsichtlich der Frage, inwiefern in Diagrammen allgemeine Eigenschaften des Denkens exemplifiziert werden, sondern insbesondere hinsichtlich der Frage, inwiefern dieses Denken unabhängig von Diagrammen im engeren Sinn auftritt. Weite Begriffe von Diagrammatik treffen starke Annahmen hinsichtlich der generellen Geltung von ›diagrammatischem Denken‹ auch unabhängig von spezifischen Diagrammen – und verlieren dabei häufig die Spezifik von Diagrammen aus dem Auge. Eng gefasste Begriffe von Diagrammatik verwehren sich dieser Pauschalisierung – stehen aber vor dem Problem, dass die Epistemologie von Diagrammatik nicht exklusiv durch eine Betrachtung von historisch kontingenten Diagrammen entwickelt werden kann. Angesichts dieser Konstellation liegt der Gewinn der medientheoretischen Lektüren, die hier entfaltet wurden, eine dynamische Perspektive zu bieten, die nicht von einem festgefügten Konzept von Diagrammatik ausgeht, sondern eine diagrammatische Epistemologie dort beobachtet, wo explizierend gehandelt wird. Stellt für diese Perspektive die Semiotik die Ausgangstheorie dar, so werden die Bruchpunkte von explikativen Transkriptionen in der Semiotik und ihrem Vokabular oft zu pauschal verhandelt. Erst die Fokussierung auf die Art und Weise, wie sich kognitive, materielle und semiotische Aspekte der Diagrammatik wechselseitig implizieren, erschließt die Zusammenhänge zwischen weiter gefassten und enger gefassten Diagrammatik-Begriffen. Lässt sich Stjernfelts Diagrammatik hinsichtlich der Unklarheiten der Geltung der explikativen Evidenz der beschriebenen Form diagrammatischen Denkens zwar kritisieren, so ist sein Ansatz – gegeben die Breite des Fokus – dennoch in der Lage, höchst aufschlussreiche Erkenntnisse zu bieten. Originell scheint hier insbesondere seine Beobachtung, in Metaphern – und zumal visuellen Metaphern – ein diagrammatisches Element zu sehen. Die Ouroboros-Geschichte ist zweifelsohne eine Idealisierung. Die in ihr unterstellte Epistemologie aber ist interessant. Denn wenn es stimmt, dass – wie im Zitat oben ausgeführt – die Flamme als Metapher der Schlange diente und die Schlange anschließend zur Metapher der Formel des Moleküls, dann steckt nicht nur ein Diagramm in der Metapher, sondern dann dient die Metapher auch dazu, jeweils die Übergänge zwischen perzeptiver Diagrammatizität zu Diagrammatisierung erster Stufe (Flamme als Schlange) und von Diagrammatisierung erster Stufe in Diagrammatisierungen zweiter Stufe (Schlange ist Benzol-Molekül) zu beschreiben. Wie im Folgenden in Auseinandersetzung mit Aspekten der Theorie diagrammatischen Denkens von Charles S. Peirce gezeigt werden soll, ist das eine Idee, die im weit gefassten Begriff von Diagrammatik, wie er in Peirces Philosophie paradigmatisch gefunden werden kann, bereits enthalten ist.

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3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild Die im vorangegangenen Kapitel skizzierten Fragen werfen die Diskussion auf die für die kulturwissenschaftlichen Fächer, so auch die Medienwissenschaft, einf lussreiche Theorie der Diagrammatik als Theorie des schlussfolgernden Denkens im Werk von Charles S. Peirce zurück.1 Die Peirce’sche Philosophie ist nicht der einzige mögliche Ausgangspunkt für eine Diagrammatik.2 Weite Teile der kognitionswissenschaftlichen, mathematischen und philosophischen Diskussion zu Diagrammen kommen ohne die Peirce’sche Philosophie aus. Sie ist aber nach wie vor eine gute Brücke, um die Diagrammatik in die Kontexte eines so hochgradig interdisziplinären Faches wie der Medienwissenschaft zu übersetzen. Soll die Diagrammatik in eine bereitere, medienwissenschaftliche Perspektive gerückt werden, ist die Peirce’sche Perspektive für meine Begriffe sogar unumgänglich. Daraus sollte nicht abgeleitet werden, dass Peirce für die Diagrammatik die einzig wichtige Stimme ist. Eine Fokussierung auf die Philosophie von Peirce ist im Fall der Diagrammatik sogar problematisch. Die Diagrammatik gibt es auch bei Peirce nicht – jedenfalls nicht, wenn man sich die Idee zu eigen macht, dass das Schlagwort ›Diagrammatik‹ mehr umfasst als ein System logischer Graphen. Was es gibt, ist die

1 Vgl. zuletzt etwa auch Wentz 2017. 2 In der Diagrammatik-Forschung sind eine Reihe von Metaphern für Diagramme entwickelt worden, so spricht z.B. Reichert (2013) von einem »Denkdiagramm«, will dies aber vor allem mit Deleuze begründen und grenzt sich scharf von dem schematheoretischen Ansatz bei Bauer/Ernst 2010 und einer generell von Kant und Peirce inspirierten Perspektive ab (vgl. Reichert 2013, S. 9, 29f.). Mit poststrukturalistischem Gestus sieht Reichert den schematheoretischen Ansatz im Fahrwasser von repräsentationalistischen Theorien, die es – ausgerechnet poststrukturalistisch – zu überwinden gelte. Dabei bringt er die durchaus produktive Differenz von »Denk-« und »Wissensdiagramm« in Anschlag, wobei ersteres als »implizites Diagramm« gefasst wird. Gegenstand ist dann der Nachvollzug von impliziten Denkdiagrammen und explizitem Wissensdiagramm in philosophischen Texten von Descartes und Deleuze, die im Postulat einer »interventionalistischen Diagrammatik« mündet, welche in der Diagrammatik eine »Präphilosophie« erkennen will. Dass die Theoriereferenzen dieser Präphilosophie jedoch nicht durch das poststrukturalistische, sondern das praxistheoretische Denken abgedeckt werden, die ihrerseits in der Tradition der von Reichert nicht eben geschätzten pragmatistisch-semiotischen Tradition und ihren medientheoretischen Verlängerungen liegen, wird nicht beachtet. Vgl. zu Deleuzes Diagrammbegriff auch Leeb 2011; Leeb 2012a; Leeb 2012b. Einen Einstieg in die ganze Breite der Diskussion bietet ferner Gerhard Dirmosers (2011) beeindruckende Sammlung von »Denkfiguren«, die in den letzten Jahren in der Diagrammatik-Forschung entwickelt wurden.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Möglichkeit, eine Diagrammatik in der Verlängerung der Perspektive von Peirce zu rekonstruieren. Aus dem Textcorpus, den Peirce hinterlassen hat, sind die Hinweise zur Diagrammatik in den letzten Jahren aufgearbeitet worden.3 Spricht man von einer Peirce’schen Diagrammatik, spricht man immer auch über die Ansätze, die sich in die Peirce’sche Tradition stellen und dem Forschungsfeld der Semiotik zuzuordnen sind. Wichtige Referenzautoren aus der Philosophie sind Michael Hoffmann und Frederik Stjernfelt, aus der Kunstgeschichte Steffen Bogen.4 Jüngere Ansätze in der Peirce’schen Tradition, so die rezeptionsästhetisch inspirierte Perspektive von Matthias Bauer, an der auch ich mitgearbeitet habe, sind gegenüber diesen Arbeiten weitere Ableitungen. Sie sind Kommentare von Kommentaren, die auf diesen Vorarbeiten auf bauen.5 Wenn im Folgenden an dem Faden einer Diagrammatik in Peirce’scher Perspektive weitergesponnen wird, wird kein Peirce-philologischer Anspruch verfolgt, sondern eine zweckorientierte Interpretation angestrebt, die sich an übergreifenden Problemen der Diagrammatik und ihrer Übersetzbarkeit in medienwissenschaftliche Kontexte orientiert. Ich beziehe mich also nicht nur auf Peirce, sondern immer auch auf die an Peirce angelehnten Diagrammatiken, die in der Forschung vorgelegt worden sind.6 Während sich dort sehr allgemeine, funktionale Lesarten der Peirce’schen Diagrammatik finden, konzentrieren sich andere Ansätze auf die Aussagen zur Arbeit mit konkreten Diagrammen.7 Diese Spannung macht die Diskussion der Peirce’schen Ideen in gewisser Weise symptomatisch für die das gesamte Forschungsfeld.8 Soll eine Übersetzung aus dem tief in Grundfragen der Logik und Philosophie der Mathematik hineinreichenden Diskurs von Peirce heraus gelingen, ist jedoch mitunter eine Dekontextualisierung von Peirces Ideen und Begriffen nötig. Für ein Fach wie die Medienwissenschaft ist die Semiotik nach wie vor eine zentrale Teildisziplin. Die Unterscheidungen der Peirce’schen Semiotik sind allerdings nicht die bevorzugten Unterscheidungen, die in der Medienwissenschaft bemüht werden, wenn es um die Diskussion zeichentheoretischer Probleme geht. Die Semiologie in strukturalistischer Tradition, also die Linie von Ferdinand de Saussure über Claude Levi-Strauss, Roland Barthes bis Jacques Derrida, war lange Zeit die prägende Größe. Kann die Peirce’sche Unterteilung der Zeichendimension in Repräsentamen, Objekt und Interpretant und deren jeweilige Untergliederung auch in der Medienwissenschaft als bekannt vorausgesetzt werden, so sieht es mit der Verf lechtung zwischen Semiotik mit dem Pragmatismus nicht so gut aus. Dieser Hinweis auf den Pragmatis3 Zum diagrammatischen Schließen Ketner 1984; Kent 1997; May 1995; May 1999; Rosenthal 1994, S. 23ff., mit Akzent auf den Bezügen zur Mathematik Hammer 1995; Hull 1994; Joswick 1988. Die neuere Fachforschung, insb. bei Stjernfelt 2007 und Hoffmann 2005, hat diese älteren Einzelstudien in umfassende Gesamtdarstellungen überführt. 4 Bogen 2004; Bogen 2005a; Bogen 2005b; Bogen 2006; Bogen 2012; Bogen 2014; Bogen/Thürlemann 2003; Hoffmann 2005; Stjernfelt 2007. 5 Vgl. Bauer/Ernst 2010. 6 Einen guten Überblick bietet z.B. auch Gerner 2010a. 7 Vgl. Stjernfelt 2007, kritisch dazu Hoffmann 2009, zur Metaphysik bei Stjernfelt auch Pape 2009. Man kann, nicht zuletzt angesichts der Editions- und Überlieferungslage sowie der fluiden Arbeitsweise von Peirce, Zweifel haben, ob es ›die‹ Auslegung der Peirce’schen Diagrammatik je geben wird. 8 Vgl. hier auch die einleitenden Bemerkungen Ernst/Schneider/Wöpking 2016.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

mus muss erfolgen, weil die Diagrammatik bei Peirce nicht zuletzt in den pragmatistischen Arbeiten des Spätwerks entfaltet wird. Pragmatistische Fragestellungen haben in die Medientheorie zunächst eher über Umwege Eingang gefunden.9 Auf diese Aspekte wird in der Rekonstruktion der Diagrammatik das Augenmerk gelegt werden.10 Die semiotischen Implikationen werden nur thematisiert, wenn das unumgänglich ist. Eine Rekonstruktion des Zeichenbegriffs, welche die Genese des Zeichenbegriffs aus der Peirce’schen Kategorienlehre berücksichtigt, ist dafür nicht notwendig. Derartige Rekonstruktionen der Peirce’schen Zeichenlehre sind auf allen Komplexitätsniveaus, also vom Lexikonartikel, über die Darstellung in Einführungen bis hin zu komplexen Erörterungen der Peirce’schen Philosophie und ihrer exegetischen Probleme in der Fachforschung geleistet worden.11 Ähnliches gilt für Peirces Pragmatismus und seine historische Bedeutung. Die philosophische und sozialwissenschaftliche Rezeption von Peirce hat die Grundlagen geschaffen, auf der auch die Medienwissenschaft aufbauen kann.12 Lange Zeit galt die Diagrammatik als ein Spezialthema der Peirce-Forschung. Die Arbeiten von Hoffmann und Stjernfelt haben diese Einschätzung auf Seiten der Philosophie geändert. Auf breiter philologischer Grundlage zeigen beide Autoren die Bedeutung der Peirce’schen Diagrammatik als Grundlagentheorie nicht nur aller Beschäftigung mit Diagrammen auf, sondern auch für erkenntnistheoretische Aspekte der Beschäftigung mit Mathematik, Kunst und Wissenschaft.13 Im Kontext von Sybille Krämers Versuchen, die Konturen und Grenzen einer ›Diagrammatologie‹ zu bestimmen,14 hat dies die Relevanz der Diskussion zur Diagrammatik für die medientheoretische Diskussion unterstrichen, auch und gerade in der kontroversen Aneignung von Peirces Perspektive.15 Einen anderen Akzent setzt die Rezeption der Diagrammatik bei Matthias Bauer.16 Bauer hat früh versucht, eine Brücke in Richtung Rezeptionsästhetik zu schlagen. Dafür akzentuiert er im Unterschied zur fachphilosophischen Diskussion eine ästhetische Dimension der Peirce’schen Diagrammatik. Diese Perspektive, die von der dominanten Forschung in der Philosophie wegführt,

9 Mike Sandbothe (2001) hat sich früh um die Etablierung pragmatistischer Perspektiven bemüht. 10 Vgl. auch den Ansatz von Wentz 2017, hier programmatisch S. 36ff. 11 Vgl. überblickend und einführend Atkin 2010; Nöth 2000, S. 59ff., S. 131ff.; Pape 2004, S. 117ff., Schönrich 1999, im Kontext einer Theorie des Zeichenhandelns auch Schönrich 1990, enger an der Diagrammatik ist die Rekonstruktion von Hoffmann 2005, S. 41ff. 12 Vgl. einführend Nagl 1998; Schubert et al. 2010, vertiefend Pape 2002, zur medientheoretischen Diskussion Roesler 2003; Roesler 2004; Roesler 2008 sowie Pruisken 2007, speziell mit Blick auf die Diagrammatik auch Schäffner 2007. Hinweisen möchte ich auch auf die innovative Weiführung von Peirce im Rahmen grundlegender Reflexionen zu Medien und Medialität bei Jochen Venus (2013, insb. S. 321ff.). Eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem Ansatz wäre an dieser Stelle reizvoll, muss jedoch einer späteren Arbeit vorbehalten bleiben. 13 Vgl. Hoffmann 2005; Stjernfelt 2007. 14 Vgl. Krämer 2003b; Krämer 2006; Krämer 2009; Krämer 2010; Krämer 2012; Krämer 2016. 15 Für die medienwissenschaftliche Forschung ist auf die Adaption der Peirce’schen Diagrammatik im Kontext der Fernsehserien-Forschung bei Daniela Wentz (2017) hinzuweisen. 16 Vgl. Bauer 2005a, S. 198ff.; Bauer 2005b, insb. S. 23ff.; sowie Bauer/Ernst 2010, S. 109ff., S. 220ff.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

bildet eine Inspiration für die auch hier angestrebte Peirce-Auslegung.17 Ich möchte mich um eine Diskussion von Peirce bemühen, welche nicht die logischen oder gar mathematischen und geometrischen, sondern, so seltsam es klingen mag, die metaphorischen Implikationen der Peirce’schen Bezugnahmen auf das Diagramm hervorhebt. Den Ausgangspunkt bildet das diagrammatische Denken als eine schlussfolgernde Handlungssequenz, die in der Wahrnehmung, Überzeugung und Handlung einen diagrammatischen Schluss realisiert. Die Einbettung der Konstruktion des Diagramms in eine schlussfolgernde Praxis ist also der gesuchte Ausgangspunkt, nicht die semiotischen Eigenschaften des Diagramms. Die Argumentation verläuft dabei so, dass aus der Forschung zur Peirce’schen Diagrammatik die bereits in der Einleitung verwendete Skizze des diagrammatischen Schlusses – also die Abfolge von Hypothese, Konstruktion des Diagramms und Prüfung der Schlussfolgerung – vertiefend diskutiert wird ( Kap. 1.3). Ich versuche, der Diagrammatik bei Peirce durch die Berücksichtigung wesentlicher Zitate gerecht zu werden und bleibe vergleichsweise eng am Peirce’schen Text. Das ist nicht ohne Mühe, erscheint aber geboten. Die Peirce’sche Diagrammatik ist voraussetzungsreich. Wie bereits angedeutet, knüpft sie an das Problem des Schematismus in der Philosophie Immanuel Kants an.18 Zudem steht sie im Kontext binnensemiotischer Probleme. Um die Orientierung zu ermöglichen, werden diese Probleme im ersten Teil durch die Brille eines Autors zu rekonstruieren, der auf die Differenz zwischen Kant und Peirce geblickt hat: Umberto Eco. Auf bauend auf einem einführenden Kapitel, das wichtige Grundpositionen der Peirce’schen Philosophie referiert (Kap. 3.1), lässt sich mit Eco ein gutes Verständnis für die Probleme entwickeln, auf welche die Diagrammatik (auch) eine Antwort ist (Kap. 3.2). Es folgt die Darstellung des Zusammenhangs von Diagramm und Denken, wie er sich in den Spätschriften von Peirce findet. Peirce formuliert die These, Diagramme seien für die Ref lexion des Denkprozesses die angemessenen Zeichen (Kap. 3.3). Die Diagrammatik wird als eine Praxis der Explikation beschreibbar, welche die inferenzielle Struktur der Wahrnehmung ikonisch objektivierbar macht (Kap. 3.4). Die abschließende Überlegung widmet sich der Frage, was das Besondere des diagrammatischen Denkens ausmacht. Dieses wird in dem Merkmal des Diagramms gesehen, ein ›Denkbild‹ zu realisieren (Kap. 3.5).19

17 Vgl. das Konzept in Bauer/Ernst 2010, S.  17ff., zur ästhetischen Dimension aber auch Rustemeyer 2009. 18 Vgl. Hoffmann 2005, S. 7ff.; Hoffmann 2009, S. 241f.; Stjernfelt 2000. Zu betonen ist, dass das einer der möglichen Anknüpfungspunkte von Peirce bei Kant ist, aber nicht der einzige. Die Aufarbeitung von Kants Philosophie der Mathematik sowie des Begriffs der »Konstruktion« bei Kant sind ebenfalls wichtige Zusammenhänge, die hier aber nicht weiterverfolgt werden können. Vgl. dazu etwa die Aufarbeitung der historischen Hintergründe bei Hoffmann 2005, S. 63ff., S. 85ff., hier insb. S. 102ff.; Beck 2016, S. 76ff., ausführlich auch Krämer 2016, S. 266ff. Vgl. zum Schematismus überdies die Rezeption des Zusammenhangs zwischen Kant und Peirce bei Wilharm 2015, S. 351ff. 19 Bei Peirce greife ich auf die kritisch kommentierte Ausgabe der wichtigsten Texte in The Essential Peirce sowie die deutschsprachigen Ausgaben Semiotische Schriften, Naturordnung und Zeichenprozess, Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus und die zweisprachige Ausgabe Lectures on Pragmatism/Vorlesungen über Pragmatismus zurück. Die Collected Papers werden nur punktuell verwendet und auch etwas ungewöhnlich zitiert. Statt, wie üblich, als CP, zitiere ich als Peirce 1994 CP.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

3.1 Grundpositionen der Peirce’schen Philosophie Es ist häufig konstatiert worden: Die Diagrammatik bei Peirce ist eine Reaktion auf Probleme des Schematismus bei Kant. Eine der besten Beobachtungen des Verhältnisses von Peirce und Kant findet sich bei Umberto Eco. Eco vertritt eine eigene Erkenntnistheorie, die den Zenit ihrer Wirkung in den Kultur- und Sozialwissenschaften überschritten haben dürfte. Das heißt nicht, dass die Theorie überholt ist. Betrachtet man Ecos großes theoretisches Buch Kant und das Schnabeltier ist festzustellen, dass der Ansatz nach wie vor aktuelle Einsichten bereithält.20 Eco hat über die Jahre seine Semiotik in Richtung der Entwicklung einer »kognitiven Semantik […], die auf der Vorstellung beruht, daß sowohl unsere kognitiven Schemata als auch das Signifikat und die Bezugnahme Gegenstände von Vereinbarung sind […]«21 weiterentwickelt. In der zeitgenössischen Diskussion ist das nicht unumstritten. Ecos »Vereinbarungsrealismus«22 ist für die Anbindung der Diagrammatik an medien- und kulturwissenschaftliche Fragen dennoch eine fruchtbare Theorie. Denn wie kaum eine zweite Philosophie steht Ecos Denken zwischen den Diskussionen in der Semiotik und kognitionswissenschaftlichen Positionen, etwa dem »experiential realism« von George Lakoff und Mark Johnson ( Kap. 5.1 u. 5.2).23 Intensiv hat Eco in Kant und das Schnabeltier Peirce und dessen Betrachtungsweise von Zeichen diskutiert. Aufgegriffen wird auch das kontroverse Thema der Ikonizität. An diese Debatte zu erinnern, die in den 1970er-Jahren geführt wurde,24 ist in zweierlei Hinsicht wichtig: Zum einen führt jede Bestimmung des Diagramms an den Punkt, dass Diagramme durch die Behauptung einer strukturellen Ähnlichkeit zu ihrem Bezugsobjekt ausgezeichnet sind. Zum anderen werden Diagramme aufgrund ihrer Manipulierbarkeit und Veränderbarkeit in der Bild- und Medienwissenschaft als Phänomene operativer Ikonizität diskutiert, also als Phänomene, in denen strukturelle Ähnlichkeit in Bewegung gesetzt und verändert wird.25 Die Ikonizitätsdebatte kreiste einerseits um die Problematik der ikonischen Natur der Wahrnehmung und Erkenntnis (bei Peirce: primäre Ikonizität bzw. reines Ikon) und andererseits um das Problem, welche Eigenschaften materiell realisierte ikonische Zeichen (bei Peirce: Hypoikons), wie sie als empirische Ereignisse in der Kultur zu finden sind, aufweisen.26 Die gegenwärtige Diskussion um das Diagramm als einer kognitiven Kategorie (reines Ikon) oder einer materiell verkörperten, semiotischen Zeichenpraxis (Hypoikon) erscheint fast wie eine Ableitung dieser älteren Diskussion unter veränderten Voraussetzungen. Die Ikonizitätsdebatte und ihre Bedeutung für die zeitgenössische Bildwissenschaft aufzuarbeiten, wäre eine wichtige Forschungsleistung. Im Folgenden beschränke ich mich nur auf die Aspekte, die für die Medienwissenschaft weiterführend sind. Dafür ist Ecos Ansatz ausreichend. Begonnen werden soll jedoch nicht mit Eco, sondern mit 20 Ausführlich diskutiert wird der Ansatz z.B. bei Stjernfelt 2007, S. 66ff. 21 Eco 2000, S. 12f. 22 Eco 2000, S. 13. 23 Vgl. Lakoff/Johnson 1999. 24 Vgl. Eco 2000, S. 384ff. 25 Vgl. Stjernfelt 2007, S.  49ff. Vgl. hier auch die kritischen Einwände gegenüber Stjernfelts Ähnlichkeitsbegriff bei Hoffmann 2009, S. 245f. Siehe auch die Bemerkungen zu Eco bei Wentz 2017, S. 53ff. 26 Vgl. Eco 2000, S. 386; Nöth 2000, S. 193ff.

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einigen einführenden Bemerkungen zur Peirce’schen Philosophie, die gut bekannt sein dürften. Sie in Erinnerung zu rufen ist für meine Begriffe wichtig, weil dies den Rahmen der in der Sache doch sehr speziellen semiotischen Diskussion um die Diagrammatik absteckt. In den Kulturwissenschaften wurde die Semiotik lange Zeit isoliert vom Peirce’schen Pragmatismus gesehen.27 Der Semiotik beraubt dies einen ihrer wichtigsten Kontexte. Im Peirce’schen Systemdenken ist der Pragmatismus, versteht man ihn als eine Methode, das Denken aufzuklären, der Semiotik untergeordnet.28 Doch keine Semiotik, auch nicht die Peirce’sche, kommt ohne einen Begriff von Pragmatismus aus, in dem das Pragmatische, also die Dimensionen der Praxis und der Handlung, als Teil einer Theorie der Bedeutung der Zeichen aufgefasst werden. Von dieser Feststellung ausgehend, kann man das Referat wesentlicher Ideen der Peirce’schen Philosophie beginnen.

3.1.1 Pragmatische Theorie der Bedeutung 29 Der erste Punkt betrifft den Versuch des Peirce’schen Pragmatismus (oder, wie Peirce seine Version des Pragmatismus nannte, Pragmatizismus), eine pragmatische Theorie der Bedeutung zu entwickeln. Als der Gründervater des amerikanischen Pragmatismus (William James, John Dewey, Richard Rorty, Robert Brandom etc.) vertritt Peirce die Position, dass Denken sich in der Praxis zu bewähren hat.30 Dem liegt die Idee zugrunde, dass Bedeutung, etwa die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks, aber auch eines visuellen Zeichens wie einem Bild, nur in den Praktiken eines Gebrauchs von Begriffen vollständig erklärt werden kann, also unter Einschluss seiner soziokulturellen Verwendung. Internalistische, kognitive Theorien der Bedeutung werden als nicht ausreichend erachtet. Sie verkennen, dass die Verwendung eines sprachlichen Ausdrucks mit der Kenntnis von Regeln verbunden ist, die es ermöglichen, einen Begriff in einer unendlichen Zahl von Situationen anzuwenden (Problem der Regelfolge). In der Natur finden sich keine Strukturen, die in dieser Form über sich hinausweisen können.31 Folgt man Peirce, kann Bedeutung nicht allein durch Rückgriff auf kognitive Konzepte erklärt werden. Notwendig ist die Auf klärung des relationalen Zusammenhangs von Wahrnehmung, Überzeugungen und Handlungen. Die Bedeutung kognitiver Konzepte ist, so lautet eine gängige Metapher, in ein »Gewebe« (Helmut Pape) soziokultureller Praktiken eingef lochten. Peirce vertritt die Ansicht, dass der Bezug zwischen einer Wahrnehmung und einer Überzeugung, also die Frage nach einer wahren Einschätzung die Beziehung zwischen einem Sachverhalt und einer Überzeugung über diesen Sachverhalt, methodologisch nur unter Einschluss der Dimension eines sich bewährenden Handelns geklärt werden kann. Michael Hoffmann betont die Konsequenzen für einen philosophischen Realismus, den diese Position hat: »Der Punkt des hier adäquaten Realismus […] 27 Vgl. zu dieser Kritik auch Krois 2011, S. 195ff. 28 Vgl. Pape 2002, S. 187ff. 29 Teile und Aspekte dieses Abschnittes finden sich in variierter Form in Ernst 2014c, S. 111ff. 30 Vgl. Esfeld 2001, S. 1f. 31 Vgl. Esfeld 2001, S. 2.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

ist vielmehr, dass all das als ›real‹ zu bezeichnen ist, was wir in einzelnen Situationen als auf etwas anderes wirkend voraussetzen müssen, zum Beispiel, weil wir es als Mittel unseres Handelns oder Denkens brauchen«.32 Diese Handlungen sind Handlungen in einer sozialen und kulturellen Wirklichkeit, die semiotisch strukturiert ist. Dies bildet einen zweiten Punkt, der für Peirce wichtig ist, beachtet zu werden: Semiotik und Logik gehören zusammen und führen hin zur Pragmatischen Maxime als einer Theorie der Bedeutungskonkretisierung. Peirce fasst den Begriff der Logik sehr weit.33 Logik und schlussfolgerndes Denken sind ihm zufolge mit dem Akt der Wahrnehmung verf lochten.34 Logik ist relevant in der Kategorisierung von Wahrnehmungsinhalten und ihrer anschließenden Verfestigung und Prüfung in einer Überzeugung und einer Handlung.35 Für Peirce ist dieses Handeln in einer soziokulturellen Realität dahingehend logisch, als Logik für ihn die Kontrolle der Zeichen im Hinblick auf ihre Relation zu einem Objekt ist.36 Helmut Pape führt dafür ein schönes Zitat aus einem Brief von Peirce aus dem Jahr 1908 an, der in den New Elements of Mathematics abgedruckt ist: »Wir denken in Zeichen; und tatsächlich hat das Nachdenken die Form eines Dialogs, in dem man ständig an das Selbst des folgenden Augenblicks appelliert zu billigen […], dass die Zeichen wirklich die Objekte darstellen, die sie vorgeben darzustellen. Logik ist deshalb fast ein Zweig der Ethik, da sie die Theorie der Kontrolle der Zeichen hinsichtlich ihrer Relation auf ihre Objekte ist.«37 Die transsemiotische Bezugnahme auf Objekte und Sachverhalte ist in dieser Perspektive abhängig von der intrasemiotischen Möglichkeit, zwischen den Zeichen Beziehungen herzustellen und verschiedene Darstellungssysteme ineinander zu übersetzen.38 Ludwig Jäger schreibt dazu, wie bereits oben zitiert ( Kap. 2.2.6): »Die Semiosis ist […] nicht nur das soziale Feld subjektkonstitutiver Leistungen, sondern uno actu zugleich die semiologische Bühne, auf der sich jene kulturellen Welten in ihrer begrifflichen Ordnung konstituieren, in denen und in Bezug auf die die Subjekte handeln.«39 Unter ›Logik‹ ist also nicht primär formale Logik, sondern ein schlussfolgernder Umgang mit Zeichen zu verstehen.40 Dieses »Zeichenhandeln« findet in schlussfolgernden Praktiken statt.41 Der Versuch von Peirces Philosophie, zu einer »schlußlogischen Sicht von Erfahrung«42 zu gelangen, findet seine bekannteste Formulierung in der

32 Hoffmann 2005, S. 133ff., hier S. 134. Vgl. zur durchaus kontroversen Realismus-Frage auch Pape 2009. 33 Vgl. Hoffmann 2005, S. 194ff. 34 Vgl. Hoffmann 2005, S. 198ff. 35 Susanne Rohr hat ein treffendes Zitat für Peirces Logik-Begriff: »Logic […] will tell you how to proceed to form a plan of experimentation« (zit.n. Rohr 1993, S. 88). 36 Vgl. Peirce 1976a/III/2. 37 Zit.n. Pape 2004, S. 112. 38 Jäger 2012, S. 18. 39 Jäger 2012, S. 22. 40 Vgl. auch Krois 2011, S. 201ff. 41 Vgl. Schönrich 1990. 42 Pape 2002, S. 91.

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sogenannten Pragmatischen Maxime, die Peirce methodologisch als eine Theorie der »Bedeutungskonkretisierung«43 versteht. Ausgehend von der Idee, dass Erkenntnisse gewonnen werden, wenn »Gegenstände oder Sachverhalte in Gebrauchssituationen Wirkungen erzeugen, die wir interpretierend wahrnehmen […]«44, formuliert Peirce die Pragmatische Maxime mit folgenden Worten: »Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object.«45 Übersetzt: »Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Bedeutung besitzen können, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in Gedanken zukommen lassen. Dann ist die Gesamtheit dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffs des Gegenstandes.«46 Diese Maxime besagt, dass eine Klärung der Begriffe des Denkens nur erfolgen kann, wenn man einen Begriff als eine praktische Einheit von Wahrnehmung, Überzeugung und Handlung versteht, und das bedeutet, eine Klärung der Relation, zwischen Wahrnehmung, Überzeugung und Handlung vorzunehmen.47 Die Konkretisierung von Bedeutung durch die in der Pragmatischen Maxime ausgedrückte Praxis geschieht in der Weise, dass das, was in der gegebenen Relation zwischen Wahrnehmung, Übersetzung und Handlung über einen Gegenstand des Begriffs unthematisch bleibt, thematisch gemacht und in eine relationale Form überführt wird.48 In einer Analogie zur Erkenntnissituation in einem wissenschaftlichen Experiment soll in dieser epistemologischen Haltung der Gegenstand eines Begriffes in seinen möglichen intersubjektiven und objektiven Bedingungen durchgespielt und in seinen Relationen erfasst werden.49 Dieses experimentelle Durchspielen des Begriffs ist ein Vorgriff auf mögliche Szenarien zukünftiger praktischer Bewährung des Begriffs. In diesem Experiment greifen das konjunktivische und konditionale Möglichkeitsdenken eines Gedankenexperiments mit der Forderung nach praktischer Überprüfung der gedanklichen Spekulation in einer konkreten Praxis ineinander.50 Helmut Pape formuliert die Pragmatische Maxime in seinen eigenen Worten daher so: »Wenn du wissen willst, was ein Gegenstand Deines Denkens tatsächlich bedeutet, so überlege dir, in welchen Handlungs- und Wahrnehmungssituationen dieser Gegenstand eine Rolle spielt. Dein Verständnis der Bedeutung des Gegenstandes kann sich als nichts anderes erweisen als das Verständnis der durch ihn ermöglichten Handlungs- und Wahrnehmungssituationen.«51 Die Praxis der Klärung dieses Sachver-

43 Vgl. Pape 2002, S. 92. 44 Schubert et al. 2010, S. 44. 45 Peirce 1992, S. 132. 46 Peirce 1976b, S. 195. 47 Vgl. Pape 2004, S. 99ff. 48 Vgl. Pape 2004, S. 102. Vgl. auch Määttänen 2015, S. 13ff. 49 Vgl. Pape 2004, S. 114. Dass Peirces Maxime bis in zeitgenössische Theorien hineinwirkt, zeigt etwa die pragmatistische Gesellschaftstheorie von Renn 2006b ( Kap. 2.2.2). 50 Michael Hoffmann (2004, S. 290) spricht in Bezug auf den Pragmatismus bei Peirce daher von einem »possibilia-realism«. 51 Pape 2004, S. 113, im Orig. kursiv. Eine andere Variante findet sich bei Brandom 2011b, S. 20f.: »the meaning of a claim is the difference that adopting it would make to what one does.« Siehe zur wei-

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halts ist eine ref lexive Praxis der Variation des Objektes im Rahmen eines konstruierend-erprobenden Denkens.52 Was Peirce als Schlussfolgern bezeichnet, so auch das diagrammatische Schließen, ist somit eine auf diese Klärung von Möglichkeiten ausgerichtete Interpretation experimenteller Art. Das diagrammatische Schließen wird vom späten Peirce sogar als die paradigmatische Form der Explikation dieser allgemeinen Bedeutung des Schließens aufgefasst: »Alles Schlußfolgern ist Experimentieren, und alles Experimentieren ist Schlußfolgern. Wenn dem so ist, so ist diese Folgerung für die Philosophie sehr wichtig, nämlich daß es wirklich kein Schlußfolgern gibt, das nicht von der Art eines diagrammatischen oder mathematischen Schlußfolgerns ist.«53 Diese Praxis bezieht sich auf die Identität der Objekte in Relationen zwischen Wahrnehmung, Überzeugung und Handlung, also auf das Verhältnis von Zeichen und der Wirklichkeit eines Objektes. Über diese Relation Klarheit zu bekommen, ist die Aufgabe einer Gemeinschaft von ›Investigators‹, welche nach Peirce die gesamte soziale Gemeinschaft in einer gegebenen historischen Situation ist.54 Das von Peirce in der Pragmatischen Maxime beschriebene Verfahren ist ein Verfahren der Explikation von bestehenden Interpretations- und Erkenntnisprozessen.55 Das Ziel der in der Pragmatischen Maxime erreichten Explikation wird aber nicht als fixierte Definition, sondern als rationale Klarstellung und Konkretisierung betrachtet. Die Pragmatische Maxime soll »die Begriffe des schlußfolgernden Denkens gegenüber der empirischen Erkenntnis von Tatsachen offenhalten«,56 wie Pape erläutert. Als Methode richtet sie sich auf die ref lexive Befragung und potenzielle Revision von Überzeugungen.

3.1.2 Alltagskreativität und schlussfolgerndes Denken Erreicht ist hiermit ein dritter Punkt: Praktiken des konstruierenden Erprobens sind Teil einer basalen Alltagskreativität, die auf abduktivem Schließen in der Wahrnehmung beruht. Im Unterschied zum induktiven Schließen, das eine Hypothese vom vorliegenden Einzelnen auf das Allgemeine (Schluss von Resultat und Fall auf die Regel) formuliert, und dem deduktiven Schließen, das vom als Regel erkannten Allgemeinen auf das Einzelne schließt (Schluss von Regel und Fall auf ein Resultat), begreift Peirce die Abduktion als eine kreative Form des Schließens, in der vom Einzelnen auf das Allgemeine geschlossen wird, aber nicht so – wie bei der Induktion – dass ein Einzelnes verallgemeinert wird, sondern so, dass überhaupt erst einmal ein Allgemeines eingeführt wird, welches das Einzelne erklärt (Schluss von Regel und Resultat auf den Fall). Die Abduktion tritt für Peirce in der Wahrnehmung sowie in der daraus folgenden

teren Differenzierung in einen »practical difference de dicto« und einer »practical difference de re« auch Brandom 2001, S. 220ff. 52 Vgl. Nagl 1998, S. 11ff. 53 Peirce 1998b, S. 134. 54 Vgl. Pape 2004, S. 111ff. 55 Vgl. auch Pape 2002, S. 56. 56 Pape 2002, S. 55.

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Interpretation von vorhandenem Wissen auf.57 In seiner späten Phase ordnet Peirce das Verhältnis von Abduktion, Deduktion und Induktion so an, dass die Abduktion den »Entdeckungszusammenhang« bildet, die Deduktion und die Induktion dagegen den »Überprüfungszusammenhang«.58 Die Abduktion ist, wie Susanne Rohr zitiert, eine »Grundlagenbeschafferin«.59 Aus Wahrnehmungen leiten Menschen Überzeugungen ab, die ihre Handlungen bestimmen. Gleichzeitig sind die Wahrnehmungen bereits durch Hypothesen, die auf Erfahrungswissen beruhen, vorinformiert. Die Bruchpunkte des Zusammenhangs von Wahrnehmung, Überzeugungen und Handlungen sind daher die Momente, in denen bestehende Gewohnheiten zweifelhaft werden. In solchen Momenten müssen bestehende Überzeugungen revidiert werden. Diese Revision erfolgt individuell oder innerhalb der Gemeinschaft als ein Prozess der Erkundung möglicher Zeichenbedeutungen, wie sie die pragmatische Maxime beschreibt, also als experimentelle Überprüfung von Vermutungen, die kein definitives Wissen hervorbringt, sondern zukünftige Handlungsoptionen.60 Ludwig Nagl betont die allgemeine Bedeutung, welche dieser fallibilistische Prozess Peirce zufolge für den »Entwurfs- und Konstruktionscharakter« des alltäglichen »Experimentierens« hat.61 Zuerst kommt es zu einer tastenden Phase des Ratens, in der abduktiv Vermutungen aufgestellt werden, die dann als Hypothese über zu erwartende Sachverhalte und Wirkungen geprüft werden und mit bestehenden Überzeugungen einer Gemeinschaft in Verbindung treten. Innerhalb von Gemeinschaften ereignet sich so ein auf Selbstkorrektur angelegter Prozess von Führwahrhalten, Zweifel und neuem Führwahrhalten.62 Dieses Modell des »habit-taking« und »habit-breaking« wird als »doubt-belief«-Schema bezeichnet: Eine bestehende Überzeugung wird als Gewohnheit in einer Situation angewendet; in dieser Anwendung kommt es durch die in der Praxis gemachten Erfahrungen zu einem Zweifel, einem Moment der Krise; die Überzeugung wird auf die Probe gestellt und umgearbeitet; die modifizierte Überzeugung wird angewendet und führt zu einer neuen Gewohnheit.63 Die Ausbildung von Gewohnheiten erfolgt unter Rückgriff auf die Annahme, dass die Möglichkeit des Wissens selbst in einem Wissen »what to do«64 verankert ist, also aus einer Wahrnehmung und einem Verständnis um Handlungsmöglichkeiten in der

57 Vgl. zur Abduktion die zahlreichen Arbeiten von Uwe Wirth (hier u.a. 2000) und Jo Reichertz (1991, 2003), im vorliegenden Kontext auch Hoffmann 2005, S. 187ff. sowie Rohr 1993, S. 86ff. 58 Vgl. Rohr 1993, S. 86, im Orig. kursiv. 59 Rohr 1993, S. 93. 60 Vgl. Nagl 1998, S. 20ff, insb. S. 24ff. 61 Vgl. Nagl 1998, S. 26f., hier S. 26. 62 Vgl. auch Hoffmann 2005, S. 192f. 63 Vgl. Pape 2002, S. 61f. Vgl. auch das hilfreiche Schaubild bei Schubert et al. 2010, S. 45 sowie die Rekonstruktion bei Hoffmann 2005, S. 30ff. und die Bezüge zur Kognition bei Määttänen 2015, S. 24, hier S. 58. Demnach folgt die Kognition aus pragmatistischer Sicht dem Schema »action – obstacle encountered – search for new possibilities of action – reflection – decision – action.« An dieser Stelle ergeben sich weiterführende Perspektiven zu einer Theorie des medialen Handelns, wenn man über das im »doubt-belief«-Schema implizierte ›trial and error‹-Motiv argumentiert. Vgl. die Beiträge in Wolfsteiner/Rautzenberg 2013. 64 Vgl. Määttänen 2015, S. viiff., hier vii.

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Welt entspringt: »The world is experienced as possibilites of action.«65 Der Peirce’sche Pragmatismus legt damit großes Gewicht auf die Interaktion mit der Welt durch »habits«, die, wie es bei Pentti Määttänen heißt, als im impliziten Wissen enthaltene »structured schemes of action« anzusehen sind.66 Gewohnheiten können zwar als notwendig verkörperte Prozesse angesehen werden. Sie sind nicht nur körperlich erklärbar, sondern entstehen in Wechselwirkungen zwischen Umwelten aller Art. Sie entstehen induktiv, sind als regelhaft anzusehen und beziehen sich auf eine unbestimmte Zukunft, etwa im Sinne einer unendlichen Zahl von möglichen zukünftigen Fällen, die man sich, im Sinne von Überzeugungen, kraft der Imagination auch vorstellen kann. Speziell diesen Aspekt der Gewohnheiten bringt Peirce mit einer schematisch-diagrammatischen Wahrnehmungsstruktur in Verbindung: »Under a logical aspect your opinion in question is that general cognitions of potentialities in futuro, if duly constructed, will under imaginary conditions determine schemata or imaginary skeleton diagrams with which percepts will accord when the real conditions accord with those imaginary conditions; or, stating the essence of the matter in a nutshell, you opine that percepts follow certain general laws.«67 Von besonderer Relevanz für den Prozess des »habit-taking« und »habit-breaking« ist dann das Moment der Bewältigung des Zweifels. Dies ist bei Peirce der Einsatzpunkt dessen, man als ›Denken‹ bezeichnen kann. Das Denken beseitigt den Zweifel und ermöglicht Handeln, indem es Überzeugungen konkretisiert.68 Folglich ist alles dasjenige kein Denken, was nicht auf die Handlung ausgerichtet ist.69 Allerdings gibt es Unterschiede. In Handlungskrisen, in denen es zu der Erfahrung einer unerwarteten Widerständigkeit kommt,70 ist kreatives Denken gefragt. Dies räumt der Abduktion einen besonderen Status ein, sieht Peirce sie doch aufgrund ihrer Rolle in Wahrnehmungsurteilen als »starting point or first premiss of all critical and controlled thinking«.71 Solche Handlungskrisen, die abduktiv bewältigt werden, sind, Peirce zufolge, Krisen, weil gewohnheitsmäßige Überzeugungen nicht mehr funktionieren. Die Kreativität, die aufgeboten werden muss,72 ist die Kreativität des kühnen Schließens, also ein Schließen in Abduktionen. Abduktionen verwenden das bereits zur Verfügung stehende Wissen der bisherigen Überzeugungen und entwickeln eine neue Hypothe65 Määttänen 2015, S. ix. 66 Määttänen 2015, S. ix., S. 30ff., S. 44. 67 Peirce 1994, CP 2.148. Vgl. dazu auch Määttänen 2015, S. 30ff. Ich diskutiere diese Zusammenhänge unter Berücksichtigung der Imagination in den Erörterungen zur Peirce’schen Metapher der »imaginary skeleton diagrams« in diesem Kapitel noch genauer. 68 Vgl. Pape 2002, S. 61. 69 Vgl. Pape 2002, S. 86. 70 Vgl. Määttänen 2015, S. 21f. Vgl. vertiefend Halawa 2009. 71 Peirce 1998a, S. 227. Eine sehr gute Kontextualisierung dieses Zitats aus Peirces Pragmatismus-Vorlesungen bieten Meyer-Krahmer/Halawa 2012, S. 279ff. 72 Peirce nennt das ›Investigation‹ bzw. ›Forschung‹. Vgl. Pape 2002, S. 63, zur Diskussion in im breiteren Kontext auch Pape 1994.

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se, die den erklärungsbedürftigen Sachverhalt wieder durch eine gewohnheitsmäßige Überzeugung erklärbar macht. Die durch die Abduktionen eingeführten, erklärenden Hypothesen, durch welche eine neue, mögliche Regel eingeführt wird, werden anschließend als Deduktion geprüft. Deduktionen führen zu einer Vorhersage, die schließlich in Handlungen induktiv getestet werden kann.73 Ihre Funktion in der Bewältigung von Handlungskrisen sichert der Abduktion bei Peirce einen sehr hohen Stellenwert. In seiner Darlegung der drei verschiedenen Typen des Schlussfolgerns in der sechsten der Vorlesungen zum Pragmatismus schreibt Peirce 1903, die konjunktivisch-spekulative Natur der Abduktion hervorhebend: »Die Abduktion ist der Vorgang, in dem eine erklärende Hypothese gebildet wird. Es ist das einzige logische Verfahren, das irgendeine neue Idee einführt, denn die Induktion bestimmt einzig und allein einen Wert, und die Deduktion entwickelt nur die notwendigen Konsequenzen einer reinen Hypothese. Die Deduktion beweist, daß etwas der Fall sein muß; die Induktion zeigt, daß etwas tatsächlich wirksam ist; die Abduktion vermutet bloß, daß etwas der Fall sein mag. Ihre einzige Rechtfertigung liegt darin, daß die Deduktion aus ihrer Vermutung (suggestion) eine Vorhersage ziehen kann, die durch Induktion getestet werden kann, und daß es, sollen wir überhaupt jemals etwas lernen oder ein Phänomen verstehen, die Abduktion sein muß, durch die das zustande zu bringen ist.« 74 Abduktion, Deduktion und Induktion greifen als ein, wie Helmut Pape schreibt, »selbstkorrektive(r) Zusammenhang von kreativen Vermutungen (Abduktion), logischen Schlußfolgerungen (Deduktion) und experimentellen Tests (Induktion)«75 ineinander. Ohne ihre Rückkoppelung mit Deduktion und Induktion ist die Abduktion sinnlos. Die Überzeugungen, die sie hervorbringt, sind unsicher. Sie befinden sich in einem Modus des »may be«.76 Doch nur die abduktive Hypothese entscheidet, was die Deduktion und die Induktion beweisen oder prüfen können. Erst unter der Regel einer Abduktion kann die Deduktion produktiv werden, weil sie die Hypothese der Abduktion in ein deduktives Schema umformt und eine Vorhersage produziert, die dann induktiv geprüft und gegebenenfalls wieder verworfen wird. Die Alltagsrelevanz der Praxis des Schließens verbindet den Peirce’schen Pragmatismus mit seiner Semiotik, welche die logischen Relationen der Zeichen zu ihren Objekten beschreibt. Die Semiotik und die logischen Schlusspraktiken sind miteinander verf lochten: Einerseits ist die Semiotik als allgemeine Lehre von den Zeichen für den Pragmatismus eine Grundlagendisziplin, andererseits können die in der Semiotik beschriebenen Zeichenrelationen nur durch ihre Verwendung in Schlusspraktiken erklärt werden. Der Pragmatismus kann durch die Analyse von Zeichen das Verhältnis von Wahrnehmung, Überzeugung und Handeln auf klären. Ohne den Kontext des Schließens bleiben die Semiotik und ihre Bemühung um eine Ordnung der Zeichen sinnlos. Die Darstellungssysteme, welche die Semiotik beschreibt, entwickeln sich in praktischen Bezugnahmen und diese Bezugnahmen sind Zwecken und Zielen unter73 Vgl. Peirce 1976b, S. 400. Vgl. auch Ernst 2014c, S. 114ff. 74 Peirce 1976b, S. 400. 75 Pape 2002, S. 186. 76 Vgl. Peirce 1998a, S. 216.

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geordnet, wie sie der Pragmatismus und seine Theorie der (kreativen) Schlussfolgerungen untersucht.77 Das experimentierende Erproben ist in seiner Verf lechtung mit der Wahrnehmung eine Weiterentwicklung von Darstellungssystemen, ja es löst sich in manchen Fällen, wie etwa der Mathematik, ganz von der Wahrnehmung einer Situation ab und entfaltet sich in »denkend-konstruierender Anschaulichkeit«, die durch ikonische Zeichen zur Verfügung gestellt werden, paradigmatisch in der Verwendung von Diagrammen.78

3.1.3 Die Relationalität der Zeichen und das Beispiel der Spur Welcher Art die Zeichen sind, ist Gegenstand eines vierten Punktes, der besagt, dass Zeichen triadische Relationen sind, die aufeinander verweisen und in denen Interpretationen der Welt formuliert werden. Der Pragmatismus und die Semiotik treffen sich in dem Bestreben, das Verhältnis der Zeichen und der Meinungen, die mit ihnen gebildet werden, zur Wirklichkeit, also zu den Objekten, zu klären. Peirce vertritt eine realistische Position.79 Michael Hoffmann stellt fest, »that for Peirce […] there is no pragmatism without realism«.80 Diesem Denken zufolge weist das faktische Geschehen in der Welt eine Tatsachenhaftigkeit mit begriff licher Struktur auf. Eine wahre Einschätzung eines Objektes bezieht sich auf die Welt, ist also ein Teil der Welt, erfasst aber die Welt nie vollständig.81 Vielmehr orientieren sich die Zeichen an einem zeichenexternen Objekt, dem »dynamischen Objekt«, das in der Wahrnehmung als ein »unmittelbares Objekt« die Bildung von Zeichen provoziert und mit Beginn der Semiose in der Wahrnehmung die Zeichen auf ein Ziel in der Wirklichkeit ausrichtet.82 Diese Differenz zwischen dynamischem und unmittelbarem Objekt, also die Differenz eines interpretierenden Geistes zur Welt, wird durch die Zeichen in der Weise bearbeitet, dass die Zeichen ausgewählte Aspekte der Wirklichkeit interpretierbar machen. Die Komplexität der Realität der Objekte (Dinge, Menschen etc.) wird durch die Zeichen, Peirce zufolge, nicht vollständig erfasst. Diese Offenheit und Unabgeschlossenheit der Zeichen legt Peirce allerdings, wie es in der vom differenzlogischen (De-)Konstruktivismus geprägten Theoriedebatte oft behauptet wurde, nicht skeptizistisch aus. Er versteht diese Offenheit in der Weise, dass die Wirklichkeit in ihrer Insistenz dazu zwingt, die Zeichenpraktiken anzupassen, was bedeutet, nicht nur die unabhängige Wirklichkeit der Objekte jenseits der Zeichen normativ anzuerkennen, sondern auch die Verstrickung der Zeichen in die Welt.83 Das Zeichen ist für Peirce eine Relation, in der etwas repräsentiert wird. Die Relation besteht aus drei Zeichenpolen: 77 Vgl. für eine vertiefende Diskussion dieser Wechselwirkung grundlegend Pape 2002. 78 Vgl. Nagl 1998, hier S. 27. Vgl. auch Hoffmann 2009, S. 247. 79 Vgl. u.a. Pape 2002, S. 194ff. 80 Hoffmann 2004, S. 290. 81 Vgl. auch Esfeld 2001, S. 4f. 82 Vgl. Pape 2004, S. 118. Vgl. auch Hoffmann 2005, S. 50ff.; Schönrich 1990, S. 132. Vgl. zudem die medientheoretische Deutung des unmittelbaren Objektes im Kontext des Peirce’sche Realismus bei Trantow 2012. 83 Vgl. Pape 2004, S. 119. Vgl. auch den Ansatz, die Zeichen generell als »verkörpert« aufzufassen, bei Krois 2011, S. 195ff.

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• dem Repräsentamen als dem Zeichenträger, in dem sich das Zeichen als Zeichen markiert; • dem Objekt als dem Referenzobjekt, das in der bekannten Triade von ikonisch (Ähnlichkeit zum Objekt in graduellen Abstufungen), indexikalisch (kausale bzw. tatsächliche Verursachung durch das Objekt) und symbolisch (regelhafte Konvention über das Objekt) dargestellt wird; • dem Interpretanten als in Relation zum Verhältnis von Repräsentamen und Objekt stehendem Zeichenpol, der bei Menschen ein Gedanke, eine Handlung oder auch eine Emotion sein kann.84 Eine von Peirces Subklassifikationen sieht die Unterteilung des Interpretanten in unmittelbare Interpretanten (u.a. Gefühle, Emotionen), dynamische Interpretanten (u.a. Handlungen) oder finale Interpretanten (Festlegung des Zeichens auf eine Wahrheit hin) vor.85 Peirce unterscheidet zwischen Zeichen-, Gegenstands- und Interpretationsbeziehung des Zeichens. Ein Zeichen ist eine Beziehung eines Objektes (z.B. eines Dorfes) zu einem Zeichenträger (Repräsentamen, z.B. der Karte mit dem eingezeichneten Ort) und einer Interpretation (der Orientierung im Ort mit Hilfe der Karte). In einer viel zitierten Formulierung heißt es zu diesem Zeichenbegriff:86 »Ein Zeichen oder Repräsentamen ist etwas, das für jemanden in gewisser Hinsicht oder Fähigkeit für etwas steht. Es wendet sich an jemanden, d.h., erzeugt im Geist dieser Person ein äquivalentes Zeichen oder vielleicht ein mehr entwickeltes Zeichen. Das Zeichen, welches es erzeugt, nenne ich den Interpretanten des ersten Zeichens. Das Zeichen steht für etwas, sein Objekt. Es steht für dieses Objekt nicht in jeder Hinsicht, sondern im Hinblick auf eine Art Idee […]. ›Idee‹ soll dabei so verstanden werden, wie wir sagen, dass jemand die Idee eines anderen mitbekommt«.87 In seiner relationalen Bestimmung der Zeichen weisen die Zeichen für Peirce stets die Merkmale der Ref lexivität und der Transitivität auf.88 Nach Helmut Pape besagt Ref lexivität, dass die Zeichen in Relationen zu sich selbst stehen, sie verweisen auf sich als Zeichen und können sich als Zeichen enthalten, und Transitivität, dass für die Zeichen die Relation (xRy & yRz) = (xRz) gilt, also genau so, wie im Verhältnis von Repräsentamen, Objekt und Interpretanten.89 Dies wird deutlich, wenn Peirce im Syllabus of Certain Topics of Logic schreibt: »Ein Zeichen oder Repräsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, daß der Inter-

84 Vgl. auch die Übersicht bei Nöth 2000, S. 141. 85 Vgl. Hoffmann 2005, S. 47. 86 Vgl. Pape 2004, S. 117ff., zudem Schönrich 1999. 87 Vgl. Peirce 1994, CP 2.228, hier zit.n. Nagl 1992, S. 30. 88 Vgl. Pape 2004, S. 69ff., S. 97ff. 89 Vgl. Pape 2002, S. 96ff., hier S. 100f.

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pretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objektes bestimmt und so fort ohne Ende.«90 An anderer Stelle wird die relationale Anlage von Peirces Zeichenbegriff besonders deutlich: »Ich sage also, dass alles, unabhängig von seiner Seinsweise, ein Zeichen ist, was zwischen einem Objekt und einem Interpretanten vermittelt, da das Zeichen sowohl durch das Objekt relativ zum Interpretanten bestimmt ist, als auch den Interpretanten in Bezug zum Objekt derart bestimmt, dass es den Interpretanten aufgrund der Vermittlung dieses ›Zeichens‹ durch das Objekt bestimmt sein lässt. Das Objekt und der Interpretant sind also lediglich die zwei Korrelate des Zeichens; das eine ist das Antezedens, das andere das Konsequens des Zeichens.«91 Ferner heißt es in Logik als Untersuchung der Zeichen (1873) unter Betonung des Umstands, dass die Interpretantenbeziehung zugleich die Beziehung zum Geist ist: »Ein Zeichen ist etwas, das für einen Geist für ein anderes Ding steht. Um als solches existieren zu können, sind drei Dinge erforderlich. […] Erstens muß es Eigenschaften besitzen, die es uns erlauben, es von anderen Objekten zu unterscheiden. […] Zweitens muß es von dem Objekt, das es bezeichnet, irgendwie beeinflußt werden […]. Die Verursachung verläuft […] entweder vom Objekt zum Zeichen oder vom Zeichen zum Objekt oder von einem dritten Ding zu beiden; […] Die dritte Bedingung der Existenz eines Zeichens besteht darin, daß es sich an den Geist richtet. Es genügt nicht, daß es sich in einer Relation zu seinem Objekt befindet, sondern es muß sich um eine solche Relation zum Objekt handeln, bei der der Geist in eine bestimmte Relation zum Objekt gebracht wird, nämlich in die Relation des Von-ihm-Wissens.«92 In dieser triadischen Konzeption des Zeichens ist das Zeichen kein isolierter Gegenstand, kein Ding, sondern ein praktisch aktualisiertes Beziehungsverhältnis, in dem eine Menge von Elementen – definiert durch Repräsentamen, Objekt und Interpretant – für etwas steht, und zwar in einer bestimmten Hinsicht, das heißt in einem praktischen Verwendungszusammenhang, der sich auf eine »Idee« bezieht, die zugleich der »Ground« des Zeichens ist.93 Da die Zeichen nicht isoliert vorkommen, sondern in einem Prozess aufeinander verweisen, begreift Peirce sowohl das Repräsentamen in seiner Beziehung zum Objekt gleichermaßen als ein ›Zeichen‹ wie die durch den Interpretanten vervollständigte Gesamtheit der Relation. Der Interpretant bezieht sich dabei auf die Relation von Zeichen und Objekt in der Art, dass es zu einer wechselseitigen Bestimmung kommt: Einerseits wird der Interpretant durch die Relation von Repräsentamen und Objekt bestimmt, wie umgekehrt diese Relation, also die Relation des Repräsentamens zum Objekt, vom Interpretanten bestimmt wird. Dabei kann der Interpretant wieder zu einem Zeichen werden, weil er für ein Objekt steht, nämlich die 90 Peirce 2005, S. 64. 91 Peirce 2000/3, S. 253. 92 Peirce 2000/1, S. 188. 93 Ich komme in diesem Kapitel darauf zurück.

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Relation von Repräsentamen und Objekt.94 Damit ist Interpretant nach Peirce ›medial‹ in einem aus der Logik abgeleiteten Sinn: »Ein Zeichen ist offensichtlich eine Art von Kommunikationsmedium, und ein Kommunikationsmedium ist eine Art von Medium, und ein Medium ist eine Art von Drittem«.95 Eines der zentralen Merkmale dieser Relation ist, dass es zu einem komplexen Wechselspiel von Möglichkeit, Tatsächlichkeit und Regelhaftigkeit kommt, drei Begriffe, die Peirce mit seinen Kategorien Erstheit, Zweitheit und Drittheit zusammenbringt. Dazu ein einfaches Beispiel: Wenn zum Beispiel ein Wildschwein im Wald ein Bündel Zweige abknickt, dann ist diese Relation ein mögliches Zeichen, weil die Beziehung zwischen Repräsentamen (Zweigen) und Objekt (Wildschwein) als mögliche Relation für einen ›Investigator‹, z.B. einen Jäger, interpretierbar ist. In diesem virtuellen Zustand wird das Zeichen verbleiben, wenn eine Gruppe Spaziergänger an dem Bündel vorbeigeht und keine Notiz davon nimmt. Anders liegt der Fall, wenn besagter ›Investigator‹ das Bündel sieht, also in seinen praktischen Anwendungszusammenhang stellt. Er wird das Bündel als Spur für das Wildschwein verstehen, also die mögliche Relation als ein Zeichen für das Wildschwein interpretieren, was bedeutet, dass eine Vorstellung eines Objektes realisiert wird. Welche Gestalt und welche Wirkung diese Vorstellung des Objektes hat, ist abhängig vom Vorwissen des Jägers, also von seinen bisherigen Überzeugungen. Ist bereits bekannt, was für Spuren Wildschweine hinterlassen, dann wird eine relativ genaue Vorstellung vom Wildschwein vorhanden sein. Diese Vorstellung ist kognitiv als eine Art von Vorstellung realisiert, die bildlich und begriff lich zugleich ist und von mittlerer Abstraktion, also weder hochspezifisch noch vollkommen vage. Eine solche Vorstellung kann man mit der Kognitiven Semantik als ein ›Konzept‹ bezeichnen: Der Jäger wird keine detaillierte Vorstellung von diesem individuellen Wildschwein haben. Er wird aber eine gute Vorstellung von einem, wie man in der Kognitiven Semantik sagt, ›prototypischen‹ Wildschwein haben ( Kap. 5.1.4). Wie wichtig das Vorwissen ist, also die bisherigen Überzeugungen des Jägers, ist ebenfalls leicht zu erahnen. Weiß der Jäger nicht, dass die Spur von einem Wildschwein stammt, wird er das Bündel Äste genauer untersuchen und einschätzen müssen, um welche Art von Tier es sich überhaupt handeln könnte. Die prototypische Vorstellung seines Konzeptes wird dadurch abstrakter, komplexer. Vor allem aber wird der Schlussprozess spekulativer. So wird eine in der Imagination vollzogene Vorstellung der recht abstrakten Kategorie ›vierbeinige Säugetiere‹ notwendig, die über genügend Gewicht und Größe verfügen, die Äste umzuknicken. Der Jäger wird vermuten, dass es sich um ein Wildschwein handeln könnte, aber nicht um einen Marder oder um ein größeres Tier wie einen Damhirsch oder gar einen Elch. Die bisherigen Überzeugungen, also das Vorwissen des Jägers, sind aber nicht nur in Bezug auf die Vermutungen über das Objekt relevant, sondern auch in Bezug auf die Art, wie der Jäger reagiert. Von der Art der Vorstellung, die sich der Jäger über das Objekt macht, hängt es ab, was der Jäger empfindet und wie er handelt, ob er also vielleicht in ›Jagdfieber‹ geraten wird, weil er weiß, dass er erstmals die Fährte des Wildes aufgenommen hat. Ist es nur die Bestätigung einer Vielzahl von Zeichen, dann wird er die Spur erwartet haben und in seiner Vermutung bestätigt sehen. Findet er dagegen eine für den gegebenen Kon94 Vgl. Nöth 2000, S. 63; Roesler 1999a, S. 146f.; Schönrich 1999, S. 19f. 95 Peirce 2000/2, S. 338.

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text des Waldes hochgradig unwahrscheinliche grüne Substanz auf den Ästen, dann wird er vielleicht gar keinen Begriff vom Objekt entwickeln können und irritiert sein. Diese Arten der Auslegung der Relation von Repräsentamen und Objekt, also eine emotional-körperliche Reaktion und eine rational-abgeklärte, sind verschiedene Typen von Interpretanten. Sie hängen von der Art der Regel ab, von der her der Jäger das gegebene Zeichen interpretiert, das heißt, welche Vorstellung von der Regel aktualisiert wird. Es bestehen verschiedene Möglichkeiten, die Relation der Äste zum Wildschwein auszudeuten, aber diese Möglichkeiten sind, von der Relation zwischen Repräsentamen und Objekt her betrachtet, nicht beliebig. Der Jäger wird die Äste nicht als Zeichen für einen Bagger oder, jedenfalls nicht in der Regel, als Zeichen für Außerirdische lesen (es sei denn, grünes Blut impliziert diesen Schluss). Die Interpretanten sind also von der Relation zwischen Repräsentamen und Objekt mitbestimmt. Ohne die im Bewusstsein des Jägers gebildeten Interpretanten ist die Relation von Repräsentamen und Objekt aber unbestimmt, bleibt also in ihrem Zustand, ein mögliches Zeichen zu sein. Betrachtet man sie als ein Zeichen, dann ist die Spur des Wildschweins nach Peirce indexikalisch, weil sie in einem existenziellen Wirkungsverhältnis mit dem Wildschwein steht.96 Von einer Spur ist als einem ›Zeichen‹ zu sprechen, weil die Spur mehr ist als eine materielle Hinterlassenschaft. Die Spur ist »bezogen auf die Praxis des urteilenden, ref lektierenden Wahrnehmens der Beziehung zwischen Veränderungen in der Welt und ihrer Erfahrbarkeit für uns«,97 wobei es für Peirce nicht zwingend ein menschlicher Geist sein muss, der die semiotische Relation der Spur aktualisiert. Ausreichend ist ein semiotischer »›Quasi-Geist‹«,98 der in der Lage ist, Interpretanten zu bilden. Der Prozess der Bildung von Interpretanten ist als verräumlicht, verzeitlicht und nicht umkehrbar zu verstehen. Neben Ref lexivität und Transitivität weisen die Zeichen – die Indexikalität ist nur ein Beispiel – daher, folgt man Helmut Pape, die logische Eigenschaft der antisymmetrischen Bestimmungsbeziehung auf. Sie sind keine umkehrbaren (symmetrischen) Beziehungen.99 Die Zeichen schließen in einer wachsenden Weise aneinander an, dies aber nicht beliebig, sondern so, dass ein Zeichen »in derselben Relation aufgrund des ersten Zeichens steht«.100 Eine der Kernfragen der Semiotik ist daher die Frage des Anschlusses von Zeichen an Zeichen. Als Prozess der unendlichen Semiose denkt Peirce diesen Anschluss im Fall menschlicher Praktiken so, dass es sich innerhalb einer Gemeinschaft nicht um einen automatisch ablaufen96 Peirce unterscheidet bei Indices zwischen einer genuinen und einer degenerierten Form. Die genuine Indexikalität ist eine informative existenzielle Relation, die durch »natürliche Kontiguität‹« motiviert ist. Die degenerierte Form der Indexikalität ist die Verwendung von Indexikalität als Hinweis in konventionalisierten Beziehungen und intentionalen Bezugnahmen, die zwar verbunden sind, aber nicht aus der Art ihrer indexikalischen Beziehung heraus informativ. Peirce nennt als Beispiel häufig Buchstaben in einem geometrischen Diagramm. Vgl. erläuternd Wirth 2007, S. 61ff., hier S. 62. Vgl. auch Peirce 1998a, S. 171f. 97 Pape 2007, S. 38. 98 Peirce 2000/2, S. 336, hier unter Verweis auf die These, dass eine Interpretation v.a. »Übersetzung« ist und sogar eine Übersetzung, die nach Peirce auch maschinell ausgeführt werden kann. Vgl. im Kontext auch Schäffner 2007, wo die Bezüge von Peirces Logik und den Existenziellen Graphen zu elektrischen Schaltkreisen aufgearbeitet werden. 99 Vgl. Pape 2004, S. 131ff. 100 Pape 2004, S. 124, im Orig. kursiv.

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den Algorithmus handelt, noch dass der Anschluss vollkommen beliebig wäre. Beide Optionen werden durch das sich wechselseitig bestimmende Verhältnis von Interpretant zur Relation von Repräsentamen und Objekt ausgeschlossen.101 Der Interpretant ist durch die Art der Relation zwischen Repräsentamen und Objekt bestimmt, wie er umgekehrt diese Relation erst als die eines bestimmten Zeichens aktualisiert ist, die von materiellen, semiotischen und kognitiven Bedingungen in einer Praxis in der Gemeinschaft abhängig ist.102 Da der Interpretant die Relation von Repräsentamen und Objekt zu seinem Objekt macht, kann das Zeichen als Zeichen erkannt werden und als diese – mit dem Interpretanten realisierte – Triade wieder ein Zeichen werden. Wenn das dynamische Objekt (das Wildschwein als materielles Ding) die Bildung eines Repräsentamens ermöglicht (des abgeknickten Astbündels), so ist es dennoch erst der Interpretant, der diese Relation als zeichenhafte Relation vervollständigt, einen Begriff von Wildschwein auf Grundlage bestehender ›Habits‹ (Gewohnheiten und Wissen) hervorbringt und als unmittelbares Objekt wieder auf das dynamische Objekt bezieht.103 Die Interpretantenbeziehung ist in menschlichen Praktiken durch eine relative Indeterminiertheit oder Offenheit ausgezeichnet: Einerseits wird das Zeichen als Relation in einer Welt erkannt und diese Relation in der Welt aktualisiert, andererseits ist dies – als eine Praxis in der Welt – die Aktualisierung einer Hypothese über die Welt. Diese relationale Anlage des Zeichens bewegt die Semiose in Richtung eines Verständnisses des Zeichens als einer falliblen Repräsentation.104 Repräsentationen sind für Peirce dynamisch und fehlbar, das heißt relativ zu einer Offenheit verschiedener möglicher Interpretanten zu verstehen. Die Frage nach Repräsentation stellt Peirce mithin als die Frage nach einem relationalen Prozess. Die Vervollständigung der Triade durch die Bildung von Interpretanten, welche die Relation von Repräsentation und Objekt interpretieren, macht aus dem Zeichen eine Repräsentation. Aber diese Repräsentation ist als semiotische Repräsentation durch die Möglichkeit charakterisiert, auch anders realisiert oder gelesen werden zu können. Konkret verbergen sich hinter abstrakten Begriffen wie Indeterminiertheit und Offenheit somit Phänomene, in denen auch andere Interpretationen möglich sind. Diese Offenheit, wie sie etwa in der Vagheit oder der Ambiguität einer Wahrnehmung zur Geltung kommt, ist sehr wichtig. Die Interpretation, der Prozess der fortsetzenden Deutung und Auslegung von Zeichen, erweist sich als offen, aber nicht wahllos oder gar beliebig. Es existieren ›Grenzen der Interpretation‹ (Umberto Eco), die sich aus der Praxis des Zeichenhandelns ergeben, die also am Kontaktpunkt zwischen Wahrnehmung, von Überzeugungen geleiteter Deutung der Realität und praktischem Handeln (mit Zeichen) in einer materiellen und sozialen Realität entstehen.105

101 Vgl. Nagl 1998, S. 45f. 102 Den Horizont der Einschränkung bilden also gemeinsame Praktiken in einer Kultur, weshalb es sinnvoll ist, mit Joachim Renn (und auch Robert Brandom) die Übersetzung als einen wesentlichen Mechanismus des Anschlusses von Zeichenhandlungen an Zeichenhandlungen zu machen ( Kap. 2.2.2). 103 Vgl. Eco 2000, S. 23ff. 104 Vgl. auch Nagl 1998, S. 42ff. 105 Vgl. Eco 2004, S. 425ff.

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3.1.4 Wahrnehmung und der Kontakt mit der Realität Das Beispiel eines indexikalischen Zeichens wie die Spur des Wildschweins zeigt, dass der Prozess der Semiose durch einen Wahrnehmungsprozess initiiert wird, der in einem öffentlichen Raum stattfindet, in dem man sich in einer bestimmten Weise praktisch verhält (Spazierengehen, Jagen etc.). Diese Realität ist nach Peirce praktisch zugänglich. Indices sind Zeichen, die »als auf die Wirklichkeit hin orientierte, relationierende Zeichen, die unser wahrnehmungsgestütztes Handeln leiten«, zu verstehen sind.106 Als in einer existenziellen Relation stehender Index ist die Spur ein ideales Beispiel für die Verf lechtung von Zeichenrelationen in die Welt. Die Spur steht für die Kräfte der Realität, die auf ein interpretierendes Bewusstsein einwirken, die also eine Wahrnehmung und eine Interpretation provozieren, oder aber die Frage nach dem Realitätsgehalt dieser Wahrnehmung und Interpretation stellen. Als semiotische Frage nach dem Anschluss von Zeichen können sie, idealtypisch gesprochen, eine routinisiert-implizite Fortsetzung provozieren oder auch in eine thematisch-explizite Auslegung, also in eine bewusst schlussfolgernde Praxis übergehen, wobei, Peirces Kategorienlehre folgend, das Verhältnis zwischen routinisiert-impliziter Fortsetzung und thematisch-expliziter Auslegung so gedacht ist, dass jede thematisch-explizite Auslegung sich ref lexiv auf die routinisiert-implizite Fortsetzung beziehen kann, dann als diese thematisch-explizite Auslegung aber wieder für ein Folgezeichen eine routinisiert-implizite Fortsetzung ist ( Kap. 2.2.3). An den Kontaktpunkten mit der Realität wie dem Index führt die Interpretation mit Zeichen »stets über symbolisch vermittelte Beziehungen hinaus – auch wenn es immer wieder in sie zurückführt«.107 Ausgelöst wird ein Schlussprozess im Übergang von der Wahrnehmung, den angewendeten oder in Frage stehenden Überzeugungen sowie den Handlungen, durch die sich dieses Verhältnis entäußert. Dieser Übergang soll der fünfte Punkt sein, für welchen das Beispiel der indexikalischen Spur einsteht: Wahrnehmung und Erkennen bilden sich im Übergang von einem dynamischen zu einem unmittelbaren Objekt. Die Wahrnehmung, die für Peirce eine sich vollziehende schlussfolgernde Handlung ist, hat in Peirces Philosophie die Funktion, Situationen zu erfassen, auf die sich Handlungen beziehen, in denen klar wird, ob man mit einer Gewohnheit oder nicht reagieren kann. Die Wahrnehmung hat außerdem die Fähigkeit, solche Eigenschaften einer Situation zu erschließen, die es beurteilbar machen, wann eine Handlung situationsangemessen funktioniert und wann nicht.108 Auf Grundlage seiner Kategorienlehre (Erstheit als Möglichkeit, Zweitheit als Tatsächlichkeit und Drittheit als Regelhaftigkeit) unterscheidet Peirce am Objektpol des Zeichens nicht nur in der bekannten Weise zwischen Ikon, Index und Symbol,109 sondern in Bezug auf die Wahrnehmung auch zwischen einer ›reinen‹, ›puren‹ Form der Ikonizität – er nennt das primäre Ikonizität bzw. das reine Ikon –, und dem Ikon als einem materiell realisierten Zeichen, dem Hypoikon, das in einem praktischen Schluss-

106 Pape 2007, S. 49. 107 Pape 2007, S. 54. 108 Vgl. Pape 2002, S. 88. 109 Vgl. etwa Peirce 1992, S. 225ff.

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folgerungsverhältnis steht.110 Nach Peirce ist das reine Ikon das potenzielle Zeichen, das die Möglichkeit einer Beziehung zu einem Objekt verkörpert, etwa weil es »eine Eigenschaft oder Form besitzt oder eine Beziehung zu einer Eigenschaft herstellt«.111 Es steht für den Moment in der Wahrnehmung, an dem die semiotische Ausformung der Wahrnehmung beginnt. An dieser Schwelle wird der Wahrnehmungsinhalt, das ›Perzept‹ (percept), identifiziert und mit Wahrnehmungsurteilen (perceptive judgement) verknüpft. Das ist der Moment des Eintritts der Wahrnehmung in die Semiose, wobei das Perzept stets zwei Aspekte in sich vereint: Einerseits ist es ein unmittelbares Objekt der Wahrnehmung, andererseits durch einen Moment der Widerständigkeit ausgezeichnet.112 Da dieser Kontakt als existenzielle Relation zu denken ist, ist der Wahrnehmungsprozess indexikalisch, weshalb im Umkehrschluss die Spur paradigmatisch für die Grenze und den Prozess der Semiose stehen kann.113 Der Index ist beispielhaft für das Verhältnis von dynamischem und unmittelbarem Objekt. Das Problem des Eintritts der Wahrnehmung in die Semiose stellt sich so dar, dass ein dynamisches Objekt dazu führt, dass ein Repräsentamen gebildet wird, das im Geist ein unmittelbares Objekt erzeugt (Wahrnehmung). In seiner Relation zum Repräsentamen leitet das unmittelbare Objekt die Bildung von Interpretanten an. Die Interpretanten vervollständigen diese Relation. Dies führt zu gewohnheitsmäßigen Betrachtungsweisen des Objektes (Überzeugung). Gewohnheiten konstituieren sich so, dass man einem Handlungsplan folgt, um mit dem dynamischen Objekt etwas zu tun (Handlung). Diese Handlung provoziert wieder die Bildung eines Repräsentamens etc.114 Ihre pragmatische Funktion, die Gewohnheit einer Handlung auf eine Situation zu beziehen und die Situation in ihren spezifischen Eigenschaften angemessen beurteilbar zu machen, kann die Wahrnehmung nur erfüllen, wenn sie nach einem Maßstab urteilt, den sie auf Grundlage bisherigen Wissens zur Verfügung hat. Sie muss sich von bereits bestehenden Überzeugungen leiten lassen. Da die Wahrnehmung in ihrem ›performativen‹ Vollzug115 einer expliziten Ref lexion nur partiell und nachträglich zugänglich ist, sind diese Überzeugungen unbewusst in der Wahrnehmung zur Anwendung gebrachte Schemata, über welche die Wahrnehmung notwendig Teil eines Bedeutungszusammenhangs wird. Das dynamische Objekt ist, wie Eco schreibt, »›Etwas-das-uns-mit-Fußtrittentraktiert‹ und zu uns sagt, ›sprich!‹ oder ›sprich über mich!‹ oder auch ›nimm mich zur Kenntnis!‹«.116 Es fordert Aufmerksamkeit, auch wenn seine Interpretation auf Grundlage von Gewohnheiten unbewusst bewältigt wird. Im Begriff der Gewohnheit klingt also nicht nur Wiederholung und Habitualisierung an, sondern auch eine auf Situationsangemessenheit hin ausgerichtete Schematisierung in der Wahrnehmung. Gewohnheiten sind mit Wahrnehmungsschemata korreliert, die im Status von impli110 Vgl. zu dieser Unterscheidung den klassischen Aufsatz von Ransdell 2005, der im Original 1979 im ersten Band der Peirce-Studies erschien und inzwischen in einer überarbeiteten »Version 2.0« frei verfügbar ist. 111 Pape 2004, S. 126. Vgl. Nöth 2000, S. 193f. 112 Vgl. Määttänen 2015, S. 22. 113 Vgl. Wirth 2007, S. 62. 114 Vgl. Eco 2000, S. 24. 115 Vgl. Pape 2002, S. 88. 116 Eco 2000, S. 24.

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zitem Wissen einen an der ›unteren‹, perzeptiven Schwelle der Semiotik angesiedelten Handlungsplan ausbilden.117 Als kulturell erworbene Regel strukturiert das Schema die Bildung des Interpretanten, also des Begriffs als eines Vorstellungsbildes, das ein Objekt unter einen Begriff subsumiert (wie ›Wildschwein‹). Die Schemata sind deshalb zum einen als Regeln zu begreifen, welche die Bildung einer Hypothese anleiten, zum anderen als Gestalten, die selbst dem Begriff (dem Konzept) durch ihre regelhafte Anleitung eine Form geben, die dem Begriff ›Wildschwein‹ ein ›Bild‹ verschaffen. Dies führt zu den Querbezügen der Semiotik mit dem Schema bei Kant.

3.2 Ikonizität, Schema und Diagramm In Kant und das Schnabeltier rekonstruiert Umberto Eco das Problem des Schematismus auf luzide Art.118 Dazu geht er von der Wahrnehmung eines Objektes aus, das zum ersten Mal in die Wahrnehmung fällt bzw. für das noch keine Begriffe vorhanden sind.119 Eco verbindet die Schematismus-Diskussion also mit dem Problem des Neuen und Neuartigen. Dies führt zur Frage nach der Kreativität, die mobilisiert werden muss, um mit derartigen Wahrnehmungen umzugehen. Das Problem des Neuen ist verbunden mit dem Moment der Überraschung und der daraus zwingend folgenden Notwendigkeit, für diese Überraschung per Abduktion eine erklärende Regel im Zustand einer Hypothese zu finden, die dann deduktiv expliziert und induktiv geprüft werden kann. Solche Probleme des Neuen und Neuartigen ergeben sich in von Eco idealisierten Erstkontaktsituationen wie denen von Siedlern in Australien mit dem Schnabeltier, der Azteken mit den Pferden der spanischen Konquistadoren oder auch in Marco Polos Konfrontation mit einem Nashorn. Ein zur Gewohnheit geronnenes Deutungsschema der Wahrnehmung gerät angesichts erklärungsbedürftiger Sachverhalte an seine Grenzen und muss verändert werden. Sedimentierte Überzeugungen und objektive Zweifel prallen aufeinander. Dies lässt die Erwartungs- und Bewertungsmuster in den scheiternden Klassifikationen problematisch werden. Einer der kreativen Mechanismen, der in solchen Fällen zur Bewältigung zum Einsatz kommt, ist die Metapher. So wurde, Eco zufolge, das Schnabeltier zu einem ›Wassermaulwurf‹ erklärt und aus dem Nashorn wurde ein ›schwarzes Einhorn‹. Metaphern wie diese sagen und zeigen etwas über die schematisierenden Mechanismen der Wahrnehmung. Die Frage, die Eco stellt, ist die, was »Marco Polo gesehen [hat], ehe er sagte, er habe Einhörner gesehen?«.120 Eco fragt nach einem Konzept für das Nashorn im Sehen selbst. Eco betont, dass dieses ›Sehen‹ für die Gesamtheit der Wahrnehmung (taktil, thermisch, auditiv etc.) steht – also auch als ›Sehen‹ vor dem geistigen Auge, als kognitives Konzept, verstanden werden soll. Diese Erweiterung von Eco wird der Tatsache gerecht, dass die Wahrnehmung mehr ist als die visuelle Wahrnehmung. 117 Vgl. auch Määttänen 2015, S. 42ff. 118 Vgl. die Rezeption von Ecos Kant und das Schnabeltier bei Gasperoni 2016. Gasperoni interessiert sich allerdings vorrangig für Ecos Kant-Lektüre und nur indirekt für die Implikationen von Ecos Ausdeutung der Verbindung von Kant zu Peirce. 119 Vgl. auch Stjernfelt 2007, S. 66ff. 120 Eco 2000, S. 76.

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3.2.1 Diagrammskelette — Zum Verhältnis von Schema und Diagramm In der Wahrnehmung kommt es zu einer »Zuweisung von Bedeutung an das Unbekannte«, also in Marco Polos Fall an das Nashorn. Durch diese Zuweisung entwickelt sich das Sehen zu einem Sagen, einem Sagen, das irritiert feststellen muss, dass dieses Einhorn schwarz und nicht weiß ist.121 Eco bemerkt, dass die Zuweisung von Bedeutung an das Unbekannte nicht beliebig vorgenommen worden sein kann, sondern dass das Nashorn »im Ausgang von einem Entwurf, einem Diagrammskelett, einem Umriß, sagen wir ruhig einer ›Idee‹«122 von Marco Polo mit der Metapher des schwarzen Einhorns erklärt wurde. Die Formulierung des »Diagrammskeletts« übernimmt Eco von Peirce. Eco setzt dieses Diagrammskelett mit der »Idee« in Verbindung. Auch Peirce spricht von einer »Art von Idee« als äquivalentem Begriff zum ›Ground‹ des Zeichens. Bei diesem Ground handelt es sich um das Vorfeld der Bildung des unmittelbaren Objektes durch das Repräsentamen.123 Der Ground des Zeichens ermöglicht durch ein ›Absehen-von‹ (Peirce nennt das »prescision«) die Selektion von durch das Repräsentamen verkörperten Qualitäten, z.B. ›schwarz‹ (aber nicht ›f lüssig‹) in der Wahrnehmung von Tinte.124 »Der Ground […] ist ein ›initialer‹ Modus, das Objekt in einer bestimmten Hinsicht zu betrachten«,125 also der Übergang von (extrasemiotischem) dynamischem Objekt in das (intrasemiotische) unmittelbare Objekt. Eco führt dafür das Diagrammskelett an, das hier naturgemäß interessant ist, weil es als Metapher verrät, dass die Diagrammatik mit dem Schematismus Kants verbunden ist. So schreibt Peirce z.B. in den Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus von 1906: »Und so bilden das ikonische Diagramm und sein anfänglicher Interpretant zusammengenommen das, was wir, ohne Kants Begriff zu sehr zu verzerren, ein Schema nennen werden, was einerseits ein beobachtbares Objekt ist, während es andererseits allgemein ist.«126 Schon an dieser Stelle ist ersichtlich, dass Peirce durch die semiotische Anlage seiner Theorie das Problem des Schemas hin zu einer semiotischen Form verschiebt. Eco betrachtet den Peirce’schen Rückgriff auf den Schematismus bei Kant als ein »Forschungsprogramm«, welches Peirce in seiner Philosophie sein Leben lang verfolgt habe.127 Angesichts des Theoriezusammenhangs, in dem das Schema eine Rolle spielt, also der Übergang vom dynamischen Objekt zu einem von einem Repräsentamen repräsentierten unmittelbaren Objekt – und somit dem Eintritt des Objekts in den Prozess der Konstitution von Bedeutung –, ist diese Einschätzung mehr als berechtigt. Im Schematismus ist eine »implizite Semiotik« (Umberto Eco) enthalten, die Peirce aufgegriffen hat.128 Peirce schreibt: »His [Kants, C.E.] doctrine of the schemata can only have been an afterthought, an addition to his system after it was substantially complete. For if the schemata had been considered early enough, they would have 121 Vgl. Eco 2000, S. 76. 122 Eco 2000, S. 76. Vgl. Peirce 1994, CP 2.148; Roesler 1999a, S. 127. 123 Vgl. Eco 2000, S. 76. 124 Vgl. Eco 2000, S. 77. 125 Eco 2000, S. 79. 126 Peirce 1998b, S. 321. Vgl. auch Peirce 1976a/IV, S. 318. 127 Vgl. Eco 2000, S. 77ff., hier S. 82. 128 Vgl. zum historischen Kontext der Diagrammatik auch Bauer 2005b, S. 51ff.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

overgrown his whole work.«129 Dieser Entwicklungslinie in Peirces Denken zu folgen, ist allerdings nicht ohne Risiko, denn Peirces These ist äußerst allgemein gefasst. Sie besagt, dass alle Zeichenprozesse eine schematische und dann auch diagrammatische Seite haben. Dieser Gedanke lässt sich auch zur Begründung einer Diagrammatik aufgreifen.130 Das Diagramm wird in solchen Positionen als kognitives Schema aufgefasst. Man kann sich streiten, ob es das ist, was Peirce will.131 Allerdings gibt es auch relativierende Kontexte bei Peirce selbst, die man der Metapher des Diagrammskeletts, die Peirce verwendet, entnehmen kann. So spricht Peirce – und Eco übernimmt diese Formulierung – öfter von »schemata or imaginary skeleton diagrams«.132 Nimmt man es genau, dann ist diese Formulierung eine Metapher: Das Schema ist als ›Skelett‹ eines Diagramms etwas, das als ein Diagramm angesehen werden kann. Das Schema kann also in eine metaphorische Relation zu einem Diagramm gerückt werden, ist dann aber mit einer bestimmten Gruppe von ›Diagrammen‹, nämlich denen, die sich auf die Imagination beziehen, nicht zwangsläufig identisch.133 Diese Position deutet auch Eco an, wenn er die Ineinssetzung von Schema und Diagramm kommentiert: »[…] [Peirce, C.E.] [sagt] ohne zu zögern, das Schema Kants sei ein Diagramm; aber das bleibt abstrakt, denn er redet hier im Rahmen einer modalen Logik, in Zusammenhang mit den Postulaten des empirischen Denkens im allgemeinen.«134 Die Einschränkung soll nicht überspielen, dass Peirce den der Schematismus semiotisch umformulieren will.135 Dementsprechend verwendet auch Eco in seiner eigenen Theorie das Diagramm als mit dem Schema vergleichbaren Begriff. Aus dem Peirce’schen »Diagrammskelett« bzw. »Skelett-Diagramm« wird bei Eco ein »Struktur-Diagramm«.136 Dennoch kann im Seitenblick auf Eco auf die schwierige Grenze zwischen der These, dass Schema müsse man sich wie ein Diagramm vorstellen (Analogie zwischen Schema als kognitivem Begriff und dem Diagramm) und der These, dass das Schema ein Diagramm ist (Identifikation zwischen Schema und semiotischem Begriff von Diagramm) hingewiesen werden. Wenngleich klar ist, dass Peirce die starke These anstrebt,137 das Schema also ein Diagramm ist, darf man die Friktionen dieser These nicht außer Acht lassen. Insbesondere ergibt sich ein Problem dann, wenn implizite ›Diagramme‹, die semiotisch in 129 Peirce 1994, CP 1.35. Vgl. Hoffmann 2005, S. 7f., Eco 2000, S. 82, S. 118f.; Reichert 2013, S. 30ff. 130 Vgl. Bauer/Ernst 2010. 131 Peirce begreift das Diagramm als token und somit als medial ›verkörperte‹ Form. Zu Recht daran erinnert hat daran zuletzt Wentz 2017, S. 227f. 132 Peirce 1994, CP 2.148. Vgl. auch Roesler 1999a, S. 127. Vgl. hier zudem Peirce 1994, CP 2.778. Die Stelle ist für Ansätze interessant, die einen weit gefassten Diagrammbegriff vertreten. Vgl. etwa Putzo 2014a, S. 428ff. 133 Vgl. etwa auch Peirce 1994, CP 7.426. 134 Eco 2000, S. 82. 135 Vgl. mit berechtigter Kritik an der »mentalistischen« Sicht in Bauer/Ernst 2010 die Ausführungen in Wentz 2017, S. 221ff. Die Lage stellt sich allerdings anders da, wenn die Rolle der Kognition im Prozess der Konstitution von Bedeutung unter Einschluss einer ›Embodiment‹-Perspektive gedacht wird. Überdies darf man nicht verkennen, dass es schon im Kant’schen Schematismus, wie zuletzt Gasperoni 2016 gezeigt hat, um »Versinnlichung« geht. 136 Vgl. u.a. Eco 2000, S. 104f. 137 Was nicht heißt, dass sie ihm überzeugend gelingt.

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Wahrnehmungsvollzügen gegeben sein sollen, diese aber dann begriff lich mit dem Gebrauch von Diagrammen gleichgesetzt werden, zumal in explizierenden Praktiken. Dann kann man fragen, inwiefern die Ebene des Eintritts in die Semiose, in der ein Diagramm wirksam sein soll, als dieses ›Diagramm‹ in einer metaphorischen Relation zum Schema steht.138

3.2.2 Vorstellendes Begreifen und die Konstruktion eines Schemas An Metaphern wie denen des Wassermaulwurfs und oder des schwarzen Einhorns knüpfen sich eine Reihe von philosophischen Fragen. Der Wassermaulwurf und das schwarze Einhorn sind Metaphern, die aufgrund jenes schematischen Struktur-Diagramms gebildet wurden. Solche Metaphern sind Leistungen der Einbildungskraft, der Imagination. Die Einbildungskraft ist das Vermögen, das bei Kant das Schema hervorbringt. Anknüpfend an Wilfrid Sellars, referiert Eco zwei Typen von Vorstellung, die durch die Einbildungskraft produziert werden. Sellars unterscheidet ein Vorstellen als Fantasie, die verwendet wird, wenn man sich einen Stein vorstellt, mit dem man eine Nuss knackt. Für diese Fantasie braucht man keine Sinne. Sellars nennt das imagining. Dies ist abzugrenzen von einem Vorstellen, das auf einem Wissen beruht, über das man verfügt, wenn man einen Stein sieht und in diesem Sehen weiß, dass der Stein hart ist. Dieses zweite Vorstellen, das ein Wissen um die Möglichkeiten des Steins (quasi seine ›Bewandtnis‹) einschließt, nennt Sellars imaging.139 Eco zufolge ist dieser zweite Begriff von Vorstellen, also das imaging, der wichtigere Begriff. Das imaging ist keine geistige Reproduktion eines schon erinnerten Bildes des Steins. Vielmehr geht es aus einem praktischen Zusammenspiel aus Wahrnehmung, Überzeugung und Handlung hervor. Unter das imaging fallen geistige Vorstellungen, die auf konkrete Objekte im Feld des Sichtbaren bezogen werden und die nicht ohne Rekurs auf Praktiken eines ›ich stelle mir vor‹ im Sinne des »Konstruierens einer Figur« oder des »Zeichnens eines Strukturschemas« erklärt werden können.140 Imaging ist ein »Vorstellen, um zu begreifen«, ein »vorstellende[s] Begreifen«.141 Dieses vorstellende Begreifen benötigt einen direkten Bezug zur Handlungspraxis und verweist auf ein implizites Wissen.142 Wird es vollzogen, kann es zu einem Gedankenexperiment anregen.143 Eco stellt in An138 Dieses Verhältnis entspricht dem einer reflexiven Interpretation, die an eine präexistente Interpretation anschließt. Vgl. Hoffmann 2005, S. 194 unter Bezug auf Hintikka 1997. 139 Vgl. Eco 2000, S. 97ff. Ich bin auf diesen Theoriekontext auch in Ernst 2020a eingegangen. 140 Eco 2000, S. 98. 141 Eco 2000, S. 98. 142 Der Begriff des »imaging« lässt sich in eine Linie mit Robert Brandoms praktischen Fähigkeiten, die kognitiv im weitesten Sinn sind, stellen ( Kap. 2.1.2). Brandoms Denken ist von Sellars geprägt. Vgl. etwa Brandom 2011b, S. 83ff. Vgl. zur Relevanz von implizitem Wissen anhand geometrischer Konstruktionspraktiken Krämer 2016, S. 279f. 143 Dies ist für die Diagrammatik ein wichtiger Aspekt. Vgl. Stjernfelt 2007, S. 99ff. Vgl. mit Blick auf Merlin Donalds Arbeiten auch die ähnlich gelagerte Debatte um die Bedeutung einer »›kinematic imagination‹« für das mimetische Handeln bei Määtänen 2015, S. 46ff. ( Kap. 5.2). Diese Leistung der Einbildungskraft ist die Grundlage für weiterführende Vorstellungen über mögliche Handlungsszenarien.

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lehnung an Peirce deshalb fest, dass im imaging, im vorstellenden Begreifen, der Stein in seinen »dynamischen Möglichkeiten«144 ref lektiert wird, also jenen Möglichkeiten, die der Realität des dynamischen Objektes entspringen. Dies führt zurück zum Schematismus. Das Grundproblem, auf welches der Schematismus antwortet, besteht darin, wie das Anschaulich-Phänomenale unter das Begriff lich-Konzeptuelle gebracht werden kann.145 Das Schema ermöglicht es darüber hinaus, in dem, was man als Objekt mit einer Form vor sich sieht, z.B. eine Pyramide, die Gestalt eines idealen Dreiecks zu erkennen und so die Form und überdies ideale Eigenschaften des Dreiecks in der Form abzuleiten.146 Zur Verfügung gestellt wird das Schema durch die Einbildungskraft unter Rückgriff auf ein Wissen um die Möglichkeiten des Objektes.147 Wie bereits angedeutet, vermittelt das Schema für Kant zwischen Anschaulich-Phänomenalem und Begriff lich-Konzeptuellem, also zwischen den Anschauungen und den Verstandesbegriffen. Das Schema ist das Dritte zwischen beiden und als solches eine der Bedingungen von Erkenntnis ( Kap. 2.1.1).148 Der Prozess des vorstellenden Begreifens wird in diesem Kontext deutlicher, wenn man abstrakte Entitäten betrachtet, also nicht konkrete Gestalten wie einen Stein. Ein berühmtes Beispiel von Kant sind die fünf Punkte ›….‹.149 Wenn man diese Form sieht, dann ist es schwierig, sich die Größe ›tausend‹ vorzustellen. In diesem Fall ruft das Schema nicht einfach reproduktiv eine bekannte Form (wie beim Stein) ab, sondern wird produktiv in dem Sinn, dass es ein Bild dieser ›tausend‹ Punkte, also der Quantität produziert. Als ›Struktur-Diagramm‹ hat dieses Schema eine diagrammatische Gestalt, ist aber, wie Kant betont, dennoch kein Bild, sondern »die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge (z. E. tausend) in einem Bilde vorzustellen«.150 Das Schema ist eine konkrete schematische Gestalt und eine Konstruktionsanleitung im Status einer Regel – es ist, zugespitzt gesagt, zugleich eine regelhafte Gestalt und die Gestalt einer Regel. Wenn man vier Zahnstocher vor sich liegen hat, dann reicht diese Verbindung von Gestalt und Regel, um zu erkennen, dass man nur drei Zahnstocher benötigt, um ein zweidimensionales Dreieck zu formen. In der Variation des Schemas, also einer Variation von Möglichkeiten im Modus des ›als-ob‹, kann man dann aber auch ableiten, dass der vierte Zahnstocher dazu dienen kann, dreidimensional eine Pyramide zu bauen.151 Weiß man es nicht, dann kann das Gedankenexperiment durch ein manipulierendes Arrangieren der Zahnstocher auf dem Tisch unterstützt werden, also durch ein Trial- and Error-Verfahren, in dem das imaging mit einer praktischen Handlung verknüpft ist.152 144 Eco 2000, S. 98. 145 Vgl. zum Schematismus bei Kant im Vergleich mit Peirce auch Stjernfelt 2000, S. 342ff., S. 352ff. 146 Vgl. Kant 2002, S. 216f. (B 179-180); Eco 2000, S. 101. 147 Vgl. Eco 2000, S. 98f. Vgl. ausführlich dazu Krämer 2016, S. 268ff. 148 Vgl. die kanonischen Stellen bei Kant 2002, S. 213ff. (B 176-186). Vgl. erläuternd u.a. Stjernfelt 2000, S. 342ff.; Höffe 2007, S. 107ff. Vgl. vertiefend Krämer 2016, S. 250ff. 149 Vgl. Kant 2002, S. 215f., B 178-179. 150 Kant 2002, S. 216, B 179. 151 Ich variiere hier das Beispiel von Eco 2000, S. 101. 152 In diesem Kontext ist die Interpretation des Schematismus-Kapitels von Sybille Krämer (2016, S. 265f.) interessant, begreift sie den Schematismus doch als eine »gegenständliche Erkenntnis«, in dem eine implizit und praktisch erschlossene Strukturiertheit der Welt bereits vorausgesetzt wird.

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Betrachtet man dies im Kontext der Kant’schen Philosophie, dann erweist sich die Analogie des Schemas zum Diagramm nach Eco als besonders tragfähig, wenn man die für das Schema typische Verbindung von Gestalt und Regel als ein »Flußdiagramm« auffasst, mit dem ein Computer nach der Regel »IF … then GO TO« denken kann:153 »Das Diagramm hat etwas, das in räumlichen Begriffen angeschaut werden kann, gleichzeitig aber basiert es auf einem zeitlichen Ablauf (dem Fluß), eben in dem Sinn, […] daß die Schemata auf der Zeit basieren.«154 Gestalt und Regel des Schemas sind in einer temporalisierten Form aufeinander bezogen, was bedeutet, dass die Regel in der Gestalt als eine Bewegung der Gestalt nachvollzogen werden kann.155 Diese Position, die sowohl den Rückbezug zur regelhaften Schematizität von praktischen Gewohnheiten herstellt als auch auf die Definition des Diagramms als eines »bewegten Bildes des Denkens« hinführt ( Kap. 3.3.3), zeigt, dass mit dem Schema stets eine in-Bewegung-setzende Praxis verbunden ist: »Kant weist uns darauf hin, daß wir keine Linie denken können, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Kreis, ohne ihn zu beschreiben (um dies zu tun, muß ich also wohl eine Regel haben, die mir sagt, daß alle Punkte der Linie, die der Kreis beschreibt, gleich weit vom Mittelpunkt entfernt sein müssen). […] Man beachte, daß sich an diesem Punkt, was wir anfänglich als Kants implizite Semiotik definierten, radikal verändert hat, denn Denken ist nun nicht nur das Anwenden reiner Begriffe, die aus einer vorhergehenden Verbalisierung stammen, sondern das Arbeiten mit diagrammatischen Vorstellungen.« 156 Die synthetisierende Konzeptualisierung, die das Schema leistet, erfolgt als verräumlichte, sinnlich-visuelle Operation.157 Nicht nur führt das Schema das Anschaulich-Phänomenale und das Begriff lich-Konzeptuelle zusammen. Das Schema vermittelt zwischen dem ›Analogen‹ des ›Bildes‹ und dem ›Digitalen‹ des ›Begriffes‹ ( Kap. 5.4.2).158 Das ist ein Ausgriff in die Medialität bildlicher und sprachlicher Darstellungssysteme. Er macht das Schema als eine Form fassbar, deren semantischer Wert im Übergang in die praktische Veräußerlichung liegt. Im Schematismus findet sich daher die Präfiguration einer Medienästhetik, die mit Peirce dergestalt in initialer Form semiotisch begründet werden kann, dass sie von einer »nicht-sprachzentrierten Semiotik« her entwickelt wird.159 Ecos Hinweis auf die Verbindung zwischen der Wahrnehmung und seiner Einschätzung von Denken als einem Arbeiten mit diagrammatischen Vorstellungen ist dabei sehr gewichtig. Eco spricht an dieser Stelle von der Wahrnehmung an sich, also unter Einschluss aller Wahrnehmungsmodalitäten (visuell, auditiv, haptisch, olfaktorisch etc.). Wenn man die Argumentation Ecos auf die visuelle Wahrnehmung 153 Vgl. Eco 2000, S. 101. Bei Sybille Krämer (2016, S. 261) heißt es analog: »Das ist Schema ist – modern ausgedrückt – das Programm für eine ›verzeichnende‹ Handlung.« 154 Eco 2000, S. 101. 155 Vgl. zur Zeitlichkeit der Schemata und ihrem Zusammenhang mit dem Gedanken der Synthesis Krämer 2016, S. 248f., 258ff. Vgl. zu dieser Stelle bei Eco auch Gasperoni 2016, S. 123ff., hier insb. S. 126f. 156 Eco 2000, S. 101f. Hervorh. C.E. 157 Vgl. Eco 2000, S. 102f. 158 Vgl. aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive auch Pinker 2014, S. 202ff., insb. S. 206. 159 Vgl. Gasperoni 2016, S. 126f., hier S. 127, zur Medialität S. 332ff. Vgl. auch Jäger 2009.

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einschränkt, dann steckt in dem Argument Ecos, dass das Denken ein Arbeiten in diagrammatischen Vorstellungen ist, nichts weniger als ein Plädoyer für eine eigenständige und von der Sprache differenzierte, explizitmachende Erkenntniskraft des Sehens, also ein Plädoyer für eine Verbindung von Sehen und Denken unter Bedingungen einer ausagierten und verkörperten, praktischen Fähigkeit.160 Das Schema, dies folgt schon aus dem Beispiel mit dem Zahnstocher, ist nicht zwingend nur zweidimensional, sondern, wie auch Eco im Anschluss an die Kognitionswissenschaft darlegt, ein »3D-Modell«.161 Eco trifft in diesem Zusammenhang die, meines Erachtens gewichtige, Beobachtung, dass Peirce die Frage, welche Gestalt das Schema hat, nie vollständig auf löst. Neben dem Diagramm bringt Eco alternativ die ›Szene‹ ins Spiel.162 Da jedoch auch Eco bei der Wahl seiner Beispiele zu einer Begrenzung auf die visuelle Wahrnehmung tendiert, führt ihn dieser Sachverhalt bei Anlass der Frage, wie erklärt werden kann, dass man einen Menschen erkennt, zu folgender Feststellung: »Beim Wahrnehmungsurteil wird das 3D-Modell auf das Mannigfaltige der Erfahrung angewendet und x als Mensch und nicht als Hund erkannt. Woraus man schließen kann, daß ein Wahrnehmungsurteil nicht unbedingt auf eine verbale Feststellung zu reduzieren ist. Denn es beruht auf der Anwendung eine Struktur-Diagramms auf das Mannigfaltige der Sinnesempfindungen.« 163 Im vorstellenden Begreifen gibt es also eine Art erkennenden Sehens,164 in dem eine Verbindung von Denken und visueller Wahrnehmung etabliert wird; vorstellendes Begreifen ist erkennendes Sehen. Was aber sieht dieses erkennende Sehen? Wenn im Schematismus ein diagrammatisches »Verfahren, eine Arbeit, ein Konstruieren«165 stattfindet, dann ist dieser Prozess – nach Eco – so lange eine unproblematische Angelegenheit, solange es um Begriffe des reinen Verstandes geht, etwa um ein Schema geometrischer Figuren, das aus der Anschauung des Raumes abgleitet werden kann.166 Erklärungsbedürftig wird das Ganze, wenn es um Objekte geht, die kulturell erworben werden, wenn z.B. ein Hund (und kein Wolf oder ähnliches) gesehen wird. Kant gerät bei diesen Schemata der empirischen Begriffe in eine Sackgasse: »Ich kann das Schema des Hundes nicht aus den Erfahrungsdaten abstrahieren, denn diese werden denkbar gerade durch die Anwendung des Schemas.«167 In Kant und das Schnabeltier verfolgt Eco dieses Problem am Beispiel von Kants Versuchen, in den Texten, die nach der Kritik der reinen Vernunf t entstanden sind, diesem Dilemma zu entgehen. Eco argumentiert, dass die bei Kant entwickelte Lehre des Schematismus empirischer Begriffe, also von Begriffen wie denen für den Hund, einerseits den Aspekt der kulturellen Konstruktion der Schemata stärker werden lässt und andererseits ebendiese Konstruktion ihren Testfall bei Gegenständen findet, die 160 Ausgearbeitet wird dieses Argument bei Pape 1997. 161 Eco 2000, S. 104. 162 Vgl. die Wiederaufnahme der Diskussion des 3D-Modells bei Eco 2000, S. 140. 163 Eco 2000, S. 104. Vgl. hier auch die Weiterführung dieses Gedankens bei Ernst/Schröter 2015. 164 Vgl. dazu ausführlich Krämer 2009. 165 Eco 2000, S. 103. 166 Vgl. Eco 2000, S. 103ff., hier S. 107. 167 Eco 2000, S. 107.

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der Wahrnehmung nicht vertraut sind.168 Durch diese Betrachtungsweise treibt Eco das Problem des Schematismus in die Arme von Peirce und dessen Annahme, dass die Beurteilung von Wahrnehmungsempfindungen auf Schlussfolgerungsprozessen beruht, in denen Hypothesen gebildet werden.169 Eco geht sogar so weit, zu behaupten, dass Kants Transzendentalphilosophie am Beispiel des Schematismus der empirischen Begriffe ihre »kopernikanische Wende« erlebt, weil die »[…] Gewähr dafür, daß unsere Hypothesen ›richtig‹ (oder bis zum Beweis des Gegenteils zumindest akzeptabel) sind, […] jetzt nicht mehr im a priori des reinen Verstandes gesucht [werden] (obwohl seine abstraktesten logischen Formen beibehalten werden), sondern im Konsens der Gemeinschaft, der selber geschichtlich, progressiv, zeitlich ist.« 170 Der Mangel an etablierten Konzepten, Erklärungen für das Schnabeltier und das Nashorn zu finden, verlangt nach kühnen Schlussfolgerungen. Mit Kant via Eco gesagt, setzt dies die ref lektierende Urteilskraft, die solches leisten soll, unter Druck.171 Dabei kann die Einbildungskraft im Moment der Wahrnehmung des Objektes und der Ref lexion, um was für ein Objekt es sich handelt, ihre Stärke ausspielen, indem sie das Schnabeltier so betrachtet, als ob es ein Maulwurf wäre, der im Wasser lebt.172 Diese Als-Ob-Setzung kennzeichnet alles kontrafaktuale Möglichkeitsdenken und ist eng mit einem Begriff metaphorischer Inferenzen verbunden ( Kap. 5.3).173 Die Wahrnehmungssituation nähert sich im Fall des Schnabeltiers und des Nashorns einer Handlungskrise im Peirce’schen Sinne an: Zuerst hat man aus Gewohnheit ein Wahrnehmungsurteil gefällt, aber dann bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Der Erkenntnisprozess kippt vom automatischen und unbewussten Wahrnehmen in das explizite Nachdenken: Die Schemata werden nicht einfach automatisch reproduziert, sondern bewusst konstruiert und ausprobiert. Etwas im Modus des ›Als ob‹ zu beobachten, bedeutet, etwas zu versuchen, es bedeutet also zu experimentieren und Möglichkeiten zu evaluieren.174 Wenn man einen kognitiven Metaphernbegriff verwendet und die sprachlich vermittelte, rhetorische Metapher vom Wassermaulwurf als Oberf lächenphänomen eines metaphorischen Erkenntnisprinzips auf Ebene des Wahrnehmungsurteils (also der semantischen Strukturierung des Schemas) ansetzt ( Kap. 5.1), dann ist die Metapher vom Wassermaulwurf im Denkprozesses bereits kognitiv als Erklärungsmodell für das seltsame Tier eingesprungen, bleibt aber auf ihrer diskursiven Seite, also als materielle Äußerung, abhängig vom semiotischen Anspruch an die Geltungsbedingungen einer kulturellen Erkenntnispraxis (und darin womöglich einer ungenügenden Erklärung). Während die Erklärung dem Siedler, der sich ob des Wassermaul168 Vgl. Gasperoni 2016, S. 102ff. Vgl. auch Krämer 2016, S. 250ff., dort mit umgekehrter Argumentationsrichtung, also in Abwendung von einer »zeichenvermittelten Erkenntnistheorie«. 169 Vgl. Eco 2000, S. 108. 170 Eco 2000, S. 118. 171 Vgl. Eco 2000, S. 109f. 172 Vgl. auch Eco 2000, S. 111ff., insb. S. 116. 173 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 58ff. 174 Vgl. Eco 2000, S. 117.

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wurfs verwundert die Augen reibt, genügen mag, erfüllt sie nicht die Ansprüche einer Naturforscherin, die nicht versteht, in welche Taxonomie das Tier passt. Das ändert aber nichts daran, dass der Siedler und die Naturforscherin beide ›Investigators‹ sind. Ihr jeweiliger durch praktische Absichten und die soziale Rolle bestimmter Anspruch an die Erklärungskraft des Begriffs und an die Methoden seiner Absicherung ist jedoch ein anderer: Während der Siedler an dem ungewöhnlichen Tier vorbeigehen und es bei nächster Gelegenheit berichten wird, wird die Naturforscherin sich der zoologischen Herausforderung stellen. Dann wird er darauf stoßen, dass das Schnabeltier nicht nur etwas Neues, sondern etwas kategorial Neuartiges ist.175 Ein ›Neues‹ wäre es, wenn es sich um die Erstbeobachtung von so etwas wie einem Großkatzenhybrid zwischen Löwe und Tiger (Liger, Töwe), bei dem aber die jeweiligen Teile bekannt sind, gehandelt hätte. Beim Schnabeltier, das etwas Neuartiges ist, stehen die Kategorien dagegen auf dem Kopf und es hat einige Zeit gedauert, bis man sich dieses eierlegende Säugetier erklären konnte. Die Schlussfolgerungen, die vom Siedler und vom Naturforscher eingesetzt werden und sich in Metaphern entäußern, sind Abduktionen. Wenn die Verwirrung wie beim Schnabeltier eine kategoriale ist, entsteht sie im »vagen und sumpfigen Bereich«176 eines Wahrnehmungsprozesses, in dem von Sinnesempfindungen zu einem Wahrnehmungsinhalt (Perzept) und einem Wahrnehmungsurteil übergegangen wird.

3.2.3 Die Reflexivität der Wahrnehmung und der Weg zur Diagrammatik Peirce begreift den Wahrnehmungsprozess als ein unbewusstes, kontinuierliches, abduktives Schließen.177 Die Frage, wann im Wahrnehmungsprozess das (diagrammatische) Schema konstruiert wird, wird von ihm im Rahmen einer komplexen Differenzierung zwischen reinem Ikon und Hypoikon beantwortet. Wie Eco aufzeigt, läuft diese Differenzierung bei Peirce darauf hinaus, dass der Begriff des »grounds« als »Diagrammskelett« relativ auf die Hypoikone bezogen wird und mit der schlussfolgernden Operation des Vergleichens erklärt werden kann, wohingegen ein zweiter Begriff des ›grounds‹ als Ähnlichkeit (›likeness‹) für die puren Ikons verwendet wird, die als ›Ähnlichkeit‹ zwar nur unzureichend, aber zumindest prinzipiell als »mentales ›Bild‹«178 in der Wahrnehmung verstanden werden können. Das »Diagrammskelett« ist eine Metapher für das kulturell vermittelte Schema, das den Vollzug des Schemas in einem Wahrnehmungsurteil beschreibt. Dies entspricht Ecos eigenem Vereinbarungsrealismus. Eco folgt in seiner eigenen Wahrnehmungstheorie Peirce in der Absicht, eine semiotische Enttranszendentalisierung der Transzendentalphilosophie zu betreiben.179 Das ikonische Element in der Wahrnehmung wird in zwei funktionale Kontexte differenziert, die beide semiotisch 175 Vgl. zum Problem des ›neuen‹ Wissens hier auch umfassend Hoffmann 2005. Vgl. zum Problem des Neuen bei Peirce auch die Beiträge in Pape 1994. Diese Unterscheidung findet sich auch in der Phänomenologie, etwa bei Bernhard Waldenfels (1987). 176 Eco 2000, S. 136. 177 Vgl. Roesler 1999a. 178 Vgl. Eco 2000, S. 124f., hier S. 124. 179 Das heißt, Bedeutung ist nicht intern begründbar und auch nichts rein Mentales. Ich gehe auf Ecos eigene Theorie »kognitiver Typen« hier nicht näher ein. Mir geht es nur um seine Rekonstruktion von

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erfasst werden können, aber unterschiedliche Modalitäten der Wahrnehmung erfassen: Es gibt in der Wahrnehmung den ground im Sinne eines reinen Ikons, »das jedes mögliche Ähnlichkeitsurteil begründet, aber nicht von ihm begründet werden kann«180 und des Hypoikons, das ein »schon mit Gesetzen vermengte[s]« Phänomen ist.181 Durch das reine Ikon (bzw. die primäre Ikonizität) wird das Schema in der Wahrnehmung in ein reines »maybe«182 aufgelöst. Probleme, die über die Möglichkeit, dass es sich bei einer wahrgenommenen Form um etwas Reales oder nicht handelt, und die Frage, als was diese Form bestimmt ist, hinausgehen, werden auf die Hypoikons bezogen, welche die vollständig in einem Zeichen repräsentierten unmittelbaren Objekte sind.183 Die Ikonizität des unmittelbaren Objektes »wird schon beherrscht von Analogieabwägungen, von Proportionsbeziehungen, ist schon diagrammatisch und hypoikonisch«184, wie Eco feststellt. Das unmittelbare Objekt steht im Wahrnehmungsurteil unter der Regel eines diagrammatischen Schemas, weil es im Fall einer unbekannten Form neu konstruiert wird und so von der Art einer versuchsweise aufgestellten Hypothese ist oder aber als Objekt eines bereits bekannten Schemas abgerufen werden kann. Als Zeichen ist das Schema ein Sachverhalt der Öffentlichkeit und der Kultur. Es existiert nie nur als privates Schema, sondern gehört bereits der Gemeinschaft der ›Investigators‹ an, die alle etwas ähnliches sehen.185 Diese Feststellung hat Auswirkungen: Wenn das unmittelbare Objekt, folgt man Eco, eine vollständig als Hypoikon realisierte Triade ist, also ein Zeichen, dann muss das Zeichen als Zeichen erkannt werden können. Es muss also möglich sein, zwischen dem repräsentierenden Zeichen und dieser Repräsentation im Kontext ihres relationalen Wahrnehmungsprozesses zu differenzieren und sich dank dieser Differenz ref lexiv auf die Wahrnehmung zu beziehen.186 Dass die Differenzierung möglich ist, verdankt sich einer Veränderung der Präsenz des dynamischen Objektes qua der Präsentation durch das Medium des Repräsentamens, in welchem sich das Zeichen als Zeichen repräsentiert. Im Übergang der präsemiotischen Wahrnehmungsempfindung, Peirce nennt das »Perzept«, zu einem semiotischen Wahrnehmungsurteil – einen Übergang, den Peirce, wie Eco eindrücklich betont, als »etwas in Bewegung Befindliches«187 denkt, also als Prozess – findet eine Differenzierung in eine vergangene Wahrnehmung der Semiose im Vollzug ihrer Entwicklung und eine semiotische Wahrnehmung, in der ein Wahrnehmungsurteil repräsentiert ist, statt.188 Was sinnlich erfahrbar ist, wird in den Kategorien semiotiPeirce. Vgl. Eco 2000, S.  146ff. Eine Verteidigung der transzendentalphilosophischen Perspektive findet sich bei Gasperoni 2016. 180 Eco 2000, S. 124, vgl. auch S. 132f., wo Eco vom reinen Ikon als »einer bloßen Disposition […], in gewisser Weise einer bloßen Abwesenheit, als Bild von etwas, das noch nicht da ist«, spricht. 181 Eco 2000, S. 124. 182 Eco 2000, S. 135. 183 Vgl. Eco 2000, S. 135f. 184 Eco 2000, S. 138. 185 Vgl. Eco 2000, S. 139. 186 Vgl. die Darstellung dieser Zusammenhänge bei Wentz 2017, S. 56f. 187 Eco 2000, S. 136. 188 Das reine Ikon ist nur eine reine Möglichkeit im Sinne eines auf sich selbst bezogenen Sachverhaltes. Seine Auslegung erfolgt als Hypoikon, also in einem Wahrnehmungsurteil bzw. Inferenzprozess.

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scher Schemata hervorgebracht und geordnet, wobei die Bedeutung dieser Schemata über das körperliche Erfahrungswissen mitorganisiert werden. Dies führt zurück zur Differenzierung zwischen perzeptiver Diagrammatizität, Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe ( Kap. 2.2). Der Übergang von perzeptiver Diagrammatizität und Diagrammatisierung erster Stufe beginnt als eine Praxis des ›imaging‹ etwa im Rahmen metaphorischer Projektion, wenn etablierte (semiotische) Schemata so variiert werden, dass sie auf neue oder neuartige empirische Objekte wie das Schnabeltier angewendet werden. Als ein ›vorstellendes Begreifen‹ ist dieser Prozess eine Rekonfiguration von Schemata, um den metaphorischen Wahrnehmungsinhalt unter ein Urteil zu bringen. Dieses Sehen ist als Praxis eines ›Sehens‹ explizitmachend. Begreift man ›Ref lexion‹ als den auf sich selbst angewendeten, selbstkorrigierenden Prozess des Doubt-Belief-Schemas, dann ist es diese Praxis, die in der Diagrammatisierung zweiter Stufe unter selbstkontrollierten Bedingungen in einem Diagramm abläuft. Deshalb kann Diagrammatisierung zweiter Stufe auch eine ›Ref lexion‹ sein, die ihrerseits wieder zum Idealbild für die Diagrammatisierung erster Stufe wird. Auf einem anderen Weg kommt man somit zu der Peirce’schen Behauptung einer »Isomorphie zwischen Denken und Sehen«.189 Diagramme stehen in Relation zu einer impliziten Schematizität des Sehens als eine Form von semiotischer Diagrammatizität. Sie explizieren nicht das Sehen im Ganzen, sondern denjenigen Teil, in dem ein Schema konstruiert wird, in dem also bewusst und aufmerksam anhand einer konkreten Praxis über einen ›logischen‹ Zusammenhang nachgedacht wird. Dies kann man in eine bewusst zugespitzte Lesart der Peirce’schen Diagrammatik überführen. Diese Lesart ist zugespitzt, weil sie Peirces Reformulierung des Schemas durch den Begriff des Diagramms in der Sache zwar akzeptiert, also mit Blick auf seine angestrebte ›Entranszendentalisierung‹ des Schemas, aufgrund der Problematik, dass der Diagrammbegriff zu überdehnt werden droht, begriff lich aber am Schema für die impliziten Wahrnehmungsdiagramme festhält, also Schema und Diagramm aus heuristischen Gründen nicht in eins setzt. Peirce sagt, dass in der Konstruktion eines Diagramms, die an der Mathematik orientiert ist, ein Diagrammskelett qua Imagination vor das geistige Auge treten würde. Mit Blick auf Kant heißt es: »[…] even in algebra, the great purpose which the symbolism subserves is to bring a skeleton representation of the relations concerned in the problem before the mind’s eye in a schematic shape, which can be studied much as a geometrical figure is studied.«190 Die Frage die man mit Eco ergänzend stellen kann, ist, wie dies außerhalb der Mathematik, also in anderen semiotischen Kontexten und in allgemeineren, forschenden Wahrnehmungs-

Vgl. Eco 2000, S. 142. Deshalb warnt Eco, nicht den Fehler zu begehen, das reine Ikon als ›Bild‹ zu verstehen, ohne zu reflektieren, dass dies eine metaphorische Analogie ist, in der mit dem ›Bild‹ ein Begriff verwendet wird, der nur als Hypoikon gedacht werden kann. Vgl. Eco 2000, S. 137, hier in Bezug auf Peirce 1994, CP 7.619. Eco zufolge ist der Umstand, dass die Differenz zwischen reinem Ikon und Hypoikon nicht ausreichend beachtet wurde, eine der Ursachen für die Verwirrung in der Debatte um Ikonizität. Die Eigenschaften des reinen Ikons wurden in dieser Debatte auf die Eigenschaften des Hypoikons projiziert und umgekehrt. Vgl. Eco 2000, S. 386f. 189 Pape 1997, S. 387. 190 Vgl. etwa Peirce 1994, CP 3.556.

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praktiken zu denken ist und wie sich dies entlang der Differenz zwischen impliziten und expliziten Vollzügen der Wahrnehmung und des Denkens verhält.

3.3 Diagrammatisches Denken als reflexives Denken Peirce war bemüht, eine semiotische Begründung des Pragmatismus zu finden. Ein wichtiger späterer Text von Peirce zum Thema berührt den Zusammenhang bereits im Titel: Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus aus dem Jahr 1906.191 Dieses Projekt greift die Frage nach der Wahrnehmung auf. Peirce möchte klären, inwiefern Wahrnehmungsurteile allgemein sind.192 Von jeher mit einem Interesse an Wahrnehmung ausgestattet, gelangt er – wohl aufgrund seiner eigenen graphischen Praxis – zu der Idee, dass die logische Struktur der Wahrnehmung in Diagrammen expliziert und eine Begründung des Pragmatismus erreicht werden kann.193 Peirce geht davon aus, dass die Logik erfahrungsgebunden ist. Die abstrakten Sätze der Logik müssen sich anhand von Wahrnehmungen ausweisen lassen.194 Die Diagrammatik ist ein Teil des Versuches, die »Semiotik als eine objektive ›Logik geistiger Vorgänge‹«195 zu entwickeln. Sie verknüpft die Theorie eines semiotischen Bewusstseins (also Peirces Theorie des Geistes) mit der Ref lexion einer graphischen Praxis. Von dieser Praxis glaubt Peirce, dass sie ein Teil des Bewusstseins – das »Denkbewusstsein« – auf klären kann.196 Helmut Pape erläutert dazu, die Bestimmung des Diagramms aufgreifend: »Diese Semiotik des Geistes wird dann in eine graphische Logik (existential graphs) umgesetzt. Dadurch ist es möglich, sogar logische Beziehungen zwischen modalen Begriffen (die Unterscheidungen von Möglichkeit und Notwendigkeit erlauben) so darzustellen, daß sich »ein bewegtes Bild des Denkens« ergibt.197 Astrit Schmidt-Burkhardt bemerkt treffend: »Im Schaubild erhält der Innenraum des Denkens eine Außenseite«.198 Vor diesem Hintergrund entwickelt Peirce eine vielschichtige Diagrammatik, die aus mehreren Bestandteilen besteht. Sie enthält eine eigene graphische Logik, die Theorie der sogenannten Existenziellen Graphen, die eine Theorie der logischen Repräsentationsmöglichkeiten eines diagrammatischen Darstellungssystems ist, sich also auf Ebene dessen bewegt, was hier eine Diagrammatisierung zweiter Stufe genannt wird. Diese Theorie steht jedoch im Kontext über191 Vgl. Peirce 1906. 192 Vgl. Hoffmann 2005, S. 199. 193 Vgl. zu Peirces Skizzen und Vorformen der Existenziellen Graphen Meyer-Krahmer 2012; MeyerKrahmer/Halawa 2012 sowie die Beiträge in Engel/Queisner/Viola 2012. 194 Vgl. Pape 2002, S. 45. Als pragmatistischer Gedanke kehrt das bei Robert Brandom wieder, so etwa in der erweiterten Lesart des Begriffs der »materialen Inferenzen« ( Kap. 2.1.2). 195 Pape 2002, S. 189. 196 Eine Rekonstruktion dieses Ansatzes findet sich in Pape 1997, S. 378ff. Vgl. zum Begriff des »Denkbewusstseins« S. 444, Anm. 85. 197 Pape 2002, S. 189, das Zitat stammt aus Peirce 2000/3, S. 193. Alle Varianten dieser Formulierung werden bei Pietarinen 2003 mit Blick auf die Existenziellen Graphen diskutiert. Eine ähnlich gelagerte, wenngleich medienphilosophisch gewendete, Deutung der Formulierung findet sich bei Wentz 2017, S. 99ff. 198 Schmidt-Burkhardt 2012a, S. 51.

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greifender Überlegungen zum diagrammatischen Denken als einer Theorie vorstellenden Begreifens in der Semiose, also auf Ebene einer Diagrammatisierung erster Stufe. Im Folgenden konzentriere ich mich fast ausschließlich auf den übergreifenden Teil, also die Diagrammatisierung erster Stufe und ihre Rückbindungen an die Dimension perzeptiver Diagrammatizität. Weil es dabei um Wahrnehmung geht, geht es auch um die Rekonstruktion der Frage, welchen epistemischen und ästhetischen Wert Peirce dem Diagramm in seiner Theorie des diagrammatischen Denkens zuspricht. Eine Diskussion der logischen Potenziale der Existenziellen Graphen bleibt im Folgenden unbeachtet.199 Was hier speziell an Peirces Diagrammatik interessiert, sind die metaphorischen Implikationen, die sich aus der These ergeben, beim Diagramm handele es sich um ein ideales Bild des Denkens, also ein »bewegtes Bild des Denkens«. Das ist der Grundgedanke, der aus der Diagrammatik entnommen und in die medienwissenschaftliche Diskussion überführt werden soll. Es geht in diesem Kapitel darum, in einer Lektüre ausgewählter Stellen bei Peirce die Grundlagen dafür zu legen, die Diagrammatik so zu verstehen, dass das Diagramm als ein Medium der Explikation aufzufassen ist, das in einem nicht bruchlosen Zusammenhang mit Inferenzen in der Wahrnehmung gesehen werden kann. Als solches wird das Diagramm von Peirce metaphorisch als ideales Bild des Denkens angesehen, als ein bewegtes Denkbild, das ein Schlussprozess im visuellen Wahrnehmungsprozess und seinen Medien ist. Warum und wie aber kann das Diagramm von Peirce mit der Bedeutung eines eigenen ›diagrammatischen‹ Denkens aufgeladen werden?

3.3.1 Zur Struktur der Peirce’schen Diagrammatik Wichtige Voraussetzungen liegen in der Peirce’schen Wahrnehmungstheorie und ihren Verbindungen mit dem Kant’schen Schematismus. Es ist eines der Gründungszitate der Peirce’schen Diagrammatik, wenn er in On the Algebra of Logic. A Contribution to the Philosophy of Notation von 1885 schreibt:200 »Icons are so completely substituted for their objects as hardly to be distinguished from them. Such are the diagrams of geometry. A diagram, indeed, so far as it has a general signification, is not a pure icon; but in the middle part of our reasonings we forget that abstractness in great measure, and the diagram is for us the very thing.«201 199 Helmut Pape (2009, S.  414) hat die Beschäftigung mit den Existenziellen Graphen in Auseinandersetzung mit Frederik Stjernfelt (2007) zur Bedingung für eine gelingende ›Diagrammatologie‹ erklärt. Derartige Begründungsansprüche werden hier ausdrücklich nicht verfolgt, sondern nur Teilaspekte aus dieser grundlagentheoretischen Debatte aufgegriffen. Vgl. zu den Existenziellen Graphen u.a. Pape 1997, S. 407ff. Vgl. für die Logik vertiefend auch Moktefi/Shin 2013; Shin 2002; Shin 2012, in Richtung Bildtheorie und Kunstgeschichte auch den hervorragenden Aufsatz von Bogen 2012 sowie Wilharm 2015, S. 346ff. Eine umfassende Rekonstruktion der logischen Potenziale von Diagrammen, die als Kontextualisierung der logischen Potenziale der Existenziellen Graphen dienen kann, liefert Wöpking 2016. Einen (sehr) knappen Einblick in den bildtheoretischen Kontext gibt auch Drucker 2014, S. 114f. 200 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 112ff. 201 Peirce 1992, S. 226. Vgl. zu diesem Zitat auch die auf die Möglichkeit auch die medientheoretische Deutung bei Schäffner 2007, S. 318, bildwissenschaftlich auch Marrinan 2016.

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Peirce fährt fort, indem er einer Situation beschreibt, in welcher dieses Vergessen, dass das Diagramm (Hypoikon) nicht das eigentliche Ikon ist, sich ereignen kann: »So in contemplating a painting, there is a moment when we lose the consciousness that it is not the thing, the distinction of the real and the copy disappears, and it is for the moment a pure dream, – not any particular existence, and yet not general. At that moment we are contemplating an icon.«202 Was Peirce in diesem Zitat beschreibt, ist der zweistufige Prozess, der aus der Herleitung der Diagrammatik aus dem Schematismus bekannt ist: Peirce sagt, dass das Diagramm kein reines Ikon ist, dass es aber im Prozess des schlussfolgernden Umgangs mit dem Diagramm – als Hypoikon, also als diagrammatisches Darstellung –, zu einer Erfahrung kommen kann, welche einer Immersionserfahrung, die man bei einem Gemälde machen kann, ähnlich ist. Das Diagramm wird mit der Sache selbst verwechselt und folglich im Diagramm die Erfahrung der kontemplierenden Betrachtung eines Ikons gemacht. Peirce schreibt in Kategoriale Struktur und graphische Logik von 1903 zu dieser Beziehung: »Ein Ikon ist ein Repräsentamen, dessen besondere repräsentierende Wirkung von seinen Qualitäten als ein Subjekt von Qualitäten abhängt und unabhängig von der Existenz seines Objekts ist. So stellt die geometrische Gestalt eines Kreises einen mathematischen Kreis dar. Strenggenommen ist es jedoch nicht der Kreis auf dem Papier, sondern sein Vorstellungsbild im Bewusstsein, das ein Ikon ist.«203 Jener »imaginary moment«204, in dem im Diagramm, also einem Hypoikon, die Gestalt eines anschaulich gewordenen Schemas entsteht, kann auch für die Wahrnehmung von Bildern (und auch von anderen Zeichen) veranschlagt werden. Es ist ein Moment, der im Diagramm allerdings idealtypisch vorkommt. Das Diagramm bildet in seiner logischen Struktur nach Peirce eine Blaupause der schlussfolgernden Struktur in der Wahrnehmung, die für das Denken als »Beobachtung« (observation) äußerst wichtig ist: »[…] for reasoning consists in the observation that where certain relations subsist certain others are found, and it accordingly requires the exhibition of the relations reasoned with in an icon«.205 In der Konfiguration von Relationen liegt das Potenzial von Diagrammen, ein »bewegtes Bild des Denkens« zu liefern. Dieses Denkbild kann in eine Relation zum Prozess des Denkens treten. Die Diagrammatik klärt auf diese Weise über die Inferenzen der pragmatischen Relation von Wahrnehmung, Überzeugungen und Handlung auf, weil diese Struktur semiotisch (und im erweiterten Sinne logisch) verfasst ist und damit zur Begründung des Pragmatismus beitragen kann. Ausgehend von der Wahrnehmung und ihrer Schlussstruktur sieht dieser Prozess der Konstruktion und Ref lexion in einem Diagramm in einer simplifizierten Variante so aus ( Abb. 13).206 202 Peirce 1992, S. 226. Vgl. zu dieser Stelle auch Wentz 2017, S. 50f. 203 Peirce 2000/2, S. 113. 204 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 83ff., dazu Marrinan 2016, S. 27ff. 205 Peirce 1992, S. 227. 206 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 104, dort im Anschluss an May 1999, S. 186.

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Abb. 13: Variierte Form des diagrammatischen Schlussprozesses. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Stjernfelt, Frederik (2007): Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics, Dordrecht: Springer, S. 104.

1. Hypothese (Abduktion): Erklärung eines erklärungsbedürftigen Sachverhalts und Formulierung einer ersten Hypothese, die in einer unbewussten, kontinuierlichen, also impliziten abduktiven Wahrnehmung aufgestellt ist. 2. Konstruktion (Deduktion): Konstruktion eines materialiter realisierten Diagramms für diese Hypothese sowie Beobachtung des Diagramms und manipulierendes Experimentieren mit diesem Diagramm.207 2.1 Beobachtung: Analytische Beobachtung der im Diagramm gegebenen und erkannten Verhältnisse, die als eine deduktive Analyse im Rahmen der durch das Diagramm dargestellten Relationen vollzogen wird. 2.2 Manipulation: 2.2.1 Nachvollziehender Durchgang durch das Diagramm und Übergang zu einer Schlussfolgerung. 2.2.2 Nachvollziehender Durchgang durch das Diagramm, Veränderung des Ausgangsdesigns des Diagramms und erneutes schlussfolgerndes Durchlaufen des Diagramms. 3. Überprüfung (Induktion): Anwendung und Überprüfung der im und mit Hilfe des Diagramms gewonnenen Schlussfolgerung auf die Realität. Hierbei handelt es sich um das Grundkonzept des diagrammatischen Schließens. Man kann dieses Schaubild semiotisch präziser fassen,208 komplexer anlegen209 oder

207 Vgl. zur gegenüber der Abduktion und Induktion abgesetzten Stellung der Deduktion auch das Schaubild in Hoffmann 2005, S. 33. 208 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 104f. 209 Vgl. Hoffmann 2011a, S. 195.

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andere Schaubilder verwenden.210 Für die vorliegenden Zwecke reicht es aber aus. Was ist also die Bedeutung von Diagrammen?211

3.3.2 Evidenz — Diagramme als Ikons der Form von Relationen In den bereits erwähnten Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus von 1906,212 begrüßt Peirce den Leser mit den Worten: »Kommen Sie, mein Leser, wir wollen ein Diagramm konstruieren, um den allgemeinen Verlauf des Denkens zu veranschaulichen. Ich meine ein System der Diagrammatisierung, durch das jeder Verlauf des Denkens mit Genauigkeit dargestellt wird.«213 In den anschließenden Passagen vertritt Peirce diese Aufforderung, indem er ein fiktives sokratisches Gespräch mit einem General schildert, welcher kritisch nachfragt, warum dieses Diagrammatisieren denn notwendig sei. Der Ich-Erzähler fragt den General darauf hin, ob er nicht während seiner Feldzüge Landkarten verwenden würde und wenn ja, was der Vorteil dieser Verwendung in der Kriegsführung sei. Der General räumt ein, dass er selbstverständlich Landkarten verwende. Der Zweck einer Karte sei, so der General, Vorgänge zu erkennen und zu beurteilen, die hinter den (unsichtbaren) feindlichen Linien liegen würden. Der Erzähler entgegnet: »›Habe ich also recht, daß dann, wenn Sie durchgängig und vollkommen mit dem Land vertraut wären, wenn beispielsweise die Szenen Ihrer Kindheit sich gerade hier abgespielt hätten, keine Karte für Sie den geringsten Nutzen hätte, wenn Sie Ihre detaillierten Pläne entwickeln?« Das verneint der General unter Hinweis darauf, dass es darum bei den Karten nicht gehe. Karten ermöglichten ihm, »Markierungsnadeln [einzustecken, C.E.] […], um so die voraussichtlichen täglichen Veränderungen in den Stellungen der beiden Armeen zu markieren«.214 Der Erzähler kann jetzt feststellen: »Tatsächlich besteht genau darin, worauf Sie so klar hingewiesen haben, der Vorteil von Diagrammen im allgemeinen. Wenn ich nämlich die Sache einmal auf Ihre Art beschreibe, kann man mit einheitlichen Diagrammen genaue Experimente anstellen.«215 So weit Peirces Geschichte, und Peirce fährt fort, den Zustand näher zu beschreiben, in dem dies geschieht. Folgende Kriterien werden für dieses diagrammatische Experiment genannt: • im Experiment sei »mit erhöhter Wachsamkeit auf unbeabsichtigte Veränderungen [zu, C.E.] achten, die dabei in den Relationen der unterschiedlichen bedeu210 Vgl. Gerner 2010a, S.  177. Man könnte auch nach ähnlichen oder in der Aussage vergleichbaren Schaubildern Ausschau halten, so etwa der Darstellung der Logik kognitiver Landkarten bzw. räumlicher Orientierungsschemata bei Neisser 1996, S. 89ff. 211 Was es bedeutet, eine Hypothese graphisch-diagrammatisch zu entwickeln, machen die Beiträge in Gansterer 2011 eindrucksvoll klar. Vgl. z.B. dem Beitrag von Emma Cocker (2011), in der sie die Transkription eines imaginären Moments durch eine Skizze produktionsästhetisch als Differenzierung zwischen einem konditionalen ›If‹ und einem logischen ›then‹ beschreibt. 212 Die Prolegomena liegen in verschiedenen Varianten vor. Vgl. die editorischen Hinweise in Peirce 2000/3, S. 132, Anm. 1. Vgl. zur Bedeutung dieses Textes einführend auch Ernst 2016. 213 Peirce 2000/3, S. 132, vgl. auch S. 76. 214 Peirce 2000/3, S. 133. 215 Peirce 2000/3, S. 133. Vgl. zur Beziehung zwischen diagrammatischem Schließen und Experiment Wentz 2017, hier S. 97f., S. 161ff.

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tungsvollen Teile des Diagramms zueinander herbeigeführt werden […]« – man kann dies als Kriterium fokaler Aufmerksamkeit bezeichnen; 216 • ferner gelte, dass »[s]olche Operationen mit Diagrammen, ob äußerlich oder vorgestellt, […] an die Stelle der Experimente mit wirklichen Dingen [treten], die man in der chemischen oder physikalischen Forschung durchführt […]« – man kann dies als Kriterium eines im Diagramm konstruierten ›eidetischen Objektes‹ bezeichnen; 217 • »Experimente mit Diagrammen« seien darüber hinaus »Fragen, die der Natur der betreffenden Relation gestellt werden«218; das eidetische »Objekt der Forschung«219 sei »die Form einer Relation« – man kann dies das Kriterium einer durch die Form des Diagramms realisierten strukturellen Ähnlichkeit nennen; 220 • der Vorteil dieses Verfahrens sei es, dass »beim Experimentieren mit Diagrammen ein experimenteller Beweis für jede notwendige Konklusion aus einer gegebenen Verbindung von Prämissen [..] gegeben werden kann« – was man als Kriterium eines nach einer durch die strukturellen Möglichkeiten determinierten Form des regelhaften deduktiven Schließens auffassen kann.221 Alle vier Kriterien – fokale Aufmerksamkeit, eidetisches Objekt, strukturelle Ähnlichkeit und deduktives Schließen – sind Teil des diagrammatischen Schließens. Für Peirce ist dieses Schließen ein Experiment, das bewusst, also mit fokussierter Aufmerksamkeit umgesetzt wird. Die Objekte werden unter den Bedingungen des Experiments mithervorgebracht, da sie in der strukturellen Ähnlichkeit der Form der Relationen des Diagramms zugänglich sind, die ihrerseits eine Bedingung dafür darstellt, dass nur bestimmte Schlussfolgerungen aus der Menge der Kombinationsmöglichkeiten der Relationen zugelassen sind – dass der Schluss also deduktiv (›notwendig‹) verfahren kann. Die »Form der Relation«222 wird als eine ikonische Form bezeichnet, in der die Relationen eine notwendige Erkenntnis produzieren. »Ein Diagramm ist hauptsächlich ein Ikon und ein Ikon intelligibler Relationen«223, stellt Peirce fest. Und an anderer Stelle heißt es: »Denn das Schlußfolgern, ja die Logik im allgemeinen hängt gänzlich von Formen ab.«224 Auf dieser Grundlage definiert Peirce das Diagramm semiotisch wie folgt: 216 Peirce 2000/3, S. 133. 217 Peirce 2000/3, S.  133. In der Medientheorie ist die Theorie epistemischer Objekte von Hans-Jörg Rheinberger (2001) gut eingeführt. Sie bezeichnet die Objekte, die erst im Forschungsprozess durch die Art der Forschungsfrage resp. die materiellen Bedingungen dieses Prozesses als Entitäten hervorgebracht werden. Vgl. für eine fernsehwissenschaftliche Adaption Wentz 2017, S. 161ff., hier insb. S. 165ff. Ich bevorzuge im Folgenden aber die Rede von »eidetischen Objekten«, die in Anlehnung an Michael Lynch verwendet wird. Vgl. Lynch 1990, S. 183, Anm. 11. ( Kap. 6.1). 218 Peirce 2000/3, S. 133. 219 Peirce 2000/3, S. 134. 220 Peirce 2000/3, S. 134. 221 Peirce 2000/3, S. 134f. 222 Peirce 2000/3, S. 134. 223 Peirce 2000/3, S. 137. 224 Peirce 2000/3, S. 154.

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»Da nun ein Diagramm, obgleich es gewöhnlich Symbolische Züge (Symbolide Features) ebenso wie Züge, die sich der Natur der Indizes nähern, haben wird, trotzdem in der Konstitution seines Objektes hauptsächlich ein Ikon der Formen der Relationen ist, läßt sich seine Eignung für die Darstellung notwendigen Folgerns leicht erkennen.«225 Und in einer anderen Variante der Prolegomena: »Erstens also ist ein Diagramm ein Ikon einer Menge von rational aufeinander bezogenen Objekten. Mit rational aufeinander bezogen meine ich, daß es zwischen ihnen nicht nur eine jener Beziehungen gibt, die wir aus der Erfahrung kennen, aber nicht verstehen können, sondern eine jener Beziehungen, mit denen jeder, der überhaupt Schlüsse zieht, eine innere Vertrautheit haben muß. Das ist keine ausreichende Definition, aber ich möchte jetzt nicht weiter gehen, außer daß ich sagen möchte, daß das Diagramm nicht nur die aufeinander bezogenen Korrelate, sondern auch und viel bestimmter noch die Beziehungen zwischen ihnen als den Objekten eines Ikons darstellt. Nun macht das notwendige Schlußfolgern seine Konklusion evident. Worin besteht diese ›Evidenz‹? Sie besteht in der Tatsache, daß die Wahrheit der Konklusion in ihrer ganzen Allgemeinheit wahrgenommen wird, und in der Allgemeinheit wird das Wie und Warum der Wahrheit wahrgenommen.«226 Diagramme ermöglichen eine ikonische Darstellung, in der ein Objekt als »Form einer Relation« konstituiert wird, das eine notwendige, zwingende Schlussfolgerung provoziert. Das Diagramm besitzt aufgrund seiner Eigenschaften besondere Evidenzkraft. Diese Evidenzkraft ist die einer notwendigen Schlussfolgerung.227 In der Peirce’schen Terminologie sind Deduktionen notwendige Schlussfolgerungen. Diagramme produzieren also unausweichliche epistemische Evidenz ( Kap. 2.2.7) Wie aber kommt man zu dieser notwendigen Schlussfolgerung? Die Qualität des Diagramms, ein Ikon zu sein, das strukturell ähnlich ist und Experimente mit der Form der Relationen ermöglicht, liegt für Peirce darin begründet, dass das Diagramm eine in der Wahrnehmung implizit vollzogene Schlussfolgerung nicht nur explizit macht, sondern – weil es sich um ein Diagramm handelt – in ein schlussfolgerndes Wahrnehmungsbild übersetzt: »Es ist deshalb ein ganz außergewöhnliches Merkmal von Diagrammen, daß sie zeigen – und zwar buchstäblich zeigen, wie ein Perzept zeigt, daß das Wahrnehmungsurteil wahr ist –, daß wirklich eine Konsequenz folgt und, was sogar noch außergewöhnlicher ist, daß sie unter allen Arten von Umständen, welche die Prämissen begleiten, folgen würde. Es ist jedoch nicht das statische Diagramm-Ikon, welches das unmittelbar zeigt, sondern das Diagramm-Ikon, das mit Absicht konstruiert worden ist […].«228

225 Peirce 2000/3, S. 137. 226 Peirce 1998b, S. 320. 227 Vgl. zur Evidenz als ›Unausweichlichkeit‹ auch Hoffmann 2005, S. 135f. Eine Auseinandersetzung mit dem Evidenz-Begriff bei Peirce findet sich auch in Wilharm 2015, S. 349ff. 228 Peirce 1998b, S. 320f.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

Die Stärke von Diagrammen ist es, aus ihrer räumlichen Form heraus die Konsequenz einer Schlussfolgerung im Lichte mögliche Alternativen als eine notwendige Schlussfolgerung zu präsentieren. Susanne Rohr verweist in ihrer Darstellung von Peirces Theorie der Abduktion darauf, dass Peirce Diagrammen, so etwa in On Existential Graphs, Euler’s Diagrams, and Logical Algebra, eine besondere ›Schönheit‹ zugesprochen hat, die darin besteht, dass Diagramme Schlussfolgerungen ›von selbst‹ zeigen. Rohr verweist auf dieses Beispiel bei Peirce: Alle Menschen sind passioniert Heilige sind Menschen also sind Heilige passioniert Hier handelt es sich um einen typischen Syllogismus. Formal hat dieser Syllogismus die Gestalt A ist B X ist A also gilt: X ist B In einem Diagramm wird diese formale Gestalt dadurch veranschaulicht, dass das Ikonische des Diagramms zu einem Ikon der logischen Zugehörigkeit wird, die als Schlussfolgerung nicht sequenziell, sondern simultan dargeboten ist ( Abb. 14).

Abb. 14: Simultane Darstellung einer Schlussfolgerung. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Rohr, Susanne (1993): Von der Schönheit des Findens. Die Binnenstruktur menschlichen Verstehens nach Charles S. Peirce: Abduktionslogik und Kreativität, Stuttgart: M und P, S. 77.

Wichtig ist an diesem Beispiel nicht nur der Umstand, dass eine genuine Eigenart von Diagrammen aufgezeigt wird. Mir kommt es auch auf Susanne Rohrs sehr wichtigen und in der philosophischen Forschung mitunter unterschlagenen Hinweis an, dass Peirce diese Eigenschaft von Diagrammen als eine ästhetische Qualität begriffen

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hat.229 Diese ästhetische Qualität spielt auch in Peirces Überlegung hinein, das Diagramm aufgrund seiner Anschaulichkeit als einen Ort für Experimente zu begreifen. Bedenkt man Peirces pragmatistischen Ausgangspunkt, demzufolge das Alltagsverhalten die Form eines Experiments hat, in dem Prozesse des »habit-taking« und »habit-breaking« in einer basalen Form einer alltäglichen Kreativität zusammenfinden, vermag man abzuschätzen, wie fundamental Peirce diesen Akt des diagrammatischen Denkens ansetzt: Das Diagramm rückt in die Rolle eines Ref lexionsmediums eines allgemeinen Begriffs für rekombinierende und eine Neuorientierung ermöglichende Experimente, die zur Klärung des Denkens beitragen. Diagrammatisches Denken ist ein bewusster und expliziter Akt, der ein Gedankenexperiment im Diagramm beinhaltet, weil das Diagramm als Form in der Lage ist, die Form der Relation und somit die Form einer Schlussfolgerung selbst anschaulich wahrnehmbar und der Ref lexion zugänglich zu machen. Michael Hoffmann schreibt: »[…] Diagrammatisierung stellt für Peirce eine konkrete Tätigkeit dar. […] Der Wert diagrammatischen Schließens liegt für Peirce gerade darin, dass mit Diagrammen experimentiert werden kann, so dass man aus der Beobachtung dessen, was dabei geschieht, etwas lernen kann.«230

3.3.3 Diagramm und Denkbild Die späten Schriften von Peirce drehen sich an vielen Stellen um die Klärung dessen, was Peirce als ›Denken‹ verstanden haben möchte. Diese Klärung erfolgt oftmals parallel zu einer Aufwertung der epistemologischen Bedeutung des Diagramms. Diagramm und Denken finden als »diagrammatic reasoning« zusammen. Dieses diagrammatische Schließen wird (als semiotischer Prozess) als paradigmatisch für das Denken angesehen: »Jedes Schließen besteht in dem Interpretieren eines Zeichens. Denn wann immer wir denken, denken wird in Zeichen […]«231 notiert Peirce in den Essays über Bedeutung (1910). Am vertrautesten ist dem Menschen das Zeichensystem der Sprache. Unter Berufung auf eine psychologische Sicht auf das Denken bezeichnet Peirce die Sprache als »das instinktive Medium des Denkens«232. Davon abzugrenzen sind eine logische 229 Vgl. Rohr 1993, S. 74ff. Ich habe das Beispiel in Kurzform auch in Ernst 2012b und 2014a diskutiert. Vgl. weiterführend zudem Ernst 2015a und Ernst 2015b. Vgl. hier auch Heiner Wilharms (2015, S. 346) Präzisierung zwischen Gestaltähnlichkeit und (logischer) Analogie. Wenn es in Abgrenzung von der formalen Logik noch irgendwelcher Beweise für die Bedeutung der Ästhetik des Diagramms braucht, dann sei der Blick in Lima 2016, S. 15ff., hier insb. S. 29f., zur vorliegenden Diagrammform auch S. 66ff., empfohlen. Der Kreis und seine basalen logischen Möglichkeiten erscheinen dort als basales Element einer großen Menge elementarer kultureller Praktiken und ästhetischer Artefakte. 230 Hoffmann 2005, S. 8, siehe auch Hoffmann 2011a, S. 197. Vgl. eher kritisch zu der hier angedeuteten Lektüre von Peirce Hoffmann 2009, S. 253ff. Der Zusammenhang von Denken und Lernen hat auch praktische Implikationen. Siehe dazu auch die Arbeit von Depner 2016. Vgl. zudem den für den Schulunterricht entwickelten Entwurf von Kolis/Kolis 2016, hier S. 2f. Was den Originalitätsanspruch angeht wird einigermaßen fragwürdig festgestellt: »This book is unique not because it identifies higher-order thinking skills, but because it models thinking using a progressively complex series of diagrams which make ›thinking‹ explicit.« 231 Peirce 2000/3, S. 345. 232 Peirce 2000/3, S. 345.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

und eine metaphysische Sicht auf das Denken. In diesen Betrachtungsweisen ist die Sprache weit weniger wichtig.233 Auch andere Darstellungssysteme sind zu beachten: »Doch jeder Mathematiker und jeder Logiker wird dem Linguisten sagen, daß er im Besitz ganz anderer Darstellungssysteme sei, in die er sich gewöhnt habe, Wörter und Wendungen zu übersetzen und sie dadurch verständlicher zu machen.«234 Ahti-Veikko Pietarinen bemerkt dazu kurz und knapp: »Peirce interpreted language visually.«235 Besonders den diagrammatischen Darstellungssystemen gilt das Interesse von Peirce, der sich 1890 in einem Fragment mit dem Titel On Framing Philosophical Theories sogar zu folgender Bemerkungen hinreißen lässt: »Words, though doubtless necessary to develop thought, play but a secondary role in the [reasoning] process; while the diagram, or icon, capable of being manipulated and experimented upon, is all important.«236 Peirce erkennt in Diagrammen eine anschauliche, logische Evidenzkraft, die von der Sequenzialität einer sprachlichen Schlussfolgerung nicht erreicht wird. Durchgeführt wird ein Prozess eines wahrnehmenden Denkens, der, wie auch Eco schreibt, ein »Arbeiten mit diagrammatischen Vorstellungen«237 explizit macht. Diagramme sind daher seiner Auffassung nach ideal dafür geeignet, das Denken in seiner schlusslogischen Struktur zu repräsentieren und aufzuklären. Peirce geht es dabei vor allem um das Potenzial, Schlüsse zu vollziehen, von denen man sieht, dass sie notwendig sind. In diesem Sinne denkt man mit Diagrammen, aber Diagramme sind nur ein Ausschnitt aus dem Prozess des Denkens. Aus diesem Grund ist es hilfreich, eine Unterscheidung wie die zwischen Schema und Diagramm aufrecht zu erhalten. Das Diagramm ist eine Möglichkeit, wie Schemata in einem Darstellungssystem explizit gemacht werden kann. Der Vorrang des Diagramms gegenüber anderen Zeichen liegt darin, dass es im Diagramm mit semiotischen Mitteln ein implizites Schema (re-)konstruiert, und so die Logik der begriff lichen Bestimmung und Schlussfolgerung anschaulich gemacht werden kann. Mit Peirce lässt sich die Möglichkeit des Diagramms, eine schematische Gestalt hervorzubringen, die nicht identisch ist mit dem Schema, aber in einer ref lexiven Relation zum Schema steht, terminologisch so fassen, dass – heuristisch – zwischen drei Begriffen unterschieden wird: • dem unbewusst abgerufenen diagrammatischen Schema, das zum impliziten Wissen gehört; • dem Diagramm als einem als Diagramm betrachteten (›diagrammatisierten‹) Zeichen sowie ausdifferenzierten diagrammatischen Darstellungssystem (wie z.B. den Existenziellen Graphen);

233 Vgl. Peirce 2000/3, S. 162. 234 Peirce 2000/3, S. 345. 235 Pietarinen 2003, S. 1. Umgekehrt, also aus Richtung einer Kritik des zu einseitig ›visuellen‹ Verständnisses von ›Diagramm‹, schließt hier die semiotische Debatte um die Frage an, inwiefern auch andere als visuelle Zeichen als Diagramme zu verstehen seien, also z.B. Musik. Vgl. programmatisch Posner 2009, S. 220. Den Gegensatz Sprache/Bild hält Hoffmann (2009, S. 248ff.) bei Peirce dagegen für überbewertet. 236 Das Fragment ist im achten Band der Writings of Charles S. Peirce abgedruckt, hier aber zit.n. Meyer-Krahmer/Halawa 2012, S. 286. Vgl. hier auch Wentz 2017, S. 95. 237 Vgl. Eco 2000, S. 102.

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• dem Denkbild als der in der Diagrammatisierung entstehenden, anschaulichen Vorstellung, die auf die Manipulation von Möglichkeiten (und darin ref lexiv auf ein Schema) bezogen ist. Als Ref lexionsform impliziter Schemata kann das Diagramm dienen, weil im praktischen Umgang mit Diagrammen Denkbilder erzeugt werden, welche die impliziten Schemata in die Anschaulichkeit ziehen. Der Unterschied zwischen dem Schema und dem Zusammenspiel von Diagramm und Denkbild besteht in der zeitlichen Abfolge: Das Schema ist ein Vollzug der Relation von Wahrnehmung, Überzeugung und Handlung erster Ordnung, der ein unbewusster, impliziter Vollzug der schlussfolgernden Wahrnehmung ist (eine ›perzeptive Diagrammatizität‹;  Kap. 2.2.8). Das Denkbild im Diagramm ist hingegen eine Relation von Wahrnehmung, Überzeugung und Handeln zweiter Ordnung. Sie steht als auslegende Fortsetzung in einer Beziehung zum impliziten Schema. In Bezug auf das Denken kann das Diagramm die Gestalt eines Denkbildes produzieren, welche in der Wahrnehmbarkeit des Diagramms einen Evidenzeffekt für die Explikation von schlussfolgerndem Denken hat. Es ist deshalb nur konsequent, wenn in der Kunstwissenschaft in einschlägigen Ausführungen zur Ästhetik des Diagrammatischen von einer »›wahrgenommenen Wahrnehmung‹«238 gesprochen wird.239 Die Explikationsfunktion von diagrammatischen Zeichen ist dadurch mitbestimmt, dass implizite Schema der Wahrnehmung im Diagramm durch Wahrnehmung von Inferenzen eine Ref lexion prägen. In einer Zusammenfassung des Geltungsanspruchs der Theorie des diagrammatischen Denkens schreibt Philip Johnson-Laird dazu: »The purpose of most logic diagrams, such as Euler circles and Venn diagrams, is to make reasoning easier. That was not Peirce’s aim. He wanted instead to improve the analysis of reasoning – to take it to pieces and to reveal its elementary steps. He took his existential graphs to be a ›model of the operation of thinking‹, not necessarily conscious thinking, though consciousness, he claimed, is a necessary part of deductive reasoning.«240 Johnson-Laird erfasst den Anspruch der Theorie richtig. In Bezug auf das Verhältnis von ›unbewussten‹ und ›bewussten‹ Teilen des diagrammatischen Denkens kann man aber mit Peirce davon ausgehen, dass Diagrammatisierungen mit ihrer Möglichkeit, 238 Schmidt-Burkhardt 2012a, S. 149. 239 Heiner Wilharm (2015, S. 346) hat darauf hingewiesen, dass logische Systeme wie die Existenziellen Graphen deshalb als ein »eine Art Diagramm der Diagrammatik« aufgefasst werden könnten, »[…] in welchem die Erklärungskraft ikonisch diagrammatischer Darstellung in eben dieser Richtung, sich selbst zu erklären, evident, ›sichtbar‹ würde, und zwar in der Repräsentation von Graphen und grafischer Konstellation. Das Diagramm sollte dann in der Lage sein vorzuführen, wie angeleitet schlussfolgerndes Hinsehen anhand diagrammatischer Zeichen vor sich gehen kann.« Deutlich wird die Beziehung der Existenziellen Graphen zur Wahrnehmung auch bei Pape 2009, S. 414: »Die Semantik eines Behauptungsblattes erlaubt eine dem natürlichen Bewusstsein analoge Form der impliziten Quantifikation dadurch, dass die zweidimensionale Fläche zum indexikalischen Symbol des Wahrheitszusammenhanges aller Objekte in einem Gegenstandsbereich wird.« 240 Johnson-Laird 2002, S. 80. Vgl. zu einer Rezeption von Johnson-Laird im Kontext der Diagrammatik auch Sesselmann 2017, S. 69ff.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

ein bewusstes Denkbild hervorzubringen, auch als Vorbild und eine mögliche Art der Explikation des unbewussten, impliziten Wirkens eines Schemas anzusehen sind. Legitimiert ist dieser Schritt durch die von Peirce vorgenommene metaphorische Analogie, die zwischen Schema und dem Diagramm in Form des ›Diagrammskeletts‹ besteht. Einerseits sind diagrammatische Darstellungssysteme, also die Diagramme, nicht das Schema, sondern Ref lexionsformen. Andererseits erzeugen sie als diese Ref lexionsform einen Modus des Denkens im Diagramm: das Denkbild. Das Diagramm wäre in dieser Hinsicht ein Umschlagpunkt, in dem ein Denkbild unter Einf luss impliziter Schemata konstituiert wird.241 Ein kontroverser Punkt, der aus dieser Unterscheidung resultiert, ist die Frage nach der Möglichkeit, ob auch andere Darstellungssysteme als die in einem gattungstheoretischen Sinne ›diagrammatischen‹ Darstellungssysteme in der Lage sind, ein Denkbild hervorzubringen. Dass diese Möglichkeit besteht, ist in Peirces Ikonizitätsbegriff vorausgesetzt. In dem Text What is a Sign? (1894) vermerkt Peirce zur Erläuterung seiner Unterscheidung zwischen Ikon, Index und Symbol bei Anlass des Durchdenkens des Wahrheitsgehalts biblischer Aussagen: »The reasoner makes some sort of mental diagram by which he sees that his alternative conclusion must be true, if the premise is so; and this diagram is an icon or likeness. The Rest is symbols; and the whole maybe considered as a modified symbol. It is not a dead thing, but it carries the mind from one point to another. The art of reasoning is the the art of marshalling such signs, and of finding out the truth.«242 Peirce sagt, dass das ›mentale Diagramm‹ eine Analogie ist und dass die Modifikation eines symbolischen Zeichens durch das mentale Diagramm zu einem neuen ›Ganzen‹ (»whole«, »modified symbol«) entscheidend ist.243 Dieses Zeichen, so Peirce, sei kein »dead thing, but it carries the mind from one point to another.« Weder ist das mentale Diagramm also ein Diagramm im strikten Sinn, noch kann es unabhängig von konkrekten Zeichen Gestalt annehmen. Was aber geschieht ist, dass in der Kombination der gegebenen Symbole mit dem ›mental diagram‹ ein neues Zeichen entsteht, das als Ganzes das Bewusstsein ›bewegt‹. In Peirces Begriff von Ikonizität wird, wie Frederik Stjernfelt ausgearbeitet hat, Ikonizität semiotisch zwar durch die Eigenschaft der Ähnlichkeit zu einem Objekt ausgezeichnet, pragmatisch aber auf das Problem des Neuen bezogen.244 Mit gleicher Intention bemerkt Steffen Bogen, im Diagramm werde das »Verhältnis von Formen […] in Analogie zur einer Relation von Bezugsgrößen gesetzt. Das geschieht in der Absicht, mehr über die Bezugsgrößen zu erfahren oder diese in einer operativen Haltung zu bestimmen.«245 Wenn die Wahrnehmung ein unbewusstes Schließen in Zeichen ist, 241 Vgl. im Kontext auch Bauer/Ernst 2010, S. 49ff. 242 Peirce 1998a, S. 10. 243 Vgl. zu dieser Diskussion Arnold 2011, S. 5ff. Allerdings wird hier die Einschränkung nicht beachtet, dass Peirce hier von einer »sort of mental diagram« spricht, den Begriff des mentalen Diagramms also nicht im literalen Sinn behauptet. 244 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 49ff., S. 90f. Vgl. auch Gerner 2010a, S. 177. Vgl. kritisch Pape 2009, S. 417ff. 245 Bogen 2005a, S.  162. Ich verwende die Begriffe ›operational‹ und ›operativ‹ synonym, bevorzuge aber operativ, um den Bezug zu einer von Ludwig Jäger her gedachten ›operativen Mediensemantik‹

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in der ein Übergang vom dynamischen zum unmittelbaren Objekt stattfindet, dann ergibt sich vor diesem Hintergrund die Frage, was man in Zeichen über das dynamische Objekt herausfinden kann. Das dynamische Objekt ist für die Wahrnehmung dahingehend indexikalisch, als es die Wahrnehmung zwingt, zu reagieren und zu urteilen. Wie schon das einfache Beispiel des Wildschweins als Erkenntnisobjekt eines Jägers zeigt, ist es in der Auslegung einer indexikalischen Spur das Problem, welche Vorstellungen man sich vom Objekt macht. Stjernfelt betont deshalb, dass Peirces Ikonizitätsbegriff »operational« ist. Das Ikon kann zur Beseitigung einer Unklarheit beitragen, indem es an seinem Objekt Eigenarten enthüllt, die am Objekt nicht direkt erkennbar sind.246 Insoweit man sagen kann, dass die Sprache oder ein Bild ikonisch ist, kann es auch ›diagrammatisch‹ im Sinne der Möglichkeit der Hervorbringung eines Denkbildes sein, ohne dass eine Form im Sinne des Diagramms hat – ohne dass man also ein ausgearbeitetes diagrammatisches Darstellungssystem benötigt. Mit seinem ›operationalen‹ Verständnis von Ikonizität knüpft Peirce das Ikon eng, wie Stjernfelt betont, an die Deduktion. Wie die Abduktion und die Induktion sind Deduktionen Schlussfolgerungen, in denen etwas getan wird: In der Diagrammatik wird in Deduktionen konstruiert und experimentiert.247 Wiederum gilt, dass der prototypische Diskurs dafür die Geometrie ist, insbesondere die Manipulationsarbeit, die in der Geometrie in Diagrammen vorgenommen wird. Was dort geschieht, ist ein Prozess des vorstellenden Begreifens, den Peirce dann in einem metaphorischen Sinne als paradigmatisch für vorstellendes Begreifen ansieht.248 Dennoch steht die Geometrie als spezifische Praxis in einem größeren Kontext. Das konventionalisierte (und materialisierte) Diagramm ist die Idealform, man könnte auch sagen: der Ausgangsbereich, um diese Analogie zum ›mentalen‹ ›Diagramm‹ zu ziehen. Diese exteriore Kategorie umfasst aber nicht nur Diagramme im engeren Sinn. In Über die Einheit hypothetischer und kategorischer Propositionen (1897) schreibt Peirce, auf die Analogie zum Diagramm abhebend: »Die Lehre der exakten Philosophie […] besteht darin, daß jede Gefahr eines Irrtums in der Philosophie auf ein Minimum reduziert wird, wenn man die Probleme so mathematisch wie möglich behandelt, daß heißt, indem man eine Art von Diagramm konstruiert, das all das darstellt, wovon man annimmt, daß es der Beobachtung jeder wissenschaftlichen Intelligenz zugänglich ist, und davon ausgehend dann mathematisch – das heißt anschaulich – die Konsequenzen jener Hypothese ableitet.«249 Einige Passagen früher betont er – die Idealität des Diagramms in Erinnerung rufend – dass er sich das Diagramm kaum anders vorstellen könne, als »entweder ein geometrisches Diagramm […], das sich aus kontinuierlichen Linien zusammensetzt« oder aber als etwas, das »aus einer Anordnung von diskreten Objekten besteht, mit denen bestimmte ›Regeln‹ verbunden sind, ähnlich einer algebraischen Formel«250. herzustellen ( Kap. 2.2.6). 246 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 90. 247 Vgl. Hoffmann 2005, S. 155f. 248 Vgl. auch Stjernfelt 2007, S. 90ff. 249 Peirce 2000/1, S. 234f., zweite Hervorh. C.E. 250 Peirce 2000/1, S. 231.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

Peirce artikuliert also einen Vorbehalt gegenüber der zu engen Bindung des Denkbildes an das Diagramm, weil das Denkbild – wie auch schon Peirces Vergleich zwischen der Situation der Betrachtung eines Diagramms und der eines Gemäldes der Sache nach nahe legt – auch in anderen ikonischen Formen als dem Diagramm realisiert werden kann, solange sie eine bestimmte »Anordnung von diskreten Objekten« ist. Er betont aber auch klar, dass kein Darstellungssystem der Explikation des Denkens so nahe kommt wie das Diagramm. Diagrammatische Zeichen sind in der Lage, ein Denkbild zu (re-)produzieren, das zwar auch in anderen ikonischen Darstellungssystemen existiert, aber im Diagramm (als Darstellungssystem) idealiter hervortritt. Erkennt man in dieser Problematik die Grundthese aller Diagrammatik, dass ein Diagramm ein Mittel des Denkens ist, also Denken realisiert, aber auch das Denken repräsentiert ( Kap. 2.1), dann sollte man diesen Vorbehalt nicht als eine Relativierung verstehen, sondern als die ref lexive Art des metaphorischen Bezugs, die sich auch aus Peirces Markierungen einer Analogiebeziehung zum Diagramm ergibt, die bereits im ›Diagrammskelett‹ am Werk ist. Was bei Peirce also eine rhetorische Analogiebildung ist (»Diagrammskelett«, »eine Art von Diagramm« etc.), lässt sich zum Symptom erklären und unter Bedingungen auch philosophisch ernst nehmen. Eine ›ref lexive Art‹ des Bezuges hieße dann, dass diese metaphorische Relation zwischen Schema und Denkbild eben genau nicht einfach nur eine rhetorische Analogiebildung ist, sondern ein positives Erkenntnisverhältnis beschreibt. Weiterführend bedeutet diese These, dass die von Peirce privilegierten diagrammatischen Darstellungssysteme in der Mathematik und der Geometrie indirekt mit einer impliziten Dimension in der Lebenswelt verf lochten sind. Diagrammatisches Denken kann zwar in der Mathematik und Geometrie am besten studiert werden, aber als Erkenntnisprozess ist es kein exklusives Merkmal dieser Wissenschaften, sondern umfasst auch ganz andere Praktiken und Diskurse.251 Die Mathematik ist für den Pragmatisten Peirce eine ausdifferenzierte und zur Klarheit gebrachte Form eines schon im Alltag vor sich gehenden ›wissenschaftlichen‹ Schließens. Der primäre Prozess bleibt die Erfahrung eines alltäglichen Forschens, einer alltäglichen wissenschaftlichen Praxis: »Damit meine ich, daß wir auf Grundlage der gewöhnlichen Erfahrung mehr oder weniger erfolgreich eine Idee davon entwickeln, worin die wissenschaftliche Intelligenz wesentlich besteht; und aus dieser Hypothese leiten wir mathematisch – und deshalb anschaulich – eine Konklusion ab, die uns sagt, was wissenschaftliche Intelligenz als solche letztlich wird akzeptieren müssen.«252 So steht bei Peirce der Begriff ›Logik‹ für eine Praxis der Auf klärung des relationalen Gef lechts der Wirklichkeit. Dieses Gef lecht ist semiotisch. Es wird in der praktischen Verwendung einerseits von Zeichen bestimmt und entwickelt die Zeichen andererseits selbst unablässig weiter. Diesen Prozess aufzuklären, ist die Aufgabe der Semiotik als Theorie einer »kreativen Entwurfstätigkeit«253. In dem Text Kategoriale Strukturen und 251 Wöpking 2016 verfolgt zur Mathematik und Geometrie das gleiche Argument, wendet es aber gegen Peirce. 252 Peirce 2000/1, S. 242. 253 Nagl 1998, S. 40.

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graphische Logik von 1903 schreibt Peirce, die Logik sei »einfach die Wissenschaft von dem, was [von] einer Darstellung wahr sein muß und sollte, soweit etwas über Darstellungen erkannt werden kann, ohne daß man Einzeltatsachen einbezieht, die über unser normales tägliches Leben hinausgehen. Kurzum, sie ist die Philosophie der Darstellung«.254 Am deutlichsten aber nimmt Peirce eine Klärung seines Diagrammbegriffs in einer Variante der Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus von 1906 vor – ein Text, der in Form des Manuskripts (PAP) (293) eine der Grundlagen der Rekonstruktion der Diagrammatik, etwa in Frederik Stjernfelts Diagrammatology, bildet.255 Aufgrund der Bedeutung des Textes, möchte ich diese Bestimmung auch hier näher betrachten.256 Peirce macht eingangs die materielle Definition des Diagramms zu seinem Ausgangspunkt: »A Diagram, in my sense, is in the first place a Token, a singular Object used as a Sign; for it is essential that it should be capable of being perceived and observed. It is, however, what is called a General sign; that is, it denotes a general Object.«257 Dieses allgemeine Objekt sei üblicherweise eine »definite Form of Relation«258, von der Peirce betont, dass es egal sei, ob sie wirklich existiere oder eine bloße Möglichkeit darstelle und zur Ausbildung des »pure diagram« führe. Dieses ist »designed to represent and to render intelligible, the Form of Relation merely«. Diagramme sind Medien der Ref lexion intelligibler Relationen. Und Peirce fährt fort: »I believe I may venture to affirm that an intelligible relation, that ist, a relation of thought, is created only by the act of representing it.«259 Diese Überlegung versetzt ihn in die Lage festzustellen, das Diagramm sei »a sign of an ordered Collection or Plural, – or more accurately, of the ordered Plurality or Multitude, or of an Order in Plurality«, also eine Form der Ordnung in der Mannigfaltigkeit, die, wie er weiter ausführt, auf einer graduellen Form struktureller Ähnlichkeit beruhe.260 Die folgende Stelle habe ich aus einer anderen Variante in der deutschen Übersetzung bereits einmal zitiert, tue es hier aber noch einmal in der Variante aus dem Manuskript 293: »It is, therefore, a very extraordinary feature of Diagrams that they show, – as literally show as a Percept shows the Perceptual Judgement to be true, – that a consequence does follow, and more marvelous yet, that it would follow under all varieties of circumstances accompanying the premises. […] Meantime, the Diagram remains in the field of perception or imagination; and so the Iconic Diagram and its Initial Symbolic Interpretant taken together constitute what we shall not too wrench Kant’s term in calling a Schema, which is on the one side an object capable of being observed while on the other side it is General.«261 254 Peirce 2000/2, S. 163. 255 Frederik Stjernfelt baut wichtige Teile der Herleitung seiner Diagrammatology auf diesem Manuskript auf. Vgl. Stjernfelt 2007, S. 89ff.; Stjernfelt 2011. 256 Der Text findet sich in stark gekürzter Form auch in Schneider/Ernst/Wöpking 2016. 257 Peirce 1976a/IV, S. 315, Anm. 1. 258 Peirce 1976a/IV, S. 316, Anm. 1. 259 Peirce 1976a/IV, S. 316, Anm. 1. 260 Vgl. Peirce 1976a/IV, S. 316, Anm. 1. Vgl. zum »pure diagram« auch Stjernfelt 2007, S. 98f. 261 Peirce 1976a/IV, S. 318.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

In der Kombination aus »initial symbolic interpretant« und Diagramm entsteht in der Praxis des Umgangs mit dem Diagramm so etwas wie ein Schema.262 Dies bestätigt Peirce im gleichen Text auch im Zusammenhang mit der Definition des Diagramms: »One contemplates the Diagram, and one at once prescinds from the accidental characters that have no significance. They disappear altogether from one’s understanding of the Diagram; and although they be of a sort which no visible thing be without (I am supposing the diagram to be of the visual kind), yet their [disapperance] is only an understood disappearance and does not prevent the features of the Diagram, now become a Schema, from being subjected to the scrutiny of observation.«263 Im materiellen und unter semiotischen Regeln konstruierten Diagramm entsteht ein Denkbild als (Quasi-)Schema, das als dieses Denkbild sich von der materiellen oder in diesem Fall genauer: der medialen Basis seiner Realisierung unabhängig machen kann. Peirce öffnet somit eine Tür nicht nur für die kulturtheoretische Frage, wie das Zusammenspiel von Diagramm und Denkbild sich als ein materieller und semiotisch geregelter Sachverhalt ref lexiv auf Wahrnehmungsschemata beziehen kann und wie diese Relation zwischen verschiedenen diagrammatischen Darstellungssystemen variiert, sondern auch für die medientheoretische Frage, was es bedeutet, wenn sich die Dimensionen der medialen Verkörperung der diagrammatischen Darstellungssysteme verändern.264 Einen echten Unterschied macht die mediale Verkörperung für ihn aber nicht. So schreibt Peirce: »What is true of the geometrical diagram drawn on paper would be equally true of the same Diagram when put on a blackboard.«265 Papier und Tafel sind vergleichbare Medien. Aber die Peirce’sche Intention ist klar und kann als Fragerichtung seiner Semiotik in eine medientheoretische Frage weitergeführt werden: Was geschieht, wenn Diagramme in anderen Medien als auf Papier oder der Tafel realisiert werden? Die Passage im Manuskript schließt mit den Worten: »As Diagram, it excites curiosity as to the effect of a transformation of it.«266 Was geschieht also in anderen Medien, wenn sich die operativen Eingriffsmöglichkeiten ändern? Die Ideen aus dem Kontext der Prolegomena stehen nicht isoliert da. In Kategoriale Strukturen und graphische Logik schreibt Peirce: »Ein Diagramm ist ein Repräsentamen, das ist erster Linie ein Ikon von Relationen ist und darin durch Konventionen unterstützt wird.«267 Dass es sich bei diesem Verständnis von Diagramm in der Textpassage um das Denkbild handelt, das in Relation zu einem geometrischen Diagramm gedacht wird, nicht aber mit diesem identisch ist, wird einige Seiten später klar: »So stellt die geometrische Gestalt eines Kreises einen mathematischen Kreis dar. Streng262 Vgl. auch Stjernfelt 2007, S. 102f. 263 Peirce 1976a/IV, S. 317, Anm. 1. 264 Vgl. quasi als Parallelunternehmen die poststrukturalistische Beschreibung des Verhältnisses von implizitem Denkdiagramm und explizitem Wissensdiagramm bei Reichert 2013, S. 61ff., die jedoch eher als ein Transkriptionsprozess von bewegtem Denken und festgestellter Explikation dieses Denkens im Verhältnis von Text und Diagramm in philosophischen Argumentationskontexten gefasst wird. 265 Peirce 1976a/IV, S. 317, Anm. 1. 266 Peirce 1976a/IV, S. 317, Anm. 1. 267 Peirce 2000/2, S. 98.

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genommen ist es jedoch nicht der Kreis auf dem Papier, sondern sein Vorstellungsbild im Bewußtsein, das ein Ikon ist.«268 Diagrammatische Verfahren der Darstellung von Denken, in Peirces Selbstverständnis allen voran sein eigenes Darstellungssystem der Existenziellen Graphen, sind eine ideale, nicht aber exklusive Art, das Denkbild in seinen Verbindungen mit dem Denken zu studieren. Unmittelbar nach der Definition des Denkbildes als Ikon differenziert Peirce das Denkbild folgerichtig von einem auf einem Blatt Papier realisierten Graphen. »Ein Graph ist ein Oberflächendiagramm, das sich zusammensetzt aus dem Blatt, auf dem es geschrieben oder gezeichnet wird, aus den Flecken oder ihren Äquivalenten, aus den Verbindungslinien und (falls erforderlich) aus Einschlüssen. Das Vorbild, dem es mehr oder weniger ähneln soll, ist die Strukturformel des Chemikers.«269 Die von Peirce mit großen Hoffnungen entwickelten Existenziellen Graphen sind, wie es auch in den Essays über Bedeutung von 1910 heißt, »Diagramme auf einer Oberf läche«, die »bloß als Projektion eines in drei Dimensionen sich erstreckenden Zeichens auf diese Oberf läche betrachtet werden [müssen]«270. Die Entwicklung einer solchen »diagrammatischen Syntax«271 klärt das Denken auf, weil diese Syntax nach Peirce die Eigenschaften des Denkbildes in einem Darstellungssystem repräsentieren kann: »Natürlich kann man in dieser Syntax nicht sprechen, da sie diagrammatisch ist, denn niemand kann in Diagrammen reden. Sie sind wesentlich f lächig; eine Oberf läche muss für den Zweck bestimmt sein, die diagrammatischen Ausdrücke aufzunehmen […].«272 Peirce behauptet also, dass das Denken als mentale Operation in einer diagrammatischen Weise ›ikonisch‹ verfährt und diese ikonische Operation durch ein in einem Diagramm realisiertes Denkbild erfasst werden kann. Komplexe diagrammatische Darstellungssysteme wie die Existenziellen Graphen werden als paradigmatisch geeignet angesehen, das Denken über sich aufzuklären. In einem Nachtrag zu den Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizimus betitelt mit Die kontinuierliche Darstellung von Identität von 1908 heißt es dann sogar über die Existenziellen Graphen: »Das System der Existenziellen Graphen läßt sich mit großer Wahrheitstreue als etwas beschreiben, das unserem Auge ein bewegtes Bild des Denkens präsentiert. Vorausgesetzt, man faßt diese Beschreibung nicht als völlig wörtlich zu nehmende Aussage auf, sondern als Gleichnis, so wird es Sie […] überraschen festzustellen, welcher Belastung durch detaillierte Vergleiche es standhält, ohne zu versagen.«273 Diagrammatische Systeme wie die Existenziellen Graphen liefern ein ›bewegtes Bild des Denkens‹,274 was allerdings, wie Peirce, seinem metaphorischen Vorbehalt fol268 Peirce 2000/2, S. 113. 269 Peirce 2000/2, S. 98. Vgl. zur Chemie auch Arnold 2011, insb. S. 6ff. 270 Peirce 2000/3, S. 345. 271 Peirce 2000/3, S. 449. 272 Peirce 2000/3, S. 450. Vgl. auch Pietarinen 2003, S. 8ff. 273 Peirce 2000/3, S. 193. 274 Vgl. zum Zusammenhang mit den Existenziellen Graphen die Aufarbeitung bei Pietarinen 2003. Die verschiedenen Formulierungen bei Peirce heißen »moving picture of thought«, »a portraiture of

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gend, bemerkt, »als Gleichnis« zu verstehen sei.275 Ähnlich vorsichtig formuliert Philip Johnson-Laird, wenn er zum Verhältnis von Existenziellen Graphen und der kognitiven Dimension des Diagramms feststellt: »They have emergent logical consequences and a single graph can capture all the different ways in which a possibility can occur. Mental models share these properties.«276 Das Diagramm ist, zumindest in dieser kognitivistischen Lesart, nur eine Annäherung an das Schema im Denken – wenn auch eine solche Annäherung, die, geht man von einem Modus einer Metaphorisierung aus, explizieren kann, dass in einem Diagramm ein Denkbild realisiert wird.

3.3.4 Denken zwischen Fortsetzung und Auslegung Für Peirce ist das diagrammatische Denken die Idealform der ref lexiven Objektivierung des Denkens. Betrachtet man den Dualismus, der durch die Trennung von Denkbild und Diagramm aufgerufen worden zu sein scheint, besteht eine Differenz der Ref lexion zum aktuellen Vollzug des Denkens. Zu beachten bleibt aber, dass Denken eine Operation in einer semiotischen Realität ist. Das Denken ist keine Operation, die jenseits der semiotischen Realität stünde, sondern ein Prozess, der dem »Gewebe«277 der konkreten, durch Zeichen bestimmten, Wirklichkeit immanent ist. Die Wahrnehmung, das Denken und die Ref lexion des Denkens in Zeichen sind nichts kategorial anderes. Auf Ebene der »Phänomenologie des Denkens«278 besteht nach Peirce eine Beziehung zwischen Denken und Diagramm, die durch die Isomorphie von Denken und Sehen erklärt wird. Das Denken vollzieht sich als ein Sehen von Schlussfolgerungen, die eine relationale Wirklichkeit der Semiose bilden. Mit Blick auf ein denkendes Bewusstsein ist dieses Sehen zu unterscheiden in ein Sehen in Zeichen, das implizit ist, und den ref lexiven Modus des Sehens einer Schlussfolgerung, die mit Zeichen vollzogen wird, also explizit ist. Greift man an dieser Stelle auf die These einer Metaphorisierung zurück, kann das Argument eingeführt werden, dass die Beziehung zwischen einem implizit fungierenden Schema und dem ref lexiven Bezug auf das Schema als metaphorische Relation keine bloß rhetorisch-textuelle Beziehung ist, mit der sich Peirce die Unbeobachtbarkeit des Schemas vom Leib halten möchte, sondern ein reales epistemologisches Verhältnis ausdrückt. Das Verhältnis nicht nur als rhetorische Analogie, sondern auch epistemologisch als metaphorisch zu betrachten, ist hier zwar vor allem die Konsequenz einer Unbeobachtbarkeit des Denkens in seinem Vollzug. Diese Konsequenz behauptet aber, dass das Schema als ein Element von Denken sich im Diagramm wieder als Denkbild vollzieht und folglich als semiotischer Prozess ausgebildet ist.

thought«, »a moving picture of action of the mind and thought« oder »a moving picture of the action and thought«, zit.n. Pietarinen 2003, S. 2. Vgl. zuletzt ausführlich auch Wentz 2017, S. 99ff. 275 Vgl. zur Rolle von Metaphern und Gleichnissen in der Philosophie (und folglich philosophischen Texten wie dem von Peirce) umfassend Taureck 2004, mit Blick auf Hans Blumenberg auch Huss 2019, hier S. 92f.: »Das Gleichnis ist eine Entfaltung der Metapher, eine erweiterte Metapher […].« 276 Johnson-Laird 2002, S. 69. 277 Diese Metapher verwendet Pape 2004; Pape 2006. 278 Vgl. Pape 1997, S. 442.

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Dies ergibt sich aus der Verf lechtung der Diagrammatik mit Peirces Phänomenologie des Denkens. Der Prozess des ›reasonings‹, so wie Peirce ihn versteht, ist ein Prozess der Weiterentwicklung von Überzeugungen: »Wenn es geschieht, dass man zu einer neuen Überzeugung aufgrund bewußter Entwicklung aus einer vorhergehenden Entwicklung aus einer vorhergehenden Überzeugung kommt – ein Ereignis, das nur infolge einer dritten Überzeugung (die irgendwo in einer dunklen Kammer des Geistes gespeichert ist) eintreten kann, welche in einer passenden Relation zu jener zweiten steht –, so nenne ich ein solches Ereignis eine Schlußfolgerung oder ein Schließen.«279 Dieses Zitat aus dem Manuskript Eine Abhandlung zur Verbesserung der Sicherheit und Fruchtbarkeit unseres Schließens von 1913 bestimmt die Interpretantenbeziehung als den semiotischen Ort des Schließens, also die Stelle im Zeichenprozess, in der nach Peirce auch ein Gedanke seinen Platz hat: »Nun ist ein Zeichen etwas, A, das eine Tatsache oder Objekt, B, für einen interpretantischen Gedanken (interpretant thought), C, bezeichnet.«280 Über die Interpretantenbeziehung ist das Schließen mit der Unendlichkeit der Semiose, die als ein Prozess der Entwicklung des Denkens begriffen wird, verbunden. Im Schließen in Zeichen kommt an der Interpretantenbeziehung ein geistiges Moment hinzu. Deshalb versteht Peirce das Denken als Gewohnheit des Schließens, spricht den Begriff des ›Geistes‹ aber nicht exklusiv dem Menschen zu, sondern macht es von einem »Quasi-Geist« abhängig. Die Aufgabe dieses Quasi-Geistes ist es, »die verschiedenen Denkereignisse in wechselseitigen Bezug (interreference) zu bringen«. Der Quasi-Geist ist also selbst eine semiotische Funktion. Peirce baut das zu der metaphysischen These aus, dass »Denken […] nicht notwendig mit einem Gehirn verbunden [ist]. Es zeigt sich in der Arbeit der Bienen, der Kristalle und überall in der rein physikalischen Welt.«281 Liest man diese Stelle, kann man mit Peirce plausibler Weise behaupten, dass Gedanken zu routinisierten Überzeugungen werden.282 Das Denken ist eine Überzeugung, die handlungsleitend geworden ist. Diese Überzeugung aktualisiert sich automatisch, wenn eine Wahrnehmung vollzogen wird. In den späten Texten begreift Peirce den Interpretanten infolgedessen als einen Gedanken, der in der Art, wie er sich entäußert, zu einem Folgezeichen wird. Der Gedanke muss kein bewusster Gedanke sein. Das Denken ist als ein Prozess des Schließens für Peirce vielmehr deshalb bemerkenswert, weil »es die vorbewussten geistigen Prozesse sind, die das bewusste logische Denken erfolgreich leiten«, wie Helmut Pape schreibt.283 Gegeben die Prämissen eines Denkens in Zeichen und eines Denkens mit Zeichen (das auch ein Denken 279 Peirce 2000/3, S. 474. 280 Peirce 2000/2, S. 138. 281 Peirce 2000/3, S. 162. 282 Vgl. zu den post-anthropozentrischen Implikationen auch die medienphilosophischen Ausführungen bei Wentz 2017, S. 230f. Dort wird für ein »mediales Apriori« bei Peirce argumentiert. Siehe zur Kontextualisierung der These einer Ausdehnung der Zeichen in die materielle und technische Welt auch Krois 2011, S. 199ff. Krois setzt dabei auf den Begriff der »Verkörperung« ( Kap. 2.1.3). 283 Pape 2006, S. 112, Hervorh. C.E.

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in Zeichen ist), dann lässt sich dies so verstehen, dass das explizite Denken mit semiotischen Darstellungssystemen, so etwa das Denken in einem Diagramm, durch eine implizite Ebene mitgeprägt wird, zu der das explizite Denken in einem ref lexiven Rückbezug stehen kann.284 Wenn diagrammatisches Denken ein Denken ist, das, wie Peirce betont, fokal-aufmerksam, also bewusst, vollzogen wird und in diesem Bewusstsein das Potenzial hat, zur Objektivierung des Denkens beizutragen, dann ist es logischerweise zwar ›Denken‹, aber nur eine bestimmte, bewusste Form von Denken. Die Bedeutung des ›Diagrammatischen‹ für dieses bewusste Denken ergibt sich daraus, dass – wie die Konstruktion diagrammatischer Darstellungssysteme zeigt – es Eigenarten der Erkenntnis erfasst, die sich aus einem gelingenden Schluss ergeben, also einem Bestandteil des Denkens. Diese Fähigkeit von Diagrammen hängt damit zusammen, der Wahrnehmung etwas unmittelbar zu zeigen, was in der Sprache umständlicher erschlossen werden muss. Diagramme schaffen dies, weil sie die inferenzielle Struktur des Denkens räumlich repräsentieren. Die Diagrammatik ist ref lexiv zur Wahrnehmung, weil sie einerseits die inferenzielle Struktur der durch implizite Gewohnheit geprägten Wahrnehmung expliziert, dies aber so tut, dass diese Explikation im Diagramm für das Denken im Raum wahrnehmbar ist. Für die Herleitung dieser Idee ist eine Variante der Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus einschlägig. Die Variante trägt die Überschrift Gedanken und Denkereignis. Peirce stellt fest, »daß Gedanken (thoughts) und Denkereignisse (thinkings) ebenfalls Zeichen sind«285. Weil sie Zeichen sind, ist es möglich zu behaupten, dass sie auf Ebene des Repräsentamens, also in der Frage nach dem Zeichenträger, der Unterscheidung Type/Token folgen: »Ich schlage vor, die Wörter ›Gedanken‹ und ›Denkereignisse‹ so zu verwenden, daß sie Objekte bezeichnen, die so aufeinander bezogen sind wie ein Typ auf seine Instanzen bezogen ist. Das bedeutet, daß ich das Wort ›Gedanke‹ in einem solchen Sinn gebrauchen werde, daß derselbe ›Gedanke‹ in verschiedenen Geistern vorkommen kann.«286 Peirces Differenzierung besagt, dass der Type in Relation zu einem Objekt Anschaulichkeit gewinnen kann. Ein reiner Type ist eine Idee im Status einer Regel, zum Beispiel die abstrakte Idee einer Zahl, die wieder in eine aktualisierte Anschaulichkeit überführt werden muss. Dies entspricht der Relation, die durch den metaphorischen Vorbehalt gegenüber einer vorschnellen Identifikation des Diagramms mit dem Denken ausgedrückt wird. Das Denken kann ›als solches‹ in seinem Vollzug in Zeichen nicht beobachtet werden. Doch diese Unbeobachtbarkeit ist keine prinzipielle, sondern die Verschiebung innerhalb eines kontinuierlichen Zusammenhangs, in der sich das Denken als ein Denken mit Zeichen ein Bild von sich machen und im Vollzug dieser Ref lexion konstituieren kann:

284 Entsprechend begreift auch Lidia Gasperoni (2016) den Übergang vom Präkonzeptuellen ins Konzeptuelle als das zentrale Problem des Schematismus. 285 Peirce 2000/3, S. 79. 286 Peirce 2000/3, S. 83. Vgl. Pape 2000, S. 28ff. Vgl. zur Bedeutung der Unterscheidung in Type und Token für die Diagrammatik auch Stjernfelt 2011, S. 337ff.

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»›Denken‹ ist eine erdichtete ›Operation des Geistes‹, durch die ein fiktiver Gegenstand in den Blick gebracht wird. Wenn dieser Gegenstand ein Zeichen ist, um das es in einem Argument gehen könnte, nennen wir ihn einen Gedanken. Alles, was wir über das ›Denken‹ wissen, ist, daß wir uns hinterher erinnern, daß unsere Aufmerksamkeit aktiv angespannt war und daß wir Gegenstände oder Transformationen von Gegenständen hervorzubringen schienen, wobei wir ihre Analogie zu etwas bemerkt haben, dessen Wirklichsein wir unterstellt haben. […] Die ›Operation des Geistes‹ ist ein ens rationis. Das ist meine unzulängliche Entschuldigung dafür, von ihr als von etwas ›Erdichtetem‹ zu sprechen.«287 Von dem Vollzug des Denkens ›als solchem‹ kann man sich – als einem Vollzug in Zeichen – kein Bild machen, weil jede Ref lexion auf den Prozess des Denkens zu spät kommt. Was aber möglich ist, ist mit Zeichen die Gewohnheit des Denkens und ihre Aktualisierungen zu beobachten. Dies wird in solchen Zeichenpraktiken realisiert, die sich ref lexiv auf die Differenz von Denken und Gedanken beziehen – Zeichenpraktiken, die dann wieder Denken sind. In dem kurz vor dem Tod verfassten Manuskript Eine Abhandlung zur Verbesserung der Sicherheit und Fruchtbarkeit unseres Schließens von 1913 ist Peirce mit der Beurteilung der menschlichen »Denkkraft«288 befasst. Dabei bringt er eine »Maxime« vor, von der er schon »seit langem« geleitet worden sei, nämlich »[…] daß, solange wie es praktisch gewiß ist, daß wir nicht direkt, noch mit einiger Genauigkeit selbst indirekt beobachten können, was im Bewußtsein irgendeiner anderen Person passiert, während es gleichzeitig noch längst nicht gewiß ist, daß wir das überhaupt bei dem, was uns selbst durch den Geist geht, können (und präzise wiedergeben, worauf wir bestenfalls einen flüchtigen, auch noch sehr verschwommenen Blick werfen können), es weitaus sicherer ist, alle geistigen Eigenschaften soweit wie möglich durch ihre äußeren Manifestationen zu definieren.«289 Peirce will diese Einschränkung in der Objektivierung von Denken durch ›äußere‹ Darstellungssysteme als »Vorsichtsgrund«290 verstanden wissen. Dieser Vorsichtsgrund besagt, dass Denken für sich nur als ein Folgegedanke objektivierbar ist. Dieser Folgegedanke ist ein Zeichen, das sich auf den Prozess seiner Konstitution ›erdichtet‹ zurückbezieht und dafür einen Zeichenträger benutzt. Peirce kommentiert, diese Maxime sei, »[…] jedenfalls ungefähr, jener äquivalent, die ich 1871 als Regel des Pragmatismus zu bezeichnen pf legte.«291 Bei dieser Explikation von Denken handelt es sich, wie bei jeder Explikation, um eine Umformung.292 Peirce sagt nicht, dass diese Umformung das Denken verfehlt. In der Exteriorität der Diagramme vollzieht sich Denken, auch wenn es in der selbstref lexiven Wendung nicht identisch mit dem Denken ist, auf

287 Peirce 1998b, S. 317f. Vgl. auch Peirce 1976a/IV, S. 314. 288 Peirce 2000/3, S. 477. 289 Peirce 2000/3, S. 478. 290 Peirce 2000/3, S. 478. 291 Peirce 2000/3, S. 478. 292 Deutlicher als bei Stjernfelt 2007 wird von Hoffmann 2005 herausgearbeitet, dass die Diagramme bei Peirce eine materielle Verkörperung voraussetzen. Vgl. Hoffmann 2005, hier z.B. S. 210f.

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das es sich bezieht. Im Manuskript (PAP) (293) kann es unmittelbar nach der Klassifikation des Denkens als etwas Erdichtetem deshalb heißen: »All necessary reasoning is diagrammatic; and the assurance furnished by all other reasoning must be based upon necessary reasoning. In this sense, all reasoning depends directly or indirectly upon diagrams. Only it is necessary to distinguish reasoning, properly so called, where the acceptance [of the] conclusion in the sense in which it is drawn, is seen evidently to be justified, from cases in which a rule of inference is followed because it has been found to work well, which I call following a rule of thumb, and accepting a conclusion without seeing why further that the impulse to do so seems irresistible.«293 In einem Diagramm vermag das Denken sich über selbst aufzuklären, weil es seinen Prozess als Schlussfolgerung in der Form seiner visuellen Evidenz modelliert, die – und das ist entscheidend – den impliziten Maßstab (»rule of thumb«) einer alltäglichen Inferenz in explizite epistemtische Evidenz verwandelt. Das Ausagieren der logischen Konsequenzen in der visuellen Repräsentationsform des Diagramms wird zum Modell des Denkens.294 Gegenüber dem Denken in seinem impliziten Vollzug bleibt das Moment einer metaphorischen Relation und folglich auch das einer Differenz bestehen. Diese Differenz auszugleichen ist die Aufgabe der Art des Beobachtens, die im diagrammatischen Schließen angewendet wird.295 Mit diesem Beobachten wird eine andere Geisteshaltung eingenommen als die, in der sich Denken regulär und instinktiv, wie Peirce meint, vollzieht.296 Peirce gibt dafür das psychologische Kriterium der ›Awareness‹ an. Dieses ›Gewahrsein‹ bzw. diese fokale Aufmerksamkeit ermöglicht es, etwas zu differenzieren, was im Denken selbst undifferenziert ist: das Denken und die Gedanken. Diese Differenzierung ist, gegeben den regelhaften Status des Denkens, künstlich. Sie hat nur insofern Bestand, als in jedem Gedanken ein Denken mitaktualisiert wird, das den Gedanken bestimmt, als diese Bestimmung eine Regel ist, und als diese bestimmende Regel retrospektiv expliziert werden kann.297 Der Vollzug des Denkens kann nur ref lexiv beobachtet werden, also in einem Prozess, der als Denken in Zeichen an das Denken anschließt, der also nicht anders ist als das Denken. Ref lexive Explikation setzt das Denken fort, hat in dieser Fortsetzung des Denkens in einer expliziten Auslegung jedoch einen anderen Bezug zu sich, als der Vollzug des Denkens, den es thematisiert. Es gehört zu einer kulturell vermittelten Praxis der Explikation, die gelernt werden kann. Im Unterschied zur Sprache kann sich das Denken in Diagrammen aber als visuelles Zeichen beobachten und ein durch die Wahrnehmung vermitteltes Wissen davon erhalten, dass es sich in einen semiotischen Bezug zu sich selbst setzt. Das Denken identifiziert seine Leistungen also in metaphorischer Analogie zu solchen Formen, in denen es sich in einer semiotischen Verfassung als ähnlich (ikonisch) zu seinen eigenen semiotischen Funktionen und Leistungen beobachten kann – und zu eben diesen Formen gehört das Diagramm. 293 Peirce 1976a/IV, S. 314. 294 Vgl. auch den Ansatz bei May/Stjernfelt 2008. 295 Vgl. Peirce 2000/3, S. 488f. 296 Vgl. Peirce 2000/3, S. 480ff. 297 Vgl. Peirce 2000/3, S. 490.

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Zu betonen ist, dass Peirce hieraus weder eine dualistische noch eine skeptizistische Position ableitet: Im Fahrwasser konstruktivistischer Positionen wie der Dekonstruktion (Jacques Derrida) oder der Systemtheorie (Niklas Luhmann) könnte man Peirce so verstehen, dass er mit seinem Ansatz behauptet, dass der kognitive Vollzug von Denken immer schon materiell überformt ist. Peirce würde, dieser These folgend, im Grunde nur feststellen, dass Denken ›im Kopf‹ unbeobachtbar ist und ›immer schon‹ von materiell verkörperten Darstellungssystemen abhängig. Mit Peirce ist dies jedoch eher als ein methodologisches Problem zu fassen. Referenzskeptische Positionen des (De-)Konstruktivismus sind dadurch gekennzeichnet, dass sie aus der, wie Joachim Renn argumentiert,298 Pluralität der verschiedenen möglichen, semiotischen Darstellungssysteme zur Objektivierung von Referenten auf die Erfundenheit des Referenten schließen. Genau das tut Peirce nicht. Wenn also die metaphorische Relation als ›bloß‹ rhetorische gelesen wird, in der das Denken ›nur‹ etwas ›Erdichtetes‹ ist, dann ist Peirce trotzdem kein Referenzskeptiker. Peirce geht es darum, das Verhältnis von sich aufeinander beziehenden Triaden zu beschreiben. Der Unterschied besteht darin, dass dasjenige Zusammenspiel von Wahrnehmung, Überzeugung und Handlung, das als ›Denken‹ für die retrospektive Beobachtung unbeobachtbar ist, deshalb unbeobachtbar ist, weil es sich automatisch vollzieht und dieser Vollzug erst der bereits vollzogene Prozess ist, den Denken als eine Form von Denken ref lektiert. Man kann sich ref lexiv von diesem Prozess dadurch ein Bild machen, dass man ihn mit den Mitteln des Diagramms als Prozess (nach)bildet – ikonisch transkribiert und damit inadäquat verfehlt und in einer adäquaten Weise beschreibt (›ver-zeichnet‹). Dass das Diagramm diese Möglichkeit bietet, liegt an der perzeptiven Funktion des Ikons, das als Diagrammskelett bzw. Schema gebildet wird.

3.3.5 Doppelte Metaphorisierung: Denken als Bewegung und Kraft Diese Position von Peirce wird deutlicher, wenn man das Gleichnis – also die Relation der Metaphorisierung, die faktisch eine doppelte Metaphorisierung ist – im Einklang mit dem Grundlayout der Semiotik als Ähnlichkeitsrelation im Sinne operationaler Ikonizität begreift.299 Diese metaphorische Relation gründet auf keiner Differenz, der zufolge das Denken in einem materiellen Darstellungssystem nur eine defizitäre Repräsentation eines unanschaulichen kognitiven Prozesses wäre, sondern sie gründet darin, dass im Diagramm ein semiotischer Prozess im Sinne eines ›ähnlichen‹ visuellen Prozesses stattfindet. Wie Christian Strub zur semiotischen Funktion der Metapher bei Peirce gezeigt hat, ist die Metapher bei Peirce »ein Prozeß, der den Zeichenprozeß in seiner Prozessualität selbst darstellt; der metaphorische Prozeß ist die Explizierung des Zeichenprozesses in allen seinen Stadien […].«300 Diese dezidiert (re-)konstruierende Funktion der Metapher rechtfertigt die vorgebrachte These, Peirces methodischen Vorbehalt gegenüber der Repräsentation des Denkens im Diagramm nicht nur als skeptisches Argument zu lesen, sondern von einer doppelten Metaphorisierung als ihrerseits dia298 Vgl. Renn 2012, S. 21. 299 Das soll nicht verleugnen, dass Peirces eigener Metaphernbegriff sich gerade gegen die Analogie als einem Modell für die Metapher wendet. Vgl. Strub 1994. 300 Vgl. Strub 1994, hier S. 217, im Orig. kursiv.

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grammatischer »Form einer Relation« auszugehen: Die Metapher ist ›nur‹ eine Metapher des Denkens und doch als eine ikonische Repräsentation ein Vollzug und eine Beschreibung von Denken ( Kap. 2.1.5 u. Kap. 5.3). Deshalb ist darauf hingewiesen worden, dass mit dem metaphorischen Vorbehalt die Metapher nicht nur ›bloße Rhetorik‹ ist, sondern ein starker Begriff von Metapher zur Anwendung gebracht werden kann, in dem die Metapher selbst als Erkenntnisverfahren anzusehen ist. Die Position einer ›bloßen Rhetorik‹ wäre die der konstruktivistischen Repräsentationskritik. Für meine Begriffe wird das der Position, die Peirce entwickelt hat, nicht gerecht. Das Diagramm und seine ref lexive Leistung für das Denken sind zwar anders, aber nicht anderer Art als der Prozess des Denkens. Das bedeutet, dass das Denken in seinem Vollzug – und dann auch in seiner (Re-)Konstruktion im Diagramm – über Eigenschaften verfügt, die über das Kognitive hinausweisen, sich aber darin unterscheiden, wie der Prozess des Denkens als Prozess vollzogen und gewusst wird. Helmut Pape hat in seinen Ausführungen zu Peirces Begriff des Denkens detailliert herausgearbeitet, wie stark dabei das Verhältnis von Denken und Diagrammatik vom Begriff der Kontinuität abhängig ist.301 In den Essays über Bedeutung schreibt Peirce: »Die Einheit des Denkens, wenn wir unser eigenes Bewußtsein betrachten könnten, würde wahrscheinlich in der Kontinuität des Lebens einer wachsenden Idee bestehen. Doch soweit wir sie beobachten können, liegt sie in der logischen Kohärenz und Konsistenz des Argumentierens. Denn zu denken heißt zu schließen.«302 Diese Kontinuität ist eine temporale Bewegung im Kontinuum eines Raumes aus Qualitäten, die mögliche »Empfindungsqualitäten« für die Wahrnehmung sind. Vorstellungen können sich in der Wahrnehmung nur konkretisieren, wenn sie in »intensiv-intensionalen Beziehungen« zu Qualitäten stehen, die über das individuelle Bewusstsein hinausreichen.303 Das Denken als bewusste kognitive Operation ist nicht die einzige Form von Denken, sondern das Denken ist eingef lochten in Relationen, die vom Denken bestimmt werden, als solche aber das Denken – wie bei einem Interpretanten – mitbestimmen. Weder ist das Denken nur ein kognitives Bild, noch einfach eine materielle Menge elektrochemischer Reize, noch nur semiotische Konvention. Das Denken wird vielmehr als ein Ereignis betrachtet, in dem diese drei Komponenten als Relation aufeinander bezogen und in den Horizont einer Handlung gestellt sind: Denken ist der Vollzug einer Relation, also ein zeitlicher Vollzug in einem Raum der Zeichen. Peirce verweigert sich damit einem Dualismus von ›primärem‹ Geist und ›sekundärer‹ Repräsentation des Geistes in Zeichen. Die Repräsentation des Geistes im Diagramm ist zwar ein Folgezeichen, aber nicht anderer Art als das Denken. Das Denken in Diagrammen ist somit Denken als eine Praxis der Fortsetzung von Denken, die das Denken auslegt. Peirce wird diesem Unterschied, der, in Anlehnung an Joachim Renn gesagt, als Unterschied zwischen Fortsetzung und Auslegung bezeichnet werden kann ( Kap. 2.2.3), gerecht, indem er ihn mit verschiedenen Typen des Wissens in Verbindung bringt: Die Fortsetzung ist, wie die Wahrnehmungsurteile, implizit, die Auslegung ist explizit – ein Verhältnis, das im Diagramm, genauer: in der Beobachtung des Denkbildes, wie sich noch zeigen wird, durch das Verhältnis von einer ko301 Vgl. Pape 1995; Pape 1997, S. 434ff.; Pape 2002, S. 286ff. 302 Peirce 2000/3, S. 373. 303 Vgl. Pape 1997, S. 441ff., hier S. 442.

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rollarialen und einer theorematischen Deduktion reproduziert werden kann.304 Diese Unterscheidung zwischen Fortsetzung als implizitem Vollzug von Denken in Zeichen – also, in den Begriffen Ludwig Jägers, epistemischer Evidenz durch Verfahren – und expliziter Auslegung als expliziter Ref lexion auf Denken mit Zeichen – also diskursiver Evidenz als Verfahren (Kap. 2.2.7) – wird dann relevant, wenn man bedenkt, dass das Bewusstsein in der expliziten Auslegung, also im Denken in einem diagrammatischen Experiment, niemals den ganzen Prozess des Denkens holistisch erfassen kann. Es nimmt Bezug auf einen Gedanken, der als auslösender Faktor der Konstruktion des Diagramms fungiert. Peirce bemüht dafür den Begriff des impliziten Wissens im Sinne eines ›Kennens‹ bzw. ›Sich-Auskennens‹ und vergleicht es mit dem Wissen um ein auswendig gelerntes Gedicht: »Ich kenne die ›Elegie‹ […]. Doch was heißt das? Das kann ich nur sagen, indem ich sie wiederhole, ich kann sie nicht insgesamt und auf einmal im Geiste haben. […] Doch ist es durchaus wahr, daß ich das Gedicht jetzt in dieser Minute kenne, und meine Kenntnis besteht in nicht mehr und nicht weniger als darin, daß ich es aufsagen kann, wenn ich die Zeit habe. Das gilt für jeden Gedanken.«305 Im Kontext der späten Schriften zeichnet Peirce die Prozessualität des Denkens mit den Attributen der Bewegung und der Kraft aus. »Kraft« wird von ihm als intellektuelle Notwendigkeit verstanden, als Evidenzkraft. Bei Gelegenheit einer Klärung seiner Kategorienlehre schreibt Peirce etwa: »Eine Qualität oder Erstheit hat eine bloß logische Möglichkeit – das heißt ein Sein, wie es eine Idee in sich selbst enthalten kann. Doch ist sie eine positiv bestimmte Möglichkeit. Eine Tatsache oder Zweitheit hat Tatsächlichkeit (actuality). Ein Zeichen oder Drittheit, insofern es Tatsachen herbeiführt, besitzt Kraft oder Notwendigkeit, aber eine Art von Notwendigkeit, die weder eine bloße Anwesenheit von Möglichkeit ist noch ein blinder Zwang, sondern eine intellektuelle Notwendigkeit.«306 Intellektuelle Notwendigkeit ist die Kraft, die ein Schluss hat, wenn er als Konsequenz einer Schlussfolgerung Evidenz provoziert. Diese Evidenz gewinnt der Schluss auf Ebene epistemischer Evidenz aus der Art einer logischen Bewegung, die in ihrer Bewegung als konsequent erscheint und deshalb im Sinne einer Gesetzmäßigkeit akzeptiert und zu einer Überzeugung verfestigt wird. Schlussfolgern ist ein Prozess, in dem eine Bewegung zwischen den Relata des Schlusses vollzogen wird: »Die höchste Art von Symbol ist jene, die ein Wachstum oder eine Selbstentwicklung des Gedankens bedeutet und von dieser allein ist eine Bewegungsdarstellung möglich.«307 Diese Bewegungsdarstellung einer »Selbstentwicklung des Gedankens« ereignet sich in der Räumlichkeit des Diagramms. Helmut Pape erläutert:

304 Die Unterscheidung von Fortsetzung und Auslegung ist angelehnt an die Basisepistemologie in Renn 2006b. Vgl. zum Begriff der ›Fortsetzung‹ auch Schneider 2002. 305 Zit.n. Pape 1997, S. 446, Anm. 86. 306 Peirce 2000/2, S. 153. 307 Peirce 2000/3, S.85f.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

»Werden Denken und die räumlich ausgedehnte Wirklichkeit nicht mehr voneinander getrennt, dann muß es möglich sein, auch die Abfolge der Gedanken im Bewußtsein zumindest insofern sichtbar zu machen, wie sie eine allgemeingültige und damit logische Form haben, die verkörpert werden kann. Denn das, was an unserem Denken logisch ist, beruht auf allgemeinen Struktureigenschaften, die auch physikalisch verkörpert und in diesem Sinne beobachtbar sind.« 308 Und bei Steffen Bogen heißt es im Kontext einer Diagrammatik des Spiels: »Über den Zwischenschritt des Spiels werden wir somit auf die Bedeutung des Themas Bewegung für Diagramme aufmerksam. In Diagrammen wird der Raum als Medium erkundet, in dem sich Bewegungen aus verschiedenen Richtungen überlagern: Bewegungen, die den Menschen von außen zustoßen, und Bewegungen, die sie von innen her bestimmen und kontrollieren. In der graphischen Fläche werden die Bewegungsformen ineinander übersetzt und aneinander gekoppelt, um so über die Möglichkeiten seiner Koordination nachzudenken.«309 Peirce erklärt das Denken also zu etwas, das zwar im Vollzug unbeobachtbar ist, aber nicht unsinnlich, also nicht der Wahrnehmung verschlossen. Das Denken kann als Vollzug in logischen Relationen des Schließens beobachtet werden. Dieser Vollzug ist in seinem Initialmoment ein unbewusster Vollzug eines Wahrnehmungsurteils. Im Denken und in Diagrammen kann dieser Prozess explizit gemacht werden. Wie Peirce sagt: »Das einzige unmittelbare Denken geschieht in Urteilen der unmittelbaren Wahrnehmung.«310 Die Diagrammatik ist als eine Theorie graphischer Logik »ein Bild oder symbolisches Ikon«, »dessen visuelle Gestalt ausdrückt, daß die Welt wie die Gedanken einen kontinuierlichen Zusammenhang bilden, dessen logische Form sichtbar verkörpert ist.«311 Diagramme interpretieren die logische Struktur des Denkens anders als die Sprache, weil sie den Prozess des Schließens anschaulich machen, insofern aber eben auch die implizite diagrammatische Logik der Wahrnehmung explizit machen. Darin reflektieren diese Zeichen, dass Denken ein Vollzug in diagrammatischen Vorstellungen ist. Diesen Thesen von Peirce folgend, wäre es möglich, auf die philosophischen und vor allem logischen Prämissen der Peirce’schen Diagrammatik einzugehen. Geboten wäre dafür eine Diskussion der logischen Potenziale der Existenziellen Graphen.312 Dieser Weg soll hier nicht verfolgt werden, weil es um den übergeordneten Zusammenhang des metaphorischen Bezugs zwischen Denken und Diagramm geht. Dazu müssen die allgemeinen Funktionen näher beschrieben werden, die Peirce dem Diagramm in einem Schlussprozess zuspricht, also ein diagrammatisches Denken, das auch ohne Diagramme im engeren Sinn auskommt. Wenn man mit Peirce geltend macht kann, dass es sich beim Denkbild als »bewegtes Bild des Denkens« um ein Gleichnis zum Diagramm handelt, das in einer metaphorischen Relation zum Schema steht – wenn 308 Pape 1997, S. 444. 309 Bogen 2014, S. 403f., siehe auch S. 410f. 310 Peirce 2000/3, S. 372. 311 Pape 1997, S. 445. 312 Einen guten Einblick in die Theorie der Existenziellen Graphen und ihren Querverbindungen zur kognitiven Seite der Diagrammatik gibt Johnson-Laird 2002.

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er also seinen Vorbehalt formuliert –, dann ist zu berücksichtigen, dass dieser Vorbehalt als ein methodologischer lesbar gemacht worden ist, der keine epistemologische Inkongruenz ausdrückt. Es gibt, auch bei Peirce, eine metaphorische Relation zwischen Denken und Diagramm, in der das Diagramm eine Metapher des Denkens ist, also im Diagramm Denken vollzogen wird und zugleich das Diagramm eine Metapher für das Denken ist. Worauf mit der Beschreibung dieser metaphorischen Relation als epistemologischer Operation hingewiesen werden soll, ist, dass diese Beziehung auch in ein Kontinuum von impliziter Fortsetzung und expliziter Auslegung gestellt werden kann. Die Metapher mag ›nur‹ eine sekundäre und retrospektive Beschreibung des Denkens sein, so wie jede Metapher als Analogie bestimmte Aspekte des Denkens betont und andere Aspekte unterdrückt. Möglich ist aber auch eine zweite, parallele Lesart. In dieser Lesart ist die Metapher eine primäre Vollzugsform der Ikonizität des Denkens. Eine Metapher des Denkens ist nur eine unvollständige Beschreibung des Denkens und doch in dieser Beschreibung die exemplifizierende Ausstellung einer Vollzugsform des Denkens mit ikonischen Zeichen.313 Peirces metaphorischer Vorbehalt kann im Lichte dieser Lesart so verstanden werden, dass die metaphorische Relation als Relation ein Symptom für den Umstand ist, dass das Denken, zumal in Momenten seiner Ref lexion, immer auch in einem metaphorischen Verhältnis zu sich selbst steht. Dem Diagramm fällt bei der Explikation dieses Prozesses ein Vorrang zu, weil sich im Verhältnis von Denkbild zu Diagramm das Denken – in der Form der Relation einer Metapher – ein Bild von seinen Bewegungen machen kann. Das Diagramm ist eine Repräsentation von Denken und genau darin ist es Denken, steht es doch in einer bestimmbaren epistemologischen Operation, die als metaphorische Relation auch durch die Semiotik (und ihre Metapherntheorie) beschrieben werden kann. Liest man dies unter Fokus auf den Evidenzwert von Diagrammen, stellt sich die Erweiterung des Diagrammbegriffs bei Peirce nicht nur als rhetorische Volte dar, sondern als Teil eines Arguments. Die Metapher, die bei Peirce als eine »power of reasoning to make the unexpected and the unknown more coherent«314 erscheint, springt da ein, wo es nicht nur um die Logik eines Diagramms geht, sondern um die ästhetische Kraft dieser Logik. Zugleich ist das der Rückbezug in die Peirce’sche Wahrnehmungstheorie.

3.4 Perzeptive Diagrammatizität Die Bedeutung, die das Diagramm für das Denken hat, liegt in seiner Ausstattung mit anschaulicher Evidenzkraft. Seine Evidenzkraft gewinnt das Diagramm, indem es etwas Abstraktes als Bewegung nachvollziehbar macht. Das Diagramm zeigt einen Schlussprozess. Diese Leistung vollbringt das Diagramm, weil es ein in einer räumlichen Fläche realisiertes Relationenbild ist. Unspezifische Merkmale wie Räumlichkeit gelten aber auch für Bilder. Was macht das Diagramm besonders? Peirce bemerkt, dass er seine Graphen »nicht ein vollkommenes Bild genannt habe«.315 Ein vollkomme313 Vgl. zudem Factor 1996, hier insb. S. 231f., S. 233. Dort wird ebenfalls eine Doppelstruktur der Metapher diskutiert, die in Peirces Definition der Metapher angelegt ist. 314 Vgl. Factor 1996, S. 234. 315 Peirce 2000/3, S. 87.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

nes Bild kann der Graph nicht sein, weil er eine andere Art der Ikonizität aufweist als ein Bild. In einer der bekanntesten Stellen, in denen das Diagramm Erwähnung findet, den Sundry Logical Conceptions, die ein Teil des Syllabus of Certain Topics of Logic von 1903 sind, untergliedert Peirce Ikonizität so: »Hypoicons may roughly/be/divided according to the mode of Firstness which they partake. Those which partake the simple qualities, or First Firstness, are images; those which represent the relations, mainly dyadic, or so regarded, of the parts of one thing by analogous relations in their own parts, are diagrams; those which represent the representative character of a representamen by representing a parallelism in something else, are metaphors.« 316 Die Diagramme werden hier mit ihrer auffälligsten Eigenschaft versehen: dem Moment struktureller Ähnlichkeit: »Many diagrams resemble their objects not at all in looks; it is only in respect to the relations of their parts that their likeness consists«,317 heißt es in Of Reasoning in General 1895. Die strukturelle Ähnlichkeit, das Diagramm als Relationenbild, ist auch der zentrale Baustein der metaphorischen Analogie zum Schema und zum Denkbild. Der Prozess des Denkens ist für einen Gedanken nicht ›als solches‹ darstellbar, weil er sich in seinem Vollzug nicht objektivieren kann. Diese Objektivierung kann nur in einem Folgezeichen geschehen, das als diese Objektivierung seinerseits eine denkende Bewegung ist. Die Ref lexivität des Diagramms liegt in der Explikation einer in einem Wahrnehmungsurteil aufgestellten Hypothese. Das Diagramm als Medium und Form des Denkens zeigt diese Hypothese, indem es die Schlussbewegung des Denkens vollzieht und nachvollziehbar macht. Die Vorbilder dieser explikativen Darstellung sind die Darstellungspraktiken der Logik, Geometrie und Mathematik: »[…] wie Euklid z.B. zuerst in allgemeinen Begriffen den Satz formuliert, den er zu beweisen beabsichtigt, und dann dazu übergeht, ein Diagramm, gewöhnlich eine Figur, zu zeichnen, um die zugrundeliegende Voraussetzung anschaulich zu machen […]«318. Wiederum gilt aber, dass diese paradigmatische Funktion der Geometrie für die Diagrammatik in Peirces pragmatistischer Perspektive mit einer ästhetischen Anschaulichkeit verschaltet ist. Zur Evidenzkraft von Diagrammen vermerkt Peirce: »Nun wollen wir sehen, wie das Diagramm seine Konsequenz nach sich zieht. Das Diagramm hat hinreichenden Anteil an der Durchschlagskraft eines Perzepts, um im Interpreten einen Zustand der Aktivität, der mit Neugier durchsetzt ist, als einen dynamischen oder mittleren Interpretanten zu bestimmen.«319 Das Diagramm versetzt in Bewegung, es zwingt zur Praxis, zu einer Handlung (dynamischer Interpretant), die Denken eben auch ist. Was verbirgt sich hinter der Formulierung, das Diagramm habe Anteil an der »Durchschlagskraft eines Perzepts«? Um 316 Peirce 1998a, S. 274. 317 Peirce 1998a, S. 13. 318 Peirce 1998b, S. 321. 319 Peirce 1998b, S. 321. Vgl. Peirce 1976a/IV, S. 318.

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das zu verstehen, muss die perzeptive Seite der Diagrammatik diskutiert werden, aus der das Diagramm seine Evidenz bezieht.320

3.4.1 Die Peirce’sche Wahrnehmungstheorie und die Diagrammatik321 Nimmt man Peirces metaphorischen Vorbehalt gegenüber einer Selbstobjektivierung des Denkens methodisch ernst, dann ist nicht die Selbstwahrnehmung im Denken das Bezugsproblem (weil über das Denken nur unter einem metaphorischen Vorbehalt gesprochen werden kann), sondern eine andere, ähnliche Form der Unmittelbarkeit: die Wahrnehmung, oder genauer: die Art, wie in der (visuellen) Wahrnehmung schlussfolgernd gehandelt wird. Die Wahrnehmung hat ein aktiv-intentionales und ein passiv-responsives Moment. Sie verbindet ›Innen‹ (geistiges Auge) und ›Außen‹ (körperliches Auge). Semiotisch ist sie der Ort, an dem Interpretanten gebildet werden. Im Lichte der Idee, dass das Diagramm als »bewegtes Bild des Denkens« einen Bezug zum schlussfolgernden Denken unterhält, ist die Wahrnehmung eines Diagramms gegenüber dem Prozess des Denkens ref lexiv, weil das Diagramm anschauliches Denken ermöglicht. Anschauliches Denken heißt, dass der Denkprozess, der implizit abläuft, explizit vollzogen wird. Das Diagramm ist darin die Ref lexion einer impliziten Regel, die in der Wissensproduktion fundamental ist: des Schemas. Das Problem ist, wie man von einem Perzept (percept), einem Wahrnehmungsinhalt, zu einem perzeptiven Urteil, also der Identifikation dieses Inhalts mit einem Wahrnehmungsurteil, gelangt (perceptual judgement). Peirce hält diese beiden Teile des Wahrnehmungsprozesses streng auseinander. Ähnlich wie Kant fokussiert Peirce auf diesen Prozess als eine Überbrückung, in der von einer inhaltlichen Anschauung (Wahrnehmungsinhalt) zum urteilenden Begriff (Wahrnehmungsurteil) hin (und umgekehrt) gedacht wird. Dieses Argument hat die bei Umberto Eco freigelegte Pointe, dass Anschauung und Begriff ›medial‹ interpretiert und unter einen Primat der visuellen Wahrnehmung gestellt werden. Vergleichbar der metaphorischen Analogie von Schema und Denkbild wird eine metaphorische Analogie zu den semiotischen Basismedien Bild (Anschauung) und Schrift (Begriff) etabliert.322 Die Analogie besagt, dass der Schritt von Wahrnehmungsinhalt (percept) zum Wahrnehmungsurteil (perceptive judgement) ein Schritt vom Vorprädikativen zum Prädikativen ist. Die so häufig zu findende mediale Entgrenzung der Anschauung in das Bild und des Begriffs in die Sprache ist in dieser These der Semiotizität der Wahrnehmung, ihrer Zeichenförmigkeit, angelegt.323 Zum Verhältnis von Wahrnehmungsinhalt und Wahrnehmungsurteil schreibt Peirce in der ersten seiner Vorlesungen zum Pragmatismus von 1903, die Analogie zwischen Bild (Wahrnehmungsinhalt) und Schrift (Wahrnehmungsurteil) bemühend: »Die Frage ist, was das Phänomen ist. Wir geben uns nicht unnütz den Anschein, als 320 Vgl. zur Wahrnehmungslehre die präzise und grundlegende Aufarbeitung von Roesler 1999a, S. 116ff., S. 162ff. Vgl. auch Wilharm 2015, S. 363ff. 321 Vgl. auch die Neukontextualisierung von Aspekten der vorliegenden Argumentation in diesem Abschnitt bei Ernst/Schröter 2015. 322 Vgl. Reichertz 2003, S. 45f. 323 In Bezug auf Medialität ist es aufschlussreich, hier auch den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Peirce und Derrida nachzugehen. Vgl. etwa Schönrich 1990.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

gingen wir hinter die Phänomene zurück. Wir fragen bloß, was umfaßt der Wahrnehmungsinhalt ?«324 Und weiter: »Die ganze Frage besteht darin, was die wahrgenommenen Fakten sind, so wie sie uns in direkten Wahrnehmungsurteilen gegeben werden. Unter einem Wahrnehmungsurteil verstehe ich ein Urteil, das in Satzform aussagt, worin eine Eigenschaft eines Wahrnehmungsinhaltes besteht, der unserem Verstande nicht gegenwärtig ist. Der Wahrnehmungsinhalt ist natürlich nicht selbst ein Urteil, noch kann ein Urteil einem Wahrnehmungsinhalt in irgendeinem Grade gleichen. Es ist ihm so wenig ähnlich, wie die gedruckten Buchstaben in einem Buch, in dem eine Madonna von Murillo beschrieben wird, diesem Bild selbst ähnlich sind.«325 Innerhalb der Peirce’schen Wahrnehmungslehre sind Perzepte eine Reaktion auf »feelings« und »sensations«,326 also unstrukturierte Sinneseindrücke jenseits von Unterscheidungen. Perzepte führen demgegenüber »sinnliches Unterscheidungswissen wie Farbe, Härte, Größte etc.« an diese Eindrücke heran und enthalten bereits Figuren und Gestalten wie »Tische« oder »Stühle«.327 Die Perzepte bleiben aber vorsprachlich, unbewusst und zwingend.328 Das Perzept ist ein intersubjektiver Sachverhalt, also kein Privateindruck, der sich in einer individuellen Psyche bildet. Das Perzept ist etwas, das durch kulturelles Wissen präformiert ist, also unter die Regeln des Schematismus der empirischen Begriffe fällt. Das aus »feelings« und »sensations« zusammengesetzte Perzept, also der Wahrnehmungsinhalt, wird in einem Wahrnehmungsurteil in eine prädikative Form gebracht: »Der Schritt vom Wahrnehmungsinhalt zum Wahrnehmungsurteil ist der Schritt vom Vorprädikativen zum Prädikativen, vom Unbegriff lichen zum Begriff lichen«329, wie Jo Reichertz feststellt. Peirce schreibt: »Ein Urteil ist ein Akt der Bildung eines vernünftigen Satzes, der mit seiner Annahme oder dem Akt der Zustimmung zu ihm verbunden ist. Auf der anderen Seite ist ein Perzept ein Bild oder ein Film oder eine andere Darbietung. Das Wahrnehmungsurteil, das heißt das erste Urteil einer Person über das sich ihren Sinnen Bietende, hat nicht mehr Ähnlichkeit mit dem Perzept als die Figur, die ich jetzt zeichne, einem Menschen ähnlich ist.«330 Zwei Jahre früher hatte Peirce seine Analogie des Perzepts zum Bild auf das technische Medium der Fotografie ausgedehnt, als er das Perzept folgendermaßen definierte: »I see an inkstand on the table: that is a percept. Moving my head, I get a different percept of the inkstand. It coalesces with the other. What I call the inkstand is a generalized percept, a quasi-inference from percepts, perhaps I might say a composite-photograph

324 Peirce 1976b, S. 354. 325 Peirce 1976b, S. 355. 326 Vgl. Reichertz 2003, S. 46f. 327 Reichertz 2003, S. 47. 328 Vgl. auch Reichertz 2003, S. 47. 329 Reichertz 2003, S. 48. 330 Peirce 1973, S. 149.

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of percepts.«331 Schon das Perzept ist kein eindeutiges Bild, sondern wird von Peirce prozessual als Zusammensetzung aus verschiedenen Eindrücken gedacht, die wie eine Kompositfotografie oder ein Film ›ablaufen‹. Sie bilden einen generellen, gleichwohl aber noch vorprädikativen Wahrnehmungsinhalt, der zum Gegenstand von prädikativen Urteilen wird. Ein Wahrnehmungsurteil übersetzt dieses Perzept dann in eine prädikative Aussage mit einer Proposition: »Eine Beobachtungstatsache unterscheidet sich von einem Perzept nur darin, daß ein Perzept ein Vorstellungsbild (image) ist, während eine solche Tatsache eine wahre Proposition ist, die auf ein Vorstellungsbild zutrifft. Man kann zutreffend sagen, daß sie ein Element jenes Vorstellungsbildes ist, das von diesem abstrahiert wurde, vorausgesetzt, daß man beim Gebrauch dieser Redewendung verstanden hat, daß, genauer formuliert, ein Vorstellungsbild an sich nur das ist, was es ist und keinerlei Proposition einschließt, die ein Objekt ist, das zu einer radikal anderen Kategorie angehört. Ein Perzept, im strengsten Wortsinne aufgefaßt, enthält deshalb überhaupt keine Tatsache.«332 Peirce deutet diesen Zusammenhang in seinen späteren Schriften in der Weise, dass Perzepte zwar keine Tatsachen enthalten, dennoch aber Zeichen sind.333 In den Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus werden sie als unmittelbare Objekte gefasst, die in einer Relation zu einem Wahrnehmungsurteil stehen. Die Wahrnehmungsurteile sind dann Interpretanten, also in Handlungen ausagierte, unterschiedlich generalisierte Urteile, die das Zeichen identifizieren.334 Um Wahrnehmungsurteile zu bilden, muss die Wahrnehmung sich auf mehrere Perzepte beziehen. Nur so kann geklärt werden, welchen Stellenwert ein Wahrnehmungsurteil hat, ob es sich also z.B. um eine Illusion handelt oder aber um ein reales Objekt. Bemerkenswert ist allerdings, dass nicht das einzelne Bild, sondern eine Bilderfolge und vor allem derjenige Moment, an dem verschiedene Eindrücke dieser Bilderfolge zu einem Einzelnen verbunden werden, für Peirce dasjenige sind, was die Generalität des Perzepts ausmacht, also seine Eigenschaft, »feelings« und »sensations« mit den abstrakten und schematischen Konzepten ›Tisch‹ oder ›Stuhl‹ zu verbinden. Die Bildung eines Perzepts ist ein Prozess der Einbildungskraft, in dem »schemata or imaginary skeleton diagrams«335 zur Anwendung kommen, die in Wahrnehmungsurteilen generalisiert werden. Die »Überblendung«,336 die hier stattfindet, ist also auf ein Diagrammskelett in der Wahrnehmung angewiesen. Das Perzept ist, mit anderen Worten, vom Schema durchwirkt. In der Diagrammatik-Forschung ist deshalb die These prominent, man könne, wie etwa Aud Sissel Hoel das tut,337 von einer »Diagrammatic Perception« oder gar einer »diagrammatic conception of the perceptual

331 Zit.n. Roesler 1999a, S. 121. Vgl. Peirce 2000/3, S. 394. Vgl. auch Wilharm 2015, S. 362f. 332 Peirce 2000/2, S. 175f. 333 Vgl. Roesler 1999a, S. 162ff. 334 Vgl. Roesler 1999a, S. 186ff. 335 Peirce 1994, CP 2.148. Vgl. Roesler 1999a, S. 127. 336 Vgl. dazu Pape 1995. 337 Vgl. Hoel 2012, S. 258ff.

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process«338 sprechen. Dem ist erst einmal wenig entgegenzusetzen. Peirce nimmt unzweifelhaft eine perzeptive Diagrammatizität an, die als Diagrammskelett – was bei Eco als »Strukturdiagramm« und bei Hoel als »schematic-diagram« erscheint – die Schemata der Wahrnehmung umfasst. Allerdings muss man aufpassen, die Vorsichtsgründe nicht zu übersehen, die Peirce nennt. Erstens sagt Peirce, dass ein Schließen in Diagrammen eine fokal-bewusste Tätigkeit ist, die in materiell verkörperten Darstellungssystemen ausgeführt wird. Um von diagrammatischem Schließen sprechen zu können, muss eine intentionale Manipulation, also ref lexive Rekonfiguration des Denkbildes in einem Diagramm vorgenommen werden. Zweitens war Peirce sich bewusst, dass in Perzepten die Gestalt des ›Tisches‹ auf die »feelings« und »sensations« bezogen wird und in diesem Schluss ein Schema am Werk ist. Peirce war sich methodologisch aber gleichermaßen bewusst, dass dieses Schema als ein Element des Denkens in der Wahrnehmung nicht beobachtet werden kann, sondern nur ref lexiv – und das heißt: in einer explizierenden Art des Sehens. Das Schema ist als Regel zur Konstruktion eines Konzeptes eine implizite Form des Denkens. Ein weit gefasstes Verständnis von Diagrammatik, das die Diagrammatik in den unbewussten Akten der Wahrnehmung vermutet, verschenkt die eigentliche Qualität der Diagrammatik, nämlich ein bewusst durchgeführtes Experiment zu sein, das gleichwohl nicht nur in Diagrammen im engeren Sinn vorkommt. Symptomatisch für diese Überdehnung ist es, dass Hoel in einer relativierenden Wendung bemerkt: »The broad take on the diagrammatic as a general theory of mediation raises questions concerning the status of diagrams proper, to which Peirce assigns a very specific, epistemic task: Diagrams are the sort of sign that are capable of communicating evidence, which is certainly not the case with just any human sign or tool.«339 Der Vorteil von Diagrammen ist, unbewusste schematisierende Kategorisierungen der Wahrnehmung in ihrer Regel- und Gestalthaftigkeit visuell explizieren zu können. Beispielsweise ist das begriff liche Konzept des ›Einhorns‹ vage, weil es – wenn es Marco Polo gelingt, dass dieses Konzept auf ein Nashorn angewendet werden kann – adaptierbare Grenzen und eine prototypische Gestalt hat, bei der man (mehr oder weniger) guten Gewissens von Eigenschaften wie ›Pferd‹ und ›schlank‹ absehen kann, sofern die Identität in einem partikularen Merkmal (dem Horn) gewährleistet ist. Diagrammatisches Denken beginnt also in einem – so die zugespitzte Lesart – metaphorisch als diagrammatisch zu bezeichnendem Schließen in der Wahrnehmung. Es ist aber als Form von Denken nicht identisch mit einer impliziten perzeptiven Diagrammatizität, sondern baut auf dieser inferenziellen Struktur auf. Was ist aber genau ist diese ›diagrammatische‹ Inferenz der Wahrnehmung? Und was ist perzeptive Diagrammatizität?

338 Hoel 2012, S. 263. 339 Hoel 2012, S. 266f.

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3.4.2 Wahrnehmung als abduktives Schließen Wie Alexander Roesler in seiner detaillierten Aufarbeitung der Peirce’schen Wahrnehmungstheorie gezeigt hat, ist die Zeichenhaftigkeit der Wahrnehmung mit dem abduktiven Charakter des Wahrnehmungsurteils verf lochten.340 Wahrnehmung ist ein unbewusstes, kontinuierliches und abduktives Schlussfolgern in Zeichen.341 Wie erwähnt, ist die Abduktion im Unterschied zu Deduktion und Induktion die einzige Schlussform, die das Potenzial hat, neue und neuartige Zusammenhänge aufzudecken. Die Abduktion ist »hypothesengenerierend«342. Bei der Abduktion geht es im Unterschied zur Deduktion, die einen Schluss von Regel und Fall auf das Resultat darstellt, und zur Induktion, die einen Schluss von Fall und Resultat auf die Regel ist, um einen Schluss von Regel und Resultat auf einen Fall. Ausgehend von einem Resultat, das überraschend und erklärungsbedürftig ist, wird eine Regel aufgestellt, die das Resultat als Ergebnis eines selbstverständlichen Falls erscheinen lässt. Dieses hypothesenbildende Aufstellen einer erklärenden Regel setzt voraus, dass an einer Stelle im Erkenntnisprozess die »Prämissen eine [ikonische, C.E.] Repräsentation der Konklusion darstellen.«343 Peirce ordnet die Abduktion psychologisch der Sinnlichkeit (Aisthesis) zu, die Deduktion dem Willen und die Induktion der Gewohnheit.344 Diese sinnliche Qualität deutet Peirce mitunter naturalistisch, wenn er die Abduktion in der Wahrnehmung zum Beispiel als instinktgeleitetes Schließen begreift, das Anpassungen an Umweltbedingungen sicherstellt.345 Wie Susanne Rohr ausführt, bilden für Peirce »Abduktion und Perzeption daher Bestandteile eines Kontinuums«346, in dem ein Wahrnehmungsinhalt konkretisiert wird. In Wahrnehmungsurteilen wird ein Perzept in seiner dem Bewusstsein unmittelbaren Qualität bestimmt, also dass beispielsweise das Wasser blau ist (und nicht weiß wie der Sand). Wahrnehmungsurteile sind Konstrukte des Bewusstseins. Sie sind mit Gewöhnung verknüpft, weil die Wahrnehmung dem Bewusstsein unmittelbar wahr erscheint, tatsächlich aber auch eine Sinnestäuschung sein kann. Im Wahrnehmungsurteil wird ein Objekt (Perzept) mit Qualitäten, also Eigenschaften, identifiziert und aus diesem Urteil eine Handlungskonsequenz abgeleitet. Peirce bemerkt, »daß die Zuschreibung von Existenz im Wahrnehmungsurteil zu ihm [dem Perzept] praktisch und in einem weiten Sinn ein logisch Abduktiver Schluß ist, der sich fast zu einem notwendigen Schluß annähert.«347 Spekulativ ist die Abduktion, weil die erklärende Regel ausgehend von dem Resultat erfunden werden muss und darin eine auf bekanntes Wissen ›rückführende‹ – ein späterer Begriff für Abduktion ist bei Peirce die »Retroduktion«348 – Erklärung ist:

340 Vgl. auch Peirce 1998a, S. 229: »[…] it is necessary to form a clear notion of the precise difference between abductive judgement and the perceptual judgement which is its limiting case.« 341 Roesler 1999a, S. 13. 342 Rohr 1993, S. 92. 343 Rohr 1993, S. 91. 344 Vgl. Rohr 1993, S. 93. 345 Vgl. Rohr 1993, S. 102, die auf Ayim 1974 verweist. 346 Rohr 1993, S. 103. 347 Peirce 2000/3, S. 151. 348 Vgl. dazu auch Ayim 1974, wo die »Retroduktion« als instinktiv diskutiert wird.

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»Suppose I enter a room and there find a number of bags, containing different kinds of beans. On the table there is a handful of white beans; and, after some searching, I find one of the bags contains white beans only. I at once infer as a probability, or as a fair guess, that this handful was taken out of that bag. This sort of inference is called making an hypothesis.« 349 Als Schlussfolgerung ist die Abduktion riskant, kann also als ›spekulativ‹ betrachtet werden. Sie konstruiert ad hoc eine Hypothese, wie das Resultat zu erklären ist. Man versucht, sich einen Sachverhalt so herzuleiten, dass er keine erklärungsbedürftige Überraschung mehr ist, sondern als folgerichtig, also aus einer Regel ableitbar, erscheint. In der Abduktion wird, wie Peirce schreibt, eine Hypothese konstruiert. In der Vorlesung Pragmatism as the Logic of Abduction lautet das Beispiel: »The surprising fact, C, is observed; But if A were true, C would be a matter of course. Hence, there is reason to suspect that A is true.«350 In der Forschung ist der Status der erklärenden Regel A in dieser Formulierung aus der Vorlesung Pragmatism as the Logic of Abduction von 1903 vielfach diskutiert worden. Michael Hoffmann schreibt, dass diese erklärende Regel A voll konstituiert sein, also bewusst sein muss.351 Gemeint ist damit, dass wenn die Annahme von A für das unklare C als Selbstverständlichkeit fungiert, sie C auf bereits bekanntes Wissen zurückführen können muss. Die Hypothese A formuliert einen Zusammenhang, weil Ähnlichkeiten von Eigenschaften erkannt werden. Hoffmanns These vom bewussten oder potenziell thematisierbaren Status von A ist gerade auch im Lichte der Explikation von implizitem Wissen plausibel, weil die Hypothese A zwangsläufig explizit machen muss, was in der Erwartung von C mitimpliziert war. Unter Rückgriff auf ein Manuskript von 1892 hat Alexander Roesler herausgearbeitet, dass das A, also die Hypothese, folgerichtig selbst die Form eines Schlusses hat, in dem das unklare Perzept C in seinen Eigenschaften bestimmt und auf ein bekanntes Objekt zurückgeführt wird. Rechnet man diesen Schluss ein, dann sieht ganze Wahrnehmungsurteil nach Roesler so aus: »Die überraschende Tatsache C wird beobachtet, also: C hat die Prädikate P1, P2, P3; Wenn A wahr wäre, wenn also die Folgerung M hat die Prädikate P1, P2, P3; C hat auch die Prädikate P1, P2, P3; Also ist C ein M zutrifft, dann wäre C eine Selbstverständlichkeit, dann wäre das Auftreten von der Prädikate P in Beziehung auf C völlig klar und nichts

349 Peirce 1992, S. 188. 350 Peirce 1998a, S. 231. 351 Vgl. Hoffmann 2005, S. 196f.

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Überraschendes mehr; Also besteht Grund zur Vermutung, daß A wahr ist, daß also C wirklich ein M ist.« 352 Zwar ist es an dieser Stelle Spekulation, aber man kann überlegen, ob die Beziehung zwischen C und M in der Hypothese A mit Michael Polanyis Idee verbunden werden kann ( Kap. 2.2.3), dass die Wahrnehmung eines ›distalen‹ Terms C nur insoweit gelingt, als M als implizit fungierender Term vorausgesetzt wird.353 Man kann also überlegen, ob nicht eine Ähnlichkeit in den Eigenschaften von C und M gesehen werden muss, immer auch eine Transformation von implizitem Wissen ist, was bei Polanyi freilich auch über somatisches implizites Wissen begründet wäre. Die Aufschlüsselung des Wahrnehmungsurteils als abduktivem Schluss zeigt, dass dabei eine visuelle Komponente eine Rolle spielt. Die Regel A kann nur aufgestellt werden, wenn zwischen den erklärungsbedürftigen Umständen ein Zusammenhang erkannt wird. Zwischen zuvor unverbundenen Beobachtungen und Wissensbeständen muss man Verbindungen sehen, also Ähnlichkeiten sinnlich feststellen: »Hypothesis is where we find some very curious circumstance, which would be explained by the supposition that it was a case of a certain general rule, and thereupon adopt that supposition. Or, where we find that in certain respects two objects have a strong resemblance, and infer that they resemble one another strongly in other respects.«354 Dieses Ähnlichkeitserkennen ist ein Erkennen der Ähnlichkeiten von qualitativen Eigenschaften. Das A ist von der Art einer Folgerung, also diejenige Regel, unter die ein Wahrnehmungsinhalt, in Peirces Begriffen: ein Perzept gestellt wird. Diese Regel nennt Peirce phasenweise das »percipiuum«.355 Dahinter verbirgt sich das Schema eines ›Types‹, mit dessen Hilfe die Eigenschaften von C mit denen von M abgeglichen werden können, wobei von der Gleichheit einiger Merkmale auf die Gleichheit aller Merkmale geschlossen wird (qualitative Induktion).356 Dieser Schluss ist nicht kreativ. Wird dagegen ein neues ›percipiuum‹ als schematische Zusammenstellung von Merkmalen konstruiert, dann wird er kreativ.357 Suanne Rohr bemerkt, dass dieser Übergang von einem Wahrnehmungsinhalt in ein Wahrnehmungsurteil als Übergang vom »Vorsprachlichen zum Sprachlichen, des Bildes zum Text« zu verstehen sei, also als eine Bewegung, in welcher der »Beginn diskursiver – wenn auch unbewußt-blitzhafter – Erkenntnis«358 hergestellt wird. Wenn auch die abduktive Struktur der Wahrnehmung keine explizite ist, ist doch im Übergang in ein Wahrnehmungsurteil die Struktur der Möglichkeit für eine Explikation geschaffen. Ähnlich betont auch Pentti Määttänen, dass die Konstitution von Bedeutung in der Wahrnehmung als ein Vorgang gedacht wird, der nicht sprachlich zu verstehen sei, sondern die Sprache auf

352 Roesler 1999a, S. 199. Vgl. Hoffmann 2005, S. 200f.; Hoffmann 2011b, S. 30ff. 353 Vgl. Polanyi 1985, S. 18f. Vgl. dazu auch Rheinberger 2005, S. 63f. 354 Peirce 1992, S. 189. Vgl. für eine genauere Differenzierung zwischen Hypothese und Abduktion Reichertz 2003, S. 25ff., S. 39ff. Ich lese den Sachverhalt so, dass die Hypothese die in der Abduktion aufgestellte erklärende Regel ist. 355 Vgl. Reichertz 1991, S. 37ff. 356 Vgl. Reichertz 1991, S. 39f. 357 Vgl. Reichertz 1991, S. 41. 358 Rohr 1993, S. 104.

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einer vorgängigen, als schematisch und verkörpert (im Sinne von Embodiment) verstandenen Erfahrung, auszulegen sei.359 Allerdings ist es wichtig, wie Uwe Wirth gezeigt hat, auch nicht-körperliche Beispiele wie die Ergänzung von Buchstaben in fehlerhaft geschriebenen Worten für eine solche implizit ablaufende Abduktion in der Wahrnehmung zu berücksichtigen. Diese »synekdochische Leerstellenergänzung«360 ist ein gutes Beispiel für ein kulturell erlerntes Deutungsschema, das die Wahrnehmung anleitet. Dieses Wahrnehmungsschema gewinnt den Status eines Vorwissens, das die Wahrnehmung eines Textes (im Fall eines Wissens um das Medium der Schrift) reguliert. Wirth macht ebenfalls darauf aufmerksam, dass dieses Wissen dem Bereich des impliziten Wissens zugerechnet werden kann, hier: dem Spezialbereich der ›Unsichtbarkeit‹ des Mediengebrauchs.361 Daran ist vor allem die Frage interessant, wann der Prozess bewusst und also ref lexiv wird.362 Wenn dieser Prozess ref lexiv wird, dann folgt auf die Phase der Identifikation und Konzentration (Wahrnehmung/Abduktion) eine Phase des Kontrastierens und Systematisierens (Überzeugung/Deduktion), die in eine Phase des Prüfens und Kritisierens übergeht (Handlung/Induktion).363 Die Wahrnehmungsurteile der ersten Phase werden in andere Zeichen übersetzt, in denen sie weiteren Prüfungen ausgesetzt werden können.

3.4.3 Die Diagrammatizität in der Wahrnehmung Was in der Wahrnehmung implizit war, wird durch seinen überraschenden oder problematischen Charakter zu einer Herausforderung, die es nötig macht, die Wahrnehmung zu explizieren, damit aber semiotisch und medial umzuformen. Möglich ist eine Explikation von Wahrnehmung nur, wenn die Wahrnehmung in sich eine Form ausbildet, in der sowohl die Gegenständlichkeit des Perzeptes als auch die Regel, unter die das Perzept gestellt werden soll, in einer zweiten Form, die nicht mehr die Form der Abduktion ist, markiert werden. Der für die erklärende Regel vorgenommene ›retroduktive‹ Schluss

359 Vgl. Määttänen 2015, S. 22. Das ist eine in der Sache richtige These und ich argumentiere in eine ähnliche Richtung. Vgl. zu dieser Diskussion auch Krois 2011. Allerdings ist es m.E. vorschnell, Peirce einen ›Embodiment‹-Begriff zu unterstellen. Dazu sind die Verkörperungsthesen von Peirce zu unspezifisch. Eher schon richtig ist, dass ›Embodiment‹-Theorien an Punkten wie diesem einen blinden Fleck in der pragmatistischen Semiotik von Peirce konkretisieren können ( Kap. 5). Dies teilt Marrinan 2016, S. 54ff. 360 Wirth 2010, S. 396. 361 Vgl. Wirth 2010, S. 396. Dort wird auf den Aufsatz Tacit Inference von Michael Polanyi (1969, S. 138ff.) verwiesen. 362 Vgl. auch Wiesing 2002, S. 45. Wiesing wendet gegen das Modell vom unbewussten Schließen ein, es könne nicht erklären, woher es von diesen unbewussten Tätigkeiten wisse. Auf eine Grundlagendebatte zwischen Phänomenologie, die Wiesing vertritt, und Semiotik kann an dieser Stelle aber nicht eingegangen werden. Kritisiert wird die phänomenologische Position aus Peirce’scher Perspektive am Beispiel der Einschätzung von Bild und Diagramm bei Wentz 2017, S. 61f. 363 Vgl. Rohr 1993, S. 111, hier nach Douglas Anderson.

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»M hat die Prädikate P1, P2, P3; C hat auch die Prädikate P1, P2, P3; Also ist C ein M« 364 wird als abduktive Hypothese zum Gegenstand eines explizitmachenden Folgezeichens. Dieses Folgezeichen wird zum Zweck konstruiert, die Bezugnahme der erklärenden Regel A auf ein Perzept zu rekonstruieren. Dieser retroduktive Schluss hat in Wahrnehmungsurteilen die Form einer Regel, involviert also eine Verallgemeinerung, die bei ausreichender Irritation ref lexiv in den Fokus rücken kann. Wenn das geschieht, kommt es zu einer Umformung der Abduktion in eine Deduktion, also zur bewussten Konstruktion eines ›Diagramms‹, das die Regel repräsentiert, darin durch die Schemata der Wahrnehmung in seiner Bedeutung geprägt ist, sich aber auch ref lexiv auf sie zurückbeziehen kann. Peirce spricht dem Diagramm – im weiteren Sinn – damit die Fähigkeit zu, das Moment einer sich in Bewegung vollziehenden deduktiven ›Observation‹, also einer schließenden Beobachtung in der Wahrnehmung, zu repräsentieren. In On the Algebra of Logic: A Contribution to the Philosophy of Notation aus dem Jahr 1885 heißt es: »The truth, however, appears to be that all deductive reasoning, even simple syllogism, involves an element of observation; namely, deduction consists in constructing an icon or diagram the relations of whose parts shall present a complete analogy with those of the parts of the object of reasoning, of experimenting upon this image in the imagination, and of observing the result so as to discover unnoticed and hidden relations among the parts. For instance, take the syllogistic formula, All M is P S is M ∴ S is P. This is really a diagram of the relations of S, M, and P.« 365 Bemerkenswert ist der Hinweis von Peirce, dass das Diagramm dank der Eigenschaft struktureller Ähnlichkeit eine Schlussfolgerung in ihrer Regelhaftigkeit und Gestalt als Relationenbild anschaulich repräsentieren und zum Gegenstand einer »observation«, also einer bewussten Beobachtung machen kann. Die Form der Relation des syllogistischen Schlusses mag in diesem Beispiel willkürlich sein, etwa, dass das Zeichen ∴ (folgt aus) ein Symbol ist.366 Gleichermaßen ist die von oben nach unten verlaufende Anordnung der Prämissen in einer räumlichen Fläche konventionalisiert. Dennoch ist die Schlussfolgerung selbst nicht willkürlich, sondern zwingend. Sie ist eine explizierende Visualisierung des syllogistischen Schlussprozesses.367 Aus diesem Grund kann Peirce sagen, dass dies ein Diagramm der Relationen von S, M und P ist. Und genau das ist das ›explikativ-evidenzielle Prinzip‹, das Diagramme ref lexiv werden lassen: 364 Roesler 1999a, S. 199. 365 Peirce 1992, S. 227f. 366 Vgl. zur Definition von algebraischen Formeln als Diagrammen auch Hoffmann 2005, S. 129ff. 367 Vgl. hier auch die Erläuterung der ›wenn-so‹-Relation als Explikation bei Gabriel 2009, S. 14.

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Sie sagen nicht nur, dass ein Schluss folgt, sondern qua ihrer Form zeigen sie auch, dass sich dieser Schluss vollzieht. Die Praxis der visuellen Wahrnehmung und eine Praxis des schlussfolgernden Denkens koinzidieren in der Form des Diagramms. Dieser Bezug auf die ›Form einer Relation‹ in einem Diagramm kann als eine explizitmachende Visualisierung einer mutmaßlichen impliziten Diagrammatizität der Wahrnehmung angesehen werden, also als eine Ref lexion der impliziten schematischen Inferenzen der Wahrnehmung.368 Praktiken der Diagrammatisierung erster Stufe entwickeln sich auf diesem Weg von der vorpropositionalen, nichtsdestoweniger aber implizit ›diagrammatischen‹ Struktur der Wahrnehmung in die bewusste, propositionale Form der Wahrnehmung. Sie sind ref lexiv auf die Wahrnehmung bezogen, weil sie deduktiv eine explizite Prüfung impliziter Wahrnehmungsregeln möglich machen. Wenn es richtig ist, dass, wie Peirce feststellt, Abduktionen »Denkvorgänge [sind, CE], die keine Konklusion hervorzubringen vermögen, die bestimmter ist als eine Vermutung«369, dann ist die Funktion eines diagrammatischen Experiments diejenige, die Vermutung zu konkretisieren, weshalb »die Abduktion auf Umwegen auf diagrammatischem Folgern [beruht]«.370 Ein ›diagrammatisierendes Sehen‹ erster Stufe, das sowohl bei Stjernfelt als auch bei Eco zu finden ist, hat also den Status eines bewussten Gedankenexperiments. Peirce bemerkt zu diesem Gedankenexperiment, dass es nicht selbstverständlich sei, dass die Regel des sich unbewusst vollziehenden Wahrnehmungsurteils durch das System der Diagrammatisierung angemessen erfasst werde. Vergleichsweise vage spricht er davon, dass »gewisse Transformationsweisen der Diagramme des benutzten Diagrammatisierungssystems manchmal auf die eine, manchmal auf die andere Weise als zulässig erkannt [werden]« und befindet sogleich, dass »wir […] uns nicht mit der Aufzählung dieser Weisen aufzuhalten [brauchen].«371 Die Textstelle ist von Bedeutung, weil die vorausgesetzte, nicht aber ausgeführte Explikation der Regel des Wahrnehmungsurteils gedacht wird. Ob diese Prüfung des Wahrnehmungsurteils adäquat ausfällt, ist nur entscheidbar, wenn man die Regeln des Darstellungssystems prüft. Peirce sieht das durch diejenigen Konventionen als geklärt an, die er für seine Existenziellen Graphen entwickelt.372 In Bezug auf diese Diagramme hatte er große Erwartungen: »Das System der Existenziellen Graphen, dessen Entwicklung gerade erst von einem einsamen Forscher in Angriff genommen worden ist, liefert bereits das beste Diagramm für die Inhalte des logischen Quasi-Geistes, das je gefunden worden ist und das noch viel zukünftige Ausbaufähigkeit verspricht.«373 Gelöst ist das Problem damit aber kaum. Unter welchen Bedingungen – das heißt: unter der Regelhaftigkeit welchen Darstellungssystems und unter welcher medialen Verkörperung dieses Darstellungssystems – lässt sich ein unbewusster, also impliziter Schlussprozess in der Wahrnehmung explizieren? Peirces Antwort ist: Diagrammatische Darstellungssysteme wie die Existenziellen Graphen ermöglichen diese Ref le368 Vgl. Pape 1997, S. 405: »Die Gleichung stellt nicht nur die Form der Relation der Gegenstände dar, sondern sie ist selbst ein Beispiel für diese Relation auf Ebene der Notation.« 369 Peirce 1998b, S. 322. 370 Peirce 1998b, S. 324. 371 Peirce 1998b, S. 321. 372 Vgl. etwa Peirce 2000/2, S. 98ff. 373 Peirce 1998b, S. 324.

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xion, indem sie als Darstellungssysteme einen »Rahmen möglicher Transformationen« abstecken und damit »einen Bereich notweniger Implikationen« determinieren,374 um diese Schlussstruktur unter experimentell-ref lexiven Bedingungen thematisch werden zu lassen und so zur Weiterentwicklung des Denkens beizutragen.

3.4.4 Zur Medialität des diagrammatischen Schließens Die Bedingungen, die angegeben werden müssen, um ein diagrammatisches Experiment durchzuführen, umfassen allerdings weit mehr Voraussetzungen als jenes Set von semantischen und syntaktischen Regeln, die für die Konstruktion von Diagrammen notwendig ist. Es ergeben sich auch Bedingungen im Hinblick auf die Medialität des Prozesses. Zurückkommen kann man dafür auf den Text Kategoriale Strukturen und graphische Logik. Logischer Traktat Nr. 2 und zwei Teile der Dritten Lowell-Vorlesung von 1903. Dort heißt es: »Ein Diagramm ist ein Repräsentamen, das ist erster Linie ein Ikon von Relationen ist und darin durch Konventionen unterstützt wird. Es werden ebenfalls Indices verwendet. Es sollte gemäß einem vollständig konsistenten Darstellungssystem, das auf einer einfachen und leicht verständlichen Grundidee aufbaut, ausgeführt werden.«375 Folgt man der Idee, dass die diagrammatischen Darstellungssysteme für Peirce wichtig werden, weil sie auch die implizite Schlussform der Wahrnehmung explizit machen und dies aufgrund ihrer visuellen Eigenschaften besser tun als die Sprache, dann können die von Peirce angeführten Eigenschaften eines Diagramms, sich ikonisch auf ein Symbol zu beziehen, als analog zu der durch das Schema repräsentierten Notwendigkeit gelesen werden, Perzepte zu konstruieren und unter eine begriff liche Regel zu stellen. Der ref lexive Mehrwert von Diagrammen liegt in der partiellen Explikation der regulär impliziten Schlussprozesse in der Wahrnehmung. Diese Explikation beinhaltet – eingedenk der zugespitzten Lektüre – eine metaphorische Relation zwischen dem Impliziten und seiner Explikation. Die Pointe daran war, dass diese Umformung den impliziten Schlussprozess erfasst und verfehlt: Ein Denkbild ist das Diagramm nur insofern, als es den impliziten Vollzug eines Gedankens aspektweise erfasst, beispielsweise eine inhärente Logik, aber von Eigenschaften wie der Gestalt des Gedankens oder anderen qualitativen Aspekten wie Emotionen absieht. Was das Diagramm jedoch tut, ist, eine Praxis anzuregen. Durch die Art ihrer Ikonizität machen Diagramme im Verlauf des Schlussfolgerns mit ihnen quasi ›bewegte Bilder des Denkens‹ sichtbar. Diese Bilder sind Denkbilder, die im Prozess des Durchlaufens des Diagramms erzeugt werden und die implizite Logik der Wahrnehmung ikonisch repräsentieren. Im Diagramm wird ein Schluss, der sich in ihm vollziehen kann, »ausgeführt«. Der Begriff Ausführung meint das aktive Ausspielen und das passive Vollziehen der durch das Denkbild gegenwärtigen Bewegungsmöglichkeiten im Diagramm. Wenn im Diagramm einmal eine Erkenntnis schlussfolgernd gewonnen ist, dann mündet dies wieder in einen veränderten Handlungsplan. 374 Hoffmann 2005, S. 136. 375 Peirce 2000/2, S. 98.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

Warum die Frage nach medialer Verkörperung wichtig ist, ergibt sich aus dem Prozess selbst: Wenn es das Problem ist, wie mit einem Diagramm anschauliche Schlussfolgerungen expliziert werden können, dann machen nicht nur die semantischen Regeln des jeweiligen Darstellungssystems einen Unterschied, sondern auch die pragmatische Frage, wie das Diagramm aufgrund seiner Medialität verwendet werden kann. Was geschieht, wenn man ein Diagramm durch verschiedene Medien verkörpert, also nicht nur durch Papier und Stift oder Tafel und Kreide? In dem Manuskript MS L75 Logic, Regarded as Semeiotic (1902) notiert Peirce mit Bezug des diagrammatischen Schließens zum Perzept in der Wahrnehmung: »By diagrammatic reasoning, I mean reasoning which constructs a diagram according to a percept expressed in general terms, performs experiments upon this diagram, notes their results, assures itself that similar experiments performed upon any diagram constructed according to the same percept would have the same results, and expresses this in general terms.«376 In diesem Zitat wird die Beteiligung eines diagrammatischen Darstellungssystems erwähnt (»notes their results«). Konstante Wahrnehmbarkeit und kontrollierbare Form eines Experiments sind Bedingungen, die an ein Medium gestellt sind. Peirce stellt das Diagramm in eine Serie von Experimenten, sieht es also als eine iterative Praxis an, die wiederholt werden können muss. Diagrammatisches Denken ist kein singulärer Akt. Als Experiment ist es notwendig seriell, es ist »serielles, experimentelles Operieren mit Diagrammen«377. Wie Peirce andeutet, dient diese Praxis dazu, eine Vergewisserung zu ermöglichen (»assures«). Ein medial verkörpertes Darstellungssystem bietet dafür den Vorteil, die Kontexte wechseln zu können, also die hic et nunc-Situativität eines Gedankenexperiments zu verzeitlichen und zu verräumlichen. Das Zitat ist ein Hinweis auf die Medialität des diagrammatischen Schließens. Dieser Schlussfolgerungsprozess ist in einem semiotischen Darstellungssystem verkörpert und erfüllt die Bedingung der Iterierbarkeit. Diagrammatisches Denken ist semiotisch. Doch dieses Denken steht in medialen Kontexten, mit denen es interagiert. Inwieweit beeinf lussen die medialen Kontexte das diagrammatische Denken? Helmut Pape argumentiert, dass Medien auf der materiellen Ebene eine untergeordnete Rolle spielen. Er stellt fest, »[…] daß wir keinerlei materielles Substrat benötigen, um eine visuelle Form als dieselbe wahrnehmen zu können. Gerade weil die rein visuelle Form eines Objektes einen so großen ontologischen Spielraum für kontingente Identitätsbeziehungen zu physikalischen Objekten schafft, kann es auch visuelle Objekte geben, die mit keinem physikalischen Gegenstand identisch sind. Dies ist der Ursprung der metaphysischen Unterscheidung zwischen wahrem Sein und trügerischem Schein.«378

376 Peirce 1976a/IV, S. 47f. 377 Meyer-Krahmer/Halawa 2012, S. 283. Vgl. Meyer-Krahmer 2012, S. 410ff. Grundlegend ausgearbeitet worden ist der Zusammenhang zwischen (insb. Peirce’scher) Diagrammatik und Serialität bei Wentz 2017. 378 Pape 1997, S. 88. Vgl. ähnlich auch Pape 2009, S. 414ff.

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Visuelle Formen können unabhängig von ihren materiellen Eigenschaften hervorgebracht und erkannt werden. Ob ich ein Einhorn auf einem Blatt Papier zeichne oder in einem Zeichentrickfilm, wäre demnach austauschbar. Papes Einschätzung ist von den idealen Gegenständen der Mathematik inspiriert. Die Idealität eines Kreises ist unabhängig von den individuellen Merkmalen, welche die materielle Verkörperung eines Kreises hat. Ein Kreis kann, auch wenn er nur schemenhaft zu erkennen ist, in der Mathematik als Kreis behandelt werden. In der Geometrie und der Mathematik ist dies ein klassisches Phänomen, stellt es doch die Frage, inwieweit die idealen Gegenstände dieser Disziplinen und Fächer reale und universelle Entitäten sind.379 Die Wahrnehmung hat die Fähigkeit, etwas als etwas zu sehen, also im Wahrnehmungsurteil überf lüssige Aspekte einer Repräsentation zu ignorieren oder fehlende Elemente zu ergänzen. Es ist möglich, von kontingenten Aspekten abzusehen, ohne dass ein logisches Urteil über einen Kreis falsch würde. Dieses Argument besagt nicht, dass es keine Differenz in der medialen Verkörperung gibt. Das Argument sagt nur, dass die Differenz keinen Bedeutungsunterschied macht. Die Differenz, die als bestehende Differenz beobachtet wird, ist die Differenz, dass das Denkbild als Form in unterschiedlichen Medien erzeugt werden kann. Für die Medienwissenschaft stellt sich dann die Folgefrage, ob und wann ein Unterschied entsteht, wann also die mediale Verkörperung in der Praxis des diagrammatischen Schließens relevant wird. Mit der Semiotik kann dieser Zusammenhang der Sache nach geklärt werden, aber nicht, ohne zwischen Medien und Zeichen zu differenzieren. Das Medium selbst ist im Zeichen gegenwärtig, nicht aber mit diesem identisch. Semiotisch betrachtet, steckt Medialität in der materiellen Dimension des Repräsentamens.380 Medialität ist aber auch in der semantischen Dimension des Interpretanten mitimpliziert. Daher kann angenommen werden, dass Medien dahingehend im Zeichen impliziert sind, als die Bedingungen, die das Repräsentamen und der Interpretant für die Konstitution des Zeichens haben, mediale Bedingungen sind, diese Bedingungen aber nicht im Zeichen aufgehen, sondern über das Zeichen hinausweisen. Die Medien ermöglichen die Konstitution des Zeichens, indem sie die Zeichen in der Welt und in Praktiken verankern. Medien helfen, wie Hartmut Winkler herausgearbeitet hat, die Grenze zwischen Zeichen und einer nicht-zeichenhaften Realität zu definieren ( Kap. 2.2.5).381 Die Medien bedingen die Selbstrepräsentativität des Zeichens mit, also die Eigenschaft von Zeichen, in praktischen Situationen als Zeichen von anderen Gegenständen differenziert und verwendet werden zu können. Dieser Unterschied kommt graduell ins Spiel, wenn Peirce von einem Ausführen des Diagramms spricht. Diese Ausführung ist aktiv und passiv. Der Unterschied entsteht, wenn die praktische Manipulation des Diagramms betrachtet wird. Spätestens dann gilt es, mit einem Medium umzugehen. Die Manipulationspraxis des Diagramms unterliegt den Möglichkeiten, die ein Medium für sie lässt. Darüber hinaus ist der Unterschied gegenwärtig, wenn man den Aspekt des Bewegungseffektes im Diagramm beachtet. Wenn das Diagramm nicht nur manipulierend bewegt wird, sondern es der Wahrnehmung so vorkommt, als ob die Konfiguration des Diagramms sich gewissermaßen selbst bewegt, dann macht es einen Unterschied, ob das Diagramm in 379 Vgl. grundlegend Pape 1997, S. 386ff. 380 Vgl. hier die Überlegungen zur medialen Wahrnehmung von Roesler 1999b. 381 Vgl. v.a. Winkler 2004a; Winkler 2008b.

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einem Bewegtbildmedium oder auf einem Blatt Papier realisiert ist. Die Möglichkeit zum manipulierenden Eingriff lässt die Medialität des diagrammatischen Denkens thematisch werden. Daraus folgt, dass der medientheoretisch interessante Aspekt der Diagrammatik relativ zum Mediengebrauch, also zur Praxis des Umgangs mit Medien bestimmt werden muss.382 Unterschwellig hat Peirce mit seinen Existenziellen Graphen die Diagrammatik als eine Medienpraxis behandelt. Das Medium, das Peirce als Medium des diagrammatischen Schlusses vorschwebt und das er im Kontext seiner Existenziellen Graphen beschworen hat, ist das Blatt Papier, auf welches das Diagramm gezeichnet wird. So bezeichnet Peirce das Blatt als »Phemisches Blatt« (an anderen Stellen auch als »Behauptungsblatt«), das »nicht nur ein Diagramm des Quasi-Geistes, sondern ebenso ein Diagramm des logischen Universums« ist.383 Diese kurzen Bemerkungen zur Medialität der Diagrammatik zeigen, dass es unzureichend ist, die semiotischen Konventionen zu untersuchen. Diskutiert werden muss, wie mit dem Medium in einer Praxis ›gearbeitet‹ wird, und das heißt auch, wie Praktiken der Diagrammatisierung vollzogen werden.

3.4.5 Reprise — Praktiken der Diagrammatisierung Die Bedeutung eines Diagramms ist durch Schemata mitgeprägt wie umgekehrt in einem Diagramm ein Schema als Denkbild explizit ref lektiert werden kann. Experimentell handeln, also ein diagrammatisches Schließen verwirklichen, ist nur in Form von Bildern, Diagrammen oder Metaphern möglich, die in inferenziellen und praktischen Zwecken stehen. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Unterschied zwischen der gegebenen semiotischen Repräsentation der impliziten Wahrnehmung und einer Wahrnehmung, die in ihrer Zeichenhaftigkeit ref lektiert wird, explizit gemacht ist. Vergleichbares geschieht im Diagramm. Man sieht die relationale Konfiguration eines Objektes und erkennt, was mit dieser Konfiguration möglich ist. Das Denkbild besteht aus rationalen Relationen.384 Peirce sieht die Darstellungssysteme der Geometrie und der Algebra in einer privilegierten Position. Allerdings ist dies weder so aufzufassen, dass Diagramme, zum Beispiel als Graphen, die einzigen Formen sind, welche Denkbilder hervorbringen können, noch so zu interpretieren, dass das Denkbild in beliebigen Zeichen und ihren Medien realisiert wird. Von den Diagrammen sind Darstellungssysteme wie die Existenziellen Graphen nur die kulturell elaborierteste Form von diagrammatischen Zeichen.385 Es ist von verschiedenen Praktiken (und Kulturtechniken) der Diagrammatisierung auszugehen, die Denkbilder evozieren können. Den entscheidenden Hinweis, welche Arten von Praktiken der Diagrammatisierung über ein Darstellungssystem wie die Existenziellen Graphen hinaus in Frage kommen, gibt Peirces Einteilung der Ikons, also die Unterscheidung in Bilder, Diagramme und Metaphern. Demzufolge ist es möglich, dass ein Bild als Diagramm ge382 Vgl. hier auch Ernst 2014b. 383 Vgl. etwa Peirce 2000/3, S. 121. Vgl. erläuternd Pape 2000, S. 37ff.; Pape 1997, S. 407ff., siehe auch Schäffner 2007, S. 319f. 384 Vgl. auch Stjernfelt 2007, S. 94ff. 385 Helmut Pape (1997, S. 440) schreibt: »Peirce war nicht der Meinung, dass die Graphenlogik ein besonders leichtgängiges Instrument für die Ableitung von Schlüssen sei. Er hat sie vielmehr wegen ihres ikonisch-analytischen Charakters entwickelt.«

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lesen wird. Bilder können diagrammatisiert werden, um sie ref lexiv zu betrachten und ein implizites Schema in der Bildwahrnehmung explizit zu machen. Frederik Stjernfelt hebt ebenfalls hervor, dass die Diagramme (Graphen) der Algebra für Peirce die Idealtypen diagrammatischen Schließens sind, allerdings auch andere Formen in Betracht kommen: »[…] but the same goes for your average landscape painting as soon as you stop considering its simple qualities, colors, forms etc. and move on to consider the relations between any of these parts. As soon as you judge fore-, middle-, and background and estimate the distance between objects depicted in the pictorial scene, or as soon as you imagine yourself wandering along the path into the landscape, you are operating the icon – but doing so in this way is possible only by regarding it as a diagram. You have no explicit awareness, it is true, of the rules which permit you to follow the imaginary track (the laws of perspective permitting you to construct the scene, gravity keeping you on the ground etc.), but still they are presupposed due the organization of your perception apparatus and your tacit common sense knowledge. The principles could be made explicit, and this is what counts. Thus, it is hard to take a closer look at any icon without at least performing proto-diagrammatic experiments with it to reveal some of the implicit truths inherent therein.«386 Die diagrammatisierende Betrachtung eines Bildes wird hier als Betrachtung einer imaginären Szene beschrieben, die in der Rekonstruktion der Relationen im Bild besteht und diese zu einem narrativen Szenario verbindet ( Kap. 6.2). Wird ein Bild diagrammatisiert, dann ist diese Auslegung ein Prozess des Explizitmachens von impliziten Relationen im Bild. Es ist ein ›explizierendes Sehen‹, das in Bezug zu einem impliziten Schema steht, welches als semiotische Form die Distanz der Relationen von Objekten, aber auch imaginäre Wege vorgibt und im ›Operieren‹ dieses Schemas durch kognitive Schemata angeleitet wird. Stjernfelt scheint dies an dieser Stelle als die reguläre Wahrnehmung des Bildes zu betrachten, also nicht wirklich zwischen (impliziter) perzeptiver Diagrammatizität und (explizitmachender) Diagrammatisierung erster Stufe zu differenzieren.387 Er bemerkt, dass die Prinzipien des Schemas sichtbar gemacht werden könnten. Damit setzt er voraus, dass das Schema ein unthematisches Schema ist, nicht aber, wie er schreibt, ein implizites Wissen. Im Vergleich mit einer älteren Variante des Textes wird die Bedeutung des impliziten Wissens gegenüber der soeben zitierten Variante aus Diagrammatology deutlicher.388 In der älteren Version ist nicht von »tacit common sense knowledge« die Rede, sondern bloß von »common sense knowledge«. Auch spricht Stjernfelt nicht von »implicit truths«, sondern von »unexpected truths«.389 Offenbar will Stjernfelt in der neueren Variante in Diagrammatology den Umstand akzentuieren, dass die Auslegung eines Bildes als Diagramm eine Explikation von implizitem Wissen darstellt. 386 Stjernfelt 2007, S. 92. 387 Vgl. hier auch Stjernfelts (2007, S. 275ff.) Ausführungen zu einer ›diagrammatischen‹ Bildanalyse. 388 Die ältere Variante ist 2000 und erneut 2011 veröffentlicht worden. In Diagrammatology ist sie in erweiterter Form das Schlüsselkapitel der Studie. 389 Vgl. Stjernfelt 2011, S. 333.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

Es ist möglich, Stjernfelts Ansatz an dieser Stelle aufzugreifen und zu ergänzen. Denn wenn implizites Wissen relevant ist – und Stjernfelt spricht von »tacit knowledge« und »implicit knowledge« – dann ist, mit Joachim Renn gedacht, der Unterschied zwischen unthematischem und implizitem Wissen relevant ( Kap. 2.2.2). Dieser Unterschied besagt, dass implizites Wissen nicht bloß unthematisches Wissen sein kann. Das würde bedeuten, dass implizites Wissen bruchlos expliziert werden kann, was nicht der Fall ist. Die Praxis der Diagrammatisierung ist zwangsläufig eine Umformung: Es werden etwa Hilfslinien in ein Bild eingezeichnet, um ein Schema in einem Akt der Konstruktion zu explizieren. Die Relationen in einem Bild werden aber nicht einfach ausgelegt, sondern diese Auslegung ist eine Konstruktion, die ref lexiv verwendet wird. In einem Diagramm macht man »notwendigerweise Gebrauch von einem spezifischen Symbol-System – eine vollkommen geregelte und sehr begrenzte Art von Sprache«390, die in ein Bild hineinprojiziert wird. Das explizite Denkbild ist insofern ein Schema in der Wahrnehmung, aber nur in dem Sinne, dass es durch Diagrammatisierung wie ein implizites Schema behandelt werden kann. Bei Michael Hoffmann heißt es: »[Die] konstruktive und die rezeptive Seite sind in der konkreten Arbeit am Diagramm immer aufeinander bezogen«391 – und zwar ref lexiv. Der Prozess des diagrammatischen Schließens ist in seiner vollständigen Form kein unbewusster Vollzug des Schemas in der Wahrnehmung, sondern eine Explikation zum Zwecke vorstellenden Begreifens. Es handelt sich um einen Akt, der die praktische Konstruktion von diagrammatischen Relationen einschließt. Zu Recht stellt Stjernfelt daher fest: »We can say that the diagram is so to speak the redrawing of an icon in terms of a apriori relations among its parts.«392 Dieses »redrawing« kann sich bis hin zu einem stark konventionalisierten Diagramm ausdifferenzieren. Gleiches gilt für das bereits diskutierte Beispiel der Fotografie einer Tanne ( Kap. 2.2.3). Damit das Beispiel funktioniert, muss die Differenz zwischen einer unbewussten, das heißt impliziten, und einer auslegenden, das heißt expliziten, Wahrnehmung als Dif ferenz bewusst gegenwärtig sein. Zu beachten ist, dass eine Wahrnehmung gegeben sein muss, in der die Zeichen als Zeichen ref lektiert werden. Die Repräsentationsfunktion der Zeichen muss explizit in einem Medium realisiert sein, das als Medium gesehen wird. Auf Ebene der Schemata ist es gleichwohl notwendig, zwischen semiotischen Bild-Schemata als einer Form von unthematischen kulturellen Wissen, das explizierbar ist, und kognitiven »image schemas«393 zu unterscheiden, die einem starken Begriff von implizitem Wissen angehören ( Kap. 5.2).394 Was im Denkbild am Schema verfehlt, oder genauer – ›ver-zeichnet‹ – wird, verweist auf diese implizite (und nicht einfach nur unthematische) Seite.

390 Peirce 1994, CP 2.599: »They are diagrammatic representations of the intellectual relation between the facts from which he reasons and the fact which he infers, this diagram necessarily making use of a particular system of symbols--a perfectly regular and very limited kind of language.« Vgl. Hoffmann 2005, S. 138. 391 Hoffmann 2005, S. 139. 392 Stjernfelt 2007, S. 95f., Hervorh. C.E. 393 Vgl. Johnson 1987. 394 Diese Differenz wird gerne übersehen. Im nächsten Kapitel werde ich dafür den bei Mark Johnson (1987) entwickelten Begriff der »image-schemas« ausführlich diskutieren ( Kap. 5.2).

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Diagrammatisierungen erster Stufe prüfen, ob das ›begriff liche Bild‹, das man sich im vorstellenden Begreifen als Wahrnehmungsurteil von dem problematischen Wahrnehmungsinhalt macht, dem Sachverhalt angemessen ist. Diese Diagrammatisierung ist eine Form von Gedankenexperiment, das mit einem Wahrnehmungseindruck, einem Bild oder einer Fotografie vorgenommen wird. Diagrammatische Zeichen werden in diesen Praktiken verwendet, um ein Raster an Relationen einzuführen, die als adäquat für die Lösung der vorgegebenen Problemlage angesehen werden. Diese Art der Explikation nutzt das Formeninventar und die mediale Vielfalt möglicher Arten, Relationen zu zeichnen und gegebenenfalls auch körperlich zum Ausdruck zu bringen. Dieser Prozess mündet in eine Handlung (induktive Prüfung). Daraus ist ersichtlich, dass das Denkbild, wie es im Diagramm entsteht, in Relation zur Induktion steht, also den Handlungsplan beeinf lusst, der aus dem Diagramm abgeleitet werden kann. Dieser Rückbezug auf die Handlung folgt aus dem Gedanken der Kontinuität, demzufolge die Konstruktion des Diagramms in einem Horizont möglicher Folgepraktiken steht. Diagrammatisierung zweiter Stufe beginnt da, wo die Diagrammatisierung in einem konsistenten diagrammatischen Darstellungssystem konstituiert ist, mit dem gedacht wird (als Idealbild dient die Geometrie). Der Unterschied ist, dass diagrammatische Zeichen nicht verwendet werden, um ein Bild zu abstrahieren, sondern um bereits erschlossene abstrakte Relationen wieder zu visualisieren. Die Diagrammatisierung erster Stufe ist das Verwenden diagrammatischer Relationen als Formen der Explikation impliziter Relationen der Wahrnehmung, beispielsweise der Bildwahrnehmung. Die Diagrammatisierung zweiter Stufe ist das Verwenden und die Weiterentwicklung diagrammatischer Darstellungssysteme. Praktiken der Diagrammatisierung können dabei nicht isoliert von der soziokulturellen Einbettung in »Ordnungen« betrachtet werden.395 In der Forschung ist die Tendenz unverkennbar, die Diagrammatik vorrangig auf zwei Höhenkamm-Diskurse einzugrenzen: die Wissenschaft und die Kunst. Was aber ebenso möglich ist, ist der Blick auf die diagrammatischen Praktiken, die in der Alltags- und vor allem der Populärkultur geläufig sind, also gleichsam ›wilde‹ Praktiken der Diagrammatisierung, so zum Beispiel in populärkulturellen Diskursen wie Verschwörungstheorien oder Parawissenschaften ( Kap. 6.2). Ausgehend von Peirce gedacht, handelt es sich in beiden Fällen um investigative Praktiken der ›wissenschaftlichen‹ Beobachtung. Die Wissenschaft ist eine Angelegenheit, die auch sehr einfache Praktiken umfasst, welche nicht im gesellschaftlich ausdifferenzierten Sinne ›wissenschaftliche‹ Praktiken sind, sondern Alltagspraktiken. Deshalb insistiert Peirce darauf, dass auch alle »Vorbereitungsarbeit […] wie z.B. das Experimentieren […] als das bloße Legen der Fundamente der Wissenschaften« anzusehen sei, und zwar die »Prozesse des Sammelns und Gruppierens der Ergebnisse der Beobachtung und des Schlußfolgerns aus ihnen […].«396 Diese seien »als das zu betrachten, was allein den Vorgang des Errichtens der Wissenschaft selbst konstituiert, so daß die Wissenschaft selbst […] in dem bestehen wird, was jene Menschen ihren Schlüssen aus Beobachtungen gefolgert haben.«397

395 Vgl. die Subsumtion des Begriffs des Diskurses unter den Begriff der der »Ordnung« bei Waldenfels 1998, S. 56f. 396 Peirce 2000/3, S. 488f. 397 Peirce 2000/3, S. 489.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

Dieser Punkt mag an dieser Stelle nicht mehr als eine Intuition sein. Er zeigt aber, dass die Diagrammatik mit Peirce auch in einer sozialtheoretischen Lesart nicht auf das Funktionssystem der Wissenschaft (und ihrer Spezialdisziplinen wie der Mathematik) begrenzt ist. Mit dieser Basisbestimmung diagrammatischer Praxis kann die Diagrammatik auch an Fragestellungen der kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft anschließen. Allerdings ist auf dem bisherigen Diskussionsstand eine Frage fast vollständig unbeantwortet: Was zeichnet die viel beschworene Kreativität des diagrammatischen Schließens aus? Wie verfährt diagrammatisches Schließen? Und was bedeutet es genau, dass im Diagramm ein Denkbild hervorgebracht wird?

3.5 Diagrammatische Denkbilder398 Der Anfang von Minority Report zeigt ( Kap. 1), dass Diagrammatisierungen von Bildern als Praktiken zur Entwicklung und Überprüfung von Hypothesen betrachtet werden können, die angesichts der Ambivalenzen und Ambiguitäten technischer Bildmedien in die Welt kommen. Anderton ist Detektiv, ein ›Investigator‹. Seine Schlusspraxis bezieht sich auf die Bildanalyse. Das Problem ist die Auslegung des Films aus dem Kopf der Precogs auf dem Display der Holosphere. Zweifelsohne ist Anderton ein Virtuose seines Faches. Betont wird in der Sequenz der Respekt, den die Polizisten im Raum vor seinen Fähigkeiten haben. Die Praxis der Bildauslegung ist Andertons Privileg, die anderen Akteure erfüllen Assistenzaufgaben. Wenn Anderton den Bilderstrom analysiert, befindet er sich zugleich in der Rolle eines Dirigenten. Schuberts Symphonie läuft im Hintergrund. Minority Report konzipiert Andertons Praxis also als eine analytische wie künstlerische, »ästhetikologische« Praxis. Diese Praxis involviert eine körperlich ausagierte Kreativität, die in den Domänen der Wissenschaft und der Kunst gleichermaßen beheimatet ist.399 Mit der Diskussion der Abduktion ist die soziokulturelle Ebene einer basalen Logik und Kreativität der Kultur berührt.400 Als eine Logik alltäglicher Kreativität übernehmen abduktive Schlüsse in alltäglichen Praktiken des ›Forschens‹ ihren Platz. Die Sozialtheorie hat die Formen von Schlussfolgerungen, so auch das abduktive Schließen, als »Handlungstyp[en]« identifiziert.401 Diagrammatisierungen beschreiben Handlungstypen einer investigativen Explikation von impliziten Wahrnehmungsurteilen. Ein vages und problematisches Wahrnehmungsurteil wird schrittweise in eine andere Form übersetzt und dadurch expliziert. Alexander Gerner bemerkt: »The diagrammatic is a method or a tool which enables us to know more, and to differentiate what is initially vague in a new way.«402 Als »Werkzeug« kann die diagrammatische Form intentional wirksam werden, also als Teil eines Handlungsplans in Handlungen eingehen. Steffen Bogen stellt zu Peirces Diagrammbegriff fest:

398 Vgl. auch die Weiterführung von Ideen aus diesem Abschnitt bei Ernst/Schröter 2015. 399 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 58ff. 400 Vgl. Wirth 2008. 401 Reichertz 1991, S. 67ff. 402 Gerner 2010a, S. 173.

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»Mit dem Begriff ›Diagramm‹ bezeichnet er nicht das abgeschlossene Ergebnis der Formgebung, sondern den Prozess der kontrollierten (Re-)Konstruktion, bei dem nicht nur Relationen der Formen in der Fläche, sondern auch Relationen der Formgebung in der Zeit relevant werden. Dieser Prozess ist in einen Diskurs eingebettet, der Konstruktionsvorschriften macht und zur Verallgemeinerung der Beobachtungen anhält.« 403 Vor dem Hintergrund des vorliegenden Arguments konstatiert Bogen hier auch: Praktiken der Diagrammatisierung sind nach Peirce potenziell in vielen Diskursen und Formen zu finden. Sie sind als Praktiken Teil von Diskursen, mögen diese nun ein Diagramm im gattungstheoretischen Sinne kennen oder nicht. Diese Verkörperung des diagrammatischen Schlusses impliziert zudem eine mediale Dimension der Diagrammatik. Sie wird relevant, wenn das Diagramm manipuliert, also rekonfiguriert werden muss. Darüber hinaus betrifft diese Medialität des Schlusses das Merkmal des Diagramms, ein, wie Peirce meint, ›bewegtes Bild des Denkens‹ zu sein. Das ist der zweite Punkt, den Bogen hervorhebt: Bewegt kann dieses Denkbild nur sein, wenn es, wie er feststellt, in Raum und Zeit verläuft, also eine verkörperte Operation ist. Die Konsequenz daraus hat jüngst Daniela Wentz gezogen. Unter Rekurs auf den Begriff des ›Denkbildes‹ stellt sie in ihrer Analyse von Peirces Formulierung fest: »Und insofern ihre Philosophie sich nicht mir etwas ihnen selbst Äußerliches beschäftigt, sondern insbesondere das Diagramm hier gleichermaßen Voraussetzung der Erkenntnis, Mittel der Erkenntnis und zugleich Objekt der Erkenntnis ist, das Denken in Diagrammen hier also mittels Diagrammen auf sich selbst zurückkommt, ist das System der Graphen-Logik nicht anders zu beschreiben als eine Medien-Philosophie, genauer noch, als eine Diagrammatologie oder eine Diagram-Philosophie. […] Abfolgen von Graphen sind damit nicht nur Bilder des Denkens, sondern Denk-Bilder, zum Denken auffordernde und in gewisser Hinsicht zugleich selbst denkende Bilder. Durch die strikte Verwendung nicht-sprachlicher Zeichen zur Darstellung schlussfolgernder Argumente transzendiert das System der EG den Horizont und das Paradigma der Sprache als Möglichkeitsraum, innerhalb dessen Denkprozesse sich vollziehen können. Die Existentiellen Graphen, die Peirce selbst als sein ›chef d’œuvre‹ bezeichnet, können also zwar so nicht ohne Weiteres als Bewegungs-Bilder des Denkens, aber sehr wohl als diagrammatische Darstellungsform des diagrammatischen Denkens und damit in der Tat als Kern der Peirceschen Erkenntnistheorie und Philosophie erachtet werden.« 404 Was aber sind die Bedingungen der Konstitution der Bedeutung eines solchen ›Denkbildes‹? Als Praxis ist eine Diagrammatisierung ein ref lexiver Akt, der sich so präzisieren lässt, dass er als Explikation einer in der (vom Primat des Visuellen her verstandenen) Wahrnehmung gewonnenen, abduktiven Hypothese angesehen wird. Anknüpfend daran, zeichnet sich ein alternativer Pfad in die Medientheorie ab, wenn diese Explikation in materiellen diagrammatischen Darstellungssystemen verkörpert wird.

403 Bogen 2005a, S. 165. 404 Wentz 2017, S. 110f.

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3.5.1 Schlussfolgerungen zeigen Anknüpfen kann man bei der Frage, warum Peirce dem diagrammatischen Denken, zumindest in seinen späten Schriften, eine so hohe Bedeutung einräumt. Diese Bedeutung der Diagrammatik hat mit der Kreativität desjenigen Schließens zu tun, das in Relationen vollzogen werden kann, oder in Peirces Worten: ein Schließen in der »Form einer Relation«, die ein Diagramm ist, das heißt, in einer Bezugnahme eine Form struktureller Ähnlichkeit zu einem Objekt behauptet. Das Diagramm hat für Peirce die anschauliche Evidenz eines ›bewegten Bildes‹. Bilder von Relationen, also Diagramme, zeigen, wie oben ausgeführt, unmittelbar logische Einsichten, die eine ›intellektuelle Notwendigkeit‹ realisieren. Diese intellektuelle Notwendigkeit ist das Ergebnis des Bewegungsvollzuges einer Schlussfolgerung in einem Diagramm.405 Peirce erwähnt, die Notwendigkeit dieser Schlussfolgerungsbewegung sei eine »Kraft«. Diese Kraft entsteht, weil die Bewegung im Diagramm eine zeitliche Dauer und einen räumlich sichtbaren Verlauf hat. Peirce erwähnt ferner, dass der Unterschied, den Diagramme gegenüber der Sprache machen, in der Anordnung der Elemente und ihrer Relationen in einer räumlichen Fläche liegt. Ein Diagramm ermöglicht es, die Konfiguration von Relationen in einer direkteren Weise zu verkörpern.406 Dieser Verlauf ist durch die Sichtbarkeit der Relationen im Diagramm in einer effektiveren Art und Weise (nach-) vollziehbar, als durch die unanschauliche Sequenzialität der Sprache. Die Räumlichkeit von Diagrammen ist zweifach bestimmbar: als eine semiotische Räumlichkeit des Darstellungssystems (Spatialität) und als eine Räumlichkeit des Mediums, das als ›Ding‹ die materiellen Bedingungen dieser Formenbildung mitbedingt (Exteriorität).407 Diagramme nutzen ihre Spatialität, indem aus der Konfiguration der Relationen die Bewegung einer Schlussfolgerung (nach-)vollzogen und die Gestalt dieser Bewegung als Kraft erfahren werden kann. Die Kraft erklärt sich aus der metaphorischen Analogie des Diagramms zum Denken. Es handelt sich um die Kraft der Evidenz einer Schlussfolgerung als Bewegung. Das Diagramm ist ein ›Bild des Denkens‹, in dem die Sichtbarkeit einer schlussfolgernden Operation das kennzeichnende Merkmal ist. Die Definition des Denkbildes als ›bewegtes Bild des Denkens‹ ist dafür die Voraussetzung. Mit der Operation kommt ein Kriterium hinzu, das nicht nur als ein Moment passiver Rezeption beinhaltet, sondern eine Eingriffsmöglichkeit bietet. Das Denken nimmt sich im Diagramm als selbstbewegt und als selbstbewegend wahr. Das Diagramm zeigt, dass das Denken als Schlussfolgerung eine Bewegung in einem Vollzug ist, also in einem Prozess. Als eine bewusste, fokal ref lexive Operation hat das Denken die Möglichkeit, eine Bewegung an einem Gedanken auszuführen. Die oben benannte Eigenschaft des Denkens, ein ›Bewegungsbild‹ zu sein, das durch die Form der Relation bewegt wird, sich in den Relationen selbst bewegen und die Form auch noch verändern kann, ist für Peirce also die Eigenschaft des Denkens, die in Diagram-

405 Vgl. auch die Bemerkungen zum Zusammenhang von diagrammatischen Hypoikons und Bewegung am Beispiel von Piktogrammen in Farias/Queiroz 2006, S. 294f. 406 Vgl. zum psychologischen Kriterium der »Direktheit« Wöpking 2016, S. 26ff. ( Kap. 5.4.3). Vgl. zum Begriff der Konfiguration auch Bauer/Ernst 2010, S. 9ff.; Wöpking 2016, S. 160ff.; Bauer 2014, S. 36ff. 407 Vgl. Wöpking 2016, S. 11ff. im Anschluss an Heßler/Mersch 2009a, S. 25f., S. 33. Vgl. zur Räumlichkeit von Diagrammen auch Wentz 2013.

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men als »bewegte Bilder des Denkens« nachvollzogen wird und durch einen ref lexiven Rückbezug auf implizite Denkprozesse das explizite Denken hervorbringt. Eine Voraussetzung dafür, dass das Denken sich im Diagramm bewegen kann, ist die semiotische Qualität des Diagramms, seine Objekte durch strukturelle Ähnlichkeit darzustellen. Relationen sind im Diagramm als Beziehungsverhältnisse zwischen Linien und Punkten repräsentiert, die als Layout von Bewegungsrichtungen interpretiert werden können.408 Durch das Merkmal struktureller Ähnlichkeit sind Diagramme intrinsisch bewegte Darstellungssysteme. Je nach medialer Verkörperung können sie durch Eingriffe auch extrinsisch bewegt werden, also im Rahmen einer durch eine vom Medium her ermöglichten Beziehung operationaler Ikonizität. Die Schnittstelle dieser Bewegung ist die Koordination von Vorstellungsbild und zeichnender Hand auf dem Papier. Ein Zitat dazu findet sich in den Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus (1906). Ich habe den Kontext dieser Stelle bereits erwähnt. Peirce argumentiert, dass die Zeichenhaftigkeit des Diagramms – also der Umstand, dass das Diagramm eine abstrakte Regel, von der gesagt werden kann, sie sei die abstrakte Schlussregel einer Abduktion in einem Wahrnehmungsurteil, ikonisch darstellen kann – dazu führt, dass das »Diagramm […] hinreichenden Anteil an der Durchschlagskraft eines Perzepts [hat], um im Interpreten einen Zustand der Aktivität, der mit Neugier durchsetzt ist, als seinen dynamischen oder mittleren Interpretanten zu bestimmen«.409 Das Diagramm steht ref lexiv so zur Wahrnehmung, dass es den Interpreten neugierig macht, mit dem Diagramm zu experimentieren. Dieser experimentierende Zustand ist derjenige, in dem das Diagramm zur Entwicklung eines Handlungsplans beiträgt, also in eine Handlung mündet, die als induktive Prüfung ein Teil des diagrammatischen Experiments ist. Hinsichtlich eines denkenden Geistes, der im Diagramm eine abduktive Hypothese prüft, ist die handelnde Aktivität in einem Diagramm aus diesem Grund zweifach definiert: • als Aktivität im ›operationalen‹ Umgang des Denkens mit Diagrammen, womit die deduktive Manipulation der im Diagramm angelegten Relationen gemeint ist, also als Interaktion zwischen geistigem und händischem Experimentieren mit Relationen (Deduktion);410 • als Aktivität, die aus diesem Experiment einen Handlungsplan mitkonstituiert und zum Skript einer Handlung wird, welche als induktive Prüfung des Denkbildes im Diagramm erscheint, also aus den phänomenalen Eigenarten des diagrammatischen Experiments hervorgeht (Induktion). Die Aktivität erfolgt unter der Bedingung, dass das Diagramm aufgrund der Regulierungen, die sich aus der Konfiguration der Relationen ergeben, nur bestimmte Bewegungen zulässt, ja manche sogar als die erwähnte Kraft intellektueller Notwendigkeit gewissermaßen frei Haus liefert. Peirce beachtet diesen Umstand, indem er davon spricht, dass die Kraft des Diagramms, die seine ›intellektuelle Notwendigkeit‹ kons408 Vgl. auch Bauer/Ernst 2010, S. 64ff. Vgl. zur Erkenntniskraft der Linie ausführlich Krämer 2016, siehe zur für die Diagrammatik besonders wichtigen Punktlinie inzwischen ausführlich auch Gremske 2019. 409 Vgl. Peirce 1998b, S. 321. Vgl. dazu auch Stjernfelt 2007, S. 102ff. 410 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 103ff., der darauf hinweist, dass dies ein ›Trial-and-Error‹-Verfahren sei.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

tituiert, das Denken unter die Bedingungen der Form seiner Relation stellt, also den Horizont der Bewegungsmöglichkeiten derart einschränkt, dass Alternativen kopräsent mitsichtbar werden. In diesem Panorama der Alternativen erscheinen alternative Lösungsmöglichkeiten. Diese Facette der Peirce’schen Theorie ist von großer Bedeutung. Denn sie erfasst, welche Gestalt das Denkbild im Diagramm hat.411 Erwähnt worden ist, dass Peirce Metaphern aus dem Bereich der technischen Bildmedien seiner Zeit, insbesondere die Kompositfotografie bemüht.412 Die Metapher der Kompositfotografie hebt hervor, dass das Diagramm auf der Gestalt einer regelhaften Schematizität basiert.413 Die Art, wie das Diagramm Relationen und Elemente auf einer räumlichen Fläche in Beziehung setzt, ist das prägende Merkmal dieses Prozesses. In dem ›Denkraum‹, den ein Diagramm als Relationenbild eröffnet, werden virtuell alternative Möglichkeiten sichtbar. Die Möglichkeiten manifestieren sich durch eine in den Relationen implizierte Bewegung vor dem geistigen Auge: das Denkbild. Durch das Denkbild wird der Zustand der aktiven Neugier ausgelöst, weil es eine Eigenschaft des Diagramms ist, mögliche alternative Konfigurationen der Relationen sichtbar zu machen, also Alternativen zu zeigen, die handlungsleitend werden. Als »bewegtes Bild des Denkens« kann das Diagramm die aktual vollzogene Schlussfolgerung in einem Horizont virtueller Alternativen ausstellen, von denen, determiniert durch die individuelle, semiotische ›Transformationssyntax‹ des jeweiligen Darstellungssystems (etwa von Euler-Kreisen), manche Kombinationen als gültig und manche nicht als gültig angesehen werden.414 Versteht man das Denkbild in dieser Weise als angeleitet durch das Schema, dann gilt nach Peirce: »Das Schema sieht, wie wir sagen können, daß das transformierte Diagramm in der Substanz im zu transformierenden Diagramm und in den für es wichtigen Kennzeichen ohne Rücksicht auf Akzidenzien enthalten ist – wie z.B. der existenzielle Graph, der nach einer Streichung auf dem phemischen Blatt in dem ursprünglich dort stehenden Graphen enthalten ist, übrigbleibt und übrigbleiben würde, was für eine Farbtinte man auch benutzen würde. Das transformierte Diagramm ist der letztendliche [ultimate] oder rationale Interpretant des zu transformierenden Diagramms, der zugleich ein neues Diagramm ist, dessen anfänglicher Interpretant oder dessen Bedeutung die symbolische bzw. in allgemeine Begriffe gefaßte Formulierung der Konklusion ist.« 415 Das ist die Qualität, die der diagrammatischen Form der Deduktion eigen ist: Diese Art der Deduktion zeigt durch die Bewegung des Denkens im Diagramm eine im

411 Mit der Verwendung des Begriffs der Gestalt geht es mir darum, die phänomenale Form der kognitiven Größe des Denkbildes zu beschreiben. Ich verwende den Begriff der Gestalt so, dass er die Form eines Gedankens beschreibt. Damit folge ich der Kognitiven Semantik, insb. dem Ansatz bei Johnson 1987. 412 Vgl. Brunet 1996; Hoel 2012; Mersch 2012, S. 322ff.; Wittmann 2012. 413 Bei Krois (2011, S. 206) wird die Analogie als Vorwegnahme der Prototypen-Semantik gewertet ( Kap. 5.1.4). Wentz (2017, S. 104f.) macht im Rückgriff auf die Peirce-Forschung (Ralf Müller) auch noch auf eine andere Analogie aufmerksam: das Daumenkino. 414 Vgl. auch Stjernfelt 2007, S. 102ff. 415 Peirce 1998b, S. 322. Vgl. auch Peirce 1976a/IV, S. 318f.

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Wortsinne Folgerung.416 Im Prozess des Denkens werden dem Denken im Diagramm alternative Wege aufzeigt. Da diese Alternativen im Prozess des Denkens bestehen, kann das Denkbild, wenn es logisch zwingende Bewegungen durch die Relationen zeigt, seine Evidenzkraft entfalten: »Auf diesem labyrinthischen Weg und auf keinem sonst ist es möglich, Evidenz zu erlangen.«417 Für das Verständnis dieser Überlegung ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass Peirce diesen Vorgang prozessual denkt: Eine Schlussfolgerung ist ein Zusammenspiel aus Wahrnehmung, Überzeugung und Handlung. Dieses Zusammenspiel wird im Diagramm ausagiert, oder, wie Peirce das nennt, ›ausgeführt‹. Der Mehrwert des Diagramms liegt in seiner Fähigkeit, Schlussfolgerungen als Bewegungen zu zeigen. Aus diesem Grund kann Peirce das Diagramm als ein »bewegtes Bild des Denkens« auffassen. Die durch Bewegung im Denkbild realisierte Virtualisierung von Relationen erlaubt es, in einem Diagramm, »unnoticed and hidden relations among the parts«418 zu sehen. Diagramme sind also in der Lage, Beziehungsverhältnisse zu explizieren, die auch dann aus der Konfiguration der Relation im Diagramm folgen, wenn sie in dieser Konfiguration nicht sichtbar sind. In Über die Einheit kategorischer und hypothetischer Propositionen aus dem Jahr 1896 schreibt Peirce, dass Diagramme sich auf ein vorausgesetztes »konventionelles oder anderes allgemeines Zeichen eines Objekts« beziehen, das nach Peirce »[…] in jedem Falle durch ein Ikon ersetzt werden [muss], wenn aus ihm auch noch eine andere als die explizit gemeinte Wahrheit soll abgeleitet werden können. Eben in dieser Fähigkeit, unerwartete Wahrheiten zu enthüllen, liegt die Nützlichkeit algebraischer Formeln, so daß bei ihnen der ikonische Charakter vorherrscht«.419 Diagramme sind kreativ, weil sie, wie Michael Hoffmann gezeigt hat, auf das Paradox allen Lernens antworten, »dass, wenn man weiß, was man sucht, man nicht mehr suchen muss, und wenn man es nicht weiß, man auch nicht wissen kann, was man suchen soll.«420 In dem ›Sehen‹ von im Relationenbild zwar noch verborgenen, aber vorhandenen und zwingenden Relationen steckt das innovative Potenzial von Diagrammen. Peirce deutet die Metapher der Kompositfotografie als Metapher für das Denkbild aus diesem Grund in Richtung eines kinematografischen Bildes weiter.421 Das kreative Potenzial von Diagrammen liegt in ihrer Fähigkeit, Schlussfolgerungen im Lichte alternativer Möglichkeiten zu zeigen. Diese Kreativität ist verschränkt mit einer Art Kinästhesie des Diagramms, einer ›Kraft‹ als zwingender Bewegung. Diese Kinästhesie ist aus den lebensweltlichen und somit auch verkörperten Rückbindungen der Konstruktion des Diagramms motiviert. Das Diagramm verweist hier auf ein Vorwissen, das mobilisiert und umgeformt werden muss, um die abduktive Regel in ein dedukti416 Vgl. zu diesem Motiv insgesamt auch Wentz 2017 sowie bereits Pape 1995. 417 Peirce 1998b, S. 322. 418 Peirce 1992, S. 227. Vgl. auch das Zitat bei Hoffmann 2005, S. 137. 419 Peirce 2000/1, S. 251. 420 So schreibt Hoffmann 2005, S. 10, der hieraus eine Theorie der diagrammatischen Anteile des Lernens entfaltet. 421 Vgl. Pape 1995. Vgl. hierzu weiterführend auch Ernst/Schröter 2015, S. 64ff.

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ves Diagramm zu übertragen. Welche der Regeln, die für die Transformation des Diagramms im Lichte des Denkbildes als »zulässig erkannt« werden, hängt am jeweiligen Vorwissen, das »von einer früheren Induktion«422 herrührt. Schon in die Konstitution der Evidenzkraft des Denkbildes, die »dank der geringen Kosten bloßen geistigen Experimentierens bemerkenswert stark ist«,423 wie Peirce bemerkt, schreibt sich die Handlung mit ein. Der Prozess, alternative Möglichkeiten im Denkbild zu sehen, ist als Ref lexion des Schemas immer auch die Ref lexion der Muster von in früheren Handlungen erworbenem Wissen um Handlungsmöglichkeiten und insofern, das steht jedenfalls zu vermuten, von sensomotorischen Qualitäten durchwirkt. Dieses Wissen um Handlungsmöglichkeiten trägt »zur Bestimmung der zulässigen Transformation bei, die dann wirklich ausgeführt wird«424 – was im vorliegenden Kontext bedeutet, dass sie in der Manipulation des Denkbildes und in der Konstitution des Handlungsplans beachtet werden muss. Die Konstruktion des Denkbildes ist die Interpretation der Regel einer abduktiven Hypothese in einem Diagramm, nicht die implizite Hypothese in der Wahrnehmung. Im Denkbild gehen daher körperliche Wahrnehmungsschema und normative Deutungsschema im Rahmen einer nicht-sprachlichen und im weitesten Sinne ›materialen‹ Logik eine kreative Spannung ein ( Kap. 2.1.3). Deutlich ist nun zudem, warum die Differenzierung zwischen Denkbild und Diagramm getroffen wird: Um ein ›bewegtes Bild‹ sein zu können, in dem sich das Denken bewegt, muss das Diagramm andere Möglichkeiten als die in einem Schlussweg gewählten Möglichkeiten im Denkbild mitausstellen. Diese virtuellen Möglichkeiten sind als alternative Konfigurationen relativ zur aktualen Konfiguration des Diagramms im Vollzug der Bewegung kopräsent. Was aber ist dann das Denkbild?

3.5.2 Das Diagramm und das Denkbild Zieht man, wie in der Forschung des Öfteren geschehen, als Beispiel für eine diagrammatische Form des vorstellenden Begreifens das Aspekt-Sehen heran, dann ist anzumerken, dass zwar die Differenz von Wahrnehmungsinhalt und Wahrnehmungsurteil ref lexiv wird.425 Dennoch ist das nicht unbedingt eine kreative Operation. Kippbilder illustrieren, dass es zwei Wahrnehmungsurteile und Deutungsmöglichkeiten gibt, aber eben auch nur zwei.426 Die Kreativität der Diagramme liegt in der erwähnten intellektuellen Notwendigkeit des Denkbildes. Sie ergibt sich aus der Bewegung in einem Feld sichtbarer alternativer Möglichkeiten. Das Denkbild kann als Explikation einer abduktiven Hypothese auch untauglich sein. Kreativ ist das Denkbild darin, dass ein gewohntes System von Kombinationsregeln für Relationen rekonfiguriert werden muss, dabei aber alternative Konfigurationen, also im Darstellungssystem latent angelegte Relationen, mit sichtbar macht. Allein das ist ein Akt des Changierens

422 Peirce 1998b, S. 321. 423 Peirce 1998b, S. 321. 424 Peirce 1998b, S. 322. 425 Vgl. etwa Wöpking 2016, S. 110ff.; Viola 2012. 426 Vgl. Reichertz 2003, S. 47f.; Roesler 1999a, S. 139f. Vgl. zu Peirces Verwendung von Kippbildern auch Hoffmann 2005, S. 200f.

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mit einer normativen Angemessenheit des Denkbildes als System für Experimente, die Suche nach einem ›Passen‹.427 Interessanter wird die Sache, wenn man die Kreativität der möglichen Rekombination von Relationen innerhalb des Diagramms, das durch ein Denkbild definiert wird, als eine Praxis des Denkens mitberücksichtigt. Peirce sieht dafür eine kreative Form der Deduktion vor, die er der Mathematik entlehnt. In Nomenclature and Divisions of Triadic Relations, as Far as They Are Determined (1903) schreibt er: »Deductions are either Necessary or Probable. Necessary Deductions are those which have nothing to do with any ratio of frequency, but profess (or their Interpretants profess for them) that from true premisses they must invaribly produce true conclusions. A Necessary Deduction is a method of producing Dicent Symbols by the study of a diagram. It is either Corollarial or Theorematic. A Corollarial Deduction is one which represents the conditions of the conclusion in a diagram and finds from the observation of this diagram, as it is, the truth of the conclusion. A Theorematic Deduction is one which, having represented the conditions of the conclusion in a diagram, performs an ingenious experiment upon the diagram, and by the observation of diagram so modified, ascertains the truth of the conclusion.« 428 An anderer Stelle, und zwar in A Neglected Argument for the Reality of God (1908), macht er ergänzend folgendes Argument auf: »Deduction has two parts. For its first step must be, by logical analysis, to Explicate the hypothesis, i.e. to render it as perfectly distinct as possible. This process, like Retroduction, is Argument that is not Argumentation. But unlike Retroduction, it cannot go wrong from lack of experience, but so long as it proceeds rightly must reach a true conclusion. Explication is followed by Demonstration, or Deductive Argumentation. Its procedure is best learned from Book I of Euclid’s Elements, – a masterpiece which in real insight is far superior to Aristotle’s Analytics, – and its numerous fallacies render it all the more instructive to a close student. It invariably requires something of the nature of a diagram; that is, an ›Icon,‹ or Sign which represents its Object in resembling it. It usually, too, needs ›Indices,‹ or Sign which represent their Objects by being actually connected with them. But is mainly composed of ›Symbols,‹ or Signs which represent their Objects essentially because they will be so interpreted. Demonstration should be Corollarial when it can. An accurate definition of Corollarial Demonstration would require a long explanation; but it will suffice to say that it limits itself to considerations already introduced or else involved in the Explication of its conclusion; while Theorematic Demonstration resorts to more complicated processes of thought.« 429 Peirce zieht in diesem Zitat die Grenze zwischen einem engen Begriff von ›Explikation‹, den er auf den Prozess der Herstellung eines diagrammatischen Darstellungssystems bezieht, und der weiterführenden explikativen ›Demonstration‹ mit diesem Darstellungssystem. Berührt wird somit auch die Grenze zwischen Diagrammatisie427 Vgl. Hoffmann 2005, S. 113f. unter Bezug auf Nelson Goodman. 428 Peirce 1998a, S. 298. 429 Peirce 1998a, S. 441f.

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rung erster und zweiter Stufe. Für die Diagrammatisierung zweiter Stufe, die hier am Fall der Mathematik klar gemacht wird,430 ist die Differenz, auf die es ankommt, die zwischen korollarialer und theorematischer Deduktion. Eine korollariale Deduktion erkennt, dass die im Denkbild angelegten Relationen, logische Verhältnisse ausdrücken, die unmittelbar folgen.431 Dies ist äquivalent zu dem Moment, in dem das Denkbild durch die Art seiner Konfiguration von sich aus eine Erkenntnis produziert, die ›entführt‹ (engl. abduction) wird. Deshalb ist sie, so Peirce, in einer Explikation durch ein Diagramm zu bevorzugen. Die theorematische Deduktion, welche die kreative Variante der Deduktion darstellt, sei ein »more complicated processes of thought«, weil sie ein Experiment auf Grundlage des Denkbilds durchführt, welches das Diagramm rekonfiguriert und verändert. In dieser Deduktion muss man über das Diagramm hinausgehen und es auf Basis des Denkbildes rekonfigurieren. Dieser Akt ist ein Kernstück des diagrammatischen Schließens. Wie Michael Hoffmann feststellt, findet eine »Weiterentwicklung von Erkenntnisbedingungen« statt.432 Dieser Akt deckt jene verborgenen Relationen auf, die im Denkbild als einem ›bewegten Bild‹ angelegt sind und geht zu einer induktiven Handlung über. Die Handlung richtet sich ref lexiv auf die Korrektur der Prämissen des diagrammatischen Experiments, also auf die kreative Umarbeitung des Diagramms als eines Darstellungssystems:433 »Thinking in general terms is not enough. It is necessary that something should be DONE. In geometry, subsidiary lines are drawn. In algebra permissible transformations are made. Thereupon, the faculty of observation is called into play. Some relation between the parts of the schema is remarked. But would this relation subsist in every possible case? Mere corollarial reasoning will sometimes assure us of this. But, generally speaking, it may be necessary to draw distinct schemata to represent alternative possibilities. Theorematic reasoning invariably depends upon experimentation with individual schemata.« 434 Ich möchte an dieser Stelle an den General vom Anfang der Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus erinnern. In einer seiner Nachfragen stellt der Erzähler die Frage, ob der General auf eine Karte hätte verzichten können, um seine »detaillierten Pläne«, wenn er »durchgängig und vollkommen mit dem Land vertraut« gewesen wäre, auf dem die Schlacht stattfinden sollte, und zwar so vertraut, als »wenn beispielswei-

430 Vgl. Hoffmann 2011b, S. 38ff. 431 Vgl. zu diesen Schlussformen, ihren Verbindungen mit der Kant’schen Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen sowie weiteren Unterklassifikationen der theorematischen Deduktion Hoffmann 2005, S. 159ff. Weiterführend siehe hier auch Peirce 2000/3, S. 308f., wo eine Analogie zu denkenden Maschinen gezogen wird. Was die Schreibweise angeht folge ich hier einer ›eingedeutschten‹ Variante der englischen Schreibweise als »corollarial deduction«, wie etwa bei Peirce 1994, CP 1.232 und CP 2.267, siehe auch Stjernfelt 2007, S. 107f. Vgl. dagegen Peirce 2000/2, S. 237, dort als »korollarische Deduktion« übersetzt. 432 Hoffmann 2005, S. 124. Vgl. zum Aspekt des Neuen auch S. 140ff. sowie Hoffmann 2011b. 433 Vgl. auch Hoffmann 2005, S. 155f. 434 Peirce 1994, CP 4.233. Vgl. Hoffmann 2005, S. 161.

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se die Szenen ihrer Kindheit sich gerade hier abgespielt hätte[n]«.435 Der General verneint das, weil er »wahrscheinlich Markierungsnadeln einstecken möchte, um so die voraussichtlichen täglichen Veränderungen in den Stellungen der beiden Armeen zu markieren«.436 In diesem Moment ist der General in der Falle, denn, wie festgestellt wird, »dies entspricht genau dem Vorteils eines Diagramms […].«437 Die Ausführungen zeigen, dass für Peirce der Begriff eines Denkbildes unabdingbar ist. Dieses Denkbild ist ein ›Mittel‹ in einem Diagramm.438 Für eine theorematische Deduktion ist dieses Mittel aber nicht ausreichend. Die pragmatischen Zwänge des Generals fordern nach einer Rekonfiguration der materiellen Repräsentation des Schlachtfelds. Diese Repräsentation muss Eigenschaften eines diagrammatischen Darstellungssystems haben, weil das Experiment sonst nicht gelingen kann; der General braucht, kurz gesagt, eine Karte. Das korollariale und theorematische Schließen sind – sollen sie für Menschen explikativ sein – ohne eine mediale Repräsentation im Sinne eines materiellen Raumdings nicht zu denken (nicht aber per se eines Diagramms im engeren Sinne). Das Denken im Diagramm kann als Vollzug einer schlussfolgernden Bewegung erfasst werden. Einerseits ist sie als Aktivität im Diagramm angelegt, wird also quasi automatisch vom Diagramm in seiner Wahrnehmung vollzogen. Andererseits bietet das Diagramm die Möglichkeit, manipulierend einzugreifen. Diese Rekonfiguration ist nur möglich, wenn im Diagramm Alternativen gesehen werden. Und das geht nur, wenn das Diagramm in der Wahrnehmung ›durchlaufen‹ wird. Diagrammatisches Schließen macht nur Sinn vor dem Horizont alternativer Möglichkeiten, deren Muster das durch das Schema geprägte Denkbild liefert, die also aus der metaphorischen Relation entstehen, die zwischen Denkbild und Diagramm besteht.439 Das Denkbild realisiert in der Bewegung durch das Diagramm ein Bild jener Alternativen. Die Bewegung durch das Diagramm fungiert als Differenz zwischen Aktualität und Virtualität und potenzialisiert so das Diagramm. Das Denkbild – als sichtbare Virtualität möglicher Alternativen – ist ein Möglichkeiten-Sehen, das auf einer durch Bewegung definierten Differenz von Aktualität und Virtualität beruht. Diese perzeptive Virtualität verbindet in der Bewegung durch das Diagramm die fokalen Aspekte der Aufmerksamkeit mit ›kollateralem‹ Wissen, und ermöglicht die Identifikation von alternativen Möglichkeiten.440 Kollaterales Wissen versteht Peirce als dasjenige Wissen, dass die Voraussetzung dafür bildet, dass im Diagramm ein Objekt gesehen werden kann. Michael Hoffmann 435 Peirce 2000/3, S. 132 436 Peirce 2000/3, S. 133. 437 Peirce 2000/3, S. 133. 438 Vgl. auch Hoffmann 2005, S. 35, dort im Anschluss an Hubig 2002. 439 Bei Reichert (2013, S. 256) heißt es bei Gelegenheit der Erläuterung der Diagrammatik als einer »Präphilosophie«: »Präphilosophie charakterisiert insofern die Diagrammatik, dass sie in der Lektüre philosophischer Texte die vorbegrifflichen Bewegungen auffinden muss. Es geht also nicht um die Bewegungen des Begriffs, sondern um die Bewegungen, die die Begriffe vorstrukturieren.« Für diese Relation setze ich hier die komplexe Triade aus Schema, Denkbild und Diagramm ein, die eben nicht das Vorbegriffliche als bewegt fasst, sondern vielmehr das Denkbild, das in Relation zwischen Schema und Diagramm hervorgebracht wird. 440 Vgl. zu Peirces Theorie des kollateralen und fokalen Wissens Hoffmann 2005, S. 38ff. Vgl. weiterführend in Bezug auf eine Diagrammatik der Musik Brunner 2009, S. 355f.; Beck 2016, S. 82ff.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

zitiert Peirce aus einem Brief an William James: »I say that no sign can be understood – or at least no proposition can be understood – unless the interpreter has ›collateral acquaintance‹ with every Object of it.«441 Eine »collateral acquaintance« ist eine kollaterale Vertrautheit im Sinne eines Wissens um die Möglichkeiten der Verwendung eines Zeichens.442 Man muss die Situation kennen (oder eine Situation als Szene im Sinne der pragmatischen Maxime konstruieren), in der ein Objekt steht, um das diagrammatische Objekt verstehen zu können. Erst dann kann eine schlussfolgernde Bewegung im Diagramm ihre Kraft als Explikation entfalten: »Jedes explizite Wissen setzt in diesem Sinne die Bekanntschaf t mit dem voraus, worauf sich die Explikation beziehen soll.«443 Diese Ref lexion ist der Versuch, eines expliziten Verstehens, was mit dem Diagramm gemeint ist, also welche Möglichkeiten seines Gebrauchs existieren. Die Wahrnehmung dieser Möglichkeiten ist, wie die pragmatische Maxime, eine »›theoriebeladene Beobachtung‹«.444 Peirce spezifiziert das Denkbild, indem er seine Gestalt mit der Metapher der Überblendung beschreibt. Diese Überblendung wird von Peirce dynamisch interpretiert. Mirjam Wittmann stellt dazu fest: »Was einer Fotografie im Gegensatz zum Film üblicherweise aufgrund ihres statischen Charakters abgesprochen wird, nämlich Bewegungsverläufe darzustellen, gesteht Peirce ihr zu.«445 Das Denkbild ist ein »bewegtes Bild des Denkens«, weil die Ausformung eines Gedankens im Denken eine Überblendung von Relationen ist, die, wie Pape schreibt, in einer »Folge von Bildern«446 aktualisiert wird, also als eine Bewegungssequenz. Was soll das heißen?

3.5.3 ›Überblendung‹ — Schemata in 3D 447 Peirce positioniert die Diagrammatik in einer ref lexiven Position zu einem durch das Schema angeleiteten Schlussfolgerungsprozess in der (visuellen) Wahrnehmung. Dieser Schritt ist möglich, weil er in der Fortführung von Kants Schema-Begriff davon ausgehen kann, dass in der Wahrnehmung ein Bezug zum Denken besteht. Die Wahrnehmung kann ihre Inhalte, die Perzepte, nur mit Bedeutung versehen, wenn sie diese Inhalte in der Form eines Urteils unter Begriffe stellt. Dieser Akt der Subsumtion setzt einen schlussfolgernden Prozess voraus, der nicht sprachlich ist. Wie auch Umberto Eco gezeigt hat, ist das schlussfolgernde Denken in der Wahrnehmung für Peirce ein »Arbeiten mit diagrammatischen Vorstellungsbildern«. Das Denken basiert auf dem Schema, das eine Regel ist, diese Vorstellungsbilder zu konstruieren, als diese Regel, mit als etwas, das prozessual zu denken ist, aber auch selbst eine Gestalt hat. Das Schema ist nicht abstrakt, sondern hat eine Gestalt, die in einem Wahrnehmungsurteil per Ähnlichkeitserkennen auf Perzepte projiziert wird. Die Vorstellung, also die Einbildungskraft, verbindet Wahrnehmung und Denken, indem sie im Wahr441 Peirce 1994, CP 8.183, hier nach Hoffmann 2005, S. 38, Anm. 20. 442 Vgl. Hoffmann 2005, S. 128. Siehe auch den Übersetzungsbegriff von Joachim Renn ( Kap. 2.2.2). 443 Hoffmann 2005, S. 39. 444 Hoffmann 2005, S. 59. 445 Wittmann 2012, S. 319. 446 Pape 1995, S. 485. 447 Einige der Zitate und Überlegungen dieses Abschnitts wurden auch in Ernst/Schröter 2015, S. 64ff. im Kontext von allgemeinen Überlegungen zu 3D als Medium und Metapher diskutiert.

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nehmungsurteil Perzept und Gedanke unter den Modus des ›als ob‹ stellt. Dieser Modus des ›Als ob‹ ist nicht fiktiv, sondern hypothetisch. Die Wahrnehmungsurteile sind insofern fallibel. Man kann sich jederzeit täuschen und dann, wenn man sich nicht täuscht, hat man doch nicht die Sache selbst (das dynamische Objekt) erfasst, sondern eine prototypisches ›Bild‹ von einem Begriff. Wahrnehmungsurteile verlaufen unbewusst und habitualisiert. Bewusst wird man sich ihnen erst, wenn man etwas Irritierendes betrachtet, z.B. etwas Neues oder gar Neuartiges. In solchen Fällen kommt es zu einer Explikation der, wie Pape dies nennt, »formativen Visualität« des Denkens.448 Peirce zufolge ist diese Visualität in Diagrammen besser repräsentiert als in der Sprache. Diagramme haben die Eigenart, Schlussfolgerungen als Bewegung zu zeigen. Die Bedeutung eines Perzepts in einem Wahrnehmungsurteil wird von Peirce analog zur Ausdifferenzierung eines Gedankens als ein Prozess angesehen, in dem sich die Bedeutung nur in der Kontinuität möglicher weiterer Gedanken manifestiert, also nur in einem System virtueller Beziehungen zu Verknüpfungsmöglichkeiten. Peirce beschreibt diesen Vorstellungsakt in Über die Einheit kategorischer und hypothetischer Propositionen als den Vorstellungsakt einer Überblendung, der wie in einer Kompositfotografie ausgeführt wird: »Jede Vorstellung, wie einfach sie auch sein und wie direkt sie auch empfunden werden mag, ist mehr oder weniger vage. Außerdem sind Vorstellungen kaum jemals, wenn überhaupt jemals, einfach. Sie steigen in großer Zahl an die Oberfläche des Bewußtseins und bilden damit etwas, was einer Mischphotographie analog ist und allgemeine Vorstellung genannt wird. Doch sind sie nicht nur auf diese rudimentäre Weise verbunden, sondern auch in anderer Weise. So schließt die Vorstellung einer verletzten Ferse zwei zusammengesetzte Vorstellungen ein: die eine ist die von Wunden, die andere die von Fersen, und beide werden übereinander geblendet.« 449 Der Vergleich der Struktur der Wahrnehmung mit einer Kompositfotografie war, wie auch Tullio Viola ausführt, durch die Kompositfotografie von Francis Galton beeinf lusst.450 Galton ging es darum, durch die Überblendung verschiedener Fotografien von Verbrechern die Physiognomie eines prototypischen Verbrechers zu konstruieren, also eine schematisch-stereotype Durchschnittsvorstellung zu produzieren. Das Übereinanderschichten von Bildern schwächt die individuellen Merkmale einzelner Bilder ab und verstärkt die gemeinsamen Merkmale der Gruppe. Nach Galton sollte das eine Schlussfolgerung auf die idealtypische Gestalt des ›typischen‹ Verbrechers ermöglichen. Die Kompositfotografie ist ein mediales Verfahren der Schematisierung, das metaphorisch die Eigenschaft der Wahrnehmung erklärt, wie ein Verfahren der Verallgemeinerung auszusehen hat.451 In Of Reasoning in General von 1895 diskutiert 448 Vgl. der Sache nach bereits Pape 1997, S. 378ff., die vorliegenden Begriffe werden in Pape 2012 verwendet und aufeinander bezogen. 449 Peirce 2000/1, S. 248f. Vgl. dazu auch Pape 1995, S. 491f. 450 Vgl. Wittmann 2012, S. 315ff.; Viola 2012, S. 128ff. 451 Vgl. auch Hoffmann 2005, S. 216ff. Die Bezüge der Kompositfotografie zum Schema-Begriff sind in der neueren Forschung auch von Hartmut Winkler (2012, S. 27ff.) hervorgehoben worden. Generell war Peirce mit der Fotografie und Film vertraut. Vgl. u.a. Wittmann 2012. Eine detaillierte Diskussion findet sich bei Wentz 2017, S. 113ff. Vgl. zur Stereoskopie auch Ernst/Schröter 2015.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

Peirce das Wesen von Propositionen, wie sie im Prozess der Verfestigung von Überzeugungen auf Objekte bezogen werden: »Suppose, for example I detect a person with whom I have to deal, in an act of dishonesty. I have in my mind something like a ›composite photograph‹ of all the persons that I have known and read of that have had that character; and at the instant I make the discovery concerning that person, who is distinguished from others for me by certain indications, upon that index, at that moment, down goes the stamp of RASCAL, to remain indefinite.« 452 Die Kompositfotografie steht für ein Schema, das anlässlich einer Wahrnehmung aus einem auf implizitem Erfahrungswissen basierenden, kollateralen, semiotischen Wissen die Eigenschaften auswählt, die als Propositionen attribuiert werden. Zur Präzisierung dieses Verfahrens verwendet Peirce die Metapher der Überblendung.453 Helmut Pape hat in einem Beitrag zu diesen Passagen bei Peirce gezeigt, dass Peirce die Metapher ›Überblendung‹ als einen Begriff für die visuelle Semantik des Denkens, seine visuelle Bedeutung, verwendet.454 Peirce will zum Ausdruck bringen, dass die ›Folge der Bilder‹ das Denken nicht einfach nur charakterisiert, sondern dass »nur durch einen Prozeß, der geistige Zeichen strukturell analog zur Folge von Bildern oder einzelnen Wahrnehmungen mit einem anderen Sinn verknüpft, ein Gedanke erfahren werden kann.«455 Wenn Diagramme, zum Beispiel als Existenzielle Graphen, »den Prozeß der logischen Transformation des Denkens verkörpern«,456 dann hebt die metaphorische Analogie hervor, dass dieser Schlussfolgerungsprozess mit der Frage befasst ist, die Wahrnehmungsschemata als Denkbilder zu explizieren. Sie werden so manipuliert, dass sie in ihrer Prototypizität einen bestehenden Sachverhalt erklären oder aber ein neues Schema für einen Sachverhalt finden, wenn das geboten ist. Nicht jede Hypothese, die in einem Wahrnehmungsurteil artikuliert wird, ist im Sinne einer Abduktion riskant, sondern die Abduktion geht, hat sie sich bewährt, in das induktive Wissen über, so etwa in die qualitative Induktion.457 Die Kontrastf läche des Prozesses einer Überblendung ist daher implizites Vertrautheitswissen, das über das im Wahrnehmungsurteil zu identifizierende und subsumierende Perzept bereits vorhanden ist. In der Überblendung des Wahrnehmungsurteils wird die aktuale Wahrnehmung in einen Horizont von virtuellen Beziehungen eingerückt, die sich aus bekannten Wahrnehmungseindrücken und Begriffen bilden. Jede Abduktion, aber auch jede qualitative Induktion ist retroduktiv, weil sie nicht voraussetzungslos vollzogen wird. Das Argument hat jedoch einen medientheoretischen Pferdefuß. Die Existenziellen Graphen sind in der Lage, ein Denkbild hervorzubringen und diesen Prozess als ikonisch in Relation zum Denken zu behaupten. Sie erreichen aber nicht die plastische Phänomenalität des Prozesses selbst. Helmut Pape formuliert das so: »Eine zweidi452 Peirce 1998a, S. 19f. 453 Vgl. auch Hoffmann 2005, hier S. 210f. der dies als »Vermischung« von Ideen beschreibt. 454 Vgl. Pape 1995, S. 493. 455 Pape 1995, S. 485f., im Orig. kursiv. 456 Pape 1995, S. 486. 457 Vgl. Reichertz 2003.

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mensionale Abbildung des Denkens verkürzt die Denkbewegung und verringert die Komplexität«.458 Er betont, dass Peirce sich dessen bewusst war und zitiert einen Brief aus dem Jahr 1911. Diesem Brief zufolge, sieht Peirce als Lösung des Problems »stereoskopisch bewegliche Bilder« an.459 Und Pape fährt fort: »Er hätte vom dreidimensionalen Kino gesprochen, wenn es damals schon gegeben hätte.«460 Peirces Aussage macht Sinn, wenn der Film nicht als ikonische Abbildung der Welt aufgefasst wird, sondern Ikonizität operativ definiert wird – also als die Frage, was mit dem Ikon über die Welt und das Denken gelernt werden kann. Deshalb begreift Peirce die Fotografie und den Film als Medien, die einen »dynamische[n] Zusammenhang zwischen wahrheitsfähigen Darstellungen«461 zum Ausdruck bringen. Dieser Zusammenhang ist als semantische Relation eine Bewegung, die als schlussfolgernde Bewegung eine Kraft hat. In der Wahrnehmung ruft der Prozess des Überblendens »im menschlichen Geist ein Bild [hervor] oder sozusagen ein zusammengesetztes Foto von Bildern, das der Erstheit ähnelt, die es bedeutet.«462 Diese Überblendung ist, wie Pape Peirce an anderer Stelle zitiert, eine »forceful connection«,463 gegen die man nicht viel tun kann, durch die man also bewegt wird. In der Wahrnehmung werden in Perzepten ausdrückte Erfahrungsqualitäten in ihrer »Beziehung zueinander durch die Überblendung erfaßt«, was »[q]ualitative Vorstellungen« im individuellen Bewusstsein des Geistes entstehen lässt: Gedanken.464 Zu der Stärke von Peirces Metapher der Überblendung gehört es, die Ambivalenz aus Unschärfe und Schärfe zum Ausdruck bringen zu können: In einer Kompositfotografie wird von den individuellen Eigenschaften abgesehen und eine allgemeine Regel anschaulich, diese allgemeine Regel dann aber als Prinzip verwendbar, um individuelle Eigenschaften des in Rede stehenden Sachverhalts an Einzelfällen identifizierbar zu machen. Hat man das Schema vor Augen, hat man ein relativ konkretes Bild, das nicht vollständig auf einen Fall passt, wohl aber nach dem Prinzip der Familienähnlichkeit alle verwandten Einzelfälle qua Prototypizität identifizierbar macht ( Kap. 5.1.4). Die Kompositfotografie funktioniert schematisierend und Peirce dürfte an dieser Eigenschaft interessiert gewesen sein.465 Die aus Überblendung hervorgehenden Vorstellungen sind zwischen Wahrnehmung und Denken nicht eindeutig als Einzelfälle identifiziert. Sie »sind so vage, daß sie nicht selbstidentisch sind, weil die Beziehung der Ähnlichkeit zwischen Vorstellungen gerade ihre Identifizierbarkeit miteinander bedingt.«466 Eine Kompositfotografie liefert ein Prinzip aller ähnlichen Fälle. Sie liefert nicht den Fall, sondern ein visuelles Schema, das es als Konstruktionsregel ermöglicht, auch in anderen Wahrnehmungssituationen die Fälle zu erkennen. Die Metapher der Überblendung hat einen weiteren Vorteil: Sie ist ein Prozess. Die Überblendung ist eine Bewegung im Übergang von Wahrnehmung zu Denken. Sie ist in ein Vorher/Nachher verzeitlicht und in ein Hier/Dort verräumlicht. Die metaphori458 Pape 1995, S. 486. 459 Peirce 1976a, III, S. 191, zit.n. Pape 1995, S. 486. 460 Pape 1995, S. 486f. Vgl. auch Pape 1997, S. 407. 461 Pape 1995, S. 487. 462 Peirce 2005, S. 80. Vgl. auch Pape 1995, S. 488. 463 Vgl. hier Pape 1995, S. 488. 464 Pape 1995, S. 488. 465 Vgl. Wentz 2017, S. 116f. 466 Pape 1995, S. 491.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

sche Analogie zum (dreidimensionalen) Film erfasst die Verlaufsform des Prozesses besser als die Fotografie. Das Moment des ›Bewegt-Werdens‹ ist gegenüber der aktiven Selbstbewegung des Denkens priorisiert. Die Selbstbewegung des Denkens kann im bewussten Denken eine Richtung einnehmen. Sie setzt aber auch dann die eigene Prozessualität voraus, um sich zu vollziehen. Jede Bewegung des Denkens ist eine implizite Ref lexion der eigenen Bewegungsgeschichte, die im Moment der Selbstref lexion des Denkens explizit werden kann, dann aber nie den Prozess als Ganzen erfasst.467 Projiziert man dies auf Peirces Idee, Diagramme als Auf klärungssysteme des Denkens in ihrer Verf lechtung mit der Wahrnehmung zu verstehen, dann bestätigt sich hier die Idee vom Diagramm als Vorstellungsmedium, in dem nachvollzogen werden kann, wie sich die Relationen zwischen Wahrnehmung, Überzeugung und Handeln in einem Darstellungssystem explizieren und diese implizite Relationalität in der der zweidimensionalen Fläche eigenen Struktur fortsetzt: »Nicht nur jede Tatsache ist wirklich eine Relation, sondern unser Denken der Tatsache stellt sie auch implizit als eine solche dar. Wenn Sie also denken ›dies ist blau‹, so zeigt das demonstrative ›dies‹, daß etwas Ihre Aufmerksamkeit gefunden hat, während das Adjektiv zeigt, daß Sie eine bekannte Vorstellung als darauf anwendbar erkennen. Also entwickelt sich Ihr Denken, wenn es expliziert wird, in das Denken einer Tatsache, die dieses Ding und die Eigenschaft der Bläue betrifft. Doch muß man zugeben, daß Sie vor dem Weiterentwickeln Ihres Denkens tatsächlich nicht an die Bläue als ein getrenntes Objekt dachten und deshalb die Relation nicht als eine Relation. Es gibt einen Aspekt an jeder Relation, unter dem sie nicht als Relation erscheint […].« 468 Das Denken klärt sich nur im Verlauf des Denkens, kann diesen Prozess aber als solchen nie vollständig darstellen. Es muss Darstellungssysteme finden, die sich ref lexiv in Beziehung zu seiner Prozessualität und Gestalt setzen können, also seiner schlussfolgernden Form und visuellen Gestalt. ›Ähnlich‹ sind diese Darstellungssysteme, wenn sie nicht statisch, sondern dynamisch sind – und zwar in der Weise, dass die Dynamik als Bewegtwerden und Selbstbewegung erfahrbar wird und dabei einen Horizont von Möglichkeiten mitausstellt, also aktualisierte und nicht-aktualisierte Möglichkeiten.469 Der Film ist für Peirce, der – das ist nicht unwesentlich zu wissen – mit Hugo Münsterberg bekannt war, als eine metaphorische Analogie zum »visuell-gedankliche[n] Erfahrungsprozeß«470 geeignet, weil er den Zuschauer in eine strukturell ähnliche Situation versetzt, wie die Ausdifferenzierung des Gedankens aus der Wahrnehmung und dabei nicht bruchlos aus der Kontinuität der Einzelphotos erklärbar ist.471 Dem Film fehlt aber die Möglichkeit zum Eingriff, wie ihn ein diagrammatisches Darstellungssystem bildet. In Minority Report sieht man jedoch, wo die Entwicklung nach der Phase der zweidimensionalen Diagramme im Interfacedesign hin tendiert: in Richtung eines dreidimensionalen Mediums, das die Manipulation verwirklicht. Doch was für die 467 Vgl. Pape 1995, S. 494. 468 Vgl. Peirce 1994, CP 3.417, zit.n. Pape 1995, S. 492. 469 Vgl. Pape 1995, S. 494f. 470 Pape 1995, S. 496. 471 Vgl. Pape 1995, S. 496.

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Beziehung zwischen der graphischen Praxis in den Diagrammen der Existenziellen Graphen als einer Diagrammatisierung zweiter Stufe und der Diagrammatisierung erster Stufe gilt, gilt auch für das Verhältnis zwischen der graphischen Praxis auf dem Papier und dem Film: Eine mediale Teleologie, in welcher der Film als ideale Form der diagrammatischen Ref lexion des Denkens angesehen werden würde, ist nicht intendiert: Es gibt verschiedene Darstellungssysteme, die dies erlauben. Helmut Pape hat dafür das wohl ideale Zitat an der Hand: »Man kann das gewöhnliche unbeschriebene Behauptungsblatt als einen Film verstehen, so als ob sich auf ihm ein nicht entwickeltes Foto der Tatsachen im Diskursuniversum findet. Ich meine kein eigentliches Bild, weil seine Elemente Propositionen sind, und die Bedeutung einer Proposition abstrakt und von ganz anderer Natur ist als ein Bild. Aber ich bitte Sie, sich vorzustellen, daß alle wahren Propositionen ausgedrückt wurden, und da Tatsachen einander überblenden, so kann es sich nur um ein Kontinuum handeln, in dem dies geschieht. Dieses Kontinuum muß offensichtlich mehr Dimensionen als eine Oberfläche oder ein Körper haben, und wir werden annehmen, dass es biegsam ist, so daß es auf alle möglichen Weisen verformt werden kann, ohne daß seine Kontinuität und Verbindung der Teile jemals unterbrochen wird. Von diesem Kontinuum, so können wir uns dies vorstellen, ist das unbeschriebene Behauptungsblatt ein Foto.« 472 Peirce sagt also nicht, dass das Denken ein Film oder eine Fotografie ist. Er sagt, dass diese Medien (und ihre Relation zueinander) etwas von der Phänomenalität des inferenziellen Denkens (in ihrer Beziehung zur Welt) erfahrbar machen können – zumal dann, wenn sie als Diagramme verwendet und gelesen werden. Dies ist einem semiotischen Kontinuum möglich. Peirce muss aber, um die Kriterien eines diagrammatischen Experiments zu erfüllen, in Rechnung stellen, dass die Darstellungssysteme hinsichtlich der Möglichkeit eines kreativen Eingriffs und der operativen Veränderung differenziert werden müssen. Die metaphorische Analogie zwischen der Praxis im Umgang mit den Existenziellen Graphen und Film und Fotografie taugt beispielsweise, um die Phänomenalität des Denkbildes in Relation zum Schema explizit zu machen. Sie trägt aber nicht weit, wenn es um den aktiven Nachvollzug einer diagrammatischen Schlussfolgerung geht.473 Wie aber motiviert eine implizite prozesshafte Dreidimensionalität, die ja auch Umberto Eco am Schema betont, die Konstruktion von Diagrammen? Pointierter gefragt: Wie also f ließt implizites Wissen in das diagrammatische Denken ein? Damit in der Überblendung Möglichkeiten in der Bewegung anschaulich werden können, erzeugt das Diagramm Bedingungen dafür, das Objekt im Diagramm ›kennen‹ zu können. Nur so können Kriterien für alternative Möglichkeiten der Bewegung im Diagramm gewonnen und das Diagramm als kreativer Anschauungsraum verwendet werden. Die Bedeutung des Objektes, auf das sich das Diagramm bezieht, ist ein »knowledge of acquaintance«. Schon in der Konstruktion eines Diagramms muss durch einen explizierenden Schluss auf diejenigen Struktureigenschaften, die für das 472 Vgl. Peirce 1994, CP 4.512, zit.n. Pape 1995, S. 496. 473 Einige Zeilen später ersetzt Peirce den Vergleich zur Fotografie und spricht vom Behauptungsblatt als einer »map« statt »photography«. Vgl. Peirce 1994, CP 4.513.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

Objekt hypothetischerweise ausreichend sind, eine Auswahl getroffen werden, die etwas über den Gegenstand in einer möglichst repräsentativen Weise sagt. Versteht man das Denkbild als Bild von alternativen Möglichkeiten, ist der imaginäre Moment eines Alternativen-Sehens abhängig von Bedingungen, die außerhalb des Diagramms liegen. Das Diagramm wird im Alternativen-Sehen mit Wissen über das Objekt angereichert (imaging). Die Überblendung operiert auf Grundlage des Wissens um das Objekt und einer Neubewertung dieses Objektes im Lichte möglicher manipulierender Eingriffe.474 Das Möglichkeiten-Sehen ist mit der spatialen Verkörperung in einem kodifizierten Darstellungssystem verbunden, weil das System die Möglichkeiten der Rekonfiguration bedingt.475 Die Medien der Verkörperung sind dabei nicht irrelevant. Spätestens bei der Rekonfiguration eines Diagramms spielen sie eine Rolle. Der Begriff des Denkbildes bezeichnet also die Sichtbarkeit von Möglichkeiten in der »Form der Relation« des Diagramms, die für eine theorematische Deduktion kopräsent sein müssen. Erst nach der Konstruktion eines Diagramms lassen sich die Begriffe der korollarialen und der theorematischen Deduktion fruchtbar anwenden. In korollarialen Deduktionen ist der Schluss im Diagramm angelegt und sofort evident. Das Diagramm liefert den Schluss ›kostenlos‹, wohingegen der Schluss in der theorematischen Deduktion, wie Peirce schreibt, ein »more complicated processes of thought« sei.476 Beide Deduktionen sind mit der Unterscheidung zwischen einer ›denkenden Maschine‹ (korollarial) und einer ›menschlichen Intelligenz‹ (theorematisch) verglichen worden.477 Die theorematische Deduktion ist kreativ, weil sie im Prozess der Rekonfiguration etwas aufdeckt, das nicht in der strukturellen Anlage des Diagramms enthalten war. Sie ist angeleitet durch das Denkbild, das die nicht unmittelbar wahrnehmbaren, aber präsenten Rekombinationsmöglichkeiten zum Gegenstand hat.478 Weil sie das Darstellungssystem verändert, stellt sich nicht nur die Frage, was aus einem Diagramm abgeleitet werden kann, sondern wie ein gutes Diagramm für einen Sachverhalt aussieht. Das virtualisierende Sehen von Alternativen hat Peirce in der Diskussion der theorematischen Deduktion als Problem einer »theorischen Transformation« und der »hypostatischen Abstraktion« beschäftigt.479 Peirce schreibt in den Prolegomena, die Verbindung zum ens rationis des Denkens aufnehmend: »Jene wundervolle Operation der hypostatischen Abstraktion, durch welche wir entia rationis zu erschaffen scheinen, die nichtsdestotrotz manchmal real sind, liefert uns das Mittel, Prädikate von Zeichen, die wir denken oder durch die wir denken, in Subjekte zu verwandeln, an die wir denken. Wir denken also an das Gedanken-Zeichen selbst und machen es zum Objekt eines anderen Gedanken-Zeichens. Daraufhin können wir die Operation der hypostatischen Abstraktion wiederholen und aus diesen zweiten Intentionen dritte Intentionen ableiten.« 480 474 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 104f. 475 Vgl. Wöpking 2016. 476 Peirce 1998a, S. 442. 477 Vgl. Hoffmann 2005, S. 165ff. Siehe auch Peirce 2000/3, S. 308. 478 Vgl. unter Bezug auf die Mathematik auch Hoffmann 2005, S. 166f.; Hoffmann 2009, S. 263ff. 479 Vgl. Hoffmann 2005, S. 177ff. 480 Peirce 2000/3, S. 161f. Vgl. auch Peirce 2000/2, S. 348f. sowie Hoffmann 2005, S. 180f.

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Diese Abstraktion vergegenständlicht »Verallgemeinerungen zu neuen Zeichen, und damit zu neuen Erkenntnismitteln«.481 Der Begriff lässt – löst man ihn aus dem Kontext mathematischer Probleme482 – aber auch die Behauptung zu, dass Gedanken im Denkbild konkretisiert werden, darin aber als ausagierte Effekte von relationalen und prozessualen Verhältnissen in einem Diagramm angesehen werden müssen. Im Diagramm hat das Denken sich durch das Denkbild mit dem Diagramm als einem Darstellungssystem zu entwickeln. Es geht um eine vom Denkbild angeleitete »Erkenntnisentwicklung«483 durch die Veränderung des Darstellungssystems vermittels richtiger Abstraktion, also Hervorbringung eines neuen Gedankens. Die theorematische Deduktion ist kreativ, wenn mit ihr im Modus hypostatischer Abstraktion durch das Denken im Diagramm neue Gedanken geschaffen werden, die sich aus der Umstellung der Relationen im Diagramm ergeben.484 Die hypostatische Abstraktion bietet in der Ref lexion des Denkbildes dafür die Grundlage. Sie liefert als Vergegenständlichung eines Gedankens die Voraussetzung, dass das Diagramm so umgestellt wird, dass eine neue Schlussfolgerung folgt, deren Kraft im Sinne einer Bewegung durch das Diagramm vor sich geht. Dabei muss man sehen, dass in einem Diagramm eine Schlussfolgerung folgt.485 Die hypostatische Abstraktion setzt dabei auf einer Anschauung auf, die Peirce als »transformation of the problem, – or its statement –, due to viewing it from another Point-of-View«486 bzw. »theorische Transformation«487 bezeichnet. Dies ist die Fähigkeit, eine zweite Perspektive auf eine gegebene Konfiguration von Relationen zu werfen, einen alternativen Standpunkt einzunehmen. Diese theorische Transformation ist eine in Bewegung gesetzte Überblendung, eine simulierende Variation im Sehen.488 Präzisierend kann man hinzufügen, wo die Quellen dieses Sehens liegen. Michael Hoffmann bemerkt, an die Ursprünge des ›theoria‹-Begriffs erinnernd: »Die Entstehung des eigentlich Neuen verdankt sich in erster Linie dem ›metaphorischen Sehen‹ eines A als ein B. Es ist allein eine Frage des Sehens, und dafür bietet sich in der Tat der griechische Begriff der theôria an.«489 Dieses metaphorische Sehen, das hier in das

481 Hoffmann 2005, S. 36, 181f. Vgl. auch S. 37f. Vgl. zudem Hoffmann 2009, hier S. 262f.: Die hypostatische Abstraktion beschreibt demnach »[…] die Schaffung neuer Symbole durch ›Vergegenständlichung‹ von Prädikaten, zum Beispiel die Kreation des Begriffs ›Röte‹ aus ›die Rose ist rot‹, ›die Abendsonne ist rot‹ usw. […]; aber auch die Schaffung neuer Theorien und Modelle ist zu nennen.« Vgl. dazu Stjernfelt 2007, S. 248ff., hier S. 248: »[…] hypostatic abstraction is a crucial motor in the process of research by positing new somethings, new x’s, as issues to be investigated.« Als solches ist die hypostatische Abstraktion auf das Erkennen von Möglichkeiten bezogen. 482 Vgl. ausführlich Hoffmann 2005, S. 179ff. 483 So die These bei Hoffmann 2005; Hoffmann 2009. 484 Vgl. für eine detaillierte Diskussion Hoffmann 2005, S. 182f. 485 Nur dann steht sie in der skizzierten metaphorischen Relation zum Schema. 486 Peirce 1976a/III, S. 491. Vgl. Peirce 2000/3, S. 234ff., hier S. 308f. 487 Vgl. dazu Hoffmann 2005, S. 177ff. 488 Vgl. zur Verbindung der Diagrammatik mit Husserls »eidetischer Variation« Stjernfelt 2007. Vgl. hier auch Hoffmann 2005, S. 212, der eine Diskussion um »›perceptual simulations‹« aufgreift. 489 Hoffmann 2005, S. 179, vgl. auch S. 74f.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

rekonfigurierende Möglichkeiten-Sehen im Diagramm und mithin in die Konstitution eines Denkbildes hineinspielt, führt zurück auf das Feld des impliziten Wissens.490

3.5.4 Karte/Territorium und die Bedeutung von implizitem Wissen Die Deduktion unterscheidet sich von der Abduktion darin, dass die Abduktion immer ein Raten, ein »Guessing« ist, wie Peirce einen grundlegenden Text überschreibt,491 wohingegen die Deduktion kontrolliert operiert, genauer: unter der Bedingung von Darstellungssystemen, die eine Ableitung aus ihren räumlichen Konfigurationen erlauben.492 Was sich als theorematische Deduktion in einem Diagramm vollzieht, ist eine Arbeit in und mit dem Diagramm. Wenn Peirce hervorhebt, es komme darauf an, durch theorische Transformation und hypostatische Abstraktion eine Konfiguration der Relationen zu erfassen, welche die Einführung eines neuen, vergegenständlichten Gedankens erlaubt, dann ist zu betonen, dass er sich diese Rekonfiguration in einem Kontinuum zwischen einer Praxis des Sehens und einer Tätigkeit hands on vorstellt, etwa als ein Umsetzen von Fähnchen auf einer Karte in dem Beispiel mit dem General.493 Peirce bevorzugt eine bestimmte Sorte von diagrammatischen Medien: das Papier und die Tafel. Beide Medien erlauben aktive Eingriffe. Über die Erkenntniskraft der Linie auf einem Blatt Papier ist in der bildwissenschaftlichen Forschung in den letzten Jahren viel geforscht worden.494 Stift und Papier gelten als Medien der Diagrammatik, weil sie Eingriffe mit den Händen erlauben. Eine Linie in ein Bild zu zeichnen, kann zu einem Akt der Diagrammatisierung eines Bildes werden. Die Konstruktion eines diagrammatischen Darstellungssystems ist ein Akt, der mit Stift und Papier ausgeführt wird oder aber als eine Zeichnung im Sand. Es gibt aber auch andere Medien. Chief Anderton in Minority Report ist ein solcher ›User‹ eines anderen Mediums: die Holosphere als Interface. Wie aber findet die Peirce’sche Frage nach einem Denken in Diagrammen zusammen mit dem medientheoretischen Teil des Problemhorizonts, den Peirce aufgespannt hat? Als unterschwelliger Anker dieser Fragen ist die Rolle des impliziten Wissens zu bedenken. Das implizite Wissen wird schon im fiktiven Dialog des Ich-Erzählers ›Sokrates-Peirce‹ mit dem General angesprochen. In diesem Beispiel war es so, dass das (hypothetische) implizite Wissen des Generals, als Kind in dem Terrain der Schlacht aufgewachsen zu sein, also von Kindesbeinen an mit jedem Hügel und jedem Stein vertraut zu sein, zwar auf die Rekonfiguration im Diagramm Einf luss nimmt, aber 490 Vgl. auch Hoffmann 2005, S. 80: »Im ›metaphorischen‹ Sehen eines A als ein B – dessen Bedeutung darin besteht, dass auch sehr fern liegende Bestände kollateralen Wissens ins Spiel kommen können –, also im Wechsel des Blickpunktes oder in der ›apagogischen‹ Subsumption eines ›Dies da‹ unter ein alternatives Repräsentationssystem ergeben sich wiederum neue Möglichkeiten des Experimentierens mit und der Transformation von Diagrammen.« 491 Vgl. Peirce 2008. 492 Vgl. auch Hoffmann 2005, S. 205. 493 Vgl. Hoffmann 2011a, S. 194. 494 Vgl. zur Linie in Peirces Bildpraxis etwa Hoel 2012, breiter gefasst Krämer 2010, S. 80ff.; Krämer 2012, Krämer 2016; Mersch 2012 sowie die Beiträge in Bänden wie Gansterer 2011; Krämer/Cancik-Kirschbaum/Totzke 2012.

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nicht ausreicht, um die strategischen Winkelzüge durchzuführen, die notwendig sind, um die Planspiele des Generals erfolgreich spielen zu können, um also diagrammatisch zu denken. Zwischen implizitem Wissen als Vertrautheit mit dem Territorium und dem Denken mit einem Diagramm (Karte) existiert ein Bruch. Wie ist das zu verstehen? Betrachtet man ein Zitat von Peirce zur Abstraktion, das zur Theorie des impliziten Wissens hinführt, wird die Sache etwas klarer: »For this purpose it is necessary to form a plan of investigation and this is the most difficult part of the whole operation. […] But the greatest point of art consists in the introduction of suitable abstractions. By this I mean such a transformation of our diagrams that characters of one diagram will appear in another as things. A familiar example is where in analysis we treat operations as themselves the subject of operations.« 495 Maßgeblich ist »to form a plan of investigation«. Dieser Plan ist ohne »introduction of suitable abstractions«, welche die Funktion von ikonischen Modellierungen oder sogar: Simulationen eines Prozesses übernehmen, nutzlos. Kontrastieren kann man dies mit einer klassischen Anwendung der Unterscheidung zwischen implizitem und explizitem Wissen, wie man sie etwa auch bei Gilbert Ryle findet. In seinem kleinen Text Abstractions führt Ryle als Beispiel für das Verhältnis von implizitem zu explizitem Wissen den langjährigen Bewohner eines Dorfes an, der aufgefordert wird, erstmals eine Karte seines Dorfes zu zeichnen oder zu konsultieren.496 Ryle schreibt: »He is being asked to think about his own familiar terrain in a way that is at the start entirely strange, despite the fact that every item that he is to inscribe or identify in his map is to be something that he is entirely familiar with. In the morning he can walk from the church to the railway station without ever losing his way. But now, in the afternoon, he has to put down with compass bearings and distances in kilometers and meters the church, the railway station and the paths and roads between them. In the morning he can show us the route from anywhere to anywhere; but it still puzzles him in the afternoon to describe those routes – describe them not just in words but in such cartographical terms that his local map will fit with the maps of his entire region and country. He has, so to speak, to translate and therefore re-think his local topographical knowledge into universal cartographical terms. Now he has to survey even his own dear home as if through the transparent pages of an international atlas.« 497 Ryle schildert die Verfremdung, welche mit der Übersetzung (›translate‹) der impliziten, dreidimensionalen Vertrautheit mit einem Territorium in die zweidimensionale Karte einhergeht. Er beschreibt diese Übersetzung als einen Akt des Vermessens, der ein Übertrag in ein diagrammatisches Darstellungssystem ist. Das Gefühl der Verfremdung entsteht, weil der Dorf bewohner von seinen Erfahrungen aus Perspektive der ersten Person in das Medium der Karte, also in eine Perspektive der dritten Person ›abstrahierend‹ übersetzen muss. Die Karte ist, wie Ryle betont, kein »snapshot«498 des 495 Peirce 1998a, S. 212f. 496 Vgl. Ryle 2009a, S. 454f. 497 Ryle 2009a, S. 454. 498 Ryle 2009a, S. 454.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

Dorfes, sondern ein »slice out of an universal diagram«.499 Während der Dorf bewohner mit einer Fotografie eine möglicherweise emotionale Erinnerung hätte, hat er durch die Karte an Wissen dazugewonnen. Ryle bemerkt ferner, dass das verfremdende Gefühl darin besteht, dass der Dorf bewohner von seinem Körper abstrahieren muss.500 Ryle zufolge sind die implizit-performative Vertrautheit mit dem Territorium als auch die explizit-propositionale Abstraktion in der Karte jeweils Formen von ›kartografischem‹ Wissen: Im zweiten Fall liegt das nah, ist es doch ein Wissen um den Umgang mit dem Medium der Karte. Im ersten Fall ist es eine Metapher. Der Dorf bewohner hat ein Schema im Kopf, eine (situierte) ›mental map‹, die er implizit-performativ zur Anwendung bringt.501 Beide Wissenstypen stehen in einem Verhältnis der Übersetzung. Sie sind als ›knowing how‹ und ›knowing that‹ aber unterschiedlicher Art, weil die implizite Vertrautheit mit dem Territorium ein persönliches Wissen ist, die explizite Darstellung in der Karte ein diskursiv reguliertes, intersubjektives Wissen.502 Zwischen beiden Formen des Wissens – ausgedrückt durch die Relation zwischen Territorium und Karte – besteht ein Übersetzungsverhältnis im Sinne Joachim Renns ( Kap. 2.2.2), der dieses Beispiel von Ryle ebenfalls diskutiert.503 Es handelt sich um die Übersetzung zwischen implizitem und explizitem Wissen, die – wie Ryle es ausführt – als ein Prozess semiotischer Abstraktion gefasst werden kann.504 Übersetzungen in die Ordnung der Karte, also in ein diagrammatisches Darstellungssystem, sind in diesem Fall Explikationen eines impliziten Wissens. Das implizite Wissen findet sich im vorliegenden Fall im Orientierungswissen einer ›mental map‹. Mental maps wiederum sind eine Form von Schema.505 Somit ist es möglich, die bei Ryle formulierte Analogie von Karte und Territorium als Analogie für diagrammatisches Denken zu beschreiben. Diese Analogie deckt sich mit Peirces Beispiel des Generals aus den Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus. Bei dem ›knowing how‹, nach dem der Erzähler den General fragt, handelt es sich um ein Wissen, das den General sicher über das Schlachtfeld leiten würde. Er wäre als Kind dort aufgewachsen und wüsste, was hinter dem nächsten Hügel läge. Dieses Wissen würde dem General, wenn er im Sinne eines ›knowing that‹ die feindlichen Bewegungen analysieren will, aber nur begrenzt weiterhelfen. Die Karte formt das implizite Wissen um. Die Karte überführt das implizite Wissen in einen Anschauungsraum, in dem wirkliche und mögliche Bewegungen in eine Relation zueinander treten und Schlussfolgerungen über die feindlichen Bewegungen möglich werden. Weil der General ein ›knowing that‹ benötigt, um die Schlacht zu schlagen, bemerkt er, dass das implizite Kindheitswissen nicht ausreicht. Peirces Theorie führt über das Denkbild, durch welches die Möglichkeiten im Diagramm bzw. in diesem Fall: in der Karte, sichtbar werden, das implizite Wissen in seiner Theorie mit. Das Denkbild ist nicht nur einfach ein ›Effekt‹, der im Diagramm entsteht. Das Bemühen von Peirce, das Denkbild vom ›Graphen‹, also dem expliziten 499 Ryle 2009a, S. 454f. 500 Vgl. hier auch die Theorie kognitiver Landkarten bei Neisser 1996, S. 89ff., hier insb. S. 99ff. 501 Vgl. Ryle 2009a, S. 455. 502 Vgl. Ryle 2009b. 503 Vgl. Renn 2006b, S. 352f. 504 Die Analogie von Karte und Territorium ist als epistemologisches Verhältnis bei Korzybski 1948 ausgearbeitet worden. 505 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 263ff.

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›Oberf lächendiagramm‹ abzutrennen, ist auch das Bemühen, jene ›Kraft‹ zu denken, die im Diagramm ausagiert wird. Das Bemerkenswerte ist, dass dieser Übergang, wo Peirce ihn beschreibt – also in seinen Bemerkungen zur Ref lexivität des Denkens –, als Übergang von einem impliziten Denken zu einem expliziten Gedanken verstanden wird. Er unterliegt notwendigerweise der Prozessualität des Denkens. Vorausgesetzt wird, dass der explizite Gedanke sich als Denken implizit in einer Handlungssituation performativ fortsetzt. Mit Peirce kann man in den Bahnen der Kontinuität der erwähnten Unterscheidung zwischen impliziter Fortsetzung und expliziter Auslegung denken. Das Schlussfolgern im Diagramm ist an zwei Stellen auf implizites Wissen im Sinne eines ›knowing how‹ angewiesen: Erstens beeinf lusst das implizite Wissen den Akt der Diagrammatisierung. Solange keine angemessene ›abstraction‹ gefunden wurde, ist die Lage nicht befriedigend. Wäre er als Kind in dem Land aufgewachsen, wäre der General in der Lage, beurteilen zu können, wo die Stärken und Schwächen der Karte liegen. Wäre er nicht dort aufgewachsen, hätte er dieses Wissen nicht. Implizites Wissen spielt als kognitive Kategorie in die Bildung von kollateralem Wissen als einer Bedingung hinein, die relevant wird, wenn eine Diagrammatisierung stattfindet. Das kollaterale Wissen, das ein Wissen um die Verwendungsmöglichkeiten eines Diagramms ist und sich insofern auf das Denkbild bezieht, ist beeinf lusst von implizitem Wissen, das sich auf das Schema (die ›mental map‹) bezieht. Michael Hoffmann hat auf die Bedeutung des kollateralen Wissens für die Peirce’sche Diagrammatik hingewiesen. Er sieht es als ein Desiderat an, das Verhältnis von Theorien des impliziten Wissens mit Peirces Begriff des kollateralen Wissens abzugleichen.506 Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen bemerkt er, dass »in Prozessen der Diagrammatisierung […] implizit gegebenes, kollaterales Wissen explizit gemacht werden kann«.507 Daraus ist zu schließen, dass kollaterales Wissen eine Form von implizitem Wissen ist, aber nicht den ganzen Bereich des impliziten Wissens abdeckt. Kollaterales Wissen ist insofern ›implizit‹, als es die kulturell in Praktiken geregelten Möglichkeiten des Gebrauchs eines Diagramms beschreibt. Diese Möglichkeiten konkretisieren sich im Horizont eines Reliefs von Erfahrungs- und Körperwissen.508 Kollaterales Wissen ist deshalb relativ auf die Möglichkeiten bezogen, ein Diagramm zu rekonfigurieren. Aber diese Möglichkeiten werden als im Diagramm gegebene Auslegungsmöglichkeiten, also als der ›Weg‹, den man in einem Denkbild als ›bewegtes Bild des Denkens‹ durch das Diagramm gehen kann, durch implizites Wissen, also im gegebenen Fall das implizite Wissen eines Schemas, beeinf lusst. Zweitens ist implizites Wissen ein Schema, über welches im Diagramm die Bewegung der Schlussfolgerung verschiedene Alternativen abwägen kann. Das kollaterale Wissen ist – als Wissen um alternative Möglichkeiten – vom impliziten Wissen mit abhängig: Hätte der General jenes implizite Kindheitswissen, dann sähe er nicht nur die eventuellen Defizite der Karte. Er könnte auch entscheiden, warum der Feind – entgegen einer in der Karte angelegten möglichen Schlussfolgerung – sich für oder gegen eine Route entscheiden würde, weil der General wüsste, dass die Wege in einem Tal bei Regen matschig werden etc. Er könnte also Alternativen und mögliche Handlungskonsequenzen beurteilen, die sich relativ zu einer gegebenen Karte ergeben. Sei506 Vgl. Hoffmann 2005, S. 38f., insb. Anm. 19. 507 Hoffmann 2005, S. 124. 508 Vgl. auch May/Stjernfelt 2008, S. 54.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

ne implizite Erfahrung mit dem Gelände würde explizit in seine Ref lexion der Karte (des Diagramms) mithineinspielen – also in die Bildung von Denkbildern. Der General wäre in die Lage versetzt, auf Grundlage der Karte prognostizierend und antizipierend zu handeln und sogar zu kontraintuitiven Schlussfolgerungen zu gelangen. Er könnte Unwahrscheinliches aus der Karte ablesen. Dies bestätigt die in Peirces operationalem Verständnis von Ikonizität angelegte Idee, dass Diagramme neuartiges Wissen hervorbringen können. Die beiden Funktionen des impliziten Wissens bei der Konstruktion und der Auslegung eines Diagramms sind die Voraussetzungen für die Konstitution eines neuen Handlungsplans im Ausgang aus der experimentellen Phase der korollarialen oder theorematischen Deduktion. Dieser Handlungsplan ist nicht in der Karte ›externalisiert‹, sondern – beispielsweise als Entscheidung, die der General über die ›richtige‹ Strategie getroffen hat – das Ziel einer Folgehandlung. In einer längeren Passage der Vorlesung What Makes a Reasoning Sound? definiert Peirce einen mentalen Handlungsplan als ›Diagramm‹, was es möglich macht, auch das Denkbild in Diagrammen als solches zu verstehen: »[…] Such being his condition, he often foresees that a special occasion is going to arise; thereupon, a certain gathering of his forces will begin to work, and this working of his being will cause him to consider how he will act, and in accordance with his disposition, such as it now is, he is led to form a resolution as to how he will act upon that occasion. This resolution is of the nature of a plan, or, as one might almost say, a diagram. It is a mental formula always more or less general. Being nothing more than an idea, this resolution does not necessarily influence his conduct. But now he sits down and goes through a process similar to that of impressing a lesson upon his memory, the result of which is that the resolution, or mental formula, is converted into a determination, by which I mean a really efficient agency, such that if one knows what its special character is, one can forecast the man’s conduct on the special occasion.« 509 Die »mental formula« ist – wiederum im metaphorischen Bezug zum Diagramm – ein Handlungsplan. Dieser Handlungsplan ist implizit, insofern er dem General vor Augen stehen mag, als ›Plan‹ aber jederzeit scheitern, also die Wahrnehmung und Ref lexion einer neuen Lage erforderlich machen kann. Das könnte den Prozess des diagrammatischen Denkens neu anstoßen. Am Zusammenhang zwischen dem in der Wahrnehmung unbewusst verwendeten Schema sowie Diagramm und Denkbild als den Kernstücken einer experimentellen Ref lexion des Schemas muss also beachtet werden, dass diese Schemata auch Handlungsschemata sind, die wieder zu Handlungsplänen werden.

3.5.5 Diagrammatische Zeichen zwischen erster und zweiter Stufe Peirces Überlegungen zur Diagrammatik theoretisieren das Diagramm in einer Weise, die philosophisch ohne Vorbild ist. Ein konventioneller Begriff von Diagramm ist Peirces Diagrammbegriff ganz sicher nicht. Peirces Theorie ist nicht nur eine leistungsfähige Diagrammatik. Sie ist auch Ausdruck eines Begriffs von Diagramm, in dem das Diagramm als ideale und vor allem idealisierte Form des Denkens betrachtet wird. 509 Peirce 1998a, S. 246.

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Aus medientheoretischer Sicht mag man darin ein Abarbeiten der Philosophie an den Formen und Medien ihrer Vollzüge erkennen. Eine solche abgeklärte Beobachtung ist aber kaum die ganze Geschichte. Dennoch ist neben der faktischen Beschreibung der Epistemologie von Diagrammen auch ihre Position als ideale Formen des Denkens innerhalb des philosophischen Diskurses mitzubedenken. Diese metaphorische Bedeutung von Diagramm spielt nicht zuletzt in die Differenzierung zwischen perzeptiver Diagrammatizität sowie Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe mit hinein, wenn die Prozesse des wahrnehmenden Denkens und seiner Verstrickung in die Welt an der Idealvorstellung der Diagrammatisierung zweiter Stufe orientiert werden, wenn also von Erkenntnisprozessen gesagt wird, sie seien ›diagrammatisch‹. Peirces Bemühen um eine semiotische Begründung des Pragmatismus hat der Philosophie eine Theorie des Denkens eingebracht, die das Problem der Schematizität semiotisch neu formuliert. Peirce geht von einem diagrammatischen Kontinuum aus: »[…] Operationen mit Diagrammen, ob äußerlich oder vorgestellt, treten an die Stelle der Experimente mit wirklichen Dingen […]«.510 Diagrammatisches Denken ist ein Prozess, der als Operation des Denkens vor dem geistigen Auge wie als Handlung mit materiellen Objekten zu denken ist. Problematisch ist an dieser metaphysischen Begründung der Diagrammatik, dass sie eine übergeneralisierte ›Diagrammatologie‹ hervorbringt. Diese Ansätze überspielen, dass dieser Zusammenhang kein bruchloses Kontinuum ist.511 Verstanden als Praxis der Diagrammatisierung, die sich an der Explikation von implizitem Wissen orientiert, kann dies nur als ein Zusammenhang der umformenden Übergänge gedacht werden. Für Michael Hoffmann liegt der Fall so: »When I draw a map to explain a friend how to drive to a certain location, I would communicate by means of a diagram but I would not reason with it. Diagrammatic reasoning is about problem solving, decision making, knowledge development, and belief change by means of diagrams. However, I do not presuppose a clear cut distinction between diagrammatic communication and diagrammatic reasoning. There might be a continuity between them.« 512 Handhabbar wird das hier beschriebene Problem des Übergangs, wenn man die Diagramm-Kategorie als eine Praxis der Diagrammatisierung versteht, die zwischen kognitiver, materieller und semiotischer Bedeutungsdimension von Praktiken übersetzt. Michael Hoffmann schreibt: »Most important might be that in diagrammatic reasoning we are facing an interplay between an individual’s internal cognitive processes and the objective rules and conventions of a representation system that she or he chooses to construct a diagram.«513 Im diesem Kapitel ist versucht worden, diese Sicht weiterzuführen, indem für • eine Unterteilung des diagrammatischen Kontinuums in das Zusammenspiel aus Schema, Diagramm und Denkbild argumentiert wurde, 510 Peirce 2000/3, S. 133. 511 Das ist das Problem bei Bauer/Ernst 2010, aber auch – wenngleich ungleich besser begründet – bei Stjernfelt 2007. Vgl. mit anderer Stoßrichtung auch die Kritik an Stjernfelt bei Pape 2009, S. 415ff. 512 Hoffmann 2011a, S. 193f. 513 Hoffmann 2011a, S. 207.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

• der Prozess als Praxis der Diagrammatisierung, die eine Explikation ist, gefasst und an der Explikation von implizitem Wissen entlang orientiert wurde, • auf die (mediale) Konzeption der Relation zwischen impliziten dreidimensionalen Schemata und expliziten zweidimensionalen Diagrammen aufmerksam gemacht wurde, • die Formulierung einer Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe, welche auf einer perzeptiven Diagrammatizität in der Wahrnehmung gründet, mit Peirce vertieft wurde. Ist die Diagrammatisierung erster Stufe die Konstruktion diagrammatischer Relationen in einer gegebenen Zeichenkonfiguration zum Zweck der Abstraktion, so ist die Diagrammatisierung zweiter Stufe das Denken mit einem ausdifferenzierten diagrammatischen Darstellungssystem unter den Bedingungen seiner spezifischen Eigenschaften. Beide Stufen gehen aber auf eine perzeptive Diagrammatizität zurück, die mit ›dreidimensionalen‹, ›räumlichen‹ Schemata im impliziten Wissen verf lochten ist (und durch den Begriff des Schemas begriff lich besser erfasst wird als durch den des Diagramms). Die Übersetzung zwischen implizitem Schema und seiner Explikation durch ein Denkbild in einem Diagramm habe ich in meiner Peirce-Interpretation zu diesem Zweck als eine Relation doppelter Metaphorisierung gefasst. Ebenso wie dieser Ansatz einem zu weit generalisierenden semiotischen Konzept von Diagrammatik entgegentritt, kritisiert er ein kognitionswissenschaftliches Verständnis. In der Kognitionswissenschaft wird die Existenz kognitiver Schemata mit diagrammatischem Charakter angenommen.514 Eine solche Position formuliert Per Aage Brandt: »The explicit use of diagrams is important for scientific imagination and modeling, for technical designing, formal logic, social planning, machine control, and goal-oriented communication and thinking in general. They are probably rather direct graphic expressions of the intuitions that our memory-bound mental processing is based on. Therefore, their structure may instruct us, not only of human drawing and writing styles, or of the semiotics of graphic representation, but also of the way think, whenever we think of relations. They offer us privileged access to analytic and inventive aspects of our mental selves, and to the imagistic realm of the mind where meaning seems rooted. […] We cognize essentially by diagrams, whether we draw them or just think of them. Our species, we might say, is homo diagrammaticus. And the dynamic schemas we find relevant to the interpretation and stabilization of other blends might well be mental diagrams of precisely this sort. Diagrams are then, perhaps, the schemas of schemas.« 515 Diagramme werden bei Brandt als »direct graphic expressions« mentaler Prozesse angesehen. Sie explizieren das relationale Denken und bieten »privileged access« zu den »mental selves«, ja sogar zu dem Bereich des Bewusstseins, in dem »meaning seems rooted«. Nicht nur, dass wir mit Diagrammen denken und wahrnehmen, die ganze menschliche Spezies wird als »homo diagrammaticus« bezeichnet. Diagramme sind

514 Vgl. überblickend Blackwell 1997. Vgl. u.a. kritisch gegenüber der Kognitionswissenschaft Hoffmann 2011a. 515 Brandt 2004, S. 102.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

damit ein Ref lexionsbegriff der für Denken und Wahrnehmung fundamentalen Schemata, also »schemas of schemas«. Peirces Idee, Diagramme als ideale Denkbilder aufzufassen, die sich ref lexiv zu diesen Schemata verhalten, führt seine antitranszendentale Kritik an Kant fort. Bereits Peirce legt damit aber die Axt an ein solches kognitionstheoretisches Verständnis von Diagrammatik. Das Zitat von Brandt ist in gewisser Weise auch ein Beispiel für den Optimismus internalistischer Semantiken. Für Brandt sind Denken und Bedeutung vorrangig kognitive Phänomene. Aus pragmatistischer und semiotischer Sicht ist dieser Ansatz tendenziell naiv. Außer Acht bleibt der Bereich der soziokulturellen Regulierung von Denken und Bedeutung. Als Entitäten im impliziten Wissen sind kognitive Schemata immer auch soziokulturell in Praktiken verkörperte und ausagierte Strukturen. Über ihre Bedeutung wird nicht in der privaten Innerlichkeit eines kognitiven Subjekts entschieden. Sie schließt soziokulturelle Faktoren mit ein. Im Lichte seines Pragmatismus ist Peirce von der »dynamische[n] Prozessualität von Schluss- oder Erkenntnisprozessen«516 in der Verschränkung von Wahrnehmung, Überzeugung und Handlung überzeugt. Diagramme dienen der Konkretisierung und Selbstref lexion des Denkens. Ein solches ›Denken‹ ist gefordert, wenn Situationen eintreten, in denen man über die Wahrnehmung mit einem problematischen Sachverhalt konfrontiert wird, zum Beispiel die Situation der Wahrnehmung von etwas Neuem. In solchen Situationen wird die (implizite) abduktive Struktur der Wahrnehmung zur Folie eines expliziten Prozesses des Denkens. Peirce ordnet die Diagrammatik diesem Prozess der ref lexiven Explikation von impliziten Inferenzen in der Wahrnehmung zu, indem er postuliert, dass diagrammatische Darstellungssysteme für die Klärung von problematischen Sachverhalten und die Weiterentwicklung der Semiose entscheidend sind. Auch wenn Peirce im Modus philosophischer Nabelschau vor allem an der Ref lexivität des Denkens interessiert ist, sichert doch der Umstand, dass im Denken in Diagrammen Schemata als Schemata, etwa der Kategorisierung von idealisierten ›Types‹, ref lexiv werden, den Bezug der Peirce’schen Diagrammatik zu Objekten aller Art. Die Diagrammatik beschreibt eine kulturelle Praxis, in der die Probleme, die sich in solchen pragmatischen Situationen ergeben, in der »Sphäre des Diagrammatischen buchstäblich ausgestellt« werden, wie Benjamin Meyer-Krahmer und Mark Halawa ausführen.517 Medientheoretisch sind Diagramme also auch für Peirce ›Schauplätze der Evidenz‹ (Ludwig Jäger) ( Kap. 2.2.7). Diagramme und die schlussfolgernde Arbeit mit ihnen implizieren die experimentelle Situation eines »observing what we are doing«.518 Benjamin Meyer-Krahmer und Mark Halawa heben deshalb die Bedeutung von Peirces Zeichenpraxis für die Entwicklung seines Gedankens hervor, in der Diagrammatik eine Praxis der Selbstauf klärung eines pragmatistischen Verständnisses von Denken zu sehen.519 Die Eckpunkte, auf die es mir ankam, sind daher diese: 516 Meyer-Krahmer/Halawa 2012, S. 283. 517 Meyer-Krahmer/Halawa 2012, S. 283. 518 Hoffmann 2004, S. 301. 519 Hier ist auch Steffen Bogens Überlegung interessant, Diagramme als Spiele zu verstehen. Vgl. Bogen 2014, 404f., hier S. 405: »Ich schlage […] vor, Diagramme als eine Form von Spiel zu begreifen, dessen Regeln in bestimmten Maß auch für das Handeln in der Welt relevant sind. Eine solche Referenz baut sich nicht als plötzlicher Umschlag eines völlig geistigen Diagramms in eine völlig materielle

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

Die Bedeutung von als Diagramme gelesenen Zeichenkonfigurationen oder Diagrammen im engeren Sinn ergibt sich über einen Bezug zu impliziten Schemata. Das Denkbild im Diagramm ist so wie das Schema, es ist in seiner Funktion, Denkbilder zu produzieren, eine semiotische Ref lexionsform von impliziten Schemata, die dreidimensional und prozessual sind. Die These einer Ref lexivität der Diagramms adressiert das Problem, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem impliziten Vollzug des Wahrnehmens durch ein ›diagrammatisches‹ Schema (perzeptive Diagrammatizität, ›Diagrammskelett‹) und den ref lexiven Prozessen der Diagrammatisierung (Diagrammatisierung erster Stufe) sowie des diagrammatischen Denkens in einem ausdifferenzierten diagrammatischen Darstellungssystem (Diagrammatisierung zweiter Stufe). Die Form der Relation zwischen Schema und Diagramm kann als die einer doppelten Metaphorisierung gelesen werden. Einerseits ist das Diagramm vom Schema durch das Moment der Metapher differenziert. Das Diagramm ist wie ein Schema, wird also durch das Denkbild als Schema gelesen. Andererseits ist dieser metaphorische Bezug zum Diagramm aufgrund seiner Form als Metapher potenziell mehr als eine nur ›rhetorische‹ Differenzierung: Das Diagramm ref lektiert im Denkbild das Schema, indem es durch das Denkbild einen Denkvollzug in metaphorischer Relation zum Schema produziert. Peirce exponiert die Form der metaphorischen Relation am Beispiel des Selbstbezugs des Denkens. Das Denken ist der Inhalt, der durch die Metapher im Übergang von implizitem Vollzug und expliziter Ref lexion im Diagramm (re-)konstruiert wird. Das ›Denkbild‹ ist als ›bewegtes Bild des Denkens‹ der Prozess eines Sehens von Möglichkeiten. Die Kreativität von Diagrammen ist in ihrem Merkmal zu finden, in den Relationen neue Beziehungen zu zeigen, die vorher nicht gesehen wurden. Dazu ist ein Möglichkeits-Sehen notwendig, das mit dem Prozess der (hypostatischen) Abstraktion, also einem Prozess der Vergegenständlichung, verschränkt werden kann. Es ist durch die ästhetischen Momente der Bewegung und der Kraft ausgezeichnet, also durch ›kinästhetische‹ Relationenbilder.520 Diese Bewegung ist eine intrinsische Bewegung, die im Nachvollzug der im Diagramm angelegten Relationen erzeugt wird, und sie ist eine extrinsische Bewegung, die durch die Rekombination von Relationen ins Spiel kommt. Das ›bewegte Bild des Denkens‹ ist eine in ›theorischer Anschauung‹ vorgenommene Virtualisierung von Relationen. Im Diagramm werden in der Bewegung durch das Diagramm Alternativen in der Konfiguration der Relationen gesehen, welche durch diese Bewegung entstehen. Als ›bewegtes Bild des Denkens‹ ist die mediale Idealvorstellung von Denkbild die eines bewegten dreidimensionalen Relationenbildes. Für die Medienwissenschaft ist daran besonders interessant, dass Peirce die ›Überblendung‹ in der Wahrnehmung in Analogie zur Kompositfotografie bestimmt. Die Idealvorstellung der Dynamik des Denkbildes soll sogar einem Filmbild entsprechen. Dieser Umstand ist als Brücke zur Kognitiven Semantik und ihrer Metapherntheorie wichtig, weil – wie auch Eco beWelt auf, sondern in einer Reihe von Zwischenschritten, in denen sich das Verhältnis zwischen freien und erzwungenen Bewegungen, Aktionen und Reaktionen verschiebt.« 520 Es ist eine Verkürzung der Peirce’schen Position, diese Position auf eine Theorie des »logischen Schließens« zu reduzieren. Vgl. Leeb 2012a, S. 17. Ein ästhetischer Diagrammbegriff darf davon nicht abgekoppelt werden.

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tont521 – Wahrnehmungsschemata »3D-Modelle« sind. Diagramme bilden als zweidimensionale Flächenbilder die Dreidimensionalität impliziter Wahrnehmungsschemata im Denkbild nur reduziert nach, wenngleich sich an ihnen über phänomenale Qualtäten wie das der ›Kraft‹ Momente dessen erhalten, was sie ref lektieren: implizite Schemata, zu denen insbesondere Schemata des Embodiments gehören.522 Bei Peirce ist ferner zu lernen, dass die Situation der Wahrnehmung des Neuen eine ideale Situation zum Studium von Denken ist. Neues fordert eine kreative, abduktive Lösung. Diese Abduktion kann mit der »formativen Visualität« des Denkens (Helmut Pape) korreliert werden.523 In der Wahrnehmung des Neuen müssen gewohnte Schemata ref lektiert werden. Das Diagramm ist eine kulturelle Form dieser Explikationen von Wahrnehmungsmöglichkeiten, die neue Möglichkeiten zur Konkretisierung von Überzeugungen sind. Die Lesart ausgewählter Stellen bei Peirce zeigt programmatisch, dass es aus (medien-)kulturwissenschaftlicher Perspektive zu den Leistungen der mathematischen und logischen Diskussion um Diagramme wie den Existenziellen Graphen gehört, anhand klar definierter Diskurse die Prinzipien diagrammatischen Schließens aufzudecken. Über die pragmatischen Gründe und die soziokulturellen Phänomene des Diagrammgebrauchs, die sich dem Studium logischer Prinzipien entziehen, können diese Diskurse aber nur wenig sagen. Für die Medienwissenschaft ist die Diagrammatisierung erster Stufe als das Betrachten anderer Zeichenkonfigurationen, etwa in der Bildlichkeit des Films, als Diagramm, oder die Implementierung von Diagrammen in andere semiotische Konfigurationen, ein besonders wichtiger Anwendungsbereich der Diagrammatik. Die Existenziellen Graphen stehen für eine Diagrammatisierung zweiter Stufe. Sie stellen aber nur das eine Extrem der Peirce’schen Theorie dar. Diese Frage aufgeworfen zu haben, ist eine wichtige Leistung einer mit Peirce begründeten Diagrammatik. Peirces Vorsichtsgründe, die Relation zum kognitiven Schema als doppelte Metaphorisierung zu beschreiben, habe ich herausgearbeitet und diskutiert. Diese Vorsichtsgründe knüpfen sich an die Frage, was sinnvoller Weise unter die Theorie diagrammatischen Denkens gerückt werden kann. Wenn (im Sinne von Peirce) verhindert werden soll, dass diese Theorie exklusiv an Diagrammen entwickelt wird, wenn also auch ästhetische Phänomene wie Bilder wichtig sein sollen, und wenn nicht übersehen werden darf, dass das diagrammatische Denken auf dem schlussfolgernden Vollzug von Wahrnehmung in Diagrammen beruht, die in einem Medium vorgenommen werden, dann müssen Diagrammatisierungen erster und zweiter Stufe über das implizite Widerlager perzeptiver Diagrammatizität ausbalanciert werden. Die in Bezug auf und partiell auch mit Peirce formulierbare These einer doppelten Metaphorisierung ist das zentrale Argument. Entscheidend ist allerdings ein Verständnis von Metapher, in dem die Metapher einerseits als kognitives Beispiel für ein diagrammatisches Denken im Vollzug angesehen wird, und andererseits als eine kulturell konventionalisierte Form so ist wie Denken, 521 Vgl. Eco 2000, S. 104. 522 Vgl. Dirmoser 2011, S. 175. Dirmoser weist in seiner Übersicht von zentralen Denkfiguren der Diagrammatik auf die Relevanz von Jens Schröters (2009) Begriff des »transplanen Bildes« (als Begriff für 3D-Bilder) für die Diagrammatik hin ( Kap. 8). 523 Vgl. Pape 2012.

3. Charles S. Peirce und das diagrammatische Denkbild

die also die Problematik einer sozialen Objektivierung des Denkvollzuges in ihrem Vollzug mitausstellt. Bei Peirce findet sich keine Ausarbeitung dieser These. Er assoziiert sie aber mit den Wissensformen des impliziten und des expliziten Wissens. Der fiktive Dialog mit dem General aus dem Text Prolegomena zu einer Apologie des Pragmatizismus ist ein Beispiel für diesen Gedanken. Die Diskussion dreht sich darum, dass man mit einem Territorium dank eines Schemas (wie einer mental map) implizit vertraut sein kann. Dieses Wissen unterscheidet sich von einem Wissen, das man mit einer Karte über dieses Territorium haben kann. Solches Wissen ist ein explizites Wissen um das Territorium. Wenn man sich mit einer Karte in einem Territorium orientiert, wird dieses implizite Wissen in der Karte ref lexiv. Implizites Wissen spielt also bei der Auslegung der Karte, dem Denken mit der Karte, das ein diagrammatisches Denken ist, eine entscheidende Rolle. Dieser Faden soll im Folgenden weiterverfolgt, indem die Theorie diagrammatischen Denkens in Bezug zur Metapherntheorie gesetzt wird. Dabei wird sich nicht auf die Metapherntheorie im Ganzen bezogen,524 sondern nur auf die Kognitive Metapherntheorie von George Lakoff und Mark Johnson. Diese Entscheidung liegt in der Sache begründet. Die Kognitive Metapherntheorie behandelt die Metapher nicht als semiotische Form, sondern als eine kognitive Inferenz, die im Embodiment gründet (und somit andere 4E-Aspekte wie einen funktionalistischen Begriff der Externalisierung ausklammert;  Kap. 2.1.3). Wenn, wie Joachim Renn annimmt,525 der Körper das ›Urmedium‹ der Explikation ist und die Praktiken der Diagrammatisierung als explikativ angesehen werden können, dann liegt in einer Theorie, die Schemata und Embodiment zusammendenkt, ein wichtiger Kontext der Debatte auch um die Diagrammatik ( Kap. 5).526 Bevor jedoch ein zweiter, großer theoretischer Block folgt, der an Peirce anschließt, soll die Gelegenheit genutzt werden, einige der bisher Grundgedanken auf ein Anwendungsbeispiel zu beziehen und auf diese Weise zumindest ein Stück weit zu Veranschaulichen. Die Wahl fällt auf einen Film, der wie kaum ein zweiter einen zentralen historischen Kontext diagrammatischer Kulturtechniken aufgegriffen hat – Alejandro Amenábars Agora aus dem Jahr 2009.

524 Vgl. Haverkamp 1996; Haverkamp 1998a; Haverkamp 1998b; Haverkamp 2007; Rolf 2005. 525 Vgl. Renn 2006b, S. 374. 526 Vgl. mit einem auf eine »erweiterte Hermeneutik« abzielenden Argument im Erscheinen auch Irrgang 2020.

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4. Veranschaulichung — Kreis, Ellipse und Diagramm in Agora1 Runde Diagramme, die sich der Kreisform bedienen, existieren in den unterschiedlichsten Varianten.2 Es gibt Objekte, bei denen das materielle Trägermedium kreisrund ist und die als Diagramme betrachtet werden können. Wesentlich häufiger sind Diagramme, welche Kreise als Darstellungsprinzipen verwenden, die also mit Hilfe von Kreisen Informationen repräsentieren. Ubiquitär ist schließlich das Phänomen, dass runde, diagrammatische Elemente – Kreise sind dafür ein gutes Beispiel – in anderen semiotischen Medien enthalten sind, allen voran in Bildern. Beispiele für runde Diagramme sind leicht zu finden. Die euklidische Geometrie widmet sich dem Kreis. Das T-O-Schema, das den Radkarten des Mittelalters zugrunde liegt, darf als ein rundes Diagramm betrachtet werden. Die beeindruckenden kosmografischen Diagramme, die das Universum und die Schöpfungsgeschichte mit Hilfe von Kreisdiagrammen darstellen, sind hervorzuheben.3 In späteren Jahrhunderten finden sich die viel diskutierten Euler- und Venn-Diagramme. Und heute erfreut man sich an Kreisen in interaktiven Infografiken oder bei Wahlsendungen im Fernsehen. In zahlreichen dieser Beispiele ist das Attribut des Runden nicht nur Teil einer logischen Funktion, etwa um die Zugehörigkeit eines Elementes zu einer Gruppe anschaulich zu repräsentieren. Häufig hat das Runde – dank ebendieser Anschaulichkeit – auch eine ästhetische Qualität. Gegenüber Diagrammen wird mitunter der Vorbehalt geäußert, sie würden diese ästhetische Seite ihrer Formen reduzieren. Doch das ist nicht der Fall. Mathematik und Geometrie sind zweifelsohne wichtige Bereiche für Diagramme. Die Entwicklung der Diagrammatik ist auf das Engste mit ihnen verknüpft. Sie sind aber nicht die einzigen Bereiche. Und sie sind auch nicht frei von ästhetischen Qualitäten.4 Die semiotische Perspektive erlaubt es, beide Seiten des Diagramms als eine »ästhetikologische« Einheit zu betrachten.5 Wie gesehen, be1 Das vorliegende Kapitel war, wie im Vorwort kommentiert, in der ursprünglichen Arbeit nicht enthalten und ist als Aufsatz in etwas kürzerer bzw. geringfügig modifizierter Form erschienen als Ernst 2019b. Ich danke dem Universi-Verlag Siegen für die Einräumung der Rechte für diesen Wiederabdruck. 2 Vgl. Mahr/Robering 2009, zum Kreis und seiner Idealität in Diagrammen hier insb. S. 280ff., S. 300f. 3 Vgl. Benson 2014, S. 16ff., S. 136ff. Vgl. zur Rolle von Diagrammen in der Astronomie Liess 2012; zur spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Diagrammtradition Heninger 2004; Worm 2010; Worm 2014. 4 Vgl. u.a. Bogen 2005a; Bonhoff 1993; Schmidt-Burkhardt 2012a. 5 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 58ff.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

ruhen diagrammatische Ikons für Peirce auf einem strukturellen Ähnlichkeitsverhältnis. Sie behaupten keine Ähnlichkeit zwischen den Elementen eines Zeichens und den Elementen eines Objektes, sondern – eine Stufe abstrakter – zwischen den wesentlichen Relationen der jeweiligen Elemente ( Kap. 3.3.2 u. 5.4.3).6 Wie bei allen Zeichen können diese Qualitäten der diagrammatischen Zeichen aber nicht von den Praktiken isoliert betrachtet werden, in denen Diagramme Verwendung finden. Die Merkmale, welche die Diagramme als Zeichen ansprechbar machen, gehen mit Verwendungspraktiken dieser Zeichen in der sozialen Realität einher. Besonders gerne genutzt wird das Potenzial der Diagramme, einen abstrakten Sachverhalt zu veranschaulichen und es zu erlauben, diesen Sachverhalt deduktiv zu durchdenken.7 Für den Gegenstandsbereich, auf den sich hier bezogen wird, sind beide Seiten des Diagramms wichtig: seine logisch-strenge und seine ästhetisch-anschauliche. Es geht um eine fiktionale Inszenierung der Verwendung von Diagrammen in der Astronomie. Dabei wird auf das Musterbeispiel aus diesem Kontext schlechthin referiert: die kopernikanische Wende – also den neuzeitlichen Paradigmenwechsel von einem geozentrischen zu einem heliozentrischen Weltbild. Das Beispiel findet sich in dem Historienfilm Agora (2009) von Alejandro Amenábar.

4.1 Antike Astronomie — Einleitende Stichworte Um die Pointe des Films zu verstehen, müssen kurz die astronomischen Hintergründe vorgestellt werden. Zur Debatte steht in der kopernikanischen Wende nicht nur die geozentrische Position der Erde im Universum. Es ging auch um die Form der Planetenbahnen. Sind diese Bahnen, wie es die Autoritäten der Antike gedacht haben, kreisförmig? Oder kann, ja muss man mit der Tradition des Kreises brechen? An dieser Frage hing viel. Bei ihrer Klärung spielten Diagramme eine Schlüsselrolle.8 Die Geschichte der antiken und der mittelalterlichen Astronomie, von der sich die wissenschaftliche Revolution der Neuzeit absetzen wird, ist oft erzählt worden.9 Ich resümiere daher nur das Allernötigste. Die Tradition, mit der in der Neuzeit gebrochen wird, ist durch Texte wie Platons Dialog Timaios geprägt gewesen. Platon zufolge bewegen sich die Planeten auf Kreisbahnen um die Erde; das Universum ist geozentrisch und kugelförmig.10 Die Begründung des geozentrischen Weltbildes implizierte die Notwendigkeit, die Bewegung der Planetenbahnen zu erklären. In dieser Frage war die Astronomie allerdings mit dem Phänomen konfrontiert, dass die Planeten sich während ihres Weges keineswegs so bewegen, wie man es von einer perfekten Kreisbahn erwarten konnte. Die Planeten – ein Beispiel ist der Mars – verlangsamen sich auf ihrer Bahn, wandern dann ein Stück rückwärts, bevor sie sich nach einer schleifenförmigen Extrarunde wieder weiterbe6 Vgl. Peirce 2005, S. 64; Wöpking 2016, S. 26. 7 Vgl. Peirce 1998b, S. 318ff. 8 Vgl. auch Bauer 2005b, S. 122ff. 9 An Überblickswerken ist kein Mangel; die einschlägigen Artikel auf Wikipedia listen die Standardliteratur auf. An dieser Stelle sei nur auf die beiden Werke von Hamel 1998, hier S. 29ff., und Hamel 2004 verwiesen. 10 Vgl. Hamel 2004, S. 85ff.

4. Veranschaulichung – Kreis, Ellipse und Diagramm in Agora

wegen. Ein anderes Problem war die beobachtbare Schwankung in der Helligkeit der Planeten. Die Helligkeitsunterschiede implizierten eine variable Distanz der Planeten zur Erde. Ein einfaches Kreismodell, bei dem sich die Planeten in konstanter Distanz auf einer Kreisbahn um die Erde drehen, konnte diese Helligkeitsschwankung nicht erklären.11 In der Antike wurden verschiedene Beschreibungsansätze entwickelt, um diese »beobachtete Ungleichförmigkeit der Himmelserscheinungen auf gleichförmig-kreisförmige Bewegungen zurückzuführen.«12 Zwei Modelle sind für das Verständnis wichtig: Das erste ist das Modell der homozentrischen Sphären. Entwickelt hatte es Eudoxos von Knidos (ca. 395-342 v. Chr.), ein Zeitgenosse Platons. Eudoxos’ Modell zufolge befinden sich die Planeten an verbundenen, kreisförmigen Schalen, die unterschiedliche Neigung und Drehung aufweisen können. Durch Überlagerungen dieser Kreisschalen innerhalb einer kugelförmigen Sphäre lässt sich die Schleifenform der Planetenbewegung erklären. Allerdings hatte das Modell den Nachteil, nichts über die wechselnde Lichtstärke der Planeten zu sagen.13 Das zweite Modell, das bis in die Neuzeit Gültigkeit behalten sollte, geht auf Apollonius von Perge (ca. 262-192 v. Chr.), Hipparchos (190-120 v. Chr.) und Claudius Ptolemäus (100-160) zurück. Grob gesagt, existieren zwei Kreisbahnen: eine Hauptkreisbahn, Deferent genannt, deren Mittelpunkt die Erde ist, und eine Nebenkreisbahn, der Epizykel – eine kleine Kreisbahn, auf der sich die Planeten bewegen und deren Zentrum nicht die Erde, sondern ein Punkt auf der Hauptkreisbahn, also dem Deferenten, ist. Das ptolemäische Modell war mithin geozentrisch und stützte sich auf die Kreisform. Die Erde war, im Unterschied zum Modell des Eudoxos, zwar das Zentrum des Universums, nicht aber der Mittelpunkt aller Kreise. Denn das Zentrum des Epizykels, also der Nebenkreisbahn, sind die Punkte entlang des Deferenten, also der Hauptkreisbahn, deren Zentrum die Erde ist.14 Der Vorteil dieser weithin akzeptierten Theorie war es, sowohl die Schleifenform der Planetenbewegung als auch die durch Helligkeitsschwankungen indizierten Distanzwechsel erklären zu können. Das Modell erlaubte präzise Vorhersagen über Planetenkonstellationen. Als Teil des Standardwerks der antiken Astronomie, des Almagest von Claudius Ptolemäus, wurde die Epizykel-Theorie zu einem integralen Bestandteil des ptolemäischen Weltbildes und überdauerte, später vom Christentum akzeptiert, das Mittelalter bis an die Schwelle der Neuzeit.15 In der Neuzeit setzte sich im Zuge der kopernikanischen Wende dann sukzessive eine neue Sicht der Dinge durch. Nur drei Namen seien genannt, die mit dieser 11 Allerdings muss man vorsichtig sein, dies als ein wissenschaftliches ›Problem‹ im Sinne des seit der Neuzeit geläufigen Verständnisses zu verstehen. Die Forschung hat gezeigt, dass die platonische Philosophie gar nicht den Anspruch hatte, den Beobachtungsphänomenen gerecht zu werden. Die Astronomie diente instrumentellen Zwecken wie der Erstellung von Kalendern. Der ›wahre‹ Zusammenhang der Himmelsphänomene galt als den Sinnen unzugänglich und nur für die Vernunft zu erschließen. Beide Ungleichheitsphänomene waren für die platonische Philosophie daher keine substanziellen Probleme, die überhaupt einer Erklärung bedürfen. Vgl. Carrier 2005, S. 25ff., hier S. 26, sowie den Abschnitt zur Astronomie in Dijksterhuis 1956, S. 62ff. 12 Carrier 2005, S. 28; Hamel 2004, S. 21f. 13 Vgl. Hamel 1998, S. 37. 14 Vgl. Dijksterhuis 1956, S. 62ff. 15 Vgl. Hamel 1998, S. 38ff.

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Veränderung des Weltbildes verbunden sind: Nikolaus Kopernikus (1473-1543), der die Sonne und nicht die Erde zum Mittelpunkt des Universums erklärte, Johannes Kepler (1571-1630), der die Ellipsenform der Planetenbahnen erkannte sowie über die physikalischen Wirkkräfte nachdachte, welche die Planeten auf ihren Bahnen halten, und Galileo Galilei (1564-1641), der das heliozentrische Modell verteidigte und mit dem Teleskop der Himmelskunde neue Dimensionen erschloss.16 In der Wissenschaftshistorie haben diese Namen sowie die Erzählung der kopernikanischen Wende annähernd mythischen Status. Dem Textkorpus aus jahrhunderterlanger Forschung ist hier außer einer kleinen Fußnote nichts Neues hinzuzufügen. Es geht einzig um eine zeitgenössische fiktionale Bezugnahme auf diese Ereignisse, wie sie in Agora zu finden ist.

4.2 Die Vorwegnahme der kopernikanischen Wende in Agora Agora widmet sich dem Leben und Sterben der spätantiken Philosophin Hypatia (ca. 350-405).17 Der Film verlegt die kopernikanische Wende kurzerhand in Hypatias Zeit, also in das spätantike Alexandria. Hypatia wird als leidenschaftliche Naturforscherin porträtiert, die in einer der Schlüsselszenen des Films Keplers Entdeckung der Ellipsenform der Planetenbahnen vorwegnimmt.18 Angesichts der spärlichen Überlieferung ist die Quellenlage für diese Interpretation – vorsichtig formuliert – dünn.19 Einem Historienfilm wie Agora können historische Belege aber relativ egal sein. Für ein historisches Format zählen die Kontexte der Story. Solange die Kontexte Analogieschlüsse zwischen der Neuzeit und der Antike ermöglichen, ist die Spärlichkeit der Quellenlage für die fiktionale Verarbeitung historischer Stoffe im Rahmen des Narrativs eines Historienfilms sogar vorteilhaft.20 Per Analogie kann dann die Möglichkeit gerechtfertigt werden, dass es so gewesen sein könnte. Aus dieser Möglichkeit bezieht Agora, wie viele andere historische Formate auch, sein Kapital.21 Parallelen zwischen der in Agora dargestellten Antike und der kopernikanischen Wende in der Neuzeit sind leicht zu finden. Da wäre zum Beispiel das Christentum, das sowohl in der Antike als auch der Neuzeit die Rolle des Antagonisten spielt. Hypatias Suche nach Wahrheit wird in Agora durch den sich in Alexandria ausbreitenden Dogmatismus dieser monotheistischen Offenbarungsreligion in Frage gestellt.22 Ähn16 Vgl. Hamel 1998, S. 117ff., S. 175ff. 17 Vgl. zu Agora insb. Jordan 2012, S. 225ff. Aufgrund der Sprachbarriere mir nicht zugänglich, der Vollständigkeit halber aber genannt seien ferner Luciano 2013; Viganò 2014. 18 Am Ende des Films wird dies in einer Schrifteinblendung kundgetan (TC 01:54:14). 19 Vgl. Jordan 2012, S. 231ff. Einen gut mit der Forschung kontextualisierten Überblick gibt der Wikipedia-Artikel zu »Hypatia«, https://de.wikipedia.org/wiki/Hypatia, gesehen am 08. Mai 2020. 20 Vgl. Jordan 2012, S. 246ff., S. 251ff. Im Vergleich zu anderen neueren Filmen des Genres wie Gladiator (2000) betrachtet Jordan Agora als ein »›counter-epic‹« (S. 226), was nicht zuletzt an dem szientistischen und genreuntypischen Teil der Handlung des Films liegt. 21 Der Film hat eine Diskussion unter Fachhistorikern ausgelöst. Vgl. exemplarisch den Blog des Althistorikers Richard Carrier (2010), der sich intensiv mit Pro-und-Kontra-Argumenten für die Authentizität der Darstellung von Hypatia in Agora auseinandersetzt. 22 Vgl. im Kontext auch die Diskussion um Assmann 2006.

4. Veranschaulichung – Kreis, Ellipse und Diagramm in Agora

liche Prozesse sind aus der Neuzeit gut bekannt. Galileo Galileis Auseinandersetzung mit dem Vatikan ist legendär. In Agora begegnet man dem Christentum in seiner straßenkämpferischen Frühphase. Steht Galilei für den Anfang einer neuen Epoche, in der das Christentum zunehmend an Deutungshoheit verliert, erscheint die fiktionale Hypatia aus Agora als die letzte Vertreterin der antiken Wissenschafts- und Gelehrtenkultur, die unter dem Ansturm der aufstrebenden neuen Religion zusammenbricht.23 Für das vorliegende Thema ist aber weniger die Religionskritik als der wissenschaftshistorische Kontext des Narrativs interessant. Indem der Film zeigt, was an antiker Wissenskultur untergegangen ist, impliziert Agora die Frage, was hätte entstehen können, wenn diese Kultur erhalten geblieben wäre. Was also wäre geschehen, wenn sich jene Theorien, die erst über ein Jahrtausend später wieder formuliert wurden, durchgesetzt hätten? Agora spekuliert mit einer verhinderten kopernikanischen Wende, einer verhinderten wissenschaftlichen Revolution.24 Dazu muss man wissen, dass dieses Szenario nicht nur als kühne Spekulation verlockend ist. Das Gedankenspiel aus Agora kann an einen realen Hintergrund anknüpfen. Dank der Weiterentwicklung bildgebender Verfahren sind in den letzten Jahren bahnbrechende Entdeckungen zum Entwicklungsstand der antiken Wissenschaften gemacht worden. Die mit großem technischen Aufwand durchgeführte Analyse von Funden wie dem Mechanismus von Antikythera und dem Archimedes-Palimpsest haben gezeigt, dass während der hellenistischen Epoche zwischen ca. 330-30 v. Chr. ein mechanisches und mathematisches Wissen zirkulierte, das erst anderthalb Jahrtausende später in der Neuzeit wiederentdeckt wurde.25 Während die kopernikanische Wende innerhalb der Wissenschaftstheorie zum Musterbeispiel für den Prozess des Paradigmenwechsels selbst geworden ist,26 setzt Agora ebendiese Wende als eine verhinderte wissenschaftliche Revolution in Szene. Die nötigen Bausteine, um diese Interpretation zu stützen, sind vorhanden. Beispielsweise war das heliozentrische Weltbild seit dem Hellenismus und den Arbeiten von Aristarch von Samos (ca. 310-230 v.  Chr.) eine bekannte Hypothese. Dafür gibt es solide Belege, denn Archimedes erwähnt die Ideen Aristarchs in der Sandzahl.27 Zwar liegen zwischen ihrer Epoche und dem Hellenismus mehr als 500 Jahre sowie vermutlich der Brand der Bibliothek von Alexandria. Auch die historische Hypatia dürfte mit Aristarchs Idee vertraut gewesen sein. Hypatia gilt als eine der wichtigsten Mathematikerinnen und Astronominnen der Antike und verfasste wahrscheinlich einen Kommentar zu Ptolemäus‹ Almagest.28

23 Der Film schreibt eine lange Linie der Bezugnahme auf Hypatias Schicksal fort. Vgl. Jordan 2012, S. 229ff., S. 256ff. 24 Die Überlegung, dass bereits in hellenistischer Zeit die entscheidenden Durchbrüche in der Astronomie hätten gemacht werden können, ist die zentrale These von Russo 2005. Russos These lässt sich sehr gut auf das Narrativ von Agora übertragen. 25 Vgl. zum Mechanismus von Antikythera Russo 2005, S. 147ff., zum Archimedes-Palimpsest Netz/Noel 2010. Vgl. zur Bedeutung von Diagrammen in antiken Papyri das Beispiel des astronomischen Traktats Eudoxi ars astronomica bei Bonhoff 1993, S. 37ff. Vgl. grundlegend Netz 1999, S. 12ff. 26 Vgl. Kuhn 2002. 27 Vgl. Hamel 2004, S. 95f. 28 So wird bei Wikipedia unter Rückgriff auf die Fachforschung referiert. Bemerkungen zu Hypatias verlorenem Werk finden sich auch bei Jordan 2012, S. 233. Demzufolge war Hypatia neben dem Kom-

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Die fiktionale Hypatia aus Agora auf diese Weise in eine Beziehung mit der kopernikanischen Wende zu setzen, ist als Denkmöglichkeit – wie gesagt: per Analogie – also kohärent. Was Hypatia, nach heutigem Stand der Forschung, allerdings nicht bekannt gewesen sein dürfte, war die elliptische Form der Planetenbahnen. Das war – ebenso wie die Bestimmung der Wirkkräfte, welche die Planeten auf ihren Bahnen halten – eine Entdeckung der kopernikanischen Wende in der Neuzeit. An dieser Stelle beginnt das Problem der Diagrammatik in Agora.

4.3 Agora — Kreis und Ellipse Schon in der Auftaktszene des Films wird die Frage nach der Kreisform der Planetenbewegung und dem richtigen Planetenmodell exponiert. Zu sehen ist die kugelförmige Erde und der sich um sie drehende Mond. Als Voice-Over kommentiert Hypatia: »How many fools do you think have asked themselves, why don’t the stars fall from the sky? But you, you have heard the teachings of the wise, you know that the stars move neither up nor down, they merely revolve from east to west, following the most perfect course ever conceived: the circle.« (TC 00:01:37) Gesetzt ist somit das durchgängige Thema des Films. Fortan werden in Agora eine Reihe historischer Anspielungen auf die kopernikanische Wende gemacht. Die Kritik an der Komplexität und Verworrenheit des ptolemäischen Epizykel-Modells, also eine Forderung nach einem einfacheren und eleganteren Modell, kommt zur Sprache. Hypatia erscheint darüber hinaus als Naturforscherin, die anhand des freien Falls von Objekten versteht, dass man auf einer sich bewegenden Kugel stehen kann, ohne herunterzufallen. Zum Schlüsselproblem erklärt der Film aber vor allem die wechselnde Helligkeit der Planeten sowie die sich verändernde Größe der Sonne im Sommer und Winter. Drei Szenen sind im vorliegenden Kontext wichtig: In der ersten Szene (TC 01:05:0701:07:07) diskutieren Hypatia (Rachel Weisz) und ihr Sklave und Assistent Aspasius (Homayoun Ershadi) auf dem Dach ihres Anwesens, wo die nächtlichen Beobachtungen des Sternenhimmels durchgeführt werden, die Frage der Helligkeit der Planeten. Dabei beziehen sie ihre Beobachtungsdaten nicht auf das geozentrische, sondern auf das heliozentrische Modell Aristarchs. Hypatia ist verzweifelt: »Why do the wanderers [die Planeten, C.E.] vary their brightness so unexpectedly?« Und weiter: »Why does the sun? Why does it change size from summer to winter?« (TC 01:05:22) Aspasius schlägt folgende Antwort vor: »Perhaps because sometimes it is nearer and other times it is further away?« (TC 01:05:36) Hypatia hält diese Antwort für falsch. Um ihren Punkt zu machen, wirft sie zwei Kugeln in einen Sandkasten. Der Sandkasten dient ihr als Medium zur Veranschaulichung.29 Eine Kugel steht für die Sonne in der Mitte, eine Kugel für die Erde, die sich um die Sonne dreht. Mit einem großen Stab zeichnet sie als Diagramm das Verhältnis ein, das zwischen diesen Objekten besteht: Die Erde bewegt sich auf einer perfekten Kreisbahn, was dazu führt, dass die variierende Distanz mentar zu Ptolemäus‹ Almagest möglicherweise auch an der kommentierten Neuausgabe von Euklids Elementen ihres Vaters Theon von Alexandria beteiligt. 29 Zu den medialen Produktionsbedingungen von Diagrammen in der Antike vgl. Netz 1999, S.  14ff., Mahr/Robering 2009, S. 290ff.

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nur über einen Epizykel erklärt werden kann. Somit ergibt sich das Problem: »But now we fall into the same trap as Ptolemy.« Aspasius: »Circles upon circles.« (TC 01:06:29) Inszeniert wird diese diagrammatische Modellierung des Epizykel-Modells anhand eines filmischen Stilmittels, das in Agora öfter verwendet wird.30 Gezeigt werden zwei Vogelperspektiven auf den Sandkasten, also ›Top-Down‹-Aufsichten auf das gesamte diagrammatische Modell im Sand ( Abb. 15).

Abb. 15: Epizykel in Agora (TC 01:06:27). Quelle: Eigener Screenshot aus Agora – Die Säulen des Himmels (2009), Alejandro Amenábar, DVD-Video, Universal Pictures Germany/Tobis 2010.

Wiederaufgenommen wird das Problem des Kreises wenig später in einem Gespräch (TC 01:21:35-01:25:15), das Hypatia mit ihrem ehemaligen Schüler Orestes (Oscar Isaac) führt. In diesem Dialog wagt es Hypatia zum ersten Mal, an eine andere Form als den Kreis zu denken. Orestes fragt: »If the stars move in a circle, why would they share their perfection with us?« (TC 01:23:52) Diese Analogie bringt Hypatia auf einen weiterführenden Gedanken: »We do not move in a circle … Ever since Plato, all of them: Aristarchus, Hipparchus, Ptolemy, they have all, all, all tried to reconcile their observations with circular orbits. But what if another shape is hiding in the heavens?« (TC 01:24:12) Orestes ist irritiert: »Another shape? Lady, there is no shape purer than the circle.« (TC 01:24:35) Hypatia entgegnet: »Yes, I know that. But suppose, just suppose that the purity of the circle has blinded us from seeing anything beyond it. In the same way that the glare of the sun prevents us from actually seeing the stars.« (TC 01:24:40) Hypatia stellt also das ptolemäische Paradigma ebenso wie die Perfektion des Kreises in Frage. Dieser szientistisch-epistemologische Handlungsstrang erreicht in Agora in einer dritten Szene seinen dramaturgischen Höhepunkt (TC 01:37:11-01:41:25). Um das Problem zu lösen, diskutiert Hypatia wiederum mit Aspasius: »What if we dared to look at the world just as it is?« (TC 01:37:11) Impliziert ist in dieser empirisch-induktiven Frage die bereits oben erwähnte ästhetische Dimension von diagrammatischen Formen: »What shape would it show us? What shape?« (TC 01:37:21). Was ist die »Form« der Erdbahn, so wie sie sich zeigt, wenn man die Vorgaben der Tradition über Bord wirft?31

30 Vgl. auch Jordan 2012, S. 253ff., S. 257. 31 Dass in Hypatias Experiment bei Anlass einer Frage nach »Form« diagrammatisch gedacht wird, ist kein Wunder, wird hier doch die Erkenntnisqualität von Diagrammen, verschiedene Konfigurationen von Formen durchspielen zu können, greifbar. Steffen Bogen schreibt: »Ein Diagramm ist […] keine

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Hypatia will also (a) an der Heliozentrismus-These festhalten, aber (b) die Epizykel-Theorie und mit ihr die Prämisse der Kreisform der Planetenbahnen verwerfen. Beides passt nicht zusammen. Deshalb tut die fiktionale Hypatia aus Agora das, was Johannes Kepler runde 1200 Jahre später real tun wird. Sie entscheidet sich für die Ersetzung der Prämisse von (b). Das heißt: Die fiktionale Hypatia aus Agora geht von der – für sich genommen in der Antike zwar bekannten, aber für unwahrscheinlich erachteten – Heliozentrismus-These des Aristarch aus. Sie denkt Aristarchs Überlegung aber einen Schritt weiter, indem sie eine weitere Prämisse des geozentrisch-ptolemäischen Weltbildes zur Disposition stellt: die These von der Kreisförmigkeit der Planetenbahn.

4.4 Sicht und Einsicht — Diagrammatisches Schließen In Agora folgt dann ein schönes Beispiel für die filmische Inszenierung von diagrammatischem Denken. Die von Hypatia vorweggenommene Schlussfolgerung Johannes Keplers, also die Einsicht in die Ellipsenförmigkeit der Erdbahn, wird im Film in zwei Schritten entfaltet. Der Verdacht, dass die Kreisform falsch sein könnte, ist bereits artikuliert. Was fehlt, ist die Erkenntnis der richtigen Form, die an die Stelle des Kreises tritt. Im Film wird dazu als erstes die Inspiration geschildert, die Hypatia auf die Fährte führt. Als zweites folgt die explizierende Beweisführung, bei der Hypatia ein Diagramm in ihren Sandkasten einzeichnet. Man kann diese zwei Schritte – also die Schilderung der Inspiration Hypatias und die darauffolgende explizierende Veranschaulichung – als eine Diagrammatisierung erster Stufe und eine Diagrammatisierung zweiter Stufe bezeichnen. Die Diagrammatisierung erster Stufe beschreibt den Versuch, Denkprozesse zu explizieren – und bei dieser Gelegenheit transkriptiv zu externalisieren –, die in der individuellen Wahrnehmung und im Bewusstsein ablaufen, also auf der Ebene perzeptiver Diagrammatizität. Die Diagrammatisierung zweiter Stufe bezieht sich hingegen auf die Praktiken der Konstruktion von Diagrammen in technischen Medien sowie die Ableitung von Schlussfolgerungen aus diesen Diagrammen ( Kap. 2.2.8). Nachdem Hypatia ihre Frage nach der Form gestellt hat, fordert sie Aspasius dazu auf, das Problem in Worte zu fassen. Wie kann es sein, dass die Sonne nicht konsistent ist und zwei Positionen gleichzeitig besetzen kann? Interessant ist dabei, dass die Aufforderung an Aspasius zunächst die klassische Problematik des Explizitmachens betrifft: »put it into words« (TC 01:37:27). Aspasius gibt, unter Zuhilfenahme von körperbasierten Gesten, mit denen er die Position der Sonne und die Bewegung um die Sonne veranschaulicht, sein Bestes: »The sun must be at the center, since we revolve around it, and at the same time in another position, since our distance from it varies. […] How, how could it occupy two positions at once?« Hypatia nimmt die Frage auf und stellt sie gleich drei Mal: »How could it occupy two positions at once?« (TC 01:37:25). Damit ist das Rätsel, das einer Antwort bedarf, in aller Klarheit ausgesprochen, bevor Hypatia beim Anblick einer Armillarsphäre und eines geometrischen Körpermodells der entscheidende Gedanke kommt. Gebannt nimmt Hypatia das Körpermodell der geometrischen Objekte in die Hand. Die Kamera folgt der körperlichen Wahrnehfertige Form, sondern ein Prozess, in dem das Verhältnis von Formen bestimmt werden kann.« Vgl. Bogen 2005a, S. 167.

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mungsperspektive Hypatias, blendet ihren Körper aber zunehmend aus. Figurenblick und Kamerablick werden zu einer Einheit. Die Aufsicht konnotiert einen Moment der Objektivität in der Perspektive Hypatias. Sodann kippt die Kamera in einer leichten Bewegung ab. Aufgrund der veränderten Perspektive geht aus dem Kreis eine Ellipse hervor – und damit die Antwort auf die Frage, welche Form die Natur zeigen würde, würde man, wie Hypatia es möchte, versuchen, alle Vorannahmen, die man gelernt hat, für den Moment zu suspendieren ( Abb. 16).

Abb. 16: Diagrammatisierung erster Stufe (TC 01:38:27). Quelle: Eigener Screenshot aus Agora – Die Säulen des Himmels (2009), Alejandro Amenábar, DVD-Video, Universal Pictures Germany/Tobis 2010.

Diese Perspektivendoppelung von Subjektivität und Objektivität ist für filmische Wahrnehmungsbilder typisch. Die subjektive körperliche Sehperspektive Hypatias ist mit dem ›objektiven Auge‹ der Kamera kombiniert.32 Von Subjektivität kann gesprochen werden, weil im Blick der Kamera auf die Transformation von Kreis zu Ellipse die narrative Referenz auf die menschliche Erkenntnisinstanz ›Hypatia‹ erhalten bleibt; von Objektivität, weil der Körper Hypatias für einen Moment ausgeblendet wird und am Ende der Kamerabewegung die reine Ellipse objektiv in einer ›Top-Down-Perspektive zu sehen ist. Die subjektive Perspektive wandelt sich durch die Kamerabewegung von der Kreisform also in eine objektive Aufsicht auf die Ellipse. Der Film verknüpft die Sicht im Sinne der Figurenwahrnehmung mit der Einsicht im Sinne eines Schlussprozesses.33 Zum einen sieht eine implizite Zuschauerin, wie Hypatia die Ellipse sieht.34 Zum anderen wird durch das Abkippen der Kameraperspektive und der daraus resultierenden Transformation des Kreises zur Ellipse die inferenzielle Einsicht in Hypatias Sehen expliziert – also der Schlussprozess, der durch den dynamischen Übergang vom Kreis zur Ellipse markiert ist. Das Abkippen der Kamera, das den Kreis perspektivisch in die Ellipse verwandelt, wird zum Moment einer (intellektuellen) Einsicht in die perzeptive Sicht und in der perzeptiven Sicht von Hypatia – und noch genauer: der Verbindung von Gestalt und Regel, mithin dem Schema, dem Hypatia in ihrem Denken gefolgt ist. Hypatia sieht mit ihrem physiologischen und ihrem geistigen Auge plötzlich die richtige Form, die hinter den Bewegungen der 32 Vgl. zur Kategorie des filmischen Wahrnehmungsbildes und der beschriebenen Doppelung von Subjektivität und Objektivität Deleuze 1989, S. 103ff. 33 Vgl. zur Unterscheidung von »Sicht« und »Einsicht« umfassend Schürmann 2008, S. 126ff. 34 Vgl. zur Kategorie des »impliziten Zuschauers« auch Kuhn 2013, S. 108ff.

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Planetenbahnen steht: die Ellipse. Der Moment, der zu Hypatias Einsicht führt, ist dabei analog zu dem strukturiert, was Peirce als imaginären Moment beschreibt, in dem ein Schema der Wahrnehmung, das perzeptiv die Wahrnehmung angeleitet hat, ref lexiv wird. Aus der eingeübten Form der Betrachtung (und Kategorisierung) des Kreises wird eine transformierende Ref lexion eben der Prämissen dieser Wahrnehmung. Wir finden hier also das, was den Übergang zwischen der hochallgemeinen perzeptiven Diagrammatizität und der Diagrammatisierung erster Stufe auszeichnet – ein Ref lexionsmoment im Sinne eines, hier von der Kamera explizit metaphorisch vollzogenen, ›Umkippens‹ der Wahrnehmung in eine ref lexive Wahrnehmung ( Kap. 3.4 u. 3.5). Als Auf hänger einer perzeptiven Diagrammatizität, die in eine Diagrammatisierung erster Stufe übergeht, exponiert der Film auf der sprachlichen Erzählebene also Hypatias Ansatz als ein ›empirisch-induktives‹ Verfahren, inszeniert aber die Inspiration auf der visuellen Erzählebene aber anders:35 Zu sehen ist, wie sich der Kreis vor Hypatias Augen in eine Ellipse verwandelt. Dieses Moment des Gestaltwandels steht in Beziehung mit den empirisch-induktiven Beobachtungen, die Hypatia gemacht hat, also der Beobachtung der ungewöhnlichen Form der Planetenbahnen. Die visuelle Inszenierung des Erkenntnismoments zeigt aber keine empirisch-induktive, sondern eine spekulativ-abduktive Erkenntnis. Hypatia steht die Ellipse sprichwörtlich als Evidenz ›vor Augen‹, aber sie muss diese Evidenz in einem Verfahren diskursivieren oder, anders formuliert, im Sinne eines Beweises explizieren. In semiotischen Begriffen formuliert, sieht Hypatia die Ellipse als visuellen Eindruck, also als ikonisches Bild; sie sieht – wie Peirce sagen würde – die Ellipse als diagrammatisches Ikon, begreift dieses Ikon aber als Symbol, nämlich als die erklärende Regel, die in der Form der Ellipse steckt. Die Transformation des Kreises zur Ellipse vor Hypatias Augen ist mithin die Einführung einer Regel, welche die ungewöhnliche Form der Planetenbahnen am besten erklären könnte, die aber hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Korrektheit erst im deduktiven Durchspielen dieser Hypothese im materiell realisierten Diagramm, also in einer Diagrammatisierung zweiter Stufe, geprüft werden muss.36 In diesem Kontext ist es dabei durchaus bedeutsam, dass dieser Moment der Einsicht ein dramaturgischer Umschlagpunkt in einer Serie von experimentellen Überlegungen Hypatias ist. Dies ist wichtig, weil dieser Umschlagpunkt mit der akzidentellen Beobachtung in Hypatias Arbeitszimmer verknüpft wird und sofort in eine experimentelle Tätigkeit mündet. Bemerkenswert ist insbesondere, dass sich in dieser kurzen Szene eine Art ›okkularzentristisches‹ Moment erhält, sofern Hypatia das geometrische Körpermodell betrachtet, aber nicht haptisch berührt, als sie ihre Einsicht hat. Hier wäre eine andere Lösung möglich gewesen, nämlich die Interaktion mit dem Körpermodell aus der dann, vermittelt durch den Körper, die Einsicht in die Richtigkeit der Ellipse erweist. Dies ist zu betonen, weil die Tendenz, die visuell erlangte Einsicht gleichsam in ihrer durch reine Intuition gewonnenen Idealität zu belegen, in der folgenden Szene fortgesetzt wird. Da nämlich der Beweis fehlt, kommt im Film eine Diagrammatisierung zweiter Stufe ins Spiel. Im Anschluss an Hypatias Inspiration sind sie und Aspasius wieder im Sandkasten aktiv. Um ihre Idee zu objektivieren entwickelt Hypatia ein mediales Setting, das nicht nur ein zweidimensionaler Kreis im Sand ist, sondern ein dreidi35 Vgl. Kuhn 2013, S. 81ff. 36 Vgl. Peirce 1998b, S. 320f.; Stjernfelt 2007, S. 89ff.

4. Veranschaulichung – Kreis, Ellipse und Diagramm in Agora

mensionales Modell ( Kap. 7.2.7), bei dem aber die eigentliche Erkenntnis zweidimensional expliziert wird. Sie positioniert zwei Fackeln an gegenüberliegenden Punkten im Sandkasten und montiert ein loses Seil zwischen ihnen. Die beiden Fackeln repräsentieren die zwei Positionen der Sonne in Relation zur Erde – im Winter und im Sommer. Ein Holzstab, den sie in Händen hält, symbolisiert die Erde. Die Beweisführung kann beginnen – und zwar ohne jeden Bruch, denn Hypatia hat ja klar die Lösung vor Augen, wenn auch durchaus begleitet von Zweifeln. Die Frage war: »What would happen, if both these positions were the two centers of one and the same circle?« (TC 01:38:58). Das Ausgangsproblem, das hier angesprochen wird, ist jetzt nicht mehr nur als intellektuelles Problem versprachlicht. Im Medium des Sandkastens erscheint es umgeschrieben in eine räumliche Form. Aspasius wendet ein, diese doppelte Position der Sonne sei ausgeschlossen. Doch Hypatia bleibt beharrlich. Sie akzeptiert den Umstand, dass es die zwei durch die Fackeln symbolisierten Brennpunkte, also die zwei Sonnenpositionen, gibt. Hypatia kann während ihrer Veranschaulichung aber auch zeigen, dass die Summe der jeweiligen Distanzen dieser beiden Brennpunkte zum Rand konstant bleibt. Um dies zu illustrieren, spannt sie mit ihrem Holzstab das Seil zwischen den beiden Fackeln. Als sie sich mit ihrem Stab auf einer der beiden Seiten der Fackeln bewegt, bildet sich im gespannten Seil ein Dreieck, dessen Seiten sich zwar je nach Bewegung verändern, bei dem die Summe der Abstände zu den beiden Brennpunkten aber konstant bleibt. Belegt ist somit, dass es sich um eine Ellipse handelt. Die Strecke von einem Brennpunkt zum Rand und wieder zurück zum zweiten Brennpunkt bleibt bei jeder Bewegung des Seils konstant. Das ist die Bedingung für die geometrische Form der Ellipse ( Abb. 17).37

Abb. 17: Diagrammatisierung zweiter Stufe (TC 01:40:02). Eigener Screenshot aus Agora – Die Säulen des Himmels (2009), Alejandro Amenábar, DVD-Video, Universal Pictures Germany/Tobis 2010.

Filmsprachlich ist es beachtenswert, dass die Illustration des Dreiecks erneut durch eine kurze, zwischengeschnittene Aufsicht unterstützt wird. Für einen Moment ist das Dreieck in jener Vogelperspektive auf das gesamte diagrammatische Ensemble im Sandkasten zu sehen, die bereits bei der Veranschaulichung des ptolemäischen Modells verwendet wurde. »What if we apply this to the movement of the earth?« (TC 01:39:36), fragt Hypatia und läuft mit ihrem Stab entlang des Seils. Da der Stab die 37 Wie immer ist für solche Informationen Wikipedia hilfreich. Vgl. Wikipedia-Artikel »Ellipse«, https:// de.wikipedia.org/wiki/Ellipse, gesehen am 08. Mai 2020.

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Erde repräsentiert, zeichnet sie durch ihre Bewegung die runde Erdbahn als eine Figur in den Sand. »What figure will we obtain?« (TC 01:39:56) Die Antwort ist zu sehen – und wird von Hypatia nur bestätigend ausgerufen: »An ellipse! With the sun at one of it’s foci. Because what is a circle except a very special form of an ellipse whose foci have drawn so close together that they appear to be one?« (TC 01:40:08) Das Rätsel ist nicht nur gelöst, es ist vor allem auch bewiesen. Bildrhetorisch ist der Unterschied zur Verknüpfung von Subjektivität und Objektivität im ersten Teil der Schilderung von Hypatias Erkenntnis signifikant. Konnte man im ersten Teil der Szene die Objektivität der Kamera auf die Figurensicht Hypatias beziehen, so löst sich die Kamera von dieser körperlichen Perspektive ab und schwebt über dem Medium des Sandkastens. Diese Bildsprache ist konsequent. Denn im ersten Teil der Szene ging es darum, die diagrammatische Einsicht in Hypatias Wahrnehmung und damit der verknüpften Interaktion mit dem Körpermodell der geometrischen Objekte zu visualisieren. Im zweiten Teil wird die theoretische Einsicht in eine externalisierte, in einem Diagramm niedergelegte, Sichtbarkeit übersetzt und damit in einen objektiven Raum der intersubjektiven Sichtbarkeit, der dreidimensional gestaltet wird. Die Diagrammatisierung erster Stufe tritt also als eine empirisch-induktive Einsicht in der Subjektivität Hypatias in Erscheinung. Die Diagrammatisierung zweiter Stufe, also die Externalisierung in einem materiell realisierten Diagramm, ist hingegen die hypothetisch-deduktive Beweisführung und Veranschaulichung der objektiven Richtigkeit dieser Einsicht im Lichte der Vielzahl der möglichen intersubjektiven Sichtweisen. Die Idee Hypatias, dass es sich um eine Ellipse handeln könnte, ist im Medium des Sandkastens und des darin enthaltenen diagrammatischen Modells veräußerlicht und für jedermann beobachtbar.38 Filmsprachlich ist für diese deduktive Prüfung die Referenzialisierung der Vogelperspektive auf der visuellen Erzählebene des Films entscheidend: Wird die Aufsicht im ersten Fall an den Figurenblick Hypatias gebunden und im Narrativ als individuelle Einsicht Hypatias markiert, so schwebt die Kamera im zweiten Fall in einer Vogelperspektive über dem Diagramm im Sandkasten. Der Referenzpunkt des filmischen Narrativs ist in diesem zweiten Fall nicht mehr die subjektive körperliche Perspektive Hypatias, in der Sicht und Einsicht so fruchtbar zusammengewirkt haben. Die explikative Perspektive veranschaulicht für den impliziten Zuschauer den Sachverhalt, symbolisiert aber auch eine imaginäre, anonyme, objektive und wohl auch kollektive Instanz – die ›Wissenschaft‹, die ›historische Wahrheit‹, also übergeordnete Größen, welche die Geltung und die Wahrheit eines Paradigmas garantieren.

4.5 Revolutions — Agora und Metapher Agora ist für seine visuellen Mittel gelobt worden. Der Film bedient sich einer konventionellen, aber anspruchsvollen Bildsprache. Agora spielt Religion gegen Wissenschaft aus – so offenkundig sogar, dass es lohnt, zum Abschluss diesen bisher wenig beachteten Teil des Narrativs unter dem Gesichtspunkt dieser Bildästhetik zu diskutieren. Nimmt man ›Revolution‹ wörtlich, dann bedeutet der Begriff ›Umdrehung‹ und 38 Vgl. zur Differenz aus empirisch-induktiver und hypothetisch-deduktiver Erkenntnisweise hier Carrier 2006, S. 15ff.

4. Veranschaulichung – Kreis, Ellipse und Diagramm in Agora

›Zurückwälzung‹, impliziert also eine kreisförmige Bewegung. Im Englischen und Französischen ist diese Bedeutung in ›to revolve‹ und ›révolution‹ deutlicher erhalten geblieben. Geprägt wurde das Wort durch Nikolaus Kopernikus‹ De revolutionibus orbium coelestium aus dem Jahr 1543. Im Kontext der politischen Ereignisse in England und Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts wurde die Revolution zu einer Metapher für politische und gesellschaftliche Umbrüche.39 Die vom Christentum ausgehende soziale Revolution wird in Agora durch das Motiv der Revolution der Planeten mit der wissenschaftlichen Revolution in eine antagonistische Beziehung gesetzt. Der Antagonismus dieser zwei Revolutionen prägt Agora. Daran, dass der Film neben der wissenschaftlichen auch eine soziale Revolution schildert, gibt es keinen Zweifel. In der visuell wohl expressivsten Sequenz von Agora wird dieser Umstand direkt als filmische Metapher aufgegriffen. Die Szene findet sich gegen Ende des ersten Teils des Films (TC 00:49:00-00:52:55). Geschildert wird die Zerstörung des Serapeums von Alexandria im Jahr 391 durch christliche Angreifer. Das Serapeum war die letzte große antike Forschungsinstitution Alexandrias und enthielt mutmaßlich eine Teilbibliothek der zu Hypatias Zeit verlorenen Bibliothek von Alexandria.40 Dramaturgisch verknüpft ist die Szene mit der Figur Davus (Max Minghella), einem Sklaven und Schüler Hypatias, der bei ihr Astronomie studiert hat. Davus hegt starke Gefühle für seine Lehrerin, schließt sich im Verlauf des Films aber der fanatisierten christlichen Bruderschaft der sogenannten Parabolani an. Bei der Verwüstung des Serapeums (TC 00:48:00) zertrümmert er ein Modell des ptolemäischen Weltbildes, das er als junger Sklave in seiner Zeit bei Hypatia selbst gebaut hatte. Mitten im turbulenten Geschehen löst sich die Kamera von ihm und beginnt, sich im Raum zu bewegen. In den Fokus der Kamera rückt eine runde Öffnung im Kuppeldach des Gebäudes. Dabei dreht sich die Kamera kreisförmig gegen den Uhrzeigersinn. Dies entspricht der Bewegung der Erde um die Sonne. In der weiteren Bewegung kippt die Kamera dann nach hinten über und zeigt das sich ausbreitende chaotische Geschehen während der Verwüstung des Serapeums aus einer um 180° gedrehten Perspektive. Die Bedeutung dieser Kamerafahrt ergibt sich aus der von der Körperlichkeit der Figurensicht abgelösten, dennoch aber virtuell an das Körperschema rückgebundenen Perspektive, die hier als filmische Metapher dient: Die antike Welt und ihr Weltbild sind durch die sozialrevolutionäre Bewegung des Christentums sinnbildlich ›auf den Kopf gestellt‹ ( Abb. 18);41 die Revolution ist auch im räumlich-visuellen Sinne der Kamerafahrt eine ›Zurück‹- und ›Umwälzung‹.

39 Vgl. Günther 1992. 40 Vgl. Jordan 2012, S. 231. 41 Vgl. die Beschreibung der gesamten Sequenz in den vom Institut für Kino- und Filmkultur herausgegebenen Lehrmaterialien zu Agora bei Kleinschmidt/Castellini 2010, S. 13f.

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Abb. 18: ›Revolution‹ – Die Welt in ›Umwälzung‹ (TC 00:52:35). Quelle: Eigener Screenshot aus Agora – Die Säulen des Himmels (2009), Alejandro Amenábar, DVD-Video, Universal Pictures Germany/Tobis 2010.

Gut gemacht, wie die Kameraarbeit hier für sich genommen sein mag, ergibt sich der volle Sinn der Metapher nur im Kontext mit dem Ende des zweiten Teils von Agora. Hypatia wird am Ende des Films von Davus aus Gnade umgebracht, bevor ein Mob der Parabolani sie auf brutalere Weise ermorden kann (TC 01:50:55-01:53:00). Davus umklammert Hypatia von hinten, presst ihr Mund und Nase zu und erstickt sie. Der Mord geschieht im Serapeum, die Christen haben es kurzerhand zur Kirche umfunktioniert. Der letzte Blick Hypatias richtet sich auf die Öffnung im Dach des Gebäudes, die den freien Himmel zeigt. Im Unterschied zu der Szene, in welcher das Serapeum verwüstet wird und die losgelöste Kamera den sich gegen den Uhrzeigersinn drehenden Kreis zeigt, sieht Hypatia die Öffnung im Dach in der Form einer Ellipse – und sieht mithin ihre diagrammatische Einsicht. Die Botschaft ist klar: Mit Hypatias Tod ist die Chance einer wissenschaftlichen Revolution vergeben, die den Verlauf der Geschichte möglicherweise in eine andere Richtung gedreht hätte. Das Diagramm ist, einmal mehr, die Metapher des Denkens – aber inwiefern ist auch die Metapher diagrammatisch?

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen Im Rahmen seiner Überlegungen zur Diagrammatik interessiert Peirce sich für das Phänomen, wie durch Erkennen struktureller Ähnlichkeit Überzeugungen ausgeformt und Handlungen angeregt werden. Steffen Bogen findet eine Formulierung, die als ein Fazit der semiotischen Debatte kaum besser sein könnte: »Eine Ikonizität ist immer dann echt, wenn sie mehr über das Objekt des Nachdenkens zu verstehen gibt, als bei ihrer Einführung bereits verstanden wurde. Im Fall der Peirce’schen Diagramme ist das Objekt des Nachdenkens das Denken selbst.«1 Das Diagramm veranschaulicht das Denken. Das Denken macht sich, wie Bogen feststellt, von außen beobachtbar.2 Die These bei Peirce lautet, dass Denken in Diagrammen vollzogen wird und Diagramme dem Denken ein Bild von sich in seinem Vollzug geben. Während der Begriff der ›Ikonizität‹ auch andere Formen der Wahrnehmung zulassen würde, privilegiert Peirce die Diskussion des Zusammenhangs von Sehen und Denken.3 Diagrammen fallen dabei wesentliche Funktionen zu. Diese Funktion wurde im Kapitel zu Peirce etwas eigenwillig rekonstruiert. Durch das Festhalten am Schemabegriff ist deutlich geworden, dass eine implizite, durch ›diagrammatische‹ Schemata geprägte, Ebene perzeptiver Diagrammatizität existiert. Sie schlägt sich in kognitiven Praktiken nieder, die als Diagrammatisierung erster Stufe ansprechbar sind. Die Grundlage dafür war, von einer doppelten Metaphorisierung sprechen: Das Diagrammatische und seine Leistungen sind nicht nur stets Metaphern für das Denken, sondern darin auch Metaphern des Denkens, also Vollzüge von Denken ( Kap. 3.3.5). Dies führt zu der These, dass die Metapher selbst eine in der Wahrnehmung angesiedelte diagrammatische Seite hat. Sofern das ›Diagrammatische‹ als ein Begriff für Übergänge vom Präkonzeptuellen ins Konzeptuelle angesehen werden kann, die auf metaphorischen Inferenzen beruhen ( Kap. 2.2.8), sind jene Teile von Peirces Diagrammatik, die das Diagramm als inferenzielle Größe in der Wahrnehmung begreifen, mit der Frage nach implizitem Wissen verschränkt. Peirce fehlt jedoch ein differenziertes Verständnis für die Dimensionen des impliziten Wissens. Insbesondere gilt dies für das Wissen des Körpers. Die kognitiven Dimensionen des impliziten Wissens, die über die körperliche Erfahrung und die Wahrnehmung in die Welt und ihre Kausalitäten verstrickt ist, kann nicht vollständig durch die Semio1 Bogen 2012, S. 251. 2 Vgl. Bogen 2012, S. 251. 3 Die von Umberto Eco beobachtete Verkürzung der Debatte um Ikonizität auf visuelle Phänomene betrifft auch die Diagrammatik.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

tik beschrieben werden.4 Dies wurde dort auffällig, wo die Metapher einer ›Kraft‹, die Denkbilder in Diagrammen aufweisen, als eine epistemische Evidenz ausgezeichnet ist, welche die Ahnung eines Körperwissens enthält, das Einf luss auf seinen Begriff der Ikonizität hat. Wenn aus der Peirce’schen Konzeption der Metapher folgt, dass diese eine Dimension der Drittheit und mithin des ›Gesetzes‹ ist, dann stellt sich also die Frage, wie der Körper im Range einer Regularität in das (diagrammatische) Zeichenhandeln kommt? Die Peirce’sche Idee, von einer Kraft im Denkbild zu sprechen, ist epistemologisch und ästhetisch plausibel. Theoretisch ist sie aber nicht durch die Semiotik und Begriffe wie den »dynamischen Interpretanten« abzudecken ( Kap. 3.1.3). Näher durchdacht werden soll im Folgenden deshalb, in welcher Beziehung das Denkbild als Form epistemischer Evidenz zum impliziten Wissen steht, wenn diese Relation metaphorisch ist. In der Forschung ist diese Bedeutung des Körpers für die Diagrammatik schon früh angesprochen worden.5 Alexander Gerner bemerkt: »We can never find our way in diagrammatic experimentation (thinking, reasoning [perception and cognition], observing and art practices such as map-making and affective becoming) without the orientation of our experiential habits and our oriented body (left/right hand etc.).«6 Barbara Tversky und Irene Mittelberg begreifen die Geste als wesentliches Medium des Übergangs zwischen verkörpertem Denken und abstraktem Denken und begründen dies unter Einbindung der Arbeiten von George Lakoff und Mark Johnson – ein Ansatz, der aktuell in der Theorie der »cinematic metaphors« fortgeführt wird und der andeutet, dass die Geste für die Diskussion zwischen Diagrammatik und Metapherntheorie zukünftig von entscheidender Bedeutung sein dürfte.7 Frederik Stjernfelt hat aus biosemiotischer Perspektive versucht, ein Konzept von Embodiment zu entwickeln.8 Angestrebt wird von Stjernfelt eine Begründung des Unterschiedes zwischen dem Denken von Tieren und Menschen, die wesentlich auf expliziten Zeichengebrauch und Operationen wie die hypostatische Abstraktion gründet ( Kap. 3.5.3). In den Arbeiten von John Michael Krois findet sich eine tiefgreifende Kontextualisierung von zeichenphilosophischer Einsichten (Cassirer, Peirce) mit neueren bild- und kognitionswissenschaftlichen Positionen.9 Pentti Määttänen hat zuletzt argumentiert, dass die pragmatistische Tradition beginnend mit Peirce gezeigt habe, dass eine präref lexive und präsprachliche Ebene körperlicher Bedeutungsschemata existiert, auf der höherstufige Konstitutionsprozesse von Bedeutung auf bauen.10 Diese Bedeutungsschemata werden als implizites Wissen angesehen – eine Idee, die insbesondere von der Kognitiven Semantik geteilt und hinsichtlich metaphorischer

4 Vgl. mit tendenziell gegenteiliger Argumentationsrichtung Stjernfelt 2007, S. 257ff. 5 Vgl. May/Stjernfelt 2008, S. 54f. 6 Gerner 2010a, S. 174. 7 Vgl. Tversky 2011, S. 508ff.; Mittelberg 2012, zur Filmtheorie der Metapher Whittock 1990; Fahlenbrach 2010; Greifenstein et al. 2018; Müller/Kappelhoff 2018 ( Kap. 7.1.4). 8 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 241ff. und S. 257ff. Vgl. dazu auch Hoffmann 2009; Posner 2009; Krois 2009. Anschließen könnte diese Debatte auch an Tomasello 2014. 9 Vgl. Krois 2011. 10 Vgl. Määttänen 2015, hier S. 64: »Linguistic meanings are based on nonverbal tacit meanings.«

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

Inferenzen ausgearbeitet wird.11 Die Idee, eine durch implizites Wissen ausgezeichnete Dimension der körperlichen Praxis als konstitutiv für Formen des problemlösenden Denkens anzusehen, wird dabei in einer moderaten, bereits in älteren ›Embodiment‹-Theorien beschriebenen, Fassung beibehalten.12 Man kann hier von einer Theorie der »[g]emäßigte[n] Verkörperung« sprechen.13 Die Frage ist, wie implizite Körperlichkeit semantisch auf diagrammatisches Denken einwirkt und was dies mit der Theorie der Metapher zu tun hat.14 Vor diesem Hintergrund führt dieses Kapitel Ideen zusammen, welche die in der Formulierung einer »doppelten Metaphorisierung« angelegte These stützen, dass ein metaphorisches Sehen ein explizierendes Sehen ist, das im Übergang von impliziter perzeptiver Diagrammatizität in Praktiken der Diagrammatisierung erster Stufe übergeht und durch diese Praktiken stabilisiert wird. Durch dieses Sehen kann die Verf lechtung des Denkbildes mit implizitem Wissen näher bestimmt werden. Führt man den Gedanken weiter, dann folgt daraus, dass dieses metaphorische Sehen auch an spezifischen Diagrammen auf Ebene von Diagrammatisierung zweiter Stufe zu studieren ist. In Einklang mit den bisherigen Ausführungen wird dieses Wissen auf Ebene sensomotorischer Schemata vermutet. Insbesondere in Form sogenannter »image schemas« sind diese Schemata als ›vermittelndes Drittes‹ in metaphorischen Inferenzen wirksam. Sie fundieren die Praxis eines metaphorischen Sehens, das durch (epistemische Evidenz) und in (diskursive Evidenz) der Verwendung diagrammatischer Zeichen die Ref lexion von Schemata ermöglicht. Die Kognitive Metapherntheorie als eine Theorie, welche die Verwurzelung von Metaphern in implizitem Wissen aufweist, ist hierfür entscheidend.15 Zunächst umreiße ich den Zusammenhang von Metapher und implizitem Wissen, wie er sich in der Kognitiven Metapherntheorie findet (Kap. 5.1).16 Darauf folgt eine Diskussion des Konzeptes der »image schemas«, die für die Diagrammatik systematisch seit geraumer Zeit wichtig sind (Kap. 5.2). Die Verbindung mit der Semiotik stellt die Idee her, dass es ein metaphorisches Sehen gibt, das mit perzeptiver Diagrammatizität verf lochten ist (Kap. 5.3). Den Abschluss bildet der Versuch, diese Perspektive mit der Diagrammatisierung zweiter Stufe in Beziehung zu setzen (Kap. 5.4).17

11 Das Bezugsmedium in der Kognitiven Semantik war zunächst die Sprache, wenngleich insbesondere Mark Johnson aus stärker philosophischer Perspektive umfänglich andere Phänomene diskutiert hat. 12 Das ist kein neues Argument, siehe etwa Varela/Thompson/Rosch 2013, zu Lakoff/Johnson S. 323ff. 13 Vgl. Prinz 2013, S. 491ff. 14 Vgl. zur Körperlichkeit impliziter Diagramme aus ›deleuzianischer‹ Perspektive bzw. unter Bezug auf den poststrukturalistischen Theoriekontext auch die Argumentation bei Reichert 2013. 15 Auf die Bedeutung des ›Image schema‹-Begriffs für die Diagrammatik ist oft hingewiesen worden. Vgl. z.B. May 1995; Stjernfelt 2007, S. 258ff.; Krämer 2012, S. 83f. Ich habe den Begriff in Ernst 2014c; Ernst 2015a; Ernst 2015b verwendet. Siehe auch den Kommentar zu der Auswahl von Texten von Lakoff/Johnson bei Ernst/Wöpking 2016b. Jüngst im Erscheinen auch Irrgang 2020. 16 Damit begrenze ich mich auf eine ältere Position, die speziell in Bezug auf die Philosophie der Verkörperung inzwischen durch neuere Debatten weitergeführt werden könnte. Mir geht es allerdings um die Metapher – und dafür sind Lakoff/Johnson nach wie vor die Referenzautoren. Vgl. für Hinweise zur neueren Literatur auch Krois 2009, S. 236f. 17 Konzeptuelle Metaphern übersetze ich im Folgenden ins Deutsche, bei den ›Image schemas‹ benutze ich die englischen Begriffe.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

5.1 Grundpositionen der Kognitiven Metapherntheorie 18 Kann man kultur- und medienwissenschaftlich vom Bewusstsein sprechen ohne eine Aufarbeitung von Bewusstseinstheorien, kognitiver Neurowissenschaft etc. zu leisten? Trotz der Differenz zwischen Bewusstsein und Kommunikation lautet die Antwort: ja. Die Kulturwissenschaften können sich auf die Frage konzentrieren, wie das Bewusstsein in die Kommunikation kommt. Es besteht keine Notwendigkeit, direkt in das Bewusstsein blicken zu müssen, um trotzdem über kognitive Konzepte zu sprechen. In Kant und das Schnabeltier schreibt Umberto Eco bei Gelegenheit der Erörterung seiner Theorie ›Kognitiver Typen‹ (KTs): »Meine Weigerung, die Nase in die Black Box zu stecken, könnte man als Eingeständnis auffassen, dass die Philosophie (und in unserem Fall die allgemeine Semiotik als Philosophie) eine gegenüber der Wissenschaft mindere Form der Erkenntnis darstelle. Das ist unzutreffend. Wir können die KTs in der Black Box gerade deshalb postulieren, weil wir das, was deren output bildet, intersubjektiv kontrollieren können. Wir haben das Instrumentarium, um über diesen output zu reden – und das ist vielleicht der Beitrag, den die Semiotik zu den kognitiven Untersuchungen leisten kann, bzw. es ist der semiotische Aspekt der kognitiven Prozesse.« 19 Man möchte ergänzen: und der Kognitiven Semantik von George Lakoff und Mark Johnson. Die Kognitive Semantik sucht den Anschluss an die Neurowissenschaft, verfährt im Grundsatz aber nicht anders als Ecos Semiotik. Aus dem Output in der Sprache wird auf die Prinzipien der kognitiven Organisation auf Ebene des Bewusstseins geschlossen. Die Kultur wird in der Theorie über den Körper und über Handlungen, die mit dem Körper ausgeführt werden, inkludiert. In Gestalt ihrer Metapherntheorie ist die Kognitive Semantik kulturtheoretisch anschlussfähig. Eine Kulturtheorie, in der auf die Bedeutung von Zeichen abgehoben wird, ist diesem Theoriekomplex allerdings fremd. Im interdisziplinären Austausch ist das eine der größten Schwächen der Kognitiven Metapherntheorie. Anstatt jedoch in diesen Vorhaltungen zu verharren, ist es sinnvoller, mit der Rede von der ›Interdisziplinarität‹ an dieser Stelle ernst zu machen. Die Frage sollte nicht lauten: Was ist alles falsch und warum ist der Ansatz abzulehnen oder zu widerlegen, sondern: Wie können die Ergebnisse durch kulturtheoretische Kritik umgeformt und auf diese Weise adaptiert werden? Die Voraussetzungen für diese kulturtheoretische Umformulierung sind gegeben: Die Kognitive Semantik und mit ihr die Kognitive Metapherntheorie postuliert kein transzendentales Apriori des Geistes, sondern ein durch soziokulturelle Faktoren beeinf lusstes Apriori des Körpers. Das macht die Theorie interessant. Dennoch ist der Ansatz in den Sozial- und Kulturwissenschaften immer auch umstritten gewesen.20 Geht es um die Metapher, wurde lange Zeit lieber auf die bewährte phänomenolo-

18 Teile der vorliegenden Darstellung der Grundpositionen der kognitiven Metapherntheorie sind auch in Ernst 2015a verwendet worden. 19 Eco 2000, S. 160. 20 Vgl. für produktive Adaptionen und Kritik in der Filmwissenschaft bereits Ohler 1994 und Fahlenbrach 2010, inzwischen Greifenstein et al. 2018; Müller/Kappelhoff 2018.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

gisch-hermeneutischen Tradition zurückgegriffen, etwa Hans Blumenbergs Metaphorologie.21

5.1.1 Kognitive Metapherntheorie Hans Blumenbergs Theorie einer absoluten Metapher wurzelt in der Lebenswelthermeneutik der körperlichen und pragmatischen Situation des In-der-Welt-Seins – mithin: in einem impliziten Wissen, das sich in der lebensweltlichen Praxis entfaltet und in begriff lichen Generalisierungen fortschreibt.22 Ausgehend von diesen Prämissen ist der Schritt zur Metapherntheorie von George Lakoff und Mark Johnson, bei allen Unterschieden zwischen Hermeneutik, Phänomenologie und Kognitionswissenschaft, allerdings nicht weit.23 Eckhard Rolf bestätigt dies in seiner Klassifikation von Metapherntheorien. Rolf differenziert zwischen solchen Ansätzen, die eine Aussage in Bezug auf die Metapher als einer in einem Medium, insbesondere der Sprache, realisierten Form machen (Ansätzen, die sich auf ›rhetorische‹ Metaphern konzentrieren), und Ansätzen, die versuchen, den metaphorischen Erkenntnisprozess zu verstehen, wie er anhand dieser Form der Metapher studiert werden kann (Ansätzen, die auf kognitive Metaphern setzen).24 Blumenbergs als Voraussetzung für sein Konzept der absoluten Metapher dienende Differenzierung zwischen einem rhetorischen und einem epistemologischen Begriff der Metapher findet sich in ähnlicher Weise auch bei Lakoff und Johnson, die zwischen sprachlichen und konzeptuellen Metaphern unterscheiden. Die Grundprämisse der Kognitiven Metapherntheorie kann analog zu Blumenbergs Positionen zur Metapher verstanden werden.25 Eine Gemeinsamkeit besteht darin, dass in beiden Theorien die Metapher als ein Schlüsselprinzip der kulturellen Bedeutungskonstitution angesehen wird. Die Metapher wird als ein Wahrnehmungsphänomen diskutiert, das eine erkenntniserschließende, -erweiternde und -organisierende Funktion in der Wahrnehmung hat. Diese Funktion erfüllt die Metapher in Prozessen der körperlichen und praktischen Auslegung von konkreten soziokulturellen Situationen. Die Kognitive Metapherntheorie begreift die Metapher als einen Sachverhalt der schlussfolgernden Wahrnehmung. Sie fokussiert auf die Aisthesis, also die ›unteren Sinnesvermögen‹, die seit dem 18. Jahrhundert den Ausgangspunkt der Ästhetik bilden.26 Während die gut bekannte rhetorische Metapher (›Alexander kämpfte wie ein Löwe‹) das sprachliche Oberf lächenphänomen bezeichnet, bezieht sich ein kognitiver bzw. epistemologischer Begriff der Metapher auf die Betrachtung der Metapher 21 Vgl. zuletzt auch Müller/Kappelhoff 2018, S. 72ff.; Söffner 2015, S. 20ff. 22 Vgl. Blumenberg 1999; Blumenberg 2001, dazu Bauer/Ernst 2010, S. 301ff.; im breiten philosophischen Kontext zuletzt auch Huss 2019, S. 87ff. Eine interessante Formulierung der Diagrammatik auf Basis von Blumenberg findet sich auch bei Friedrich 2014, S. 51ff., der u.a. auf den Zusammenhang zwischen ›Weg‹-Metapher und den Begriff der Methode hinweist. 23 Vgl. Jäckel 1999; Kohl 2007, S. 117f.; Huss 2019, S. 217ff. 24 Vgl. Rolf 2005, S. 16f. 25 Vgl. Jäckel 1999; Rolf 2005, S. 235ff., S. 243ff. 26 Vgl. Willer 2005, S. 144ff. Eine Gesamtdarstellung und philosophische Grundlegung zur Ästhetik der Metapher, in der auch die zentralen Querbeziehungen zwischen Metapher und Schematismus thematisiert wird, hat in der Zwischenzeit Till Julian Huss (2019) vorgelegt, zu Lakoff/Johnson S. 189ff.

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als eines kognitiven Erkenntnisprinzips. Ivor A. Richards schreibt bereits 1936 in Die Metapher: »Denken ist metaphorisch und verfährt vergleichend; daraus leiten sich die Metaphern der Sprache her«.27 In Lakoff und Johnsons Klassiker Metaphors We Live By klingt das im Jahr 1980 so: »The most important claim we have made […] is that the metaphor is not just a matter of language, that is, of mere words. We shall argue that, on the contrary, human thought processes are largely metaphorical.«28 Steven Pinker, der gegenüber Lakoff und Johnson im Grundsatz sehr aufgeschlossen ist, nennt das ironisch die »Messias-Theorie« der Metapher: »Sie beruht auf der Idee Denken ist das Erfassen einer Metapher – die Metaphern-Metapher.«29 Von George Lakoff und Mark Johnson begründet, gibt es eine Reihe von einf lussreichen Autoren, die im Rahmen der Kognitiven Metapherntheorie forschen.30 Die Ansprüche des kognitiven Ansatzes sind weitreichend. In ihrem kritischen Impetus gegenüber der Philosophie ist Lakoffs und Johnsons Position sehr streitbar.31 Die nicht immer faire Kritik der Autoren an der Sprachphilosophie entwertet aber nicht die analytischen Einsichten ihrer Theorie. Die Idee, dass metaphorische Ausdrücke in der Sprache oder auch im Film auf einen bestimmten Typ kognitiver Konzepte, sogenannte ›konzeptuelle Metaphern‹, zurückzuführen sind, wird jedoch überzeugend entfaltet. Die Kognitive Metapherntheorie ist dabei ein Teilprojekt der Kognitiven Semantik, eine in der Linguistik entwickelte und inzwischen zu einer allgemeinen Erkenntnistheorie ausgewachsene Theorie.32 Die Kognitive Semantik geht davon aus, dass Bedeutung als kognitives Phänomen durch die Rückführung auf Prinzipien der sensomotorischen Wahrnehmung erklärt werden kann. Damit steht die Theorie von Lakoff und Johnson in der Tradition von Theorien des verkörperten Bewusstseins, welche Denkprozesse als durch das körperliche Weltverhältnis des Menschen geprägt ansehen.33 Dazu vermerken Lakoff und Johnson: »An embodied concept is a neural structure that is actually part of, or makes use of, the sensorimotor system of our brains. Much 27 Richards 1996, S. 35. 28 Lakoff/Johnson 2003, S. 6. Mit dem Cambridge Handbook of Metaphor and Thought, das Raymond Gibbs (2008) herausgegeben hat, gibt es ein Standardwerk zum Thema. 29 Pinker 2014, S. 296, vgl. insb. S. 304ff., hier S. 310. Dort stellt Pinker fest: »[…] wir könnten grundsätzlich keine Metaphern analysieren, wenn wir nicht über ein zugrundeliegendes Medium des Denkens verfügten, das abstrakter ist als die Metapher selbst.« Zurückgewiesen wird der fundierende Anspruch der Metapherntheorie. Dennoch hat sich die Theorie, und das sieht auch Pinker, im Hinblick auf empirische Begriffe eindrucksvoll bewährt. Und zumindest für diese Begriffe kann die These aufrechterhalten werden. Vgl. ähnlich Gasperoni 2016, S. 303ff. 30 Vgl. etwa Kövecses 2010. Die ganze Breite der Rezeption der Kognitiven Metapherntheorie kann hier nicht eingeholt werden. 31 Vgl. etwa Lakoff/Johnson 1999, S. 337ff. 32 Vgl. programmatisch Lakoff 1988, der eine sehr gute Zusammenfassung der in Lakoff 1987 entwickelten Position gibt. 33 Eckhard Rolf hat vor diesem Hintergrund vorgeschlagen, nicht von einer ›kognitiven‹ Metapherntheorie im engeren Sinne zu sprechen, sondern von einer »Konzeptualisierungstheorie« der Metapher, die kognitionswissenschaftlich fundiert ist. Vgl. Rolf 2005, S. 10, S. 235ff. Vgl. zudem die Darstellung der Geschichte der ›Embodiment‹-Hypothese in der Kognitionswissenschaft bei Shapiro 2011, S. 51ff. Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 19, dazu Shapiro 2011, S. 70ff., hier insb. S. 86ff.; Shapiro 2012, S. 125ff. Vgl. kritisch zu dieser These u.a. Clark 2013, hier insb. S. 455ff.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

of conceptual inference is, therefore, sensorimotor inference.«34 Die Metapherntheorie wird auf diese These einer sensomotorischen Vorprägung des Denkens aufgesetzt, die in pragmatischen Handlungskrisen evident wird: »Metaphor allows conventional mental imagery from sensorimotor domains to be used for domains of subjective experience. For example, we may form an image of something going by us or over our heads (sensorimotor experience) when we fail to understand (subjective experience). A gesture tracing the path of something going past us or over our heads can indicate vividly a failure to understand.«35 Zusammengenommen, formulieren Lakoff und Johnson zwei bis in die aktuelle Forschung relevante Annahmen, die von Francisco Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch so zusammengefasst worden sind: »Begriffliche Strukturen mit Bedeutung haben zwei Quellen, nämlich (1) die strukturierte körperliche und soziale Erfahrung und (2) unsere angeborene Fähigkeit, gut strukturierte Aspekte unserer körperlichen und interaktiven Erfahrung auf abstrakte, begriffliche Strukturen zu projizieren. Das rationale Denken ist die Anwendung solcher sehr allgemeinen kognitiven Prozesse – Fokussieren, Abtasten, Überblenden, Figur-Hintergrund-Vertauschung usw. – auf diese Strukturen.« 36 Vom medienwissenschaftlichen Standpunkt ist an der Kognitiven Metapherntheorie aufschlussreich, dass Autoren wie Lakoff und Johnson dem Medium Sprache zwar eine herausragende Rolle zusprechen, den Prämissen ihrer Theorie folgend aber auch betonen, dass durch die Breite der sensomotorischen Erfahrung Bedeutung nur integrativ, das heißt unter Einbeziehung auch der visuellen Bedeutung erklärt werden kann. Eine prominente Rolle spielen in der Kognitiven Semantik die Phänomenologie der Wahrnehmung und die Gestalttheorie. Stellenweise wird die Kognitive Semantik deshalb auch als eine ›perzeptive Semantik‹ bezeichnet.37 Die Kognitive Semantik nimmt dafür als kleinste Bedeutungseinheit kognitive ›concepts‹ (Konzepte) an, die als ein Sachverhalt der sensomotorischen Wahrnehmung verstanden werden (z.B. die Wahrnehmung eines Vogels). Diese Konzepte sind in ›domains‹ (Domains) organisiert, welche einen prototypischen Bedeutungsbereich (z.B. die Bedeutung von ›Vogel‹) in einer soziokulturellen Situation umgrenzen. Die Organisation von Bedeutung in den Domains wird als eine aktive mentale Tätigkeit, als ein Schlussfolgerungsprozess in der Wahrnehmung angesehen (z.B. als Unterscheiden, was ein Vogel ist und was nicht). Die Metapher ist einer dieser Schlussfolgerungsprozesse. Die Kognitive Semantik versteht die Metapher mithin empirisch als ein schlussfolgerndes Wahrnehmungsprinzip. Mit Peirce gesagt: Die Metapher ist eine Inferenz 34 Lakoff/Johnson 1999, S. 20, im Orig. kursiv. 35 Lakoff/Johnson 1999, S. 45. 36 Varela/Thompson/Rosch 2013, S. 326. 37 Vgl. Fahlenbrach 2010, S. 47ff., hier S. 51f. In ähnlichem Kontext geht Määttänen (2015) aus Richtung der Peirce’schen Wahrnehmungstheorie und anderer pragmatistischer Positionen von einer Vereinbarkeit zwischen Pragmatismus und Kognitiver Semantik aus. Allerdings findet keine systematische Auseinandersetzung statt.

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in einem basalen Wahrnehmungsurteil ( Kap. 3.3. und 3.4).38 Lakoff und Johnson nennen diese Inferenz ein metaphorisches ›Mapping‹.39

5.1.2 Metaphern als Inferenzen Für Lakoff und Johnson sind konzeptuelle Metaphern ein bedeutungsverleihendes Prinzip der schlussfolgernden Wahrnehmung. Metaphern sind als Sachverhalte der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns zu betrachten. Bereits in Metaphors We Live By heißt es: »[M]etaphor is primarily a mode of thought and action and only derivatively a matter of language«.40 Metaphern funktionieren demnach so, dass man einen Erkenntnisbereich, also eine Domain, im Lichte eines anderen Erkenntnisbereichs bzw. einer anderen Domain sieht: »The essence of metaphor is understanding and experiencing one kind of thing in terms of another«.41 Dieser Prozess wird von Lakoff und Johnson als eine Inferenz verstanden. Lakoff und Johnson nehmen an, dass es eine ›source domain‹ und eine ›target domain‹ gibt, zwischen denen die Metapher ein metaphorisches ›Mapping‹ realisiert. Ein Ausgangsbereich (Karte) wird auf einen Zielbereich (Territorium) bezogen.42 Der Zielbereich wird durch den Ausgangsbereich erklärt. Zugrunde liegt die Hypothese eines ›embodied minds‹. Was im Bewusstsein Bedeutung gewinnt, gewinnt diese Bedeutung durch Schemata, die durch die sensomotorische Verkörperung der Wahrnehmung ausgebildet und geprägt werden. Unterschieden wird zwischen einem »body image«, das als »›system of perceptions, attitudes, and beliefs pertaining to one’s own body‹«43 dem expliziten Wissen zugeschrieben wird, und einem »body schema« als »›system of sensory-motor functions that operate below the level of self-referential intentionality‹«44, das dem impliziten Wissen zugerechnet wird. Das Körperschema ist ein Oberbegriff für die Schemata, durch welche die Integration von Perzepten in Domains geleistet wird. Das metaphorische ›Mapping‹ verläuft in einer Metapher so, dass eine Konkretisierung des Zielbereichs vorgenommen wird, die auf einer dem ›Body-Schema zugeordneten impliziten Räumlichkeit beruht.45 Durch diesen Ansatz lässt die Kognitive Metapherntheorie das für ältere Metapherntheorien bekannte Kriterium der Ähnlichkeit zwischen zwei Relata, welche 38 Vgl. Eco 2000. 39 ›Mapping‹ ist da, wo sich Kognitionswissenschaft und Diagrammatik berühren, ein gängiger Begriff, speziell im Kontext semantischer Fragen. Siehe etwa zur Geste als einem Medium zwischen Sprache und mentaler Repräsentation den Ansatz in Tversky/Kessel 2014. Dabei geht es allerdings nur um den Prozess eines ›Mappings‹, also um eine Analogie zu Karten. Zur Karte als Medium selbst siehe Tversky 2011, S. 502f. 40 Lakoff/Johnson 2003, S. 153. 41 Lakoff/Johnson 2003, S. 5. Vgl. in Abgrenzung dazu auch Müller/Kappelhoff 2018, S. 64ff., hier S. 66. 42 Vgl. Johnson 1987, S. 69ff. 43 Johnson 2007, S. 5. 44 Johnson 2007, S. 5. Die Unterscheidung entnimmt Johnson den Arbeiten von Shaun Gallagher. 45 Vgl. Tversky 2011, S. 508ff. Dort wird betont, dass bei der Veranschaulichung abstrakter Sachverhalte nicht nur eine ›reale‹ Räumlichkeit, sondern eine metaphorisch zugeschriebene Räumlichkeit kognitiv wirksam ist. Die wichtigsten dort benannten Prinzipien entsprechen in etwa dem, was bei Lakoff/ Johnson als »image-schemas« bezeichnet wird.

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in der Metapher verknüpft werden, in den Hintergrund treten. Ähnlichkeit ist für die Kognitive Metapherntheorie ein Effekt, der sich einstellt, wenn man sich einen abstrakten Bereich wie die ›Erkenntnis‹ (Zielbereich) mit einem sinnlichen Bereich ›Licht‹ (Ausgangsbereich) erklärt. Folglich sind die Arten der Interaktion zwischen Ausgangsund Zielbereich dasjenige, was an der Metapher zu erklären ist. Für Lakoff und Johnson existieren zunächst drei Dimensionen, in denen sich ›Mappings‹ realisieren. Lakoff und Johnson begreifen diese Dreiteilung als ineinandergreifende Unterteilung. Demnach gibt es 1. orientierende Metaphern, die einem Gegenstandsbereich eine an der körperlichen Deixis entlang entwickelte Struktur geben (›Bewusstsein ist Oben, Emotionen sind unten‹); 2. ontologische Metaphern, die einen Gegenstandsbereich auf eine als Objekt handhabbare oder personifizierbare Sache hin konkretisieren (›Zeit ist Geld‹, ›Gedanken sind Dinge‹); 3. strukturelle Metaphern, in denen ein unanschaulicher Bereich aus Perspektive der Struktur eines konkreteren Bereichs betrachtet wird (›Das Leben ist eine Reise‹, ›Denken ist Bewegung‹  Kap. 1.2). Diese drei Dimensionen konzeptueller Metaphern können durch zwei Abstraktionsgrade der Metapher ergänzt werden.46 Metaphern wie ›Das Leben ist eine Reise‹ oder ›Argumentieren ist Krieg‹ sind, wie Kövecses es nennt, ›specific-level metaphors‹.47 Daneben gibt es allgemeinere, generische Metaphern (›generic-level metaphors‹) wie ›Bewusstsein als Körper‹, die sehr allgemein durch »extremely skeletal structures«48 gekennzeichnet sind. Spezifische Metaphern sind Ableitungen aus diesen generischen Metaphern. Die drei Dimensionen der Metapher und ihre zwei Abstraktionsgerade erklären sich mittels der ›Embodiment‹-Hypothese. Demzufolge ist die körperliche Erfahrungsdimension des ›Body‹-Schemas strukturleitend für die menschliche Erkenntnis. Menschen haben durch ihr alltägliches, körperliches In-der-Welt-Sein ein ›reiches‹ Wissen über Sachverhalte und Wirkzusammenhänge. Metaphern vollziehen sich so, dass sie im ›Mapping‹ eines Ausgangs- mit einem Zielbereich zwischen den Domains Ähnlichkeiten erkennbar machen. Kohärente Gemeinsamkeiten werden hervorgehoben, inkohärente Unterschiede unterdrückt. Lakoff und Johnson nennen das »highlighting and hiding«.49 Das Hervorheben und Unterdrücken bestimmter Eigenschaften einer Domain ist motiviert durch ein Erkennen von Ähnlichkeiten. Dieses Ähnlichkeitserkennen wird als ein durch und durch metaphorischer, aber das heißt auch schlussfolgernder Prozess aufgefasst. Das ›grounding‹ dieses Schlusses kann sehr unterschiedlich ausfallen. Es folgt aber stets der Idee, dass erfahrungsbasierte Korrelationen eine Vorstruktur des Konstruktionsprozesses des metaphorischen Ähnlichkeitserkennens sind. Die Metapher setzt folglich Verhältnisse strukturelle Ähnlichkeiten voraus.50 Zwangsläufig bedeutet das aber auch, dass das diese Verhältnisse strukturelle Ähnlichkeiten mit Schemata auf Ebene des ›Body‹-Schemas korreliert ist. Die Verkoppelung metaphorischer Strukturen mit dem Körper lässt sich in Prinzipien umformulieren, nach denen ›Mappings‹ funktionieren. Das wichtigste Prinzip ist das Prinzip der Veranschaulichung: Metaphern werden verwendet, wo abstrakte Prozesse in kon46 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 14ff., 25ff., 60ff. 47 Vgl. Kövecses 2010, S. 44f. 48 Kövecses 2010, S. 45. 49 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 10ff. 50 Vgl. Kövecses 2010, S. 79ff.

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krete Erfahrungs- und folglich auch Erkenntnisbereiche übertragen werden. Abstrakte Entitäten werden etwa in einer ›ontologisierten‹ Form als ›Sachen‹ oder ›Personen‹ vorgestellt, aber auch Wahrnehmungen und Handlungen wie Sehen oder Greifen sind Ausgangsbereiche zur Veranschaulichung. Abstrakte Sachverhalte sind dabei »concepts for nonphysical entities, institutions, actions, relations, values […].«51 Konzeptuelle Metaphern, die auch widersprüchlich sein können, erklären diese abstrakten Sachverhalte. Ein auch bei Hans Blumenberg diskutiertes Beispiel ist die Metapher für Erkenntnis bzw. Verstehen als einem Prozess des Sehens, also ›Verstehen ist Sehen‹.52 Das ›Mapping‹ verläuft vom Ausgangsbereich des ›Sehens‹ in den Zielbereich des ›Verstehens‹. Ein Beispiel gibt Mark Johnson: Target domain (understanding) »Source domain (vision) Object Seen → Idea/Concept Seeing An Object Clearly → Understanding An Idea Person Who Sees → Person Who Understands Light → ›Light‹ of Reason Visual Focusing → Mental Attention Visual Acuity → Mental Acuity Physical Viewpoint → Mental Perspective« 53 Die Metapher ist nur ein Beispiel, wie das Verstehen metaphorisch erklärt wird. Eine zweite Metapher ist ›Verstehen ist Greifen‹. Dies illustriert, dass der Prozess des metaphorischen ›Mappings‹, also des Bezugs zwischen Ausgangs- und Zielbereich, nach Lakoff und Johnson, mit dem eines inferenziellen ›Entailments‹ zwischen Metaphern verbunden ist, das heißt dem Auf bau von metaphorischer Kohärenz und Komplexität. Sowohl innerhalb einer konzeptuellen Metapher wie ›Liebe ist eine Reise‹ als auch zwischen Metaphern wie ›Bewusstsein ist oben, Emotion ist unten‹ und ›Wissen ist unten, Nicht-Wissen ist oben‹ nehmen Lakoff und Johnson Beziehungsverhältnisse an. In ihren Augen kann man von ganzen Netzen von Metaphern sprechen, die untereinander durch derartige ›Entailments‹ verbunden sind.54 Der Begriff ›Entailment‹ wird von Lakoff und Johnson ähnlich wie in der linguistischen Pragmatik verwendet.55 Entailments sind semantische Implikationen zwischen zwei Metaphern, in denen die Bedeutung der einen Metapher die Bedeutung der anderen Metapher voraussetzt. Wenn man sagt, ›Liebe ist eine Reise‹, dann sagt man auch ›Liebe ist ein Pfad‹. Entailments sind transitiv: »the grounding of the whole is the grounding of its parts«.56 Wenn A gilt, gilt auch B. Umgekehrt ist zu bedenken, dass wenn B nicht gilt, auch A nicht gilt.57 Die Komplexität von Entailments erhöht sich dadurch, dass die einzelne Domains von verschiedenen Metaphern erklärt werden können und Domains oft selbst auf Metaphern

51 Johnson 2007, S. 165. 52 Vgl. Blumenberg 1999. 53 Johnson 2007, S. 165. 54 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 89ff. 55 Vgl. Meibauer 1999, S. 32f. 56 Lakoff/Johnson 1999, S. 63. 57 Entailments können m.E. sehr gut zur Erklärung von semiotischen Konnotationen verwendet werden.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

basieren.58 Metaphorische Entailments sind als ein Basisprinzip des Argumentierens erfassbar, vor allem in Analogieschlüssen. Mark Johnson stellt das in The Body in the Mind dar, wenn er die Metaphorisierung in folgendem, moralisch problematischem Schlussprozess beschreibt:59 »A woman is responsible for her physical appearance. Physical appearance is a physical force (exerted on other people) A woman is responsible for the force she exerts on men. This is an Inference of the form: F(A) A=B Therefore, F(B)« Das Besondere an der Inferenz ist, dass der A=B-Term durch die Form der konzeptuellen Metapher ›Physische Erscheinung ist physische Kraft‹ angeleitet ist. Eine solche Metapher motiviert mithin eine generalisierende Schlussfolgerung, welche sich aus der Wahrnehmung heraus zu einer Überzeugung verdichten kann. Entscheidend ist: Die konzeptuelle Metapher etabliert einen kohärenten Sinnzusammenhang. Der Sinnzusammenhang muss also nicht begriff lich konsistent sein, ist aber – hier in einem normativ problematischen und epistemologisch basalen Sinne – kreativ.60 Derartige Dynamiken von ›Mappings‹ komplexer konzeptueller Metaphern werden von Lakoff und Johnson als eine Triebfeder der kulturellen Sinnproduktion angesehen: »Much of cultural change arises from the introduction of new metaphorical concepts and the loss of old ones. For example, the Westernization of cultures throughout the world is partly a matter of introducing the Time is Money metaphor into those cultures«.61 Daraus lässt sich ein zweiter Baustein der Kognitiven Metapherntheorie ableiten. Dieser Baustein ist programmatischer Art und bezieht sich auf den oft kritisierten ›Universalismus‹ dieser Theorie.

5.1.3 Metapher und implizites Wissen Da Lakoff und Johnson die Metapher als kognitiven Sachverhalt verstehen, wird häufig eine ›kulturalistisch‹ motivierte Kritik an ihrem Ansatz vorgebracht. Lakoff und Johnsons Umformulierung der sprachlichen Metapher zu einem Phänomen von konzeptuellen Metaphern führe zu einer Vernachlässigung der kulturellen Normativität 58 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 97ff. Vgl. auch Kövecses 2010, S. 121ff. 59 Johnson 1987, S. 10f., im. Orig. teilweise Hervorhebungen. 60 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 96. Neben solchen »inference generalizations«, die sich auf Konzepte und ihre Organisation in Domains beziehen, kennen Lakoff und Johnson überdies »polysemy generalizations«, die aus Mehrdeutigkeiten entstehen, und »novel-case generalizations«, die neue Anwendungen desselben ›Mappings‹ darstellen. Ein Beispiel ist die hypothetische Metapher »We’re driving in the fast lane on the freeway of love« als Reaktualisierung der ›Liebe ist eine Reise‹-Metapher. Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 81ff., S. 66f.; Lakoff/Johnson 2003, S. 139ff., überblickend Johnson 2007, S. 185ff. 61 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 145.

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der metaphorischen Erkenntnisoperationen.62 Mit der Fokussierung auf kognitive Konzepte gerate die pragmatische Dimension der Praxis und auf lange Sicht auch die kulturelle Relativität von Metaphern aus dem Blick.63 Diesen Primat der Praxis und einer besonderen Dimension der ›prägnanten‹ Wirkung von Metaphern in der Praxis einzufordern, ist prinzipiell richtig, allerdings kann man sich fragen, ob er hier auch nötig ist. Lakoff und Johnsons Argumentation hat zweifelsohne universalistische Züge. Für Lakoff und Johnson gibt es z.B. eine »experience itself, as we structure it« und »the concepts that we employ in structuring it«.64 Es gibt also eine universelle Erfahrung und kulturrelative Konzepte, die diese Erfahrung strukturieren. Die universelle Erfahrung wird aber nicht erst in kulturellen Zeichen hervorgebracht, sondern ergibt sich aus körperlichen Begrenzungen. Lakoff und Johnson argumentieren universalistisch, aber von einem Apriori des Körpers her. Dazu unterscheiden sie zwischen einer kognitiven ›primary metaphor‹, die sich unter dem Einf luss von Gesellschaft und Kultur in eine (semiotische) ›complex metaphor‹ verwandelt.65 Das Argument ist unverändert: Semantische Strukturen werden durch das körperliche Weltverhältnis der Körperschemata des Menschen gebildet. Dieser Universalismus des Körpers besagt aber nicht, dass die Constraints, welche die Körperlichkeit der Produktion von Bedeutungsstrukturen auferlegt, kulturell nicht unterschiedlich ausagiert und ausdifferenziert werden. Lakoff und Johnson sehen wesentliche Elemente der Bildung konzeptueller Metaphern, so auch Teile des ›Body‹-Schemas, als in einer Kultur erworben und folglich als historisch wandelbar an. Zu den in der Kritik sporadisch ignorierten Punkten gehört dabei, dass in dem Ansatz die Tradition der kontinentalen Körperphilosophie (Maurice Merleau-Ponty) beachtet wird und ein unzweideutig pragmatistischer Einf luss vorhanden ist (William James, John Dewey).66 Zu berücksichtigen ist ferner, dass – wie vor allem Mark Johnson ausgearbeitet hat67 – die Inferenzen des ›Mappings‹ nicht als eine rein kognitive Operation zu begreifen sind, sondern als Einheit von Wahrnehmung, Überzeugung und Handlung. Konzeptuelle Metaphern sind nicht einfach nur ›im Kopf‹, sondern sie gewinnen ihre Plausibilität nur als Interaktionen und Handlungen in einer wahrgenommenen und durch Überzeugungen interpretierten Umwelt.

62 Vgl. Rolf 2005, S. 240f. Eine neuere und originelle kritische Alternative findet sich bei Gasperoni 2016, S. 299ff. Dort wird unter Rekurs auf den Kant’schen Schematismus bei Lakoff und Johnson ein transzendentalphilosophisches Defizit ausgemacht. 63 Vgl. Söffner 2015, S. 27ff., 31ff. Söffners Kritik ist interessant, scheint mir aber, angesichts des philosophischen Zuschnitts des »image schema«-Begriffs bei Mark Johnson, ein Stück weit ins Leere zu gehen. 64 Lakoff/Johnson 2003, S. 83. 65 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 45ff., S. 60ff. 66 Insbesondere Mark Johnsons Gedanken stehen durch die Adaption pragmatistischer Ideen kulturwissenschaftlichen Positionen im Prinzip durchaus nah. Explizit diskutiert wird das in Johnson/Roher 2007; Gerund/Johnson 2015, siehe zudem Johnson 2007. Vgl. auch Lakoff/Johnson 1999, S. 3ff., aus Anlass der Diskussion des Begriffs der »image-schemas« zudem Johnson 2005, S. 18ff. 67 Vgl. Johnson 2007, insb. S. 111ff.; Johnson/Roher 2007.

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An einem Beispiel nachvollziehbar ist das anhand der Diskussion der englischen ›Argumentieren ist Krieg‹-Metapher in Metaphors We Live By.68 Von dieser Metapher heißt es: »it structures the actions we perform in arguing«69 und »[w]e experience a conversation as an argument when the War gestalt fits our perceptions and actions in the conversation«.70 Eine Situation wird durch die Brille einer konzeptuellen Metapher wahrgenommen, was – als diese Wahrnehmung einer Situation – bedeutet, in einer gegebenen soziokulturellen Situation eine Praxis zu vollziehen. Es wäre aber widersinnig, würden Lakoff und Johnson nicht von einer grundlegenden Bedeutung der Praxis ausgehen.71 Aus der Theorie würde dies die Basisprämisse streichen, dass die konzeptuelle Metapher als ein Phänomen des ›embodied mind‹ zu verstehen ist. Daraus eine übergangslose Vereinbarkeit der Theorie mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen abzuleiten, geht allerdings zu weit. So hat der Ansatz von Lakoff und Johnson zweifelsohne auch erhebliche pragmatistische Defizite.72 Lakoff und Johnson versäumen es beispielsweise, auszuarbeiten, was Metaphern für Handlungspläne bedeuten. Das heißt aber eben nicht, dass ihre Theorie mit kulturtheoretischen Annahmen unvereinbar wäre. Lakoff und Johnson werden nicht müde zu betonen, dass konzeptuelle Metaphern sich aus der körperlichen Vorstrukturierung des begriff lichen Weltzugangs ableiten. Als ein kognitives Phänomen sind diese Metaphern ein Phänomen, das sich erst von der Verkörperung des Bewusstseins, somit körperlichen Erfahrungsdimensionen und demgemäß auch konkreten Praktiken in einer Situation her erklärt. ›Argumentieren ist Krieg‹ ist auch deshalb eine Metapher, weil ›Argumentieren‹ und ›Krieg führen‹ auf verschiedene Praktiken verweisen.73 Diese Praktiken müssen als Sprachspiele kulturell verstanden sein, damit sie eine Bedeutung erzeugen können, die von der Metapher zusammengebracht wird. Eine vollständige Theorie der Bedeutung, so Johnson, ist ohne die soziokulturelle Dimension und eine das Wissen um Praktiken einschließende Übersetzung nicht denkbar.74 Deutlich wird die Rolle der Kultur bei Lakoff und Johnson bereits im frühesten Entwurf der Theorie, also in Metaphors We Live By. Dort heißt es: »In other words, what we call ›direct physical experience‹ is never merely a matter of having a body of a certain sort; rather, every experience takes place within a vast background of cultural presuppositions. It can be misleading, therefore, to speak of direct physical experience which we then ›interpret‹ in terms of our conceptual system. Cultural assumptions, values and attitudes are not a conceptual overlay which we may or may not place upon experience as we choose. It would be more correct to say that all ex68 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 79ff. 69 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 4. 70 Lakoff/Johnson 2003, S. 81. 71 Vgl. auch Lakoff/Johnson 1999, S. 63ff. 72 In eine praxistheoretisch-pragmatistische Richtung argumentieren inzwischen Müller/Kappelhoff 2018 mit dem dort formulierten Verständnis von »Doing Metaphor« (S. 63ff.). Dies wäre weiterführend ausführlicher zu berücksichtigen. Dieser Ansatz findet sich allerdings auch bei Johnson selbst, siehe etwa die Antworten in dem Interview Gerund/Johnson 2015. 73 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 84. 74 Vgl. Johnson 2007, S. 181, Anm. 1.

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perience is cultural through and through, that we experience the ›world‹ in such a way that our culture is already present in the experience itself. However, even if we grant that every experience involves cultural presuppositions, we can still make the important distinction between experiences that are ›more‹ physical, such as standing up, and those that are ›more‹ cultural, such as participating in a wedding ceremony. Wen we speak of ›physical versus ›cultural‹ experience in what follows, it is in this sense that we use the terms.« 75 Lakoff und Johnson ziehen die Grenze zwischen ›natürlichen‹ Erfahrungen und dem Einf luss soziokultureller Faktoren auf metaphorische Konzepte in der Weise, dass sie die Existenz einer universellen, basalen Erfahrungsdimension annehmen. Neben der körperlichen Erfahrung werden basale Interaktionen mit der Umwelt sowie die Interaktion mit anderen Menschen als ›natürlich‹ (im Sinne von anthropologischen Konstanten) angesehen. Metaphern sind von diesen universell ›natürlichen‹ Erfahrungsdimensionen her motiviert.76 Damit handeln sich die Autoren allerdings die Notwendigkeit ein, für die Interaktion mit der Umwelt und die Interaktion mit anderen Menschen auch den umgekehrten Fall zulassen zu müssen. Weil nur die kognitive Basisausstattung des Körpers als kulturell ›universell‹ angesetzt werden kann, ist es notwendig, davon auszugehen, dass Metaphern in der Interaktion mit der Umwelt und der Interaktion mit anderen Menschen auf die angenommene ›natürliche‹ Erfahrung zurückwirken. Die historisch variable Praxis in der Kultur reicht also weit in die Grundannahmen der Theorie hinein, da große Teile des vermeintlich ›Natürlichen‹ die alles andere als ›natürlichen‹ Praktiken in einer Kultur sind, das ›Natürliche‹ also vielmehr das Gewohnte und Naturalisierte betrifft.77 Man muss sogar noch weiter gehen. Für Lakoff und Johnson sind nicht nur die Metapher als Inferenz, sondern auch die von der Metapher miteinander verschränkten Domains kulturell bedingt. Klarer wird das, wenn man sieht, wie die Domains strukturiert sind – wenn man also sieht, von welchen Einheiten die konzeptuellen Metaphern selbst abhängig sind. Lakoff und Johnson gehen davon aus, dass die Organisation einer Domain als präsprachliche Wahrnehmungsgeneralisierungen anzusehen ist. Diese Generalisierungen nennen sie in Metaphors We Live By »experiential gestalts«. Diese ›Gestalten‹ beziehen die Domains auf Kausalitäten, Teil/Ganzes-Rela-

75 Lakoff/Johnson 2003, S. 57. 76 Vgl. in anderem Zusammenhang Fehrmann 2004, hier S. 180: »Obwohl konzeptuelle Strukturen in einer Hinsicht individuell ausgebildet werden, entstehen sie dennoch nur im Umfeld gesellschaftlicher Handlungen. Sie tragen dabei stets Spuren sprachlicher Kommentierung, somatischer Medialität und affektiver Markiertheit.« 77 In der Kognitionswissenschaft ist das ein übliches Verständnis von ›Natürlichkeit‹. Ähnlich argumentiert Barbara Tversky (2011, S. 515) zu den Grundprinzipien des ›Mappings‹ von Bedeutung auf spatiale Variablen: »These correspondences are natural in the sense that they have been invented and reinvented across cultures and contexts, they have origins in the body and the world, and they are expressed in spatial arrangements, spatial language, and spatial gestures.«

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

tionen, Entwicklungsphasen etc. Als die Domains strukturierende Einheiten handelt es sich um Basismuster des Erkennens und Kategorisierens.78 Während Mark Johnson, so beispielsweise in The Body in the Mind, an dem Begriff der ›experiential gestalts‹ festgehalten hat, sind bei George Lakoff – etwa in Woman, Fire, and Dangerous Things – die ›experiential gestalts‹ durch die Annahme von »idealized cognitive models« (ICMs) ersetzt worden.79 Dies könnte man, mit guten Gründen, als eine Differenz zwischen dem eher philosophisch orientierten Johnson und dem in Richtung Neurowissenschaften argumentierenden Lakoff deuten. Der Zweck ist aber der gleiche: Ebenso wie die ›experiential gestalts‹ sind Lakoffs ICMs Konzepte, die das Wissen um eine Domain definieren (z.B. was alles zur Domain ›Vogel‹ gehört und was nicht). Lakoff definiert die ICMs daher als »a complex structured whole, a gestalt, which uses four kinds of structuring principles: propositional structure […], image-schematic structure […], metaphoric mappings […], metonymic mappings […]«.80 Ein Beispiel für ein ICM ist das einfache Wort ›Tuesday‹. Gemäß der Aufgabe von ›experiential gestalts‹ bzw. ICMs, Strukturen in die Domains zu bringen, schreibt Lakoff: »Tuesday can be defined only relative to an idealized model that includes the natural cycle defined by the movement of the sun, the standard means of characterizing the end of one day and the beginning of the next, and a larger seven-day calendric cycle – the week. In the idealized model, the week is a whole with seven parts organized in a linear sequence; each part called a day and the third is Tuesday.«81 Weil in komplexen Formen von Kohärenz bereits die ›source domain‹ metaphorisch strukturiert ist, sind die experiential gestalts bzw. ICMs als – wie Umberto Eco diese Kategorie genannt hat – »kognitive Typen«82 kulturrelativ.83 Im Ausgang von Metaphors We Live By können Lakoff und Johnson nur ein begrenztes Set an Basispraktiken des Körpers auf Ebene der experiential gestalts bzw. ICMs als universell ansetzen (nur wenige Menschen sind zum Beispiel in der Lage oder darauf angewiesen mit den Füßen zu essen; niemand hat Augen in den Beinen, daher ist das Sehen in der Regel ›oben‹ etc.).84 Bereits mit diesen Bemerkungen zeigt sich, dass die Kognitive Metapherntheorie Teil eines übergreifenden philosophischen Ansatzes ist, den Lakoff und Johnson als »experiential realism« oder »experientialism« bezeichnen und den sie gegen den bedeutungstheoretischen »objectivism« bzw. die »a priori philosophy« stellen.85 Der ›experiential realism‹ ist keineswegs ›kognitivistisch‹ in einem ›mentalistischen‹ 78 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 117f. Vgl. auch den Bezug zu Ecos Kant und das Schnabeltier in Stjernfelt 2007, S. 66f., hier S. 67. 79 Vgl. Lakoff 1987, S. 68ff. 80 Lakoff 1987, S. 68. 81 Lakoff 1987, S. 68. 82 Vgl. Eco 2000, S. 146ff. 83 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 118. 84 Vgl. Loenhoff 2012b, insb. S. 191ff. 85 Vgl. Johnson 1987, S. 194ff.; Lakoff 1987, S. 260ff.; Lakoff/Johnson 1999, S. 74 ff, S. 94ff., Lakoff/Johnson 2003, S. 185ff. Der Begriff »experiential realism« ist mit »Erfahrungsrealismus« (Ohler 1994, S. 96ff.) nicht adäquat übersetzt. ›Experiential‹ ist eine Ableitung von ›experience‹. Gegenüber ›experience‹

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Sinn. Der Ansatz ist eine Variante auf Fragen der Bedeutung im Rahmen der ›Embodiment‹-Theorien. Einher geht damit eine starke Bedeutung des impliziten und nicht-propositionalen Wissens.86 Dieses Wissen wird als Körperwissen definiert (und insofern verkürzt;  Kap. 2.2.3 u. 2.2.4). Lakoff und Johnson nennen dies den Bereich des »cognitive unconscious«. Damit meinen sie nicht das Unbewusste der Psychoanalyse, sondern ein Wissen, von dem gesagt werden kann: »[It] operates beneath the level of cognitive awareness, accessible to consciousness and operating too quickly to be focused on.«87 Der Begriff ›cognitive‹ wird dazu nicht, wie in der Philosophie häufig, mit dem Attribut ›explizit-begriff lich‹ gleichgesetzt, sondern schließt die Bedeutung ›implizit-unbegriff lich‹ mit ein.88 Der weit gefasste Begriff von ›kognitiv‹ erlaubt es, zwischen zwei Typen von ›implizitem Wissen‹ im Sinne von Lakoff und Johnson zu differenzieren: »The cognitive unconscious is vast and intricately structured. It includes not only all our automatic cognitive operations, but also all our implicit knowledge.«89 Es gibt also 1. einen automatisierten Bereich, der nur schwierig als ›Wissen‹ anzusprechen ist, weil er z.B. basale Operationen des vegetativen Nervensystems und der Sinneswahrnehmung einschließt, und 2. einen Bereich des ›impliziten Wissens‹ im engeren Sinn, der in der Praxis angelernte und erworbene Fähigkeiten betrifft, die sich routinisiert haben, also ›im‹ Bewusstsein sind, dort aber als ›funktionale‹ Größe in Praktiken einen fungierenden Charakter haben, also nicht explizit werden ( Kap. 2.2.3). Weil es sich beim impliziten Wissen um ein Wissen handelt, das mit körperlichen Praktiken einhergeht, strukturiert dieses Wissen auch kognitive Konzepte, Lakoff und Johnson nennen das eine »›hidden hand‹ that shapes how we conceptualize all aspects of our experience«.90 Wenn Lakoff und Johnson von ›kognitiv‹ sprechen, dann wenden sie sich gegen eine naive Präferenz für mentale Strukturen und gegen einen ontologischen Körper/Geist-Dualismus. Leicht auszurechnen ist, dass die Autoren annehmen, dass es konzeptuelle Metaphern sind, die in der Ref lexion auf das kognitiv ›Unbewusste‹ zur Anwendung kommen. Will man in einem Medium wie der Sprache explizieren, was man als implizites Wissen zur Verfügung hat und als ein ›Können‹ erfährt, dann ist man auf konzeptuelle Metaphern angewiesen. Für Lakoff und Johnson ist die Explikation von implizitem Wissen ein typischer Fall, in dem Metaphern selbst wieder Metaphern erklären, in der es also gar keine begriff lich-rationale Form des Ausdrucks gibt. Lakoff und Johnson gehen mithin von einem starken Begriff von (körperlichem) implizitem Wissen aus.

liegt der Akzent in ›experiential‹ aber nicht auf Erfahrung im Sinne eines über einen längeren Zeitraum akkumulierten Wissensbestandes, sondern auf der empirischen Aktualität von Erfahrung. 86 Vgl. Johnson 1987. 87 Lakoff/Johnson 1999, S. 10. 88 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 11f. 89 Lakoff/Johnson 1999, S. 13. 90 Lakoff/Johnson 1999, S. 13.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

5.1.4 ›Basic-level categorization‹ und ›Image schemas‹ Die programmatische Selbsteinschätzung des Ansatzes als »experiential realism« verweist auf die starke Beeinf lussung von Begriffen wie denen der »experiential gestalts« bzw. »ICMs« durch die Logik der Kategorisierung aus Eleanor Roschs Prototypen-Semantik.91 Nach Rosch gibt es für die Kategorisierung von Vögeln einen prototypischen Vogel, der eine erfahrungsgebundene (kulturell variable) Gestaltvorstellung von Vogel beinhaltet.92 Die Prototypensemantik hat ihre Position über das eng mit Ludwig Wittgensteins Familienähnlichkeit verbundene Argument entwickelt, dass die Bedeutung in den Domains so organisiert ist, dass • einige Mitglieder einer Domain bessere Beispiele für die Domain sind als andere Mitglieder (»Zentralität«), also in gewisser Weise ›ideale‹ Mitglieder (die Amsel für ›Vogel‹), • dass es ferner relative Nähe/Ferne-Verhältnisse in der Zugehörigkeit zu einer Domain gibt (die Amsel ist ›mehr‹ Vogel als das Huhn) und • dass die Domains nach ökonomischen Prinzipien reguliert sind – dass also morphologisch zusammenhängende Mitglieder eher als zusammenhängende Domain akzeptiert werden denn als eine Domain, die durch disparate und heterogene Mitglieder ausgezeichnet ist.93 Wie Umberto Eco schreibt, akzentuiert der Begriff des Prototyps vorrangig das Problem der Grenzen und der Ränder einer Domain: Wenn ein Schnabel, zwei Flügel, zwei Füße und Flugfähigkeit einen ›Vogel‹ ausmachen, dann ist das Huhn zwar irgendwie ein Vogel, aber kein ›idealer‹ Vogel.94 Die Prototypen basieren auf idealisierten Vorstellungen. Sie sind mit Inferenzen verbunden, die von Rosch und auch von Lakoff und Johnson als »basic-level categorization« bezeichnet werden.95 Die ›Basic-level categorization‹ ist ein Wahrnehmungsurteil, in dem »mental images, gestalt perceptions, motor programs, and knowledge structure«96 zusammenwirken. Als ›typische‹ Art der Kategorisierung bewegt sich diese Inferenz auf einer ›mittleren‹ Ebene. Im Fall von Möbeln ist es auf einer ›höheren‹ Ebene unmöglich, sich eine Vorstellung eines ›Möbelstücks an sich‹ zu machen, ohne an ein bestimmtes Stück zu denken, etwa einen Stuhl. Auf einer ›tieferen‹ Ebene gilt dagegen, dass es tausende spezifische Stühle gibt, die alle ihre eigenen Merkmale haben. An diese Stühle denkt man ebenfalls nicht, sondern an einen generalisierten Ideal-Stuhl – semiotisch gesagt: an eine Art von Type. Eco spricht im Fall der ICMs deshalb, wie erwähnt, von »kognitiven Typen«.97

91 Eine von Eco 2000, S. 228ff. als verbindlich angesehene Diskussion von Roschs Ideen findet sich bei Lakoff 1987, S. 5ff. 92 Vgl. Rosch 2011, S. 278ff. Vgl. hier auch Tversky 2011, S. 503f. 93 Ich folge mit diesen drei Punkten der Darstellung der Prototypensemantik bei Eco 2000, S. 228. 94 Vgl. Eco 2000, S. 230. 95 Vgl. Rosch 2011, S. 272ff.; Lakoff/Johnson 1999, S. 26ff. Vgl. Lakoff 1988, S. 132ff.; Lakoff 1987, S. 31ff., S. 46ff. 96 Lakoff/Johnson 1999, S. 27. 97 Vgl. Eco 2000, S. 146ff.

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Die ›Basic-level categorization‹ spielt in metaphorischen ›Mappings‹ eine sehr wichtige Rolle. Sie ist zu berücksichtigen, wenn das Phänomen des ›Highlighting and Hiding‹ einer Metapher erklärt werden soll, also den Umstand, dass eine Metapher bestimmte Aspekte von Ausgangs- und Zielbereich hervorhebt und andere unterdrückt. Während eine Aussage wie ›Die Theorie hat ein schwaches Fundament‹ metaphorisch plausibel ist und aus der ›Theorien sind Gebäude‹-Metapher hervorgeht, ist die Aussage ›Die Theorie ist in ihrer pseudofunktionalen Simplizität wie Bauhaus‹98 zwar eine Ausbeutung nicht genutzter Aspekte des Ausgangsbereichs ›Gebäude‹. Sie kann aber nicht überzeugen, weil sie nur in hoch spezifischen Sprachspielen Sinn macht. Die Gestaltvorstellung von ›Gebäude‹ reicht aus, um die Metapher zu motivieren und interdiskursive Anschlussfähigkeit zu garantieren. Der Unterschied zwischen ›Basic-level categorization‹ und anderen Formen der Wahrnehmung ist, dass die Plausibilität von ›Basic-level categorization‹ körpergebunden ist und aus dem alltäglichen Umgang mit Situationen, also Dingen, Tieren und anderen Menschen heraus entsteht.99 An den ICMs wird deutlich (wie in dem ›Tuesday‹-Beispiel oder dem ›Gebäude‹), dass auch die ›Basic-level categorization‹ von kulturellen Einf lüssen durchwirkt ist.100 Was von Lakoff und Johnson auf Basis des Begriffs aber dennoch als universell behauptet wird, ist der Umstand, dass auch ein ICM wie das Tuesday-ICM – wie alle ›Basic-level categorization‹ – einer Inferenz-Logik folgt, die selbst auf eine strukturell-räumliche Gestalt zurückzuführen ist. Was ist damit gemeint? Wenn die Prototypizität der ICMs die Grenze und die Ränder einer Domain bestimmt, dann definieren sie auch die Inklusion und die Exklusion in die Domain. Inklusion und Exklusion sind im Fall der ›Basic-level categorization‹ in eine Teil/Ganzes-Relation eingeordnet, welche aus dem alltäglichen Umgang mit Teilen, die für ein Ganzes stehen, hervorgehen:101 »Our knowledge at the basic level is mainly organized around part-whole divisions. The reason is that the way an object is divided into parts determines many things. First, parts are usually correlated with functions, and hence our knowledge about functions is usually associated with knowledge about parts. Second, parts determine shape, and hence the way that an object will be perceived and imaged. Third, we usually interact with things via their parts, and hence part-whole-divisions play a major role in determining what motor programs we can use to interact with an object.« 102 Inklusion/Exklusion in eine Domain stellt sich als ein Problem dar, ob das Teil sich einem Ganzen zuordnen lässt. Die Zuordnung zu einem Ganzen funktioniert, wenn ein Teil als Teil eines Ganzen erkannt wird, das heißt, wenn es in das Ganze inkludiert werden kann. Teil/Ganzes-Beziehungen müssen also als Einschluss/Ausschluss-Beziehungen angesehen werden, die semantisch aus dem Prinzip der Zentralität folgen: 98 Die Formulierung findet sich bei Johnson 1987, S. 106. 99 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 28: »[…] the division between basic-level and nonbasic-level categories is body-based, that is, based on gestalt perception, motor programs, and mental images«. 100 Lakoff macht das im Fall von ›tuesday‹ am Beispiel eines Balinesischen Wochensystems auch zum Thema. Vgl. Lakoff 1987, S. 69. 101 Vgl. zum Problem der Metonymie Lakoff/Johnson 2003, S. 35ff. 102 Lakoff 1987, S. 47.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

Was wichtig ist, steht in der Mitte, was unwichtig ist, steht an den Rändern. Dies verweist auf das Problem eines weichen Übergangs zwischen einer analogen Zuordnung und einer digitalen Zuordnung. Nur die digitale Zuordnung kann klar entscheiden, was ›drinnen‹ ist und was ›draußen‹; die analoge Zuordnung operiert dagegen mit Näherungswerten. Daraus lässt sich schließen, dass es verschiedene ›eingebaute‹ Inferenzen gibt, die jeweils verschieden ›klar‹ festlegen können, ob ein Konzept einer Domain zuordnen ist oder nicht. Wirksam sind hierbei kulturelle Einf lüsse – zumindest, wenn man unter Kultur ein praktisch erlebtes, semiotisches Sinnsystem versteht, das sozial in verschiedene Funktionsbereiche (Kunst, Wissenschaft etc.) ausdifferenziert ist. Will man einen Delphin kategorisieren, dann würde man ihn aufgrund der Ähnlichkeit der Gestaltmerkmale in der Kunst vielleicht metaphorisch als ›Fisch‹ ansehen, also in die Domain ›Fisch‹ integrieren. In den Sprachspielen der Wissenschaft wäre das nicht möglich, weil der Delfin begriff lich kein Fisch, sondern ein Säugetier ist. Es gibt eine metaphorische und eine begriff liche Art der Inklusion/Exklusion eines Konzepts in eine Domain, die trivialerweise in das Feld der Kultur und der Zeichen übergreift, weil sie den diskursiven Bedingungen und der Nutzung von Darstellungssystemen unterliegt, unter denen die Äußerung getätigt wird. Gerade für den Transfer – man denke an Stjernfelts Beispiel von August Kekulés metaphorischem Sehen ( Kap. 2.2.8) – zwischen Wissensdomänen ist daher das Problem der Inklusion/Exklusion in die Domains, also die Frage nach der Grenze von Domains, entscheidend. Die Domains haben als Bedeutungsbereiche eine räumliche Struktur. Diese räumliche Struktur wird in den metaphorischen ›Mappings‹ zweier Domains mittransportiert, ja das ›Mapping‹, also eine an der Metapher des ›Kartografierens‹ orientierte Inferenz, selbst ist von diesen räumlichen Gestalten mit abhängig.103 Lakoff und Johnson führen in diesem Kontext den für die Diagrammatik interessantesten Begriff ein. Die Kant’sche Inspiration aufnehmend, nennen Lakoff und Johnson diese räumlichen und proto-logischen Organisationsprinzipien ›Image schemas‹.104 Im Deutschen eher unglücklich als »Bildschemata«105, »Vorstellungsbilder«106 oder sehr viel besser als »Vorstellungsschemata«107 übersetzt, werden ›Image schemas‹ als »recurring dynamic 103 Vgl. Lakoff 1987, S. 281ff. 104 Vgl. u.a. Lakoff/Johnson 1999, S.  31ff. Lakoff bringt den Gedanken vor, dass die ›Image schemas‹ Konkretisierungen von »mental spaces« sind. In der filmtheoretischen Deutung von Fahlenbrach 2010, die diesen Punkt angesichts der Bedeutung, welche die »mental spaces« haben, etwas überbetont, kommt der kantianische Einschlag zum Ausdruck. Fahlenbrach weist den »mental spaces« die Funktion zu, »die verschiedenen Vorstellungen zu einem einheitlichen perzeptiven Eindruck« zu vernetzen: »Während also die verschiedenen Sinnessysteme spezifische Vorstellungen generieren, die im wesentlichen wahrnehmungsbasiert und daher meist unbewusst bleiben, sind mentale Räume bereits kognitiv strukturiert und können bewusst erlebt und intentional gebildet werden (zum Beispiel beim Lesen). In diesem Sinne stellen sie eine wichtige Schnittstelle zwischen Perzeption und Kognition dar« (S. 60f.). Noch deutlicher einige Seiten später (S. 70): »Wie […] geschildert ist das mentale Vorstellungsvermögen ein Bindeglied zwischen Perzeption und Kognition.« 105 So etwa in Kohl 2007, S. 45, als »Bild-Schemata« bei Gasperoni 2016, S. 302. Sofern nicht als Zitat markiert, behalte ich hier die englische Schreibweise bei. Das ist zwar nicht unbedingt elegant, aber am wenigsten irreführend und auch nicht ohne Vorbild. Vgl. z.B. auch Ohler 1994, S. 102ff. 106 So etwa in May 1995. 107 So etwa in Fahlenbrach 2010, S. 62f., aber auch May 1995.

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pattern of our perceptual interactions and motor programs that gives coherence and structure to our experience« verstanden.108 Der ›Embodiment‹-Hypothese folgend, liegen ›Image schemas‹ den Prozessen der Wahrnehmung von Formen, des Sprachverstehens und dem abstrakten Denken zugrunde. Als höhere kognitive Leistung rekurriert das Vorstellen auf über die körperliche Welterfahrung vorstrukturierte Schemata: »The point I want to make is that meaning cannot be separated from the structures of our embodied perceptual interactions and movements«109, heißt es bei Johnson.110 ›Image schemas‹ sind für Lakoff und Johnson als räumliche Formen kinästhetische Relationenbilder.111 Sie sind aus der körperlichen Sensomotorik entstandene Bewegungs- und Raummuster, in denen sich die Prinzipien der Wahrnehmung und Handlung im Raum als ein spezifisches Muster des ›Body‹-Schemas manifestieren.112 Die ›Image schemas‹ übernehmen eine zentrale Aufgabe: Sie sind an der Interaktion von Domains im ›Mapping‹ von Ausgangs- und Zielbereich beteiligt.113 Als inferenzielle Organisationsformen der Raumstruktur von Domains konkretisieren die ›Image schemas‹ die kinästhetischen Attribute von ›experiential gestalts‹ bzw. ICMs in den Domains. ›Image schemas‹ strukturieren so die Ausgangsbereiche, die auf die Zielbereiche bezogen werden. Für metaphorische ›Mappings‹ ist das elementar.114 In einer konzeptuellen Metapher wie ›Liebe ist eine physische Kraft‹ werden die Liebenden als Objekte begriffen, die Kräften ausgesetzt sind. Man wird ›umgehauen‹, erfährt ›spontane Anziehung‹ oder ist von jemandem ›hingerissen‹. Es können aber auch physische Effekte infolge dieser Kraft einwirken, allen voran Momente der ›Hitze‹, also dass ›Funken geschlagen‹ haben, als die beiden Liebenden sich einander begegneten.115 Mit dem Bezug von ›Kraft‹ auf ›Liebe‹ wird eine Vorstellung des qualitativen Erlebens von Liebe eingeführt, die wesentlich für die Dynamik, das Ziel und die Phasen der weiteren metaphorischen Ausdeutung von Liebe ist. Liebe ist also eine Kraft im Raum, die auf Objekte einwirkt, sie anzieht oder abstößt, die aber auch als diese Kraft den Zustand einer von ihr beschriebenen Beziehung in ihrer Qualität und ihrem Verlauf objektivierbar macht – etwa wenn man sagt, dass die Beziehung ›abgekühlt‹ oder aber die ›Luft raus‹ ist, oder man generell merkt, dass die Beziehung ›mäandert‹ und ›nirgendwo mehr hinführt‹, also ihre Richtung und ihr Ziel verloren hat. 108 Johnson 1987, S. xiv. 109 Johnson 2011, S. 254. 110 Vgl. auch Clausner/Croft 1999. 111 Vgl. im weiteren Kontext hier auch Söffner 2015, S. 24ff. 112 Auf Ebene der ›Basic-level-categoriziation‹ scheinen die ›Image schemas‹ mit zwei Bedingungen, die für diese Kategorisierungsebene erfüllt sein müssen, verbunden zu sein. Der ›basic-level‹ ist die Ebene, auf der noch Ähnlichkeiten in den Gestalten der Mitglieder einer Kategorie wahrgenommen werden, und es ist die Ebene, auf der gleiche Bewegungsmuster in der Interaktion mit einem Konzept angewendet werden. Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 27f. 113 Clausner/Croft 1999 tendieren dazu, die ›Image schemas‹ als die Organisationsform der ›Domains‹ selbst zu begreifen, die Identität eines ›Image schemas‹ also von wiederkehrenden Mustern in den ›Domains‹ abhängig zu machen. ›Image schemas‹ sind universell-körperlich den verschiedenen kulturellen Varianten und der Artikulation in bestimmten Medien (wie der Sprache) vorgeordnet, aber nicht unabhängig von diesen Einflussgrößen. Lakoff und Johnson nennen dieses Quasi-Apriori »preconceptual«. Vgl. Lakoff 1987, S. 271ff. 114 Vgl. hier auch Johnson 2005, S. 27. 115 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 83f.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

Konzeptuelle Liebes-Metaphern wie ›Liebe ist eine Reise‹ sind von einer Vorstellung von Kraft beeinf lusst. Allerdings ist Kraft ein abstrakter Begriff. Die Vorstellung von Kraft wird im Geist als eine Bewegung in einem ›Image schema‹ repräsentiert, das kein ›mental image‹ ist, sondern bestimmte Eigenarten der Kraft regelhaft zusammenfasst und, typisch für ein ›Schema‹, auf eine Vielzahl von semantischen Situationen anwendbar macht.116 Bevor zur Diskussion der ›Image schemas‹ übergegangen wird, ist darauf hinzuweisen, dass die Ausführungen von Lakoff und Johnson in diesem Punkt noch eine wichtige Konsequenz haben. Schon in Metaphors We Live By fassen Lakoff und Johnson metaphorische Erkenntnis als ein Denken im Raum. Räumlichkeit und die metaphorische Inferenz gehören zusammen.117 In einer medienref lexiven Wendung bringen die Autoren ein Beispiel, das für den vorliegenden Kontext wichtig ist – und zwar das Beispiel einer Metaphorisierung des Mediums der Sprache anhand der Wahrnehmung ihrer verkörperten Form. Üblicherweise wird die Metapher als etwas verstanden, das als eine Operation in der Sprache vollzogen wird. Das ›Mapping‹ eines Ausgangsbereichs auf einen Zielbereich bezieht sich auf Inhalte, die von der Sprache ausgedrückt werden, also auf die Objektrelation des Zeichens. Lakoff und Johnson weisen darauf hin, dass konzeptuelle Metaphern sich aber nicht nur auf die Inhalte der Sprache beziehen können, sondern auch auf die externalisierte Form der Sprache. Mit der Form der Sprache ist die Sprache als ein wahrnehmbares, in Raum und Zeit verkörpertes, Geschehen gemeint, also z.B. als die hörbare Stimme oder die Sichtbarkeit der Schrift, mithin die Sprache in der Dimension der Materialität ihrer Zeichenträger. Die Autoren stellen fest: »Because we conceptualize linguistic form in spatial terms, it is possible for certain spatial metaphors to apply directly to the form of a sentence, as we conceive of it spatially. This can provide automatic direct links between form and content, based on general metaphors in our conceptual system.«118 Die materielle Form der Sprache, das heißt ihre ›Gestalt‹ im Klangbild der Stimme bzw. dem Schriftbild der Schrift, kann als eine Verlaufsform Einf luss auf metaphorische Bedeutung haben. Lakoff und Johnsons studieren dieses Phänomen am Beispiel von Varianten des englischen Worts ›conduits‹119 als einer Metapher für Sprache. Als eine ›Zusammenführung‹ (conduit) erscheint die Form der Sprache als ein ›Container‹, der einen Inhalt hat. Intuitiv plausibel ist es dann, dass umso mehr Form der Container hat, man umso mehr Inhalt erwartet. Dieses ›Mapping‹ ist in mimetischen Sätzen wie »Er rannte und rannte und rannte«, »Er ist sehr sehr groß«, »Sie ist riiiieesig« erkennbar. In solchen Fällen unterliegt die Form der Sprache der Funktion der ›Mehr Form ist mehr Inhalt‹-Metapher.120 Die verkörperte, materielle Aktualisierung einer medialen Form ist in diesem Fall der Gegenstand metaphorischer Bedeutungsanreicherung. Lakoff und Johnson vermuten, dass die Varianten von ›conduit‹ die Funktion

116 Vgl. allg. den Ansatz in Johnson 1987. 117 Einen guten, auch auf Lakoff/Johnson gestützten, Überblick über »Denkräume« in der Philosophie gibt Hoffstadt 2009. 118 Lakoff/Johnson 2003, S. 126. 119 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 127f. 120 Vgl. Lakoff/Johnson 2003, S. 127.

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übernehmen, zwischen Sprachform und Sprachinhalt eine Verbindung herzustellen und diese Verbindung ihrerseits durch das ›Image schema‹ ›Container‹ geregelt wird. Solche Metaphorisierungen über die Materialität des Mediums ziehen nicht nur den Inhalt der Form, sondern über die Form auch das Medium und seine Formatierungsleistung in die Anschaulichkeit. Konzeptuelle Metaphern betrachten nicht nur das, was im Container ist, sondern auch den Container selbst – und führen auf diese Weise den ›Kanal‹ des Mediums vor Augen. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass in jeder durch ein Medium aktualisierten Form, etwa einer sprachlichen Äußerung im Medium der Stimme, über die praktische Situation ihrer Aktualisierung auch das Medium eine Metaphorisierung erfahren kann. Konzeptuelle Metaphern können aus dieser performativen Dimension heraus in die Semantik zurückwirken. Deshalb funktioniert eine Metapher wie ›Wissen ist oben, Nicht-Wissen ist unten‹ auch dank der Qualitäten der Form ihrer Lautgestalt, z.B. als eine Frage mit steigendem Akzent. Aus solchen materiellen Metaphorisierungen schlagen viele ästhetische und rhetorische Praktiken Kapital, so auch die Formensprache des Films ( Kap. 7.1 u. 7.2). Dass dies von Lakoff und Johnson als Teil des Arguments verwendet wird, die Metapher müsse abstrakte Sachverhalte in räumliche Verhältnisse übersetzen, ist hier von großem Interesse. Es wirft die Frage auf, wie sich Bedeutung aus räumlichen Verhältnissen ergibt. Der entscheidende Satz lautet: »While some aspects of the meaning of a sentence are consequences of certain relatively arbitrary conventions of the language, other aspects of meaning arise by virtue of our natural attempt to make what we say coherent with our conceptual system.«121 In diesem Satz wird die Rolle der visuellen Wahrnehmung betont, andererseits das Argument eingeführt, dass diese Wahrnehmung eine natürliche Wahrnehmung sei, die nicht-arbiträr wäre. Dies erinnert an die alte Unterscheidung zwischen ›natürlichen‹ Wahrnehmungen und ›natürlichen‹ Zeichen, die unmittelbar (›direkt‹) auf ihre Objektive referieren und ›arbiträren‹ bzw. ›konventionalisierten‹ Zeichen, die mittelbar (›indirekt‹) auf ihre Objekte referieren. In Lessings Laokoon ist dies so gedacht worden, dass die natürliche Referenz als Eigenschaft der (räumlichen) Bilder und die arbiträre Referenz als Charakteristikum der (zeitlichen) Schrift gilt.122 Lakoff und Johnson argumentieren zwar am Beispiel der Sprache, ihr Argument gilt aber medienübergreifend. Metaphorisierung qua Form entsteht, wenn nicht die Struktur des Inhaltes, sondern die Struktur der Form zum Gegenstand einer metaphorischen Strukturanalogie wird.123 Metaphorisierung funktioniert zum einen als ›innere‹ Struktur des Inhaltes der Form, z.B. wenn man sagt, ›Seine Frau war näher an ihm als sein Assistent‹ und damit eine größere ›Wirksamkeit‹ nahelegt, und zum anderen als die Äußerung ›Er war riiiesig‹, die im skizzierten Sinne der ›Mehr Form ist mehr Inhalt‹-Metapher folgt. Die vorherrschende Einstellung ist die, dass die exteriore der spatialen Räumlichkeit untergeordnet wird. Lakoff und Johnson argumentieren hier also, dass konzeptuelle Metaphern ›exterior‹ und ›spatial‹ funktionieren können.124 121 Lakoff/Johnson 2003, S. 136, Hervorh. C.E. 122 Vgl. Wöpking 2016, S. 28f., zu Lessing auch Bauer 2005b, S. 55ff. 123 Die Metapher ist selbst oft den natürlichen Zeichen zugeordnet worden. Vgl. Strub 1998, S. 269ff. 124 Vgl. Heßler/Mersch 2009a, S.  26. Diese metaphorische Strukturanalogie ist auch bei der Begründung einer Filmtheorie der Metapher wichtig ( Kap. 7.1.4). Eine ähnliche Idee findet sich bei Roman

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5.2 Kinästhetische ›Image schemas‹125 Obwohl sie einen linguistischen Ursprung hat und ihr Material der Sprache entnimmt, ist die Kognitive Metapherntheorie eine perzeptive Theorie der Metapher. Dies wird deutlich, wenn man Phänomene wie Metaphorisierungen, wie im Fall der Metaphorisierung von Sprache über ihre Materialität, als eine Fokussierung der Wahrnehmung auf die Materialität eines Mediums begreift. Dies schließt eine Theorie der Schemata der Wahrnehmung ein. Die prototypische Struktur von Domains wird über die Inferenz der ›Basic-level categorization‹ erklärt. »[M]ental images, gestalt perceptions, motor programs, and knowledge structure«126 wirken zusammen. ›Basic-level categorizations‹ sind Ausbalancierungsprozesse bei der Einordnung von Perzepten. Dieser Prozess ist ein Prozess der Subsumtion unter und der Integration in die Domains. Dabei ist die Frage der Grenze einer Domain als Problem einer Einordnung eines concepts in eine Domain präsent: Was ist das Objekt und was gehört noch dazu und was nicht mehr? Ein Begriff, der zur Beschreibung dieses Prozesses geprägt worden ist, ist der des ›Image schemas‹.127 ›Image schemas‹ operieren auf Ebene der ›Basic-level Categorization‹, also der Inklusion/Exklusion in eine Domain. Ferner spielen sie eine Rolle in ›Mappings‹, speziell im Prinzip der Veranschaulichung, also der Konkretisierung abstrakter durch konkrete Domains. Johnson schreibt: »[I]mage-schemas are the recurring patterns of our sensory-motor experience by means of which we can make sense of that experience and reason about it, and that can also be recruited to structure abstract concepts and to carry out inferences about abstract domains of thought.«128 Erworben werden ›Image schemas‹ im Umgang mit Situationen und Objekten.129 Sie sind Teil dessen, was Lakoff und Johnson als implizites Wissen ansehen. »They are recurring patterns of organism-environment interactions that exist in the felt qualities of our experience, understanding and thought«130, so Johnson. Für die Diagrammatik sind die ›Image schemas‹ bedeutsam, weil sie aufzeigen, wie das ›Diagrammskelett‹ bzw. ›Struktur-Diagramm‹ mit implizitem Wissen verbunden ist. Diese Parallelität tritt zutage, wenn auch Johnson die Metapher des Skeletts für die ›Image schemas‹ verwendet. Wie Peirce warnt er davor, sich die ›Image Jakobson (1988) in Bezug auf eine unterstellte Diagrammatizität der Sprache (insb. der Syntax). Der Text ist in gekürzter Form auch enthalten in Schneider/Ernst/Wöpking 2016, S. 67ff. 125 Gedanken und Aspekte aus den vorliegenden Passagen finden sich in kondensierter Form in Ernst 2014c; Ernst 2015a; Ernst 2015b. 126 Lakoff/Johnson 1999, S. 27. 127 Ich konzentriere mich auf die wesentliche Literatur, insb. auf Hampe 2005b; Johnson 1987; Johnson 2005; Johnson 2007; Johnson 2011; Lakoff 1987; Lakoff 1990; Lakoff/Johnson 1999, Kövecses 2010, ein sehr guter Überblick ist Evans/Green 2009, S. 176ff., siehe auch Hampe 2005a. 128 Johnson 2005, S. 19, siehe auch Evans/Green 2009, S. 179ff. 129 Damit steht der Begriff in einer längeren Tradition, in der Schemata stets als im impliziten Wissen situiert begriffen wurden. Vgl. unter Rückgriff auf die klassischen Arbeiten von Frederic C. Bartlett hier auch Neisser 1996, S. 48ff. Neisser begreift kognitive Landkarten als »Orientierungsschemata«, die Bedeutung in räumlichen Begriffen organisieren und dabei nicht oder vergleichsweise spät explizierbar sind. Vgl. Neisser 1996, S. 89ff., zum impliziten Aspekt hier insb. S. 96f. Vgl. zur Schematheorie bei Neisser auch Bauer/Ernst 2010, S. 319ff. 130 Johnson 2005, S. 31. Vgl. auch Mandler 2011.

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schemas‹ in einem literalen Sinne als statische »skeletons« vorzustellen.131 Die ›Image schemas‹ seien »at once structural, qualitative and dynamic«132 und stünden mit beiden Beinen in den »felt qualities of our experience, understanding and thought«.133 Peirce deutet das ebenfalls an. Die Qualität des Denkbildes ist die einer ›Kraft‹, die zu Experimenten anregt. Diagrammatisches Denken schließt das Moment eines qualitativen Empfindens ein, das nicht zufällig in kinästhetischen Metaphern ausgedrückt wird.134 Wie Peirce und Eco hält auch Johnson die Verbindung von Schema und Einbildungskraft bzw. Imagination für dasjenige, was von Kants Philosophie »worth salvaging«135 sei. Begriff lich eng mit Kant verbunden, sieht Johnson die ›Image schemas‹ bei Kant und in der pragmatistischen Tradition vorgedacht. Das Denken besteht, wie Johnson im Anschluss an William James feststellt, aus Mustern von Relationen und Verknüpfungen. Veränderungen in diesen Mustern sieht man als Richtungsbewegungen des Denkens aber nicht nur rational. Man fühlt diese Übergänge. Das erinnert nachdrücklich an die ›Kraft‹, die im Diagramm als einem »bewegten Bild des Denkens« ausagiert wird.136 Dass Johnson auf Peirce in diesem Kontext nicht zu sprechen kommt, ist nicht verwunderlich. Johnson geht zwar von einer proto-logischen Struktur der ›Image schemas‹ aus. Der mathematische Rationalismus, ja der Logozentrismus der Diagrammatik-Diskussion ist ihm, anders als Lakoff, eher fremd.137 Die Kognitive Semantik konzentriert sich auf die kognitive Ebene und ihr körperliches ›grounding‹ im impliziten Wissen. Es ist jedoch leicht auszurechnen, wie der Ansatz von Johnson und Lakoff weitergedacht werden kann. Der Begriff der ›Image schemas‹ bildet auf der Ebene kognitiver Vollzüge einen mit dem impliziten Wissen und der sensomotorischen Struktur der Wahrnehmung verbundenen Schema-Begriff. Dieser beschreibt das für die Diagrammatik nötige implizite Wissen des ›verkörperten Bewusstseins‹. Man kann daher annehmen: Die ›Image schemas‹ sind kognitive Schemata des impliziten Wissens, die über eine Form metaphorischen Sehens in der Diagrammatisierung erster und zwei131 Vgl. auch Johnson 1987, S. 77, wo die Metapher des »Strukturskeletts« bzw. »Strukturgerüsts« von Rudolf Arnheim aufgegriffen und diskutiert wird. Vgl. hier auch Arnheim 1978, S. 89ff. 132 Vgl. Johnson 2005, S. 27f., hier S. 29. 133 Vgl. Johnson 2005, S. 31. 134 Ähnlich argumentiert Michael Tomasello. Er verhandelt den ›Image schema‹-Begriff im Kontext der der Semantik ikonischer Gesten und vertritt die These, dass diese Gesten »eine Art Zwischenstadium bei der menschlichen Kommunikation und beim Denken« darstellen, also zu den Grundbedingungen der Genese von Zeichen gehören. Insbesondere betont er die Bedeutung dieser Gesten, und damit indirekt den ›Image schemas‹, im Kontext des für das Denken so wichtigen Vorstellen von ›als ob‹-Szenarien, also der Imagination. Vgl. Tomasello 2014, S. 99ff., hier S. 98, S. 102, S. 115. Siehe zum Verhältnis von Geste und Diagramm insb. auch Tversky 2011; Tversky 2015; Tversky/Kesell 2014; filmtheoretisch anschlussfähig hier auch Müller/Kappelhoff 2018, insb. S. 147ff. ( Kap. 7.1.4). 135 Johnson 2005, S. 17. Vgl. zur Kant-Rezeption bei Johnson kritisch Gasperoni 2016, S. 303ff. 136 Vgl. zu den Zusammenhängen zwischen Peirce und James grundlegend Pape 2002. 137 Mit Ausnahme von Stjernfelt 2007 gilt das für fast alle Ansätze zur Diagrammatik. Allerdings muss man mit diesem Vorwurf vorsichtig sein. Es ist das eine, ob man, wie Mark Johnson, von kognitiven Schemata spricht, oder, wie etwa Shin 2002; Shin 2012; Shin/Lemon 2018 daran interessiert ist, das Repräsentationspotenzial von Diagrammen in der Logik aufweisen. Das Besondere, Schwierige aber auch Reizvolle des Peirce’schen Ansatzes ist es, beide Seiten aufeinander zu beziehen.

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ter Stufe dahingehend wirksam sind, als ihre logisch-diagrammatische Struktur auf einer präkonzeptuellen Ebene explizierende Aussagen präkonfiguriert, darin aber nicht transzendental ist, sondern praktisch.138 Ich verfolge diese These primär auf Ebene der Verschränkung von perzeptiver Diagrammatizität und Diagrammatisierung erster Stufe, wenngleich ich voraussetze, dass ›Image schemas‹ auch für die epistemische Evidenz in der Diagrammatisierung zweiter Stufe relevant sind. Eine vollständige Begründung ganzer abstrakter Symbolsprachen aus dem Geist des Embodiments, wie sie von George Lakoff und Rafael Núñez für die Mathematik versucht wurde, ist hier allerdings weder machbar noch beabsichtigt.139

5.2.1 Was sind ›Image schemas‹? Der Begriff der ›Image schemas‹ als aus der körperlichen Vorstrukturierung des kognitiven Bereiches entlehnter Begriff für kinästhetische Schemata, die in Metaphern wirksam sind, ist von Johnson in The Body in the Mind im großen Stil entworfen und teilweise gemeinsam mit Lakoff, teilweise individuell von den Autoren weiterentwickelt worden. Seit The Meaning of the Body versucht Johnson die Querbezüge dieses Begriffs in die pragmatistische Philosophie (James, Dewey) und in die Ästhetik auszuleuchten.140 Johnson versteht die ›Image schemas‹ als aus der Verbindung des Körpers mit der Umwelt hervorgehende »structures of sensorimotor experience by which we encounter a world that we can understand and act within«.141 Für Johnson sind die ›Image schemas‹ Teil eines Kontinuums, das von der verkörperten Kognition in die Bereiche »meaning-making, abstraction, reasoning, and symbolic interaction«142 führt. Der Begriff überschreitet die Grenze zwischen Natur und Kultur, ohne – wie Johnson betont – hinsichtlich der Erklärung von Bedeutung (nicht aber der methodischen Beschreibung) einen Bruch zwischen Natur und Kultur darzustellen.143 Über die Jahre hat Johnson den Erklärungsanspruch der ›Image schemas‹ besonders darauf zugespitzt, das abstrakte Denken zu erklären:

138 Vgl. hier mit anderer Schlussfolgerung auch Gasperoni 2016, S. 307: »Die nicht-propositionale Struktur übt eindeutig antizipatorische Funktion auf die propositionale aus […].« Vorgebracht wird das Argument, dass Johnson in methodischer Hinsicht transzendentalphilosophisch argumentieren würde, aber nicht entsprechend begründet werde und der Ansatz daher auf Ebene der empirischen Erkenntnis stecken bleibe. 139 Vgl. Lakoff/Núñez 2000, hier insb. S. 30ff. Vgl. dazu Giardino 2016, S. 93ff. 140 Vgl. Johnson 2007. Innerhalb der Kognitiven Semantik ist die Forschung zu den ›Image schemas‹ recht lebendig. Vgl. etwa Hampe 2005b. Es existiert aber keine vergleichbare Inventarisierungsmöglichkeit der ›Image schemas‹, wie sie für die konzeptuelle Metapher vorhanden ist (z.B. als strukturelle, ontologische und orientierende Metapher). Die Definitionsversuche für die ›Image schemas‹ sind eher kumulativ. Vgl. etwa Evans/Green 2009, S. 179ff. 141 Johnson 2007, S. 136. 142 Johnson 2007, S. 135f. 143 Vgl. Johnson 2007, S. 147ff.

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»Only when image-schemas are seen as structures of sensorimotor experience that can be recruited for abstract conceptualization and reasoning […] does it become possible to answer the key question: how can abstract concepts emerge from embodied experience without calling upon disembodied mind, autonomous language modules, or pure reason? Failure to recognize the nondualistic, mental-bodily reality of image-schemas would cause the collapse of the whole project of utilizing image-schematic logic to explain abstract thought.« 144 ›Image schemas‹ sind Teil des sensomotorischen Erfahrungsreliefs des Körperschemas, welches abstraktes Denken prägt.145 Im Laufe der Entwicklung der ›Image schemas‹ ist George Lakoff bis zu dem Argument vorgestoßen, Inferenzen, die sich propositional auf Konzepte wie Zeit, Zustände, Veränderungen, Kausalitäten, Ziele, quantitative Größen und Kategorien beziehen, seien notwendig auf ›Image schemas‹ angewiesen. Propositionen sind vorstrukturiert durch eine »inherent topological structure of the image-schemas mapped by metaphor onto concepts like time, states […].«146 Diese Überlegung mündet in eine weitreichende Grundthese: »Abstract reasoning is a special case of image-based reasoning.«147 Abstraktes Denken, sei es in den natürlichen Sprachen, sei es in der Mathematik, ist demnach von impliziten schematischen Inferenzen geprägt: »unconscious and automatic image-based processes such as superimposing images, scanning them, focussing on parts of them etc.«148 ›Image schemas‹ sind Schemata aus Teilen und den Relationen zwischen den Teilen, wobei sowohl die Teile als auch die Relationen auf unterschiedliche Gegenstände zutreffen können (Johnson nennt: Menschen, Dinge, Zustände, Quellen, Ziele bzw. kausale Relationen, temporale Relationen, räumliche Relationen wie Teil/Ganzes-Muster, relative Positionen, Agens-Patiens-Relationen, instrumentelle Relationen).149 Der ›Embodiment‹-Hypothese folgend, werden die ›Image schemas‹ als kinästhetische Schemata verstanden.150 Als kognitive Schemata sind ›Image schemas‹ mithin nicht abstrakt, sondern kinästhetische Relationenbilder mit der Eigenschaft einer Kraft.151 Wie auch in aktuellen Kognitionstheorien werden ›Image schemas‹ nicht als »rich images« verstanden.152 Ein ›reiches‹ mentales Bild wäre z.B. die Vorstellung eines Gesichts mit spezifischen Merkmalen (z.B. trockenen Lippen) und eine Leistung der reproduktiven Einbildungskraft. Ein ›Image schema‹ ist dagegen abstrakter, hat aber eine visuelle Gestalt und ist ein Phänomen der produktiven Einbildungskraft.153 Dabei sind diese Schemata, wie Johnson betont, nicht statisch, sondern dynamisch, 144 Johnson 2007. S. 141. 145 Vgl. Johnson 2007, S. 161f. 146 Lakoff 2011, S. 291. 147 Vgl. Lakoff 2011, S. 290f., hier S. 291. 148 Lakoff 1988, S. 149. 149 Vgl. Johnson 1987, S. 28. 150 Vgl. Lakoff 1987, S. 271ff., Johnson 2007, S. 139. 151 Vgl. Lakoff 1987, S. 271ff. 152 Vgl. Johnson 1987, S. 23ff. 153 Als Muster sind ›Image schemas‹ verräumlicht. Ihre Funktion als Regeln erfüllen die ›Image schemas‹, weil sie Transformationsmöglichkeiten von Relationen im Raum vorgeben. Ihr Raum ist ein ›mental space‹. Vgl. Johnson 1987, S. 25.

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sofern sie aus den Ordnungsaktivitäten in der Wahrnehmung hervorgehen: »A schema is a recurrent pattern, shape, and regularity in, or of, these ongoing ordering activities.«154 Lakoff führt in seinem zeitgleich mit Johnsons The Body in the Mind erschienenen Werk Woman, Fire and Dangerous Things fünf elementare ›Image schemas‹ ein: ›Container‹, ›Part-Whole‹, ›Link‹, ›Center-Periphery‹, ›Source-Path-Goal‹. Für jedes dieser Schemata gibt er ihre strukturellen Merkmale, ihre basale Logik (Proto-Logik) und Beispielmetaphern an. Ich möchte diese Darstellung von Lakof f aufgreifen und mit Ideen aus Johnsons Arbeiten parallelisieren.155 Zur Illustration der Schemata verwende ich die Beschreibungen und das Bildmaterial der Autoren. Ergänzt wird dies durch weitere Bilder aus der Forschungsliteratur zum Thema. Den Anfang macht das ›Container‹-Schema. Das ›Container‹-Schema ist das Berühmteste der ›Image schemas‹. Lakoff und Johnson kommen häufig darauf zurück.156 Lakoff gibt für das Schema folgende Merkmale an: • Strukturelle Elemente: Innen, Grenze, Außen • Basale Logik: Entweder drinnen oder draußen (P oder nicht P). Transitivität: Wenn A in Container B ist und X in Container A, dann ist X in Container B. • Typische Metaphern: Metaphern des visuellen Feldes (›in den Blick kommen‹), Metaphern des Bewusstseins ›im Bewusstsein sein‹).157 In seinem Aufsatz Cognitive Semantics, einer Kurzfassung der Thesen von Woman, Fire, and Dangerous Things, stellt Lakoff das ›Container‹-Schema als dynamische Schlusssequenz dar ( Abb. 19).158

154 Vgl. Johnson 1987, S. 29, sowie S. 30, wo der »dynamic character« noch einmal betont wird. Vgl. auch das Verständnis von Schemata bei Tomasello 2014, S. 48f. 155 Diese Gruppe gilt als das Standardinventar, an das alle weiterführenden Ansätze angeschlossen haben, auch wenn sie teilweise Gewichtungen und Sortierungen der Schemata vornehmen. Vgl. zur Diskussion die Beiträge in Hampe 2005b. 156 Vgl. u.a. Lakoff 1988, S. 141ff., Lakoff 2011, S. 274ff. Als kulturtheoretische Weiterführung dieser Logik kann hier Lima 2016, S. 32ff. gelesen werden, der die Qualitäten der Perfektion, Einheit, Bewegung und Unendlichkeit aus der ›universellen‹ Metapher des Kreises ableitet. 157 Hier übersetzt nach Lakoff 1987, S. 272f. Vgl. zudem Lakoff/Núñez 2000, S. 31ff. 158 Lakoff 1988, S. 142.

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Abb. 19: Die Dynamik des ›Container‹-Schemas nach George Lakof f. Quelle: Übersetzung und eigene Darstellung nach Lakof f, George (1988): »Cognitive Semantics«, in: Umberto Eco/Marco Santambrogio/ Patrizia Violi (Hg.): Meaning and Mental Representation, Bloomington, IN & Indianapolis, IN: Indiana Univ. Press, S. 119-154, hier S. 142.

Lakoffs Verwendung einer diagrammatischen Form der Darstellung der Container-Logik impliziert, dass die Logik der ›Image schemas‹ in der Erörterung dieser Schemata besser diagrammatisch als sprachlich vorgenommen werden kann.159 Die Funktion der ›Image schemas‹ in der diagrammatischen Darstellung wird charakterisiert als die Bewegung einer Schlussfolgerung, also als eine Abfolge der Form ›Wenn X in Container A ist und A in Container B, dann ist X in Container B‹. Die Bewegung macht die visuelle Operation einer Überblendung von Figur 1 und 2 im Übergang zu einer neuen Figur 3 notwendig. Diese Überblendung ist eine dreidimensionale Operation, die als Operation in einem abstrakten mentalen ›Raum‹ vorgenommen wird. Gesondert hervorzuheben ist, dass in dieser Darstellung das Schema ausdrücklich ›prozessual‹ gedacht wird. Wenn die ›Image schemas‹ einen Rückbezug zum Kant’schen Schema haben, dann sind sie in dieser Prozessualität regelhaft.160 Die ›Image schemas‹ sind gewissermaßen Ablauf-Regeln, wie die Gestalt eines Konzepts in einer Domain konfiguriert werden kann. Lakoff nennt dies die ›gestalt configuration‹ der Schemata. Von einer Qualität als ›Gestalt‹ zu sprechen, bedeutet, dass ein ›Image 159 Vgl. Lakoff 1987, S. 273; Evans/Green 2009, S. 180. 160 Johnson 1987, S. 18ff., S. 139ff. hebt dies stärker hervor als Lakoff, der eher auf kognitionspsychologische Autoren wie Ulric Neisser zurückgreift.

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schema‹ in seiner Bedeutung mehr ist als die Summe seiner Teile. Diese Gestalt ist die inhärente Bedeutung eines ›Image schemas‹.161 Sie wird in der Forschung als eine ›analoge‹ Form der holistischen Erfahrung, vergleichbar einer physischen Erfahrung oder einer Fähigkeit des impliziten Wissens, beschrieben. Von dieser ›analogen‹ Gestalt wird angenommen, sie sei nicht-propositionales Wissen, also nicht bruchlos in dass-Sätze paraphrasierbar. Ein Grund für diese Nicht-Propositionalität ist ihre Transformierbarkeit.162 Propositionen sind in einem ›digitalen‹ Sinne wahrheitsfähig, also wahr oder falsch. ›Image schemas‹ sind dynamisch und f lexibel. Sie prägen Bedeutung und einen propositionalen Gehalt erst aus.163 Die Regel einer solchen Gestalt-Konfiguration für das ›Container‹-Schema findet man in dem dargestellten Beispiel von Lakoff. Die ›Gestalt‹ erklärt sich nicht isoliert, sondern nur aus der Dynamik einer Transformationsfolge, die eine dreidimensionale Überblendung einschließt. In dieser Funktion konkretisieren die ›Image schemas‹ lexikalische Konzepte (also kulturell kodierte Zeichen). Das bekannteste von Johnson ausgearbeitete Beispiel ist die Bedeutung des ›Container‹-Schemas mit der Bedeutung von ›aus‹ (out).164 Johnson greift die strukturellen Elemente Innen, Grenze und Außen auf und zeigt, wie das Schema verschiedene Typen von Bewegungen des ›aus‹, also z.B. ›Herausgehen‹ oder ›Ausdehnen‹ prägt. ›aus‹ bzw. ›out‹ ist ein relativ abstraktes Konzept, das durch das ›Container‹-Schema strukturiert wird. Die Bedeutungsvariationen von ›aus‹ sind Variationen des ›Container‹-Schemas. Die Kognitive Semantik drückt das in der Weise aus, dass es zu einer Variation der Gestalt-Konfiguration kommt.165 Im Deutschen kann man zum Beispiel zwischen ›aus‹ im Sinne von ›Heraustreten‹ und ›Ausdehnen‹ unterscheiden. Vyvyan Evans und Melanie Green haben dies auf folgende anschauliche Darstellung gebracht (LM steht für Landmark, TR für Trajektorie) ( Abb. 20).166

Abb. 20: Varianten des ›Out‹-Schemas. Quelle: Eigene Darstellung nach Evans, Vvyan/Green, Melanie (2009): Cognitive Linguistics. An Introduction, Edinburgh: Edinburgh Univ. Press, S. 181f.

161 Vgl. Johnson 1987, S. 42ff., S. 62ff. 162 Vgl. Johnson 1987, S. 27. Vgl. zur philosophischen Diskussion um propositionales und nicht-propositionales Wissen die logisch orientierten Überlegungen bei Schildknecht 1999 sowie die historischen Überlegungen zu Platon bei Wieland 1982, S. 224ff. 163 Dem liegt die These zugrunde, dass alles propositionale Wissen auf nicht-propositionalen Voraussetzungen aufbaut. 164 Vgl. Johnson 1987, S. 32f. 165 Evans/Green 2009, S. 180ff. 166 Evans/Green 2009, S. 181f.

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In der Leserichtung von links nach rechts steht links das Ausgangsschema von Container, dann folgt die Gestalt-Form von ›Heraustreten‹ und die Gestalt-Form von ›Ausdehnung‹. Die Variation von ›Image schemas‹ ist eine dynamische Arbeit mit Gestalten, deren Prinzipien aus der ›Embodiment‹-Hypothese folgen. Aus der körperlichen Interaktion mit der Umwelt, was die Beobachtung von Phänomenen in der Umwelt einschließt, werden präkonzeptuelle Bedeutungsmuster angelegt, welche die Form von ›Image schemas‹ haben. Lakoff sieht diese Logik als »different from the way of understanding logical structure that those of us raised with formal logic have grown to love. In formal logic there are no such gestalt configurations«.167 Das körperliche In-der-Welt-Sein gibt Akten der semiotischen Bezugnahme eine Logik mit, welche in den ›Image schemas‹ als regelhafte Logik der Gestalt-Struktur aber auch Gestalt-Konstruktion wirksam ist. Von dieser Logik nimmt Lakoff an, dass sie auch in materiell realisierten Darstellungssystemen wie der Mathematik wirksam ist.168 In der Mathematik existiert eine anschauliche Substruktur, die eine aus körperlichen Interaktionen mit der Umwelt gewonnene basale logische Form aufweist. Johnson unterstreicht dieses Argument: »[O]ur notion of abstract (purely logical) rationality might be based on concrete reasoning that makes use of image-schematic patterns and metaphorical extensions of them.«169 Dies rechtfertigt es, zu vermuten, dass auch Diagramme mit ›Image schemas‹ interagieren. Die Explikationen dieser Substruktur, wie sie die Diagrammatik durch die Anlage eines visuellen logischen Darstellungssystems wie z.B. Peirces Existenziellen Graphen vornimmt, wären demzufolge als visuelle Systeme durch die Körperlichkeit der Welterfahrung semantisch (mit)motiviert. Wie diese aus der ›Embodiment‹-Hypothese hervorgehende Logik entstehen soll, erklärt Johnson in Bezug auf das ›Container‹-Schema so: »[…] consider what follows if your car keys are in your hand and you then place your hand in your pocket. Via the transitive logic of Containment, the car keys end up in your pocket. Such apparently trivial spatial logic is not trivial. On the contrary, it is just such spatial and bodily logic that makes in possible for us to make sense of, and to act intelligently within, our ordinary experience.« 170 Die Transitivität des ›Container‹-Schemas entsteht in solchen kleinen Handlungssituationen, wird dann aber für das Verständnis von Zugehörigkeit grundlegend. Deshalb gibt es für Lakoff und Johnson einen Einf luss einer im impliziten Wissen situierten körperlichen ›Logik‹ und den ›Logiken‹ abstrakter Darstellungssysteme: »There is no disembodied logic at all. Instead, we recruit body-based, image-schematic logic to perform abstract reasoning.«171

167 Lakoff 1987, S. 272. 168 Vgl. Lakoff/Núñez 2000. 169 Johnson 1987, S. 64, das gleiche Beispiel wird verwendet in Johnson 2007, S. 139. 170 Johnson 2005, S. 22. 171 Johnson 2007, S. 181.

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5.2.2 ›Image schemas‹ als kinästhetische Relationen Die ›Image schemas‹ gewinnen ihre Bedeutung aus wiederkehrenden, sensomotorischen Wahrnehmungszusammenhängen. Diese Schemata sind dem impliziten Wissen zuzurechnen. Johnson stellt fest, dass ein ›Image schema‹ »operates beneath the level of our conscious awareness, although it also plays a role in our discrimination of the contours of our bodily operation and experience«.172 Diese These redet – das ist erneut zu betonen – keinem universalistischen Internalismus das Wort: »[I]mage-schemas are not to be understood either as merely ›mental‹ or merely ›bodily‹, but rather as contours of what Dewey called the ›body-mind‹.«173 Mark Johnsons These ist holistisch. Es gibt ein Kontinuum zwischen dem Denken und dem körperlichen Handeln (Laufen, Sehen, Greifen etc.). Die Frage, wie Denken und Handeln zusammenwirken, ist falsch gestellt, wenn sie als Interaktion zweier distinkter Sphären diskutiert wird. Diese Interaktion muss stattdessen als die Einheit eines Prozesses gedacht werden. Dieser pragmatistische Grundgedanke lässt sich für die Diagrammatik bis in Peirces Idee zurückverfolgen, die Diagrammatik als eine Ref lexion der Wahrnehmung zu verstehen, in der in der Wahrnehmung immer schon Denken und Handeln mitimpliziert sind. Wie argumentiert worden ist, ist der ›Ground‹ des Zeichens bei Peirce so konzipiert ( Kap. 3.1.3), dass er als »Art von Idee« mit dem ›Diagrammskelett‹ bzw. ›Struktur-Diagramm‹ in Verbindung steht ( Kap. 3.2.1). Der Ground ist das Vorfeld der Bildung des unmittelbaren Objektes durch das Repräsentamen, in dem durch ein ›Absehen-von‹ (»prescision«) die Selektion von durch das Repräsentamen verkörperten Qualitäten vorgenommen wird.174 »Der Ground […] ist ein ›initialer‹ Modus, das Objekt in einer Hinsicht zu betrachten«175, also der Übergang von (extrasemiotischem) dynamischem Objekt in das (intrasemiotische) unmittelbare Objekt. Umberto Ecos Aussage, man müsse den Begriff des mentalen Bildes aufgeben, dieser Begriff käme aber der Sache am nächsten,176 würden sowohl Johnson als auch Lakoff bestätigen. Ähnliches darf semiotisch für den Übergang von dynamischen zum unmittelbaren Objekt angenommen werden. Eco denkt dies im Anschluss an Peirce als indexikalisches Geschehen, also als den Kontakt mit der präsemiotischen Materialität. Die ›Image schemas‹ sind nicht identisch, liegen aber auf der gleichen Ebene wie der Ground und folglich auch wie das Diagrammskelett. Indexikalität ist ein wichtiges Stichwort und die Explikation des ›Force‹-Schemas ein gutes Beispiel. In The Body in the Mind schreibt Johnson:

172 Johnson 2005, S. 22. 173 Johnson 2005, S. 22. Vgl. zu einer solchen präreflexiven Ebene der Konstitution von Bedeutung aus dem Embodiment auch Määttänen 2015, S. 44ff., hier S. 44: »Of course, the cultural layer of meanings has an impact on tacit meanings, but tacit meanings are genetically earlier, not so conventional, and in this sense more fundamental.« Und einige Seiten später (S. 49f.) heißt es: »Tacit meanings don’t have syntax in the same sense as natural language, but the system has a certain kind of structure. It consists of structured (schematic, habitual) activity of living organisms in the three-dimensional structure of the physical everyday world.« 174 Vgl. Eco 2000, S. 76f. 175 Eco 2000, S. 79. 176 Vgl. Eco 2000, S. 125.

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»First, force is always experienced through interaction. We become aware of force as it affects us or some object in our perceptual field. When you enter an unfamiliar dark room and bump into the edge of a table, you are experiencing the interactional character of force. When you eat too much the ingested food presses outward on your tautly stretched stomach. There is no schema for force that does not involve interaction, or potential interaction.« 177 Was Johnson als ›interaction‹ bezeichnet, ist durch Indexikalität gekennzeichnet: Interaktion ist eine kausale Wirkung, die dynamisch als Kraft gedacht ist. Für meine Begriffe ist das ein Hinweis, dass eine Beziehung zwischen diesem Aspekt der ›Embodiment‹-Hypothese und der semiotischen Idee eines Übergangs zwischen dynamischem und unmittelbarem Objekt besteht, oder präziser: dass es semantische Muster gibt, die über die körperliche Welterfahrung in die semiotische Organisation dieses Übergangs mit hineinspielen. ›Image schemas‹ fungieren als Schemata nicht nur an der Grenze zwischen Kognition und Semiose, sondern aus der Verf lechtung von Kognition und Semiose heraus. Die ›Image schemas‹ ersetzen die semiotische Begriff lichkeit also nicht, sie ergänzen sie. Peirces Diagrammskelett und das ›Image schema‹ der Kognitiven Semantik adressieren ein vergleichbares theoretisches Problem. Generell ist das ›Force‹-Schema von großem Interesse. ›Force‹ ist ›Kraft‹. Unter der Prämisse einer Linie zwischen dem Schema (Kant) bzw. Diagrammskelett (Peirce) und den ›Image schemas‹ (Johnson/ Lakoff) ist es deshalb keine Spekulation mehr, anzunehmen, dass die Kraft, die ein Diagramm im Denkbild entfaltet, eine protosemiotische, logische Vorstrukturierung des Zeichens meint. Die Semiotik gewinnt so einen Rückbezug zu implizitem Körperwissen.178 Bei Peirce ist die Kraft auf der Ebene des präkonzeptuellen bzw. protosemiotischen Schemas nicht ausreichend beschrieben. Peirce sagt zwar, dass diese Kraft eines Denkbildes in dem Ausagieren seiner Transformationsmöglichkeiten – also seiner Rekonfiguration –, als Einf lussgröße mitwirkt. Dass diese Kraft aus implizitem Wissen hervorgeht und die ›Evidenzkraft‹ logischer Schlüsse motiviert, dafür lässt er aber nur die theoretischen Anschlüsse. Das Wirken der ›Kraft‹ im Diagramm ist ein aktiv-passives Geschehen, in dem nicht identifiziert werden kann, ob das Diagramm auf das Denken wirkt oder das Denken auf das Diagramm. Sowohl als aktiv als auch als passiv zurechenbar zu sein ist ein Merkmal von Schemata.179 Deshalb schreibt Peirce, es handele sich um eine immersive Erfahrung ( Kap. 3.3.1), die als Evidenzerfahrung gedacht wird. Der Begriff der Kraft ist ein Begriff für eine Relation, eine Beziehung. Der Dualismus zwischen aktiv denkendem und passiv ausgeliefertem Subjekt hebt sich auf, wenn eine in den Relationen erkannte Schlussfolgerung eine ›zwingende‹ Bewegung des Denkens durch den Möglichkeitsraum des Diagramms ist. In der ›Kraft‹ überschreitet sich das schlussfolgernde Denken in einer Bewegung, in der es durch das Diagramm ›mitgenommen‹ 177 Johnson 1987, S. 43. 178 Määttänen (2015) hat andeutungsweise versucht, dies mit Peirce zu begründen, seine Überlegungen bleiben aber – und das ist m.E. auch nicht verwunderlich – Fragment. Dementsprechend sind semiotische Ansätze in der Filmtheorie auch immer nur Ansätze von begrenzter Reichweichte. Vgl. Buckland 2007, S. 28ff. 179 Vgl. auch Winkler 2012.

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wird. Es wird vom Medium mitermöglicht. Der Dualismus zwischen Geist und seiner materiellen Verkörperung wird überwunden, weil der Gedanke sich als Vollzug im Diagramm formt. Was Peirce für die Bewegung einer Schlussfolgerung denkt, findet sein Äquivalent im Insistieren der Kognitiven Semantik auf den nicht-propositionalen Gestaltqualitäten von ›Image schemas‹. Die ›Image schemas‹ erklären, warum die Gestalt einer Schlussfolgerung als epistemische Evidenz eine ›Kraft‹ ist. Eine Konkretisierung dieses Aspektes kann mit dem ›Force‹-Schema vorgenommen werden, wie es Johnson in The Body in the Mind diskutiert. Johnson sieht das ›Force‹-Schema als ein Schema an, das etwas über die »internal structure of these experiential schemata«180 sagt, also als ›Kraft‹ eine Eigenschaft der Schemata ist. Erarbeitet werden sieben Varianten bzw. Ausprägungen des ›Force‹-Schemas, von denen hier exemplarisch das ›Removal of Restraint‹-Schema abgebildet wird ( Abb. 21).181

Abb. 21: ›Removal of Restraint‹ als eine der Varianten des ›Force‹-Schemas. Quelle: Eigene Darstellung nach Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 52.

Im Einklang mit Kant (und Peirce) hebt auch er hervor, dass die ›Image schemas‹ prozessual zu denken sind, also als eine »continuous structure of an organizing activity«.182 Für alle diese Varianten des Schemas gilt, dass sie die Eigenschaften von ›Force‹ erfüllen. Diese Eigenschaften sind Entstehung durch Interaktion, Angabe eines Vektors bzw. einer Direktionalität, eine Ursprung-Ziel-Relation, welche ein Agens und ein Patients identifizierbar macht, eine qualitative Einschätzung der Intensität und die Kausalität einer Wirkungsrelation.183 Diese Aspekte sind Eigenschaften von ›Image schemas‹, und zwar aller ›Image schemas‹. Während das ›Container‹-Schema durch die Aspekte Innen, Grenze, Außen eine Logik hat, explizieren die Force-Diagramme die Aspekte Bewegung, Interaktion oder Intensität der Bewegung. Johnson deutet diese These an, indem er davon ausgeht, dass eine notwendige Schlussfolgerung, um die es ja auch Peirce geht ( Kap. 3.3), wie folgt beschrieben werden muss: »If the force of logic operates to move you to a certain ›place,‹ then you wind up in that place.«184 Dem entspricht diese Form: »☐P→P (›If P is logically neces180 Johnson 1987, S. 41. 181 Vgl. Johnson 1987, S. 45ff. 182 Johnson 1987, S. 29. 183 Vgl. Johnson 1987, S. 43f. 184 Johnson 1987, S. 64.

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sary, then P is true.‹)«.185 Johnson versteht diese Bewegung als eine räumliche Logik im Geiste des ›Container‹-Schemas. Die Kraft bewegt einen ›Schließenden‹ von einem Ort an einen anderen, in diesem Fall eine zwingende Kraft, die in einen Container führt. Wenn die Innen/Außen-Logik des ›Container‹-Schemas gilt, dann muss Nicht-P außerhalb des Containers liegen. Wenn es nicht zwingend ist, dass falsch P falsch ist, dann ist es möglich, dass P wahr ist: »∼☐∼P→♢P (›If it is not logically necessary that P is false, then it is logically possible for P to be true‹)«.186 Das heißt, dass eine Möglichkeit gegeben ist, wenn es keinen Hinderungsgrund (keine starke Kraft) gibt, welche die Möglichkeiten einschränkt. Eine Schlussfolgerung ist, wie auch Peirce schreibt, die Kraft einer Bewegungssequenz.

5.2.3 Transformationen von ›Image schemas‹ Eine der bereits in der Vorstellung des ›Container‹-Schemas angedeuteten Annahmen von Lakoff und Johnson ist, dass ›Image schemas‹ so weit transformiert werden können, dass sie in ein neues Schema übergehen, etwa das ›Count‹-Schema beim Zählen einzelner Kühe in das ›Mass‹-Schema, bei dem die Kühe als gesamte Herde wahrgenommen werden.187 Diese Transformationen haben Prinzipien, die für die Diagrammatisierung erster Stufe von Bedeutung sind, im genannten Beispiel etwa Verallgemeinerung und Spezifikation.188 Für die Variation von Schemata zum Zweck ihrer Rekonfiguration ist dies ein wichtiger Theoriezusammenhang. Johnson hat im Anschluss an Lakoff vier solcher Transformationsprinzipien hervorgehoben.189 Sie werden als »ability to manipulate abstract structure in mental space«190 beschrieben. Alle diese vier Operationen können jedoch als Ableitungen aus einer basalen Operation gesehen werden, nämlich Rotation and Variation als der Fähigkeit, Vorstellungsbilder (mental images) vor dem inneren Auge multiperspektivisch zu ›rotieren‹ und ihre Form zu ›variieren‹.191 Nach diesem Prinzip werden bei Johnson folgende vier Transformationsprinzipien exemplarisch benannt, die ich hier referiere und kommentiert übersetze:192 Superimposition Die Überblendung zweier Objekte, deren Eigenschaften erhalten bleiben und entweder in einer Form aufgelöst oder aber in Differenz zueinander gesehen werden (z.B. ein Quadrat in einem Kreis).

185 Johnson 1987, S. 64. 186 Johnson 1987, S. 64. 187 Vgl. Lakoff 1987, S. 428. Vgl. dazu Evans/Green 2009, S. 186. 188 Vgl. Evans/Green 2009, S. 187. 189 Vgl. Lakoff 1987, S. 416ff.; Lakoff 1988, S. 144ff. 190 Johnson 1987, S. 26. 191 Vgl. Johnson 1987, S. 104. 192 Vgl. Johnson 2007, S. 26.

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Path-Focus to End-Point-Focus Dem Pfad eines Objektes bis zu dem Punkt folgen, wo es zur Ruhe kommen wird (z.B. das Ausrollen eines Autos nachvollziehen). Multiplex-to-Mass Im Blick auf eine Gruppe von Objekten (Multiplex = identifizierbare einzelne Entitäten) den Fokus so erweitern, dass aus Einzelobjekten eine Masse wird und wieder zurück (z.B. eine Kuh in Relation zur Herde). Following a Trajectory Die Einschätzung eines bewegten Objektes in Bezug auf die Trajektorie seiner Herkunft und seines Zielpunktes (z.B. die Flugbahn eines Geschosses).193 Transformationen of ›Image schemas‹ wie diese versteht Johnson als »non-propositional schematic operations (at) a level of abstraction above that of rich images«.194 Sie sind »analogs of spatial operations«.195 Lakoff ergänzt, dass diese Transformationen »anything but arbitrary« seien, sondern »direct ref lections of our experiences, which may be visual or kinaesthetic«.196 Und Johnson stellt sich die Frage, wie diese Möglichkeiten zustande kommen. Er erklärt dies aus einer Strukturierung der Wahrnehmung im Hinblick auf »alternative actions open to us in a given situation«197. Die Bedeutung von als ›alternativen Möglichkeiten‹ wahrgenommenen abstrakten Möglichkeiten ist durch Schemata körperlicher Handlungsmöglichkeiten vorstrukturiert.198 Doch sind derartige Transformationen von ›Image schemas‹ auch bereits diagrammatische Operationen erster und zweiter Stufe? Mit Johnson ist das klar zu Verneinen. Seine kühle Bemerkung in dieser Frage lautet: »schemas are not diagrams on a page«199, und an anderer Stelle wird deutlich festgestellt: »The visual diagram is only a distorting image of the actual schema, which is the pattern in some particular experience.«200 Ausführlicher hieß es bereits zuvor: »There is a temptation to draw diagrams of the relevant schemata as a way of suggesting intuitively how they operate preconceptually. […] Such diagrams are particularly helpful in identifying the key structural features of the schemata and in illustrating their internal relationships. It is extremely important, however, to recognize the way in which all diagrams of schemata are misleading; in particular, they tend to make us identify embodied schemata with particular rich images or mental pictures.«201 Johnsons Abgrenzung bestätigt damit aber einen wichtigen Punkt: Es ist zu unterscheiden zwischen einem impliziten Schema auf Ebene perzeptiver Diagrammatizität, einem Diagramm und einem Denkbild, das in diesen Zeichen entsteht und als 193 Vgl. Johnson 1987, S. 26. 194 Johnson 1987, S. 25f. 195 Johnson 1987, S. 104. 196 Lakoff 1987, S. 443. 197 Johnson 1987, S. 49. 198 Vgl. Johnson 1987, S. 50. 199 Johnson 1987, S. 79. Vgl. auch Gasperoni 2016, S. 304. 200 Johnson 1987, S. 33. 201 Johnson 1987, S. 22f.

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denkende Operation im Diagramm einen Rückbezug zu impliziten Schemata unterhält. Johnson sagt, dass ein Diagramm das Schema nicht angemessen repräsentieren kann, weil dieses implizit sei. Dieses Diagramm habe in Bezug auf die Schemata aber dennoch besondere Evidenzkraft (»suggesting intuitively how the operate preconceptually«). Das Diagramm sei aber nicht das Schema, sondern ein Denkbild (im Status eines »mental pictures«), das im Diagramm entsteht. Die (semiotische) Kategorie des Diagramms sei also als diskursives Evidenzverfahren (in wissenschaftlichen Texten) hilfreich, wenn es darum gehe, strukturelle Eigenschaften und interne Relationen von Schemata zu explizieren (»identifying«) und dabei intuitiv (Lakoff spricht von »direct«), also im Modus epistemischer Evidenz, zu veranschaulichen, wie das implizite Schema prozessual operiert, es also im Diagramm als Denkbild nachvollziehbar zu machen.202 Der letzte Schritt, der zurück zur These doppelter Metaphorisierung führt ( Kap. 3.3.5), fehlt allerdings bei Johnson. Dieser Schritt würde die Form der Relation von Identität mit dem Schema und der Differenz zum Schema im Diagramm als ›metaphorische‹ Relation beschreiben. Eine derartige doppelte Metaphorisierung war eine wichtige Prämisse dafür, von einer Diagrammatisierung erster Stufe zu sprechen. Doch finden sich bei Johnson und Lakoff nicht vielleicht Gründe dafür, der Metapher einen derartigen Status zuzusprechen?

5.2.4 ›Image schemas‹ und Metapher Wenn man die Funktion von ›Image schemas‹ in Metaphern beachtet, dann gibt es Grund zu dieser Annahme. ›Image schemas‹ haben im konzeptuellen System nämlich eine Schlüsselfunktion in der Strukturierung von metaphorischen ›Mappings‹: »[…] image-schemas (operating within conceptual metaphor) make it possible for us to employ the logic of our sensorimotor experience to perform high-level cognitive operations for abstract entities and domains. The resources of our bodily experience are appropriated for abstract thinking.«203 ›Image schemas‹ organisieren, mit anderen Worten, das metaphorische ›Mapping‹ zwischen Ausgangs- und Zielbereich und zwar insbesondere bei abstrakten Sachverhalten.204 Am Prozess des Entwurfs und der Konkretisierung von Metaphern sind sie entscheidend beteiligt. Entsprechend formuliert Lakoff an anderer Stelle die Überlegung, dass bereits die generic-level-Metaphern sich auf ›Image schemas‹ stützen: »[…] the way to arrive at a generic-level schema for some knowledge structure is to extract its image-schematic structure.«205 Die ›Image schemas‹ sind das ›Skelett‹ konzeptueller Metaphern, die auf dem »generic-level« sogar deckungsgleich mit konzeptuellen Metaphern werden. Im Rahmen des sogenannten

202 Einen ähnlichen Punkt macht auch Michael Tomasello (2014, S. 34f., hier S. 35). Er weist darauf hin, dass die logische Struktur jener Schemata, die Simulation und Schlussfolgerung auf Grundlage von Schemata ermöglichen, keine Struktur im Sinne der formalen Logik sind, sondern einer körperlich-kausalen. Diese Struktur kann im Rahmen einer »theoretischen Metasprache« der »ikonischen Diagramme« reflektiert, aber nicht abgebildet werden. 203 Johnson 2007, S. 184, Hervorh. C.E. 204 Vgl. auch Kövecses 2010, S. 37f. 205 Lakoff 2011, S. 297.

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»Invariance Principles« wird dies Ihre Relevanz für metaphorische ›Mappings‹ erläutert.206 Diesem Prinzip zufolge gilt grundsätzlich, dass nicht alle Eigenschaften eines Ausgangsbereichs in einer Metapher auf einen Zielbereich bezogen werden. Die Strukturen des Ausgangsbereichs und Zielbereichs interagieren, wobei die ›Image schemas‹ die Übertragung von Eigenschaften von dem Ausgangs- in den Zielbereich regulieren, indem sie die Struktur der Domains erhalten: »Metaphorical mappings preserve the cognitive topology (that is, the image-schema structure) of the source domain, in a way consistent with the inherent structure of the target domain.«207 Und: »The Invariance Principle hypothesizes that image-schema structure is always preserved by metaphor.«208 Folgt man diesen Überlegungen, dann wird der Ausgangs- auf den Zielbereich in einer solchen Weise bezogen, dass beispielsweise eine ›Überblendung‹ entsteht, die wie in einem Doppelbild die Struktur beider Bereiche (Domains) aufeinander abbildet, dabei aber die Struktur der Bereiche erhält, damit aber eine Menge an Möglichkeiten virtualisiert: »To say that image-schemata ›constrain‹ our meaning and understanding […] is to say that they establish a range of possible patterns of understanding and reasoning.«209 Metaphern funktionieren über kopräsente Domains, die mithin auf mögliche Ähnlichkeiten und Unterschiede hin beobachtet und ›überblendet‹ werden. Die Überblendung ist die Operation, die Identität und die Differenz zwischen Ausgangs- und Zielbereich im metaphorischen Doppelbild reguliert.210 Aktualisiert wird die Relation A als B unter Bedingung der Prämisse, dass A B ist. Eine Metapher wie ›Liebe ist eine Reise‹ identifiziert den Zielbegriff ›Liebe‹ (A) mit den Eigenschaften eines Ausgangsbegriffs, der den Zielbegriff im Lichte seiner eigenen Eigenschaften, der ›Reise‹ (B), verständlich macht. ›Liebe‹ und ›Reise‹ bleiben in ihrer strukturellen ›Gestalt‹ identifizierbar (Invarianzprinzip). Dennoch stehen sie in einem asymmetrischen Verhältnis, in dem die abstraktere Domain (Liebe) die konkretere Domain (Reise) veranschaulicht (Prinzip der Veranschaulichung). Infolgedessen sind ›Image schemas‹ solche Schemata, die über die Metapher auch in explizite Ref lexionen einwirken können. Das heißt aber auch: Die Metapher ist diejenige Größe, in der Schemata an die kulturelle Oberf läche kommen.211

206 Diese Rolle der ›Image schemas‹ wird in der Kritik, die Pinker 2014, S. 312ff. an Lakoff und Johnson übt, der Sache nach beschrieben, aber nicht beachtet. Aufschlussreich ist gleichwohl Pinkers Adaption der Metapherntheorie auf wissenschaftliche Analogiebildungen. 207 Lakoff 2011, S. 277. 208 Lakoff 2011, S. 278. Siehe auch Kövecses 2010, S. 131. 209 Johnson 1987, S. 137. 210 George Lakoff grenzt das von einem mathematischen Verständnis von ›Mapping‹ ab. Vgl. Lakoff 2011, S. 272, S. 280ff. Metaphorische ›Mappings‹ werden in der Wissenschaftssprache oft propositional ausgedrückt. Sie treffen Aussagen, die, so die klassische Einschätzung der Sprechakttheorie (Searle 1983), in ›dass-Sätzen‹ paraphrasierbar sind. Nur weil die Namen in der Wissenschaftssprache propositional sind, heißt das aber nicht, dass es die ›Mappings‹, also die Prozesse der Bezugnahme zwischen den Domains, auch sind. Vgl. Lakoff 2011, S. 269. Das propositionale ›ist‹ ermöglicht es, ›Liebe‹ so zu behandeln, als ob sie eine ›Reise‹ wäre, ohne dass man merkt, dass es sich um ein ›als ob‹ handelt. Dieses ›als ob‹ ist das habitualisierte Sediment einer abduktiven Hypothese. Vgl. auch Lakoff 2011, S. 269; Kövecses 2010, S. 33. 211 Vgl. Johnson 1987, S. 85.

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Wenn ›Mappings‹ aktiviert werden, erzeugen sie Inferenzen, die für sich als Ablauf-Regeln bzw. Bewegungssequenzen wie im paradigmatischen Fall der Überblendung (superimposition) gedacht werden müssen.212 Somit spielt die über ›Image schemas‹ organisierte metaphorische Basisrelation des ›Mappings‹ auch in das semiotische Verständnis von Metaphern hinein. Im Anschluss an Christian Strubs Ausführungen zum Metaphernbegriff von Peirce ist von einer Erweiterungs- und einer Vertiefungsdimension der Metapher zu sprechen ( Kap. 3.3.5). Nicht alle Eigenschaften von Ausgangs- und Zielbereich passen aufeinander.213 Ein ›Mapping‹ provoziert als Überblendung ein Parallelbild von Identität und Differenz in einem metaphorischen ›Sehen-als‹, also einem ›A als B‹ unter der Prämisse, das ›A B ist‹. Die Metapher hält Identität und Differenz parallel präsent und macht sie in einem Prozess des Abwägens ›passgenau‹.214 ›Image schemas‹ erhalten ihre Funktionen in diesem impliziten Gefühl für ›passgenaue‹ Angemessenheit auch unter semiotischen Bedingungen.

5.3 Metaphorisches Sehen und Diagrammatisierung erster Stufe Der perzeptive Begriff von Metapher sichert der Kognitiven Metapherntheorie ein Anwendungsfeld auch jenseits der Sprache, so in der Kunst-, Bild- und der Filmwissenschaft.215 Wie Charles Forceville argumentiert, ist der wahrnehmungsbasierte Begriff der Metapher von Lakoff und Johnson Anlass, darüber nachzudenken, wie die kognitive Metapher auch für andere Medien nutzbar gemacht werden kann.216 Ausgearbeitet wird das von diesen Autoren nicht. Johnson hat den Versuch unternommen, eine über das Embodiment begründete Ästhetik zu entwickeln und die Musik diskutiert.217 Eine medienspezifische Differenz auditiver Metaphern, die im Kontrast zum metaphorischen Sehen und zu Bildmetaphern oder filmischen Metaphern stehen würde, bleibt aber außen vor. Was ist mit ›metaphorischem Sehen‹ gemeint? Erinnert sei an das Beispiel von Frederik Stjernfelt zu August Kekulé, wenn Kekulé die Möglichkeit der Beschreibung der Anordnung der Kohlenstoffatome von Benzol als Benzolring entdeckt ( Kap. 2.2.8).218 Kekulé schildert, wie er vor einem Feuer saß und sah, wie die Flammen einen Feuerring gebildet haben. Dies erinnerte ihn an die mythologische Gestalt des Ouroboros, einer Schlange, die sich in den Schwanz beißt und so einen Ring bildet. Infolgedessen

212 Die visuelle Metaphorik wird auch im Anschluss an Gilles Fauconniers und Mark Turners Theorie des »cognitive blendings« adaptiert. Dieser Ansatz ist eine weitere Tradition, die sich der Metapher der Mischung bzw. Vermischung bedient. Vgl. Fauconnier/Turner 2002. 213 Vgl. Strub 1994, S. 231f. 214 Vgl. Strub 1994, S. 231f. 215 Vgl. z.B. Fahlenbrach 2010; Greifenstein et al. 2018; Müller/Kappelhoff 2018 ( Kap. 7.1.4). 216 Vgl. Forceville 2008, S. 462f. 217 Vgl. Johnson 2007, S. 235ff. Hier wäre eine weiterführende Diskussion mit der Semiotik interessant. Vgl. Brunner 2009. 218 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 102.

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dachte Kekulé die Anordnung der Atome im Benzolmolekül nicht als Kette, sondern als Ring.219 Ich möchte hier nochmals zitieren, was Stjernfelt dazu schreibt: »That discovery thus formed a spontaneous case of diagrammatical reasoning, realized in the shape of metaphors. The flame was taken as a metaphor of the snake which, in turn, was taken as a metaphor of the carbon chain – a structure of metaphors held together by the common diagram of a piece of line, able to bend. The spontaneous diagram experiment argued that the Carbon chain, just like a snake, was able to form a ring, and subsequent chemical analysis corroborated the idea, leading to a major breakthrough in organic chemistry.«220 Wenn hier wirklich ›diagrammatisches Denken‹ beschrieben wird, dann ist dieses Denken nicht identisch mit dem Denken in Existenziellen Graphen oder vergleichbaren Diagrammen.221 Es ist eine perzeptive Form von diagrammatischem Denken, das im Modus der Metapher vollzogen und in diagrammatisches Denken erster Stufe und zweiter Stufe übersetzt wird. Das ›Diagramm‹ ist eine strukturelle Ähnlichkeit in der Funktion eines tertium comparationis, das zwischen Flammen/Schlange und Schlange/Benzolring übersetzt. Kekulé hat ›parallel‹ gesehen, ihm stand ein Doppelbild vor Augen, das auf einer Differenz zwischen geistigem und körperlichem ›Sehen‹ beruht: Er sah die Schlange im Feuerring und den Benzolring in der Schlange.222 Zwar hinkt das Beispiel ein wenig, weil der Mythos besagt, dass Kekulé sein Heureka-Moment in einer Art Halbschlaf gehabt haben will, dennoch ist klar, dass die kognitiven Voraussetzungen des metaphorischen Sehens in der Eigenschaft der visuellen Wahrnehmung zur Pareidolie liegen, also der Neigung der Wahrnehmung, in den Objekten und Mustern sinnhafte Gestalten, wie z.B. Gesichter, zu sehen. Kekulés Sehen des Feuerrings wurzelt in dieser Fähigkeit und auch seine Deutung des Feuerrings als Ouroboros würde wohl noch unter diese Art des Sehens fallen. Dennoch war es, sofern die Bedeutung betroffen ist, auch ein metaphorisches Sehen, denn Kekulé wusste von diesem Moment an, was mit dem diagrammatischen Darstellungssystem der chemischen Strukturformeln möglich ist und konnte den einen Bedeutungsbereich auf den anderen beziehen. Nicht nur bestätigt sich hier die Affinität des Mythos zum metaphorischen Sehen, sondern auch der Einf luss eines schematischen impliziten Wissens, das auf die diagrammatische Struktur geblendet wird. Dass dieses Sehen etwas mit Diagrammatik zu tun hat, findet Anschluss in der Diagrammatik-Forschung. Michael Hoffmann zitiert in seinen Ausführungen zu den Wurzeln der Diagrammatik im apagôgê-Schluss bei Aristoteles eine Bemerkung von Michael Otte, der zufolge sich die »›semiotische Epistemologie‹ durch die Annahme kennzeichnen [lasse], ›that an essential feature of any creative argumentation consists in seeing A as a B or in representing A as B: 219 Vgl. zur Symbolik der Kreisform des Ouroboros aus einer latent metapherntheoretischen Sicht hier auch Lima 2016, S. 46. 220 Stjernfelt 2007, S. 102. 221 Vgl. auch Hoffmann 2011a. 222 Vgl. zur Differenz zwischen geistigem und körperlichem ›Sehen‹ McGinn 2007a, zur Diagrammatik speziell auch Ferguson 1993; Bauer/Ernst 2010, S. 263ff. Vgl. zur Problematisierung der Annahme eines »tertiums« in Metaphern Huss 2019, S. 141f.

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A=B‹«.223 Und Arthur Danto wird an gleicher Stelle mit dem Zitat angeführt, von dem ästhetischen »Imperativ« zu sprechen, »a gemäß den Attributen von b zu sehen«.224 Wie Hoffmann feststellt ist diese kreative Fähigkeit, »›metaphorisch‹ ein A als ein B zu sehen«225 eine Operation, die das Moment eines Standpunktwechsels in der Beobachtung einschließt – ein »›theorische[r] Wechsel des Blickpunktes« ( Kap. 3.5.3).226 Wie aber übersetzt sich diese Parallele mit der Kognitiven Semantik in eine Theorie, in der die Metapher als bewusstes Sehen konzipiert ist?227 Dafür ist eine Theorie des metaphorischen Sehens nötig, in der die unbewusste Seite perzeptiver Diagrammatizität in ein bewusstes Sehen von Strukturen übergeht und mit Einbildungskraft angereichert wird.228 Wie sich zeigen wird, sind die Problemstellungen für die hier diskutierte Perspektive auf die Diagrammatik anschlussfähig.229

5.3.1 Metaphorisches Sehen als ›Sehen-gleichsam-als‹ Zu einer Theorie visueller Metaphern existieren verschiedene Ansätze.230 Als Horizont der Debatte darf Richard Wollheims berühmte Unterscheidung zwischen ›Sehen-als‹ und ›Sehen-in‹ angesehen werden.231 Wollheim geht es mit dieser Unterscheidung um die Isolierung eines ›Sehen-als‹ und eines für die Bildwahrnehmung typischen ›Hineinsehens eines Zusammenhangs in ein Bild‹. Dafür nennt Wollheim drei Kriterien, anhand derer sich dieses ›Sehen-als‹ und das ›Sehen-in‹ unterscheiden lassen: • Kriterium des Sehens eines Sachverhalts: Im ›Sehen-in‹ werden nicht nur Einzelobjekte gesehen, sondern Sachverhalte. Sieht man x als eine Frau, kann man im Modus des ›Sehen-als‹ nicht erkennen, »als daß« eine Frau z.B. einen Liebesbrief liest. Im ›Sehen-in‹ ist dagegen die Zurechnung, ›dass‹ ein Sachverhalt der Fall ist, möglich.232

223 Hoffmann 2005, S. 74, unter Bezug auf ein unveröffentlichtes Manuskript. 224 Zit.n. Hoffmann 2005, S. 74. 225 Hoffmann 2005, S. 79. 226 Hoffmann 2005, S. 203. 227 Vgl. auch O’Regan/Noë 2013, S.  361ff., hier insb. S.  362. Dort werden zwei Arten des visuellen Bewusstseins unterschieden: »(1) das transitive visuelle Bewusstsein oder Bewusstsein von etwas; und (2) das visuelle Bewusstsein im Allgemeinen«. ›Bewusstes Sehen‹ ist hier im Sinne von O’Regans und Noës transitivem Bewusstsein visuellen Bewusstsein zu verstehen. Damit ist bei den Autoren gemeint, dass man sich des Umstandes, dass man eines Objektes gewahr ist, bewusst ist, diesen Umstand also in »in seine laufenden Planungen, Gedankengänge und das Sprechverhalten einbezieht«. 228 Zur systematischen Bedeutung der Einbildungskraft vgl. Johnson 1987, S. 139ff. 229 Ansätze, die hier nicht näher berücksichtigt werden, sind Rozik 1994; Rozik 1998; Sonesson 2003. 230 Vgl. u.a. Forceville 1999; Forceville 2002; Forceville 2005; Forceville 2008, mit weiterführender Literatur auch Schürmann 2008, S. 176ff. Vgl. zu den verschiedenen Formen von Metaphern (multimodal, visuell, bildlich etc.) aber inzwischen insb. Huss 2019, hier zu den genannten Ansätzen insb. S. 307ff., zu weiteren Theorien »Mediale[r] Metaphern« auch S. 353ff.; spezifisch zum Film siehe zuletzt Fahlenbrach 2010; Greifenstein et al. 2018; Müller/Kappelhoff 2018 ( Kap. 7.1.4). 231 Wollheim 1982, S. 192ff. Vgl. dazu Huss 2019, S. 321ff., S. 342ff. 232 Wollheim 1982, S. 196, Hervorh. C.E.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

• Kriterium der Kontingenz der Lokalisierung: Im Modus des ›Sehens-als‹ wird eine Eigenschaft des Bildes x als y gesehen. Die Bedingungen, welche diese Operation möglich gemacht haben, sind an x explizierbar. Diese Bindung an eine explizierbare Eigenschaft fehlt im ›Sehen-in‹.233 Das ›Sehen-in‹ kann auch einen Sachverhalt sehen, der nicht an Eigenschaften des Bildes festzumachen ist. • Kriterium der zweifachen Aufmerksamkeit: Wenn die Eigenschaften von x im Bild explizierbar sind, dann existieren erkennbare Merkmale, die verhindern, dass x und y gleichzeitig wahrgenommen werden. Im ›Sehen-in‹ ist das möglich, weil es ein Zweifachsehen ist: Gesehen wird das Objekt und das Medium des Objektes, also Dargestelltes und Darstellung (Zweifachthese).234 Die drei Kriterien zeigen Wollheims Auffassung, das ›Sehen-in‹ als eine über das ›Sehen-als‹ hinausgehende, »zusätzliche Wahrnehmungsfähigkeit« zu verstehen. Im Fall von Bildern ermöglicht dieses Sehen »Wahrnehmungserlebnisse von Dingen zu haben, die den Sinnen nicht gegenwärtig sind: d.h. sowohl von Dingen, die nicht gegenwärtig, als auch von Dingen, die nicht existent sind.«235 Die Fähigkeit zum Sehen von imaginären Sachverhalten ist keine reine Einbildung, sondern gesehen wird in »direkter Wahrnehmung«236. Aber diese direkte Wahrnehmung ist angereichert mit dem Sehen eines Sachverhalts in dem bildlich repräsentierten Objekt der direkten Wahrnehmung. Wollheims Kriterien besagen ferner, dass das ›Sehen-in‹ auf der Differenz zwischen dem Medium des Bildes und dem Objekt im Bild beruht. Die ›zusätzliche Wahrnehmung‹, die im ›Sehen-in‹ gegeben ist, entsteht im Medium der Bildlichkeit. ›Sehen-in‹ ist primär ein Modus der Bildwahrnehmung. Im Verlauf seines Essays differenziert Wollheim von dieser Bildlichkeit aber nun auch eine Kreativität im Sehen, die für die Sichtbarkeit generell gilt. Und diese Kreativität knüpft sich an ein ›Sehen-als‹, das im ›Sehen-in‹ entsteht. Er schreibt: »Visionen von nichtgegenwärtigen Dingen entstehen […] durch das Anschauen von gegenwärtigen Dingen. Gerade auf diese Entwicklung beruft sich Leonardo, wenn er in seinem berühmten Rat an den zukünftigen Maler […] diesen anregt, fleckig-feuchte Wände oder Steine und Farbtrübungen zu betrachten, um darin Schlachten, Gewaltszenen und geheimnisvolle Landschaften zu sehen.«237 Über das Betrachten von Bildern hinaus, folgt Wollheim der Überlegung, dass das ›Sehen-als‹ und das ›Sehen-in‹ auf dem Bilden von Hypothesen basiert, die eine Wahrnehmung konstituieren und anreichern. Wollheim zufolge informiert ein Begriff f diesen Prozess der Wahrnehmung eines x als y. Mit diesem Begriff f scheint Wollheim semiotisch vermitteltes kulturelles Wissen zu meinen. Ein solches kulturelles Wissen muss vorhanden sein, um einen Baum als eine Eiche (und nicht etwa als eine Tanne) zu erkennen.238 Kippbilder wie der Hase-Enten-Kopf zeigen, dass dieser Begriff f einem 233 Vgl. Wollheim 1982, S. 197. 234 Vgl. Wollheim 1982, S. 198ff. 235 Wollheim 1982, S. 202. 236 Wollheim 1982, S. 202. 237 Wollheim 1982, S. 203. 238 Vgl. Wollheim 1982, S. 205f.

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Wahrnehmungsinhalt nicht von außen übergestülpt wird. Im ›Sehen-als‹ wechseln Inhalt und Urteil simultan.239 Die Kreativität des Sehens besteht darin, im ›Sehen-als‹ alternative Begriffe für eine Perzept zu finden. Diese Kreativität des Sehens-als ist in Wollheims Feststellung greif bar, dass das relationale ›als‹ sich verändern kann: »Es ist einsichtig, daß die Veränderungen in den beiden Dimensionen voneinander nicht ganz unabhängig sein können, und der keineswegs ungewöhnliche Grenzfall ist der, wenn ich an einem Objekt mit Absicht eine Erscheinung ausprobiere, von der ich weiß, daß es sie nicht trägt, genau so wie ich einem wirklichen Gesicht einen Bart oder eine Pappnase anheften könnte, um zu sehen, wie es dann aussieht. So sehe ich beispielsweise eine Baumzeile als eine Reihe von Seeräubern, eine Kirche als umgedrehten Schemel, ein Bergmassiv als Körper einer nackten Frau. Hier nähert sich das ›als‹ dem ›gleichsam‹. […] Das ›Sehen-als‹ erweist sich im Grunde als eine Form des visuellen Interesses an oder der Neugier über ein den Sinnen gegenwärtiges Objekt.«240 Wollheims Deutung der Flexibilität des ›als‹ führt ihn an dieser Stelle zu einer Theorie des metaphorischen Sehens. Die ›Neugier‹, mit der Wollheim die Überdehnung des ›als‹ zum ›gleichsam‹ verbindet, geht einher mit der Fähigkeit, die Relation zwischen x und f durch das Ausprobieren von Möglichkeiten zu variieren. Akzeptiert man die These, dass der Begriff f nicht von außen dem Inhalt übergestülpt wird, ist nicht nur die Variation des Begriffs f notwendig. Damit diese Variation des Begriffs f gedacht werden kann, muss ein Verständnis davon vorhanden sein, was mit dem Objekt x möglich ist: »Wenn nämlich das Sehen von x als f unsere visuelle Neugier über x erproben soll, dann muß nicht bloß vorstellbar sein, daß x f ist, sondern genauer: wir müssen uns vorstellen können, wie x sich ändern müßte oder sich hätte ändern oder anpassen müssen, um die Eigenschaft f annehmen zu können. Wir müßten in der Lage sein, wieviel genau von x bei dieser Transformation verschwinden und wieviel von ihm bleiben könnte.«241 Im Übergang vom ›als‹ zum ›gleichsam‹ wird ein metaphorisches ›Highlighting and Hiding‹ bzw. eine Erweiterung- und Vertiefung notwendig. Diese Operation verläuft im Modus des Hypothetischen und macht das tertium einer strukturellen Ähnlichkeit zwischen f und x zum Problem. Dies rechtfertigt es, bei Wollheim einen Schritt in Richtung einer Theorie des metaphorischen Sehens zu beobachten. Entscheidend ist Wollheims Hinweis, dass es um ein ›Erproben‹ in Form einer ›Neugier‹ gehe. Dafür ist es nicht hinreichend, dass x als f gesehen wird, sondern es kommt zu einer Verschiebung der Relation in einen Raum möglicher Transformationen. Die Relation zwischen x und f verändert sich in Richtung eines Sehens-gleichsam-als. Deshalb ist ein dritter Begriff notwendig, der diesen Relationswechsel ermöglicht, indem er durch Transformation von x in Relation zu f variierende, konzeptuelle Relationen zulässt. In Wollheims Begriff des Sehens-als findet sich eine Theorie, die – obwohl sie als eine Theorie des bildlichen ›Sehen-in‹ beginnt 239 Vgl. Wollheim 1982, S. 205. Vgl. ausführlich auch Huss 2019, S. 144ff. 240 Wollheim 1982, S. 206, Hervorh. C.E. 241 Wollheim 1982, S. 207.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

– in einem allgemeinen ›Sehen-als‹ den Schritt zu einer Theorie des metaphorischen Sehens als eines ›Sehen-gleichsam-als‹ vorbereitet, in dem ein ›diagrammatisches‹ Drittes impliziert ist. Bestätigt sich diese Vermutung in anderen Ansätzen?

5.3.2 Der schematische Gehalt des metaphorischen Sehens Ähnlich wie Wollheim argumentiert Virgil Aldrichs einf lussreicher Ansatz zur visuellen Metapher, die eine Theorie des metaphorischen Sehens ist.242 Aldrich geht einen Schritt weiter als Wollheim. Für ihn kann die Differenz zwischen einem Sehen von A wie B als einer Analogie und dem Sehen A als B (A ist B) als einer Metapher durch den Unterschied zwischen einer dyadischen und triadischen Form des Sehens erfasst werden.243 Er betont, dass die Theorie des metaphorischen Sehens eine »nicht reduzierbare triadische Beziehung« aufweist. Was ist mit dieser triadischen Struktur gemeint? Sieht man A als B, dann »[…] haben wir ein (1) ein beliebiges Ding, das wie auch immer gesehen wird. Dies nennen wir M. Dann haben wir (2) dasjenige, das als M gesehen wird. Dies nennen wir A. M wird als A gesehen. Der dritte Faktor, der schwer fassbar und nicht leicht gegen M und absetzbar ist, liegt darin, daß M als A wahrgenommen wird. Aber er ist entscheidend für eine solche Wahrnehmung, und ob sie ästhetisch ist oder nicht, hängt von der Dominanz und Funktionsweise dieses Faktors ab. Der Grund dafür, daß seine Unterscheidung sowohl von A als auch von M eine so schwierige Sache ist, liegt darin, daß er eine ›Funktion‹ von beiden ist. Beide, M und A, sind transfiguriert (transformiert) oder ›expressiv dargestellt‹ […] in eben diesem Faktor […]. Wir nennen diesen Faktor B. Er (B) ist eine Art Vorstellungsbild {image} von A (als welches M gesehen wird), ein Vorstellungsbild, das durch M ›verkörpert‹ wird oder Gestalt gewinnt.«244 In diesem Zitat ist die Funktion des Faktors B als einem tertium comparationis das Interessante. Wenn M und A für Personen stehen (Martha, Agathe), dann ist der ›metaphorische‹ Wahrnehmungsmodus, also eines Sehens von Martha als Agathe, ein Modus, in dem weder Martha mit Agathe verwechselt wird noch ein reines Gedankenexperiment, in dem man sich Martha als Agathe mit geschlossenen Augen vorstellt.245 Nach Aldrich sieht man wachen Auges die reale Person Martha. Aber man sieht sie so, dass man sie vor dem geistigen Auge als Agathe betrachtet.246 Man weiß (oder glaubt), dass Martha nicht Agathe ist, sieht sie aber trotzdem als Agathe. Diese Relation wird durch das Dritte B ermöglicht. Über dieses Dritte sagt Aldrich, dass es die Funktion des Faktors B ist, eine wechselseitige »›Transfiguration‹ von A und M in B«247 zu ermöglichen, was bedeutet, »Umrisse und Bewegungen Gestalt«248 gewinnen zu lassen. Aufgrund des B kommt es zu einer, wie es im Englischen heißt, »interanima242 Vgl. Aldrich 1996. Dazu hier auch Huss 2019, S. 319ff. 243 Vgl. Aldrich 1996, S. 147f. 244 Aldrich 1996, S. 147. 245 Vgl. Aldrich 1996, S. 146. 246 Eine Theorie des geistigen Auges liefert McGinn 2007a. 247 Aldrich 1996, S. 147. Vgl. zur Transfiguration nach Arthur C. Danto weiterführend Huss 2019, S. 241ff. 248 Aldrich 1996, S. 148.

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tion«,249 welche die Transfiguration bzw. »Metamorphose«250 von A und M zwischen körperlichem und geistigem Auge ermöglicht.251 Hervorzuheben ist, dass Aldrich an dieses ›Dritte‹ als einer »Art Vorstellungsbild«252 das Kriterium knüpft, ob eine Wahrnehmung ästhetisch ist oder nicht. Dieses B nennt Aldrich den »Gehalt« der Wahrnehmung, also den Gehalt des metaphorischen Sehens. Aldrich führt über diesen Gehalt aus, er sei »in der allgemeinen Bedeutung […] etwa dasselbe wie ›Aspekt‹ im Wittgenstein’schen Sinne […]«.253 Das B ist für Aldrich durch eine »schematische Ähnlichkeit«254 geprägt. Der Gehalt entsteht aus einer schematischen Überblendung. A und M werden vor dem geistigen Auge aufeinander bezogen. Aber die objektive Differenz zwischen A und M in der Realwahrnehmung mit dem körperlichen Auge bleibt erhalten. Die Transfiguration ist aufgrund dieser Differenz zwischen subjektiver und objektiver Wahrnehmung keine Täuschung, sondern eine reversible und temporäre mit Imagination angereicherte Wahrnehmung. Es kommt zu einer Wahrnehmung von M, die im Modus eines metaphorischen ›als‹ sowohl M als auch A in einem Feld von Möglichkeiten gleichzeitig wahrnimmt. Eva Schürmann bemerkt dazu, dass das »Sehen in der Duplizität seiner sinnlich-mentalen Verfassung auch metaphernförmig operiert, wenn es nämlich Differenzen überbrückt und neue Aspekte hervorbringt.«255 Aldrich postuliert die Reetablierung der Grenze mentaler Subjektivität als einem ›Innen‹, die gegenüber einem ›Außen‹ abgegrenzt wird, als eine kontextuelle Bedingung eines metaphorischen Sehens. Nur aus dem Kontrast beider Wahrnehmungen, also dem, was man vor dem geistigen Auge ›Innen‹ sieht, und dem, was man im ›Außen‹ sieht, kann metaphorisches Sehen entstehen. In dem Beispiel läuft Martha auf einer Straße. Das Sehen von Martha als Agathe ist ein Sehen, das während des Sehens von Martha vor dem geistigen Auge realisiert wird. Aldrich setzt also voraus, dass in der metaphorischen Einstellung des Sehens zwischen einer Realwahrnehmung in einer Umwelt und einer Vorstellung differenziert werden kann. Die Differenz zwischen Innen und Außen muss explizit und bewusst sein, sonst kommt kein metaphorisches Sehen zustande. Das metaphorische Sehen muss als eine kontrafaktuale ›als ob‹-Setzung innerhalb einer Wahrnehmung beschrieben werden. In ihm kommt es zu einem ›Doppelbild‹, das eine strukturelle Ähnlichkeit der Objekte impliziert. Dieses Moment beschreibt Wollheim, wenn er die kontrafaktuale Variation der begriff lichen Zuschreibung im Wahrnehmungsurteil diskutiert, welche die Überdehnung des ›als‹ in ein ›gleichsam‹ initiiert. Aldrich sagt dazu, dass das metaphorische Sehen zumeist »in der allgemeinen Form [vorkommt], irgend etwas (M) als irgend etwas anderes (A) zu sehen. Ein Gehalt (B) kommt zur Erfassung, ein Faktor, der eine

249 Auf Deutsch ist das unglücklich als »Beseelung« übersetzt. 250 Aldrich 1996, S. 154. 251 Einen medientheoretischen Begriff von ›Transfiguration‹, der das Moment der Umformung in medialer Transkription und darin das Moment der ›Übertragung‹ beschreiben soll, hat Sybille Krämer ins Spiel gebracht. Vgl. Krämer 2010; Krämer 2012, S. 85f. 252 Aldrich 1996, S. 147. 253 Aldrich 1996, S. 159. 254 Aldrich 1996, S. 153. 255 Schürmann 2008, S. 179.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

›Fusion‹ (und Funktion) von A und M ist.«256 Die Tatsache, dass in dieser Standardsicht auf das metaphorische Sehen zwischen Innen und Außen unterschieden werden muss, positioniert die Metapher als ›investigativen‹ Modus der bewussten Wahrnehmung. Eine Wahrnehmung muss als subjektive Wahrnehmung explizit sein. Man muss bewusst wissen, oder sich bewusst machen können, dass man ein Objekt ›in einem anderen Lichte‹ sieht.257 Im metaphorischen Sehen ist dafür eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den Objekten notwendig. Aldrichs Theorie bestätigt diese Interpretation. Als eine ästhetische Theorie illustriert Aldrich die Funktion von B an einem anderen Beispiel. Dort ist die Mona Lisa der Bezugspunkt. Als M gilt das Gemälde als »Bildding« und als A das »Bildsujet« – die Mona Lisa als, wie es bei Aldrich heißt, eine »Frau mit einem subtilen (schlauen?, wissenden?) Lächeln […], mit einem Blick von weiblicher Selbstgenügsamkeit und einer rätselhaften Aufforderung auf ihrem selbstzufriedenen ovalen Gesicht usw.«258 Wenn man jetzt beim Betrachten des Bildes nicht darauf abzielt, zu fragen, was M mit A darstellt, sondern was M mit A zeigt, differenziert man vor dem geistigen Auge explizit zwischen M und A im Lichte von B. Dies erlaubt es, zu qualitativen Urteilen wie ›ausgewogen‹, ›schwer‹, ›inkonsequent‹, ›zart‹ etc. zu gelangen, die auf eine Art der Wahrnehmung gestützt sind, in der qualitative Momente im »Bildobjekt« identifiziert werden, die nicht explizit als Eigenschaften am Bild lokalisierbar sind. Die schematische Struktur in B ist die Bedingung einer Transfiguration, also einer Metamorphose in einen ›Gehalt B‹.259 Das ›Dritte‹, das die Metapher als Gehalt (in ontologischen Begriffen) ist, ist demnach ein Effekt schematischer Überblendung. Die Basisrelation der Metapher ›A als B unter der Prämisse, A ist B‹ baut, wenn man sie als metaphorisches Sehen fasst, aufeinander auf. Das Sehen von Martha als Agathe wird durch die Realisierung des Gehalts B unter die Hypothese gestellt, dass Martha Agathe ist. Diese Identitätssupposition (A ist B) eines ontologischen ›ist‹, ist innerhalb der Relation des Sehens von M als A verwirklicht (A als B). Im Gehalt B wird eine Wahrnehmung des körperlichen Auges von A also so transformiert, dass sie vor dem geistigen Auge unter der Hypothese steht, M zu sein. A als B zu sehen, ist ein Modus, der die Hypothese formuliert, das A B ist. Die Prämisse dafür ist die implizite Schematizität des tertium comparationis B, wie Aldrich sie beschreibt. Das B ist Aldrichs ›tertium‹, damit M als A unter der Annahme, dass M A ist, gesehen werden kann. Es ist eine ›Fusion‹ aus M und A, die als Gehalt der Metapher auf einer diagrammatischen Strukturähnlichkeit beruht. Aldrich denkt dies, indem er den Gehalt B als schemageleitet begreift. Als ›Fusion‹ muss das B für die angestrebte Transfiguration die Differenz zwischen äußerer Wahrnehmung und innerer Hypothese explizit werden lassen. Den Abgleich kann man auf Basis struktureller Ähnlichkeit auch als diagrammatisch verstehen. Umberto Eco fragt mithin nicht grundlos, was Marco Polo gesehen hat, als er dem Nashorn begegnete und in der Verlegenheit war, Begriffe auf Grundlagen von Sche256 Aldrich 1996, S. 158. 257 Vgl. Aldrich 1996, S. 147. Das gilt auch für den Wachtraum, den August Kekulé angeblich hatte ( Kap. 2.2.8). 258 Aldrich 1996, S. 154. Vgl. zur Adaption der phänomenologischen Begriffe »Bildding«, »Bildsujet« und »Bildobjekt« für die Diagrammatik-Forschung Bauer/Ernst 2010, S. 291ff. Ich komme darauf zurück. 259 Vgl. Aldrich 1996, S. 154.

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mata für das Nashorn zu finden ( Kap. 3.2). Bei Aldrich wird unter dem Oberbegriff ›visuelle Metapher‹ mit einer anderen Schwerpunktsetzung dieselbe Form des Sehens verhandelt. Im Prozess des metaphorischen Sehens A als M unter Wirkung von B wird eine Hypothese auf ein Perzept bezogen. Diese Hypothese verdankt sich der Form B, die als tertium comparationis ermöglicht, dass in einem metaphorischen Sehen Wahrnehmungsschemata variiert werden können. Hier trifft es sich, dass Aldrichs Mona-Lisa-Beispiel ein Versuch ist, im Bildobjekt eine implizite Schematizität zu beschreiben, die durch Begriffe wie Dynamik und Metaphern der Kraft formuliert ist. Aldrichs Stärke liegt in seinem elaborierten Begriff metaphorischen Sehens. Durch Umstellung auf ein dreistelliges Modell, das im exponierten ›tertium‹ den Schema-Begriff einschließt, ist dieser Ansatz in Richtung der Semiotik anschlussfähig. Um dies weiterführend zu diskutieren, ist allerdings die Differenz zwischen metaphorischem Sehen und Bildmetapher wichtig.

5.3.3 Metaphorisches Sehen und Bildmetaphern Bei Aldrich wird die Differenz zwischen metaphorischem Sehen und dem Sehen von Bildern eingeebnet. Bei Wollheim steht zwar das Bild im Vordergrund, die Kreativität aber liegt auf Ebene der allgemeinen Sichtbarkeit. Sowohl Aldrich als auch Wollheim begreifen die visuelle Metapher als einen Modus des Sehens. Eva Schürmann spricht analog von einem »›uneigentliche[n]‹ Sehen«.260 Andere Ansätze zu nicht-sprachlichen Metaphern konzentrieren sich auf den Zusammenhang von Bildlichkeit und Metapher. In der Forschung zur Bildmetapher wird das metaphorische Sehen an das Medium des Bildes geknüpft. Der Ansatz fokussiert allerdings nicht mehr nur auf die Wahrnehmung, auch wenn dieser Bezug nicht aufgegeben werden kann, wie Richard Wollheim in seinen an Donald Davidson geschulten Ausführungen zur Bildmetapher feststellt.261 Diese Theorien behaupten die Metapher als eine Eigenschaft von Objekten und Relationen im Bild. Als formale Konfiguration regt sie dazu an, ›A als B‹ zu sehen. Das Problem liefert Wollheim aber gleich mit, denn in Bildern kann das Bild als solches zur Metapher werden: »Im Falle des metaphorischen Bildes ist nämlich das Bild selbst, das Bild als Ganzes, mit allen dazugehörigen Bedeutungsmechanismen, der metaphorisierende Terminius. Mithin ist es die Verbindung des als Ganzes erfahrbaren Bildes mit dem metaphorisierten Terminus, die letzteren in ein neues Licht oder in den Zusammenhang einer neuartigen und aufschlußreichen Konzeption rückt.«262 Dies berührt die Unterscheidung zwischen visueller Wahrnehmung und Bildwahrnehmung. Bilder sind Ausdifferenzierungen aus der Welt des Sichtbaren, die als ganze Bilder als Metaphern verstanden werden können. Der Ansatz, dass es sich beim ›Sehen-gleichsam-als‹ um eine Praxis handelt, wird so präzisiert. Wollheim steht Ansätzen zur Bildmetapher nah, weil er nicht nur das Bild als Ganzes für einen metaphorischen Gebrauch designiert, sondern Objekte in der Bildsyntax (interne Strukturen) als prä260 Schürmann 2008, S. 181f. Vgl. auch Majetschak 2005a. 261 Vgl. Wollheim 1991. 262 Wollheim 1991, S. 24.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

destiniert für Metaphorizität erachtet, etwa bildliche Darstellungen des menschlichen Körpers.263 Das ist die Zugangsweise, die auch andere Ansätze zur Bildmetapher suchen.264 Häufig befassen sich diese Theorien mit persuasiven Kommunikationen wie Werbebildern. Charles Forceville betrachtet die Metapher beispielsweise als multimodale Metapher, also auch unter Berücksichtigung von Text-Bild-Relationen sowie dem Film.265 Dabei ist sein Ansatz durch Ideen von Noël Carroll aus der Filmtheorie geprägt.266 Die metaphorische Relation A als B bzw. A ist B versteht Forceville als formale Konfiguration im Bild. Diese Relation wird in der Bildkommunikation pragmatisch als eine intendierte Wahrnehmung seitens des Bildproduzenten angelegt: »Typically, the producer of A and B intends the audience to understand A as B.«267 Die Relation A ist B legt es im Bild nah, im Akt der Rezeption des Bildes A als B zu betrachten und aus dieser Betrachtung einen kognitiven Mehrwert zu ziehen. Doch die These vom Erkennen von Metaphern in Bildern hängt an dem Problem, ein Äquivalent für das ›ist‹ zu finden, also für das ›A ist wie B‹ und die in diesem ›ist‹ ausgedrückte ›Ähnlichkeitsbeziehung‹.268 Das Problem stellt sich bei Wollheim und Aldrich nicht. In der visuellen Wahrnehmung verfügt man über die Möglichkeit, sich unter Bedingungen eines ›als ob‹-Szenarios eine metaphorische Identitätsrelation vor Augen zu führen. Die visuelle Metapher ist die Praxis einer Schematisierung und keine Eigenschaft des Bildes. Forceville ist, genau wie sein Gewährsmann Carroll, darauf angewiesen, diese Identitätsrelation in den Eigenschaften eines Bildes zu vermuten. Damit bewegt er sich im Rahmen einer konventionalisierten Bildsprache mit eigenen Traditionen (z.B. Werbung). Da Forceville stark durch Carroll beeinf lusst ist, erst einige Worte zu dieser Theorie. Noël Carroll greift den Gedanken von Aldrich auf und projiziert ihn unter dem Eindruck von Lakoff und Johnson vom Bild auf den Film. Das ist etwas kurios, denn Carroll bietet weniger eine Theorie der Filmmetapher als eine der Bildmetapher.269 Das Herzstück dieser Theorie ist die auch von Aldrich behauptete Transfiguration von Identität. Bildmetaphern, unter die Carroll auch Filmmetaphern subsumiert, seien durch ›Homospatialität‹ (homospatiality) ausgezeichnet. Carroll schreibt: »[…] visual metaphors identify or link disparate categories by means of homospatiality that are not physically compossible in the sorts of entities they propose.«270 Unter »Homospatialität« versteht Carroll die Kopräsenz zweier ontologisch nicht kompatibler Kategorien in einem Objekt im Bild ( Kap. 7.1.4).271 263 Vgl. Wollheim 1991, S. 24f. Vgl. zur Verwendung des Syntax-Begriffs bei Bildern hier auch Sachs-Hombach 2005, S. 169f. 264 Vgl. zur Bildrhetorik u.a. Doelker 2005; Doelker 2007, wo sich gute Beispiele für Bildmetaphern finden. 265 Vgl. Forceville 1999; Forceville 2002; Forceville 2005; Forceville 2008. 266 Carroll 1994; Carroll 1996. 267 Forceville 2005, S. 270, im Orig. kursiv. An der intendierten metaphorischen Absicht bei der Bildproduktion hält auch Wollheim 1991, S.  25 fest. Aus diskursanalytischer Perspektive ist das eher problematisch. 268 Gleiches gilt für bildsyntaktische Formen des ›als‹. Vgl. Mersch 2012. 269 Forceville (2002, S. 3ff.) zeigt das sehr schön auf. 270 Carroll 1994, S. 198. 271 Vgl. zu Carroll auch Huss 2019, S. 325ff.

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Für diese paradoxe Homospatialität gibt Carroll verschiedene Beispiele aus der bildenden Kunst, so etwa Claes Oldenburgs Typewriter-Pie. Sein Lieblingsbeispiel stammt aber aus Fritz Langs Metropolis (1926). Es handelt sich um die dritte Szene des Films. Freder sieht in dieser Szene die Maschine in der Unterstadt explodieren. Von der Explosion ist Freder so geschockt, dass er die Maschine für eine kurze Zeit als einen die Arbeiter verschlingenden Moloch wahrnimmt. In einer als mentale Subjektivität markierten Überblendung verwandeln sich einzelne Teile der Maschine in Teile des Molochs aus dem Alten Testament, zum Beispiel die Turbinen in Pranken wie bei einer Sphinx. Ein Zwischentitel stellt den Bezug zum Moloch her. Erzeugt wird die Bildmetapher ›Maschine ist Moloch‹. Der Begriff Homospatialität besagt, dass die Spannung, die durch die Überblendung zu einem Objekt entsteht, bei visuellen Phänomenen diejenige Spannung ersetzt, die in der sprachlichen Metapher angelegt ist: »Homospatiality […] is a necessary condition for visual metaphor. It serves to link disparate categories in visual metaphors physically in ways that are functionally equivalent to the ways that disparate categories are linked in verbal metaphor.«272 Die Relation ›A ist B‹ wird bei Forceville und Carroll folglich als Eigenschaft von Bildobjekten ausgezeichnet. Beide Autoren gehen von der Existenz von hybriden Entitäten im Bild aus. Metaphorische Bilder zeigen zwei Objekte, die unterschiedlichen semantischen Bereichen angehören. Über den Konf likt dieser Objekte wird das eine im Lichte des anderen gesehen. Die Bildmetapher ist eine semantische Spannung zweier bildlich repräsentierter, ontologisch distinkter Objekte.273 Forceville greift diese Theorie auf und verbindet sie mit Lakoffs und Johnsons Ansatz. Die Stärke von Forcevilles Herangehensweise besteht darin, diesen Gedanken als multimodale Konfiguration zu begreifen, also Mediendifferenzen einzurechnen. Während Forcevilles Werbeanalysen und auch sein Konzept einer ›multimodalen Metapher‹, die das gesamte Spektrum der Sinneswahrnehmung umfasst, überzeugende Beispiele für homospatiale Objekte liefern, bleiben einige zentrale systematische Probleme ungelöst.274 Forceville benennt das Problem der Identifikation von Ausgangs- und Zielbereich der Metapher zwar als ein entscheidendes Problem, übersieht aber, dass der Kontaktpunkt zwischen konzeptueller Metapher (als kognitiver Relation) und rhetorischer Metapher (als semiotischer Relation) so beschaffen ist, dass die konzeptuelle Metapher ein implizites Widerlager des Verständnisses von in der Kultur gelernten, nach kulturellen Kodes organisierten metaphorischen Strukturen ist. Wenn er die Schwierigkeit der Identifikation von Ausgangs- und Zielbereich beklagt, dann deshalb, weil diese Uneindeutigkeit ein Symptom des Problems ist, die kognitive Dimension behauptete Strukturen umstandslos auf semiotische Verhältnisse abbilden zu können. Genau das aber funktioniert nicht. Das Kognitive ist aus pragmatischer Perspektive eine mit implizitem Körperwissen (und damit der Dingwelt des Materiellen) verf lochtene Bedingung des Semiotischen, wie umgekehrt das Semiotische eine Bedingung des Kognitiven ist. Konzeptuelle Metaphern sind als kognitive Strukturen ein 272 Carroll 1994, S. 198. 273 Vgl. Carroll 1994; Forceville 2005, S. 272ff. 274 Im weiteren Kontext erschießt sich hier das Feld einer Informationsästhetik des Films, auf das ich an dieser Stelle aber nicht näher eingehen kann. Dafür wäre die Auseinandersetzung mit dem Modell zur Analyse von Infografiken in Lischeid 2012 weiterführend interessant.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

Faktor, der semiotische Schemata in dem Sinn motiviert, dass beispielsweise Konnotationen qua Entailments organisiert werden.275 Konnotationen werden aber nicht in eindeutigen Relationen organisiert, sondern als Felder familienähnlicher Bedeutungen, die kognitiv in Prototypen organisiert sind. Die Differenz zwischen Bewusstsein und Kommunikation ist zwar nicht so unüberbrückbar, wie etwa Niklas Luhmanns Systemtheorie es noch behauptet hat. Aber es ist auch zu einfach, das Eine auf das Andere einfach so abzubilden, wie das bei Forceville geschieht. Lakoff und Johnson geben nicht von ungefähr für eine konzeptuelle Metapher wie ›Denken ist Objektmanipulation‹ ganze Cluster von Entailments an, behaupten also nie eine spezifische Relation, welche die Metapher konstituiert, sondern Gruppen von auf der semiotischen Ebene familienähnlichen Metaphern, die auf der kognitiven Ebene einen Prototyp konstituieren.276 Was Forceville verkennt, ist, dass Metaphern Inferenzregeln sind, die als diese Inferenzen eine kognitive Seite haben, die durch das implizite Körperwissen mitstrukturiert wird, und eine semiotische Seite, die vor allem in rhetorischen Situationen von Bedeutung ist, das heißt: bei der Organisation von Konnotationen. Kurz gesagt: Eine exklusiv kognitive Theorie der Bildmetapher kann es nicht geben, weil in Bildmetaphern immer kognitive und semiotische Anteile zusammenspielen. Die bild- und filmwissenschaftliche Forschung ist daher auf der richtigen Fährte, wenn sie genau auf diese Nahtstelle von ›Kunst und Kognition‹ achtet. Matthias Bauer, Fabienne Liptay und Susanne Marschall haben in einem gleichnamigen Band entsprechend den Vorschlag unterbreitet, die Forschungsperspektiven der Bildwissenschaft und der Kognitionswissenschaft in einem Verständnis von Bildern als »rätselhaften Sinnbildern« zusammenzuführen.277 Über die Ebene des Verstehens als Gefüge mit Sinn hinaus wird in Bildern ein Bedeutungsüberschuss generiert. Durch die Brille von Edmund Husserls bildtheoretischer Unterscheidung in (a) ein Bildding (materielles Medium des Bildes), (b) ein Bildobjekt (erscheinendes Bild als wahrnehmbares Objekt) und (c) ein Bildsujet (Repräsentation eines Sachverhalts im Bild)278 steht der Begriff ›Sinnbildlichkeit‹ für die kognitive Wahrnehmung der Sinnhaftigkeit des Bildobjektes, also der Sinnhaftigkeit des Bildes, und für eine semiotische Interpretation des Bildsujets, in der es zur bildlichen Exemplifikation eines abstrakten Sachverhaltes kommt, also dem Bild als Sinnbild für etwas. Wie in der Sprache ist die Bildmetapher die exemplifizierende Darstellung eines abstrakten Sachverhalts und als solche ein ›Sinnbild‹. Die Voraussetzung ist eine im Bild angelegte, irritierende, rätselhafte Bildkonfigurationen der Art ›A ist B‹. Diese Konfiguration wird im Prozess der Auslegung des Bildsujets erschlossen, was

275 Forceville (2008, S. 476) weist zwar auf die Rhetorik des Bildes von Roland Barthes hin, zieht aber keine Konsequenzen aus dem Hinweis. 276 Familienähnlichkeit durch Prototypizität ersetzt, anstatt erkannt zu haben, dass Prototypizität ein kognitives Gegenstück von Familienähnlichkeit ist, ist ein Kardinalfehler von ›internalistischen‹ Semantiken. 277 Bauer/Liptay/Marschall 2008. Vgl. hier insb. auch Matthias Bauers (2010a; 2010b) diagrammatische Interpretation der Nachtwache von Rembrandt als Bilderrätsel, für Bewusstseinsmetaphern dazu Bauer 2008. 278 Vgl. Husserl 2006. Vgl. dazu Wiesing 2005, S. 44ff.; Bauer/Ernst 2010, S. 291ff.

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die Möglichkeit des Vorkommens eines metaphorischen Sehens auch ohne eine solche Bildkonfiguration nicht ausschließt. Bildmetaphern sind ein Prozess, der eine Einstellung des Sehens und eine Auslegung einer rätselhaften Bildkonfiguration ist. Eine irritierende semantische Relation im Bild gibt Anlass für eine Wahrnehmung, welche die Form der bei Aldrich beschriebenen Schlussfolgerung ›A ist M mit dem Gehalt B‹ hat. Die Relation A ist B gilt bei Carroll und Forceville als eine Eigenschaft des Bildes, die in der Bildwahrnehmung nachvollzogen wird. Die Bildmetapher ist also dahingehend der bildtheoretische Anwendungsfall eines metaphorischen Sehens, insofern es semiotische Schemata gibt, die ein metaphorisches Sehen provozieren, eben: Bildmetaphern als schematische Konfigurationen von Objekten und Relationen im Bild. In Bildmetaphern findet sich im Übergang von Bildobjekt zu Bildsujet ein in der Bildkonfiguration angelegte semantische Spannung der Form A ist B. Diese Spannung entsteht zwischen zwei semantischen Sinnbezirken, die beim Betrachter des Bildes ein Gedankenexperiment auslösen sollen, das A als B betrachtet (Bildmetapher). Der Prozess greift insofern auf das metaphorische Sehen zurück, als die Konfiguration des Bildes kognitiv repräsentiert wird. Die Art des Sehens, die bei Aldrich für das Sehen gedacht wird, schreibt sich in ein Bildersehen ein, für das etwa Wollheims ›Sehen-in‹ die Theorie liefert. Was aber geschieht im Übergang von Sichtbarkeit zu Bildlichkeit mit der Kreativität des Sehens-als – sei es im Sinne von Wollheims ›Sehen-gleichsam-als‹ (x als y unter Variation des Begriffs f) oder von Aldrichs ›A ist M unter Bedingung des Gehalts B‹? Die bei Forceville und Carroll aufgestellte Behauptung, die Relation ›A ist B‹ als Eigenschaft der Bildkonfiguration zu verstehen, verortet diese Kreativität im Rahmen von Wollheims Ansatz auf Ebene des ›Sehens-in‹. Metaphorisches Sehen ist – in systemtheoretischen Begriffen gesagt – ein ›re-entry‹ des ›gleichsam als‹ in das ›Sehen-in‹. Für diesen ›re-entry‹ ist die Kunst als Bereich der Ref lexivität der Wahrnehmung prädestiniert. Konfigurationen des A ist B werden als Relationen in Bildern, also im Rahmen eines ›Sehens-in‹ ausgelegt, und dann ein ›Sehen-gleichsam-als‹ verwirklicht. Aldrichs Ansatz bestätigt die Schematizität dieses ›Sehens-gleichsam-als‹ durch die Behauptung eines Gehalts B, in dem die Variation vorgenommen wird. Die Mona Lisa deutet Aldrich als Spiel von Kräfteverhältnissen, das nicht an prädestinierten, lokalisierbaren Eigenschaften im Bild festzumachen ist, sondern am Sehen von Relationen im Bild. Man kann die Mona Lisa als Metapher ›sehen‹, das Bild ist aber keine Bildmetapher. Bestätigt wird somit der sowohl bei Carroll als auch bei Forceville unterschätzte Punkt, dass Metaphern relationale Inferenzen und keine ontologischen ›Sachen‹ sind. Die im Fall der Bildmetapher vollzogene Rückverlagerung des ›Sehens-gleichsam-als‹ in das ›Sehen-in‹ kann anhand dieses Punktes ausgearbeitet werden. Das Kriterium der Kontingenz der Lokalisierung sieht vor, mittels spatial lokalisierbarer Eigenschaften im Bild zu zeigen, warum ›x als y‹ gesehen wird. Wollheim sagt aber auch, dass dieses ›Sehen-als‹ kein ›Sehen-in‹ ist, weil auf diese Weise kein Sachverhalt gesehen wird. Geht man davon aus, dass diese Relation des ›Sehen-gleichsam-als‹ in der Bildwahrnehmung – also im ›Sehen-in‹ – vorkommen kann, dann zeigt sich, dass das Auslesen impliziter Relationen für die Möglichkeit des Sehens von Metaphern in Bildern der Schlüssel ist. Die Diskussion des Übergangs zwischen einem metaphorischen Sehen und der Bildmetapher führt an die Grenze zwischen metaphorischem Sehen als einem ›transfigurierenden‹ Sehen und der Bildmetapher als einer semiotischen Bildkonfiguration,

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

die ein solches Sehen stimuliert. Im Rahmen seines Konzepts eines metaphorischen Sehens spricht Aldrich der Mona Lisa als Bild keine metaphorischen Eigenschaften zu. Er sagt aber, dass die Mona Lisa metaphorisch betrachtet werden kann. Forceville und Carroll binden das Konzept der Bildmetapher an die Existenz derartiger Eigenschaften im Bild. Wollheims Ansatz bietet eine Mittelposition. In das ›Sehen-in‹ von Bildern kann eine metaphorische Haltung des ›Sehens-gleichsam-als‹ eingeführt werden. Das Bild muss dafür nicht ›metaphorisch‹ sein. Als eine Praxis rückt Eva Schürmann diese Form des Sehens ausdrücklich in den Kontext einer Explikation: »Als ein metaphernförmiges Vorgehen entfaltet Sehen darstellerische Qualitäten bis zur Bildung von Optiken, die zuvor Unbekanntes sehen lassen. Als bildliches Verfahren entdeckt die Wahrnehmung bis dahin unbekannte Zusammenhänge.«279 Und Frederik Stjernfelt lässt in seinem Beispiel der Entdeckung des Benzolrings die Diagrammatik ebenfalls in einer analogisierenden, aber als explizierend gedachten Art des metaphorischen Sehens beginnen. Gleiches gilt für sein Beispiel mit der Fotografie: Man betrachtet diagrammatisch, in der Absicht, etwas über sie herauszufinden. Etwas über sie herauszufinden heißt aber auch: alternative Schemata auszuprobieren. Die Prämisse dafür ist das implizite tertium im metaphorischen Sehen, in dem A und B unter Rückgriff auf ›Image schemas‹ in einer diagrammatischen Operation transfiguriert wird. In der Theorie des metaphorischen Sehens steckt also eine Theorie der Diagrammatisierung von (bildlichen) Ikons. Wie in den Ausführungen zu Ikonizität, Schema und Diagramm gezeigt, geht auch Eco davon aus, dass angesichts des Schnabeltiers eine metaphorische Evaluation des Schnabeltiers im Modus des ›als ob‹ nötig war ( Kap. 3.2.2). Das Schnabeltier ist eine Entität, die zwei Identitäten auf einmal zu haben scheint. Es kann ›gleichsam als Maulwurf, der im Wasser lebt‹ gesehen werden. Das Ergebnis ist der ›Wassermaulwurf‹. Ecos Frage, was Marco Polo gesehen hat, als er ein Nashorn gesehen hat, muss wörtlich genommen werden. Als ›Investigator‹ hatte Marco Polo ein Bild im Kopf, das nicht kongruent war, mit dem Objekt, das er gesehen hat. Gesehen wurde etwas Neues, Fremdes, das nicht so neu und fremd war, dass er es gar nicht einordnen konnte. Es war strukturell fremd, also einer Ordnung angehörig, für die es keinen Begriff gab. In der Forschung ist diese Beziehung zwischen Diagrammatik und einem epistemologischen Begriff von Metapher zwar benannt, aber nie ausgeführt worden.280 Peirces rudimentäre Metapherntheorie deutet in die gleiche Richtung. Als ikonisches Zeichen ist die Metapher für Peirce eine Art der Wahrnehmung, die ein diagrammatisches Element enthält. Was hat Peirce zur Metapher zu sagen?

279 Schürmann 2008, S. 182. 280 Die Basisoperation metaphorischer ›Mappings‹ wird auch bei Bauer/Ernst (2010, S. 277) als diagrammatische Operation verstanden, wenn es dort heißt: »Der Bezugsgegenstand wird dabei in Analogie zur Struktur des Bildspenders aufgefasst. Daher ist viel gewonnen, wenn man sich Ikonizität als ein Spektrum von Übergängen zwischen image, diagram und metaphor denkt […].«

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5.3.4 Die Diagrammatizität des metaphorischen Sehens 281 In den Sundry Logical Conceptions, die ein Teil von A Syllabus of Certain Topics of Logic sind, heißt es – nicht gerade verständlich –, eine Metapher »represent[s] the representative character of a representamen by representing a parallelism in something else.«282 Als eine Form von operativer Ikonizität soll die Metapher beitragen, etwas Neues über ein Objekt herauszufinden.283 Peirces kryptische Formulierung legt in der Metapher einen ›Parallelismus‹ der repräsentierenden Funktion eines Repräsentamens frei, also eines Zeichens, das sich auf etwas anderes bezieht. Metaphern sind für Peirce Relationen zwischen zwei Objekten und zwischen zwei Zeichenträgern (Repräsentamen).284 Die Metapher setzt nicht bei bestehenden Ähnlichkeiten zwischen Zeichen und Objekten an. Durch eine Parallelisierung werden diese Ähnlichkeiten hergestellt, indem strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Relata und ihren Qualitäten festgestellt werden.285 Wie Douglas Anderson betont,286 beruht dieser Prozess auf einem tertium, das nicht auf mimetischer Isomorphie, sondern auf struktureller Isomorphie gegründet ist. Am Beispiel der Metapher »the field smiles« schreibt er: »The iconicity of metaphor lies neither in field nor in smile, but in the unity of the two: a third thing, which they somehow constitute. Thus, the ground of a metaphor is a ›isosensim‹ between a metaphor and its icon […]. Moreover, what resemblance obtains between the constituens of metaphor is created in the articulation of the metaphor. Unlike logical isomorphisms, metaphorical resemblances are not traceable to antecedent links.«287 Mit Christian Strub lässt sich präzisierend erläutern: »Der Metapherninterpret muß versuchen, diese beiden Bedeutungsstrukturen zueinander in Beziehung zu setzen, in Peirce’scher Terminologie formuliert: die eine Struktur zum Diagramm der anderen zu machen.«288 Zum gleichen Ergebnis kommen Priscila Farias und Joao Queiroz. Sie betonen den Charakter der Metapher als einer Schlussregel der Drittheit in der Erstheit:289 »We can assume, therefore, that metaphors […] shall depend on a certain internal diagrammatic coherence in order to assume their status of instantiated icons of laws.«290 Regelhaft sind die Metaphern, weil sie nur als Relationen gedacht werden

281 In Kurzform finden sich Gedanken aus diesem Abschnitt auch in Ernst 2015a, S. 255ff. 282 Peirce 1998b, S. 274. 283 Vgl. Anderson 1984, S. 462ff. 284 John Michael Krois (2011, S. 196) beschreibt Peirces Metaphernbegriff so, dass Metaphern nach Peirce in einer »multisensorial manner« repräsentieren. Auf diese Weise kann erklärt werden, warum es z.B. multimodale Metaphern gibt, also Metaphern, die nicht nur eine intramediale, sondern auch eine intermediale Spannung (z.B. Bild/Ton im Film) aufweisen. Vgl. dazu u.a. Forceville 2008. 285 Vgl. Hausman 1994, S. 205ff. 286 Vgl. Anderson 1984. 287 Anderson 1984, S. 458f. 288 Strub 1994, S. 231, Hervorh. C.E. Vgl. auch Hoffmann 2009, S. 248. 289 Also als der dritten Klasse innerhalb der Unterteilung des Ikons in Bild, Diagramm und Metapher. 290 Farias/Queiroz 2006, S. 294.

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können. Wenn aus ›das Feld lächelt‹ die Relata ›Feld‹ oder ›Lächeln‹ gestrichen werden, verliert man die Metapher.291 Die Metapher ist für Peirce die »Form einer Relation« und darin diagrammatisch.292 Wenn es in Metaphern zu einem »stereoskopischen Sehen, in dem zwei Dinge oder Sachverhalte übereinandergeblendet werden«293 kommt, dann ist die Bedingung dieser Überblendung ein tertium im Status eines diagrammatischen Zeichens. Die Möglichkeiten der Variation des semiotischen Schemas werden in ihrer phänomenalen Gestalt durch die Transformationsmöglichkeiten von ›Image schemas‹ beeinf lusst. Peirces »hypostatische Abstraktion«, die für das Denkbild so wichtig ist, ist eine Operation, die durch ›Image schemas‹, insbesondere ihre Transformationen wie die Überblendung, reguliert wird ( Kap. 3.5). Dass diese fungierenden Schemata ref lexiv werden, ist abgesichert durch die These einer Ref lexivität der Metapher. Strub argumentiert, dass die Metapher nach Peirce »ein Prozeß [ist], der den Zeichenprozeß in seiner Prozessualität selbst darstellt; der metaphorische Prozeß ist die Explizierung des Zeichenprozesses in allen seinen Stufen«.294 Diese innere Ref lexivität der Metapher steckt, wie Strub im Anschluss an gängige Theorien der Metapher aufzeigt, in ihrer Eigenart als eines »kalkulierten Fehlers«,295 in dem die Uneindeutigkeit einer identifizierenden Prädikation aufgezeigt wird. Die Metapher formuliert, wie auch die Metapherntheorie David Wellberys betont,296 eine Paradoxie, in der die Identität einer Prädikation in die Differenz möglicher anderer Prädikationen gespiegelt wird. Bei Strub heißt es: »Dadurch wird dieser [metaphorische, C.E.] Vollzug zum Vollzug epistemischer Paradoxie; diese besteht darin, daß eine Prädikation sich ›verstehen‹ muß als eine ›explizite ›Als-ob-Prädikation‹, die die Identifikation unter dem Vorbehalt der Perspektivität […] einklammert‹. Die Kennzeichnung des Vollzugs epistemischer Relativität als paradox soll also besagen, daß es uneinsichtig ist, wie zugleich eine Zuschreibung und eine Thematisierung dieser Zuschreibung als einer unter anderen möglich ist. Dennoch vollzieht sich dieses ›zugleich‹ im metaphorischen Sprechen.«297 Wiederum findet sich die Idee, die Metapher als eine Ref lexionsform des Denkens zu verstehen, die doppelt verfasst ist: In ihr vollzieht sich das Denken, das sich durch Metaphern ref lexiv einholt. Es bestätigt sich, dass metaphorisches ›Sehen-gleichsam-als‹ eine diagrammatische Komponente hat. Metaphorisches Sehen impliziert eine diagrammatische Komponente, die ihre ästhetischen Qualitäten über die Verf lechtung mit ›Image schemas‹ im impliziten Wissen erfährt. Das ist der Kern der These einer 291 Vgl. Anderson 1984, S. 462. 292 Anderson (1984, S. 465f.) argumentiert, dass die Metapher insbesondere als operative Relation essenziell für Peirces Verständnis von Ästhetik war. 293 Strub 1998, S. 270. 294 Vgl. Strub 1994, S. 217, im Orig. kursiv. 295 Strub 1998, S.  269, im Orig. kursiv. Einen metapherntheoretisch fundierten, ideengeschichtlichen Zugang, der dieses Argument umkehrt und dem Begrifflich-Philosophischen (und nicht dem Literarisch-Poetischen) ›Reflexivität‹ zuspricht, verfolgt Taureck 2004, hier S. 19. 296 Vgl. Wellbery 1997. 297 Strub 1998, S. 269.

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Relation doppelter Metaphorisierung zwischen dem impliziten Schema und dem Denkbild ( Kap. 3.5).

5.4 ›Image schemas‹ und Diagrammatisierung zweiter Stufe Wenn sich die Diagrammatisierung von Zeichen, etwa von Bildern, der Diagrammatisierung erster Stufe mit einem metaphorischen Sehen assoziieren lässt, wenn sie in diesem ›Sehen‹ als einer Praxis beginnt, so stellt sich die Frage, welche Bedeutung dies für das diagrammatische Denken im Sinne einer Diagrammatisierung zweiter Stufe, also für das Denken in Diagrammen hat?298 Clemens Krümmel hat in einem Aufsatz mit dem Titel I Must be Seeing Things auf das imaginäre Potenzial von Diagrammen hingewiesen. In Diagrammen werden nicht nur, wie die Philosophie unablässig erklärt, verborgene Relationen und neue Verhältnisse gesehen, sondern auch Gestalten und Formen aller Art: »But here at last, on the emotive level, we meet the far side of the cool rationality of the supposedly clear diagram. I must be seeing things.«299 Bezeichnet wird hier eine ›andere‹, rhetorische Seite der Diagrammatik. Das metaphorische Sehen steht zwischen Logik und Ästhetik, sofern es eine Einstellung des Sehens ist, die über ihre Verf lechtungen mit implizitem Wissen ein Denkbild variiert. Diese These besagt, dass diese Einstellung des Sehens auch in Diagrammen angewendet werden kann, oder präziser: dass Diagramme Formenbildungen sind, die metaphorisches Sehen fordern, ohne Bildmetaphern zu sein. Wenn es in Diagrammen zu einem Denkbild kommen kann, zu einem Sehen von Möglichkeiten, so gibt es eine phänomenologische Begründung dieses Sehens,300 die auch außerhalb von Diagrammen zur Anwendung kommt. Die hier vorgebrachte Vermutung ist daher, dass in Diagrammen die Bedeutung des Denkbildes ref lexiv durch ein Schema, das im metaphorischen Sehen als einem diagrammatisierenden Gebrauch von Zeichen enthalten ist, mitgeprägt wird. Zu vermuten steht mithin, dass auch das Denkbild im Diagramm ein in seinen ›operativen‹ Möglichkeiten der Rotation und Variation durch ›Image schemas‹ beeinf lusstes Bild ist – dass also implizites Wissen in Form von ›Image schemas‹ in die Art und Weise beeinf lusst, wie Diagramme rekonfiguriert werden. Die These lautet, dass ›Image schemas‹ als Wahrnehmungsregeln in der Deutung von Diagrammen bei der Realisierung eines Denkbildes implizit gegenwärtig sind – also speziell beim Sehen von alternativen Möglichkeiten. Aber was bedeutet das konkret für die Analyse von Diagrammen?

298 Die Formulierung vom ›Sehen als Praxis‹ findet sich bei Schürmann 2008 und wird dort über Formen der sozial geteilten Sichtbarkeit begründet. 299 Krümmel 2011, S. 53. 300 Das ist das Projekt in Stjernfelt 2007.

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5.4.1 ›Image schemas‹ zwischen Kognitiver Semantik und Semiotik 301 In der semiotischen Diagrammatik-Forschung wird gegenüber Lakoff und Johnson der Vorwurf erhoben, die Kognitive Semantik vertrete im Fall der ›Image schemas‹ eine Art diagrammatischen Internalismus.302 Der Vorwurf lautet, die Kognitive Semantik kognitiviere einen nur in materiell verkörperten und semiotisch geordneten Diagrammen realisierbaren Überschuss.303 Wenngleich die Kognitive Semantik ebenso wie die Semiotik an der Enttranszendentalisierung des Schema-Begriffs arbeitet, so ist jedoch zu bedenken, dass ihre Lösung anders ausfällt, als die, die in der von Peirce ausgehenden Tradition vertreten wird. Lakoff und Johnson setzen nicht auf einen semiotischen Begriff der sozialen Konventionalisierung von Erkenntnis. Die Autoren erklären den Körper zum Generator von präkonzeptuellen Bedingungen von Inferenzen. Dass die Kognitive Semantik und die Semiotik in ihren Basisprämissen gegensätzliche, aber in dieser Gegensätzlichkeit komplementäre Erkenntnisziele verfolgen, ist keine Neuigkeit.304 Begreift man etwa das ›Vermessen‹ als eine kulturelle Praxis ( Kap. 6.1), ergänzen sich Kognitive Semantik und Semiotik darin, dass der Körper oft als Maßstab von Prozessen des Vermessens genommen wird.305 Dennoch ergeben sich Reibungspunkte, die mit dem bei Peirce skizzierten Vorbehalt gegenüber einer vorschnellen Identifikation von Strukturen des Denkens zusammenhängen. Dieser Vorbehalt betrifft den Status des metaphorischen Bezugs zwischen Schema und Diagramm ( Kap. 3.3). Es gibt eine implizite Ebene perzeptiver Diagrammatizität und der Diagrammatisierung erster Stufe, welche in diagrammatischen Darstellungssystemen ref lexiv wird. Ein Streitpunkt zwischen Kognitiver Semantik und Semiotik ist, inwiefern diese Ref lexivität aus der immanenten Diagrammatizität der Metapher heraus begründet werden kann. Ahti-Veikko Pietarinen hat zu zeigen versucht,306 dass die Logik der Metapher durch Peirces Existenzielle Graphen nachgewiesen werden kann. Seine These folgt dem Gedanken bei Peirce, dass im Diagramm (den Existenziellen Graphen) metaphorische Relationen als logische Prozesse nachgebildet werden können.307 Wie andere Semiotiker ist auch Pietarinen gegenüber der Kognitiven Semantik eher kritisch eingestellt. Im Visier hat er die Nachlässigkeit dieser Theorie gegenüber einer semiotischen Repräsentation von Schemata, also gegenüber kulturellen Einf lussfaktoren: »Generally speaking, the conceptual metaphor and cognitive semantic approaches propose that it is the operations of blending, or in somewhat different senses the 301 Teile und Aspekte des vorliegenden Abschnitts finden sich auch in Ernst 2014c, S. 125ff. 302 Vgl. insb. bei May 1995; May 1999; Pietarinen 2011. Ein ähnlicher Vorwurf ist aus filmtheoretischer Perspektive formuliert wurden. Vgl. Müller/Kappelhoff 2018, S. 46. Mir ist diese Kritik nur bedingt verständlich, gerade dann, wenn man auf die Arbeiten von Mark Johnson blickt. 303 Vgl. auch Wöpking 2016, S. 55f. 304 Eindrucksvoll wird das in der vierbändigen Kompilation semiotischer Grundlagentexte von Stjernfelt/Bundgaard 2011 dokumentiert, in der insb. in Band 2 und 4 Positionen aus dem Feld der Kognitiven Semantik umfassend berücksichtigt wurden. 305 Vgl. May/Stjernfelt 2008, S. 54f. 306 Vgl. Pietarinen 2011. 307 Vgl. Pietarinen 2011, insb. S. 3.

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source-target domain transfers or integrations over the image schemas of our cognitive structures, that are the key mechanisms for metaphoric meaning. Though this idea is on the right track as far as the imagistic component of figurative meaning is concerned, the nature of the operations and processes in question has not been adequately explained. Nor have they been related to, or differentiated from, that of Peirce’s iconic logical signs. My theory, as will be explained below, only needs to account for the ›composition of concepts‹, and that process is logical.«308 Pietarinen setzt auf die Prämisse, dass eine internalistisch begründete Semantik scheitern muss. Eine solche Semantik kann nicht erklären, warum einige Metaphern wahr und manche falsch sind.309 Die kognitiven Theorien verkennen demnach, dass Metaphern kontextuelle Bedingungen haben. Diese werden von Semiotik und Sprachphilosophie aufgedeckt. In ähnlichem Fahrwasser kritisiert Pietarinen am Begriff der ›Image schemas‹, dieser erstrecke sich nur auf die bildliche Dimension und sei einem überholten Konzept symbolischer Logik verpf lichtet.310 Diese Kritik ist allerdings ein Zerrbild der Theorie von Lakoff und Johnson. ›Image schemas‹ beschreiben im Körperwissen begründete Bedingungen des metaphorischen ›Mappings‹ von Ausgangs- auf Zielbereiche. Wenn Peter Gärdenfors erklärt, eine Metapher »expresses an identity in topological or geometrical structure between different domains«311, dann sind ›Image schemas‹ im Prozess des Abgleichs dieser ›geometrischen‹ Relationen wirksam. Die Stärke der Theorie liegt in der Beschreibung der prägenden Kraft von im impliziten Wissen angesiedelten Schemata für die Konstitution der Varianten ikonischer Bedeutung. Diese Leistung sollte nicht unterschätzt werden, sofern es in der Semiotik ein Defizit mit Blick auf die Bedeutung von implizitem Körperwissen gibt.312 Lakoff und Johnson betonen an verschiedenen Stellen, dass eine diagrammatische Darstellung den ›Image schemas‹ nicht gerecht wird. Die prägnanteste Formulierung von Johnson habe ich diskutiert: »schemas are not diagrams on a page«.313 Die Kognitive Semantik beachtet die Differenz zwischen ›Image schema‹ und Diagramm, sagt zu diesem Unterschied aber theoretisch sehr wenig. Trotz der Vernachlässigung des Körpers und des impliziten Wissens ist die pragmatische Semiotik in diesem Punkt plausibler. ›Image schemas‹ spielen über ihre Funktion im metaphorischen Sehen in die Auslegung von Diagrammen hinein. Doch auch hier stößt man auf Widerspruch aus dem semiotischen Lager.314 Michael May schreibt in seinen Arbeiten zum Verhältnis von Kognitiver Semantik und Semiotik: »The theory of diagrammatic reasoning as intro308 Pietarinen 2011, S. 2. 309 Vgl. Pietarinen 2011, S. 4. 310 Vgl. Pietarinen 2011, S. 2f. 311 Gärdenfors 2000, S. 3. Vgl. auch Pietarinen 2011, S. 3. 312 Genau umgekehrt fasst das Argument Stjernfelt 2007, S. 258ff., hier S. 261. Er wirft der Kognitiven Semantik vor, keinen Begriff für den Umgang mit semiotischen Repräsentationen zu haben. Vgl. hier auch seine weiterführenden Überlegungen zu Autoren wie Merleau-Ponty. Diese erweiterte phänomenologische Perspektive kann hier nicht verfolgt werden. 313 Johnson 1987, S. 79. 314 Ich konzentriere mich hier auf Michael Mays Ausführungen, da bei May die konservative semiotische Lesart besonders klar entfaltet wird. Frederik Stjernfelt argumentiert gegenüber der Kogniti-

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

duced by Peirce seems in some ways to be more advanced than the modern theory of ›image-schema‹ as presented by Lakoff, especially with regard to the interplay of iconic and symbolic forms.«315 Mays Kritik richtet sich gegen die Missachtung der semiotischen Anteile von Diagrammen.316 Der Vorwurf lautet, dass die Kognitive Semantik und ihre Theorie einer eingebauten Logik von ›Image schemas‹ kein unmittelbares Sehen der logischen Konsequenzen ermöglicht, sondern nur unter Beteiligung semiotisch externalisierter Darstellungssysteme realisiert werden kann. Zieht man als Beispiel das ›Container‹-Schema heran, ist es die transitive Logik des Schemas, die nach Lakoff und Johnson automatisch erfahren wird.317 Von der Form eines Diagramms her gedacht behaupten Lakoff und Johnson nichts anderes als das, was in der Diagrammatik-Forschung, so auch bei Jan Wöpking, als »free ride« bezeichnet wird und was das Kernstück der Intervention von Diagrammen ausmacht, also den Umstand, dass Diagramme nicht nur Schlussfolgerungen zeigen, sondern als »quasi-autonom« Wissen generieren.318 Ein »free ride« ist folgendes Phänomen: Wenn man sagt, A ist in Container B und X ist in Container A dann gilt X ist in Container B In diesem Fall hat man sich einer metasprachlichen Schlussregel bedient. Wie schon Peirce schreibt, zeigt ein Diagramm jedoch diese Schlussfolgerung ( Kap. 3.3.2). Deshalb kann man Diagrammen die Fähigkeit unterstellen, auch die Schlussregel zu exemplifizieren. Zwar bedient er sich nicht des Begriffs eines »free rides«. May argumentiert aber, dass Lakoffs Variante des ›Image schema‹-Begriffs sich auf dieses Phänomen eines »free rides« beruft, um die logische Seite der unmittelbaren Erfahrungsqualität der ›Image schemas‹ zu begründen. Folgt man Mays Kritik an Lakoff, setzt Lakoff bei der Exposition seiner Variante einer »built-in logic« der ›Image schemas‹ auf dieses visuelle Phänomen, um eine intuitive Selbstevidenz bzw. Unmittelbarkeit von ›Image schemas‹ zu begründen.319 Lakoff macht sich, wie die Kognitive Semantik im Ganzen, einer Art diagrammatischem Internalismus schuldig, weil er die kulturelle Konventionalität dieses Phänomens übersieht. Mit seinem gegen die Möglichkeit rein kognitiver Selbstevidenz gerichteten Argument möchte May zeigen, dass die Schlussfolgerung in einem Diagramm im Geist nicht einfach so spontan evident ist, wie Lakoff unterstellt. Sie unterliegt ausgehanven Semantik ähnlich (vgl. Stjernfelt 2007, S. 258ff.). Siehe im weiteren Kontext auch Krois 2011, hier etwa S. 222f. 315 May 1999, S. 188. 316 Vgl. May 1995; May 1999, S. 181ff. 317 Ich gebe das Beispiel in einer Vereinfachung wieder, die auf das durchgängig in dieser Arbeit verwendete ›Container‹-Schema referiert. Damit soll nicht unterschlagen werden, dass die Analysen bei May (1995, 1999) komplexer gearbeitet sind. 318 Vgl. Shimojima 1996, S. 17ff.; Wöpking 2016, S. 36; Beck/Wöpking 2014, S. 349. 319 Vgl. May 1999, S. 183f.

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delten Normen. Dazu macht May klar, dass es auch alternative Lesarten gibt, die Schlussregel also symbolisch mehrdeutig ist. Schon die einfachsten Lektürealternativen des vorliegenden Diagramms stellen diese Mehrdeutigkeit aus. Aus der genannten Inferenz kann folgendes Diagramm konstruiert werden ( Abb. 22).

Abb. 22: Container-Diagramm. Quelle: Eigene Darstellung.

Dies zeigt, dass auch eine Schlussfolgerung wie ›A sind keine X‹ oder auch ›einige A sind keine X‹ möglich wäre. Eine durch kulturelle Normativität provozierte Quelle möglicher alternativer Lesarten ist die Definition der Linie, genauer: als welche Art von Grenze man sie liest. Die Festlegung, was die Linie repräsentiert, ist ambivalent und basiert auf symbolisch konventionalisierten Festlegungen (syntaktischen Regeln). Als Möglichkeiten bleiben diese alternativen Lesarten erhalten, weil man dem Diagramm nicht ansieht, ob man die Grenze der Linien als ausschließende Disjunktion oder als nicht-ausschließende Disjunktion lesen soll.320 Die Logik eines ›Container‹-Schemas produziert eine mehrdeutige Aussage. Man sieht etwas unmittelbar logisch in dem Diagramm. Aber diese unmittelbare Logik ist von symbolisch konventionalisierten Regeln abhängig. Derartige Regeln legen die zu vollziehende Schlussfolgerung anhand eines Objektes mit fest. May zufolge kann das kognitiv nicht begründet werden. Die epistemische Evidenz ist in den symbolischen Formatierungen der Raumstruktur von verkörperten Diagrammen vorgezeichnet. Im Einklang mit Peirce geht May noch einen Schritt weiter. Wenn man akzeptiert, dass die Logik nicht so eindeutig und selbstevident ist, wie Lakoff – jedenfalls in den Augen von May – unterstellt, dann muss dieses Denken in Diagrammen als ein intentionales Ma-

320 Vgl. zur kulturellen Konventionalität von »free rides« auch Rohr 1993, S. 75ff.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

nipulieren von Relationen betrachtet werden.321 Die Mehrdeutigkeit der dargestellten Struktur ist offensichtlich. Beispielsweise ist es möglich, dass man, folgt man der Hypothese, dass ›einige A nicht X‹ sind, den Kreis noch größer macht, weil man ausdrücken möchte, dass die Gruppe der A ›mehr‹ ist als die Gruppe der X. Die Fläche wird mit einem ›Inhalt‹ korreliert. Was man als analytischen Gewinn über den »free ride« bekommt, ist nicht so eindeutig, wie es scheint und lässt Raum für alternative Möglichkeiten.322 Aber genau diese alternative Möglichkeit ist schon im vorliegenden Beispiel eine durch ›Image schemas‹ regulierte. Das Umstellen auf einen ›Inhalt‹ bedeutet, dass die semiotische Form des Diagramms nach den Regeln des kognitiven ›Container‹-Schemas variiert wird. May führt zur Begründung seiner Kritik an, dass die Art der Schlussfolgerung im Diagramm von der Art des Sehens, also der Wahrnehmung abhängt. Im Anschluss an Richard Wollheim ruft May dafür die Unterscheidung zwischen Sehen-als und Sehen-in auf.323 Wenn Diagramme betrachtet werden, so May, kommt es darauf an, zwischen dem zu unterscheiden, was an Relationen im Diagramm gesehen wird und was an Relationen gedacht wird. Es wird in den bildlichen Relationen des Diagramms ein kognitiv visuelles Relationenbild gesehen. Wenn man das Diagramm als Diagramm sieht, sieht man auch das »Spektrum der Repräsentationsmöglichkeiten und der Manipulationsweisen«324 des Diagramms. Es gibt ein Sehen der Relationen und es gibt ein Sehen, in dem diese Relationen mit Gedanken zu diesen Relationen abgeglichen werden. Man sieht das Diagramm und eine »konzeptuelle Struktur«325 in dem Diagramm. Diese ›konzeptuelle Struktur‹ ist das, was ich hier ›Denkbild‹ nenne. Mit Peirce gilt für May daher: »the diagram interprets the geometric object«.326 Die Doppelung eröffnet die Möglichkeit für die Manipulation der Relationen, die, wie auch Mays an Peirce geschulter Ansatz betont, als eine Form der Bewegung zu denken ist.327 May betont: »This way we can also differentiate the operations that belong to the geometric object and those that belong to the diagram.«328 Im Fall der Logik von Diagrammen ist es beispielsweise möglich, zu unterscheiden, welche Veränderung der Formen einen logischen Unterschied machen und welche nicht. Diese Operation kann nicht so erklärt werden, dass die Logik des Diagramms aus sich heraus folgt, also auf einer Ebene liegt, sondern – wie Peirces Theorie es vorsieht – nur so, dass es zwei Ebenen (»level«) der Schematisierung von Diagrammen gibt.329 Diese zwei Ebenen sind durch die Relation zwischen Diagramm (›Sehen-als‹) und Denkbild (›Sehen-in‹) ausgedrückt, also als Differenz zwischen den räumlichen Merkmalen des Diagramms und dem, was in diesen räumlichen Relationen gesehen 321 May illustriert das anhand der Manipulation von Venn-Diagrammen, so vor allem in May 1995. 322 Wöpking (2016, S. 46ff.) diskutiert solche Mehrdeutigkeiten auch unter dem Begriff der Überspezifikationen. Zwei Fälle sind nach Wöpking besonders wichtig. Es werden (a) räumliche Eigenschaften semantisch interpretiert, die eigentlich nicht relevant sind (das ist hier nicht der Fall). Oder es werden (b) räumliche Eigenschaften zu Recht semantisch interpretiert, aber die Interpretation ist falsch. 323 Vgl. May 1995, S. 297ff.; May 1999, S. 175ff. 324 May 1995, S. 299. 325 May 1995, S. 297. 326 May 1999, S. 189. 327 Vgl. May 1999, S. 185ff. 328 May 1999, S. 189. 329 Vgl. May 1999, S. 184.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

wird. Vor diesem Hintergrund macht May gegen die Kognitive Semantik geltend, dass die Logik von Diagrammen nicht ohne semiotische Anteile auskommt. May zufolge übersieht Lakoff die Doppelstruktur zwischen Diagramm und Denkbild. Das ›Sehen-in‹ in einem Diagramm ist, wie May ausführt, die Relation zwischen Diagramm und Denkbild als Relation zwischen der materiellen Verkörperung, den Typen ihrer semiotischen Regulierung und den kognitiven Schemata. Dieser Vorwurf ist soweit richtig. Mays Argumente sind für jede kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise einleuchtend. Dennoch ist Mays Kritik nur zur Hälfte zutreffend, verkürzt er doch die Position von Peirce auf die Relation zwischen Diagramm und Denkbild.330 May verkennt, dass es hier einen ref lexiven Bezug dieser Konstellation zu einem impliziten ›Schema‹ gibt. Die Relation von Diagramm und Denkbild kann auf eine dritte Stelle bezogen werden. Infolgedessen schätzt er Lakoffs und Johnsons Position nicht ganz richtig ein. Die ›Image schemas‹ sind vor allem auf Ebene des im Diagramm gesehenen Denkbildes relevant, also in der semiotischen Deutung der Möglichkeiten dieser Strukturalität, wie sie durch das Denkbild ausgedrückt wird. Sie sind wirksam für das, was in einem Diagramm gesehen wird und beeinf lussen den Evidenzeffekt. Abstraktes Möglichkeitsdenken hat für Lakoff und Johnson seine Wurzeln im impliziten Körperwissen. Das gilt auch für Diagramme. May wirft Lakoff vor, die konzeptuelle Struktur der ›Image schemas‹ mit den geometrischen und bildlichen Eigenschaften von Diagrammen gleichzusetzen.331 Lakoff und Johnson sind sich aber der Differenz zwischen Schema und Diagramm, wie oben am Beispiel von Johnson gezeigt wurde, sehr wohl bewusst.332 Durch ihren Begriff der Wirksamkeit von ›Image schemas‹ in Metaphern sieht die Kognitive Semantik auch einen Begriff für die Relation zwischen Schema und Denkbild vor. Die Auslegung des Denkbildes, welche die Grundlage für die kreative Rekonfiguration eines Diagramms darstellt, ist eine Gestalt, die in konzeptuellen Metaphern repräsentiert ist und innerhalb der Bedingungen von ›Image schemas‹ rekonfiguriert wird.333 Überzeugend ist an Mays Kritik also, dass die Kognitive Semantik ein Begründungsdefizit in Bezug auf die Diskussion der Relation zwischen Diagramm und Denkbild aufweist. Diese Differenzierung wird von der Kognitiven Semantik nicht ausgearbeitet. Lakoff und Johnson interessieren sich nicht für die kulturelle Konventionalität der Form des Diagramms. Damit verliert die Kognitive Semantik den Anschluss an die Semiotik. Mays an sich sehr produktivem Ansatz entgeht aber, dass die Logik nur ein Aspekt von ›Image schemas‹ ist und der Begriff komplexer gearbeitet ist. Der Kognitiven Semantik wird unterstellt, sie orientiere sich am Diagramm bzw. dem Phänomen des »free rides« und kognitiviere dieses Phänomen. Allerdings verwenden Lakoff und Johnson Diagramme nur, um ›Image schemas‹ auf Ebene eines transkriptiven Verfahrens diskursiver Evidenz ref lexiv zu illustrieren, also ein Denkbild für diese zu schaffen. Wie Umberto Eco betonen auch Lakoff und Johnson, dass man sich die ›Image schemas‹ 330 Die gleiche Kritik kann man in Bezug auf Philipp Johnson-Lairds (2002) Ansatz anbringen. 331 Vgl. May 1995, S. 298. 332 Das ist auch ein Problem in der der Kritik an Lakoff/Johnson bei Stjernfelt 2007, S. 258ff. 333 Vgl. an May anschließend auch Michael Hoffmann (2009, hier S. 252), der ebenfalls darauf hinweist, dass logische Diagramme »nur dann ›logisch‹ [sind], wenn ihre möglichen und zulässigen Interpretationen explizit angegeben sind.«

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

als dreidimensionale, szenische und kinästhetische Relationenbilder vorzustellen habe, die in einem zweidimensionalen Diagramm nur unzureichend wiedergegeben werden. ›Image schemas‹ sind ein Begriff für kognitiv-semantische Aspekte impliziten Körperwissens, das in einer Praxis der Betrachtung von Diagrammen mitimpliziert ist. Mit einer Theorie des Diagramms, welche die semiotische Seite dieser Form hervorhebt und die bei May diskutiert wird, haben die ›Image schemas‹ wenig zu tun. Mays Vorwurf, der Begriff der ›Image schemas‹ sei verfehlt, weil er die zwei Ebenen der Schematisierung zwischen ›Sehen-als‹ und ›Sehen-in‹ übersehe, ist an dieser Stelle im Grundsatz richtig, aber überzogen. Die Erklärung dieser Ebenen ist gar nicht der Anspruch des Begriffs. ›Image schemas‹ können als im Prozess der Auslegung des Diagramms qua konzeptueller Metapher relevante Schemata behauptet werden. Sie beeinf lussen die Prozesse des Alternativen-Sehens im Diagramm, also der Konstitution eines Denkbildes, das Bedeutung hat. Die Kritik von May ist in diesem Punkt symptomatisch für weite Teile der semiotischen Diskussion zur Diagrammatik. Völlig zu Recht wird angemahnt, dass der Ansatz von Lakoff und Johnson dazu verleitet, von einer ›eingebauten‹ Logik auf die Logik formaler Systeme zu schließen.334 Der Begriff der ›Image schemas‹ wird in diesen Diskursen exklusiv auf seine logischen Eigenschaften hin befragt. Kaum etwas könnte der Intention, zumindest von Johnson (und dem frühen Lakoff), allerdings fremder sein. Bei allen ihren Schwächen knüpft die Kognitive Semantik am schlüssigsten dort an die Semiotik an, wo sie zeigt, dass die ›Image schemas‹ kinästhetische, dreidimensionale Schemata sind und darin durch eine gleichsam logische und ästhetische ›Kraft‹ ausgezeichnet sind. Inzwischen muss man Lakoffs Versuchen, die Mathematik über kognitive Metaphern zu begründen, allein aus schematheoretischen Gründen sehr skeptisch gegenüber stehen.335 Aber man darf auch nicht verkennen, dass vieles darauf hindeutet, dass es berechtigt ist, im Sinne materialer Inferenzen auf eine logische Struktur in Denkpraktiken zu verweisen, die in verkörpertem implizitem Wissen ihren Ausgang findet ( Kap. 2.1.2 u. 2.1.3).336 Diese Logik umfasst nicht alles implizite Wissen, das wäre absurd. Aber sie spielt direkt in die ästhetische Seite der Diagrammatik hinein, die bei Peirce im Begriff der ›Kraft‹ angedacht ist.337 Mays Position wäre weiterführender, würde sie nicht auf eine Kritik der Kognitiven Semantik hinauslaufen, sondern das Projekt von Lakoff und Johnson als komplementäre Bemühung begreifen.338 Die ›Image schemas‹ helfen dabei, eine bei Peirce wenig ausgeleuchtete Seite der Diagrammatik zu betrachten: die Fundierung insbesondere von Evidenzeffekten in Diagrammen durch kinästhetische Schemata, die dem impliziten Körperwissen angehören.339 Mit Lakoff und Johnson kann man behaupten, dass die Operation, die May in der Relation zwischen Diagramm und Denkbild lokalisiert, also die Operation des diagrammatischen Denkens, durch ›Image schemas‹ bedingt sind. Die Kognitive Semantik wird für die kulturwissenschaftliche Diagrammatik-Forschung kompatibel, wenn man die Komplexität von Peirces Theorie in Rechnung stellt. Anstatt die Relationalität 334 Vgl. hier insb. den Anschluss an May bei Hoffmann 2009, S. 252ff. 335 Vgl. mit Bezügen zu Kants Philosophie der Mathematik Gasperoni 2016; Krämer 2016. 336 Ich habe auf die entsprechenden Stellen insb. bei Tomasello 2014 hingewiesen. 337 Vgl. auch May 1995, S. 285. Siehe die entsprechenden Ausführungen in Kap. 3. 338 Diese Haltung ist ausgeprägter bei Stjernfelt 2007. 339 Vgl. anders Hoffmann 2009, S. 253f.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

des diagrammatischen Schließens als zweistellige Operation zu denken, ist es möglich, sie als ein dreistelliges Konzept zu verstehen. Das Zusammenspiel von Diagramm als materieller Form, die in ihrer semiotischen Regulierung ein Denkbild hervorbringt, bezieht sich ref lexiv auf die kognitiven Schemata der Wahrnehmung. Diese Ref lexivität ist eine metaphorische Explikation impliziter Schemata und – zumal als medial verkörperte Interaktion – zugleich ein Operieren unter ihren Bedingungen. Sie ist in dieser Metaphorizität aber nicht bloß eine ›nur‹ rhetorische Stellvertretung für ein internes Schema, das extern niemals als solches repräsentiert werden kann. Vielmehr wird in einem Diagramm über das Denkbild das Schema metaphorisch exemplifiziert. Die Bedeutung der ›Image schemas‹ liegt in einem metaphorischen ›Sehen-gleichsam-als‹ im empirischen ›Sehen-in‹ eines Diagramms. Das heißt aber auch: Metaphorische ›Mappings‹ spielen in die Auslegung von Diagrammen, fokussiert in der Metapher des ›Denkbildes‹, immer mit hinein. Mays Ansatz ist für diese Thesen als Ausgangspunkt hilfreich, weil er das Phänomen gegen Lakoff und Johnson wendet, von dem hier versucht wird, zu zeigen, dass es durch Lakoff und Johnsons Ideen in vertiefter Form erklärt werden muss: das im Denkbild realisierte Sehen und Ausagieren von Möglichkeiten von Diagrammen, also die Realisierung eines Denkbildes. Um diese Zusammenhänge auch auf Ebene der Diagrammatisierung zweiter Stufe als einen »ästhetikologischen« Sachverhalt verstehen zu können ( Kap. 3.5), muss man fragen, welche Eigenschaften eigentlich ein Diagramm von anderen Zeichenformen unterscheidet.

5.4.2 Analog/digital — Formale Aspekte von Diagrammen Wie kann man die formalen Eigenschaften von Diagrammen gegenüber denen anderer Darstellungssysteme abgrenzen? In der allgemein üblichen Sicht auf Diagramme wird die Differenz zwischen Bild (bzw. ›graphischer‹ Repräsentation) und Schrift (bzw. ›linguistischer‹ Repräsentation) vorgenommen. Atsushi Shimojima gelangt zu dem Ergebnis, dass aus darstellungstheoretischer Sicht sieben Unterscheidungen zwischen graphisch-bildlicher und linguistisch-schriftlicher Repräsentation zu beachten sind. Ich paraphrasiere und übersetze diese sieben Unterscheidungen aus dem englischen Original bei Shimojima:340 • • • • •

analoge vs. digitale Repräsentationen sequenzielle vs. nicht-sequenzielle Repräsentationen Repräsentationen mit ›Relationen-Symbolen‹ vs. ›Objekt-Symbolen‹ Stärker oder schwächer ›homomorphe‹ Repräsentationen Repräsentationen mit ausdeutbaren Grenzen der Expressivität vs. solchen, die nicht ausdeutbar sind (uneindeutig vs. eindeutig) • Repräsentationen mit intrinsischen und extrinsischen Einschränkungen vs. solchen, die nur extrinsische Einschränkungen haben • Repräsentationen, die nomische Einschränkungen projizieren und solche, die das nicht tun.341 340 Vgl. Shimojima 2001, S. 6ff. 341 Vgl. Shimojima 1996. Eine ›nomische Einschränkung‹ ist eine regelhafte Einschränkung räumlicher Koexistenzmöglichkeiten. Durch die Anwesenheit von Objekten und ihrer Relationen im Raum sind

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

Unter Zuhilfenahme einer von mir modifizierten Unterscheidung von Michael May und Frederik Stjernfelt ist es möglich,342 dies um die Unterscheidung in kontinuierliche und diskontinuierliche Diagramme und in ikonische und symbolische Diagramme zu erweitern. Die Unterscheidung zwischen kontinuierlichen vs. diskontinuierlichen Aspekten des Diagramms führt das Kriterium ein, ob die Teile eines Diagramms in immer kleinere Teile (bis an das Ende der Auf lösung des Diagramms) weiter differenziert werden können (kontinuierliche Diagramme), oder ob die Teile eines Diagramms diskret und disjunkt sind, also keine weitere Unterteilung zulassen (diskontinuierliche Diagramme). Die Unterscheidung zwischen ikonischen und symbolischen Aspekten bezieht sich hingegen auf das dargestellte Objekt im Diagramm. Sie betrifft den Ähnlichkeitsgrad und die Gegenständlichkeit des Objektes. Peirces Definition von Ikonizität erlaubt es, dass ein Diagramm sowohl wie ein Bild oder eher wie Schrift aussieht: Eine Karte ist genauso ein ›Ikon‹, wie eine algebraische Formel. May und Stjernfelt erarbeiten aus dieser Differenzierung im Anschluss an Peirce drei Grundformen des Diagramms 1. »image-diagrams« (z.B. Karte), 2. »diagram-proper« (z.B. Graph), 3. »symbolic-diagrams« (z.B. algebraische Formel).343 Die Unterscheidung zwischen kontinuierlichen/diskontinuierlichen Formen des Diagramms ist mit Nelson Goodmans berühmter Unterscheidung zwischen analogen und digitalen Symbolsystemen verbunden.344 In analogen Symbolsystemen macht jede Differenzierung einer Marke einen Unterschied, weshalb das System syntaktisch und semantisch dicht ist. In digitalen Symbolsystemen macht jede Marke einen distinkten Unterschied, weshalb das System syntaktisch und semantisch disjunkt ist.345 Unendliche Verfeinerung (analog) wird also von differenzierterer Bestimmung (digital) getrennt und dem Diagramm eine Mittlerposition zugesprochen.346 An der analog/ digital-Unterscheidung ist häufig Kritik vorgebracht worden. Atsushi Shimojima bemerkt, dass die Unterscheidung unklar sei, da graphische Systeme gefunden werden könnten, die nicht analog sind, und linguistische Systeme, die nicht digital sind.347 Diese Kritik verkennt aber, dass das formale Argument bei Goodman in einem funktionalen Gesamtkontext steht. Formale Eigenschaften eines Diagramms auszuzeichnen, ist abhängig von funktionalen Ansprüchen, die pragmatisch formuliert werden können. Diese Funktion ist bei Goodman dadurch bestimmt, dass Diagramme – trotz anderer philosophischer Annahmen hinsichtlich von Ikonizität, als dies bei Peirce artikulierten – zwischen analogen und digitalen Zeichen ›übersetzen‹.348

bestimmte Möglichkeiten impliziert, andere dagegen ausgeschlossen. Unter Verzicht auf die formale Sprache Shimojimas wird die Theorie diskutiert bei Wöpking 2016, S. 40ff. 342 May/Stjernfelt 2008. 343 Vgl. May/Stjernfelt 2008, S. 67f. 344 Vgl. in diesem Kontext auch die These von Günzel 2009, S. 131ff., die Karte zwischen dem Diagramm und dem Bild zu situieren. 345 Vgl. zu Goodman die Rekonstruktionen bei Hölscher 2005, hier S.  112ff. sowie Bauer/Ernst 2010, S. 93ff. Vgl. auch Goodman 1997, S. 154ff. 346 Vgl. Hölscher 2005, S. 117; Mahrenholz 1999, S. 564f. 347 Vgl. Shimojima 2001, S. 7f. 348 Goodman 1997, S. 163f. Instruktiv für Goodmans generelle Denkfigur von Kunst als einer Art ›Vermessung im Unmessbaren‹ siehe exemplarisch auch seine Diskussion der »Perspektive«, S. 21ff.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

5.4.3 Kriterien der Erkenntniskraft eines Diagramms Wenn man, von diesen Bemerkungen ausgehend, einen Blick in die Forschungsliteratur zur Darstellungstheorie von Diagrammen blickt, ist es auffällig, dass diese Ansätze an einer semiotischen Funktion oder gar an den kulturellen Funktionen von Diagrammen nicht interessiert sind. Peirces Diagrammbegriff wird zurückgewiesen.349 SunJoo Shin vermerkt: »One consensus reached among Peircean scholars is that Peirce’s meaning of ›diagrams‹ is much broader than our naive use of ›diagram‹. But substantially informative answers to the question: ›What does Peirce mean by ›diagram‹? have not been forthcoming in the history of logic in spite of their importance.«350 Der Vorwurf lautet, die Eigenschaften von Diagrammen seien am besten dann zu studieren, wenn man sich nicht um eine kultur- und medientheoretische Kontextualisierung bemüht, sondern auf die logischen Potenziale von Diagrammen in der Informationsrepräsentation. Die Semiotik ist in dieser Diskussion eher hinderlich als förderlich. Ein neueres Beispiel für die Kritik an einem weit gefassten Diagrammbegriff, wie Peirce ihn vertritt, ist Jan Wöpkings Theorie des epistemischen Diagrammgebrauchs. Wöpking verzichtet bewusst auf eine semiotische Perspektive. Für ihn wie auch für andere Autoren in diesem Feld ist in der Semiotik die Kluft zwischen einer Ausweitung der Diagramm-Kategorie zu einer Denkoperationen und den konkreten Erträgen der Analyse des Diagramms als Zeichenklasse zu groß. Demgegenüber werden aus Kontexten der Philosophie der Mathematik heraus Überlegungen angestellt, die auf die Klärung des kreativen und epistemischen Potenzials von Diagrammen abzielen. Diese Klärung kann wie Wöpking (analog zu Peirce) hervorhebt, idealtypisch am Beispiel der Geometrie erfolgen. Wöpking unterscheidet dazu »funktionale« und »materiale« Diagrammbegriffe.351 Die Geometrie ist ein geregelter Diskurs, in dem die Erörterung der Produktion eines auf Raumrelationen bezogenen Wissens das erklärungsbedürftige Phänomen darstellt. Die Privilegierung der Geometrie findet sich also auch in der Semiotik, etwa bei Michael Hoffmann.352 Ebenso wie Wöpking attestiert Mark Greaves der Logik und der Geometrie, sie seien diejenigen Disziplinen, in denen »highest standards for precise reasoning have been archived.«353 Ferner finde sich in diesen Diskursen die beste Diskussion zum Erkenntniswert von Diagrammen.354 Das Argument der paradigmatischen Rolle der Geometrie in der Frage nach der Klärung der epistemologischen Potenziale von Diagrammen ist so alt wie die philosophische Diskussion zur Diagrammatik.355 Peirce hätte das Argument geteilt. Er hätte es aber in einen größeren Rahmen eingebettet. Ein Hinweis wäre gewesen, dass es auch weniger idealtypische Ausprägungen von Diagrammatik gibt. Daher hat Peirce einen weiter gefassten Diagrammbegriff entwickelt. Dieser Diagrammbegriff kann auf die ästhetischen und 349 Vgl. u.a. Anderson/Meyer/Olivier 2002; Blackwell 2001; Greaves 2002; Shimojima 1996; Shin 2002; Shin 2012; Shin/Lemon 2018; Wöpking 2010; Wöpking 2012; Wöpking 2016. 350 Shin 2002, S. 20. 351 Wöpking 2016, S. 17f. 352 Hoffmann 2005. 353 Greaves 2002, S. 5. 354 Vgl. Greaves 2002, S. 5; Wöpking 2016. 355 Vgl. Gehring et al. 1992a, S. 7f.; Ueding 1992.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

weniger klar geregelten Diskurse, welche den Gegenstand der Kulturwissenschaften bilden, bezogen werden. Was in solchen Ansätzen verloren geht, ist, dass die Erörterung der Darstellungspotenziale von Diagrammen auf Voraussetzungen beruht, die nicht bei Diagrammen im engeren Sinne relevant sind, dennoch aber als ›diagrammatisch‹ angesprochen werden müssen. Zweifelsohne ist die auf die Form fixierte Forschung bei der Analyse der Eigenschaften von Diagrammen und ihrer epistemischen Potenziale präziser. Diese Wahrheitsfähigkeit ist aber vor allem dem jeweiligen Bezugsdiskurs geschuldet. Im Folgenden soll ein Teilaspekt des Ansatzes von Jan Wöpking aufgegriffen werden, um Ideen zu entwickeln, wie eine weit gefasste Perspektive auf die Diagrammatik auch in dieser Diskussion wichtig ist. Wöpking versteht Diagramme als materielle Raumdinge, deren Erkenntnispotenzial in der Verräumlichung von Informationen liegt. Die Relevanz der Gestaltung der Räumlichkeit von Diagrammen wird geklärt, indem Wöpking vier Merkmale unterscheidet, die ich hier aus Wöpkings Arbeit Raum und Wissen paraphrasiere und kommentiert wiedergebe. Wöpkings vier Kriterien sind: Exteriorität, Strukturalität, Direktheit und Interventionalität.356 1. »Exteriorität« bezieht sich auf die materielle Seite des Diagramms als einem ausgedehnten Raumding, das als dieses Ding bewegt werden kann, z.B. in Papierform in einem Buch. Das Diagramm kann von einem oder mehreren Personen betrachtet werden. Es ist stabil und man kann in ihm mittels anderer Medien Veränderungen vornehmen, etwa indem man Linien und Striche einzeichnet oder Inskriptionen, also z.B. Linien oder Buchstaben, verändert.357 Deshalb ist es auch möglich, von medialer Verkörperung zu sprechen. 2. »Strukturalität« bezieht sich auf die Form der Darstellung im Diagramm, also die semiotische Konfiguration der Relation, die man auf Basis eines Bild- und Textsortenwissens als ›diagrammatisch‹ erkennt. Der These untergeordnet, dass Diagramme – man denke an die bei Peirce angelegte These von der Isomorphie zwischen Denken und Sehen – nach Wöpking auf »[r]aumbasierte[r] Strukturisomorphie«358 beruhen, sieht Wöpking drei Eigenschaften als entscheidend an. Da wäre zunächst die »Veranschaulichung«: Diagramme verräumlichen Informationen, und zwar so, dass sie abstrakte und nicht-spatiale Informationen durch Verräumlichung gegenständlich machen (topologische, metrische Beziehungen etc.). Das zweite ist die »Strukturähnlichkeit«: Diagramme sind ihrem Gegenstand strukturell ähnlich. Sie repräsentieren die Relation zwischen Elementen, weshalb ein Diagramm nicht nur ein Objekt zeigt, sondern auch wie sich die Relationen in einem Objekt zueinander verhalten. Das ist eine strukturelle Ähnlichkeit zweiter Ordnung.359 Drittens ist die »Normativität« wichtig: Diagramme haben nur relativ

356 Vgl. Wöpking 2016, S. 2, vgl. zu »Spatialität« und »Normativität« auch Beck/Wöpking 2014, S. 349. 357 Vgl. Wöpking 2016, S. 12ff. 358 Vgl. Wöpking 2016, S. 13ff., hier S. 26. 359 Vgl. auch Schmidt-Burkhardt 2012a, S. 27ff., u. a. mit einem Hinweis zu »diagrammatische[r] Explizität«.

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zu einem semiotischen Regelsystem eine Bedeutung, das Inskriptionen zu Figuren macht und das die Operationsmöglichkeiten mit einem Diagramm spezifiziert.360 3. »Direktheit« ist nach Wöpking das kognitive Merkmal von Diagrammen, Schlussfolgerungen ›unmittelbar‹ zu zeigen, also über die visuelle Wahrnehmung unmittelbarer einsichtig zu machen, als etwa die Schrift dies vermag.361 Direktheit ist eine Eigenschaft von Strukturalität, weil die Art der Strukturähnlichkeit etwas über die Direktheit von Diagrammen aussagt. Als Faustregel gilt: Umso mehr die Relationen durch Relationen dargestellt und nicht durch symbolische Beschreibungen erschlossen werden, umso ähnlicher ist das Diagramm.362 4. »Intervention« ist schließlich die Fähigkeit von Diagrammen, »quasi-autonom« Wissen zu generieren.363 Diagramme liefern gegenüber den Informationen, die zu ihrer Konstruktion beigetragen haben, einen Überschuss. Das ist ihr epistemologischer Mehrwert. Dieser Überschuss wird als »free ride« bezeichnet.364 Durch die Überführung von Informationen in diagrammatische Konfigurationen werden die Informationen mit Beschränkungen über die Koexistenzmöglichkeiten von Sachverhalten (»Nomische Einschränkungen«) versehen.365 Diese Beschränkungen sind ein Raster, das Inferenzen erzeugt, die als Mehrwert auf das Objekt zurückbezogen werden können. Das ist ein Vorgang, der häufig als eine Explikation von Implizitem aufgefasst wird.366 Wöpkings vier Kriterien sind sehr gut aufeinander abgestimmt. Sie stellen eine hervorragende Synthetisierung der darstellungstheoretischen Diskussion zu Diagrammen dar. Für die Klärung des epistemischen Potenzials des Diagramms als kultureller Form sind diese Überlegungen grundlegend. An das Kriterium der Exteriorität knüpft Wöpking die These, dass Diagramme – zumindest, wenn man sie in Relation zur Geometrie liest – mehr sind als Hilfsinstrumente, die sich gegenüber dem geometrischen Erkenntnisverfahren neutral verhalten. Dies ergibt sich aus der durch Exteriorität zur Schau gestellten, konventionalisierten Strukturalität des Diagramms. Die Fähigkeit von Diagrammen, Wissen zu produzieren, ist nur relativ zu einem konventionalisierten Darstellungssystem erklärbar (was ein Regelsystem einschließt). Wie Wöpking 360 Vgl. Wöpking 2016, S. 21f. 361 Das Theorem von der »Direktheit« der Diagramme ist einerseits ein klassisches kognitionspsychologisches Thema, siehe etwa Tversky/Kesell 2014, hier S. 206. Andererseits existiert die medientheoretische These, dass Formen der Visualisierung existieren, die ›direkter‹ als Diagramme sind, so bei Manovich 2010, hier S. 14. Im Kern dreht sich die Debatte um die Frage, welche Visualisierungsformen, anhängige Kulturtechniken und materielle Medien Körper und abstraktes Denken am effektivsten aufeinander beziehen ( Kap. 2.1.5). Siehe zu dieser Debatte im Erscheinen Ernst 2020b. 362 Vgl. Wöpking 2016, S. 26ff. 363 Vgl. Wöpking 2016, S. 36. 364 Vgl. Shimojima 1996, S. 17ff. Vgl. unter Bezug auf Peirce auch Heßler/Mersch 2009a, S. 21ff., zum Überschuss von Diagrammen als epistemologischem und/oder ästhetischen Phänomen auch Beck 2016. 365 Vgl. Wöpking 2016, S. 40f., der hier Shimojima 2001 folgt. 366 Vgl. Wöpking 2016, S. 43, S. 44ff.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

argumentiert, fußt das Erkenntnispotenzial von Diagrammen in der Geometrie auf der Form der konventionalisierten Strukturierung von räumlichen Relationen in einer materiell verkörperten Form: »Es kommt nicht darauf an, was ich in einem Diagramm sehen kann, sondern was ich in ihm sehen darf. Es handelt sich hier um eine Art kontrollierte Souveränitätsaufgabe. Ich gestehe zu, dass es im Umgang mit Zeichnungen zu Emergenzeffekten kommt, doch ich lasse nur bestimmte, nicht alle Emergenzen zu. Das ist die Lehre, die sich aus der euklidischen Geometrie ziehen lässt und die ungebrochen für heutige diagrammatische Systeme gilt.«367 Das Diagramm fungiert als ein Medium des Denkens, in dem Denken in externalisierter Form verkörpert wird, sich einem als automatisch ablaufend erfahrenen Prozess unterwirft. Das Kriterium, dass Diagramme raumbasierte Strukturisomorphismen sind, betrif ft das heikle Thema der Ähnlichkeit von Diagrammen. In der Bildwissenschaft herrscht anknüpfend an die Position Nelson Goodmans eine kritische Haltung gegenüber einem naiven Ähnlichkeitsbegrif f.368 Peirces operativer Ikonizitätsbegrif f wahrt ebenfalls Abstand. Ikonizität wird von Peirce an die Eigenschaft geknüpft, mit einem Zeichen mehr über einen Sachverhalt zu lernen (operationale Ikonizität).369 Ähnlichkeit ist bei Peirce mit der Frage verbunden, inwiefern sie in Relation zu einer semiotischen Ordnung Wissen produziert. Diese operative Definition von Ikonizität ist von Bedeutung, weil Diagramme eine besondere Art der Ähnlichkeit aufweisen: Strukturähnlichkeit.370 Während mimetische Ähnlichkeit sich auf die wahrnehmbaren Eigenschaften eines Objektes bezieht, kann Strukturähnlichkeit einem Objekt auch in Eigenschaften ähnlich sein, die für die Wahrnehmung unsichtbar sind.371 Um diese strukturelle Anreicherung der Wahrnehmung zu verstehen, kann man mit Wöpking zwischen einer Ähnlichkeit erster Ordnung und einer Ähnlichkeit zweiter Ordnung unterscheiden: Ähnlichkeit erster Ordnung bezieht sich auf einzelne wahrnehmbare Elemente eines Objektes; Ähnlichkeit zweiter Ordnung auf die Beziehungen zwischen diesen Elementen des Objektes, also auf seine Struktur und mithin auf abstrakte Sachverhalte.372 Ähnlichkeit zweiter Ordnung, die für diagrammatische Darstellungssysteme typisch ist, ist analytischer als die mimetische Ähnlichkeit erster Ordnung. Im Kontext der Konzepte operationaler bzw. operativer Ikonizität werden Diagramme häufig über ihre der Metapher verwandte Fähigkeit definiert, abstrakte Sachverhalte strukturell ähnlich wahrnehmbar zu machen.373 Entscheidend ist, dass – wenn die Strukturen des Bezugsobjektes nicht an diesem äußerlich wahrnehmbar sind – sie im Diagramm konstruiert werden, dass das Diagramm also ein Struktur367 Wöpking 2016, S. 131. 368 Vgl. Scholz 2004; Scholz 2009. 369 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 90ff. 370 Vgl. auch Schneider 2016, S. 181ff. 371 Vgl. Wöpking 2016, S. 16. 372 Vgl. Wöpking 2016, S. 17f. 373 Vgl. Wöpking 2016, S. 23f.

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bild entwirft.374 Daher ist es möglich, im Fall von Diagrammen für die Ähnlichkeit zweiter Ordnung in Diagrammen auch von entwerfender Ähnlichkeit zu sprechen.375 Für das Verständnis der semiotischen Gestalt von Diagrammen ist der Verweis auf diese Konstruiertheit von großer Bedeutung. Die Gestalt von Diagrammen setzt, wie die Semiotik es fordert, Wahrnehmung, Überzeugung und Handeln miteinander in Beziehung. Wöpking spricht von einer »operationalen Isomorphie«.376 Dass man mit Diagrammen über die visuelle Wahrnehmung schlussfolgernd handeln kann, qualifiziert Diagramme für einen, von Wöpking im Anschluss an die Forschung so genannten, »surrogativen« Gebrauch, also für eine Verwendung als Erkenntnismittel in entsprechenden Praktiken.377 Als konventionalisierte Ordnungen sind strukturelle Ähnlichkeiten durch ein Regelsystem ausgezeichnet. Beeinf lusst von Goodman, unterschiedet Wöpking zwischen syntaktischen und semantischen Regeln des Diagramms. Die syntaktischen Regeln sind Konstruktions- und Manipulationsregeln. Sie geben vor, welche Kombinationen als gültig angesehen werden. Die semantischen Regeln sind Inferenzregeln.378 Syntaktisch wird definiert, was wahrgenommen wird und welche Handlungen möglich sind. Semantisch wird festgelegt, welche Schlüsse aus der Interaktion von Wahrnehmung und Handlung gezogen werden können. Die Eigenart von Diagrammen, als Formen und Medien in Erkenntnispraktiken zu dienen, bringt es mit sich, dass Diagramme die Eigenschaft aufweisen, vergessen zu machen, dass sie nur Erkenntnismittel sind. Dieser Immersionsef fekt, den auch Peirce beschreibt ( Kap. 3.3.1) – Wöpking nennt das »Transparenz«379 ( Kap. 2.2.6) – ist sowohl ein syntaktisches und semantisches als auch ein pragmatisches Kriterium. Der Immersionsef fekt entsteht aus dem Umstand, dass mit dem Gegenstand experimentiert wird: Die Unsichtbarkeit des Diagramms als einer medialen Form, welche diese Transparenz erzeugt, ist nicht nur ein gut bekanntes medientheoretisches Motiv, sondern in diesem Fall ein Effekt der operativen Variation von Strukturen, also ihrer Virtualisierung im Sinne eines Entwurfs auf einen zukünftigen Zustand der Konfiguration hin.380 Eine solche Transparenz ist kein ›aktiverer‹ Zustand, sondern steht in Beziehung zu der durch strukturelle Ähnlichkeit hervorgerufenen Direktheit von Diagrammen ( Kap. 3.3.2). Im Lichte des Fokus auf die Evidenzeffekte von Diagrammen, ist insbesondere die bei Wöpking diskutierte Direktheit von besonderem Interesse, ist es doch ein Phänomen, das als epistemische Evidenz aus der Diskursivität diagrammatischer Evidenzverfahren entsteht. Wöpking vertieft seinen Ansatz, indem er im Anschluss an 374 Vgl. Wöpking 2016, S. 24f. 375 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 44; Scholz 2004; Scholz 2009. 376 Wöpking 2016, S. 25. 377 Vgl. Wöpking 2016, S.  24f. Das Diagramm als Erkenntnismittel diskutiert auch Hoffmann 2005. Mit einem stärker medientheoretisch akzentuierten Begriff kann man auch von einem supplementären Gebrauch von Diagrammen sprechen ( Kap. 6.1). Der Begriff des Supplements hebt hervor, dass Diagramme ihre Erkenntnispotenziale stets als Übersetzungsmedien, z.B. zwischen Bild und Schrift, in intermedialen Kontexten entfalten, also als ergänzende ›Dritte‹. Vgl. auch Ernst 2012b. 378 Vgl. Wöpking 2016, S. 21ff. 379 Vgl. Wöpking 2016, S. 34. 380 Dies weist gewisse Ähnlichkeiten zu einem ›Interface-Effekt‹ nach Galloway (2012) auf ( Kap. 7.1.2).

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

Bertrand Russel bemerkt, es mache einen Unterschied, ob man eine Relation durch eine Relation darstelle oder durch ein Symbol.381 Als Strukturen, die Relationen durch Relationen darstellen, sind Diagramme durch die Nutzung von Räumlichkeit für Repräsentation den Bildern ähnlich. Dies verleiht ihnen die Möglichkeit, abstrakte Informationen präsentativ darzustellen.382 Somit lässt sich festhalten, dass ein Diagramm umso ›direkter‹ ist, je mehr der symbolische Anteil zurückgedrängt wird.383 Die Direktheit spielt in das vierte Kriterium Wöpkings, die Intervention, hinein, also die Leistung von Diagrammen, Schlussfolgerungen nicht nur zu zeigen, sondern in diesem Zeigen einen Überschuss zu kreieren, der über die in der Konstruktion des Diagramms enthaltenen Prämissen hinausgeht. Diese ›Interventionalität‹ von Diagrammen bedeutet, dass Diagramme durch die direkte Art ihrer Strukturähnlichkeit in Bezug auf die Struktur eines Objektes in der bereits zitierten ›automatischen‹ oder ›eingebauten‹ Art und Weise Schlussfolgerungen präsentieren. Sie ist nicht einfach nur in einem kognitiven Sinn ökonomischer, sondern produziert einen neuen Informationsmehrwert. Das ist der Überschuss, der aus der Art der Raumnutzung entsteht.384 ›Überschuss‹ heißt, dass das Diagramm aus der Art seiner Gestaltung heraus ein Mehr an Informationen produziert, als in der Ausgangskonstruktion angelegt war. Mit Diagrammen kann man etwas Neues lernen. Nach Peirce ist dieser Mehrwert im Zeigen einerseits mit der korollarialen Deduktion verschränkt. Diagramme produzieren als raumbasierte Erkenntnismedien in ihrer Sichtbarkeit automatisch eine Schlussfolgerung. Andererseits bietet die Möglichkeit ihrer Rekonfiguration in der theorematischen Deduktion, die Verhältnisse im Diagramm so anzuordnen, dass aus dieser Praxis eine neue Erkenntnis folgt ( Kap. 3.5.2 und 3.5.3). Mit Blick auf die oben geführte Diskussion ist es dann aber die Frage, inwiefern diese Kriterien auf implizites Wissen zurückverweisen.

5.4.4 Zur Rekonfiguration von Diagrammen In der Philosophie der Mathematik ist es umstritten, inwieweit geometrische Begriffe und Sätze lebensweltlich, also etwa durch Embodiment, motiviert sind.385 Wöpking verweist auf Merleau-Ponty, der in Phänomenologie der Wahrnehmung schreibt: »Ich glaube, daß ein Dreieck eine zwei Rechten gleiche Winkelsumme und alle anderen, weniger sichtbaren Eigenschaften, die ihm die Geometrie zuschreibt, immer schon hatte und immer behalten wird, weil ich im Besitz der Erfahrung eines wirklichen Dreiecks bin und dieses, als physisches Ding, notwendigerweise in sich hat, was immer es je zu bekunden vermochte oder noch wird bekunden können.«386

381 Vgl. Wöpking 2016, S. 27ff. Bei Frederik Stjernfelt und Michael May wird dies durch die Differenz zwischen »diagrams proper« und »symbolic diagrams« ausgedrückt. Vgl. May/Stjernfelt 2008, S. 67f. 382 Vgl. auch die Bemerkungen zu Susanne Langers (1992) Unterscheidung zwischen »diskursivem« und »präsentativem Symbolismus« in Bauer/Ernst 2010, S. 284ff. 383 Vgl. Wöpking 2016, S. 29. 384 Vgl. Wöpking 2016, S. 39, zur Ökonomie-These S. 53ff. 385 Vgl. Wöpking 2016, S. 82ff. 386 Merleau-Ponty 1966, S. 442.

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Während die lebensweltliche Motivation der Geometrie, wie Merleau-Ponty sie behauptet, an sich schon eine starke These ist, ist es erst recht kontrovers, zu fragen, inwieweit diese Motivation als eine Ähnlichkeit zwischen beiden Sphären behauptet werden kann – also eine Ähnlichkeit zwischen den impliziten Strukturen der verkörperten Wahrnehmung und den exterioren Strukturen der konventionalisierten geometrischen Darstellungssysteme. Dieser Übergang ist, wie Wöpking unter Einbindung der Positionen von Moritz Pasch und Ludwig Wittgenstein ausführt, kein einfacher Übergang: »[E]s ist die eine Sache, die plausible Position zu vertreten, dass geometrische Begriffe und Sätze lebensweltlich motiviert sind. Doch es ist eine ganz andere Sache zu behaupten, dass das resultierende begriffliche System dem lebensweltlichen hinreichend ähnlich ist. Genese und Geltung verlaufen keineswegs notwendig ähnlich. Anders gesagt: Zwischen Kern und Stamm (Pasch) bzw. zwischen Erfahrungssatz und grammatischem Satz (Wittgenstein) gibt es keinen sanften Übergang; es handelt sich um einen Sprung zwischen einer faktischen und einer normativen Welt.«387 Die Überführung von Informationen in ein Diagramm wird in der Standardsicht auf Diagramme als veranschaulichende Explikation von Implizitem aufgefasst.388 Die Ausführungen zu den ›Image schemas‹ haben gezeigt, dass sich in diesen Prozess als einer Praxis, die in einem semiotischen Darstellungssystem vollzogen wird, selbst wieder implizites Wissen einschreibt und die Konstitution der Bedeutung dessen, was in einem Diagramm gesehen wird, beeinf lusst. Der Erkenntnisgewinn eines »free rides« liegt nach Wöpking in den syntaktischen und semantischen Regeln der Strukturalität des Diagramms. Dafür ist die Ikonizität des Diagramms im Sinne seiner Strukturähnlichkeit zweiter Ordnung entscheidend. Aus Wöpkings umfassender Argumentation möchte ich hier exemplarisch einen Teilaspekt herausgreifen, anhand dessen sich das für die vorliegende Studie entscheidende Kriterium der Direktheit und der Interventionalität, die auf epistemische Evidenz zielen, gut diskutieren lässt. Wöpkings These lautet, dass bei logischen Systemen eine der Antworten auf diese Direktheit in der Art der Raumnutzung durch Diagramme liegt. Dazu unterscheidet er zwischen einer »intrinsischen« und einer »extrinsischen« Strukturähnlichkeit«.389 Bei intrinsischer Strukturähnlichkeit ergibt sich die Ähnlichkeit aus der Art der Nutzung, also der Konfiguration von Räumlichkeit, bei extrinsischer Strukturähnlichkeit ist sie eine symbolische Setzung. Wöpking macht folgendes Beispiel: Man hat die Menge natürlicher Zahlen 2,3,5,7 und will dieses Set an Zahlen in seinen Relationen dadurch erfassen, dass man die ›kleiner-als‹-Relation darstellt. In intrinsischen Darstellungen (linke Skizze) ist diese Relation sofort abgebildet, in extrinsischen (rechte Skizze) ist sie nur mühsam zu rekonstruieren ( Abb. 23).

387 Wöpking 2016, S. 88f. 388 Vgl. Wöpking 2016, S. 43, S. 44f.; Stjernfelt 2007, S. 99f. 389 Vgl. Wöpking 2016, S. 29f.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

Abb. 23: Intrinsische und extrinsische Strukturähnlichkeit nach Wöpking. Quelle: Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30, Abb. 2.

Die Relation ›kürzer als‹ ist im linken Fall strukturähnlich mit der Relation ›kleiner als‹. Im rechten Beispiel ist das nicht gegeben. Im linken Beispiel wird der Raum ›direkt‹ genutzt, im rechten Fall nicht. Diese Beobachtung korrespondiert mit der Eigenart von Diagrammen, relationale Strukturähnlichkeiten darstellen zu können. Die logischen Potenziale des Diagramms nehmen allerdings mit steigender Ikonizität des Diagramms ab.390 Wöpkings Beispiel weist auch einen Unterschied in der Perspektivität auf: Das rechte Diagramm muss aufwendiger ausgelegt werden, weil in der Konfiguration die durch die Pfeile angezeigten Wege durchlaufen werden müssen. Da das linke Beispiel nicht linear-direktional gelesen wird, kann man es dagegen so erfassen, dass keine oder zumindest nur sehr wenig zusätzliche Bewegung ausgeführt werden muss. Der Aufwand, ein Diagramm zu lesen, lässt sich in Bewegung umrechnen: Umso weniger Bewegung vom Diagramm gefordert wird, umso unmittelbarer und direkter ist der Informationseffekt. Das Diagramm muss immer ein gewisses Maß an Bewegung fordern, weil es sonst keine Strukturähnlichkeit realisieren kann. Das Diagramm fordert mithin einen Transfer, muss diesen Transfer aber ›billig‹ anbieten, indem es ihn möglichst kurz hält. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass die Elemente in den Beispielen nicht gleichartig sind. Zahlen sind Symbole, Linien sind Ikons, die in einer bestimmten Hinsicht interpretiert werden. Diese Hinsicht ergibt sich aus der Art der Relation, in der sie im Diagramm zu den Zahlen gesetzt werden. Die Relation, also die Struktur B, die als Ikon einer Struktur A fungiert, führt vom Symbolischen ins Ikonische. Die Ikons erklären die Symbole. Dieser Prozess verläuft vom Abstrakten ins Gegenständliche. Mit den Mitteln des Gegenständlichen wird das Abstrakte erklärt. Das ist ein Prinzip, das Diagrammen mit Metaphern gemein haben (Prinzip der Veranschaulichung). Doch was folgt daraus? In der Informatik391 und der Forschung zur Informationsvisualisierung ist die Bedeutung des metaphorischen Sehens für das Verständnis von Diagrammen Gegen-

390 Interessant sind hier auch Alexander Gerners Bemerkungen zum Verhältnis einer mehrdeutigen und vagen Direktionalität: »[…] the degree of image iconicity and its virtuos vagueness as the vague possibility of an introduction of the new is reciprocal to the preciseness and degree of determination toward its object«. Vgl. Gerner 2010a, S. 177. 391 Vgl. Blackwell 1998.

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stand empirischer Untersuchungen.392 Alan Blackwell hat sich der Frage gewidmet, ob die These, dass Diagramme metaphorisch rezipiert werden, so etwa für Graphical-User-Interfaces behauptet werden kann. Das Ergebnis seiner Studie verneint die Hypothese, kommt also zu dem Ergebnis, dass Metaphern bei der Auslegung von Diagrammen keinen besonderen Wert haben. Das exakte Gegenteil wird in der Infovis-Forschung als Ergebnis präsentiert. Caroline Ziemkiewicz und Robert Kosara kommen im Rahmen ihrer Studien zu dem Ergebnis: Diagramme werden metaphorisch wahrgenommen.393 Das maßgebliche Problem dieser Studien liegt darin, eine Metapher vorschlagen zu müssen, die von allen Rezipienten als spezifische Metapher erkannt wird. Ziemkiewicz und Kosaras Studien scheinen mir hier interessanter, weil sie in dieser Hinsicht weniger starke Annahmen machen. Der Punkt an Metaphern ist, dass sie prototypische Ähnlichkeiten ausbilden können, bei denen die Teile in der Gruppe – dem Prinzip der Familienähnlichkeit vergleichbar – keine erkennbare Ähnlichkeit haben und dennoch implizit als zugehörig ›metaphorisch‹ wahrgenommen werden. Unterstellt man spezifische Metaphern, dann geht genau das verloren, was die Metapher als einen Inferenzprozess auszeichnet. Bei Ziemkiewicz wird eine Interaktion zwischen konzeptuellem und metaphorischem Sehen angenommen, die sich u.a. in der Wahrnehmung von Kräfteverhältnissen manifestiert. Verhältnisse zwischen Elementen und ihren Relationen werden als Kräfteverhältnisse verstanden und metaphorische ›Mappings‹ verwendet, um etwas über die Beziehung zwischen den Daten zu sagen.394 Dieses Wissen interagiert mit semiotischen Schemata wie Balken-Diagrammen oder Linien-Diagrammen, die unterschiedliche Implikationen haben: In Balken repräsentierte Informationen werden etwa als separate Gruppen wahrgenommen. Linien führen dagegen zur Wahrnehmung als Trend.395 Die Vermutung ist daher berechtigt, dass Metaphern eine Rolle spielen, wenn in den syntaktischen Strukturen des Diagramms das Bezugsobjekt identifiziert wird. Wenn das Diagramm eher bildlich ist, kann dies auf Ebene von »specific-level«-Metaphern geschehen (das vermutet Blackwell mit seinen Metaphern). In der Regel handelt es sich aber um abstrakte »generic-level«-Metaphern, allen voran die eng mit ›Image schemas‹ assoziierten orientierenden Metaphern. Bezogen auf Wöpkings Unterscheidung zwischen intrinsisch-strukturähnlicher und extrinsisch-strukturähnlicher Darstellung, zeigt sich beispielsweise, dass die intrinsisch-strukturähnliche Darstellung leicht mit der (generischen) orientierenden Metapher ›Mehr ist oben, Weniger ist unten‹, die extrinsisch-strukturähnliche Darstellung dagegen mit der (spezifischen) strukturellen Metapher ›Lineare Skalen sind Pfade‹ in Verbindung gebracht werden kann ( Abb. 24 u. Abb. 25). Johnsons Diktum, dass Diagramme nicht die Schemata sind und auf sehr viele Formen passen würden (das ist ja gerade der Witz von Schemata), ist mir bei diesen analogischen Bildpaaren wohl bewusst. 392 Vgl. Ziemkiewicz 2010; Ziemkiewicz/Kosara 2008; Ziemkiewicz/Kosara 2009; Ziemkiewicz/Kosara 2010a; Ziemkiewicz/Kosara 2010b. 393 Vgl. weiterführend hier auch die Studie von Drewer 2003 zur Relevanz der kognitiven Metapher in der wissenschaftlichen Modellbildung. 394 Vgl. Ziemkiewicz 2010, S. 27f.; Ziemkiewicz/Kosara 2010b. 395 Vgl. Ziemkiewicz 2010, S. 17.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

Abb. 24: Orientierende Metapher ›Mehr ist oben, Weniger ist unten‹. Quelle: Eigene Darstellung nach Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30, Abb. 2.

Abb. 25: Strukturelle Metapher ›Lineare Skalen sind Pfade‹. Quelle: Eigene Darstellung nach Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30, Abb. 2.

Neben dem Unterschied, dass die orientierende Metapher bedeutungsärmer, aber ikonischer ist als die stärker symbolische strukturelle Metapher, beruhen beide Metaphern auch auf unterschiedlichen ›Image schemas‹: im ersten Fall auf dem vertikalen ›Scale‹-Schema, im zweiten Fall auf dem horizontalen ›Path‹-Schema. Die Darstellungen der ›Image schemas‹ sind Johnsons The Body in the Mind entnommen und werden hier mit Wöpkings Skizzen kombiniert ( Abb. 26 u. Abb. 27).

Abb. 26: Vergleich von Wöpkings Darstellung mit dem ›Scale‹-Schema nach Mark Johnson. Quelle: Eigene Darstellung nach Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30, Abb. 2 und Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 123.

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Abb. 27: Vergleich von Wöpkings Darstellung mit dem ›Path‹-Schema nach Mark Johnson. Quelle: Eigene Darstellung nach Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30, Abb. 2 und Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 113.

Beide Schemata teilen verschiedene Merkmale. Zu nennen sind Direktionalität und Offenheit/Geschlossenheit. Es gibt aber auch signifikante Unterschiede. ›Scale‹ ist auf eine Menge und eine Intensität bezogen. Ferner ist es mit numerischen Werten assoziierbar (Zahlen) und kumulativ (wenn man 10 hat, hat man auch 15), ›Path‹ ist progressiv (wenn man A passiert hat, ist man bei B), ›Scale‹ bezieht sich auf die Praxis des Messens, ›Path‹ nicht. Diese Eigenarten von ›Scale‹ hängen damit zusammen, dass Vertikalität mit steigender Menge assoziiert wird, also z.B. einem steigenden Flüssigkeitsspiegel in einem Wasserglas.396 Aus diesem Grund wird das intrinsisch-strukturähnliche Diagramm, wie Wöpking in Anlehnung an die analog/digital-Unterscheidung Goodmans beobachtet, als stärker analog verstanden (alle Varianten in den Linien machen einen Unterschied), das extrinsisch-strukturähnliche Diagramm dagegen als stärker digital (nur die Verknüpfungen machen einen Unterschied).397 Während ›Mehr ist oben, weniger ist unten‹ eine qualitative Auszeichnung mit indizierender Funktion ist, handelt es sich bei ›Lineare Skalen sind Pfade‹ um eine Inferenz, in der symbolisch eine abstrakte mit einer konkreten Domain interagiert. Was aber lässt die zweite Darstellung umständlicher erscheinen? Wöpkings These besagt, dass die Nutzung des Raumes, die im ersten Fall keine weitere Bewegung notwendig macht, einen Vergleich zwischen den Linien erlaubt. ›Scale‹ bietet in Bezug auf die ›Direktheit‹ einen ›billigeren‹ »free ride«, als ›Path‹. Den Unterschied in den kognitiven Kosten macht aber nicht nur der Raum, sondern auch die Bewegung. Im Unterschied zum ›Scale‹-Schema wird das ›Path‹-Schema nicht in Relation zu einer Menge, sondern zur Bewegung gedacht. Das metaphorische Entail396 Vgl. Johnson 1987, S. 121f. 397 Vgl. Wöpking 2016, S. 29ff., hier S. 33.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

ment ist eindeutig: Das ›Path‹-Schema ist Teil des ›Source-Path-Goal‹-Schemas. Das Schema ist verknüpft mit der Domain ›Path Over Which Motion Occurs‹ und dieser Bedeutungsbereich wird in der Metapher ›Lineare Skalen sind Pfade‹ (›Linear Scales Are Paths‹) bewahrt und die Vertikale des ›Scale‹-Schemas auf die horizontale Achse umgelegt: • • • •

›Image schema‹: ›Path‹ (›Source-Path-Goal‹) Ausgangsbereich: ›Path Over Which Motion Occurs‹ Zielbereich: ›Linear Scale‹ Konzeptuelle Metapher: ›Linear Scales Are Paths‹

Aber als was wird Bewegung gedeutet? Bedeutsam scheint die Idee einer Kraft, die durch das ›Force‹-Schema angeleitet wird. Bewegung im extrinsisch-strukturähnlichen Diagramm ist aufwendig, weil sie nicht kontinuierlich-analog, sondern intermittierend-geblockt ist. Das korrespondiert mit dem ›Force-(Blockage)‹-Schema ( Abb. 28).

Abb. 28: Vergleich von Wöpkings Darstellung mit dem ›Blockage‹-Schema nach Mark Johnson. Quelle: Eigene Darstellung nach Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30, Abb. 2 und Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 46.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

In dem Diagramm werden die Wegpunkte als Blockaden wahrgenommen. Die Bewegung kann in dem Diagramm nicht durchgängig ›f ließen‹, und zwar deshalb, weil der Raum nicht gut genutzt wird, sondern das Diagramm in einer zeitlichen Sequenz von Iterationen immer wieder durchgespielt werden muss. Daher ist der »free ride« nicht ›billig‹, sondern aufwendiger (teuer). Hinzu kommt, dass das Diagramm nicht als analog, sondern als digital wahrgenommen wird. Die Kosten des Diagramms, wie sie im »free ride« zur Geltung kommen, sind daher zumindest in der Frage, welchen Evidenzeffekt das Diagramm hat, Bewegungskosten. Diese Bewegungskosten aber sind eine implizite Kraft, die sich semantisch aus der Beschränkung der Variationsmöglichkeiten des Diagramms und mithin der Konstitution des Denkbildes ergibt. Drei Ergebnisse sind aus diesen kursorischen Erörterungen der Bedeutung von ›Image schemas‹ in der Diskussion von kognitiver Direktheit festzuhalten: • Die Ausgangsvermutung hat sich konkretisiert: ›Image schemas‹ spielen via Metaphern in die Semantik von Diagrammen hinein, also in die schlussfolgernde Auslegung, die auf Grundlage eines Regelsystems gezogen wird. • Wöpkings intrinsische und extrinsische Strukturähnlichkeit schlagen sich in kognitiven ›Kosten‹ nieder, die semantisch, also in ihren phänomenalen Bedeutungsqualitäten, auf sensomotorische Aktivität zurückführbar sind: Die Beobachtungskosten werden als Bewegungskosten durch die Schablone von ›Image schemas‹ wie ›Force‹ gelesen. • Die These, dass Raumnutzung ein Kriterium diagrammatischer Systeme ist, wird bestätigt. Sie erlaubt auch Aufschluss über die diagrammatischen Anteile anderer ikonischer Darstellungssysteme. Raumnutzung ist nicht von Bewegung abtrennbar. An dieser Stelle möchte ich auf die semiotische Dimension des ›Container‹-Schemas zurückkommen. Bereits in der Diskussion von Michael Mays Einwänden ist erwähnt worden, dass die Logik des ›Container‹-Schemas mehrdeutig und von Regeln abhängig ist. Diese Regeln sind die syntaktischen Regeln des Darstellungssystems. Sie sind mit der Repräsentation eines Objektes im Diagramm korreliert, in diesem Fall des Objektes innerhalb des ›Containers‹. Wenn das Objekt ein Angestellter ist, kann er Teil einer Abteilung sein, die Teil eines Unternehmens ist usw. In diesem Moment sind Inklusions-/Exklusionsbeziehungen möglich. Wenn der Angestellte die Abteilung verlässt, kann man das im Diagramm als den Wechsel in eine übergeordnete Ebene verstehen oder als ein Ausscheiden aus dem ganzen Unternehmen. Was aber, wenn das Objekt kein Angestellter ist, sondern ein Stein, der ins Wasser gefallen ist? In diesem Moment stellt man im metaphorischen Modus eines ›Sehens-gleichsam-als‹ auf ein anderes Schema um, und zwar das radiale ›Center-Periphery‹-Schema. Ferner unterstellt man eine nicht zielgerichtete, sondern die sich ausdehnende Bewegung einer Ausbreitung. So ergibt sich der Effekt, dass die X- und A-Marken als Zustände in einem temporalen Verlauf gelten, obwohl das Diagramm sich immer noch als intrinsisch-strukturähnlich ansprechen lässt. X ist der Einschlag, A die Welle, die sich gebildet hat ( Abb. 29).

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

Abb. 29: Modifikation der Darstellung des ›Out‹-Schemas. Eigene Darstellung nach Evans, Vyvyan/ Green, Melanie (2009): Cognitive Linguistics. An Introduction, Edinburgh: Edinburgh Univ. Press, S. 182.

Das Diagramm wird im zweiten Fall nicht nur einem anderen Zweck untergeordnet, der ikonischer ist, sondern zur Interpretation wird darüber hinaus auch ein variiertes ›Image schema‹ verwendet. Im Fall des Angestellten wird das Diagramm nach dem ersten ›Out‹-Schema gelesen, im Fall des Steins nach dem zweiten ›Out‹-Schema. Wenn man das Diagramm als Ausbreitung in einer Fläche liest, dann ist das Diagramm auch auf eine interessante Art skaliert, werden also die symbolischen Anteile umgedeutet. Wieder existiert implizit eine lineare Skala, die als Index temporaler Ausdehnung, also als Index der Markierung zweier Zustände, zu verstehen ist. Das Diagramm bleibt aber ein Raumbild. Um zu entscheiden, ob das Darstellungssystem analog oder digital ist, ist es die Frage, wie mit der weißen Fläche umgegangen wird.398 Wenn man es in Beziehung zu einem Zeitindex setzt, dann könnte man das Diagramm beispielsweise auch als digitale Darstellung zweier Zustände in einem zeitlich gedachten Prozess von Ausbreitung lesen. ›Image schemas‹ beeinf lussen somit die Möglichkeiten alternativer Inferenzen im metaphorischen Sehen. Sie tun dies, indem sie eine strukturelle Isomorphie innerhalb der semiotischen Bedingungen des Diagramms als ein alternatives Aktionsszenario deutbar machen, also ein alternatives Schema plausibilisieren. Basal ist dafür die Fähigkeit, Vorstellungsbilder – das, was im Diagramm gesehen und als propositionaler Aussagewert fixiert wird – durch Rotation und Variation zu (re-)konfigurieren.399 Wie Lakoffs Beispiel des Entstehens einer transitiven Logik durch Überblendung zeigt, sind diese Operationen den ›Image schemas‹ inhärent. Erst durch Überblendung wird etwa die transitive Logik des ›Container‹-Schemas sichtbar, wobei zu bedenken ist, dass diese Überblendung von Lakoff als Schlussfolgerungsbewegung gedacht wird. Dieser für das »free ride«-Phänomen relevante Umstand wird hervorgehoben, wenn 398 Vgl. im weiteren Kontext auch den Ansatz von Bender/Marrinan 2010. 399 Johnson 1987, S. 104.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

ein Diagramm nicht nur in seinen Alternativen gedeutet, sondern wirklich umgeformt werden muss. Am Beispiel des ›Out‹-Schemas ist das nachvollziehbar: Das Aktionsszenario des Schemas – und damit der Objektbezug – ändert sich, wenn man das Diagramm mit einer anderen Variante von ›Out‹ in Verbindung bringt, also die Gestalt variiert. Bemerkenswert ist, dass das Diagramm einerseits auf einen anderen Gegenstand bezogen werden kann, also ein anderes Objekt repräsentiert, andererseits eine andere Art des Verhaltens der Strukturen projiziert wird. Umgedeutet wird dafür die semantische Bedeutung der Grenze, die einmal als statisch und einmal als variabel konzipiert ist. In jedem Fall deutet sich an, dass die semantischen Merkmale von Diagrammen mit ›Image schemas‹ interagieren, die in metaphorischen Inferenzen wirksam sind. Diese Interaktion wird auffällig, wenn es um ein Alternativen-Sehen im Diagramm und mithin um die Bewegung im Diagramm geht. Die ›Image schemas‹ sind also nicht nur ein Teil der darstellungstheoretischen Frage nach der ikonischen Angemessenheit der Repräsentation. Zu bedenken ist, dass die Regeln eines Diagramms auch Manipulationsregeln sind, also den Rahmen möglicher Rekonfigurationen abdecken. Die Möglichkeit, das Diagramm nach einem der beiden ›Out‹-Schemata wahrzunehmen, ist in Bezug auf das dargestellte Objekt konventionalisiert, aber nicht festgelegt. Die ›Image schemas‹ stellen einen Horizont alternativer Möglichkeiten zur Verfügung, unter denen das im Diagramm dargestellte Objekt rekonfiguriert werden kann. Genau das macht sie so bedeutsam für die Konstitution eines Denkbildes. Die in Peirces Theorie angelegte Idee lautete, dass dieses ›Möglichkeiten-Sehen‹ eine imaginative Leistung mit einer Implikation der Kraft fordert, in welcher der Zusammenhang zwischen Objekt und Darstellungssystem als eine, wie Wöpking das nennt, »operationale Isomorphie« ausgelegt wird.400 Die Behauptung von Strukturähnlichkeit in einem Darstellungssystem ist als Wahrnehmungssachverhalt kinästhetisch über eine Handlungsmöglichkeit motiviert. Wenn Diagramme Relationen zeigen, dann veranschaulichen sie oft abstrakte, phänomenal nicht wahrnehmbare Eigenschaften von Objekten, etwa Bewegungsvektoren, Gewichtsverhältnisse etc. Diese Faktoren werden in einem Diagramm aber nicht nur als Relationen repräsentiert, sondern durch Relationen dargestellt. Die Art der Repräsentation in einem Diagramm behauptet Isomorphie nicht nur in Bezug auf das Was des Objektes, sondern auch auf das Wie des Verhaltens des Objektes in Praktiken. Wöpking schreibt, »dass den Handlungen, die an einem Diagramm vorgenommen werden, Transformationen des Bezugsobjekts korrespondieren.«401 Die Bedeutung, die mit diesen Handlungsmöglichkeiten assoziiert wird, wird dabei durch ›Image schemas‹ mitkonstituiert, die sich als im impliziten Wissen kognitiv situierte Bedingungen der Modifikation von semiotischen Schemata erweisen und über die Handlungsmöglichkeit dem Diagramm ein Moment der Kraft einschreiben.

400 Vgl. Wöpking 2016, S. 25f., hier S. 25. 401 Wöpking 2016, S. 25.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

5.4.5 ›Image schemas‹ und diagrammatische Ästhetik Auf der Mikroebene der Praxis ist das metaphorische Sehen eine Schnittstelle nicht nur für Diagrammatisierungen erster Stufe, sondern auch für die etablierten Verfahren der Diagrammatisierung zweiter Stufe. Metaphorisches Sehen ermöglicht es, ein Verständnis für das Denkbild in Diagrammatisierungen zu gewinnen. Aus diesem Grund sind in diesem Kapitel Überlegungen zur Analyse von Diagrammen auf metapherntheoretischer Grundlage eingef lossen. ›Image schemas‹ spielen über konzeptuelle Metaphern – als nicht nur sprachliche, sondern immer auch ›perzeptive Metaphern‹ – in die Interpretation und die Rekonfiguration von Diagrammen mit hinein. Sie sind ein elementarer Bestandteil der Bedeutung des Diagramms im Sinne eines Denkbildes. Die metapherntheoretische Diskussion hat gezeigt, dass es problematisch ist, den Begriff des Denkbildes der Diagrammatisierung zweiter Stufe vorzubehalten. Ein weit gefasster Begriff von Diagrammatisierung erster Stufe ist notwendig, der im Sehen empirischer Objekte beginnt. Das metaphorische Sehen rekurriert auf eine implizite perzeptive Diagrammatizität im ›Sehens-gleichsam-als‹, die durch den Schemabegriff bestimmt ist. Dieses Sehen ist dasjenige Sehen, das auch in der Diagrammatisierung von Bildern verwendet wird. Die Variation von semiotischen Schemata, die stattfindet, wird durch Transformationen ›Image schemas‹ strukturiert. Auf diese Weise ist diagrammatisches Denken durch implizites Körperwissen geprägt. Diese Prägung erlaubt es, von einem Moment der Kraft oder auch Evidenzkraft (Wöpkings »Direktheit«) in Diagrammen zu sprechen. Eine derartige Verschränkung des Denkbildes mit der Metapherntheorie hat den Nebeneffekt, den Begriff des Denkbildes als einen medienästhetischen Begriff zu schärfen. Grundlegend ist das Verständnis von ›Image schemas‹ als kinästhetischen Relationenbildern. Die von Peirce affirmierte Kraft im Diagramm ist die Erfahrung der Bewegung einer Schlussfolgerung als kinästhetischer Erfahrung. Diese ästhetische Konnotation lässt die Diagrammatik nicht mehr derart logozentristisch erscheinen, wie es in der Philosophie der Fall ist.402 Der Begriff ›ästhetisch‹ muss allerdings in einem weiten, auf die Tradition der Diskussion seit dem 18. Jahrhundert bezogenen Sinn als spezifische Art der Wahrnehmung und Urteilsfindung verstanden werden.403 Diese Seite der Diagrammatik kommt zur Geltung, wenn man die ›Kraft‹ als eine durch ›Image schemas‹ geformte Erfahrung versteht. Über die ›Image schemas‹ und ihre Rolle in Metaphern kann die Diskussion um die Diagrammatik auch bei Peirce an Breite gewinnen. Das Wissen um die ›hypotypotische‹ Evidenz von Diagrammen ist in der Bildtheorie seit Langem vorhanden.404 Gottfried Boehm weist auf die Bedeutung der ›Image schemas‹ bei der Bildbetrachtung hin und zitiert dazu George Lakoff und Rafael Núñez.405 Erklären möchte Boehm mit dieser Referenz auf die ›Image schemas‹, wie das »Perzeptuelle als etwas Konzeptuelles, das Materielle als eine räumliche oder logische Bestimmung erfahren werden kann«.406 402 Vgl. auch Schmidt-Burkhardt 2012a, S. 53f. 403 Vgl. überblickend Willer 2005. 404 Vgl. zur Hypotypose auch Jäger 2009. 405 Vgl. Boehm 2007, S. 126, Anm. 6. 406 Boehm 2007, S. 127.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Das Entstehen der Skizze eines Hauses auf einem weißen Blatt wird als »Urszene des Ikonischen« gewertet – als »Aufsteigen eines Bedeutungshaften aus materiellen Substraten«.407 Auf bauend auf Kants Verständnis des Schemas als einer der Bildproduktion zugrunde liegenden »Schema-Regel«408 stellt Boehm fest: »Ein Schema liegt vor, wenn […] die Linien vor dem – und das heißt: auf dem Grund erscheinen. Das In- und das Auf-, das Oben- und das Unten-Schema und so fort, sie fügen sich zum motorischen Schema eines Überblicks zusammen, der […] die visuellen Kräfte des Feldes aktiviert. Versetzen wir nun den unteren, linken Strich nach rechts oben, dann erscheint er optisch leichter, er erscheint erhöht, er macht so etwas wie Schwerkraft indirekt spürbar, bringt unsere Körpererfahrung ins Spiel […]. Einfachste Bildverhältnisse implizieren also bereits das Auge, die Kraft des Sehens. Der hinzutretende Betrachter ist mithin eine methodische Kunstfigur, die immer schon zu spät kommt.« 409 Das ist wunderbar auf den Punkt gebracht. Boehm bemerkt zudem: »Zwischen das Auge und die Sache schaltet sich mithin ein unsichtbares Schemabild ein, das dafür sorgt, dass wir eine anschauliche Evidenz gewinnen können.«410 Damit verbindet Boehm seinerseits zwei Schema-Begriffe: den kognitiven und den semiotischen, die in einem durch ›Image schemas‹ angeleiteten metaphorischen Sehen interagieren. Zu Recht verweist Boehm somit auf den Körper als das Medium, dessen implizites Wissen das Wissen um den Schematismus trägt. Allein: Es sind die ›Image schemas‹, welche die semiotische Schema-Regel, die Boehm als motorisches Schema diskutiert, bedingen. Aus genau diesem Grund ist der ›Image schema‹-Begriff wichtig. Nicht alle epistemische Evidenz, die in Zeichen erreicht werden kann, liegt auch in der Konventionalität der Zeichen begründet. Und nicht nur findet sich ein Überschuss gegenüber den Zeichen in der materiellen,411 sondern auch in der kognitiven Dimension. ›Image schemas‹ sind Teil der Denkbewegungen, die metaphorische Inferenzen anleiten.412 Und sie versehen diese Inferenzen mit einem spezifischen Moment der Kraft.413

407 Boehm 2007, S. 124. 408 Vgl. Boehm 2007, S. 125. 409 Boehm 2007, S. 126, Hervorh. im Orig. 410 Boehm 2007, S. 102. 411 Vgl. Mersch 2002a. 412 Vgl. hier auch Krois 2011, S. 233ff., insb. S. 248f., dessen Kritik an Johnson und seiner Konzeption von »image-schemas« ich hier allerdings nicht teilen würde. 413 Unter Rekurs auf die Unterscheidung zwischen impliziten und expliziten Denkprozessen hat Wettig 2009, S. 159ff. im Sinne einer integrativen Betrachtung verschiedener Theorien auf den Zusammenhang zwischen Bild, Imagination, Körperwissen und kinästhetischer Kraft aufmerksam gemacht. Dabei geht es allerdings eher um ein im Sehen angelegtes ›Spüren‹, das auf implizitem Wissen beruht und weniger um das Moment der Kraft einer Inferenz selbst. Wie u.a. im Rekurs auf nicht selten der Esoterik zugerechnete Autoren wie Rudolf Steiner ausgearbeitet wird, gilt es, einen Unterschied zwischen einem Gedanken und einer Bewegung des Gedankens zu beachten. Dabei wird der Gedanke als ›explizit‹ erfasst angenommen, die Bewegung des Gedankens dagegen als ›implizit‹ gespürt.

5. Diagrammatik und metaphorisches Sehen

Im Moment der ›Kraft‹ begegnet man aber auch einer ›anderen‹, ›dunklen‹ Seite der ästhetischen Ref lexion, auf die insbesondere Christoph Menke verwiesen hat.414 Eine derartige andere Seite der Diagrammatik führt in die Register eines freien Spiels der schlussfolgernden Kräfte, in denen sich Denken zusammenfügt, also einer »›Abstraktion‹«, in welcher die Kraft des Schließens sich quasi selbst überlassen ist. Gewissermaßen lässt sie das Schließen in ein spekulatives Spiel der Variation übergehen.415 Die Diagrammatik findet hier Anschluss an Formen des Denkens, die man kaum mit der logischen Strenge des Diagramms assoziieren würde, die aber dennoch als die ›andere Seite‹ von Logik tief in das Feld des Diagrammatischen eingebunden sind. Menke zeigt in seinen Ausführungen zu einer Ästhetik der Kraft, dass die Kraft als ästhetischer Begriff seit dem 18. Jahrhundert mit Bewegung assoziiert wird.416 Die Diagrammatik kann vor diesem Hintergrund als Möglichkeitsformen eines »Proze[sses] der selbstref lexiven Transformation des Praktischen«417 betrachtet werden. Der praktische Umgang mit dem Diagramm löst sich von seinen Zwecken ab und verwandelt sich in ein Spiel, in dem das Vermögen des anschaulichen Schließens sich verselbstständigt, stets aber eine Rückbindung zur Metapher behält. Indirekt bestätigt das auch Steffen Bogen, wenn er zu Denken in Diagrammen bemerkt: »Der Rezipient des Diagramms wird zum Ko-Autor. Er versucht die relevante[n] Formen vom materiellen Kontinuum abzuheben, signifikante Relationen festzuhalten und kontingente fallenzulassen – ein mitunter gewagter Schritt, der den Charakter einer offenen Hypothesenbildung annimmt.«418 ›Festhalten‹ und ›Fallenlassen‹ erklären – ähnlich wie das ›Highlighting und Hiding‹ bei Lakoff und Johnson, in der Metaphorik aber unter stärkerer Akzentuierung des Körpers – ein Denken, das auch in Metaphern vorkommt, das als »offene Hypothesenbildung« spekulativ und fabulierend, riskant und assoziativ verfährt und das im Diagramm ein Spielfeld findet.419 Das Originelle an Peirces Perspektive ist, mit der Kraft auf einen Begriff gesetzt zu haben, der eine Seite der logischen Ansprüche von Diagrammatik akzentuiert, die in der philosophischen Diskussion oft vergessen wird. Zur Diagrammatik gehört eine Ästhetik, die keine Ästhetik jenseits der Logik, sondern in der nicht-formalen Logik materieller Inferenzen ist, wohl aber auch aus ihr herausführt, weil Logik als ›verkörperte Logik‹ auch in anderen Diskursen, und folglich in anderen Darstellungssystemen als nur mathematisch-geometrischen, enthalten ist. Eben das ist die Basis des Bezugs eines weiten Diagrammatik-Begriffs und eines Begriffs der Diagrammatisierung erster Stufe zu anderen Anwendungsbereichen. Die Kognitive Semantik und ihre Metapherntheorie liefert die Grundlage für eine Seite der Theorie, die sich bei Peirce als eher vage Ahnung findet. Die ›Image schemas‹ und ihre Wirkung als Kraft sind der Rationalität des Diagramms inhärent. Diese Rationalität ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass im Diagramm das Visuelle und Anschauliche gegen das Sprachliche und Abstrakte ausgespielt werden. Konturiert wird damit auch eine Bedeutung der

414 Vgl. Menke 2008, S. 76ff. 415 Vgl. Menke 2008, S. 78f. 416 Vgl. Menke 2008, S. 97. 417 Menke 2008, S. 79. 418 Bogen 2005a, S. 167. 419 Vgl. zum Diagramm als Spiel auch Bogen 2014, hier insb. S. 410f.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Diagrammatik in spezifischen Diskursen, etwa der Kunst.420 Jene ästhetische Evidenzkraft der Diagrammatik, von der die Rede war, kann sich im Rahmen von diskursiven Evidenzverfahren in eine rhetorische verwandeln.421 Dieser Aspekt der Diagrammatik ist aber weder durch Semiotik noch durch Kognitive Semantik abgegolten, sondern führt zurück auf das Feld medientheoretischer Diskurse.

420 Vgl. exemplarisch Bogen 2005a; Bogen 2005b; Schmidt-Burkhardt 2009; Schmidt-Burkhardt 2012a; Schmidt-Burkhardt 2012b. 421 Vgl. Bogen 2005a, S. 162ff.; Krämer 2003b; Krämer 2006; Krämer 2009.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription Für auf die Form des Diagramms als Repräsentationsmedium bezogene gattungsund darstellungstheoretische Ansätze ist es eine Enttäuschung, dass Charles S. Peirce für die Ausgestaltung seiner philosophischen Perspektive einen derart weit gespannten Diagrammbegriff verwendet. Angesichts der Diskussion zum Diagramm in der Philosophie, der Mathematik, der Psychologie und den Kognitionswissenschaften, aber auch mit dem steigenden Interesse in der kunst- und bildwissenschaftlichen Forschung, ist diese Unschärfe ein Problem. Peirce geht es um eine Theorie des diagrammatischen Denkens und nicht um eine Theorie des Diagramms. Seine Diagrammatik beruht auf einem operativen Verständnis von Ikonizität. Peirce kann seine Diagrammatik von der Form des Diagramms ausgehend entwickeln, ohne sie darauf zu begrenzen. Es ist die Besonderheit von Diagrammen, einen ref lexiven Rückbezug zu allgemeinen ›diagrammatischen‹ Praktiken etablieren zu können. Diese Ref lexion beruht auf einer doppelten Metaphorisierung: Die Metapher ist einerseits eine, auf Schemata beruhende, inferenzielle und darin diagrammatische Operation, die an der Schnittstelle von Perzeption und Semantik entsteht, andererseits rückt das Diagramm diskursiv in die Rolle, eine Metapher des Denkens zu sein. Die Rede von einer »funktionalen« Herangehensweise bei Peirce referiert damit auch auf die pragmatische Idee, die Form des Diagramms in Kontexten ihrer Gebrauchspraktiken zu beobachten ( Kap. 5.4.3 u. 5.4.4).1 Peirce fasst diese pragmatische Ebene, indem er das Denken in Diagrammen auf die Frage zuschneidet, was eine Diagrammatisierung in Bezug auf eine Erkenntnisabsicht in einem gegebenen kulturellen Kontext leistet und inwiefern sich in dieser Leistung eine Ref lexion des Denkens vollzieht. Man kann Peirce also so verstehen, dass er seine Überlegungen zum Diagramm unter der pragmatistischen Prämisse ausarbeitet, dass die Diskurse der Logik und der Geometrie und ihre Formen diskursiver Evidenz zwar die privilegierten, aber nicht die exklusiven Anwendungsbereiche des diagrammatischen Denkens sind. Peirce gehört zweifelsohne zu den grundlegenden Autoren für die Ausarbeitung einer raumbasierten Logik in der Mathematik. Allerdings betrifft die Theorie der Existenziellen Graphen eben auch nur die explizit-formale Seite einer diagrammatischen Logik. Diese Logik steht auf einem pragmatistisch begründeten, und damit Aspekte der Kognition umfassenden, Fundament. Die Begründungen formaler Logik sind, wie Robert Brandom argumentiert hat und wie es sich mit Positionen aus der neueren Kognitionswissenschaft erweitern lässt, selbst nur sekundäre Ableitungen 1 Vgl. zum »epistemischen Diagrammgebrauch« Wöpking 2016.

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einer primären, praktisch verfassten, ›materialen‹ Logik ( Kap. 2.1.3). Dieses Argument verfängt auch bei der Beurteilung der Peirce’schen Diagrammatik. Der Vorteil eines weit gefassten Verständnisses von Diagrammatik ist es, einen über die formale Explikation hinausgehenden Erklärungsanspruch in Bezug auf die Vielfalt der Gegenstandsbereiche der Diagrammatik zu haben. Aus der These einer Idealtypizität der Geometrie und der Logik für die Diagrammatik folgt keineswegs, dass diagrammatisches Denken nicht auch in anderen wissenschaftlichen, ästhetischen oder populärkulturellen Diskursen von Bedeutung ist. Für diese Diskurse ist es notwendig, eine größere Vielfalt von Praktiken der Diagrammatisierung und Formen des Diagramms zu berücksichtigen. Die Kunstgeschichte hat entscheidende Entwicklungslinien aufgezeigt.2 Ein Beitrag der theoretischen Begründung solcher Ansätze ist, die Form des Diagramms als Teil einer Praxis der Diagrammatisierung zu fassen. Wie sich allerdings auch feststellen lässt, gelingt es im Rahmen der Peirce’schen Diagrammatik und ihrer semiotischen Voraussetzungen nur sehr bedingt, einen Begriff für die durch das Schlagwort ›Embodiment‹ identifizierte, implizite Dimension dieser Praktiken zu erarbeiten. Schränkt man diese Kritik auf der Fragen der Konstitution von Bedeutung ein, dann zeigt der Blick in die Kognitive Semantik von George Lakoff und Mark Johnson und ihre Metapherntheorie, dass im Sinne von ›Embodiment‹-Theorien als ›verkörpert‹ zu betrachtende kognitiven Schemata existieren, die als ein Teil von implizitem Wissen angesehen werden können. Die metapherntheoretische Erörterung perzeptiver Diagrammatizität unter Maßgabe einer des Prozesses eines metaphorischen Sehens stellt den Blick auf Praktiken der Diagrammatisierung erster Stufe frei. Wie aber übersetzt sich dies in medientheoretische Zusammenhänge, die auch noch Aussagewert für ästhetische Fragen haben? Entlang den Prämissen des Verständnisses von Diagrammatisierungen als explikativen Praktiken wurde hierzu argumentiert, dass es sinnvoll ist, diese Praktiken als Transkriptionen zu fassen. Transkriptionen werden bei der kreativen Rekonfiguration des Diagramms auffällig ( Kap. 3.5.4). Transkriptionen sind allerdings nie rein materielle, sondern immer auch semantische Operationen. Wie die metapherntheoretische Diskussion zeigt, kann die Auslegung eines Diagramms nicht von ihrer impliziten Dimension in perzeptiver Diagrammatizität abgetrennt werden. Sowohl die epistemologischen als auch die ästhetischen Effekte des Diagramms sind als der imaginäre Moment eines Denkbildes durch ›Image schemas‹ angeleitet. Dieser imaginäre Moment entspricht einer Virtualisierung, er ist – in diesem Punkt nähern sich Semiotik und Kognitive Semantik einander an – beispielsweise als die Bewegung einer ›Überblendung‹ fassbar, in der verschiedene Möglichkeiten in einer Zeichenkonfiguration gesehen werden, die im weitesten Sinne als ›Diagramm‹ erachtet werden kann. Schon Peirce beschrieb die Überblendung als mediale Analogie zu Fotografie und Film ( Kap. 3.5.3). Darauf kann man auf bauen. Die Überblendung verweist als kognitive wie semiotische, raumbasierte Operation auf das verborgene ›Dritte‹ ihrer Medialität, einer Medialität, die für die Diagrammatik grundlegend zu sein scheint. Martina Heßler und Dieter Mersch schreiben:

2 Vgl. u.a. Bonhoff 1993; Bogen 2004; Bogen 2005a; Bogen 2005b; Bogen 2006; Buci-Glucksmann 1997; Schmidt-Burkhardt 2009; Schmidt-Burkhardt 2012a; Schmidt-Burkhardt 2012b. Siehe zur Erschließung des Raums in der Zeichnung im vorliegenden Kontext auch die Beiträge in Lammert et al. 2007.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

»Wie bereits erwähnt, bildet eines der häufigsten Verfahren intravisueller Transformation die Überblendung visueller Formate zu einem Bild. Dabei werden Tabellen, Diagramme, Graphen etc. zu multiplen ›ikonischen Modellen‹ zusammengeführt, was nicht nur zu einer Verdichtung von Informationen unterschiedlicher Quellen führt, sondern gleichzeitig auch zu deren Relationierung.«3 In Begriffen Ludwig Jägers gesprochen, kann man die Referenzen an die Medialität der Überblendung, die hier anklingen, als einen Hinweis dafür verstehen, dass die Diagrammatisierung erster Stufe ein Moment epistemischer Evidenz enthält, doch auch diese Evidenz ist als Evidenz durch Verfahren praktisch verfasst ( Kap. 2.2.7). Damit ist auch sie angewiesen auf Praktiken der Evidenz als Verfahren, die Praktiken der medialen Transkription sind. Das Kontinuum zwischen perzeptiver Diagrammatizität sowie Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe ist somit auch ein Kontinuum der transkriptiven Übersetzungsprozesse, die durch Transkriptionen geleistet werden. Die hierzu angeführte These lautet, dass Diagrammatisierungen als Explikationen diskursive Evidenzverfahren sind, die über mediale Transkriptionen epistemische Evidenz herstellen. Eine der vielen alltagsweltlichen Herausforderungen, auf die sie reagieren, sind – wie Heßler und Mersch vermerken – zum Beispiel ›Unsicherheiten im Bild‹, also semantische Uneindeutigkeiten und Ambiguitäten, aufzuklären und alternative Interpretationsmöglichkeiten zu stabilisieren. Im Sinne des Bemühens um ›Vereindeutigung‹ und Ausdeutungen von Konnotationen kann dies als eine Variante der grundsätzlichen Problematik gewertet werden, etwas Implizites (hier als Unthematisches) explizit zu machen. In diesem Prozess der Explikation findet jedoch nicht einfach nur ein Wechsel zwischen verschiedenen Zeichenklassen statt. Explikation ist ein Prozess einer medialen Transkription. Und diese mediale Transkription nimmt bereits auf Ebene der Diagrammatisierung erster Stufe ihren Ausgang. Das diagrammatische Explizitmachen ist als Praxis, die man mit Theodore R. Schatzki als eine Einheit von »Sagen und Tun« fassen kann,4 in anderen als rein semiotischen Begriffen zu fassen. Ludwig Jägers Theorie medialer Transkription kann herangezogen werden, weil sie den Vorteil bietet, als eine medientheoretische Erweiterung der Semiotik angesehen werden zu können. Im Zentrum des Interesses steht Jägers Gedanke, den Prozess des Explizitmachens von implizitem Wissen als eine paradigmatische Variante von medialer Transkription zu verstehen ( Kap. 2.2.6).5 Allerdings gilt es auch hier, die Schwachpunkte zu bedenken. Liefert Jäger einen theoretischen Ansatz zur Beschreibung der explikativen Funktion von Diagrammatisierungen, so bleibt trotzdem die Notwendigkeit, diese Transkriptionen konkret als spatiale Operation zu fassen und an spezifische Medien binden zu können. Die grundsätzliche Verfahrenslogik wird bei Jäger, teils ausdrücklich, teils unterschwellig, am Beispiel der Sprache und der Schrift entwickelt. Im Kontext der Diagrammatik ist das kein grundsätzliches Problem. Entgegen den in bildwissenschaft3 Heßler/Mersch 2009a, S. 38. 4 Bei Schatzki (1996, S. 89) wird die Praxis als ein »temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings« verstanden. Dieses Verständnis ist in der sozialwissenschaftlichen Literatur viel zitiert. 5 Vgl. Jäger 2002, S. 32f.

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lichen Diskursen sporadisch zu findenden Überhöhungen des Bildes, aber auch in manchen Äußerungen von Peirce, kann, wie auch die Kognitive Semantik zeigt, die Sprache aus einer, bei Jäger angestrebten, Diskussion semantischer Fragen, nicht herausgerechnet werden. Das eigentliche Problem ist aus pragmatistischer Sicht aber ein anderes. Es betrifft die Verschränkung von transkriptiven Operationen mit konkreten und spezifischen Medienpraktiken. Um dem zu begegnen, soll im Folgenden die Praxis von Diagrammatisierung – verstanden als Transkriptionen – in einem wissenschaftlichen Kontext unter dem Fokus ihrer Rhetorizität mit Michael Lynch als idealisierende Explikation gefasst werden (6.1). Darauf auf bauend folgt eine Fallstudie zur Verwendung dieser Praktiken im Kontext pseudo- bzw. parawissenschaftlicher Überlegungen, die in der berühmten Affäre um die Marskanäle ihren Ausgang findet (6.2). Wie sich an der Fortführung des Beispiels zeigen lässt, findet diese Debatte in den 1990er-Jahren auch einen Weg in die Diskurse historischer Fernsehdokumentationen (6.3) und übersetzt die Diskussion so in Fragen der Ästhetik audiovisueller Medien.

6.1 Diagrammatisierung und die Rhetorik der Explikation Frank Hartmann hat darauf hingewiesen, dass Technologien der Externalisierung »neue visuelle Formen der Explizitmachung (wie social graphs)«6 hervorgebracht haben. Diese Formen werden nicht zufällig als ›diagrammatisch‹ gedacht. Hartmann schreibt an dieser Stelle fort, was in Vilém Flussers Begriff des »Technobildes« anklingt – dass nämlich Diagrammatisierung eine mediale Form der Explikation ist, die in digitalen Medien derzeit einen Entwicklungsschritt vollzieht,7 Technobilder aber eine Vorgeschichte in diagrammatischen Praktiken haben. Flusser vermerkt: »Technobilder sollen nicht nur technisch erzeugte Bilder (wie Mikrofilme, Diapositive, Videobänder, Photographien durch Teleskope usw.) heißen, sondern auch mehr oder weniger traditionell erzeugte Bilder, falls sie Begriffe bedeuten (wie blueprints, Designs, Kurven in Statistiken, oder die im vorliegenden Text enthaltenen Skizzen).«8 Dass Flusser als Beispiele für Technobilder, die nicht durch computerbasierte Medien erzeugt wurden, Blaupausen (Diazotypie), Designs, Kurven in Statistiken oder Skizzen – also Diagramme – nennt, ist kein Zufall. Für Flusser haben diese Zeichen eine besondere Qualität, die darin besteht, einerseits abstraktes Wissen zu externalisieren und sichtbar zu machen, andererseits ein pragmatisches Modell für mögliche Handlungen abzugeben. In Referenz auf die Unterscheidung zwischen Karte und Territorium vermerkt er: »Beispielsweise ist eine Röntgenaufnahme eines gebrochenen Arms (eine ›Landkarte‹ also) zugleich auch ein Modell für den Arzt, wie der Arm zu behandeln ist (also ›prospektiv‹) […]«.9 Vor diesem Hintergrund lässt sich der ›Technobild‹-Begriff, wie etwa bei Hartmann – wie Daniel Irrgang inzwischen ausführ6 Hartmann 2010, S. 106. 7 Flusser wird bereits diskutiert in Bauer/Ernst 2010, S. 176ff. 8 Flusser 1998, S. 140. 9 Flusser 1998, S. 139.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

lich gezeigt hat10 – als Antizipation einer besonderen Bedeutung diagrammatischer Zeichensysteme in Bildpraktiken des »vorstellenden Herstellens«11 verstehen, die für die digitalen Bildmedien besonders relevant sind. Vermutet wird die Bedeutung des Zusammenhangs zwischen diagrammatischen Zeichen und digitalen Medien auch schon von Steffen Bogen und Felix Thürlemann: »Gerade im Bereich der digitalen Medien scheinen aber vor allem Diagramme – mehr noch als Bilder, von denen im ›iconic turn‹ die Rede ist – an Bedeutung zu gewinnen, und man könnte sich fragen, ob es nicht angebrachter wäre, von einem sich abzeichnenden ›diagrammatic turn‹ zu sprechen.12 Ähnlich hat auch Dirk Rustemeyer argumentiert, wenn er die Aktualität von Fragen der Diagrammatik an die Manipulation epistemischer Objekte in digitalen Medien bindet und die Spuren dieser Ästhetik in der Fähigkeit von Diagrammen sieht,13 »Relationsdarstellungen [zu erzeugen, C.E.] ohne zwingend Ähnlichkeit zu etwas aufzuweisen«.14 Die Bildformen und Bildpraktiken digitaler Bildmedien sind nicht nur auf die Repräsentationsmedien diagrammatischer Zeichen hin zu befragen, sondern als Teil einer Kontinuität von Praktiken der Diagrammatisierung zu betrachten, die sich technisch neue Möglichkeiten erschließen. Somit steht die Hypothese im Raum, dass eine medienkulturelle Kontinuität von diagrammatischen Blueprints bis hin zu Simulationen in digitaler Bildlichkeit behauptet werden kann, die als Medienpraxis zwischen Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe zu verstehen ist. Wichtige Bezugspunkte, wie dies in spezifischen Diskursen und ihren Wissenskulturen ausgestaltet ist, finden sich in der Debatte um die Rolle von Diagrammen in transkriptiven Schrift-Bild-Interaktionen, insbesondere in der Theorie der rhetorischen Verwendung von Diagrammen in der Wissenschaft, die Michael Lynch entwickelt hat.

6.1.1 Die Herstellung eidetischer Objekte Als Akteur im Feld der Science-and-Technology-Studies beobachtet Lynch Text-Bild-Relationen in sozial- und naturwissenschaftlichen Publikationen.15 Dabei geht er von der mit den bisherigen Ausführungen vereinbaren Prämisse aus, dass zwischen Bild und Schrift eine Bewegung (»movement«) stattfindet, bei der das Diagramm Übersetzungsfunktionen übernimmt.16 Lynch beschreibt diese Bewegung als einen semantischen und pragmatischen Sachverhalt: »This movement offers the potential for interrupting theoretical monologues with dialogical operations – operations that are not simply exchanges between different ›voices,‹ but are passages back and across pragmatic divides.«17

10 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Flussers Technobild-Begriff und der Diagrammatik findet sich in Irrgang 2017, hier insb. S. 56ff.; siehe zudem im Erscheinen Irrgang 2020. 11 Hartmann 2010, S. 106, im Orig. kursiv. 12 Bogen/Thürlemann 2003, S. 3. 13 Vgl. Rustemeyer 2009, S. 30ff. 14 Rustemeyer 2009, S. 38. 15 Vgl. Lynch 1990; Lynch 1991, im etwas weiteren Kontext auch Lynch 1985. 16 Vgl. Lynch 1991, S. 7. 17 Lynch 1991, S. 19. Auf das ›dialogische‹ Moment von Diagrammen innerhalb anderer Zeichen, z.B. Texten und Bildern, hat bereits Steffen Bogen (2005a) hingewiesen.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

In seinem Blick auf Diagrammatisierungen konzentriert Lynch sich auf die materielle und die semiotische Dimension von Diagrammen in der Wissenschaft.18 Das Interesse gilt insbesondere der Objektkonstitution im Prozess der Diagrammatisierung. Diesen Prozess beobachtet er exemplarisch am Beispiel der Diagrammatisierung von Fotografien. Zwei Verfahrensweisen werden unterschieden: »Selection« und »Mathematization«. Unter ›Selektion‹ wird ein Prozess verstanden, in dem in einem Kollektiv durch die Konstruktion eines diagrammatischen Darstellungssystems die Sichtbarkeit des Objektes hergestellt und garantiert wird. Die darauf auf bauende ›Mathematisierung‹ ist dagegen die Projektion mathematischer Ordnung auf die – bei Lynch: biologischen (z.B. Mitochondrien) oder symbolischen (z.B. sozialtheoretische Theorien)19 – Objekte und als solche die (Re-)Integration des Objektes in den normativen Zusammenhang eines Diskurses.20 Ist Selektion eine epistemische Operation, so ist Mathematisierung ein rhetorischer Vorgang: Die Verwendung eines Diagramms zeigt nicht nur etwas mit den Mitteln der Geometrie, sondern zitiert in diesem Zeigen die diskursive Autorität von Diagrammen in der Geometrie und Mathematik herbei. Was Lynch dabei als »Selektion« beschreibt hat Ähnlichkeiten mit der bei Ludwig Jäger diskutierten Herstellung epistemischer Evidenz unter den Bedingungen diskursiv ausdifferenzierter und normativ geregelter Evidenzverfahren. Entsprechend ist es gewinnbringend, Lynchs Ansatz mit Jägers Überlegungen zu Transkription zu verknüpfen ( Kap. 2.2.6 u. 2.2.7). Dabei wird deutlich, dass Lynch Diagrammatisierung als eine Operation versteht, bei die deren explikative Funktion nicht einfach nur über ihre Rolle im Aushandeln medialer Differenzen bestimmt wird, sondern dies auch eine rhetorische Dimension hat. Einen seiner wichtigsten Gegenstände findet Lynch in Foto-Diagramm-Paaren aus den Naturwissenschaften, insbesondere Parallelisierungen von Fotografien und ihren diagrammatischen Transkriptionen, die als ›split-screen‹-Bilder in einem Text präsentiert werden. Den Prozess der Objektkonstitution beschreibt Lynch als den Prozess einer Umformung bzw. Transformation. Die Diagramme stehen semiotisch im Verhältnis einer direktional gerichteten Ähnlichkeit, in der sie als kommentierendes ›Zweites‹ zu einem den Inhalt bereitstellenden ›Ersten‹ der Fotografie erscheinen. Dieses Ähnlichkeitsverhältnis ist das einer strukturellen Ähnlichkeit, in der – ähnlich, wie es in Peirces operationaler Definition von Ikonizität angelegt ist ( Kap. 3.3.3) – aus der Fotografie ein für Schlussfolgerungen objektivierbares und manipulierbares Objekt herauspräpariert wird. Die Transformation entspricht der Transkription eines Präskriptes in ein Skript bei Jäger. Lynch warnt allerdings davor, die ikonische Relation als abgeleitete Repräsentation des Objektes in der Fotografie durch das Diagramm zu verstehen. Vielmehr stellt das Diagramm durch seine diskursive Autorität das in der Fotografie abgebildete Objekt als wissenschaftliches Objekt mit her. Eine Diagrammatisierung ist somit – unter den spezifischen System- und Diskursbedingungen der Wissenschaft – die normative In-Geltung-Setzung des Objektes als einem »epistemischem Objekt«.21

18 Vgl. Lynch 1990, S. 154. 19 Vgl. dazu Lynch 1991. 20 Vgl. Lynch 1990, S. 153. 21 Vgl. zu diesem Begriff auch Rheinberger 2001.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Zentral ist die Differenzierung im ikonischen Objektbezug: Das Diagramm erscheint als »ideales« Bild des Objektes und wertet so die Fotografie als das »empirische« Bild einer durch die Medialität der Fotografie garantierten Quelle auf.22 Der Ähnlichkeitsbezug des Diagramms in Relation zur Fotografie ist ein Bezug zweiter Ordnung. Die Fotografie behauptet ein mimetisches Ähnlichkeitsverhältnis erster Ordnung zum Objekt. Die strukturelle Ähnlichkeit des Diagramms setzt sich zu diesem ersten Bezug in ein Verhältnis zweiter Ordnung, die semiotisch als ein Verhältnis struktureller Ähnlichkeit ausgestaltet ist. Einmal als Bezug zum Objekt etabliert, macht strukturelle Ähnlichkeit es möglich, nicht nur das Objekt darzustellen, sondern die Relationen zwischen Teilen des Objektes besser zu beobachten und somit auch medial von dem in der Fotografie realisierten Form ikonischer Ähnlichkeit abzugrenzen. Diagrammatisierung etabliert somit ein Verhältnis der explizierenden Auslegung zur Fotografie, die das Objekt als ein erkennbares ›Ding‹ konstituiert. Dieses Verhältnis verfestigt einen supplementär-sekundären Charakter des Diagramms relativ zur Fotografie. In dieser Rolle realisiert eine Diagrammatisierung jedoch nicht nur ein Kommentarverhältnis, sondern als Bezug struktureller Ähnlichkeit auch eine Explikation, welche durch eine perzeptive Hervorbringung des Objektes geprägt ist, die einem ›hypotypotischen‹ Vor-Augen-Stellen entspricht.23 Das Objekt in der Fotografie wird durch Diagrammatisierung zu einem ›soliden‹ Gegenstand wissenschaftlicher Kommunikation.24 Durch die diagrammatische Explikation wird nicht nur das Objekt, sondern auch das Medium Fotografie in seinem Status als ›authentische‹ Quelle normativ aufgewertet. Für diese Art der medialen Integration eines Objektes in die Normstrukturen eines Diskurses scheinen Diagramme ganz generell die entscheidenden Zeichenformen zu sein. Aus Perspektive der Semiotik ist das nicht überraschend. Wie Peirce betont, liegt das ›Diagrammatische‹ eines Aktes der Diagrammatisierung darin, ein Objekt in einen idealen Raum seiner Manipulierbarkeit zu verschieben, um etwas über das Objekt zu lernen. Allerdings interessiert sich Lynch für diesen Prozess nur zweitrangig als einen Prozess der Explikation von Wahrnehmung. Ihm geht es nicht um den Rückbezug auf die Kognition, sondern um das mediale Verhältnis zwischen semiotischen Basismedien wie dem Bild und dem Diagramm. Zu diesem Zweck formuliert er eine Abgrenzung zur Phänomenologie, wenn er vom diagrammatischen Bild als einem »eidetischen Bild« (eidetic image)25 spricht, aber mit diesem Bild ausdrücklich kein mentales Bild meint: »By ›eidetic image‹ is meant not a ›mental picture,‹ but an image that synthesizes the eidos of a field or discipline. The term is adapted from Husserl’s philosophy, where it is used to refer to the transcendental ›essence‹ of an object-in-experience. Here, it is stripped of its transcendental overtones, and refers more concretely to the generalized or idealized version of an object portrayed in a visual document.«26

22 Vgl. zur Unterscheidung »ideal« und »empirisch« Lynch 1990, S. 163. 23 Vgl. Lynch 1990, S. 160. 24 Vgl. Lynch 1990, S. 157f. 25 Lynch 1990, S. 162. 26 Lynch 1990, S. 183, Anm. 11.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Das eidetische Bild ist ein idealisiertes Strukturbild. Die entsprechenden eidetischen Objekte sind regelhafte ›Types‹. Ihre Typizität basiert auf besagter diagrammatischer Selektion, die auch eine normative Aufwertung des Objektes umfasst. Lynch verhandelt diese Selektion, indem er zeigt, dass eine Auswahl von bestimmten Relationen des Objektes – also die Reduktion auf strukturelle Ähnlichkeit – die Voraussetzung dafür bildet, dass das Objekt anschließend ›mathematisiert‹ werden kann. Dies entspricht dem diskursiven Evidenzverfahren der Thematisierung von etwas Unthematischen. Lynch diskutiert dafür verschiedene Teiloperationen, deren Kriterien ich an dieser Stelle in übersetzter, paraphrasierter und kommentierter Form wiedergebe: • Filterung (»Filtering«): Lynch geht davon aus, dass ein Diagramm im Vergleich zur Bezugsfotografie nur eine begrenzte Menge sichtbarer Qualitäten repräsentiert; die Objektstruktur wird herausgearbeitet, unnütze visuelle Informationen weggelassen. Das Filtering ist eine Variante des Komplexitätsreduktions-Arguments, das Lynch auf sichtbare Qualitäten bezieht, also als wahrnehmungstheoretisches Argument formuliert. • Homogenisierung (»Uniforming«): Ein Diagramm vereinheitlicht das Bild, indem es uneindeutige Bereiche des Bildes in Farben oder andere symbolische Werte übersetzt. Der visuelle Effekt ist der einer Glättung. Mit ihm geht eine Reduktion des ›Rauschens‹ einher, also eine Disambiguierung möglicher Fehlerquellen des fotografischen Bildes. • Aufwertung (»Upgrading«): Durch Diagrammatisierung werden die sinnlichen Qualitäten des Objektes hervorgehoben, so z.B. klare Grenzen und Konturen gezeichnet. Formen und Teilungen des Bezugsobjektes werden deutlicher gemacht, was v.a. durch die Verwendung digitaler statt analoger Zeichen ( Kap. 5.4.2) umgesetzt wird. • Festlegung (»Defining«): Gemeinsam mit sprachlichen Etikettierungen wird das Objekt codiert und klassifiziert; das Objekt wird ausgestellt, ausgearbeitet, ausgedehnt, verglichen und vermessen. Ein Layout möglicher mathematischer Operationen wird erzeugt, indem eindeutige Festlegungen des Objektes wie Innen/ Außen, Oben/Unten etc. möglich (und potenziell sogar berechenbar) werden.27 Folgt man Lynchs Kriterien, dann expliziert eine Selektion die visuelle Legitimität der inhärenten Regularität diagrammatischer Strukturen in Richtung ihrer symbolischen Transkription, also in Richtung einer normativen Rechtfertigung, die durch die anschließende Mathematisierung gewährleistet wird. Dabei kommt es im Kontinuum der diagrammatischen Formen zu einem Übergang von image-diagram (Karte) bzw. diagram-proper (Diagramm) zum symbolic-diagram (Formel) ( Kap. 5.4.2). Ähnlich, wie es bei Nelson Goodman gedacht wird, ist Diagrammatisierung für Lynch eine Praxis der ›vermessenden‹ Abstraktion, die zugleich ein Objekt konstituiert und exemplifiziert.28 27 Alle diese vier Kriterien finden sich bei Lynch 1990, S. 161. 28 Mit Johanna Drucker (2013a, S.  98) könnte man weiterführend überlegen, eine Grammatik explizierender Primitive zu entwickeln. Drucker vermerkt: »True primitives of diagrammatic writing are: hierarchy, juxtaposition, embedment, entanglement, enframing, interjection, branching, recursion, herniation, extension, penetration. Each is a spatial logic (in a mathematically precise sense that distinguishes

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Durch Diagrammatisierung wird ein Objekt handhabbar gemacht und in diesem Akt der Handhabbarmachung zu einer ›theoriefähigen‹ Entität. Wie Lynch hervorhebt, ist dies als ein Akt der Transkription auf eine spezifische Zurichtung der Perspektive gestützt – Lynch nennt das ›selektive Perzeption‹.29 Diese perspektivische Zurichtung wird dabei medienästhetisch zumeist so ausgestaltet, dass die Zweidimensionalität der Fotografie durch die Diagrammatisierung in eine dreidimensionale Darstellung umgeschrieben wird. Das Objekt wird als ein ›handhabbares‹ Objekt sichtbar gemacht.30 Mit Lynch kann man das eine ›Modellierung‹ nennen.31 Modellierungen sind dreidimensionale Ontologisierungen, die aus vorhergehenden Formen der Diagrammatisierung entstehen. Die Idealtypizität des eidetischen Objektes entfernt sich dabei als symbolischer ›Type‹ noch weiter vom ›Token‹ in der Fotografie.32 Der Übergang in die Dreidimensionalität erzeugt den Effekt, gleichzeitig das Innen als auch das Außen des Objektes sichtbar machen zu können. Lynch zufolge erhöht dieser Effekt die Verständlichkeit und hebt die Qualität als theoretischen Gegenstand hervor.33 Verschiedene Seiten des Objektes werden als eine körperliche Ganzheit denkbar, die sich selbst aus einer »convergence of partial diagrammatic views«34 zusammensetzen kann. Die ›analoge‹ Form der Fotografie wird durch die diagrammatische Transkription in eine ›digitale‹ Repräsentation umgeformt: »Labels, serial arrangements, and cutaway views display hypothetical processes occurring within the visible structures which cannot concretely be seen in any photograph.«35 Die Transkription von der analogen Fotografie in das digitale diagrammatische Modell ist, ebenso wie sie eine Abstraktion ist, somit auch ein Prozess der explizierenden Anreicherung mit Informationen. Durch den Akt der Diagrammatisierung werden phänomenale Qualitäten der Gestalt des Objekts fassbar und im übergeordneten Diskurs referenzialisiert. Lynch interpretiert dies so, dass eine Fotografie durch Diagrammatisierung weniger ›aufsässig‹ wird, also an Widerständigkeit, Unklarheit und Mehrdeutigkeit verliert: »It becomes progressively less recalcitrant to the textual devices of describing, displaying, comparing, causally accounting, mapping, and measuring.«36 Alle diese Effekte des Modells sind dabei auf Papier materiell verkörpert und somit die Voraussetzung für jegliche Form von »Schemaspiel« vor dem geistigen Auge,37 was im Detail durch die Präformierung der Diagrammatisierung durch ›Image schemas‹ erschlossen und analysiert werden kann ( Kap. 5.2).

it from the other primitives).« Für den vorliegenden Zweck reicht allerdings das Viererschema von Lynch. 29 Vgl. Lynch 1990, S. 155. 30 Siehe zur händischen Verfertigung von Diagrammen weiterführend auch die Arbeit von Depner 2016. 31 Vgl. Lynch 1990, S. 167f. 32 Vgl. auch Lynch 1990, S. 167: »Unlike tracings, these pictures are not concretely tied to any particular photograph.« 33 Vgl. Lynch 1990, S. 167. 34 Lynch 1990, S. 167. 35 Lynch 1990, S. 167f. 36 Lynch 1990, S. 168. 37 Vgl. Lenk 1995, S. 242ff. An ›Spielen‹ ist in der zeitgenössischen Philosophie, Bild- und Medienwissenschaft kein Mangel. Die Forschung kennt neben den allseits gerühmten ›Sprachspielen‹ inzwischen

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Lynchs Ansatz verdeutlicht darüber hinaus aber sehr schön, dass eine derartige Arbeit des Hin- und Herbewegens, Drehen und Variierens vor allem auch auf den Umgang mit anderen Medien wie Schrift und Bild bezogen ist, also über die reine Realisierung eines idealen Denkbilds in einem ausdifferenzierten Diagramm hinausweist. Diagrammatisierungen zweiter Stufe sind immer in diskursive Konstellationen wie den typischen »Schauplätzen der Evidenz« ( Kap. 2.2.7) der Wissenschaft und somit immer in einen medialen Kontext der Diagrammatisierung erster Stufe eingebunden, welcher die Semantik und Pragmatik eines wissenschaftlichen Diagramms prägt. Wissenschaftliche Diskurse setzen auf den rhetorischen Effekt, dass nicht nur mit dem Bild und dem Diagramm gedacht wird, sondern, mit Ludwig Jägers gesprochen, in diskursiver Evidenz epistemische Evidenz entsteht. Wie aber soll man diese Wechselwirkung auf Ebene erster Stufe beschreiben? Bei Lynch findet man über den eingangs erwähnten Begriff der rhetorischen »Bewegung« eine mögliche Antwort.

6.1.2 Rhetorische Bewegung und diagrammatisches Supplement Gemäß seines Ansatzes, nicht nur die semantischen Aspekte der diagrammatischen Transkription zu achten, sondern auch den »pragmatic divide[]« zu berücksichtigen, der zwischen Schrift, Bild und Diagramm besteht – also den Umstand, dass diese semiotischen Medien an bestimmte Praktiken gekoppelt sind –, zeigt Lynch, dass die verschiedenen Operationen der diagrammatischen Selektion sehr unterschiedliche pragmatische Effekte haben können. Nimmt man seine Beispiele, dann ist eine rekursive Bezugnahme auf ein fotografisches Objekt eine Transkription, welche das Objekt als die Spur eines realen Objektes deutet. Die fotografische Bezugnahmepraxis wird durch die Art und Weise des diagrammatischen Bezugs innerhalb einer diskursiven Ordnung authentifiziert und legitimiert. Die Praktiken der Diagrammatisierung konstituieren das Objekt und etablieren es zugleich als ein Objekt der wissenschaftlichen Forschung: Es wird zu einem eidetischen Objekt im Sinne eines diskursiven Ideal-Objektes. Lynch präzisiert auf diese Weise die semantische Geltung von Praktiken der Diagrammatisierung. Er erweitert aber auch die Standardsicht auf Diagramme und ihre Funktion in epistemischen Praktiken um eine ›rhetorische‹ Dimension. Praktiken der Diagrammatisierung sind unter spezifischen diskursiven Bedingungen vorgenommene Praktiken der normativen Zurichtung von Möglichkeiten der Auslegung eines Objektes. Dies bestätigt zunächst den trivialen Punkt, dass Diagramme keine neutral gebrauchten Erkenntnismittel sind, sondern ihre Evidenzeffekte in einer Diskursordnung normativ reguliert werden. Der Hinweis auf eine rhetorische Dimension bedeutet also nicht, dass durch Diagrammatisierungen keine faktischen Erkenntnisleistungen erreicht werden. Epistemologie und Rhetorik schließen sich nicht aus. ›Rhetorik‹ besagt vielmehr, dass Diagramme einen als ›wissenschaftlich‹ attributierten, mit ihrer kognitiven Plausibilität verschränkten, Evidenzeffekt haben, der über die reine Ebene der Informationsvermittlung hinausweist. Lynch erfasst dies exemplarisch, indem er den Übergang in die rhetorische Dimension als den Übertritt von Selektion in »Mathematisierung« beschreibt und am Beispiel der Diagrammatisierung von Fotografien von einer pragmatischen Dimenauch »Bildspiele« (vgl. Scholz 2004). Einen kleinen Überblick gibt Totzke 2012, S. 415, Anm. 5, und führt bei der Gelegenheit auch gleich den Begriff des »Schriftspiels« ein.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

sion der rhetorischen Mathematik im Diagrammgebrauch der Wissenschaft spricht.38 Knüpft man den Begriff der ›Rhetorik‹ für den Bereich der visuellen Dimension von Repräsentation – also der Bilder, der Diagramme, aber auch der Sichtbarkeit der Schrift – an die Frage, wie konkrete Mittel in diesen Formen Überzeugungen generieren oder modifizieren,39 dann referiert die Rhetorizität von Praktiken der Diagrammatisierung auf die Gesamtheit des Umgangs mit Diagrammen in unterschiedlichen Erkenntnissituationen und ihren diskursiven Formationen, etwa der Geometrie. Es gibt nicht nur die Geometrie, sondern es gibt einen ganzen diskursiven Kosmos der Bezugnahmen auf die Geometrie und das geometrischen Diagrammen unterstellte Ideal, Übersicht und Ordnung herstellen zu können. Für das Verständnis der medialen Aspekte von Lynchs rhetorischen Bewegung ist dies entscheidend. Als eine Transkription übersetzt eine Diagrammatisierung beispielsweise analoge in digitale Zeichenkonfigurationen, was mit der von Lynch konstatierten »Bewegung« zwischen Text und Bild dahingehend verbunden ist, als es durch diesen transkriptiven Austausch immer auch zur Entwicklung einer Art ›Proto-Narration‹ kommt. Mit Lynch gedacht, handelt es sich um eine »Bewegung« im Sinne einer Hin- und Herbewegung zwischen den verschiedenen Medien Schrift, Diagramm und Bild. Ausgehend von der Überlegung, dass Diagramme »pictorial work spaces«40 innerhalb von Texten etablieren – also zugleich rhetorische »Schauplätze der Evidenz« (Ludwig Jäger) und epistemische »Operationsräume« (Sybille Krämer) sind – verfolgt Lynch dabei zunächst die Bewegung vom schriftlichen Argument zu einer diagrammatischen Figur, die sich rekursiv auf das Argument bezieht und dann wieder zum Text zurückläuft.41 Diese Bewegung kann aber auch zu einem dreistelligen Prozess werden, welcher die technische Medialität der Fotografie einschließt. Ein Beispiel sind die erwähnten Foto-Diagramm-Paare. Das Diagramm bezieht sich dort nicht nur auf das schriftliche Argument. Seine Funktion ist es, das fotografische Bild für das schriftliche Argument zu transkribieren. Die Diagrammatisierung präpariert die Fotografie für die weitere Narrativierung in einem Argument, macht sie also durch Transkription anschlussfähig, wobei meist durch die Medialität der Fotografie erzeugte Störungen getilgt werden, die als Uneindeutigkeiten aber auch ein Auslöser für die Diagrammatisierung sein können. Die Diagrammatisierung hat generell den rekursiven Effekt, die Fotografie in ihrem Status als wissenschaftliches Medium zu bestätigen. Wenn Diagramme die wahrnehmungstheoretische Vieldeutigkeit der analogen Fotografie explizierend klären, dann bewegen sie sich innerhalb eines Möglichkeitsspielraumes, den ihnen das technische Bildmedium eröffnet. Zum einen existieren technische Bedingungen der Möglichkeit der Darstellung des Objektes (Wie hoch ist die Auf lösung? etc.), zum anderen ein Wissen um die Verwendung der Fotografie (Sind die Objekte selbst aus abstrakten Daten ausgerechnet? etc.). Diese medialen Kontextbedingungen sind es, auf die sich Praktiken der Diagrammatisierung mit ihrem rhetorischen Effekt beziehen: Eine Diagrammatisierung ›kompensiert‹ zum Beispiel mediale Möglichkeiten, in38 Vgl. Lynch 1991. 39 Vgl. den Ansatz bei Sachs-Hombach/Masuch 2007, hier insb. S. 52. 40 Lynch 1991, S. 7. Vgl. anders auch den Begriff der »Pictorial Spaces« bei Tversky 2011, S. 506ff. 41 Relativ zu dieser Bewegung können z.B. ›parodistische‹ oder ›dekonstruktivistische‹ Effekte entstehen, etwa wenn das Diagramm redundante Informationen repräsentiert. Vgl. Lynch 1991, S. 7.

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dem sie durch das Herauspräparieren eines eidetischen Objektes, mit Ludwig Jäger gedacht, die Fotografie und ihr Objekt als ›Quelle‹ authentifiziert ( Kap. 2.2.6). So gelesen hat eine Diagrammatisierung vorrangig den Zweck, die innere Organisation des fotografischen Bildfeldes und die Lage von Objekten durch Explikation ihrer Relationen aufzuweisen, das Bild also in ein ›Strukturbild‹ zu verwandeln. Elemente und die Relationen zwischen ihnen werden sichtbar und durch den Übertrag in eine diagrammatische Form für propositionale Aussagen objektivierbar. Weil die Diagrammatisierung jedoch zumeist aus dem schriftlichen Sprachspiel heraus motiviert ist und in diesem Sprachspiel wieder Möglichkeiten des schlussfolgernden Anschlusses bietet, ist festzustellen, dass die Diagrammatisierung das fotografische Objekt für die schriftliche Aussage rekonfiguriert und dabei eine supplementäre Übersetzungsfunktion erfüllt.42 Die pragmatische »Bewegung« rund um Diagramme ist somit Teil einer diskursiven Politik des Umgangs mit medialen Möglichkeiten und erweist jene ›Kraft‹ epistemischer Evidenz, die Peirce dem Diagramm als dem Medium einer zwingenden Schlussfolgerung zuspricht ( Kap. 3.5), als Teil nicht nur einer ›Epistemologie‹, sondern darin auch einer ›Rhetorik‹ medialer Bezugnahmepraktiken.43

6.1.3 Diagrammatisierung und die Idealität des Diagramms Durch den Filter der Theorie medialer Transkription gelesen, liefern Lynchs Überlegungen damit einen wichtigen Baustein, um die ›Kraft‹, die Peirce für die Schlussfolgerung in der Form eines Diagramms konstatiert, als einen medientheoretisch relevanten Begriff zu formulieren. Unter wissenschaftlichen Diskursbedingungen beruht die Explikationsfunktion von Diagrammatisierungen auf einer transkriptiven Übersetzung zwischen Bild, Schrift und Sprache. Wenn die Konstruktion und Fixierung eines eidetischen Objektes es ermöglicht, Schlussfolgerungsprozesse um die Idealrepräsentation eines Objektes herum zu zentrieren, dann deckt das Diagramm dank seiner Form als Strukturbild gewissermaßen die äußere Beschaffenheit und das innere Räderwerk des Objektes auf, streift dabei aber nie die Patina der medialen Praktiken ab, in die es eingebunden ist. Lynch legt mithin nah, dass die Rhetorizität von Diagrammatisierungen als ›idealen‹ Medien der Explikation in der Wissenschaft mit ihrer Medialität verschränkt ist. Damit berührt Lynch auf sehr eigenständige Art ein zentrales Thema der Diagrammatik, nämlich das Verhältnis der Idealität des Diagramms als Medium des Denkens und seiner Medialität. Macht man dieses Verhältnis an der Geometrie fest, dann kann man inspiriert durch die Arbeiten von Michel Serres sagen, dass die Orientierung der Diagrammatik an der Geometrie als ihrem Ideal seit dem Zeitpunkt präsent war, an dem Thales mit seinem Gnomon unter der Cheops-Pyramide stand.44 Seitdem ist dann aber auch die Frage nach den Medien der Diagrammatik im Raum. Sybille Krämer schreibt: »Faden

42 Den Begriff der »supplementären Funktion« habe ich unspezifisch auch in Ernst 2014b verwendet. Siehe zu einer elaborierten Theorie des Supplements Derrida 1983. 43 Vgl. weiterführend zur Metapher auch die impliziten Verweise auf metaphorische Relationen, die zur Erklärung ›bildrhetorischer‹ Effekte bei Sachs-Hombach/Masuch (2007, S. 53ff.) angedeutet werden (Untersicht als Ausdruck sozialer Unterlegenheit etc.). 44 Vgl. Serres 1994a.

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und Stab bilden die kulturtechnischen Vorläufer der Linie.«45 Medien wie der Gnomon oder die Sonnenuhr sind »Prototyp[en] eines wissenschaftlichen Messgeräts«.46 Metaphern des Denkens wie z.B. das ›Abwägen‹ oder das ›Festhängen‹ entwickeln sich entlang der Materialität dieser Medien.47 Der Gründungsakt des Thales im Schatten der Pyramide erschließt der westlichen Philosophie somit die Idealität geometrischer Diagramme und ihre Erkenntnispotenziale. Er pf lanzt ihr aber auch die regulative Idee dieser Idealität als implizite Normativität ein und kaschiert die Medialität ihrer kulturtechnischen Voraussetzungen.48 Derartige Ideale geometrischer Ordnung können den Wahrheitswert von Diagrammen mitunter vollständig ›rhetorisch‹ überlagern.49 Rhetorische Evidenz in Diagrammen im Sinne Lynchs ist jedoch ein komplexer Vorgang, der rhetorische Geltung der Idealität des Diagramms aus seiner Medialität heraus erklärt. Evidenz beruht einerseits auf dem (Wieder-)Auftreten epistemischer Evidenz und ihrer Schemata in den verschiedenen Formen diskursiver Evidenz, etwa als Vereindeutigung und Klärung einer uneindeutigen Fotografie in der Wissenschaft. Andererseits wurzelt sie in der diskursiven Autorität der Gattung des Diagramms als einem Idealbild des Denkens. Steht im ersten Fall die Schematisierung des Objektes erster Stufe im Vordergrund, also etwa die kognitive »Direktheit« eines Diagramms ( Kap. 5.4.3), so geht es im zweiten Fall um die Schematizität des Diagramms als Diagramm zweiter Stufe, die diskursiv eine spezifische epistemische Autorität reklamiert. In beiden Fällen beruht die Rhetorizität von Diagrammatisierungen aber auch auf ihrer medialen Verfassung. Infolgedessen ist Lynchs Ansatz in einem medientheoretischen Sinn evidenztheoretisch begründet, sofern er zeigt, dass die Rhetorizität von Diagrammen ein Ideal diagrammatischer Klarheit formuliert, das aus dem medialen Akt der Transkriptionen wie dem abstrahierenden Einzeichnen einer Hilfslinie im diskursiven Kontext der Wissenschaft ›mehr‹ macht, als nur den epistemischen Akt des abstrahierenden Einzeichnens einer Linie.50 Zusammenfassend gesagt, sind Diagrammatisierungen, wie Lynch sie diskutiert, mithin dort interessant, wo sie als explikative Transkriptionen innerhalb übergeordneter diskursiver Argumentationen stehen. Liest man Lynchs Diagrammatisierung mit Ludwig Jäger als Transkription, dann ergibt sich ihre ›Kraft‹ insbesondere aus der Konfiguration ›intermedialer‹ Interaktionen zwischen semiotischen Basismedien und ihrer technisch-materiellen Grundlagen. Diagrammatisierungen zielen darauf ab, eine gegebene Zeichenkonfiguration – und sei sie nur ein Bild in der Wahrnehmung – in ein »semiotisches Probehandeln« zu überführen,51 bei dem die Differenz der semiotischen zu den materiellen Aspekten des »Operationsraums« (Sybille Krämer) entscheidend ist. Lynchs Begriff des »pictorial work spaces« präzisiert diese Perspektive 45 Krämer 2012, S. 91, im Orig. kursiv. 46 Bogen 2005a, S. 155. 47 Vgl. Serres 1994a, S. 133f. 48 Vgl. Serres 1994b, S. 233ff., S. 247ff. 49 Verwiesen sei hier auf die Sammlung wirrer Diagramme bei Henschel 2003 oder die Verbindung von Diagramm und Komik, die Lukas Wilde (2013) erforscht hat. 50 Dieser Prozess ist seit dem 19. Jahrhundert verbunden mit dem, was Theodore Porter als ›Trust in Numbers‹ beschrieben hat. Vgl. Porter 1995. 51 Vgl. Winkler 2008b. Vgl. speziell zu Diagrammen als Medien der Probehandlung Posner 2009, S. 214f.

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dahingehend, als er im Unterschied zu anderen Ansätzen auf die Bewegung zwischen den semiotischen Basismedien abzielt und dabei die Materialität von in Medien verkörperten Zeichen in der semiotischen Dimension einschließt. Der Umstand, dass es in Diagrammatisierungen zu einer Übersetzungsbewegung zwischen Bild und Schrift kommt, verortet die explikative Funktion Diagrammatisierungen immer auch in einer ›Auslegung‹ von medialen Möglichkeiten, die durch die materielle Verkörperung semiotischer Basismedialität hervorgebracht werden. Diagrammatisierungen sind als explizierende Transkriptionen anzusehen, die einen Akt der medialen Bearbeitung evozieren. Mit Lynch ist es möglich, zu behaupten, dass es bei der Konstitution eines eidetischen Objektes nicht nur darum geht, ein Objekt aus einem ›Bild‹ zu explizieren, sondern auch um die explizierende Geste der medialen ›Auslegung‹ als einem medialen ›Tun‹ – ein Aspekt, der sich im Rückgriff auf interfacetheoretische Argumente weiter ausarbeiten lässt ( Kap. 7.1.3 u. 7.1.4). Vorläufig reicht aber die Beobachtung, dass diese Medialität der explikativen Funktion von Diagrammen dahingehend ›supplementär‹ ist, als sie das fotografische Bilder präzisiert und normativ nobilitiert, um es für sprachliche Diskurse über das Bild zu erschließen. Als ›Supplement‹ dient das Diagramm zur Fokussierung von explikativen Ansprüchen, um über das Objekt zu sprechen, es also zu einem »eidetischen Objekt« zu machen. Diagramme leisten dies, weil ihnen die Idealität einer mathematisch-geometrischer Präzision als einer Idealform von ›Denken‹ anhaftet, die in dieser Form kein anderes semiotisches Basismedium teilt. Nicht zuletzt dank seines Begriffs einer rhetorischen »Bewegung« können mit Lynch deshalb kulturelle Funktionen von Diagrammatisierungen adressiert werden, die in der Forschung bisher nur peripher in den Blick gekommen sind. Im Rückgriff auf Ansätze wie etwa bei Bruno Latour und seinen Ausführungen zum Diagramm werden von der Forschung zumeist wissenschaftliche Diskurse bevorzugt.52 Im Rahmen einer kurzen Fallstudie möchte ich diese Perspektive weiterführen, allerdings auf einen anderen Gegenstandsbereich beziehen: Diskutiert werden soll die pseudo- bzw. parawissenschaftliche Seite von Diagrammatik.

6.2 Alternative-History und Diagrammatisierung 53 Wann beginnt die Geschichte von rhetorischen Bezugnahmen auf die Diagrammatik? Vielleicht zeitgleich mit der Entstehung der Diagrammatik. Michel Serres zeigt, dass Thales‹ Vermessung der großen Pyramide als erster explikativer Vermessungsakt durchgeht. Thales, so will es der Mythos, stand unter der Pyramide und konnte mit Hilfe eines Gnomons aus ihrem Schattenwurf ihre Höhe berechnen. Neben diesen epistemologischen Konsequenzen hat der erste Akt der explikativen Vermessung aber auch die aufgezeigten rhetorischen Folgen: Denn seit dieser Zeit ist die Philosophie vom Mythos der Geometrie und ihrer Klarheit infiziert. Mit Thales und seinen Nachfolgern kommt die rhetorische Orientierung an der Geometrie und dem Diagramm als Inbegriff logischer Klarheit und geordneter Relationen in die Welt. Nutzt die Philosophie die Geometrie in Diagrammen, so entsteht parallel ein Mythos der Geo52 Vgl. Latour 1990; Latour 2002, S. 36ff. 53 Siehe zu den in Kap. 6.2 und 6.3 diskutierten Beispielen auch meine frühen Bemerkungen in Bauer/ Ernst 2010, S. 178ff.

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metrie und des Diagramms,54 der dort mathematische Strenge verspricht, wo verwirrende Sprachspiele vorherrschen. Thales ist in der misslichen Situation, das vergangene und überlegene geometrische Wissen (und damit die Prinzipien der überlegenen Architektur)55 der Ägypter entschlüsseln zu müssen. Durch die Diagrammatisierung eines indexikalischen Zeichens, des Schattenwurfs, gelingt es ihm, den Nutzen von Diagrammatisierungen angesichts defizitärer oder ambiger Zeichenverhältnisse zu bestätigen. Dass allerdings ausgerechnet die Pyramide das Erkenntnisobjekt ist, ist nicht weniger folgenreich. Denn mit der Pyramide rückt zugleich ein Objekt in den Fokus des Erkenntnisinteresses, das in der okzidentalen Tradition wie kein zweites zur Projektionsf läche geometrischer Spekulationen und mythischer Sinnansprüche geworden ist. Seit dem 16. Jahrhundert existiert z.B. die sogenannte ›Pyramidologie‹, ein Diskurs, in dem versucht wird, in das geometrische Layout der Pyramiden von Gizeh alles nur Erdenkliche hineinzuprojizieren und mit aufwendigen Diagrammen zu belegen. Was mit christlichen Deutungen beginnt, wandert im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend in die sogenannte Pseudoarchäologie und Alternative-History ab.56 Diesen Diskurs möchte ich im Folgenden aufgreifen, um anhand kleinerer Fallbeispiele die theoretischen Perspektiven zu konkretisieren. Die Beispiele sind dabei so gewählt, dass auch die populärkulturelle Dimension der Diagrammatik in den Blick kommt. Als übergeordneten Referenzdiskurs werden Diskurse des spekulativen Möglichkeitsdenkens betrachtet. Darunter sollen Diskurse verstanden werden, in denen in populärkulturellen Kontexten kontrafaktuale Szenarien und hochspekulative Erklärungsmuster entwickelt und tradiert werden, etwa in Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen oder politischen Entwicklungen. In den Bereich des spekulativen Möglichkeitsdenkens fallen etwa die Verschwörungstheorien wie die Spekulation, dass die NASA niemals auf dem Mond gelandet sei oder dass die Anschläge vom 11. September 2001 ein ›inside job‹ gewesen wären. Aber auch spekulative Diskurse, die von Seiten des Wissenschaftssystems als nicht ›wissenschaftlich‹ anerkannt werden, obwohl sie einen Bezug zur Wissenschaft behalten, sind dazuzurechnen, etwa ›esoterische‹ Heilkunde (Quantenheilung etc.) – kurzum: alles das, was – in der Regel abwertend – als Parawissenschaft und Pseudowissenschaft bezeichnet wird.57 Im engeren Sinn ist für den vorliegenden Kontext das Schlagwort der ›Pseudoarchäologie‹ interessant, ein Oberbegriff für eine Reihe von Autoren wie Graham Hancock, John West, Robert Schoch oder Robert Bauval, die sich, mit einem Höhepunkt ihrer Wirkung in den 1990er-Jahren, um radikale Neudeutungen antiker Kulturen bemühen. Dabei verfolgen sie die alte These, dass antike Hochkulturen wie das alte Ägypten oder die Maya-Kultur durch eine untergegangene, vorzeitliche Hochkultur beeinf lusst wurden, sich also nicht unabhängig voneinander entwickelt haben. Im weiteren Sinn schließt die Alternative-History auch die sogenannte ›Prä-Astronautik‹ ein. Gemeint ist damit die bekannte, von Akteuren wie Robert Charroux, Erich von

54 Vgl. Serres 1994b. 55 Der sehr breite Forschungsstand zum Zusammenhang zwischen Diagrammatik und Architektur muss hier allerdings ausgeklammert bleiben. 56 Vgl. Fagan 2006b. 57 Vgl. die Beiträge in Rupnow et al. 2008.

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Däniken oder Zecharia Sitchin vertretene These, Eingriffe von Außerirdischen hätten die menschliche Zivilisationsgeschichte maßgeblich beeinf lusst. Die Wurzeln dieser spekulativen Deutungen liegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts und sind eng mit damals etablierten wissenschaftlichen Theorien und Mythen verf lochten. Ein gutes Beispiel ist die Tradition der mythischen Interpretationen der Geometrie der großen Pyramide in Gizeh. 1859 veröffentlicht der englische Publizist John Taylor sein Buch The Great Pyramid: Why Was It Built & Who Built It? Taylor schreibt den Pyramidenbau aufgrund der verwendeten Maßeinheiten den Israeliten zu. Der Astronom Charles Piazzi Smyth folgt 1864 und 1867 mit seinen Büchern Our Inheritance in the Great Pyramid und Life and Work at the Great Pyramid. Vergleichbar dem Deutungsmuster Taylors setzt auch Smyth die Pyramiden auf Grundlage geometrischer Zahlenspekulationen mit der biblischen Heilsgeschichte in Beziehung.58 Die geometrischen Formen von Pyramiden werden als ein ausgefeiltes System von Relationen begriffen, das einen ›Code‹ enthält, der als Kernstück einer größeren Botschaft angesehen wird.59 Zu den großen Erzählungen der Alternative-History zählt ferner der Atlantis-Mythos. Der US-amerikanische Jurist und Politiker Ignatius Donnelly veröffentlichte 1882 seinen Bestseller Atlantis – The Antedeluvian World. Donnelly entwickelt in diesem Buch die These, dass die verschiedenen Pyramidenbauten westlich und östlich des Atlantiks durch eine zwischen 13.000 und 10.000 v.  Chr. untergegangene Hochkultur beeinf lusst worden seien. Die Möglichkeit, dass Atlantis kein Mythos sei, sondern real existiert haben könnte, figuriert bei Donnelly als Prämisse, um das Phänomen des Pyramidenbaus in voneinander getrennten Kulturen rund um den Atlantik zu erklären. Der Bezug auf Atlantis soll eine Erklärungslücke schließen (ein ›Rätsel der Geschichte‹). Im Unterschied zu einer biblischen Geschichte hat Atlantis den Vorteil, an christliche Motive anschlussfähig zu sein (Sintf lut), aber zugleich für andere religiöse Deutungen offen zu bleiben, denkt man an die zügige Übernahme des neu aufgelegten Atlantis-Mythos in okkultistischen und völkischen Kreisen, etwa bei Helena Blavatsky.60 Für die Alternative-History war an Donnellys Ansatz wichtig, dass sein Narrativ auf die Möglichkeit einer alternativen Erklärung setzt, die sich relativ zu einer wissenschaftlichen Problemstellung wie ein kontrafaktuales Gedankenexperiment positioniert. ›Alternativ‹ ist seine Erklärung darin, dass er in Bezug auf eine in den Wissenschaften diskutierte Problemstellung die hypothetische Frage aufgeworfen und durchgespielt hat, zu welchen Ergebnissen man käme, wenn man die Existenz von Atlantis als einer verlorenen Inspirationsquelle annähme. Eine als wissenschaftliche Frage maskierte Hypothese des ›als ob‹ wird verwendet, um den Wahrheitsgehalt eines Mythos zu behaupten. Die akademische Geschichtsschreibung wird mit einer anderen Möglichkeit der Darstellung von Geschichte überschrieben, also einer zweiten Anordnung von Quellen und Fakten, die eine Umdeutung des etablierten Erklärungsmusters darstellt. Diese Umdeutung befasst sich nicht nur mit einem Mythos, sondern gibt sich ihrerseits als ein mythisches Denken zu erkennen, wenn das alter58 Die meisten der Texte sind online verfügbar, so auch das Buch von Charles Piazzi Smyth. Vgl. etwa https://archive.org/details/ourinheritancein00smytuoft, gesehen am 10. Mai 2020. 59 Der Einschätzung der ›alternativen‹ Autoren zufolge, ist die etablierte Wissenschaft entweder nicht in der Lage, den Code zu verstehen, oder aber – so die paranoide Wendung im 20. Jahrhundert – eine Institution, die das Wissen um den Code systematisch unterdrückt. 60 Vgl. Arnold 2006; Goodrick-Clarke 2004.

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native Narrativ mit einem Erklärungswert versehen werden muss, etwa in der Zielführung des Narrativs auf die vermeintliche Botschaft für die Gegenwart.61 Ignatius Donnellys Denken ist ein Beispiel dafür, dass der Diskurs der Alternative-History faktische oder behauptete wissenschaftliche Erklärungslücken als ›offene‹ Fragen adressiert und mit einer spekulativen Erklärungsmöglichkeit verknüpft. Diese spekulative Möglichkeit wird dann in ein durch mythologische Versatzstücke geprägtes Deutungsmuster verwandelt. Wegweisend für die Authentizität der Diskurse der Alternative-History ist die jeweilige Anordnung von Quellen und Fakten, also das Evidenzverfahren. Dabei ist auch die Diagrammatik von Bedeutung.

6.2.1 Atlantis, Teleskop, Fotografie und Monumente auf dem Mars 62 Donnellys These von Atlantis als dem Ursprung der Kultur ist für die Erklärungsmuster der Alternative-History bis heute sehr typisch. Das zeigen die Auftaktpassagen von Atlantis – The Antedeluvian World. Donnelly schreibt, er wolle davon ausgehen, »[t]hat the description of this island given by Plato is not, as has been long supposed, fable, but veritable history.«63 Wenn die Geschichte aber wahr ist, dann muss das versunkene Atlantis ein Ort von unermesslicher historischer Bedeutung sein. Das schreibt Donnelly, wenn er konstatiert, »[t]hat Atlantis was the region where man first rose from a state of barbarism to civilization.«64 Die atlantische Idealzivilisation habe die Kulturen westlich und östlich des Atlantiks beeinf lusst. Infolgedessen behauptet Donnelly, dass griechische, christliche, phönizische und nordische Mythen, wie etwa der Garten Eden, das Paradies, die Gärten der Hesperiden, die Eleusischen Felder, der Garten des Alkinous, der Olymp, Asgard, der Sonnenkult in Peru und vieles mehr, Referenzen auf Atlantis sind, die als Mythen also vom faktischen Untergang der Insel berichten.65 Donnelly bedient sich damit einer bewährten argumentativen Rochade: Atlantis wird aus einem mythischen Präskript heraus als faktisch existierender Kontinent im Atlantik mit einer hoch entwickelten Zivilisation behauptet, also als faktuale Möglichkeit ernst genommen. Genau diese faktuale Möglichkeit und ihre narrativen Implikationen werden dann aber zu dem fundierenden Ereignis, für dessen weitere Legitimation alle anderen Mythen als Mythen herangezogen. Doch so zirkulär diese Rochade ist, als selbstreferenzielle Bezugnahme eines mythischen Diskurses zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt ist sie interessant. Die Faktualisierung von Platons Atlantis-Mythos wird als Möglichkeit behauptet. An der Wurzel von Donnellys eigenem, als Wissenschaft gefassten, mythischen Diskurs wird somit eine Uneindeutigkeit als Möglichkeit etabliert. Diese Möglichkeit gewinnt an Geltung, weil Donnelly konstatiert, dass das vorgebliche Realereignis der Existenz und des Untergangs von Atlantis in anderen Mythen ein Echo gefunden hat. Die Exegese anderer Mythen garantiert die Anschlussfähigkeit des Mythos. Die anderen Mythen (der Ägypter etc.) werden in ihrem Status 61 Weitere, allgemeiner gefasste Charakteristika des Diskurses werden in Fagan 2006a, S. 30ff. aufgelistet. 62 Dieser Abschnitt ist in einer älteren Version veröffentlicht in Ernst 2012b und hier v.a. hinsichtlich der analytischen Konsequenzen des Beispiels neu gefasst. 63 Donnelly 1882, S. 1. 64 Donnelly 1882, S. 1. 65 Vgl. Donnelly 1882, S. 1f.

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als Mythen, die vorgeblich von Fakten berichten, zur Legitimation eines als Fakt genommenen Mythos herangezogen, eben der Atlantis-Geschichte, und so selbst wieder ein mythischer Diskurs in Geltung gesetzt, nämlich Donnellys Geschichte. Zu Donnellys Zeiten, ausgelöst durch Heinrich Schliemanns Entdeckung Trojas, gehört diese ›virale‹ Übersetzungsfähigkeit zu den erstaunlichsten Leistungen von Mythen. Während wissenschaftliche Theorien, wie z.B. die Äther-Theorie, veralten und widerlegt werden, sind Mythen in der Lage, sich permanent in neue Kontexte einzuschreiben. Wie Ernst Cassirer gezeigt hat, ist dies einer der Gründe dafür, dass Mythen analogische Denkund Schlussformen sind, die als Praktiken Züge einer Lebensform haben.66 Neben der oft diskutierten Dimension der sprachlichen Tradierung von Mythen wirft Cassirers Hinweis auf die Bedeutung des analogischen Schließens zwangsläufig auch die Frage nach der visuellen Dimension von Mythen auf. Im Fall von Donnelly muss man dabei zwingend die illustrierte Version des Buches betrachten. Das ikonische Medium des Mythos ist die Karte – in diesem Fall die Karte von Atlantis schlechthin ( Abb. 30). Sie findet sich im Kapitel The Testimony of the Sea und ist ein zwar einfacher, aber lehrreicher Fall diagrammatischen Denkens in parawissenschaftlichen Diskursen.

Abb. 30: Atlantis-Karte nach Donnelly. Quelle: Donnelly, Ignatius Loyola (1882): Atlantis. The Antediluvian World, New York, NY: Harper & Brothers, https://archive.org/details/ atlantisantedilu00donnuof t, gesehen am 07. Mai 2020, S. 51.

66 Vgl. umfassend Cassirer 2010; zu Anschlüssen dieses Ansatzes in Richtung Metapherntheorie Huss 2019, S., hier S. 70ff. Vgl. zudem materialreich Eco 2013, speziell zu Atlantis S. 183ff.

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Die Frage lautet im Sinne Umberto Ecos ( Kap. 3.2) einmal mehr: Was hat Donnelly gesehen, als er die Karte gesehen hat? In der Karte findet Donnelly einen Kontinent da, wo er – gegeben eine Menge analoger Kulturentwicklungen westlich und östlich des Atlantiks – aus der räumlichen Anordnung der Karte notwendig folgen muss, in der Mitte, der verborgenen ›dritten‹ Stelle. Aber warum? Der Beweis wird durch eine diagrammatische Karte der Tiefseestrukturen geliefert, die als Zitat aus wissenschaftlichen Kontexten zu den Paraphenalia des spekulativen Arguments gehört. Als eine Art Peirce’scher »korollarialer Deduktion« ( Kap. 3.5.2) markiert die Karte in der leeren Fläche des Atlantiks die epistemologische Leerstelle für die Möglichkeit der Existenz eines Objektes, von dem Donnelly auf Grundlage der schriftlichen Überlieferung annahm, dass es da gewesen sein muss. Mit Atsushi Shimojima gedacht, liefert die Karte durch die leere Fläche des Ozeans und die Existenz von Inselgruppen wie den Azoren eine »nomische Einschränkung« ( Kap. 5.4.2),67 also eine regelhafte Einschränkung räumlicher Koexistenzmöglichkeiten, in der durch die räumliche Konfiguration von Objekten und ihrer Relationen bestimmte Möglichkeiten impliziert, andere dagegen ausgeschlossen werden.68

Abb. 31: Das fiktive Imperium Atlantis. Quelle: Donnelly, Ignatius Loyola (1882): Atlantis. The Antediluvian World, New York, NY: Harper & Brothers, https://archive.org/details/ atlantisantedilu00donnuof t, gesehen am 07. Mai 2020, S. 295.

Donnelly rüstet die (seiner Ansicht nach) notwendige Deduktion der Position von Atlantis im Atlantik durch die Parallelisierung mit Tiefseekarten der betreffenden Region auf, die durch die britische Marine durchgeführt worden waren. Das narrative Schema seiner Deutung wird durch eine diagrammatische Operation in der diskursiven Evidenz des objektiven, »ikarischen« Blicks der Anschaulichkeit der Karte objekti-

67 Vgl. Shimojima 1996; Shimojima 2001. 68 Vgl. auch die Diskussion von ›Spatialität‹ als einem Kriterium von Karten bei Giardino 2010, S. 148ff. Donnellys Karte hat hier etwas von einer Schatzkarte.

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viert. Donnellys Blick ist ein »Welt-Blick«,69 der sich zugleich in die Vergangenheit der Gegenwart richtet, also eine ›prä-historische‹ Ära wiederbelebt, die in den Spuren der Kulturleistungen verschiedenster Völker per Ähnlichkeits- und Mustererkennen nachgewiesen werden kann. Der kartografische Blick wird bei Donnelly zu einem metaphorischen, wo die unterstellte ›Wiege der Zivilisation‹ eine ästhetische Balance evoziert, die das Verhältnis von Europa und Amerika neu ›gewichtet‹, indem sie zeigt, dass das Verhältnis von ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹ der Welt ein verborgenes Gravitationszentrum hat, von dem her sich alle Geschichte und vor allem alle Zivilisationsleistung der Völker westlich und östlich des Atlantiks erklären lässt. Vom Entdeckungskontext bis zur fertigen Karte ist ein implizites Verständnis für das ›Center-Periphery‹-Schema erhalten geblieben ( Abb. 31).70 So einmal als eidetisches Objekt exponiert, sind die Folgen für die Geschichtsschreibung immens, geht doch Zivilisation im bekannten Muster auf eine Wurzel zurück. Dezentralisiert sich die Welt, so rückt der Nachweis eines verborgenen Gravitationszentrums die Dinge wieder in die richtigen Verhältnisse. Der Zentralismus der Karte und ihr ideologischer Perspektivismus gehen im 19. Jahrhundert also eine Allianz mit pseudo- bzw. parawissenschaftlicher Spekulation ein – mit einem Möglichkeitsdenken, das auf den Kontingenzschock der sich ausdifferenzierenden Wissenschaften reagiert. Wie aber verbindet sich solches Denken im 19. Jahrhundert mit dem Irritationsmoment technischer Bildmedien?

6.2.2 Die Karte und die Affäre und die Marskanäle 1877 untersucht der italienische Astronom Giovanni Schiaparelli eine Karte, die er hergestellt hatte, um seine teleskopischen Beobachtungen des Planeten Mars zu objektivieren.71 Was Schiaparelli in der Karte sieht, bestätigt, was er bereits im Blick durch sein Teleskop gesehen hatte: Auf dem Mars ist ein Netzwerk ungewöhnlich gerader Linien zu erkennen. Schiaparelli beschließt, diese Linien »canali« zu nennen.72 An diesem Punkt waren ihm die Konsequenzen dieser Handlung nicht klar. Es war aber nicht die fehlerhaft-metaphorische Übersetzung des italienischen Wortes ›canali‹ mit dem englischen Begrif f ›canal‹ anstatt von ›channel‹, welche die nunmehr folgende Affäre der Marskanäle auslöste.73 Die Ursachen dürften woanders liegen. Denn noch vor seiner narrativen Konzeptionalisierung realisierte sich der Mythos der berühmten Marskanäle in den Karten, die Schiaparelli gezeichnet hatte.74 Dies legt die auch in der Forschung gut belegte Schlussfolgerung nah, dass die Karte das Medium der Entstehung des Mythos von Marskanälen ist ( Abb. 32) – ein Medium, das zu dieser Zeit als objektivierendes und archivierendes Medium benutzt wurde,

69 Vgl. Buci-Glucksmann 1997, S. 9ff. 70 Johnson 1987, S. 124f. 71 Der Gebrauch von Karten für astronomische Zwecke im 19. Jahrhundert wird bei Lane 2011, S. 23ff. diskutiert, zu Schiaparellis Karte vgl. S. 33ff. 72 Vgl. Lane 2011, S. 2. 73 Vgl. Lane 2011, S. 24. 74 Schiaparellis Mars-Karte sowie Auszüge aus seinen Notizbüchern sind dokumentiert auf www.brera. inaf.it/MARTE/marte.html, gesehen am 10. Mai 2020.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

um die f lüchtigen Daten der teleskopischen Beobachtungen des Blicks durch das Teleskop zu sichern.75

Abb. 32: Schiaparelli Mars-Karte, 1877-1878. Quelle: www.brera.inaf.it/MARTE/marte.html, gesehen am 07. Mai 2020.

Dementsprechend ist es die Karte und ihre, wie Cassirer schreibt, »mythische Geografie«,76 die sich zwischen die Wahrnehmung und das Medium des Teleskops auf der einen Seite und das visuelle Phänomen und seine narrative Objektivierung auf der anderen Seite schiebt. Die Karte macht die Explikation des Phänomens auf diese Weise erst möglich. Die Karte hilft Schiaparelli die Sinneseindrücke seines Blicks durch das Teleskop aufzuzeichnen, also das im Wahrnehmungseindruck repräsentierte ominöse Liniengef lecht konzeptionalisierend zu transkribieren – oder, wie Kant es wohl gefasst hätte, eine Anschauung unter die Regel eines Begriffs zu stellen. Schiaparellis Entdeckung vollzog sich innerhalb der Begrenzungen und Möglichkeiten, die durch das Medium der Karte zur Verfügung gestellt wurden. Wieder aber gilt die Frage: Was hat Schiaparelli gesehen, als er die Linienmuster gesehen hat? Es muss ein metaphorisches ›Sehen-gleichsam-als‹ gewesen sein ( Kap. 5.3.1), das die Karte für den Beweis seiner These benötigt: Auf dem Mars sind Linien zu sehen, die sich als Kanäle deuten lassen. Genau hat Schiaparelli, der an seiner Entdeckung durchaus Zweifel hatte, das Objekt ›Kanäle‹ nicht erkennen können, sein Wahrnehmungsschema war immer schon prekär. Der Gebrauch von Karten ist daher auch eine Reaktion auf die Ambiguitäten des visuellen Mediums des Teleskops. Albert Kümmel

75 Einen Überblick über die Kanalaffäre geben Crowe 1999, S. 480ff., Crowe 2008, S. 470ff.; Rauchhaupt 2009, S. 36ff.; Sheehan 1996, S. 58ff., die Bedeutung von Karten in der Affäre ist materialreich aufgearbeitet in Lane 2006; Lane 2011. Vgl. zum Verhältnis von Karte, Diagramm und Narration im weiteren Kontext auch Ljungberg 2012. 76 Vgl. Cassirer 2010, S. 104ff., hier S. 109.

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stellt das klar, wenn er in seiner am Begriff der Interferenz orientierten Diskussion der Marskanal-Affäre konstatiert: »Die Marskanäle sind also Effekt der Interferenzereignisse eines doppelt gestörten Mensch-Maschine-Verbunds: ein unzureichendes Teleskop und ein durch Farbfehlsichtigkeit überscharfes Auge. Die gewissermaßen objektive Interferenz von Raum und Physis – sowie die wechselseitige Verstärkung von deren Störungen – hätten allerdings kaum den massenkommunikativen Effekt eines ›canal furor‹ […] gezeigt ohne Schiaparellis Entscheidung für eine neue Nomenclatura. Schiaparelli fügt der Marslandkarte nicht nur neue Beobachtungen hinzu, sondern erfindet einen völlig neuen Mars.« 77 Der formierende Einf luss der Karte ist den Protagonisten nicht bewusst gewesen. Erst die retrospektive Betrachtung der Mars-Kanal-Affäre hat aufgedeckt, dass die Angelegenheit eine kartografische war. K. Maria D. Lane stellt fest: »At the root of the inhabited-Mars narratives lay a series of detailed maps.«78 Was Schiaparelli metaphorisch gesehen hat, stellte ihm die Karte und das Wissen um die Karte dann als Deutungsschema vor Augen: Die Landschaft auf dem Mars sieht wie eine irdische aus. Die Karte transkribiert in der Marskanal-Affäre das Präskript des Entdeckungskontexts der Wahrnehmung durch das Teleskop in ein Deutungsmuster, das es erlaubt, die ambigen und vieldeutigen Wahrnehmungseindrücke zu objektivieren und zu narrativieren – also in einen normativen Rechtfertigungskontext zu transkribieren. Die Karte liefert nicht nur eine Deutungsmöglichkeit für die im Wahrnehmungseindruck vermeintlich geraden Linien. Das Wissen um ihre gängige kulturelle Benutzung als Landkarte strukturiert die Deutung, wie diese geraden Linien kontextualisiert werden können. Wenn die Linien gerade sind, dann können sie das Ergebnis von exakten Vermessungsarbeiten sein. Der mediale Prätext des Blicks durch das Teleskop wird durch die Karte in eine durch ein Deutungsschema narrativierbare These übersetzt. Die Karte erfüllt damit eine supplementäre Funktion: Zum einen, weil der Karte eine ergänzende Funktion als Erkenntnismittel zufällt, zum anderen, weil der prägende Einf luss der Verwendungsweisen von Karten, also des kulturspezifischen Wissens um die Benutzung der Karte als Medium, in die Deutung des Wahrnehmungseindrucks miteinf ließt. Dies entspricht Ludwig Jägers ›Übersetzung‹ ( Kap. 2.2.6). Wenn ein Medium wie die Karte zum Zweck einer Transkription eingesetzt wird, dann f ließt das Wissen um die Verwendungsweisen der Karte, die Praktiken ihrer Herstellung und Nutzung, in das Transkript mit ein. In dieser Funktion ist die Karte schon seit Beginn teleskopischer Beobachtung ein Medium der Transkription von Wahrnehmungseindrücken, die durch das Medium des Teleskops gewonnen werden. Seit Galileo Galilei stellen Teleskope Bilder von etwas zur Verfügung, das, wie Hans Belting es fasst, die menschliche Wahrnehmung alleine nicht beobachten kann.79 Joseph Vogl diskutiert diesen Punkt ebenfalls. Er betont, dass Galileis Blick durch das Teleskop ein Beobachtungsverhältnis zweiter Ordnung ist. Teleskope präsentieren nicht einfach Bilder. Sie präsentieren Bilder, die den Gren-

77 Kümmel 2002, S. 76f. 78 Vgl. Lane 2011, S. 23. 79 Vgl. Belting 2007.

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zen der visuellen Wahrnehmung eine Gestalt geben. Sie objektivieren die Differenz zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit.80 Teleskopische Beobachtungen des Himmels decken auf, dass ein Beobachter nur einen Teil des Himmels gezeigt bekommt, und zwar den Ausschnitt, der durch das Medium wahrnehmbar gemacht wird. Infolgedessen muss in der Betrachtung des Kosmos ein technischer Möglichkeitshorizont angenommen werden, der im submedialen Raum ›unter‹ oder, im gegebenen Fall, phänomenal ›hinter‹ oder ›jenseits‹ des Teleskopbildes existiert, also in einem Möglichkeitsüberschuss, der kompensiert werden muss.81 Aufgrund dessen, sind Bilder des Teleskops durch eine »sichtbare Unsichtbarkeit« gekennzeichnet, eine Sichtbarkeit, die durch die Möglichkeit heimgesucht wird, dass etwas unsichtbar bleibt. Es muss etwas geben, das nicht im Bild präsent ist, nichtsdestoweniger aber als existent vorausgesetzt werden kann, also die Latenz eines Nicht-Gesehenen, das durch das technische Medium garantiert und doch verborgen wird.82 Dieser Möglichkeitshorizont impliziert einige wichtige Konsequenzen für die objektive Validität teleskopischer Bildlichkeit. Epistemologisch betrachtet, verstärkt die Paradoxie sichtbarer Unsichtbarkeit die Bedeutung der Beziehungen zwischen den im Bild sichtbaren Elementen. Um aber Schlussfolgerungen über die Verhältnisse im Sichtbaren und ihre Beziehungen zum Unsichtbaren ziehen zu können, müssen diese Relationen explizit und variierbar sein. Dies prädisponiert die Transkription per Diagrammatisierung ( Kap. 2.2). Wie auch Vogl bemerkt, ref lektiert Galilei hierauf, wenn er in den Briefen über das kopernikanische System notiert, dass in den Karten des Himmels nicht die sichtbaren Elemente das Wichtige seien, sondern die Schlussfolgerungen, die über die unsichtbaren Beziehungen zwischen den Elementen, die in der Karte repräsentiert sind, Aufschluss geben.83 Die analog-schemenhaften Wahrnehmungseindrücke, die der Blick durch das Teleskop liefert, müssen transkribiert werden in ein Medium, das die Objektivierung dessen erlaubt, was in den schemenhaften Eindrücken implizit ist. Eben das ist die Aufgabe der Karte. Aufgrund ihrer verräumlichenden Organisationsprinzipien erlaubt die Karte es, den Blick auf verborgene Beziehungsverhältnisse zu explizieren. Das ist das Ziel der Praxis transkribierender Explikation, in der die Karte als Layout für das Sehen und Ausspielen von Beziehungen zwischen den Elementen dient. Konsequenterweise wird durch diese Transkription eine »variable Sichtbarkeit« erzeugt.84 Die Rückbindung dieser Schlussfolgerungen an das Medium der Karte verwandelt die Wissenschaft in ein, mit Belting gesagt, »Reisebüro der Imagination«.85 Die mit der Karte verschränkte Bildlichkeit des Teleskops stimuliert den Sinn für spekulatives Möglichkeitsdenken. Die epistemische Evidenz, die Galilei gegen die Ideologie des theologischen Weltbildes gestellt hat, verwandelt sich in einen Typ wissenschaftlich-diskursiver Evidenz, die nicht in der unmittelbaren Gewissheit verwurzelt ist, sondern aus der Deduktion auf Grundlage einer Karte entsteht. Wie im Paradox 80 Vgl. Vogl 2001. 81 Vgl. auch Groys 2000, S. 18ff. 82 Vgl. Vogl 2001, S. 118ff., hier S. 120. 83 Vgl. Vogl 2001, S. 119. 84 Vgl. Vogl 2001, S. 120. 85 Belting 2007, S. 212.

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»sichtbarer Unsichtbarkeit« angedeutet, lässt sich dieses Verhältnis so fassen, dass diagrammatische Transkriptionen in einer Beziehung zu den Indeterminiertheiten medialisierter Wahrnehmungseindrücke stehen. Die durch Diagrammatisierung erreichte Spatialisierung in Karten hat den Zweck, im Sinne Michael Lynchs »pictorial work spaces« zu schaffen, in denen medialisierte Wahrnehmungseindrücke zunächst objektiviert und dann ausgedeutet werden können. Welche Form des Diagramms oder des Verwendens einer Zeichenform als Diagramm dabei zum Einsatz kommt, hängt davon ab, welche Praxis der Auslegung erreicht werden soll. Wie Daniel Fuld bemerkt, ist die schwächste Stufe der Sinnbildung die »Herstellung […] von Relationen«, die in narrative Kohärenz überführt werden.86 Das image-diagram der Karte ist ein Medium, das durch die Referenz auf ein Territorium Handlungsverläufe in einer Landschaft impliziert. Das Diagramm dagegen tendiert (als diagram-proper) eher zur Veranschaulichung abstrakter Relationen. Die Differenz zwischen Karte und Diagramm macht also einen Unterschied. Eine eher gattungstheoretische Herangehensweise an Diagramme ist aber – und das ist aus Peirce’scher Perspektive entscheidend – abhängig von der Zurechnung beider Formen des Diagramms auf eine Praxis der Diagrammatisierung als Explikation, in der die Funktionalisierung der jeweiligen Formen zwar unterschiedliche Effekte zeitigt, aber mit identischem Zweck verfolgt wird. Die weitere Affäre um die Marskanäle unterstreicht das. Schiaparellis Beobachtungen der Marskanäle wird von anderen Astronomen bis 1895 bestätigt. Allerdings blieb das Problem bestehen, dass jeder Betrachter eine andere Konfiguration der Strukturen auf dem Mars beobachtete. Während also die Validität der Beobachtungen der Kanäle relativ unumstritten waren, blieb die Frage im Raum, wie man diese Inkohärenz auf Basis der Beobachtungsdaten erklären sollte. Überdies blieb bis 1895 unklar, ob es sich bei den Kanälen in der Tat um artifizielle Kanäle oder natürliche Phänomene handelt.

Abb. 33: Lowells Marskanal-Karten. Quelle: Bildcollage zweier Karten aus Lowell, Percival (1906): Mars and its Canals, London: MacMillan, https://archive.org/details/marsanditscanals033323mbp, gesehen am 07. Mai 2020, S. 207 u. S. 260.

86 Vgl. Fuld 2011, hier S. 251.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Diese Situation erfährt eine Wendung, als der amerikanische Astronom Percival Lowell die verfügbaren Karten des Mars sichtete und sie mit seinen eigenen Beobachtungsdaten anreicherte. Lowell verfällt der Überlegung, in den Variationen der Muster könne eine Regularität erkannt werden, ein verzeitlichtes Muster, das in den kartografisch repräsentierten Relationen sichtbar wird.87 Die Variationen in den einzelnen Karten werden als Momentaufnahmen von Entwicklungszuständen gelesen und von der Frage abgelöst, ob die Wahrnehmung der Kanäle denn wirklich Kanäle beobachtet ( Abb. 33). Was in den Karten objektiviert wird, gewinnt für Lowell eine eigenständige Realität. Lowells Mars-Karten erwecken dank ihrer Kreisform den Eindruck, als seien sie nicht nur Darstellungen der Kreisförmigkeit des Planeten Mars, also Eigenschaften des Objektes, sondern unmittelbare Wahrnehmungen durch das Okular des Teleskops. Implizit schreibt sich die Medialität des Teleskops in die kreisförmige Gestalt der Karte mit ein, was den Anschein einer experimentellen Reihenfolge von Einzelbeobachtungen und die Plausibilität von Lowells Schlussfolgerung maßgeblich erhöht. Lowell sichtet die bekannten Karten und die Variation der Muster ( Abb. 34).

Abb. 34: Lowell: Die Marskanäle im Wandel. Quelle: Lowell, Percival (1906): Mars and its Canals, London: MacMillan, https://archive.org/details/marsanditscanals033323mbp, gesehen am 07. Mai 2020, S. 120 u. S. 126.

Dabei sieht er die Variationen als miteinander verf lochten an und glaubt, eine Kontinuität zu erkennen, die er als aktual vor sich gehenden, zielführenden Prozess deutet. Diese These führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass an den Kanälen gearbeitet wird. Lowell zufolge besteht deshalb die Möglichkeit, dass eine hoch entwickelte Marszivilisation im Begriff ist, mithilfe eines gigantischen Kanalsystems Wasser aus den Polarregionen des Mars in unfruchtbare Teile des Planeten umzulenken ( Abb. 35).88

87 Zur Rolle und Bedeutung Lowells in der Kanalaffäre vgl. Hoyt 1976; Lane 2006. 88 Lowell 1906, S. 44. Vgl. Lane 2006, S. 200f.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Abb. 35: Lowell: Marsnordpol und Kanäle. Quelle: Lowell, Percival (1906): Mars and its Canals, London: MacMillan, S. 44.

Die durch die medial induzierte Paradoxie ›sichtbarer Unsichtbarkeit‹ garantierte Möglichkeit, dass die Kanäle real sein könnten, wird von Lowell auf Grundlage der Mars-Karten in ein narratives Deutungsmuster übersetzt. Lowell verwendet die Karte in einer Weise, in der ihre Operationalisierung als Medium für Schlussfolgerungen einen Innovationswert generiert, der sich in der seriellen Überblendung verschiedener Zustände in verschiedenen Karten zu einem Variationsmuster, hinter dem ein intentionaler Plan steht, zusammenfügt. Dieses Narrativ entsteht innerhalb der Parameter, welche die Karte zur Verfügung stellt. Die Verwendung der Karte folgt einerseits der Ausdeutung des Wahrnehmungseindrucks durch das Teleskop. Die Erkenntnis ergibt sich andererseits aber aus dem Vergleich mehrerer Karten untereinander, also quasi dem Kompositbild der Beobachtungsserie. Bei Lowell ist es nicht mehr die Frage, ob die Marskanäle existieren. Als eidetische Objekte sind sie als existent vorausgesetzt. Die Karte ist bei Lowell mithin nicht mehr nur das Medium, das den medial indifferenten Wahrnehmungseindruck objektiviert. Sondern im Vergleich der Variation der Muster liefert sie das Layout derjenigen Dynamik, welche die Kohärenz und vor allem die Plausibilität von Lowells Narrativ auszeichnet. Ein metaphorisches ›Sehen-gleichsam-als‹ wird es deshalb bei Schiaparelli und bei Lowell angesichts des vagen Wahrnehmungseindrucks vermutlich tatsächlich gegeben haben und nicht nur, wie im Fall von Kekulés Benzolring, ein Mythos sein ( Kap. 2.2.8). Das narrative Deutungsschema, welches das eidetische Objekt ›Marskanäle‹ kontextualisiert, entsteht allerdings erst in der Zirkulation des Wahrnehmungsbildes im Teleskop mit der Skizze einer Landkarte.89 Während es in den bei Lynch genannten Beispielen das Objekt in einem anderen Medium als rekursiv beobachtbares Objekt gibt, ist der Wahrnehmungseindruck, der im Teleskopbild manifest ist, der nachträg-

89 Vgl. zur Skizze als »messy diagram« und ihrem Verhältnis zur Karte auch Tversky 2015, hier S. 111.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

lichen Objektivierung nicht zugänglich.90 Den Wahrnehmungseindruck gibt es auch ohne die Karte, das Narrativ um das eidetische Objekt der Marskanäle nicht. Als expliziter Sachverhalt, der für rekursive Deutungen in Postskripten offen ist, wird das metaphorisch vorinformierte Narrativ erst durch seine Repräsentation in den Karten hervorgebracht und dort als eidetisches Objekt ›Marskanal‹ konstituiert, also als kultureller Sachverhalt konstruiert. Entscheidend für diese Konstruktion des Gegenstandes medialer Repräsentation ist nicht nur, was gezeigt wird, sondern wie es gezeigt wird, also das mediale Format der Karte selbst. Karten geben dem Gegenstand eine bestimmte Gestalt, die bestimmte Operationen mit ihm möglich machen ebenso wie bestimmte rekursive Bezugnahmen, also bestimmte Deutungen in Postskripten. Besonders auf das von Ludwig Jäger betonte Verwendungswissen um ein Medium kommt es an ( Kap. 2.2.6). Als Objekte sind die Marskanäle mit Praktiken der Verwendung von Karten verknüpft, welche die Deutung des Objektes beeinf lussen. Wenn die Karte als Medium also das Objekt hervorbringt und unter ihre Bedingungen stellt, dann bedeutet das, dass die rekursiven Bezugnahmen auf das Objekt nach den Normen der Verwendung einer Karte verlaufen. In die Transkription des Gegenstands f ließt das Wissen um die Verwendungsweisen von Karten ein, das in einer Kultur zu einem gegebenen Zeitpunkt geläufig ist. Dabei geht es im Fall der Marskanäle nicht um spezielle kartografische Praktiken. Ein allgemeines Verwendungswissen der Karte als Landkarte reicht aus. Auf Grundlage dieses Wissens wird das in Karten enthaltene narrative Potenzial, das aus der Organisation der Elemente und ihrer Relationen in der Karte hervorgeht, in die rekursiven Bezugnahmen der entstehenden Postskripte eingespeist. Die Postskripte, also das Narrativ, das, schriftlich fixiert, um die Marskanäle entstanden ist, referiert auf dieses Wissen. Weil es Transkription ist, zitiert es das Verwendungswissen um die Karte. Wenn die Karte in der Übersetzung zwischen Teleskopbild und Schrift also einerseits das diagrammatische Layout möglicher narrativer Ausdeutungen liefert, indem sie das Objekt der Bezugnahme konstituiert und so für mögliche Postskripte öffnet – die Postskripte mithin, hermeneutisch gesagt, präfiguriert –, so referieren die Postskripte als Skripte dann, wenn sie die Autorität des Mediums nicht in Frage stellen, auf eine diagrammatische Idealität des Mediums ›Karte‹, in dessen Rahmen die Deutung vollzogen wird und die erst das ›Eidos‹ des Objektes herauspräpariert ( Kap. 2.2.6). Verkürzt gesagt, folgt diese Art der Bezugnahme Peirces Logik des Interpretanten, speziell der Doppelung zwischen Determination des Interpretanten durch die Differenz zwischen Repräsentamen und Objekt und die Bezugnahme und Aktualisierung dieser Differenz durch den Interpretanten ( Kap. 3.1.3). Der Interpretant referiert in seiner Bezugnahme im regulären Modus nicht auf das Repräsentamen, sondern auf das Objekt. Im regulären Modus der Rezeption wird im Rahmen einer rekursiven Bezugnahme kein Blick auf die mediale Präformierung eines Objektes durch ein Repräsentamen geworfen. In die Differenz zwischen wahrgenommenem Objekt und technischem Medium des Teleskops wird die Karte eingebracht, die qua ihrer Autorität als diagrammatischer Form das Objekt als ein eidetisches Objekt konstituiert und so alle weiteren Blicke durch das Teleskop anleitet.

90 Es sei denn, man stellt, wie die Kritiker der Marskanal-These es getan haben, die Wahrnehmungsbedingungen so nach, dass die gleiche Illusion entsteht. Vgl. Wendler 2008.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Die Karte schiebt sich als Medium zwischen die metaphorische Inferenz ›Linien als Kanäle‹, die Schiaparelli bei seinem Akt der Benennung der sichtbaren Muster auf dem Mars vor Augen gehabt haben muss, und die technische Möglichkeit der Konstitution dieses Bildes im Medium des Teleskops sowie des in ihm vollzogenen Blicks. Blendet man diese Präformierung des Objektes ein, erweist sich die ›Konstruktion‹ der Marskanäle als einem eidetischen Objekt von rekursiven Bezugnahmen nicht nur als ein Akt der Konstitution des Objektes, sondern auch der normativen Anleitung seiner Auslegung durch die Karte. Diese normative Dimension ist dann, wenn die Autorität des Mediums unhinterfragt bleibt, als ein Set von typischen Verwendungsweisen eines idealtypischen Mediums zu verstehen, in dem sich die Postskripte ›operational‹ realisieren, also durch die praktische Auslegung der Karte. Diese normative Dimension einer kartografischen Praxis zitiert auch rhetorisch die Autorität des jeweiligen Mediums. Die Karte, auf die sich die Postskripte beziehen, produziert nicht nur faktisch Schlussfolgerungen. Vielmehr sind diese Schlussfolgerungen in ihrer diskursiven Aktualisierung rhetorisch mit der normativen Autorität der Karte verschränkt – ein Umstand, der nicht von der Epistemologie getrennt werden kann.91 Die schematisierende Vorformatierung des Deutungsschemas durch die Karte bleibt als Übersetzung in der Transkription implizit. Wie das Beispiel illustriert, zieht Lowell Konsequenzen aus dieser Vorformatierung, die Schiaparelli entweder gar nicht oder zumindest sehr viel vorsichtiger gezogen hat. Lowell deutet das Wahrnehmungsobjekt unter der Prämisse, dass die in den Karten verzeichneten Objekte reale Referenzen auf Territorien sind, Schiaparelli tut das nicht. Wie der Blick in die Quellen zeigt, war Schiaparelli sich gar nicht sicher, als was er seine Beobachtungen deuten sollte.92 Lowell ist, einmal die Kanal-Metapher im Rücken, weit weniger skrupulös. Die kartografische Gestalt seines Narrativs dürfte dabei nicht unwesentlich zur Popularisierung der Marskanäle beigetragen haben, lud sie doch zur sprichwörtlichen Reise in ein imaginäres Land ein, bei dem die Möglichkeit, dass es realiter als Territorium existiert, als plausible Möglichkeit erst ab ca. 1910 und in etwa parallel zum Aufstieg der Astrofotografie in der Astronomie zu bröckeln begann.93

6.2.3 Fotografie — Das Mars-Gesicht und sein urbaner Kontext Endgültige Sicherheit, dass auf dem Mars keine Zivilisation am Werk ist, konnte man erst haben, als Raumsonden den Planeten besuchten. Die Mariner-Sonden ab 1964 zeigten: Es gibt auf dem Mars weder artifizielle Kanäle noch Vegetation. Der Mars ist verglichen mit der Erde eine Einöde. Doch 1977 schlägt der Mythos zurück. Ein Jahr zuvor hatte die NASA eine Fotografie der Cydonia-Region des Mars veröffentlicht, welche die Mars-Sonde Viking I zur Erde gefunkt hatte. Und jetzt geschieht das Glei91 Entgegen gattungstheoretisch zweifelsohne wichtigen und auch überzeugenden Bestrebungen, die Karte vom Diagramm abzugrenzen (vgl. z.B. Günzel 2009), ist ohne Rekurs auf die Diagrammatik weder die epistemologische noch die rhetorische Bedeutung der Karte verständlich. Das zeigt u.a. Giardino 2010, vor allem aber Gerner 2010b, der u.a. den Ansatz von Günzel mit dem von Stjernfelt abgleicht. 92 Vgl. Crowe 2008, S. 470ff. 93 Vgl. zu Lowell hier auch Krois 2011, S. 146ff.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

che wie 1877, nur dieses Mal unter den Vorzeichen der Medialität der Fotografie – und zwar einer interessanten Form der Fotografie, nämlich den Fotografien von Raumsonden ( Abb. 36).

Abb. 36: Das Mars-Gesicht in der Viking II-Mission. Quelle: Wikipedia-Artikel »Cydonia (Mars)«, https:// en.wikipedia.org/wiki/Cydonia_(Mars)#/media/File:Martian_face_viking.jpg, gesehen am 07. Mai 2020.

Der Mythos will es, dass auf einem der – inzwischen überall in einschlägigen Artikeln in Wikipedia zu findenden – Viking-Fotos ein gigantisches artifizielles Gesicht zu sehen ist, genauer: ein menschliches Gesicht mit Pagenschnitt. Zurück geht die Geschichte auf die Computer-Ingenieure Vincent DiPietro und Gregory Molenaar vom Goddard Space Flight Center der NASA. Nachdem die NASA auf einer Pressekonferenz die Fotografie des Mars-Gesichts einige Tage nach der Aufnahme als fotografischen Zufall abgetan hatte, der auf Schattenspiel beruhe,94 entdeckten DiPietro und Molenaar eine zweite Aufnahme des Gesichts aus einem anderen Beobachtungswinkel, die ein NASA-Mitarbeiter, etwas unvorsichtig, mit ›Head‹ untertitelt hatte. Überrascht von dem Umstand, dass das Gesicht auch aus einer anderen Perspektive erkennbar ist, unterziehen DiPietro und Molenaar die Bilder einer SPIT-Analyse (Starburst Pixel Interleave Technique), bei der, verkürzt gesagt, die Schwarz-WeißWerte der Originalpixels durch weitere Pixel ergänzt und eingefärbt werden ( Abb. 37).

94 Siehe auch die Dokumentation unter https://science.nasa.gov/science-news/science-at-nasa/2001/ ast24may_1, gesehen am 10. Mai 2020. Dort findet sich auch das obenstehende Bild der Viking-Mission.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Abb. 37: Das Mars-Gesicht in der digitalen Analyse. Quelle: DiPietro, Vincent/Molenaar, Gregory/ Brandenburg, John (1988): Unusual Mars Surface Features, Glenn Dale, MD: Mars Research, S. 85, Figure 51.

DiPietro und Molenaar können – so ihre These – auf diese Weise zeigen, dass die Felsformation eine exakt aus dem Stein gehauene Formation ist, die ein menschliches Gesicht zeigt. Ihre Ergebnisse publizieren sie mit John Brandenburg in einem kleinen Fachbuch mit dem Titel Unusual Mars Surface Features,95 das in kurzer Zeit vier Auflagen erlebt. Betrachtet man die sich entfaltende Affäre im Detail, ist es aber weniger die Aufnahme des Mars-Gesichts, die den Mythos neu initiiert, als vielmehr die Betrachtung des größeren Kontextes des Mars-Gesichts, hatten DiPietro und Molenaar in der Umgebung doch pyramidenartige Strukturen ausfindig gemacht. Das ruft, neben einigen anderen Akteuren, den Journalisten Richard C. Hoagland auf den Plan. Hoagland glaubt, eine Ruinenstadt zu erkennen, die in Kombination mit dem Gesicht das mythische Gesamtbild bildet: Ist das Mars-Gesicht das bewusst platzierte Denkmal einer untergegangenen Marskultur – ein Denkmal, das eine Botschaft für die Erde bereithält? Existiert zwischen der verlorenen Marskultur und der Erde eine Verbindung, eine »Mars-Earth-Connection«? Lesen wir also in den Bildern der Viking-Sonden vielleicht gar die unvordenkliche, verlorene Vorgeschichte unserer eigenen Erde? Aus einer real existierenden Marskultur in der Ära des Teleskops wird eine untergegangene Marskultur in der Ära der Fotografie – eine Kultur, die aus der ›unvordenklichen Vergangenheit‹ eine auf das Kameraobjektiv der Raumsonde zugeschnittene Botschaften übermittelt. Es ist schwierig, hierin nicht die Spuren der Medialität der Fotografie zu erkennen, also eine Interaktion des mythischen Narrativs mit der temporalen Logik des Mediums als einem Medium postmoderner Gespenster. Unter der Ägide der Medialität 95 DiPietro/Molenaar/Brandenburg 1988.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

der Fotografie schreibt sich fort, was bereits für das Teleskop festzustellen war: Wiederum stößt man auf die kulturelle Problematik, mit einem Möglichkeitshorizont medialer Indeterminiertheit umzugehen, der durch Praktiken der Transkription von uneindeutigen Wahrnehmungen in ›variable Sichtbarkeit‹ übersetzt werden muss. Roland Barthes hat in seinen frühen Schriften darauf aufmerksam gemacht, dass die Fotografie stets den Charakter einer »Botschaft ohne Code« aufweise. Barthes deutet das als die von der Fotografie einerseits stimulierte, andererseits getilgte Möglichkeit, eine reine Ähnlichkeitsbeziehung zum Referenten zu unterhalten, also auf Ebene ihrer Denotation die Sache selbst zu zeigen. Durch die Analogie zum Objekt sieht man in der Fotografie das Objekt und sieht doch, weil es nur eine Analogie ist, nicht das Objekt. Man sieht eine analogische Differenz, die in der ›anwesenden Sichtbarkeit des Objektes‹ dessen ›abwesende Unsichtbarkeit‹ reklamiert. Diese Paradoxie muss, Barthes zufolge, durch Sprache aufgelöst werden. Dadurch wiederum entstehen aufeinander geschichtete Konnotationssysteme, die sehr unterschiedliche Botschaften konstruieren können.96 An dem Beispiel kann man das nachvollziehen: Die NASA entfaltet ein ›wissenschaftliches‹ Konnotationssystem. Das Narrativ lautet: Man darf die Analogie zu einem Gesicht nicht ernst nehmen, weil die Kamera der Viking-Sonde nur eine bestimmte Auf lösung hat. Man muss die Möglichkeit, dass es sich um die analogisch dargestellte Sache selbst handelt, verwerfen. Die durch »sichtbare Unsichtbarkeit« gegebenen analogischen Möglichkeiten sind unwahrscheinlich. Parasitär zu diesem ersten Konnotationssystem wird durch den Mythos aber ein sekundäres, mythisches Konnotationssystem aufgebaut.97 Sein Narrativ lautet: Die NASA-Erklärung der Struktur ist falsch, weil es in den Fotografien der Cydonia-Region unsichtbare geometrische Regularitäten gibt, die explizierbar sind und die nicht natürlich entstanden sein können. Die durch »sichtbare Unsichtbarkeit« gegebene Möglichkeit, dass die Analogie realiter besteht, muss ernst genommen werden. Betrachtet man Roland Barthes’ Verwendung der Unterscheidung von Denotation und Konnotation genauer, zeigt sich, dass sie der alten Unterscheidung zwischen Sprache und Bild, zwischen Sagen und Zeigen, folgt. Die Denotation, die Botschaft ohne Code, ist für Barthes eine dichte bildliche, kontinuierliche Analogie, die Konnotation eine disjunkt differenzierte, sprachliche Codierung. Um die Ebene der Konnotationen zu etablieren – also der eben genannten Deutungssysteme – wird, Barthes zufolge, ein drittes Element zwischen Denotation, also dem ›Bild‹, und der Konnotation, also der ›Sprache‹, benötigt. Ein dritte Element ist in Barthes’ Rede von einer »Relaisfunktion« zwischen Denotation und Konnotation zu finden.98 Die Vermittlung zwischen Bild und Sprache geht in einem zweiten Medium vonstatten – und dieses Medium ist die Karte, die eine Transkription des medialen Möglichkeitshorizonts erlaubt und ihrerseits als Relationenbild zum Layout narrativer Überformungen wird. Dies kann anhand der hier von mir exemplarisch zusammengestellten Diagrammatisierungsschritte aufgezeigt werden, die Autoren wie Richard Hoagland und andere Mythopoeten unternehmen.99 Ein 96 Vgl. Barthes 2009a, S. 11ff., hier S. 13, im Orig. kursiv. 97 Vgl. Barthes 2009b. 98 Barthes 2009a, S. 34. 99 Vgl. zum Begriff der ›Mythopoetik‹ auch Bauer/Jäger 2011.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

häufig anzutreffender, erster Schritt besteht darin, die Bildelemente einer Fotografie zu referenzialisieren und ein kartografisches Raster aufzubauen. Beispielsweise wird für das von der Sonde gelieferte Bild eine Nord-Süd-Achse bestimmt, was die Möglichkeit bietet, Einzelobjekte zu isolieren ( Abb. 38).100

Abb. 38: Kartografische Referenzialisierung des Mars-Gesichts. Quelle: Carlotto, Mark (1997): »Evidence in Support of the Hypothesis that Certain Objects on Mars are Artificial in Origin«, in: Journal of Scientific Exploration, Bd. 11, 2, S. 1-26, hier S. 2.

Durch die Einführung der Nord-Achse untergliedert die Operation der kartografischen Referenzialisierung das Bildfeld in verschiedene Teilelemente. Diese Teilelemente werden benannt, also nicht nur separiert und differenziert, sondern auch ansatzweise durch Benennung klassifiziert. Mit Lynch gesprochen, handelt es sich um eine Homogenisierung, weil symbolische Benennungen die Mehrdeutigkeiten der Bildelemente ausgleichen. Die kartografische Referenzialisierung ist eine die Medialität der Karte heranziehende, topologische Differenzierung. Führt diese Operation disjunkte Elemente in den Raum der analogen semiotischen Medialität des Bildes ein, so finden sich auch Beispiele, in denen diese kartografische Referenzialisierung entlang der etablierten topologischen Differenzen auf die Medialität der technischen Verkörperung übergreift. Obwohl in diesem Beispiel nicht, wie bei Lynch, Fotografie und Diagramm nebeneinandergestellt werden, sondern die Diagrammatisierung sich in die Fotografie selbst einzeichnet, macht es Sinn, von Homogenisierung zu sprechen. Deutlich wird aber ein für Diagrammatisierungen von Bildern sehr typischer Unterschied. Als Transkription ist diese Homogenisierung abstrahierend. Sie wird auf das Bild aufoktroyiert, so dass die Transkription kein Kommentar ist, sondern ein im Bild vor sich gehender Prozess ( Abb. 39). Als Eingriff in das Bild ist diese Abstraktion so weit getrieben, dass die überf lüssigen Bildteile ausgeschnitten und das Bildmaterial neu angeordnet werden. Im Sinne des Effektes der Homogenisierung wird auch die räumliche Perspektive des Bildes verkürzt, neu montiert und als ein durch Relationen verbundenes Ensemble lesbar gemacht. Hier bestätigt sich, dass die bei Lynch beschriebenen Effekte wie die Homoge100 Seit über 25 Jahren wird die Geschichte des Mars-Gesichts in parawissenschaftlichen Publikationen weitererzählt. Gleichermaßen werden die Meisten der hier verwendeten Bilder auf entsprechenden Webseiten popularisiert.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

nisierung nicht nur als Selektionen und darin als Transkriptionen, sondern eben auch als Explikation treffend beschrieben sind.

Abb. 39: Bildmontage und Kontextualisierung des Mars-Gesichts. Quelle: Hancock, Graham/Bauval, Robert/Grigsby, John (1998): The Mars Mystery. A Warning From History That Could Save Life On Earth, London & New York, NY: Penguin, Abb. 34.

Der Effekt dieser Diagrammatisierung ist eine Zurichtung der Perspektive auf ein zweidimensionales ›Top-Down‹-Schema, das – wie auch im Beispiel aus Agora ( Kap. 4.3) – im Sinne einer orientierenden Metapher eine deduktive Schlussfolgerung ›von oben nach unten‹ evoziert, also einer Deduktion ein Layout gibt. Die Hervorhebung und die Isolierung einzelner Bildteile durch solche Diagrammatisierungen erzielt den Effekt von Homogenisierung, ist aber auch eine Aufwertung des Bildes. Sie stellt die Ähnlichkeiten der Bildelemente heraus, die durch die textuellen Elemente als artifizielle Strukturen etikettiert werden. Die disparate Struktur der ausgedehnten Verteilung der Bildelemente in der Panoramaaufnahme wird elliptisch komprimiert und eine ›Top-Down‹-Perspektive auf ein wohl geordnetes Ensemble etabliert. Die Etablierung des ›Top-Down‹-Schemas ist eine Umdeutung der Perspektive der Marssonde bzw. des Orbiters. Diese Perspektive gibt einen Überblick über das Territorium, das im Bild repräsentiert wird. Die topologische Differenzierung der Kontinuität des Bildes in diskrete Elemente und disjunkte Relationen transformiert die paraobjektive Vogelperspektive in ein kognitives Inferenzschema, indem das Foto in ein Diagramm verwandelt wird. Das kartografisch referenzialisierte Bild (image-diagram) verwandelt sich so sukzessive in ein geometrisches Diagramm (diagram-proper). Die Einführung einer diagrammatischen Struktur zielt auf eine – wie in einem »free ride« ( Kap. 5.4.1) – von selbst ablesbare oder zumindest explizierbare, quasi-logische Struktur, die wahrheitsfähige Aussagen wie ›die Pyramiden liegen westlich des Mars-Gesichts‹ oder ›Pyramiden und Mars-Gesicht liegen auf einer Achse‹ etc. ermöglichen. Die Draufsicht auf die Objekte verleiht den Objekten eine Zweidimensionalität auf einer Fläche, die nicht als räumliche Tiefe, sondern als paralleles Nebeneinander wahrgenommen wird. Die so entstehenden Verhältnisse der Ferne und Nähe der Objekte im Bild können als Relationen abstrahiert und so eine geometrische Ordnung im Bildfeld

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

produziert werden. Die Umwandlung des Bildes in eine manipulierbare Fläche ist für das Alternativen-Sehen in der Deduktion unabdingbar. Es basiert auf dem Komprimieren der Bildteile auf ausgewählte Elemente, die als relevante Objekte identifiziert werden. Im vorliegenden Fall gewinnt die geometrische Ordnung keine eigene Gestalt, dennoch liegt die Inferenzstruktur der möglichen Aussagen in einer impliziten Transformation der ›Top-Down‹-Perspektive in ein ›Link‹-Schema, in dem verschiedene Elemente durch ›Links‹ verbunden sind und dabei als voneinander abhängig betrachtet werden. In der gegebenen Konfiguration ist überdies zu erkennen, dass die Elemente von einem Zentrum abhängig gemacht werden, also der hypothetischen Pyramide – dass also zumindest in dieser Diagrammatisierung ein ›Center-Periphery‹-Schema mit am Werk ist, durch das die Peripherie als abhängig von einem Zentrum fassbar sein soll.101 Weder die Neumontage der Bildelemente noch die rhetorische Mathematisierung des Bildfeldes durch den Ausweis der Winkel und ihrer algebraischen Verhältnisse führen jedoch wieder zu einem konkreten Objekt. Erzeugt wird vielmehr eine ›Objektivität‹, die als garantierende Prämisse ein Schema zu narrativen Ausdeutungen ermöglicht. Diese Ausdeutungen finden durch analogisierende Schlüsse statt. Weil sie als Teilbilder vor dem geistigen Auge überblendet werden können, müssen diese Schlüsse narrativ abgesichert sein. Diesem Zweck dient in einem nächsten Schritt die bei Lynch beschriebene Mathematisierung. Die Selektion abstrakter Relationen im Sinne der für die Diagrammatisierung typischen Explikation von Elementen und ihren Relationen wird auf ihren geometrischen Gehalt hin vermessen ( Abb. 40).

Abb. 40: Rhetorische Mathematisierung. Quelle: www.maxtheknife.com/images/01231 001.jpg, gesehen am 29. Juni 2020.102 101 Vgl. Johnson 1987, S. 117ff.; Lakoff 1987, S. 274f. 102 Der Screenshot ist inhaltlich identisch mit Hoagland, Richard C. (1994): Die Mars-Connection. Monumente am Rande der Ewigkeit, Essen [u.a.]: Bettendorf, Abb. 13.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Die Mathematisierung objektiviert die Möglichkeitsrelationen im Bild. Die topologischen Möglichkeiten werden in einer Weise abstrahiert, dass sie als exakt kalkulierbare Verhältnisse erscheinen. Für Lynch erzeugt diese Referenz auf die Mathematik und ihre Präzision eine »impression of rationality«,103 die fiktional angereichert und narrativiert wird. An dem Fallbeispiel kann dieser Vorgang nachvollzogen werden. Das geometrische Schema liefert in seinen hypothetischen Relationen das Grundlayout einer Stadtkonstruktion, einen Stadtplan, der plastisch machen soll, was sich abstrakt ›errechnen‹ lässt. Das Argument ist einfach: Die geometrische Präzision der aufgezeigten Relationen wird als Zeichen für artifizielle Entstehung gewertet. Kombiniert mit der Art der Struktur ergibt sich das Modell einer untergegangenen Stadt, die in den Begriffen von Lynch als Modellierung anzusehen ist. Die geometrischen Relationen werden in ein dreidimensionales Modell umgewandelt, das der fiktiven Stadt auf dem Mars eine Gestalt gibt. Die dergestalt diagrammatisch explizierten Relationen werden zur Grundlage einer Illustration ( Abb. 41).104

Abb. 41: Fiktionale Ausgestaltung der Marsstadt. Quelle: https://www.bibliotecaple yades.net/marte/esp_marte_17d.htm, gesehen am 07. Mai 2020.

Ist das so gewonnene Deutungsmuster einmal durch Mathematisierung und Modellierung legitimiert, kann es als Fakt im Diskurs anerkannt und weiter ausgedeutet werden. Die mythisch-analogische Deutung der hypothetischen Marskultur mit irdischen Zivilisationen und Kulturen leistet Spekulationen über eine mögliche Beeinf lussung der irdischen Kulturen durch die angenommene Marszivilisation Vorschub. Die diskursiv hochadaptive Form der Pyramide dient als Bezugsobjekt und Projektionsf läche möglicher Analogiebildungen, welche das spekulative Narrativ einer möglichen Zivilisation auf dem Mars wieder auf die Erde zurückverlegen und eventuelle Kausali103 Vgl. Lynch 1991, S. 2ff., hier S. 11. 104 In seiner Bildlichkeit erinnert dies an Illustrationen fiktiver Länder, wie sie z.B. im Rollenspiel zu finden sind. Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 152ff.

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täten evozieren soll, etwa einer Beeinf lussung der menschlichen Zivilisationen durch eventuelle Marsbewohner in grauer Vorzeit ( Abb. 42).

Abb. 42: Die ›Mars-Earth-Connection‹ als mythische Analogie. Quelle: Eigene Bildcollage unter Verwendung einer Abbildung aus Serres, Michel (1994a): »Gnomon. Die Anfänge der Geometrie in Griechenland«, in: Michel Serres (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaf ten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 109-175, hier S. 109.

Der Blick ›top down‹ auf die Pyramiden in Gizeh bietet als Luftaufnahme die Perspektive wie Fotografien der Marssonden. Die Ähnlichkeit zwischen den Fotografien kann nicht nur auf Ebene der Objekte beobachtet werden. Für die Behauptung einer Beziehung zwischen Mars und Erde zehrt das Argument auch davon, dass die fotografischen Perspektiven, also die medialen Formen, ähnlich sind. Im Diskurs liefern diagrammatische Explikationen das eidetische Objekt, das in derartigen Analogiebildungen mit den Gizeh-Pyramiden vorausgesetzt wird. Andererseits können diese Analogiebildungen wieder zu Überblendungen führen. Dies unterstreicht die Relevanz des diagrammatischen Denkbildes als dem Schema, das visuell vorausgesetzt werden muss, damit die Analogiebildung per Überblendung in das Deutungsmuster passt. Ähnlich wie der Effekt, dass die Gestalt des ›Gesichtes‹ (im Sinne des Schemas) als Deutungsmuster vor Augen steht, wenn man die Gesteinsformation auf dem Mars nicht nur ad hoc und aufgrund bekannter kognitiver Effekte sofort als menschliches Gesicht erkennt, sondern auch als artifizielles Gesicht argumentativ ernst nimmt, ist das in den verschiedenen Formen von Diagrammatisierungen konstituierte Relationenbild der ›Stadt‹ bzw. des Ensembles nicht nur als narrative Prämisse präsent. Vielmehr hat diese narrative Prämisse die visuelle Gestalt eines relationalen Musters, das implizit als tertium gegenwärtig ist, wenn solche Analogiebildungen vorgenommen werden. Mit anderen Worten: Die Diagrammatisierungen erzeugen ein schematisches Denkbild, das die Analogiebildungen visuell plausibilisiert und die narrative Prämisse konstituiert.

6.2.4 Drei Grundtypen diagrammatischer Explikation Die kurze Fallstudie hat gezeigt, dass mythische Analogien ihre, in der Mythentheorie nicht selten übersehene, ikonische Komponente in einem metaphorischen Sehen finden, das durch Diagrammatisierungen stabilisiert und wiederhergestellt wird. Das

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Beispiel der Marskanäle und Mars-Gesichts illustriert, dass die Diagrammatisierung eine mythische Analogiebildung ermöglichen soll, also die hochspekulative Ähnlichkeitsbehauptung der Steinformationen auf dem Mars als Gesicht und als einer Stadt, in der Pyramiden zu finden seien, die mit denen in Ägypten verglichen werden können. Dieser Prozess erweist die Spekulation der Alternative-History als eine mythische Spekulation: Parallel zum Deutungsmuster der im Alternative-History-Diskurs unablässig als orthodox angeklagten Wissenschaft wird, ganz im Sinne von Barthes’ Mythentheorie, ein spekulatives Deutungsmuster etabliert, das sich in seinem relativen Bezug auf die Wissenschaft eine vergleichbare Plausibilität geben muss, wie sie der Wissenschaft und ihren Verfahren zufällt. Im Rahmen eines Beispiels aus dem Diskurs der Alternative-History lässt sich beobachten, wie Diagrammatisierungen als Transkriptionen ›implizite‹ Bildgehalte in ›explizite‹ Narrative umschreiben und eine Übersetzung von Wahrnehmungsschemata in Deutungsmuster regulieren. Dabei lassen sich verschiedene Typen beobachten, die als Grunddimensionen zu verstehen sind, in denen Diagrammatisierung in Erscheinung treten.105 Der Begriff ›Diagrammatisierung‹ referiert in dem hier verfolgten Verständnis auf eine Menge von familienähnlichen Praktiken explizierender Transkriptionen mit Hilfe von diagrammatischen Zeichen. Diese Praktiken etablieren als diskursive Operationen ein rhetorisches Verhältnis zur Idealität der Form des Diagramms als einer im Diskurs der Wissenschaften tradierten Form der Informationsrepräsentation. Diagrammatisierungen sind durch das regulative Ideal diagrammatischer Klarheit und der Praktiken ihrer Herstellung, etwa das Vermessen oder die geometrischen Berechnungen, geprägt. Verwendet werden sie zum Zweck der Etablierung von Deutungsschemata zu eidetischen Objekten, die als Korrelate hypostatischer Abstraktionen betrachtet werden. Im oben dargelegten Sinne heißt ›Rhetorik‹ dabei nicht die Abwesenheit von Schlussfolgerung und Argument. Diagrammatisierungen zeigen etwas. Über die Wahrheit dessen, was sie zeigen, wird aber außerhalb der Bildf läche entschieden. Fragen der Wahrheit sind an diese Diskurse im Ganzen, das heißt in ihrem historischen Kontext, zu richten, nicht an einzelne Evidenzverfahren. Der Begriff bezeichnet daher Evidenzverfahren, die in einem Diskurs der Konstruktion epistemischer in diskursiver Evidenz dienen. Im 20. Jahrhundert war das Wissen um die Möglichkeit außerirdischen Lebens im Sonnensystem differenzierter als im 19. Jahrhundert. Die Existenz einer hoch entwickelten außerirdischen Zivilisation im Sonnensystem wurde ausgeschlossen. Dennoch hatte auch das Mars-Gesicht seinen Kontext. Der Mars ist der erdähnlichste Planet im Sonnensystem. 1968, also ca. zehn Jahre vor den Viking-Missionen, war mit Erich von Dänikens Erinnerungen an die Zukunf t das Standardwerk der sogenannte ›Prä-Astronautik‹ erschienen. Dort wird die These vertreten, dass Außerirdische in der Vergangenheit Einf luss auf die Entwicklung der menschlichen Geschichte genommen haben. Diese Idee war u.a. von Robert Charroux Anfang der 1960er-Jahre bekannt gemacht worden. Dies ließ seinerzeit die Idee einer untergegangenen Marszivilisation wieder attraktiv erscheinen. 105 Eine eigene, komplexer gearbeitete, Typologie von Diagrammatisierungen findet sich inzwischen auch bei Wilharm 2015, S. 325ff., dort allerdings im Kontext szenografischer Überlegungen. Mindestens die bei Wilharm explizierten Typen (a) und (b) sind aber mit der hier entwickelten Typologie vereinbar. Siehe weiterführend zu Evidenz auch S. 336ff.

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Die Wahrheit der Beispiele liegt also außerhalb der Diagrammatisierung. Für ihr Funktionieren als explikative Transkription ist etwas anderes wichtig, z.B. die Berücksichtigung des Wissens um die impliziten Verwendungsweisen von Medien (Fotografie, Schrift etc.), mithin das, was Jäger »Übersetzung« nennt ( Kap. 2.2.6). Die Transkription eines im Teleskop repräsentierten Wahrnehmungsobjektes in die Karten der Marskanäle nutzt nicht nur die Form, sondern auch die Medialität der Karte zur Konstitution des Gegenstandes. Die Karte verschleiert sich als Medium der Informationsrepräsentation. Das in der Karte stabilisierte Objekt wird infolgedessen als das zu untersuchende Objekt angesehen. Diese Transkription des Blicks durch das Teleskop in der Karte wird im Fall der Diagrammatisierung von Fotografien fortgeführt. In ihnen wandelt sich die epistemische Evidenz ›vermittelter Unmittelbarkeit‹ des Blicks durch das Teleskop in die ›vermittelte Unmittelbarkeit‹ der diskursiven Evidenz einer durch die Fotografie vermeintlich garantierten indexikalischen Spur eines Wahrnehmungseindrucks.106 Diese verschiedenen ›Einschreibungen‹ von Medialität in die Geltung und das Ausagieren von Diagrammatisierungen ermöglichen es, anschließend an Lynch und im Rückgriff auf die Beispiele verschiedene Aspekte diagrammatischer Explikation als Eckpunkte bestimmen. Ein erster Typ diagrammatischer Explikation ist die schematisierende Diagrammatisierung als Durchführung oder Wiedergewinnung der metaphorischen Basisoperation der epistemischen Evidenz eines ›Sehens-gleichsam-als‹. Das Objekt wird gleichsam als ›Kanal‹ und gleichsam als ›Gesicht‹ gesehen und auf diese Weise eine mediale Ambiguität aufgelöst.107 Schematisierung zielt auf die Etablierung der Möglichkeit der rekursiven Stabilisierung des metaphorischen Sehens als einem ref lexiven Einstellungsmodus, in dem ein Schema durch Transkription so übersetzt wird, dass ein Denkbild entstehen kann. Dieses ›Sehen‹ ist nicht identisch mit dem Wahrnehmungseindruck des Planeten Mars und des ›Objektes‹ der Kanäle, der durch das Teleskop vorhanden war. Dieser Wahrnehmungseindruck kann als Pareidolie experimentell reproduziert werden, was zur Widerlegung der Mars-These auch getan wurde.108 Vielmehr betrifft dieses Sehen die Frage, als was die Linienmuster gesehen werden, z.B. als ›Kanäle‹ unter der Prämisse, dass diese Kanäle künstlich sind. Es geht also um eine semantische Operation diskursiver Evidenz, die gleichwohl ihren Fluchtpunkt in der epistemischen Evidenz eines metaphorischen Sehens und vergleichbarer Operationen wie dem mythischen Denken findet. Die Schematisierung ist somit die Kontaktzone zwischen kognitiven und semiotischen Schemata. Sie ist sowohl der Rahmen als auch das Ziel medialer Transkriptionen, die als diagrammatisierende Verfahren diskursiver Evidenz ein Schema stabilisieren sollen. Das im literalen Sinn ›diagrammatische‹ Denken beginnt in diesen Verfahren, weil diese Verfahren sich diskursiv in Karte, Diagramm und Formel manifestieren. Diese Verfahren beruhen auf der epistemischen Evidenz als einer Möglichkeit, Zeichen als Diagramme zu betrachten. Die Schematisierung ist vor allem auf Ebene von Diagrammatisierun106 Vgl. zur ›vermittelten Unmittelbarkeit‹ im vorliegenden Kontext auch Roesler 2000. 107 Sybille Krämer (2012, S. 92f.) spricht ebenfalls von Schematisierung und meint damit: »Das Lesen und Verstehen von Schemata beruht auf einem Absehen von der aisthetischen Fülle der Inskription. Dass wir in dem empirischen Vorkommen eines Strichs lediglich eine eindimensionale Linie sehen, ist zugleich eine Amplifikation wie auch Reduktion.« 108 Vgl. Wendler 2008.

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gen erster Stufe angesiedelt, weil sie aus der hypothetischen Variation von Schemata ein eidetisches Objekt als regulative Idee erzeugt (Ziel) und eine Deutungsgewissheit (Rahmen) über diese Objekte etabliert. Das Linienmuster (Objekt) muss allerdings das Exerzitium explizierender Transkriptionen noch durchlaufen, um als ›Marskanal‹ (Eidos) identifiziert zu werden und diskursive (narrative) Folgen zeitigen zu können. Ein zweiter Typ diagrammatisierender Explikation ist die mit der Schematisierung verbundene abstrahierende Diagrammatisierung. Die Abstraktion ist eine Reduktion und ein Entwurf: Eine Skizze wird entworfen, die z.B. in eine Karte mündet, oder aber, wie im Fall der Fotografie, Linien und geometrische Verhältnisse in ein Bild eingezeichnet. Ihr Versprechen ist die Reduktion von Komplexität und die Gewinnung von Übersicht. In den hier verhandelten Beispielen ist ihr Fluchtpunkt ein (Neu-)Arrangieren von Elementen und Relationen zum Zweck der Herstellung der epistemischen Evidenz der Schematisierung. Das Wesentliche wird vom Unwesentlichen getrennt und ein Objekt herauspräpariert. In abstrahierenden Transkriptionen entsteht ein »Denk-Raum«, der, wie Sybille Krämer schreibt, »nicht nur Anschauungsraum, sondern auch Bewegungsraum ist, insofern er Auge-Hand-Bewegungen zulässt. Dieser Raum hat operativen Charakter«109 – mit der Einschränkung, dass in den vorliegenden Beispielen in einer Fotografie gearbeitet wird. Eine typische Operation ist dafür die Vermessung, die – semiotisch gesehen – als ›Digitalisierung‹ von analogen Zeichen gedacht werden kann, etwa als Transkription von analogen (Fotografie des Mars-Gesichts in seinem Kontext) in die digitalen Zeichen (Isolierung von Objektbereichen durch klare Grenzen und die Menge der Relationen zwischen den Objekten). Aus der Vermessung der Fotografie durch diagrammatische Zeichen entsteht in der Anordnung von Elementen und Relationen eine kartografische Struktur, die eine Narrativierung erlaubt oder unterstützt. Der auch aus der Metapherntheorie bekannte kognitive Prozess eines ›Highlighting and Hiding‹ ( Kap. 5.1.2) ist hier verwoben mit praktischen Handlungen wie Streichen und Ergänzen und übernimmt Funktionen der Filterung, Homogenisierung, Aufwertung und Festlegung (Michael Lynch) der Relationen im Bild. Etabliert werden Verhältnisse, die das Objekt als einen abstrakten, theoriefähigen Sachverhalt identifizierbar machen. Im vorliegenden Beispiel begegnet die abstrahierende Diagrammatisierung in der oben diskutierten kartografischen Referenzialisierung und relationalen Kontextualisierung: Das Mars-Gesicht wird als Objekt in seinem Kontext ref lektiert, über den Kontext der anderen Objekte (Punkte) aber eine Struktur (Relationen) extrapoliert und so die Schematisierung, also die Etablierung eines Deutungsmusters, etabliert und stabilisiert. Die konstitutiven Regeln eines Mediums werden durch diese Art der Diagrammatisierung mithin in regulative Regeln des Diagramms (und seiner Formen) umgeschrieben.110 Meist auf Ebene von Diagrammatisierungen erster Stufe realisiert, schält sich in der Abstraktion durch Transkription das eidetische Objekt heraus. Ein überblendetes Schema wird als Hypothese durch Abstraktion extrapoliert und verifiziert. Diese Praxis präpariert das eidetische Objekt dabei zumeist auf einer leeren Fläche (Skizze, Entwurf) oder aber in einer Zeichenkonfiguration (Fotografie, Bild). Da dieser Vorgang aber in aller Regel, wie man mit Lynch argumentieren kann, in einem medialen Kontext steht, ist noch eine dritte Form zu beachten: 109 Krämer 2010, S. 88. 110 Vgl. zur Unterscheidung zwischen konstitutiven und regulativen Regeln Searle 1983, S. 54f.

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Ein dritter Typ ist die idealisierende Diagrammatisierung.111 Die Idealisierung eines Objektes in einem Diagramm (als diagram-proper) ist das Kondensat der Abstraktion und in medialen Konfigurationen, wie beispielsweise einer Text-Bild-Relation, ein Auslöser für weitere Schematisierungen. Das ›Eidos‹ des Objektes ist in dieser Form der Explikation in einem engen, gattungstheoretischen Sinn ›diagrammatisch‹ visualisiert und kann mit den empirischen Repräsentationen, aus denen es destilliert wurde, verglichen werden. Die Idealisierung bezieht sich ebenfalls auf ein in einem Medium verkörperten, für die Wahrnehmung stabilisiertes Präskript, wie eine abgedruckte Fotografie. Sie bleibt als Diagramm dem Präskript und seiner jeweils individuellen Beziehung zu einem Objekt aber äußerlich. Einerseits repräsentiert sie ein ›bereinigtes‹ oder ›reines‹ Objekt, andererseits setzt sie dieses Objekt in ein Vergleichsverhältnis, etwa – wie bei Lynch – einen Vergleich mit der Fotografie. Dieser Vergleich legitimiert auf Basis struktureller Ähnlichkeit ein diagrammatisches Analogieverhältnis zwischen Objekt und Eidos. Die Strukturähnlichkeit zwischen Objekt und Eidos wird als veranschaulichende Ähnlichkeit des Eidos zu einem Objekt verstanden. Weil die ›Karte‹, welche das Diagramm ist, diskursiv die volle diskursive Autorität des Diagramms aus der Mathematik und der Geometrie herbeizitieren kann, ist die Idealisierung deshalb auch durch jene rhetorischen »Bewegung« zwischen Fotografie, Text und Diagramm geprägt, von der Michael Lynch spricht. Die Idealisierung ist vorwiegend auf Ebene der Diagrammatisierung zweiter Stufe angesiedelt. In ihr bestätigt sich die epistemische Evidenz der Schematisierung, kann doch im Diagramm durch Rekonfiguration von Relationen Neues gelernt werden, das wiederum ikonisch modellierbar ist. Im nächsten Abschnitt wird noch ein vierter Typ von diagrammatisierender Explikation umrissen: die modellierende Diagrammatisierung. In den genannten Beispielen findet sie sich im Fall des fiktionalen Modells der Mars-Stadt. Da für diesen Typ jedoch digitale Bildlichkeit eine verstärkte Rolle spielt, werde ich ihn aber anhand anderer Beispiele entwickeln. Jeweils rund 30 Jahre nach den Entdeckungen der eidetischen Objekte der Marskanäle und des Mars-Gesichts war die Technik so weit fortgeschritten, dass bessere Aufnahmen oder technische Entwicklungen die Objekte als Wahrnehmungsillusionen enttarnten. Das änderte nichts an der rhetorischen Autorität von Diagrammatisierungen, ganz im Gegenteil sogar. Der Aufwand, den Mythopoeten wie Richard Hoagland betreiben, um das Mars-Gesicht als ein eidetisches Objekt wahr zu machen, dient dem Zweck, die orthodoxe Deutung des Gesichtes durch die NASA als einem Schattenspiel zu widerlegen und eine alternative Möglichkeit zu postulieren. Diese Möglichkeit ist durch und durch metaphorisch: Die NASA insistiert auf einem ›Sehen-als‹, die Mythopoeten auf einem ›Sehen-gleichsam-als‹. Bildtheoretisch gesprochen, sind Diagrammatisierungen daher Praktiken, welche Konnotationen von Bildern so umschreiben, dass ein klarer denotativer Bezug etab111 Hartmut Winkler (2008a, S. 154) hat auf den medialen Zusammenhang zwischen Abstraktion und Idealisierung hingewiesen und dabei darauf aufmerksam gemacht, dass Idealisierung aus medialer Differenz entsteht: »Idealisierung ist eine Variante der Abstraktion, dennoch aber von ihr zu unterscheiden. Schon eine Graphik ist eine idealisierte Darstellung, die den Gegenstand auf seine ›wesentlichen Züge‹, und im Kern auf seinen Umriss reduziert. Eine Fotografie würde hier anders verfahren.«

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liert werden kann. Diagrammatisierungen machen nicht nur wahrnehmbar, sondern auch ›wahr‹. Diese ›Wahrmachung‹ ist eine Umdeutung von Möglichkeiten, die in einer mehrdeutigen medialen Referenz auf ein Objekt angelegt sind. Wenn Hoagland und andere daran interessiert sind, ein spekulatives Deutungsmuster wie das der Existenz einer untergegangenen Marskultur zu plausibilisieren, dann sind sie genötigt, die NASA-Darstellung zu widerlegen – und dafür bieten sie Diagrammatisierungen auf, die zur Matrix zur Erzeugung von Evidenz werden. Nimmt man die Diagrammatisierung von Relationen im Fall des Mars-Gesichtes und seines Bezugs zur fiktiven MarsStadt, dann schreibt das Herausarbeiten von Relationen den Objektbezug nicht nur um, sondern überschreibt ihn. In diesem Prozess deutet die Diagrammatisierung durch ein Neuarrangieren des Bildes den Objektbezug neu. Die abstrahierende Diagrammatisierung findet sich in Praktiken der Collage und des Retuschierens, wie sie aus dem Manipulieren und Verändern von Bildern bekannt sind und geht über in eine (re-) ikonisierende Modellierung, die insbesondere im digitalen Zeitalter von Bedeutung ist. Der rhetorische Effekt von diagrammatischer Explikation ist dabei besonders hoch, wenn die unthematische Latenz eines nicht-gezeigten Unsichtbaren oder eines nicht-gesagten Unbekannten die ›Möglichkeit‹ konstituiert – wenn die Diagrammatisierung sich also mit einem medialen Möglichkeitsüberschuss verknüpft, der als Uneindeutigkeit und Ambiguität für die Wahrnehmung erscheint. Besonders wichtig wird dann, dass in Diagrammatisierung durch Transkription sowohl das Original als auch das Ideal des Originals entstehen, also sowohl das Objekt als auch sein Eidos. Die implizite Normativität der Geometrie wird hier noch einmal gut greif bar, fallen in der Geometrie doch Objekt und Eidos in eins – ist das geometrische Objekt das Eidos. Daher lohnt ein weiterführender Blick auf eines der Kernobjekte der Geometrie schlechthin: die Cheops-Pyramide und ihre Kontextualisierungen in der Alternative-History.

6.3 Das Fernsehen und die Alternative-History Donnelly hat mit seinen Atlantis-Thesen ein wirkmächtiges Deutungsmuster für die Ähnlichkeiten zwischen den zivilisatorischen Merkmalen der Hochkulturen beiderseits des Atlantiks geschaffen. Die These von der Beeinf lussung der frühen Hochkulturen durch Bewohner des untergegangenen Atlantis ist, obwohl sie sich im 20. Jahrhundert in unzähligen Publikationen findet, Mitte der 1990er-Jahre von dem englischen Journalisten Graham Hancock noch einmal mit großem Erfolg aufgelegt worden. Hancock behauptet ebenfalls, dass an den Bauwerken der verschiedenen, über die Welt verteilten Hochkulturen in Ägypten, Mittelamerika oder Südostasien die Spuren einer hochentwickelten Zivilisation abgelesen werden können, die um das Jahr 10.500 v. Chr. verschwunden ist.112 Seiner Ansicht nach lassen sich in allen Kulturen Bauwerke finden, welche Sternebilder nachahmen, so z.B. im alten Ägypten die Sternenbilder des Löwen oder des Orion. Laut Hancock sind Schlüsselbauwerke der antiken Zivilisationen wie die Cheops-Pyramide oder die Tempelanlage von Angkor Wat dreidimensionale geometrische Karten 112 Diese Behauptung von Hancock ist nur eine von vielen, die in das gleiche Horn stoßen, wie z.B. John Anthony West oder Richard Hoagland. So hat Hancock, wie viele andere auch, 1998 ein Buch über das Mars-Gesicht (The Mars Mystery – A Tale of the End of Two Worlds) verfasst.

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dieser verschiedenen Sternenbilder. Über die verschiedenen Kulturen hinweg soll eine Korrelation zwischen den Bauwerken am Boden und den Sternenbildern am Himmel um das Jahr 10.500 v. Chr. existieren. Hancock schließt daraus, dass die Hochkulturen durch das astronomische Wissen einer verlorenen Urzivilisation beeinf lusst wurden, die um dieses Jahr durch eine Katastrophe wie einen Meteoriteneinschlag vernichtet wurde. Dabei bestreitet Hancock nicht die von der Archäologie vorgenommene Datierung der Bauwerke, deutet aber ihren Zweck um. Ihm zufolge wurden die Pyramiden errichtet, um an diese verlorene ›Urzeit‹ bzw. ›Erste Zeit‹ zu erinnern. Hancocks Überlegungen sind verbunden mit Thesen anderer, sich als unabhängige ›Investigators‹ oder ›Researchers‹ begreifender Autoren wie Robert Bauval, John West oder dem Geologen Robert Schoch. Seit den 1990er-Jahren ist dieser Autorenkreis um eine Neudatierung und Neuinterpretation von Bauwerken des alten Ägypten, insb. der Cheops-Pyramide und der Sphinx bemüht. Am bekanntesten ist Robert Bauvals als ›Orion-Korrelations-These‹ bezeichnete Überlegung, dass die Anordnung der Pyramiden auf dem Gizeh-Plateau und die Architektur der Cheops-Pyramide darauf schließen lasse, eine Imitation des Sternenbildes des Orion zu sein, wie es um das Jahr 10.5000 v. Chr. über den Pyramiden gestanden habe. Auch Hancock greift auf diese Idee zurück. West und Schoch hingegen argumentieren, dass die Erosion am Körper der Sphinx durch Wasser ausgelöst worden sei. Dies deute darauf hin, dass die Errichtung der Sphinx in eine Zeit fallen müsse, in der es auf dem Gizeh-Plateau ausreichend Regen gegeben habe, was auf die Erbauung der Sphinx im Jahr 10.500 hinweise.113 Mit diesen Überlegungen ziehen die Autoren Mitte der 1990er-Jahre erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Ein wichtiges Medium im Prozess der Popularisierung der Thesen sind Fernsehdokumentationen. Einen Höhepunkt bildet die von Charlton Heston präsentierte Dokumentation The Mystery of the Sphinx (1993), sowie, wiederum sehr erfolgreich, Hancocks eigene Dokumentation The Quest for the Lost Civilization (1998). Die BBC-Dokumentationen Atlantis Reborn bzw. Atlantis Reborn Again (1999/2000) und Atlantis Uncovered (1999) gehören als Postskripte ebenfalls in dieses Feld. Sie unterziehen die Thesen der Autoren nach ihrer großen öffentlichen Wirkung einer kritischen Betrachtung. Diese Phase des Alternative-History-Diskurses und ihre Beziehung zum Format der Fernsehdokumentation ist im vorliegenden Kontext interessant, weil dort eine neue Runde der medialen Transkription jener Formen des mythischen Denkens zu finden ist, die sich seit dem 19. Jahrhundert parallel zur Ausdifferenzierung der historischen Wissenschaften herausgebildet hat. Mit dem Fernsehen wird auch eine neue Ebene der Transkription angesprochen. Im Fall des Teleskops und der Fotografie sind Diagrammatisierungen eine Form der Auslegung der durch diese Medien informierten Wahrnehmung. Im Fall der Fernsehdokumentationen sind Diagrammatisierungen ebenfalls ein Mittel der Explikation. Darüber hinaus wird in einem Bewegtbildmedium auf Diagrammatisierungen als einer Erkenntnispraxis Bezug genommen. Wiederum geht es um die Plausibilisierung spekulativer Thesen, die von einem etablierten wissenschaftlichen Deutungsmuster abweichen. 113 Während die anderen Autoren auch heute noch an ihren Thesen festhalten, hat sich Robert Schoch, der im Feld der Alternative-History oft die Rolle des seriösen Wissenschaftlers eingenommen hat, inzwischen von den anderen Autoren distanziert und datiert die Sphinx auf das Jahr 5.000-7.000 v. Chr. Vgl. zur ›Orion-Korrelations-Hypothese‹ auch Bauer/Ernst 2010, S. 182ff.

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6.3.1 Der vierte Typ: Modellierende Diagrammatisierung 1993 wird in den USA die Dokumentation The Mystery of the Sphinx ausgestrahlt. Charlton Heston, ausgestattet mit der Würde des Moses aus Cecil de Mills The Ten Commandments (1956), führt mit ruhiger Hand durch die Sendung und kündet von Großem. In der Anmoderation stellt er fest, dass alle ca. 100 Jahre eine Idee in die Welt komme, die so revolutionär sei, dass sie von der etablierten Wissenschaft nicht akzeptiert werde. Es folgt ein Hinweis auf Galileo Galilei und die Revolution, die das heliozentrische Weltbild ausgelöst hat sowie die dogmatische Position der damaligen ›Wissenschaft‹. Die Revolution, die bevorstehe, betreffe eine Neudeutung der ägyptischen Geschichte. The Mystery of the Sphinx präsentiert Thesen zweier Alternative-History-Autoren: John Anthony West, einem sich als ›freien‹ Ägyptologen bezeichnenden Autor, und Robert Schoch, einem Geologen. Ihre These lautet, dass an der Sphinx Spuren von Wassererosion festzustellen sind. Klimageschichtlich können in der Zeit, in der die Ägyptologie die Sphinx datiert, also in der Regierungszeit eines des Erbauers der beiden großen Gizeh-Pyramiden (Cheops oder sein Sohn Chephren, 2.700-2.600 v.  Chr.), aber keine ausreichend starken Regenfälle vorgekommen sein. Nach Ansicht der Autoren ist zu berücksichtigen, dass es Regenfälle nicht nach ca. 5.000-7.000 v. Chr., vermutlich sogar noch früher, gegeben hat. Für West und Schoch ist der Verdacht begründet, dass der Körper der Sphinx ein Teil eines Monuments war, das erheblich älter ist, als die Ägyptologie annimmt. War die ägyptische Sphinx kein Neubau, sondern nur der Umbau eines älteren Monuments? In den Augen der Autoren spricht dafür ein zweites Indiz. Der Kopf der Sphinx steht in einem proportionalen Missverhältnis zum Körper. Der These zufolge ist dies ein Hinweis, dass er ursprünglich größer war und aufgrund von Erosion umgearbeitet wurde. Doch welche Kultur könnte die Sphinx erbaut haben? Der avisierte Zeitraum, in dem es die Regenfälle gegeben hat, liegt vor der ägyptischen Hochkultur. Gab es zwischen 10.5000-5.000 v. Chr. eine Hochkultur, die die spätere ägyptische Kultur beeinf lusst hat, und wurde der ursprüngliche Torso der Sphinx nicht von den Ägyptern gebaut? Im Verlauf von The Mystery of the Sphinx wird diese Hypothese plausibilisiert. In einer der ersten, die These erläuternde, Sequenz findet sich eine idealisierende Diagrammatisierung. In der Sequenz geht es Schoch darum, aufzuzeigen, dass die Erosionsspuren am Körper der Sphinx durch Regenfälle verursacht wurden. Zu sehen ist in diesem Screenshot eine Idealisierung des analogen Bildobjektes der Fotografie aus einer dreidimensionalen Zentralperspektive in die zweidimensionale Fläche des Diagramms. Dargestellt wird in diesem Screenshot eine Praxis des Vermessens. Der analoge Maßstab des Körpers des Menschen im Bild wird durch einen abstrakten Maßstab ersetzt. Diese Transkription von Dreidimensionalität in die Zweidimensionalität, die Michael Lynchs Prinzipien der Filterung und der Homogenisierung entspricht, versucht, unter dem Deutungsschema der zu beweisenden These ein zu beobachtendes Objekt im Bild herauszuarbeiten – in diesem Fall die Erosion an der Sphinx. Durch numerische Werte, welche den einzelnen Erosionsschichten zugewiesen werden, soll aufgezeigt werden, welche harten und welche weichen Gesteinsschichten mit der Erosion durch Regenfälle in Verbindung stehen. Auffällig ist an dem Beispiel, dass mit dem deiktischen Medium des Stiftes eine weitere Größe ins Spiel kommt. Der Stift dient in dieser Szene als Illustrationsmedium, um die Bewegung zwischen Fotografie und Diagramm nachvollziehbar zu

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machen. An den Stift knüpft sich eine Referenz auf ein diagrammatisches Medium, dessen Autorität als Erkenntnismedium sehr groß ist: die Skizze. Einzeichnungen mit Stiften in weiße Flächen sind, vor jeder Ausdifferenzierung von Diagrammen in Geometrisierungen und Mathematisierungen, oft das erste verwendete Medium – die »Urszene des Ikonischen«, von der Gottfried Boehm spricht,114 also eine Form des Vortheoretischen, die im Forschungsprozess logisch vor der Karte, dem Diagramm oder gar der algebraischen Formel stehen ( Abb. 43).

Abb. 43: Der Stif t als deiktisches Medium und die Skizze (TC 00:16:14). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

Die epistemologische und rhetorische Bedeutung der Skizze tritt klarer hervor, wenn man den weiteren Verlauf der Sequenz beobachtet. Kaum eine halbe Minute später wird die Skizze in ein abstrakteres Diagramm transkribiert. Die Prozesse der Filterung und Homogenisierung werden durch diese Transkription weitergetrieben. Mit Lynch kann man das Aufwertung und Festlegung nennen. Eine Aufwertung findet statt, weil die schwarz-weiße Skizze mit Farbwerten versehen wird, welche die Kontraste im Bild erhöhen. Eine Festlegung erfolgt, weil der erläuternde und durch die Verwendung des Stiftes noch als ›vorläufig‹ markierte Eingriff in die Fotografie durch Ausschluss des menschlichen Körpers, also der erläuternden Hand, die die Skizze gezeichnet haben soll, objektiviert wird. Die Eliminierung des menschlichen Faktors (und impliziten Referenzmaßstabs), wie er durch den Wegfall des erläuternden Stiftes und des Übergangs von der Skizze in das Diagramm in Szene gesetzt wird, ist ein Übertritt in eine höhere Abstraktionsstufe der Explikation. Der menschliche Faktor der Erläuterung per Stift wird durch eine automatische Be-

114 Vgl. Boehm 2007, S. 124.

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wegung durch das Diagramm ersetzt, indem die numerischen Werte im Diagramm einzeln blau hervorgehoben und dann durchlaufen werden ( Abb. 44).

Abb. 44: Der Übergang von der Skizze zum Diagramm (TC 00:16:54). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

Die durch das Diagramm legitimierte Argumentation wird anschließend in der zweidimensionalen Fläche des Diagramms vermittels der Animation des fallenden Regens zum Leben erweckt ( Abb. 45).

Abb. 45: Animation und Illustration der Sphinx-Erosion (TC 00:17:52). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

Obwohl sie redundant erscheint, ist diese szenische Veranschaulichung ein für den Prozess der Diagrammatisierung interessanter Fall. Wenn Lynch von Modellierung spricht, meint er Prozesse der Perspektivierung von diagrammatisierten Objekten im

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Raum. Lynch merkt in seinen Ausführungen an, dass Fiktionalisierungen in diesem Vorgang eine entscheidende Rolle spielen. Eine solche Fiktionalisierung wird durch den animierten Regen realisiert. Auf den animierten Regen im Diagramm folgt eine gegenständliche Simulationsszene. Das Bauwerk, aus dem die Sphinx hervorgegangen sein soll, wird als eine große Löwenkopf-Statue visualisiert. Der Regen fungiert als das die Überblendung motivierende und verbindende Element zwischen der durch die Diagrammatisierung erzielten Analyse, also der hypothetischen Deutung, und ihrer Fiktionalisierung in einer dreidimensionalen Computer-Simulation des Szenarios als Modell ( Abb. 46).

Abb. 46: Simulation der ›Vorform‹ der Sphinx (TC 00:17:57). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

Dieser Übergang in eine Simulation, also in das Modell, ist ebenfalls eine diagrammatisierende Explikation – wenngleich eine, in der das diagrammatische Layout erneut transkribiert worden ist und die den szenischen, also vergegenständlichten, oder genauer: wieder vergegenständlichten Objektbezug nach dem Prozess der diagrammatischen Umarbeitung darstellt. Die Simulation ist ein Prozess des Entwerfens von Ähnlichkeit, also eine (Re-)Ikonisierung durch Animation, die durch vorangegangene diagrammatische Zeichenhandlungen begründet ist. Ähnlich wie in dem Beispiel des Mars-Gesichts und seines fiktionalen Kontextes einer Pyramidenstadt gezeigt, wird qua Computermodell ein mythischer Analogieschluss plausibilisiert. Diese mythische Analogie wird als eine Analogie zwischen der ägyptischen Sphinx und der hypothetischen Vorform der Sphinx behauptet. Ein anderes Beispiel für diesen Prozess findet sich im weiteren Verlauf der Dokumentation. Auf bauend auf der Wassererosions-These wird argumentiert, der Kopf der Sphinx sei nachträglich umgearbeitet worden. Dieser Idee zufolge ist der verwitterte Torso der Sphinx ein Bauteil, das aus dem uralten Monument stammt, welches vor der ägyptischen Kultur errichtet wurde. Der Kopf der Sphinx wird als das Produkt einer Umarbeitung des hypothetischen älteren Monuments gedeutet. Für diese Deutung spricht, dass der Kopf weder Cheops noch Chephren zeigt und dass ein proportiona-

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les Missverhältnis zwischen Kopf und Körper besteht. Den Beleg soll ein ehemaliger Forensiker, Frank Domingo, bringen. Gezeigt wird, wie Domingo eine vergleichende Analyse des Gesichts beider Statuen vornimmt. Die Analyse beginnt als ein SplitScreen-Vergleich, der der oben kurz vorgestellten Parallelisierung von Pyramiden auf dem Mars und der Erde sehr ähnlich ist ( Abb. 47).

Abb. 47: Split-Screen und analytischer Vergleich (TC 00:38:08). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

Im Unterschied zur idealisierenden Diagrammatisierung wird in einem Split-Screen in der Ausgangslage nicht das Diagramm auf ein Foto bezogen, sondern das Diagramm kommt ins Spiel, um die Relation zwischen zwei Bildobjekten zu klären, dient also als vergleichendes Drittes ( Abb. 48).

Abb. 48: Skizzierung der Gesichtsrelationen (TC 00: 38:57). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

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Nun beginnt das Spiel von vorne. Domingo zeichnet in den hier auf eine Leinwand projizierten Bildern die Konturen der Gesichter nach. Wie in dem Beispiel der Extrapolation der Wassererosion wird der menschliche Faktor ausgeschlossen und die Skizze in ein Diagramm überführt. Dieses Mal geschieht dies allerdings in zwei Stufen: Zunächst wird die Fotografie ausgeblendet, dann der von Menschenhand geführte Stift ( Abb. 49).

Abb. 49: Extrapolation durch Diagrammatisierung (TC 00:38:26). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

In diesem Screenshot sind die skizzierten Gesichtsbilder der Statue von Chephren und der Sphinx überblendet. Das skizzierte Gesicht – also das bereits durch die Skizze diagrammatisierte Objekt – wird einer abstrahierenden Diagrammatisierung unterworfen und über die horizontalen und vertikalen Linien Vektoren und exakte Maßeinheiten eingeführt. Dazu wird in der filmischen Animation die Frontalansicht der Skizze in die Seitenansicht eines Diagramms verändert ( Abb. 50).

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Abb. 50: Aufbau eines Koordinatensystems (TC 00:39:42). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

»While the study of the frontal view showed significant differences, the comparison of the lateral view was decisive« (TC 00:39:06), heißt es dazu im Kommentar von Charlton Heston. Die Abstraktion bildet den Anfangspunkt, um von der Skizze wieder in die geometrische Modellierung in einem Diagramm zu gelangen. Wie im Fall des Beispiels der Wassererosion wird – unter den Bedingungen von Aufwertung und Festlegung – erneut der menschliche Faktor ausgeschlossen. Geboten wird als Illustration der Schlussfolgerung stattdessen ein automatisiert ablaufender Vergleich der Winkelsummen ( Abb. 51).

Abb. 51: Geometrisierung (TC 00:39:55). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

Die formalisierte Möglichkeit, durch parametrisierende Gesichtsbildanalyse Differenzen zwischen den beiden Antlitzen herauszuarbeiten, gibt im nächsten Schritt dann den Anlass zu einer Überblendung, in der die Differenzen zwischen den Konturlinien zeigen, dass es sich um zwei unterschiedliche Personen handelt. Die geometrische Vermessung der Winkel ist Gegenstand einer Überblendung der Gesichtspartien in einem Bild ( Abb. 52).

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Abb. 52: Überblendung der Gesichtspartien (TC 00:40:04). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

Die geometrisch vermessenen Relationen von Referenzpunkten liefern den diagrammatischen Beweis der in der Ausgangslage des Split-Screen-Vergleichs implizierten These. Durch eine Wiedereingliederung des Menschen in das Bild kann auf dieser Grundlage die Konklusion inszeniert werden ( Abb. 53).

Abb. 53: Konklusion der Analyse (TC 00:40:13). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

»If the Sphinx isn’t Chephren, who is it?«, fragt West im Kommentar und markiert den Wiederanschluss der Beweisführung an den Auf bau des mythischen Narrativs. Nachdem die Differenzen zwischen der Sphinx und den Statuen von Chephren (aber nicht Cheops) ausgearbeitet wurden, vertritt die Dokumentation die These, dass die Sphinx auf eine ältere Kultur zurückzuführen sein muss. Auf Grundlage der Differenzen, die zwischen den Bildern nachgewiesen wurden, kann das Narrativ dazu übergehen, die Modellierung des fiktiven Löwen-Monuments durch eine weitere Überblendung vorzubereiten ( Abb. 54).

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Abb. 54: Überblendung: Das Layout der Simulation (TC 00:53:03). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

In diesem Beispiel kommt es zu einer Verbindung von rudimentärer Vermessung und einer Überblendung. Der analoge Eindruck eines proportionalen Missverhältnisses wird in einer Überblendung expliziert. Diese Explikation ist in einen Rahmen gestellt, der digitale Parameter einführt. Die anschließende Modellierung wird im Übergang von analogen und digitalen Symbolsystemen vorbereitet. Zieht man hinzu, dass diese zweidimensionale Bildlichkeit die argumentative Prämisse bildet, um die erwähnte Simulation der hypothetischen Vorform der Sphinx zu begründen, wird klar, dass die ikonische Darstellung der Hypothese, also die Ausgestaltung des Löwenkopf-Modells, nicht nur rhetorisch, sondern auch epistemologisch den Unterbau liefert, um das Narrativ zu visualisieren. Durch die digitale Parametrisierung wird ein exakter Referenzrahmen zu einer dezidiert diagrammatischen Hintergrundfolie. Der Bezugsmaßstab eines Referenzsystems wird eingeführt, welches das Schema der originalen Sphinx vermisst. Diese Vermessung erlaubt es, die Differenz zwischen der realen Sphinx und der hypothetischen Vorform in der Überblendung als eine hypostatische, also vergegenständlichende Abstraktion anschaulich werden zu lassen ( Kap. 3.5.3). Die Überblendung beider Gestalten führt zu einer Explikation der Identität und der Differenz der Formen. Ein Denkbild tritt hervor, das die Anschaulichkeit der Gestalten in ihrer Identität und Differenz mit einem abstrakten proportionalen Verhältnis in Beziehung setzen kann. Das Denkbild der Überblendung ist also in einem Zug anschaulich und abstrakt – es weist die Eigenschaften eines Schemas auf, das an dieser Stelle als semiotisches Deutungsschema lesbar gemacht wird. Das Denkbild setzt sich folglich ref lexiv in Beziehung zu den tradierten Schemata der bisherigen Wahrnehmung der Sphinx. Der Referenzrahmen dieses Denkbildes ist die etablierte kulturelle Deutung der Sphinx. Dennoch soll die epistemische Evidenz eines Denkbildes im Modus der Schematisierung die Möglichkeit bezeugen, dass die Sphinx auch anders ausgesehen haben könnte. Plausibilisiert wird also eine Möglichkeit, auf die sich die weiteren Ausdeutungen, die zur Umdeutung der Sphinx vorgenommen werden, beziehen können.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Diese Umdatierung der Sphinx ist der analytische Kern einer Ausweitung der Argumentation in Richtung einer mythologischen Neudeutung der ägyptischen Kultur. In The Mystery of the Sphinx werden verschiedene Standard-Topoi des Alternative-History-Diskurses aufgeboten: Um die Idee zu belegen, dass die ägyptische Kultur einen Entwicklungsgrad hatte, der von der etablierten Ägyptologie nicht erklärt werden kann, wird die seit Autoren wie Erich von Däniken und anderen bekannte Hypothese bemüht, die Ägypter verfügten über Technologien, die ihnen bautechnische Leistungen ermöglichten, die noch heute nicht möglich seien. Erwähnt wird u.a. die Geschichte der Trompeten von Jericho. Eine »accoustic levitation« (TC 00:50:45) habe den Ägyptern das Bewegen riesiger Steinquader ermöglicht. Unvermeidlich ist in solchen religiösen Konnotationen auch der Bezug auf die Schriften des amerikanischen Mediums Edgar Cacye. Cacye prophezeite die Entdeckung künstlich angelegter Kammern unterhalb der Sphinx, die das Wissen um Atlantis enthalten sollten. The Mystery of the Sphinx geht noch einen Schritt weiter. West fragt in einem Satz, der fast als Paradigma eines Analogieschlusses gelten darf: »If the Greeks were inspired by the Egyptians, and the Egyptians were inspired by the mythological Atlantians, then who inspired the Atlantians?« (TC 01:13:39). Die Frage unterstellt Kausalitäten und Verbindungen, wo keine sind. Direkt danach heißt es: »One of the most unusual and intriguing ideas I found in my research is the possible connection between the Sphinx and the planet Mars« (TC 01:13:50). Es kommt also zu einer Rückkehr auf den Mars, gilt das Mars-Gesicht doch als »Martian Sphinx« (TC 01:14:13). Die Storyline von The Mystery of the Sphinx verabschiedet sich in den Weltraum, als eine Präsentation von Richard Hoagland zum Thema Mars-Gesicht gezeigt wird. Im Anschluss an eine aufgezeichnete Präsentation, die Hoagland vor Journalisten gehalten hat, betont er, dass es nicht länger um den Realitätsgehalt des Mars-Gesichts als eines konstruierten Objektes gehe (das gilt als erwiesen) (TC 01:17:55), sondern: »We are looking more at the meaning of this object including a possible connection with the earth« (TC 01:18:00). Als Schlüssel des Rätsels wird die »internal geometry« (TC 01:18:28) einer der ›Pyramiden‹ auf den Bildern genannt, welche auf die Behauptung fundamentaler mathematischer Prinzipien als Universalsprache hinauslaufe. Diese Deutung erlaube es, so Hoagland, in dem Mars-Gesicht einen »cosmic mirror« (TC 01:17:16) der menschlichen Kultur auf der Erde zu sehen. Die von Hoagland selbst als Metapher bezeichnete Deutung bietet als Konklusion seiner Präsentation eine Variante dessen, was Peirce in Bezug auf das Denkbild als »Mischphotographie« bezeichnet hatte ( Kap. 3.5.3). Ausgehend von der These, dass das »basic model of the sphinx« ein »lion-man-interface« (TC 01:20:05) sei, könne durch verschiedene »imaging enhancements« (TC 01:20:26), so Hoagland, in einem Prozess des »fold over« (›Überfaltung‹, TC 01:20:35) des Original-Viking-Bildes gezeigt werden, dass dieses ein Mensch-Löwe-Hybrid (Hoagland spricht von einer »fusion«, TC 01:21:36) darstelle, also eine Sphinx (TC 01:21:48). Mit Hoaglands Einlassungen erreicht das Narrativ von The Mystery of the Sphinx in einer zirkulären Argumentationsbewegung wieder den Punkt, wo die (re)ikonisierende Simulation der Sphinx als löwenköpfiges Monument einer vergangenen Kultur bereits angelangt war ( Abb. 55).

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Abb. 55: ›Mensch-Löwe‹-Kompositbild durch ›Überfaltung‹ (TC 01:33:15). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010.

Diese kreisförmige Argumentationsbewegung ist kennzeichnend für die Möglichkeits-Eskalationen, wie sie analogischen Denkformen eigen sind. Ist eine hypothetische Möglichkeit durch Diagrammatisierung und ihre Umschreibung von Möglichkeiten in einer spekulativen Hypothese zum vermeintlichen ›Fakt‹ geworden, führt die nächste Windung der Diagrammatisierung diese zum Fakt gewordene spekulative Hypothese weiter, indem sie mit einer weiteren Hypothese verbunden wird, die erneut auf Diagrammatisierungen zurückgreift. Diagrammatisierung ist ein treibender Faktor der Plausibilisierung von Möglichkeits-Eskalationen und es ist auch deutlich geworden, warum das so ist. Denn in John Anthony Wests paradigmatischem Analogieschluss zeigt sich, dass in der Schlussfolgerung, dass Ägypten von Atlantis und Atlantis von einer Zivilisation auf dem Mars beeinf lusst wurde, ein Abgrund an metaphorischen Vorannahmen steckt, der über ›Image schemas‹ organisiert wird. Allen voran ist das ›Link‹-Schema zu nennen.115 Das ›Link‹-Schema • garantiert die ›Festigkeit‹ der unterstellten Verbindung zwischen den Knoten (und damit ›Kausalität‹); • evoziert immer dann, wenn zwei Entitäten verbunden sind, ein ›drittes‹ Element (wie schon in Donnellys Verbindung von Amerika mit Europa via Atlantis), das ›verborgen‹ ist; • liegt anderen ›Image schemas‹ zugrunde, hier: dem ›Source-Path-Goal‹-Schema, welches der ›Kette‹ der Beeinf lussung eine teleologische Richtung gibt, den ›Link‹ zwischen A und B damit aber noch tiefer in der Geschichte ansiedelt: also in einer ›vor-vorvergangenen‹ Zivilisation auf dem Planeten Mars. Diagrammatisierungen organisieren als rhetorische Verfahren also ein ganzes Feld von Suppositionen und Konnotationen. Die Abstraktion und Idealisierung in der Beweisführung, die zur Plausibilisierung der These der Wassererosion an der Sphinx und ihrer Neudatierung diente, führt zur Modellierung einer hypothetischen Vorform der Sphinx, der ein Löwenkopf angedichtet wird. Somit zeigt sich die Bedeutung von Diagrammatisierungen gerade auch für das Entstehen von spekulativen Narrativen.116 Handelt es beim Löwenkopf schon um eine sehr spekulative Möglichkeit, so wird diese Möglichkeit in der zweiten Windung des Arguments als Fakt genommen und 115 Vgl. Johnson 1987, S. 118f. 116 In der Alternative-History wird davon ausgegangen, dass die Sphinx auf das Sternenbild des Löwen ausgerichtet ist, wie es 10.500 v. Chr. am Horizont zu sehen war.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

auf bauend auf diesem Fakt eine weitere Möglichkeit in den Raum geworfen. Dieses Mal geht es um die noch spekulativere Möglichkeit, dass die ägyptische Kultur via Atlantis durch eine untergegangene Marskultur beeinf lusst wurde. Medientheoretisch betrachtet, ist vor allem die bei Hoagland durchexerzierte ›Überfaltung‹ von Bildern von Belang, weil sie – wie die oben diskutierte Simulation des Löwen-Monuments – die fiktionale Möglichkeit in einen Prozess des Modellierens überführt. Dieser Prozess ruht im gegebenen Beispiel auf der Voraussetzung der Verwendung von Diagrammatisierung als einer rhetorischen Praxis, welche die Bedingung seiner Plausibilität schafft. In der ›überfaltenden‹ Bildpraxis wird das anschaulich. Inszeniert ist eine Überlagerung von Bildschichten, die aus der Fotografie des Mars-Gesichts eine Bildkomposition herstellt, in welche das visuelle Schema einer Sphinx hineingelesen wird. In der ›Überfaltung‹ wird unter digitalen Bedingungen ein Bild hergestellt, das eine Art »Mischphotographie« ist, ein Kompositbild, wie es Peirce für die Diagrammatik beschrieben hat. Peirce ging es mit dieser Analogie darum, die Gestalt zu erklären, die das Denkbild in einem Diagramm annimmt. Als Produkt einer Überblendung wird das Denkbild als eine »Mischphotographie« gesehen. Obwohl die ›Überfaltung‹ keine diagrammatische Bildlichkeit im engeren Sinne ist, ist sie ein Verfahren, das auf das Sehen eines ›strukturähnlichen‹ Bildes hinausläuft. Ich möchte die in diesem Beispiel angedeuteten ikonischen Simulationen, die – obwohl sie nicht explizit auf diagrammatische Zeichen zurückgreifen – ihre Prämissen aus schematisierenden, abstrahierenden und idealisierenden Diagrammatisierungen beziehen, als modellierende Diagrammatisierungen fassen.117 Modellierung bezieht sich auf ein in der Wahrnehmung stabiles Präskript, das nicht nur materiell, sondern vor allem virtuell gegeben ist. Das Transkript wird in den hier diskutierten Medien Film und Fernsehen vorzugsweise in einem dreidimensionalen CGI-Bild ausgespielt.118 Der Zielgegenstand ist ein Objekt, welches das Produkt einer vorangegangenen Vermessung ist, also z.B. einer durch Diagramme und Praktiken der Diagrammatisierung erfassten Hypothese – mithin ein »Bild von einem Begriff«, wie in Vilém Flussers Techno-Bild. Das Ähnlichkeitsverhältnis zum Objekt behauptet Identität und veranschaulicht diese Identität durch eine Simulation des Verhaltens des Objektes. Die Modellierung, die sich aus der Idealisierung entwickelt, wird in eine dynamische Bildsequenz überführt. Die Modellierung befindet sich dabei in einem Verhältnis zweiter Ordnung zu einer vorangegangenen Diagrammatisierung. Modelliert wird in dieser Diagrammatisierung, was an abstrakter These bereits vorhanden ist. Ein Bild, das auf Grundlage einer diagrammatischen Praxis gewonnen wird, wird in einer Bildlichkeit ausgespielt, welche die formale Strukturähnlichkeit des Diagramms in Richtung eines rotierenden, multiperspektivisch angelegten Bewegungsbildes überschreitet. Diese Bildlichkeit ist eine Verbildlichung des Rückbezugs zu einer durch Diagrammatisierungen erschlossenen und rhetorisch etablierten These. Der Rückbezug rechtfertigt es, trotz des Umstandes, dass die Bildlichkeit nicht im engeren Sinn ›diagrammatisch‹, sondern eben dreidimensional-gegenständlich ist, von einer Diagrammatisierung zu sprechen. 117 Vgl. zum Verhältnis von Diagramm und Modell einführend Beck/Wöpking 2014, insb. S. 351. Siehe zum Modellbegriff weiterführend die Arbeiten von Bernd Mahr, so etwa Mahr 2003. Für eine praktische Perspektive auf Diagrammatik und Modelle siehe insb. Depner 2016, S. 218ff. 118 Was nicht heißt, dass es keine historischen Vorbilder gäbe. Vgl. z.B. Boehm 2007, S. 114ff.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Das Beispiel der Fiktion einer löwenköpfigen Sphinx zeigt, dass diese Diagrammatisierung eine Re-Ikonisierung von abstrakten Begriffen und Hypothesen ist. Sie erfüllt eine Zwischenfunktion zwischen diagrammatischer These, bildlicher Repräsentation und der Dimension des mythisch-analogischen Denkbildes, das plausibilisiert werden soll. Mit Flusser gesagt, liegt die Autorität dieser Diagrammatisierung nicht mehr in der Referenz auf einen Objektbezug, sondern in der Referenz auf eine These, die über ein Objekt gebildet worden ist. Daraus kann man ableiten, dass die Modellierung ihre Autorität aus ihrem Bezug auf das ›bewegte Bild des Denkens‹ – also auf ein Vorstellungsbild – erhält, das in der Auseinandersetzung mit den diagrammatischen Formen gebildet wird. Man weiß, dass das Bild ein Modell ist, das auf der Dynamik einer Schlussfolgerung basiert. Das Modell ist nicht selbst das Bild des Denkens, aber es ist die Form, die als Konsequenz der Schlussfolgerung erscheint und das nunmehr ›realweltliche‹ Verhalten des eidetischen Objektes in einer Simulation visualisiert. Wenn man will, kann man hierin die Jäger’sche Herstellung von Transparenz erkennen ( Kap. 2.2.6).

6.3.2 Überblendung und das mythische Denkbild Ein Jahr nach The Mystery of the Sphinx, 1994, publiziert der Ingenieur Robert Bauval unter Mitarbeit des Autors Adrian Gilbert ein Buch mit dem Titel The Orion Mystery. Bauval formuliert darin eine der – neben der diskutierten Neudatierung der Sphinx – wichtigsten Thesen der Alternative-History. Die Hypothese besagt, dass die Anordnung der drei Pyramiden auf dem Gizeh-Plateau den drei zentralen Sternen des Sternenbildes des Orion (Oriongürtel) entspricht.119 Bauval schlägt mit dieser Hypothese aus dem Umstand Kapital, dass in der ägyptischen Mythologie das Sternenbild des Orion den Gott Osiris widerspiegelt. Der Hypothese Bauvals folgend, können verschiedene bautechnische Aspekte der Konfiguration des Pyramiden-Ensembles in Gizeh, allen voran ihre Anordnung auf dem Gizeh-Plateau, mit dem Sternenhimmel in Verbindung gesetzt werden. Bauvals als Orion-Korrelations-Hypothese bekannt gewordene Überlegung betrachtet die Pyramiden auf dem Gizeh-Plateaus als eine in Stein gemeißelte ›Karte‹ des Oriongürtels. Die Crux an Bauvals Hypothese ist jedoch nicht nur der Nachweis der Existenz der Korrelation, sondern ihre Datierung. Die Erde durchläuft innerhalb eines Jahres einmal die Sternenbilder im Tierkreis. Die Position dieser Sternenbilder am Firmament bleibt allerdings nicht konstant. Verantwortlich ist eine taumelnde Eigenbewegung der Erde. Wenn sie sich um die eigene Achse dreht, taumelt die Erde wie ein Kreisel. Diese Eigenbewegung der Erde wird ›Präzession‹ genannt. Aufgrund der Präzession verändern die Konstellationen am Himmel ihre Position. Berücksichtigt man die Präzession der Erde, dann kann – ausgehend von der These, dass die Pyramiden von Gizeh auf den Oriongürtel verweisen – Bauval zufolge, eine 119 Sybille Krämer (2016, S. 26ff., hier S. 29) hat das Sehen von Sternenkonstellationen als Paradigma eines ›Schemasehens‹ analysiert und dabei am Beispiel des Orion-Gürtels darauf hingewiesen, dass dieses Schema »vielfach instantiiert und visualisiert ist in kulturellen Bildwerken«. Die hier vorgelegte Diskussion des Alternative-History-Diskurses kann als Ausarbeitung dieses Sachverhalts gewertet werden.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Entsprechung der Anordnung der Pyramiden zum im Meridian stehenden Oriongürtel für das in der historischen Forschung angenommene Erbauungsjahr der Pyramiden 2.600 v. Chr. nicht nachgewiesen werden. Wie sich Bauval zufolge im Computer errechnen lässt, ist stattdessen die Korrelation für das 10.500 v. Chr. passend.120 Nach Einschätzung Bauvals ist die ägyptologische Interpretation der Pyramiden als Grabmäler der Pharaonen aufgrund dieser Korrelation falsch. Der englische Journalist Graham Hancock greift in seinen Arbeiten diese These Bauvals auf. Zwar ringen sich weder Bauval noch Hancock zu der bei anderen Autoren in der Alternative-History oft vorgebrachten These durch, die Pyramiden seien vor dem in der Forschung angenommenen Jahr 2.600 v. Chr. erbaut worden. Beide Autoren behaupten aber, dass das Arrangement der Pyramiden im Jahr 2.600 v. Chr. dem Zweck gedient habe, an eine mythische ›Urzeit‹ um das Jahr 10.500 v. Chr. zu erinnern, also für das Jahr, an dem nach Bauval und Gilbert die Korrelation zwischen dem Pyramiden-Ensemble und dem Oriongürtel nachzuweisen ist. Die Pyramiden waren demnach keine Grabmäler. Sie waren gigantische Denkmäler, die auf eine vergangene Zeit referieren. Diese Zeit wird, wie Bauval und Hancock annehmen, von den Ägyptern als mythische ›erste Zeit‹ gedeutet. Bis heute ist die Orion-Korrelations-Hypothese gemeinsam mit der Neudatierung der Sphinx eine der am meisten zitierten Hypothesen des Diskurses der Alternative-History. Die Hypothese dient Bauval und Hancock als Beweis für die Idee, dass die Pyramiden auf dem Gizeh-Plateau in Relation zu einer um das Jahr 10.500 verschwundenen Kultur stehen. In verschiedenen Fernsehdokumentationen wird diese Hypothese vorgetragen. Den Durchbruch brachte 1998 Graham Hancocks Dokumentation The Quest for the Lost Civilization. Diese Dokumentation widmet sich den Thesen von Hancocks kurz zuvor erschienenem Bestseller Fingerprints of the Gods (1995). Die für die Gizeh-Pyramiden konstatierte ›Ground-Sky‹-Korrelation behauptet Hancock als kulturübergreifendes Prinzip. Demnach sollen auch Khmer-Bauwerke wie Angkor Wat ›Karten‹ von Sternenkonstellationen sein und auf eine untergegangene Kultur, die 10.500 v. Chr. existierte, verweisen. In Reaktion auf Hancock produzierte die BBC eine kritische Dokumentation mit dem Titel Atlantis Reborn (1999). Die Dokumentation löste eine Kontroverse aus. Nachdem Hancock und Bauval ihre Position als falsch dargestellt empfunden hatten, kam es zu einem Verfahren vor dem britischen Fernsehrat, der damaligen Broadcasting Standards Commission (Ofcom). Ein Jahr später wurde die Sendung unter dem Titel Atlantis Reborn Again (2000) in leicht veränderter Form erneut ausgestrahlt.121 Zeitgleich entstand die kritische Dokumentation Atlantis Uncovered (1999), die sich dem Gesamtphänomen des Atlantis-Mythos und seiner Tradierung in der Alternative-History und Pseudoarchäologie widmete. 120 Bauval/Hancock 2008, S. 90ff. 121 Ein Vorbild dieser Dokumentation ist die für die gleiche Reihe (BBC Horizon) produzierte kritische Auseinandersetzung mit Erich von Dänikens Thesen in der Dokumentation The Case of the Ancient Astronauts (1977), die seinerzeit große öffentliche Breitenwirkung entfaltete. Eine Stellungnahme zu dem Streit mit Hancock und Bauval aus Perspektive der BBC findet sich unter www.bbc.co.uk/ science/horizon/2000/atlantisrebornagain.shtml, gesehen am 08. Mai 2020. Dort findet sich auch ein vollständiges Transkript der Sendung.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Was diese Dokumentationen aufschlussreich macht, ist ihre jeweilige Auseinandersetzung um die behauptete Korrelation zwischen Bauwerken und Sternenhimmel. Diese Korrelation wird ausdrücklich als Relation zwischen Karte und Territorium entworfen. Zur Debatte steht bei Hancock und Bauval die Frage, ob die antiken Bauwerke ›Karten‹ sind, die auf Himmelskonstellationen referieren. Betrachtet man Hancocks The Quest for the Lost Civilization, können dabei verschiedene Formen von Diagrammatisierung beobachtet werden.122 Hancock steht vor der Problematik, seine These ins Bild setzen zu müssen, also visuell zu veranschaulichen. Das ist beileibe keine einfache Aufgabe. Einfach wie die Ausgangshypothese klingen mag, ist sie visuell nicht einfach zu realisieren. Laut Hancock (und Bauval) bilden die Monumente als Relationen eine Beziehung zu den Relationen am Himmel aus. Das Beziehungsgefüge der Monumente muss so rekonstruiert werden, dass es sich als Beziehungsgefüge in ein Relationenbild übersetzen lässt. Dieses Relationenbild wird dann mit den Sternenkonstellationen, die nur kulturell konventionalisierte Gestalten sind, abgeglichen. Erst einmal muss also die Anordnung der Monumente am Boden als Karte gelesen werden, bevor dann dieses Relationenbild, das sich aus den Monumenten ergibt (Karte), mit dem Relationenbild des Sternenbilds (Territorium) in Beziehung gesetzt wird. Um die exponierte These belegen zu können, muss folglich eine auf zwei Schritten beruhende Argumentation vorgetragen werden. Die Beziehungsverhältnisse der Bauwerke am Boden müssen so gedeutet werden, dass sie Beziehungsverhältnissen in Sternenkonstellationen entsprechen – und das, wie von Bauval und Hancock behauptet wird, nicht zu dem Zeitpunkt, an dem die Bauwerke nach Lehrmeinung errichtet wurden, sondern um das Jahr 10.500 v. Chr. Die erste, entscheidende, Relation, also die Deutung der Anordnung der Bauwerke als Karte, ist allerdings so beschaffen, dass die Relationen am Boden nicht unmittelbar gesehen werden können (Karte), die Konstellationen am Himmel aber sehr wohl (Territorium). Zuerst muss also die Anordnung auf dem Boden diagrammatisiert werden, bevor man sie als Karte auf das Territorium, also den Sternenhimmel und seine Konstellationen, beziehen kann. Die behauptete Beziehung zwischen den Monumenten am Boden und den Korrelationen am Himmel wird als Karte-Territorium-Analogie gedeutet. Es fehlt aber die für die Karte-Territorium-Analogie übliche epistemologische Beziehung. Im Normalfall ist die Karte sichtbar, nicht aber das Territorium. Mit einer Karte blickt man ›top down‹ auf ein Territorium; man versucht, sich einen Überblick über das Territorium zu verschaffen. Vom Standpunkt der Wahrnehmung ist die Situation im gegebenen Beispiel aber anders. Zunächst steht ein Beobachter vor den Pyramiden und muss – mit Hilfe einer Karte – die ›Kartenhaftigkeit‹ der Pyramiden erweisen, die dann auf die Relationen der Sterne am Himmel bezogen wird. In der Konfiguration der Monumente am Boden wird auf Grundlage von Karten eine ›Karte‹ bzw. eine ›kartografische Referenz‹ erkannt. Das ist die Ausgangslage, welche dann der Narrativierung unter-

122 Die Dokumentation ist in drei je 50-minütige Teile unterteilt, Teil 1: Heavens Mirror, Teil 2: Forgotten Knowledge, Teil 3: Ancient Mariners. Ich zitiere sie als Einheit und folglich als fortlaufenden Timecode nach der frei zugänglichen Fassung auf https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 08. Mai 2020. Mein Analysefokus liegt auf der ersten Folge der Serien, also Heavens Mirror, weil hier die Bezüge zu The Mystery of the Sphinx am stärksten sind.

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liegt. Die projizierte Karte ist also das Deutungsschema, das Hancock und Bauval aus ihren diagrammatisch explizierten Relationen ableiten wollen. Erneut wird die Karte zum Relais einer spekulativen Deutung – einem Relais, das auf Diagrammatisierungen beruht, welche innerhalb des Diskurses ein metaphorisches Sehen als epistemische Evidenz plausibilisieren sollen: Wenn man körperlich vor den Pyramiden steht, dann ist die Anordnung der Monumente am Himmel so, wie eine Karte des Himmels. Welcher Art diese Deutung ist, wird gleich zu Beginn seiner Dokumentation klar (TC 00:08:25), wenn Hancock die Beziehung zwischen den Monumenten (Karte) und den Sternenkonstellationen (Territorium) als Ausdruck eines mythologischen Denkens der Ägypter deutet – und damit implizit aller anderen Völker, die unter Hancocks These fallen. Vor dem Hintergrund der Vermutung, dass Hancock an dieser Stelle den Ägyptern das unterstellt, was ihm sein eigenes mythisches Denken vorgibt, wird durch diese Auslagerung des Mythos auf die Ägypter eine interessante Argumentationsmöglichkeit geschaffen. Hancock – und Bauval tat das schon vor ihm – geht davon aus, dass die Ägypter ›mythisch‹ gedacht haben, als sie die Pyramiden als Denkmäler einer verlorenen ›Urzeit‹ errichteten. Daraus leitet er den Anspruch ab, ebenfalls mythisch denken zu müssen, um die Ägypter zu verstehen. Das eigene mythische Denken wird zu einem Mittel, um die alten Kulturen zu verstehen. In The Quest for the Lost Civilization wird dies in einer an Pathos schwer überbietbaren Szene als die Wiedervereinigung mit dem mythischen Denken der alten Kulturen exponiert (TC 00:11:22). Der Umstand, dass das geheimnisvolle Wissen, laut Hancock, »far back beyond the memory of historians« (TC 00:12:09) reiche, ist dabei nur die Spitze eines Eisbergs von verächtlichen Kommentaren in Richtung der etablierten Wissenschaften. Die von Hancock vertretene mythische Hypothese kann sich dank der hermeneutischen Aufgabenstellung, ein mythisches Denken verstehen zu müssen, einen szientistischen Anstrich geben. Die Aufgabe besteht darin, das mythische Denken der alten Völker zu verstehen – ein Denken, das in The Quest for the Lost Civilization in einem Zitat aus einem Interview mit John Lash als ein »picture thinking or mythological thinking« (TC 00:08:49) ausgewiesen wird: »they thought in a mythological way, that’s the way their brains worked« (TC 00:09:03). Die inhaltliche Plausibilität der Anleihe an die ägyptische Mythologie soll an dieser Stelle der Fachforschung überlassen bleiben. Hier geht es nicht darum, beurteilen zu wollen, ob Hancocks (bei Bauval abgeguckter) Bezug auf die Mythologie der Ägypter plausibel ist. Von Interesse ist allein, dass bei Hancock ein über Diagrammatisierungen szientistisch getarntes mythologisches Denken in den Alternative-History-Diskurs Einzug hält. Der Fokus meines Argumentes liegt also auf einer Charakterisierung von Hancocks Denken. Dieses Denken konstruiert aus Spekulationen ein mythisches Narrativ. Dafür spricht die Kontur, die Hancock dem Atlantis-Mythos gibt. Die verlorene Zivilisation gilt Hancock als die Urzivilisation aller Hochkulturen. Es handelt sich nach Hancock um eine global und homogen wirksame Kultur. Hancock projiziert in diese Kultur ein spirituelles und astronomisches Wissen, eine verlorene ›Urweisheit‹. Diese Urweisheit zu erschließen, ist nach Hancock für eine aus den Fugen geratene Gegenwart von Bedeutung. Sehr deutlich wird das in dem nicht nur zeitkritischen, sondern offenkundig religiösen Schlusswort, das Hancock im Stil eines Predigers in The Quest for the Lost Civilization vorträgt:

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»Human knowledge is fragile, and the treasures of wisdom are easily destroyed […]. There may be many explanations for the similarities and connections that we found into linking all these places. But I believe that the best explanation is a lost civilization, lost in the night of time that once touched them all. I think it’s possible that that civilization knew something that we do not and that its survivors after the great cataclysm that brought the last Ice Age to an end went to extraordinary lengths to keep that knowledge alive. It was fundamentally a spiritual teaching that concerned the mission of humanity here on earth – not to lose ourselves in the illusion of material things, material greed, material ambition, but to understand that material life is a precious opportunity for each individual to learn and to grow and to develop to equip the soul for immortality. The teaching still exists, locked away in the myths and the monuments and the astronomy and it can be retrieved. Poised at the edge of a millennium, after a century of unparalleled wickedness and bloodshed perhaps we need the ancient wisdom more than ever before.« (TC 02:27:57) Betrachtet man die spirituelle Deutung, welche Donnellys Atlantis-Mythos seit dem 19. Jahrhundert in okkulten und esoterischen, aber auch völkischen Kreisen bei Autorinnen und Autoren wie Helena Blavatsky, Rudolf Steiner oder Edgar Cayce genommen hat, ist in diesen Aussagen unmissverständlich dokumentiert, in welcher irrationalistischen Tradition Hancock steht. In Sachen Diagrammatisierung wird den drei Typen der Schematisierung, Abstraktion und Idealisierung wenig Neues hinzugefügt. Vom Bekannten macht Hancock aber in aufschlussreicher Weise Gebrauch, um sein metaphorisches Sehen als epistemische Evidenz zu stabilisieren. Wenn etwa Bauvals These eingeführt wird, kommt es zu einer rhetorischen Rückführung der Diagrammatik auf ihre Anfänge. Bauval und Hancock sitzen in der Wüste. Bauval erläutert seine These. Dazu zeichnet er eine Linie in den Sand, welche die Analogie zwischen Nil/Milchstraße erläutern soll. Dann werden die drei Pyramiden von Gizeh in ihrer Anordnung durch entsprechende Steine modelliert ( Abb. 56).

Abb. 56: Das Gizeh-Modell im Sand (TC 00:16:00). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https:// www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020.

Diese modellbildende Skizze im Medium des Sands illustriert eine wichtige Prämisse von Bauvals Orion-Korrelations-Hypothese. Bauval hebt hervor, dass in dem Ensemble der Gizeh-Pyramiden die kleinste Pyramide, die Mykerinos-Pyramide, gegenüber den beiden größeren Pyramiden, also Chephren- und Cheopspyramide, leicht versetzt ist. Diese Anordnung ist nach Bauval identisch mit der Anordnung der Gürtelsterne im Oriongürtel. Aufschlussreich ist die Beschreibung des Erkenntnismoments, die Bauval in der Dokumentation gibt. Bauval schildert, dass er eine Karte der Pyramiden

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genutzt habe, um sich in die Wahrnehmungsposition zu versetzen, aus der heraus die Ägypter ihre Ground-Sky-Korrelation entworfen hätten: »And the minute I compared the map of the three pyramids to the three belt stars in the belt of Orion suddenly I saw a pattern« (TC 00:16:31). Gemäß der beschriebenen Erkenntnissituation will Bauval also eine Karte der Pyramiden von Gizeh mit seiner Wahrnehmung des Sternenhimmels über der Wüste in Beziehung gesetzt haben. Erst werden auf Grundlage einer Karte die diagrammatischen Relationen in den Monumenten aufgezeigt, dann die Anordnung der Monumente gleichsam als ›Karte‹ gesehen, und dann erst eine Referenz dieses Relationenbildes auf die Sterne behauptet.123 Offensichtlich handelt es sich hierbei um eine Schematisierung auf Ebene der Diagrammatisierung erster Stufe, in der ein Wahrnehmungseindruck mit einem Deutungsschema in Beziehung gesetzt wird und dies als epistemische Evidenz im Rahmen diskursiver Evidenzverfahren adressiert wird. Die Konstellation zwischen den Pyramiden wird als Karte des Himmels gesehen und diese Karte des Himmels mit dem Oriongürtel ›überblendet‹. Passenderweise findet sich Bauvals These anschließend in einer filmischen Überblendung in eine Bildlichkeit übersetzt, in der aus einer analogen Aufnahme des Nils ein computeranimiertes Modell der Gizeh-Pyramiden hervorgeht. Als erstes wird dazu – der These, dass der Nil die Milchstraße symbolisiert, folgend – die schematische Relation der Orion-Konstellation gezeigt. Dieses Relationenbild legt sich dann über den Hintergrund einer motivischen Aufnahme des Nils ( Abb. 57).

Abb. 57: Die Orion-Konstellation und der Nil (TC 00:16:41). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020.

Der anschließende Wegfall des Hintergrundbildes und der Linien isoliert in einer animierten Szene die Sterne als leuchtende Punkte und blendet den Hintergrund einer CGI-Simulation auf die Pyramiden ( Abb. 58).

123 Vgl. die Schilderung dieses Erkenntnismoments in Bauval/Gilbert 1994, S. 135ff.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Abb. 58: CGI-Überblendung Orion/Gizeh-Pyramiden (TC 00:16:48). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020.

Diese Überblendung ist zur emblematischen Darstellung der Orion-Korrelations-Hypothese geworden. Im Wikipedia-Eintrag zu der Hypothese findet sie sich so:

Abb. 59: Die »Orion-Korrelations-Hypothese«. Quelle: Wikipedia-Artikel »Orion-Correlation-Theory«, https://en.wikipedia.org/wiki/Orion_correlation_theory, gesehen am 08. Mai 2020.

Einige Minuten später wird das Szenario von Hancock am Beispiel von Angkor Wat im Kambodscha wiederaufgegriffen. Hancocks These ist die gleiche wie im Fall der Pyramiden von Gizeh. Dieses Mal sind es aber Khmer-Bauwerke, für welche Hancock

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

eine kartografische Referenz auf das Sternenbild des Drachen, wie es im 10.500 v. Chr. am Himmel gestanden hat, behauptet. Bildrhetorisch umgesetzt wird diese Behauptung in einer Variante der Skizzierung, wie sie in der Szene mit Bauval im Sand zu sehen war. Hancock exponiert seine These, indem der Stift und die Karte als analoge Medien in einer Nahaufnahme gezeigt werden. Im Unterschied zu der Verwendung des Stifts, wie er in der Idealisierung des Split-Screens in The Mystery of the Sphinx zu sehen war, hat der Stift in diesem Beispiel keine erkenntnisleitende Funktion. Während in dem oben geschilderten Beispiel die Differenz zwischen dem Diagramm der Sphinx und dem Foto der Sphinx durch den Stift deiktisch erläutert wird, bezieht sich das vorliegende Beispiel nicht auf eine Idealisierung. Der Stift ist nur von illustrativem Wert ( Abb. 60). Das mag trivial klingen, ist aber als Teil der Rhetorik von Diagrammatisierungen von Bedeutung.

Abb. 60: Die Karte von Angkor Wat (TC 00:33:30). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https:// www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020.

Denn ähnlich wie im Fall von The Mystery of the Sphinx wird im Anschluss an die Szene mit dem Stift der Computer ins Spiel gebracht. Im Unterschied zu The Mystery of the Sphinx dient dies (zunächst) keiner Fortführung der Argumentation. In The Mystery of the Sphinx war vom Stift als erläuterndem Medium abstrahiert worden, um das Argument deutlicher zu machen. Diese Abstraktion führte vom Stift zur Quasi-Objektivität einer am Computer entwickelten Animation. Der Übergang objektivierte das von Schoch zunächst deiktisch zusätzlich erläuterte Argument. In diesem Beispiel ist der Fall anders. Während der Computer in The Mystery of the Sphinx als Medium Anfang der 1990er-Jahre unsichtbar bleibt, wird er in The Quest for the Lost Civilization Ende der 1990er-Jahre an verschiedenen Stellen explizit sichtbar gemacht. Zwei Szenen können hervorgehoben werden. Jeweils geht es in diesen Szenen darum, die Deckungsgleichheit der hypothetischen Ground-Sky-Relation zu untersuchen, die sich angeblich für das Jahr 10.500 v. Chr. beweisen lässt. Der Computer hat die Aufgabe, mittels eines Programmes (SkyGlobe), das die Berechnung historischer Konstellationen erlaubt, für diesen Zeitraum eine Deckungsgleichheit zu beweisen. Visualisiert wird der Erkenntnisprozess als eine instrumentelle Verwendung des

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Computers als Medium. Der Computer ist in der Lage, das Bestehen der behaupteten Korrelation in historischer Vorzeit zu belegen ( Abb. 61). Im Unterschied zu The Mystery of the Sphinx ist der Computer an dieser Stelle allerdings von einer nachvollziehbaren Argumentation komplett abgelöst, sind diese Bilder also zunächst rein illustrativ. Aus seiner abgefilmten Bildlichkeit wird in die CGI-Ästhetik einer Simulation übergeblendet, welche die These von Hancock simuliert. Dabei kommt es zu einer Wiederaufnahme des Split-Screen-Prinzips ( Abb. 62).

Abb. 61: Die Konstellation Draco in SkyGlobe (TC 00:35:07). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020.

Abb. 62: Relationen überblenden (TC 00:35:23). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https:// www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020.

In Beziehung gesetzt wird die Sternenkonstellation des Drachen (oberer Teil) mit der Relation der Gebäude am Boden (unterer Teil). Formal ist die Operation eine Idealisierung, in der der Split-Screen einen Vergleich zwischen den Objekten ermöglicht. Im Unterschied zur Idealisierung wird jedoch kein Objekt durch Diagrammatisierung erklärt, sondern diese Idealisierung enthält eine Schematisierung zweiter Stufe, die in eine Modellierung übergeht. Die Modellierung stellt zwei zuvor durch Diagrammatisierung erschlossene Beziehungsverhältnisse dar. Leicht zu erkennen ist, dass in bei-

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

den Fällen die Wahrnehmung von Relationen in den Verhältnissen der Sterne und der Bauwerke stattgefunden haben muss, die – das ist der Unterschied zur Abstraktion und Idealisierung – zwei Teilbereiche in Beziehung setzt, die jeweils für sich durch Diagrammatisierungen erschlossen worden sind. Diese Wahrnehmung muss bereits eine Stufe der Diagrammatisierung durchlaufen haben. Eine Referenz auf diesen Prozess findet sich in der geschilderten Szene, wenn Hancock rhetorisch die ›Pen & Paper‹-Bearbeitung der Karte zitiert, auf welcher er mit einem Stift Linien nachzeichnet. Die Darstellung des Stiftes und einer Karte referiert auf ein Produkt vergangener Vermessungen, die einer weiteren Diagrammatisierung unterzogen werden. Diese vergangene Vermessung ist in diesem Fall die Vermessung von Angkor Wat, auf deren Grundlage diejenige Relation beobachtet werden kann, die nach Hancock dem Sternenbild des Drachen entspricht. Während Schoch sich in The Mystery of the Sphinx um eine Erklärung bemüht, bleibt die Plausibilität dieser vorangegangenen Diagrammatisierung bei Hancock bloße Behauptung. In dem Beispiel kommt die für die Modellierung typische Veranschaulichung durch Multiperspektivität zustande. Kurz bevor der Split-Screen etabliert wird, wird die Beziehung der Pyramiden auf dem Boden in einer dreidimensionalen Perspektive gezeigt, die sich dann in die im vorliegenden Screenshot gezeigte, zweidimensionale Perspektive verwandelt. Unter anderen Bedingungen fortgesetzt wird die in der Modellierung aus The Mystery of the Sphinx beobachtbare Extrapolation des eidetischen Objektes in der zweidimensionalen Fläche, nur dass das Objekt hier die Relationen selbst sind.

Abb. 63: Großaufnahme von SkyGlobe Orion (TC 00:37:31). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020.

Während der hell hinterlegte Bereich am unteren Bildteil das in die Zweidimensionalität eingefaltete Gebiet am Boden ist, stellt der dunkle Bereich im oberen Bildteil den Sternenhimmel dar. Gemäß dem Prinzip der Modellierung, einen durch vorangegangene Diagrammatisierung erschlossenen, abstrakten Begriff von einem Gegenstand zu visualisieren, referiert das Bild auf den subjektiven Wahrnehmungseindruck erster Person, der sich am Boden durch den Blick in den Himmel ergibt – also das, was Sybille Krämer eine »Feldperspektive« nennt ( Kap. 7.1.3).124 Externalisiert und in eine 124 Vgl. Krämer 2016, S. 87ff., hier S. 89, im Orig. kursiv.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

vorgebliche Objektivität transkribiert wird das ›mythisches Sehen‹ der Ägypter. Im Einklang mit der Modellierung wird die Autorität des Vorgangs durch die Referenz auf ein mythisches, metaphorisches, darin aber diagrammatisches Denkbild begründet. Das Verfahren wird wenig später für die Orion-Korrelations-Hypothese durchgespielt. Wiederum startet der Prozess mit einer Szene von Hancock und Bauval, die vor dem Laptop sitzen. Aus einer Nahaufnahme des die Rückdatierung ermöglichenden Programms heraus wird in eine Simulation übergeblendet ( Abb. 63).

Abb. 64: Geometrisierung 1 (TC 00:39:14). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https:// www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020.

Abb. 65: Geometrisierung 2 ( TC 00:39:26). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https:// www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020.

Dieses Ensemble wird dann einer Geometrisierung im besten Sinne ›rhetorischer Mathematik‹ unterzogen. Die Geometrisierung soll den Nachweis erbringen, dass die Anordnung der Pyramiden auf dem Gizeh-Plateau denen der Sternenkonstellation des Orion um 10.500 v. Chr. entspricht – einer ›ersten Zeit‹ in der Mythologie der Ägypter. Untermauert wird so die Behauptung, dass das Ensemble der Pyramiden auf dem Gizeh-Plateau eine Referenz auf die Orion-Konstellation nicht für das Jahr 2.600 v. Chr. ergibt, sondern für das Jahr 10.500 v. Chr. Der Computer wird eingesetzt, um die Prä-

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zession der Erde in diese Kalkulation miteinzubeziehen. Bauval und Hancock gehen davon aus, dass die Ägypter die Präzession der Erde berechnen konnten und ihre Bauwerke unter Berücksichtigung der Präzession als gigantische Denkmäler errichtet haben, um an die vergangene ›erste Zeit‹ zu erinnern. Das visualisierte Argument besagt, dass – wenn die Pyramiden am Boden die Gürtelsterne des Orion repräsentieren und in der gewählten Perspektive einem Winkel von 45 Grad entsprechen ( Abb. 64) –, dies die Anordnung der Gürtelsterne am niedrigsten Punkt des Präzessionszyklus 10.500 v. Chr. widerspiegelt ( Abb. 65). Das gleiche Argument spielt The Quest for the Lost Civilization für die Sphinx durch. Hancock referiert dabei die These, die in The Mystery of the Sphinx von West und Schoch vorgetragen wurde. Seine Abgrenzung gegenüber diesen Autoren erreicht Hancock, indem er über Ägypten als Gegenstandsbereich hinausgeht und derartige Korrelationsverhältnisse in Kulturen auf der ganzen Welt beobachtet. Die Plausibilisierung dieser These ist auf Grundlage einer Erhöhung der Abstraktion möglich, die eine Art argumentativer Unschärferelation einführt: Je einfacher die beobachteten Relationen in der Konstruktion der ›Karte‹ der jeweiligen Monumente, desto leichter wird es, Ähnlichkeiten zu den Sternenkonstellationen in sie hineinzulesen.

6.3.3 Vage Ähnlichkeit: Kritische Postskripte Auf diese Unschärferelation zielt die Kritik, die an Hancocks Thesen im Rahmen der BBC-Dokumentation Atlantis Reborn (bzw. Atlantis Reborn Again) (1999/2000) als Postskript zu The Quest for the Lost Civilization geübt wurde. Produziert wurde diese Dokumentation von dem Filmemacher Christopher Hale. Atlantis Reborn widmet sich Hancocks (und Bauvals) Hypothesen mit dem Anspruch »to test the theory« (TC 00:10:41).125 Zu diesem Zweck wird in Atlantis Reborn umfassend aus den hier diskutierten Visualisierungen der Hypothese in The Quest for the Lost Civilization zitiert. Die Auseinandersetzung ist auf Hancocks Exposition seiner Erörterung der Gizeh-Pyramiden und von Angkor Wat konzentriert.126 Um das Problem der versetzten dritten Pyramide auf dem Gizeh-Plateau zu erklären, greift Hale in Atlantis Reborn auf die Bücher von Hancock und Bauval zurück (TC 00:12:00). Der Auf hänger ist ein Top-Shot der Gizeh-Pyramiden ( Abb. 66).

125 Über seine Erfahrungen mit Hancock und Bauval hat Christopher Hale (2006) einen Aufsatz geschrieben. Die Timecodes stammen aus der zweiten Version Atlantis Reborn Again (2000). 126 Eine Pointe erlaubt sich die Dokumentation am Ende. Zu Hancocks Lieblingsbeispielen gehört das Yonaguni-Monument. Dabei handelt es sich um eine Unterwasserformation im ostchinesischen Meer, die geradlinige Strukturen aufweist. Hancock sieht die Formation als eine von Menschenhand errichtete Struktur an. Hancocks The Quest for the Lost Civilization beginnt mit einem Bericht über diese Struktur. In diesem Zusammenhang wird auch Robert Schoch gezeigt, wie er mit Hancock an der Yonaguni-Formation taucht. Im Postskript Atlantis Reborn tritt Schoch allerdings ebenfalls auf (TC 00:45:50) und berichtet, dass er am Anfang an dieser Struktur sehr interessiert gewesen wäre, inzwischen jedoch zu der Überzeugung gekommen sei, es handele sich um eine natürliche Formation.

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Abb. 66: Top-Shot Gizeh (Bildzitat aus The Orion Mystery) (TC 00:13:34). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020.

Diese Fotografie, die in Atlantis Reborn als Bildzitat angeführt wird und deren Ästhetik derjenigen des Top-Shots auf das Mars-Gesicht entspricht, wird in The Orion Mystery auf einer Doppelseite mit einer Großaufnahme des Oriongürtels parallelisiert.127 Atlantis Reborn hebt aus der Diskussion um die Orion-Korrelation zu Beginn die erkenntnisleitende Ähnlichkeitsrelation hervor. Wie Bauval in seinem Buch schildert, war es seine Erinnerung an die ›Karte‹ der Pyramiden, die ihn dazu gebracht habe, die Parallele mit dem Oriongürtel zu sehen. Diese Karte ist das Schema, das Bauval in die Fotografie, in der die Gizeh-Pyramiden in einem Top-Shot fotografiert werden, als Layout seiner Deduktion ›hineinsieht‹, also überblendet. Die Perspektive der Fotografie liefert den Rahmen für die Analogie zur Karte. Im Unterschied zu der Diskussion der Fotografie des Mars-Gesichts, bei der die gleiche Operation zu finden ist, steht hier jedoch nicht die Realität des Objektes in Frage, sondern seine Ähnlichkeit mit dem Oriongürtel, die in Atlantis Reborn durch eine filmische Überblendung visualisiert wird ( Abb. 67 u. Abb. 68). Das Beispiel hat eine rhetorische Wirkung, weil es im Vergleich der jeweiligen Relation eine sehr geringe Komplexität aufweist. Für die Pyramiden in Gizeh muss ein größerer Aufwand betrieben werden als für die Wahrnehmung des Oriongürtels. Während der Oriongürtel mit bloßem Auge zu erkennen ist, ist die Extrapolation der Relation der Pyramiden nur durch einen Akt der Diagrammatisierung möglich. Dieser Akt hat – ist die vorangegangene Diagrammatisierung einmal erfolgt – hohe ikonische Plausibilität. In Atlantis Reborn wird dieser Erkenntniseffekt anschaulich als Überblendung dargestellt. Bauval vergleicht nicht nur die relationale Anordnung der Elemente, sondern auch die Form der Einzelteile. Er hebt dabei hervor, dass im Oriongürtel ebenfalls zwei größere, stärker leuchtende Sterne und ein kleinerer, schwächer leuchtender Stern zu erkennen sind (TC 00:13:43-00:13:50). Die eine Relation scheint also auf die andere zu passen. 127 Vgl. Bauval/Gilbert 1994, Abb. 7.

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Abb. 67: Überblendung Gizeh-Orion 1 (TC 00:13:35). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020.

Abb. 68: Überblendung Gizeh-Orion 2 (TC 00:13:35). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020.

Doch Atlantis Reborn lässt auch die Kritiker zu Wort kommen. Einer dieser Kritiker ist der US-amerikanische Archäoastronom Ed Krupp. Krupp weist darauf hin, dass in dem Vergleich zwischen der Fotografie der Gizeh-Pyramiden und dem Oriongürtel, entgegen der scheinbaren Evidenz, die Himmelsrichtungen durcheinandergebracht werden. Norden auf dem Bild der Gizeh-Pyramiden ist am unteren Bildende. Norden auf dem Bild des Oriongürtels ist dagegen am oberen Bildende (TC 00:16:15). Krupps Fazit fällt lapidar aus: »To make the map of the pyramids on the ground match the stars of Orion in the sky you have to turn Egypt upside down. And if you don’t wanna do that, then you gotta have to turn the sky upside down.« (TC 00:17:33) Diese Kritik zielt auf die Einordnung der vorangegangenen Diagrammatisierung, welche die Grundlage der Modellierung bildet – also auf die auf vorangegangenen Schematisierungen beruhende Konstruktion der ›Karte‹, die auf die Sterne bezogen wird. Daraus entspinnt sich in Atlantis Reborn eine bemerkenswerte Diskussion um die angemessenen Kriterien, die überhaupt gegeben sein müssen, um eine Korrelation zu behaupten.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Grob gesagt halten Hancock und Bauval daran fest, dass sich diese Ähnlichkeit dann behaupten lässt, wenn man den subjektiven Wahrnehmungseindruck epistemischer Evidenz zugrunde legt, den ein Ägypter gehabt haben muss, als er vor den Pyramiden stand – dass also die Ähnlichkeitsbeziehung auf eine körperliche Perspektive der ersten Person zurückgeht (der »Feldperspektive«), welche zu der Vertauschung der Himmelsrichtungen geführt habe (TC 00:18:00). Bei dieser Gelegenheit wird in Atlantis Reborn auch noch einmal deutlich, was Hancock von der etablierten Wissenschaft hält: »There is no other way you can draw them, except in the way that the pyramids lie on the ground today. You can’t do it any other way. If you are extremely pedantic and believe that the ancient Egyptians priesthood was a group of narrow minded bureaucrats determined to follow procedure above all else then it’s true that the northern most star is depicted in the southern most place on the ground and the southern most star in the northern most place on the ground, and this is what Ed Krupp is getting at. But if you regard it as a work of symbolic and religious art meant to copy on the ground what the observer sees in the sky then there is just no other way you can make it than the way it is made.« (TC 00:18:31) Gegen dieses Argument von Hancock führt Krupp aus, dass die Ägypter sich sehr wohl Gedanken um korrekte Himmelsrichtungen gemacht hätten. Diese Tatsache lasse sich, so Krupp, an dem Umstand erkennen, dass die Pyramiden exakt nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet sind. Hancock und Bauval argumentieren, dass die Ägypter einen Wahrnehmungseindruck aus Perspektive erster Person zur Grundlage des Entwurfs der Pyramiden gemacht hätten, das mythische Sehen einer Korrelation, die den Ägyptern als Relation metaphorisch vor Augen stand, als sie die Pyramiden erbauten. Diese Beziehung wird durch Krupps Hinweis auf die Inkonsistenzen in der zugrunde liegenden Diagrammatisierung des Wahrnehmungseindrucks unausgesprochen als eine mythische Projektion auf Seiten Hancocks und Bauvals kritisiert. Zur Debatte steht also die Geltung epistemischer Evidenz (eines subjektiven Wahrnehmungseindrucks) für die gesamte Hypothese. Diese Kritik an Hancock und Bauval bestärkt Atlantis Reborn, indem auf weitere Probleme verwiesen wird, u.a. auf das Argument, dass es durch den Untergrund bedingte Baubeschränkungen auf dem Gizeh-Plateau gegeben hat sowie auf die Tatsache, dass außer den drei Gizeh-Pyramiden keine andere Pyramide oder Pyramiden-Konstellation in Ägypten sich einer Sternenkonstellation zuordnen lässt ( Abb. 69). Der Hypothese von Hancock und Bauval fehlt, abgesehen von ihrer spekulativen Deutung der ägyptischen Mythologie, demnach der Kontext.

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Abb. 69: Assoziative Diagrammatik (TC 00:21:01). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020.

Was in Atlantis Reborn kritisiert wird, ist die Art des Umgangs mit aus Diagrammatisierungen erschlossenem Wissen. Es wird kritisiert, dass Hancock und Bauval auf Grundlage der jeweiligen Diagramme zu spekulativ denken, also ein zu spekulatives Denkbild entwerfen. Zugespitzt auf das diagrammatische Denkbild wird diese Kritik in Atlantis Reborn in der Auseinandersetzung mit Hancocks Deutung von Angkor Wat. In Bezug auf Angkor Wat meint Hancock in einer der Interviewszenen: »There is a similarity, a very strong similarity between the pattern of the temples on the ground and the pattern in of the stars in the constellation of Draco […]. Quite simply, if you take a map of the temples of Angkor and join the dots to connect up the different temples you find that you have drawn out on that map the pattern of the constellation of Draco.« (TC 00:26:58) Diese Aussage bezieht sich auf die Szene in The Quest for the Lost Civilization, in der Hancock mit einem Stift vor einer Karte von Angkor Watt sitzt, man allerdings nicht zu sehen bekommt, wie er die Operation durchführt, die er anempfiehlt. Mit gutem Grund, denn in Atlantis Reborn wird genau das durch eine Expertin für Angkor Watt, Eleanor Mannikka, durchgeführt – mit ungünstigem Ergebnis für Hancocks These. Auf einer Karte zeichnet Mannikka die verschiedenen in Betracht kommenden Punkte mit einem Stift nach und expliziert so das vermeintliche Schema der Sternenkonstellation, also das in den Diagrammatisierungen von The Quest for the Lost Civilization narrativierte Denkbild ( Abb. 70).

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Abb. 70: Vage Ähnlichkeit I (TC 00:29:05). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020.

Das Ergebnis zeigt, wie Mannikka meint, »a vague resemblance« (TC 00:29:24), die aber nicht sehr überzeugend sei. Und dann folgt so etwas wie der diagrammatische Höhepunkt von Atlantis Reborn. In der Dokumentation wird Mannikkas Kritik so visualisiert, dass auf Grundlage der abgedunkelten Karte, in die Mannikka kurz zuvor noch die rote Linie eingezeichnet hatte, die relevanten Bauwerke zwar rot markiert, aber nicht mit der Linie verbunden werden, die Mannikka eingezeichnet hat. Über diese Markierungen in der Karte wird die Konstellation Draco geblendet ( Abb. 71).

Abb. 71: Vage Ähnlichkeit II (TC 00:29:41). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020.

Atlantis Reborn hat die klare Absicht, genau das diagrammatische Verfahren explizit zu machen, das bei Hancock implizit bleibt: die Deutung der zugrunde gelegten These

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einer ›Karte‹ in einem metaphorischen Sehen, das erst das Schema liefert, das notwendig ist – wie Hancock es sagt –, um eine Ähnlichkeit zu der Sternenkonstellation des Drachen zu sehen. Wiederum wird der Umgang mit einer zugrunde gelegten Diagrammatisierung kritisiert, welcher bei Hancock und Bauval eine Modellierung hinzugefügt wird. Hervorzuheben ist, dass in dem gegebenen Beispiel zu diesem Zweck die Erkenntnislogik der Ground-Sky-Korrelations-Hypothese visualisiert wird: Abgeglichen werden Relationen, die in eine Karte (oder ein vergleichbares Diagramm) hineingelesen werden, mit den jeweiligen Sternenkonstellationen. Diesen Vorgang muss man sich näher betrachten: Auf Grundlage der geschilderten Ausgangssituation werden zwei Objekte in Beziehung gesetzt, die nur in Form diagrammatischer Zeichen als eidetische Objekte existieren. Der bei Jan Wöpking verwendete Begriff der Strukturähnlichkeit zweiter Ordnung ( Kap. 5.4.4) bezeichnet eine Ähnlichkeit zwischen Elementen und den Relationen zwischen ihnen. Zumeist ist dieses Verhältnis so gegeben, dass entweder eine sehr gegenständliche Form (z.B. ein Bild) abstrahiert oder eine sehr unanschauliche Form (z.B. ein Argument) vergegenständlicht wird. In diesem Fall ist es so, dass jeweils zwei abstrakte Relationen verglichen werden – und zwar in der Weise, dass die abstrakte Relation der Sternenkonstellation als die sichtbare auf die andere, unsichtbare Relation zwischen den Monumenten ›geblendet‹ wird (Überblendung). Dieser Umstand richtet den Blick auf das Dritte, das diesen Vergleich ermöglicht. Daher konzentriert sich der Fokus in besonderem Maße auf die Bedingungen, welche es erlauben, die unsichtbare Relation zwischen den Monumenten sichtbar zu machen und so zu allererst die Beziehung zu den Sternenkonstellationen behaupten zu können. In diesem Kontext ist es möglich, zu behaupten, dass die Prozesse der Diagrammatisierung, die in der Wahrnehmung implizit sind, explizit werden – dass also die Bedingungen des Sehens problematisiert werden, die bei Hancock als epistemische Evidenz behauptet werden. Diese Bedingungen betreffen die Frage, wie überhaupt in die Monumente eine Relation hineingesehen werden kann, die dann in Analogie zu den Relationen am Himmel gesetzt wird. Ref lexiv thematisiert wird im Postskript also die epistemische Evidenz der Diagrammatisierung erster Stufe, mithin die schematisierende Diagrammatisierung, auf der die spekulativen Thesen beruhen. In dem gegebenen Beispiel wird diese ref lexive Problematisierung sehr schön dadurch veranschaulicht, dass die Karte von Angkor Wat den Hintergrund bildet, um auf diesem Hintergrund eine Überblendung der Strukturmuster vorzunehmen. Von zentraler Bedeutung ist der Kontrast zwischen der Szene, in der Mannikka gezeigt wird, wie sie die Linien in die Karte einzeichnet, und der Explikation des Zusammenhangs in der darauffolgenden Szene, in der erneut der Stift ausgeblendet wird. Besonders wichtig ist der Umstand, dass die Verbindungslinie zwischen den roten Markierungen, also den auf der Karte hervorgehobenen Bauwerken, entfällt. Die von Mannikka explizierte Linie ist nur als Denkbild enthalten. Dieses ›Denkbild‹ wird über die von Hancock behauptete These in die Karte geblendet und zu einem Deutungsschema weiterentwickelt. Man kann die Virtualität dieses Schemas, das offensichtlich an zentralen Punkten von dem ebenfalls auf die Karte projizierten Schema der Konstellation des Drachen abweicht, als eine ›latente Präsenz‹ im Modus vergegenständlichender, hypostatischer Abstraktion beschreiben: Die Relation muss präsent sein, damit die Differenz gesehen werden kann, was bedeutet, dass die Dokumentation an dieser Stelle in ihrem Ver-

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such, den Denkfehler Hancocks zu explizieren, die Gestalthaftigkeit eines Denkbildes im Bewusstsein der implizierten Zuschauerin voraussetzt.128 Was in Atlantis Reborn an dieser Stelle also getan wird, ist, den Prozess des diagrammatischen Denkens, wie er bei Hancock stattgefunden haben muss, sprichwörtlich experimentell ›nachzuzeichnen‹. Aus der Differenz, die sich für die Zuschauerin ergibt, wird kritisches Kapital geschlagen. In Atlantis Reborn wird aufgezeigt, dass Hancock aus just dem diagrammatischen Denkbild, dessen Existenz er behauptet, aber in seiner Dokumentation (wie das Beispiel des Stiftes und der Einzeichnung der behaupteten Relationen in die Karte beweist) nicht zeigt, hochspekulative und fragwürdige Schlussfolgerungen ableitet. In Atlantis Reborn wird somit explizit die diskursive Funktion von diagrammatischem Denken in pseudo- bzw. parawissenschaftlichen Diskursen bzw. in mythischen Denkformen kritisiert. Konfrontiert mit der aufgezeigten Diskrepanz reagiert Hancock mit Ausweichmanövern und spricht von einer Ähnlichkeit, die zwar nicht akkurat sei, aber ausreichend: »There is a rather good correspondence, by no means, you know, absolutely spot on accurate, but a rather good correspondence between the stars in the sky and the temples on the ground. And when you bear in mind that these temples were constructed across hundreds of square miles of really very dense jungle something like a thousand years ago when there was no ability for the builders to get above their subject and check that they were archiving a perfect design, I think they did a very good job.« (TC 00:29:48) Diese Aussage ist problematisch, weil es, darauf hebt auch Atlantis Reborn ab (TC 00:30:24), bei bautechnischen Vermessungen niemals notwendig ist, eine Vogelperspektive einzunehmen. Vermessungsarbeiten werden am Boden durchgeführt und die Khmer haben sie, wie Mannikka betont, sehr präzise umgesetzt. Aus diesem Grund ist die Deutung naheliegend, dass Hancock an dieser Stelle der gleiche Fehler unterläuft, wie er bereits in Bauvals ›Entdeckung‹ der Korrelation zum Oriongürtel enthalten war und wie er sich schon in Lowells ›Entdeckung‹ der Marskanäle und später in Hoaglands Interpretation des Mars-Gesichts gezeigt hat: Es wird jeweils die deduktive Objektivität der Karte (oder einer als Karte gelesenen Fotografie) zu derjenigen medialen Perspektive, welche die Deutung des Präskripts in einem Transkript beeinf lusst, ohne dass diese Beeinf lussung den jeweiligen Interpreten – oder in diesem Fall: Mythopoeten – klar wäre. Hancock verrät sich dadurch, dass er sein Argument an die Möglichkeit knüpft, eine Perspektive ›oberhalb‹ des Territoriums zur Verfügung zu haben. Diese Perspektive aber gewinnt er, weil er Karten betrachtet. Hancock sitzt dem diagrammatischen Potenzial der Karte auf, auch wenn Hancock aus den Relationen, die er in der Karte sieht, im Unterschied zu Lowell, sein Narrativ nicht direkt konstruiert. Die Konstitution des Narrativs findet bei Hancock in weiteren Transkriptionen eines ursächlich bereits diagrammatischen Schemas statt: Die Anordnung von bautechnischen Konstellationen am Boden lassen sich demnach als Karten des Himmels lesen. Auf diese Schematisierung bauen Hancock und Bauval ihre weiteren Überlegungen auf. Beide Autoren unterliegen unterschwellig dem Einf luss einer Karte, die sie in sehr spekula128 Dass die ›latente‹ Bedeutung von Bildern schematisch ist, bestätigen auch die Überlegungen zu verschiedenen Stufen von Bildsemantik bei Doelker 2005, S. 258f.

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tiver Weise argumentativ auslegen und bei Hancock unzweifelhaft mythisch und religiös narrativieren. Die kritische Leistung, die in Atlantis Reborn erzielt wird, wurzelt darin, dass Hancock und Bauvals Perspektive als eine Form des analogischen Denkens rekonstruiert und vor Augen gestellt wird. Die Dokumentation rekonstruiert den epistemischen Evidenzeffekt eines diagrammatischen Denkbildes, auf den Hancock, Bauval, aber auch Hoagland und andere setzen. In Atlantis Reborn gelingt es somit, die Epistemologie in der Rhetorik der Analogie wiederzuentdecken. In Szene gesetzt wird diese szientistische Explikation diagrammatischen Denkens am Ende der Dokumentation. Durch die ironische Darstellung einer Ground-Sky-Relation zwischen dem Sternenbild des Löwen und verschiedenen Bauwerken in Manhattan wird im Rahmen der von Hancock verwendeten Bildlichkeit die Beliebigkeit von Hancocks Schlussfolgerungen anschaulich gemacht. Verbunden werden verschiedene ›Monumente‹, die sich auf Grundlage einer Karte von Manhattan zu der Konstellation des Löwen in Beziehung setzen lassen ( Abb. 72).

Abb. 72: Ground-Sky-Relation New York (TC 00:34:22). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020.

Über den Zusammenhang zwischen Witz und Diagrammatik ist in der Forschung bereits einiges geschrieben worden.129 In diesem Beispiel liegt der Witz in der Umkehrung des metaphorischen Sehens, auf das Hancock setzt. Die Ähnlichkeiten, die er und andere sehen, kann man sehen. Aber es sind höchst vage Ähnlichkeiten, die nicht das argumentative Gebäude tragen, das Hancock errichtet. Am Ende von Atlantis Reborn wird das mythische Denkbild, das Hancock hermeneutisch verstehen will und im Rahmen einer mythischen Denkform präsentiert, als eine Täuschung entlarvt, die auf einem zu spekulativen diagrammatischen Denken beruht.

129 Vgl. Wilde 2013.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

6.3.4 Diagrammatisierung in der Fernsehdokumentation Das Close-Reading eines so eng umgrenzten Gegenstandsbereichs mag als empirische Grundlage nur exemplarische Aussagekraft haben. Doch sowohl die Verwendung diagrammatischer Formen als auch ihre argumentative Kontextualisierung im Rahmen eines gesellschaftlich äußerst wirksamen, populärkulturellen Diskurses sind meines Erachtens gut geeignet, dem Beispiel eine paradigmatische Qualität für die Verwendung diagrammatischen Denkens in pseudo- bzw. parawissenschaftlichen Diskursen und ihrer medialen Repräsentation zuzusprechen. Die Beispiele sind produktiv, weil sich die Dokumentation Atlantis Reborn zu The Quest for the Lost Civilization (aber auch The Mystery of the Sphinx) ihrerseits wie ein Postskript zum Transkript verhält. Ludwig Jägers Theorie besagt ( Kap. 2.2.6), dass eine Transkription »andere Navigations-Optionen, andere Lektüren, deren Unangemessenheit sie im gleichen Maße postuliert, in dem sie dieses Postulat Legitimationsdiskursen aussetzt«,130 bereitstellt. Jede Transkription führt zu variierten Angemessenheitskriterien. Transkriptionen schaffen Möglichkeiten der Unbestimmtheit, des Zweifels, der Korrektur und des Widerspruchs – mithin Möglichkeiten, in denen Postskripte entstehen können, die das Spiel weiterer Lektüremöglichkeiten offenhalten.131 Verändert also schon die Transkription den normativen Status des Präskriptes, so verändert das Präskript wieder den Status des Transkriptes. Unbeantwortet blieb allerdings bisher die Frage, warum dies als ein dreistelliger Prozess gedacht wird. Man könnte fragen, warum das Transkript, auf das sich das Postskript bezieht, nicht einfach ein Präskript ist und das Postskript ein Transkript, warum also der Prozess nicht zweistellig ist. Die Antwort ist, dass das Postskript als ein explizierender Bezug auf das Transkript gelesen wird, das ganz ähnlich der Peirce’schen Relation des Interpretanten fungiert ( Kap. 3.1.3). Die Antwort liegt mithin in der Doppelstruktur von Fortsetzung und Auslegung. In einem Postskript wird ein Transkript als explizierendes Transkript, das normative Bedingungen erfüllen muss, verwendet: Sehr technisch gesagt: Das Postskript ist ein Transkript, in dem ein vorangegangenes Transkript nicht als reguläres Präskript behandelt wird, sondern als Transkript eines Präskripts, also inklusive des Objektbezugs des Transkripts. Während das Transkript ein Präskript so behandelt, dass es erst dem Präskript eine Gestalt gibt, wird das Transkript durch das Postskript so adressiert, dass es als dieses Transkript auf ein Präskript referiert. Postskripte richten sich also auf die Beziehung zwischen Transkript und Präskript. In dem hier vorgestellten Gegenstandsbereich ist diese Struktur auf zwei Ebenen enthalten: in der Binnenstruktur der jeweiligen Dokumentationen und im Verhältnis der Dokumentationen zueinander. Atlantis Reborn132 liefert ein Postskript, das The Quest for the Lost Civilization im Verhältnis der Dokumentationen zueinander vor dem Hintergrund der Normativität des Genres ›Dokumentation‹ als Transkript betrachtet. Die Möglichkeit, einzelne Segmente einer Fernsehsendung oder eines Films als Transkripte zu adressieren, wird bei Jäger ausdrücklich zugelassen: »Der Vorspann eines Films wird ebenso als Transkription aufgefasst wie die Darstellung einer historischen 130 Jäger 2002, S. 33. 131 Vgl. Jäger 2002, S. 33ff. 132 Und weitere, hier nicht näher diskutierte Auseinandersetzungen mit den Thesen der Alternative-History wie Atlantis Uncovered.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Theorie, welche bestimmte Quellen aus der unüberschaubaren Vielzahl von vorhandener Spuren auswählt und in bestimmter Weise interpretiert.«133 In der Binnenstruktur wird die Dokumentation als Transkript eines Präskripts adressiert, das auf einem metaphorischen Sehen beruht. Das metaphorische Sehen ist dasjenige ›Sehen‹, das aus den Diagrammatisierungen der Monumente eine Relation herausliest und diese Relation mit den Sternenkonstellationen am Firmament abgleicht. Angegriffen wird in Atlantis Reborn das kulturelle Schema einer mythisierend-spekulativen Auslegung von diagrammatischen Wahrnehmungen sowie den Modi ihrer diagrammatischen Explikation. Atlantis Reborn zeigt auf, wie aus einer Ähnlichkeitswahrnehmung im Sehen ein Schema entsteht, das mit weitreichenden Spekulationen angereichert wird. Während das narrative Potenzial, das sich an dieses Schema knüpft, in The Mystery of the Sphinx als eine Ikonisierung der Thesen vorangegangener Diagrammatisierungen in Erscheinung treten kann, weil es um ein konkretes Objekt geht, ist das narrative Potenzial in The Quest for the Lost Civilization das Ergebnis der Anreicherung einer abstrakten Relation, die zwischen zwei für sich bereits abstrakten Objekten hergestellt werden muss. Atlantis Reborn kritisiert die in The Quest for the Lost Civilization dokumentierte Form diagrammatischen Denkens als die eines über das Ziel hinausschießenden, spekulativen Möglichkeitsdenkens. Exponiert wird die Vagheit des Schemas, das von Hancock behauptet und zur Grundlage eines spekulativen Narrativs gemacht wird. Atlantis Reborn gewinnt seinen Status als Postskript, indem die Binnenstruktur derjenigen Diagrammatisierungen referiert wird, die in The Quest for the Lost Civilization enthalten sind. Die Beispiele zeigen, dass die schematisierende und die modellierende Diagrammatisierung zueinander in einer Beziehung stehen, welche die Unterscheidung zwischen Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe miteinander verschränkt. Schematisierung etabliert in der Praxis ein Schema, das in Diagrammatisierungen als Denkbild ref lexiv wird. Medientheoretisch ist in den 1990er-Jahren der Computer und die Computersoftware der neue Horizont von Diagrammatisierung in filmischen Formen. Dass diese medialen Formen von Diagrammatisierungen in einer Fernsehdokumentation gezeigt werden, ist ein dankbares Phänomen, weil derartige Dokumentationen ein Bild verschiedener Praktiken der Diagrammatisierung in einem spekulativen Feld der kulturellen Verwendung von Diagrammen zeichnen. Im Fall des Mars-Beispiels ging es darum, das Verhältnis der Transkription mit dem diagrammatischen Denken in Verbindung zu setzen. Gezeigt werden sollte, welche explikativen Funktionen Diagrammatisierungen in Transkriptionen übernehmen. Im Fall der Spekulationen um Atlantis ging es darüber hinaus darum, die Vielfalt dieser Dynamiken im Rahmen einer Fernsehdokumentation zu beobachten. Einerseits ist durch die Fernsehdokumentation eine integrale Perspektive auf verschiedene Formen der Diagrammatisierung geworfen worden. Andererseits steht diese Perspektive unter den Bedingungen der Fernsehdokumentation. Für diese Verwendung in einem Bewegtbildmedium wie dem Fernsehen sind daher systematisch verschiedene Perspektiven auseinanderzuhalten:

133 Jäger et al. 2010, S. 301.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

• die Konstitution eines Objektes durch Diagrammatisierungen (Darstellung eines Sachverhalts durch Diagrammatisierung) • eine ref lexive Darstellung der Diagrammatisierung als solcher, also der Diagrammatisierung als Objekt (Darstellung des Sachverhalts, dass in bestimmter Weise eine Diagrammatisierung stattfindet) • eine Strukturanalogie durch Diagrammatisierung in der Bildlichkeit der Fernsehdokumentation (Diagrammatisierung als Prinzip der filmischen Formensprache) Interessant sind im gegebenen Beispiel vor allem die ref lexive zweite Variante und die dritte Variante. Dabei ist es auffällig, dass eine Ref lexion auf die Praxis der Diagrammatisierung zwar sehr prominent, aber nicht erst in dem kritischen Postskript Atlantis Reborn stattfindet. Eine Objektreferenz auf Diagrammatisierungen ist bereits in The Mystery of the Sphinx und The Quest for the Lost Civilization zu finden, etwa wenn Robert Bauval gezeigt wird, wie er beim Zeichnen von Relationen und dem Anordnen von Steinen im Sand ein kleines Modell der Gizeh-Pyramiden baut. Ein zweites Beispiel ist die Szene, in der Graham Hancock vorgibt, in einer Karte von Angkor Wat die Linie einzuzeichnen, die der Sternenkonstellation des Drachen entspricht. Ein weiteres Beispiel ist die CGI-Bildlichkeit des Programms auf dem Laptop, vor dem Hancock und Bauval sitzen. Sie soll veranschaulichen, dass die Sternenkonstellationen um das 10.500 v. Chr. den Gegebenheiten der Monumente am Boden entsprechen. Eine formale Übernahme von Diagrammatisierungen in der Bildlichkeit der Fernsehdokumentation wird jeweils nur in der Präsentation der Ergebnisse in Abstraktionen, Idealisierungen und Modellierungen angedeutet. Ein Beispiel ist die Übernahme der Idealisierung der Seitenansicht der Sphinx und ihrer Erläuterung mit dem Stift durch Schoch (inhaltlich) und ihre anschließende Übersetzung in ein animiertes Modell. Die Idealisierung der fotografischen Seitenansicht der Sphinx wird von der Bildsprache der Dokumentation übernommen und diese Übernahme u.a. durch den Ausschluss des menschlichen Faktors, also des Stiftes, markiert. Ein strukturgleiches Beispiel ist die Übernahme der Abstraktion im Vergleich der Gesichtspartien der Sphinx und der Statue des Chephren. Von einer strukturellen Übernahme kann dabei (in einem schwachen Sinn) gesprochen werden, weil es jeweils zu einem Wechsel in der Art der Transkription kommt, der mit einem Wechsel auf die Metaebene des Erzählers verbunden ist. Das Kernbeispiel bleibt aber die Überblendung, in der die in der Dokumentation adressierte epistemische Evidenz sich in die epistemische Evidenz einer filmischen Form übersetzt: Was die Ägypter, so behaupten es die Mythopoeten, am Boden kognitiv an mythischem Sehen vor Augen hatten, das haben die Mythopoeten in metaphorischem Sehen vor Augen – und genau die Behauptung dieses Sehens wird per Hypotypose in der Dokumentation durch eine filmische Überblendung als subjektives Wahrnehmungsbild vor Augen gestellt. Jeweils wird durch diese Übernahmen ein Wechsel in der Medialität des filmischen Bildes notwendig. Um das Ergebnis der Diagrammatisierung zu repräsentieren, wird auf Animationen zurückgegriffen, also auf eine zwar ikonische, aber nicht mehr realfilmische Form der Bildlichkeit. In der Form der Fernsehdokumentation kommt es im Medium des Fernsehens somit zu einer erneuten Transkription: Das Präskript einer in einer Diagrammatisierung erschlossenen These, von der berichtet wird, wird in ein Transkript übersetzt, das eine Aussage der Fernsehdokumentation selbst ist. Dies ist ein Indiz, dass die Bewegtbildmedien

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Film und Fernsehen über eigene Formen der diagrammatischen Transkription verfügen. Nicht zufällig begegnet die vierte Form der Diagrammatisierung, die Modellierung, erst als digitale Bildlichkeit im Rahmen des Fernsehens, also in einem Bewegtbildmedium. Die modellierende Diagrammatisierung kommt in diesem Medium als bewegte und dynamische Ansicht eines diagrammatisch erschlossenen Zusammenhangs vor. Für die Visualisierung einer abstrahierend und idealisierend begründeten Hypothese wird auf die Bildlichkeit des Computers zurückgegriffen. Im Fernsehen kann die Verwendung digitaler Bildlichkeit rhetorisch motiviert werden, indem der Computer, wie in The Quest for the Lost Civilization, als Medium eingeführt wird, wenn eine abstrakte Hypothese aus einer Herleitung (des Einrechnens von Präzession in die Eigenbewegung des Himmels) visualisiert werden muss. Ein derartiger Wechsel von der Dimension des Objektbezugs in die Dimension der Formensprache ist aber nicht zwingend notwendig, um eine Modellierung im Fernsehen zu verwirklichen. Sie ist rhetorischer Effekt, der die Plausibilität der Bildlichkeit erhöht. Als vorläufige Beobachtung kann daher festgehalten werden, dass Formen der Diagrammatisierung in den 1990er-Jahren in Dokumentationen als ein Kontinuum von diagrammatischen Praktiken entwickelt werden – also quasi von der Skizze im Sand über die diagrammatisierten Fotografien bis zu den digitalen Modellen. Exemplarisch ist dafür die Transformation des Marsgesichts in den Löwenkopf. Dabei hat man es mit einem Prozess zu tun, in dem erst die Fotografie als Gesicht gelesen wird und dieses Gesicht in expliziten Praktiken in einen Löwenkopf transformiert wird. Das Objekt in der Fotografie ›gleichsam als Gesicht‹ zu sehen ist die erste Metapher, die auf Grundlage einer Überblendung das Schema eines Gesichts über das fotografische Objekt legt und so die Gestalt des Gesichtes erkennt. Die zweite Metapher besteht darin, das ›Gesicht gleichsam als Löwe‹ zu sehen. Dies ist im vorliegenden Kontext bemerkenswert, weil der erste Prozess ein Prozess ist, der in Wahrnehmung vollzogen wird, dann in verschiedenen Formen der Diagrammatisierung normativ stabilisiert wird, der zweite Prozess hingegen auf einer komplexen Praxis der digitalen Bildtransfiguration beruht. Verdeutlicht wird die Bedeutung des metaphorischen Sehens, also der Schematisierung, speziell für die Bildlichkeit der Modellierung. Wenn auch die Endprodukte dieser Praktiken nicht immer so deutlich den Status einer Metapher haben, wie es in diesem Beispiel der Fall ist, so wird dennoch ein Szenario modellhaft ›als ob‹ gesetzt. Dieses modellhafte ›als ob‹-Setzen, wie z.B. im Beispiel der hypothetischen Vorform der Sphinx, muss keine Metapher sein. Aber die metaphorische Überblendung scheint als diagrammatische Operation besondere Bedeutung für die Modellierung und damit die ab 1990er-Jahren immer rapider vollzogene Digitalisierung des Films zu haben. Durch dieses Kontinuum aus Transkriptionen ist aber auch ein Wechsel im Register der Argumentation einer Dokumentation angezeigt. Die erläuternde Narration geht in eine Explikation über. In Atlantis Reborn wird diese Tatsache in Form der Überbietung der Transkripte von The Quest for the Lost Civilization in Präskripten herausgearbeitet. Was in Atlantis Reborn angegriffen wird, ist das Phänomen, dass das spekulative Narrativ von The Quest for the Lost Civilization sich durch explizite Diagrammatisierungen Plausibilität verleiht, diese Plausibilität aber auf Grundlage der verwendeten Diagrammatisierungen nicht besitzt. Diese Beobachtung lässt nicht nur für das Genre der (Fernseh-)Dokumentation eine entscheidende Lücke offensichtlich werden. Ebenso ist die Situation denkbar,

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

dass die Bildlichkeit des audiovisuellen Mediums Fernsehen (bzw. Film) nicht auf eine andere Bildlichkeit referiert (wie in den vorliegenden Beispielen), sondern andere formale Konstellationen findet, um Diagrammatisierungen zu realisieren. Digitale Verfahren der Bildproduktion, insbesondere der Animation, sind dafür ein entscheidender Faktor. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass die kritische Rekonstruktion der Diagrammatisierungen in The Quest for the Lost Civilization durch Atlantis Reborn beiläufig den entscheidenden Punkt eines solchen formalen Experimentes herausgearbeitet hat. Die rhetorisch wirksamsten Passagen in Atlantis Reborn sind diejenigen, in denen die mangelnde Plausibilität des durch Diagrammatisierungen stabilisierten Denkbildes offengelegt wird, welches Hancock aus seiner Schematisierung der historischen Bauwerke herausliest. Man mag also über die Auswahl eines etwas verschroben anmutenden Gegenstandsbereichs zur Illustration von Aspekten der medialen Dimension von Peirces Diagrammatik irritiert sein. Aber im Kontrast zwischen dem hier analysierten pseudo- bzw. parawissenschaftlichen und dem wissenschaftlichen Denken hat das Beispiel zeigen können, dass die Theorie von Peirce stimmt: Es gibt diagrammatische Denkbilder, die sich ref lexiv auf Schemata beziehen und in explikativen Praktiken der Diagrammatisierung zur Grundlage von Schlussfolgerungen und Narrativierungen werden. Medientheoretisch unterstreichen die Beispiele, dass im Kontinuum der Diagrammatisierungen die Überblendung ein Basismechanismus des Denkbildes ist. Was sich in der ›Überfaltung‹ andeutet, wird in zwei weiteren Beispielen veranschaulicht: In The Mystery of the Sphinx tritt die Überblendung in einer Abstraktion auf, in der die fiktive Gestalt der Löwenform der Sphinx in eine diagrammatische Darstellung der Sphinx projiziert wird. In The Atlantis Reborn ist die Überblendung der Modus, der verwendet wird, um in einer Karte die Divergenz zwischen den in die Karte eingezeichneten Relationen und der Konstellation des Drachen zu zeigen. Jeweils wird also durch die Überblendung erst das Denkbild explizit und dann dasjenige Schema ref lexiv, das in einem Fall für die spekulative Deutung, im anderen Fall für die Kritik eben dieser Bedeutung herausgearbeitet wird.

6.3.5 Konsequenzen und Übergang Historisch gesehen explizieren Diagramme elementare kulturelle Schemata, etwa die Zentralperspektive.134 Die Beispiele des mythischen Analogisierens aus dem Marsdiskurs sind wahrlich keine derart grundlegenden Schemata. Aber innerhalb des Alternative-History-Diskurses sind sie der kohärente Ausdruck einer vorgängigen diagrammatischen Praxis, in der metaphorisches Sehen in Abstraktionen stabilisiert, zu eidetischen Objekten idealisiert und zu neuen Narrativen modelliert wird. Diagrammatisierung ist im Fall der Produktion diskursiver Evidenz ein Prozess der Konstitution und Legitimation eines eidetischen Objektes, das in den Transkriptionen ›explizit‹ im Sinne analytischer Objektivierbarkeit wird. Das regulative Ideal der verschiedenen Formen von Diagrammatisierungen besteht darin, das eidetische Objekt als transparentes Ideal-Objekt zu extrapolieren und zu variieren. Dieser Vorgang lässt sich anhand der abstrahierenden Auslegung einer Fotografie über die idealisierende Funktion von Diagrammen derartiger Ideal-Objekte bis hinein in die Beispiele der 134 Vgl. Bogen 2005a, S. 171.

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Fernsehdokumentationen verfolgen. Der Trend geht in Richtung der Herstellung von Hybridbildern, die als Korrelate von kognitiven Überblendungen erscheinen. Was in theoretischen Begriffen wie »Operationsraum« (Sybille Krämer) und auch »symbolischer Probehandlung« (Hartmut Winkler) vorgedacht wurde, bestätigt sich hier: Diagrammatisierungen von Zeichen, in diesem Fall von Bildern, dienen dazu, im Bild eine »zweite künstliche Welt parallel zur wirklichen Welt zu errichten, das Bild einer möglichen Welt, das mit der wirklichen dennoch einige Regeln der Hervorbringung gemein haben soll«, wie Steffen Bogen schreibt.135 In den aufgezeigten Beispielen steckt das Diagrammatische in der Transkription von Zeichen in einen ›top-down‹ beobachtbaren und somit ›deduktiv‹ bearbeitbaren Raum, dessen Materialität allerdings nicht unbeachtet bleiben darf.136 Die ›Rhetorizität‹ von Diagrammatisierungen entsteht gerade dann, wenn Diagrammatisierung Differenzen zwischen semiotischen und technischen Formen von Medialität nutzen. Medialität macht einen Unterschied für die Verfahren von Explikation und folglich auch Evidenzerzeugung. Die medientheoretische Situierung von Diagrammatisierungen ist am Beispiel der Transkription von Bildern gut beschreibbar. Die rhetorische Autorität von Diagrammatisierungen steckt in ihrer Rolle als Konstitutions- und Legitimationspraktiken eidetischer Objekte. Als explizierende Praktiken, die andere Praktiken auslegen, indem sie zwischen medialen Grenzen wie denen zwischen Bild und Sprache übersetzen, sind Diagrammatisierungen als Transkriptionen immer auch Aushandlungen an den Grenzen der jeweiligen Medien. Wenn sich auf Ebene semiotischer Medialität, etwa aufgrund technischer Medialität (z.B. Unschärfe oder Auf lösung eines Bildes), kognitive Irritationsmomente einschreiben, erscheinen Diagrammatisierungen als bevorzugte Praktiken, um ›operativ‹ eine Klärung zu erwirken. Was an Diagrammatisierungen in der Kreativität des alltäglichen ›Investigierens‹ beginnt, gewinnt in hochspekulativen Diskursen wie der Alternative-History an Dynamik, weil sich hier eine doppelte Vertrauenskrise in Kommunikation fortschreibt. Technische Medien irritieren die semiotische Seite von Medialität etwa dadurch, dass Fotografie Objekte ›zufällig‹ mitabbildet, dieser Zufall dann aber wieder Gegenstand technischer Bearbeitungen wird. Wie in den skizzierten Beispielen zu beobachten ist, etablieren Diagrammatisierung dabei zwei mediale Bezugsrichtungen: Zum einen stabilisieren sie nach ›Innen‹ ein eidetisches Objekt – im vorliegenden Fall etwa Diskussion rund um das Motiv des jeweiligen Gesichtes (Marsgesicht, Gesicht der Sphinx). Zum anderen aber wird durch die in der Diagrammatisierung als Explikation aufgebaute Distanz zum Objekt eine Referenz auf das ›Außen‹ der Praktiken medialer Transkription markiert, also auf die medialen Praktiken der Verfertigung der Explikation. Auf diesen medientheoretischen Aspekt zielt der Begriff des supplementären Charakters von Diagrammatisierungen.137 Nicht unähnlich Derridas Konzept (aber ohne dessen metaphysikkritische 135 Vgl. Bogen 2005a, S. 169. 136 Als Bildpraxis ist die Bedeutung der Diagrammatik für eine Handlungstheorie des Bildes vielleicht bisher unterschätzt worden. Vgl. zu dieser Diskussion bereits Kjörup 1974; Kjörup 1978; Kjörup 1989; sowie Seja 2009. 137 Hier wird auch noch einmal deutlich, dass das ›Supplementäre‹ etwas anderes ist als das bei Wöpking (2016, S. 24f.) diskutierte ›Surrogative‹ ( Kap. 5.4.3). Das ›Surrogative‹ bezieht sich auf eine epistemologische Funktion, das ›Supplementäre‹ auf eine mediale Rolle.

6. Diagrammatisierung als mediale Transkription

Überformung) ist diese supplementäre Funktion einerseits darin zu sehen, dass durch diagrammatische Zeichenhandlungen ein ›Operationsraum‹ für Explikation etabliert wird, die Operationen selbst aber hinter einem mit der Explikation verbundenen Evidenzeffekt zurücktreten. Die zwar oft belächelten, aber weder harmlosen noch naiven oder gar gesellschaftlich irrelevanten pseudo- bzw. parawissenschaftlichen Verfahren, die diskutiert wurden, werfen damit die generelle Frage nach der Verschränkung von Diagrammatisierung und Evidenz auf. Die Durchdringungen verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche mit medialer Kommunikation, so vermutet Ludwig Jäger mit Niklas Luhmann,138 irritiert, weil Kommunikation nicht nur ausgedehnt wird, sondern weil die Zurechnung auf die Frage, wie eine Kommunikation gemeint ist und welchen Zweck sie erfüllt, immer schon eine sehr riskante Schlussfolgerung ist. Vertrauenskrisen sind auch Krisen der Legitimität, etwa des Geltungsanspruchs der Wissenschaft oder des Journalismus. In seiner Weiterführung von Ludwig Jägers evidenztheoretischem Ansatz ( Kap. 2.2.7) argumentiert deshalb Rolf Nohr, dass nicht zuletzt deshalb von einer »unmöglichen Evidenz« auszugehen sei.139 Für Nohr liegt dies in der Unmöglichkeit rein geistiger, intellektueller Anschauung begründet.140 Nohr zeigt auf, wie diskursive Evidenz erzeugt wird. Dazu gehören nach Nohr die Suggestion einer Materialität des Symbolischen, die Behauptung von Unhinterfragbarkeit, die Naturalisierung der eigenen rhetorischen Operationen und der Auf bau institutionalisierter Sprecherrollen, der den Charakter einer Zeigehandlung hat.141 Einige dieser Prozesse kann man in den hier diskutierten Beispielen sehr gut nachweisen, etwa den Auf bau institutionalisierter Sprecherrollen oder die Behauptung von Unhinterfragtheit.142 Allerdings verdichten sich auch die Hinweise, dass man mit einer am Konstruktivismus geschulten Skepsis in der gegenwärtigen Lage nicht wirklich weiterkommt. Angesichts von wuchernden Verschwörungstheorien und verlorengegangener Geltung von Fakten hat Bruno Latour mit Nachdruck eine »Rückkehr zur realistischen Haltung«143 gefordert und, unter anderem mit Referenz auf William James, für ein Abrüsten des dekonstruktivistischen und diskursanalytischen Arsenals der Repräsentationskritik argumentiert.144 Folgt man Latour, dann reicht es nicht aus, auf Ebene diskursiver Evidenz die Produktionsprozesse von intermedialen ›Möglichkeitsüberschüssen‹ in den Medien geltend zu machen. Vielmehr müssen immer auch die pragmatischen Bedingungen von Evidenz und Explikation durchdacht werden. Lässt sich Diagrammatik auf ein derartiges Programm verpf lichten, dann – betrachtet man die oben beobachteten Phänomene – verschärft sich dieses Problem durch den digitalen Medienwandel. Aus der Tatsache, dass im Entstehungszeitraum der hier diskutierten Beispiele die digitale Bildbearbeitung an Bedeutung gewinnt145 – sinnfällig etwa in der »Überfaltung« – kann man umgekehrt aber auch kein grundsätzliches Argu138 Vgl. Jäger 2006, S. 40f. 139 Nohr 2012, S. 41. 140 Vgl. Nohr 2012, S. 41. 141 Vgl. Nohr 2012, S. 48f. 142 Vgl. auch Nohrs (2002) Studie zu Karten im Fernsehen. 143 Latour 2007, S. 22. 144 Vgl. Latour 2007, S. 49ff. 145 Vgl. Mitchell 1992.

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ment dafür ableiten, dass jetzt die Diskussion von ›digitalen Medien‹ die Lösung aller Probleme ist. Die Pointe ist vielmehr, dass sich Praktiken der Explikation unter veränderten medialen Bedingungen fortschreiben. Die Frage ist also, wie grundlegend sich diagrammatische Praktiken der Explikation wandeln, ja ob nicht sogar durch digitale Medien Formen der Explikation entstehen, die, wie Lev Manovich mit seinem Begriff einer »direct visualization« argumentiert hat,146 weitestgehend auf die Verwendung diagrammatischer Variablen verzichten können. Vilém Flussers eingangs des Kapitels erwähnte These, die Medialität von Techno-Bildern in Karten und diagrammatischen Blueprints zu vermuten, würde dem widersprechen. Mit Flusser wäre stattdessen zu überlegen, ob die Diagrammatik so etwas wie die privilegierte Erkenntnistheorie einer »Neuen Einbildungskraft«147 des digitalen Zeitalters ist. Als essayistischer Gedanke ist das nicht ohne Reiz und innerhalb des Diagrammatik-Diskurses auch nicht ohne Vorbild.148 Assoziativ legt Flusser die Möglichkeit nah, dass sich an die medientheoretische Erforschung der Diagrammatik die Chance knüpfen könnte, jener neuen Einbildungskraft weiter auf die Spur zu kommen. Diagrammatik wäre eine für die digitale Medienkultur elementar wichtige Theorie – analysierbar etwa anhand der Frage, wie in Explikationen Evidenz erzeugt wird. Wenn man so argumentiert, dann ist aber auch zu betonen, dass dies nicht vor dem Hintergrund der Annahme geht, dass durch die digitalen Medien die Bedingungen von Explikation und Evidenz grundsätzlich ›neu‹ sind. Angenommen werden muss vielmehr Verschiebung bekannter Kontexte, die von den Kontinuitäten bestimmter explikativer Grundpraktiken der »visuellen Wissensproduktion« (Johanna Drucker) her argumentiert. Dies scheint speziell auch für den Blick auf audiovisuelle Bewegtbildmedien und Praktiken diagrammatischer Explikation zu gelten – zumal dann, wenn man mit Lev Manovich im Film eine entscheidende Ressource der Medienästhetik der ›digitalen‹ Medienkultur sieht.149 Wurde in den diskutierten Beispielen etwa auf die Querbezüge zwischen der Interpretation von Karten und Fotografien zu Fernsehdokumentationen und ihren Animationen hingewiesen, so lässt sich diese Perspektive auf weitere Aspekte des Mediums Films ausdehnen. Eine Brücke liefert die Herangehensweise über metaphorische Inferenzen. Ihre durch ›Image schemas‹ manifestierte diagrammatische Logik hat sich unterschwellig in einer bemerkenswerten Form in den bisherigen Gegenstandsbereichen manifestiert. Mit der Überblendung ist eine Operation benannt, deren spatiale Form nicht nur im engeren Sinne raumlogisch auf Ebene von Diagrammatisierungen zweiter Stufe von großer Bedeutung ist, sondern – fasst man sie als eine Form von materialer Inferenz ( Kap. 2.1.2) – insbesondere auf Ebene der in den vorliegenden Überlegungen primär diskutierten Diagrammatisierungen erster Stufe. Fortgeführt wird deshalb im Folgenden die Perspektive, die Diskussion von Diagrammatisierungen als explikativer Transkription insofern nah an den Gegenständen zu orientieren, als es in diesen Transkriptionen um zu explizierende ›Objekte‹ geht. Allerdings führt der Fokus auf perzeptive Aspekte von Diagrammatizität und Diagrammatisierungen erster Stufe zu einem anderen und sehr viel bereiteren Gegen146 Vgl. Manovich 2010. 147 Vgl. Flusser 1990. 148 Vgl. Bogen/Thürlemann 2003, S. 3ff. 149 Vgl. Manovich 2001.

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standsbereich, als in dem Moment, in dem man zum Beispiel eine diagrammatische Explikation zweiter Stufe von Filmen selbst zum Thema macht.150 Solche Formen der diagrammatisierenden Transkription von quantitativen Aspekten des Films, etwa ›Vermessungen‹ des Films im Rahmen der ›Digital Humanities‹, sind nicht Gegenstand der weiteren Überlegungen. Das heißt nicht, dass sie nicht als Gegenstand einer »Diagrammatik des Films« dienen können, ganz im Gegenteil sogar, bietet doch gerade die Geschichte der diagrammatischen Vermessung des Films auch eine Möglichkeit zu einer Thematisierungen der Möglichkeiten und Grenzen solcher Verfahren.151 Dennoch soll hier ein anderer Weg eingeschlagen werden und aus der Diskussion von Diskursen der Datenvisualisierung einen Impuls mitgenommen werden, der auch im Filmanfang von Minority Report anklingt: Die Geschichte der visuellen Wissensproduktion ist, wie Johanna Drucker betont hat,152 immer auch die Geschichte der Interfaces, die einen Zugang zu und eine Nutzung von Visualisierungen ermöglicht haben. Anhand von Fallstudien, die verschiedene Einzelbeobachtungen zur Diagrammatik im Film bieten, soll diesem Ansatz im Folgenden nachgegangen werden.

150 Das ist eines der Themen in Manovich 2010, S. 16ff. 151 Vgl. etwa den auf die neuere Forschung gestützten Überblicksartikel von Wittmann 2017, hier insb. S. 6ff. Eine solche »Diagrammatik des Films« ist am Übergang von Diagrammatisierungen erster Stufe zu Diagrammatisierungen zweiter Stufe angesiedelt. 152 Vgl. Drucker 2014.

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7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm Lässt man sich von dem Gedanken leiten, Diagrammatisierungen als transkriptiv und darin als explikativ zu verstehen, kommt die Anwendung der Diagrammatik ›als solcher‹ (welche spezifische Diagrammatik denn auch?) auf das Medium Film nicht in Frage. Diagrammatik kommt immer nur fallweise und abhängig von dem gesamten Spektrum der verschiedenen Möglichkeiten diagrammatisierender Transkriptionen ins Spiel. Dementsprechend sind über die Jahre ganz verschiedene Ansätze zum Zusammenhang von Diagrammatik von Film vorgelegt worden. Exemplarisch hinzuweisen ist auf die Ansätze von Matthias Bauer, Karl-Dietmar Möller und Joachim Paech.1 Bauer greift die Untergliederung des ikonischen Objektbezugs des Zeichens in Bild, Diagramm und Metapher auf und verbindet dies mit dem Deleuze’schen Konzept des »mentalen Bildes«.2 Anhand einer Schlüsselszene aus Ryan’s Daughter (1970) zeigt er, inwieweit sich die Diagrammatik für die Analyse eines expliziten Schlussfolgerungsprozesses nutzbar machen lässt.3 Einen anderen Ansatz beschreitet Möller. Er beobachtet diagrammatische Zeichen bei der Markierung von Bezugspunkten in den Blickstrukturen von Point-of-View-Shots, also in der Grammatik der Filmsprache. Als diagrammatisch gelten die Valenzverhältnisse innerhalb von Point-of-View-Relationen. Paech schließlich argumentiert mit der Filmphilosophie von Gilles Deleuze, dass die Logik der Entfaltung des Bewegungsbildes eine ›diagrammatische‹ sei. Mit Ausnahme weniger Motive und Theoriereferenzen haben die Zugänge wenig gemeinsam. Möller geht es um die Grammatik der Filmsprache. Die Bedeutung diagrammatischer Zeichen wird formal auf Ebene der Filmsprache gesehen. Der Ansatz steht in der Tradition der Filmsemiologie der 1970er-Jahre. Paech hingegen argumentiert über das Filmdispositiv und betont die diagrammatischen Wurzeln des Films in der Reihenfotografie. Im Unterschied dazu ist Bauers eher filmphilosophischer Ansatz auf die filmische Inszenierung eines Denkprozesses ausgerichtet. Durch ihre Fokussierung auf die ›subjektive Wahrnehmung‹ (Möller), ›explizites Denken‹ (Bauer) und strukturelle Entfaltung des Films (Paech) zeigen die Ansätze aber Möglichkeiten der Adaption der Diagrammatik für die Analyse audiovisueller Bewegtbildmedien auf. Inzwischen ist auch die neuere medienwissenschaftliche Diagrammatik-Diskussion in der Filmwissenschaft angekommen, exemplarisch kann man auf einen guten 1 Vgl. Bauer 2006; Möller 1979; Paech 2002, S. 133ff. 2 Vgl. Deleuze 1989, S. 264ff., hier insb. S. 272ff., siehe im weiteren Kontext auch Ernst 2010. 3 Erneut aufgegriffen worden ist das Beispiel in Bauer/Ernst 2010, S. 196ff. Ich werde es im Folgenden ebenfalls noch einmal diskutieren.

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Überblicksartikel von Matthias Wittmann verweisen.4 Das Problem bleibt aber bestehen. Es gibt nicht nur eine Heterogenität dessen, was als Diagrammatik verstanden und am Film beobachtet wird, sondern was als ›Diagrammatik‹ akzeptiert wird, hängt auch an der zusätzlichen Variablen der jeweiligen filmtheoretischen Bezugsüberlegungen. Um das Feld der Filmtheorie zumindest in einer sehr groben Form zu sortieren, reicht für den vorliegenden Zweck eine mit Warren Buckland vorgenommene Unterscheidung. Demnach kann die Filmtheorie in eine erste Phase der ontologischen bzw. klassischen Filmtheorie, eine zweite Phase semiologischer bzw. moderner Filmtheorie und eine dritte Phase kognitiver Filmtheorie unterteilt werden.5 Während die klassische Filmtheorie (u.a. Siegfried Kracauer, Rudolf Arnheim, Béla Balázs etc.) – folgt man hier Buckland – sich »extensional« um eine ontologische Bestimmung der Relation des Mediums Film und der Welt bemüht und von einer mimetischen Relation des filmischen Bildes zur Welt ausgeht (seiner ›Realität‹), widmet sich die moderne Filmtheorie unter dem Eindruck der strukturalistischen Semiologie (und ihrer Weiterführungen wie der Psychoanalyse) »intensional« den Zeichentypen und Codes, nach denen filmische Bilder organisiert sind (Christian Metz, Laura Mulvey, Roger Odin, Slavoj Žižek etc.). Die dritte Phase ist durch die kognitive Filmtheorie repräsentiert. Kritisiert wird in dieser Phase die ideologiekritische oder psychoanalytische Deutung von Film im modernen semiologischen Paradigma. Die kognitive Filmtheorie setzt auf eine Revitalisierung der Betrachtung der filmischen Formensprache und ihrer Relation mit kognitiven Strukturen (David Bordwell, Kristin Thompson, Noël Carroll, Edward Branigan).6 Überdies wäre zu überlegen, ob sich eine vierte Phase der Filmtheorie herausgebildet hat, die man mit dem Aufstieg der Filmphilosophie kennzeichnen kann (u.a. ausgehend von Gilles Deleuze). Im vorliegenden Kontext besonders interessant ist die Diskussion zwischen Semiotik und Kognitionstheorie im Rahmen einer (von Buckland ebenfalls angestrebten) »Kognitiven Semiotik« des Films.7 Dieser Linie möchte ich folgen und allgemeine medienästhetische Überlegungen zur Diagrammatik als Überbau verstehen, unter dem auch Fragen der Filmästhetik verhandelt werden können. Im Folgenden wird dazu Johanna Druckers neuere Positionsbestimmung von diagrammatischen Formen der visuellen Wissensproduktionen aufgegriffen. Druckers Perspektive auf die Diagrammatik auf den Spielfilm zu beziehen, ist gewinnbringend, weil sie dem Film im Kontext ihrer Theorie einer »diagrammatic interpretation« eine mehr oder weniger unbedeutende Rolle zuspricht. Der Schwerpunkt von Druckers Analysen liegt auf den Beziehungen zwischen diagrammatischer Informationsvisualisierung und Interfacetheorie. Die Frage ist jedoch, ob hier nicht eine, anhand des Beispiels aus Minority Report gewissermaßen symptomatisch benennbare, Lücke bleibt, die für das Verhältnis von Medien- und Filmästhetik der Diagrammatik bedeutsam ist. 4 Vgl. Wittmann 2017. 5 Vgl. Buckland 2007, S. 1ff., hier insb. S. 3. Diese Phasen sind nicht als kontinuierliche Entwicklung neuer Fragestellungen, sondern als Akzentverlagerungen zu verstehen, die sich jeweils relativ zu herrschenden theoretischen Paradigmen und nicht selten auch zu Erkenntnissen anderer Fächer etabliert haben. 6 Vgl. zu einer Diskussion der Geschichte und Phasen der Filmtheorie auch Albersmeier 2003, S. 3ff. 7 Sich von der Theorie nicht-verkörperter Schemata in der Filmtheorie abzuwenden, ist das Programm von Buckland 2007, S. 26ff. Der Ansatz lässt sich als modernisierte Variante älterer Überlegungen zur kognitiven Filmpsychologie lesen. Vgl. Ohler 1994.

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Um diese Lücke zu identifizieren, lässt sich Druckers Begriff einer »diagrammatic interpretation« aufgreifen und unter Rückgriff auf Alexander Galloways medienästhetischen Begriff des »Intrafaces« kritisieren. Deutlich wird auf diese Weise, dass ein Bezugsphänomen, um Praktiken der Diagrammatisierung im Film zu beobachten, im Kontext von Überlegungen zur Filmtheorie der Metapher gefunden werden kann (Kap. 7.1). Anschließend wird anhand heterogener Beispiele diskutiert, inwiefern Diagrammatik (im hier vertretenen Sinne) und Metaphorisierungen von Denken im Film zusammenspielen. Dabei kommen sowohl solche Formen zur Sprache, in denen das Innere eines schlussfolgernden Bewusstseins gezeigt wird, wie auch solche, wo das nicht der Fall ist (Kap. 7.2). Der Ansatz gibt so Einblicke in Phänomene, die man mit Gilles Deleuze als eine stärker auf die menschliche Sinneswahrnehmung bezogene Epistemologie des »Bewegungsbildes« nennen könnte – also quasi Einblicke in das Feld des von Phänomenen der »Verkörperung 1« ( Kap. 2.1.3).8 Wesentlich sind dabei sogenannte ›Szenen der Explikation‹. Szenen der Explikation sind solche Szenen und Sequenzen, in denen – ausgehend von Momenten der Verbindung von Wahrnehmung und Denken – durch verschiedene Varianten von Diagrammatisierung eine verräumlichende Explikation eines problematischen Objektes (Dinge, Sachverhalte etc.) vorgenommen wird, an die sich Evidenzeffekte koppeln. Diese Evidenzeffekte ergeben sich aus Standardformen der Metaphorisierung von Denken, die sowohl als Binnenperspektive des Bewusstseins als auch als ein Denken mit dem Film konzipiert sein können.9

7.1 Diagrammatische Interpretation und Film In ihrer bemerkenswerten Geschichte visueller Wissensproduktion bewegt sich Johanna Drucker auf Grundlage medientheoretischer Voraussetzungen, weil sie Informationsvisualisierungen als ein Problem des Interfaces begreift.10 Den Rahmen für diese Einschätzung bildet ein weit gefasster Interface-Begriff, der im Englischen leichter zu verstehen ist als im Deutschen (aktivisch als ›interfacing‹ bzw. ›to interface with something‹): »What is an interface? If we think of interface as a thing, an entity, a fixed or determined structure that supports certain activities, it tends to reify in the same way a book does 8 Vgl. Deleuze 1989; Deleuze 1991. Das heißt nicht, dass eine weiterführende Perspektive, die den Bezug zum Körper nicht zentral setzt und stattdessen die autonome Eigenlogik des Mediums Films betont, also eher in Richtung einer »Verkörperung 2« argumentiert ( Kap. 2.1.3), nicht möglich und sinnvoll wäre. Allerdings erlaubt wohl nur eine klar funktionalistische Lesart der Peirce’schen Diagrammatik einen solchen Übergang in Formen diagrammatischer Zeit-Bilder, wie sie etwa in der Deleuze’sche Filmphilosophie angelegt sind. Ein Stück weit in diese Richtung geht bereits Wentz 2017; siehe im weiteren Kontext auch Ernst 2010. 9 Vgl. zur Bedeutung der Szene als wesentlicher Einheit der Analyse im Kontext filmischer Metaphern auch Müller/Kappelhoff 2018, hier S. 44. 10 Vgl. Drucker 2014, zum Interface insb. S. 138ff. Druckers Ansatz orientiert sich dabei an der seit ca. 2000 ausformulierten Idee, dass User-Experience-Design immer aus dem Zusammenspiel von Interface-Design und Informations-Design entsteht. Vgl. Garrett 2012. Vgl. zum Interface auch Galloway 2012, insb. S. 25ff., Hookway 2014.

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in traditional description. But we know that a codex book is not a thing but a structured set of codes that support or provoke an interpretation that is itself performative. Interface theory has to take into account the user/viewer, as a situated and embodied subject, and the affordances of a graphical environment that mediates intellectual and cognitive activities.« 11 Und an anderer Stelle: »Interface [is, CE] a dynamic space, a zone in which reading takes place. […] Interface, like any other component of computational systems, is an artifact of complex processes and protocols, a zone in which our behaviors and actions take place. Interface is what we read and how we read combined through engagement. Interface is a provocation to cognitive experience.« 12 Druckers Verschränkung eines Wissen-Wie und eines Wissen-Was folgt der Unterscheidung zwischen »knowing-how« und »knowing-that« bei Gilbert Ryle ( Kap. 2.1.2. u. 2.2.4). Mit dem Hinweis auf das »engagement« bricht Drucker überdies eine Lanze für eine ›humanistische‹ Perspektive auf Interfaces.13 Auf Grundlage ihres Interface-Begriffs versucht sie, technizistische Auffassungen von Interface zu kritisieren, wie sie etwa dem kommerziellen Verständnis des Users und der User Experience zugrunde liegen. Stattdessen argumentiert Drucker dafür, einen zweidimensionalen Begriff der Gestaltung verräumlichter Elemente, wie er aus Techniken der Informationsvisualisierung bekannt ist, als Grundlage einer Theorie der neueren – im Kontext der Forschung zur Human-Computer-Interaction entwickelten – Graphical User Interfaces in der digitalen Medienkultur zu betrachten.14 Visualisierungspraktiken, die ursprünglich aus dem Kontext der Schrift- und Buchkultur stammen, sollen im Kontext von veränderten Bearbeitungs- und Interaktionsmöglichkeiten digitaler Medien analysiert werden. Einher geht damit eine Erweiterung des Fokus auf Interfaces, der nunmehr auch den Operationsraum der Interfaces digitaler Medien einschließt: »[…] we may move back and forth between a notion of mise en page as design of composition, format features, graphical elements in electronic and print media, and a notion of mise en scene or mise en systeme as an environment for action.«15 In diesem Kontext avanciert die Praxis eines »diagrammatic reading« und eines »diagrammatic writing«,16 die beide auf einem »diagrammatic model of interpretation«17 auf bauen, zu einer elementaren Praxis im Rahmen einer Mediensemantik des Interfaces.18 Insbesondere macht Drucker geltend, dass die Wahrnehmung ver11 Drucker 2011, S. 8. 12 Drucker 2011, S. 9. 13 Vgl. Drucker 2014, S. 176ff. 14 Vgl. Drucker 2014, S. 139ff. 15 Drucker 2014, S. 139. Vgl. auch Drucker 2013a, S. 94ff. 16 Drucker 2013a. 17 Drucker 2011, S. 7. 18 Vgl. Drucker 2013c, S. 218: »In addition to dissecting the reading of interface, we must create theoretical frameworks for discussing reading as interface.«

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räumlichter Beziehungen in ihrer Funktion für die Konstitution von Bedeutung bisher unterschätzt wurde, sich aber durch den Medienwandel ändert. Demnach war die Verkörperung von »content« in »graphical codes« nie eine rein formale oder syntaktische Angelegenheit, sondern immer »quasi-semantic«.19 Auf diese Dimension bezieht sich das Interface. Gemeint ist mit diesem ›Quasi-Semantischen‹, dass der Auf bau kontextualisierender Verständnisrahmen in technischen Interfaces und der praktische Umgang mit ihnen als ›diagrammatisch‹ aufzufassen sind.20 Allerdings ergibt sich hinsichtlich der Rolle der Kognition eine gewisse Spannung in der Argumentation von Drucker. Drucker beginnt ihre Überlegungen bei einem eher eng gefassten Begriff von Diagrammatik und argumentiert, dass der weit gefasste Begriff von Diagrammatik, wie er etwa bei Peirce zu finden ist, zwar der Schlüssel zu einer Theorie diagrammatischer Bedeutung sei, allerdings durch eine stärker gebrauchsorientierte Perspektive ergänzt werden müsse.21 Gleichzeitig aber finden sich bei Drucker sehr weit reichende Annahmen über jene kognitiven Leistungen, die als ›semantisch‹ (bzw. »quasi-semantic«) angesehen werden. Bezeichnet werden damit nämlich nichts weniger als die ›diagrammatischen‹ Fähigkeiten zur Synthetisierung von Beziehungsverhältnissen zwischen heterogenen Elementen: »Nonetheless, our cognitive ability to make correlations is staggering. We make sense of one piece of information or experience in relation to another, stitching fragments of what are graphically related elements together into a narrative, or making our way through unrelated fragments until some chain of compelling connections captures our attention. We expect the elements in a story to mesh, and the conventions of the comic book, or graphic novel, like those of a film or video, assist those expectations. But in the graphically complex multimedia environment of the web, no pre-existing narrative organizes our task of correlation. We are constantly in the frame jumping state that disorients the reader, trying to create relations across varied types of material – images, videos, maps, graphs, texts, and the many structuring elements of layout and format that organize the graphic environment.«22 Somit stellt sich die Frage der Grenze zwischen engen und weiten Begriffen von Diagrammatik. Und wieder einmal wird die Rolle der Kognition zum Problemfall: Inwieweit muss die Kognition als Voraussetzung enger gefasster Begriffe von Diagrammatik beachtet und eingebunden werden? Das Bezugsproblem dieser Frage ist die Rolle des Interfaces. Druckers prozessualer Interface-Begriff zielt zunächst darauf, vor allem die semiotischen und materiellen Aspekte in die Analyse einzubinden:

19 Drucker 2011, S. 9. 20 Vgl. Drucker 2011, S. 10. 21 Vgl. Drucker 2013a, S. 86, hier auch S. 88. Drucker macht klar, dass sie sich diesen Übergang zwischen beiden Perspektiven keineswegs als bruchlos denkt: »Still, the parallel between a metaphysical approach to diagrams, with the emphasis on the structuring principles of representation, knowledge, and form, and the practical application of diagrammatic activity, should be understood as a resonant rhyme, not a relation of identity.« 22 Drucker 2011, S. 4.

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»An interface is not so much a ›between‹ space as it is the mediating environment that makes the experience, a ›critical zone that constitutes a user experience‹. I don’t access ›data‹ through a web page; I access a web page that is structured so I can perform certain kinds of queries or searches. We know that the structure of an interface is information, not merely a means of access to it.«23 Unterbestimmt bleibt allerdings, wie die semiotischen und die materiellen Aspekte des Interfaces jene »cognitive provocation« auslösen sollen, die als »quasi-semantic« erachtet wird. Bei Drucker finden sich dazu eher vage Hinweise auf Schlagwörter aus dem Kontext der 4E-Theorien, so etwa auf Situierung und Embodiment ( Kap. 2.1.3). Einer näheren Diskussion weicht Drucker aus. So vermerkt sie kritisch: »But recognizing embodiment only gives us a place from which to begin thinking about cognitive processing, it does not supply a basis for a theory of interface.«24 Dieser Einwand ist insofern problematisch, als die Formulierungen eines prozessualen Interface-Begriffs genau nicht auf eine verkürzte Perspektive der 4E-Theorien hinweist. Vielmehr bieten Philosophien des Embodiments, in denen der Körper als »weitbandbreites« (im Sinne John Haugelands) Interface begriffen wird, für einen prozessualen Interface-Begriff eine entscheidende Voraussetzung. Wie etwa ein erweiterter Begriff materialer Inferenzen zeigen kann, spielt die kognitive Dimension genau in die semantischen Fragen einer Theorie ›engagierter Bedeutung‹ hinein, die Drucker zu beschreiben anstrebt ( Kap. 2.1.1). Von hier aus führt ein Pfad zur Rolle des Films in Druckers Ansatz.

7.1.1 Film ≠ Diagrammatik? Die bei Drucker aufgezeigte Perspektive auf die ›diagrammatische‹ Konstitution von bedeutungsrahmenden Schemata im Rahmen einer »diagrammatic interpretation« kann aus einem Verständnis der kognitiven Implikationen von Diagrammatisierung heraus entwickelt werden. Mit der Fokussierung auf die Diagrammatizität in metaphorischen Inferenzen liegt dafür eine plausible Perspektive vor. Einfügen kann man diese Perspektive in eine weitere argumentative Lücke, die medientheoretischer Art ist. Zwar postuliert Drucker einen generalisierten prozessualen Interface-Begriff,25 in ihren Beispielen rekurriert sie aber vor allem auf Printmedien und auf Graphical User Interfaces. Wenn Drucker postuliert, dass die Struktur eines Interfaces (verstanden als »mediating environment«) Information ist, also – in Anlehnung an John Haugeland gesagt – eine ›innige‹ Beziehung zu einer materiellen Struktur besteht,26 dann ist es

23 Drucker 2011, S. 10. 24 Drucker 2011, S. 8. 25 Vgl. hier auch Drucker 2013b, S. 8: »An interface is a set of conditions, structured relations, that allow certain behaviors, actions, readings, events to occur. This generalized theory of interface applies to any technological device created with certain assumptions about the body, hand, eye, coordination, and other capabilities.« Vgl. auch Drucker 2013c, S. 213: »Broadly construed, interface is ubiquitous.« 26 Davon geht Drucker aus. Vgl. Drucker 2013c, S.  218. Dort heißt es zur »interface experience«: »The boundary is not between one thing and another; it is the space in which the experiential construction of an in-betweenness that is inclusive, both human and computational, comes into being.«

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problematisch, andere Medien, hier insbesondere die audiovisuellen Medien wie den Film, auszuklammern. Dabei ließe ihr weit gefasster Interface-Begriff dafür grundsätzlich den Raum. Stattdessen geht sie davon aus, der Film habe für eine »diagrammatic interpretation«, im Unterschied zu digitalen Umgebungen wie Webseiten, keine weiterführende Relevanz. Den Grund dafür sieht sie in der Medialität des Films: »Web environments are more mutable and modular than films, and the analogy between old media and new breaks down when we realize that all segments of film, no matter how radically they are spliced and combined, are segments of the same order of thing. They may, and do, require significant jumps in cognitive framing, but they are part of the same modality: film texts/sequences. All film segments and video segments unfold according to the same set of temporal principles: continuous and forward moving in a unidirectional manner. But the temporalities of web environments are varied. They don’t conform to a single mode.«27 In einem weiteren Text, Reading Interface, liest man: »The cognitive load for processing media with multiple temporal modalities, distinct spatial coordinates and systems, or demands for embodied engagement goes beyond any explanation that can be provided by comparisons with film or video. Interface is more complex in the challenges it presents to what can be referred to as ›frame jumping‹ – shifting cognitive reference frames – than film ever was.«28 Und in Graphesis heißt es: »To what extent are the frames in interfaces different from those in comic books and films? Interfaces are spatial and graphic in their use of frames, but these are not necessarily in the service of narrative – rarely, in fact. But film/video, comics, and graphic novels are story-telling forms and the relations across their frames are most frequently used to produce continuity. Random access through motion picture graphics in games, hypertext film, database documentaries, is altering the approach to composition and analysis.«29 Druckers Überlegung, Filme erforderten keine Form der »diagrammatic interpretation«, geht davon aus, dass die filmische Erfahrung im Vergleich zu Webinterfaces homogen sei. Film sei durch seine vermeintliche vereinheitlichte Zeitlichkeit ein Medium der Kontinuität, wohingegen eine »diagrammatic interpretation« insbesondere in der Interaktion heterogener, räumlicher Elemente und ihrer semantischen »frames« bestehe. Drucker stützt sich dafür insbesondere auf Roland Barthes’ Idee einer dritten Bedeutung.30 Barthes beschreibt damit eine Spannung zwischen einer im Film angesie27 Drucker 2014, S. 152. 28 Drucker 2013c, S. 218. 29 Drucker 2014, S. 46. Vgl. für die Querbezüge zum Hypertext auch Drucker 2013a, S. 92. 30 Vgl. Drucker 2011, S. 13f., unter Rekurs auf Barthes 2009a, S. 47ff.

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delten, »entgegenkommenden« Bedeutung und einer widerständigen, »stumpfen« Bedeutung, die sich nicht in die strukturierte Sprache einfügt. Diese stumpfe Bedeutung ist für Barthes ein »Übergang von der Sprache zur Signifikanz«, den auszuarbeiten und kognitiv fassbar zu machen der umformenden Transkription von Film in ein »Fotogramm« vorbehalten bleibt:31 »Wenn nun das eigentlich Filmische (das Filmische der Zukunft) nicht in der Bewegung liegt, sondern in einem dritten, unaussprechbaren Sinn, den man weder in der bloßen Fotografie noch in der gegenständlichen Malerei findet, weil ihnen der diegetische Horizont fehlt, die oben erwähnte Konfigurationsmöglichkeit, so ist die Bewegung, die man für das Wesen des Filmes hält […] nur das Gerüst einer permutativen Entfaltung, so ist eine Theorie des Fotogramms notwendig, deren mögliche Ausblicke es schließlich aufzuzeigen gilt.« 32 Drucker scheint Barthes’ Einschätzung zu teilen, weil das Fotogramm die Bewegung des Filmes auf bricht und in ein Feld möglicher spatialer Relationen verwandelt, die als virtuelle Möglichkeiten zu betrachten sind. Dabei passt es ins Bild ihres Rückgriffs auf Barthes, dass Barthes Comics oder Fotoromane als Kunstformen betrachtet, die für ein derartiges ›Möglichkeitssehen‹ besser als der Film geeignet seien.33 Um also im Sinne einer ›produktiven Wissensgenerierung‹ funktionieren zu können, ist die diagrammatische Interpretation auf statische Medien (und nicht auf Bewegtbildmedien) angewiesen. In diesen Medien werden über ihre Materialität semiotische und mediale Grenzen deutlich, die eine übersetzende Transkription einfordern, welche von diagrammatischen Zeichenhandlungen geleistet werden können. An dieser Einschätzung sind jedoch mindestens zwei Dinge problematisch. Das erste Problem betrifft Druckers These, dass es im Film zu einer durch die Zeitlichkeit des Mediums definierten Homogenisierung und Depotenzialisierung von virtuellen Relationen kommt. Diese These ist mit Blick auf die Philosophie des Films kritisierbar. In der Philosophie des Films wurde ausführlich gezeigt, dass eine Etablierung von virtuellen Beziehungen erster Ordnung durch die filmische Formensprache zu den zentralen Operationen filmischer Formenbildung gehört.34 Virtualisierungseffekte im Film lassen sich dabei bei Weitem nicht durch eine einfache Unterscheidung wie die von Drucker verwendete Differenz zwischen linearer Montage (Narratives Kino, Hollywood-Kino etc.) und nicht-linearen Formen (Avantgarde, Russischer Revolutionsfilm etc.) abdecken. Selbst wenn man den Prämissen Druckers folgt und eng am Beispiel von Techniken wie der Montage argumentiert, übersieht man immer noch, dass, wie Lev Manovich gezeigt hat, die Bedeutung des Films als einem »cultural interface« in der digitalen Medienkultur auch in seiner Fähigkeit zur inneren Montage und zur spatialen Montage liegt, also beispielsweise in der Überlagerung von Objekten.35 Manovichs Perspektive ist – unabhängig davon, ob man seine Grundthese in jeder ihrer Wendungen teilt – an dieser Stelle sogar wichtiger als Ansätze aus dem 31 Vgl. Barthes 2009a, S. 64ff. 32 Barthes 2009a, S. 65. 33 Vgl. Barthes 2009a, S. 65, Anm. 1. Vgl. zum Comic Drucker 2011, S. 3ff. 34 Vgl. insb. die Filmphilosophie im Sinne von Deleuze 1989; Deleuze 1991. 35 Vgl. Manovich 2001, S. 322ff.

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Bereich der Philosophie des Films,36 weil Manovich die Bedeutung des Films für just die Medien illustriert hat, die Drucker als Gegenstände ihres Begriffs von »diagrammatic interpretation« ansieht, also zum Beispiel Web-Interfaces. Das zweite Problem betrifft Druckers Bevorzugung statischer Formenbildungen und der jeweiligen Brüche in ihren intermedialen Beziehungen. Auf Grundlage ihres Rückgriffs auf Roland Barthes kann man Druckers Argument so verstehen, dass sie bemüht ist, das Diagrammatische über die Semantik explikativer Bezugnahmen zu fassen. Der Film wäre dann ein Medium, in dem solche Bezugnahmen in stabiler Form nicht zu finden sind. Aber auch hier: Dieses Argument wird der Komplexität der diagrammatischen Explikationsphänomene in filmischen Medien kaum gerecht, und zwar sowohl in dokumentarischen, fiktionalen wie auch essayistischen oder animierten Formaten. Bereits die Fallstudie zur Fernsehdokumentation hat gezeigt ( Kap. 6.3), dass Informationsvisualisierung unter Bezugnahme auf eine Vielzahl von diagrammatisierenden Praktiken erfolgt, die für die Etablierung des quasi-semantischen Verständnisrahmens elementar sind, den Drucker zum Kern ihrer »diagrammatic interpretation« macht. Folglich ist es insbesondere aus medienästhetischer Sicht notwendig zu fragen, welche medialen Aspekte der Diagrammatik durch die fiktionale Darstellung diagrammatisierender Praktiken im Film fassbar gemacht werden, obwohl und gerade weil der Film ein zeitlich-kontinuierliches Medium ist. Wenn sich Druckers Begriff einer diagrammatischen Interpretation auf den quasi-semantischen Effekt einer ›Rahmung‹ bezieht, der in einer Interaktion mit dem technischen »Environment for action«, also einem Interface in einem weiten, technischen Sinn, beruht, dann ist dies ein Aspekt, der es notwendig macht, die innere, semantische Seite eines weit gefassten Interface-Begriffs näher zu untersuchen. Dies führt auf das Feld der Medienästhetik des Interfaces.

7.1.2 Diagrammatisierung und Intraface Mit Alexander R. Galloways Begriff des »Intrafaces« liegt ein erster Ansatz zur Beschreibung der Semantik von Interfaces vor. Knapp definiert ist das Intraface nach Galloway die semantische Form jener Bedeutungsrahmung in einem Interface, von der Drucker spricht. Galloway schreibt: »The intraface is the word used to describe this imaginary dialogue between the workable and the unworkable: the intraface, that is, an interface internal to the interface. The intraface is within the aesthetic. […] The intraface is indecisive for it must always juggle two things (the edge and the center) at the same time.« 37 Fortgeführt wird mit dem Intraface-Begriff eine Idee, die schon länger im Raum ist. Hans Dieter Hellige schreibt in seiner Aufarbeitung der Geschichte des Interfaces in der Human-Computer-Interaction: »Da sich jedoch neuerdings wieder die Einsicht durchsetzt, dass es sich beim Interface um ein ›Medium im Medium‹ handelt […], be36 Vgl. die Auseinandersetzungen mit Manovich in der Post-Cinema-Debatte, exemplarisch bei Rodowick 2007, S. 94f., S. 128f., S. 176f. 37 Galloway 2012, S. 40.

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stünde durchaus Bedarf für einen breiter gefassten Intermedium-Begriff.«38 Ähnlich heißt es bei Marianne van den Boomen zu Graphical User Interfaces: »[…] the GUI is an interface within an interface, a nested interface, with a strong tendency to absorb and obfuscate the other components.«39 Diesen Gedanken will Galloway aber nicht im Sinne von Intermedialitäts- oder Remediationstheorien der späten 1990er- und frühen 2000er-Jahre konzipieren.40 Stattdessen versucht er, das Interface als eine in der Auseinandersetzung mit dem Gehalt eines Interface etablierte, semantische ›Bearbeitbarkeit‹ zu verstehen, die »within the aesthetic« bleibt. Das Intraface ist demnach eine an der Schnittstelle von Wahrnehmung und Bedeutung situierte Dimension im Interface. Als solches ist das Intraface eines der wichtigsten Phänomene für Galloways gesamten Interface-Begriff – und der besagt: »an interface is not a thing; an interface is an effect.«41 Über das Intraface wird als also ein Interface-Effekt erklärt, der als ein aus Transkriptionen entstehender Transparenz-Effekt anzusehen ist.42 Galloways primäres Beispiel zur Illustration des Intrafaces ist die Raumlogik in Norman Rockwells Triple Self-Portrait (1960) und eine Parodie desselben aus dem Mad Magazine (1965) von Richard Williams.43 Wie Galloway zeigt, bilden sich in den Blickordnungen der Bilder zwei Zirkulationen heraus, die jeweils als »circulation of intensity«44 zu verstehen seien. In Rockwells Werk entsteht eine semantische Bewegung in das Bild hinein, also zum Zentrum hin, in dem die Interpretation in ein inferenzielles Spiel aus Interpretation und rekursiver Metainterpretation gezogen wird. Dabei bleibt es jederzeit möglich, sich auch außerhalb der Zirkulation aufzuhalten, also gar nicht erst über die Bedeutungsebenen im Bild explizit nachzudenken, weshalb Rockwells Bild für Galloway ein Interface ist, »that works«: »The interface has a logic that may be known and articulated by the interface itself. It works; it works well.«45 In der Mad-Parodie wird der Versuch, eine stabile Perspektive zu etablieren, dagegen ständig unterbrochen. Die Interpretation kann nicht in das Bild eindringen: »Every ounce of energy within the image is aimed at ist own externalization.«46 Dies führt zu einem instabilen Interface, das, in Galloways Begriffen gedacht, ›unbearbeitbar‹ ist. Auf den vorliegenden Kontext hin bezogen: Mit dem instabilen Interface der Mad-Parodie ist es nicht möglich, sinnvoll zu ›denken‹, weil das Interface keine Denkbewegung in Gang setzt, es lässt also eine interpretatorische ›Intensität‹ gar nicht erst entstehen und auch nicht ›zirkulieren‹. Mittels dieser Analogie seines Intraface-Begriffs zur Malerei konzipiert Galloway die Ästhetik von Interfaces als eine Spannung zwischen einem semantischen Zent38 Vgl. Hellige 2008, S. 14. 39  Van den Boomen 2014, S. 34. 40 Vgl. Galloway 2012, S. 30ff. Vgl. Bolter/Grusin 2000 zur Debatte um »Remediation«, die auch in Ludwig Jägers Konzept der Transkription eine Rolle einnimmt ( Kap. 2.2.6). 41 Vgl. Galloway 2012, S. 36. 42 Dies erinnert an den engen Zusammenhang von Interfaces und implizitem Wissen. Vgl. dazu die Beiträge in Ernst/Schröter 2017 sowie Hookway 2014, S. 123ff. 43 Vgl. Galloway 2012, S. 33ff. 44 Galloway 2012, S. 36. 45 Galloway 2012, S. 39. 46 Galloway 2012, S. 38.

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rum und dessen Grenze: Das Zentrum eines Intrafaces ist stets ein »text« oder eine »representation«, die eine kohärente Zirkulation von Inferenzen zulässt. Die Grenze dagegen ist eine Ebene, die nicht den Inhalt repräsentiert, sondern die praktische Regulierung des Zugangs, der Einordnung und der Bearbeitbarkeit, also, wie Galloway schreibt, ein »paratext« zu einem »text« oder die »metrics« zu einer »representation«. In dieser Hinsicht ist das Intraface die weiche, semantische Grenze zwischen dem ›Inneren‹ des technischen Interfaces und seinem ›harten‹ Außen. Das Intraface ist eine Relation, die, um ein anderes Beispiel Galloways zu nennen, die nicht-diegetischen Steuerelemente mit dem diegetischen ›content‹ eines Interface verbindet.47 Diese Spannung der Bedeutungszuweisung in einem Interface beschreit Galloway in Metaphern der ›Kraft‹, ›Energie‹, ›Intensität‹ und des ›Flusses‹: »My claim is […] an observation about how f lows of signification organize a certain knowledge of the world and a commitment to it.«48 Diese dynamischen, semantischen Effekte beziehen sich dabei stets auf einen »imaginative space«, in den ein Beobachter hineingezogen wird, wobei grundsätzlich zwei Polaritäten entstehen: Entweder wird das Interface in seiner »logic« als eine Verbindungs- und Verkoppelungsoperation unsichtbar und somit kognitiv ›transparent‹ gemacht oder die Interface-Operation wird als solche in ihrer Verfahrenslogik offengelegt und sichtbar. Einmal erfolgt eine »deobjectification« des Interfaces und einmal seine »objectification«; im ersten Fall führt das zu einer »coherent aesthetic« und im zweiten Fall zu einer »incoherent aesthetic«.49 Für die Interfacetheorie ist diese medienästhetische Betrachtungsweise Galloways sehr anschlussfähig. Marianne van den Boomen spricht etwa in einem ähnlichen Zusammenhang von einer »depresentation« in User Interfaces. Damit versucht sie einen semantischen »concealment process« zu fassen, der bestimmte semiotische Aspekte des Interface ›invisibilisiert‹: »The concealment of processes is not contingent, it is a purposive construction to withhold particular representations, built in by interfacial design.«50 Gleichermaßen kann Galloways Intraface-Begriff aber auch mit der bei Johanna Drucker aufgezeigten Beziehung zwischen Informationsvisualisierung und Interfaces in Einklang gebracht werden. Insbesondere ist es mit Hilfe dieses Begriffs möglich, die kognitive Dynamik von Informationsvisualisierungen aus ihrer zeichenhaften Semantik heraus auf ihre praktisch-technischen Aspekte hin zu beziehen. Ein Intraface, das im besten Sinne »workable« ist, ist beispielsweise Charles Minards klassische Infografik Carte figurative des pertes successives en hommes de l’Armée Française dans la campagne de Russie 1812-1813, die 1869 publiziert wurde. Zur Veranschaulichung lohnt hier ein genauerer Blick ( Abb. 73).

47 Vgl. Galloway 2012, S. 42ff. 48 Galloway 2012, S. 45. 49 Galloway 2012, S. 46. 50 Vgl. van den Boomen 2014, hier S.  36. Der Ansatz ist in der Interface-Theorie von Jan Distelmeyer (2017, S. 92ff.) aufgegriffen worden.

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Abb. 73: Charles Minards Infografik über Napoleons Russland-Feldzug. Quelle: Wikipedia-Artikel »Charles Minard«, https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Joseph_Minard#/media/Datei:Minard.png, gesehen am 07. Mai 2020.

Minards berühmte Karte ist Teil eines Vergleichs mit einer zweiten Grafik, welche die Verluste von Hannibals Feldzug gegen Rom zeigt.51 Folgt man Edward Tufte, dann ist Minards Grafik das paradigmatische Beispiel für eine gelungene Infografik.52 Nach Tufte fällt die Minard-Karte in die Klasse der narrativen Grafiken, in denen statistische Daten verzeitlicht und verräumlicht werden. Dazu werden verschiedene Variablen dargestellt. So ist etwa die Größe der Armee relativ zu zeiträumlichen Informationen über ihre Position beobachtbar, was Minard mittels Farbdifferenzen zwischen Vormarsch und Rückmarsch darstellt. Überdies setzt er den Rückmarsch am unteren Rand des Diagramms in eine Beziehung zu Temperaturdaten. Auf diese Weise gelingt es, eine »Story« zu erzählen, die einen offenkundig ästhetischen Eindruck macht, erzeugt sie doch den epistemischen Evidenzeffekt des dramatischen Scheiterns des Unternehmens.53 Um diesen Evidenzeffekt zu beschreiben, zitiert Tufte in seiner berühmten Einschätzung der Karte Etienne J. Marey, der die Karte in seinem Buch La Méthode Graphique dans les sciences expérimentales et particulièrement en physiologie et en médecine 1878 seinerseits reproduziert und kommentiert hatte, mit den Worten, die Grafik sei geeignet, »to defy the pen of the historian by its brutal eloquence«.54 Inwiefern aber ist in dieser explizierenden Grafik ein ›diskursives‹ Verfahren am Werk, das einen Effekt epistemischer Evidenz erzeugt? ( Kap. 2.2.7) Entscheidend ist die Bewegungsdynamik in der Grafik. Die ›Dramatik‹ der im Diagramm erzählten Geschichte ergibt sich aus der sich ständig verjüngenden Linie, die – vom Umschlagspunkt ›Moskau‹ ausgehend – durch einen Farbkontrast zwischen Vormarsch und Rückmarsch verstärkt wird. Sandra Rendgen vermerkt dazu: »It is a brillant conceptual transfer: in applying the f low method to a military campaign, Minard shifts his entire focus to a single variable: the number of people in the f low. This

51 Vgl. zur Einbettung der Grafik in den Werkkontext grundlegend Rendgen 2018, hier S. 7ff., S. 154ff. 52 Vgl. Tufte 2006, S. 40: »lt may well be the best statistical graphic ever drawn.« 53 Vgl. zur narrativen Dramatik in der Grafik auch Rendgen 2018, S. 154ff. 54 Tufte 2006, S. 40. Vgl. Marey 1885, S. 72f. Tufte folgt hier Robinson 1967, S. 99. Vgl. zuletzt auch Rendgen 2018, S. 8.

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variable sees only one type of variation – a sharp and steady decline.«55 Die Dramatik des durch das Diagramm vermittelten Denkbildes ist dabei offensichtlich in der Logik des ›Source-Path-Goal‹-Schema vorgezeichnet. Zu dessen »internal spatial logic« bzw. seinen »built-in inferences« gehört es nach George Lakoff,56 dass sie strikt linear sind: »If you have traversed a route to a current location, you have been at all previous locations on that route.«57 ( Kap. 5.4.1) Diese Logik rahmt – als implizites Schema – semantisch die explizite Geschichte des bei Rendgen bemerkten »sharp and steady decline«. Im Kontext der Fokussierung auf die diegetischen Elemente bzw. den »text« der Infografik ist es die von Galloway beschriebene Spannung zwischen Zentrum und Grenze, die das Intraface auszeichnet. Allerdings muss auch darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Infografik Minards eine zusätzliche Ebene enthält: die Temperaturskala. Als eine Tabelle, die sich auf das mit dem ›Source-Path-Goal‹-Schema assoziierte Flow-Element bezieht, steht die diagrammatische Temperaturskala als Element in einer Korrelation zu der zentralen bildlichen Variable innerhalb der Infografik: der Truppenstärke. Bereits Marey schrieb: »Sur tout ce long parcours, les noms écrits sur la carte évoquent le souvenir de sinistres épisodes, et au bas de la carte l’echelle des variations du thermomètre Réaumur explique douloureusement chaque phase de cette immense destruction d’hommes.«58 Die ›schmerzhafte‹ Erklärung, die Marey mit der Temperaturskala gegeben sieht, könnte man jetzt einfach als eine zusätzliche Informationsebene verbuchen und nicht näher beachten.59 Allerdings hat diese Skala eindeutig explikative Funktion und wirkt auf das ästhetische Moment der Inferenz ein, mit der die Grafik assoziiert wird. Durch eine Elaboration der – für sich bereits ›digitalisierenden‹ ( Kap. 5.4.2) – Zacken in der Flusslinie im Register der Temperaturskala wird mit diagrammatischen Mitteln die Hypothese plausibel, dass das Absinken der Temperatur das dramatische ›Abschmelzen‹ der Armee Napoleons, dessen inferenzielle Gestalt durch das ›Source-Path-Goal‹-Schema definiert wird, beeinf lusst und sogar beschleunigt hat. Diese Elaboration ist ›explikativ‹ darin, dass eine in der Grafik implizite Korrelation zwischen der Temperatur und dem nicht separat durch Symbole quantifizierten ›Abschmelzen‹ der Truppenstärke im ikonischen Bezugsobjekt hergestellt wird. Das Flow-Element wird also im Verhältnis zu den Temperaturdaten hinsichtlich einer in diesem ikonischen Element impliziten Kausalität expliziert. Semiotisch gesprochen, stellt dieses explikative Moment die ikonische Linie in den Kontext einer indexikalischen Relation. Deren Konsequenz wird semantisch über das ›Source-Path-Goal‹-Schema erschlossen, hat allerdings – als eine Offenlegung eines impliziten Zusammenhangs – auch ein interaktives, praktisches Potenzial. Weil sie vom ikonischen Bezugsobjekt, also dem Flow-Element, abgegrenzt und an den unteren Teil des Bildes verlegt ist, kann die Diagrammatisierung nämlich als explizierende Überblendung wahrgenommen werden. Diese Explikation ist – im Unterschied zu traditionellen Explikations-Begrif55 Rendgen 2018, S. 157. 56 Lakoff/Núñez 2000, S. 37. 57 Lakoff/Núñez 2000, S. 38. 58 Vgl. Marey 1885, S. 73. 59 Die parallele Grafik Minards, die die Verluste Hannibals zeigt, weist diese Ebene nicht auf. Vgl. die Darstellung in Rendgen 2018, S. 155.

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fen in der Philosophie – keine reine ›Verbegriff lichung‹ oder ›Vereindeutigung‹ eines propositionalen Gehalts, sondern eine dynamische Bewegung, die einen Evidenzeffekt erzeugt, der durch das ›dramatische‹ Moment der schmaler werdenden Linie realisiert wird. Einfach assoziierbare Konnotationen wie ›Kälte‹ werden, wie auch es in dem Zitat von Marey zum Ausdruck kommt, dabei metaphorisch auf das ›Sterben‹ bezogen, das in der Linie ausgedrückt ist.60 Die implizite schematische Qualität in Minards Flow-Metapher wird somit durch die explikative Relation zur Temperaturskala in einen – von Marey über Tufte bis Rendgen einhellig betonten – ›drastischen‹ Evidenzeffekt übersetzt. Die Temperaturskala und ihre Relationen ist also keine ›neutrale‹ Ebene. Sie verstärkt als explikative Relation die Evidenz und somit den Transparenzeffekt der Grafik. Anknüpfend an die abschließenden Bemerkungen zum letzten Kapitel ( Kap. 6.3.5) haben Evidenzverfahren wie diese ›innere‹ explikative Transkription aber noch weitere Funktionen. Sie verweisen auf die in Minards Grafik zwar unsichtbar gemachte, implizit aber präsente Dimension der praktischen Handhabung und Bearbeitung der Elemente der Grafik. Diese Einschätzung beruht auf der Prämisse, dass explikative Diagrammatisierungen semiotische Markierungen sind, die nach ›Innen‹ ein eidetisches Objekt ( Kap. 6.1.1) stabilisieren, nach ›Außen‹ aber auf die praktische Verfertigung der explikativen Transkription verweisen, also auf Momente der Bearbeitung und Interaktion mit dem Diagramm. Logisch integriert bleibt diese explikative Transkription in den Gesamtrahmen der Infografik selbst. Als Intraface bildet die innere explikative Transkription einen äußeren Rahmen im Inneren. Mit Galloway kann man sagen: In der Tabelle geht um die »metrics« zu einer »representation«, den »paratext« zu einem »text«. Das entspricht der Pointe von Galloways »Intraface«, zeigt der Begriff doch auf, dass sich das Intraface stets im Interface befindet. Die Innen/Außen-Unterscheidung wird als Spannung zwischen einer Rezeption wiederholt, die sich einmal zum Zentrum (nach Innen) und einmal in Richtung der Grenze (nach Außen) orientiert. Nach Galloway ist das Intraface genau dann »workable«, wenn – wie im gegebenen Fall – die paratextuellen, oder genauer: explizierenden, Elemente im Dienst der ›Lesbarmachung‹ stehen, also nicht überbordend sind oder auf sich selbst verweisen und den ›Zugang‹ zum inferenziellen Gehalt nicht verstellen. Die philosophische Konsequenz eines solchen Intraface-Begriffs ist nach Galloway diese: »The existence of the internal interface within the medium is important because it indicates the implicit presence of the outside within the inside.«61 Galloway fasst dieses im ›Innen‹ implizierte ›Außen‹ – denkbar weit – als »the social«, also das »Soziale« im Ganzen. Galloway leitet daraus eine ideologiekritische Schlussfolgerung ab. Interfaces mögen »Medien-in-Medien« oder »Intermedien« sein, auch mögen sie andere Medien remediatisieren oder sich medienref lexiv auf diese beziehen, aber die semantische Schicht, die das Intraface bildet, ist vor allem sozial und damit auch ideologiekritisch relevant: »The door-window model […] can ever reveal one thing, that the interface is an palimpsest. It can only ever reveal that the interface is a processing of some other media that 60 Was zeigt, dass die These von Johnson und Lakoff, derzufolge ›Image schemas‹ metaphorischen ›Mappings‹ zugrunde liegen, richtig ist. ( Kapitel 5). 61 Galloway 2012, S. 42.

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came bevore. On this point I will be absolutely clear: a palimpsest the interface may be; yet it is still more useful to take the ultimate step, to suggest that the layers of the palimpsest themselves are ›data‹ that must be interpreted.« 62 Galloways Bemerkung zielt damit auf den normativen Kern auch von Druckers Projekt eines »diagrammatic reading«, verbindet doch auch er seine Theorie des Intraface mit einer kritischen Perspektive auf das Design von Interfaces. Zweifelsohne verfolgt Galloway andere Ziele. In ihrer Absicht, Interfaces anhand der semantischen Organisation der durch sie ›regulierten‹ Denkbewegungen zu kritisieren, sind sich Galloway und Drucker einig. Beschreibt der Intraface-Begriff dabei die Form der semantischen Relationen in einem Interface, so sind diese Relationen – das zeigt die Diagrammatik – selbst »formal properties«, die immer auch politisch, ökonomisch etc. aufgeladen sind und die folglich auch für Druckers Ansatz wichtig sind.63 Drucker hat in dieser Sache einen starken Punkt, wenn sie die Art des Verstehens von Interface-Elementen als diagrammatische Interpretation konzipiert, die aus Praktiken der Informationsvisualisierung hervorgehen. Galloway beachtet diesen Zusammenhang nicht weiter. Wie die knappe Analyse der Minard-Karte jedoch zeigt, ist sein Intraface-Begriff allemal gut geeignet, um parallel zu Druckers »diagrammatic interpretation« gelesen und mithin auf das Feld eines »theoretical vocabulary of spatialized relations« – ergo: der Diagrammatik – verschoben zu werden.64 Möglich wird dies aber ausgerechnet mit Blick auf das Medium, das bei Drucker weitestgehend ausgespart wird: den Film. Galloways Intraface-Begriff weist insofern medientheoretisch über Druckers Kritik am Film hinaus, als Galloway hervorhebt, dass die semantischen Aspekte eines prozessualen Interface-Begriffs nicht in der Weise ontologisiert werden können, wie Drucker es in ihrer Privilegierung der neueren Graphical User Interfaces tut. Angesichts der Beispiele, die Galloway gibt – und auch angesichts des Umstandes, dass Drucker mit der mise en scène eine elementare Bedeutungsdimension des Films als Grundlage ihrer Beschäftigung mit komplexeren »environments for action« als dem Buch ansieht – ist dieser Schritt folgerichtig. Doch bei welcher Art von »spatializied relation[]« des Films könnte man ansetzen?

7.1.3 Vom Interface zur Überblendung Zu den Zielen von Johanna Drucker gehört es, deutlich zu machen, dass in den Interfaces digitaler Medien eine Transformation der Beobachter-Perspektive stattfindet, auf die der Begriff der »diagrammatic interpretation« reagiert: »Once we accept the idea that we move through a discourse field, a web of interpretative activities that assumes spatial dimensions on the screen, rather than being flattened into the space of pages in the freeze-frame mode of manuscript and print, the 62 Galloway 2012, S. 44. 63 Vgl. Drucker 2013a, S. 85. Dort findet sich die klassische Einschätzung: »Tree structures express relations of derivation and hierarchy through their relations, not as a picture of a pre-existing image or form.« 64 Drucker 2011, S. 10.

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navigational task can be redefined as way-finding. The process will resemble the task of moving through a library or archive, a landscape, rather than looking at the outline or scheme of that space in a flat map or plan. We can borrow from the conventions of electronic games and offer multiple views simultaneously. A display for navigation and one for reading and another organized as a topic map or semantic web complement each other without redundancy, as long as the relations among them are made explicit through shared clues – elements or reference frames.« 65 Druckers Absicht ist es, aus Prozessen der Interpretation als einer »navigational task« des »way-finding« heraus eine Umwandlung – mit Sybille Krämer gesagt – statischer Strukturräume in dynamische Bewegungsräume zu denken ( Kap. 2.1.1). Angestrebt ist die Umwandlung einer Vogelperspektive in eine neue Form von in die Praxis integrierter Feldperspektive.66 Drucker schreibt: »Again, I invoke the gaming world, with its combinations of first-person perspectives and schematic overviews, which are as critical to its navigation as are similar feature in military software and other text simulations.«67 Was dabei herauskommt ist ein »diagrammatic writing« im Sinne einer produktiven Interpretationspraxis: »But the potential for diagrammatic writing to express compositional possibilities that make use of the screen’s flexible and fungible display space exists, not just as a place in which the forking paths metaphor or hyperlinked network is constantly invoked, but as a fully n-dimensional space. This possibility, to be enabled and enacted graphically, takes several forms: a kind of visio-logico-compositional authoring that engages mind-mapping, grids, matrices, lattices, and other spatialised structures whose semantic value as forms inflects and informs the production of meaning in the works they enable.«68 Diese Ästhetik gelte es humanistisch umzudeuten, die »user« müssten wieder als »subject« entdeckt werden:69 »We have to understand interface as a constitutive boundary space, not just a place of mechanistic negotiation and exchange among elements.«70 Und das am besten sofort, denn: »We are still in the incunabula stage of digital design.«71 Druckers Bemerkungen zum Interface als einer ›Grenze‹ im Sinne eines dynamischen Aushandlungsraums sind mit den oben diskutierten Grundaspekten diagrammatischer Epistemologie gut vereinbar ( Kap. 2, 3 u. 5). Demnach ist die Unterscheidung zwischen Struktur- und Bewegungsraum mit der Differenz zwischen Karte und Territorium nicht identisch, sondern repräsentiert zwei unterschiedliche 65 Drucker 2011, S. 17. 66 Vgl. Krämer 2016, S. 87ff. 67 Drucker 2011, S. 18. 68 Drucker 2013a, S. 97. 69  Vgl. Drucker 2013b, S. 13, mit historischem Blick auf die Geschichte des Interface-Designs auch Drucker 2013c, S. 214ff. 70 Drucker 2013c, S. 216. 71 Drucker 2013a, S. 100.

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Epistemologien, die sich aus der Körperlichkeit praktischer Handlungen im Raum in Relation zu Karten ergeben. Diese beiden ›epistemischen‹ Handlungstypen können in den visuellen Kategorien einer Vogel- und Feldperspektive beschrieben werden. In der einfachsten Variante dieses Arguments ist der Strukturraum ein Raum der expliziten Darstellungsweise; er entspricht der Karte und bietet – der Form nach – eine epistemische Vogelperspektive. Der Bewegungsraum ist dagegen das implizite Wissen um die Bewegungsmöglichkeiten in einem Territorium; er entspricht epistemisch eher der Feldperspektive ( Kap. 3.5.4). Der bei Drucker angedeutete Gedanke ist, dass sich dieses Verhältnis medientheoretisch anhand der Transformation von Interfaces beschreiben lässt. Als »boundary spaces« der Interaktion mit Computern sind Interfaces keine stabilen, statischen Entitäten, sondern dynamische Beziehungen, somit aber auch historisch wandelbare Konfigurationen. Anhand von Interfaces kann beobachtet werden, wie sich das Verhältnis von Karte und Territorium in Medien dahingehend verändert, als die Formen der Vogelperspektive (3. Person, ›objektiv‹, Denken mit der Karte in Referenz auf das Territorium) und Feldperspektive (1. Person, ›subjektiv‹, Denken ohne Karte bzw. Anfertigen von Karte) in eine Beziehung gesetzt werden. Sybille Krämers Bemerkung, dass sich Struktur- und Bewegungsraum nicht ausschließen, sondern ein Navigationsgerät den Strukturraum der Karte »in einen subjektiv orientierten Bewegungsraum transformiert«72, kann demnach medienhistorisch anhand von Interfaces für »Augmented Interaction« ausgearbeitet und präzisiert werden. Ein schönes Beispiel dafür ist die Differenz zwischen einem traditionellen Verständnis von Virtual Reality und Augmented Reality. Seit den 1990er-Jahren werden die Graphical User Interfaces der PC-Ära in eine Beziehung zu Virtual Reality gesetzt. Die Natural User Interfaces, wie sie in der Ära des sogenannten »Ubiquitous Computing« erscheinen, werden dagegen mit Augmented Reality assoziiert.73 Zugrunde liegt dem jeweils ein anderes Verhältnis der Integration von Interaktion zwischen Menschen, Computern und Realität. Eine anschauliche Illustration findet sich bei Jun Rekimoto und Katasahi Nagao in ihrem Text The World Through the Computer aus dem Jahr 1995 ( Abb. 74).

72 Vgl. Krämer 2016, S. 19. 73 Vgl. Rekimoto/Nagao 1995, S. 2. »Augmented Reality« wird dort als »Augmented Interaction« gefasst: »(a) In a desk-top computer (with a GUI as its interaction style), interaction between the user and the computer is isolated from the interaction between the user and the real world. There is a gap between the two interactions. Some researchers are trying to bridge this gap by merging a real desk-top with a desk-top in the computer. (b) In a virtual reality system, the computer surrounds the user completely and interaction between the user and the real world vanishes. (c) In the ubiquitous computers environment, the user interacts with the real world but can also interact with computers embodied in the real world. (d) Augmented interaction supports the user’s interaction with the real world, using computer augmented information.«

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Abb. 74: Typen der Human-Computer-Interaction nach Rekimoto und Nagao. Quelle: Eigene Darstellung nach Rekimoto, Jun/Nagao, Katashi (1995): »The World Through the Computer. Computer Augmented Interaction With Real World Environments«, https://dl.acm.org/citation.cfm?id=215639, gesehen am 07. Mai 2020, S. 2.

Im Fall von Graphical User Interfaces und Virtual Reality ist jeweils ein dualistisches Modell von Realität zugrunde gelegt. Realität ist das implizite Supplement zu einer wahrgenommenen Computerrealität, zu dem man entweder noch Zugang oder keinen Zugang mehr hat (Virtual Reality).74 Das Interface trennt in diesem Fall Realität und Computerrealität. Anders in der Ära des Ubiquitous Computing und der damit verknüpften Augmented Reality. In diesem Fall vermischt das Interface die Realität und die Computerrealität. Visuelle Interfaces werden dabei nicht überf lüssig, aber die Interaktionsmöglichkeiten mit ihnen erweitert, was anhand des Trends zu Natural User Interfaces ablesbar ist. Drucker davon spricht, dass man sich an der Ästhetik des Computerspiels und der dortigen Adaption von dynamischen Navigationsinterfaces orientieren könne. Im Grundsatz entspricht das einem »looking at«, das in ein situatives »moving through« umgewandelt wird, also aus einer Interaktion mit Realität folgt, in der ergänzende Informationen zur Realität gegeben werden. Das hieße in diesem Fall, dass eher die Idee einer »Augmented Interaction« als Vorbild dient. Allem Anschein nach folgt Drucker mit ihren Ausführungen zum »diagrammatic writing« bzw. der »diagrammatic interpretation« also Metaphern und Leitbildern, die denen aus dem Kontext von Augmented Reality-Medien verpf lichtet sind, zumal sie an anderer Stelle auch auf diese Technologie zu sprechen kommt und über den Verlust des Bildschirms ref lektiert.75 Der Blick in die Fachdiskurse zu Augmented Reality bestätigt diese Einschätzung. In der Fachliteratur ist es üblich, eine »Video-See-ThroughAR«, bei der die virtuellen Inhalte perspektivisch korrekt in ein Videobild eingefügt werden, das via eines mobilen Mediums (Smartphone) in der Realität aufgezeichnet wird, von »Optische[n] See-Through-AR« zu unterscheiden, bei denen die Videoauf74 Vgl. dazu auch Drucker 2013c, S. 216. 75 Vgl. Drucker 2013c, S. 218f.

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nahme entfällt und die virtuellen Inhalte auf einem »semitransparenten Display« direkt in die Realität eingeblendet werden.76 In beiden Fällen sind dafür Medien nötig, die in Form von Handhelds oder als Head-Mounted-Displays (HMD) eine körperliche Interaktion vorsehen. Als dritte Möglichkeit existiert noch eine »Projektionsbasierte AR«, bei der als »Spatial AR« die »Augmentierung nicht durch ein Display in einem HMD oder Handheld Gerät erfolgt«, sondern direkt in den Raum integriert ist.77 In allen diesen Fällen wird das »looking at« und die ihm eigene ›top down‹-Perspektive dahingehend dynamisiert, als strukturräumlich organisierte Inhalte (die Karte) relativ zum körperlichen Bewegungsraum (im Territorium) organisiert werden. Das »looking at« wird im Bewegungsraum zu einer Form des »see through«. Dieses kann entweder relativ statisch sein, z.B. findet es nur in einem Raum statt, oder als »moving through« sehr dynamisch, wie etwa im Fall von »Head Up«-Inhalten, mit 2D- und 3D-Inhalten korreliert, die über die Realität geblendet werden.78 Dieser Trend zur Einbindung von virtuellen Inhalten in die Realität wiederum erzeugt eine Spannung zwischen Zentrum und Grenze, wie sie auch Galloways Intraface-Begriff beschreibt, wobei – mit Galloway gedacht – das Zentrum der Text (das Territorium) und die Grenze der Paratext (die Karte) ist.79 Ähnlich wie Galloway seinen Begriff des Intraface aus der Malerei ableitet, sind die Leitmetaphern der »Augmented Interaction« älteren Medienpraktiken verpf lichtet.80 Entsprechend ist anzunehmen, dass sich zwischen der Etablierung von Leitmetaphern im Feld der seit den 1960er-Jahren vorhanden Interface-Metaphern in der Human-Computer-Interaction und der Integration einer Ästhetik der ›Augmentierung‹ in anderen Medien Wechselwirkungen beobachten lassen. Das klassische Beispiel ist das Phänomen der Überblendung (»superimposition«) bzw. Überlagerung (»overlay«) als einer Basisoperationen von Augmented Interaction.81 Entgegen dem bei Drucker verfolgten Ansatz ist dafür insbesondere auch der Film relevant. Der Film ist ein Bindeglied zu jenen Verständnissen von ›Überblendung‹ und ›Überlagerung‹ als – wie oben exemplarisch für die Semiotik und die Kognitive Semantik argumentiert – diagrammatischen Phänomenen. Aus Sicht der Semiotik war diese Bedeutung der Überblendung und der Überlagerung darin zu sehen, dass im Rahmen von diagrammatisierenden Explikationen Möglichkeiten eines Bezugsobjektes als virtuelle Beziehungen sichtbar gemacht werden ( Kap. 3.5). In der Kognitiven Semantik dagegen betrifft diese Epistemologie die diagrammatische Logik von ›Image schemas‹ ( Kap. 5.2). Medienästhetisch dagegen sind sie anhand der Beispiele diagrammatisierender Explikationen in den hier diskutierten Beispielen für durch 76 Broll 2013, S. 248 77 Vgl. die anschauliche Darstellung bei Broll 2013, S. 247ff. 78 Vgl. Broll 2013, S. 283. 79 Vgl. zur Paratextualität des Interface auch Drucker 2013c, S. 217, wo Drucker speziell auf die Navigationsfunktion und ihre Verflechtung mit Machtstrukturen hinweist (also die ›Karte‹). 80 Vgl. hierzu insb. auch Drucker 2013a. 81 Vgl. Peddie 2017, S. 20: »Augmented reality, not to be confused with virtual reality, superimposes digital content (text, images, animations etc.) on a user’s view of the real world. Augmented reality and virtual reality devices, also known as head mounted-displays (HMDs), share similar problems around mobility and power consumption. […] Augmented reality is a real-time view of information overlaid on a view of the real world.«

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Überblendung und Überlagerung erzeugter Evidenzeffekte aus dem para- bzw. pseudowissenschaftlichen Kontext bereits epistemologisch relevant geworden ( Kap. 6.3). Darauf kann man auf bauen.

7.1.4 Überblendung und filmische Metapher Folgt man Lev Manovich, führt der Film als »cultural interface« ein Nachleben in den Interfaces digitaler Medien der Gegenwart. Die These ist nicht neu. Ebenso wenig neu ist allerdings die Gegenprobe: Der Film, weit davon entfernt, ein im Verschwinden begriffenes oder gar totes Medium zu sein, ref lektiert seinerseits auf die Interfaces der digitalen Medien.82 Auch in der Ära »nach der Revolution«83 ist es deshalb plausibel, sich durch die Analyse fiktionaler Filme Erkenntnisse über diagrammatische Erkenntnispraktiken zu erhoffen. Druckers implizite Verwendung von Metaphern aus dem Feld von Technologien der Augmented Reality gibt für diese Diskussion die Richtung vor. Bestritten werden müssen allerdings die Thesen, die Drucker gegen den Film vorbringt. Sowohl Druckers Annahmen zur filmischen Formenbildung als diagrammatischem Phänomen als auch ihre Einschätzung des Films als einem Medium, in dem keine relevanten diagrammatischen Bezugnahmen enthalten sind, sind fragwürdig. Umgekehrt ist man dann allerdings in der Pf licht, sagen zu müssen, was denn am Medium Film die für die Diagrammatik bedeutsamen Aspekte sind. In dieser Frage wäre es naheliegend, die Raum- und die Interface-Theorie des Films zu konsultieren. Räumlichkeit ist im Fall der Diagrammatik, wie sie hier vertreten wird (als einem Verständnis von Diagrammatik als explikativer Transkription), allerdings keine Größe an sich, sondern eine Variable, die relativ zu ihrer explikativen Funktion in höchst unterschiedlichen Settings auftreten kann. Eine Parallelisierung zwischen Diagrammatik und der Raumtheorie des Films soll deshalb an dieser Stelle nicht erfolgen.84 Das Gleiche gilt für eine Interface-Theorie des Films. Den Film im Ganzen als »cinematic interface« im Zeitalter der digitalen Medien aus Position einer »meta-critique of film studies« neu zu fassen, ist nicht falsch, aber ein für den vorliegenden Kontext überdehnter Anspruch.85

82 Eine ähnliche Gegenprobe unternimmt Manovich mit seinem Fokus auf die Digitalisierung des Films. Vgl. Manovich 2001, S. 286ff. 83 So der programmatische Titel von Beyes/Metelmann/Pias 2017. 84 Das heißt nicht, dass die Entwicklung einer Diagrammatik des Films aus der Raumtheorie des Films unmöglich wäre. Verfolgen möchte ich die Perspektive allerdings nicht. 85 Vgl. Jeong 2013, hier S. 7f. Dort wird das Interface von »Interfaciality« her verstanden, was Jeong auf einer Linie mit Galloway sieht. Allerdings wählt Jeong dann den weitesten denkbaren Ansatz und erklärt Kamera, Display (Leinwand etc.) und Film im Ganzen zum Interface. Bei einem solchen Ansatz ist es die Frage, ob nicht das Interface – mit Bezug auf Marianne van den Boomen (2014) gesagt – eher als Metapher denn als analytischer Begriff verwendet wird. Dieses Problem steckt auch in anderen Interface-theoretischen Konzepten, latent etwa bei Hookway 2014. Ich beschränke mich daher auf eine konservative Lesart von Galloways assoziativem Konzept des »Intraface«. Im Rahmen von Interface-Effekten soll das Intraface als eine semantische Relation verstanden werden, die dabei hilft, Überlagerungs- und Verbindungseffekte im Rahmen explikativer Transkriptionen zu konzipieren.

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Im Einklang mit dem bisher verfolgten Ansatz werden vielmehr die »imaginary moments«86 einer in der Perzeption beginnenden Diagrammatisierung erster Stufe zum Ausgangspunkt gemacht. Diese sind im Film auf räumliche Sonderbereiche bezogen, die als Ausgangs- und Einschreibef läche von Diagrammatisierungen dienen. In dem bereits diskutierten Beispiel aus Agora ist der Sandkasten, in dem Hypatia ihre Schlussfolgerungen zieht, eine solche in einen diagrammatischen Operationsraum umgewandelte Fläche das entscheidende Medium. Im Rahmen von Szenen der Explikation werden dort die verhandelten astronomischen Sachverhalte veranschaulicht. Allerdings hat ein Spielfilm wie Agora auch Hypatias Erkenntnismomente als subjektive Perspektive erster Person dargestellt. Und es finden sich – zwar unabhängig von diesen Szenen der Explikation, aber in veranschaulichender Absicht – Darstellungen, in denen die filmische Form selbst zur Metapher wird, etwa wenn die ›Umwälzung‹ der antiken Welt durch ein auf den Kopf gestelltes Bild visualisiert wird ( Kap. 4.5). Diese drei Phänomene kann man als Indizien dafür werten, dass sich die raumtheoretische Problematik auf ein ganz anderes Feld verschiebt, nämlich das der Metapherntheorie des Films.87 Nach der kognitiven Wende der Metapherntheorie hat auch die Metapherntheorie des Films mit dem Problem zu tun, die Metapher medienspezifisch fassen zu müssen.88 Dafür ist ein Verständnis der Metapher als einer Form von ›Mapping‹ notwendig, das in der körperlichen Auseinandersetzung mit materiellen Gegenständen und Prozessen entsteht.89 Dieses Bemühen ist mit der Filmtheorie der 86 Vgl. Stjernfelt 2007, S. 83ff. 87 Das heißt nicht, dass die Raum- und die Metapherntheorie des Films gegeneinander abgedichtet wären, ganz im Gegenteil sogar. Allerdings wäre dafür eine tiefergreifende Erörterung beider Bereiche der Filmtheorie nötig, die hier nicht geleistet werden kann. Vgl. zur filmischen Raumtheorie den sehr instruktiven Überblicksartikel von Prange 2012, hier insb. S. 44ff. 88 »Mehr noch als sprachliche Kommunikation ist die Bildkommunikation [...] implizite Kommunikation, die es erforderlich macht, auf die jeweils verfolgte Absicht einer Bildverwendung zu schließen«, schreiben Klaus Sachs-Hombach und Jörg Schirra zu Bildern – und das Problem setzt sich in bewegten Bildern fort. Vgl. Sachs-Hombach/Schirra 2009, S. 410ff., zudem Sachs-Hombach 2005. Die Frage der Medienspezifik der Metapher im Film beschäftigt bereits Giannetti 1972; Clifton 1983; Fahlenbrach 2010. Siehe zur uneigentlichen Rede im Film aber auch Lohmeier 1996, S. 299ff. Einen Überblick gibt der informative Artikel von Thiele 2006. Eine auf ›Embodiment‹-Theorien und der Kognitiven Semantik beruhende Theorie der »cinematic metaphor« ist jüngst bei Greifenstein et al. 2018 und Müller/Kappelhoff 2018 vorgelegt worden. Leider konnte das dort vertretene Modell nur noch stichpunktartig Eingang in die vorliegenden Studien finden und auch die Studie von Kappelhoff 2018 nicht mehr eingearbeitet werden. Eine detailliertere Auseinandersetzung mit diesem Ansatz aus Perspektive der Diagrammatik bleibt einer späteren Arbeit vorbehalten. An dieser Stelle ist allerdings bemerkenswert, dass die dort vertretene Position die Forschung zur Diagrammatizität der Metapher – soweit ich sehe – nicht beachtet, was mit Blick auf die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der Kognitiven Metapherntheorie in der Diagrammatik-Forschung als auch kognitionswissenschaftliche Positionen wie die von Barbara Tversky ein neues Forschungsfeld auch in der Filmtheorie eröffnet ( Kap. 5). 89 Derartige Ansätze liegen in Gestalt der Theorie der materiellen Metapher in der Interface-Theorie vor, so bei Marianne van den Boomen (2014, S. 48ff.). Der Vorteil dieses Ansatzes ist es, den Metaphernbegriff auf die Ebene der Materialität auszudehnen. In Abgrenzung zu van den Boomen ist hervorzuheben, dass Dinge und Ereignisse in der materiellen Welt nur dann als ›materielle Metaphern‹ erkannt werden können, die in Beziehungen praktischer Verwendungsweisen stehen, solange sie auch in semiotischen Beziehungen stehen und einen Erkenntniszweck erfüllen. Der Begriff der ma-

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Metapher gut vereinbar, lässt sich diese doch als ein Theorieprogramm zur Ausarbeitung der Gestaltung von Metaphern als in den Formen des Mediums angelegten Inferenzen verstehen.90 Ein Beispiel ist die Metapherntheorie von Trevor Whittock. Um filmische Metaphern zu beschreiben, übernimmt Whittock in seiner Studie den Begriff der »Interplizität«.91 Dieser Begriff dient ihm dazu, die metaphorischen Effekte eines »superimposing disparate ideas and contexts« zu beschreiben.92 Whittock stellt fest: »Metaphor is a process of interplicit seeing as.«93 Diese epistemologische Interaktion ist eine Relation nach dem Schema A als B und A ist B, die als dreistellige Relation auftritt: »Metaphor is tripartite in structure, not dualistic. There is (1) the image; and (2) some event or idea compared with it – these two parts might be said to constitute the interpretans of the metaphor; and then (3) the attitude or comment – the interpretand, as it were.«94 Whittocks Ausführungen sind deshalb wichtig, weil sie deutlich machen, dass Metaphern im Kontext des Films Inferenzregeln sind, die als semiotische Konventionen die Bildsprache und die Narration eines Films mitstrukturieren.95 Diese Interpretationsregeln stellen Beziehungsverhältnisse her, die, sperrig wie die Formulierung auch sein mag, »interplizitär« sind. Epistemologisch entspricht das einer ›Überblendung‹, die auch filmisch, etwa in Fällen der Metaphorisierung von Denken, als eine Überblendung realisiert werden kann (aber nicht muss). Grundsätzlich ist deshalb zwischen einer ›filmischen Metapher‹ zu unterscheiden, in der die filmische Form als metaphorisches Mittel genutzt wird, und der inhaltlichen ›Metapher im Film‹, also der Metapher als einer Inferenz auf einen metaphorisch zu verstehenden Inhalt oder den Gegenstand des Filmes. Diese Unterscheidung ist zweifelsohne vereinfachend, insbesondere im Licht der filmtheoretischen Forschung.96 Sie hilft aber, in der Betrachtung des Films eine Art teriellen Metapher macht daher folglich nur dann Sinn, wenn man ihn mit einem Verständnis von Inferenzen verbindet, die immer auch kognitiv und semiotisch sind. Das scheint mir eine Pointe auch in Mark Johnsons Diskussion von materiellen Beispielen aus der Kunst zu sein. Vgl. Johnson 1987; Johnson 2007. 90 Vgl. etwa die Deutung des ›Container‹-Schemas bei Buckland 2007, S. 48ff. 91 Vgl. Whittock 1990, S. 26, im Anschluss an Graham D. Martin. 92 Whittock 1990, S. 26. 93 Nach Whittock ist diese Operation nicht mit der in einem Kippbild vergleichbar, weil in einem Kippbild stets eine klare Entscheidung getroffen wird. In der ›interplizitären‹ Metapher wirken die beiden disparaten Elemente oder Kontexte aber aufeinander ein. Vgl. Whittock 1990, S. 27. 94 Whittock 1990, S. 82f., vgl. S. 108ff. Vgl. für eine aktuelle Kritik an der Formulierung einer ›A ist B‹-Relation im filmtheoretischen Kontext Cameron 2018, hier insb. S. 25ff.; Müller/Kappelhoff 2018, S. 62ff. Das Unbehagen an dieser Formulierung ist nicht neu, evoziert diese Relation doch eine propositionale Aussagelogik, die mit Annahmen über die mit der ›präkonzeptuellen‹ oder ›nicht-propositionalen‹ Verfassung von (kognitiven) Metaphern scheinbar inkompatibel ist. Das Problem dieser Kritik ist jedoch ihr verkürzter Begriff von Logik. Das hier aus Sicht der Diagrammatik eigentlich interessante Phänomen ist genau das einer ›materialen‹ und damit impliziten Logik ( Kap. 2.1.2 u. 5.2). 95 Mit Fahlenbrach 2010 steht zu vermuten, dass konzeptuelle Metaphern als komplexe Metaphern auf Ebene des generic-level ein essenzieller Teil von Erzählschemata und Genreregeln sind. 96 Vgl. die sehr viel komplexer gearbeitete Theorie der »cinematic metaphor« im Ansatz von Müller/Kappelhoff 2018, siehe aber auch Fahlenbrach 2010.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

›Aspektwechsel‹ vorzunehmen. In filmischen Metaphern wird die Metapher durch die filmische Form realisiert. Metaphern im Film beziehen sich hingegen auf Objekte und Sachverhalte, die in diesen Formenbildungen dargestellt werden. Die filmische Metapher entwickelt sich dynamisch mit der Filmsprache, Metaphern im Film werden dagegen aus den verschiedensten Diskursen aufgegriffen.97 Dabei sind gewisse typische Stilmittel zu beobachten, die man zum Kernbereich einer Metapherntheorie des Films zählen kann. So erfolgt die Ausgestaltung filmischer Metaphern beispielsweise durch den Umgang mit dem Off, also über die Möglichkeit, Relationen der Muster A als B und A ist B temporal als ein Problem des kontrastiven oder unerwarteten Anschlusses von Folgebildern zu fassen. Auf Achse der Räumlichkeit sind hingegen die Möglichkeit der Synthese von Objekten in einem Bildraum oder die Parallelisierung von disparaten Kontexten in einem narrativen Element zu nennen (eine Figur, ein Handlungsstrang etc.).98 Auf solche räumlichen Phänomene der Metapher hebt auch der in den metapherntheoretischen Ausführungen bereits erwähnte Ansatz zur Filmtheorie der Metapher von Noël Carroll ab ( Kap. 5.3.3).99 Die Vision Freders in Metropolis (1926), in der er die Maschine in der Unterstadt explodieren sieht, zeigt die Maschine in ihrer Identität als ›Moloch‹. Carrolls Begriff »Homospatialität«, der diesen Effekt beschreibt, besagt, dass die Spannung, die durch die Überblendung zu einem Objekt entsteht, bei visuellen Phänomenen diejenige Beziehung ersetzt, die in der sprachlichen Metapher angelegt ist: »Homospatiality […] is a necessary condition for visual metaphor. It serves to link disparate categories in visual metaphors physically in ways that are functionally equivalent to the ways that disparate categories are linked in verbal metaphor.«100 Carroll liest die Homospatialität zwischen Maschine und Moloch als Bildmetapher und fokussiert seine Ausführungen auf die hybride Identität der Metapher ›Maschine ist Moloch‹. Dem Kontext der Szene schenkt er aber kaum Beachtung. Zwar erwähnt er, dass die Metapher an die mentale Subjektivität des Protagonisten gebunden ist und als Point-of-View-Shot realisiert wird.101 Er zieht aber keine Konsequenzen daraus. Was ist das Problem?

97 Eine abgeschlossene Liste solcher Operationen auszuarbeiten, ist deshalb ein Ding der Unmöglichkeit. Vgl. Whittock 1990, S. 68: »a definitive taxonomy of cinematic metaphor is not possible«. Hinzu kommt, dass auf der Metaebene die Bestimmung dessen, was überhaupt eine Metapher ist, stets im Wandel war, Metapherntheorien des Films sind also abhängig von anderen Metapherntheorien. Vgl. dazu ausführlich Rolf 2005, hier insb. S. 9ff. Rolf zufolge muss man zwischen Metapherntheorien differenzieren, die Aussagen über das Funktionieren der Metapher machen, indem sie ihre Struktur und Leistung beschreiben (»semiosische« Theorien) und Theorien, die sich mit der Frage befassen, wie die Metapher adäquat konzeptionell zu fassen ist, also ob sie eher ein Phänomen der Semantik oder der Pragmatik ist (»semiotische« Theorien). Die Filmtheorie ist damit beschäftigt, erst einmal metaphorische Phänomene im Film zu identifizieren. Sie versucht, eine formale (mit Rolf: »strukturale«) und/oder eine funktionale (mit Rolf: »leistungsbezogene«) Aussage über die filmische Metapher zu treffen. 98 Vgl. die verschiedenen Formen der filmischen Metapher in Whittock 1990, S. 49ff. 99 Vgl. Carroll 1994; Carroll 1996, S. 212f. 100 Carroll 1994, S. 198. 101 Vgl. Carroll 1994, S. 194f.

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Freder, traumatisiert von der Explosion der Maschine, sieht für einen Moment die Maschine als Moloch und der Film zeigt, dass die Maschine ein Moloch ist. Für einen Moment sieht Freder ein Objekt in der realen Welt als ein anderes Objekt ( Abb. 75).

Abb. 75: Maschine als Moloch (TC 00:14:02). Quelle: Eigener Screenshot aus Metropolis, überarbeitete und restaurierte Fassung, Fritz Lang, DVD-Video, Fritz Lang Sonderedition, Universum Film 2004.

Dies kann man als metaphorische Art des Sehens der Struktur ›A (Maschine) gleichsam als B (Moloch)‹ verstehen. Der Unterschied zu Virgil Aldrichs Theorie einer ›visuellen Metapher‹ liegt in der Umwandlung von einem eher analytischen Sehen in die dramatische Situation der Vision eines geschockten Menschen. Freder ist nicht ganz bei Sinnen, weshalb in seiner Imagination für einen Moment die Maschine hinter dem Moloch verschwindet. Intradiegetisch bleibt die Differenz des imaginierten Molochs zu der real existieren Maschine aber erhalten, denn Freders Zustand ist nur von kurzer Dauer und der Schleier der Vision lüftet sich wieder.102 Metropolis zeigt also eine auf Ebene des Bewegungsraums angesiedelte metaphorische Wahrnehmung aus Perspektive der mentalen Subjektivität Freders und wählt dazu die Form der Überblendung. Homospatialität ist in diesem Sinne ein ›Zusammensehen‹ in einem ›Bild‹, in dem eine reale Wahrnehmung und eine imaginäre Wahrnehmung überlagert sind, in dem aber die Relation als Form der Differenz zwischen innerer und äußerer Wahrnehmung erhalten bleibt.

102 Dass die ontologische Maschine als ›Moloch‹-Metapher funktionieren kann, gehört zum Entailment der strukturellen Metapher ›Maschinelles ist Unmenschlichkeit‹. Vgl. Carroll 1994, S. 195: »The machine/Moloch image invites us to map part of what we know about Moloch onto the machines of modern industry.«. Als eine Implikation der Metapher ›Maschine ist Moloch‹ nennt Carroll (1994, S. 204) die Metapher einer »man-eating machine«. Er zieht aber keine Konsequenz daraus. Diese Konsequenz wäre gewesen, einen weiter gefassten Begriff der filmischen Metapher zu formulieren. Carroll hätte überlegen können, dass die Metapher ›Maschinelles ist Unmenschlichkeit‹ nicht als Effekt der ›Maschine ist Moloch‹-Metapher funktioniert, sondern als deren Prämisse. Dies hätte allerdings bedeutet, auch die filmische Medialität der Metapher zulassen zu müssen.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

Wie Hans-Jürgen Wulff aufgezeigt hat, ist die semiotische Funktion der Überblendung die einer Konjunktion differenzieller Bilder.103 Wulff spricht von einem »widersprüchlich scheinenden Doppelaspekt von Verbindung einerseits und Unterscheidung andererseits«:104 »Dieser ist es, der die Überblendungen so schwer beschreibbar macht.«105 Die bei Wulff beobachtete Dopplung qualifiziert die Überblendung als metaphorische Relation.106 Wulff führt seinen Gedanken fort, indem er feststellt, dass die konjunktive Funktion der Überblendung einerseits die Differenz der Bilder »impliziert und akzentuiert«,107 andererseits eine Gleichartigkeit der in Beziehung gesetzten Glieder behauptet, was sich im genannten Beispiel in der ontologischen Metapher auf der Ebene des Bildobjektes und der formalen Realisierung nachweisen lässt. Metropolis verbindet die Homospatialität des Objektes mit einer Darstellung metaphorischen Sehens durch das filmische Mittel der Überblendung. Der Film zeigt ein homospatiales Objekt und er zeigt, per Überblendung, eine epistemologische Grundoperation des metaphorischen Sehens schlechthin. Für diese Dopplung interessiert sich Carroll allerdings nicht näher. Bemerkenswert ist das deshalb, weil, wie auch Roy Clifton argumentiert, filmische Metaphern – wenn sie als semantische Relationen für Übertragungen vom Konkreten ins Abstrakte verwendet werden – häufig als Gestaltungsmittel für innere Zustände und mentale Subjektivität auffällig werden, insbesondere auch von abstraktem Denken.108 Homospatialität erscheint hier als die Erläuterung eines Bildes (Maschine) durch ein anderes Bild (Moloch), gebunden an eine Situation mentaler Subjektivität, also der 1. Person im Bewegungsraum. Folgt man Galloway, dann ist in einer solchen Situation die überlagernde Schicht die ideologiekritisch eigentlich relevante: Freders metaphorisches Sehen ist ein Sehen der Maschine (der ›Technik‹) als einer bedrohlichen Größe. Gleichzeitig ist das Beispiel ein historisches Dokument dessen, was das technische Medium Film in dieser Zeit als ein ›erweitertes Sehen‹ möglich machen konnte: Die Überblendung wird selbst zu einer Art »materiellen Metapher« für einen epistemologischen Prozess des metaphorischen Sehens.109 Zwar ist Carrolls Position nur eine unter sehr vielen. Sie ist aber dennoch in zumindest drei Hinsichten symptomatisch. Erstens sucht Carroll in seiner Metapherntheorie nach den narrativen Korrelaten der kognitiven Räumlichkeit metaphorischer Relationen, inklusive entsprechender raumlogischer Operationen wie der Überblendung. Dies ist, zweitens, von Bedeutung, weil es – wenn diese raumlogischen Operationen als implizit ›diagrammatisch‹ identifizierbar sind – das Medium Film und speziell filmische Metaphern eines ›sehenden Denkens‹ im Hinblick auf exakt solche »spatialized relations« qualifiziert, die Johanna Drucker diesem Medium nicht zurechnet. Drittens kann man filmtheoretisch (und auch auf Grundlage von Carroll) 103 Vgl. Wulff 2001, S. 6f. 104 Wulff 2001, S. 7. 105 Wulff 2001, S. 7. Im Unterschied zur Doppelbelichtung veranschlagt Wulff als Besonderheit die temporale Dauer der Überblendung, wobei die Überblendung, ähnlich wie die Erzählzeit, eine eigene Zeit hat, die häufig zur Markierung des Vergehens erzählter Zeit eingesetzt wird. 106 Vgl. auch Metz 2000, S. 215f. 107 Wulff 2001, S. 6. 108 Vgl. Clifton 1983, S. 99, S. 265ff. 109 Vgl. van den Boomen 2014, insb. S. 48ff.

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argumentieren, dass der Film dies so kontextualisiert, dass in den Narrativen, also den erzählten Geschichten, immer auch Annahmen über die mentale Aktivität eines Erkenntnissubjekts eingeschlossen sind. Film visualisiert imaginierende Denkleistungen, die mit Diagrammatisierungen erster Stufe und Diagrammatisierungen zweiter Stufe assoziiert werden können. Vom Spielfilm etwa kann man sagen, dass er, in fiktiven Settings und genreabhängig, Praktiken der Diagrammatisierung in ihrem mentalen und materiellen Kontext zeigen kann, das heißt auch unter Akzentuierung des prozessualen Momentes Denkbilder, in denen Denken gezeigt und im Zeigen vollzogen wird, in Szene setzt. Folgt man diesen Annahmen, dann ist der Film als ein Medium zu betrachten, das nicht einfach nur Denken metaphorisch ›repräsentiert‹ (›darstellt‹ etc.), sondern diesen metaphorischen Bezug – wenn auch nicht notwendigerweise – auch in seinen eigenen Metaphern selbst ›diagrammatisch‹ ausgestaltet. Zumindest den hier verfolgten Thesen nach, müsste es dabei oft um Metaphern der zwingenden ›Kraft‹ von ›Denken‹ gehen. Lässt sich dies bestätigen?

7.2 Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm Geht man im Einklang mit den Grundannahmen der Kognitiven Semantik davon aus, dass Denken im Sinne der ›Embodiment‹-Theorien »verkörpert« ist ( Kap. 2.1.3), dann erklärt sich, warum für George Lakoff und Mark Johnson drei primäre Metaphern des Denkens existieren. Diese drei Metaphern sind: ›Denken ist Bewegung‹, ›Denken ist Wahrnehmung‹ und ›Denken ist Objekt-Manipulation‹.110 Alle drei Metaphern gehören zum ›Mapping‹ der generischen Metapher ›Bewusstsein als Körper‹,111 also einer Klasse von Metaphern, die durch »extremely skeletal structures« gekennzeichnet sind ( Kap. 5.1.2).112 Auf bauend auf der Verwendung der Metapher des »Diagrammskeletts« war eines der Argumente der Peirce-Lektüre ( Kap. 3.2.1), dass Peirces Diagrammatik aus ästhetischer Sicht dahingehend interessant ist, als sich in Praktiken der Diagrammatisierung zweiter Stufe ein Moment der ›Kraft‹ erhält, das auf das Vorfeld von Diagrammatisierungen erster Stufe und ihre Verf lechtung mit der Wahrnehmung zurückverweist ( Kap. 3.5.3). Angewendet auf den vorliegenden Kontext heißt das: Denken ist – als Wahrnehmung, Objekt-Manipulation und Bewegung – immer auch durch eine spezifische ›Kraft‹ gekennzeichnet, die in Metaphern des Denkens als Bezugspunkt dient. Ein ähnliches Phänomen bringt die Mediensemantik des Interfaces ins Spiel. Der Transparenzeffekt des Intrafaces, also der inferenzielle ›Weg‹, den ein Interface (im weiten Sinn) organisiert, ist bei Galloway sowohl ein Bewegungsmoment als auch ein Intensitätsmoment (»circulation of intensity«). Dieses allgemeine medienästhetische Argument kann für die Filmästhetik auf verschiedene Arten verwendet werden. Eine Möglichkeit besteht darin, sich zu fragen, wie Metaphern des Denkens aus der Wahrnehmung bzw. der Manipulation von oder der Bewegung in »spatial relations« (Johanna Drucker) des Films entstehen und inwiefern diese Motive des Denkens als 110 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 235ff. 111 Lakoff und Johnson greifen zurück auf Sweetser 1990, S. 28ff. 112 Kövecses 2010, S. 45.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

transkriptive und explikative Leistung von Diagrammatisierungen erster oder zweiter Stufe dargestellt werden. Stellt man Druckers Ausführungen zu einer »diagrammatic interpretation« in den Kontext eines Verständnisses von Diagrammatisierung als explizierender Transkription, dann verbietet es sich allerdings, einen homogenisierenden Zugriff auf den Film zu wählen. Diagrammatik kann nicht nur in einer einzigen Form auf den Spielfilm bezogen werden. Was die Gegenstände angeht, muss vielmehr eine Mittellage zwischen Heterogenität und Konventionalität angestrebt werden. Einerseits gilt es stichprobenartig unterschiedliche Formen des Spielfilms zu betrachten, andererseits der Tatsache gerecht zu werden, dass Metaphern des Denkens höchst konventionelle und alltägliche Phänomene sind. Die Kognitive Metapherntheorie und die pragmatistische Sozialtheorie sind sich darin einig, dass Metaphern ein Phänomen des Denkens sind, das in sozialen Praktiken der generalisierenden Situationsbewältigung einen Ausdruck alltäglicher Kreativität darstellt. Metaphern dienen dazu, abstrakte Objekte und Sachverhalte zu normalisieren. Demgemäß geht auch Kathrin Fahlenbrach in ihren Überlegungen zu einer Metapherntheorie des Films von einer Wechselwirkung zwischen kognitiven Metaphern und der produktionsseitigen Gestaltung von Filmen aus.113 Fahlenbrachs Gedanke ist insofern einleuchtend, als diese Wechselwirkung mit einem ›unbewussten‹, also als implizites Wissen vorliegenden, Gefühl für metaphorische ›Angemessenheit‹ vereinbar ist, das auf Sprach- und Weltwissen gestützt ist. Filmische Metaphern – und eben auch Metaphern des Denkens – sind keine ›außergewöhnlichen‹ Formen, sondern Teil einer konventionalisierten Formensprache, welche für die Darstellung von abstrakten Objekten und Sachverhalten allgemeine Anschlussfähigkeit herstellen muss.114 Verfolgen möchte ich dazu zwei Perspektiven, die beide in der Diskussion von Agora angelegt sind ( Kap. 4). Im ersten Teil geht es um solche Szenen der Explikation, welche Diagrammatisierungen mit Visualisierungen der mentalen Subjektivität der Figuren verbinden, etwa so, wie es auch in Metropolis geschieht. Im zweiten Teil geht es um Szenen, die das nicht tun, die also keinen Einblick in die mentale Subjektivität bieten.115

7.2.1 Denken als Kraft — Zur Metaphorik des Denkens Für die Narrativierung mentaler Subjektivität stehen im Film verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Eine Möglichkeit besteht darin, eine visuelle Erzählinstanz aus Perspektive der ersten Person zu zeigen. In Form einer Mimesis der subjektiven 113 Vgl. den Ansatz in Fahlenbrach 2010. 114 Einen unterschwelligen Bezugspunkt bildet hier die ›Embodiment‹-Theorie des Films. Dass die Konstitution von Bedeutung in Filmen durch phänomenologische Theorien der Verkörperung bzw. kognitive Theorien des Embodiments erklärt werden kann, bedarf angesichts der filmwissenschaftlichen Forschung allerdings keiner weiteren Begründung mehr. Vgl. im vorliegenden Kontext exemplarisch und aus unterschiedlichen Kontexten Morsch 2011; Fahlenbrach 2010; Liptay 2008, Voss 2006 sowie die Theorie filmischer Metaphern bei Fahlenbrach 2010; Greifenstein et al. 2018; Müller/ Kappelhoff 2018. 115 Zu den jeweiligen Filmen kann jeweils nicht die vollständige Forschungslage eingebunden werden. Ich beschränke mich nur auf punktuelle Verweise auf individuelle Analysen und Kontexte.

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Wahrnehmung, also unter Bezug auf das sensomotorische Schema, wird eine interne Fokalisierung mentaler Subjektivität als die subjektive Perspektive einer Person visualisiert. Typisch dafür sind Wahrnehmungsbilder wie Point-of-View-Shots oder Eyeline Matches. Eine zweite Möglichkeit ist die des »Mindscreens«. Mindscreen ist eine von Bruce Kawin vorgeschlagene und von Markus Kuhn aufgegriffene Metapher für filmische Formen, in denen mentale Subjektivität zwar als ›intern‹ fokalisiert wird, durch die visuelle Erzählinstanz aber nicht intern visualisiert (okularisiert) wird.116 Die Figur, deren Innenleben dargestellt wird, ist aus Perspektive der dritten Person sichtbar.117 Mutmaßlich stellen beide Formen eine linguistische, psychologische und phänomenologische Konstante dar. Die metapherntheoretische Literatur tendiert zumindest zu dieser Vermutung. George Lakoff und Mark Johnson zeigen, dass zu den generischen Metaphern (generic-level) des bewussten Selbstbezugs die sogenannte »Subject-Self-Metaphor« gehört.118 Das ›Mapping‹ der Metapher beruht auf der Differenz zwischen zwei Formen der inneren Wahrnehmung: erste Person (Subjekt) und dritte Person (Selbst als Person). Lakoff beschreibt die Differenz zwischen Subjekt und Selbst so, dass das Subjekt als Instanz des Urteilens und Schließens erscheint. Das Selbst ist demgegenüber der ontologische Träger von Plänen, Erinnerungen, Gefühlen etc. Die basale Konzeption einer Person, die sich daraus ergibt, lautet: Person = Subjekt + Selbst.119 Ausgehend von dem Satz »I dreamt that I was Brigitte Bardot and that I kissed me«,120 spielt Lakoff verschiedene Beziehungen zwischen Subjekt und Selbst durch. Ihn interessiert, warum in diesem Satz das nicht-ref lexive ›me‹ statt dem ref lexiven ›myself‹ verwendet wird. Die Ursache scheint in einer Abspaltung des Selbstmodells vom Subjekt zu liegen. Das Selbst einer Person kann, im Medium des Traums, in eine andere Person ›eingeführt‹ werden. An diesem Beispiel ist zu erkennen, dass zwischen Subjekt und Selbst zwei Beziehungen bestehen: eine räumliche Beziehung der Kontrolle des Selbst durch das Subjekt und eine normative Beziehung der Kompatibilität des Subjekts mit dem Selbst.121 Das Subjekt ist die sensomotorisch strukturierte Matrix der Wahrnehmung und aller Abstraktionen von dieser Wahrnehmung in Inferenzen. In Relation zur Gesamtheit der Person ist das Subjekt der Träger der Aufmerksamkeit. Das Subjekt ist temporal immer präsentisch.122 Das Selbst ist das imaginäre Selbstmodell, das als Träger von Eigenschaften dient. Das Selbst steht für eine personale Identität in Vergangenheit und Zukunft und wird durch das Subjekt als eine auf das Subjekt bezogene ›Person‹ betrachtet.

116 Vgl. Kawin 1978; Kuhn 2013, S. 151ff. Eine ausführliche Erzähltheorie des Bewusstseinsfilms findet sich bei Bumeder 2014. Mir geht es hier jedoch nicht um die Narratologie, sondern einzig um metapherntheoretische Aspekte. 117 Diese zwei Formen der Darstellung mentaler Subjektivität sind nicht spezifisch für den Film, sondern auch in der Literatur zu finden. Vgl. Cohn 1983. 118 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 267ff., hier S. 269; Lakoff 1992. 119 Vgl. Lakoff 1992, S. 6. 120 Lakoff 1992, S. 4. 121 Vgl. Lakoff 1992, S. 5. Vgl. insb. Lakoff/Johnson 1999, S. 267ff. 122 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 269.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

Diese Ausführungen lassen den Ansatz von Lakoff und Johnson gut erkennen. Der ref lexive Selbstbezug des Subjekts gilt als ein Ausgangsbereich von Metaphorisierungen. Das Subjekt wird als eine Instanz begriffen, die sich nur temporal und verräumlicht als ›etwas‹ beobachten kann. Erst in Verbindung mit einem von dem ›Jetzt‹ der Wahrnehmung und des Schließens abgespaltenen Selbst bezieht sich das Subjekt als Person auf die Welt. Die Metapherntheorie interessiert sich allerdings nicht für die Konstitution des Selbstbezugs. Sie beobachtet, welche Metaphorisierungen in einem schon ausgebildeten Selbst/Subjekt-Bezug zirkulieren. Diese Metaphorisierungen werden von Lakoff und Johnson dem »cognitive unconscious« zugerechnet, also auch dem impliziten Wissen ( Kap. 5.1.3). Unter Berücksichtigung dieses Hinweises auf die systematische Bedeutung der Differenz zwischen Subjekt und Selbst ist daher davon auszugehen, dass auch die Formen der filmischen Darstellung mentaler Subjektivität mit Metaphern in Beziehung zu setzen sind. Markus Kuhn ref lektiert diese Metaphorizität in seinem Entwurf einer Filmnarratologie. Zur Abgrenzung von interner Okularisierung durch Point-of-View-Shots und den Formen des Mindscreens schreibt er: »Bei einer internen Okularisierung blickt die VEI [visuelle Erzählinstanz, C.E.] mit der Figur sozusagen von innen auf die ›äußere Welt‹, bei anderen Formen der internen Fokalisierung blickt die VEI – im übertragenen Sinne – ins Innere der Figuren.«123 Der Blick ins ›Innere‹ einer Figur kann nach Kuhn nur im »übertragenen Sinne« vorgenommen werden. Ähnliches lässt sich für Point-of-View-Shots feststellen. Kuhn führt aus, es müsse berücksichtigt werden, »dass eine Kamera als technischer Apparat niemals, auch im Fall eines POV shots, exakt das zeigen kann, was ein Mensch an derselben Stelle wahrnehmen würde und vor allem nicht auf die gleiche Weise, wie ein Mensch wahrnehmen würde«.124 Ein typisches und sehr altes Beispiel für eine metaphorische Beziehung der filmischen Formensprache zur menschlichen Wahrnehmung sind Aufmerksamkeitslenkungen. So lässt sich mit Kuhn der Übergang von einer halbnahen auf eine nahe Einstellung als Metapher für ›Aufmerksamkeit‹ festmachen. Ähnliches ist für Mittel wie Zoom, Schärfenführung, Kamerabewegungen, Licht etc. zu konstatieren.125 Bereits die frühe Filmtheorie, allen voran Hugo Münsterberg,126 ist auf diese Phänomene gestoßen. Von diesen basalen Schemata der Filmwahrnehmung abzugrenzen sind Fälle, in denen die Aufmerksamkeitslenkung der Zuschauer durch das optische Mittel diegetisch an eine Figur gebunden und als mentale Subjektivität ausgegeben wird. Die metaphorische Verwendung des filmischen Mittels, also zum Beispiel Zoom als eine Metapher für Aufmerksamkeit, muss von diegetischen Kontexten unterschieden werden. In diesen Kontexten werden die in Beziehung zu Prozessen der Wahrnehmung und des Bewusstseins gesetzten filmischen Mittel auf die Innenwelt einer diegetischen Figur bezogen. Das ist das Feld von Metaphern für »Introspektion« – Kuhns Begriff für das, was hier mentale Subjektivität genannt wird.127 Die Strukturmetapher ›A ist wie B‹ in der 123 Kuhn 2013, S. 149. 124 Kuhn 2013, S. 141. 125 Vgl. Kuhn 2013, S. 142f. 126 Vgl. Münsterberg 2010, hier S. 31f. 127 Vgl. Kuhn 2013, S. 149.

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Göttersequenz in Sergej Eisensteins Oktober oder die Objektmetapher des sich erhebenden Löwen in Panzerkreuzer Potemkin beziehen sich nicht auf eine diegetische Introspektion, sondern auf das Bewusstsein eines impliziten Zuschauers. Allerdings kann das bildrhetorische Mittel auch im Kontext der Visualisierung von mentaler Subjektivität Verwendung finden. Die Unterscheidung in filmische Metapher, die in der Wahrnehmung der Bildkonfiguration des Films entsteht, und einer Metapher im Film, die sich auf die ›Inhalte‹ des Bewusstseins bezieht, wird also nicht nur über eine Figur, sondern über den Bezug auf den Status des impliziten Zuschauers getroffen. Dieser implizite Zuschauer ist, mit Kuhn gesprochen, eine kommunikative Leerstelle im Sinne eines »struktursensiblen idealen Rezipienten […], der das Werk ›auf eine optimale Weise‹ versteht«.128 Wird das Bewusstsein einer implizierten Zuschauerin ›direkt‹ adressiert? Oder ist die gewählte Metapher eine, die sich auf die ›indirekte‹ Betrachtung des Bewusstseins einer fiktionalen Figur durch diese Zuschauerin bezieht? In beiden Fällen können Metaphern verwendet werden; in beiden Fällen wird die Verwendung eines filmischen Mittels an die Fähigkeit des verstehenden Nachvollzugs des metaphorischen Mittels durch das Bewusstsein der impliziten Zuschauerin gebunden. Wie gesagt, das ist eine vereinfachende Unterscheidung. Trotzdem möchte ich sie verwenden. Sie zeigt, dass der Film als Medium nicht nur auf ein Vorfeld von in Praktiken fungierenden Metaphern referiert (und dort situiert ist), sondern dass diese Praktiken unterschiedliche Schichten von Metaphorisierung des Bewusstseins im Medium freilegen. Entscheidend ist der Kontext, in dem eine Form steht. Ob eine Untersicht (›Froschperspektive‹) metaphorisch lesbar ist oder nicht, ergibt sich über den Kontext. Daher darf man der filmischen Formensprache nicht per se Metaphorizität zusprechen. Die Formen des Films können aber so angeordnet werden, dass sie metaphorische Bedeutung annehmen. Dieser Kontext kann (muss aber nicht) eine fiktionale Narration sein.129 Der Prozess der Übersetzung filmischer Bildsprache in solche Kontexte findet in Situationen der Produktion und Rezeption des Films statt. Der Unterschied zwischen beiden Formen liegt in der Richtung der Metaphorisierung von mentaler Subjektivität. Im ersten Fall wird der filmischen Form attestiert, sie sei hinsichtlich einer Menge von Eigenschaften so wie menschliche Wahrnehmung und menschliches Bewusstsein. Im zweiten Fall wird im Rahmen des Films – also einer Formensprache, der man diese Metaphorizität unterstellen kann – die Suggestion eingeführt, filmische Formen zeigten das Bewusstsein einer Person. Behauptet wird, es könne mit den Mitteln des Films gezeigt werden, was ›im‹ Bewusstsein einer Person stattfindet. Dies schließt, wie im Eingangsbeispiel aus Minority Report, rekursive und ref lexive Möglichkeiten ein. Der

128 Vgl. Kuhn 2013, S. 108ff., hier S. 112. Ich differenziere nicht zwischen einem extradiegetischen Adressaten, einem impliziten Zuschauer und einem realen Zuschauer. Kuhn ist zuzustimmen, dass diese Diskussion in den »Systemzwang« eines Sender/Empfänger-Modells führt, was wieder ganz eigene Probleme mit sich bringt. Statt einem statischen Sender/Empfänger-Modell kann man mit Sybille Krämer auch vom Modell eines ›Botenganges‹ ausgehen und die implizite Zuschauerin als einen in der Gestaltung der Form vorausgesetzten Adressaten verstehen. Vgl. Krämer 2008. 129 Die Bildrhetorik in dokumentarischen Kontexten kann genauso durch Metaphern angeleitet werden.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

Film kann die Behauptung formulieren, dass durch den Blick in das Bewusstsein klar wird, dass das menschliche Bewusstsein so ist wie ein Film ( Kap. 1.1). Narrationen über mentale Subjektivität sind also in einem Medium, dem Film, visualisiert, das sich in eine metaphorische Relation zur (Selbst-)Wahrnehmung einer implizierten Zuschauerin versetzt, bevor auf dieser Grundlage metaphorisch eine Erzählung über die subjektive Innerlichkeit einer Person und ihre Wahrnehmung entfaltet wird. Die Art und Weise der Strukturorganisation der filmischen Bilder behauptet eine metaphorische Beziehung zur Wahrnehmung und zu Bewusstseinsleistungen. Die Metaphorisierungen eines fiktiven Bewusstseins und seiner Wahrnehmung greifen hierauf zurück. Die Formen der narrativen Darstellung von mentaler Subjektivität und Introspektion sind mit einem impliziten Vorfeld von metaphorischen ›Mappings‹ zwischen filmischer Formensprache und menschlicher Wahrnehmung und Bewusstsein verf lochten.130 Filmische Visualisierungen von mentaler Subjektivität und Introspektion setzen diese Ebene einer primären metaphorischen Identifikation des Bewusstseins des impliziten Zuschauers mit dem gezeigten Geschehen voraus. Im zweiten Fall, also der Frage nach Metaphern für mentale Subjektivität, hat Markus Kuhn in seiner Narratologie des Films überzeugende Unterscheidungen zur Systematisierung des Feldes vorgeschlagen. Kuhn differenziert zwischen »mentalen Metadiegesen« und »mentalen Projektionen«.131 Mentale Metadiegesen sind durch Anfangs- und Endmarkierungen begrenzte Szenen und Sequenzen; sie sind wie ein Traum, der durch das Zeigen von Einschlafen und Aufwachen begrenzt wird. Mentale Projektionen sind Visualisierungen psychischer Zustände einer Figur ohne diegetischen Ebenenwechsel.132 Des Weiteren nennt Kuhn »mentale Metalepsen« und »mentale Einblendungen«. Mentale Metalepsen sind, intradiegetisch, eingebildete Figuren, die als real verhandelt werden (oder real sind).133 Mentale Einblendungen sind einer Figur zugeschriebene psychische Zustände, die auf das Filmbild gelegt werden, etwa durch Sprechblasen oder Textinserts.134 Mit Blick auf die erzähltheoretische Forschung zu Formen mentaler Subjektivität in der Literatur scheint Introspektion gut geeignet zu sein, um unbewusste mentale Prozesse zu zeigen. Kuhn zitiert Jochen Vogt mit den Worten, »dass gerade die Technik der Bewusstseinswiedergabe, die der Figur selbst nicht das Wort erteilt, überraschend tief in deren Psyche hinabreicht: in diejenigen Bereiche des Vor- und Unbewussten, die vom erlebenden Subjekt nicht in Worte (oder artikulierte Gedanken) gefasst werden können«.135 Kuhn stellt dazu fest, dass die visuelle Erzählinstanz des Films (VEI) »vor- und unbewusste Geisteszustände von Figuren, die diese nicht in Worte fassen können, durch mentale Metadiegesen und mentale Projektionen darstellen [kann], während die Figur paradoxerweise von außen zu sehen ist«.136 130 Als Analogie mag die Literatur dienen, die z.B. im Fall der sogenannte Psychonarration (Cohn 1983, S. 21ff.), welche bei der Darstellung von mentaler Subjektivität und Introspektion auf die Selbstgespräche der Geschichten, die man sich erzählt, aufbauen kann. 131 Vgl. Kuhn 2013, S. 151. 132 Vgl. Kuhn 2013, S. 152ff. 133 Vgl. Kuhn 2013, S. 156f. 134 Vgl. Kuhn 2013, S. 154. Vgl. ausführlich zudem Bumeder 2014, S. 252ff. 135 Zit. nach Kuhn 2013, S. 151. 136 Kuhn 2013, S. 151.

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Anhand von Metaphorisierungen eines explizitmachenden Bewusstwerdens möchte ich anknüpfend an diese theoretischen Perspektiven zunächst den Prozess der filmischen Adaption von Diagrammatisierungen erster Stufe weiterverfolgen. Knapp vorgestellt werden drei Szenen: eine Sequenz aus dem Agententhriller Tinker Tailor Soldier Spy (2011), eine aus dem Melodram Ryan’s Daughter (1970) und der finale PlotTwist in The Usual Suspects (1995). Das Beispiel aus Tinker Tailor Soldier Spy macht den Anfang. In diesem Thriller sucht der Protagonist George Smiley (Gary Oldman) in den Reihen des britischen Geheimdienstes zu Zeiten des Kalten Krieges einen sowjetischen Maulwurf. Die Figurenkonstellation dieser Suche wird durch die Positionen von fünf Spielfiguren auf einem Schachbrett dargestellt. Die fünf können als mögliche Verräter gelten und tragen Kartenspielnamen (König, As, Bube etc.). Die Suche nach dem Maulwurf bekommt den Namen ›Tinker-Tailor-Theorie‹. In einer Sequenz fragt sich Smiley (TC 01:30:40), wie einer der Verdächtigen von dieser Theorie wissen konnte. Visualisiert wird der Prozess des Nachdenkens bis hin an den Punkt, dass Smiley eine entscheidende Einsicht hat. Die Visualisierung von Smileys Denkprozess beginnt mit einer aus leichter Untersicht aufgenommenen Totalen auf ein Gebäude, in dem Smiley im Fenster zu erkennen ist. Auf der Tonebene sind dezent Bahnverkehrsgeräusche zu hören (01:30:53). Dem folgt eine längere zusammenfassende Klammerung,137 die Smiley alleine bei ref lexiven Tätigkeiten wie Spaziergehen, Schwimmen und Sitzen zeigt. Mentale Subjektivität wird über die Tonebene markiert. Unterlegt mit dezenter Klaviermusik sind Aussagen und Teile von Gesprächen mit Protagonisten aus dem bisherigen Filmverlauf zu hören. Markiert die Musik gemeinsam mit dem visuellen Syntagma mentale Erinnerung und die vergehende Zeit, so repräsentieren die Gesprächsfetzen das, was Smiley im Kopf zusammenzufügen sucht. Im Rahmen einer mentalen Projektion hört er die Stimmen von aufgezeichneten Aussagen und versucht, aus ihnen den entscheidenden Hinweis herauszufiltern. Smiley geht die Aussagen immer wieder durch. Auf der Tonebene ist dies durch eine Verbindung aus wiederkehrenden Motiven und sich überlagernden Stimmen gekennzeichnet. Smileys ›Denken‹ besteht darin, in der Polyphonie der Stimmen der verschiedenen Protagonisten und ihrer Aussagen eine Spur zu finden. Die Verwendung von Ton ergibt in Verbindung mit der Visualisierung standardisierter Situationen des Ref lektierens die Metapher einer ›denkenden‹ Situation. Der Prozess des Herausfilterns aus der Menge komplexer Informationen wird durch Kamerafahrten und Zooms auf Smileys Gesicht inszeniert. Parallelfahrten der Kamera greifen nicht nur die vergehende Zeit auf, sondern verbinden diese vergehende Zeit mit der Zeit der Sätze auf der Tonebene. Die Sprachzeit der Erinnerungen an die von anderen Menschen geäußerten Sätze, die Smiley in seinem Kopf hat, wird dabei zur Referenzzeit der visuellen Inszenierung. Dass Stimmanalyse hier das Problem ist, das Smiley durchdenken muss, wird klar gemacht, indem kurz gezeigt wird (TC 01:31:24), wie Smiley sich Tonband-Aufnahmen der Aussagen anhört. Besonders fällt auf, dass der Prozess des Anhörens der Tonbandaufnahmen mit einer Fahrt der Kamera von links nach rechts (verlaufende Zeit) visualisiert wird. In dem Maße, in dem Smiley aus dem Rauschen der Stimmen 137 Hier im Sinne des »Syntagma[s] der zusammenfassenden Klammerung« bei Metz 2003, S. 338ff. Die Kategorienbildung, die in diesem Stilmittel stattfindet, verdichtet den Zielbereich der Metaphern, also das ›Denken‹ selbst.

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eine spezifische Aussage herausfiltert, also auf den ›einen‹ Satz stößt, der ihm den entscheidenden Hinweis liefert, wird diese Seitwärtsbewegung mit der zunehmenden Fokussierung der Kamera auf sein Gesicht in Parallelmontage verknüpft. Zeigt also die Bewegung von links nach rechts die vergehende Zeit der Suche nach der richtigen Information, wird ihre zunehmende Konkretisierung mit der Annäherung an Smileys Gesicht verknüpft. Just in dem Moment, in dem die Erkenntnis einen Latenzzustand erreicht, also ein ›Durchbruch‹ unmittelbar bevorzustehen scheint, kommt ein drittes Bild ins Spiel, das motivisch über die Tonebene am Beginn der Denksequenz vorbereitet wurde. Geschnitten wird auf eine kurze Einstellung mit einer Bahnweiche, also auf die Linienstruktur einer Gleisanlage. Dort ist eine Ampelanzeige mit einem grünen Leuchtsignal zu sehen, das mit einem offensichtlich metaphorischen Einrastgeräusch auf Rot umspringt (TC 01:31:37). Die Musik wird dramatischer und Smileys Erkenntnis kündigt sich an. In diesem Moment wird die mentale Projektion nicht mehr nur auf die Tonebene ausgedehnt, sondern es folgt eine als subjektives Erinnerungsbild eingespielte Szene: die Hauptverdächtigen in einem abhörsicheren Besprechungsraum des Geheimdienstes, der aus dem bisherigen Filmverlauf bekannt ist. Dass es sich um ein subjektives Erinnerungsbild handelt, das als Simulation dient, ist nicht nur diegetisch durch den Sequenzkontext klar, sondern auch durch das Verhalten der dargestellten Personen, welche die vierte Wand durchbrechen und in die Kamera gucken, also als Gegenschuss zur Point-of-View-Fokussierung auf Smileys Gesicht funktionieren. Der Bezugspunkt des Point-of-View liegt in Smileys Vorstellungswelt. Smiley geht im Kopf die Liste der Verdächtigen durch, indem er sich die Anwesenden in dem Raum Person für Person vor Augen führt. Inspiriert ist die Sequenz unter anderem durch die Metapher ›Denken als Sprache‹, die hier ontologisiert wird.138 Das Analyseobjekt sind materiell aufgezeichnete Stimmen, die Smiley in seinem Kopf und auf Tonband hat. Diese Objekte ordnet Smiley im Rahmen der mentalen Projektion dem Figurenensemble zu. Diegetisch sind alle diese Figuren real, Smiley behandelt sie allerdings so, als ob sie den Figuren auf dem Schachbrett entsprechen würden. Interessant ist, dass sich der Film für die Zuordnung von – zumal im Rahmen der Schachmetapher – zweidimensional explizierbaren Relationen in einem dreidimensionalen Vorstellungsraum entscheidet. Die assoziierte Imagination eines Besprechungsraums mit den in Frage kommenden ›Verdächtigen‹ ist ein Container, der Smiley (und der impliziten Zuschauerin) dabei hilft, das, was er an Stimmen über das Tonband hört, in der Wahrnehmung zuzuordnen. Markiert ist die intradiegetische Fiktionalität der Figuren, indem die Figuren direkt in die Kamera blicken – also den fiktionalen Vertrag mit dem impliziten Zuschauer unterlaufen –, für Smiley mithin ›real‹ sind. In Smileys mentaler Projektion wird somit eine szenisch-strategische Anordnung durchgespielt, welche durch die Schachmetapher des Films motiviert ist. Parallelisiert ist dies mit einer Abstraktion des Denkprozesses durch die Zuordnung der Stimmen zu den jeweiligen Verdächtigen (TC 01:31:44). Die Stimmen sind Objekte, die Smiley, der,

138 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 546ff.

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jetzt nur noch sitzend, statisch gezeigt wird, im Sinne der Metaphern ›Denken ist Objektmanipulation‹ wie Analyseobjekte in seinem Kopf hin und herbewegt.139 Hervorzuheben ist, dass Smileys Imagination des Besprechungsraumes aber auch eine Art »Interface-Effekt« im Sinne Galloways erzeugt. Der Besprechungsraum wird zur Einschreibef läche der unklaren Beziehungsverhältnisse. Allerdings bleibt dieser Moment unterschwellig. Das Intraface ist nur für Smiley, wie Galloway sagen würde, »workable«. Dieser Effekt entsteht dadurch, dass die Figuren direkt in die Kamera blicken.140 Was die Szene deshalb zeigt, ist, dass es im fiktionalen Film durch die Dopplung von Figurenperspektive und impliziter Zuschauerperspektive bei mentaler Subjektivität zu einer Virtualisierung des Intrafaces kommt: Es existiert ein Interface-Effekt, aber »workable« ist das Intraface vor allem für Smiley. Für die Adressierung der äußeren Position der impliziten Zuschauerin ist dagegen die visuelle Metapher der ›Weichenstellung‹ zuständig. Die Zuspitzung der Sequenz endet mit einer Großaufnahme des halb in Dunkelheit liegenden Gesichts Smileys. An der Schwelle des Durchbruchs der Erkenntnis greift der Film die Konnotation der ›Weichenstellung‹ wieder auf, indem zurück auf die Linienstruktur der Gleisanlage geschnitten wird. Zu sehen ist, wie die Weiche, laut krachend, umgestellt (TC 01:32:02) und parallel dazu das Stimmengewirr auf einen Satz reduziert wird. Smiley hat den Hinweis im Kopf herausgefiltert, also ein Erkenntnisobjekt akustisch isoliert. Auffällig ist daran, dass die Metapher der Weichenstellung sich in ihrem – mit Whittock gesagt – interplizitären Status auf das Moment einer epistemischen Evidenz Smileys bezieht, also auch das implizite ›Gefühl‹ Smileys visualisiert. Die Metapher ›Erkenntnis ist wie eine Weichenstellung‹, die ihrerseits der Metapher des ›Denkweges‹ verpf lichtet ist, setzt als Visualisierung des Bewusstwerdens auf das von Mark Johnson beschriebene ›Removal-of-Restraint‹-Schema, einer Variante des ›Force‹-Schemas ( Kap. 5.2.2).141 Die Komplexität des Rauschens der Stimmen, also das ›undurchsichtige‹ Gewirr, wird durch die Referenzen auf die ›Schwere‹ der Analyse konnotiert (›Schwere‹ der Gleise bzw. des Metalls der Eisenbahn). Nicht zufällig ist die ›Weichenstellung‹ dabei zunächst durch einen weiteren Bildausschnitt vorbereitet, der auf das unübersichtliche Gef lecht von Schienen verweist, nun aber durch den Fokus auf nur eine Weiche ›vereindeutigt‹ ist. Die Metapher evoziert eine ›Einsicht‹ innerhalb eines verschalteten Netzes, einer Struktur von Gleisen. Im Szenenkontext kann dies als Verweis auf das Stimmengewirr verstanden werden, das seinerseits Ausdruck der verf lochtenen Personenkonstellationen ist. In Ergänzung zur Konnotation einer ›Einsicht‹ ist dabei die ›Schwere‹ des Metalls und der Gleise, vor allem aber auch das Motiv des Zugfahrens zu betonen, das eine über die individuelle körperliche Bewegungsfähigkeit hinausgehende Qualität hat. Kann man sich in einem Zug bewegen, so kann die Bewegung des Zuges nicht kontrolliert werden. Diese Möglichkeit der Aktivität in einem größeren Setting des Denkens entspricht der Form einer Schlussfolgerung, in der die Protagonisten austauschbare Schachfiguren im strukturellen ›Diagramm‹ eines größeren, sich nach strukturellen 139 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 240f. 140 Blicke aus dem Bild bilden in Galloways Beispiel von Norman Rockwells Triple Self-Portrait und seiner MAD-Karrikatur von Richard Williams ein Kriterium für die ›Bearbeitbarkeit‹ des Intrafaces. Vgl. Galloway 2012, S. 34ff. 141 Vgl. Johnson 1987, S. 46f.

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Regeln vollziehenden (Macht-)Spiels sind; die Kraft der Einsicht treibt, nach der ›Weichenstellung‹, auch den weiteren Film voran. Die Schlussfolgerung, das Explizitmachen als Bewegungsmoment, die richtige Beziehung in einem undurchsichtigen Beziehungsgef lecht gefunden zu haben, beendet einen statischen, ref lexiven Moment des Denkens. Ein umgekehrtes Verfahren zu dem von Smiley angewendeten, das nicht aus einer Mannigfaltigkeit von Wahrnehmung abstrahiert, sondern aus einem insuffizienten Input ein Narrativ konstruiert, findet sich in einer in der Diagrammatik-Forschung bereits diskutierten Szene aus Ryan’s Daughter.142 Der Lehrer Charles Shaughnessy (Robert Mitchum) sitzt am Strand und sieht spielenden Kindern zu. Während er sinniert, wird er auf Fußspuren zweier Fußgänger im Sand aufmerksam. Er folgt den Fußspuren für einige Meter. Sie erwecken seine Aufmerksamkeit, weil eines der beiden Paare eine seltsame Schleifspur am rechten Fußabdruck hinterlässt. Wie sich erweist, gehören die Fußspuren zu dem kriegsversehrten Offizier Randolph Doryan (Christopher Jones), der eine Affäre mit der von Shaughnessy begehrten Rosy Ryan (Sarah Miles) hat. Shaughnessy weiß davon noch nichts. In einer Point-of-View-Detailaufnahme (TC 00:04:17) werden beide Spuren von ihm miteinander verglichen. Nicht nur die ungewöhnliche Form des ersten Spurenpaares fällt auf. Es wird auch klar, dass es sich um Herren- und Damenschuhe handelt. In Shaughnessy reift jetzt der Verdacht, dass es sich aufgrund der charakteristischen Schleifspur um den kriegsversehrten Doryan handeln könnte. Shaughnessy folgt den Spuren bis zu einer kleinen Steinformation, wo die Spuren und der Sand verwischt sind. Darauf hin folgt er ihnen weiter bis zu einem fast mannsgroßen Steinquader, wo ihm klar wird, welches Paar hier spazierengegangen sein muss. Als Übergang in mentale Subjektivität durch Musik markiert, imaginiert Shaughnessy den Spaziergang des Liebespaares. In einer als Point-of-View-Shot realisierten mentalen Projektion sieht er Doryan und Ryan, wie sie Arm in Arm spazierengehen und auf ihn zukommen. Was sich im Rahmen seiner mentalen Projektion abspielt, wird durch die Differenz zwischen der Point-of-View-Perspektive in der mentalen Projektion (diegetische Subjektivität Shaughnessys) einerseits und der Normalsicht auf Shaughnessy und die am Strand spielenden Kinder (diegetisch objektive Realität) andererseits differenziert – also durch die Differenz zwischen erster Person (die subjektive Sicht vor dem geistigen Auge) und dritter Person (die Darstellung Shaughnessys, wie er am Strand steht) (TC 00:06:15). Kurz danach verselbstständigt sich die Projektion Shaughnessys und geht in eine mentale Metadiegese über, die überdies eine mentale Metalepse beinhaltet. Als Metadiegese durch einen weißen Kadrierungsrahmen markiert, sieht man metaleptisch Shaughnessy (TC 00:06:20) plötzlich als handelnde Person im Bild, also als Protagonisten in seiner eigenen Vorstellung. Shaughnessy tritt als für die imaginierten Figuren unsichtbare Person in Erscheinung. Doryan und Ryan sind Vorstellungsbilder vor seinem geistigen Auge. Sie bemerken ihn nicht. Allerdings ist er auch kein Geist. Als Akteur in der eigenen Vorstellung weicht Shaughnessy den imaginierten Figuren aus und versteckt sich hinter dem Quader ( Abb. 76).

142 Vgl. zuerst Bauer 2006; dann auch Bauer/Ernst 2010, S. 196ff. Ryan’s Daughter hat zwei Teile. Die Szene steht am Beginn des zweiten Teils des Films. Der Time-Code bezieht sich auf die zweite DVD.

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Abb. 76: Mentale Metalepse (TC: 00:07:07). Quelle: Eigener Screenshot aus Ryan’s Daughter, David Lean, DVD-Video, Two Disc Special Edition, Turner Entertainment & Co. 1970.

Die Imaginationen Shaughnessys sind nur anfänglich einem dualistischen Szenario verpf lichtet, in dem innere und äußere Realität gegeneinander abgedichtet sind. Zunehmend werden sie als Mindscreen in seiner Realität manifest. Insbesondere der Akt des Versteckens hinter dem Stein ist ein Hinweis darauf, dass beide Realitäten, die ›objektive‹ und die ›mentale‹, zwar ineinandergeblendet sind, aber miteinander in Beziehung stehen. Ähnlich wie Menschen, die ein komplexes Szenario durchspielen, also etwa Piloten, die im Kopf komplexe Bewegungen durchgehen, vollzieht Shaughnessy beim Durchspielen des Szenarios auch in der – im Film zugunsten der mentalen Metalepse nicht gezeigten – extra-mentalen Realität genau die gleiche Bewegung, ganz so, als ob die imaginierten Figuren anwesend wären. Zwar wird seine mentale Vorstellungswelt gezeigt, in der er als Protagonist auftritt. Aber diese explizit gezeigte Welt behält eine Referenz auf die implizite Handlung Shaughnessys. Die Metalepse wird beendet, als er den Spuren weiter folgt. Shaughnessy bemerkt, dass sie in eine Höhle führen – eine Metapher für den sexuellen Akt. Jetzt ist ihm endgültig klar, was vorgefallen sein muss, und er lehnt sich, sichtlich berührt, an einen Felsen. Matthias Bauer hat an der Szene die konjekturale Schlusslogik hervorgehoben, die aus der Diagrammatizität der Spuren zurück auf ein Handlungsgeschehen schließt, indem er sich dieses imaginiert.143 Die Stärke seiner Analyse liegt darin, dass ein Prozess der Anreicherung subjektiver Wahrnehmungen beschrieben wird. Ausgehend von einer irritierenden Wahrnehmung wird nach einem plausiblen Szenario zu deren Erklärung gesucht. Aus metapherntheoretischer Perspektive ist in diesem Beispiel dabei allerdings nicht nur die ›Kraft‹ der Evidenz wichtig, die Shaughnessy körperlich zusammensacken lässt. Wichtiger ist der Prozess des Spurenfolgens, der strukturähnlich zum Prozess des Durchlaufens von diagrammatischen Relationen ist. Der Indexikalität der Spur folgend, beziehen sich Shaughnessys narrative Konjekturen auf ein vergangenes Geschehen. Das Folgen der Spur, also die nach ›vorne‹ gerichtete Bewegung in die Zukunft, wird vor dem geistigen Auge zu einer temporal nach ›hinten‹ gerichteten Bewegung. Die Indexikalität der Spur fordert eine ›retroduktive‹ Schlussfolgerung, eine ›Zurückführung‹, wie Peirces später Begriff für die 143 Vgl. Bauer 2006, S. 181ff.

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Abduktion lautete ( Kap. 3.4.2). Die Virtualität des Index, also die Distanz zwischen kausalem Ereignis und Spur im Sand, wird durch Shaughnessy ›poietisch‹ mit einer szenischen Imagination aufgefüllt. Metapherntheoretisch folgt der Akt der Narrativierung entlang der Linie der Spuren – bildlich – dem ›Source-Path-Goal‹-Schema. Die Szene beginnt, als Shaughnessy die Fährte aufnimmt (source), er folgt dem Pfad bis zum Zwischenspiel an den Steinformationen und einem Steinquader (path). Am Ende steht die Höhle als Metapher für den sexuellen Akt (goal). Das ›Source-Path-Goal‹-Schema ist dann, wenn es in dieser spezifischen Konstellation zur Anwendung kommt, also in der retroduktiven Erzeugung eines Narrativs, das der Indexikalität von Spuren abgerungen wird, noch mit zwei anderen Schemata verf lochten: Scale und Force. Die Interaktion dieser beiden Schemata erschließt auch die spezifische Metapher, die verwendet wird: ›Denken ist Bewegung‹.144 Shaughnessys Denken ist Bewegung, in diesem Fall Bewegung entlang eines Pfades. Sofern er seinem Gedanken folgt – was er tut –, ›zwingt‹ ihn aber nicht nur der Pfad an einen Ort. Auch die Inferenz hat eine spezifische Kraft. Nahezu alle der Teile des Entailments der ›Denken ist Bewegung‹-Metapher, wie Lakoff und Johnson sie beschreiben, sind in der Szene präsent:145 Ideen sind Orte (die Shaughnessy auf dem Pfad passiert), Vernunft ist eine Kraft (Shaughnessy muss dem Gedanken folgen, der eine Kraft auf ihn ausübt), Rationalität ist eine direkte Bewegung, die Schritt für Schritt, freiwillig und im Einklang mit der Kraft der Vernunft vollzogen wird. Ein Gedankengang – oder im Englischen besser: ›line of thought‹ – ist ein Pfad. An X denken bedeutet, in die Gegend um X zu gehen (hier indirekt, da Shaughnessy gezwungen wird, will er seinem Gedanken treu bleiben) und Verstehen ist Folgen. Das Beispiel aus Tinker Tailor Soldier Spy weist ebenfalls die ›Denken ist Bewegung‹-Metapher auf. Nicht nur steckt das ›Force‹-Schema in der ›Weichenstellung‹-Metapher, sondern die Metapher ist auch eine Metapher für eine Bewegung, die ihre zielführend-zwingende Dynamik entfaltet. Zu den Konnotationen der Weichenstellung gehört, dass die Gedanken in die richtige Richtung gelenkt werden, damit der Zug, der als solcher eine von einem Subjekt nicht kontrollierbare Eigenbewegung hat, auch an sein Ziel kommt. Wollte man in dieser Metaphorik bleiben, sind die Spuren in Ryan’s Daughter wie ›Schienen‹, auf denen Shaughnessy ›fährt‹. Wesentlich an dem ›Denken in Spuren‹ ist, dass Shaughnessys schlussfolgernde Aktivität, seine Fähigkeit, sich die Szene zu imaginieren, nur die eigene Passivität und Ohnmacht im Vollzug der Operation aufdeckt. Einerseits steckt das in der Tragik des rekonstruierten Geschehens, andererseits ist es ein Effekt der ›Denken ist Bewegung‹-Metapher: Die Kraft der Schlussfolgerung ›zieht‹ Shaughnessy durch die Linie der Spuren. Smiley sieht sich, wie Shaughnessy, ebenfalls der Kraft der Denkbewegung ausgesetzt. Jedoch bewegt er sich in seinem Kopf nur der Gedanke, während sein Körper ruhig bleibt. Im Unterschied zu Tinker Tailor Soldier Spy ist die epistemische Evidenzerfahrung eine, die sich aus Bewegung ergibt. In beiden Fällen handelt es sich um schlussfolgerndes Denken, aber Shaughnessy folgt dem kausalen Ereignis, setzt sich in Bewegung, um der Konsequenz seiner Analyse bis zum bitteren Ende zu folgen. Wie schon 144 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 236ff. 145 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 236.

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die Bahn-Metaphorik in Tinker Tailor Soldier Spy den Agenten Smiley zwingt auch Shaughnessy die Relationalität der Spur in seine Erkenntnis, wird also der Index als Diagramm gelesen, das rekonstruiert wird und so ein Schema des ›wahren‹ Ablaufs der Ereignisse liefert. »Der Fußabdruck (ahd.: ›spor‹, mhd.: ›spur‹)«, so schreibt Sybille Krämer, »ist nicht nur etymologisch bedeutsam, sondern gibt als Fährte eine intuitiv zugängliche Urszene des Spurseins ab.«146 Shaughnessy übersetzt die Spuren in einen Gedankenfilm, der in seinem Kopf abläuft und in dem er als Akteur mitspielt – ein Film, der dann als Mindscreen-Szene im Sinne der mentalen Metalepse in Ryan’s Daughter inszeniert wird. Krämers Idee, das Spurenlesen als »Inversion« einer medialen Übertragung zu verstehen, in ihren Worten: eines »Botengangs«,147 bestätigt sich auf eine selbstreferenzielle Weise: In einem Film rekonstruiert Shaughnessy vor dem geistigen Auge ein ›wie ein Film‹ im Film ablaufendes Geschehen. Die generische Metapher ›Bewusstsein als Film‹ kann hier aber auch im Bezug auf den Anfang der Auftaktsequenz aus Minority Report gelesen werden, wo die Gedanken der Precogs auf ein Display projiziert werden. Dort ist es trennscharf möglich, die Metapher vom ›Bewusstsein als Film‹ oder ›Kopf kino‹ als medienref lexive Figur zu behaupten ( Kap. 1.1). In Ryan’s Daughter ist das nicht ganz so einfach. Zumindest kann man den Teil der Szene, in der Shaughnessy als Akteur in der mentalen Metalepse auftritt, als eine Metaphorisierung des Bewusstseins als Film verstehen, in dem, im Medium Film, die semiotische Medialität des Bewusstseins thematisch wird. Nicht zu unterschlagen ist die Pointe des Intraface-Begriffs. Das Interface ist eine Schnittstelle zu einem Sonderraum, in dem sich Denken vollzieht.148 Wenn es dabei eine, in klassischen Begriffen gesagt, ›intermediale‹ und ›remediatisierende‹ Funktion hat, dann sind selbst- und medienref lexive Metaphern wie die, dass das Bewusstsein als Film in den Film wiedereingeschrieben wird, stets auch Indicies einer ›Schnittstelle‹. Es kommt zu einer Spannung zwischen einem zu bearbeitenden Zentrum und einer die Bedingungen dieser Bearbeitbarkeit definierenden Grenze. Erwähnenswert ist dies deshalb, weil die szenische Imagination Shaughnessys als ›Mindscreen‹ in die diegetische Realität integriert ist. Diese Integration wird konsequenterweise mit einem leichten Bokeh-Effekt am Rand des Bildfeldes als Imaginations-›Bild‹ illustriert. Sie bleibt aber an eine perspektivische Einstellung auf Shaughnessy ohne diesen Effekt gebunden. Es findet also eine durch die Einbildungskraft vermittelte »Augmented Interaction« statt, in der die Grenze des augmentierten szenischen Geschehens durch einen, hier nicht nur epistemologischen, sondern auch materiellen Transparenz-Effekt markiert ist. Innerhalb der Szene ist dieser Interface-Effekt wiederum zeitlich begrenzt und steht, quasi als »imaginary moment« ( Kap. 3.3.1),149 zeitlich vor der eigentlichen Erkenntnis Shaughnessys. Wiederum ist dieser Moment der zentrale Einsichtsmoment. Der Unterschied zu dem virtuellen Raum in Tinker Tailor Soldier Spy ist die Überlagerung der Realitätsebenen: In Smileys Kopf ist es eine ›virtuelle Realität‹, in Ryan’s Daughter ist es eine ›augmentierte Realität‹.

146 Krämer 2008, S. 276. 147 Vgl. Krämer 2008, S. 278ff. 148 Vgl. zum »diagrammatische[n] Bildraum« als einem »medialen Sonderraum« auch Beck 2016, S. 82. 149 Stjernfelt 2007, S. 83ff.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

Das dritte Beispiel ist dem Kriminal-Genre entnommen. In The Usual Suspects wird zum Ende des Films dem Zollfahnder Dave Kujan (Chazz Palminteri) klar, dass der Verbrecher Roger ›Verbal‹ Kint (Kevin Spacey), der nach einer inoffiziellen Befragung gerade das Büro verlassen hat (01:33:40), der gesuchte kriminelle Mastermind Keyser Söze ist. Kint hat während der Befragung die Geschichte des Films anhand einer Pinnwand konstruiert, die hinter dem Schreibtisch des Polizisten im Raum hängt. Die Szene wird in der Mise en Scène implizit vorbereitet und über die sprachliche Erzählebene explizit eingeleitet. Man sieht Kujan und einen Kollegen, der ebenfalls im Raum anwesend war. Beide unterhalten sich (01:34:17). Fast der gesamte Bildhintergrund wird von der Pinnwand eingenommen, auf deren Grundlage Kujan in den folgenden Einstellungen das Lügenmärchen rekonstruieren wird.150 Die Kamera besetzt in einer Halbtotalen die Position im Raum, die Kint, also der Befragte, zuvor eingenommen hatte, was den impliziten Zuschauer in die gleiche Position versetzt. Kint sitzt alleine im Büro Kujans und beobachtet ruhig, aber sehr aufmerksam die Objekte im Büro (TC 00:21:00). In einer Reihe von Großaufnahmen streift die Kamera über die Objekte im Büro, vor allem über die Pinnwand. Allerdings bleibt der Umstand, dass Kint aus diesen Informationen eine Geschichte weben wird, zu diesem Zeitpunkt des Films implizit, gehört also zu den Hinweisen, die in diesem Fall vom Film gesetzt werden. Während nun in der Einstellung langsam an die Pinnwand herangezoomt wird, bemerkt Kujans Kollege: »It all makes sense, when you look at it right. You gotta like ›stand back‹ from it, you know.« (TC 01:34:56) ( Abb. 77).

Abb. 77: ›Man muss nur zurücktreten‹ (TC 01:34:56). Quelle: Eigener Screenshot aus The Usual Suspects, Bryan Singer, DVD-Video, Polygram Film Productions 1995.

Durch das Heranzoomen an die Pinnwand und die Aufforderung, einen Schritt zurückzutreten und die Dinge aus der richtigen Perspektive zu betrachten, leitet der Film in den Evidenzmoment Kujans über. Die Darstellung dieser Evidenz wird an Kujans subjektiven Blick gebunden. Über das Schuss-/Gegenschussverfahren und durch die Musik als mentale Subjektivität markiert, wird Kujan auf ein Detail an der mit Fahndungsschreiben, Fotos und Papieren übersäten Pinnwand aufmerksam. Kujan 150 Vgl. zur Pinnwand im Kontext von Diagrammatik und Fernsehserie die Beiträge in Wentz et al. 2017. Darin auch mein Beitrag Ernst 2017c, der ursprünglich ein Exkurs zur dokumentarischen Fernsehserie in der eingereichten Fassung der Habilitation war, aber im Kontext des Buches von Wentz et al. besser aufgehoben ist.

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lässt im Moment der Einsicht seine Kaffeetasse fallen (TC 01:35:28). Die Kamera folgt in Großaufnahme der zerschellenden Kaffeetasse aus verschiedenen Einstellungen. In diesem Moment zerbirst eine bisherige Gewissheit Kujans und wird durch eine neue Gewissheit ersetzt. Dass The Usual Suspects auf die Objektmetapher der fallenden Tasse zur Einleitung der Szene setzt, ist eine simple, aber effektive Art, den Schock zu visualisieren, dem nicht nur die diegetische Figur unterliegt, sondern den auch der finale Plot-Twist bedeutet. Diesem durch eine filmische Metapher verstärkten Übergang in die mentale Subjektivität folgt, ganz ähnlich wie in Tinker Tailor Soldier Spy, auf der Tonebene die Einblendung von Zitaten aus der vorherigen Befragung. Kujan erinnert sich an seine Aufforderung an Kint, ihn zu überzeugen und ihm alles zu ›erzählen‹. Die sprachliche Erzählung, die Kujan im Gewirr ihrer verschiedenen Wendungen durch übereinander gelagerte Stimmen in seinem Kopf hört, rekonstruiert und ordnet Kujan durch die Betrachtung der bildlichen Details an der Pinnwand, also der Quelle, die Roger ›Verbal‹ Kint für das ›Zusammenweben‹ seines ›Textes‹ genutzt hatte. Dabei springt die Kamera im Schuss-/Gegenschuss-Verfahren, also Detailaufnahme der Pinnwand als Point-of-View-Shot versus Großaufnahme von Kujans Gesicht, über die Pinnwand. Nach einigen Sekunden verbindet sich dies mit Einblendungen von Filmszenen des bisherigen Filmverlaufs. Vor dem geistigen Auge Kujans läuft nicht mehr nur seine individuelle Wahrnehmung, sondern auch die des impliziten Zuschauers, der den Film gesehen hat, den auch Kujan vor seinem Auge sieht. In dem Maße, in dem Kujan die Details ordnet, erschließt sich retrospektiv die Konstruktion der Geschichte durch Keyser Söze bzw. Roger ›Verbal‹ Kint (TC 01:35:55). Konstitutiv ist hier das Herstellen eines visuellen Beziehungsnetzes zwischen den Spuren auf der Pinnwand und einer Relationierung dieses geistigen Strukturbildes mit den Sprachfetzen, an die Kujan sich erinnert. Ähnlich wie im Fall von Ryan’s Daughter folgt Kujan eher den sich selbst entfaltenden und das Puzzle in die richtige Ordnung bringenden Bildindizien, die offensichtlich als Diagramm gelesen werden, was hier auch bedeutet, sie als Indicies (im Sinne kausaler Verursacher des Narrativs Kints) zu lesen, also die Ebene der Peirce’schen ›Zweitheit‹ zu rekonstruieren. Sein Denken besteht darin, diese Indizien nachzuvollziehen, wobei er weniger aktiv denkt, als dass er getrieben wird. Die kurze Szene endet, indem elliptisch auf den aus dem Raum rennenden Kujan (TC 01:36:36) geschnitten wird. Die kinetische Kraft der rekonstruierenden Denkbewegung übersetzt sich in die umgekehrte Energie, der Shaughnessy in Ryan’s Daughter ausgesetzt ist: Ist Shaughnessy während seines Denkprozesses aktiv und bewegt, so ist Kujan, genau wie Smiley, im Denkmoment passiv, wird dann aber aktiv und stürmt aus dem Raum. Die Strategie der Dekonstruktion der üblichen Aktionsbilder des Agentenfilms in Tinker Tailor Soldier Spy lässt bei Smiley keinen solchen Aktionismus auf kommen. Er geht ruhigen Schrittes zur nächsten konspirativen Besprechung. Die dominanten Metaphern sind ›Denken ist Wahrnehmen‹ und ›Wissen ist Sehen‹.151 Als audiovisuelles Medium ist der Film in der Lage, dies mit verschiedenen Metaphern aus dem Entailment der ›Denken ist Wahrnehmen‹-Metapher zu verbinden, am prominentesten ist die Metapher ›Aufnahmebereit sein ist Hören‹, sofern die Relationierung der Bilder mit der Sprache über die Gesprächsfetzen auf der Tonebene 151 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 238.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

umgesetzt wird. Die Einleitung der Szene durch den Kommentar von Kujans Kollegen, dass man nur die richtige Perspektive einnehmen müsse, wird durch die Inszenierung der expliziten Bewusstwerdung noch einmal unterstützt, ist sie doch eine Illustration der Bedingungen, die gegeben sein müssen, um explizite Erkenntnisse zu gewinnen, also etwas richtig zu ›sehen‹. Dieses Explizitmachen ist zugleich die Ermächtigung, die Kujan nicht hat, und zugleich die Anwendung der Metapher ›Ignorant sein ist nicht fähig sein zu sehen‹. Wenn betont wurde, dass am Anfang der Szene der implizite Zuschauer durch die gewählte Halbtotale auf Kujan, seinen Kollegen und die Pinnwand im Hintergrund in die Position des unzuverlässigen Erzählers Kint versetzt wird, dann ist das ein über die Mise en Scène umgesetzter Parallelismus,152 welcher der Metapher ›Wissen aus einer Perspektive ist Wissen aus einem Standpunkt‹ entspricht. Lakoff und Johnson bezeichnen die ›Denken ist Wahrnehmen‹-Metapher als »extraordinarily common«.153 Dennoch ist sie, in ihrer Allgemeinheit, in ihren filmtheoretischen Konsequenzen abgründig. Dem Film ein eigenes Erkenntnispotenzial zuzusprechen, wie es in der Filmphilosophie bei Gilles Deleuze geschieht,154 findet in dieser Metapher seinen Anfang. Im vorliegenden Fall steckt das Diagramm in der Parallelisierung der Erzählfragmente aus Kints Geschichte, wie Kujan sie in Erinnerung hat, und ihrer Referenzialisierung an der Pinnwand – also in der Differenz aus diegetischem ›Wahrnehmungsbild‹ in Kujans Blick auf die Pinnwand und der Projektion der diegetischen, erinnerten ›Sprache‹ auf ebendiese Pinnwand.155 Diese Differenz wird als Differenz zwischen dem Filmbild und dem Narrativ auf den impliziten Zuschauer ausgedehnt. Deshalb werden Schlüsselszenen des vorherigen Films eingeblendet. Diese Szenen sind das imaginäre Material, das die Differenz füllt. Das hier relevante Diagramm ist also das Gef lecht aus Relationen, die in der Rekonstruktion des Narrativs, wie es Kujan durch die Entdeckung seines originalen Bauplans auf der Pinnwand vor Augen steht, gegeben sind. Ist Kujan vorher in ein narratives Schema eingebunden, so hat sich sein Wahrnehmungsschema verändert und er sieht nun – gemeinsam mit dem impliziten Zuschauer – die Narration anders. Die diskursive Evidenz, die der Film aufgebaut hat, wird in epistemischer Evidenz durch die Rekonfiguration des narrativen Diskurses umstrukturiert. Das Medium dieser Rekonfiguration ist die Pinnwand, an der die Spuren von Sözes/ Kints Narrativ noch sichtbar sind. Die Pinnwand wird zu einem materiellen Medium der Verkörperung einer als Diagramm gelesenen Gruppe von Medien und Zeichen (Bilder/Schrift), auf dem – hier vor dem geistigen Auge – in einer räumlichen Fläche netzwerkartig ein interkonnektives Narrativ gewoben werden kann. Die Pinnwand ist eines der bevorzugten Medien von Diagrammatisierungen erster Stufe, und das ist die Pointe der Szene: Der Schluss wird erzeugt, als Kujan die Relationen zwischen den Elementen auf der Pinnwand sieht, als er also in einer Zusammenschau von Bild- und Textmaterial zwei ›Strukturbilder‹ miteinander abgleichen kann: das der Geschichte von Roger ›Verbal‹ Kint und das, wie diese Geschichte entstanden ist. Dieses Neuanordnen von Wahrnehmungs- und Deutungsschema ist eine diagrammatische Operation, die in The Usual Suspects mit der Plotstruktur verwoben wird. Im 152 Vgl. Whittock 1990, S. 66ff. 153 Lakoff/Johnson 1999, S. 238. 154 Vgl. Deleuze 1989; Deleuze 1991. 155 Vgl. zum Motiv der Pinnwand auch die Beiträge Wentz et al. 2017.

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vorliegenden Kontext ist daher nicht so sehr das unzuverlässige Erzählen das Wichtige an der Szene,156 sondern ein latentes implizit/explizit-Verhältnis, das der Film durch den Plot-Twist zu sich selbst unterhält und die ›Denken ist Wahrnehmen‹-Metapher als Rekonfiguration von Relationen auf den impliziten Zuschauer ausdehnt. Die Szene ist deshalb interessant, weil der in Kujans Erinnerung ablaufende Rückschluss auf den bisher abgelaufenen Film, der eigentlich etwas ganz anderes erzählt hat, ein ›Drittes‹ ins Spiel bringt, nämlich die Idee, dass der Film als zeitbasiertes Medium eine Art umgekehrtes Intraface ausbilden kann, das vom Zentrum zur Grenze hinausführt, also vom bearbeiteten Zentrum zu den Bedingungen der Bearbeitbarkeit, dabei aber trotzdem eine Zirkulation der ›Intensität‹ realisiert, also nicht ›unworkable‹ ist, sondern im Einklang mit Galloway ›workable‹. Galloways an statischen Beispielen entfaltete Theorie wäre damit dynamisiert. Ein weiterführendes Beispiel dafür sind Mindgame-Filme.157

7.2.2 A Beautiful Mind — Transparenz und Intransparenz Betrachtenswert ist in diesem Kontext ein Klassiker aus diesem Feld, nämlich A Beautiful Mind (2001). Der Film ist die Geschichte der Ambivalenz diagrammatischen Denkens zwischen luzider Klarheit und labyrinthischem Wahn. Der Protagonist, der brillante Mathematiker John Forbes Nash (Russel Crowe), konstruiert sich eine Wahnwelt, in der er für das Pentagon und die CIA Analysen vornimmt. Sein Ziel ist das Knacken eines Codes, mit dem angebliche sowjetische Agenten eine in die USA eingeschmuggelte Atombombe explodieren lassen wollen. Ausgewertet werden von Nash Zeitungsanzeigen, Presseartikel und ähnliches ›Beweismaterial‹, das durch die Agentengruppe als Trägermedien für die codierten Kommunikationen verwendet wird. A Beautiful Mind setzt im ersten Drittel des Films auf den Trick unzuverlässigen Erzählens, über eine mentale Metalepse Charaktere in die Story einzuführen, mit denen Nash wie mit ›realen‹ Figuren interagiert, die sich aber nach einem Plot-Twist zur Hälfte des Films (TC 01:04:00) als Projektionen erweisen.158 Ebenso wie in The Usual Suspects wird der Plot-Twist durch Hinweise vorbereitet, wie etwa zu Anfang des Films in einem elliptischen Schnitt, wenn Nash mit seinem fiktiven Zimmergenossen Charles Herman (Paul Bettany) (TC 00:05:57) interagiert. Nach dem Plot-Twist werden die Realitätsebenen separiert. Klar gemacht wird, welche Figuren eingebildete sind und welche nicht.159 Die Verstrickung Nashs in seine Wahnwelt wird in A Beautiful Mind mit verschiedenen Formen der Thematisierung seiner intellektuellen Brillanz kombiniert. Bemerkenswert ist insbesondere die Verbindung von Szenen, die Nashs Analysefähigkeit zei156 Vgl. die Beiträge in Liptay/Wolf 2005, dort auch mit Hinweisen zu The Usual Suspects. 157 Vgl. Elsaesser 2009, S.  237ff., dazu ausführlich Bumeder 2014, insb. S.  46ff., eher medienphilosophisch auch Fahle 2015, S. 87ff. Seit den 1990er-Jahren hat der postklassische Hollywood-Film mit den sogenannten Mindgame-Filmen komplexe Verbindungen von Metaphern in Bewusstseinsnarrativen hervorgebracht. Mindgame-Filme sind, das ist keine Neuigkeit, eine Reaktion auf den Erkenntnisanspruch des neurowissenschaftlichen Paradigmas und die Evolution digitaler Medien, insbesondere auch Brain-Computer-Interfaces. Diese Idee geistert in der Science-Fiction schon länger herum. Schön umgesetzt findet sie sich bereits in Douglas Trumbulls Project Brainstrom (1983). 158 Vgl. Kuhn 2013, S. 157f. 159 Vgl. zur filmischen Narratologie derartiger paranoider Schizophrenien Bumeder 2014, S. 108ff.

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gen, mit solchen der übergeordneten, diegetischen Welt. Das überlegene analytische Bewusstsein, das Nash ins Unglück stürzt, da es die Wahnwelten konstruiert, wird am Ende des Films zu der Instanz, vermittels derer sich Nash therapieren kann. Die Inszenierungen des Denkens von Nash findet einen frühen Höhepunkt in der Szene, in der Nash das Theorem entdeckt, das ihn später weltberühmt gemacht hat: das Nash-Gleichgewicht. Diese Szene funktioniert wie das Brennglas, in dem sich der Plot des Films fokalisiert. Sie beginnt, als Nash mit seinen Freunden und Kollegen in einer Bar überlegt, wer aus der Gruppe eine Blondine ansprechen und für sich gewinnen könnte. Unablässig an seinen Papieren arbeitend, hört er seinen Freunden zu, wie sie sich über eine junge blonde Frau (»the blonde«) unterhalten und ihre strategischen Optionen abwägen. Eine kurze, durch eine Überblendung, Ton und Licht als Point-of-ViewShot markierte, subjektive Wahrnehmung (TC 00:19:32) leitet über in Nashs brillante Deduktion der Lage. Sie beruht auf einer abduktiv eingeführten Hypothese: Wenn sich alle Akteure für die Blondine entscheiden, blockieren sie sich gegenseitig. Wenn sich dann alle für die Freundinnen der Blondine entscheiden, werden sie abgelehnt, weil niemand zweite Wahl sein will. Also ist die Lösung, dass kein Akteur damit anfängt, die Blondine anzusprechen. Dann ist ein Gleichgewicht hergestellt, weil das beste Resultat besteht, wenn jeder das tut, was das Beste für ihn ist und das Beste für die Gruppe. Nash kommentiert seine Feststellung nüchtern: »That’s the only way we win, that’s the only way we all get laid.« (TC 00:20:06) Der Film stellt diese Analyse dar, indem Nash die beteiligten Akteure vor seinem geistigen Auge (wie Smiley) zu Idealtypen macht, also als Figuren eines Spiels begreift. Inszeniert wird das mit einer visuellen Metapher, die durch eine Überblendung eingeleitet wird. Der Blick der Frau trifft Nashs Blick, der in diesem Moment seine Ahnung hat. Dabei kommt es zu einem visuell mittels der Überblendung und akustisch mit zunehmend verhallendem Stimmengewirr markierten Übergang in mentale Subjektivität. Die Überblendung ist dabei aber, im Unterschied zur Tonebene, zugleich eine Idealisierung: Nash abstrahiert vor seinem geistigen Auge von der realen jungen Frau und sieht den idealen ›Type‹ der ›Blondine‹, der zum Gegenstand seiner Analyse wird ( Abb. 78).

Abb. 78: Isolierung des ›Types‹ (TC 00:19:39). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009.

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Dieses Sehen wird, wie es Richard Wollheims und Virgil Aldrichs Theorien beschreiben, als eine Art ›Parallelsehen‹ diskursiviert ( Kap. 5.3). Währenddessen ist sich Nash jederzeit voll bewusst, dass er ›A als B‹ sieht. Das, was ihm vor Augen steht, steht den anderen Protagonisten, also seinen Freunden, die mit ihm an einem Tisch in der Bar sitzen, nicht vor Augen. Die junge Frau wird vom Hintergrund hervorgehoben (highlighting) und als ›Type‹ vor dem geistigen Auge isoliert. Was Nash im Point-ofView-Shot in der Normalsicht vor Augen steht, wird in dem Moment, in dem Nashs deduktive Analyse beginnt, in einen Top-Shot auf die gesamte Konstellation umgewandelt und damit verräumlicht (TC 00:19:37). Gezeigt wird eine Szene von oben, also in Draufsicht, in der jene Relationen, die Nash im Voice-Over erklärt, veranschaulicht werden. Die Spielfiguren sind in einer mentalen Metalepse als austauschbare Objekte metaphorisiert, die sichtbar und unsichtbar gemacht werden können, oder sogar, etwa wenn ein Konf likt entsteht, zu Staub zerfallen. Die deduktive Perspektive ›von oben‹ ist vom sensomotorischen Schema des Point-of-View abgelöst und, wie in einer Dokumentation, an die sprachliche Erzählinstanz des Voice-Overs gebunden. Die Figur Nash wirkt in dieser Szene wie verwandelt. Wird er vorher als linkischer Außenseiter mit sozialen Komplexen dargestellt, so ist er in dieser Szene so souverän wie in keiner anderen Szene des Films sonst. Die Szene endet damit, dass Nash sich, agitiert durch seine eigene luzide Einsicht, in Bewegung setzt. Er stürmt an der Frau vorbei, ignoriert also, wie jeder gute Nerd, das sexuelle Token zugunsten des allgemeinen Types und verlässt den Raum. Der Film zeigt das abstrakte Schema, das später zum berühmten Nash-Gleichgewicht führt, somit als verbegriff lichte, also »hypostatische« Abstraktion aus einer sozialen Konstellation, in die abduktiv eine erklärende Regel eingeführt wird, die in einem Diagramm deduktiv geprüft wird ( Kap. 3.5.3). Dieses Diagramm ist ein durchgespieltes Bewegungsbild einer sozialen Konstellation, eine ideale Handlungsszene, die vom Film in einem Prozess des metaphorischen Parallelsehens dargestellt wird. Das Durchspielen der als Diagramm gelesenen Handlungsszene ist an die sprachliche Erzählinstanz gebunden und dient der sprachlichen Explikation. Das Theorem wird in einer Weise verräumlicht und perspektivisch veranschaulicht, wie es die Sprache nicht könnte. Interessant ist die explikative Klarheit in dem virtuellen Szenario, das Nash vor Augen steht. Intradiegetisch sieht dieses Szenario niemand. Nash erklärt es. Sichtbar ist es aber durch die mentale Metalepse für den impliziten Zuschauer trotzdem. Diagrammatisches Denken – dargestellt als mentale Subjektivität – und die Rhetorik von Praktiken der Explikation konvergieren also erneut in einer subjektiven Szene der Explikation ( Abb. 79).

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

Abb. 79: ›Top down‹ – Kräf teverhältnisse und Blockade (TC 00:19:41). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009.

Der Schlussprozess ist dabei wesentlich eine Visualisierung wechselseitiger Blockadeprozesse, also Kräfteverhältnisse. Auch ohne visualisierte diagrammatische Hilfslinien erkennt man aus der Anordnung der Personen im Raum, dass die Bewegungsrichtung der Männer auf die Frau (als Attraktor) zu einer ›wechselseitigen Blockade‹ führt, also das ›Force‹-Schema aufgerufen wird – im Film schön dadurch metaphorisiert, dass die Männer im Moment der ›Blockade‹ wie von der Sonne getroffene Vampire in Staubwolken zerplatzen. Nash spielt dieses Szenario – als ein Szenario der Kräfte, die logisch sind und die als diese Kräfte im impliziten Wissen wurzeln – vor seinem geistigen Auge durch. Der Film schematisiert genau diese ›top down‹-Analyse durch ein Zusammenspiel aus Mise en Scène, Einstellung und Kamerawinkel. Der Übergang in eine abstrahierende Diagrammatisierung wird in einer Weise gezeigt, die in keinem der in diesem Kapitel vorgestellten Filmbeispiele zu sehen ist. Als Medium der Konstitution des diagrammatischen Relationenbildes, also der Handlungsszene, dient Nashs Bewusstsein, in dem ein Prozess des metaphorischen Parallelsehens ein diagrammatisches Szenario entwirft. Dass das Bewusstsein an dieser Stelle selbst als Medium verwendet wird, wird in der Art des metaphorischen Parallelsehens klar. Das metaphorische Parallelsehen ist als Point-of-View umgesetzt, wenn Nash vor dem geistigen Auge die Blondine als Type vom Hintergrund abstrahiert. Somit könnte die These vertreten werden, dass mit dem Schnitt in die ›Top-Down‹-Einstellung kein Parallelsehen mehr vorhanden ist. Aber diese These wäre falsch, weil über den Voice-Over mit der Stimme Nashs, der sein Theorem erklärt, immer noch Kontakt zum Außen besteht. Nash erklärt, was ihm vor Augen steht. Was also gezeigt wird, ist, wie in einer impliziten, praktischen Situation eine erklärende Regel generiert wird, in die das implizite Wissen um die Situation und ihre Dynamiken einf ließt. Leicht ist zu erkennen, dass A Beautiful Mind damit einen Erkenntnisprozess der Diagrammatisierung erster Stufe visualisiert. Der Schlüssel ist die Diagrammatizität im metaphorischen Sehen. Im Erkenntnisprozess ist Nash – abgesehen vom Sehen –

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nicht involviert. Im Unterschied zu Tinker Tailor Soldier Spy, wo sich Smileys Erkenntnis sukzessive aus einem ref lektierenden Nachdenken als einer Dynamik aus Bewegung und Ruhe herauskristallisiert, ist Nash von vorne herein der distanzierte Analytiker, der sich auf seinen Sehsinn verlässt. Seine Problemstellung ist mit der Smileys vergleichbar. Vor dem geistigen Auge Nashs wird aus der Komplexität sozialen Verhaltens ein Muster deduziert. Smiley dagegen isoliert eine Information aus einem komplexen Rauschen und projiziert diese Information auf eine Figurenkonstellation. Anhand dieses Beispiels kann man von einem ›Denkbild‹ in jenem dynamischen Sinn sprechen, den sowohl die Semiotik als auch die Kognitive Semantik dem diagrammatischen Denken zusprechen. Wenn Oliver Jahraus schreibt, dass die wechselseitige Metaphorisierung zwischen Film und Bewusstsein über das tertium comparationis des »(Audio-)Visuellen«160 funktioniert ( Kap. 1.1), dann ist mit diesem Beispiel illustriert, dass der Film sich in eine Beziehung doppelter Metaphorizität zur Wahrnehmung und zum metaphorischen Sehen setzen kann: Gezeigt wird ›metaphorisches Sehen‹ als ein Modus des Sehens, in dem die Differenz zwischen geistigem und physiologischem Auge explizit ist. Über die diegetische Rückbindung an eine Figur im Film bleibt es dennoch das Sehen einer fiktionalen Person in einem Film, das nur so ist wie metaphorisches Sehen. Der Film setzt auf metaphorische Identifikation und metaphorische Differenz zur gleichen Zeit. Im Unterschied zu Tinker Tailor Soldier Spy, in dem Smiley der entscheidende Gedanke eher langsam dämmert, ist Nash (in dieser Szene) von vorne herein ein geniales Erkenntnissubjekt. Sein Denken beginnt im Sehen, ›ist‹ also eine Wahrnehmung, die in dem privilegierten Wahrnehmungssinn für Metaphern der Erkenntnis vollzogen wird. Weitere Funktionen des Denkens, wie Objektmanipulation, sind abgeleitete Funktionen, die auf einer Abstraktion von Strukturen beruhen, die dann wieder miteinander in Beziehung gesetzt werden. Wiederum wird ein virtualisierender Denkraum geschaffen und wiederum kann man davon sprechen, dass ein Intraface (als Interface-Effekt) erzeugt wird, dieses Mal aber eines, das durch den ›Top-Down‹-Blick auch für einen impliziten Zuschauer »workable« ist. Zwar fehlt die semiotische Repräsentation einer Grenze, und sei es in der schwachen Form wie in Ryan’s Daughter. Aber dennoch besteht ein medialer Rahmen, nämlich die Erläuterungen Nashs, also die Sprache. Diese Grenze ist markant, weil der Film während der sprachlichen Erläuterung die ›Top-Down‹-Ästhetik sowohl mit einer ›Looking-at‹-Perspektive von oben herab als auch einer ›Moving through‹-Perspektive verbindet. Ein genauerer Blick auf die Szene offenbart, dass Nashs Denkraum zwar intradiegtisch ein subjektiver virtueller Raum ist, zugleich aber als ›Augmentierung‹ der diegetischen Realität funktioniert, also eine in die diegetische Realität eingeblendete Simulation ist. Der Blick auf die junge Frau und ihre Kennzeichnung als ›Type‹ im Sinne von ›Blondine‹ ist der Effekt einer zweiten Wahrnehmungsebene, die Nash über die Realität legt. Sie ist ein auch für den impliziten Zuschauer transparenter ›Layer‹, in dem ›Sicht‹ und ›Einsicht‹ verknüpft werden ( Kap. 4.4) und die Dynamiken (Regeln) der sozialen Realität anschaulich erfassbar sind. Diese Schicht ist ein mit einer diagrammatisierenden Transkription einhergehender, in seiner Transparenz dabei aber jederzeit klar begrenzter Container, der – paradigmatisch für die Etymologie des Be-

160 Vgl. Jahraus 2004a, S. 80.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

griffs »Interface« – als ein Kontaktpunkt zweier Schichten funktioniert.161 Nash verfügt mithin über die Fähigkeit, sich eine virtuelle Realität zu konstruieren, die in die ›reale‹ Realität direkt eingebunden ist – was eine Prämisse für den späteren Plot-Twist des Filmes ist, dass Nash sich die Realität während seiner Krankheit in weiten Teilen einbildet. Das dergestalt ›eingesehene‹ Theorem drängt dann natürlich zur Explikation im Sinne einer Diagrammatisierung zweiter Stufe, also einer Niederschrift der These in Diagrammen und Formeln. Das, was Nash vor Augen hat, muss auf Papier fixiert werden. Die unmittelbar folgende Szene zeigt diesen Prozess. Nash (TC 00:20:54) sitzt in seinem Arbeitszimmer an der Ausarbeitung seiner Theorie. In einer Reihe von Detailaufnahmen werden seine Hände und der Zeichenprozess der Diagramme und Formeln dargestellt. ›Versunken‹ in seine Theorie, arbeitet er seine Theorie aus. A Beautiful Mind reicht im Übergang von metaphorischem Sehen zur Aufzeichnung weiter als Tinker Tailor Soldier Spy. Nash abstrahiert die Szene aus seiner Imagination in die Formalsprache der Mathematik. Die Diagramme und Formeln, die zu sehen sind, sind abstrakte Graphen und keine ikonischen Skizzen der Szene, wie sie Nash vor dem geistigen Auge hatte. Eine durch implizites Wissen motivierte Handlungsszene, die als Diagramm von Beziehungen zwischen Elementen (Menschen) gelesen und so vor dem geistigen Auge in metaphorischem Sehen expliziert wird, wird durch die Transkription auf Papier und in die Formalsprache der Mathematik umgeformt. Die Formalsprache der von Nash verwendeten Graphen muss keinerlei bildliche (mimetische) Ähnlichkeit zur Bezugsszene haben. Sie muss ihr dennoch strukturell ähnlich sein. Daher ist es schade, dass der Film die Diagramme, die Nash anfertigt, nicht so detailliert darstellt, dass man sie analysieren könnte. Dargestellt wird nur der Prozess, wie Nash verschiedene Entwürfe anfertigt. A Beautiful Mind geht dennoch den Schritt von der Diagrammatisierung erster Stufe zur zweiten Stufe – symbolisiert durch den Umstand, dass zwischen der Schematizität der Handlungsszene erster Stufe und dem algebraisch-grafischen Darstellungssystem zweiter Stufe keine Ähnlichkeit vorhanden ist. Auf Ebene der Diagrammatisierung erster Stufe ist auffällig, dass der Film seine Möglichkeit, Bewegungen von Objekten zu zeigen, zwar auf eine einfache, aber effektive Weise ausspielt. Um dieses Gravitationszentrum der Inszenierung eines brillanten diagrammatischen Denkers herum wird eine zweite Story aufgemacht: Die Geschichte der Etablierung jener Wahnwelt, in die sich Nash verstrickt. Nachweisbar ist dies am Beispiel einer Szene, die das spiegelbildliche Pendant zu der bereits diskutierten Theorem-Szene ist und die nicht in der (wie sich später zeigt) Realwelt, sondern der Wahnwelt Nash spielt. Nachdem Nash sein Theorem aufgestellt und darüber promoviert hat, wird er Leiter eines durch das Militär mitfinanzierten Forschungsinstituts. In diesem Kontext wird erzählt, wie er vom Militär unter konspirativen Bedingungen für die Analyse des sowjetischen Spionage-Codes in das Pentagon gerufen wird (TC 00:23:55). Nash betritt einen großen Kartenraum. Auf großen Projektionsf lächen führt man ihm Zahlenkolonnen vor. Angeblich stammen die Zahlen aus abgefangenen sowjetischen Funknachrichten. Die beteiligten Armee-Mitarbeiter teilen ihm mit, dass die Nachrichten einen Code enthalten. Damit gefütterte Computer hätten den Code aber bis dato nicht knacken können.

161 Vgl. Schaefer 2011.

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Die Szene zeigt die ›andere‹, ›dunkle‹ Seite der diagrammatischen Brillanz Nashs, insofern er ähnlich selbstbewusst auftritt, aber bereits voll ins seiner ›konspirativen‹ Identität steckt. Der Übergang in das Innere seines Bewusstseins und seiner Wahrnehmung wird durch eine Reihe Kamerafahrten eingeleitet (TC 00:24:35), die Nash in Nahaufnahme umkreisen. Ein ähnliches Stimmengewirr wie in Tinker Tailor Soldier Spy markiert zudem mentale Subjektivität. Es handelt sich aber nicht um fremde Stimmen, sondern es ist Nashs Stimme, der sich im Geist die Zahlenkombinationen vorliest. Die Kreisfahrt der Kamera differenziert auf Ebene der Mise en Scène das Außen vom Innen, wobei das Vergehen der Zeit durch die wechselnden Personenkonstellationen im Bildhintergrund dargestellt ist. Was als eine mentale Projektion im Mindscreen-Modus beginnt – man ›sieht‹ Nash gleichzeitig von Innen (Stimmen) und Außen (Person) – wird mit Point-of-View-Shots seiner visuellen Wahrnehmung der Zahlenkombinationen verknüpft (TC 00:25:01). Dabei wird eine Art des ›Highlighting and Hiding‹ gezeigt ( Kap. 5.1.2), das Nashs Fähigkeit zur Mustererkennung visualisiert ( Abb. 80).

Abb. 80: Zahlencodes und Mustererkennung (TC 00:25:37). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009.

Dieses Verfahren ist intradiegetisch durch eine analoge, aber kürzere Szene zu Anfang des Films vorbereitet. In dieser Szene, in welcher der sozial gehemmte Nash zum ersten Mal auf seine Kommilitonen trifft (TC 00:02:42), beobachtet er das Muster auf der Krawatte eines anderen Doktoranden. Eine Detailaufnahme zeigt das von Nash betrachtete Objekt, also die Krawatte und ihr Muster. Nash lächelt ob des Musters. Nachdem er seinen Blick abgewendet hat, richtet sich sein Augenmerk auf das Strukturmuster von Licht, das durch ein Wasserglas wie in einem Prisma auf dem Tisch erzeugt wurde (TC 00:02:47). In einem Point-of-View-Shot folgt die Kamera dem Muster der Lichtref lexion. Der Übergang in die mentale Projektion ist durch die im akustischen Off verhallenden Stimmen der sich unterhaltenden Doktoranden markiert. Nashs Aufmerksamkeit fokussiert sich auf das Muster. Während das Muster

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

dem ›Highlighting‹ unterliegt, wird die extramentale Umwelt, das Außen von Nashs Psyche, einem ›Hiding‹ unterworfen (TC 00:02:52).162 Die Diagrammatizität dieses Sehens wird unterstrichen, indem sich das Strukturmuster des prismatischen Lichts von der indexikalischen Ref lexion auf der Tischdecke ablöst, der Metapher ›Denken ist Objektmanipulation‹ folgend, Objektstatus gewinnt und sich über ein zweites Objekt, eine Schale mit frischen Zitronenscheiben legt (TC 00:02:52). In der erzählten Welt ist das nicht möglich. Somit wird das Muster nicht mehr nur von Nash im Außen gesehen, sondern das Muster ist ein Objekt vor Nashs geistigem Auge. Gezeigt wird ein metaphorisches Sehen, das diagrammatisierend verfährt (TC 00:02:52). Über der Zitronenschale wird das Muster folgerichtig als Objekt (vor dem geistigen Auge Nashs) rotiert und variiert ( Kap. 5.2.3), und durch eine Aufwärtsbewegung der Kamera, die über verschiedene andere Objekte wie – z.B. eine Kristallschale (TC 00:02:54) – hinwegstreift, auf das Zielmuster, die Krawatte, bezogen. Die Kamerabewegung parallelisiert also die Muster, als ob sie so in Nashs Bewusstsein parallelisiert würden. Sowohl aufgrund der Art der Referenz des ›A als B‹ als auch in der ontologischen Isolierung des Musters als eines rotierbaren und variierbaren Objektes, das auf das Bezugsobjekt bezogen wird, ist die Szene eine Szene für eine diagrammatische Überblendung, die als ›metaphorisches Sehen‹ verstanden werden kann. Das Endziel der Kamerafahrt ist zugleich der metaphorische Zielbereich, also die Krawatte des Kommilitonen (TC 00:02:58), wo der Abgleich der beiden Muster durch eine diegetische Lichtverwendung erreicht wird: In dem Moment, in dem die Muster übereinstimmen, kommt es zu einer Überbelichtung. Die Überbelichtung markiert auch den Ausstieg aus dem Prozess des metaphorischen Sehens. Ein als ›diagrammatisch‹ exponiertes metaphorisches Sehen wird hier im Sinne eines Variierens von Mustern gedacht, die einem Prozess des ›Mappings‹ folgt. Sie beginnt mit einem Wahrnehmungseindruck eines Musters, das Nash interessant findet (dem Muster auf der Krawatte [Zielbereich]). Dem folgt, parallel mit dem ›tieferen‹ Eindringen in Nashs Bewusstsein (über die Tonebene markiert), die Darstellung eines zweiten Objektes (dem Lichtmuster [Ausgangsbereich]), das wieder auf das erste Objekt zurückbezogen wird. Im Narrativ illustriert die Szene – noch bevor die Mathematik in dem Film überhaupt ein Thema wird –, dass der brillante Mathematiker Nash vor allem ein Diagrammatiker ist. Und sie illustriert darüber hinaus, dass der brillante Diagrammatiker über die Fähigkeit verfügt, metaphorische ›Mappings‹ in seiner visuellen Wahrnehmung vorzunehmen. Dieses metaphorische Sehen wird als ein Prozess ausgestellt, in dem per ›High­ lighting and Hiding‹ im Vollzug des ›Mappings‹ selbst, also in der Operation, A mit B zu überblenden, die Muster passend gemacht werden. Der Akt des Sehens ist ein konstruktiver Akt der Imagination. Was Nash sieht, sind Ähnlichkeiten. Und zum Zweck ihrer Explikation variiert er das Lichtmuster so lange, bis es passt. Das ist der Teil diagrammatischen Sehens, der wahnsinnig oder genial sein kann. Es ist die Prämisse, um den gleichen Prozess des Sehens einmal, wie in der Theorem-Szene, zur Erklärung der Genialität Nashs zu verwenden, oder aber, wie in der Pentagon-Szene, als Erklärung für seinen Wahnsinn heranzuziehen.

162 Vorläuferformen des ›Highlighting and Hiding‹ in mentaler Subjektivität finden sich bereits im Stummfilm, z.B. in Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (1927).

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Die Pentagon-Szene steht in einer Kontinuität mit der Krawatten-Szene. Sie beschränkt sich aber nicht darauf, dass Nash, wenig überraschend, in den Zahlenkombinationen nach einiger Zeit ein Muster erkennt. Sie zeigt auch, welche Schlussfolgerungen Nash aus diesem Muster zieht. In dem erwähnten Point-of-View-Shot spielt Nash, analog zur Krawatten-Szene, verschiedene Konfigurationen der Zahlenmuster durch. Dieses Durchspielen wird jeweils durch das Stimmengef lecht auf der akustischen Erzählebene unterstützt (TC 00:25:03). Die Immersion in Nashs mentale Subjektivität wird aus einer statischen Point-of-View-Einstellung in schnelle Kamerafahrten über die Zahlenkombinationen überführt (TC 00:25:06), die über die Nahaufnahme von Nash gelegt werden. Interessanterweise virtualisiert sich der Point-of-View-Shot aber noch einmal. Denn inszeniert wird das gleiche, was sich für die Krawatten-Szene als diagrammatische Überblendung im Sinne von Lakoff und Johnson feststellen ließ: ein Verfahren der Rotation und Variation, das auf Ebene von durch ›Image schemas‹ strukturierten Prozessen des metaphorischen Sehens als eine Manipulation von visuellen Mustern vollzogen wird. Was es hier also zu sehen gibt, ist das perzeptive Vorfeld der Diagrammatisierung in einem metaphorischen Sehen. Nash sieht in den Zahlenkolonnen neben Kombinationen von Zahlen auch geometrische Muster wie symmetrisch angeordnete Dreiecke (TC 00:25:30). Identisch mit dem entsprechenden Aspekt aus Tinker Tailor Soldier Spy ist der Erkenntnismoment, wenn sich das Stimmengewirr der verschiedenen gemurmelten Zahlen auf eine Zahlenkombination reduziert, Nash also seine Lösung gefunden hat (TC 00:25:43) und bemerkt: »I need a map.« (TC 00:25:56) Auf einem beleuchteten Kartentisch wird eine Karte der USA ausgerollt. Nash bekommt die Gelegenheit, die vor dem geistigen Auge realisierte Erkenntnis erster Stufe auf ein medial verkörpertes Diagramm zweiter Stufe zu beziehen: die Karte der USA (TC 00:26:00). Seine These lautet: Die Zahlenkombination sind Längen- und Breitengrade einer Karte. Zum Beweis beginnt Nash, quadratische rote Markierungen auf der Karte zu positionieren. Dies soll deutlich machen, dass sich hinter den Zahlenkombinationen Ortsangaben verbergen (TC 00:26:12), die – hat man die Markierungen gesetzt – ein Muster jener fiktiven Routen über die Grenze in die USA ergeben, welche die Schmuggelwege für die auf Koffergröße miniaturisierten Atombomben sind (TC 00:26:20). Zur Kontinuität dieses Teils der Pentagon-Szene mit der Theorem-Szene gehört es, dass in beiden Fällen Nashs Beobachtungsgabe den Ausschlag gibt, also die Metapher ›Denken ist Wahrnehmung‹.163 In beiden Fällen wird die im metaphorischen Sehen gewonnene Erkenntnis in Diagramme und Formeln transkribiert (Theorem-Szene) oder aber durch eine Karte expliziert (Pentagon-Szene), also mittels medial verkörperter Diagrammatisierung gesichert. A Beautiful Mind reaffirmiert in der Pentagon-Szene den Status der Karte als protonarratives Schema und als das Bezugsmedium jeder Verschwörungstheorie. In der Theorem-Szene und der folgenden Transkriptions-Szene wird im Unterschied dazu die Klarheit des Diagramms betont. Die Transkription der Erkenntnisse aus der Theorem-Szene führt in die Fertigstellung von Nashs Dissertation. Der Unterschied ist, dass Nash im ersten Fall ein Theorem, das ihm als szenische Idee geistig vor Augen steht, in ein anderes Darstellungssystem transkribiert und eindeutig expliziert. Im zweiten Fall wird ein Muster, das Nash vor Augen hat, auf ein anderes Muster, die 163 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 238ff.

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Karte, geblendet. Dies liefert die Grundlage, um ein spekulatives Narrativ zu entwickeln. Geht es im ersten Fall um die Klarheit diagrammatischer Explikation, so geht es im zweiten Fall um das Aufeinanderschichten von Mustern, die Relationen sichtbar machen und spekulative Schlüsse stützen sollen. Die Quelle sowohl von Nashs Genie als auch seines Wahns ist in aller wünschenswerter Klarheit in der Krawatten-Szene aufgedeckt: Es ist seine Fähigkeit zur Mustererkennung und Musterprojektion – also zu einem ›Mapping‹ im metaphorischen Sehen. Das Bemerkenswerte an dieser Szene ist, dass in ihr alle drei typischen Metaphern des Denkens in einer typischen ›Image schema‹-Operation zusammengeführt werden: der Basisoperation Rotieren und Variieren, die als filmische Überblendung im Modus eines parallelen Sehens dargestellt wird ( Kap. 5.3.3). Die drei Metaphern sind ›Denken als Bewegung‹, ›Denken als Wahrnehmung‹ und ›Denken als Objektmanipulation‹.164 Das ›Image schema‹, auf welches die Operation der Überblendung baut, ist das ›Source-Path-Goal‹-Schema. Dieses ›Image schema‹, das selbst ›kartografischer‹ Art ist,165 liefert eine Erklärung für den Prozess des ›Mappings‹ der Strukturmuster (Lichtmuster als Krawattenmuster, Zahlenmuster als Kartenmuster etc.). A Beautiful Mind bietet weitere, sehr genretypisch realisierte Variationen dieser leitmotivischen Szene. Nachdem er seine zukünftige Frau Alicia kennen gelernt hat, besucht Nash mit ihr einen Abendempfang. Als die beiden auf einer Terrasse stehen und den sternenklaren Nachthimmel über sich haben, bemerkt Nash: »Pick a shape, an animal, anything.« (TC 00:41:43) Alicia entscheidet sich für einen Regenschirm. Darauf hin stellt Nash sich hinter sie. Die beiden richten ihren Blick in den Sternenhimmel. Nash nimmt ihre Hand. In den Himmel zeigend, zeichnet er mit ihrem Finger das Muster spontan anhand einer entsprechenden Sternenformation nach (TC 00:42:10). Wenn auch dezent, kommt wieder das ›Highlighting and Hiding‹ zum Einsatz, das als Charakteristikum von Nashs perzeptiven Fähigkeiten schon bekannt ist. Nashs analogisches Gestaltsehen ist ein Sehen von Umrissen, das aus der Verbindung entsprechender Punkte (Sterne) mit Linien die gewünschte Form ergibt. Innerhalb des Narrativ wird so Nashs Fähigkeit zur Musterkennung hervorgehoben. Es ist aber vor allem deshalb interessant, weil die direkt anschließende Szene mit einer Großaufnahme von auf dem Boden ausgebreiteten Zeitungsausschnitten beginnt (TC 00:42:43). Das ist eine (wenn auch eher versteckte) filmische Metapher. Sie behauptet eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Sternenhimmel, in dem Nash Formen und Umrisse sichtbar macht, und den Objekten, die das Material seiner wahnhaften Suche sind, also den Zeitungsausschnitten. Etabliert wird eine Strukturrelation nach dem Muster ›A (Sternenhimmel) ist wie B (Zeitungsausschnitte)‹. Beide Bereiche sind potenziell unerschöpf lich komplex und in beiden sieht Nash Relationen zwischen Elementen, die ein strukturelles Ganzes ergeben sollen. Die auf die Sternenhimmel-Szene folgende Zeitungs-Szene ist insofern von Bedeutung, als sie die subjektive Art des Sehens von Nash auf den Gegenstand richtet, der ihn in den Wahnsinn führt: seine Fähigkeit, überall Muster zu erkennen. Prominent ist erneut das ›Highlighting and Hiding‹. Nashs Wahrnehmung bedient sich der gleichen Art des Hervorhebens von Mustern, nach der sie sich schon in der Pentagon-Sze-

164 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 235ff. 165 Vgl. die Illustration in Lakoff/Núñez 2000, S. 38.

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ne vollzogen hatte. Vor dem geistigen Auge isoliert Nash einzelne Buchstaben und versucht, sie zu neuen Kombinationen zusammenzusetzen (TC 00:43:20) ( Abb. 81).

Abb. 81: Wahnhaf te Deduktionen (TC 00:43:20). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009.

Formal stellt die Szene eine Synthese aus vorherigen Szenen dar. Wie in der Theorem-Szene wird ein Top-Shot auf das Geschehen verwendet. Diese Einstellung ist allerdings weit von der Klarheit entfernt, die das szenische Diagramm in der Theorem-Szene hatte. Zum einen fehlt die erklärende Stimme Nashs. Zum anderen steht er inmitten der kreisförmig um ihn ausgebreiteten Papiere, auf denen seine Kombinationsversuche auff lackern. Wie ein Dirigent hält er ein Lineal in der Hand. Doch zusammenzufügen scheint sich das Konzert der Inferenzen nicht (TC 00:43:18). An Punkten vermeintlicher Schlussfolgerungen zerreißt er die Papiere (TC 00:43:35), um dann in einem ähnlichen Zustand von Arbeitswut – wie bei der Anfertigung seiner Dissertation – damit zu beginnen, seine Erkenntnisse in eine Karte einzuzeichnen. Erneut ist es die Karte, die das Bezugsmedium der Suche nach vermeintlichen Regularitäten abgibt. Und wiederum ist es die Überblendung von deduzierten Mustern auf eine Karte, die den Wahnsinn Nashs motiviert. A Beautiful Mind zeigt den Prozess der Diagrammatisierung von der Seite der Wahrnehmungsfähigkeit und der medialen Praktiken, die mit denen des spekulativen diagrammatischen Denkens in den Praktiken der Alternative-History-Mythopoeten identisch sind. Dies hat Ähnlichkeiten zum Fabulieren des Erzählers Kint mit Hilfe der Pinnwand in The Usual Suspects. Mit Blick auf diese mediale Seite des diagrammatischen Kontinuums und den Abirrungen ins Spekulieren ist A Beautiful Mind somit eine Fundgrube. Diagrammatisierungen erster Stufe werden nicht nur an das Motiv der Pinnwand geknüpft (wie in The Usual Suspects). Alternative Formen, beispielsweise das Aufzeichnen von diagrammatischen Darstellungssystemen auf transparente Trägermedien wie Glasscheiben, finden auch Berücksichtigung. Damit ist dieser Film keineswegs alleine. Grob gesagt, lässt sich das Motiv des ›thinking walls‹ in intransparente Medien, wie die klassische Pinnwand, das Whiteboard oder die Tafel, und transparente Medien, wie die Fensterscheibe oder holografi-

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sche Displays, differenzieren. Beispiele für intransparente Pinnwände liefern Fernsehserien, etwa Flash Forward (2009-2010).166 Für A Beautiful Mind habe ich bereits auf die Transkription der Erkenntnisse aus der Theorem-Szene in Diagramme und Formeln sowie die Funktion der Karte in der Pentagon-Szene hingewiesen. Während es sich dort um Nashs Arbeiten mit einem diagrammatischen Darstellungssystem zweiter Stufe handelt, also dem Durchdenken seines Theorems in Diagrammen und Formeln, finden sich im Übergang von der ersten in die zweite Stufe einige Beispiele für die Thematisierung transparenter ›thinking walls‹. Das aussagekräftigste ist die erste einer Reihe von über den Film verteilten, binnenkadrierten Fenster-Szenen. An der bereits erwähnten Stelle des Films, in der Nash seinen fiktiven Zimmergenossen Charles kennenlernt, findet sich eine Einstellung, die aus Point-of-View-Perspektive durch das Zimmerfenster heraus aufgenommen ist. Vor dem Fenster spielt eine Gruppe Studierender Rugby. Der Fokus der Kamera wird unscharf und Nashs Hand kommt von unten ins Bild. Während sich vor dem Fenster beide Mannschaften sammeln, nutzt Nash die Transparenz des Fensters, um mit Hilfe des Fensters ›über‹ das vor dem Fenster ablaufende Geschehen ein Strukturdiagramm des Geschehens zu zeichnen (TC 00:06:03) ( Abb. 82).

Abb. 82: Transparentes Medium und Mise en Scène (TC 00:06:08). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009.

War es in der Krawatten-Szene Nashs ›geistiges‹ Auge, welches die Transparenz zur Verfügung gestellt hat, die für die diagrammatische Überblendung im metaphorischen Sehen notwendig war, so ist die Transparenz jetzt das Fenster. Das Fenster wird zu einem Medium, das hilft, ein empirisch ablaufendes Geschehen zu diagrammatisieren und quasi zu einem transparenten metaphorischen Stellvertreter der Medialität des geistigen Auges zu werden. Die in A Beautiful Mind omnipräsente Metapher ›Denken ist Wahrnehmen‹ wird okularzentristisch auf die visuelle Bedeutung eingeschränkt. Mit Hilfe des Mediums des Fensters hat Nash ›Durchblick‹ auf das empirische Geschehen. Er versucht, in der 166 Vgl. auch Ernst 2017c.

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Schablone des auf das Fenster aufgezeichneten Diagramms aus dem empirischen Geschehen das Muster herauszufiltern, ergo: zu transkribieren ( Kap. 2.2.6). Die Fenster-Metapher ist in diesem Fall eine Objektmetapher für das geistige Auge, nicht zuletzt aufgrund der Binnenkadrierung und Mise en Scène. Sie ist aber auch eine Analogie zur Fenster-Metaphorik in der Theorie des Films, also eine wechselseitige Metaphorisierung von Bewusstsein und Film, welche die dritte Stelle eines Mediums einbindet, die die Grundlage der Metaphorisierung von Denken als diagrammatischem Denken bildet und die schon aus dem Beispiel des Anfanges von Minority Report bekannt ist. Indirekt kommt dies darin zum Tragen, dass in der Krawatten-Szene und der Pentagon-Szene die Eigenbewegung der Kamera die Bewegung des geistigen Auges metaphorisiert. Ein statisches Medium wie das Fenster verfügt nicht über diese Art, ein ›bewegtes Bild des Denkens‹ als Bild des Verknüpfens und Aufeinander-Beziehens zu realisieren. Die Szenen sind Vorwegnahmen jener Praktiken der Diagrammatisierungen, die Nash später in den Wahnsinn treiben. Wuchern schon die Beschriftungen des Fensters, so wird Nashs Wahnsinn in späteren Szenen durch das völlig außer Kontrolle geratene Bekleben der Wände seines Büros und seiner Garage mit Wahnsinnszetteln dargestellt. Dieses Motiv wird ebenfalls schrittweise entwickelt, etwa dann, wenn Nash kurz vor dem Plot-Twist einen konfusen Vortrag hält, in dem er drei Tafeln mit Formeln vollschreibt (TC 01:01:25). Kurze Zeit später betritt Alicia sein Büro, das sich in eine riesige, völlig verwirrende Pinnwand verwandelt hat (TC 01:09:12). Das gleiche Motiv wird unter anderem bei einem Rückfall Nashs wiederholt und dieses Mal als ein ›Spinnennetz‹ konnotiert, das Nash aus Kordeln gef lochten hat (TC 01:31:40). Das Medium, das bei der Objektivierung helfen soll, der ›thinking wall‹, wird zum Dokument eines Bewusstseins, das in den Labyrinthen seiner eigenen Schlussfolgerungen verlorengegangen ist ( Abb. 83).

Abb. 83: Intransparenter ›Thinking Wall‹ des Wahns (TC 01:09:15). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009.

Die Fähigkeit Nashs, am Ende des Films seine Krankheit durch Verstandesdisziplin und die stabile Beziehung zu seiner Frau zu kompensieren, hindert ihn auch daran, sich in Formeln zu verstricken. Über eine längere Sequenz des Filmes hinweg ist es immer wieder Nashs Praxis, seine Formeln und Diagramme an Tafeln und Fenster zu schreiben, die ihn – wie sie Teil des Weges in den Wahnsinn waren – auch wieder

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aus dem Wahnsinn auftauchen lassen. Umgesetzt wird das durch die Metapher ›Denken ist Bewegung‹, als Nash mit dem Fahrrad fährt und die Kamera in die deduktive ›Top-Down‹-Perspektive wechselt. Nash fährt eine auf der Seite liegende 8 als Unendlichkeitssymbol, das dann auf die Großaufnahme eines entsprechenden Zeichens an seinem Fenster montiert wird (TC 01:50:54). Zunehmend werden Nashs Notationen auf den Fenstern sowie an einer Tafel geordneter. Ist es zunächst die gerahmte ›Transparenz‹ des Diagramms vor dem geistigen Auge, symbolisiert unter anderem durch den klar begrenzten virtuellen Denkraum während Nashs Erkenntnis, die vollständig verloren geht und der nicht mehr gerahmten ›Intransparenz‹ der Diagramme an den Wahnsinnswänden weicht, so kehrt diese Transparenz am Ende des Films sukzessive wieder. A Beautiful Mind nimmt damit die Metaphorisierung des schlussfolgernden Denkens auf und verbindet sie mit der aus den Analysen der anderen Seite der Diagrammatik, also dem Verirren in spekulativen Narrativen und paranoiden Wahnwelten. Konventionalisiert wie A Beautiful Mind darin sein mag, ist dieses Spiel mit der Differenz von Transparenz und Intransparenz in dem Moment interessant, in dem man es als Problematisierung der bedeutungstragenden semantischen Rahmen versteht, die es erlauben, in einem umgrenzten Bereich durch diagrammatisierende Explikation Klarheit herzustellen. Ausgestellt wird somit die ›Zugänglichkeit‹ zur Narration des Films selbst, was zwangsläufig auf die Problematik einer Explikation des Films von ›Außen‹ verweist. In Analogie zu Galloway: Thematisch wird die innere Grenze eines Intrafaces. Ein Film, anhand dessen man dies tiefergreifend aufzeigen kann, ist Inception (2010).

7.2.3 Inception — Entfaltung und Explikation des narrativen Raumes167 Inception ist die Geschichte von Dominick Cobb (Leonardo DiCaprio), einem Spezialisten zur Infiltration von Träumen eines fremden Menschen. Diese Profession geht auf ein vom Militär entwickeltes Verfahren des ›Traum-Teilens‹ (»dream-sharing«) zurück. Bei diesem Verfahren dringen Angreifer in den Traum einer Person ein, indem sie für den Träumenden einen vorab entworfenen Traum schaffen, der von dessen Unterbewusstsein dann geträumt wird. Erzählt wird, dass Cobb dieses Verfahren mit seiner Frau Mal (Marion Cotillard) dahingehend perfektioniert hat, dass ›Traum im Traum‹-Konstellationen möglich werden. Der Träumende erlebt einen designten Traum in einem designten Traum. Diente das Verfahren ursprünglich der Extraktion von Ideen aus dem Bewusstsein eines Opfers, so wird Cobb nach einem gescheiterten Angriff auf den Großindustriellen Saito (Ken Watanabe) von ebendiesem beauftragt, einen Angriff auf dessen Konkurrenten Robert Fischer Jr. (Cillian Murphy) durchzuführen. Bei dem Angriff geht es nicht um das Extrahieren, sondern um das Einpf lanzen einer Idee – die titelgebende ›Inception‹. Das Einpf lanzen einer Idee wird im Unterschied zum Extrahieren als schwierig bezeichnet. Benötigt wird u.a. eine hohe ›Tiefe‹ der entworfenen Traumstruktur, in diesem Fall eine dreifache Schichtung. Wie sich im Laufe des Films herausstellt, hatte Cobb das Verfahren bei seiner Frau Mal angewendet. Infolgedessen 167 Eine erweiterte Fassung dieses Abschnitts findet sich in dem Aufsatz Ernst 2015b. Dort ist der Bezug zur Diagrammatik allerdings weniger stark ausgeprägt. Der Fokus liegt mehr auf den Aspekten der Transitivität und der Immersion.

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konnte sie nicht mehr zwischen Realität und Traum unterscheiden. In der Annahme, in einem Traum zu sein, nahm sie sich das Leben. Dieses Motiv kehrt am Ende des Films wieder. Das Ende lässt es offen, ob Cobb selbst noch träumt oder nach dem Angriff auf Fischer wieder in der Realität angekommen ist. Der Grundanlage nach ist Inception ein Mindgame-Movie im Action-Gewand. Genretypisch wird mit der Verunsicherung der ontologischen Realität durch mentale Metadiegesen und Ebenenwechsel gespielt. Inception verbindet Elemente des Science-Fiction-Films, des Mindgame-Movies und des Heist-Films.168 Wie für einen solchen postklassischen Genre-Mix nicht unüblich, ist der Protagonist durch den Verlust seiner Frau traumatisiert.169 Dieses unbearbeitete Trauma wird in Cobbs Traumreisen dahingehend manifest, dass Cobb auf Projektionen seiner Frau Mal und seiner Kinder trifft. Als unkontrollierbarer Faktor durchkreuzt Mal immer wieder die Pläne Cobbs. Grob kann der Film in drei Teile eingeteilt werden. Der erste Teil exponiert, beginnend mit dem Angriff auf Saito, die Rahmenhandlung. Darauf folgt die Beauftragung Cobbs durch Saito mit der anschließenden Zusammenstellung des Teams und der ausführlichen Planung des Überfalls. Der dritte und letzte Teil ist das Eindringen in den Traum des von Cobbs Team entführten Robert Fischer Jr. Genrekonform verläuft der Angriff nicht reibungslos. Für den vorliegenden Kontext sind der zweite und der dritte Teil von Interesse, also die Phase der Planung und der Durchführung des Angriffs auf Fischers Bewusstsein. Vor allem der zweite Teil (die Planungsphase) erklärt wesentliche Aspekte der fiktionalen Welt. Durchzogen von Anspielungen auf die Psychoanalyse wird die Funktion des Unterbewusstseins in den Traumreisen so erklärt, dass Angreifer mit den metaphorischen Repräsentationen des Bewusstseins, wie z.B. Personen (als Facetten des Selbst), interagieren können. Ebenso haben Orte eine übertragene Bedeutung, etwa dann, wenn Safes oder Schließfächer als Orte definiert sind, an denen die Geheimnisse einer Person liegen (TC 00:28:10). Zu den Besonderheiten der Welt von Inception gehört, dass die Innenseite des Traumes und die Außenseite des Traumes nicht gegeneinander abgedichtet, sondern miteinander verwoben sind. Im Innen ist immer ein impliziter Bezug zum Außen enthalten. Diese Verknüpfung der Innenseite mit der Außenseite wird so narrativiert, dass, wenn etwa jemand vergessen hat, vor dem Einschlafen auf Toilette zu gehen, es im Traum regnet. Ebenso geht die Traumrealität, wenn dem Körper des Träumenden in der Wachrealität etwas widerfährt, er etwa fällt, in einen strukturähnlichen Zustand (z.B. Schwerelosigkeit) über. Diese Verbindung mit dem Außen über implizites Wissen wird im Narrativ von Inception als eine implizite Garantieinstanz des Realitätsbezugs thematisiert. Die Protagonisten können tiefgestaffelte Traumschichten über sogenannte (indexikalische) ›Kicks‹ verlassen, z.B. wenn man ihren Körper in der Wachrealität in ein Wasserbecken fallen lässt. Der Kontakt mit dem Außen reißt sie aufgrund der körperlichen Erfahrung wieder zurück in die Wachrealität. Der Film geht von einer Art der Integration des schlafenden Bewusstseins in eine Umwelt aus, in der man sich die Integration 168 ›Heist‹-Filme sind Varianten von Thrillern oder Kriminalkomödien, die spektakuläre Raubüberfälle zum Thema haben. In jüngerer Zeit wird dieses Genre z.B. durch die Oceans-Serie, also Oceans Eleven (2001), Oceans Twelve (2004) und Oceans Thirteen (2007), repräsentiert. 169 Vgl. Elsaesser 2009, S. 53ff.

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in ein Außen im Traum auch bewusst machen kann. Daher ist es gerechtfertigt, von einer impliziten Vertrautheit mit einem Außen zu sprechen, die ein implizites Körperwissen als Garantieinstanz des Weltbezugs zum Thema hat. Filmphilosophisch stellt das Narrativ von Inception ein Aufgreifen von Ideen der Konfrontation von philosophischem Realismus und philosophischem Skeptizismus dar.170 Andere Filme, z.B. in den ausgehenden 1990er-Jahren, waren mit Blick auf die Innen/Außen-Frage anders gestrickt. In Matrix können sich die Akteure kein Bild von dem Außen machen. Folglich können sie anfänglich nichts vom Außen wissen. Die Simulation einer virtuellen Realität ist perfekt, solange man nicht im Außen war. Hat man die Außen-Erfahrung gemacht, dann kann man den Code der Matrix lernen und weiß fortan, dass man im Innen ist. Innerhalb der Matrix wird dann keine weitere ontologische Realitätsverunsicherung mehr eingebaut. Das ist ein typisches Merkmal auch anderer Filme, die von einem Medium der Bewusstseinssimulation ausgehen. Scheinbar wird medienkonstruierten Bewusstseinsrealitäten im Film eine andere Art der immersiven Kraft unterstellt als körperbasierten Bewusstseinskonstruktionen. Ist die Realität für das Bewusstsein im ersten Fall eine Täuschung, so geht es hier um die Wirklichkeit des Bewusstseins, in der über implizites Körperwissen ein Zugang zur Realität besteht.171 Inception thematisiert diese Bedeutung des impliziten Körperwissens an verschiedenen Stellen. Zu nennen ist eine unmarkiert eingeleitete Traumsequenz, welche den Prozess der Rekrutierung Ariadnes (Ellen Page) – der im Narrativ so bezeichneten ›Architektin‹ der Träume in Cobbs Team – zeigt (TC 00:23:44). Dass der Zugang zur Realität als implizites Wissen gedacht wird, macht der Film nicht nur über die einfachen Metaphern für körperliche Zustände klar, sondern auch über den Status des Wissens um Realität. Mit dem ›Totem‹, das jeder Traumreisende bei sich trägt, findet der Film eine griffige Metapher für Objekte, die den Kontakt zur Realität garantieren. Als Ariadne und Cobb aus einer Albtraum-Passage aufwachen, in der Ariadne im Traum durch Cobbs plötzlich auftretende Frau Mal umgebracht wurde, wird Ariadne die Funktion dieses Objektes durch das Teammitglied Arthur (Joseph Gorden-Levitt) erklärt (TC 00:32:25). Ein Totem ist ein kleines, individuelles Artefakt, das ein bestimmtes Gewicht und dynamisches Verhalten hat. Ein körperliches Vertrautheitswissen mit dem Objekt hat nur der Besitzer, der das Objekt auch nicht von anderen berühren lässt, um zu verhindern, dass es in einem Traum gegen ein anderes Objekt ausgetauscht wird und so der Bezug zur Realität verloren geht. Das Wissen um die Eigenschaften des Objektes schließt es aufgrund impliziter Vertrautheit aus, dass man nicht in einem anderen Traum ist. Ariadnes Aufgabe besteht darin, das explizit so bezeichnete ›Design‹ der Träume festzulegen. Im Narrativ des Films wird das Design von den jeweils verschiedenen ›Layouts‹ eines Traums differenziert. Als Design gilt die Form des Labyrinths. Dieses Design wird in verschiedenen Layouts umgesetzt, die als Schemata die Level einer Traum-im-Traum-Konstellation bilden. Hat der erste Traum also ein spezifisches labyrinthisches Layout, dann hat der Traum-im-Traum seinerseits ein eigenes Layout usw. 170 Vgl. ausführlich die Studie von Strathmeier 2015, hier insb. S. 25ff., S. 66ff. 171 Eine sehr weit ausgreifende Deutung von Inception findet sich bei Bumeder 2014, S. 163ff. Dort wird die paradigmatische Bedeutung des Films für den neueren Bewusstseinsfilm aufzeigt. Dieser Befund wird indirekt durch Strathmeier 2015 gestützt. Auch dort erscheint der Film als Schlüsselbeispiel für eine philosophische Diskussion des Bewusstseinsfilms.

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Die Erklärung dieser Zusammenhänge im zweiten Teil des Films ist der Punkt, an dem die Diagrammatik wichtig wird. Als Test für die Rekrutierung fordert Cobb Ariadne in einer kurzen Szene auf, spontan auf dem Papier ein Layout für ein Labyrinth zu entwerfen, das länger als eine Minute zur Lösung braucht (TC 00:24:14). Ariadne zeichnet auf dem Papier zwei Layouts, die Cobb sofort löst. Erst das dritte Layout entspricht seinen Anforderungen. In einer kurzen Szene werden diese Layouts Ariadnes gezeigt. Hat sie in ihren ersten beiden Versuchen auf eine quadratische Lösung nach dem Muster eines römischen Labyrinth-Typs gesetzt, so ist Ariadnes Erfolgsmodell ein rundes Fingerlabyrinth, das an kretische Labyrinth-Muster erinnert, also das Muster, für das auch Ariadnes mythologischer Name steht.172 Dieses runde Labyrinth erinnert an ein Mengen-Diagramm, also an ein ›Container‹-Schema ( Abb. 84).

Abb. 84: Ariadnes überzeugendes Layout (TC 00:24:38). Quelle: Eigener Screenshot aus Inception, Christopher Nolan, DVD-Video, Warner Brothers Pictures 2010.

Verweist dieser Prozess des skizzierenden Entwerfens von Labyrinthen mit Stift und Papier noch nicht direkt auf implizites Wissen, so wird der Bezug in einer zweiten Szene kurze Zeit später ausdrücklich erklärt (TC 00:25:08). Cobb und Ariadne sitzen in einem Straßencafé. Wie sich retrospektiv herausstellt, befinden sie sich in einem Traum. Die Szene führt ein zweites Diagramm ein, als Cobb gegenüber Ariadne darlegt, wie das ganze Verfahren des Traum-Teilens funktioniert: Cobb: »They say we use only a fraction of our minds true potential. Now that’s when we are awake. When we sleep our mind can do almost anything […] Imagine you are designing a building. You consciously create each aspect, but sometimes it feels like it’s almost creating itself, if you know what I mean?« Ariadne: »Yeah, like I’m discovering it.« Cobb: »Genuine inspiration, right? Now in a dream our mind continuously does this, we create and perceive our world simultaneously, and our mind does this so well that we

172 Vgl. weiterführend die stark auf die poststrukturalistische Philosophie abgestützte, aber in Bezug auf Inception sehr interessante Deutung bei Röttgers 2013, S. 31ff.

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don’t know what is happening. Now that allows us to get right in the middle of that process.« Ariadne: »How?« Cobb: »By taking over the creating part. Now this is where I need you. You create the world of a dream. We bring the subject into that dream, and they fill it with their subconscious.« Ariadne: »How can they ever acquire enough detail to make them think that it is reality?« Cobb: »Well dreams, they feel real while we’re in them, right? It’s only when we wake up that we realize something was actually strange. Let me ask you a question. You never really remember the beginning of a dream, do you? You always wind up right in the middle of what’s going on.« Ariadne: »I guess, yeah.« Cobb: »So how do we end up here?« Ariadne: »Well we just came from the … ah … « Cobb: »Think about it, Ariadne, how do you get here? Where are you right now?« Ariadne: »We’re dreaming?« Cobb: »You are right in the middle of the workshop right now, sleeping. Stay calm.« (TC 00:25:08) Dominiert wird dieser für das Verständnis des Films zentrale Dialog durch die ›Bewusstsein ist wie ein Erbauer‹-Metapher.173 Diese ›erbauende‹ bzw. ›schöpferische‹ Seite wird so erklärt, dass sie in einem Kontinuum mit der Wahrnehmung steht, die den Prozess des ›Konstruierens‹ beobachtet und in dieser Beobachtung wieder in ›Konstruktion‹ umwandelt. Cobb zeichnet diesen Prozess zur Veranschaulichung für Ariadne in ein explizierendes, zirkuläres Diagramm. Das Diagramm soll die Zirkularität von Erschaffung des Traums und Wahrnehmung des Traums hervorheben ( Abb. 85).

173 Vgl. Lakoff/Johnson 1999, S. 338.

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Abb. 85: ›Cycle‹-Schema – Cobbs Illustration kreativer Zirkularität (TC 00:25:25). Quelle: Eigener Screenshot aus Inception, Christopher Nolan, DVD-Video, Warner Brothers Pictures 2010.

Wie Cobb in dem Dialog betont, besteht das Verfahren des Traum-Teilens darin, dass einem Subjekt ein designter Traum zur Verfügung gestellt wird, den dieses Subjekt dann träumt, also durch sein Unterbewusstsein auffüllt. In Bezug auf das Wissen um das Außen privilegiert dies die Angreifer. Sie können dem Opfer einen designten Traum zur Verfügung stellen, von dessen Vorstrukturierung die Angreifer wissen, nicht aber das Opfer. Dennoch ahnt das Unterbewusstsein des Opfers, dass es einen fremden Traum träumt, was im Film mit einer Immunreaktion verglichen wird (TC 00:30:00). Potenzielle Opfer können ihr Unterbewusstsein so konditionieren lassen, dass es Angriffe erkennt und bekämpft. Nach dem Angriff auf Robert Fischer Jr. stellt sich heraus, dass Fischer ein solches Training erhalten hat. Infolgedessen droht der Angriff schief zu gehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein designter Traum von einem angegriffenen Unterbewusstsein erkannt wird, hängt darüber hinaus von Eingriffen in den künstlichen Traum seitens der Angreifer ab. Umso mehr Eingriffe in die erschaffene Traumrealität, umso größer das Risiko, dass das Opfer die Täuschung erkennt. Auch der Prozess des Traum-Designs wird als eine mit implizitem Wissen verbundene Tätigkeit beschrieben. So bemerkt Ariadne, als sie das Verfahren kennenlernt: »I guess I thought that the dream-space would be all about the visual but it is more about the feel of it.« (TC 00:28:30) Die Aufgabe des Architekten können vorzugsweise Menschen übernehmen, die über jene Fähigkeit verfügen, die Ariadne in dem Dialog ref lektiert: Nötig ist kreatives Gespür im Sinne eines prozessualen Entdeckens, also dem sich wie von selbst vollziehenden Erschaffen einer Wirklichkeit. Ariadne bezeichnet dies in einer späteren Szene als »pure creation« (TC 00:38:12). Während die Angreifer es vermögen, sich ein implizites Bewusstsein für das Außen zu erhalten und ihr eigenes Unterbewusstsein nicht in das Fremdbewusstsein hineinzutragen, ist dem traumatisierten Cobb diese Fähigkeit abhandengekommen. Sein Unterbewusstsein spielt in den künstlichen Traum kontinuierlich Projektionen seiner toten Frau Mal und seiner Kinder ein. Der Film differenziert also zwischen implizitem und unbewusstem Wissen. Vermittels impliziten Wissens kann man sich im designten Traum der Realität versichern. Das unbewusste Wissen wird bei den ›gesunden‹ Angreifern ausgeblendet, bei den ›traumatisierten‹ Angreifern, in diesem Fall also Cobb, sorgt es dagegen für nicht kontrollierbare Projektionen. Aus diesem Grund

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

möchte Cobb auch niemals die Layouts für Träume explizit wissen und tritt niemals als Architekt in Erscheinung. Betrachtet man Inception ausgehend von diesen Szenen, also dem Teil des Films, in dem Ariadne das Verfahren des Traum-Teilens erklärt und der Angriff geplant wird, wird auch die Verbindung mit der Diagrammatik klar: Sie liegt in der Logik der Traumschichten, die durch Ariadne gebaut werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Ariadne ein rundes Labyrinth zeichnet, das mehrere Kreis-Schichten im Inneren aufweist. Mit Blick auf die von Inception verwendete Logik der geschichteten Träume ist diese zweidimensionale Repräsentation eines Labyrinthes unzureichend. Die Layouts der Traumschichten, die für den Angriff auf Robert Fischer Jr. gebaut werden – also die drei Levels –, sind nicht nur nach der Metapher ›Wachbewusstsein ist oben, Traumbewusstsein ist unten‹ räumlich durch eine dreidimensionale Tiefenschichtung von oben nach unten organisiert, sondern auch zeitlich unterschieden: Je ›tiefer‹ man in den Schichten vorstößt, desto ›instabiler‹ werden die Träume, und vor allem: Desto langsamer vergeht die Zeit. Abhängig von der Sedierung verlangsamt sich die Zeit im Traum. Als Werte werden im Film 1 Woche (Level 1)/6 Monate (Level 2)/10 Jahre (Level 3) genannt. Unterhalb des dritten Levels liegt nur noch ›Limbus‹, ein undifferenzierter Zustand reinen Unterbewusstseins ohne Zeit-, Raum- und Realitätsgefühl. Die Traumschichten haben, trotz der Innen/Außen-Logik eines Levels, eine sich in Raum und Zeit und prozessual ausdehnende Form, die einer Teil/Ganzes-Logik in Bezug auf die unterstellte prozessuale Einheit eines Bewusstseins folgt. Entitäten in einem Traum befinden sich einerseits in einem geschlossenen Traum-Layout, haben andererseits aber ein Wissen über mögliche weitere Schichten und über das Außen. Die Tatsache, dass Inception für die Erklärung hierfür auf implizites Wissen referiert, führt auf die Fährte der Bedeutung von im impliziten Wissen eingelagerten ›Image schemas‹, um das Narrativ zu analysieren. Das Herzstück ist das ›Container‹-Schema. Träume werden als Container innerhalb eines Containers, des Bewusstseins, konzipiert. Während George Lakoff und später auch Mark Johnson sich für den Begriff des ›Container‹-Schemas entschieden haben, nennt Johnson in seinen Arbeiten als Variante das ›Containment‹-Schema.174 Wie für alle ›Image schemas‹ gilt, so Johnson, dass auch ›Containment‹ kein propositionales Schema ist, aber eine genügend komplexe interne Struktur hat, um Entailments zu generieren, Inferenzen zu erzwingen und zu beschränken.175 Johnson diskutiert ferner das bereits erwähnte Problem ( Kap. 5.2.3), wie verführerisch es sein könne, diese impliziten Schema mit Diagrammen auf dem Papier vergleichen zu wollen. Dabei werde übersehen, dass Diagramme nur intuitiv das suggerieren können, was tatsächlich präkonzeptuell abläuft. Genau dies ist das Problem, anhand dessen sich die diagrammatische Dimension in Inception aufschließen lässt, entspricht es doch dem Problem, das sich in den genannten Diagrammen im Film abbildet. Inception macht dabei einen philosophisch interessanten Punkt über den Zusammenhang von implizitem Wissen und diagrammatischem Denken. Die Prämisse für diese Interpretation ist, dass man die beiden von mir erwähnten Diagramme, die im Film gezeigt werden, in eine Beziehung zueinander setzt: Das erste Diagramm ist die finale Skizze des Labyrinths, also die Zeichnung, die Cobb auf dem Papier nicht in kurzer Zeit lösen kann. Dieses Labyrinth ist nicht der Entwurf, den Ariadne für den 174 Vgl. Johnson 1987, S. 21ff. 175 Vgl. Johnson 1987, S. 22.

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Angriff anfertigt. Es liefert aufgrund seiner Form aber einen Hinweis auf das spätere Erfolgsmodell. Das Argument dafür ist, dass es als ein ›Container‹-Schema gelesen wird – dass es also deshalb den Test durch Cobb besteht, weil es der intradiegetisch ›realen‹ Form des Auf baus der Träume ähnlich ist. Für diese Interpretation spricht die eindeutige, vom unbewussten Wissen klar differenzierte Bedeutung, die das implizite Wissen in Inception hat: Implizites Wissen garantiert die Realität.176 Als ein im impliziten Wissen angelegtes ›Image schema‹ leitet das ›Container‹-Schema die Interpretation des Diagramms durch Cobb an. Genau weil das ›Container‹-Schema so ist wie die Struktur der Träume, ist das Layout als Diagramm treffend und Cobb kann es nicht sofort lösen. In der diagrammatischen Struktur ihres Labyrinth-Designs steckt eine über das ›Container‹-Schema motivierte Strukturähnlichkeit zur Traumstruktur, mit der die Protagonisten im Film permanent befasst sind. Das zweite Diagramm ist das Diagramm, das Cobb für Ariadne zeichnet. Zum besseren Verständnis seiner Bedeutung ist in Erinnerung zu rufen, was dieses intradiegetisch illustriert: Das Diagramm zeigt den zirkulären Prozess des Bewusstseins, wie es einerseits eine Realität konstruiert, andererseits diese konstruierte Realität als Subjekt beobachtend erfährt und in dieser Erfahrung die Realität wieder konstruiert. Dies deckt sich mit der Aussage von Cobb, dass man bewusst etwas erschaffen könnte, aber dass dieser Prozess einer sei, in dem sich etwas wie von selbst kreiert – dass man nicht nur nicht bemüht ist, sondern das Gefühl hat, dass der kreative Prozess von selbst abläuft. Ariadne vergleicht diesen Prozess mit dem Prozess des »discovering«, Cobb nennt es »genuine inspiration«. Genau dieser Prozess wird von Cobb den welterzeugenden Konstruktionen des Bewusstseins zugesprochen und durch das zirkuläre Diagramm illustriert. Dieses Diagramm lässt sich ebenfalls einem ›Image schema‹ zuordnen, und zwar dem ›Cycle‹-Schema‹ ( Abb. 86).177

Abb. 86: Das ›Cycle‹-Schema nach Mark Johnson. Quelle: Eigene Darstellung nach Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 120.

176 Vgl. zu einer philosophischen Deutung Strathmeier 2015, S. 33ff. 177 Vgl. Johnson 1987, S. 119ff.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

Vergleichbar der Beziehung zwischen Ariadnes Labyrinth und dem ›Container‹-Schema, hat Johnsons ›Image schema‹ offensichtliche Ähnlichkeit zu dem im Film gezeichneten Diagramm. ›Cycle‹ zeichnet sich durch eine zirkuläre temporale Bewegung mit Anfangs- und Endpunkten aus, die ineinander übergehen. Als ›Image schema‹ steht ›Cycle‹ für einen autonom ablaufenden Prozess, der dem Konstruktionsprozess entspricht, den das Schema im Rahmen des Diagramms im Film erklären soll. Beide Diagramme stehen also – ganz im Sinne der Motivation eines Diagramms durch implizites Wissen ( Kap. 5.4) – zu ›Image schemas‹ in Beziehung, die vor dem Hintergrund des filmischen Narrativs Sinn ergeben. Sie explizieren innerhalb des Films etwas über die im Narrativ behauptete Struktur der Träume und ihrer Logik. Dies bietet die Möglichkeit zu fragen, was geschieht, wenn man beide Diagramme zusammendenkt. Genau das wird von Cobb erklärt: Die Aufgabe einer Architektin ist es, Layouts für ein labyrinthisches Design zu finden, das auf Seiten des, wie es in dem oben zitierten Dialog heißt, »creating parts« des Bewusstseins angesiedelt ist (Diagramm 1). Dem Bewusstsein des Opfers wird dann das Layout eines Traums untergeschoben, den das Unterbewusstsein im Sinne der Trias von Design, Layout und Display ausspielt (Diagramm 2), indem es das jeweilige Strukturschema des Traums, also das Layout, mit Imagination ›auffüllt‹.178 Das Traumdesign ist ein Schema, das einerseits der Rahmen für den Traum ist, andererseits ein Vollzug in diesem Rahmen. Mark Johnson zitiert in seinen Ausführungen zu ›Image schemas‹ Ulric Neisser mit einem erhellenden Zitat zum Schema-Begriff, das diese Zirkularität noch einmal deutlich macht: »The schema is not only the plan but also the executor of the plan. It is a pattern of action as well as a pattern for action.«179 Diese Funktion des Layouts eines Spielschemas hat der untergeschobene Traum in Inception. Wie bei Neisser wird das Schema als sich dynamisch generierend beschrieben. Angesichts der Rede von ›Traum-Leveln‹ drängt sich damit die Analogie zu computergenerierten Spielfeldern (›maps‹) auf, die dynamisch erzeugt sind. Die Levels werden im Film so beschrieben, dass sie einfach strukturiert sein können, aber komplex genug sein müssen, damit sich die Angreifer vor den Projektionen des Unterbewusstseins des Angegriffenen verstecken können (TC 00:38:57). Die diagrammatische Dimension von Inception steckt in der Schematizität der Traumstruktur, die das Grundgerüst des Narrativs des Films ist. Führt man diese Interpretation weiter, dann können die Diagramme und ihre Schematizität im Film über das implizite Wissen mit einem ›Außen‹ verbunden werden, gelten die herangezogenen Kategorien doch auch für mediale Praktiken der Diagrammatisierung erster Stufe jenseits des Bewegtbildmediums Film. Dann allerdings stellt sich die Frage nach der filmspezifischen Ausgestaltung der theoretischen Perspektive. Soll diese Perspektive nicht einfach nur eine simple Applikation einer aufgrund ihrer Geltungsreichweite passenden Theorie auf das Medium und seine Formen sein, dann ist es nötig, die filmspezifische Konsequenz der aufgegriffenen Perspektive zu diskutieren. Eine Möglichkeit dazu bietet die im Narrativ intradiegetisch aufgezeigte Bedeutung der designten Träume im Prozess der 178 Vgl. Bauer/Ernst 2010, S. 64ff. Hieran schließen auch die Befruchtungs- und Zeugungsmetaphern an, die Bumeder 2014, S. 192ff. in seiner Analyse hervorhebt. 179 Vgl. Johnson 1987, S. 21. Das Originalzitat findet sich in Neisser 1996, S. 51: »Das Schema ist nicht nur der Plan, es führt ihn auch aus. Es ist ein Muster von Handlung wie auch ein Muster für Handlung.«

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Täuschung des träumenden Subjekts. Cobb erklärt Ariadne, dass die Angreifer den Prozess der Traumkonstitution übernehmen, also dem Bewusstsein das Layout eines Designs zu beobachten geben, das dieses dann ›auffüllt‹. Das selbstgenerierte Traumschema des Bewusstseins eines Subjektes wird also ersetzt durch ein fremdgeneriertes Traumschema. Angesichts der ontologischen Metaphorik von Inception, die aus Abwehrreaktionen des Unterbewusstseins per Personifikation gut bewaffnete Soldaten macht, ist dieser Aspekt des Films so deutbar, dass die Protagonisten innerhalb des Traumschemas ein Rollenspiel aufführen müssen, um das Traumbewusstsein des Opfers zu täuschen. Dieses Rollenspiel findet innerhalb der Grenzen des designten Traumschemas (Layout) statt. Das Schema ist ein Plan für Handlungen, der als Plan eine eigene Dynamik hat und an den sich die ›spielenden‹ Akteure anpassen müssen. Der Fokus der Interpretation muss folglich auf der Umsetzung des Plans der Angreifer liegen, ist dieser Plan doch gerade kein Plan, der auf eine Realität bezogen wird und sich dann bewährt oder nicht. Der Plan ist vielmehr ein Plan für einen Vollzug und der Ort des Vollzugs – und er vollzieht sich innerhalb des narrativen ›Diagramms‹, also innerhalb der tiefgestaffelten ›Container‹-Schematizität der Traumrealität, wie Inception sie schildert. Dieser Ansatz zur Analyse von Inception lässt sich leicht mit der Eigendynamik der im ›Außen‹ ablaufenden Prozessualität des Films in Beziehung setzen. Angesichts der zahlreichen Versuche, die Seherfahrung des Films mit dem Träumen zu vergleichen,180 liegt die Interpretation auch nah. Sie lässt sich über den epistemologischen Status des impliziten Wissens im Narrativ von Inception zusätzlich unterfüttern: Der Vollzug der Rezeption des Films ist strukturähnlich zu dem Prozess, dem die Protagonisten in Inception unterliegen, wenn sie ihren Opfern etwas zu träumen geben und dabei als Akteure in diesem Traum in Erscheinung treten. Zwangsläufig richtet sich die Aufmerksamkeit auf den Prozess der Immersion in den Traum und des Bewegens im Traum.181 Auf Ebene der Strukturlogik des Narrativs von Inception spielt die Betrachtung des Films unter einer diagrammatischen Deutung hier ihr Potenzial aus, denn, ist das implizite Wissen als Kontaktpunkt mit dem Außen etabliert, dann sind es diese beiden Aspekte, welche die Binnenebene einer inhaltlichen und formalen Interpretation mit der Metaebene eines Arguments in Bezug auf die Rezeption kurzschließt. Der Schlüssel zu einer derartigen Parallelinterpretation ist der Immersionseffekt, den die tiefgestaffelte Traumstruktur hat. In einer kurzen Szene des Films wird das implizite Wissen um das Außen von Eames (Tom Hardy), einem Teammitglied, direkt deutlich. Eames befindet sich auf der zweiten Traumebene mit Saito in einem Aufzug. Angesichts einer Erschütterung der Traumwelt (des Container-Innens) kann er feststellen, ob das Ereignis, das die Erschütterung auslöst, im Außen der Wachwelt (dem Flugzeug, in dem der Angriff auf Fischer vonstatten geht) oder im Innen, also dem übergeordneten Container der ersten Traumebene, stattfindet (01:23:20). Während Saito fragt, ob die Erschütterung im Flugzeug gewesen sei (in der Wachrealität), bemerkt Eames, dass das Ereignis »much closer« sei, also auf der ersten Traumebene. Auf der ersten Ebene ist das Team in einem Van, der in einer wilden Verfolgungsjagd von Fischers Abwehrprojektionen verfolgt wird. 180 Vgl. Brütsch 2011; McGinn 2007b, dazu Strathmeier 2015, S. 83ff.; Bumeder 2014, S. 93ff. 181 Bumeder 2014, insb. S. 186ff. deutet den Film als eine ›Inception‹ in die Rezipienten selbst. Vgl. auch Strathmeier 2015, S. 128ff.

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Eames’ Einschätzung macht aber nur Sinn, wenn man von einem ›Container‹-Schema ausgeht, das einer transitiven Logik folgt. Die Inferenz lautet: Wenn die zweite Traumebene in der ersten Ebene ist (Van) und die erste Ebene im Flugzeug (Wachrealität/Außen), dann ist auch die zweite Ebene im Flugzeug. Anhand der Art der Erschütterung kann Eames erkennen, dass es keine Erschütterung des Flugzeugs ist, sondern der ersten Traumebene. Dieses Wissen umfasst zwingend eine transitive Logik und ein im impliziten Wissen angesiedeltes Verständnis des ›Container‹-Schemas.182 Mehr noch: Was Eames weiß, muss auch der implizite Zuschauer (implizit) wissen, um dem ›Heist‹ folgen zu können. Und er kann es wissen, denn das ›Container‹-Schema stellt den Kontakt auch mit diesem ›Außen‹ her. Eames’ Einschätzung, die Erschütterung sei ›much closer‹, kann also nur vor dem Hintergrund eines Diagramms gedacht werden, bei dem die Ebene des Flugzeugs weiter vom Zentrum, also der zweiten Traumebene, entfernt ist als die erste Traumebene, auf der das Ereignis faktisch stattfindet. Die nach dem ›Container‹-Schema organisierte Logik der Traummetaphorik in Inception gibt für meine Begriffe Aufschluss über einen entscheidenden Bestandteil von Mindgame-Movies, nämlich die Organisation von Realitätsebenen. Dass Inception dies dank seines Narrativs explizit in zwei Diagrammen ref lektiert, zeigt, dass dieser – durchaus nicht erwartbare – Querbezug zwischen dem Mindgame-Genre und der Diagrammatik tatsächlich auch in den Filmen ref lektiert wird. Umso dankbarer ist es, dass Inception noch einen Schritt weitergeht. Das ›Container‹-Schema in Inception ist innerhalb des Narrativs das Strukturschema, das die jeweiligen Labyrinth-Level der drei Traumschichten zusammenhält. Dem Narrativ folgend, wird dieses Traumschema Robert Fischer Jr., der in besagtem Flugzeug von Cobbs Team betäubt und an die Traum-Teilungs-Apparatur angeschlossen wird, zum Träumen gegeben, also in die Zirkularität des Traumprozesses (als eines Schöpfungsprozesses) eingespeist. Im Narrativ bedeutet das, dass der weitere Verlauf der Story den Prozess schildert, wie Fischers Bewusstsein das Schema auffüllt und die Angreifer mit Fischers Selbstprojektionen interagieren. Den Genre-Regeln des Heist-Movies folgend, passiert in Inception jetzt das Vorhersehbare: Die Sache geht schief. Schnell stellt sich heraus, dass Fischer Jr. ein auf Abwehr von Angriffen trainiertes Unterbewusstsein hat. Bereits auf der ersten Traumebene wird Saito durch Schüsse schwer verletzt und droht zu sterben. Normalerweise würde er aufwachen, wenn er im Traum stirbt. Da jedoch das Konstruieren dreier Traumlevels eine extrem starke Sedierung des Träumenden nötig macht, kann Saito zwar im Traum sterben, wacht dann aber nicht auf. Die Konsequenz ist das Abrutschen in den sogenannten Limbus. Dieser Limbus, eine Anspielung auf die Vorhölle, wird als »unconstructed dreamspace« (01:05:54) bezeichnet, ein Ort des »raw infinite subconscious« (01:05:56). Der Einzige, der aus dem Team jemals in diesem undifferenzierten und unendlichen Raum war, ist Cobb. Zusammen mit seiner Frau hatte er dort fünfzig Jahre mit dem Bauen einer Stadt verbracht. Die Reste dieser Erfahrung hat Cobb über sein eigenes Unterbewusstsein in das Traum-Teilen des Heists miteingebracht. Jeder aus der Gruppe, der im Limbus landet, weil er stirbt, landet also in den Resten von Cobbs und Mals ehemaliger Traumwelt. 182 Vgl. zur Transitivität unter Bezug auf Edward Branigans Konzept des ›Master Space‹ und etwas anders gelagerten schematheoretischen Überlegungen auch Schmidt 2012, S. 74, insb. Anm. 11, zu Inception auch S. 84ff., hier insb. S. 86f.

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Inception eröffnet hiermit den weiteren Spannungsbogen. Der Plan der Gruppe sieht es vor, eine dreifach gestaffelte Traumstruktur zu benutzen, weil in Fischers Bewusstsein das Einpf lanzen der Idee nur dann funktioniert, wenn sein Bewusstsein glaubt, es hätte selbst die Idee gehabt. Angesichts der Bedrohungslage auf dem ersten Traumlevel durch die Abwehrmechanismen Fischers (die über kurz oder lang den Tod der Beteiligten bedeuten würden) hat das Team nur eine Chance: tiefer zu gehen – »downwards is the only way forwards« (01:07:32), wie Cobb bemerkt. Exponiert wird mit dieser Wendung zunehmend die Problematik, die dann auch das Ende definiert: Wie kommt man wieder heraus?183 Das Abschätzen der Distanz zum Außen (dem metaphorischen ›Oben‹ des wachen Bewusstseins) steckte schon in Eames’ Einschätzung der Nähe von Erschütterungen. Der Plan der Angreifer sieht vor, dass auf jedem Level die Person, deren Traum geteilt wird, zurückbleibt, um einen Kick zu initiieren und die Weitergereisten aus den tieferen Schichten zu holen. Wie in einer indexikalischen Kettenreaktion sollen alle wieder herausgezogen werden, wobei zur Synchronisierung Musik verwendet wird, die alle Level durchdringen kann. Angesichts der räumlichen und zeitlichen Teil/Ganzes-Logik, der die Innen/Außen-Logik zugrunde liegt, wird der nach dem ›Container‹-Schema organisierte Auf bau der fiktionalen Traumarchitektur mit verschiedenen semantischen Bedeutungen des ›Out‹-Schemas variiert, wie sie bereits diskutiert wurden ( Kap. 5.4.4). Das ›Out‹-Schema ist mit dem ›Source-Path-Goal‹-Schema verbunden. Die Gruppe bricht zu ihrem Heist auf (»they started out«). Viel wichtiger ist aber, dass die Bedeutung von ›Out‹ als Verlassen eines Containers (Out 1) und die Bedeutung von ›Out‹ als Ausdehnung und Ausbreitung (Out 2) gegeneinander laufen.184 Das Verlassen der jeweiligen Container (der Level) wird nicht nur deshalb immer problematischer, weil die Container-Schichten immer weiter von der äußersten Schicht entfernt sind (dem Flugzeug), sondern weil jeder ›kleinere‹ Container im Container einerseits immer ›instabiler‹ wird, sich andererseits aber temporal immer weiter ausdehnt – bis hin an den Punkt, dass der Limbus als die undifferenzierte Ausdehnung droht, als die ewige Präsenz des ›unstrukturierten Traumraums‹, die zugleich völlige Indifferenz ist. Während intradiegetisch häufig auf die Labyrinth-Struktur der Träume abgehoben wird, spielt sie in den durch Parallelmontage zusammengehaltenen Handlungsabschnitten eine untergeordnete Rolle. Der Immersionseffekt, den die immer tiefergestaffelten Traum-Level auf die Protagonisten ausüben, folgt dem Problem des ›Außen‹-Bezugs in der Logik des im impliziten Wissen angesiedelten ›Container‹-Schemas. Über diesen Bezug parallelisiert er sich mit dem Immersionseffekt für den impliziten Rezipienten bis zu dem Punkt, dass eine Mise-en-Abyme-Struktur suggeriert wird. Mise-en-Abyme-Strukturen werden an verschiedenen Punkten des Films, so auch in der Szene, in der Eames über das ›Container‹-Schema ref lektiert, über die Mise en Scène in entsprechenden Spiegelbildern visualisiert. Faktisch umgesetzt wird diese Struktur aber in dem Film zu keinem Zeitpunkt.185 Nach allen Fährnissen gelingt die ›Inception‹ der Idee und die Protagonisten kehren (vermeintlich?) in das Flugzeug zurück. Das Ende ist elliptisch erzählt. Eine 183 Vgl. Bumeder 2014, S. 167ff., dort insb. die an Markus Kuhn angelehnte Darstellung der Ebenen. 184 Vgl. Johnson 1987, S. 32. 185 Vgl. zur Mise-en-Abyme-Struktur auch Bumeder 2014, S. 175ff.

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eindeutige Entscheidung, ob Cobb wirklich wach geworden ist oder noch schläft, ist unmöglich. Das Abschlussmotiv greift ebenfalls auf das Problem des impliziten Wissens zurück (und verzichtet auf die Mise-en-Abyme-Struktur). Cobb nutzt sein Totem, einen Kreisel, um festzustellen, ob er noch träumt oder nicht. Gezeigt wird nur das Drehen des Kreisels (was das Zeichen dafür wäre, dass Cobb nicht mehr träumt). Ob er fällt oder nicht, bleibt offen.186 Nimmt man die gegenläufige Logik des ›Out‹-Schemas ist das ›offene‹ Ende auch in einem metaphorischen Sinn ›offen‹. Im ›Out‹-Schema geht es um einen Außenbezug in einer Struktur, die im Innen geschlossener ist als im Außen (Out 1), gleichzeitig aber in dieser Geschlossenheit des Innens von einem Subjekt so erfahren wird, dass sie eine maximale Offenheit darstellt (Out 2). Das offene Ende des Films koinzidiert daher mit der Geschlossenheit der Container-Schichten und des ›Ganzen‹ des Films, womit das geschlossene Ganze zum Offenen wird.187 Am Ende ist das offene Ende – wie zu erwarten war – auch die Konsequenz von Cobbs Reise in sein Inneres, steigen doch Ariadne und er am Ende in den Limbus ein, wo Cobb – im Inneren der Kreise des Containers (quasi der Kreise der Verdammnis) – seinem Trauma begegnet. Was am Ende von Inception – sinnfällig im unentschiedenen Status des Totems – verhandelt wird, ist der Status eines impliziten Wissens, das einerseits als Garantiestatus für einen Realitätsbezug im ›Außen‹ dient (Out 1), andererseits über das Auffüllen des Traum-Schemas und das Erschließen tiefer gelagerter Ebenen der Träume im Inneren des Containers in die Auf lösung des Realitätsbezugs führt (Out 2). Auf Ebene der Diagrammatisierung erster Stufe wird durch das Medium Film eine gegenläufige Logik des impliziten Wissens freigelegt, das in der Spannung zwischen einem körperlichen Außen und einem psychischen Innen situiert ist und genau darin auf die Diagramme zurückverweist, die im Film verwendet werden: Diagrammatisches Denken ist als psychische Operation im Inneren des Diagramms durch das Außen einer Krafterfahrung des Bewegens durch das Diagramm angesiedelt, die als Bewegung immer beide Enden haben kann: entweder Klarheit durch das Diagramm, das rekursiv auf problematische Ausgangshypothesen verweist und in eine geänderte Praxis zurückübersetzt wird, oder aber die Verstrickung in ein Diagramm, aus dem kein Ausweg mehr gefunden wird. An diesem Punkt kann man weiterführende Fragen nach dem Verhältnis von Diagrammatik und der Strukturalität des Films aufwerfen.

7.2.4 Der feine Faden impliziten Wissens und Voyage dans la lune Mutmaßlich die erste ›Szene der Explikation‹ im hier verwendeten Sinn findet sich als eine an das Theater angelehnte und als Tableaux arrangierte »Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit«188 in Voyage dans la lune (1902), also einem auch den Science-Fiction-Film begründenden Werk.189 Es ist gleich die erste Szene. Im linken Teil des Bildfeldes der 186 Vgl. zur Deutung des Endes Strathmeier 2015, S. 67f., sowie sehr konsequent im Ausspielen des philosophischen Szenarios des Films Bumeder 2014, S. 195 und insb. S. 287. 187 Vgl. Deleuze 1989, S. 33. 188 Vgl. Bauer 2003, der diesen Begriff von Michael Tomasello medienphilosophisch umdeutet. 189 Vgl. zu Voyage dans la lune die Beiträge in Solomon 2011, darin insb. Gunning 2011, hier S. 100f. Siehe zum für die Einschätzung des frühen Films wichtigen Verhältnis von Theatralität und Narrativität

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statischen Einstellung ist eine Tafel zu sehen, zentriert im oberen Teil ein Fenster. Auf der Tafel ist eine diagrammatische Skizze der Erde und ihres Abstandes zum Mond erkennbar ( Abb. 87).

Abb. 87: Der ›Mond‹ als Objekt und seine diagrammatische Präfiguration (TC 00:01:41). Quelle: Eigener Screenshot aus Die Reise zum Mond, Georges Méliès, DVD-Video, Lobster Films 2011.

Die Wissenschaftler der astronomischen Gesellschaft, die vor der Tafel und unter dem Fenster zusammengekommen sind, diskutieren. Worüber, das gehört zu den Geheimnissen des Stummfilms, aber was der dozierende Professor Barbenfouillis (Georges Méliès) zu tun beabsichtigt, ist zu sehen. Barbenfouillis betritt den Raum und beginnt, auf dem Diagramm seine Absicht zu illustrieren, mit einer Kanone ein Projektil zum Mond zu schießen. Dafür zeichnet er die Flugbahn des Projektils ein. Er expliziert die Reise zum Mond, bevor sie stattgefunden hat. Mittels einer Skizze wird das Schema des folgenden Narrativs explizit. Bemerkenswert sind die Details des Objektes an der Tafel. Wie Brian Willems bemerkt hat, erscheint die Erde als vermessenes Objekt, erkennbar durch die geodäsischen Linien. Der Mond hingegen, von dem Willems vermutet, er könne auch das berühmte Mondgesicht aufweisen, erscheint als nicht spezifiziertes Objekt: »Earth is an entity which scientific understanding has encircled, while the moon remains a fuzzy blank mass, waiting to be filled with knowledge.«190 Die Relation zwischen Erde und Mond wird durch die explizite ikonisch-diagrammmatische Linie Erde/Mond auf der Tafel, quasi: die Karte, inklusive unentdeckter Länder, in die Fläche der Mise en Scène übergeleitet, also in das Territorium. Teleskope führen die Linie in eine zweite, implizite ikonisch-bildliche Binnenkadrierung fort, ein Fenster im oberen Bildfeld, in dem der Fluchtpunkt des Mondes zu erkennen ist.191 Das explizite Verhältnis zwischen den Objekten auf der Tafel wird durch das implizite Verhältnis zwischen einem in einem den – in dem von Solomon herausgegebenen Band nochmals enthaltenen – Artikel von Gaudreault 1993, mit anderer Einschätzung in Bezug auf die Theatralität auch Malthête 1993. 190 Willems 2015, S. 6. 191 Vgl. auch Pomerance 2011, S. 85f.; Willems 2015, S. 7.

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kreisrunden Gestell eingefassten Teleskop und dem realen Mond gespiegelt. Intradiegetisch zeigt sich in der explizierenden Skizze also das, was in der Szene implizit – aber explizierbar an Relation in der Bildfeldorganisation – gezeigt wird.192 Diese Spannung erzeugt einen eigenen Schauwert. Enthalten ist in ihr auch eine medienref lexive Anspielung. Der Mond an der Tafel ist das Produkt seiner Beobachtung durch das Medium des Teleskops. Er ist ein »›telescopic moon‹«,193 ein Objekt der Imagination, das allererst durch Galileos Fernrohr Eingang in die Kultur gefunden hat.194 Der Mond an der Tafel des Professor Barbenfouillis ist also ein eidetisches Objekt,195 stabilisiert durch die zur Verfügung stehende Medientechnik und als Zielobjekt an der Tafel explizit benannt. Dieses außerhalb der Szene gelegene Objekt gilt es zu erforschen. Dies kann, wie Willems zu Recht bemerkt, in einem Verlust an Wissen resultieren, verliert man doch die Übersicht, je näher man an ein Objekt kommt.196 Zwar geraten die Wissenschaftler zunächst in eine erregte Diskussion, stimmen dem Plan des Mondf lugs dann aber per Akklamation zu. Offen bleibt, was genau die Diskussion auslöste. Vielleicht war es die Flugbahn, vielleicht die wagemutige Idee an sich. Am Ende der Szene sind die akademischen Gemüter jedoch beruhigt. Als Schema offengelegt (und für folgende Verknüpfungen freigegeben) ist allerdings die Mission des Films: Die Reise geht auf einer leicht geneigten Linie in Richtung Mond. Die explizite Ebene der Narration und die implizite Ebene der Verknüpfung filmischer Bilder verbinden sich zu einer phantastischen Mission, die an der Tafel durchgespielt wird. Mit Gilles Deleuzes Filmphilosophie bietet dies die Gelegenheit, einige vertiefende theoretische Beobachtungen zu machen. Die Szene aus Voyage dans la lune gehört zur Frühgeschichte von Szenen der Explikation als einer Form von filmischer Selbstreferenz. Szenen der Explikation können Selbstreferenzen des Films auf seinen Vollzug enthalten. In einem diagrammatischen Subensemble im Bild wird auf vergangene oder zukünftige Probleme innerhalb des filmischen Narrativs als einer Form von sich entfaltender Bewegung Bezug genommen, wobei der Verlauf der Filmhandlung von dieser Szene der Explikation abhängt: Sei es, dass die Szene – wie etwa in The Usual Suspects – im Rückblick auf klärt, wie alles ›wirklich‹ war, sei es, dass sie vorgreift, was zu erwarten ist: Mittels diagrammatischer Zeichen visualisiert wird so ein abstraktes Problem artikuliert und, hier über das Objekt ›Mond‹, mit dem Schema des filmischen Narrativs verknüpft. Die Binnenkadrierung kann dabei als eine paradigmatische Form filmischer Selbstreferenz auf der visuellen Erzählachse angesehen werden, die in einem Verhältnis struktureller Ähnlichkeit zu dem steht, was man ›Szenen der Explikation‹ nennen kann. Definiert man eine Binnenkadrierung als Verdoppelung der Differenz von Fenster und Rahmen, dann verhalten sich Binnenkadrierungen selbstreferenziell in Relation zu dem Ensemble, in dem sie erscheinen. Die Differenz von Innen (Rahmen) und Außen (Fenster) des Ensembles wird im Ensemble offengelegt.197 Diese Konstellation ist ein klassisches filmisches Bildschema. Ich verwende den Begriff ›Bildschema‹ hier 192 Vgl. zur Diskussion im Kontext des frühen Films auch Gunning 2011; Willems 2015, S. 13ff. 193 Vgl. Willems 2015, S. 6. Willems übernimmt den Begriff von Hope Nicolson. 194 Siehe medientheoretisch auch Vogl 2001. 195 Vgl. zum Objektstatus des Mondes bei Méliès und darüber hinaus auch Willems 2015, S. 9ff. 196 Vgl. Willems 2015, S. 8. Siehe dazu auch Pomerance 2011, S. 88f. 197 Vgl. Deleuze 1989, S. 32.

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allerdings ausdrücklich nicht, wie in der bildwissenschaftlichen Forschung üblich, als Übersetzung des ›Image schema‹-Begriffs. Die ›Image schemas‹ sind keine semiotischen Schemata, sondern kognitive Schemata des impliziten Wissens, über welche semiotische Schemata organisiert und variiert werden ( Kap. 5.2). Bildschemata sind dagegen jene semiotischen Regeln, die im Unsichtbaren das soziokulturell Sichtbare strukturieren, etwa die Zentralperspektive. Die Teleskope, die auf das Fenster im oberen Teil des Bildfeldes gerichtet sind, zielen auf eine ikonische Binnenkadrierung: das Fenster. Zieht man die imaginäre Linie von dem Zielobjekt jenseits dieses Fensters, dem Mond, zurück auf die Tafel, dann erschließt man die zweite, hier in Rede stehende Binnenkadrierung: die Tafel. Die Tafel ist ein ›Rahmen‹, der in einem durch die Binnenkadrierung mit dem Fenster im oberen Bildfeld definierten Verhältnis steht. Dieses Verhältnis ergibt sich aus einer zeitlichen Nachträglichkeit. Zuerst fand (mutmaßlich) ein Forschungsprozess mit dem Teleskop statt, dann wurde auf Grundlage einer diagrammatischen Abstraktion geplant. Was also auf der Tafel eingezeichnet ist, ist auch die diagrammatische Explikation dessen, was im Bildfeld noch an ikonischem Verweis über dieses Verhältnis anlegt ist. Vergleichbare Binnenkadrierungen finden sich auch in den bereits vorgestellten Beispielen, etwa in A Beautiful Mind, wenn Nash das Diagramm auf sein Zimmerfenster zeichnet. Das Spiel von Transparenz und Intransparenz wird in Voyage dans la lune allerdings nicht konnotativ aufgeladen, sondern als Kontrast verwendet: die dunkle (intransparente) Tafel kontrastiert das (transparente) helle Fenster (das zugleich das einzige offene Fenster ist). Expliziert wird die Relation Erde und Mond, die im Übergang von Binnenkadrierung zu Mise en Scène zudem als Bewegung des Bildes präfiguriert wird. Joachim Paechs Formulierung ist treffend: Diagrammatik hat im Film etwas damit zu tun, der »Bewegung einer Linie« zu folgen ( Abb. 88).198 Die Tafel ist mithin eine eigene Schnittstelle, ein bearbeitbares Intraface, das auf das Narrativ des Films verweist. Gelesen als Binnenkadrierung – um solche geht es auch bei Alexander Galloways Beispielen für Intrafaces – referiert dieses Ensemble also nicht nur auf die Bildkomposition des Films (Selbstreferenz), sondern geht den Schritt in eine Selbstref lexion des Verhältnisses von situativ spezifizierter Bildlichkeit und genereller Sichtbarkeit: Was auf der Tafel geschieht, ist eine Auslegung durch Veranschaulichung von etwas Unanschaulichem – ein Unanschauliches, das strukturell im ikonischen Ensemble angelegt ist und virtuell auf das Off des Bildes referiert, das hier auch intradiegetisch das im ›Außen‹ durch das Fenster sichtbare ist: das Objekt des Mondes.199 Dafür sind zwei Eigenschaften von Szenen der Explikation typisch: die Verwendung von diagrammatischen Zeichen und die Darstellung eines Mediums, in dem diese diagrammatischen Zeichen verkörpert sind, hier der Tafel. Szenen der Explikation sind daher intrafilmische Formen der Transkription, die im Fall mentaler Subjektivität ästhetisch als ›Intrafaces‹ begriffen werden können. Um diese These zu verstehen, ist es sinnvoll, einen zweiten Aspekt des Begriffs der Szenen der Explikation zu betonen. In der gegebenen Form sind Szenen der Explikation auf die Schemata des jeweiligen Narrativs bezogen. Wie die neoformalistische Filmtheorie von David Bordwell und 198 So der Titel von Paech 2002, insb. S. 133ff. 199 Vgl. auch den Ansatz bei Fahle 2011, S. 117ff., insb. die wichtigen Überlegungen zum Verhältnis von Sichtbarem und Bildlichem.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

Kristin Thompson ausgeführt hat, konstituiert sich ein narratives Schema in der sinnlichen Wahrnehmung des Plots und seiner Zusammensetzung zu einer Story. Aus der Konfiguration des Plots setzt sich die Story zusammen. Das Verhältnis von Plot – also die Abfolge der Teile eines Films als in der Zeit ablaufendes Ensemble – und der Story – also der Sinnkonfiguration, die sich in einer Rezeptionssituation ergibt –, ist durch die Spezifik der filmischen Formensprache definiert.200 Form ist die Ausgestaltung der Differenz von Plot und Story in den Bereichen, in denen filmische Mittel Unterschiede machen, also insbesondere Montage, Kadrierung, Kamera und Ton. Szenen der Explikation sind darin ›explikativ‹, weil sie zu ausgewählten Teilproblemen der Story ein Verhältnis des prospektiven oder retrospektiven Durchspielens etablieren. Dafür sind semiotische Umformung und mediale Transkription wichtig, weil das Durchspielen als semiotische Probehandlung inszeniert ist ( Kap. 2.2.5):201 Professor Barbenfouillis erklärt seinen Plan an der Tafel, bevor er ausgeführt wird. Obwohl es sich nur um eine Analogie handelt, ist der Verweis auf die Binnenkadrierung und die Kadrierung hier sehr stimmig und sinnvoll.

Abb. 88: Das riskante Unternehmen und der Streit der Gelehrten (TC 00:02:08). Eigener Screenshot aus Die Reise zum Mond, Georges Méliès, DVD-Video, Lobster Films 2011.

Binnenkadrierungen können als ein prototypisches Verhältnis filmischer Selbstreferenzialität verstanden werden.202 Wie Gilles Deleuze ausgearbeitet hat, machen sie die Strukturalität des Films als einer Menge von Elementen (Teilen), die in Relationen zueinanderstehen, sichtbar und lesbar. Für Deleuze kann das Bildfeld »gesättigt« oder »verknappt« (Rahmen) sein und »geometrisch« oder »physikalisch« organisiert werden (Fenster).203 Die Szene aus Voyage dans la lune ist gesättigt und geometrisch. Allerdings ist hier nicht nur Deleuzes Theorie der Kadrierung interessant, sondern vor allem sei-

200 Vgl. Bordwell/Thompson 2004; Thompson 1995. 201 Vgl. Winkler 2008b. 202 Vgl. Kirchmann 1996. 203 Vgl. Deleuze 1989, S. 27f.

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ne Erörterung der Bedeutung der Kadrierung in der Logik filmischer Formenbildung an sich. Im Anschluss an Deleuzes Ausführungen in Das Bewegungsbild lässt sich anhand der Kadrierung nämlich studieren, dass die Filmstruktur aufgrund ihrer Zeitlichkeit eine Einheit von Trennung und Verbindung ist, wie sie in der poststrukturalistischen Logik insbesondere Differenzen kennzeichnet. Im Verhältnis von Eingrenzung des Bildes (Rahmen) und Entgrenzung (Fenster) als ein Innen (Rahmen) und Außen (Fenster) wird in der Kadrierung damit ein Grundprinzip filmischer Formenbildungen erkennbar: »Das kinematographische Bild ist immer dividuell.«204 Dividuell heißt, dass sich ein Ensemble »nicht (teilt), ohne sich jedesmal in seiner Beschaffenheit zu ändern: in diesem Sinn stellt es weder Teilbares noch Unteilbares dar, sondern ›Dividuelles‹.«205 Deleuze definiert die Art intrafilmischer Relationen – die Strukturalität des Films – auf dieser Grundlage als ein dynamisches Beziehungsgef lecht aus Ensembles (Elementen) und den Relationen zwischen diesen Ensembles, das als Beziehungsgef lecht, also als Struktur, prozessual in der Zeit entwickelt ist. Dieser dynamische Strukturbegriff wird besonders interessant, wenn er auf das filmische Off bezogen wird, von dem es zwei Formen gibt: »Jede Kadrierung determiniert ein Off. Es gibt nicht zwei Typen des Bildfeldes, von denen nur einer auf das Off verwiese; es gibt vielmehr zwei höchst unterschiedliche Aspekte des Off, von denen jeder auf eine besondere Kadrierungsart verweist. Teilbarkeit der Materie bedeutet, daß die Teile in unterschiedliche Ensembles eingehen, die sich unablässig in Teilensembles teilen oder ihrerseits Teilensembles eines umfassenderen Ensembles sind – bis ins Unendliche. Deshalb ist die Materie zugleich durch die Tendenz zur Bildung geschlossener Systeme bestimmt und durch die Unabgeschlossenheit dieser Tendenz.«206 Was in der filmischen Formenbildung gegeneinander läuft, ist das sinntheoretische Phänomen, dass die Tendenz der Struktur zu ihrer Konstitution und Abschließung auf ihrer Öffnung und Überschreitung beruht. Deshalb bemerkt Deleuze, dass jede geschlossene Struktur durch die konstitutive Offenheit der Prozesse ihrer Abschließung gekennzeichnet ist. Konsequenterweise ist das Off ein ›Mehr‹ des Ensembles. Filmische Präsenz ist als bildliche Präsenz eine Form jenes durch technische Medien induzierten Irritationsmoments des ›sichtbaren Unsichtbaren‹, das mit dem Teleskop und der Betrachtung des Mondes bei Galileo Galilei in die Welt kommt.207 Die Präsenz des Off ist mithin eine latente und dynamische Präsenz und die Präsenz von Latenz und Dynamik: »Das Off verweist auf das, was man weder hört noch sieht und was trotzdem völlig gegenwärtig ist. Allerdings macht das Verständnis dieser Präsenz Schwierigkeiten […].«208 Diese Schwierigkeiten entstehen, weil es zwei Arten von Off gibt: Wenn ein Ensemble in einer Kadrierung ist, etwa eine Binnenkadrierung, wird klar, dass es immer noch 204 Deleuze 1989, S. 30. 205 Deleuze 1989, S. 30. 206 Deleuze 1989, S. 32. 207 Vgl. dazu Vogl 2001. 208 Deleuze 1989, S. 32.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

ein noch größeres Ensemble gibt, das auch sichtbar werden kann, was dann wieder ein neues »Außerhalb« erzeugt usw.209 Somit gibt es immer ein »relatives Off«, das durch die »Gesamtheit« der Struktur eingeholt werden kann, und ein »radikales Off«, das niemals eingeholt wird: das »Ganze«.210 Um diese Unterscheidung zu denken, setzt Deleuze auf die poststrukturalistische Grundfigur, dass die »Gesamtheit aller Gesamtheiten« nicht das Ganze ist, weil jede Gesamtheit wieder ein Ganzes voraussetzt.211 Die zwei Aspekte des Off, von denen Deleuze spricht, verweisen daher auf ein relatives Off (die Gesamtheit) und ein radikales Off (das Ganze). Gesamtheit und Ganzes verhalten sich so zueinander, dass das Ganze dasjenige ist, was als Unabgeschlossenheit bzw. Offenheit die Gesamtheit an ihrer Schließung hindert: »Das Ganze ist […] das, was jede Gesamtheit […] daran hindert, sich abzuschließen, was sie zwingt, in eine größere Gesamtheit überzugehen. Das Ganze ist folglich wie der Faden, der die Gesamtheiten durchzieht, der jeder die notwendig wirkliche Möglichkeit vermittelt, mit einer anderen zu kommunizieren, und so bis ins Unendliche.«212 Beachtenswert ist jetzt allerdings, wie Deleuze diese Grundfigur weiterdenkt: »Daher ist das Ganze auch das Offene und verweist mehr auf Zeit und sogar auf den Geist als auf die Materie und den Raum. Worin ihr Verhältnis zueinander auch immer bestehen mag: der Übergang der Gesamtheiten ineinander ist nicht mit der Öffnung des Ganzen zu verwechseln, die sie alle durchzieht. Ein geschlossenes System ist niemals absolut geschlossen; es ist mit anderen Systemen im Raum vermittels eines mehr oder weniger ›feinen Fadens‹ verbunden. Zugleich aber ist es in ein Ganzes integriert und reintegriert, das ihm entlang dieses Fadens Dauer überträgt.«213 Zusammengehalten und geöffnet wird die Struktur durch eine Art »feinen Faden«. Was verbirgt sich hinter dieser Metapher für die Verbindung zwischen Gesamtheit und Ganzem? Einen Hinweis gibt Deleuze, wenn er in den folgenden Passagen erneut die Latenz der Präsenz des Off beschwört: »Zum einen bezeichnet das Off das, was woanders, nebenan oder im Umfeld existiert; zum anderen zeugt es von einer ziemlich beunruhigenden Präsenz, von der nicht einmal mehr gesagt werden kann, daß sie existiert, sondern eher, daß sie ›insistiert‹ oder ›verharrt‹, ein radikaleres Anderswo, außerhalb des homogenen Raums und der homogenen Zeit.«214 Deleuze assoziiert das Ganze, das in der Präsenz des radikalen Off »insistiert«, mit dem »Geist«215 und findet eine ref lexive Bewegung auf diese filmische Form mit dem

209 Vgl. Deleuze 1989, S. 33. 210 Deleuze 1989, S. 33f. 211 Vgl. Deleuze 1989, S. 33. 212 Deleuze 1989, S. 33. 213 Deleuze 1989, S. 33. 214 Deleuze 1989, S. 34. 215 Deleuze 1989, S. 33.

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»Mentalen Bild« bei Alfred Hitchcock.216 Deleuze beschreibt in diesen Passagen, wie im Film die Integration von Strukturen in einen prozessualen Vollzug ref lexiv werden kann. Diese Ref lexion kann allerdings nur postuliert werden, wenn man von einem dynamisierten Strukturbegriff ausgeht. In diesem Strukturbegriff stehen Struktur und Praxis in keinem dualistischen, sondern einem »dualen« (Anthony Giddens) Verhältnis. Diese Analogie zur sozialtheoretischen Struktur/Praxis-Differenz mag kurios anmuten. Sie ist in Bezug auf nicht-intentionale Handlungsbegriffe, wie bei Anthony Giddens,217 aber tragfähig.218 Die doppelte Bedeutung der Metapher des »feinen Fadens« kann so besser verstanden werden. Wenn der feine Faden das ist, was die Gesamtheit der Struktur zusammenhält und das, was als Insistenz des radikalen Off, also des Ganzen, sich in die Struktur übersetzt, dann ist dies als die Interaktion zweier verschiedener Formen von Schemata zu verstehen, die im Vollzug des Films zusammenspielen. In der ersten Bedeutung geht es um Bildschemata auf Ebene der filmischen Formenbildung wie jene im Filmbild angelegte unsichtbare Linie, die als implizite Relation von der Tafel über das Teleskop auf den Mond verweist. Diese Linie steht, in Deleuze’schen Begriffen, für eine homogene, geordnete Materialität, einen gerichteten sukzessiven Prozess, der diskrete Vielheiten und numerische Teilbarkeit (digital) kennt, begrenzbar und fixierbar ist, kurz: die abstrakte Zeit der temps, die Deleuze mit dem Film in Bewegung versetzt sieht und die er im ersten Bergson-Kommentar in Das Bewegungsbild mit dem begriff lichen Denken und dem expliziten Wissen assoziiert.219 In der zweiten Bedeutung geht es um Schemata, die vom Ganzen her in den Vollzug des Films mithineinspielen. Es sind Schemata, die für den impliziten und nicht vollständig explizierbaren (Nach-)Vollzug filmischer Bewegung stehen: eine Bewegung, die geistig, numerisch unteilbar (analog) und heterogen ist, durch Begriffe wie Wandel, Permanenz und Dynamik beschrieben werden kann, kontinuierliche Vielheit ausdrückt, anfangs- und endlos ist, die durée, die auf implizites Wissen verweist, sofern diese Schemata Bewegungs- und Wandlungssequenzen sind ( Kap. 5.2). Für Deleuze macht die Kadrierung diesen Prozess sichtbar und lesbar, etwa in der Differenz zwischen geometrischen und physikalischen Organisationen des Bildfeldes. Als filmische Form ist die Kadrierung aber auch ein Teil dieses Vollzugs. Die filmische Szenografie kann in sich die Grundspannungen filmischer Struktur im Prozess ihres Vollzuges illustrieren. Auf bescheidenerem Abstraktions- und Anspruchsniveau ist daher davon zu sprechen, dass Szenen der Explikation das Problem von filmischer Struktur als einer schematisierten Form und ihrer Öffnung in der Praxis ihres Vollzugs mitausstellen. Dieses philosophische Potenzial von filmischer Bildfeldorganisation und Szenografie erhält sich auch in konventionellen Szenen der Explikation im narrativen Hand216 Vgl. Deleuze 1989, S. 35. Vgl. Bauer 2006; Bauer/Ernst 2010, S. 196ff. Siehe dazu im Rückbezug auf Mindgame-Filme auch Fahle 2015. 217 Vgl. Giddens 1995, S.  77ff. Vgl. zu Giddens Konzeption von Praxis und Struktur insb. Göbel 2011, S. 198ff., einführend auch Bonß et al. 2013, S. 224ff. 218 Der duale Strukturbegriff ist der Medienwissenschaft keineswegs fremd. Vgl. auch Kay Kirchmanns (1998, S. 61f.) sehr aufschlussreichen Entwurf eines relationalen Konzeptes von Medialität. 219 Vgl. Deleuze 1989, S. 13ff.

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lungskino. Szenen der Explikation fußen nicht ausschließlich auf der Selbstreferenz des Bildlichen. Sie sind Transkriptionen, die eine semiotische Umformung voraussetzen, die Diagrammatisierung von ikonischen Zeichen. Eine Binnenkadrierung kann eine mediale Transkription sein, beispielsweise wenn sich die Bildlichkeit einer Szene in einer Fotografie oder einem Gemälde spiegelt. Sie muss es aber nicht.220 Was allein gegeben sein muss, ist die Übersetzung in diagrammatische Zeichen – verstanden hier als image-diagrams, diagrams-proper und symbolic-diagrams ( Kap. 5.4.2). Diese Übersetzung tritt als Umformung so auf, dass ein Problem, meist sogar ein intradiegetisches Problem in der Story, mittels Diagrammatisierungen expliziert wird, wobei vorangegangene oder folgende Handlungen mitref lektiert werden. Ein sehr einfacher Fall ist in Apollo 13 (1995) zu finden. Verläuft die Reise zum Mond auf der imaginären Trajektorie aus Voyage dans la lune linear und reibungslos, so kann man das von der realen Mondreise der Apollo-13-Mission nicht behaupten. Das auf den realen Ereignissen beruhende Raumfahrtdrama Apollo 13 zitiert Voyage dans la lune dazu an markanter Stelle. An der Raumkapsel ist ein Sauerstofftank explodiert. In Houston weiß man, dass die Crew um Jim Lovell (Tom Hanks) ein »problem« hat. Der Sauerstoff im Kommandomodul wird knapp. Die Crew muss in die Mondlandefähre umsteigen. Bei der NASA kommt das Mission-Control-Team unter der Leitung des Flugdirektors Gene Kranz (Ed Harris) zusammen (01:04:40). Nur zwei Möglichkeiten bieten sich, die Kranz in eine Skizze der Relation zwischen Erde und Mond an die Tafel zeichnet: entweder die Crew weiter auf den Mond zuf liegen lassen und in einem Gravitationsmanöver um den Mond zurückholen (»free return trajectory«) oder aber das Raumschiff noch vor Erreichen des Mondes wenden, das Haupttriebwerk zünden und das Schiff zurückschicken (»direct abort«). Anhand einer technischen Zeichnung der Raumkapsel erklärt Kranz, dass das Risiko für einen direkten Abbruch zu groß ist. Es ist nicht einzuschätzen, ob das Haupttriebwerk während der Explosion beschädigt worden sein könnte (01:06:05). Es sind also zwei Möglichkeiten der Route in der Skizze an der Tafel zu erkennen und auf Grundlage eines technischen Diagramms illustriert Kranz seine Entscheidung, die den weiteren Verlauf der Geschichte vorzeichnet ( Abb. 89).

220 Da das Ganze innerhalb einer homogen als filmischem Bild konventionalisierten Form vorkommt, ist es falsch, dies als »intermedialen Bezug« oder gar »Medienkombination« (vgl. Rajewsky 2002, S. 19) zu bezeichnen, wobei von dieser Theorie genauer angegeben werden müsste, wann denn Mediendifferenzen überhaupt explizit werden.

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Abb. 89: Zwei Entscheidungsoptionen (TC 01:05:18). Quelle: Eigener Screenshot aus Apollo 13, Ron Howard, DVD-Video, Universal City Studios, 2 Disc Special Edition 1995.

Über ein Objekt, ein Projektil, das sich auf der Flugbahn befindet, hatten die Gelehrten in Voyage dans la lune auch schon debattiert. Jeweils ist es der Kontext eines Objektes, das Projektil in Voyage dans la lune und die Raumkapsel in Apollo 13, das zur Diskussion steht. Das eidetische Objekt der Diagrammatisierung ist die jeweilige diagrammatisch repräsentierte Strukturrelation, auf deren Pfad (Trajektorie) sich das Objekt bewegt. Die Szenen der Explikation verwenden Diagrammatisierungen, um Denkbilder der kinästhetischen Bewegungskontexte von Objekten als narrative Objekte zu exponieren. Diese Exposition bezieht sich auf die narrative Kontextualisierung des Objektes und seines Verhaltens. Das Objekt wird als Sachverhalt in einem praktischen Zusammenhang exponiert; es ist ein Objekt, das in relationalen, kinästhetischen Beziehungsverhältnissen steht. Deshalb sind Szenen der Explikation auch durch Diagrammatisierung und Transkription ausgezeichnet. Weil das Medium Film, Deleuzes Definition zufolge, als »Bewegungsschnitt der Dauer«221 seinerseits eine verzeitlichte und verräumlichte dynamische Struktur ist, wird in Szenen der Explikation eine Spur des »feinen Fadens« mitexpliziert, der die Gesamtheit der Struktur auf ihr Ganzes ausrichtet. Deshalb exponieren Szenen der Explikation als filmische Konfigurationen narrative Schemata, indem sie diese Schemata explizit als Vorwegnahme präfigurieren und oder explizit als Rückbezug refigurieren. Dieser Blick auf die Gesamtheit des Narrativs lässt – im Sinne des feinen Fadens – auch das Ganze, die Dauer, in diese Szenen miteinf ließen. Das aber heißt: Ihren Status als Explikationen der Gesamtheit garantieren diese Szenen als explizite Darstellungsweisen über eine Verf lechtung mit dem impliziten Ganzen und damit, mit Deleuze gedacht, dem Offenen. Werden in diesen Szenen Diagrammatisierungen verwendet, um eine explikative Distanzierung und Veranschaulichung zu erreichen, so ist es auffällig zu beobachten, dass diese Zeichen in anderen Medien verkörpert sind. Die Tafel braucht keinen Special Effect. In Voyage dans la lune haben die andere Schauwerte Filmgeschichte geschrieben: die Kugel im Auge des Mondes und der Stop-Trick. Auch in Apollo 13 kommen technische oder ›neue‹ Medien nicht gut weg. Als Gene Kranz seine Skizze auf einem Overhead-Projektor anfertigen will, brennt die Birne des Projektors durch, wes221 Vgl. Deleuze 1989, S. 26.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

halb nur das altbackene Medium der Tafel bleibt. Das ist insofern symptomatisch, als Szenen der Explikation dazu neigen, Diagrammatisierung unter dem Gesichtspunkt von Medialität und speziell Interfaces im weiteren Sinne zu beleuchten. Beispiele dafür finden sich nicht erst in Filmen wie Minority Report, sondern in den selbst- und medienref lexiven Kontexten der filmischen Moderne. Kanonisch – und auch vor der Folie der Diagrammatik interpretiert worden – ist etwa die berühmte Bildanalyse in Blow-Up.

7.2.5 Zum »Metadiagramm« in Blow-Up Im modernen Film ist einer der Gründe für Szenen der Explikation die Narrativierung jener Irritation, die vom technischen Bild selbst ausgeht. Wenn technische Bilder den Möglichkeitsüberschuss eines ›sichtbaren Unsichtbaren‹ ( Kap. 6.2) enthalten, sind es die ›Schichten‹, die ›layer‹ dieser Information, die narrativiert werden müssen. Die berühmte Bildanalyse einer Fotografie, die der Fahnder Decker (Harrison Ford) in Blade Runner (1982) unter Einsatz von Computertechnologie vornimmt, hat ihr Vorbild in BlowUp.222 Die Zerlegung der zweidimensionalen Fläche der Fotografie in einen Raum der Objektmanipulation findet somit historische Vorbilder in der filmischen Inszenierung der Transkription einer Fotografie, vormals das Medium der indexikalischen Spur.223 Wie Matthias Bauer in seiner Gesamtdarstellung von Michelangelo Antonionis Werk illustriert hat, liefert Antonioni in Blow-Up (1966) die klassische Verbindung von Bildanalyse, Diagrammatisierung und Narration.224 Bauers detaillierter Deutung des Films soll hier nicht widersprochen werden. Das wäre angesichts der Gründlichkeit dieser Darstellung und des dort abgebildeten Forschungsstandes auch unmöglich. Hier wird sich auf eine f lankierende Lesart konzentriert. Die Epistemologie der Szene soll mit Blick auf die Diagrammatik begriff lich etwas anders auf löst werden, als es bei Bauer geschieht. Worum geht es? Der Fotograf Thomas (David Hemmings) nimmt in einem Park eher zufällig ein Liebespaar auf. Die Frau (Vanessa Redgrave) versucht, ihm die Aufnahmen noch abzuluchsen. Als er sich die Fotografien des Paares in seinem Atelier ansieht, kommt Thomas ein Verdacht (TC 00:58:00). Aus dem parallelisierenden Vergleich zweier Fotografien lässt sich (vermeintlich) ein Mord rekonstruieren. Dieses klassische Motiv aus Blow-Up – jener metaphorischen ›Vergrößerung‹, die aus einem Bilddetail eine komplexe Geschichte macht –, beruht auf einer Diagrammatisierung ( Abb. 90). Auf einer Großaufnahme des Paares ist die nach rechts aus dem Bild laufende Blickrichtung der Frau im Park zu sehen ist. Thomas folgt der Blickachse. Auf einer zweiten Fotografie, die das Ensemble in einer Totalen zeigt, zieht er mit den Händen eine imaginäre Linie (TC 00:59:14). Auf Grundlage der Linie versucht er herauszufinden, auf welches Objekt sich der Blick der Frau richtet. Durch Point-of-View-Shots übernimmt die Kamera den analytischen Blick. Interessiert greift Thomas zu einer Lupe, um den Zielpunkt der Blickachse zu untersuchen (TC 01:00:13). Auf halber Strecke der imaginären Linie, einer dichten Hecke hinter einem Zaun, macht er seine Entdeckung. Irritiert greift er zu einem Stift, um den betreffenden Bereich des Bildes 222 Vgl. auch Scheid 2005, S. 140ff. 223 Vgl. zur Barthes’schen Fototheorie und Blow-Up ausführlich Bauer 2015, S. 440ff. 224 Vgl. Bauer 2015, S. 383ff.

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zu markieren. Er zeichnet ein Quadrat in das Foto, das das ganze Ensemble zeigt (TC 01:00:30). Eine weitere Fotografie veranschaulicht die Situation: Die Blickachse der Frau richtet sich auf ein imaginäres Objekt in einem Zaun vor einer Hecke, in der sich etwas befinden muss (TC 01:00:44).

Abb. 90: Vergrößerung und Abstraktion (TC 01:00:33). Quelle: Eigener Screenshot aus Blow-Up, Michelangelo Antonioni, DVD-Video, Süddeutsche Zeitung Cinemathek 47, Turner Entertainment/ Warner Brothers 1966.

Thomas ordnet darauf hin die Bildserie in den Kadern der schwarz-weiß-geometrischen Wände seines Ateliers neu an und stellt eine noch größere Detailaufnahme des fraglichen Bildausschnittes her. Nachdem die Serie quadratisch an drei Wänden seines Ateliers auf Augenhöhe aufgehängt ist und er in der Mitte des Raumes steht, folgt eine kurze Sequenz von montierten Einstellungen auf die Fotografien (TC 01:04:50). Das verborgene Detail wird entlarvt. In der Hecke hinter einem Zaun ist schemenhaft das Gesicht eines Mannes zu erkennen, der eine Pistole auf das Liebespaar richtet. Die Montage ordnet das Blickgeschehen so an, dass die Motive auf den Fotografien eine kohärente Serie ergeben, die eine klare Bedeutungsmöglichkeit nahelegt: Die Frau blickt auf den im Busch verborgenen Attentäter (TC 01:05:10). In der Anordnung kommt es jetzt zu einer Veränderung der Perspektive des Blicks der Frau. War der Blick der Frau zuvor im Seitenprofil als ein Blick, der aus dem Bild herausführt, zu sehen, so blickt die Frau nunmehr frontal in die Kamera. Blow-Up spielt also mit der perspektivischen Übernahme von Blick, Kamera und der Synthese beider vor dem geistigen Auge des Fotografen, das zum geistigen Auge eines metonymisch implizierten Zuschauers wird.225 Hat Thomas durch die Linse seines Fotoapparates einen Mord gesehen, den er – filmisch – in der Serie der Fotografien vor seinem geistigen Auge zusammensetzt und zu einem spekulativen Narrativ formt? Dieser Verdacht lässt dem Fotografen keine Ruhe (TC 01:15:30). Im weiteren Verlauf der Sequenz stellt er dadurch, dass er die Fotografie noch einmal abfotografiert, eine weitere Vergrößerung her. Dieses Mal handelt es sich um die mutmaßliche Aufnahme der Leiche des Liebhabers im Park (Ronan O’Casey) (TC 01:16:17). Das Objekt, die

225 Vgl. auch Scheid 2005, S. 41ff.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

Leiche, unterliegt der Unschärfe und Verzerrung, die in Vergrößerungen zum Tragen kommt. Eine Diagrammatisierung erster Stufe stellt in Blow-Up aus der Abstraktion eines Details im Bild eine Serie von Bildern her, die als experimentelles »Frage-/Antwortspiel zwischen dem Fotografen und seinen Bildern«226 konzipiert ist. Die Explikation von Bildrelationen ist als Rekonstruktion eines Bildschemas die Etablierung eines Wahrnehmungsschemas der Bilder. Die diagrammatische Explikation konstituiert in einer Transkription das Wahrnehmungsschema eines (spekulativen) Deutungsschemas.227 Das ›Sehen-als‹, dessen sich Thomas bedient haben muss, sieht in den Bilddetails Gestalten, die Thomas zu Figuren eines Schemas verbindet. Inszeniert wird dieser Prozess als besagte Koordination von Figurenblick, Kamerablick und ihrer Parallelisierung vor dem geistigen Auge. Blow-Up löst die in der Diagrammatisierung (als Transkription) erzeugten Unschärfe nicht mehr auf. Der Abgleich der Bildinformation mit dem Territorium führt zur Entdeckung der Leiche. Bei einer späteren Rückkehr von Thomas zum Tatort ist die Leiche wieder verschwunden. Die Sache bleibt uneindeutig.228 Der Film liefert damit ein paradigmatisches Beispiel für eine Szene der Explikation in der räumlichen Fläche des Bildes. Inszeniert ist diese Szene als Verbindung aus diagrammatischer Erschließung eines Gef lechts aus Blicken und Beobachtungsmöglichkeiten im Prozess der Konstitution eines perzeptiven Schemas, das den Mörder in der Hecke und die Leiche als Objekte identifizierbar macht. Dieses Schema avanciert zu dem ›Diagramm‹, das in ein narratives Schema umgewandelt und durchgespielt wird.229 Aus dem, was unter der Regularität einer Narrativierung des perzeptiven Schemas wahrgenommen wurde, kann also nur eine Konsequenz deduziert werden: Es muss einen Mord geben. Eine Diagrammatisierung erster Stufe verhilft in Blow-Up also einem Schema der Wahrnehmung zu seiner Geschichte. Sehr deutlich geschieht dies im Übergang zwischen der Identifikation eines verborgenen Objektes auf der Linie der Blickachse der Frau zu jener filmischen Bildserie, welche das Narrativ schildert. Aus dem Vergleich dreier Fotografien, von denen in einer die Blickachse als imaginäre Linie und das verdächtige Objekt abstrahiert werden, entwirft der Film einen Übergang zwischen Wahrnehmungs- und Deutungsschema, indem er die Hypothese des Fotografen in eine spekulative, aber kohärente Story verwandelt. Der Bildung der anfänglichen Hypothese geht ein Prozess des vergleichenden In-Beziehung-Setzens der Ausschnitte der Fotografien aus einer imaginären Gesamtszenerie voraus. Somit zeigt der Film, wie im Übergang von einem ›Sehen-in‹ in ein ›Sehen-gleichsam-als‹ ( Kap. 5.3) ein Wahrnehmungsschema angewendet und sukzessive in eine Geschichte überführt wird. Der Film spielt diese Szene als eine Bildserie durch, die als eine Serie von wahrgenommenen Fotografien den Bedingungen der Medialität des Films unterliegt. Sie wird durch den Point-of-View-Shot in einem Wahrnehmungsbild gezeigt. Die Diagrammatisierung erster Stufe beginnt hier im vergleichenden Sehen, das aus anfänglicher Spekulation abstrahierend konkretisiert und dann über die Mediendifferenz von Film 226 Scheid 2005, S. 43. 227 Vgl. auch Scheid 2005, S. 44. 228 Vgl. Scheid 2005, S. 46. 229 Das scheint mir die Pointe auch in der Deutung von Matthias Bauer zu sein.

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und Fotografie als Schema des Narrativs expliziert wird. Bauer, der diese Szene in semiotischen Begriffen einer diagrammatischen Deutung unterzieht, sieht in diesem Umstand gar eine Anspielung auf die Grundfragen der Diagrammatik selbst: »Die Operationen der Filmkamera und der Montage fügen den Bildern aus dem Park, die kein Kontinuum ergeben, hinzu, was die Fotokamera der bewegten Szene genommen hat. Antonionis Film macht so etwas deutlich, was in der Diskussion der Diagrammatik oft zu unsinnigen Debatten darüber führt, ob das Diagramm ein Perzept oder ein Konzept, ein Schaubild oder ein Denkbild, ein Layout im Raum der Außenwelt oder im ›Innenraum‹ des Bewusstseins ist. Die kinematografischen Operationen externalisieren die mentalen Operationen, die Thomas und der Zuschauer vollziehen; sie machen dergestalt die kognitive lmplikatur von Diagrammen explizit: dass es jeweils darauf ankommt, das immediate Objekt, das dem Betrachter unbeweglich vor Augen steht, mit Hilfe seiner Vorstellung (also mittels der dynamisch-energetischen lnterpretanten) in ein bewegliches, wandelbares Objekt zu überführen. Der Film veranschaulicht diese Verwandlung und fungiert in dieser Hinsicht wie ein Metadiagramm. Er exemplifiziert an einem Modell, was ›im Geiste‹ geschieht, wenn Beziehungen und Zusammenhänge, Verhältnisse und Wechselwirkungen erkannt, durchgespielt und abgewandelt werden. Die Grundoperation der Konfiguration ist dabei auf das Zusammenspiel von Erinnerungsvermögen und Einbildungskraft angewiesen.«230 In der Beschreibung der Szene trifft das Zitat den Nagel auf den Kopf. Das Medium Film schiebt sich durch die Kameraperspektive und die Montage zwischen den Protagonisten und die Zuschauerin. Externalisiert wird eine kognitive Leistung, die im Übergang von Perzepten zu Konzepten, Schaubildern und Denkbildern, eine interpretative Leistung vollzieht. Beachtenswert ist allerdings auch, dass diese Leistung in Bauers Formulierungen durch und durch mittels der oben genannten Metaphern des Denkens erläutert wird: ›Denken ist Wahrnehmung‹, ›Denken ist Objektmanipulation‹ und ›Denken ist Bewegung‹ – und ›Denken ist Kraft‹, wofür Bauer auf Peirces »dynamisch-energetischen Interpretanten« setzt, also die aus Gefühlen und Emotionen heraus abgeleiteten Anschlusshandlungen, die aus der Beziehung zwischen Repräsentamen und Objekt heraus entstehen ( Kap. 3.1.3). Gerade diese metaphorische Beschreibung von diagrammatischem Denken gibt Anlass zu einer gewissen Skepsis, inwiefern es hier wirklich um diagrammatisches Denken geht und nicht um Denken an sich.231 Diese Skepsis lässt sich an Bauers Kritik an der Diagrammatik-Forschung festmachen. Den Übergang zwischen Perzept und Konzept, zwischen Sicht und Einsicht, zu thematisieren ist nämlich genau nicht ›unsinnig‹, sondern das Problem, will man den Begriff des Diagramms als Teil einer spezifischen Epistemologie fassbar machen. Die Alternative wäre, dass das Diagramm als eine pauschale Chiffre für eine generelle interpretative Kreativität des Denkens angesehen wird, die in eine radikal funktionalistische Perspektive mündet, in der ›Diagramme‹ inf lationär sind. Dieser kritische Hinweis sagt nichts in Bezug auf die beeindruckende Deutung des Films und der in Rede stehenden Szene bei Bauer aus. Sie lässt aber die Frage zu, inwiefern das »Metadiagramm« des Films eine räumliche 230 Bauer 2015, S. 426. 231 Vgl. zu diesem Ansatz auch Bauer/Ernst 2010.

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und praktische Implikation hat, die sich als spezifisch ›diagrammatisch‹ verstehen lässt. An Blow-Up ist, das zeigt auch Bauer sehr schön, nicht nur diese Szene für sich interessant, sondern vor allem auch ihre Position im strukturellen Ganzen des Films. Der Film thematisiert insbesondere auch die Vor- und die Nachgeschichte. Die Bildung der initialen Hypothese, die in der Diagrammatisierung in der Szene der Explikation hergestellt und rekursiv in narrative Kohärenz überführt wird, beinhaltet einen Rückbezug auf die Ontologie eines Objektes (der Leiche des erschossenen Mannes) in einem ›Territorium‹ und überdies auch eine implizite Vorgeschichte, von der her die Diagrammatisierung in der Szene der Explikation ihre Motivation bezieht. Bevor es zu Thomas explikativer Praxis kommt, wird gezeigt, wie Thomas auf das Paar stößt. Auf der Suche nach Motiven streift er eine Weile durch die leeren Grünf lächen des Parks (TC 00:23:28). Das Spiel der Kamera- und Blickperspektiven in der späteren Szene wird also bereits als ein Verhältnis von Wahrnehmung und Narration etabliert.232 Als die Frau den Fotografen bemerkt, läuft sie ihm hinterher. An einer Treppe stellt sie ihn zur Rede. Nachdem sie zurückkehrt, ist der Mann verschwunden. Offen bleibt in dieser Szene, wohin er gegangen ist. Das Einzige, was man sieht, ist, dass die Frau an der Stelle, wo später die Leiche zu finden ist, stehen bleibt (TC 00:30:37). Was ist in der Zwischenzeit, in der die Frau mit dem Fotografen an der Treppe streitet, mit dem Mann geschehen? Eine mögliche spätere Antwort wird lauten, dass er erschossen wurde. Um den philosophischen Gehalt dieses Verhältnis zwischen der Vorgeschichte, also dem Geschehen während der Aufnahmen im Park, der Szene der Explikation, also der Rekonfiguration im Atelier, und der Nachgeschichte greifen zu können, ist es hilfreich, nochmals auf Gilles Deleuze zurückzugreifen. Mit Deleuze kann argumentiert werden, dass die Räumlichkeit des Parks in Blow-Up als eine verknappte Einschreibef läche zu verstehen ist, die eine Latenz von möglichen Ereignissen beinhaltet.233 Man weiß, dass etwas geschehen wird. Aber man weiß noch nicht, was geschehen wird. Nach Deleuze handelt es sich um ein typisches filmisches Affektbild. Die Formen des Affektbildes sind auf Ebene der Einstellungen Halbnah-, Groß- und Detailaufnahmen. Es sind diese Formen, die in der Diagrammatisierung erster Stufe bei der Konstitution von eidetischen Objekten an Relevanz gewinnen. Der Schwebezustand zwischen Passivitiät und Aktivität, der die Latenz der Möglichkeit im Affektbild, Deleuze zufolge, auszeichnet, ist in Blow-Up durch die Leere des szenischen Raumes und der Relationen in diesem Raum repräsentiert. Diese Relationen sind als latente Möglichkeiten der Beziehung zwischen Elementen angelegt, die den Charakter von virtuellen Qualitäten haben. Es ist eine Welt der Möglichkeit, in die sich ein Geschehen einzeichnen kann. Deleuze geht in seinen Überlegungen nun aber auch davon aus, dass zwar die Großaufnahme des Gesichtes die paradigmatische Form des Affektbildes ist, aber – ähnlich wie die Bildfeldorganisation zur Chiffre für die Teil/Ganzes-Relationen des Films wird – auch andere Dimensionen des filmischen Bedeutungsgeschehens umfasst. Allen voran kann die filmische Raumkonstruktion auf Ebene der Szenenaufgliederung 232 Vgl. Bauer 2015, S. 411ff. 233 Vgl. Deleuze 1989, S. 151ff. Vgl. auch Bauer 2015, S. 405. Dort heißt es mit Blick auf die anderen Räume im Film: »Der Raum besitzt keine Textur; er zerfällt in heterogene Elemente, zwischen denen Konjunktoren fehlen.«

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zu einem Affektbild werden.234 Dieser Gedanke ist bemerkenswert, weil Deleuze das Gesicht und den Raum zusammendenkt, was implizit die Logik des Interfaces im Sinne einer ›Interfazialität‹ aufruft, einer Grenzf läche, die in diesem Fall als räumliche Kontaktzone für mögliche Ereignisse dient.235 Dabei ist es kein Widerspruch, dass Deleuze sich einer semiotischen Sprache bedient und dies so interpretiert, dass er den Affektbildern – also der »Szenografie«236 als einem Zusammenspiel aus Kadrierung, Mise en Scène und Einstellungen, die den filmischen Raum der Szene konstruieren – die philosophische Funktion eines Ikons zuspricht.237 Wie dargelegt, unterscheidet Peirce zwischen reinen Ikons als Möglichkeit im Sinne eines auf sich selbst bezogenen Sachverhaltes und der Auslegung des Ikons als Hypoikon in einem Akt inferenzieller Bezugnahme ( Kap. 3.1 u. 3.2). Dieses Verhältnis nimmt der Film narrativ auf, wenn er die Umwandlung des Raums des Möglichen durch die Schnitte der Fotografie in ein Perspektivengef lecht darstellt. Die Hypoikons der Fotografien sind, in der Kategorienlehre von Peirce gesprochen, keine reinen Ikons im Sinne der Peirce’schen ›ersten Erstheit‹, sondern Erstheiten in der Zweitheit. Mit ihrer Aufnahme durch das technische Medium der Fotografie ist die virtuelle Realität der Möglichkeiten in der Indexikalität eines fotografischen Ikons konkretisiert. Das Ikon als reine Möglichkeit, die eine räumliche Einschreibef läche ist, wird gelöscht. Aus diesem Grund ist ein Affektbild wie die Großaufnahme eines Gesichtes, Deleuze zufolge, »das Angesicht (la face) und seine Auslöschung (effacement) zugleich«.238 Folgt man dieser Anverwandlung der Semiotik bei Deleuze, sind es Hypoikons, die in der Szene der Explikation diagrammatisiert werden – also Ikons, die in sozial konventionalisierten Verhältnissen der inferenziellen Bezugnahme stehen.239 Als Ikons in den Fotografien stehen sie in indexikalischen Verweisverhältnissen, die als Spuren auf das Territorium bezogen sind. Hervorgehoben wird auf diese Weise, dass nicht das faktische Produzieren der Bilder das für die Diagrammatik relevante Geschehen ist, sondern die diagrammatisierende Betrachtung der Bilder und insbesondere die damit verbundene Möglichkeit zum Gegenstand einer Explikation zu werden. Der Übergang in ein Deutungsschema besteht darin, dass die Geschichte, die in der ersten Szene geschildert wird, in der zweiten Szene in ein neues Gef lecht von Relationen, das als Serie der fotografischen Bilder angelegt ist, durch Diagrammatisierung transkribiert wird. Die Diagrammatisierung ist eingebunden in einen Prozess der Rekonfiguration des perzeptiven und des narrativen Schemas in der Transkription der Fotografien.240 Hervorgehoben wird damit das konstruktivistische Moment im Begriff der Transkription: Die Diagrammatisierung ist die Konstitution und die Rekonfiguration eines Deutungsschemas auf Grundlage der Fotografien. Der Prozess der Diagrammatisie234 Vgl. Deleuze 1989, S. 153f. 235 Vgl. zur »Interfaciality« als dem Kernmotiv einer Interfacetheorie des Films Jeong 2013, hier insb. S. 41ff. Dort wird auch auf die Bedeutung des Fotogramms hingewiesen. Vgl. zur Problematik der Oberflächen hier auch Bauer 2015, S. 453f. 236 Vgl. auch Bauer 2015, hier S. 452. 237 Vgl. Deleuze 1989, S. 136. 238 Deleuze 1989, S. 140. 239 Vgl. Bauer 2015, hier S.  394, der die Querbezüge des Films zu sozialkonstruktivistischen Theorien ebenfalls hervorhebt. 240 Vgl. Bauer 2015, S. 396.

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rung als einer explikativen Transkription wird in Blow-Up aber überdies als Interpretation der Differenz zwischen impliziter Vertrautheit mit dem Territorium (Thomas war vor Ort) und expliziter Ref lexion über das Territorium auf Grundlage der Karte (den Fotografien) verhandelt.241 Wenn sich in diese Differenz die Ambivalenz des fotografischen Bildes, also einer spezifischen Medialität, einschreibt, dann verbindet sich diese Ambivalenz mit einer Irritation der impliziten Gewissheit gegenüber den eigenen Erkenntnispraktiken. Aus Gewissheit wird Ungewissheit, die wiederum auf die Latenz eines ›sichtbaren Unsichtbaren‹ verweist, das als Verborgenes in Strukturen enthalten ist. Auch in dem durch Diagrammatisierung etablierten narrativen Schema erhält sich diese Ungewissheit in der Struktur. Dies kann wiederum als Referenz auf die Unabgeschlossenheit der filmischen Struktur interpretiert werden. Das narrative Schema wird seine konstitutive Offenheit nicht mehr los, sondern ›dekonstruiert‹ die Indiziensuche und die Mordgeschichte.242 Filmhistorisch mag das als ein Aspekt filmischer Modernität interpretierbar sein. Und trivialerweise ist es – folgt man diesem Argument – eine Antizipation der Referenzskepsis der Postmoderne. Interessanter ist allerdings, dass sich in diesen Szenen ein Gespür für jenen ›feinen Faden‹ erhält, der narrative Schemata – also zu Narrationen verdichtete Wahrnehmungsschemata – mit einem ›Außen‹ verbindet. Die Szene des ›Shootings‹ im Park ist auch die Transkription einer vom Film evozierten ›reinen‹ Ikonizität des filmischen Raumes, die sich in der verknappten Szenerie des Bildfeldes manifestiert. Diese Transkription reiner Ikonizität in die Hypoikonizität der Fotografie ist eine medienref lexive Wendung, die im filmischen Narrativ ausagiert wird. Sie führt, liest man sie im Einklang mit den systemtheoretischen Obertönen des Medienref lexionsbegriffs,243 in den »autologischen Schluss« (Niklas Luhmann), dass auch die filmische Konstitution von Bedeutung diesen Bedingungen unterliegt. In der Szene der Explikation wird diese Autologie durch die Neuanordnung des Geschehens in der fotografischen Bildserie ausgedrückt. Somit drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass filmisches Bedeutungsgeschehen als in die Struktur eingeschriebene Unabgeschlossenheit, also als Strukturierungsprozess, verstanden wird. Trotz einer gewissen Sterilität erfasst der Begriff der ›Medienref lexion‹, dass Blow-Up in der Szene der Explikation der Fotografie als statischem Bild im unmittelbaren Sinne ein Potenzial zuspricht, dasjenige Medium zu sein, das aufgrund der Indexikalität seiner Zeichen den Rückbezug von Ikons, die in einem Strukturzusammenhang einer Gesamtheit stehen, auf reine Ikonizität denkbar macht. Der Spurcharakter der Fotografie referiert nicht nur auf die Gesamtheit, also die Struktur des Films, sondern auch auf das Außen dieser Struktur, die Welt der reinen Möglichkeit, der reinen Ikonizität – und auf die Unmöglichkeit, diese Ikonizität als Objekt in der Struktur zu repräsentieren. Damit aber verändert sich das Problem. Blow-Up ist nicht nur eine Thematisierung der Präformierung der Realität durch Medien, sondern vor allem auch eine Thematisierung des Problems des Anschlusses, und damit des praktischen Verhältnisses einer Struktur zu ihrer Offenheit und ihrem Außen. 241 Vgl. zur Karte/Territorium-Differenz unter Bezug auf die »Projektion« Bauer 2015, S. 458ff., hier insb. auch S. 464 zur Notwendigkeit einer »sensomotorischen Rückkopplung« mit dem Territorium. 242 Vgl. Bauer 2015, S. 392, S. 422f., S. 428ff. 243 Vgl. Kirchmann/Ruchatz 2014, S. 18ff.

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Das lässt sich theoriegeschichtlich gut begründen. Die Durchsetzung eines dynamischen Strukturbegriffs, wie ihn Deleuze auf den Film angewendet hat, ereignet sich parallel zu Tendenzen in der Sozialtheorie, statische Strukturbegriffe aufzugeben (so bei Niklas Luhmann) sowie Praxis und Struktur zusammenzudenken (so bei Anthony Giddens).244 Mit dem Film kommt eine neue Ontologie des Visuellen in die Welt, die visuelle Formenbildung nicht als Gegensatz zwischen Struktur und Prozess und Dynamik exponiert, sondern visuelle Strukturen als Prozesse der Strukturierung sichtbar macht. Diese Strukturierungen bringen in ihrer Formenbildung die Bedingungen rekursiv hervor, denen sie selbst unterliegen.245 Dem vergleichbar konstatiert Luhmann, dass Strukturen nur als Prozess der Strukturierung denkbar sind: Wenn Systeme Strukturen durch ihre Operationen erzeugen, dann setzen sie zugleich voraus, dass diese Operationen durch Strukturen als anschließende Operationen festgelegt sind.246 Die unsichtbaren Regeln, die das Sichtbare strukturieren, werden bei Deleuze als ›filmische‹ begriffen – bis hin zur Ausdifferenzierung eines »autonom gewordenen Kamerabewusstseins«.247 Die Systemtheorie bei Niklas Luhmann teilt mit dem Deleuze’schen Ansatz dabei die sinntheoretische Fundierung des Strukturbegriffs.248 Wenn der Sinn die differenzielle Einheit von Aktualität und Potenzialität ist, dann operieren Strukturen mittels differenzieller Selektionen aus einem Horizont von Möglichkeiten, wobei der Akt der Selektion als Prozess der Formenbildung immer neue Möglichkeiten provoziert.249 Die erste Szene im Park in Blow-Up ist als Ref lexion dieses Prozesses aussagekräftig. Sie zeigt, dass jede mediale Aktualisierung von Selektionen, jede Aufnahme, die der Protagonist Thomas macht, jeder Schnitt, den er in den Möglichkeitsraum einzieht, neue Möglichkeiten provoziert, die in explizierenden Folgepraktiken ausgelegt und fortgeschrieben werden. Diese Analogie lässt sich auf den Film abbilden.250 Ebenso wie diese Szene ihrerseits Teil einer größeren Gesamtheit ist, die ein Ganzes voraussetzt, ist sie als ›Struktur‹ ein eingeschränkter Möglichkeitsbereich innerhalb eines eingeschränkten Möglichkeitsbereichs. Nach Luhmann ist die Funktion von Strukturen die der Vorselektion von möglichen Verknüpfungen, die als diese Vorselektion schon Auswahl aus einer weiteren vorangegangenen Selektion ist.251 Der Strukturbegriff ist als »›Vor-Auswahl an Wahlmöglichkeiten‹«252 bestimmt. Eine Struktur ist also zwangsläufig in einen größeren Kontext eingebunden, weil sie eine »faktische Sequenz der Ereignisse als Komplexitätsreduktionsprofil« nutzt, also »›vorherige Selektionen bzw. zu erwartende Selektionen als Selektionsprämisse in die Einzelselektion einbau[t]‹«.253 Luhmann zieht in späteren Varianten seines Strukturbegriffs daraus 244 Andreas Göbel (2011) hat diese Strukturbegriffe sehr anschaulich aufgearbeitet. 245 Vgl. Göbel 2011, S. 198. 246 Vgl. Göbel 2011, S. 211. 247 Vgl. Deleuze 1989, S. 107. 248 Was nicht heißt, dass die Sinnbegriffe im Detail identisch wären. Die prinzipielle Logik ist aber vergleichbar. 249 Vgl. Göbel 2011, S. 208. 250 Vgl. auch Bauer 2015, S. 402. 251 Vgl. Göbel 2011, S. 209. 252 Zit.n. Göbel 2011, S. 210. 253 Göbel 2011, S. 210.

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die nachvollziehbare Konsequenz, dass Strukturen sich nicht auf Elemente, sondern auf Relationen zwischen Elementen beziehen, also die Aktualisierung von Relationen wahrscheinlicher machen.254 Strukturen ›verwahrscheinlichen‹ Möglichkeiten von Anschlussoperationen. Sie sind Erwartungen, die vergangene erfolgte und vergangene erwartete Selektionen in ihr Kalkül einrechnen und auf zukünftige Selektionen projizieren. Dieser Seitenblick in die Sozialtheorie illustriert, dass es in Szenen der Explikation gerechtfertigt ist, vom Diagramm als ›Strukturbild‹ in einem filmspezifischen Sinn zu sprechen, weil die Prozessualität der Struktur als medialer Form miteingerechnet ist. Bei Bauer erscheint das, auf das Denken hin bezogen, als »Metadiagramm«. Allerdings steckt in dem Begriff auch auf ein systematisches Problem, das sich aus der Verhandlung der Offenheit der Struktur ergibt. Strukturlogisch gedacht zeigen diese Szenen in filmischen Narrativen, wie durch Diagrammatisierung eine Rekonfigurationen von Möglichkeiten als ›Verwahrscheinlichung‹ von Anschlusshandlungen bzw. Folgeselektionen vorgenommen wird. Denkbilder begegnen in diesem Sinne als ›Durchspielen‹ von Wahrnehmungsschemata, die mit neuen Deutungsschemata verbunden und in der Narration fortgeführt werden. Die Schnittstelle zwischen Film und Diagrammatik kann daher nicht so ausgestaltet werden, dass nur nach dem Motiv des Diagramms in Filmen gesucht wird. Die filmische Formenbildung muss in die Betrachtung eingeschlossen werden. Ebenso wäre es aber problematisch, jegliche Art des Denkens, das gezeigt wird – von filmischen Formenbildungen ganz zu schweigen – als ›diagrammatisch‹ zu bezeichnen. Notwendig ist vielmehr ein Begriff von Diagrammatisierung erster Stufe, welcher die Prozesse der Diagrammatisierung erster Stufe als explizierende Transkriptionen in Szenen der Explikation beschreibt. Eben hier hakt es. Keine Frage: Es gibt in Blow-Up eine Szene der Explikation. Gezeigt wird eindeutig ein verräumlichendes Explizitmachen. Aber es ist keine gelingende Explikation.255 Betrachtet man die praktischen Anstrengungen, die Thomas während seiner Analyse betreibt, um den Fotografien Bedeutung abzuringen, drängt sich der Verdacht auf, dass es darum geht, das Scheitern zu zeigen, ein funktionierendes Interface zu den Fotografien zu etablieren.256 Das Bemühen von Thomas um die Bearbeitung – auf Ebene der Mise-en-Scène fassbar in seinem Versuch, die Fotografien noch einmal zu fotografieren (TC 01:15:00) – führt, ganz im Gegensatz zu der Bildanalyse im Eingangs des Abschnitts erwähnten Blade Runner, zu keiner gelingenden Bearbeitbarkeit. Kein Interface ist stabil genug, um in Alexander Galloways Sinn ein Intraface zu erzeugen, das »workable« wäre und im diagrammatisierten Bildraum raumlogische Inferenzen über ein eidetisches Objekt zu ermöglichen. Schematisierung führt nur zu scheiternder Abstraktion. Darin weist die Szene eine Nähe zur Rhetorik von spekulativen Bildanalyse-Verfahren auf. Folglich wird Diagrammatik in 254 Vgl. Göbel 2011, S. 210. 255 Vgl. Bauer 2015, S. 452. Bauer hebt mit Blick auf die Forschung hervor, dass die Interpretation der Fotografie zu einer Leiche führt und insofern gelingt. Was misslingt, ist demnach der »Einblick in die Sinnzusammenhänge«. Darum geht es in Explikation. 256 Vgl. Bauer 2015, S. 412. Dort wird auf die Unterbrechung einer »›face-to-face‹«-Situation durch die Fotografie hingewiesen wird – eine Unterbrechung, die alle ex post unternommenen Versuche, ein Interface zu etablieren, nicht mehr einholen.

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Blow-Up aber auch immer nur als eine übergeordnete »konjekturale« Metadiagrammatik ausgestellt, die keinen sicheren inferenziellen Boden unter die Füße bekommt.257 Szenen der Explikation setzen eine Sichtbarkeit des Mediums voraus, die auf einem Medienwechsel beruht, der die Unsichtbarkeit eines mediatisierten Objektes aus ihrem unthematischen Status hebt. Blow-Up ist in dieser Hinsicht ein Klassiker für die Thematisierung medialer Ungewissheit, keine »Destruktion der Realität« und auch keine »Negation der Wahrnehmung«, wohl aber eine »Dekonstruktion des Augenscheins (Evidenz) und der Objektivität, die der Einsatz technischer Apparate und Prozeduren angeblich verbürgt«.258 In seiner Mikrostruktur bildet der Film die makrostrukturelle Entwicklung ab, der Irritation von Gesellschaft durch technische Medien mittels Praktiken »verfahrensgenerierter Evidenzauszeichnung«259 zu begegnen. Diese Praktiken benötigen Schauplätze,260 auf denen Evidenz inszeniert und ausgehandelt wird. Einen solchen Schauplatz macht ein Film zum Thema, den auch Matthias Bauer als durch Blow-Up inspiriert ansieht, nämlich Oliver Stones JFK (1991) – ein Film, der elementar auf Blow-Up anspielt, aber gleichwohl im Kontext neuer medialer Bedingungen zu lesen ist.261

7.2.6 JFK — Implizite und explizite Bildebenen Szenen der Explikation zeigen im Film Praktiken des Umgangs mit anderen Medien, in oder an denen Diagrammatisierungen vorgenommen werden. Weit mehr als die Literatur sind Film und Fernsehen Orte der Ref lexion medialen Wandels. Der narrative Spielfilm ist in dieser Hinsicht diskutiert worden.262 Aufschlussreich ist in filmischen Formen die Schnittstelle von Fotografie, Film und digitalen Medien, also die Transformation vom statischem zum bewegten Bild und vom bewegten zum komputierten Bild. Zwischen Technik und Semiotik hat der Einf luss des Computers als Medium jenes semiotische Probehandeln, von dem Hartmut Winkler spricht ( Kap. 2.2.5), unter neue Bedingungen gestellt. Lev Manovichs Konzept, um diese Bedingungen zu denken, ist weithin rezipiert, bekannt und hinlänglich umstritten.263 ›Neue Medien‹ sind Manovich zufolge ein Ergebnis der Entwicklung von Rechenmaschinen (der Analytical Engine von Charles Babbage) hin zu technischen Medien der Speicherung von Bildern, Tönen und Schrift.264 Für Manovich ist das Medium und speziell das Interface in der Interaktion zwischen Mensch und Maschine ein Kreuzungspunkt für die Koordination von Praktiken des Umgangs mit Zeichen, wie sie durch Software ermöglicht werden.265 Das erste neue Medium, das als »cultural interface« in die computerbasierten Technologien eingeht,

257 Vgl. Bauer 2015, S. 438ff., der hier von »Konjektur-Szenen« spricht. 258 Bauer 2015, S. 469. 259 Jäger 2006, S. 43. 260 Jäger 2006. 261 Vgl. Bauer 2015, S. 430. 262 Vgl. Kirchmann/Ruchatz 2014. Für die Fernsehserie ist ähnliches im Gange. Vgl. Beil et al. 2012. 263 Vgl. Manovich 2001; Manovich 2013. Vgl. Kogge 2004; Bauer/Ernst 2010, S. 163ff. 264 Vgl. Kogge 2004, S. 299; Manovich 2001, S. 20ff. 265 Vgl. auch Kogge 2004, S. 300.

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ist dabei der Film.266 Die 1990er-Jahre betrachtet Manovich als Achsenzeit der Entstehung eines neuen Paradigmas komputierter Bildlichkeit des bewegten Bildes, die er als »Velvet Revolution« bezeichnet.267 Zurück geht diese Medienrevolution auf Innovationen im Bereich der Bildbearbeitungssoftware seit ca. 1993.268 Digitale Produktionsumgebungen ermöglichen in dieser Zeit die Kombination verschiedener »media languages«. Manovich nennt diesen Prozess »deep remixability«.269 Demnach entsteht in den 1990er-Jahren eine »new visual language«270, die durch die Verbindung von (Kultur-)Techniken der Manipulation von Medienobjekten, insbesondere des »moving image design«271 im Computer gekennzeichnet ist.272 Ihre Eigenschaften sind: »new hybrid visual aesthetics; systematic integration of previously non-compatible media-techniques; use of 3D space as platform for media design; constant change on every visual dimension; and amplification of cinematographic techniques«.273 Um den Prozess zu beschreiben, setzt Manovich auf einen erweiterten Begriff von »motion graphics«. Für die Filmästhetik ist dieser Begriff seiner Ansicht nach geeigneter als »moving image«.274 Das Habitat der dazugehörigen Ästhetik sind Werbeclips, Musikvideos, Schulungsvideos, aber auch Trailer und Vorspanne.275 Es geht also um animierte Szenen und Sequenzen, die aufgrund des Computer auf »almost all of the previously separate semiotic resources«276 der Kommunikation zurückgreifen können, kurz: eine »new semiotic metalanguage«277, die umfassend auch die praktische Nutzung der jeweiligen Medien remediatisiert, also eine konventionalisierte Art und Weise, Medien zu verwenden: »Today designers remix not only content from different media but also their fundamental techniques, working methods, and ways of representation and expression. United within the common software environment the languages of cinematography, animation, computer animation, special effects, graphic design, typography, drawing and painting have come to form a metalanguage.«278 Die neue semiotische Metasprache fungiert aufgrund ihrer zeitlichen und räumlichen Informationsdichte wie eine »›map‹ which is bigger than the territory being mapped.«279 Manovich stützt dies auf die Beobachtung, dass Medienintegration im

266 Vgl. Manovich 2001, S. 50ff. 267 Vgl. z.B. Manovich 2013, S. 254f. 268 Vgl. z.B. Manovich 2013, S. 243ff. 269 Vgl. Manovich 2013, S. 267ff. 270 Manovich 2013, S. 244. 271 Manovich 2013, S. 243. 272 Vgl. Manovich 2013, S. 101ff. 273 Manovich 2013, S. 244. 274 Vgl. Manovich 2013, S. 248f., S. 254ff. 275 Vgl. Manovich 2013, S. 248. 276 Manovich 2013, S. 249. 277 Manovich 2013, S. 250, siehe auch S. 275ff. 278 Manovich 2013, S. 268. 279 Manovich 2013, S. 260.

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Computer nicht nur Form und Inhalt anderer Medien betrifft, sondern auch die Praktiken ihrer Nutzung.280 Dies schlägt sich in dem »implicit understanding« nieder, dass 3D-Objektmanipulation als genuine mediale Form des Computers zu begreifen ist: 281 »So while all moving image media has been reduced to the status of hand-drawn animation in terms of their manipulability, we can also state that all media have become layers in 3D space.«282 Das Filmbild sei nicht mehr »time-based«, sondern »composition-based« oder »object-oriented«.283 Film wird zu einer »modular media composition«.284 Ein Effekt dieses Prozesses ist die Aufwertung der Bedeutung des Bilddesigns: »This is yet another fundamental change in the concept of ›moving images‹: […] they are not ›captured,‹ ›directed,‹ or ›animated.‹ Instead, they are designed.«285 Im Film differenziert sich die Motion Graphics-Ästhetik erst aus. Manovich deutet die Szene der Explikation in Blow-Up daher so, dass er in ihr eine Reminiszenz an eine vergangene Medienepoche sieht. Die Vergrößerung, die Thomas herstellt, ist noch ein analoges Verfahren der schrittweisen Herstellung immer größerer Ausschnitte. Parallel entstehen in den 1960er-Jahren aber die ersten digitalen Bildbearbeitungsprogramme und Algorithmen zur Vergrößerung von Bildausschnitten.286 Filmhistorisch stellt sich damit die Frage, wie es im Übergang in die 1990er-Jahre aussieht. Ein gutes Beispiel ist Oliver Stones JFK aus dem Jahr 1991. Der Film ist eine Weiterführung der theoretischen Aspekte und auch der Ästhetik, die in der Szene der Explikation in Blow-Up enthalten ist. Von der Möglichkeit eines Mordes muss der Film – angesichts seines Themas – dabei nicht mehr berichten. Wohl aber von einem möglichen Ablauf des Mordgeschehens. War es Lee Harvey Oswald (Gary Oldman)? Oder gab es weitere Schützen, die – unter anderem hinter einem Zaum, unter Bäumen verdeckt –, auf John F. Kennedy gefeuert haben? JFK beantwortet diese Frage mit einer Widerlegung der Einzeltäterthese. Dazu bietet der Film große Rhetorik. Strukturell zusammengeführt und im Vorspann zu einem dichten Bildgewebe kondensiert werden fiktionale Spielfilmsequenzen, historisches Material aus dem Fernsehen und Spielszenen. Der Vorspann ist in mehrere Teile untergliedert: Den Opening Titels (TC 00:00:03) folgt die historische Rahmung durch einen Erzähler (TC 00:00:48). Gezeigt wird Dwight D. Eisenhowers Warnung vor dem Einf luss des militärisch-industriellen Komplexes. Diese Warnung verknüpft sich mit der Erzählung von Kennedys Aufstieg zum Präsidenten und seinen kontroversen Entscheidungen rund um die Invasion in der Schweinebucht. Kennedy, so legt die Story nah, war seit diesen Entscheidungen auf Konfrontationskurs mit der mächtigen Militärlobby. Mit dem Ende der historischen Rahmung geht der Vorspann mit der Spielfilmszene einer aus einem Auto geworfenen, misshandelten Frau in die fiktionale Schilderung des Attentats über (TC 00:04:08). Es folgt ein Kondensat aus dicht-analogen Bilderschichten unterschiedlicher Provenienz. 280 Vgl. hier auch die Bemerkungen zu Bezugnahmepraktiken bei Jäger 2012, S. 23. 281 Vgl. Manovich 2013, S. 290. 282 Manovich 2013, S. 294. 283 Manovich 2013, S. 295. 284 Manovich 2013, S. 296. 285 Manovich 2013, S. 296. 286 Vgl. Manovich 2013, S. 338.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

Dieses Kondensat des Vorspanns liefert das Präskript für die Wahrnehmungs- und Narrationsschemata, die in der folgenden Narration des Films entwirrt und rekonfiguriert werden. Spielt Blow-Up in seiner Szene der Explikation die Rekonfiguration des Wahrnehmungsschemas in einem neuen Narrativ aus, das die Fotografien abfilmt und neu anordnet, so legt JFK einen ähnlichen Prozess, von diesem Teil des Vorspanns ausgehend, nicht nur vom verwendeten Bildmaterial her erheblich komplexer an. Das im Vorspann kondensierte Bildgef lecht ist ein Amalgam aus Wahrnehmungsund Deutungsschemata. Dank Flashbacks und Zwischensequenzen etabliert der Vorspann ein in die Spielfilmnarration hineinmontiertes – intradiegetisch als ›implizit‹ exponiertes – Geschehen, das sich parallel zur investigativen Geschichte um den Bezirksstaatsanwalt Jim Garrison (Kevin Costner) entfaltet, also den im anschließenden Film ausagierten Versuch einer als Investigation gerahmten Explikation. Jeder Schritt dieser Explikation in den Ermittlungen ist durch die Schilderung auf dieser intradiegetisch ›impliziten‹ Ebene kommentiert. Auf eine derartige Funktion des Vorspanns als Kondensat und »›Kompaktkommunikation‹« hat Georg Stanitzek in einem instruktiven Artikel hingewiesen.287 Dabei bestätigt Stanitzek in seinen Ausführungen zum Vorspann im Film auch Teile von Manovichs Thesen. Er stellt fest: »Und es dürfte kaum eine filmische Form geben, die, zumindest der Möglichkeit nach, eine solche Menge unterschiedlicher filmischer Mittel integriert. Auf engstem Raum kombinieren sich Realfilm, Animationsfilm, Schrift und damit Typographie – womöglich selber animiert –, Ton etc.«288 Vorspanne sind, formal betrachtet, häufig sehr avancierte filmische Segmente, deren Bedeutung als Innovationsträger für filmisches Bilddesign lange etwas unterschätzt wurde und erst über die letzten Jahre verstärkt erforscht wird.289 Ein Vorspann wird nach Stanitzek dabei weniger gesehen denn gelesen.290 Exponiert wird in Vorspannen der Charakter des Films als ein sich teilendes, verzeitlichtes und verräumlichtes Ensemble aus Teil und Ganzem.291 Der Vorspann hat darin »Film-im-Film-Charakter«.292 Vorspanne sind mithin selbstref lexive Segmente der filmischen Formensprache. In Luhmann’schen Begriffen ist in einem Vorspann zu beobachten, wie basale Selbstreferenz, also die Differenz Element und Relation, in Richtung prozessuale Selbstreferenz – Luhmann nennt das auch Ref lexivität – überschritten wird. Prozessuale Selbstreferenz ist die Applikation des Differenzschemas Vorher/Nachher auf das Verhältnis von Element und Relation.293 Durch die Form der Unterscheidung werden Elemente und die Relationen zwischen ihnen als Formen eines Prozesses begriffen – also im Medium einer zweiten Form beobachtet.

287 Vgl. Stanitzek 2006, S. 8f., hier S. 10. 288 Stanitzek 2006, S. 9. 289 Vgl. etwa Böhnke 2007, Böhnke/Hüser/Stanitzek 2006. Vgl. zum Vorspann in Fernsehserien auch die sehr viel ausführlicheren Darlegungen und Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand in Ernst/ Möller 2019. Auf die Bedeutung des Vorspanns im Kontext des Films macht auch Wittmann 2017, S. 2ff. aufmerksam. 290 Vgl. Stanitzek 2006, S. 9f. 291 Vgl. Stanitzek 2006, S. 9f. 292 Stanitzek 2006, S. 17. 293 Vgl. Luhmann 1987, S. 599ff.

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Als eine im Film vom Film abgehobene Form lässt der Vorspann durch das Vorher/ Nachher-Schema prozessualer Selbstreferenz die Möglichkeiten der Schemabildung des folgenden Films beobachtbar werden.294 Dementsprechend werden im Vorspann von JFK auch diejenigen Schemata exponiert, welche die Rezeption des Films anleiten. Für bestimmte Filme – Georg Stanitzek weist etwa auf eine einschlägige Analyse des Vorspanns von Stagecoach (1939) hin – lässt sich das Verhältnis von Vorspann und Film durch die Unterscheidung Paradigma/Syntagma fassen, was mit einem filmsemiologischen Verständnis von Metapher vereinbar ist.295 Der Vorspann ist die Metapher, die im Film »paradigmatisch dessen Programm vorwegstellt, welches die folgende Erzählung syntagmatisch ausführen wird.«296 Wie schon für Lev Manovich nennt Stanitzek den Designer Saul Bass als eine der Gründerfiguren des Vorspann-Designs.297 Ebenso wie Manovich interessieren Stanitzek an Bass’ Arbeiten die Querbezüge zwischen der »Methode der Bass’schen Abbreviaturen« und ihrer »Beziehung zur zeitgenössischen Plakatkunst«.298 Ein Musterstück ist der Vorspann von North by Northwest (1959), in dem das grafische Strukturraster mit der Struktur des Hochhauses überblendet wird. Dieses Beispiel macht aber auch klar, dass die von Manovich und Stanitzek affirmierte Ästhetik eine diagrammatische ist.299 Die Leistung der Bass’schen Ästhetik bezieht sich wesentlich auf das Design von Typografie und Schrift und die damit einhergehende Ausdifferenzierung von Schriftbildlichkeit im Film. Diese Ausdifferenzierung deutet auch Stanitzek – unter Verweis auf Manovichs Language of New Media – als einen Medienwandel hin zu einer Ästhetik der Motion Graphics: »Zum einen relativiert sich unter digitaltechnischen Vorzeichen die traditionelle Differenz von Schrift und Bild; zum anderen scheint der digitale Medienumbruch das Animationsbild zum filmischen ›Leitbild‹ zu befördern – und nicht zufällig finden dabei Rückgriffe auf entsprechende Darstellungstechniken der frühen Filmgeschichte statt, Techniken, die der Vorspann kontinuierlich ausgebildet und in Anspruch genommen hat.«300 Eine derartige generische Funktion des Vorspanns kann für einzelne Filme wie auch für die Entwicklung der filmischen Formensprache beobachtet werden. JFK zum Beispiel entwirft vom Vorspann an sein eigenes Verhältnis einer implizit/explizit-Unterscheidung: In dem Maße, in dem der Staatsanwalt und sein Team ermitteln, konkretisiert sich das implizite Bildgeschehen. Das rhetorische Versprechen von JFK lautet, dass die ›Wahrheit‹, die sich im Vorspann ›eingefaltet‹ verbirgt, sich Zug um Zug ›zeigt‹ und als Hypotypose vor Augen gestellt werden kann.301 Die Version, die im Narrativ entworfen wird, sagt: Es gab eine Verschwörung. Oswald war kein Einzeltäter, weil er 294 Vgl. Stanitzek 2006, S. 10f. 295 Vgl. Stanitzek 2006, S. 16. 296 Stanitzek 2006, S. 16. Vgl. zur Filmsemiologie der Metapher Metz 2000, S. 148ff. 297 Vgl. z.B. Manovich 2013, S. 254, S. 279. 298 Stanitzek 2006, S. 16. 299 Vgl. auch ein Zitat von Saul Bass zur Räumlichkeit der Grafik bei Böhnke 2007, S. 8. 300 Stanitzek 2006, S. 18f. 301 Vgl. Jäger 2006, S. 43ff.

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die Schüsse aus dem Buchlager der Schulverwaltung mit seiner Waffe in dieser Geschwindigkeit mit dem verwendeten Gewehr und in dieser Präzision nicht abfeuern konnte.302 Die These lautet, dass die Verschwörer – Anti-Castro-Aktivisten rund um den zwielichtigen Geschäftsmann Clay Shaw (Tommy Lee Jones) – Kennedy getötet haben, indem sie ihn in ein trianguliertes Kreuzfeuer von drei Schützenteams lotsten, also um die Elm-Street in Dallas eine »Killzone« einrichteten. Den Nachweis zu führen, dass mehr Schüsse als die drei Oswald zugeschriebenen abgefeuert wurden, ist damit der Schlüssel, um die Verschwörung zu belegen. Nachdem Garrison mit seinem ersten Versuch, die Sache anzugehen, gescheitert ist, rollt er den Fall neu auf. Fortan entwindet sich der Faden, der als ›chain of evidence‹ in der Explikation des impliziten Geschehens zusammengesetzt wird, und führt zu einem Gerichtsverfahren am Ende des Films, das die prägnanteste Szene der Explikation liefert, die die Verschwörung belegen soll. Angesichts dieses Präskriptes beginnt die Explikation schleichend. Sie verdichtet sich bis zur entscheidenden Szene, die an dem Schauplatz der Evidenz schlechthin stattfindet: In einer forensischen Rede Garrisons vor Gericht werden verschiedene Argumentationsfäden der Theorie einer Verschwörung anhand des Nachweises zusammengeführt, dass es unmöglich ein einziger Schütze gewesen sein kann. Kennzeichnend für die sukzessive Kristallisierung der Verschwörungstheorie aus dem Geiste des Vorspanns ist eine Szene in einem Restaurant in New Orleans, bei der die These einer Beteiligung von Regierungsvertretern und einer Gruppe von Tätern erstmals geäußert wird. Die Assistenz-Staatsanwältin Susie Cox (Laurie Metcalf) referiert ihre Recherchen zur Person Lee Harvey Oswalds (TC 00:54:46). Während des Referats wird in Parallelmontage die ›Person‹ Oswalds durch das – eingangs skizzierte – Kondensat aus Bildern charakterisiert, parallel zu den wachsenden Zweifeln und Ungereimtheiten, die sich in Bezug auf die Person Oswalds ergeben, aber auch gleichzeitig metaphorisiert. Auf der ›impliziten‹ Ebene zeigt JFK nämlich, wie mit Papier und Schere das Life-Magazine-Hinterhoffoto, auf dem Oswald mit einem Gewehr posiert, fabriziert, also als Bildcollage, hergestellt wird. Im impliziten Geschehen wird das vorgeführt, was auf der expliziten Ebene vermutet und spekuliert wird. Die Szene endet mit der finalen Parallele zwischen den Erzählebenen in einer Nahaufnahme des fertig zusammengebastelten Life-Magazine-Fotos und Jim Garrisons Bemerkung, »maybe Oswald is exactly what he said he was: a patsy« (TC 01:01:16). Die hier verwendete Metapher impliziert nicht nur, dass Oswald eine Kunstfigur ist, eine falsche Identität hinter einer Schicht von falschen Identitäten, sondern sie ist auch eine geschickte Form von filmischer Metaphorisierung: Ausgehend von der sprachlichen Relation ›A ist B‹ (Wer ist Oswald?) wird die Identität von Oswald einer Substitution ›A ersetzt durch B‹ unterzogen und dieser Prozess in der Parallelmontage gezeigt. Metonymisch bleibt die Position der wahren Identität eine leere Bildschablone (TC 00:57:22) (Oswald ist ein anderer). Die Person Oswald wird ›entkernt‹, quasi ›deontologisiert‹, indem eine Praxis der Bildherstellung gezeigt wird, welche die Person ›Oswald‹ für das Life-Magazine-Foto fabriziert. Die referenzskeptische Kritik an der Kraft der Bilder mündet in die Unterstellung, dass im Bild eine homospatiale Rela-

302 Vgl. zur Kontextualisierung von JFK in die Logik von Verschwörungstheorien Bauer 2011, S. 244ff.

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tion mit einer Leerstelle entsteht: Oswald ist die Schablone einer Rolle, eine Hülse, hergestellt in einer Verschwörung durch Kräfte des militärisch-industriellen Komplexes. Was in JFK somit in Frage steht, ist die Indexikalität der Bilder. Es geht um eine Neuordnung der Relationalität der Spur, also der Relationen, die ausgehend von Bildern in die implizite Parallelwelt der ›tatsächlichen‹ Handlungen verweisen. Symptomatisch bemerkt Numa Bertel (Wayne Knight), einer der Juristen aus Garrisons Team: »There’s a lot of smoke there, but there is some fire.« (TC 01:00:56) Das ist ein Zitat des klassischen Beispiels der indexikalischen Spur, deren Ursache durch die Schleier der Bilder nicht zu erkennen ist. JFK macht das Versprechen, das Gewirr der Bilder und Geschichten, das implizit in dem Film mitläuft, explizit machen zu können. Die eigentliche rhetorische Suggestion des Filmes ist sein Versprechen, das Latente, das Unbehagen, das Ungewisse zu thematisieren, also wiederum eine explizite ›Karte‹ für ein unüberschaubares, implizites ›Territorium‹ zu finden. Auf die Restaurant-Szene folgt die dramaturgische Vorbereitung für die spätere Szene der Explikation im Gericht. Garrison und sein Team sind am Tatort und interviewen Zeugen, die von der ersten Untersuchung, der ›Warren-Commission‹, befragt wurden. Die Story ist jeweils die gleiche: Wie sich herausstellt, wurden die Aussagen der Zeugen während dieser ersten Runde der Ermittlungen, die Oswald als Einzeltäter identifizierte, nachbearbeitet oder gefälscht. Konkreter wird an dieser Stelle des Films auch die vom Film vertretene These von einer größeren Zahl an Schützen, die aus verschiedenen Winkeln auf den Konvoi des Präsidenten gefeuert haben. JFK plausibilisiert die These eines Schützenteams, das hinter einem knapp mannshohen Zaun versteckt ist. Ausgenutzt wird dazu die Ambivalenz des filmischen Wahrnehmungsbildes, zwischen einem subjektiven und einem objektiven Pol zu changieren. Parallel zu dem Bericht eines Zeugen wird die These auf der impliziten Ebene in einem Amalgam aus dokumentarischer, schwarz-weißer Found-Footage-Ästhetik und mentalen Projektionen, also Erinnerungsbildern, visualisiert, wobei passend zu Blow-Up vage ein Gewehrlauf zu sehen ist (TC 01:01:48). Die wichtigste Szene für die spätere Beweisführung ist dann das Reenactment der Schüsse durch Oswald vom Schulbuchlager aus (TC 01:09:45). Diskutiert wird vor Gericht die Rolle eines Beweisstücks, das in der finalen Szene der Explikation zum Einsatz kommt: der Zapruder-Film.303 Das Reenactment durch Garrison und den Assistenz-Staatsanwalt Lou Ivon (Jay O. Sanders) deckt auf, dass die Schüsse nur abgefeuert worden sein können, wenn man von einem triangulierten Kreuzfeuer, also einer »Killzone« (TC 01:11:42), ausgeht. Konnten die Bildsequenzen aus der ›impliziten Ebene‹ während der Zeugenbefragung noch als mental subjektive Flashbacks den Erinnerungen der Zeugen zugerechnet werden, so ist das Geschehen jetzt vor dem geistigen Auge der Investigators und im Zapruder-Film zu sehen, verschwimmt also die Grenze zwischen epistemischer Evidenz der subjektiv-mentalen Vorstellung und der diskursiven Evidenz des Zapruder-Films. Im Finale von JFK ist der Zapruder-Film dann das Highlight, das – während Garrisons Rede erstmals im Gerichtssaal einer Öffentlichkeit vorgeführt – die Jury umstimmen soll (TC 02:20:45). Matthias Bauer hat bereits auf die Bedeutung diagrammatischer Zeichen in dieser Szene hingewiesen.304 303 Frame für Frame lässt sich der Film hier nachgucken www.assassinationresearch.com/v2n2/zfilm/ zframe001.html, gesehen am 10. Mai 2020. 304 Vgl. Bauer 2011, S. 248ff., hier insb. S. 250.

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Die Gerichtsverhandlung werde von Stone in ein »polyperspektivisch präsentiertes Diagramm«305 verwandelt. Was also geht vor sich? Als Amateurfilm ist der Zapruder-Film der Schlüssel zum Beweis der These von mehreren Schützen. In JFK ist der Film folglich zum selbstreferenziellen Fokus des ›impliziten‹ Geschehens avanciert. So wird im Modus der Amateur-Bildästhetik des Zapruder-Films, die für die ›implizite‹ Ebene typisch ist, gezeigt, wie ein unbekannter Amateur filmt, wie der Zapruder-Film gefilmt wurde (TC 02:22:03). Frappierend (aber nicht überraschend) ist, dass zu diesem Zeitpunkt im Narrativ über die implizite Ebene im Modus vorgeblich epistemischer Evidenz klar gemacht wurde, dass das, was in der Szene der Explikation noch expliziert wird, längst der Wahrheit entspricht. Garrison führt nur noch das aus, was an impliziter Überzeugungsarbeit auf der impliziten Ebene des Films längst vor Augen steht: Shaw ist schuldig, es war eine Verschwörung. Überzeugungsarbeit muss durch die Szene der Explikation nicht mehr geleistet werden. Die Autorität des Gerichtssaales wird nur herbeizitiert, um aufzuzeigen, dass dort, wo Recht gesprochen werden soll, genau dieses Recht nicht existiert. Der eigentliche Gegenstand des Evidenzverfahrens ist der Zapruder-Film, der zugleich den impliziten Geltungsanspruch von JFK übernimmt: »A picture speaks a thousand words, doesn’t it?«, fragt Garrison bezeichnenderweise nachdem der direkte Treffer auf Kennedys Kopf im Frame 313 des Zapruder-Films im Gerichtssaal für Unruhe gesorgt hat (TC 02:21:48). Was in der Szene der Explikation an Diagrammatisierung aufgeboten wird, um die These vom Einzeltäter zu entkräften, ist semantisch eine Transkription, funktioniert pragmatisch aber wie ein Postskript, das eine sowieso schon festgelegte Deutung bestätigt. JFK hat im Prozess der Entfaltung des Vorspanns seine eigenen Beweise als Präskript vorgebracht, die in der Szene der Explikation nur durch Diagrammatisierung transkribierend expliziert werden. Ironischerweise wird JFK – also ein fiktionaler Film – deshalb auf einschlägigen Websites, etwa der skeptischen Seite JFK-online, als eine valide Stellungnahme innerhalb der Diskussion um die wahren Hintergründe des Attentats auf John F. Kennedy diskutiert.306 Besonders kontrovers ist die Szene der Explikation, auf die es auch hier ankommt: Garrisons forensische Rede im Gericht im Finale des Films. Die erste These, der Garrison sich widmet, ist die von der ›Magic Bullet‹, also der Unmöglichkeit, dass die zweite Kugel sieben Wunden verursachen konnte. Genutzt werden diagrammatische Skizzen, vor denen im Gerichtssaal Statisten in der Sitzanordnung der Limousine aufgestellt sind. Die Diagramme zeigen teils in Seitenansicht, teils in Draufsicht die Insassen des Autos sowie eine absurde Trajektorie der Kugel. Garrison demonstriert seine These in einer (Rück-)Übersetzung vom Diagramm in die Welt der Körper, ein Modell der Elm-Street (also der »Killzone«) steht gleich daneben. Fast scheint es, als würde JFK die semiotische Dichte seiner Bilderschichten auf der impliziten Ebene des Geschehens auch in der Explikation übernehmen wollen, so gesättigt ist die Szene durch die Diagramme, Statisten und das Modell (TC 02:23:36). Die Kamera folgt teilweise den Ausführungen, indem sie die Diagramme abfährt. Das abstrakte Geschehen auf den Diagrammen und in den Erläuterungen Garrisons wird an den Körpern der Statisten referenzialisiert (TC 02:23:48, TC 02:24:16). Nachdem 305 Bauer 2011, S. 250. 306 www.jfk-online.com/jfkmovie.html, gesehen am 10. Mai 2020.

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er seine Schlussfolgerung gezogen hat, ist Garrisons Appell an die Jury ein pragmatischer und von jedem guten Rhetor und Populisten gebrauchter Kernsatz: »Use your eyes, your common sense« (TC 02:24:29) ( Abb. 91).307

Abb. 91: Diagramm, Modell und performatives Reenactment (TC 02:23:53). Eigener Screenshot aus JFK, Oliver Stone, DVD-Video, Warner Brothers 1991.

Die Magic Bullet-Rekonstruktion, die in einer kurzen Zwischensequenz noch einmal zusammengefasst wird (TC 02:25:07), führt im Durchspielen der Diagramme (und dem nochmaligen Durchspielen der gesamten Beweiskette in der Zwischensequenz) in eine klare Deduktion: Es muss einen vierten Schuss und einen zweiten Schützen gegeben haben – den der Film auf der impliziten Ebene des parallelen Bedeutungsgeschehens prompt zeigt (TC 02:25:12). Die idealisierende Diagrammatisierung der Magic Bullet-Theorie wird in den größeren Kontext des Modells projiziert, wobei Garrison die These von den Schützen hinter der Hecke vorbringt. Referenzialisiert werden jetzt die verschiedenen Zeugenaussagen und ihre Perspektiven. Der ›implizite‹ Teil des filmischen Bedeutungsgeschehens wird zu einem Teil des Gerichtsverfahrens, insbesondere durch die Einbindungen von Szenen aus dem Zapruder-Film. Garrison setzt dazu an, die Theorie von der Verschwörung mittels einer längeren Spielsequenz der Autopsie der Leiche als einen Staatsstreich zu deuten. Im Gerichtssaal wird eingeholt, was in seinem Vorspann als Hypothese vermutet wurde: Kennedys Mord war ein Coup de’état durch den militärisch-industriellen Komplex (TC 02:28:10). Das durchgespielte Diagramm, das als Denkbild ›vor Augen‹ steht, liefert in JFK somit ein neues Wahrnehmungsschema zu einem diskursiven Deutungsschema, das von diesem Punkt des Films an quasi wie von selbst als Skript abläuft. Die Teile ordnen sich neu an, das Puzzle setzt sich zusammen. Jenes Ganze, von dem man ›implizit‹ in JFK immer schon wusste, fügt sich zu einer ›expliziten‹ Gesamtheit des Argumentes des Films, wenn Garrison den genauen Verlauf des Auf baus des triangulierten Kreuzfeuers rekonstruiert (TC 02:32:13). Geboten wird das diagrammatisch aufgeklärte Transkript des Vorspanns, also die rekonfigurierte Version des ›wirklichen‹ Geschehens. Unterlegt werden Garrisons Deduktionen mit der Militärmusik wie aus dem dritten Teil des Vorspanns, narrativiert aber ist die Sequenz im Voice-Over von der 307 Vgl. die Diskussion dieser Szene bei Bauer 2011, S. 248f.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

Stimme Garrisons, der im Gerichtssaal Schritt für Schritt die ›Chain-of-Evidence‹ rekonstruiert und die Autorität des Erzählers annimmt, der im Vorspann die historischen Hintergründe referiert hatte. Aufgerufen wird eine metaphorische Analogie, die auch Blow-Up – wenn auch dezenter – zwischen der Kamera (A) und den Gewehren (B) der Schützen aufgemacht hatte (TC 02:33:12). Das Problem ist in beiden Filmen das gleiche: Die Kamera – in JFK ist es die Kamera von Abraham Zapruder – ist das Medium, das den Mord dokumentiert. Innerhalb des Narrativs klärt der Film damit auf Grundlage seiner Formen (Fotografie/Film) ein Problem auf und bringt es hervor (als Uneindeutigkeit im Bild). Daher ist es folgerichtig, dass, wie Thomas in Blow-Up, Garrison zum Abschluss seiner Rede den entscheidenden Frame des Zapruder-Films – Frame 313 –, einer Detailanalyse unterzieht, um, metaphorisch gesagt, im indexikalischen Referenzverhältnis den ›Rauch‹ zu vertreiben, den das ›Feuer‹ des ›wirklichen‹ Geschehens erzeugt. Die Ikons, die es in JFK zu diagrammatisieren gilt, werden in dem greif bar, was in den Frames des Zapruder-Films gezeigt wird. Frame für Frame geht Garrison den Film durch und ordnet das Geschehen im Bild, das Verhalten der Objekte, der Personen, dem Eidos seiner Beweisführung unter. Die Beweisführung hängt dabei an Frame 313, dem getroffenen Kopf Kennedys, genauer: dessen Bewegungsrichtung: »The President going back and to his left« (TC 02:34:28), wie Garrison feststellt. Wenn der Kopf erst zurückzuckt, muss es ein frontaler Schuss gewesen. Oswalds Schüsse kamen von hinten. Hätte Oswald den Präsidenten getroffen, hätte der Kopf nach vorne schlagen müssen. Immer wieder wiederholt JFK dieses Geschehen im Frame des Zapruder-Films: »Back and to the left, back and to the left, back and to the left, back and to the left« (TC 02:34:39). Die Bewegungsrichtung des Kopfes ist der Beweis für die These eines frontalen Treffers. Garrison zeichnet diese Bewegungsrichtung nicht in das Bild, aber die Wiederholung verfestigt die Relation als Schema und macht sie zu einer Regel: Kennedy wurde frontal erschossen. Das Wahrnehmungsschema folgt somit der Interpretationsregel. Diese Regel wurde diagrammatisch in den Skizzen, dem Modell und dem Reenactment bereits visualisiert. Was an den Bild-Ikons des Zapruder-Films demonstriert wird, ist also in JFK schon einmal demonstriert worden. Der Zapruder-Film ist in JFK nicht die Quelle, sondern die Konsequenz der Beweisführung.308 Die Validität von JFK als faktualer Stellungnahme im Feld der Diskussion um das Attentat hängt genau an dieser These. Immerhin bietet die Website JFK-Online nicht weniger als 100 einzelne Unterseiten auf, um Aspekte der ›Argumentation‹ von JFK zu widerlegen. Zur Sprache kommt natürlich auch die Deutung von Frame 313, die mit einer Diagrammatisierung widerlegt wird, die genau das Gegenteil behauptet. Auf der skeptischen JFK-Online-Seite wird die Interpretationsregel bestritten, die in JFK als Film über das iterierte Wahrnehmungsschema eingeübt werden soll. Und wieder ist es das gleiche Spiel: Diagrammatisierung dient einem Frame-für-Frame-

308 Bauer (2011, S. 251) bemerkt, es gehe um eine »Dekonstruktion der Evidenz, die man Fotografie und Kinematografie gerne unterstellt.« Wenn es richtig ist, dass Medien Ambivalenzen als Möglichkeitsüberschüssen produzieren, dann ist für meine Begriffe gleichzeitig das Gegenteil der Fall: Der Zapruder-Film wird durch eine Transkription im Status eines Postskripts als Quelle erst recht authentifiziert.

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Vergleich zur Explikation einer Bewegung, die unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt, aber im Bild angelegt ist. Die These der skeptischen Website bestätigt ex negativo das, was in JFK vor sich geht: Die narrative Zitation und Transkription des Zapruder-Films in JFK ist das ›In-Geltung-Setzen‹ desjenigen Postskriptes, das der Film JFK seinerseits ist. Diese Geltung basiert auf einer diagrammatischen Rekonfiguration. Bildanalysen, wie Garrison sie vornimmt, spielen auch in Minority Report eine Rolle, wenn Chief Anderton das Karussell und den Ort des Mordes identifiziert ( Kap. 1.3). Im Unterschied zu Garrison, der den Zapruder-Film vor- und zurückspult, hat Anderton ein quasi-holografisches Interface zur Verfügung. Er kann das Bilddetail mit den Händen manipulieren. Trotz wandelnder medialer Bedingungen, die jeweils andere Möglichkeiten des semiotischen Probehandelns bieten, ist die Praxis die gleiche: Ein Ikon wird in einer explikativen Transkription diagrammatisiert, um seinen Objektbezug mit einem neuen Deutungsschema zu verbinden. Das rhetorische Versprechen, an das sich die Diagrammatisierung in der Szene der Explikation von JFK knüpft, liegt in dem Anspruch, das ›Implizite‹ in der Beweisführung des Films explizieren zu können. Betrachtet man den Film im Ganzen, so ist an JFK insbesondere auffällig, dass durch die im Vorspann aufgemachte implizite Ebene des Films, die sichtbar und unsichtbar zugleich ist, eine Komplexität angelegt ist, die im Folgenden entfaltet wird. Epistemische Evidenz zu rekonfigurieren und mit einem neuen Deutungsschema diskursiver Evidenz zu versehen, ist der pragmatische Kontext einer rhetorischen Situation, die zum Zweck der Durchsetzung ihrer Deutung fast zwangsläufig auf Diagrammatisierungen referiert. Hier ist es eine ungebrochene Kontinuität von Diagrammatisierungen erster und zweiter Stufe, welche die Anschaulichkeit von Ikons in propositionale Plausibilität übersetzen. Dass die Suggestion von Implizität im Narrativ von JFK derart gelungen ist, hängt an der tiefen Integration in den Plot des Films: Filmgrammatisch nutzt JFK den semiotischen Status der Bildkondensate des Vorspanns, um die Dichte einzuführen, die expliziert wird. Der Vorspann wird zu einem impliziten Bildgef lecht der Narration, ein Kondensat schematisierender Diagrammatisierungen, das in epistemischer Evidenz bereits das Schema exponiert, auf welches sich die folgenden Diagrammatisierungen im Prozess seiner Explikation beziehen. Die rhetorische Kraft der Szene der Explikation ist in dem Umstand zu sehen, dass das implizite Deutungsschema bruchlos entlang einer Kette aus abstrahierenden, idealisierenden und modellierenden Diagrammatisierungen plausibilisiert werden kann. Somit lässt sich festhalten, dass die räumliche Anordnung der Szene selbst ein bearbeitbares Intraface erzeugt, das ein Narrativ produziert. Dass die dergestalt bewiesene und ›entf lochtene‹ »conspiracy« im Film ihrerseits Züge einer solchen trägt, wird, auch das gehört zur Geschichte, freilich gef lissentlich unterschlagen. Was den Film retrospektiv filmtheoretisch interessant macht, ist sein paradigmatischer Charakter für die oft etwas später angesetzte Ära des Post-Cinema und seiner Tendenz, »attendance« in »performance« umzuwandeln.309 Die modernistische Ästhetik in Blow-Up lässt das Intraface »unbearbeitbar« zurück. In diesem Beispiel aber wird genau Bearbeitung gefordert und im WWW dann auch ausführlich geleistet. Und das ist auch deshalb der Fall, weil die Explikation Garrisons im Film als 309 Vgl. Casetti 2010, S. 25, im Orig. kursiv.

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

performative Aufführung par excellence gelingt. Die Szene der Explikation in JFK bedient die Kriterien, die Franceso Casetti als Kriterien eines mit der Filmerfahrung im Post-Cinema benannten »Tuns« assoziiert: Sie repräsentiert in ihrer Dichte ein hohes Maß an Sinnlichkeit, sie fordert eindeutig ein kognitives Erforschen, bleibt darin aber affektiv; sie spielt – die Verwendung des Zapruder-Films in der Szene ist das beste Beispiel – auf das technologischen Tun der Filmbearbeitung an, das einen Text fortschreibt, nämlich die Verschwörungstheorien rund um JFK, und sie ist schließlich im WWW expressiv und relational, etablieren sich doch Deutungs-Communities.310 Nichtsdestoweniger fehlt der Szene ein wesentliches Element, das die medienhistorische Schwellensituation von JFK in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren unterstreicht: Diagrammatisierungen erscheinen hier doch auf dem Schauplatz der Evidenz als vollständig analoge Medien. Deshalb gilt es, zum Abschluss noch einmal auf die Querbezüge zur digitalen Medienkultur zu achten. Eine Möglichkeit dafür sind Diagrammatisierungen, die in Szenen der Explikation im Science-Fiction-Film enthalten sind. In ihnen übersetzen sich, wie auch in Minority Report, Visionen neuer Medien in die Darstellung neuer Interfaces, die – nicht selten als Special Effects – eine Momentaufnahme des Standes der Dinge im Bilddesign zur jeweiligen Zeit waren. Insbesondere die im Kontext von Science-Fiction stets mögliche (zukünftige) Medialität von Karten avancieren in diesen Szenen zu Formen, anhand derer sich die Entwicklung hin zu einer Ästhetik der Motion Graphics nachvollziehen lässt.

7.2.7 Star Trek & Co. — Die mögliche Medialität der Karte 311 In allen diesen Szenen geht es um Interfaces, und es geht um die Arbeit mit Interfaces. Eine andere Frage ist freilich, wie eventuelle Intrafaces in diesen Interfaces in einen übergeordneten filmischen Kontext gestellt werden. Beginnen möchte ich wieder mit einem sehr einfachen Beispiel. Die Rolle von Diagrammatisierungen als Agenten des Medienwandels von analogen zu digitalen Medien kann, wie aller Medienwandel – jedenfalls der bekannten These Friedrich Kittler zufolge – am Beispiel des Krieges studiert werden;312 hier allerdings an einem fiktiven Krieg: dem zwischen dem Imperium und den Rebellen in Star Wars IV – A New Hope (1977). Zu diesem Film noch Worte zu verlieren, ist angesichts seiner quasi-mythischen Bedeutung sinnlos. Die Macht war mit ihm. Die Geschichte in A New Hope dreht sich um die Baupläne des Todessterns, jener mondgroßen Kampfstation des Galaktischen Imperiums, welche die Feuerkraft besitzt, ganze Planeten zu zerstören. Im Rahmen der David-gegen-Goliath-Geschichte müssen die Rebellen die Station vernichten. Nachdem die Baupläne des Todessterns aus dem Roboter R2-D2 (Kenny Baker) geborgen wurden, erscheinen sie gegen Ende des Films als monochrome Schwarz-Weiß-Animation auf einem Interface, das wie ein Fernsehdisplay aussieht. Die hier relevante Szene der Explikation ist die Planung des Angriffs auf den unüberwindbaren Todesstern. Während der Todesstern im Anf lug auf den Rebellen310 Vgl. die Kriterien in Casetti 2010, S. 25f. 311 Die ersten beiden Beispiele habe ich bereits in Ernst 2014b diskutiert. Für den vorliegenden Kontext wurde die Analyse aber neu konzipiert und erweitert. 312 Vgl. überblickend zu diesem Argument Kittlers Winthrop-Young 2005, S. 115ff.

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planeten ist, sitzen die Rebellenpiloten vor einer quadratischen, zweidimensionalen Kinoleinwand. Dort wird eine CGI-Animation in Form einer Vektorgrafik des Todessterns vorgeführt ( Abb. 92).

Abb. 92: Der Angrif fsplan und seine Modellierung (TC 01:36:06). Quelle: Eigener Screenshot aus Star Wars – Eine neue Hof fnung, George Lucas, DVD-Video, remasterte Version, Lucasfilm/Twentieth Century Fox 2004.

General Dodonna (Alex McCrindle) erklärt den Angriffsplan. Wie die Analyse der Baupläne des Todessterns gezeigt habe, weise der Todesstern ein Defizit im Layout seiner Konstruktion auf. Seine Verteidigungswaffen sind auf Großangriffe mit schweren Schiffen ausgelegt. Dies gebe einer kleinen Gruppe von schnellen Raumjägern die Möglichkeit, dem Feuer der schweren Geschütze auszuweichen und per asymmetrischer Kriegführung nah an den Todesstern heranzukommen (TC 01:35:35). Den Ausführungen des Generals zufolge, ist die Schwäche ein Schacht, der direkt in die Reaktorsektion des Todessterns führt. Eine Rakete, die in diesen Schacht abgefeuert wird, kann bis in den Reaktor des Todessterns vordringen. Um an diesen Schacht zu gelangen, müssen die Rebellenjäger im Tieff lug durch einen Graben zwischen den Auf bauten auf der Oberf läche des Todessterns manövrieren. Das Problem ist, eine Rakete präzise in den nur zwei Meter breiten Schacht zu feuern. Es bleiben zwei Möglichkeiten: Trifft eine der Raketen, wird der Reaktor zerstört und die Kettenreaktion vernichtet den Todesstern. Trifft keine Rakete, wird der Todesstern den Rebellenplaneten vernichten. Hopp oder Topp. So weit die bekannte Geschichte. Sie geht am Ende natürlich gut aus, weil Luke Skywalker (Mark Hamill) den Tag rettet. Was die Szene relevant macht, ist die Pioniertat der CGI-Animation. Diese CGI-Animation zeigt den Todesstern nicht nur, sondern ist eben auch eine Präfiguration der Bewegung des späteren Angriffs. Während General Dodonnas Ausführungen verändert sich die Perspektive: Auf dem Display wird in der Animation der Angriff simuliert, der später im Film erfolgt. Die Szene wird aus einer Totalen über eine Halbtotale bis auf eine Großaufnahme der Animation geschnitten. Ist dies als Point-of-View aus Perspektive der angreifenden Jäger visualisiert, so folgt eine Animation dessen, was geschehen wird. Es entsteht ein animiertes Diagramm, welches das Eindringen der Rakete und die mögliche Explosion des Todessterns nach dem erfolgreichen Angriff zeigt. Überhaupt ist dieser Teil von A New Hope mit Effekten reich gesättigt. Nach der Erläuterung der Pläne ist eine CGI-Animation zu sehen, auf der die Kommandanten

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des Imperiums, also die Aggressoren, beobachten können, wann der Todesstern in Feuerreichweite ist (TC 01:37:02). Dem dramaturgischen Konzept der Zuspitzung auf die ›ablaufende Uhr‹ folgend, haben die bedrohten Rebellen nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Sie starren in ihrer Kommandozentrale auf ein Medium, das semiotisch wie technisch einer analogen Uhr entspricht. Diese Differenz unterstreicht die Bedeutung der analog/digital-Unterscheidung im Kontext filmischer Formen der Diagrammatisierung. Und sie zeigt aber noch einen anderen Punkt: Zwar ist das Interface des Imperiums um ein zweidimensionales, statisches Filmdisplay herum gebaut, aber die CGI-Bildlichkeit auf dem qudratischen Display zeigt einen klaren Übergang in die Dreidimensionalität. Erkennbar ist darin auch eine Verlagerung der Perspektive: Wird auf dem Display zunächst das Layout des Todessterns als dem in Frage stehenden Objekt gezeigt und die technische Schwachstelle objektiv erläutert, so wechselt im Verlauf der Präsentation die Perspektive und kippt, um die Schwierigkeit des Anf lugs klar zu machen, aus einer (epistemischen) Vogelperspektive in eine subjektive Feldperspektive. Dieser Perspektivenwechsel ist bemerkenswert. Der Angriff, der in den folgenden Sequenzen des Films gezeigt wird, folgt dem Layout der Animation, die auf dem Display während der Ansprache des Generals gezeigt wird. Die Angriffssequenz spielt im Sinne eines ›dis-plays‹ also das aus, was während des Briefings durch den General explizit gezeigt und vorgeführt wurde – im Englischen ›to display‹.313 Die Angriffssequenz folgt dem CGI-Layout bis in die einzelnen Einstellungen, insbesondere wird das beim Anf lug in den Graben deutlich (z.B. TC 01:45:16). Etabliert wird in der Besprechungsszene mittels einer animierten Diagrammatisierung ein Schema in der Narration, das gleichzeitig als ein Schema der Narration und der visuellen Erzählinstanz fungiert. Informationswert hat dann aber vor allem die Abweichung vom Schema. Nachdem Angriffswelle um Angriffswelle im Graben scheitert, ist Luke an der Reihe und wird durch seinen Buddy Han Solo (Harrison Ford) sowie durch den im Geiste zu ihm sprechenden Obi-Wan Kenobi (Alec Guinness) unterstützt. Obi-Wan Kenobi rät zum Gebrauch der Macht. Und Gebrauch – oder eher: intuitives Wissen in der Praxis – ist das entscheidende Stichwort. Im Zielanf lug schaltet Skywalker das an ein Helmet-Mounted Display erinnernde Interface des Zielcomputers ab und trifft das Ziel ohne Computerhilfe (aber mit Hilfe der Macht). Amüsanterweise bietet A New Hope intradiegetisch sogar eine subversive Erklärung für Lukes Volltreffer an. In der Planungsszene bemerkt einer der Piloten, dass es unmöglich sei, einen nur zwei Meter großen Schacht zu treffen. Luke entgegnet, es sei möglich und er habe Vergleichbares auf seinem Heimatplaneten schon gemacht (TC 01:36:44). Daraus kann man schließen, dass Luke im Prinzip gar keine ›Macht‹ für den Schuss gebraucht hätte. Er verfügt schlicht über die nötigen impliziten Skills. Eine übernatürliche Kraft wäre zur Erklärung seines Siegtreffers gar nicht nötig gewesen. A New Hope bringt seine Macht-Geschichte aber nicht so vor, dass die Macht Luke die Intelligenz gegeben hätte, den Angriffsplan im Angesicht des Territoriums kreativ zu variieren. Sondern die Macht hat ihn befähigt, das, was in der Karte – oder eben: im Diagramm – vorgezeichnet war, richtig umzusetzen. Die Anspielung auf das implizite Wissen im Film war daher wohl eher eine Adressierung der Skills der ersten Gamer-Generation, die in Scharen in den ersten Teil der Saga gestürmt ist und wohl 313 Inspiriert ist diese Bemerkung durch Bauer/Ernst 2010, S. 64ff.

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auch das grafisch sehr ähnliche Spiel Star Wars aus dem Jahr 1983 gespielt hat. Deshalb ist das Verhältnis von Plan und Umsetzung der Clou der Szene. Als Szene der Explikation kann man die Planung des Angriffs so lesen, dass der Film im Diagramm das Wahrnehmungsschema etabliert, dem der Ablauf des Angriffs folgt. Entworfen wird ein idealer Angriffsplan, der auch umgesetzt wird. Das dreifache ›Display‹ (display, Display, dis-play) des Angriffs simuliert den Angriff. Das Diagramm der Simulation wird unter Auf bietung besonderer Kräfte, quasi im Modus des durch die Macht ermöglichten »free rides« ( Kap. 5.4.1), umgesetzt.314 Folgt im Film die ›Handlung‹ – im doppelten Sinn als Narration und der Praxis Lukes – dem Diagramm, so ist es interessant zu erfahren, dass der Special Effect der CGI-Animation umgekehrt entstanden ist. Wie sich auf der Seite movieweb.com lernen lässt, hatte der verantwortliche Special-Effects-Designer, Larry Cuba – seine persönliche Website begrüßt Besucher bereits mit dem Platon-Zitat »Geometry draws the soul towards truth« –, die Simulation des Flugmanövers gefilmt, indem Kameraeinstellungen auf das analoge Modell des Todessterns zur Erstellung der CGI-Sequenz digitalisiert wurden.315 Ist das Geschehen im Film die Konsequenz der Simulation, wurde die Simulation durch Digitalisierung der Filmsequenz erstellt und auf den Film zurückprojiziert. Das deckt sich mit Lev Manovichs Argument: Digitalisiert sich seit den 1990er-Jahren die Filmproduktion, so ist Ende der 1970er-Jahre noch das abgefilmte analoge Modell das Vorbild, nach dem sich die digitale Simulation in einer isolierten Szene richtet. ›Diagrammatisch‹ im Sinne einer Diagrammatisierung zweiter Stufe ist in der Szene nichts. Relevant ist die Szene allerdings auf Ebene der Schematisierung und damit auf Ebene von Diagrammatisierungen erster Stufe, die das Geschehen im Narrativ und seiner Form präfigurieren. Durch ihre immersive Konzeption lieferte sie das Wahrnehmungsschema für diejenigen Aktionen, die virtuelle Hobbypiloten im Film im Kopf und später am Joystick ausführen sollten. Wenn davon gesprochen wird, dass neue Medien nicht nur die Formen, sondern auch die Praktiken des Umgangs mit einem Medium integrieren und neu konzipieren, ist das der Witz. Darüber hinaus zeigte sie den Machern von Star Wars, was in Bezug auf digitale Effekte noch möglich ist. Mitte der 1990er-Jahre krempelt der Aufstieg des Personal Computers die Bildproduktion des Films um. In dieser Zeit setzt sich das kulturelle A-priori der Software durch, um das es auch Manovich geht. Das Verhältnis von Zeichen und Medien wird durch das viel zitierte »Metamedium« neu angeordnet.316 Die Science-Fiction bleibt davon nicht unberührt. Aufzeigen kann man das nicht nur an Star Wars, sondern auch an Star Trek. Die 1980er-Jahre sehen zunächst den Relaunch dieses Franchise. Unter dem Titel Star Trek – Next Generation kehrt die Serie in das Fernsehen zurück. Nach Auftaktschwierigkeiten sorgt Star Trek wieder für Furore und wird im Übergang in die 1990er-Jahre zur Kultserie. Zwei Motive aus Next Generation haben sich seitdem in der Populärkultur festgesetzt: das Kollektiv der Borg, das im postindividuellen Zeitalter von der bedrohlichen Rückkehr der gleichgeschalteten Gemeinschaft kündet, und die 314 An die dreifache Bedeutung von »display« erinnert auch verschiedentlich Bauer 2015. 315 Aufschlussreich ist hier das erläuternde Video Making of the Computer Graphics for Star Wars (Episode IV) auf https://www.youtube.com/watch?v=yMeSw00n3Ac, gesehen am 10. Mai 2020. 316 Vgl. dazu Manovich 2013, S. 107ff.

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Techno-Vision des Holodecks, einer computergenerierten Realitätssimulation, die sogar denkende Wesen mit eigenem Bewusstsein materialisieren kann.317 Mit dem Ende der Fernsehserie wechselt die Crew um den intellektuellen Captain Jean-Luc Picard (Patrick Stewart) ins Kino. Dort löste sie die mit der Perestroika-Parabel Star Trek VI – The Undiscovered Country (1991) abgeschlossene Kino-Ära der ersten Star-Trek-Generation um den legendären Captain James T. Kirk (William Shatner) ab. Die Staffelübergabe erfolgt im siebten Teil der Kino-Reihe, dem Film Star Trek VII – Generations (1994). Wie alle Kinofilme (Star Trek VII-X) der Next Generation-Ära ist Generations kein Glanzstück der Filmgeschichte. Der Film ist eine aufgeblähte Fernsehepisode. Die Geschichte um den besessenen Wissenschaftler Tolian Soran (Malcom McDowell) ist dürftig; die Special Effects sind ein Mix aus Effekten der Fernsehserie, altem Bildmaterial aus dem sechsten Kinofilm und bemerkenswert schlechten Modellszenen. Eine Szene in der ›stellaren Kartografie‹ des Raumschiffs Enterprise aber sorgt für Aufmerksamkeit. Das Problem ist dieses: Captain Picard und der Androide Data (Brent Spiner) – dem kürzlich ein Emotionschip eingesetzt wurde und der Schwierigkeiten hat, seine neuen Gefühle zu kontrollieren – versuchen zu begreifen, was der Bösewicht Soran beabsichtigt. Bekannt ist zu diesem Zeitpunkt, dass Sorans Aktivitäten etwas mit einem Energieband (»ribbon«) zu tun haben, das durch den Weltraum zieht. Raumschiffe, die sich dem Band nähern, sind zerstört worden. Was vor sich geht, wissen die beiden aber noch nicht. Die Szene beginnt mit Picard und Data, die in der Mitte eines an ein kleines Planetarium erinnernden, kreisförmigen Raums stehen (TC 00:49:38). Die Projektionsf läche ist nicht die Kuppel, sondern die Wände, auf die ein riesiges, zweidimensionales Sternenkartenpanorama projiziert ist. Data, der die Steuerungskonsole bedient, erklärt, dass es sich bei dem mysteriösen Energieband, das in Kürze den Raumsektor der Enterprise durchf liegt, um ›temporale Energie‹ handele. Wie Picard von einem anderen Besatzungsmitglied erzählt bekommen hat, versucht Soran in dieses Energieband zu gelangen. Unklar ist, wie er das bewerkstelligen möchte. Picard sucht nach einer Verbindung zwischen dieser Handlungsintention und einer von Soran zur Explosion gebrachten Sonne. Alle Informationen über die Auswirkungen der Explosion, egal wie unbedeutend, seien relevant (TC 00:50:19). Data speist die Suchanfrage in den Computer. Die Analyse wird durch einen Subplot ergänzt, der als dramaturgischer Kontrapunkt dient: Data steht aufgrund seines Emotionschips unter Stress und kann seine Emotionen, in diesem Fall Angst und Schuldgefühle, nicht kontrollieren. Picard wird nun in der Liste der Auswirkungen auf Kurskorrekturen aufmerksam, die Raumschiffe infolge der Explosion durchführen mussten und lässt sich den Ort des Energiebandes anzeigen. Visuell wird dies durch eine in einen 3D-Effekt übergehende Vergrößerung des Segments in der Sternenkarte inszeniert. Während Data aufgefordert wird, den Kurs zu berechnen und auf das Display zu projizieren, wird er erneut von Emotionen überwältigt (›Emotionen sind Kräfte‹), bevor Picard ihn per militärischer Disziplin zur Räson ruft und ihm erklärt, dass es Kraft braucht, Emotionen in das Leben zu integrieren. Auf diese Weise als rationaler Akteur wiederhergestellt, nimmt Data mit Picard die Analyse in Angriff. Der Androide projiziert die Flugbahn des Energiebandes – als 317 Vgl. dazu bereits die Verweise auf Star Trek in Schröter 2004.

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Punkte (Planeten) verbindende Linie dargestellt – auf das Display. Es folgt eine zweite Vergrößerung, die auch den zerstörten Stern anzeigt. Picard bemerkt, dass das Diagramm die durch den Stern veränderten Gravitationsverhältnisse nicht berücksichtigt. Als der Androide die veränderten Daten in den Rechner eingibt, ist die Veränderung anhand der Linie der Flugbahn zu sehen. Picard hat eine Einsicht: Durch Zerstörung von Sternen verändert Soran die Flugbahn des Energiebandes. Die Erkenntnis gelingt erst durch die Variation und Manipulation der Daten im Diagramm. Erst als Data und Picard durch die Abweichung der projizierten Flugbahn im Diagramm sehen, dass sich die Flugbahn durch Zerstörung von Objekten verändert, erst dann haben sie die Evidenz, die sie benötigen, um die richtige Schlussfolgerung zu ziehen ( Abb. 93).

Abb. 93: Rekonstruktion der Flugbahn (TC 00:53:29). Quelle: Eigener Screenshot aus Star Trek VII – Generations, David Carson, DVD-Video, Paramount Pictures 1994.

Unklar bleibt zu diesem Zeitpunkt aber, warum Soran nicht einfach mit einem Raumschiff in das Energieband f liegt. Die Antwort liegt nah: Alle Schiffe, die in die Nähe des Bandes kamen, wurden schwer beschädigt oder zerstört. Die Lösung muss eine andere sein. Picard versteht die Lage: »He can’t get to the ribbon, so he is trying to make the ribbon come to him« (TC 00:54:11). Auf Picards Frage hin, ob das Energieband in der Nähe eines bewohnbaren Planeten vorbeif liegt, folgt eine weitere Bildvergrößerung, dieses Mal auf ein Sonnensystem in der Nähe (TC 00:54:19). Das Sonnensystem wird als 3D-Objekt auf der Projektionsf läche rotiert, bis Picard und Data, die im Raum der Simulation zu schweben scheinen, eine gute Perspektive gefunden haben. Picard erkennt, dass das Energieband nah, aber nicht nah genug an einem bewohnbaren Planeten vorbezieht. Im Lichte der schon bekannten Absicht Sorans, die Flugbahn des Energiebandes zu manipulieren, macht jetzt alles Sinn: Picard fragt Data, was geschehen würde, wenn die Sonne in diesem System zu kollabieren begänne. Auf dem Display führt die Linie der Flugbahn jetzt genau durch den Planeten, womit Sorans Plan aufgedeckt ist ( Abb. 94).

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Abb. 94: Flugbahn und Planetensystem (TC 00:54:33). Quelle: Eigener Screenshot aus Star Trek VII – Generations, David Carson, DVD-Video, Paramount Pictures 1994.

Vermutlich ist es kein Zufall, dass hier eine Szene der Explikation mit einem emotionalen Subplot verbunden wird. Ähnliches geschieht in Star Wars, vor allem aber auch in A Beautiful Mind und mit Abstrichen in Ryan’s Daughter. Der dramaturgische Gegensatz aus rationaler Analyse und emotionalem Chaos liegt nah. Eine der Abgrenzungen zwischen erster Star Trek-Generation und Next Generation war die Rationalität des Captains. Auf den Draufgänger James T. Kirk folgt der Philosoph Jean-Luc Picard. Folgerichtig siegen, parallel zu einer analytischen Inferenz, in der Szene Rationalität und Vernunft über die Emotionen. Vergegenwärtigt man sich, wie diagrammatisches Denken auf der visuellen Erzählebene gezeigt wird, wird bei diesem Beispiel eine Tendenz deutlich, die schon in Star Wars erkennbar war: Diagrammatisches Denken ist zielgerichtetes Denken und basiert auf einem Prozess der Vergrößerung. Diese Vergrößerung parallelisiert sprachliche und visuelle Erzählebene und ist ein differenzierender, also ausschneidender Blick. Im Detail sieht das so aus: Schritt 1: Die Analyse von Data und Picard beginnt in Analogie zu einer Panoramaeinstellung: dem Blick auf das Sternenpanorama. Aus diesem Panorama wird ein Sektor isoliert – eine abstrahierende Diagrammatisierung (TC 00:51:50). Ein Fadenkreuz isoliert einen Punkt (das Energieband) und setzt es in Beziehung zu einer Menge von umgebenden Punkten, was eine kartografische Referenzialisierung ist. Ein Teilbereich des Panoramas wird zu einer Karte, in der Punkte, aber auch noch Linien zwischen den Punkten erkennbar sind. Schritt 2: In die selektierte und referenzialisierte Karte wird die Flugbahn des Energiebandes als Relation zwischen Punkt und Linie eingerechnet. Die Panoramaeinstellung hat sich in eine Totale verwandelt. Die Karte (image-diagram) wird zu einem Diagramm (diagram-proper). Einerseits kann an diesem Diagramm ein Objekt, die Flugbahn des Energiebandes, studiert werden (TC 00:53:20). Andererseits ist die Repräsentation, also das Diagramm, innerhalb des virtuellen Raumes als Form ein Objekt, das manipulierbar ist. Dafür ist der Umstand verantwortlich, dass das Ensemble von Elementen und Relationen als solches vom Sternenhintergrund differenziert ist. Schritt 3: Gezeigt wird eine weitere Vergrößerung, die in Relation zu Picard eine Nahaufnahme ist (TC 00:53:28). Nun folgt das Experimentieren mit dem Objekt des Diagramms (im doppelten Sinne). Picard fordert Data auf, die veränderten Gravitationskräfte in das Diagramm einzurechnen, es also zu rekonfigurieren. Diese Re-

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konfiguration führt zu der Erkenntnis der Manipulation der Flugbahn durch Soran. Die Erkenntnis ergibt sich aus der sichtbaren Abweichung der projizierten Linie. Sie setzt die Identifikation von Elementen im Diagramm, den Punkten als Planeten und der Linie als Flugbahn, voraus. Picard erkennt, dass es Sorans Absicht ist, die Flugbahn durch explodierende Sonnen so zu beeinf lussen, dass das Energieband zu Soran kommt (und nicht umgekehrt) (TC 00:54:07). Das Diagramm wird zu dem eidetischen Objekt der Szene der Explikation: Das Diagramm ist der Plan des Bösewichts. Schritt 4: Es folgt die nächste Vergrößerung, die auf diese These Picards abgestimmt ist: die Vergrößerung des nahegelegenen Sonnensystems, die als Halbtotale beginnt (TC 00:54:19). Entscheidend ist die Rotation des Diagramms des Planetensystems, die erst die richtige Perspektive auf das Objekt bietet. Wiederholt wird der Schritt der Anpassung des Diagramms durch Veränderung der Parameter. Diese Rekonfiguration entlarvt den Plan des Bösewichts endgültig, indem er im Diagramm zum eidetischen Objekt wird. Die Szene endet mit dieser Erkenntnis der beiden ›Investigators‹. Picard hat den Plan durchschaut und weiß, was zu tun ist. Entschlossen verlässt er den Raum und gibt Befehl, Kurs auf das im Bildhintergrund noch auf dem Display dargestellte Planetensystem – das eidetische Objekt – zu nehmen. Das Beispiel ist ein weiterer Fall für eine Form der Diagrammatisierung des Sternenhimmels und speziell eines Planetensystems, dieses Mal aber verlegt in die Medialität von Augmented Interaction. Es zeigt den Übergang von der Herstellung einer zweidimensionalen Karte in eine dreidimensionale, objektzentrierte Form des Diagramms, in der das Diagramm durch projektionsbasierte Augmented Reality selbst das rotierte und variierte Objekt ist. Wichtig ist insbesondere der durch das quasi-holografische Interface ermöglichte Übergang der Zweidimensionalität der Karte in ein dreidimensionales Diagramm. Werden in diesem Übergang die Elemente in der Karte zu Objekten, verwandelt sich gleichzeitig das Diagramm, das eine Struktur zeigt – also eine Menge von Elementen und der Relationen zwischen ihnen –, in das eidetische Objekt. ›Denken‹ ist hier als Konstitution und Manipulation von Objekten inszeniert. Die theoretisch wichtige Instanz dafür ist das Medium, das diese Operation möglich macht. Das digitale Modell des diabolischen Plans des Bösewichts ist in Star Trek nicht länger die Konsequenz von Diagrammatisierungen, sondern deren Bedingung. Gegenüber Star Wars – A New Hope ist der Sprung in die Ära der Motion Graphics vollzogen. In Star Wars zeigt das Diagramm als Filmsequenz ein eidetisches Objekt, das dann als Schema erster Ordnung vom Film nachvollzogen wird. In Star Trek – Generations ist das aus der Karte ausdifferenzierte Diagramm ein eidetisches Objekt, das in der virtuellen Realität eines digitalen Modells Elemente und ihre Relationen als 3D-Objekte manipulierbar macht. Wird in Star Wars das Diagramm als digitales Bild in einem filmischen Dispositiv betrachtet, so wird in Star Trek mit dem Diagramm als Objekt in einem dreidimensionalen Interface gearbeitet. Besonders auffällig ist dabei die Transformation des Erkenntnisprozesses. Er beginnt in einer zweidimensionalen Karte, die sich durch Schritte der Vergrößerung in einen dreidimensionalen Raum der Objektmanipulation verwandelt. Manovichs Ansatz findet in dieser Szene eine Bestätigung: Das Interface, an dem Data und Picard arbeiten, bietet nicht nur alle Möglichkeiten für Praktiken der Vergrößerung, sondern auch die Option zur Isolation von Objekten, die aus einem kartografischen Dispositiv gelöst werden. Aufschlussreich ist, dass abstrahierende und

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idealisierende Diagrammatisierung dabei als kontinuierlicher Prozess denkbar werden: Die Konstitution eines eidetischen Objektes ist die Ausdifferenzierung eines Objektbereiches aus einer Karte, wobei diese Operation das Objekt neu innerhalb der Karte referenzialisiert, also sein Verhalten im Kontext veränderter Relationsparameter durchspielt ( Kap. 6.2.4). Die These von der Freisetzung der Einbildungskraft in der digitalen Ära des Kinos wurde in der Filmtheorie gerne betont.318 Mit Manovich lässt sich aber vor allem feststellen: Die digitalen Medien und die modellierende Diagrammatisierung sind 1994 in Form von Motion Graphics im Film angekommen. Dass die Szene aus Star Trek – Generations ihrerseits Einf luss auf die Gestaltung von Szenen der Explikation in der Science-Fiction hatte, zeigt spätestens im Jahr sechs Jahre später Brian de Palmas Mission to Mars (2000). Generations war für Star Trek-Fans kein Highlight. Mission to Mars darf trotz Starbesetzung, renommierter Regie und besseren Effekten als noch schlimmerer Reinfall gelten. Das Drehbuch bedient sich auf denkbar ungelenke Weise dem um 2000 noch sehr lebendigen Mythos des Marsgesichts ( Kap. 6.2.3). Ein Astronautenteam hat es als erste Mission auf den Mars geschafft. Bei geologischen Untersuchungen stoßen sie auf eine Felsformation, unter der sich das artifizielle Marsgesicht verbirgt. Nachdem es bei der Entdeckung des Gesichtes zu einem katastrophalen Ereignis gekommen ist, macht sich eine Rettungsmission auf den Weg. Am Ende dringen die Astronauten in das Marsgesicht ein, das sich als eine von Aliens erbaute Station erweist. Der Film schließt mit einem aus 2001 – A Space Odyssey (1968), The Abyss (1989) und Close Encounters of the Third Kind (1977) zusammengeklaubten, melodramatischen Ende. Es erweist sich, dass der Mars einst von einer untergegangenen, hochentwickelten Zivilisation bewohnt war.319 Das Ende wäre eigentlich keiner Erwähnung wert, würde es nicht direkt auf die Szene der Explikation in Star Trek – Generations zurückgreifen. Die Astronauten werden in eine dreidimensionale Simulation der Geschichte des Sonnensystems geleitet. Diese Simulation ist mit den Möglichkeiten der fiktiven Holotechnologie aus Star Trek identisch. Im Unterschied zur Szene der Explikation in Generations betrachten die Astronauten das Sonnensystem aber nicht (»looking at«), sondern bewegen sich durch die Relationen der Planeten hindurch (»moving through«) (TC 01:27:25). In der Entwicklung der Medien der Visualisierung diagrammatischer Relationen wird damit ein weiterer Schritt in der Fortführung des angelehnten Dispositivs in Star Wars vollzogen. ›Diagrammatisch‹ gedacht wird in Mission to Mars nicht wirklich. Die Marsianer veranschaulichen den Menschen vielmehr die ›wahre‹ Geschichte des Sonnensystems. Demnach mussten die Marsianer nach einem Meteroiteneinschlag den Planeten verlassen. Das geschah aber nicht, ohne auf der Erde die Evolution in Gang zu setzen und das Marsgesicht als Botschaft an die zukünftige Menschheit zu hinterlassen ( Abb. 95).

318 Vgl. die Beiträge in Kloock 2007. 319 Ein anekdotisches Detail ist, dass das Rettungsteam von Gary Sinise (im Film Jim McConnell) angeführt wird, der zu Beginn nur zur zweiten Crew gehört. Das ist eine Anspielung auf Gary Sinises Rolle in Apollo 13, wo sein Charakter aufgrund einer Krankheit nicht mitfliegen darf.

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Abb. 95: Im 3D-Modell des Planetensystems (TC 01:28:10). Quelle: Eigener Screenshot aus Mission to Mars, Brian de Palma, DVD-Video, Constantin Film/Spyglass Entertainment 2000.

Auf die diskursive Vermischung aus Prä-Astronautik im Stile Erich von Dänikens und anderen para- bzw. pseudowissenschaftlichen Annahmen der Alternative-History könnte man gesondert eingehen. Für das vorliegende Argument ist aber nur das Medium wichtig, das diese Story veranschaulicht. Mission to Mars zeigt ein durch eine quadratische Öffnung zugängliches, geprägtes, vollkommen immersives Holo-Medium. Dieses ist so gestaltet, als wäre das Kino-Dispositiv in Star Wars – A New Hope aus dem Jahr 1977 nunmehr körperlich als 3D-Container begehbar. Vermittelt Star Wars – A New Hope aber das Wahrnehmungsschema der späteren Handlung und findet in Star Trek – Generations eine genuine Argumentation statt, so wird in Mission to Mars letzten Endes nur gestaunt: Im Rückgriff auf die bisherige Handlung wird alles, was – im Unterschied zu The Usual Suspects – der impliziten Zuschauerin an der Handlung im Grunde sowieso schon klar war, in dieser Szene der Explikation endgültig an seinen ›richtigen‹ Platz verwiesen: der Bestätigung des Prä-Astronautik-Arguments durch den fiktionalen Film. Weitere Beispiele für die Fortführung des Trends zu »Augmented Interaction« finden sich in Danny Boyles Science-Fiction-Film Sunshine (2007). Sunshine ist ein Film, bei dem die Schere zwischen filmischer Formensprache und dem Narrativ weit auseinanderklafft. Visuell ein durchaus interessanter Film, ist die Geschichte reichlich plump: Die Sonne brennt aus und ein Raumschiff mit dem wenig subtilen Namen »Icarus II« wird auf eine Mission geschickt, um mit einer gigantischen stellaren Bombe das Sonnenfeuer wieder in Gang zu bringen. Eine Vorgängermission ist aus unbekanntem Grund verloren gegangen. Im Laufe des Films ergibt sich, dass die Icarus I noch existiert und die Sonne umkreist. Der Kommandant war ein religiöser Fanatiker, der seine Mannschaft getötet hat. Aufgrund der spezifischen Umweltbedingungen im Orbit der Sonne ist er zu einer Art Geist/Materie-Mutant geworden. An dieser Stelle kippt die Handlung. Der Film wird zu einem Verschnitt aus Sci-Fi-Horror mit Slasher-Elementen. Er ähnelt dabei Event Horizon (1997). Im Unterschied zu Event Horizon bleibt aber zumindest die filmische Formensprache avanciert. Ein Beispiel ist die Inszenierung des filmischen Raums, ein anderes die dominante Licht-Metaphorik. Das Ziel des Abwurfs der Bombe ist, wie der Hauptprotagonist des Films, der Physiker Capa (Cillian Murphy), im Voice-Over der Vorsequenz erklärt, »to create a star within a star« (TC 00:01:13). Nicht umsonst ist die Bombe so groß wie »Manhatten-Is-

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land«. Das Manhatten-Projekt und das sprichwörtliche Licht, das ›heller ist als tausend Sonnen‹, bilden einen teilchenphysikalischen Subtext in dem Film. Verpackt ist dieser Subtext in das Motiv einer Reise, auf der die Protagonisten versuchen – um es konnotativ zu lesen – ›in das Licht zu f liegen, um das Licht wieder zu entzünden‹. Sunshine schildert einen Flug in die Quelle des Sehens, die als diese Quelle nicht anschaubar ist – die so stark blendet, dass jeder, der in diese Quelle blickt, erblindet und verbrennt. Als suggestiver Ort dient in dem Film infolgedessen das Solar-Observatorium, in dem unter anderem die Mannschaft der Icarus I umgebracht wurde, indem sie der Helligkeit der Sonne ausgesetzt wurde. Die Leitmetaphern des Films sind Licht, Sehen und Erkenntnis: ›Licht ist Erkenntnis‹, und ›Erkenntnis ist Sehen‹. Diese Metaphern werden durch die Wiederholung des Augenmotivs mittels eines Parallelismus eng geführt und so in der Vorsequenz der metaphorische Ton des restlichen Films gesetzt: Erst wird die Sonne zur Iris, dann der riesige Hitzeschild des Raumschiffes zur Pupille. Die Kamera fährt dazu auf die Sonne zu, bis das Licht die gesamte Bildf läche ausfüllt. Die Sonne wandelt sich in einer (wortwörtlichen) ›Blende‹ zum Hitzeschild des Raumschiffes. Nun fährt die Kamera hinter den Hitzeschild und zeigt die in dessen Schatten verborgene quadratische Bombe und das schlanke Raumschiff. Die Gesamtkonstruktion ähnelt einem f liegenden Regenschirm. Das Raumschiff f liegt in die Sonne und verschmilzt mit der Sonne im Moment einer Eklipse zum Auge (TC 00:01:52). Die Bewegung in das Auge, also die Bewegung in die Sonne, ist der Moment, der die filmische Metapher als Form eines Bewegungsbildes aus der kulturell konventionalisierten Metapher ›Sonne ist Auge, Auge ist Sonne‹ differenziert.

Abb. 96: Rekonstruktion der Flugbahn der Icarus I (TC 00:17:31). Quelle: Eigener Screenshot aus Sunshine, Danny Boyle, DVD-Video, Twentieth Century Fox/Dune Entertainment 2007.

Die Metaphorik findet sich auch in einer der beiden Szenen, auf die es im vorliegenden Kontext ankommt. Nachdem die Icarus II sich Merkur nähert, empfängt sie ein Signal der Icarus I (TC 00:17:00). Dem folgt eine diagrammatische Exposition des Problems: Kommandant Kaneda (Hiroyuki Sanada) gibt dem Computer den Befehl, die Trajektorie der Flugbahn der Icarus II auf dem transparenten Interface-Display auszuspielen. Gebannt folgt die Mannschaft der Flugbahn (TC 00:17:31), wobei durch das Interface auf ihre Gesichter gefilmt wird. Sodann wird die Position des Signals eingerechnet. Das Diagramm zeigt, dass die Icarus I ihr Ziel fast erreicht hat. Wie im Fall der Icarus II führte die erste Mission ein Gravitationsmanöver um Merkur durch. Aufgrund ihrer

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ähnlichen Flugbahn wird die Icarus II die Icarus I mit einer Distanz von 10.000-15.000 Meilen passieren ( Abb. 96). Die Mannschaft stellt sich die Frage, ob sie ihre eigene Flugbahn anpassen soll, um zur Icarus I zu f liegen. Was könnte diese riskante Kurskorrektur rechtfertigen? Während die Frage nach Überlebenden obsolet erscheint, wird abgewogen, ob die Bombe an Bord der Icarus I die Kursänderung sinnvoll macht. Niemand weiß, ob die Stellarbombe an Bord von Icarus II ausreichen wird, die Sonne wieder zu entzünden. »Everything about the delivery and effectiveness of that payload is entirely theoretical. Simply put: we don’t know if it’s gonna work«, wie der Bordpsychologe Searle (Cliff Curtis) ausführt. Als Prämisse ist nur eindeutig, dass die gigantische Bombe an Bord der Icarus II die letzte ist, die von Menschen gebaut werden konnte. Der Psychologe schlägt daher vor, die Bombe der Icarus I als zweite Optionen zu erwägen: »It’s a risk-assessment: does the risk of a detour outweigh the benefits of a second paylod?« Der Kommandant beauftragt darauf hin den Physiker Capa mit der Klärung der Frage. Während auf der Brücke die diagrammatische Projektion auf ein zweidimensionales Display ausgespielt wurde, findet sich an Bord darüber hinaus ein würfelförmiger 3D-Simulator, der zur Psychotherapie genutzt wird (›Earth-Room‹). Dieser Simulator ist nichts anderes als ein Holodeck aus Star Trek. Capa nutzt den Simulator, um den Abwurf der Bombe zu simulieren (TC 00:20:32) ( Abb. 97).

Abb. 97: Im 3D-Container: Grenzen der Berechenbarkeit (TC 00:21:08). Quelle: Eigener Screenshot aus Sunshine, Danny Boyle, DVD-Video, Twentieth Century Fox/Dune Entertainment 2007.

Bildästhetisch ist diese Szene der Explikation als dreidimensionale Modellierung der zweidimensionalen Karte der Szene zuvor umgesetzt. Entlang einer Trajektorie wird gezeigt, wie die Bombe vom Raumschiff abgekoppelt wird und auf der berechneten Flugbahn auf die Sonne zuf liegt. Gegengeschnitten mit einer Detailaufnahme von Capas Auge, in dem sich das Modell spiegelt, f liegt die Bombe auf ihrer vorberechneten Flugbahn in die Sonne. Dann allerdings stockt das Modell (TC 00:21:05) und beginnt im würfelförmigen 3D-Interface wild zu f lackern: »Reliability of projection has dropped below 45 percent. Remaining projection is not open to useful speculation. Variables infinite. Accuracy unknown«, bemerkt die Computerstimme (TC 00:21:10). In der vom Film auf das Auge Capas, also den Beobachterstandpunkt, geschnittenen Unschärfe der Simulation steckt das Problem: Aufgrund der physikalischen Verhältnisse während des Eindringens der Bombe in die Sonne verschmieren Raum und Zeit, alles ist verzerrt, nicht quantifizierbar und vorhersagbar. Auch das Modell der

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Bombe hängt in der Berechnung fest (TC 00:21:26). Die für den Hollywood-Film typische Entscheidung ›Entweder oder‹ kann nicht als Entscheidung, sondern nur als abduktive Vermutung formuliert werden: »It’s not a decision, it’s a guess.« (TC 00:21:31) Capa vermutet, dass zwei letzte Hoffnungen besser sind als eine. Also entscheidet er für den Kurs auf die Icarus I – der Kurs, der die Mannschaft ins Verderben führt. Nicht nur am Anfang, als initiale Hypothese, sondern auch am ›Ende‹ des Diagramms, wo das Diagramm in Form eines computergenerierten Modells keine Geltung mehr hat, steckt ein »Guessing«.320 Die visuelle Form des Diagramms macht im Gegensatz zu Star Trek – Generations keinen Unterschied. Die Modellierung ist bloße Veranschaulichung von Rechenprozessen. Das Unentscheidbarkeitsproblem ist keines, das in einer visuellen Repräsentation gelöst werden könnte. Auch Sunshine bestätigt den bei Star Trek – Generations beobachteten Schritt von der Zweidimensionalität in die Dreidimensionalität als Schritt von der Karte in das dreidimensionale Modell, wobei die Zweidimensionalität, wie an der Trajektorie zu sehen ist, das Strukturschema der Dreidimensionalität ist. Mit der Dreidimensionalität ›re-ikonisiert‹ sich auch das eidetische Objekt, wenngleich in dieser Szene der Mensch durch Sprachbefehle, also ein Natural User Interface, die Parameter setzt und der Computer mit dem Objekt denkt.321 Dabei bedient sich der Film einer ähnlichen Präfiguration der finalen Sequenz wie in Star Wars, sind die simulierten Ereignisse doch genau die Ereignisse, die auch im späteren Verlauf des Films auftreten. Der Subtext der Unentscheidbarkeit des Problems wird genrekonform aufgelöst, wenn Capa mitten in der beginnenden Raum-Zeit-Verzerrung zum Endkampf Mann gegen Mann antritt, siegreich aus dem Kampf hervorgeht und im wiederentzündeten Sonnenfeuer vergeht. Letztlich ist das einzige, was an Sunshine in Sachen Handlung interessant ist, das verschenkte Potenzial. Die metaphorische Parallelisierung von Sonne und Auge, Licht und Erkenntnis wird in Action-Kost aufgelöst. Allerdings zeigt Sunshine, dass der Science-Fiction-Film den Übergang aus der zweidimensionalen Karte in die Dreidimensionalität der Objektrepräsentation zum Fokus der Verschränkung von narrativen und perzeptiven Schemata macht. Karten sind in dreidimensionalen Interfaces die relationalen Kontexte von filmischen Objekten, die aus diesen Karten herausgefiltert und in modellierenden Diagrammatisierungen analysiert werden. Ende der 2000er-Jahre ist Augmented Interaction als mediale Form diagrammatischen Denkens endgültig angekommen. Ein Beispiel ist der im Universum der Alien-Filme situierte Science-Fiction-Thriller Prometheus (2012). Der Film ist ein weiteres Beispiel für den Einf luss der Alternative-History in der Populärkultur. Wo die Alternative-History kein Vertrauen in die Kontingenz kultureller Evolution auf bringt, verknüpft Prometheus die These von Eingriffen Außerirdischer in die Erdgeschichte und die menschliche Entwicklung mit einer in der Prä-Astronautik immer schon angelegten Referenz auf das ›Intelligent Design‹, die sich ähnlich schon in Mission to Mars findet. Wie in der Eröffnungssequenz zu sehen, hat eine Rasse humanoider ›Engineers‹ das Leben auf der Erde gebracht. Die Erinnerung an diesen Schöpfungsakt tradiert 320 Vgl. Peirce 2008. 321 Auch die Figur des Data in Star Trek – Generations ist ein Computer. Als selbstbewusster Androide ist er aber fortgeschrittener als der Bordcomputer in Sunshine.

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sich durch vor- und frühzeitliche sowie antike Kulturen. Ende des 21. Jahrhunderts entdecken die Wissenschaftlerin Elizabeth Shaw (Noomi Rapace) und ihr Kollege Charlie Holloway (Logan Marshall-Green) in einer Höhle auf der Isle of Skye Hinweise auf eine allen Kulturen gemeinsame Sternenkarte (TC 00:06:00): »It’s the same configuration« (TC 00:06:52), wie Holloway feststellt. Diese Karte wird als ›Botschaft‹ der Schöpfer an die Menschheit verstanden und eine Mission zu dem auf Grundlage der Karte identifizierten Planetensystem geschickt. Nach der Eröffnungssequenz erzählt Prometheus dieses Narrativ weitestgehend elliptisch. Weder werden Herleitungen der These der Wissenschaftler gezeigt, noch betreibt der Film Aufwand, das Theorem zu plausibilisieren. Mühelos schafft der Film es, eine Inferenz zu provozieren, die so aussieht: ›Piktogramm einer Sternenkonstellation‹ ›gleiches Piktogramm in verschiedenen, voneinander unabhängigen Kulturen‹ also: ›die Gemeinsamkeit zwischen den Piktogrammen ist eine Botschaft‹ ›es gab einen Eingriff Außerirdischer in die Geschichte‹ ›die Menschheit ist durch Außerirdische designt worden‹ Die Plausibilität des Alternative-History-Diskurses mag man belächeln. An seiner sozialen Wirksamkeit sollte man angesichts solcher problemloser Inferenzketten im populären Kino besser nicht zweifeln. Wie im Fall von Verschwörungstheorien oder Esoterik gehört ein Wissen um Alternative-History-Thesen zum kanonisierten Wissen des zeitgenössischen Science-Fiction-Genres. Waren es bei Ignatius Donnelly Pyramiden, die (›mysteriöserweise‹) in Ägypten, Mittelamerika und anderen Teilen der Welt, unverbunden, entstanden sind, ist es in Prometheus das archäoastronomische Motiv der Sternenkarte. Die Umdeutung der Pyramiden als Sternenkarte verdankt die Populärkultur Robert Bauval und Graham Hancock ( Kap. 6.3). Als Bauval und sein Mitstreiter Gilbert im Jahr 1994 The Orion Mystery veröffentlichten, war das die Übernahme eines mythischen Deutungsmusters, das Robert Temple 1976 unter dem Titel The Sirius Mystery schon einmal erfolgreich angewandt hatte. Temples These bezog sich auf das Volk der Dogon in Westafrika. Dem Autor zufolge, besitzt dieses Volk präzises astronomisches Wissen über die mit dem bloßen Auge nicht sichtbaren Sterne Sirius A und B. Woher kommt dieses Wissen?322 Wie der Anfang von Prometheus dokumentiert, kennt jeder vom Film implizierte Zuschauer die Antwort: von Außerirdischen, die gleich auch noch für die Entstehung anderer Hochkulturen mitverantwortlich gemacht werden können. In seinen Eröffnungssequenzen spielt Prometheus zudem mit der Transformation des Kinos durch digitale Medien. Der Androide David (Michael Fassbender) ist ein Fan von David-Lean-Filmen. Auf einer Leinwand mit einer 3D-fähigen Projektion guckt er mit Begeisterung Lawrence of Arabia (1962) (TC 00:10:35). Zuvor gibt es aber auch eine Szene, die eine Referenz an Minority Report ist. David nähert sich einer Hyperschlafkammer mit der schlafenden Shaw (TC 00:08:00). Er trägt einen Helm mit einem Head-Mounted-Display. Diese Form von Augmented Interaction ist eine Referenz 322 Vgl. Temple 1976.

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an Minority Report, weil David sich dank dieses Mediums mit dem Bewusstsein der schlafenden Shaw verbinden kann. Dies gelingt dadurch, dass die Hyperschlaf kammer offenbar, als signifikante Erweiterung der Technologie in 2001 – A Space Odyssey, die elektronischen Impulse des Nervensystems mit einem Computer verbindet. Die Hyperschlaf kammer hat eine digitale Repräsentation des Nervensystems Shaws, mit der David sich verkoppeln kann. Während er mit den Händen auf das Interface klickt, ist im unteren Teil des Bildfeldes auch zu lesen, wie das Medium heißt: Etabliert wird ein »Neuro-Visor-Link« (TC 00:08:10). Was folgt, ist die mentale Projektion des Films aus dem Kopf der schlafenden Shaw. Als digitalen Film sieht David eine Kindheitserinnerung Shaws, in der es im Angesicht des Todes und der Vergänglichkeit um unterschiedliche kulturelle Formen des Göttlichen und die freie Entscheidung geht, zu glauben, was man möchte. Dass ein Androide Schöpfungsfragen stellt, ist ein weiterer Topos der Science-Fiction, der von Regisseur Ridley Scott in Alien (1979) und Blade Runner (1982) extensiv genutzt wurde. Die für das Alien-Universum typischen Körpermetaphern werden in Prometheus in eine biogenetische Konstruktionsproblematik projiziert. Das Schöpfungsmotiv ist in einen Disput um die Autorenschaft am ›Intelligent Design‹ übersetzt. »God does not build in straight lines« (TC 00:24:16),323 heißt es an einer Stelle des Films. Ideengeschichtlich ist das Unfug, ist doch genau die ›Göttlichkeit‹ der Geometrie ein zentraler Teil ihres Mythos. ›Ungerade‹ verläuft die Evolution. Der westliche Mythos sagt: Wenn bewusste ›Schöpfer‹ und nicht die Natur am Werk sind, dann sind geometrische Formen zu finden. Deshalb kann das Narrativ in Prometheus in der Szene der Explikation so umstandslos Geltung gewinnen: Diagrammatisierung ist eine Vermessung des Mythos, indem sie den geometrisch-kartografischen Kern in allen Mythen freilegt und so die mythische Bedeutung diagrammatischer Konstruktion durch ein mit überlegenem Verstand ausgezeichnetes Schöpfungssubjekt aufdeckt. Die Deutung von historischen Piktogrammen als Sternenkarten übernimmt Prometheus in einer kurzen Explikationsszene. Die beiden Wissenschaftler erklären der Mannschaft ihre Mission. Holloway verfügt über ein Medium, das die Form eines magischen Würfels hat, also eines dreidimensionalen magischen Quadrats (TC 00:16:58). Das Quadrat als ideale geometrische Form ist das Medium. Noch mehr: Es ist, wie auch der 3D-Würfel in Sunshine, ein Medium. Der Form des dreidimensionalen Würfels ist ein mythischer Subtext eingeschrieben, in diesem Fall der Albert Einstein zugeschriebene Satz »Gott würfelt nicht«, der als Gegenteil des Satzes »God does not build in straight lines« dient. Der Würfel projiziert ein Bild in den Raum, das als holografisches Medium mit den Händen bearbeitet werden kann. In bester Minority-Report-Manier werden Fotografien der Piktogramme in einer Reihe angeordnet, welche die beiden Wissenschaftler Shaw und Holloway auf ihren archäologischen Reisen überall auf der Erde gefunden haben. Die Reihung ist eher kurios. Aufgezählt werden: Ägypter, Maya, Sumerer, Babylonier, Mesopotamier und scheinbar auch frühe mesolithische Schotten auf der Isle of Skye. Es folgt die übliche Feststellung, dass diese Kulturen keinen Kontakt gehabt haben können (TC 00:17:37). Dennoch sei auf allen diesen Bildern die gleiche Sternenkarte als Piktogramm zu erkennen. 323 In der Kognitionswissenschaft wird die Exaktheit einer geometrisch-spatialen Variablen wie einer Linie als Merkmal ihrer Nicht-Natürlichkeit gewertet. Vgl. Tversky 2011, S. 504.

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Jetzt beginnt die Beweisführung: Wie schon der Protagonist Anderton in Minority Report erfasst Holloway die Bilder des Augmented Reality-Interfaces mit den Händen und überblendet sie zu einem Bild ( Kap. 1.1). Dieses Kompositbild wird in dem verwendeten Medium holografisch in einem virtuellen Operationsraum gerahmt, der es Holloway ermöglicht, aus den jeweiligen Fotografien das relevante Piktogramm der Sternenkarte zu abstrahieren. Die Konfiguration der Punkte im Piktogramm werden dann isoliert und – erneut – als ein eigenständiges dreidimensionales Objekt in den holografischen Raum projiziert. War die Beweisführung der Überblendung eine zweidimensionale und lag die Dreidimensionalität in der Möglichkeit, die Holloway hat, die Bilder mit Gesten zu analysieren, so wird das ›eidetische Objekt‹ jetzt zu einem dreidimensionalen Objekt (TC 00:17:51). Parallel dazu verwandelt sich auch das holografische Bild von einer zweidimensionalen Fläche in einen dreidimensionalen Raum, und zwar einmal mehr den dreidimensionalen Raum eines Planetariums ( Abb. 98).

Abb. 98: Die Projektion der unterschiedlichen Bilder (TC 00:17:40). Quelle: Eigener Screenshot aus Prometheus – Dunkle Zeichen, DVD-Video, Ridley Scott, Prometheus to Alien Evolution 5-Disc-Set, Twentieth Century Fox 2012.

Holloway bewegt das dreidimensionale eidetische Objekt, das in seinem Eidos als ›Sternenkarte‹ erkannt worden ist, in die Tiefe des (Welt-)Raums. Die Prämisse für die Deutung des Objektes als Sternenkarte wird dabei in dem Umstand gesehen, dass die Konfiguration der Punkte auf den archäologischen Bildern immer Szenen gezeigt hat, in denen Menschen übernatürlich große Humanoide (die ›Engineers‹) verehren und durch sie unterrichtet werden. Diese Prämisse wird im Film beiläufig erwähnt, ist aber entscheidend. Eine Szene der Explikation – die Szene mit Holloway und Shaw – zeigt hier nämlich eine Szene der Explikation: die in den archäologischen Bildern gezeigte Szene. Im Film wird ein Zeigen in den Bildern durch Diagrammatisierung ausgelegt, und zwar so, dass das Zeigen in genau derjenigen diagrammatischen Konfiguration inszeniert wird, die durch die Szenen in den archäologischen Bildern gezeigt wird. Dafür wird die Szene auf dem Piktogramm als das Zeigen einer Karte identifiziert, diese Karte als eidetisches Objekt diagrammatisiert und auf eine Karte, die des Weltraums, projiziert. Die Diagrammatisierung identifiziert das Territorium, das es im Film zu bereisen gilt. Dargestellt werden alle Schritte einer Rhetorik der Diagrammatisierung ( Kap. 6.2.4 u. 6.3.1):

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• schematisierend ist die Etablierung eines Deutungsschemas für die Konfiguration der Punkte; • abstrahierend ist das Verfahren, in den Piktogrammen die Konfiguration der Punkte zu isolieren und die Bilder in einer zweidimensionalen Fläche ›zusammenzuziehen‹; 324 • idealisierend ist die Isolation des Objektes und die ontologisierende Übersetzung in eine dreidimensionale Form (analog zum dreidimensionalen Würfel, der ein zweidimensionales magisches Quadrat symbolisiert); • modellierend ist die folgende Integration des eidetischen Objektes in die dreidimensionale Sternenkarte: Das eidetische Objekt wird in der Szene zu dem Planetensystem, welches das Ziel der Reise bildet. Die Dreidimensionalität des Objektes wird in ein Modell der Planeten überführt (TC 00:18:06). Dieser Akt der Explikation schafft als Szene im Plot ein Schema des Narrativs, das im folgenden Film dann in der Story eingeholt wird. Die Szene der Explikation funktioniert als Metapher für die Rationalität des Mythos und seine »mythische Kartografie« (Ernst Cassirer). Die in der zeitgenössischen Populärkultur so akzeptierte Praxis der Vermessung von Mythen auf einen ihnen unterstellten fortgeschrittenen Wissensstand hin, erfolgt nahezu immer am Beispiel diagrammatischer Formen (Piktogrammen, aber auch der Geometrie der Pyramide etc.). Was man mit Prometheus und seiner verqueren Schöpfungsgeschichte daher auch sagen kann ist: Ideologiekritisch betrachtet sind Diagrammatisierungen dieser Art rekolonialisierende Formen der Projektion des Mythos geometrischer Klarheit auf andere Kulturen. Auf der medienref lexiven Seite führt Prometheus dagegen vor, dass die Überblendung von 2D-Karte und 3D-Objektrepräsentation eine Evolution in der Komplexität von Szenen der Explikation darstellt. Dem Übergang zu Augmented Interaction folgend, zeigen sie eine Tendenz zur immersiven Integration des Körpers in die Prozesse der Explikation, die in die 3D-Modellierung jene Objektmanipulierbarkeit hineinprojiziert, die vor dem geistigen Auge existiert. Die Projektion von 3D-Modellen auf Grundlage von 2D-Karten, die als Karten des Narrativs immer auch schematisch auf das filmische Territorium verweisen, illustriert eine Schichtung innerhalb von Szenen der Explikation: Es gibt eine durch ein Medium vom Territorium isolierte Karte und es gibt das Modell, das in dieser Karte verortet ist und das zu einem eidetischen Objekt innerhalb des Films wird.

7.2.8 Zusammenfassung: Explikation als ›Display‹-Effekt Eine der Ausgangsüberlegungen lautete, dass Metaphorisierungen von Denken im Spielfilm unter Rekurs auf diagrammatisches Denken dargestellt werden und in diesem Kontext auch filmische Metaphern durch die Epistemologie der Diagrammatik erklärt werden können. Im Kern besagt diese These, dass Metaphorisierung des Denkens nicht einfach nur eine Darstellung von Denken als ›diagrammatisch‹ ist, sondern im Sinne der These einer doppelten Metaphorisierung ( Kap. 3.3.5) ein Denkbild erzeugt, das Grundeigenschaften von Denken im Vollzug mitausstellt.

324 Vgl. Latour 1990.

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Bewährt hat sich die medientheoretische Überlegung, Diagrammatisierungen als explikative Transkriptionen zu fassen. Sofern diagrammatisches Denken ein bewusstes Denken ist, zeigt der Film das Denken als einen Prozess der Explizitmachung, das heißt hier als einen Prozess der dynamischen und schrittweisen Konkretisierung eines Objektes. Dabei hat sich herausgestellt, dass in Szenen der Explikation auf Diagrammatisierungen referiert wird, weil durch diese Praktiken die Explikation eines Objektes als das Problem des Anschlusses in einer Struktur thematisiert und mit einer auf Verräumlichung basierenden Rhetorik der Evidenz verknüpft werden kann. Die gesichteten Formen der metaphorischen Thematisierung von Denken im Spielfilm referieren dabei zunächst insbesondere auf die Darstellung von Diagrammatisierungen erster Stufe. Diagrammatisierungen erster Stufe sind besonders bei der Hinführung auf die Visualisierung epistemischer Evidenz im Film von Interesse. Epistemische Evidenz lässt sich anhand der Beispiele definieren als eine Art und Weise, ein ›Schema‹ vor Augen zu haben. Das Durchspielen der jeweiligen als ›Diagramm‹ gefassten Konstellation ist nicht nur eine Rekonfiguration, sondern auch die Restitution eines Evidenz-Effektes: Smiley aus Tinker Tailor Soldier Spy ›sieht‹ den Verschwörer, Shaughnessy in Ryan’s Daughter ›sieht‹ das Liebespaar, Kujan in The Usual Suspects ›sieht‹ das Lügengebäude, Nash in A Beautiful Mind ›sieht‹ das Theorem. In allen Fällen dreht sich die Story um ein Wahrnehmungsschema, das ein Deutungsschema evoziert. Die Metaphern ›Denken ist Bewegung‹ und ›Denken ist Objektmanipulation‹ bilden dabei einen verschieden gewichteten semantischen Rahmen dieser Szenen. Dieses (Wieder-)Herstellen von Evidenz funktioniert im Rahmen typischer diagrammatischer Erkenntnisschritte. Alle Beispiele referieren auf die Diagrammatisierung von Zeichen der Objektrelation, also (akustische oder optische) Ikons, Indices und Symbole. Jeweils ist zu erkennen, dass die Diagrammatisierung von Zeichen der Objektrepräsentation in Richtung medialer Transkription tendiert: Smiley arbeitet mit einem Tonband und projiziert seine Einsichten auf einen imaginären Raum, in Nashs Kopf ist während seiner Einsicht ein an das Theater angelehntes szenisches Geschehen zu sehen, Shaughnessy imaginiert sich eine Szene in Form eines Films im Film, gleiches gilt – eine Stufe abstrakter, weil über die Tonebene inszeniert – für Kujan, für den sich an der Pinnwand das (filmische) Geschehen im Kopf neu anordnet, also die Wahrnehmung eine neue Deutung entwickelt. Auch die Analyse von A Beautiful Mind hat mit der Umfunktionierung von Wänden und Böden zu Pinnwänden und der Karte sehr deutliche Beispiele für Bezugnahmen auf Diagrammatisierungen erster Stufe im Film geliefert. Mitunter versetzt sich der Film in die Position, in seiner Formenbildung selbst ein Medium ›metaphorischen Sehens‹ zu sein, exemplarisch wurde die metaphorische Anspielung auf eine durch Gleise und Züge konnotierte Dynamik eines Erkenntnisprozesses in Tinker, Tailor, Soldier, Spy genannt. Was das Spiel mit Deutungsschemata betrifft, geht Inception auch dank seiner Einbindung von Verweisen auf Diagrammatisierungen zweiter Stufe – hier den Diagrammen in den Skizzen, die im Film gezeigt werden – von den diskutierten Beispielen am weitesten: Die Träume werden als Diagramme entworfen und dann als Schemata in der Entfaltung des Narrativs nachvollziehbar gemacht. Diagrammatisierungen zweiter Stufe erscheinen als explizite Designprozesse für ein nach dem ›Container‹-Schema organisiertes Narrativ. Die Organisation der Traumlevel in diesem Film folgt der ›eingebauten‹ Logik der ›Image schemas‹ und wird als solche im Narrativ im Rahmen der geschilderten Diagrammatisierung zweiter Stufe ref lexiv

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thematisiert. Die ›Image schema‹-Logik des ›Container‹- und des ›Out‹-Schemas führt die Idee einer strukturellen Verbindung zu einem ›Außen‹ als eine Möglichkeit des Films ein, implizites Wissen zu thematisieren. In Inception wird somit erkennbar, dass diese metaphorische Funktion in der Referenz auf die diagrammatischen Skizzen – im gegebenen Fall das Traumdesign durch Ariadne – zur Metapher für das Design der strukturellen Logik des Films wird. Diese Metaphorisierung von Bewusstseinsinhalten eröffnet aufgrund ihrer Verf lechtung eine Möglichkeit der Visualisierung impliziten Wissens, das als Wissen um das ›Außen‹ zu einem Subtext der filmischen Thematisierungen von Explikation (in der ganzen Breite des Begriffs) wird. Die rhizomatische Verwirrung des Protagonisten in A Beautiful Mind ist dafür ein einfaches Beispiel. Nach dem Plot-Twist ist klar, welcher Teil der Story ›real‹ und welcher ›Wahn‹ war. Dass aber die Strukturalität der filmischen Formenbildung im Narrativ als Metapher mitverhandelt wird, ist auch hier nicht abzustreiten. Die Skizzen und Diagramme, die Nash zeichnet, werden im Verlauf des Films parallel zu seinem Genesungsprozess immer geordneter. Die Metaphorisierung von bewusstem Denken unter Referenz auf Praktiken der Diagrammatisierung gewinnt also selbst eine metaphorische Funktion für die Story: Das ›Diagramm‹ ist eine Form rationaler Klarheit und des irrationalen Wahns. Inception und A Beautiful Mind liefern auch einen motivischen Rahmen hierfür: das Labyrinth. In den genannten Spielfilmen beschränken sich die Bezugnahmen auf die Diagrammatik daher nicht auf eine symbolische Funktion von Diagrammen. Die filmische Thematisierung von Explikation ist eine Explikation im Zeigen, im Vollzug eines ›display‹. Dieser aus der Diagrammatik-Forschung entnommene Begriff kann dort ansiedelt werden, was anhand der Filme, in denen Denken von ›Innen‹ (also im Bewusstsein) gezeigt wird, mit Galloways »Intraface« bezeichnet wurde. Jede Thematisierung von Denken als diagrammatischem Denken im ›Inneren‹ stellt eine Beziehung zu einem ›Außen‹ her. Dieses Außen kann intradiegetisch bleiben (so im Fall von Tinker Tailor Soldier Spy) oder aber die Grenze von Diegese und Film selbst zum Spielfeld machen, wie etwa in Inception. In jedem Fall aber ist die Beziehung zumeist »workable« in dem Sinn, dass nach ›Innen‹ ein komplexes Spiel der Veranschaulichung von Denkprozessen entfaltet wird. In jedem Fall gilt dabei auch, dass Metaphorisierungen von Denken als ›diagrammatisch‹ nicht von der Metaphorizität der medialen Formenbildung des Films bei der Darstellung von Bewusstsein isoliert werden können, so etwa in Form der Überblendung oder den vielfältigen ›Top Down‹-Perspektiven in A Beautiful Mind. Dieser zunächst triviale Befund wird vor allem dann wichtig, wenn Szenen der Explikation nicht mit einer Darstellung des ›Inneren‹ von Bewusstsein verbunden werden. In diesem Fall gewinnt nämlich die Markierung eines Operationsraums, anhand dessen eine Aussage über die Strukturalität des Films getroffen wird, an größerer Bedeutung, was neben den selbst- auch die medienref lexiven Momente der Metaphorisierung von Denken hervortreten lässt. Ausgehend vom Paradigma der Binnenkadrierung und seiner bildschematischen Funktion sind die der Sache nach bereits in Voyage dans la lune vorhandenen Szenen der Explikation selbstreferenzielle Elemente der filmischen Strukturbildung. Dabei ist zunächst der Möglichkeitsüberschuss technischer Bildmedien (Teleskop, Fotografie) ein häufig gewählter Anlass für Diagrammatisierungen. Filmästhetisch werden Diagrammatisierungen zur Transkription in Frage stehender und als problematisch markierter Objekte in eidetische Objekte verwendet. Das Rekonfigurieren von Wahr-

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nehmungsschemata wird, gebunden an besagte räumliche Sonderzonen, somit ausdrücklich zu einem ›medialen‹ Akt im Film, bei dem die Herstellung epistemischer Evidenz als ein Prozess erscheint, der von der Manipulation eines medialen Präskripts abhängt. In Blow-Up kommt der Effekt zustande, indem der Film die Diagrammatisierung von Fotografie zeigt. Wesentlich ist die Exposition einer idealen Situation ›purer‹ Ikonizität und ihre Transformation durch die Kamera des Fotografen. Der »autologische Schluss« (Niklas Luhmann), dass das Verhältnis von Karte (den Hypoikons in der Fotografie) und Territorium (den ›puren‹ Ikons, wie sie vor der Fotografie vorhanden waren) auch für die filmische Struktur gilt, erlaubt es, die Diagrammatisierungen in Szenen der Explikation als implizite ›Strukturbilder‹ des Films zu begreifen, die Rekonfigurationen von Wahrnehmungs- und Interpretationsschema beschreiben. Sie begegnen auch im Plot-Twist von The Usual Suspects oder im Design der Diagramme in Inception. Die selbstreferenzielle Verwicklung mit der Struktur des Films ist allerdings in Szenen der Explikation dann am besten erkennbar, wenn Filme auf mediale Transkription durch ›zukünftige‹ Interfaces setzen, die als mögliche Medialität der Karte inszeniert sind. Die abschließenden Beispiele verschiedener Szenen aus dem Science-Fiction-Film haben gezeigt, wie Szenen der Explikation als Szenen der digitalen Objektkonstitution entworfen werden. Dominant ist die Relation zwischen Karte und Objekt, die in den dreidimensionalen Räumen der digitalen Objektmanipulation die Modellierung im Science-Fiction-Film zur vorherrschenden Form in Szenen der Explikation werden lässt: Modellierende Diagrammatisierung gewinnt als Prozess der manipulierenden Vergrößerung von Objekten, die innerhalb von Karten ›verzeichnet‹ sind, an Gestalt. Derartige (Re-)Ikonisierungen verwandeln eidetische Objekte aber auch in Objekte, die einer medientechnischen Tendenz zur Integration der Körperlichkeit des Denkens folgen. Die Metapher ›Denken ist Objektmanipulation‹ etabliert sich als Leitmetapher des Denkens im Medium grafischer, auf Augmented Interaction basierender ›Holo-Medien‹. Diagrammatisierungen gehören zu denjenigen Praktiken, die für die Art des Denkens in derartigen Mediendispositiven prädestiniert sind. Die, so etwa im Fall von Minority Report, semi-fiktionalen Mediendispositive illustrieren, dass die Schritte der abstrahierenden und der idealisierenden Diagrammatisierung – sichtbar etwa im Fall der Logik der Vergrößerung in Star Trek – Generations – standardisierte Manipulations-Operationen des Mediums sind. Das mit der Hand arrangierte Geschehen in Blow-Up wird zu einer modularisierten Option innerhalb computerbasierten Interfaces. Der an den Beispielen aus dem Science-Fiction-Film zu beobachtende Schritt von der zweidimensionalen Karte in einen dreidimensionalen, projizierten Objektraum kann daher als Versuch einer medientechnischen Operationalisierung von ›Denk‹-Potenzial aufgefasst werden. Eben dieses Potenzial war in Diagrammen und den Prinzipien des Denkens mit ihnen immer schon enthalten. Die (Re-)Ikonisierung von Objekten aus den Diagrammen (Karten) ist jedoch zugleich eine Art ›Grounding‹ dieses Denkens als ein verkörpertes Denken. Lev Manovichs Analogie, die Ästhetik der Motion Graphics als ›Karten‹ zu verstehen, die ›größer‹ als ihr Territorium sind, kann somit eine andere Bedeutung abgerungen werden. Die Beispiele aus der Science-Fiction sind mit der filmstrukturellen Bedeutung von Szenen der Explikation verknüpft, wie sie auch in Filmen wie JFK zu finden sind. Die Besonderheit von JFK liegt in der ref lexiven Beziehung seiner Szene

7. Metaphern diagrammatischen Denkens im Spielfilm

der Explikation zu einem typischen Trägersegment für Motion Graphics: dem Vorspann. Die Szene der Explikation in JFK ist dem ›dichten‹ Vorspann des Films strukturell darin ähnlich, dass sie eine Vielzahl an Möglichkeiten der Diagrammatisierung präfiguriert: Diagramme, eine theatrale Choreografie aus Statisten und einem Modell, Idealisierung und Modellierung, schließlich auch noch Abstraktion, wenn Garrison den Zapruder-Film auslegt. Der Aufwand in der Szene ist konsequent, wenn man den Vorspann des Films als Präskript versteht, das in der Transkription ausgelegt wird. Die Analyse von JFK zielte daher auf den Vorspann als einen Ort der Schematisierung des Geschehens und damit als einen impliziten Referenzrahmen des weiteren Geschehens. Die Referenz auf Diagrammatisierungen in der Szene geschieht in der Absicht, mit dem Höhepunkt der Auslegung des Zapruder-Films durch Garrison, Deutungsschemata für das Wahrgenommene zu plausibilisieren. Referenzen auf die Diagrammatisierungen dienen dazu, metaphorische Wahrnehmungsschemata mit narrativen Deutungsschemata aufeinander zu beziehen. Dort, wo diese Wahrnehmungs- und Deutungsschemata variiert werden, ist im Spielfilm die Tendenz zu beobachten, entweder Bezüge zum impliziten Wissen thematisch werden zu lassen oder aber ein implizites Strukturbild filmischer Teil/Ganzes-Relationen als implizites Präskript zu positionieren. Im zweiten Fall zeichnete sich dabei ab, dass das Potenzial des ›Denkens‹, das Diagrammatisierungen zugeschrieben wird, über eine dreidimensionale Formenbildung vermittelt wird. Das ist insofern bemerkenswert, als das Medium Film damit eine plastische Dimension der Diagrammatik einholt, die oft unterbetont wird. Ist dieses 3D-Diagramm in Star Wars zunächst ein Modell, das via eines ›Films im Film‹ in den Film integriert wird, so wird es seit den 1990er-Jahren zu einem Modell, das als Augmented Interaction mitten in das filmische Geschehen verlegt wird. In Szenen der Explikation kann man daher auch die Ära eines am Computer ›designten‹ Bilds erkennen, das filmästhetisch als neue Metasprache des bewegten Bildes in seinem Aktionspotenzial, also der Frage, was mit ihm getan werden kann, ref lektiert wird.325 Der Schritt folgt einer verräumlichenden und darin auf die Diagrammatik verweisenden Metaphorisierung des Denkens: ›Denken ist Objektmanipulation‹, ›Denken ist Bewegung‹, ›Denken ist Wahrnehmen‹ (speziell: Sehen) – und jeweils gilt auch: ›Denken ist Kraft‹. Wenn die Beispiele eine komplexer werdende Schichtung von Diagrammatisierung und Praktiken der medialen Transkription zeigen, in der zum Zweck der Manipulation dreidimensional diagrammatisierte Objekte aus einer zweidimensionalen diagrammatischen (›kartografischen‹) Fläche entstehen, dann läuft der Prozess im Fall der dargestellten Explikationen darauf hinaus, Metaphern des verkörperten Denkens als ein Telos filmischer Narrative aufrecht zu erhalten. Festzuhalten ist somit, dass die Medienästhetik der Diagrammatik sich am Beispiel von Metaphorisierung des Denkens im Film als die Ästhetik eines ›Display‹-Effektes ausbildet. In Szenen der Explikation ist dies – filmphilosophisch unter anderem als ein Spiel mit Binnenkadrierungen fassbar – bis zu dem Punkt zu verfolgen, dass die Interfaces computerbasierter Medien zu den Orten diagrammatischen Denkens werden. Ein weit gefasstes Diagrammatik-Verständnis, das sich an der funktionalistischen Perspektive auf die Diagrammatik von Peirce orientiert, kann dies beschreiben. Allerdings muss als Kritik dieser Theorie festgehalten werden, dass diagrammatische 325 Vgl. auch Manovich 2013, S. 254ff.

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Display-Effekte, die hier als Interface-Effekte offensichtlich werden, sich nur einem Verständnis von Diagrammatisierung als transkriptiver Explikation in einem spezifischen, wenngleich variablen, Kontext medialer Verräumlichung ergeben. Der diagrammatische Display-Effekt ist als Evidenz ein zwar variabler, aber situativ spezifischer Effekt. Abstrakt, wie dies klingen mag, illustriert diese Perspektive, dass sie – am Beispiel überwiegend homogener Beispiele (Genrefilme) eine große Heterogenität von Formen ›diagrammatischer Interpretationen‹ im Film sichtbar macht. Das Überspringen einer diagrammatischen Filmästhetik, für das sich Johanna Drucker unter Vorzeichen des Medienwandels entscheidet, ist in dieser Hinsicht medienästhetisch problematisch. Die Beispiele zeigen vielmehr, dass es gute Indizien dafür gibt, dass der Film ein Medium ist, in dem durch die entsprechende Metaphorisierung diagrammatisches Denken jene postdigitale Informationsästhetik, wie sie Drucker vorschwebt, überhaupt erst präfiguriert wird.326

326 Ein außerordentlich interessantes Konzept, die vorliegenden Überlegungen weiterzudenken, liegt mit der neueren Theorie filmischer bzw. ›cinematischer‹ (»cinematic metaphor«) Metaphern vor. Vgl. insb. Müller/Kappelhoff 2018. Dort wird ebenfalls auf die Heterogenität dieser Metaphern verwiesen.

8. Schluss und Ausblick Die Ergebnisse der vorliegenden Studien verteilen sich auf drei Felder: philosophische Grundlagen, Medientheorie und Medienästhetik sowie Filmästhetik und Filmanalyse. In allen drei Bereichen wurden theoretisch-systematische Ideen zur Diagrammatik und ihrer Anwendung auf medienwissenschaftliche Forschungsfragen vorgestellt. Zum Abschluss sollen diese Ergebnisse zusammengefasst und mit einem knappen Ausblick verbunden werden. Diente die exemplarische Lektüre des Anfangs von Minority Report der Einführung wesentlicher Motive der Arbeit, so beginnen die Ausführungen in Kapitel 2 mit Überlegungen zu den philosophischen und medientheoretischen Grundlagen und Kontexten der Diagrammatik. Der durchaus streitbare Schritt, an einem weit gefassten, funktionalistischen Begriff von Diagrammatik festzuhalten, wurde mit der Idee gerechtfertigt, die Diagrammatik unter Rückgriff u.a. auf Gedanken von Robert Brandom und der pragmatistischen Gesellschaftstheorie von Joachim Renn als eine Praxis der Explikation zu verstehen und auf das Karte/Territorium-Verhältnis als zeichentheoretische Grundunterscheidung zu beziehen. Dabei wurde mit Blick auf Sybille Krämer und Hartmut Winkler argumentiert, dass die Diagrammatik – verstanden als ein Bündel von Praktiken der Explikation – eine pragmatistisch inspirierte Epistemologie in die Medientheorie einbringt. Von dieser Epistemologie lässt sich im Einklang mit Ludwig Jägers Theorie medialer Transkription sagen, dass die Explikation von implizitem Wissen für sie paradigmatisch ist. Der Frage nach der Explikation von implizitem Wissen kommt für einen weit gefassten Begriff von Diagrammatik, wie er etwa auch von Frederik Stjernfelt vertreten wird, eine systematische Bedeutung zu, die aus medienwissenschaftlicher Sicht bisher unterschätzt wurde. Dieser Ansatz mündete in das Theorie-Angebot, das Problem der Evidenz zu einem zentralen Phänomen zu erklären und Diagrammatik-Begriffe in die Dreigliederung von ›perzeptiver Diagrammatizität‹ sowie ›Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe‹ zu unterteilen: Während die perzeptive Diagrammatizität die der Kognition zugerechneten Aspekte von Diagrammatik betrifft, lässt sich die Diagrammatisierung erster Stufe als explikative Praxis der Betrachtung von Objekten verstehen, die Diagrammatisierung zweiter Stufe ist dagegen ein Begriff für das Denken mit Diagrammen im engeren Sinn. Daran anschließend hat die Lektüre von Charles S. Peirce in Kapitel 3 aufgezeigt, dass sich die Peirce’sche Diagrammatik nicht nur mit diesem Ansatz vereinbaren lässt, sondern auch die Bedeutung von implizitem Wissen antizipiert und in das Konzept eines diagrammatischen ›Denkbildes‹ aufnimmt. Die in der Lektüre vollzogene Unterteilung des Peirce’schen Ansatzes in Schema, Diagramm und Denkbild konnte

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die Erkenntnisdynamik der Peirce’schen Diagrammatik mit ihrer Emphase auf der Selbstref lexivität des Denkens im Diagramm dabei konturieren, ohne näher auf die Existenziellen Graphen einzugehen.1 Versucht wurde, den Fokus auf die ästhetischen Implikationen der Diagrammatik freizulegen, die sich insbesondere in einem Moment der ›Kraft‹ diagrammatischer Evidenz manifestieren. Die Unterscheidung in eine Diagrammatisierung erster und zweiter Stufe, konzipiert man sie aus dem Peirce’schen Denken heraus, beruht dabei ebenfalls auf einer implizit-›perzeptiven‹ Diagrammatizität. Diese Lektüre erfolgte mit dem Zweck zu erläutern, inwiefern Diagramme nach Peirce einerseits Medien des Vollzugs von Denken sind, andererseits aber idealtypisch auch für das ›Denken‹ im Ganzen stehen. Etabliert wurde dabei die Möglichkeit, diese Verschränkung als »doppelte Metaphorisierung« zu fassen. Diagramme stehen demnach einerseits metaphorisch für das Denken, andererseits existieren – durch den Rückbezug von Diagrammatisierungen beider Stufen auf implizite Wahrnehmungsschemata – Hinweise darauf, dass metaphorisches Denken selbst eine diagrammatische Dimension aufweist. Wie sich im Bezug auf Peirces Verständnis der epistemischen Evidenz von Diagrammen gezeigt hat, stößt die Peirce’sche Diagrammatik allerdings hier auch an gewisse Grenzen. Peirce liefert nur ein rudimentäres Metaphernkonzept und hat auch keinen differenzierten Begriff für implizites Körperwissen. Soll das diagrammatische Denkbild mit Qualitäten wie einer ›Kraft‹ ausgezeichnet werden, berührt die Diagrammatik Konzepte des ›Embodiments‹, die in der Semiotik nur schwer einzulösen sind. Als Zwischenschritt, der zur Veranschaulichung dieser Ideen diente, bezog Kapitel 4 die theoretischen Perspektiven dann auf ein Filmbeispiel. Referierend auf eines der historischen Schlüsselbeispiele für diagrammatisches Denken überhaupt – die Entdeckung der Ellipsenförmigkeit der Planetenbahnen in der Astronomie – wurde im Rahmen des Spielfilms Agora die Abfolge einer in einem ›diagrammatisierenden‹ Sehen eingelagerten ›Einsicht‹, ihre Interaktion mit der Umwelt erster Stufe und vor allem ihre Explikation in einer Diagrammatisierung zweiter Stufe illustriert. Dabei kam mit der metaphorischen Dimension ausgewählter Szenen des Films unterschwellig eine Größe ins Spiel, die auf eine implizite Diagrammatizität in filmischen Metaphern hindeutet. In Kapitel 5 wurde der Gedankengang in der Auseinandersetzung mit der Kognitiven Semantik und ihrer Metapherntheorie fortgeführt. In diesem Theoriekontext findet sich mit dem Begriff der ›Image schemas‹ ein Konzept, das erklären kann, inwiefern das semiotische Verständnis eines diagrammatischen Denkbildes in impliziten Wahrnehmungsschemata gründet und von ihnen eine ästhetische Qualität erhält. ›Image schemas‹, so wie sie insbesondere bei Mark Johnson und George Lakoff beschrieben werden, sind das Fundament der Diagrammatik im impliziten Wissen und zugleich diejenigen Schemata, über welche die Metapher in Relation zum Denkbild steht. Diese Perspektive wurde genutzt, um den bereits bei der Diskussion der theoretischen Grundlagen und Kontexte angedeuteten Bezug der Diagrammatik zu einem ›metaphorischen Sehen‹ aufzugreifen und mit einer Diskussion von Analyseperspektiven auf Ebene von Diagrammatisierungen zweiter Stufe zu verbinden, die insbesondere an Jan Wöpkings Überlegungen zur Diagrammatik anknüpft. Zum Ende der Ausführungen hin wurde der ästhetische Argumentationsstrang wieder aufgegriffen 1 Vgl. Meyer-Krahmer 2012.

8. Schluss und Ausblick

und über den Hinweis auf das Phänomen der ›dunklen‹ Seiten von Diagrammatik eine Brücke in Richtung stärker medienästhetischer Perspektiven entworfen. Kapitel 6 führte die Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen und Kontexten fort. Unter Rückgriff auf Michael Lynchs Überlegungen entwickelte das Kapitel ein Grundverständnis für die Rhetorizität von Diagrammatisierungen, welche aus Differenzen wie Bild und Schrift heraus ihr Kapital schlägt. Diese rhetorische Dimension von Diagrammatisierung schließt indirekt an besagte ›dunklere‹ Seite der Diagrammatik an, sofern sie nicht nur die Untersuchung rhetorischer Funktionen von Diagrammatisierungen in der Wissenschaft demonstriert, sondern auch das Feld der Verwendung von Diagrammatisierungen in pseudo- bzw. parawissenschaftlichen Diskursen. Die anschließenden Fallstudien zeigten anhand des pseudo- bzw. parawissenschaftlichen Diskurses der sogenannten ›Alternative-History‹, welche Funktionen Diagrammatisierungen im Auf bau spekulativer Deutungsmuster haben. Adressiert wurde damit der Umstand, dass die philosophische Diskussion um die Diagrammatik einen kulturwissenschaftlichen ›blinden Fleck‹ hat. Die Philosophie thematisiert – aus guten Gründen – die logischen Potenziale von Diagrammen. Sie tendiert aber zu einem ›Logozentrismus‹, der für die Medienwissenschaft nicht gangbar ist. Diagrammatisierungen spielen naturgemäß in einer Vielzahl von Diskursen eine Rolle, wo sie mit den Möglichkeiten verschiedener Medien verschränkt sind. Aufgearbeitet wurde deshalb die Frage, inwiefern Diagrammatisierungen als Praktiken der Explikation auf die (Re-)Stabilisierung von epistemischer Evidenz unter den spezifischen Möglichkeitsbedingungen technischer Medialität abzielen. Als diskursive Praktiken sind Diagrammatisierungen in den analysierten Kontexten Verfahren zur Umdeutung von Möglichkeitshorizonten, die an der Grenze von Semiose und Technik entstehen. Diagrammatisierungen dienen in pseudo- bzw. parawissenschaftlichen Evidenzverfahren zum Entwurf ›alternativer‹ Narrative, die f lankierend zu etablierten wissenschaftlichen Narrativen entwickelt werden und den Status von ›Postskripten‹ im Jäger’schen Sinne haben. Auf Grundlage der Unterscheidung in Schematisierungen, Abstraktionen, Idealisierungen und Modellierungen ist ein Zusammenhang sichtbar geworden, in dem sich die Praktiken der händischen Skizze, wie angesichts des Medienwandels zur digitalen Bildproduktion zu erwarten, mit denen der digitalen Berechnung von dreidimensionalen Modellen verbinden. Die anschließende Zuspitzung auf den Spielfilm thematisierte das u.a. bei Johanna Drucker exponierte Forschungsproblem, den Film auch jenseits der Repräsentation von Skizzen, Karten, Diagrammen etc. als relevant für eine diagrammatische Epistemologie zu erachten. Unter Einbindung verschiedener neuerer Ansätze, etwa Gedanken von Sybille Krämer und Alexander Galloway, verknüpfte das Kapitel die filmästhetische Relevanz der Diagrammatik mit einer Diskussion der filmischen Metaphorisierung von Denken. Angesichts der Komplexität der filmtheoretischen Debatte wurde ein begrenzter Ansatz gewählt, der einerseits gut an die zeitgenössische Forschung anschließbar ist, andererseits die tiefergreifende Relevanz einer diagrammatischen Epistemologie demonstrieren kann. Der Bezugspunkt war dabei ein übergreifender Begriff von Szenen der Explikation, der zwei Formen der Metaphorisierung von Denken als diagrammatischem Denken erschließt: solche, die das ›Innere‹ des Bewusstseins zeigen, und solche, die das nicht tun. In exemplarischen Studien wurde dabei gezeigt, dass der Film da, wo er Strukturen des Bewusstseins oder aber bewusstes schlussfolgerndes Denken darstellt, dazu neigt, dies einerseits unter me-

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

taphorischem Bezug auf die Diagrammatik zu tun, andererseits aber als Bildbedeutungsgeschehen auch durch diagrammatische Verfahren in seiner Formenbildung zu veranschaulichen. Soweit aus den diskutierten Beispielen zu entnehmen, fokussiert der Spielfilm speziell auf die Übergänge zwischen Bewusstseinszuständen und setzt sich dabei auch in Beziehung zu einer ›labyrinthischen‹ Diagrammatik des Wahns, also eben zu jener ›anderen‹ Seite der Diagrammatik. Dies wurde im Folgenden mit einem zentralen Aspekt der Bedeutung der Diagrammatik für ›filmstrukturelle‹ Dynamiken verknüpft. Diagrammatisierung bezieht sich – auf sehr verschiedenen Ebenen filmischer Ästhetik – auf die interpretative Vermutung, dass ›noch mehr‹ im Bild ist, z.B. in Binnenkadrierungen oder einem Vorspann. Dabei wird ein implizites Wissen um die Prozessualität filmischer Strukturen aufgerufen, das sich unter den ref lexiven Bedingungen filmischer Modernität zunehmend in ein explizites mediales Verhältnis von Präskript und Transkript verwandelt, in dem die Funktion der Explikation zu einem Kristallisierungspunkt medialen Wandels wird. Wie insbesondere am Beispiel der filmischen Repräsentation von Interfaces in Szenen der Explikation gezeigt wurde, werden Diagrammatisierungen als Problematisierungen des Referenzverhältnisses von Karte und Territorium zu Strukturbildern der Narration. Trotz des ausgreifenden und integrativ angelegten Argumentationsganges sind viele Fragen offengeblieben. Der Fokus der Arbeit lag auf der kognitiven und der semiotischen Seite von metaphorischen Inferenzen als einem derjenigen Bereiche, in dem die Diagrammatik für die Medien- und Filmtheorie von Interesse ist. Die materiellen und technischen Grundlagen von Diagrammatik wurden vergleichsweise wenig beachtet. Diese durchaus nicht unproblematische Entscheidung wurde getroffen, weil ein pragmatistisches Verständnis der Epistemologie der Diagrammatik zur Debatte stand, dessen aufgerufene Referenzen eher in der Theorie sozialer Praktiken als in der Archäologie von Medientechnologien liegen. Diese Schwerpunktsetzung erfolgte dabei auch deshalb, weil Fragen der Kognition und Perzeption auch in praxistheoretischen Kontexten ein größeres Thema spielen müssen, will man zukünftig eine Gesamtperspektive für diagrammatische Epistemologie und ihre medialen Grundlagen entwickeln. Filmtheoretisch betrachtet, war es ursprünglich eine der Ausgangsideen des gesamten Projekts, ein Verständnis von Diagrammatik in der Verknüpfung von Charles S. Peirce mit Gilles Deleuzes Filmphilosophie zu formulieren. An diese Stelle ist jedoch, in Abstimmung mit der hier vertretenen theoretischen Perspektive auf die Diagrammatik, im Projektverlauf eine vom Embodiment her argumentierende Theorieperspektive getreten. Die Engführung der filmtheoretischen und filmanalytischen Adaption mit Überlegungen zur Theorie der filmischen Metapher hat gezeigt, dass gerade über die Metaphorisierung von schlussfolgerndem Denken Beziehungen zwischen Diagrammatik und Film hervortreten, die auch filmstrukturell relevant werden. In diesem Feld liegen zahlreiche verborgene Verbindungen zwischen semiotischer und kognitiver Filmtheorie, die es in weiterführenden Studien auszuarbeiten gilt. Ein in der Nachbetrachtung zwar nicht völlig überraschendes, aber doch während der Studien immer klarer zu Tage getretenes Ergebnis der Analysen war der Umstand, dass Diagrammatik, auch in ihrer explikativen Funktion, nicht auf eine zweidimensionale Perspektive festgelegt werden kann. Sowohl die hier bemühten Theorien als auch die Gegenstände zeigen die Notwendigkeit auf, das immer noch stark durch die Bildwis-

8. Schluss und Ausblick

senschaft geprägte Diagrammatik-Paradigma in Richtung dreidimensionaler Formen der Diagrammatisierung weiterzuentwickeln. Dient der Film als Medium im 20. Jahrhundert als Resonanzraum medialen Wandels – und eingangs der Arbeit zitierte Begriffe wie ›Medienref lexion‹ zielen ja genau darauf ab –, so unterstreichen filmische Beispiel die Notwendigkeit für ein solches Unterfangen. Der heiße Kern der zukünftigen Diagrammatik-Forschung steckt mutmaßlich in dem bereits von Steffen Bogen und Felix Thürlemann früh konstatierten Zusammenhang zwischen Diagrammatik und Interfaces,2 wobei die hier erwähnten Beispiele insbesondere 3D-Interfaces und ihre jeweiligen Modi diagrammatischer Objektmanipulation thematisieren. Wenn die Metapher ›Denken ist Objektmanipulation‹ im Vollzug des Denkens und in der Ref lexion auf das Denken Gültigkeit hat, dann können die kulturellen Implikationen technologischer Entwicklungen, so etwa der Übergang von einem »planen« in ein »transplanes« Bild, wie Jens Schröter ihn beschreibt,3 nicht ohne eine kognitive Theorie des Embodiments sondiert werden, die ihrerseits auf eine Theorie der Zeichenhaftigkeit von Schlussfolgerungen angewiesen ist. In dieser Kritik eines »planozentrischen« Bildbegriffs, der den Bildbegriff auf die zweidimensionale Flächigkeit einschränkt und das »Kontinuum zwischen Fläche und Raum« nicht beachtet, kommt Schröter zu dem Ergebnis: »Doch die Beweglichkeit nicht nur des Blicks, sondern auch des Auges und mithin der Körperlichkeit der Betrachterinnen/des Betrachters muss berücksichtigt werden.«4 Die zukünftige Forschung wird zeigen, ob es ein Nebeneffekt der medienwissenschaftlichen Diskussion zur Diagrammatik sein wird, dass der Wandel, den Schröter aus medienarchäologischer Perspektive beschreibt, in seinen epistemologischen Konsequenzen durch die Diagrammatik erfasst wird. Die Diagrammatik wird deshalb ihren Platz in der Medienwissenschaft wohl an der Schnittstelle zwischen ›alter‹ und ›neuer‹ Einbildungskraft finden.5

2 Bogen/Thürlemann 2003, S. 3. 3 Vgl. Schröter 2009, S. 328ff. 4 Schröter 2009, S. 330. 5 Vgl. Flusser 1990.

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Filmverzeichnis

Es werden nur Fernsehsendungen und Filme aufgeführt, die in den Analysen weiterführende Beachtung gefunden haben und durch Timecodes nachgewiesen sind. Im Text nur kontextuell erwähnte Produktionen sind nicht einzeln aufgeführt.

Fernsehsendungen und Dokumentationen Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymo tion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020. The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020.

Spielfilme Agora – Die Säulen des Himmels, Alejandro Amenábar, DVD-Video, Universal Pictures/Tobis 2010. A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2001. Apollo 13, Ron Howard, DVD-Video, Universal City Studios, 2 Disc Special Edition 1995. Blow-Up, Michelangelo Antonioni, DVD-Video, Süddeutsche Zeitung Cinemathek 47, Turner Entertainment/Warner Brothers 1966. Dame, König, As, Spion, Thomas Alfredson, DVD-Video, STUDIOCANAL 2012. Die Reise zum Mond, Georges Méliès, DVD-Video, kolorierte Fassung, Lobster Films 2011. Inception, Christopher Nolan, DVD-Video, Warner Brothers Pictures 2010. JFK, Oliver Stone, DVD-Video, Warner Brothers 1991. Metropolis, überarbeitete und restaurierte Fassung, Fritz Lang, DVD-Video, Fritz Lang Sonderedition, Universum Film 2004. Minority Report, Steven Spielberg, DVD-Video, Twentieth Century Fox/Dream Works, 2002.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Prometheus – Dunkle Zeichen, DVD-Video, Ridley Scott, Prometheus to Alien Evolution 5-Disc-Set, Twentieth Century Fox 2012. Ryan’s Daughter, David Lean, DVD-Video, Two Disc Special Edition, Turner Entertainment & Co. 1970. Star Trek VII – Generations, David Carson, DVD-Video, Paramount Pictures 1994. Star Wars – Eine neue Hoffnung, George Lucas, DVD-Video, remasterte Version, Lucasfilm/Twentieth Century Fox 2004. Sunshine, Danny Boyle, DVD-Video, Twentieth Century Fox/Dune Entertainment 2007. The Usual Suspects, Bryan Singer, DVD-Video, Polygram Film Productions 1995.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Anderton und das Interface: Dirigieren (TC 00:03:41). Quelle: Eigener Screenshot aus Minority Report, Steven Spielberg, DVD-Video, Twentieth Century Fox/ Dream Works 2002. Abb. 2: Ausgangssituation am Anfang von Minority Report. Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an die Form des Schaubildes bei Lakoff, George/Johnson, Mark (2003): Metaphors We Live By. With a New Afterword, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 20. Abb. 3: Anderton und der Film auf dem Display (TC 00:05:54). Quelle: Eigener Screenshot aus Minority Report, Steven Spielberg, DVD-Video, Twentieth Century Fox/ Dream Works 2002. Abb. 4: Sichtbarmachung des Mediums. Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 5: Dynamischer Prozess der Entfaltung der Explikation. Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 6: Übergang zwischen impliziter und expliziter Ebene. Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 7: Vermeintliche Inkohärenz der Konnotationsebenen. Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 8: Metaphorische Übersetzung des Traums in bewusstes Denken. Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 9: Diagrammatisches Erkenntnisverfahren nach May und Stjernfelt. Quelle: Eigene Darstellung nach Stjernfelt, Frederik (2007): Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics, Dordrecht: Springer, S. 104. Abb. 10: Der Ort des diagrammatischen Schließens. Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 11: Fotografien aus Polizeidatenbank und ›Bewusstseinsfilm‹ (TC 00:05:45). Quelle: Eigener Screenshot aus Minority Report, Steven Spielberg, DVD-Video, Twentieth Century Fox/Dream Works 2002. Abb. 12: Der entscheidende Erkenntnismoment (TC 00:08:17): Quelle: Eigener Screenshot aus Minority Report, Steven Spielberg, DVD-Video, Twentieth Century Fox/ Dream Works 2002. Abb. 13: Variierte Form des diagrammatischen Schlussprozesses. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Stjernfelt, Frederik (2007): Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics, Dordrecht: Springer, S. 104.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Abb. 14: Simultane Darstellung einer Schlussfolgerung. Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Rohr, Susanne (1993): Von der Schönheit des Findens. Die Binnenstruktur menschlichen Verstehens nach Charles S. Peirce: Abduktionslogik und Kreativität, Stuttgart: M und P, S. 77. Abb. 15: Epizykel in Agora (TC 01:06:27). Quelle: Eigener Screenshot aus Agora – Die Säulen des Himmels (2009), Alejandro Amenábar, DVD-Video, Universal Pictures Germany/Tobis 2010. Abb. 16: Diagrammatisierung erster Stufe (TC 01:38:27). Quelle: Eigener Screenshot aus Agora – Die Säulen des Himmels (2009), Alejandro Amenábar, DVD-Video, Universal Pictures Germany/Tobis 2010. Abb. 17: Diagrammatisierung zweiter Stufe (TC 01:40:02). Eigener Screenshot aus Agora – Die Säulen des Himmels (2009), Alejandro Amenábar, DVD-Video, Universal Pictures Germany/Tobis 2010. Abb. 18: ›Revolution‹ – Die Welt in ›Umwälzung‹ (TC 00:52:35). Quelle: Eigener Screenshot aus Agora – Die Säulen des Himmels (2009), Alejandro Amenábar, DVD-Video, Universal Pictures Germany/Tobis 2010. Abb. 19: Die Dynamik des ›Container‹-Schemas nach George Lakoff. Quelle: Übersetzung und eigene Darstellung nach Lakoff, George (1988): »Cognitive Semantics«, in: Umberto Eco/Marco Santambrogio/Patrizia Violi (Hg.): Meaning and Mental Representation, Bloomington, IN & Indianapolis, IN: Indiana Univ. Press, S. 119154, hier S. 142. Abb. 20: Varianten des ›Out‹-Schemas. Quelle: Eigene Darstellung nach Evans, Vyvyan/Green, Melanie (2009): Cognitive Linguistics. An Introduction, Edinburgh: Edinburgh Univ. Press., S. 181f. Abb. 21: ›Removal of Restraint‹ als eine der Varianten des ›Force‹-Schemas. Quelle: Eigene Darstellung nach Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 52. Abb. 22: Container-Diagramm. Quelle: Eigene Darstellung. Abb. 23: Intrinsische und extrinsische Strukturähnlichkeit nach Wöpking. Quelle: Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30, Abb. 2. Abb. 24: Orientierende Metapher ›Mehr ist oben, Weniger ist unten‹. Quelle: Eigene Darstellung nach Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30, Abb. 2. Abb. 25: Strukturelle Metapher ›Lineare Skalen sind Pfade‹. Quelle: Eigene Darstellung nach Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30, Abb. 2. Abb. 26: Vergleich von Wöpkings Darstellung mit dem ›Scale‹-Schema nach Mark Johnson. Quelle: Eigene Darstellung nach Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30, Abb. 2 und Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 123. Abb. 27: Vergleich von Wöpkings Darstellung mit dem ›Path‹-Schema nach Mark Johnson. Quelle: Eigene Darstellung nach Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30,

Abbildungsverzeichnis

Abb. 2 und Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 113. Abb. 28: Vergleich von Wöpkings Darstellung mit dem ›Blockage‹-Schema nach Mark Johnson. Quelle: Eigene Darstellung nach Wöpking, Jan (2016): Raum und Wissen. Elemente einer Theorie epistemischen Diagrammgebrauchs, Berlin: De Gruyter, S. 30, Abb. 2 und Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 46. Abb. 29: Modifikation der Darstellung des ›Out‹-Schemas. Eigene Darstellung nach Evans, Vyvyan/Green, Melanie (2009): Cognitive Linguistics. An Introduction, Edinburgh: Edinburgh Univ. Press, S. 182. Abb. 30: Atlantis-Karte nach Donnelly. Quelle: Donnelly, Ignatius Loyola (1882): Atlantis. The Antediluvian World, New York, NY: Harper & Brothers, https://archive.org/ details/atlantisantedilu00donnuoft, gesehen am 07. Mai 2020, S. 51. Abb. 31: Das fiktive Imperium Atlantis. Quelle: Donnelly, Ignatius Loyola (1882): Atlantis. The Antediluvian World, New York, NY: Harper & Brothers, https://archive.org/ details/atlantisantedilu00donnuoft, gesehen am 07. Mai 2020, S. 295. Abb. 32: Schiaparelli Mars-Karte, 1877-1878. Quelle: www.brera.inaf.it/MARTE/marte. html, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 33: Lowells Marskanal-Karten. Quelle: Bildcollage zweier Karten aus Lowell, Percival (1906): Mars and its Canals, London: MacMillan, https://archive.org/details/ marsanditscanals033323mbp, gesehen am 07. Mai 2020, S. 207 u. S. 260. Abb. 34: Lowell: Die Marskanäle im Wandel. Quelle: Lowell, Percival (1906): Mars and its Canals, London: MacMillan, https://archive.org/details/marsanditsca nals033323mbp, gesehen am 07. Mai 2020, S. 120 u. S. 126. Abb. 35: Lowell: Marsnordpol und Kanäle. Quelle: Lowell, Percival (1906): Mars and its Canals, London: MacMillan, S. 44. Abb. 36: Das Mars-Gesicht in der Viking II-Mission. Quelle: Wikipedia-Artikel »Cydonia (Mars)«, https://en.wikipedia.org/wiki/Cydonia_(Mars)#/media/File:Mar tian_face_viking.jpg, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 37: Das Mars-Gesicht in der digitalen Analyse. Quelle: DiPietro, Vincent/Molenaar, Gregory/Brandenburg, John (1988): Unusual Mars Surface Features, Glenn Dale, MD: Mars Research, S. 85, Figure 51. Abb. 38: Kartografische Referenzialisierung des Mars-Gesichts. Quelle: Carlotto, Mark (1997): »Evidence in Support of the Hypothesis that Certain Objects on Mars are Artificial in Origin«, in: Journal of Scientific Exploration, Bd. 11, 2, S. 1-26, hier S. 2. Abb. 39: Bildmontage und Kontextualisierung des Mars-Gesichts. Quelle: Hancock, Graham/Bauval, Robert/Grigsby, John (1998): The Mars Mystery. A Warning From History That Could Save Life On Earth, London & New York, NY: Penguin, Abb. 34. Abb. 40: Rhetorische Mathematisierung. Quelle: www.maxtheknife.com/images/ 01231001.jpg, gesehen am 29. Juni 2020. Abb. 41: Fiktionale Ausgestaltung der Marsstadt. Quelle: https://www.bibliotecapleyades.net/marte/esp_marte_17d.htm, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 42: Die ›Mars-Earth-Connection‹ als mythische Analogie. Quelle: Eigene Bildcollage unter Verwendung einer Abbildung aus Serres, Michel (1994a): »Gnomon. Die Anfänge der Geometrie in Griechenland«, in: Michel Serres (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 109-175, hier S. 109.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Abb. 43: Der Stift als deiktisches Medium und die Skizze (TC 00:16:14). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 44: Der Übergang von der Skizze zum Diagramm (TC 00:16:54). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 45: Animation und Illustration der Sphinx-Erosion (TC 00:17:52). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 46: Simulation der ›Vorform‹ der Sphinx (TC 00:17:57). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 47: Split-Screen und analytischer Vergleich (TC 00:38:08). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 48: Skizzierung der Gesichtsrelationen (TC 00: 38:57). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 49: Extrapolation durch Diagrammatisierung (TC 00:38:26). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 50: Auf bau eines Koordinatensystems (TC 00:39:42). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 51: Geometrisierung (TC 00:39:55). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 52: Überblendung der Gesichtspartien (TC 00:40:04). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 53: Konklusion der Analyse (TC 00:40:13). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 54: Überblendung: Das Layout der Simulation (TC 00:53:03). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 55: ›Mensch-Löwe‹-Kompositbild durch ›Überfaltung‹ (TC 01:33:15). Quelle: Eigener Screenshot aus The Mystery of the Sphinx. New Scientific Evidence, Bill Cote, NBC Network, DVD-Video, Expanded Directors Cut, Flashback Entertainment 2010. Abb. 56: Das Gizeh-Modell im Sand (TC 00:16:00). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/ The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 57: Die Orion-Konstellation und der Nil (TC 00:16:41). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 58: CGI-Überblendung Orion/Gizeh-Pyramiden (TC 00:16:48). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/ watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 59: Die »Orion-Korrelations-Hypothese«. Quelle: Wikipedia-Artikel »Orion-Correlation-Theory«, https://en.wikipedia.org/wiki/Orion_correlation_theory, gesehen am 08. Mai 2020. Abb. 60: Die Karte von Angkor Wat (TC 00:33:30). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/ The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 61: Die Konstellation Draco in SkyGlobe (TC 00:35:07). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvY Mtkyk, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 62: Relationen überblenden (TC 00:35:23). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/ The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 63: Großaufnahme von SkyGlobe Orion (TC 00:37:31). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 64: Geometrisierung 1 (TC 00:39:14). Quelle: Eigener Screenshots aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 65: Geometrisierung 2 (00:39:26). Quelle: Eigener Screenshot aus The Quest for the Lost Civilization, Timothy Copestake, Independent Image/Channel 4/The Learning Channel 1998, https://www.youtube.com/watch?v=T5DNvYMtkyk, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 66: Top-Shot Gizeh (Bildzitat aus The Orion Mystery) (TC 00:13:34). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion. com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 67: Überblendung Gizeh-Orion 1 (TC 00:13:35). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 68: Überblendung Gizeh-Orion 2 (TC 00:13:35). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 69: Assoziative Diagrammatik (TC 00:21:01). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 70: Vage Ähnlichkeit I (TC 00:29:05). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020.

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Diagramme zwischen Metapher und Explikation

Abb. 71: Vage Ähnlichkeit II (TC 00:29:41). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 72: Ground-Sky-Relation New York (TC 00:34:22). Quelle: Atlantis Reborn Again, Christopher Hale, BBC Horizon 2000, https://www.dailymotion.com/video/ x10qjc2, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 73: Charles Minards Infografik über Napoleons Russland-Feldzug. Quelle: Wikipedia-Artikel »Charles Minard«, https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Joseph_ Minard#/media/Datei:Minard.png, gesehen am 07. Mai 2020. Abb. 74: Typen der Human-Computer-Interaction nach Rekimoto und Nagao. Quelle: Eigene Darstellung nach Rekimoto, Jun/Nagao, Katashi (1995): »The World Through the Computer. Computer Augmented Interaction With Real World Environments«, https://dl.acm.org/citation.cfm?id=215639, gesehen am 07. Mai 2020, S. 2. Abb. 75: Maschine als Moloch (TC 00:14:02). Quelle: Eigener Screenshot aus Metropolis, überarbeitete und restaurierte Fassung, Fritz Lang, DVD-Video, Fritz Lang Sonderedition, Universum Film 2004. Abb. 76: Mentale Metalepse (TC: 00:07:07). Quelle: Eigener Screenshot aus Ryan’s Daughter, David Lean, DVD-Video, Two Disc Special Edition, Turner Entertainment & Co. 1970. Abb. 77: ›Man muss nur zurücktreten‹ (TC 01:34:56). Quelle: Eigener Screenshot aus The Usual Suspects, Bryan Singer, DVD-Video, Polygram Film Productions 1995. Abb. 78: Isolierung des ›Types‹ (TC 00:19:39). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009. Abb. 79: ›Top down‹ – Kräfteverhältnisse und Blockade (TC 00:19:41). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009. Abb. 80: Zahlencodes und Mustererkennung (TC 00:25:37). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009. Abb. 81: Wahnhafte Deduktionen (TC 00:43:20). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009. Abb. 82: Transparentes Medium und Mise en Scène (TC 00:06:08). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009. Abb. 83: Intransparenter ›Thinking Wall‹ des Wahns (TC 01:09:15). Quelle: Eigener Screenshot aus A Beautiful Mind, Ron Howard, DVD-Video, Universal Studios/Dream Works 2009. Abb. 84: Ariadnes überzeugendes Layout (TC 00:24:38). Quelle: Eigener Screenshot aus Inception, Christopher Nolan, DVD-Video, Warner Brothers Pictures 2010. Abb. 85: ›Cycle‹-Schema – Cobbs Illustration kreativer Zirkularität (TC 00:25:25). Quelle: Eigener Screenshot aus Inception, Christopher Nolan, DVD-Video, Warner Brothers Pictures 2010. Abb. 86: Das ›Cycle‹-Schema nach Mark Johnson. Quelle: Eigene Darstellung nach Johnson, Mark (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason, Chicago, IL & London: Chicago Univ. Press, S. 120.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 87: Der ›Mond‹ als Objekt und seine diagrammatische Präfiguration (TC 00:01:41). Quelle: Eigener Screenshot aus Die Reise zum Mond, Georges Méliès, DVD-Video, Lobster Films 2011. Abb. 88: Das riskante Unternehmen und der Streit der Gelehrten (TC 00:02:08). Eigener Screenshot aus Die Reise zum Mond, Georges Méliès, DVD-Video, Lobster Films 2011. Abb. 89: Zwei Entscheidungsoptionen (TC 01:05:18). Quelle: Eigener Screenshot aus Apollo 13, Ron Howard, DVD-Video, Universal City Studios, 2 Disc Special Edition 1995. Abb. 90: Vergrößerung und Abstraktion (TC 01:00:33). Quelle: Eigener Screenshot aus Blow-Up, Michelangelo Antonioni, DVD-Video, Süddeutsche Zeitung Cinemathek 47, Turner Entertainment/Warner Brothers 1966. Abb. 91: Diagramm, Modell und performatives Reenactment (TC 02:23:53). Eigener Screenshot aus JFK, Oliver Stone, DVD-Video, Warner Brothers 1991. Abb. 92: Der Angriffsplan und seine Modellierung (TC 01:36:06). Quelle: Eigener Screenshot aus Star Wars – Eine neue Hoffnung, George Lucas, DVD-Video, remasterte Version, Lucasfilm/Twentieth Century Fox 2004. Abb. 93: Rekonstruktion der Flugbahn (TC 00:53:29). Quelle: Eigener Screenshot aus Star Trek VII – Generations, David Carson, DVD-Video, Paramount Pictures 1994. Abb. 94: Flugbahn und Planetensystem (TC 00:54:33). Quelle: Eigener Screenshot aus Star Trek VII – Generations, David Carson, DVD-Video, Paramount Pictures 1994. Abb. 95: Im 3D-Modell des Planetensystems (TC 01:28:10). Quelle: Eigener Screenshot aus Mission to Mars, Brian de Palma, DVD-Video, Constantin Film/Spyglass Entertainment 2000. Abb. 96: Rekonstruktion der Flugbahn der Icarus I (TC 00:17:31). Quelle: Eigener Screenshot aus Sunshine, Danny Boyle, DVD-Video, Twentieth Century Fox/Dune Entertainment 2007. Abb. 97: Im 3D-Container: Grenzen der Berechenbarkeit (TC 00:21:08). Quelle: Eigener Screenshot aus Sunshine, Danny Boyle, DVD-Video, Twentieth Century Fox/Dune Entertainment 2007. Abb. 98: Die Projektion der unterschiedlichen Bilder (TC 00:17:40). Quelle: Eigener Screenshot aus Prometheus – Dunkle Zeichen, DVD-Video, Ridley Scott, Prometheus to Alien Evolution 5-Disc-Set, Twentieth Century Fox 2012.

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Medienwissenschaft Christoph Engemann, Andreas Sudmann (Hg.)

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