Zwieschlächtigkeit: Sprachwissenschaftliche Zugänge zur Unterbestimmtheit bei Karl Marx, Max Weber, Georg Friedrich Knapp und Gustav Radbruch 9783110727357, 9783110727173

This study, on the threshold between linguistics, philology and hermeneutics, examines the linguistic constitution of co

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German Pages 315 [316] Year 2021

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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
1 Aufriss der Arbeit und Hinweise zur Lektüre
2 Einleitung: als analytisches Konzept
3 Zur Methode der Arbeit
4 Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von bei Marx, Weber, Knapp und Radbruch
5 Synthese: bei Marx, Weber, Knapp und Radbruch
6 Schluss: Rückschau und Ausblick
7 Anhang: Webers "Vorbemerkung" zu den "Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie"
8 Bibliographie
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Zwieschlächtigkeit: Sprachwissenschaftliche Zugänge zur Unterbestimmtheit bei Karl Marx, Max Weber, Georg Friedrich Knapp und Gustav Radbruch
 9783110727357, 9783110727173

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Matthias Attig Zwieschlächtigkeit

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Christa Dürscheid, Andreas Gardt und Oskar Reichmann

Band 139

Matthias Attig

Zwieschlächtigkeit

Sprachwissenschaftliche Zugänge zur Unterbestimmtheit bei Karl Marx, Max Weber, Georg Friedrich Knapp und Gustav Radbruch

Studia Linguistica Germanica Begründet von Ludwig Erich Schmitt und Stefan Sonderegger Die vorliegende Studie wurde im Oktober 2019 in leicht abgewandelter Gestalt und unter dem Titel „Zwieschlächtigkeit. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur Aporie als Denkfigur und Darstellungsform bei Karl Marx, Max Weber, Georg Friedrich Knapp und Gustav Radbruch“ von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Habilitationsschrift angenommen.

ISBN 978-3-11-072717-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-072735-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-072745-6 ISSN 1861-5651 Library of Congress Control Number: 2021940733 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Studie wurde im Oktober 2019 in leicht abgewandelter Gestalt von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Habilitationsschrift angenommen; sie trug damals den Titel „Zwieschlächtigkeit. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur Aporie als Denkfigur und Darstellungsform bei Karl Marx, Max Weber, Georg Friedrich Knapp und Gustav Radbruch“. Das Habilitationsverfahren kam im Juni 2020 zum Abschluss. Die konzeptuellen Vorarbeiten zu dem Werk datieren in das Jahr 2014; die Niederschrift erfolgte im Wesentlichen in der Zeit zwischen 2015 und 2019, während meiner peregrinatio academica, die mich bislang von Heidelberg über Kassel nach Vechta geführt hat. Daran, dass es mir gelang, die Arbeit in dieser von Umbrüchen bestimmten Phase zu einem glücklichen Ende zu bringen, hatte eine große Zahl von Bezugspersonen maßgeblichen Anteil; ich kann meiner Erkenntlichkeit hier einstweilen nur einen bescheidenen Ausdruck geben. Mein Dank gilt zunächst meinem Mentor, Herrn Prof. Dr. Ekkehard Felder, der mich in wissenschaftlicher wie in persönlicher Beziehung entscheidend geprägt hat und seit Langem tatkräftig fördert. Als inspirierender Forscher hat er mir geistigen Auftrieb, als aufmerksamer Lehrer mit unbedingtem Ethos Orientierung und nicht zuletzt auch solidarische Rückendeckung gegeben. Er hat die Entstehung der Arbeit in allen Stadien begleitet und das erste Gutachten zu ihr verfasst. Für seine Bereitschaft, das zweite zu übernehmen, bin ich Herrn Prof. Dr. Helmuth Kiesel ebenso verbunden wie für viele bedeutsame Impulse und mich bereichernde Gespräche in Heidelberg. Das dritte Gutachten verdanke ich Herrn Prof. Dr. Andreas Gardt, der mir und meiner Arbeit seit Jahren engagierte Unterstützung gewährt. Ohne ihn, ohne seine warmherzige Teilnahme und kostbare Expertise wäre diese Schrift nicht entstanden. Herr Prof. Dr. Jochen A. Bär hat das Fortschreiten der Arbeit durch seine Empathie und sein Interesse, auch durch ermutigende Worte befördert; sein ingeniöser Rat war gerade für die Redaktion und für die in ihr sich vollziehende, läuternde Nachreife des Gedankens von unschätzbarem Wert. Herrn Prof. Dr. Jörg Riecke bin ich ebenfalls zu großem Dank verpflichtet; er wird mir auch nach seinem unfassbaren Tod als Vorbild gegenwärtig bleiben. Das Andenken an Herrn Prof. Dr. Bernhard Böschenstein halte ich ebenfalls in Ehren. Den Herausgebern der Studia Linguistica Germanica danke ich dafür, dass sie die Schrift in ihre Reihe aufgenommen haben; Frau Dr. Carolin Eckardt, Frau Sorina Moosdorf und Frau Albina Töws standen mir bei allen Etappen, die von der Einreichung des Typoskripts bis zur Drucklegung zu durchlaufen waren, mit umsichtiger und geduldiger Souveränität zur Seite.

https://doi.org/10.1515/9783110727357-203

VI  Danksagung

Für konstruktiven Austausch, ungebrochene Konzilianz, moralische Stärkung und Unterstützung in den vielfältigsten Formen, auch in Gestalt von Korrekturlesen, bin ich meinen Kolleginnen und Kollegen in Heidelberg, Kassel und Vechta verbunden: Herrn Prof. Dr. Vilmos Ágel, Herrn Dr. Felix Böhm, Frau Priv.-Doz. Dr. Katharina Bremer, Herrn Dr. Florian Gassner, Herrn Univ.-Doz. Dr. habil. Endre Hárs, Herrn Dr. Dagobert Höllein, Frau Dr. Katharina Jacob, Frau Priv.-Doz. NinaMaria Klug, Herrn Dr. Daniel Koch, Herrn Prof. Dr. Turgay Kurultay, Frau Sarah Kwekkeboom, M.A., Frau Dr. Sina Lautenschläger, Herrn Dr. Nils Lehnert, Frau Dr. Janine Luth, Frau Dr. Anna Mattfeldt, Herrn Dr. Christoph Müller, Herrn Prof. Dr. Marcus Müller, Herrn Jun.-Prof. Dr. Jonas Nesselhauf, Herrn Sven Puschmann, Herrn Dr. Paul Reszke, Frau Karin Terborg. Für inspirierende Anregungen und Rückmeldungen danke ich meinen ehemaligen Studentinnen und Studenten, insbesondere Frau Patrizia Bahrsch, Herrn Tim Hermann und Herrn Tim Schmidt. Unentbehrlichen Rückhalt fand ich bei meinen Freunden: bei Frau Belinda Gross, Herrn Dr. József Krupp, Herrn Dr. Fabian Lieschke, Herrn Yuguang Lin, der mir auch bei der Gestaltung der Grafiken half, Herrn Dr. Heiko Ullrich. Ein ganz besonderer Dank gebührt meinen Eltern und meiner Schwester. Ich habe die Ehre, die Arbeit allen hier Genannten zu widmen; für die Mängel, die sie aufweisen mag, trage ich selbstredend die alleinige Verantwortung. April 2021

Matthias Attig

Inhalt 1

Aufriss der Arbeit und Hinweise zur Lektüre  1

2 Einleitung: ‹Zwieschlächtigkeit› als analytisches Konzept  4 2.1 ‹Zwieschlächtigkeit›  4 2.2 ‹Zwieschlächtigkeit› des Geldes  7 2.3 Sprachwissenschaftliche Kommentare  12 2.3.1 Rationalität  12 2.3.2 Wertkonstanz bei Ware und Geld  18 2.3.2.1 Sohn-Rethel  18 2.3.2.2 Simmel  20 3 3.1 3.2

Zur Methode der Arbeit  28 Allgemeine theoretische Überlegungen  28 Textgrundlage der Untersuchung  41

4

Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit› bei Marx, Weber, Knapp und Radbruch  48 ‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  48 Einleitende Bemerkungen  48 Abriss der Forschung  50 Zwei interpretative Miniaturen  55 K 189. Zweidimensionaler Untersuchungsbereich  55 K 344. Strukturlogik von Darstellung und Gegenstand  62 ‹Zwieschlächtigkeit› in der ökonomischen Zeichentheorie  66 Kategoriale ‹Zwieschlächtigkeit› des Geldes  66 Entqualifizierung als Folge semiotischer Absorption  70 Imaginäre Resubstantialisierung von Ware und Geld als Gegenbewegung zur Entqualifizierung  75 Exemplarische Ausprägungen von ‹Zwieschlächtigkeit›  80 Medialisierung als autonomes Geschehen  80 Mythisierung  82 ‹Zwieschlächtigkeit› als inhaltlich-textuelle Figur: ‹Warensprache›, Rhetorizität der Darstellung und ihre Funktion  89 Die Prosopopoeia und ihr ‹Ausdruckscharakter› bei Marx  89 Interpretation von K 66f.  94

4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.3.1 4.1.3.2 4.1.4 4.1.4.1 4.1.4.2 4.1.4.3 4.1.5 4.1.5.1 4.1.5.2 4.1.6 4.1.6.1 4.1.6.2

VIII  Inhalt

4.1.6.2.1 4.1.6.2.2 4.1.6.3 4.1.6.3.1 4.1.6.3.2 4.1.6.3.3 4.1.7 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.3.1 4.2.3.2 4.2.3.3 4.2.3.4 4.2.3.5 4.2.4 4.2.5 4.2.5.1 4.2.5.2 4.2.5.3 4.2.5.4 4.2.5.5 4.2.5.6 4.3 4.3.1 4.3.1.1 4.3.1.2

Funktionen der Prosopopoeia in der Darstellung: Personifizierung, Homogenisierung, Differenzierung  94 ‹Sprachcharakter› der Ware und Verhältnis von Sprache und Religion  98 Gehalt der ‹Warensprache›  102 ‹Uneigentlichkeit› als Signans ökonomischer Phänomenalität  102 Ausdruck der ‹Wertrelation›: il vaut  104 Indiskursivität der Darstellung  109 Zusammenfassung (I)  113 Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  115 Einleitende Bemerkungen  115 Exkurs: Das Verhältnis Adornos zu Weber und dessen eigene Begriffskonzeption  117 ‹Zwieschlächtigkeit› in der „Vorbemerkung“ zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“  126 Zum Stellenwert der „Vorbemerkung“ in Webers Werk  126 Z. 1–14. Zeichen gedanklicher Vermitteltheit  129 Z. 14–88. Sprachliche Entfaltung der Konzepte ‹Rationalität› und ‹Rationalisierung›  134 Z. 89–162. Gedanklich-sprachliche Figuren aporetischer Theoriebildung  145 Z. 162–Ende. Verhältnis von phänomenaler Einzelkomponente und funktional-abstraktem Ganzen  156 Vergleich von Weber und Marx  175 Zusammenfassung (II)  176 S. 129–133  176 S. 134–145  177 S. 145–156  178 S. 157–164  179 S. 164–170  180 S. 170–174  181 Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  183 Einleitende Bemerkungen: Inhaltliche Einordnung des Chartalismus  183 Konzeptuelle Grundlinien des Chartalismus  183 Reflexhafte Gegentendenzen zum Nominalismus  185

Inhalt  IX

4.3.2 4.3.2.1 4.3.2.2 4.3.2.3 4.3.2.3.1 4.3.2.3.2 4.3.3 4.3.3.1 4.3.3.2 4.3.3.2.1 4.3.3.2.2 4.3.3.2.3 4.3.3.2.4 4.3.3.2.5 4.3.4 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.5.1 4.4.5.2 4.4.5.3 4.4.5.4 4.4.5.5 4.4.6

Sprachreflexive Momente in der „Staatlichen Theorie des Geldes“ von Georg Friedrich Knapp  188 Stilistische Selbstreflexion  188 Knapps Verständnis von Termini und Fachsprache  190 Begriffstheoretische Aspekte  192 Semiotische Qualität von Termini und deren Verhältnis zu standardsprachlicher Lexik  192 Kategoriale Qualität des Zeicheninhalts  198 Exemplifizierung und Vertiefung am Beispiel der Definition des ‹Zahlungsmittels›  207 Hinführung  207 Interpretation  208 Lesarten der Begriffe Zahlungsmittel und Tauschgut. Definition als differentielles Verfahren  208 Der Begriff des ‹Autometallismus›. Schwierigkeiten der Verbalisierung als Hindernis für eine Definition  215 Der Begriff der ‹Werteinheit›. Definition als semantische Analyse  218 Aporie der Evidenz  224 ‹Universalität›, ‹Potentialität› und ‹Implizitheit› als konzeptuelle Attribute des Nominalismus  231 Undefinierbarkeit als Folge der kategorialen Verfasstheit des Nominalismus. Zwei Spielarten von ‹Zwieschlächtigkeit›  236 Aporien der juristischen Textexegese bei Radbruch  239 Einleitung  239 Der ‹Gesetzgeber› als überindividueller Urheber der Sinnstiftung  241 Exkurs über den Imperativ im Recht  244 ‹Zwieschlächtigkeit› der juristischen Textinterpretation  248 Paradigmengeschichtliche Montage als Aufbauelement einer Kontextualisierung der juristischen Exegese  253 Vor- und protowissenschaftliche Ansätze  253 Scholastik und Kasualrede  255 Rhetorik  258 Biblizismus und Literaturwissenschaft  261 „Einfache Beispiele“ als Indices einer transzendenten Origo der Sinnstiftung  263 Die sprachliche Valorisierung des „objektiven Sinns“. Abschließende Synopse  267

X  Inhalt

5 5.1 5.2 5.3 5.4

Synthese: ‹Zwieschlächtigkeit› bei Marx, Weber, Knapp und Radbruch  270 Marx  270 Weber  271 Knapp  273 Radbruch  274

6

Schluss: Rückschau und Ausblick  277

7

Anhang: Webers „Vorbemerkung“ zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“  280

8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.2 8.3 8.3.1

Bibliographie  293 Quellen  293 Primärquellen  293 Sekundärquellen  293 Wörterbücher  294 Sekundärliteratur  294 Literatur mit Bezug auf Ökonomie im Allgemeinen sowie auf Marx und Weber im Besonderen  294 Rechtswissenschaftliche Literatur  297 Sprach- und geisteswissenschaftliche Literatur  298

8.3.2 8.3.3

Register  304

1 Aufriss der Arbeit und Hinweise zur Lektüre Die Überlegungen, die auf den nachfolgenden Seiten vorgetragen werden sollen, nehmen ihren Ausgang von dem Lexem zwieschlächtig, wie es, um gleich ein prominentes Beispiel zu nennen, im „Kapital“ von Karl Marx vorkommt. Das Wort wird in der Bedeutung, die Marx ihm unterbreitet, als Einsatzstelle für die Entfaltung eines Konzeptes der ‹Zwieschlächtigkeit›1 dienen, das im weiteren Verlauf einer sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit vier Texten zugrunde gelegt werden soll, von welchen die ersten drei zur Wirtschaftstheorie zählen und der letzte ins Gebiet der Rechtsphilosophie gehört. Die Untersuchung dieser Schriften – es handelt sich um Werke von Karl Marx, Max Weber, Georg Friedrich Knapp und Gustav Radbruch – hebt auf Formen der sprachlichen Konstituierung ökonomischer und juristischer Sujets ab, wobei vornehmlich aporetische Gehalte in ihren ausdrucksseitigen Konfigurationen ins Blickfeld geraten: Das Konzept der ‹Zwieschlächtigkeit› wird einzig zu dem Zweck an die Texte herangetragen, die ideellen Substrate von Antinomien, die etwa die Erörterung der kategorialen Verfasstheit wirtschaftlicher Entitäten durchziehen, ins Licht zu setzen. Für die Arbeit ist die Anschauung leitend, dass sich das Lexem Zwieschlächtigkeit als sprachliche Kennung für ein – von mir, M.A., gedanklich ausgestaltetes – perzeptives Moment handhaben lässt, das in den gelesenen Texten selbst ein Pendant besitzt. Damit soll weder etwas über die inhaltliche noch über die formale Qualität dieses verbalen Korrelats präjudiziert werden; das Augenmerk wird nicht so sehr auf prototypischen Antithesen als auf sich lediglich andeutenden oder unterschwellig wirksamen Spannungen sowie auf Inkonsistenzen und anderen Arten von sprachlicher Unterbestimmtheit liegen. Es gilt nun, in gebotener Kürze den Plan zu erläutern, nach dem die soeben exponierte Agenda umgesetzt werden wird: Die Studie beginnt mit einer Einleitung, die „‹Zwieschlächtigkeit› als analytisches Konzept“ überschrieben ist und zunächst den semantischen Horizont des Adjektivs zwieschlächtig umreißt. In einem zweiten Schritt soll gezeigt werden, inwieweit sich das durch eine solche Bedeutungsbeschreibung zu charakterisierende Konzept für eine sprachwissenschaftliche Betrachtung von Schriften fruchtbar machen lässt, in denen es auf eine Fundierung des ökonomischen Denkens abgesehen ist und die darum als ,metaökonomisch‘ bezeichnet werden können. Zum Dritten wird die Annahme formuliert, dass das Aporetische in der Theoriebildung mit der kategorialen Verfasstheit des außersprachlichen Objektbereichs, vornehmlich wirtschaftlicher Kon-

 1 Zur Notation s. unten, S. 4. https://doi.org/10.1515/9783110727357-001

2  Aufriss der Arbeit und Hinweise zur Lektüre

stituenzien wie des Geldes, in Zusammenhang steht. Der argumentativen Durchführung dieser für den Fortgang der Erörterung maßgeblichen These ist in der Einleitung ein separates Unterkapitel – es trägt den Titel „‹Zwieschlächtigkeit› des Geldes“ und hat einen paradigmengeschichtlichen Schwerpunkt – vorbehalten. Ihm schließen sich einige sprachwissenschaftliche Kommentare an, deren Aufgabe darin besteht, die analytische Produktivität des Zwieschlächtigkeitskonzeptes zu demonstrieren, eine Vorstellung vom Interpretationsverfahren zu vermitteln, das im Weiteren Anwendung finden wird, und einige Schlaglichter auf den Stoffkreis der Untersuchung zu werfen: Diese Partien orientieren über die Themen ,Rationalität‘ und ,Wertkonstanz bei Ware und Geld‘, und zwar im Rekurs auf Georg Simmel und Alfred Sohn-Rethel. Ein zweites, der „Methode der Arbeit“ gewidmetes Kapitel gliedert sich in zwei größere Abschnitte auf, deren erster theoretische Darlegungen allgemeiner Natur enthält und deren zweiter auf die Textbasis der Studie eingeht. Die Methodenreflexion setzt mit einer Ausdifferenzierung des Verhältnisses zwischen dem Zwieschlächtigkeitskonzept und den durch Unterbestimmtheit gekennzeichneten textuellen Formationen ein, zu denen es eine Art von Leseschlüssel liefern soll; danach wird der Standort der Betrachtung innerhalb einer panoramahaft aufgespannten Kartographie von sprach- und textwissenschaftlichen Bezugsparadigmen bestimmt: Er liegt im Schnittpunkt von Philologie, Stilistik, linguistischer Hermeneutik und Diskurslinguistik. In Anknüpfung an einschlägige Forschungsliteratur und an die hermeneutische Tradition werden die Hauptlinien eines auf einer möglichst tiefschürfenden Sichtung mehrerer textueller Konstituenten beruhenden sprachwissenschaftlichen Interpretierens ausgezogen und zugleich dessen produktions- und rezeptionstheoretische Prämissen thematisiert. Der zweite Teil des Kapitels stellt, wie bereits gesagt, die vier Schriften vor, die in der zuvor beschriebenen Manier ausgelegt werden sollen, rückt sie in einen paradigmengeschichtlichen Kontext ein und führt die Motive aus, die für ihre Berücksichtigung im Rahmen der Untersuchung ausschlaggebend gewesen sind. Deren Hauptteil bilden vier direkt auf die Einleitung folgende Beispielinterpretationen zu den genannten Referenztexten; diese Deutungen haben die Verwirklichung der zuvor entwickelten Konzeptionen zum Ziel, will sagen: Sie sollen zum einen den Begriff der ‹Zwieschlächtigkeit› inhaltlich ausbuchstabieren und zum anderen seinen Nutzen für die Erschließung gedanklicher Tiefenschichten sprachlicher Artefakte erweisen. Zu diesem Zweck wird der konzeptuelle Unterbau der herangezogenen Schriften durchleuchtet, die operative Logik nachgezeichnet, unter deren Maßstab diese ihren Objektbereich herausbilden, und ihre formale Gestalt auf deren Darstellungsfunktion und auf etwaige mimetische Züge hin angesehen. Die Erträge dieser Untersuchungen werden unter der Überschrift

Aufriss der Arbeit und Hinweise zur Lektüre  3

„‹Zwieschlächtigkeit› bei Marx, Weber, Knapp und Radbruch“ synoptisch gebündelt und zuletzt noch darauf geprüft, inwieweit sie die Erwartungen erfüllen, mit denen die Arbeit aufgenommen wurde: An diesen Ergebnissen wird sich entscheiden, ob der Versuch, mittels eines inhaltlich genau bestimmten interpretativen Operators auf textstrukturelle Eigenschaften zuzugreifen und sie zu erklären, das heißt als Verwirklichungsformen oder Figurationen aporetischer Denkmodelle zu identifizieren, insgesamt als gelungen gelten kann.

2 Einleitung: ‹Zwieschlächtigkeit› als analytisches Konzept 2.1 ‹Zwieschlächtigkeit› Karl Marx bedient sich der Prägung zwieschlächtig, um die Doppelgesichtigkeit der Ware als strukturelle Besonderheit hervorzukehren. Marxens Überlegungen werden von seinem Biographen Jürgen Neffe im Jubiläumsjahr 2018 auf eine pointierte Formel gebracht: „Waren besitzen einen ,Doppelcharakter‘. Sie sind ,zwieschlächtig‘ wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (Neffe 2018, 23). Das Lexem erhält hier durch den Vergleich mit einem Fall von Persönlichkeitsspaltung, der, obwohl pure Fiktion, längst zu einem Topos in der neueren Kulturgeschichte geworden ist, eine Inklination zu Psychoanalytischem, wie Neffe sie unmittelbar zuvor mit der Bemerkung, Marx lege „den Kapitalismus quasi auf die Couch“ (Neffe 2018, 23), unmissverständlich annonciert hat. In der Tat bezeichnet Zwieschlächtigkeit bei Marx eine konzeptuelle Dominante mit einem ausgedehnten Resonanzraum, in dem auch irrationale Schwingungen zu registrieren sind: Diese scheinen mit dem rationalen Gepräge, wie es das kapitalistische System nach außen hin zeigt, kaum zu harmonieren und lassen sich gedanklich nur schwer oder aber gar nicht einholen. Der Begriff2 der ‹Zwieschlächtigkeit›,3 der auf der Objektebene ein essentielles Merkmal der Ware, nämlich den Dualismus von „Gebrauchswert und Tauschwert“,  2 Sofern nichts anderes verlautet, wird in der vorliegenden Arbeit unter Begriff eine „semiotische Einheit von materiellem Ausdruck und geistig-kognitivem Inhalt“ (Attig 2018, 325, Anm. 3) bzw. von Begriffszeichen und konzeptuellem Substrat verstanden. Zu den begriffstheoretischen Hintergründen vgl. wiederum Attig 2018, 325, Anm. 3. Erscheint das Wort in einem Zitat, gilt diese Gebrauchsregel nicht. Wo einfache Guillemets Anwendung finden, wird die Inhaltsseite eines Begriffs in den Vordergrund gerückt. 3 Einfache Guillemets (‹. . .›) kennzeichnen hier und im Folgenden konzeptuelle Größen. Sie sollen zur Anzeige bringen, dass das betreffende sprachliche Element für dasjenige, was ein Autor oder eine Autorin mit eben diesem Moment artikuliert oder zu artikulieren scheint, mithin für dessen Inhaltsseite steht. Bisweilen freilich hält es schwer, für das Konzept einen Urheber auszumachen, weil es allgemein geläufig, also intersubjektiven Charakters ist; in anderen Fällen handelt es sich um eine begriffliche Einheit, die ich, M.A., selbst benütze, um verschiedene Einzelmomente zu bündeln oder einen ihnen gemeinsamen Zug herauszuarbeiten. Diese Differenzierung schließt inhaltlich wie in der Formulierung an Bär 2014, 40, Anm. 5, an. Der Begriff Konzept soll in der vorliegenden Arbeit nicht grundständig entfaltet, sondern heuristisch, als Mittel zur sprachwissenschaftlichen Textdeutung gehandhabt und darum in dem Sinne gebraucht werden, den ihm Felder beilegt: Bei diesem hebt der Terminus auf „eine kognitive Einheit oder Inhaltskomponente, an der Attribute oder (sich ausdrucksseitig manifestierende) Teilbedeutungen identifiziert werden können“ (Felder 2013, 21), ab. Zur Vertiefung vgl. Felder 2009, 20f. https://doi.org/10.1515/9783110727357-002

‹Zwieschlächtigkeit›  5

sowie das Spezifische der in ihr „enthaltenen Arbeit“ (Marx 2013, 56),4 des Weiteren eine Eigentümlichkeit der „Ursprungsweise der Manufaktur“ (Marx 2013, 358)5 und der kapitalistischen Produktion überhaupt6 apostrophiert, ist letztlich auch auf eine Kategorie des ökonomischen und ökonomiekritischen Denkens von Marx beziehbar, besitzt demnach ein Moment der Selbstreferentialität: Marx denkt in Gegensätzen – und über Gegensätze hinaus. Das hat Adorno im Blick, wenn er, den in Rede stehenden Ausdruck auf Marx selbst zurückspiegelnd, zu dem Befund kommt, des Letzteren „Ideologielehre“ sei „zwieschlächtig in sich“ (Adorno 1970, 374). Ehe ‹Zwieschlächtigkeit› als ideelle Zentralbestimmung wirtschaftlicher Konstituenten das gebührende Licht erhält, soll das Adjektiv zwieschlächtig auf seine Bedeutung hin betrachtet werden. Da es im „Deutschen Wörterbuch“ berücksichtigt ist, kann dieses als Ausgangspunkt für eine erste semantische Bestandsaufnahme dienen. Der entsprechende Eintrag bietet die Paraphrase „von bastardartiger natur, eigentlich und übertragen gebraucht“ (Grimm, Bd. 32, Sp. 1164). Die Beleggruppe schließt mit einem Verweis auf das Lemma zweischlächtig, das als Pendant zum lateinischen bigenus behandelt und dem die Erläuterung „beiden geschlechtern angehörig“ beigegeben ist. Im Zusammenhang mit zwei Belegen von Gutzkow und Grillparzer findet sich weiter noch die Information „zwischen zwei arten stehend“ (Grimm, Bd. 32, Sp. 1164), bei der zwischen buchstäblicher und übertragener Bedeutung unterschieden wird; es dürfte naheliegen, diese Umschreibung als die für den Wortgebrauch bei Marx einschlägige anzusetzen. ‹Bastardhaft› mag gleichwohl als subsidiäre semantische Komponente mitzudenken,

 4 Der Passus, dem die zitierten Wendungen entlehnt sind, lautet wie folgt: „Ursprünglich erschien uns die Ware als ein Zwieschlächtiges, Gebrauchswert und Tauschwert. Später zeigte sich, daß auch die Arbeit, soweit sie im Wert ausgedrückt ist, nicht mehr dieselben Merkmale besitzt, die ihr als Erzeugerin von Gebrauchswerten zukommen. Diese zwieschlächtige Natur der in der Ware enthaltenen Arbeit ist zuerst von mir kritisch nachgewiesen worden“ (Marx 2013, 56). 5 „Die Ursprungsweise der Manufaktur, ihre Herausbildung aus dem Handwerk ist also zwieschlächtig. Einerseits geht sie von der Kombination verschiedenartiger, selbständiger Handwerke aus, die bis zu dem Punkt verunselbständigt und vereinseitigt werden, wo sie nur noch einander ergänzende Teiloperationen im Produktionsprozeß einer und derselben Ware bilden. Andrerseits geht sie von der Kooperation gleichartiger Handwerker aus, zersetzt dasselbe individuelle Handwerk in seine verschiednen besondren Operationen und isoliert und verselbständigt diese bis zu dem Punkt, wo jede derselben zur ausschließlichen Funktion eines besondren Arbeiters wird“ (Marx 2013, 358). 6 Vgl. Marx 2013, 351: „Wenn daher die kapitalistische Leitung dem Inhalt nach zwieschlächtig ist, wegen der Zwieschlächtigkeit des zu leitenden Produktionsprozesses selbst, welcher einerseits gesellschaftlicher Arbeitsprozeß zur Herstellung eines Produkts, andrerseits Verwertungsprozeß des Kapitals, so ist sie der Form nach despotisch“.

6  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

‹zwieschlächtig› folglich in den Bereich des ‹Gemischten›, ‹Unreinen›, ‹Unechten› und damit insgesamt auch des ‹Anrüchigen› zu nuancieren sein. So verstanden haftet dem kategorialen Status der Ware als eines hybriden Phänomens, das zwischen zwei polare ökonomische Grundbestimmungen gespannt ist, der Ruch des Illegitimen, Fragwürdig-Abseitigen an, worin womöglich auch ein Motiv für Marxens polemisch-aggressive stilistische Gebärde liegt, die in erster Linie Ressentiments aufseiten des Autors, etwa ein Angewidertsein als Grundbefindlichkeit, bezeugen, insgesamt aber doch auch mehr als nur Subjektives transportieren dürfte: Marxens Schreibweise könnte auch den Dünkel einer Gesellschaft abgelten, die vom fulminanten Siegeszug des sich fortwährend ausdifferenzierenden Kapitalismus förmlich überrollt wird und ihn intellektuell nicht mehr zu bewältigen vermag. Die Ware ist anrüchig, das aporetische Moment, das sich in ihr verkörpert, den Traditionen und Anschauungen einer vorindustriellen, feudalen Gesellschaft mit ihrem statischen Ordnungssinn ungemäß: Sie spiegelt eine gesellschaftliche Realität wider, der kapitalistische ‹Zwieschlächtigkeit› den Stempel aufgedrückt hat, ohne dass man ihrer und ihrer Auswirkungen, der allfälligen Verdrehungen, die sie im Gefolge hat, einer nachgerade konstitutionellen „Verrücktheit“ (Marx 2013, 90)7 gewahr würde. Kurzum: Die ökonomischen Determinanten stellen ebenso wie die realen Verhältnisse, auf die sie ein grelles Schlaglicht werfen, ein Skandalon dar, das eingeschliffene, auf Eindeutigkeit verpflichtete apperzeptive und reflexive Modi außer Kurs setzt und das in der ökonomischen Theoriebildung auf Gegentendenzen, auf Bestrebungen nach Kompensation und Ausgleich, also auf handfeste Verdrängungsmechanismen trifft. Dergleichen Gegenbewegungen greifen vor allem in formalistisch-positivistischen und szientistischen Strömungen Platz, die sich einseitig am rationalistischen Moment des Kapitalismus orientieren, wie es von Max Weber herausgearbeitet wurde, und denen dabei entgeht, dass das in sich vermittelte Rationalitätskonzept des Letzteren gebrochen und wohl auf einen bestimmenden Faktor, nicht aber auf ein Definiens des Kapitalismus festgeschrieben ist. Tatsächlich ist Weber einer Reihe von Denkern zuzurechnen, die, unabhängig von Marx und von anderen Voraussetzungen her, mit ihm in der These übereinstimmen, dass der Kapitalismus einen aporetischen Grundzug aufweise, und bei denen ‹Zwieschlächtigkeit›

 7 „Wenn ich sage, Rock, Stiefel usw. beziehen sich auf Leinwand als die allgemeine Verkörperung abstrakter menschlicher Arbeit, so springt die Verrücktheit dieses Ausdrucks ins Auge. Aber wenn die Produzenten von Rock, Stiefel usw. diese Waren auf Leinwand – oder auf Gold und Silber, was nichts an der Sache ändert – als allgemeines Äquivalent beziehn, erscheint ihnen die Beziehung ihrer Privatarbeiten zu der gesellschaftlichen Gesamtarbeit genau in dieser verrückten Form“ (Marx 2013, 90).

‹Zwieschlächtigkeit› des Geldes  7

zumindest im Hintergrund als Leitvorstellung präsent ist, welche über die strukturelle Unterlage des Kapitalismus hinausreicht. Als ideeller Koeffizient oder als reflexive Disposition genommen, deutet ‹Zwieschlächtigkeit› auf eine genuin geisteswissenschaftliche Auffassung von Wirtschaft hin, intoniert sie folglich einen metaökonomischen Ansatz, der neben dem Gegenstand auch die um ihn zentrierten Theorien in Augenschein nimmt und sowohl auf ihren wissenschaftsgeschichtlichen Standort wie auf ihre ideologische Bedingtheit abhebt. Ein solches Procedere ist dadurch charakterisiert, dass es sich, wie man mit Viktor von Weizsäcker sagen könnte, „ganz anders als gemäß der Logik“ gestaltet, und zwar nicht aus dem Grunde, weil der Zugang zum Untersuchungsobjekt durch Hürden erschwert würde, die sich theoretisch oder faktisch aus dem Wege räumen ließen, und der Gegenstand somit allein äußerer Hemmnisse wegen „noch nicht logisch durchdrungen“ wäre, sondern weil er prinzipiell – kraft einer vorreflexiven „Überzeugung“ – „als nicht-logisch beschaffen gilt“ (von Weizsäcker 2005, 403). Die Auseinandersetzung mit einem so beschaffenen Sujet ist, insofern sie seiner spezifischen Verfasstheit Rechnung trägt, ihrerseits „antilogisch“: nicht durch klassische Schlussformeln prästabiliert und auf logische Stimmigkeit vereidigt, aber doch begrifflich gebunden, diskursiv, „nicht ein Salto mortale ins Irrationale, sondern eine Anstrengung, zu einer gemäßigten Realität zu gelangen“ (von Weizsäcker 2005, 217).8 Das Moderierende an einem solchen Denken auf ein Wirklichkeitsphänomen hin, das intellektuell schwer zu bewältigen, weil seiner Struktur nach antinomisch ist, besteht darin, dass Wissenschaftlichkeit nicht verabsolutiert, sondern zu anderen Modi der Bezugnahme auf das zu Erforschende ins Verhältnis gesetzt und als ideologisches, normatives Artefakt gesehen wird, das die Wahrnehmung des Forschers konditioniert.

2.2 ‹Zwieschlächtigkeit› des Geldes Als ambivalent, ja antagonistisch kann neben der Ware auch das Geld angesprochen werden. Es ist zum einen handfester „Tatbestand“ (Taeuber 1943, 438), integrale Erscheinung der menschlichen Erfahrungsrealität in weiten Teilen der Welt, und zwar in aller Regel unabhängig von der gesellschaftlichen, wirtschaft 8 Den entscheidenden Impuls zum Studium von Weizsäckers verdanke ich Jochen A. Bär. –Der Begriff der ‹Antilogik› weist eine gewisse Ähnlichkeit zu dem der ‹Prälogik› auf, den, wenn ich recht sehe, Lucien Lévy-Bruhl in die Ethnologie eingeführt hat, um eine sogenannten primitiven Völkern geläufige Form von Intellektualität zu charakterisieren, die nicht unter dem Bann logischer Axiome wie des Verbotes von Widersprüchen steht. Vgl. hierzu Friedell 2012, wo an den Implikationen von Lévy-Bruhls Wortgebrauch und Argumentation Kritik geübt wird.

8  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

lichen und fiskalischen Ordnung in den einzelnen Staaten, zum anderen rein abstrakte, dabei höchst metamorphe Funktionsgröße, die den Einzelnen überflügelt, indem sie sich erst in weitgespannten, kaum mehr überschaubaren, wenn auch systemisch geregelten ökonomischen Zusammenhängen vollends entfaltet, welche ihrerseits von ihr getragen werden. Es ist ebenso durch Materialität, Substantialität und Konkretheit, also durch Merkmale, die von einem empirischen Wirklichkeitsbegriff abgezogen sind, wie durch Abstraktheit und Idealität gekennzeichnet, präsentiert sich demzufolge zugleich als reale und nominale Entität. Es gehört zu jenen von kategorialer Uneindeutigkeit durchstimmten Phänomenen, deren stoffliche Eigenschaften einen gedanklichen und einen sozialen Funktionssinn aufweisen und denen keine unmittelbare oder ungebrochene stoffliche Qualität mehr eignet. Um diese ihre Merkmale sprachlich geltend zu machen, hat Taeuber die Prägung quasi-räumlich9 eingebracht, die suggeriert, dass der physische Träger des Geldes oder sogar das Geld in seiner Dinglichkeit vermindert, mit einem Pseudos versetzt ist.10 Mag auch die historische Entwicklung des Geldes, wie es seit Simmel communis opinio in Kulturwissenschaft, Ökonomie und Soziologie ist, auf eine Verselbständigung seiner rein funktionalen und medialen Eigenschaften gegenüber seiner „technischen Basis“ (Taeuber 1943, 441f.) hinauslaufen, in der sich seine Dinglichkeit konzentriert und aus der weiter auch seine „ästhetische Seite“ (Taeuber 1943, 442) hervorgeht,11 so hat sich in den Geldtheorien die strukturimmanente Doppelgesichtigkeit des Objektes doch dauerhaft in einer reflexiven Antinomie

 9 Der Passus, dem sie entnommen ist, lautet vollständig wie folgt: „Das menschliche Wirken schlägt sich regelmäßig in materiellen Gebilden, in räumlich angeordneten Einrichtungen oder in höheren, unsinnlichen, von der Materie aber doch nicht ganz losgelösten Gestalten, in quasiräumlichen Einrichtungen, in lokalisierten Zeichen nieder“ (Taeuber 1943, 452). Backhaus widmet der Konzeption Taeubers einen kurzen Kommentar, in welchem das Geld als „Gebilde sui generis“ etikettiert wird, das „einerseits ein Ding, ein Reales, [. . .] Erforschbares, andererseits aber auch kein ,Ding‘, kein Reales, sondern bloß ein Quasi-Ding, ein Begriffliches“ (Backhaus 2002, 115) sein soll. 10 Bei Backhaus 2004 findet sich ein – freilich einseitig-tendenziöses – Florilegium von Titeln und Textpartien, welche die paradoxale Verfasstheit des Geldes pointieren; aus dieser Aufstellung sollen hier ein „Rätsel Geld“ betitelter Sammelband (Schelkle/Nitsch 1998) und ein Aufsatz, der das Geld zur „unverstandene[n] Kategorie der Nationalökonomie“ (Riese 2000) deklariert, herausgegriffen werden. 11 Vgl. Taeuber 1943, 438: „Es [i.e. das Geld] ist in seinen stofflichen Anfängen eine Kulturschöpfung, die mit anderen Gebilden, Werken der Kunst und des Handwerks, viel Gemeinsames hat, und wächst im Laufe der Geschichte zu einer der wirksamsten gestaltenden Kräften des Kulturlebens heran, wobei die stoffliche Grundlage, wie die Hülle von einem ausschlüpfenden Schmetterling, schließlich abgestreift wird“.

‹Zwieschlächtigkeit› des Geldes  9

niedergeschlagen, die bei der Aushandlung des Gegenstandes bald mehr, bald minder deutlich zum Austrag kommt. Eine summarische Zusammenschau der wirtschaftstheoretischen und -philosophischen Literatur des 19. und des 20. Jahrhunderts führt auf eine Unterscheidung in zwei Strömungen, die tatsächlich jedoch nicht selten auch zusammenfließen: erstens eine nominalistische Tendenz (beispielhaft bei Jevons 1924 und Preiser 1970), welche die wirtschaftlichen Gegebenheiten für rationale, per implicationem also für kalkulierbare gesellschaftliche Hypostasen erklärt und lange Zeit als Leitparadigma der Volkswirtschaft figurierte, zweitens ein – ungleich weniger prominenter und häufig auch nur rudimentär ausgeprägter – (begriffs-)realistischer oder ontologischer Ansatz (so zum Beispiel bei Lukas 1951,12 Taeuber 1943, Veit 196613), der auf der Annahme beruht, dass gerade abstrakte Phänomene wie Preisbildung und Effekte der Zirkulation des Geldes nicht bloß an die soziale Wirklichkeit, sondern auch an die Materialität des Zahlungsmittels rückgekoppelt, das heißt als reale, empirische Tatsachen einzustufen seien, die in einigen Theoremen wiederum auf metaphysische Entitäten zurückprojiziert werden. Diese letztere Richtung reagiert auf die methodologischen Aporien, in die sich die dominanten nationalökonomischen Schulen verstricken. Zwar qualifizieren sie das Geld als gesellschaftliche Realität, doch können sie von einer solchen Realität sui generis schwerlich einen Begriff geben, wenn sie sie gänzlich von der Empirie abtrennen. Diese Problematik, die sich, wie Adorno 1973/ 74 und Backhaus 2002 aufzeigen, bereits bei Marx abzeichnet, hat zur Ausbildung einer metaökonomischen Strömung beigetragen, deren Exponenten (Amonn 1927/ 1996, Sombart 1930/1967, von Gottl-Ottlilienfeld 192314 u.a.) sich den Konstitutionsbedingungen ökonomischer Kategorien zuwenden.

 12 Lukas, der grundsätzlich eine nominalistische Ausrichtung in der Geldtheorie befürwortet (vgl. Lukas 1951, 10), ist für die metaökonomische Reflexion insofern einschlägig, als er dem „Geldzeichen“ die „Grundeigenschaft“ zuerkennt, dass in ihm „abstrakter wirtschaftlicher Wert zu realer Erscheinung gebracht“ werde, wobei er zugleich die Schwierigkeit dieses Gedankens annotiert: nämlich durch den Einschub „so paradox es klingen mag“ (Lukas 1951, 14), der fast wortgleich auch an anderer Stelle bei ihm auftaucht (vgl. etwa Lukas 1951, 9). Lukas findet bei Backhaus 2004, 47, Erwähnung, wo auch auf eine Anmerkung hingewiesen wird, in der Lukas die von ihm gebotene Elementarbestimmung mit den Worten kommentiert, sie sei „[e]ine nachdenkliche Angelegenheit für so manche, die in jeder Art von Abstraktion eine hoffnungslose Abkehr von der Wirklichkeit sehen und dem ,Abstrakten‘ keinerlei Art von Existenz zubilligen möchten“ (Lukas 1951, 14, Anm. 1). 13 Veit hat der Schrift, auf die hier Bezug genommen wird, den programmatischen Titel „Reale Theorie des Geldes“ gegeben. 14 Die Überlegungen des Letzteren, dem Backhaus eine phänomenologische Grundhaltung attestiert (vgl. Backhaus 2011, 356), sind auch für die Sprachwissenschaft von Interesse, weil sie mit

10  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Dieser knappe geldtheoretische Aufriss schließt an Backhaus an, der den aporetischen Zuschnitt der Geldtheorie im 20. Jahrhundert mit Sensibilität und analytischer Schärfe beschrieben und in der Auseinandersetzung mit kanonischen Ökonomen sprachlich eingekreist hat:15 Er hat aus den Texten, mit denen er seine Argumentation untermauerte, konsequent gerade solche Lexeme oder Wendungen herausgegriffen, in denen sich ein in sich gespanntes oder polares Denken auskristallisiert. Stellt man sie nebeneinander, so bilden sie eine sprachliche Konfiguration von ‹Zwieschlächtigkeit› als konzeptuellem Gravitationszentrum einer Geldtheorie, die ihre eigenen Konstitutionsbedingungen mit reflektiert. In Anknüpfung an die Räsonnements Taeubers, die oben einige Male gestreift wurden, statuiert Backhaus, dass die exakt quantifizierende, szientistische Ökonomie, die Preiser als „soziale Physik“ versteht, auf „Quasi-Mengen, Quasi-Volumen [sic], Quasi-Massen, Quasi-Bestände, Quasi-Ströme von preisbestimmten Waren, Geld und Kapital“ statt auf „strikt physikalisch meßbare“ Objekte ausgerichtet sei, und wirft in der Folge die Frage nach der kategorialen Qualität, der „Seinsweise dieser Entitäten“ (Backhaus 2002, 115) auf: Handelt es sich um bloße Metaphern und monströse Fiktionen oder um eine objektive QuasiRealität? Zwar geht es hier nicht unmittelbar um ein „Subjekt sui generis“ im Sinne Durkheims, wohl aber um eine Realität „sui generis“, z.B. die der Geld-„Menge“ (Backhaus 2002, 115, Markierungen im Original).

Des Weiteren kommt Backhaus zu dem für die Schulökonomie denkbar unerfreulichen Befund, dass diese sich „überfordert“ zeige, wenn es gelte, den „Charakter des ,Quasi-Räumlichen‘ [. . .] positiv zu bestimmen“: Begnüge sie sich doch damit, Letzteres „der physischen und psychischen Realität“ entgegenzusetzen, ohne seine „Andersheit“ (Backhaus 2002, 116) sprachlich präzise zu markieren. Dadurch manövriere sich die Ökonomie in ein „Dilemma“ hinein, wie man es von der negativen Theologie her kennt: „[L]äßt sich über das Was-Sein des ganz Anderen keine Aussage gewinnen, bleibt auch sein Daß-Sein fragwürdig“ (Backhaus 2002, 116). Diese im Kern metaphysische Problematik vertieft Backhaus in einer theoriegeschichtlichen Synopse, die einen Bogen von Überlegungen Schumpeters, Sombarts und Simmels zurück zum frühen Marx und zu anderen, minder prominenten Denkern spannt. Bei seinen Gewährsmännern meint Backhaus bald stärker, bald schwächer ausgeprägte Ansätze zu einer intellektuellen Durchdringung des beschriebenen

 kritischem, ja polemischem Akzent auf die ökonomische Fachsprache, namentlich auf die Art, wie sie von Fachausdrücken Gebrauch macht, eingehen. 15 Hier ist vor allem auf Backhaus 2002 und 2011 zu verweisen.

‹Zwieschlächtigkeit› des Geldes  11

Phänomens registrieren zu können; er macht, um diese Tendenzen nachzuzeichnen, Anleihen bei Begriffsbildungen, in denen nach seinem Dafürhalten thematisch passende Gedankengänge jeweils auf einen klaren Nenner gebracht werden. Schumpeter ist mit einer Äußerung vertreten, in der die Kaufkraft des Geldes als „Erscheinung sui generis“ auf die „Unbestimmtheit des Objekts“ zurückgeführt ist (Schumpeter 1952, 49). Von Sombart wird das Diktum herangezogen, eine naturwissenschaftlich oder positivistisch ausgerichtete Nationalökonomie erhebe den Anspruch, „qualitätslose Größen“ zu messen (Sombart 1930/1967, 125),16 und Simmel kommt als Urheber der Denkfigur der „realen Abstraktion“ zu seinem Recht.17 Die Marx’sche Metapher „Arbeitsgallerte“ definiert Backhaus auf der Simmel’schen Theoriefolie als „real-abstrakte Entität“ (Backhaus 2002, 118); er bucht sie Taeubers „quasi-räumlichen“ Erscheinungen zu (Backhaus 2002, 119). Marxens Position im wirtschaftstheoretischen Diskurs bezeichnet den Gesichtspunkt, unter dem Backhaus die Prämissen der modernen „Schulökonomie“ (Backhaus 2002, 119) sichtet, so dass sich seine Fundamentalanalyse in den eingefahrenen Gleisen des theoretischen Marxismus bewegt: Er prüft die wirtschaftlichen Paradigmen auf Implikate, die in diesen selbst gedanklich nur ungenügend eingeholt sind oder eben auf Aporien führen sollen, und glaubt denn auch reichlich fündig zu werden. Unbeschadet der ideologischen Inklination seines sehr konsequent und akribisch ausgestalteten metaökonomischen Programms stellt sich der Eindruck ein, als ließen sich Backhausens Überlegungen einigermaßen zwanglos auf seine Textvorlagen zurückspiegeln, weil er ihnen eine sprachliche Fassung gibt, die sich eng an deren Wortlaut hält: Er suggeriert so, dass seine Interpretation textimmanent sei. Backhaus bringt seine analytische Absicht vermittels der Konfigurierung von terminologischen Aufbauelementen, die er direkt den zu erklärenden Texten entnimmt, zur Anzeige, verschafft ihr mithin durch tendenziöse Darbietung oder durch Transkription des sprachlichen Bezugsmaterials ebenso Geltung wie durch theoriegeschichtliche Kontextualisierung, wobei hier offen bleiben soll, ob und gegebenenfalls inwieweit dieses Vorgehen Kalkül ist

 16 Die Passage, in der diese Fügung enthalten ist, lautet wie folgt: „Als die erste Aufgabe erscheint auch hier [i.e. in der naturwissenschaftlichen Nationalökonomie, M.A.] die Gewinnung einfacher, wenn möglich berechenbarer und meßbarer Tatsachen, das sind aber qualitätslose Größen“ (Sombart 1930/1967, 125, die hier kursiv gedruckten Wendungen erscheinen im Original in gesperrter Schrift). Als Hauptvertreter dieser Position führt Sombart den oben (S. 9) erwähnten Jevons an, indem er ihn unter die Bezeichnung Quantitätstheoretiker (Sombart 1930/1967, 126) rubriziert; weiter nennt er von Hermann 1832, Oppenheimer 1910/1964, Pareto 1917/19 und Schuster 1926. Sombart plädiert seinerseits für eine „verstehende“ Ökonomie mit einer erfahrungs-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Dimension (vgl. Sombart 1930/1967, 173f.). 17 Vgl. Backhaus 2002, 116ff.

12  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

oder ob es auf einen blinden Fleck im Methodenbewusstsein des Autors deutet. Auch wenn Letzteres der Fall sein sollte, kommt Backhaus das Verdienst zu, das konzeptuelle Moment, das im Weiteren in den Mittelpunkt treten soll, sprachlich klar profiliert und ebenso stringent wie intensiv in seinen ideellen Tiefendimensionen ausgelotet zu haben. Die vorliegende Arbeit folgt Backhaus insoweit, als sie das Hauptaugenmerk ihrerseits auf aporetische Denkfiguren in der Wirtschaftstheorie sowie auf deren sprachliche Manifestationen richtet. Sie setzt dabei voraus, dass das Lexem Zwieschlächtigkeit, wenn man es für sich nimmt, also aus dem ideologiekritischen Kontext von Marxens Denksystem herauslöst, geeignet ist, gedankliche Spannungen und Antagonismen, die sich in ökonomischen Grundbestimmungen wie in Brennpunkten versammelt haben, zu entbinden und begrifflich zu kondensieren. Der Ausdruck wird demgemäß in einem weiteren Sinne gebraucht, so dass sich ihm unterschiedliche, im Kern jedoch homologe Phänomene als Ausformungen eines einheitlichen Prinzips subsumieren lassen. Vor einer näheren Erläuterung des Verfahrens und seiner methodologischen Prämissen soll zunächst demonstriert werden, inwieweit ‹Zwieschlächtigkeit› als analytische Kategorie für die metaökonomische Reflexion belangvoll ist und sich für die Ermittlung von deren sprachlichen bzw. textuellen Formativen fruchtbar machen lässt. Zu diesem Zweck werden zunächst in tableauartig angeordneten, aperçuhaften Kommentaren Auszüge aus Schriften von Georg Simmel und Alfred Sohn-Rethel zur Behandlung kommen. Diese sind so ausgewählt, dass nach der Eigenart des Geldes, von der bisher fast ausschließlich die Rede war, noch einige weitere thematische Dominanten der Metaökonomie ins Blickfeld treten. Die zu betrachtenden Stellen sollen so den Gegenstandsbereich der Arbeit nach seiner inhaltlichen Seite panoramahaft entfalten. Systematisch sind die nachfolgenden Ausführungen mithin nicht. Sie dienen vielmehr dazu, das Sujet der Studie zu exponieren und in diesem Zuge auch eine Probe von dem für sie maßgeblichen exegetischen Procedere zu geben, das dann im Anschluss eine theoretische Fundierung erhalten soll und vorerst, das heißt vor der Eröffnung der eigentlichen Untersuchung, die Ausleuchtung der konzeptuellen Hintergründe zentraler Aussagen zum Ziel hat. Es soll dabei zunächst vor allem auf Inhaltliches und sodann mehr und mehr auch auf formale Aspekte geachtet werden.

2.3 Sprachwissenschaftliche Kommentare 2.3.1 Rationalität Im ersten Schritt wollen wir uns Reflexionen des Marxisten Alfred Sohn-Rethel zuwenden, der gewöhnlich der Frankfurter Schule zugerechnet wird, in dem Kreis

Sprachwissenschaftliche Kommentare  13

um Adorno und Horkheimer allerdings auf die Rolle des hochoriginellen Außenseiters abonniert war und die metaökonomische Reflexion als Fundamentalanalyse mit transzendentalphilosophischem Anspruch begriff: Das Gebiet der theoretischen Ökonomie, in dem die Übertragungsmethode mit lauter selbstkonstruierten Hypothesen und beliebigen Spezialannahmen glaubt operieren zu können, ist in Wahrheit das Gebiet der allergenauesten, unerbittlich gegenstandsgebundenen Gesamterforschung, einer Erforschung freilich, die sehr viel tiefer greifen muß als nur in die subjektive Realität des menschlichen Verhaltens, da dieses nur das Medium ist, durch das hindurch die ökonomische Wirklichkeit der kapitalistischen Verkehrswirtschaft über die wirtschaftenden Menschen ihr eigenmächtiges Gesetz ausübt. Und in diesen Grundlagen der kapitalistischen Verkehrswirtschaft gilt es keineswegs nur wissenschaftlich zu interpretieren, was den Menschen überall schon gegeben ist, sondern vielmehr zu erkennen und zu ergründen, was den Menschen verborgen ist und ihnen in ihrem Wirtschaften sogar notwendig verborgen bleiben muß (Sohn-Rethel 1978, 245, Markierung im Original). Es ist festzustellen, daß durch den Reflexionsgang der verkehrswirtschaftlichen Evolution von Stufe zu Stufe verborgenere und logisch primärere Tiefenschichten der empirischen Daseinsbedingtheit in die Verkehrsorganisation einbezogen werden, indem deren bisherige Organisationsgrundlage jeweils ausfunktionalisiert wird. So kommt es zuletzt dazu, daß die gesamte innerlogische Ordnung des Wirtschaftens oder, besser, der empirischen Daseinsordnung zur Organisation der Volkswirtschaft ausgebreitet ist, und also dasjenige, was ursprünglich logisch nur im einzelnen rationalen Subjekt gilt, hier zur Ordnung des ökonomischen Zusammenhanges der Menschen untereinander, nämlich zur Ordnung ihrer ökonomischen Daseinsverflechtung sich auseinandergefaltet hat. Auch wir brauchen daher in unsrer Methode die logische Analyse des Wirtschaftens, brauchen sie noch bis weit unter die Analyse der bloßen Wertrechnung hinab und müssen die logischen Bedingungen der Möglichkeit des Wirtschaftens – d. i., nach seiner besseren Definition, des rationalen Verhaltens in Ansehung der empirischen Bedingungen des Daseins – bis auf den transzendentalen Boden der Daseinsordnung überhaupt systematisieren (Sohn-Rethel 1978, 246f.). Das entscheidende Merkmal dieser gemäß der innerlogischen Ordnung der empirischen Daseinsbedingtheit auseinandergebreiteten ökonomischen Realorganisation der Gesellschaft ist, daß der Zusammenhang dieser Organisation zur Ratio der Einzelsubjekte inkongruent ist. Die Gesamtordnung der ökonomischen Wirklichkeit der kapitalistischen Gesellschaft steht zur Ratio der Einzelsubjekte schief, indem diese sich, je höher die kapitalistische Verkehrswirtschaft sich entwickelt und je konstitutiver also ihre Inkongruenz wird, nur um so rationaler verhalten (Sohn-Rethel 1978, 247).

Den zitierten Äußerungen zufolge vollzieht sich in der „theoretischen Ökonomie“ eine reflexive Bewegung, die ein Höchstmaß an Extensität und Intensität, also zugleich maximale inhaltliche Reichweite und analytische Tiefenschärfe erreicht: So dringt sie bei der Bearbeitung eminenter Stoffmassen allmählich zur untersten Basis des wirtschaftlichen Ordo vor und führt die empirischen Bestimmungen zuletzt geschlossen auf ihre ersten Voraussetzungen zurück. Den Resultaten einer

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ökonomischen Wissenschaft solcher Couleur ist damit vorgreifend der Nimbus von Eigentlichkeit in ihrer pointiertesten Form zugeschrieben und die Theorie selbst in den Rang einer Grundlagen- oder Ursprungslehre erhoben, welche an die Konzeption einer alle übrigen Disziplinen überwölbenden ‹prima philosophia› gemahnt. Zu ihrer stofflichen Totalität gelangt die „Gesamterforschung“ nun allerdings nicht durch Abstraktion, sondern dadurch, dass sie sich auf das Einzelne konzentriert und mit höchster Persistenz darein versenkt. Das analytische Verfahren ist in seiner Ausrichtung deszendent, was aus einer Vielzahl an lexikalischen Merkmalen erhellt; es handelt sich hier um eine Information, die sich mit Gardt (2008, 2013) als ein Erzeugnis flächiger Bedeutungsbildung ansehen lässt. Indem er sich des emphatisierenden Superlativs allergenauesten bedient, reklamiert Sohn-Rethel für seine Theorie ein non plus ultra an Wissenschaftlichkeit, zu dem „unerbittlich“ vorgenommene Spezifizierung, also unbedingte Fixierung auf konkrete Facta, die dem ökonomischen Denken das Gepräge eines strengen intellektuellen Exerzitiums verleiht, den Schlüssel abgeben soll. Die Penetranz solchen Denkens wird als ein in die Tiefe Greifen gefasst: Dieses sprachliche Bild, das durch das steigernde sehr viel noch potenziert wird, insinuiert einen analytischen Ansatz, der eine Tiefenschicht zu erschließen sucht, welche unterhalb der „subjektive[n] Realität des menschlichen Verhaltens“, das meint wohl: unterhalb einer Wirklichkeitsdimension, in der ein allgemein anthropologisches Moment („menschliches Verhalten“) in seiner Vermitteltheit mit individueller Wahrnehmung („subjektive Realität“) zur Evidenz gelangt, befindlich ist. Dass der ökonomischen Reflexion auf das Substrat der Erfahrung ‹Ausschließlichkeit› und ‹Unbedingtheit› als konzeptuelle Insignien inskribiert sind, rührt Sohn-Rethel zufolge zunächst daher, dass dieser ihr Gegenstand den in ihrer Praxis befangenen Menschen „verborgen“ ist. Ihre ,tiefere‘ Ursache soll die Verabsolutierung der Fundamentalanalyse jedoch darin haben, dass die Verstecktheit des Gegenstands „notwendig“, will sagen: der Disposition und Struktur „der kapitalistischen Verkehrswirtschaft“ geschuldet ist. Die Untersuchung muss aus dem Grunde mit rigider Konsequenz verfahren, weil sie auf etwas Unsichtbares, Entrücktes gerichtet und dabei gehalten ist, hinter die subjektive Erfahrungswelt und die durch sie gefilterten sozialen Momente zurückzuschreiten, also ein Wirklichkeitssegment, dem für gewöhnlich ein maximaler Faktizitätsgrad zugesprochen wird, als „Medium“ für etwas Anderes zu betrachten und somit in seiner gesellschaftlichen Geltungskraft zu relativieren. Kurzum: Die Theorie steht in der Pflicht, eingeschliffene Wahrnehmungs- und Handlungsmuster zu durchbrechen und ihre Bedingtheit durch überindividuelle Wirkmächte zu enthüllen; sie muss hinter sich lassen, „was den Menschen überall schon gegeben ist“.

Sprachwissenschaftliche Kommentare  15

Der Gehalt, zu dem sie sich einen Zugang bahnen soll, als sei er ein Arkanum, wird durch seine sprachliche Kennung – ökonomische Wirklichkeit der kapitalistischen Verkehrswirtschaft – von der „subjektiven Realität des menschlichen Verhaltens“ abgehoben, auf welche er laut Satzaussage insoweit bezogen ist, als er sich in ihr manifestiert. Die beiden Größen scheinen nun noch dadurch profiliert, dass die eine vollends auf den Menschen und auf sein (wirtschaftliches) Handeln zugespitzt und die andere ebenso entschieden von dieser Sphäre losgelöst, also im Wortsinne abstrakt und zudem von einem „eigenmächtige[n] Gesetz“ durchdrungen sein soll: In der individuellen Aktion entspannt sich ein überindividuelles, eigenen Regeln folgendes Geschehen von nötigender Kraft, das sich in jener ihr „Medium“ schafft, so dass beide nicht voneinander trennbar sind. Dieses Ineinander divergenter, unterschiedlich gewichteter Wirklichkeitskonzeptionen ist von solcher Art, dass sich auch auf die theoretische Ökonomie à la Sohn-Rethel der Begriff ‹Zwieschlächtigkeit› projizieren lässt, und zwar umso eher, als sich das ‹Eigentliche›, das die Theorie ins Licht setzen soll, die kapitalistische Verkehrswirtschaft nämlich, offenkundig in der Erfahrung verwirklicht, aber – zumindest soweit es ihre Grundlagen betrifft – den Subjekten ebenso notwendig entzogen ist. Diese letztere Facette erhält durch die Kombination des Modalverbs müssen mit dem Adverb notwendig sowie durch die durative Komponente („bleiben“) eine starke Betonung. Die theoretische Durcharbeitung des Ökonomischen vollzieht sich in der Darstellung Sohn-Rethels in einem folgerichtigen Stufengang; sie soll insofern an einen unendlichen Progress – freilich an einen abwärts gerichteten, mehrere ideelle Tiefendimensionen durchlaufenden – erinnern, als sich das Primäre unter der andringenden Beharrlichkeit einer konzentrierten Denkbewegung fortwährend verschiebt oder auch vervielfältigt: Unter einer einmal freigelegten Schicht lässt sich allemal noch eine weitere ausmachen. Der paradoxe Komparativ logisch primärere signalisiert, dass das Originäre, das es wiederaufzufinden gilt, im Verlauf seiner Exploration auseinandergezogen oder ausdifferenziert, zu einer Sukzession von gedanklichen Ursprungspunkten umgestaltet wird. Ihre äußerste Orientierungsgröße hat die analytische Tiefenbohrung im „transzendentalen Boden der Daseinsordnung überhaupt“: An dieser Formulierung wird ersichtlich, dass sich die ökonomische Reflexion ihrem Anspruch wie ihrer „Logik“ nach zu einer metaphysischen ausweitet. Die Fundamente, die während dieses Prozesses nacheinander an den Tag kommen, besitzen logische Mächtigkeit ursprünglich auch aus der Warte des „einzelnen rationalen Subjekt[es]“, so dass in ihnen Individuelles und Überpersönlich-Objektives (Letzteres in seiner Ausprägung als „innerlogische Ordnung des Wirtschaftens“) verschmelzen. Das bedeutet, dass die Subjekte, soweit sie sich ‹rational› gebärden, das heißt: soweit sie sich nach logischen Maß-

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stäben richten, einem – nach außen hin ökonomiebezogenen, in Wahrheit aber grundsätzlicheren, auf der äußersten Metaebene anzusiedelnden – Regulativ unterworfen sind, das, weil sie selbst seiner nicht innewerden, einzig die Theorie aus seiner Verstecktheit zu holen vermag. Die subjektive Realität, die sich oben abzeichnete, ist, wie nun deutlich wird, in der Tat zu identifizieren mit der Erfahrungswelt eines Ichs, das in mehrfacher Hinsicht bedingt und dessen Handeln gesetzmäßig ist, ohne dass es um dessen Rechtsquelle, um sein strukturelles Determinans wüsste. Zu dem, was selbst unbedingt, nicht durch Anderes hervorgebracht ist und so dem sich unaufhörlich fortschreibenden Zusammenhang von Ursache und Wirkung vorausliegt, vermag allein die ökonomische Reflexion vorzustoßen, die sich von der bloßen Empirie emanzipiert hat. Der ‹homo oeconomicus›, der als Prototyp des Erfahrungssubjektes figuriert, so als bilde das Wirtschaften den primären Modus der Erlebens, hat von dem Prinzip, das ihn dirigiert, keine nähere Kenntnis; dementsprechend gehören ‹Unfasslichkeit› und – als deren ,tiefere‘ Ursache – ‹Inkommensurabilität mit aller Subjektivität› zu den wichtigsten Bausteinen einer ökonomischen Rationalitätskonzeption, die zumindest bei einer starken Gewichtung eben dieses Merkmals durch innere Polarität gekennzeichnet scheint: Dürfte doch seit Freud ‹Unbewusstheit› weniger mit ‹Rationalität› als mit dem geraden Gegenteil, mit ‹Irrationalität›, assoziiert sein. Der eben notierte Befund erweist sich indes als für den Marxismus symptomatisch, wenn man die ihm zugrunde liegende Kritik am Kapitalismus dergestalt pointiert, dass sie auf eine Pathologisierung desselben und der von ihm heraufgeführten gesellschaftlichen Verhältnisse hinausläuft; das Zitat von Neffe, das unsere Studie eröffnete, hebt diesen Grundzug mit hyperbolischer Gebärde hervor, indem es ihn zu dem Zentralbegriff, um den die hier vorgetragenen Überlegungen kreisen, zu dem der ‹Zwieschlächtigkeit›, in Relation setzt. Die in sich gestaffelte Theorie soll demgegenüber ungebrochen ‹rational› sein; diese Lesart drängt sich angesichts der bemerkenswerten Frequenz von Lexemen wie logisch und Ordnung im zweiten der oben zitierten Textauszüge geradezu auf. Dass dasjenige, was für das Subjekt nicht erkennbar ist, auf dem Wege der Analyse ohne Einbuße und in seiner originären, wahren Qualität zutage gefördert werden kann, leidet für den marxistischen Rationalisten Sohn-Rethel keinen Zweifel – zumindest wenn der Akzent auf die meta-anthropologische Komponente des Prinzips statt auf die Art, wie es im homo oeconomicus innerviert ist, fällt. Die ökonomische Reflexion hebt die metaökonomischen Fundamente individueller Praxis nicht nur ans Licht, sondern wirkt auch darauf hin, dass sie „ausfunktionalisiert“ werden, was „zuletzt“ zur Folge haben soll, „daß die gesamte innerlogische Ordnung des Wirtschaftens oder, besser, der empirischen Daseinsordnung zur Organisation der Volkswirtschaft ausgebreitet ist“ (Markierung von

Sprachwissenschaftliche Kommentare  17

M.A.). Dieses Ergebnis wird gleich im Anschluss noch einmal mit den Worten paraphrasiert, dass dasjenige, was ursprünglich logisch nur im einzelnen rationalen Subjekt gilt, [. . .] zur Ordnung des ökonomischen Zusammenhanges der Menschen untereinander, nämlich zur Ordnung ihrer ökonomischen Daseinsverflechtung sich auseinandergefaltet hat.

Die in diesem Satz benützten Verben, welche allesamt das Präfix aus- miteinander teilen, geben einem extensiven Moment Raum, das zur Denkfigur analytischer Intensität antagonistisch ist; zur ‹Vertikalität›, die Sohn-Rethels Entwurf einer Tiefentheorie als metaphorisches Leitmotiv durchstimmt, tritt ‹Horizontalität› als konzeptuelles Komplement. Indem die Erkundung des ökonomischen Determinans konsequent von den Individuen abstrahiert, die es beherrscht, hat sie an der gesamtwirtschaftlichen Verobjektivierung dieses bestimmenden Faktors, an seiner ‹Evolution› im räumlichen Sinne, also an seiner ‹Ausfaltung› teil, durch die er offenkundig eine paradigmatische Manifestationsgestalt empfängt. Man könnte darin die natürliche Konsequenz einer sich fortwährend potenzierenden Reflexion erkennen, die sich auf ihr Objekt überträgt und es rationalisiert, womit sie der Wirkkraft, die die Einzelnen steuert, ohne dass sie ihr auf die Spur kämen, zur Wahrnehmbarkeit verhilft. Im Prisma solcher verabsolutierenden Forschung nimmt das Generalprinzip seinerseits einen ‹zwieschlächtigen› Charakter an, indem es zum einen dem Individuum entzogen, zum anderen Träger allen zwischenmenschlichen Handels, das heißt doch wohl – wenn auch nicht ungebrochen – gegenwärtig ist. Darüber hinaus kann man bei der Lektüre der zweiten Textstelle den Eindruck gewinnen, dass die Wirkgröße nach Sohn-Rethel erst in ihrer Ausformung durch die intersubjektive Praxis, also außerhalb der ideellen Binnensphäre, zu ihrer vollen Reife kommt und sich in ihrer definitiven Gestalt präsentiert. Dass diese Entwicklung mit der – tatsächlich oder annähernd – vollständigen Durchdringung der „Daseinsordnung“ bis zu ihrem letzten Grund hinab unmittelbar in Verbindung steht, liegt auf der Hand, doch bleibt zumindest bei einer Betrachtung des dargebotenen Textauszuges dunkel, wie Theorie und Praxis sich konkret zueinander verhalten. Es soll diese Frage nun nicht weiter verfolgt werden und bei der Bemerkung sein Bewenden haben, dass es sich beim dritten der typographisch markierten Prädikate – sich auseinandergefaltet hat – um ein reflexives Verb handelt, womit andeutungsweise oder als semantische Nuance ein bislang noch nicht erwähnter Aspekt zum Tragen kommt – oder doch zumindest kommen könnte: Die durch die Analyse angestoßene Entwicklung mag eine gewisse Eigendynamik besitzen. Für die Argumentation ist dieser Gedanke hier von keinem sonderlichen Inter-

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esse, doch verdient er gleichwohl hervorgehoben zu werden, weil im Verlauf der Untersuchung bisweilen noch auf ihn einzugehen sein wird. Die dritte Äußerung Sohn-Rethels wurde deshalb angeführt, weil sie besagt, dass die „ökonomische Realorganisation der Gesellschaft“, wie sie sich im wirtschaftlichen Verkehr zwischen den Menschen etabliert, als regelhafter „Zusammenhang“ zwar mit der „innerlogischen Ordnung der empirischen Daseinsbedingtheit“ harmoniere, jedoch „zur Ratio der Einzelsubjekte schief“ stehe und dass man hierin sogar das für die Ökonomie „entscheidende Merkmal“ zu erblicken habe. Das heißt, dass die überindividuelle ökonomische Logik mit der der Subjekte nicht vereinbar ist, obwohl beide in demselben ideellen „Boden“ wurzeln. Des Weiteren wird aus dem Zitat deutlich, dass diese Diskrepanz bei einem hohen wirtschaftlichen Entwicklungsniveau konstitutive Bedeutung erlangt, sich mithin zu einer Aporie auswächst, die wenigstens in der Praxis nicht aufzulösen ist. Es kommen demnach zwei konfligierende, prima facie inkommensurable Größen ins Spiel, die sich näher als ‹objektiv-unbedingte Rationalität› und subjektiv-bedingter Rationalitätsbegriff ansprechen lassen und über welche verlautet, dass sie durch eine Transzendentalanalyse, die hinter sie beide zurückgeht, zur Deckung zu bringen sind. Indessen ist das wirtschaftliche Aktionsfeld – als bloßer Schauplatz synchroner Prozesse genommen – bis in seine Struktur hinein von ‹Zwieschlächtigkeit› imprägniert, was daran liegt, dass ein vorgeblich standortunabhängiger, individuelle Interessen überwölbender, „innerlogischer“ Ordo auf einen subjektiven, perspektivisch gebundenen prallt.

2.3.2 Wertkonstanz bei Ware und Geld 2.3.2.1 Sohn-Rethel Neben der – kaum mehr als streiflichtartig beleuchteten – Rationalitätskonzeption Alfred Sohn-Rethels soll noch ein anderer für ökonomische Theoriebildung wesentlicher Themenkreis Berücksichtigung finden: nämlich der Warenhandel und dabei insbesondere das ihm vorgeschaltete Statut, dass die Güter beim Tausch keine materielle Veränderung erfahren. Als Einsatzstelle für die Betrachtung möge abermals ein Diktum von Sohn-Rethel dienen: Die identische dingliche Existenz der Waren in der Äquivalenz ist eine von der Tauschhandlung aktiv getätigte Setzung, sie ist keineswegs ein bloß in den Lücken zwischen menschlichen Beziehungen rein passiv bestehender Mangel an Veränderung von Dingen. Sie gilt auch gegen alle materielle Unwahrheit ihrer Supposition, etwa bei Transaktionen, die sich über längere Dauer erstrecken und innerhalb derer die Objekte sich ohne menschliches Zutun unfraglich verändern. Sie gilt, kurz gesagt, nicht aus Gründen der Dinge oder der Men-

Sprachwissenschaftliche Kommentare  19

schen oder der allgemeinen Natur menschlichen Handelns, sondern sie ist eine aus gesellschaftlichen Ursachen notwendig bedingte Fiktion (Sohn-Rethel 1978, 46).

An diesem Passus sei zuvörderst die pointierte Antithese ,eine von der Tauschhandlung aktiv getätigte Setzung vs. rein passiv bestehender Mangel an Veränderung von Dingen‘ hervorgehoben, die als lexikalische Grundfigur den eröffnenden Satz beherrscht. Dieser wartet zunächst mit zwei entscheidenden Aussagen auf: „Die identische Existenz der Waren in der Äquivalenz“ ist erstens kein ontisches Datum, sondern eine Hypostase und wird als solche zweitens von der „Tauschhandlung“ selbst – das heißt denn wohl auch: nicht direkt und ursächlich von den Subjekten, durch die diese sich vollzieht – inauguriert; ein stoffliches Substrat, so ist hinzuzufügen, lässt sich der solcherart statuierten Gleichheit der Güter nicht zuordnen. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass die sprachliche Darbietung der Setzung eine pleonastische Note zeigt: Das Moment des Handelns ist dreimal lexikalisch annonciert („von der Tauschhandlung aktiv getätigte“) und scheint obendrein mittelbar durch die Kontrastwirkung verstärkt, die daraus entsteht, dass die ausdrücklich ausgeschlossene Alternative durch ihre Kennzeichnung, die eine rein negative Vorstellung von der Konstanz der Waren anschlägt, auf den Aspekt der ‹Passivität› zugespitzt ist. Diesen Befund könnte man in der Weise deuten, dass die Hypostase kollektives Handeln fixiert, das in ihr in einem Maße abstrakt gehalten ist, dass es wie ein vorübergegangener oder geronnener actus purus wirkt. Es soll jedoch nochmals betont werden, dass diese Auslegung zumindest an dieser Stelle notwendig im Bereich des Spekulativen verbleibt, weil sie nicht an der Proposition, sondern an der – freilich funktional mit ihr verschränkten – Präsentationsform ansetzt. Zu den Informationen, die sich den Aussagen des Textes entnehmen lassen, gehört demgegenüber, dass das Phänomen der Unveränderlichkeit der Ware nicht in periphere Bezirke, die von der zwischenmenschlichen Praxis freigeblieben sein mögen, will sagen: nicht in etwaige insulare Leerstellen oder soziale Vakua innerhalb der gesellschaftlichen Prozesswirklichkeit abgeschoben werden kann. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Konstanz der zu verkaufenden Dinge mitnichten kontingent, sondern von der Funktionslogik des wirtschaftlichen Systemzusammenhangs präjudiziert und – pointiert gesprochen – der Realität um dieses Letzteren willen abzutrotzen ist. So kann Sohn-Rethel den Bescheid erteilen, dass die Hypostase ihre Gültigkeit „auch gegen alle materielle Unwahrheit ihrer Supposition“ behaupte, wie wenn ihre augenfällige Unverträglichkeit mit der Empirie für sie keinerlei Konsequenzen hätte. ,Unwahr‘ jedoch – so kann man den Text gleichfalls lesen – ist sie nicht an und für sich, sondern nur in Beziehung auf die Erfahrungswirklichkeit, auf die Welt der Dinge, welche die Ökonomie letztlich einzig als beliebig funktionalisierbare Träger von Bestimmungen wahrnimmt. Ihre

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deklarative Kraft empfängt die Setzung demnach weder vonseiten der Sachen noch der Menschen: Sie ist ebenso wenig eine anthropologische wie eine empirische Tatsache, vielmehr „eine aus gesellschaftlichen Ursachen notwendig bedingte Fiktion“. Bei möglichst starker Gewichtung des Lexems Ursachen kann man dieses Diktum dahin interpretieren, dass es die Hypostase in einen sozialen Kausalzusammenhang einreiht, wodurch auch die Wendung notwendig bedingt motiviert wäre: Wenn das gesellschaftliche Interesse zu einer „Ursache“ avanciert, so zieht es die Fiktion zwingend und nicht etwa aus bloßem Zufall als Wirkung nach sich. Die ökonomische Praxis ist darauf angewiesen, dass ‹Unveränderlichkeit der Tauschgüter› auch dann vorausgesetzt wird, wenn die außerökonomische Realität diese Vorstellung Lügen straft; andernfalls wäre sie nicht tragfähig. Im wirtschaftlichen Systemgefüge wiegt die funktionale Notwendigkeit der Hypostase demnach schwerer als ihre Inkompatibilität mit der außerökonomischen Erfahrungswirklichkeit oder, um nochmals auf die sehr pointierte Formulierung Sohn-Rethels zurückzugreifen, schwerer als „alle materielle Unwahrheit“. Diese beiden Faktoren – ‹materielle Unwahrheit› und ‹Fiktionscharakter› zum einen, ‹funktionale Notwendigkeit› und ‹deklarative Mächtigkeit› zum anderen – geben indes der Warenkonzeption an sich, wenn man sie von einem metaökonomischen Standpunkt aus ins Auge fasst, ihrerseits ein ‹zwieschlächtiges› Gepräge. 2.3.2.2 Simmel Dem eben beleuchteten Passus bei Sohn-Rethel lässt sich ein etwas längeres Zitat aus Georg Simmels „Philosophie des Geldes“, einer für die Kulturgeschichte der Moderne bahnbrechenden Schrift, der auch die Metaökonomie entscheidende Anregungen verdankt, zur Seite stellen: Dort wird das Konzept der ‹Unveränderlichkeit› wirtschaftlich zu verwertender Dinge ebenfalls „Fiktion“ genannt und im Anschluss als „praktisch notwendig“, also im Sinne einer funktionalen Determinante, auf das Geld übertragen. Im ganzen also überwiegt die Vorstellung, daß das Geld seinen Wert unverändert behalte. Nun ist diese Stabilität zwar auch an Naturalgegenständen, bei deren Ausleihe sie niemand bezweifelt, eine Fiktion: ein Zentner Kartoffeln, den man sich im Frühling leiht, um ihn später in natura wiederzugeben, kann dann viel mehr oder viel weniger wert sein. Allein hier kann man sich auf die unmittelbare Bedeutung des Gegenstandes zurückziehen: während der Tauschwert der Kartoffeln schwanken mag, bleibt ihr Sättigungs- und Nährwert genau der gleiche. Da nun aber das Geld keinen derartigen, sondern ausschließlich Tauschwert hat, so ist die Voraussetzung seiner Stabilität eine um so auffallendere. Die Entwicklung wird zweckmäßigerweise dahin streben, diese praktisch notwendige Fiktion mehr und mehr zu bewahrheiten. Schon vom Edelmetall hat man hervorgehoben, daß seine Beziehung zum Schmuck seiner Wertstabilität diene: denn da das Schmuckbedürfnis sehr elastisch sei, so

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nehme es bei Vermehrung des Metallvorrates sogleich ein größeres Quantum desselben auf und verhindere dadurch einen zu starken Druck auf seinen Wert, während bei steigendem Bedürfnis nach Geld die Schmuckvorräte als Reservoir dienen, aus dem das erforderliche Quantum zu entnehmen und die Preiserhöhung zu begrenzen sei. In der Fortsetzung dieser Tendenz aber scheint das Ziel zu liegen, die Geldsubstanz überhaupt auszuschalten. Denn selbst eine so geeignete wie das Edelmetall kann nicht ganz den Schwankungen entzogen werden, die aus seinen eigenen Bedingungen des Bedarfs, der Produktion, der Verarbeitung usw. hervorgehen und die bis zu einem gewissen Grade mit seinem Dienste als Tauschmittel nichts zu tun haben. Die volle Stabilität des Geldes wäre erst erreichbar, wenn es überhaupt nichts mehr für sich wäre, sondern nur der reine Ausdruck des Wertverhältnisses zwischen den konkreten Gütern. Damit wäre es in eine Ruhelage gekommen, die sich durch die Schwankungen der Güter so wenig verändert, wie der Meterstab durch die Verschiedenheit der realen Größen, die er mißt (Simmel 1989, 234f., Markierungen von M.A.).

‹Unveränderlichkeit› ist bei Simmel als landläufige, zur Konvention erhobene Kategorie axiomatischen Charakters gedacht: Es ist nicht wie bei Sohn-Rethel davon die Rede, dass sie hervorgerufen oder eingeführt würde; sie figuriert nicht als Statut, sondern als etwas Gegebenes, als regulative Idee, an der die (ökonomische) Wirklichkeit ausgerichtet wird. Das trifft auch auf die Art von ‹Gleichheit› zu, wie sie „Naturalgegenständen“ zukommen soll; verlautet über sie doch, dass „niemand“ sie „bezweifle“, so als besitze sie den Stellenwert eines intersubjektiv geteilten Leitsatzes, eines Handlungsimplikats, das nicht mehr eigens exponiert, geschweige denn ratifiziert werden muss und somit im Grunde nicht als dem Wortsinne nach positives, will sagen: als gesetztes Wissen gelten darf. Zur Untermauerung dieser Deutung kann man die eben aufgegriffene Formulierung niemand bezweifelt, die sich wie eine doppelte Negation ausnimmt, ins Treffen führen. Im Falle des Geldes wird ‹Konstanz› wiederum durch das Adverbiale im ganzen und das Verb überwiegt als konzeptuelle Dominante oder womöglich gar als ideelle Universalie der Gesellschaft apostrophiert. Eine etwaige weltanschauliche oder interessenbezogene Bedingtheit thematisiert die zitierte Sequenz ebenso wenig wie die Genese oder die Geschichte des Gleichheitspostulats, was den Anschein erweckt, als könne man hinter dieses nicht zurück. Seine gedankliche Schärfung wird durch ein Exempel eingeleitet, das wiederum bei einer Naturalie, nämlich der Kartoffel, ansetzt: Die der Kartoffel supponierte ‹Unveränderlichkeit des Tauschwertes› hat ihre konzeptuelle Basis in der Anschauung, dass der Nähr- und Sättigungswert konstant bleibe, was indes, wie an dieser Stelle einzuschalten wäre, seit dem Ende des Feudalismus für den Handel mit jener Naturalie keine sonderliche Relevanz mehr haben dürfte. Dieser – in ökonomischer Hinsicht unmaßgebliche – Wert schlägt laut Simmel lediglich dann zu Buche, wenn die Kartoffel auf ihre „unmittelbare Bedeutung“ angesehen und nicht in allgemeinere, über sie hinausweisende Zusammenhänge eingebettet wird, die ihr im Grunde wesensfremde Wertbestimmungen beilegen.

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Diese Bestimmungen lassen sich gleichwohl auf einen substantiellen Wert zurückbeziehen, wie ihn das Geld nun nicht mehr aufweist, so dass ‹Gleichheit› im Falle des Letzteren eine „um so auffallendere“ Hypostase, nämlich eine ohne Rückhalt in einem sachlich-naturalen Element und darum mit einem erhöhten Fiktionalitätsgrad ist. Sie ist gleichwohl „praktisch notwendig“, weil für die Fungibilität des Geldes unerlässlich und bildet als ökonomisches Erfordernis den Fluchtpunkt einer realen Entwicklung, die darauf abgezweckt ist, sie zu „bewahrheiten“, also die tatsächliche Verfasstheit des Geldes mit seiner fiktiven in Übereinstimmung zu bringen: Diese Entwicklung ist insofern teleologisch, als sie die wirkliche Disposition des Geldes an dessen gedankliche Prägung anpassen soll. Eben dieser intentionale, auf Akkomodierung einer Gegebenheit an ein konzeptuelles Ideal, ja mehr noch: an das praktisch Gebotene zielende Realisierungsmodus wird durch das Verb bewahrheiten gegen die gängige Vorstellung von „Verwirklichung“ profiliert. Man könnte auch von einer ‹Prozesswirklichkeit›, von einer ‹inwendigen Tendenzhaftigkeit des ökonomischen Geschehens› sprechen, das auf einen Zustand als Endpunkt zuzusteuern scheint, an welchem, wie nun wiederum Simmel schreibt, „die Geldsubstanz“ oder überhaupt die Stofflichkeit des Geldes destituiert, als Faktor aus der ökonomischen Gesamtkomplexion ausgeschlossen ist: Hängt es doch letztlich allein an der Materialität, dass unter ‹voller Wertstabilität› eine rein imaginäre Größe zu verstehen ist. Die vom Verwendungssinn des Geldes geforderte Neutralisierung seines materiellen Gehalts wird nun dadurch begünstigt, dass „Schwankungen“ des substantiellen Wertes, wie sie zum empirisch Üblichen gehören, für die Funktion des Geldes als eines „Tauschmittels“ unerheblich sind – offenbar jedoch nur solange sie ein bestimmtes Maß nicht überschreiten: Die Unabhängigkeit der Geldfunktion von der Geldmaterie ist somit wohl bloß unter gewissen Bedingungen, nicht an sich als empirisches Faktum zu betrachten; uneingeschränkt würde sie nur dann bestehen, wenn das Geld keine Eigenwertigkeit besäße, wenn es „nichts für sich“, sondern ausschließlich ein Medium, „reine[r] Ausdruck des Wertverhältnisses zwischen den konkreten Gütern“ wäre. Anders gesagt, müsste das Geld, um seine Bestimmung restlos zu erfüllen, ein Zeichen sein, bei dem die Materie komplett in seine Verweiskraft aufgegangen oder von dieser aufgezehrt ist. Die eben nachgezeichneten Zusammenhänge lassen sich vor dem Hintergrund des Leitgedankens dieser Untersuchung auf eine Doppelformel bringen. Erstens: Das Geld ist ‹zwieschlächtig›, insofern es faktisch oder, auf seine wirkliche phänomenale Qualität hin angesehen, eine Sache und seiner ökonomischen Funktion nach ein Zeichen ist, das diese Funktion umso besser ausfüllt, je weniger seine Materialität ins Gewicht fällt. Zweitens: Das für die Moderne kanonische gesamtgesellschaftliche Geldkonzept ist ‹zwieschlächtig›, insofern es zum einen eine

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sachlich zunächst ungedeckte Fiktion darstellt und zum anderen eine deklarative Komponente hat – soweit es nämlich, um diesen letzteren Punkt noch etwas näher auszuführen, die ökonomische Entwicklung in dem Sinne lenkt, dass es sie einholt oder, um mit Simmel zu reden, „bewahrheitet“. An die bislang erörterte Passage lässt sich eine weitere anschließen, die mit ihr in der inhaltlichen Grundausrichtung konform geht und den Anteil rein imaginärer Momente an wirtschaftlichen Größen aus sozialpsychologischer Perspektive belichtet: Es ist eine sehr feine und tiefe Wendung der Sprache, daß man „an jemanden glaubt“ – ohne daß weiter hinzugesetzt oder auch nur deutlich dabei gedacht würde, was man denn eigentlich von ihm glaube. Es ist eben das Gefühl, daß zwischen unserer Idee von einem Wesen und diesem Wesen selbst von vornherein ein Zusammenhang, eine Einheitlichkeit da sei, eine gewisse Konsistenz der Vorstellung von ihm, eine Sicherheit und Widerstandslosigkeit in der Hingabe des Ich an diese Vorstellung, die wohl auf angebbare Gründe hin entsteht, aber nicht aus ihnen besteht. Auch der wirtschaftliche Kredit enthält in vielen Fällen ein Element dieses übertheoretischen Glaubens, und nicht weniger tut dies jenes Vertrauen auf die Allgemeinheit, daß sie uns für die symbolischen Zeichen, für die wir die Produkte unserer Arbeit hingegeben haben, die konkreten Gegenwerte gewähren wird. Das ist [. . .] in sehr hohem Maße ein einfacher Induktionsschluß, aber es enthält darüber hinaus noch einen Zusatz jenes sozial-psychologischen, dem religiösen verwandten „Glaubens“ (Simmel 1989, 216).

Simmel legt dem fiktionalen Element, das der für alles Ökonomische essentiellen Vorstellung von der ‹Persistenz des Wertes› innewohnt, das Lexem Glaube bei, um es dann etwa dem Geld als integralen „Zusatz“ einzugliedern. Dafür, dass eine Münze ihre Funktion ausübt, soll demnach im Wesentlichen dies den Ausschlag geben, dass man ihre Fungibilität nicht zu hinterfragen geneigt ist, sondern sie ‹glaubend› supponiert; so gesehen ist in das Geld von vornherein – nahezu als Konstituens – eine Erwartung hereingenommen. Simmel präzisiert sein Glaubenskonzept in der Folge, indem er auf die Wendung an jemanden glauben zurückgreift, in der nach seinem Dafürhalten – so viel ist der Attributgruppe sehr feine und tiefe zu entnehmen – das Proprium des von ihm gemeinten ‹Glaubens› aktenkundig wird. Er hebt außerdem auf den intransitiven Gebrauch des Verbs ab, der offen lässt, was genau bzw. „eigentlich“ ‹geglaubt› wird, mithin auf einen inhaltslosen ‹Glauben› gestellt ist, bei dem es sich um ein Grund-„Gefühl“ oder ein den Subjekten lediglich intuitiv zugängliches Prinzip handelt, dessen Kern von Simmel recht extensiv vermittels einer Reihe ergänzender Charakterisierungen – „[. . .] das Gefühl, daß zwischen unserer Idee von einem Wesen und diesem Wesen selbst von vornherein ein Zusammenhang, eine Einheitlichkeit da sei, eine gewisse Konsistenz der Vorstellung von ihm, eine Sicherheit und Widerstandslosigkeit des

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Ich an diese Vorstellung [. . .]“ – eingezirkelt wird: Diese Supplemente sind darauf abgezweckt, einen differenzierten Begriff von der zwar äußerlich veranlassten, indes nicht auf ihre Motive reduktiblen Empfindung zu liefern, dass das Bild, das man von einem „Wesen“ hat, mit seiner Wirklichkeit übereinstimmt und zugleich in sich stabil ist. Indem es des Weiteren heißt, etwas von diesem ‹Glauben› sei im „wirtschaftlichen Kredit“ und, wesentlicher noch, im „Vertrauen auf die Allgemeinheit“ und auf die Beständigkeit der von dieser geschaffenen Symbolgefüge wirksam, wird er in den Rang einer psychologischen Determinante von Konventionalität im Allgemeinen erhoben und so in die Konstitutionsbasis von Ökonomie und Gesellschaft eingeschrieben. Simmel nennt den ‹Glauben› „übertheoretisch“, was so viel besagen dürfte, wie dass er keine „angebbaren Gründe“ hat, weil er gedanklich nicht vollends einzuholen ist. Daraus folgt jedoch nicht, dass er der Legitimität entbehrte. Durch das Präfix über- wird er auf einer Ebene oberhalb des Denkens, der Ratio und nicht, wie man vielleicht hätte erwarten können, als etwas ,Irrationales‘, als eine Regung, die nicht oder nur zum Teil ins Bewusstsein dringt und die auch nicht nach einer Fundierung in der Reflexion verlangt, auf einer unteren Stufe angesiedelt. Es ist nun aber auffällig, dass Simmels Ausführungen eine gewisse Unschärfe aufweisen, so als sei dem Sujet ein streng analytischer Zugriff, der seine Wirkkraft genauestens taxiert, unangemessen oder als sperre es sich eo ipso gegen einen solchen.18 So ist das Stichwort Glaube in dem oben präsentierten Textauszug immerhin zweimal als partitiver Genitiv an eine indefinite Größe angegliedert, im zweiten Fall zudem mit Anführungszeichen versehen: ein Element dieses übertheoretischen Glaubens, einen Zusatz jenes sozial-psychologischen, dem religiösen verwandten „Glaubens“. Wenn Simmel obendrein davon spricht, dass der psychologische Faktor „in vielen Fällen“, nicht aber, wie man daraus ableiten könnte, immer oder regelmäßig zu Buche schlägt, so ruft das den Eindruck hervor, dass er seinen Ausführungen lediglich den Stellenwert empirischer Beobachtungen beimisst und etwaigen theoretischen Verallgemeinerungen, die eine einseitige Gewichtung oder gar eine Verabsolutierung des ‹Glaubens› zum Ergebnis haben könnten, von vornherein einen Riegel vorschiebt. Auch schränkt er die Wirksamkeit des ‹Glaubens› am Ende unseres Zitats dahingehend ein, dass er sie als bloße Ergänzung zu der – von ihm hoch veranschlagten – persuasiven Kraft eines „einfachen Induktionsschlusses“ qualifiziert, und zwar gerade dort, wo er sich anschickt, den ‹Glauben›, wie er ihn versteht, gegenüber dem religiösen zu profilieren.  18 Dies ist hier freilich eine rein spekulative Wertung.

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Die relativierende Geste stimmt zu der eben notierten Beobachtung, dass das Substantiv hinter dem Attribut sozial-psychologischen in Anführungszeichen steht, wie wenn das mit ihm Gemeinte unter einen Vorbehalt gestellt wäre: Das könnte man als Signal dafür betrachten, dass sich der kategoriale Status des von Simmel angenommenen Phänomens, sobald man es begrifflich präzisieren und etwa vom Gottesglauben – mit dem es gleichwohl verwandt sein soll – abgrenzen möchte, als problematisch erweist. Das mit Glaube Bezeichnete ist uneindeutig und seine konzeptuelle Ausgestaltung in sich gespannt; mit ihm ist etwas ‹Suggestives›, ein Moment des ‹Nicht-Rationalen› – notabene nicht des ‹Irrationalen› – in Ökonomie und Gesellschaft namhaft gemacht, das zum einen konstitutiv und nicht mit logischen Erwägungen zu verrechnen ist, zum anderen lediglich einen an sich nicht genau definierbaren Zusatz bildet. Wie Simmel bei der Behandlung der Wendung an jemanden glauben selbst hervorhebt, ist hier ein ‹allgemeiner Glaube› gemeint, bei dem der Gehalt dem Faktum gegenüber, dass da ‹geglaubt› wird, von minderer Wichtigkeit sein soll. Auch der Schlussteil dieser einleitenden Bemerkungen, die der Exemplifizierung des Konzepts der ‹Zwieschlächtigkeit› dienen, soll sich mit einer SimmelStelle – dieses Mal mit einer, die dem Tausch gewidmet ist – beschäftigen: Die Tatsache des wirtschaftlichen Tausches also löst die Dinge von dem Eingeschmolzensein in die bloße Subjektivität der Subjekte und läßt sie, indem sie ihre wirtschaftliche Funktion ihnen selbst investiert, sich gegenseitig bestimmen. Den praktisch wirksamen Wert verleiht dem Gegenstand nicht sein Begehrtwerden allein, sondern das Begehrtwerden eines anderen. Ihn charakterisiert nicht die Beziehung auf das empfindende Subjekt, sondern daß es zu dieser Beziehung erst um den Preis eines Opfers gelangt, während von der anderen Seite gesehen dieses Opfer als zu genießender Wert, jener selbst aber als Opfer erscheint. Dadurch bekommen die Objekte eine Gegenseitigkeit des Sichaufwiegens, die den Wert in ganz besonderer Weise als eine ihnen selbst objektiv innewohnende Eigenschaft erscheinen läßt. Indem um den Gegenstand gehandelt wird – das bedeutet doch, daß das Opfer, das er darstellt, fixiert wird –, erscheint seine Bedeutung für beide Kontrahenten vielmehr wie etwas außerhalb dieser letzteren selbst Stehendes, als wenn der Einzelne ihn nur in seiner Beziehung zu sich selbst empfände; und wir werden nachher sehen, wie auch die isolierte Wirtschaft, indem sie den Wirtschaftenden den Anforderungen der Natur gegenüberstellt, ihm die gleiche Notwendigkeit des Opfers für den Gewinn des Objektes auferlegt, so daß auch hier das gleiche Verhältnis, das nur den einen Träger gewechselt hat, den Gegenstand mit derselben selbständigen, von seinen eigenen objektiven Bedingungen abhängigen Bedeutung ausstatten kann. Die Begehrung und das Gefühl des Subjektes steht freilich als die treibende Kraft hinter alledem, aber aus ihr an und für sich könnte diese Wertform nicht hervorgehen, die vielmehr nur dem Sichaufwiegen der Objekte untereinander zukommt. Die Wirtschaft leitet den Strom der Wertungen durch die Form des Tausches hindurch, gleichsam ein Zwischenreich schaffend zwischen den Begehrungen, aus denen alle Bewegung der Menschenwelt quillt, und der Befriedigung des Genusses, in der sie mündet (Simmel 1989, 56f., Markierungen im Original).

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Im ersten Satz dieses Abschnitts wird ausgesagt, dass der Tausch die Güter derjenigen Repräsentationsgestalt entkleidet, die sie dadurch gewinnen, dass ein Individuum sie in seine „bloße Subjektivität“ einschmilzt: Das bedeutet hier womöglich, dass es sie als etwas behandelt, das seinem Wesen gemäß ist, und sich zu eigen macht, ohne dadurch selbst eine Veränderung zu erfahren, wie sie statt Eingeschmolzensein etwa die Wortbildung Verschmolzensein apostrophieren würde. Zu dieser Art von Vereinnahmung gibt der Tausch oder die ihm von Simmel zugeschriebene (individual-)psychologische Triebfeder, das „Begehren“, die Kontrastfolie ab: Das sich in der Ökonomisierung entfaltende Prinzip ist das der ‹Relationalität› oder auch der ‹Interdependenz› und konkretisiert sich solcherart, dass die Dinge sich wechselseitig ihren ‹Wert› zuweisen und dass sich dieser Letztere in der Synchronisierungen zweier komplementärer Anschauungsarten herausbildet. Dieses rekurrente Motiv nimmt in Simmels Darlegungen den Rang einer konzeptuellen Dominante ein und wird durch die Prägung Gegenseitigkeit des Sichaufwiegens, die der doppelten Substantivierung wegen bemerkenswert ist, auf eine allgemeine Formel gebracht. Im Tausch, so könnte man fortfahren, avanciert ein Affekt wie das Begehren zu einem von den Individuen abgekoppelten oder überindividuellen psychologischen Faktor, wird der Umstand, dass ein Ding bei wem auch immer Begierde auslöst, diesem Ding selbst als Qualität gutgeschrieben. Simmel denkt den ‹Wert› offenkundig als Interferenz- oder Ausgleichserscheinung, in welcher abstrakt gewordene Affekte ausbalanciert sind, die sich an die Gegenstände geheftet haben. Der substantivierte Infinitiv Begehrtwerden lässt sich womöglich so lesen, als gehe er auf ein psychologisches Phänomen, das verallgemeinert, aus der Individualsphäre oder eben aus der Subjektivität des Subjekts herausgenommen ist, auf welche wiederum Lexeme wie Begierde und Opfer zurückbezogen werden können. Mit „Gegenseitigkeit des Sichaufwiegens“ ist bei Simmel etwas, das die Objekte dadurch „bekommen“ sollen, dass sie zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, also ein extrinsisches Merkmal angegeben. Es wird ihm freilich zugleich die Wirkung zuerkannt, dass es den ‹Wert› als eine den Dingen „objektiv innewohnende Eigenschaft“, mithin als intrinsische Qualität „erscheinen läßt“, und zwar „in ganz besonderer Weise“, wie Simmel hinzufügt, offenbar ohne den Ausnahmecharakter dieser paradoxen Konstellation auszubuchstabieren. Weiter unten verlautet entsprechend, das sich zwischen „Opfer“ und „Gewinn“ entspinnende Wechselspiel sei von solcher Art, dass es ein Gut mit „selbständige[r], von seinen eigenen objektiven Bedingungen abhängige[r] Bedeutung ausstatten“ könne. Diese ‹Verselbständigung der Dinge in Rücksicht auf ihre Wertigkeit› ist das Reversbild ihrer ‹Ablösung von der Subjektivität›, welchen Prozess man folglich als sich im Tausch vollziehende „Verobjektivierung“ und – vom Standpunkt des Subjekts

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aus – als „Entfremdung“ verstehen kann: So liest man, dass sich ein Gegenstand, um den gehandelt wird, den Subjekten in einem höheren Maße als etwas Exterritoriales, außerhalb ihrer Sphäre Gelegenes präsentiere, „als wenn der Einzelne ihn nur in seiner Beziehung zu sich selbst empfände“. Diese theoretischen Bestimmungen führen auf zwei miteinander verklammerte Antinomien: auf die Gegensätze ,extrinsisch vs. intrinsisch‘ sowie ,an sich seiend vs. scheinhaft‘. Der letztere Dualismus ergibt sich daraus, dass Simmel den Wert als den Dingen immanente Größe auf das Konto einer durch den Tausch bedingten Repräsentationsform bucht; das erhellt aus den mehrmals auftauchenden Verben erscheinen und erscheinen lassen. Die so charakterisierten Verhältnisse können auch dahin zusammengefasst werden, dass etwas Vermitteltes – ein ‹Wert›, der sich dadurch konstituiert, dass eine Sache zu einer anderen in Relation gesetzt und mit ihr verrechnet wird – als unmittelbar bzw. ontisch Gegebenes oder dass Uneigentliches als Eigentliches figuriert.

3 Zur Methode der Arbeit 3.1 Allgemeine theoretische Überlegungen Ziel des vorigen Kapitels war es, vor der Folie, die die sprachwissenschaftlichen Kommentare ausbreiteten, an einigen exemplarischen Textpassagen zu zeigen, dass sich ‹Zwieschlächtigkeit› als konzeptuelle Größe eignet, Antagonismen in ökonomischer Grundlagenreflexion ans Licht zu heben, und zwar gerade auch an solchen Stellen, an denen sie sich nur ansatzweise oder gar nicht sprachlich auskristallisieren. Mit ‹Zwieschlächtigkeit› ist in diesen Fällen eine Art von perspektivischem Fluchtpunkt bezeichnet, auf den hin sich gedankliche Grundlinien von Schriften, denen ungeachtet vereinzelter Ähnlichkeiten eine gemeinsame ideelle oder methodologische Klammer fehlt, verlängern lassen. Dabei wird vorausgesetzt, dass es möglich sei, das ideelle Moment, das hier unter dem von Marx entlehnten Stichwort Zwieschlächtigkeit firmiert und vermittels dieser lexikalischen Kennung in die für das Folgende maßgebliche „philologische Deutungs- und Beschreibungssprache“ (Bär 2015, 57) eingebracht wird,19 aus Texten herauszulesen, in denen es sich nicht zu einem Inhalt herangebildet hat, der auf der Ausdrucksseite, verstanden als textuelles Ensemble von Signifikanten, unverhüllt zur Geltung käme. ‹Zwieschlächtigkeit› wird in diesem Kontext nicht ausschließlich nominalistisch als interpretatives Konstrukt gefasst und von außen auf Texte appliziert, die in einzelnen Merkmalen die vorgefertigte Deutungshypothese zu bestätigen scheinen, in der ein solches Konstrukt seine Basis hat. Vielmehr ist, wo immer hier das Wort Zwieschlächtigkeit fällt, ein – vom Rezipienten ausgestaltetes – perzeptives Korrelat zu einem tatsächlich vorhandenen textuellen Moment, etwa zu einer offenkundigen oder sich lediglich abzeichnenden, impliziten Antinomie gemeint. Die jeweilige sprachliche Größe wird durch ihr konzeptuelles Pendant in der Auslegung entbunden, aktiviert oder auch erst entschlüsselt; sie erhält in Letzterem ein Medium, das ihr zur vollen Ausprägung, zur Klärung verhilft. Diese exegeti-

 19 Das Lexem gehört damit nicht mehr wie bei Marx der objektsprachlichen, sondern der metasprachlichen Ebene an. In ihm resümiert sich ein von mir, M.A., Verstandenes, und es zeichnet meinem Verstehen, wie es in dieser Studie zur Darstellung gelangen soll, zugleich die Richtung vor. Die dem Wort inskribierte Bedeutung ist demnach nicht mit derjenigen identisch, die es in der Marxschen Objektsprache besitzt – sofern man denn der Ansicht ist, dass den unterschiedlichen Wortverwendungen bei Marx eine einheitliche Bedeutung beigelegt werden kann, was freilich erst zu prüfen wäre –, sondern stellt ein kondensierendes Elaborat meiner „rezenten Deutungssprache“ (Bär 2015, 37; vgl. darin auch 57f. u.a.) dar. https://doi.org/10.1515/9783110727357-003

Allgemeine theoretische Überlegungen  29

sche Leitvorstellung, die im weiteren Verlauf der Studie, in ihrem Materialteil, operationalisiert werden soll, liegt in der Logik eines sprachtheoretischen Axioms, das Gardt folgendermaßen auf den Begriff bringt: „Die sprachlichen Konstituenten des Textes dienen als kognitive Stimuli der Sinnbildung durch den Rezipienten“ (Gardt 2012, 61). Dabei wird im Falle der ‹Zwieschlächtigkeit› davon ausgegangen, dass zwischen der vorweg nicht näher bestimmbaren Menge sprachlicher Zeichen, auf die sich das Konzept projizieren lässt, und diesem selbst, wie es sich dem Rezipienten – das ist zunächst der Autor der vorliegenden Arbeit – präsentiert, eine inhaltliche Interferenz besteht, dass mithin eine ununterbrochene Gerade vom Resultat der „Sinnbildung“ auf die „Stimuli“ zurückführt. Als sprachlich realisierter Operator der Texterklärung erfüllt das Zwieschlächtigkeitskonzept außerdem noch die Funktion, verschiedene aporetische Inhalte in ein sprachliches Einheitsgewand zu kleiden, also deren Signifikanten zu terminologisieren. Auf das Verfahren der Texterschließung, das hierin seine Grundlage hat, passt die Bezeichnung Interpretation deshalb, weil nicht einfach – angeblich oder nur vermeintlich – explizite Textinhalte und objektsprachliche Einheiten benannt oder umschrieben, sondern solche Größen kenntlich gemacht werden sollen, die allenfalls latent gegenwärtig sind und sich, wie oben erwähnt, undeutlich oder in unterbestimmten, gleichsam chiffrenartigen Sprachgebilden artikulieren. Wenn wir dies so formulieren, so stellen wir weiter eine Erfahrung in Rechnung, die sich im Vorfeld der Untersuchung so oft wiederholte, dass sie nachgerade notorisch wurde, und von der, wenn auch nicht immer unumwunden, so doch noch eindrücklich genug auch die konsultierte Forschungsliteratur Zeugnis ablegt: die Erfahrung nämlich, dass die zu lesenden Texte nicht klar und eindeutig, sondern semantisch vage oder mehrsinnig sind und mit Indirektheitsphänomenen sowie etlichen anderen Schwierigkeiten aufwarten, welche das Verstehen beeinträchtigen.20

 20 Diese Ausführungen orientieren sich an Klaus Weimars Interpretationsbegriff und an seiner sprachwissenschaftlichen Adaptation bei Fix 2007: „Texte, die keine Interpretation brauchen oder vertragen, sind solche, die von sich aus ,klar‘ sind. [. . .] Ist dem Verstehen alles klar, so hat weiteres Bemühen um den jeweiligen Text gefälligst zu unterbleiben; bleibt ihm dagegen etwas unklar, so ruft es die Interpretation zu Hilfe. Interpretation wäre dann also die Klärung dessen, was das Verstehen als ungeklärt festgestellt und ,gemeldet‘ hat“ (Weimar 2002, 106). Fix denkt Verstehen und Interpretieren nicht als zeitlich getrennte, sondern als „in einem simultanen Prozess“ miteinander korrelierte Vorgänge (Fix 2007, 328). Busse begreift das Verstehen in Anknüpfung an Heringer 1990 als „etwas, das ,sich einstellt‘, ,sich vollzieht‘“, und zwar „,automatisch‘“(Busse 1992, 168) oder „intuitiv“ (Busse 1992, 173), weshalb es denn auch „falsch“ sei, „vom Verstehen wie von einem Handeln zu reden“ (Busse 1992, 168). Das Interpretieren sieht Busse demgegenüber als „aktive[] Auseinandersetzung mit einem Text“ (Busse 1992, 187) bzw.

30  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Indem im Folgenden sprachliche Formationen Priorität erhalten, die unterbestimmt und sperrig, weil paradox und antinomisch oder, mit von Weizsäcker gesprochen, „antilogisch“ sind und sich darum im Sinne des Vorstehenden als „zwieschlächtig“ apostrophieren lassen, wird zunächst ein paradigmengeschichtliches Interesse abgegolten, wie es auch für den bereits referierten Aufsatz von Backhaus leitend gewesen ist. Das Erörterung belässt es indes nicht dabei, das Zwieschlächtigkeitskonzept auf inhaltsseitige Größen zu übertragen, um die Logik ihrer Konstituierung, die Art, wie sie gedacht sind, zu erhellen; das Konzept soll auch in den Dienst einer eingehenden Analyse der Darbietung dieser Größen gestellt werden, und zwar unter der Prämisse, dass im formalen Gepräge eines theoretischen Textes der besondere ,Geist‘ der in ihm sich ausfaltenden Idee, die spezifische Haltung, die deren Signatur bildet, Relief gewinnt. Die Erörterung hat nicht einzelne wirtschaftliche Entitäten wie Geld, Ware, Tausch usw., sondern deren sprachliche Hervorbringung in ausgewählten Texten – diese werden weiter unten benannt werden – zum Thema. Anstelle von Diskursen um ökonomische Phänomene wie die eben genannten nimmt sie ein einzelnes Diskursmoment in Augenschein, das von den sprachlichen Zeichen angeschlagen oder aufgerufen wird: eben eines, dem man das Lexem zwieschlächtig als Attribut zuordnen kann. Ihren ideengeschichtlichen Standort erblickt die Studie im Paradigma des sprachlichen Konstruktivismus.21 Es ist ihr darum zu tun, ein strukturelles Merkmal verschiedener Diskursphänomene einzukreisen und zu beschreiben, das zugleich auch der Ebene von deren reflexiver und sprachlicher Modellierung zuzurechnen ist; die Betrachtung ist ihrer Ausrichtung nach diskurslinguistisch, insofern sie

 als „textbezogenes Sprachhandeln“ an, „welches dem Ziel dient, das, was im Ursprungstext schon ausgedrückt ist, einem bestimmten Adressatenkreis (und sei es der Interpretierende selbst) verständlicher zu machen“ (Busse 1992, 190). Vgl. auch Biere 1989, 25, und Felder 2003, 107, zu einer genuin linguistischen Praxis der Interpretation auch Gardt 2007, vor allem 278ff. 21 Konstruktivismus wird hier mit Gardt als Sammelbegriff gebraucht, dem diejenigen Paradigmen subsumiert sind, „die der Sprache eine konstitutive Rolle bei der geistigen Erschließung der Welt zuerkennen“ und die weiterhin auf die Überzeugung gründen, dass „Wörter und Sätze nicht einfach eine außersprachlich existierende – und von uns sprachfrei, objektiv erkannte – Realität“ spiegeln, sondern „die Art und Weise“ festlegen, „wie wir die Realität erfassen und intellektuell verarbeiten“ (Gardt 2007, 263). Der in dieser Studie praktizierte Konstruktivismus ist gemäßigt und mit einer realistischen Komponente versetzt, insofern supponiert wird, dass Konstruktionen aller Couleur Impulse aufnehmen, die von tatsächlich Vorhandenem ausgehen. Für die später erfolgenden Textuntersuchungen ist eine ebenfalls von Gardt lancierte Maxime verbindlich: „Ein linguistisches Interpretieren muss sich einen praktikablen Kompromiss zwischen einer konstruktivistischen und einer realistischen Position in der Texttheorie zu eigen machen und den analytischen Umgang mit Texten als ein Spiel zwischen Offenheit und Bestimmtheit von Bedeutung begreifen“ (Gardt 2007, 278).

Allgemeine theoretische Überlegungen  31

sich einem Aufbauelement ökonomischer Diskurse zuwendet. (Sie wird darüber hinaus auch auf die Sphäre des Rechts und der Rechtstheorie ausgreifen, was an gegebener Stelle näher zu erläutern und zu begründen sein wird.) Ihr Ansinnen, ‹Zwieschlächtigkeit› als textuelles Elaborat, also von ihren Figurationen in Texten her zu verstehen, kennzeichnet die vorliegende Arbeit ebenfalls als eine sensu pleno diskurslinguistische. Indem sie um die Faktur ihrer Referenztexte zentriert ist, bildet sie einen Gegenentwurf zu problemgeschichtlich orientierten Untersuchungen à la Backhaus, die den Hauptakzent auf einzelne Inhalte legen und ihren ausdrucksseitigen Realisierungsformen höchstens am Rande oder auch überhaupt nicht Beachtung schenken. Tatsächlich kann Backhausens Vorgehen in diesem Zusammenhang als exemplarisch gelten: Er löst sprachliche Wendungen, Lexeme oder Phrasen unbekümmert aus den von ihm durchmusterten Schriften heraus, um sie entweder in vorgefertigte argumentative Arrangements einzugliedern oder – wie er es gerade bei gedanklichen Weichenstellungen handhabt – die Erörterung gleichsam mosaikartig aus ihnen zusammenzusetzen, Schlüsselbegriffe also neu zu kontextualisieren, ohne dass sich von außen überprüfen ließe, inwieweit diese Transkription durch den originalen Wortlaut oder durch die Intention des jeweiligen Autors gedeckt ist. Demgegenüber wird die diskurslinguistische Auseinandersetzung mit metaökonomischem Gedankengut, wie sie das Folgende dokumentieren soll, im Zeichen philologischen und hermeneutischen Problembewusstseins stehen, was zunächst vor allem dies bedeutet, dass die Auslegung sich permanent selbst hinterfragen und den subjektiven Faktor in Anschlag bringen wird, ohne ihm freies Spiel zu lassen oder ins gegenteilige Extrem zu verfallen und auf seine Ausschaltung hinzuwirken: Man ginge fehl, wenn man glaubte, die Deutung sei von projektiven Prozessen beim Interpreten gänzlich freizuhalten. Das Schwergewicht der Untersuchung wird auf solchen Partien liegen, die den Eindruck erwecken, dass in ihnen die Medialität der Texte exponiert ist oder Jakobsons ‹poetische Funktion› zum Tragen kommt, insofern ihre formsprachlichen Eigenschaften in die Wahrnehmung des Lesers hineinwirken, will heißen: insofern die Materialität der sprachlichen Zeichen die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf sich lenkt.22 Bei solchen Phänomenen wird die Frage zu erörtern sein, inwiefern sie durch den Inhalt, zum Beispiel durch elementare Eigenschaften der ökonomischen Bestimmungen, motiviert sind. Die Interpretationen setzen sich demnach zweierlei zum Ziel, nämlich zum einen die Ausleuchtung des semantischen Inhalts, der propositionalen Oberfläche der Texte, zum anderen die ana 22 Hier sei an die klassische Formulierung von Jakobson erinnert, wonach die poetische Funktion „das Augenmerk auf die Spürbarkeit der Zeichen“ (Jakobson 1979, 92f.) lenkt.

32  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

lytische Beschreibung sprachlicher Gestalten, in denen sich ein reflexiver Gestus oder eine gedankliche Disposition abformt. Kurzum: Die Exegese stellt sowohl auf das Mitgeteilte, die symbolische Dimension der Zeichen, wie auf deren indexikalische Qualität ab; sie ist somit auch auf dasjenige ausgerichtet, was sich in den Texten lediglich indirekt oder andeutungsweise, zwischen den Zeilen artikuliert. Dieses Interesse hält zu einer minuziösen, an den Details vorrückenden und mehrere sprachliche Parameter in sich einbegreifenden Lektüre an, die sich text- und diskursanalytischen Paradigmen wie Felders „pragma-semiotischer Textarbeit“23 und Gardts „textsemantischem Analyseraster“24, Ansätzen also, die punktuelle Beobachtungen auf mehreren sprachlichen Ebenen zusammentragen, um aus diesem Material durchgehende gestalterische Züge und Muster herauszumodellieren, verpflichtet weiß. Es sollen einzelne sprachliche Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit› zugleich extensiv, nämlich so, dass sich ihre Aufbaukomponenten und Facetten bilderbogenartig nebeneinander legen, und intensiv, in ihrer Entfaltungslogik, nachvollzogen werden. Diese doppelte Aufgabenstellung hat für die Studie zur Konsequenz, dass sie ihren Gegenstand nicht von vornherein in einer transtextuellen Größe, etwa in einem geschlossenen Textensemble gewahrt, das sie als homogene Einheit verstünde, um dann lediglich sporadisch wieder auf einzelne Texte und Textpartien zu rekurrieren und Belege aus ihnen herauszugreifen. Einem solchen globalen Ansatz gegenüber, der die Arbeit mit großen Korpora involviert, wird hier um des Gegenstandes willen ein philologisches Verfahren präferiert, das seinen Stoffkreis auf den individuellen Text und dessen Merkmale verengt.25 Es ist im Folgenden

 23 Vgl. Felder 2009. 24 Vgl. Gardt 2007, 2012 u.a. 25 Damit hält sich die Arbeit wiederum an eine von Gardt ausgegebene Losung, der zufolge linguistisches Interpretieren „sich dem individuellen Text zuwenden und ihn als solchen ernst nehmen, ihn also nicht nur als Repräsentanten einer Textsorte, eines Texttyps usw. begreifen“ muss (Gardt 2007, 278, Markierungen im Original). Auch bei einer Sichtung einzelner Texte tritt ipso facto „Musterhaftes“ (Gardt 2012, 60) ins Blickfeld, weil Muster als Kristallisationen intersubjektiv verbindlicher Schreibweisen, Stillagen, Routinen und dergleichen schlichtweg alle sprachlichen Gestaltungsformen umfangen. Letztlich besitzt jedwede sprachliche Äußerung – auch wenn sie sich individualistisch und kapriziös gebärdet – Züge, die schabloniert, an diskursiven Normen modelliert sind und die, indem sie „eine[r] konversationelle[n] Logik“ (Attig 2015a, 58) unterstehen, auf eine überindividuelle sprachliche Instanz bzw. auf ein kommunikatives „Wir“ (Adorno 1970, 251) verweisen. „Je deutlicher die analytische Fragestellung“, so heißt es bei Gardt weiter, auf das „Musterhafte zielt, desto stärker bewegt sich textsemantisches Arbeiten in Richtung einer systemlinguistischen Beschreibung, je mehr einzelne Autoren ganz bestimmter Zeiten im Vordergrund stehen, desto eher geht es um individuelle Formen der Bedeutungskonstitution“ (Gardt 2012, 60f.).

Allgemeine theoretische Überlegungen  33

zwar durchaus darauf abgesehen, größere, die Texte überwölbende Sinnzusammenhänge nachzuzeichnen und Diskursphänomene sowie musterhafte und typologische Konstellationen auf der Form- und Inhaltsebene ins Bild zu holen, doch soll das nicht durch Abstraktion und Verallgemeinerung, sondern umgekehrt: durch eine Sondierung sprachlicher Einzelelemente, die dieselben auf ihre strukturellen Eigenschaften und ihren Funktionssinn befragt, geschehen. Dieses Programm gründet sich auf die These, dass sprachliche Zeichen, namentlich, wenn auch nicht ausschließlich autosemantische Einheiten, als Träger perspektivisch gebundener26 konzeptueller Gehalte einzuschätzen sind und bei der Textlektüre sowohl in ihrem Nacheinander wie in ihrem Miteinander, als aufeinander folgende Einzelgrößen und als Konglomerat oder Figuration wahrgenommen werden, ihre Bedeutungen also im Wechselspiel von progressiven und rekursiven Rezeptionsarten entfalten. Sie stellen en détail wie im Ganzen Anweisungen auf einen Sinn dar, der durch ihre semantischen Potenzen umschrieben ist.27 Die Aktualisierung dieser Potenzen ist kein mechanischer Vollzug, keine bloße Umsetzung, sondern eine komplexe Prozedur, in die sich der Leser als fühlendes, denkendes, bisweilen durchaus auch parteiisches Subjekt investiert und deren Verlauf angesichts der Unwägbarkeiten, die sich aus diesem Umstand ergeben – die aktive Rezeptionshaltung des Lesers bildet eben jenen irreduziblen subjektiven Faktor, der oben namhaft gemacht wurde –, nicht vorauszuberechnen ist. Die gedankliche Rahmung und Vertiefung der mithin kaum je geradlinigen Textrezeption zählt zu den zentralen Anliegen der Hermeneutik, die als Verstehenslehre28 Grundfragen der Sprachwissenschaft erörtert und demgemäß auch eine genuin linguistische Ausprägung erhalten hat. Diese Linguistische Hermeneutik, deren Ursprung auf Fritz (1981) zu datieren sein dürfte und die von Bär (2015) mit solcher Persistenz und Tiefenschärfe operationalisiert wurde, dass sich der sprachwissenschaftlichen Theoriebildung und ihrer Praxis eine neue Refle-

 26 Felder hat in einer Reihe von Arbeiten aufgewiesen, dass „jeder sprachlichen Zeichenverknüpfung“ „eine bestimmte Perspektivität immanent“ ist und „die zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel“ die Apperzeption „instruieren“ (Felder 2009, 16f.). Darüber hinaus liefert Felder in mehreren Fallstudien reiches Anschauungsmaterial für ein Verfahren zur analytischen Bestimmung solcher sprachinhärenten perspektivischen Voreinstellungen. Vgl. zu dieser Thematik auch die richtungsweisende Studie von Köller (2004). 27 Vgl. hierzu Scherner, dem zufolge „Textelemente“ als „Anweisungsmenge“ wahrgenommen werden, deren Verarbeitung bei ihm unter der Prägung „Text-in-Operation“ rangiert (Scherner 1984, 159). 28 Mit „Verstehen“ ist hier zunächst ein „Textverstehen“ gemeint, wie es Felder und Mattfeldt definieren: nämlich ein „subjektive[r] Vollzug von intersubjektiv entstandenen Sprachgebrauchsregeln (ausdrucks- und inhaltsseitiger Art) durch ein Individuum“ (Felder/Mattfeldt 2015, 118).

34  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

xionsdimension eröffnet hat, ist eine der wichtigsten Inspirationsquellen für die nachfolgenden Interpretationen gewesen. Die Zeichen sind nicht allein durch ihre semantischen valeurs, die sich in ihren wechselseitigen Relationen ausdifferenzieren, sondern auch durch ihren strukturellen Ort im syntagmatischen und textuellen Gefüge bestimmt. In ihrem Zusammenhang profiliert sich nicht nur ein Bedeutungsinhalt, sondern auch etwas Anderes, das diesen übersteigt: die Art seiner Darstellung und seiner konzeptuellen Fassung, eine intentionale Haltung dem Darzustellenden gegenüber, die sich in der thematischen Entfaltungslogik eines Textes ebenso bemerkbar macht wie in seiner Bauform und seinen funktionalen Eigenschaften. Von den textuellen Attributen wird im Weiteren denn auch solchen Vorrang gegeben, die als Träger spezifischer Funktionen und thematischer Entfaltungsmuster zu qualifizieren sind, wie Brinker (1985, 2000) sie ansetzt. Für die darlegenden und erörternden Schriften, die hier zur Behandlung kommen sollen, ist aller Erwartung nach die „argumentative Themenentwicklung“ die einschlägige. Demzufolge werden textuelle Ausformungen von metaökonomischer Reflexion daraufhin anzusehen sein, wie konventionelle, für Fachtexte maßgebliche Darstellungsmuster, so zum Beispiel eben argumentative oder auch definitorische, in ihnen zur Anwendung gelangen und ob sich ihr Repertoire an Gestaltungsmodi in solchen Mustern erschöpft. Dieser Zugang soll seinerseits dazu dienen, den Ordo eines metatheoretischen Denkens von exemplarischen sprachlichen Manifestationen her ins Auge zu fassen, die Disposition einer Fundamentalreflexion an spezifischen textuellen Konkretisierungen aufzuweisen. Dabei werden solche Momente in den Vordergrund rücken, in denen die herangezogenen Schriften von formalen Usancen der Fachkommunikation abweichen – etwa um diese Konstituenten zu modifizieren, ihrer eigenen Mitteilungsabsicht anzupassen – und die jeweils als stilistische Charakteristika einzustufen sind. Verstanden als sprachtheoretische oder sprachwissenschaftliche Kategorie, ist ‹Stil› Kondensat einer Vorstellung, der zufolge sich in einem sprachlichen Gebilde die Anlage eines bestimmten Denkens abformt, die entweder, als rein individuell, vermitteltes Insigne einer Autorpersönlichkeit oder aber einer Routine (die in einem Fach, einer gesellschaftlichen Schicht, einer Epoche o.Ä. vorherrscht) auf die Rechnung zu schreiben ist.29 Der Stilbegriff bietet  29 Nach Eroms ist der Stilbegriff sowohl auf das Singuläre wie auf das Konventionelle des sprachlichen Ausdrucks bezüglich: Er zeigt ein „Janusgesicht“, insofern ihm „eine normbezogene, verbindliche Komponente“ und „eine individuelle, die Norm, die Vorgabe gerade überschreitende Bedeutung“ eignet (Eroms 2008, 24), wobei die Abweichung von der Regel funktional sein soll. „Kollektive und individuelle Ausprägungen des Stils“ bilden bei Eroms keinen Gegensatz, sondern werden grundsätzlich als zusammengehörig „wie die beiden Seiten einer Medaille“ angesehen (Eroms 2008, 16). Göttert/Jungen bringen den überindividuellen Pol mit dem Erwartungs-

Allgemeine theoretische Überlegungen  35

somit eine Handhabe, sprachliche Differentiale in einem Text, in welchen sich eine individuelle oder überindividuelle Artikulationsform abzeichnet, auf einen pragmatischen Horizont zurückzuspiegeln und ihnen eine spezifische Erkenntnisart, die wiederum subjektiver oder intersubjektiver Natur ist, also eine epistemische Tiefenschicht zu substruieren.30 An sprachlichen Zügen, die unter den Stilbegriff als gewiss schemenhaftes, für die Textauslegung gleichwohl instruktives theoretisches Elaborat rubriziert werden können, lässt sich im Sinne des eben Ausgeführten ebenfalls aufzeigen, wie sich eine individuelle Voreinstellung zu reflexiven Schemata, zu Denkkulturen, Dispositiven und Normen, die nur mehr in einzelnen Fällen bestimmten Instanzen und Institutionen zuzuordnen sein mögen und den Maßstab für Diskursivität abgeben, ins Verhältnis setzt. Ein Text nämlich „ist als Diskursausschnitt zugleich eine individuelle und intersubjektive Größe im sozialen Zwischenbereich von Menschen“ (Felder/Mattfeldt 2015, 118). Die Verwendung sprachlicher Mittel in einem Text ist also doppelt motiviert: zum einen durch die persönliche Ausdrucksabsicht eines Autors, zum andern durch Leitlinien und Regeln, in denen Idealbilder von Diskursivität aufscheinen, die für bestimmte gesellschaftliche Segmente typisch sind.31 Diese Annahme impliziert, dass sich die Gestalt eines Textes aus einer bewussten Entscheidung für und gegen bestimmte Ausdrucksoptionen herleitet, ist also der sogenannten Selektionstheorie verpflichtet. Sie führt auf die Schlussfolgerung, dass im Text prinzipiell jede sprachliche Komponente intentional ge-

 horizont von Textsorten in Verbindung und gebrauchen demzufolge die Termini Gattungs- und Textsortenstil synonym (Göttert/Jungen 2004, 19). 30 Diese Überlegung impliziert, dass der Stil auch insofern doppelgesichtig ist, als er eine „pragmatisch-kommunikative“ und eine „sprachstrukturelle Dimension“ (Fix/Gardt/Knape 2008, v) besitzt. Zur kognitiven Dimension des Stils und zu theoretischen Strömungen, die auf diese ausgreifen, vgl. stellvertretend für andere Beiträge Gumbrecht 1986 und Weiss 2009. (Man könnte übrigens den Titel der Arbeit von Gumbrecht nehmen, um das Kernproblem zumindest einer metareflexiv eingestellten Ökonomie herauszuschärfen: „Schwindende Stabilität der Wirklichkeit“). 31 Vgl. Ohmann 1964, Jacobs/Rosenbaum 1971, Guiraud/Kuentz 1975, Sandig 1986, Trabant 1986 und die Synopse bei Göttert/Jungen 2004, 21ff. Eroms resümiert das in Rede stehende Paradigma mit diesen Worten: „Mit der stilistisch bedingten Auswahl aus den Möglichkeiten des Sprachsystems trifft der Sprecher oder Schreiber eine Entscheidung, die seine geplante kommunikative Handlung über ihr bloßes Angemessensein hinaus in besonderem Maße zum Gelingen führen soll. [. . .] Geht man nur genügend weit ›nach oben‹ in der Bestimmung der Bezugsebene, dann lässt sich jeder Ausdruck als ›ausgewählt‹ auffassen. Jedes Element einer beliebigen Stufe kann durch Paraphrase mit Kombinationen von Elementen niedrigerer oder durch Integration in Elemente höherer Stufen abgewählt werden. So kommt systematisch gesehen allen Elementen Stil zu“ (Eroms 2008, 23).

36  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

laden und darum als signifikant und funktional einzuschätzen ist, zumal wenn sie sich nicht ohne Weiteres in ein eingeschliffenes Darstellungsmuster einrangieren lässt: Ein Regelverstoß wird dem Postulat der ‹hermeneutischen Billigkeit› gemäß32 nicht als unwillkürliche Fehlleistung, sondern als bewusst und bedachtsam ausgesandtes Signal begriffen, dessen semiotische Wertigkeit es zu ermitteln gilt. Der Auslegung ist demnach ein „Moment der Affirmation“ (Szondi 1975, 115) inhärent, oder stärker formuliert: Sie erfolgt unter der Prämisse, dass der Verfasser konstruktiv ist und den Leser nicht vorsätzlich in die Irre führt, sondern den sprachlichen Ausdruck auf seine Mitteilungsabsicht transparent hält, und gewährt ihm so in der Formulierung von Gardt 2007, 267, „eine Art semantischen Vertrauensvorschuss“. Diese Konzession wird hier als wenn nicht notwendige, so doch zumindest plausible Weiterung einer konstruktivistischen Haltung betrachtet, wie sie für die nachfolgende Untersuchung bestimmend sein wird. Diese geht von dem Grundsatz aus, dass alle Texte, denen sie sich zuwendet, von einem konstruktiven sprachlichen Handeln, einem kommunikativen Ethos zeugen, kurzum: dass ihre Autoren bei der Niederschrift, auch wo der Augenschein dagegen sprechen mag, von dem Wunsch getrieben waren, sich mitzuteilen und verstanden zu werden. Das heißt, dass der produktive Impetus von Verstehen und Interpretieren33 zunächst

 32 Dieses Postulat besagt Folgendes: Man habe einem Autor grundsätzlich zuzutrauen, dass – so Szondi in Anknüpfung an den Aufklärer Meier – in seinem Text „die Zeichen klug erwählt sind“, und „bis zum Erweis des Gegenteils“ an dieser Voraussetzung festzuhalten (Szondi 1975, 109). Nach Szondi behauptet sich die hermeneutische Billigkeit im Verstehen „nicht als Annahme von Qualitäten bis zum Erweis des Gegenteils“, sondern in Form der „Befragung des Textes auf diese Qualitäten hin. Sie werden zwar nicht unbesehen, als wäre diese Welt die beste, für gegeben gehalten, aber als eine Potentialität bestimmen sie dennoch das Verständnis, dessen Vorgehen sich von der Frage leiten läßt, ob in einem Text von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht wurde“ (Szondi 1975, 114f.). Vgl. Gadamer 1960, 260 (wo von einem „Vorgriff der Vollkommenheit“ die Rede ist), und Gardt 2007, 267. – Es wäre zu überlegen, inwieweit hermeneutische Billigkeit in einer Interpretation von Empathie mit dem Autor zeugt oder allgemeiner: ob Empathie als psychologische Kategorie – zumal in der konzeptuellen Fassung, die sie in der Sprachwissenschaft erhalten hat – neue Impulse für die Reflexion auf das Verstehen und für die hermeneutische Praxis im Allgemeinen geben könnte. (Vgl. Hermanns 2007, wo der Empathiebegriff im Horizont der Linguistischen Hermeneutik steht, das Stichwort hermeneutische Billigkeit indes selbst nicht fällt, sowie Gardt 2012, 62.) 33 Einen solchen Impetus schreibt dem Verstehen etwa Fix zu, die sich in besonderer Weise um die Erhellung der oben entwickelten Zusammenhänge verdient gemacht hat: „Verstehen ist [. . .] nicht als Dekodieren sprachlicher Zeichen anzusehen – das würde einen Übersetzungsvorgang suggerieren, der so nicht abläuft –, sondern als ein konstruktiver/schöpferischer Akt, der über die sprachlichen Zeichen hinausreicht und Bezug auf die Welt und die Intentionen des Produzenten nimmt“ (Fix 2007, 326). Den theoretischen Referenzrahmen für diese Ausführungen bilden

Allgemeine theoretische Überlegungen  37

vorbehaltlos von der Rezipientenseite auf den Verfasser übertragen wird.34 Für die Auslegungspraxis ergibt sich aus dieser Supposition die Maxime, dass man keine Mühen scheuen darf, um tatsächlich oder auch nur vermeintlich unterbestimmte, dunkle Textpassagen aufzuhellen, Verständnisschwierigkeiten aufzulösen. Damit ist allerdings nun nicht gemeint, dass die Exegese ipso facto unkritisch wäre oder es sein sollte, geschweige denn dass man sich bei der Deutung die aus den Texten herausgearbeiteten Gehalte zu eigen machen müsste. Auch soll mit dem soeben Ausgeführten nicht insinuiert werden, dass die Bedeutung eines Textes, wie sie sich dem Rezipienten darstellt, ohne Weiteres mit der Mitteilungsabsicht des Urhebers, mit dem ,Gemeinten‘ gleichzusetzen wäre.35 Zur inneren Logik der hier eingenommenen konstruktivistischen Position gehört weiter auch die Überzeugung, dass man Sprache nicht in die passive Rolle des bloßen Mediums eines außersprachlichen Sinnes hineindrängen dürfe, sondern als eigenständigen und in seiner Tragweite schwer taxierbaren Wirkfaktor zwischen die Momente ,textueller Inhalt‘ und ,Autorintention‘ einschieben müsse. Schreibende werden etwas nicht einfach so ausdrücken (können), wie es ihnen vorschwebt, sondern genötigt sein, ihre Ausdrucksintention mit Obligationen des Sprachsystems zum einen sowie mit sprachlich-kommunikativen Usancen zum

 die Überlegungen Hörmanns. Biere 2007 deutet das Verstehen im Rekurs auf Schleiermacher als permanentes Konstruieren „eines virtuellen Sinns“, dessen Resultate immer von Neuem „auf die Probe“ gestellt würden (Biere 2007, 18). Diese Charakterisierung konvergiert in der Stoßrichtung mit den Überlegungen, die Szondi in seinem wirkmächtigen Traktat „Über philologische Erkenntnis“ vorgetragen hat und die ein wesentliches Merkmal nicht nur der Auslegung von Literatur – ihres eigentlichen Sujets –, sondern des Umgangs mit Texten im Allgemeinen hervortreiben. Das philologische Wissen, das Szondi in Abgrenzung vom naturwissenschaftlichen profiliert, fällt nämlich auch in den innersten Problemkreis der Sprachwissenschaft: „Dem philologischen Wissen ist ein dynamisches Moment eigen, nicht bloß weil es sich, wie jedes andere Wissen, durch neue Gesichtspunkte und neue Erkenntnisse ständig verändert, sondern weil es nur in der fortwährenden Konfrontation mit dem Text bestehen kann, nur in der ununterbrochenen Zurückführung des Wissens auf Erkenntnis, auf das Verstehen des dichterischen Wortes“ (Szondi 1978a, 265). Eine tiefenscharfe Erörterung des Verstehensbegriffs mit heuristischer Tendenz und breiter paradigmengeschichtlichen Basis bietet Felders programmatischer Aufsatz von 2012. Eine genuin sprachwissenschaftliche Theorie des Verstehens entfaltet Bär 2015, wo auch das sprachwissenschaftliche Verstehen selbst nachvollziehbar gemacht wird. 34 Zu dieser Thematik vgl. Szondi 1978b. 35 In dieser Sache hat Gardt den bündigen Bescheid erteilt, dass „eine Identifizierung von Autorintention und Textbedeutung unzulässig“ sei. Zwar hebt das Diktum in erster Linie auf literarische Werke ab, doch will Gardt es auch auf Gebrauchstexte bezogen wissen, bei denen sich die Gleichsetzung „oft als unproblematisch“ erweise (Gardt 2012, 62).

38  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

anderen zu vermitteln.36 In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass die jeweiligen Horizonte von Autor und Leser, die im Verstehen interferieren, in verschiedene Vorstellungen der langue, mithin in zumindest potentiell voneinander abweichende sprachsystematische Referenzrahmen eingefasst sind (wobei diese Differenz im Regelfalle, also bei funktionierendem Verstehen, aus dem Spiele bleiben dürfte):37 [. . .] [D]er Rezipient bezieht beim Verstehen einer sprachlichen Äußerung eine andere Langue auf dieselbe, als es der Produzent bei ihrer Hervorbringung getan hat. Das, was er versteht, ist damit etwas prinzipiell anderes als das, was der Produzent geäußert hat (Bär 2015, 21).

Darüber hinaus ist ein Text, wie oben bemerkt, semantisch nicht dergestalt determiniert, dass seine Erschließung lediglich als mechanische Exekution von Vorgaben oder Anweisungen zu gelten hätte. Der Interpretation ist also eine gewisse Variationsbreite gewährt; vom Sinn, den der Leser jeweils verwirklicht, führt kein gerader Weg zum potentiellen oder virtuellen Sinn zurück, der im Text angelegt ist.38 Wo sprachliche Gebilde durch semantische Vagheit und Uneindeutigkeit gekennzeichnet sind, gehört es zur ‹hermeneutischen Billigkeit›, sich mit den auftretenden Unschärfen auseinanderzusetzen und sie in die Deutung zu integrieren, anstatt sie reflexhaft zu bloßen Fehlleistungen, das heißt zu semiotischen Leerstellen zu stempeln. Gerade bei Schriften wie den im Folgenden behandelten, in denen sich aporetische Denkfiguren konturieren, könnte man zum Beispiel in

 36 Zum Stellenwert der Autorintention in der Interpretation vgl. die grundlegenden Bemerkungen in Gardt 2007, 269–272. 37 Tatsächlich mag dies für das Verstehen in der Praxis lediglich dann eine nennenswerte Unschärfe zur Folge haben, wenn zwischen Produktion und Rezeption des Textes ein größerer zeitlicher Abstand liegt, also zum Beispiel Zeugnisse einer älteren Sprachstufe gesichtet werden. Vgl. Bär 2015, 21. 38 Vgl. hierzu Felder 2012, 127f.: „Bedeutung ist demnach weder eine statische Gegebenheit oder ontisch zu hypostasieren, Bedeutungsexplikation vollzieht sich durch zeichenhafte Interpretation von Zeichen (also durch Auslegung sprachlicher Zeichen und Zeichenketten in Texten unter Bezugnahme auf ihren Stellenwert im Textgeflecht)“. Ähnlich Gardt 2012, 61: „[. . .] [D]ie Kontextualisierung von Wörtern und Formen im konkreten Textvorkommen bedeutet [. . .] nicht eine Auswahl aus einem fest vorgegebenen Satz von Bedeutungsmöglichkeiten, sondern bewirkt ein gegenseitiges Semantisieren der Textkonstituenten. Die Abläufe sind so vielschichtig und in einem Maße von Vorwissen und Urteilsvermögen des Rezipienten abhängig, dass von Objektivität der Bedeutungsbestimmung nicht die Rede sein kann“. Nicht minder wichtig ist der Fortgang dieser Überlegung: „Was allerdings möglich ist, ist ein Konsens über die Bedeutung, und im Alltag des Textverstehens wird diejenige Bedeutungszuweisung, die den größten Konsens findet, nicht selten auch als die ,richtige‘, ,objektiv zutreffende‘ gesehen“ (Gardt 2012, 61).

Allgemeine theoretische Überlegungen  39

Erwägung ziehen, dass etwas von diesem Sujet bewusst in den Ausdruck hereingenommen ist und Unklarheiten als intentionaler Verstoß gegen Normen der Konversation zu begreifen, einem darstellerischen Kalkül geschuldet sind, mithin darauf hinwirken, die poetische Funktion der Sprache, wie sie vorhin erläutert wurde (also sensu Jakobson), zu aktivieren. Demzufolge wird die Frage nach dem Wollen eines Autors dringlich, sobald er in manchen – womöglich gar zentralen – Partien eines Textes nicht mehr wie ein unfehlbarer Souverän anmutet und das Verständnis angewiesen ist, die tiefere Ursache dafür zu eruieren und zu diesem Zweck eine Vorstellung vom inneren Plan der sprachlichen Gestaltung zu gewinnen. Das im Vorigen erläuterte Erkenntnisinteresse ist lediglich qualitativ, durch ein möglichst viele Details berücksichtigendes philologisches Exerzitium zu befriedigen, bei dem Texte oder Textstellen nicht als Belege, sondern als sprachliche Phänomene genommen werden, die beschrieben und erschlossen sein wollen. Der Spielraum der Arbeit ist daher in doppelter Hinsicht begrenzt: Erstens kann nur eine relativ geringe Zahl von Texten berücksichtigt werden; zweitens müssen für ihre Auswahl die sprachliche Kompetenz und die disziplinäre Verortung des Interpreten ausschlaggebend sein. Es geht hier ein Germanist zu Werke, der, auch wenn er Fremdsprachenkenntnisse besitzt und zudem eine weitere Philologie studiert hat, sich schwerlich selbst die Expertise attestieren kann, deren es bedarf, um in eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit anderen als deutschsprachigen Texten eintreten zu können. Die Konsultation von Übersetzungen scheidet aus dem Grunde aus, weil diese das Original selbst dann, wenn sie sich denkbar eng daran halten – dass sie es tun, müsste allererst erwiesen werden –, letztlich ebenso wenig in seiner Bedeutung wie in seiner sprachlichen Beschaffenheit unverändert reproduzieren, der auszulegende Text also durch einen anderen verdeckt ist. Zielte die Arbeit demgegenüber auf eine Darstellung wirtschaftstheoretischer Fachsemantik, müsste sie naturgemäß mit einem bedeutend größeren Korpus operieren. Durch den verhältnismäßig engen Zuschnitt der Textbasis beraubt sich die Untersuchung indes nicht der Chance auf Erkenntnisse von einer gewissen Repräsentativität. Zum einen steht zu erwarten, dass sich der konzeptuelle Gehalt von ‹Zwieschlächtigkeit› umso umfassender und auch umso präziser beschreiben lässt, je gründlicher und eingehender die sprachliche Konstituierung des Phänomens in einzelnen Texten nachvollzogen wird. Zum anderen darf man vermuten, dass, je detaillierter und facettenreicher die Darstellung einzelner sprachlicher Ausprägungen von ‹Zwieschlächtigkeit› ausfällt, umso eher etwaige Verbindungslinien, Korrespondenzen und Homologien ins Blickfeld kommen, die gedankliche und weltanschauliche Divergenzen, wie sie bei einem inhaltlichen Abgleich als Erstes wahrgenommen werden dürften, durchkreuzen. Bei der Betrachtung sol-

40  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

cher Interferenzen stellt sich die Frage, inwieweit sie sich verallgemeinern lassen, das heißt auch: inwieweit es gelingt, von den einzelnen sprachlichen Verwirklichungen des Konzepts auf sprachliche Verwirklichungsmuster und auf Denkweisen, die sich in diesen abdrücken, zu extrapolieren: Im Idealfall nimmt ein ganzes Diskurssegment Konturen an. Nur am Rande sei bemerkt, dass ein schmales Untersuchungskorpus eine thematische Verdichtung ermöglicht, die der bei einer mikrologischen Exegese drohenden Gefahr der Ziel- und Orientierungslosigkeit, der pointillistischen Zerstreuung entgegenwirkt.39 Das Korpus setzt sich aus vier Schriften zusammen, an die das Konzept der ‹Zwieschlächtigkeit› so wie oben angegeben als analytische Kategorie herangetragen werden soll, und zwar mit dem Ziel, ein für diese Texte spezifisches Merkmal fassbar zu machen und zu veranschaulichen. Im Vorfeld verlief die Beschäftigung mit diesen Werken solcherart, dass auf den zunächst vagen Eindruck hin, dass sie in Form und Inhalt etwas Aporetisches haben, das Konzept in sie hineinprojiziert wurde, wobei sich die Anmutung der Gegensätzlichkeit in einzelnen Figuren konkretisierte. Diesen Figuren wurden sodann in einem weiteren Schritt, den das synoptische fünfte Kapitel der Studie dokumentieren wird, antithetische sprachliche Kennungen zur Seite gegeben, um sie zu fixieren und voneinander abzuheben. Einzig von dem Marx entlehnten Lexem zwieschlächtig kann man sagen, dass es tatsächlich aus der Textbasis herausgelesen wurde. Das Konzept, dessen Ausbildung es initiierte, stimmt im Ansatz mit derjenigen Größe überein, die das Wort bei Marx bezeichnet, kann aber gleichwohl nicht als Beschreibung von dessen Bedeutung angesehen werden, weil es von den Referenzstellen im „Kapital“ abstrahiert und auf Verbegrifflichung ausgelegt ist. Es wird demgemäß auch nicht behauptet, dass die behandelten Texte in ihrem Inhalt oder ihrer Gestalt bzw. in beidem ‹zwieschlächtig› seien, wie wenn damit eine fundamentale Eigenschaft von ihnen getroffen wäre. Mit einer solchen Prätention würde einem realistischen Standpunkt das Wort geredet, den wir in diesem Versuch gerade nicht vertreten möchten. ‹Zwieschlächtigkeit› ist den Texten nicht immanent oder für sie essentiell, sondern gleichermaßen als Denkeinheit und als sprachlicher Terminus, folglich als Begriff zu verstehen, dem sich textuelle  39 Dass einer primär philologischen, auf den Wortlaut einzelner Stellen gerichteten Deutung, auch wenn ihr an einer Erläuterung des ganzen Textes oder eines übergeordneten inhaltlichen Zusammenhangs gelegen ist, eben dieser Referenzpunkt leicht aus dem Blick zu geraten droht, lässt sich exemplarisch an den antiquarischen Studien Lessings, zum Beispiel an der verwickelten Aristoteles-Exegese in den letzten Stücken der „Hamburgischen Dramaturgie“ aufzeigen, die bei aller Minuziosität merkwürdig unorganisiert anmuten. Hier scheint sich bereits die mäandernde, prima vista ziellose argumentative Bewegung der späterhin zu untersuchenden „Vorbemerkung“ von Max Weber anzukündigen.

Textgrundlage der Untersuchung  41

Momente subsumieren lassen, von welchen er einen gemeinsamen Zug benennt, die jedoch nicht mit ihm identisch sind. Die Untersuchung ist von der Überzeugung getragen, dass dieser Begriff eine perspektivische Steuerung bewirkt, die erkenntnisstiftend ist, insofern sie ein potentielles Sinnelement der Texte auslöst, und dass er der Lektüre einen Gesichtspunkt anweist, unter dem die Texte verständlich werden.

3.2 Textgrundlage der Untersuchung Die im Korpus versammelten Texte teilen mit Ausnahme des vierten dies miteinander, dass sie als „metaökonomische“ angesprochen werden können. Es handelt sich um die folgenden: (1) das „Kapital“ von Karl Marx, (2) die den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ von Max Weber beigegebene „Vorbemerkung“, (3) die „Staatliche Theorie des Geldes“ von Georg Friedrich Knapp, (4) die „Rechtsphilosophie“ von Gustav Radbruch. Das „Kapital“ muss bereits aus dem Grunde herangezogen werden, weil in dieser Schrift das zentrale Stichwort zwieschlächtig fällt und sie, dieses eher pragmatische Motiv einmal beiseite gelassen, als kanonische Referenz für metaökonomisches Denken jeder Couleur anzusehen ist. Darüber hinaus jedoch gebührt dem chef d’œuvre von Marx um seiner selbst wie um seiner wahrlich schicksalhaften, epochalen Breitenwirkung willen eine eingehende Betrachtung, gerade vonseiten der Sprachwissenschaft, von der erwartet werden darf, dass sie Wesentliches zur Erhellung dieses Schlüsseltextes der neueren Geschichte und seiner Rezeption beizutragen hat. Eine auch seine extrem verwickelte Entstehungs- und Editionsgeschichte berücksichtigende philologische Gesamtschau, wie sie wünschenswert und geboten wäre, kann die vorliegende Arbeit freilich noch nicht einmal im Ansatz leisten; Umfang und Vielschichtigkeit des „Kapitals“ sowie die immensen inhaltlichen Schwierigkeiten, die es aufwirft, nötigen zu einem eher stichprobenartigen Verfahren, also zu einer Beschränkung auf verhältnismäßig wenige Textauszüge, von denen man allerdings sagen darf, dass sie Marx’sche Hauptmotive intonieren. Für eine Interpretation des Werkes im Ganzen ist das hier präferierte Vorgehen, der Zugriff auf einzelne Textmerkmale, ungeeignet. Im Mittelpunkt des Marx-Komplexes der Untersuchung stehen Partien aus dem ersten Buch des „Kapitals“, die deshalb ausgewählt wurden, weil sie Axiome und Kerngedanken von Marx exponieren und weil ihnen zudem seitens der Forschung lebhafte Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist. Des Weiteren – und das war

42  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

für ihre Einbeziehung gleichfalls ausschlaggebend – sind diese Stellen rücksichtlich ihrer formalen Eigenschaften für das Werk exemplarisch; so lassen sie auch solche sprachlich-kompositorischen Züge erkennen, die unter den oben angegebenen Voraussetzungen als „zwieschlächtig“ bezeichnet werden können. Für die Auswahl der Stellen bildete folglich deren Repräsentativität in Hinblick auf Inhalt und Gestaltung das entscheidende Kriterium. Das vorrangige Anliegen der Interpretation ist eine formalisierende Beschreibung einiger Konstituenten des sprachlichen Gewandes, in das Marx sein Denken gekleidet hat, wobei zugleich eine Art der Darbietung angestrebt wird, die es gestattet, die Befunde mit anderen, welche die weiteren exegetischen Teilkapitel liefern werden, in Parallele zu bringen. Eine metaökonomische, mithin der inhaltlichen Disposition der Arbeit entsprechende Ausrichtung weist eo ipso auch Webers „Vorbemerkung“ auf, insofern sie sich eine Wesensbestimmung der Epoche des okzidentalen Kapitalismus oder präziser eine „rein begriffliche Erfassung der als darin formbildend unterstellten Bestimmtheit ökonomischen Handelns“ (Quensel 2007, 149, Markierung im Original) zur Aufgabe macht. Anders als das „Kapital“ wird dieser Text, einige Auslassungen abgerechnet, Zeile für Zeile in Augenschein genommen, und zwar in der Absicht, aus seinen formalen Spezifika Rückschlüsse auf einen kompositorischen Ordo zu ziehen und den Eindruck, dass er in sich aporetisch ist, durch ein Ausgreifen auf seine Organisation, seine Bauform zu bestätigen, in der wie im „Kapital“ eine besondere Denkweise Gestalt gewinnt. Webers ungemein akribische Darlegung – so viel sei vorweggenommen – scheint den diskursiv-fachsprachlichen Normen entgegen nicht oder vorsichtiger: nicht um jeden Preis auf Eindeutigkeit, Widerspruchslosigkeit geeicht zu sein. Die „Vorbemerkung“ wurde also ebenfalls nicht nur ihrer unbestreitbaren inhaltlichen Relevanz, sondern auch ihrer Besonderheiten auf der Formebene wegen in das Korpus integriert. Darüber hinaus triff auch auf Weber zu, was soeben über Marx gesagt worden ist: Er zählt, wie wohl kaum näher ausgeführt werden muss, zu den bedeutendsten und einflussreichsten Theoretikern der Moderne. Seine Strahlkraft reicht weit über die neuere Soziologie hinaus, deren intellektuelles Profil er maßgeblich geprägt hat;40 er hat – in inhaltlicher wie in methodologischer Beziehung – elementare Beiträge zur geistigen Durchdringung spezifisch neuzeitlicher Erscheinungen und an sie geknüpfter Erfahrungsgehalte geleistet. Allein seine exzeptionelle Stellung in der Wissenschaftsgeschichte sollte dem Œuvre Webers das Interesse zumindest solcher linguistischer Strömungen sichern, die das Fach als ein kulturwissenschaftliches begreifen. Dass eine gründliche philologisch-sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Webers Schriften für ein adäquates Verständnis seines  40 So unlängst und stellvertretend für andere Autoren Quensel 2007, 13.

Textgrundlage der Untersuchung  43

Denkens tatsächlich sogar unumgänglich ist, hat Bär mit seiner großen Abhandlung über das Weber’sche Geistkonzept (Bär 2014/15) eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Forschungspragmatisch argumentiert, gereicht die Berücksichtigung Webers unserem Unterfangen insofern zum Vorteil, als sie eine einseitige inhaltliche und theoriegeschichtliche Schwerpunktbildung vermeiden hilft, wie sie zu verzeichnen wäre, wenn neben Marx noch ein weiterer marxistischer Denker vom Schlage Sohn-Rethels behandelt würde: Ein solches Übergewicht einer bestimmten ideologischen Strömung hätte zur Konsequenz, dass innerhalb des Paradigmas des metaökonomischen und metatheoretischen Denkens ein Segment im Korpus unverhältnismäßig stark repräsentiert wäre. Die Untersuchung geriete durch eine derartige Schieflage erstens in argumentative Nöte und nähme zweitens grundlos eine Schmälerung ihres Erkenntniswertes in Kauf; dieses Manko würde durch die paradigmengeschichtliche Brisanz des Marxismus mitnichten wettgemacht, denn die Zielsetzung der Arbeit hält beim Zuschnitt der Textbasis zu möglichst großer thematischer Diversifizierung an. Dass unter den Werken Webers nun die vergleichsweise kurze „Vorbemerkung“ und nicht eine prominentere Schrift wie der Aufsatz „Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus“ oder die voluminöse Kompilation „Wirtschaft und Gesellschaft“ ausgewählt wurde, ist dadurch gerechtfertigt, dass sich in der Forschung Stimmen vernehmen lassen, die jenem Text die Rolle eines Schlüssels zum Denken Webers zugestehen. Weiterhin bieten die – an Marxens „Kapital“ gemessen – bescheidenen äußeren Dimensionen der „Vorbemerkung“ die Option, sie in Gänze durchzugehen und das Augenmerk sowohl auf ihre Makro- wie auf ihre Mikroebene zu richten; es können so denn auch andere Deutungsverfahren zum Zuge kommen als im Rahmen der Marx-Lektüre, die sich auf eine selektive Betrachtung zu beschränken hatte. Der Autor des dritten der nachfolgend zu beleuchtenden Texte, Georg Friedrich Knapp, ist nicht annähernd so renommiert wie Marx und Weber. Zwar haben sich innerhalb der Nationalökonomie durchaus lebhafte Kontroversen an seinen Ansichten entzündet, doch sind diese letztlich kaum über die Grenzen des Faches hinausgedrungen, so dass Knapps wissenschaftsgeschichtliche Breitenwirkung nicht im Entferntesten an die von Marx und Weber heranreicht. Immerhin aber reiht eine neuere „Ökonomische Ideengeschichte“ Knapp in die Riege der „namhaftesten Repräsentanten“ der sogenannten Jüngeren Historischen Schule (Kolb 2017, 50) ein, deren Inaugurator, Gustav Schmoller, im Ausgang von „ökonomische[n], insbesondere auch wirtschaftshistorischen Einzeltatbeständen“, die durch „monografische Detailforschung“ erschlossen werden sollten, zu „eine[r] nationalökonomische[n] Theorie“ gelangen wollte (Kolb 2017, 49). Backhaus nennt Knapp einen „Mitbegründer der modernen, akademischen Geldtheorie“ (Backhaus 2011,

44  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

308). Als primus inventor des streng nominalistischen „Chartalismus“ hat Knapp bis heute fortwirkenden ökonomischen Strömungen, so zum Beispiel der „heterodoxen“ (Braunberger 2012) „Modern Monetary Theory“, die Bahn bereitet und im Übrigen eine folgenreiche werttheoretische Debatte angezettelt.41 Da er sich in seiner Schrift sehr ausführlich über die Konstitutionsbedingungen wirtschaftlicher Entitäten äußert, besitzt sie zum einen selbst durchaus beträchtliches metareflexives Potential und bietet sie zum anderen reichlich Stoff für metaökonomische Exerzitien im eigentlichen Sinne des Wortes, also etwa für eine Betrachtung, die ökonomische Schulen darauf analysiert, welchen kategorialen Stellenwert sie ihren Gegenständen zuschreiben. An der „Staatlichen Theorie des Geldes“ lässt sich beobachten, wie metaökonomische Überlegungen in die ökonomische Paradigmenbildung einfließen; sie ist für unsere Studie folglich nicht minder belangvoll als die Texte von Marx und Weber, wenn auch aus etwas anderen Ursachen. Dass Knapp als Denker mit einem scharfen Profil eine durchaus prononcierte Position bezieht, sich somit von den beiden anderen Referenzautoren abhebt, war ebenfalls ein Argument dafür, sein opus magnum in das der Arbeit zugrunde liegende Korpus aufzunehmen. Beachtung verdient seine Monographie darüber hinaus aufgrund ihres bisweilen idiosynkratisch anmutenden sprachlichen Gepräges, das in nicht geringerem Maße als bei Marx und Weber die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich zieht und in die Rezeption hineinspielt.42 Knapp unterlegt dem Geld und der Wirtschaft insgesamt ein ebenso dichtes wie extensives Begriffssystem, um das inhaltliche Feld annähernd vollständig abzudecken und möglichst allen seinen Facetten eine adäquate Bezeichnung zu verschaffen. So nehmen in der „Staatlichen Theorie“ gerade Definitionen breiten Raum ein; sie werden die Plattform für einen Vergleich mit Webers „Vorbemerkung“ bilden, welche die Begriffsanalyse als Mittel zur Bestimmung dessen, was den Kapitalismus im Innersten ausmacht, durch eine nachgerade kompromisslose Handhabung zu destituieren scheint: In diesem Text ist die Faktur nicht weniger stark markiert, macht sich das Gestaltetsein nicht minder nachdrücklich geltend als bei Knapp. Es wird unter anderem zu eruieren sein, welche Darstellungsarten der Letztere benützt, um seinen umfassenden Systematisierungsanspruch zu unterstreichen oder einzulösen.

 41 Vgl. Backhaus 2011, 309f. In dieser Monographie wird Knapp obendrein konzediert, dass er die von Simmel und Gottl-Ottlilienfeld initiierte Debatte um „die antinomische Verfaßtheit der akademischen Wert- und Geldtheorie“ vorangebracht habe; ihm sei hier ein „Fortschritt der Problemaufhellung“ zu verdanken (Backhaus 2011, 319). 42 Elster, in zentralen ökonomischen Fragen ein Parteigänger Knapps, rühmt diesen – freilich ohne eine Begründung zu geben – als einen „Meister auch des Stils“ (Elster 1920, 369).

Textgrundlage der Untersuchung  45

Dieser Anspruch meldet sich offenbar bereits in der kompositorischen Geschlossenheit und blockhaften Kompaktheit des Buches an, das sich in seiner formalen Anlage wie ein Gegenentwurf zum essayistisch konzipierten „Kapital“ oder zu der in einem kaleidoskopischen Musivstil gehaltenen „Philosophie des Geldes“ von Simmel ausnimmt. Einzelne Teile der Schrift erwecken hingegen den Eindruck, als seien in ihnen Fliehkräfte am Werke, denn sie gliedern sich bisweilen in nur recht locker miteinander verfugte Texteinheiten auf. In solchen Partien zeichnet sich nicht selten ein autoreferentieller Zug der Knapp’schen Terminologie ab, der selbst nicht thematisch wird, mittels des chartalistischen Vokabulars auch nicht fixierbar sein dürfte und womöglich mit einem autopoietischen Moment am ökonomischen Sujet kommuniziert, für das im streng nominalistischen Chartalismus an sich kein Platz ist und das daher abgeblendet oder unterdrückt wird. Indem sie sich als Nächstes einem Ausschnitt aus der „Rechtsphilosophie“ von Radbruch zuwendet – und zwar in der Fassung von 193243 –, überschreitet die Erörterung ihren bisherigen Gegenstandsbereich; es soll eruiert werden, inwieweit sich das Konzept der ‹Zwieschlächtigkeit› für den Nachvollzug wissenschaftstheoretischer Fundamentalanalysen außerhalb der Ökonomie fruchtbar machen lässt. Die exemplarische Radbruch-Lektüre soll einen Ausblick auf eine Strömung im Recht eröffnen, die mit der Metaökonomie vergleichbar ist. Dabei wird vorausgesetzt, dass man eine solche Analogie statuieren kann, wenn an der sprachlichen Darbietung klassischer oder schulbildender rechtstheoretischer Paradigmen – als solches ist auch das Radbruch’sche zu werten, das in der „Rechtsphilosophie“ seine höchste Entwicklungsstufe erreicht hat44 – Gebilde wahrzunehmen sind, die sich im Sinne des oben Ausgeführten als „zwieschlächtig“ etikettieren lassen. Die Darlegungen zu Radbruch sollen denn auch zeigen, dass diese Bedingung bei ihm erfüllt ist; indem sie der Metaökonomie ein rechtstheoretisches Pendant beigeben, deuten sie darüber hinaus zumindest mittelbar auf ein umfassenderes, beidem übergeordnetes Ganzes, auf eine ,Metatheorie‘ hin. Diesen inhaltlichen Komplex gedanklich zu bewältigen oder ihn auch nur klar zu umreißen, wird im Folgenden nicht möglich sein, weil die Studie dazu in Anlage und Zielsetzung komplett umgeändert werden müsste; er soll der Betrachtung aber doch wenigstens als

 43 Das Buch, auf dem Titelblatt als „dritte, ganz neu bearbeitete und stark vermehrte Auflage“ angekündigt, ist aus den 1914 vorgelegten „Grundzüge[n] der Rechtsphilosophie“ hervorgegangen, doch möchte Radbruch selbst es nicht als Überarbeitung oder Neuausgabe dieser Schrift verstanden wissen; das mag ein Argument dafür sein, es als autonomes Werk zu behandeln (vgl. R [Radbruch 1999], 3). 44 Vgl. Henkel 2011, 101.

46  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

perspektivischer Fluchtpunkt zugewiesen werden – schon damit das Bedürfnis, verallgemeinerbare Ergebnisse zu erzielen, wie es ein sprachwissenschaftliches Erkenntnisinteresse ganz natürlich mit sich bringt, zu seinem Recht kommt. Der Radbruch gewidmete Teil der Untersuchung, so soll nochmals betont werden, hat in diesem Zusammenhang lediglich Beispiel- oder Modellcharakter; um Aussagekraft und Repräsentativitätsgrad der in ihm vorgetragenen Schlussfolgerungen zu taxieren, bräuchte es weitere Fallstudien im Bereich der Rechtswissenschaft, die im Rahmen dieses Projektes vornehmlich aus äußeren Gründen nicht mehr zu leisten waren. Unbeschadet dessen wird deutlich, dass das Konzept der ‹Zwieschlächtigkeit› ein rechtsphilosophisches Gedankengebäude – und zwar ein solches, das nicht nur für den Rechtshistoriker von Interesse ist, sondern auch Impulse für die praktische Rechtspflege bereithält – ebenso erschließen hilft wie die Überlegungen von Marx, Weber und Knapp. Demgegenüber handelt es sich nicht darum, darzutun, dass ‹Zwieschlächtigkeit› eine Zentralkategorie von Metaökonomie und Rechtstheorie, geschweige denn einer Metatheorie sein könnte, die sich aus allen Manifestationen von jenen herauspräparieren lässt. Es wird indes sehr wohl prätendiert, mit dem Konzept eine operative Größe ins Feld zu führen, die das Potential besitzt, die Ansätze verschiedener Denker zueinander ins Verhältnis zu setzen, Analogien und Konvergenzen sichtbar zu machen und somit in letzter Instanz auch paradigmen-, kultur- und geistesgeschichtliche Affiliationen nachzuzeichnen. Der Übergang zur Rechtstheorie fügt sich insofern zwanglos in die reflexive Architektur unserer Arbeit ein, als er ganz in der Linie des Chartalismus liegt und zugleich von dessen archimedischem Punkt her erfolgt: Knapp spricht das Geld bereits auf der ersten Seite seiner Schrift als „Geschöpf der Rechtsordnung“ (O 1)45 an, in der staatliches Handeln auf eine neue Reflexionsstufe erhoben und so allererst in den Stand gesetzt werden soll, sich auf sein Hauptziel und damit auf sich selbst zu besinnen. Die metaökonomische Inklination macht sich bei Knapp also darin bemerkbar, dass er wirtschaftliche Tatsachen in einen rechtstheoretischen Horizont stellt und systematisch auf die juristischen Konstitutionsbedingungen ökonomischer Gegebenheiten ausgreift.46 Die Analyse der inneren Struktur wirtschaftlicher Realität verläuft in zwei großen, gegensinnigen Bögen, deren

 45 Die Sigle O bezieht sich auf Knapps „Staatliche Theorie des Geldes“, die durchgängig nach der – in der Bibliographie aufgeführten – vierten Auflage von 1923 zitiert wird. 46 Vgl. hierzu Elster 1920, 1f., sowie im Weiteren auch Bendixen, der dem Knapp’schen System konzediert, es sei „juristisch-dogmatisch vollendet“ und schaffe dadurch, dass es ganz konsequent eine rechtstheoretische Perspektive auf das Geld einnehme, erst „die allein sichere Grundlage“ für eine wirtschaftliche Geldtheorie (Bendixen 1919, 120).

Textgrundlage der Untersuchung  47

erster sich von rechtlichen Bestimmungen über staatliche Verordnungen bis zu deren praktischer Umsetzung spannt und deren zweiter von diesem Endpunkt zum Anfang zurückstrebt. Der Rekurs auf Radbruch, der sich einer Anregung von Ekkehard Felder verdankt, bringt nun gerade ein theoretisches Programm ins Spiel, das die Quelle der normativen Kraft des Rechts freizulegen sucht, um es gegen die außerrechtliche Wirklichkeit abzugrenzen, und das somit hinter den Punkt zurückschreitet, an dem Knapp innehält: Radbruch rührt an die Ermöglichungsbedingungen rechtlicher Setzungen und fragt danach, was genau das Recht zur Konstituierung von Rechtstatsachen qualifiziert und woraus seine Autorität erwächst. Der Radbruchsche Ansatz ist für die Sprachwissenschaft deshalb von Belang, weil er Rechtskraft und weiter auch die Veränderbarkeit von Recht nicht dessen sprachlicher Verfasstheit im Allgemeinen, sondern exklusiv den Rechtstexten gutzuschreiben, mithin als gesetzessprachliches Performanzphänomen zu begreifen und aus einer Art von Verallgemeinerbarkeit zu deduzieren scheint, die als überindividuelle reflexive Potenz, als Vermögen zur Transzendierung der Statute individueller Gesetzesautoren und staatlicher Instanzen bestimmbar ist. Damit wäre auch ein inhaltlicher Rückbezug auf Knapp gewährleistet, insofern dieser das Recht, wie oben angedeutet, als institutionelles Medium einer gedanklichen Klärung staatlichen Handelns einschätzt. Zum Beschluss dieser orientierenden Bemerkungen soll nochmals bekräftigt werden, dass die Arbeit keine erschöpfende Darstellung von Paradigmen, die als „metaökonomisch“, gar als „metatheoretisch“ anzusprechen wären, für sich reklamiert. Es wird nicht einmal behauptet, dass es ein klar abzusteckendes diskursives Feld gebe, das sich durch diese Epitheta charakterisieren lässt, sondern lediglich angenommen, dass mit den Letzteren Denkfiguren, wie sie sich in den Werken von Marx, Weber, Knapp und Radbruch abformen, wenn man sie in der nachfolgend beschriebenen Weise liest, adäquat bezeichnet sind. Die Interpretationen haben nicht den Zweck, einen Querschnitt durch die Geschichte der Wirtschaftstheorie zu legen und einen Überblick über nationalökonomische Strömungen zu geben, denen kanonische Bedeutung attestiert wird: Sie können das auch nicht, weil eine stattliche Zahl von Klassikern der Volkswirtschaftslehre von vornherein ausgeblendet worden ist. Nichtsdestoweniger werden gerade mit Marx und Weber Autoren aufgeboten, deren Schaffen eminente Breitenwirkung entfaltete, seitens der Sprachwissenschaft aber bislang nur wenig Aufmerksamkeit erfuhr. Sie werden hier auch deshalb in Augenschein genommen, weil ihre wirtschaftstheoretischen Überlegungen in manchen Zügen strukturelle Ähnlichkeiten zeigen, die auf gedankliche und argumentative Parallelen bzw. auf vergleichbare methodische Dispositionen schließen lassen.

4 Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit› bei Marx, Weber, Knapp und Radbruch 4.1 ‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx 4.1.1 Einleitende Bemerkungen Das nachfolgende Teilkapitel setzt sich aus drei größeren Komplexen zusammen, zu welchen zwei interpretative Miniaturen den Auftakt bilden, die nach den sprachwissenschaftlichen Kommentaren in der Einleitung nochmals einen Eindruck von Thematik und Vorgehensweise vermitteln sollen; es handelt sich um reflexive Aperçus impulsgebenden Charakters, welche die eigentliche Untersuchung vorbereiten, indem sie einige von deren Hauptmotiven exponieren. Diesem Prolog ist seinerseits eine Synopse von Forschungsbeiträgen vorgeschaltet, in denen sprachliche Eigenschaften des bedeutendsten Werkes von Marx bald mehr, bald weniger stark berücksichtigt werden. Der inhaltliche Schwerpunkt der Betrachtung liegt auf Spielarten der Verschränkung von ökonomischen und sprachlichen Konstituenten, wie sie sich bei Marx besonders im Kontext seiner Werttheorie beobachten lassen. Im Zuge der Synchronisierung von Wirtschaft und Sprache prägen sich Denkweisen aus, die im Sinne der Ausführungen im zweiten Kapitel dieser Studie „zwieschlächtig“ genannt werden können und für Marxens Theorie offenkundig von struktureller Relevanz sind. Die einzelnen Untersuchungseinheiten konvergieren darin, dass sie sich jeweils mit ausgewählten Partien des „Kapitals“ beschäftigen und im Rekurs auf exemplarische oder charakteristische Formulierungen die Leitlinien der Wirtschaftslehre von Marx nachzuziehen versuchen. Das bedeutet zunächst vor allem, dass darauf verzichtet wird, den kompletten Text nach inhaltlich einschlägigen Termini, Schlagwörtern, Syntagmen, Sätzen oder transphrastischen Zusammenhängen zu durchmustern und im Anschluss vom gesammelten Material zu abstrahieren: Es geht nicht darum, einen Standpunkt zu gewinnen, der dem Text und seinen sprachlichen Merkmalen so weit übergeordnet wäre, dass sich aus der Gesamtheit dieser Letzteren ein allgemeinstes Inhaltskonzentrat herausfiltern lässt. Die hier verfolgte Agenda ist im Gegenteil von der Überzeugung getragen, dass ein selektives Verfahren ebenso auf Spezifika des Textes führt wie ein holistischer Zugriff: Zwar geraten dabei selbstredend bloß einzelne Details und Epiphänomene in den Blick, doch erlaubt diese Beschränkung eine eingehende Würdihttps://doi.org/10.1515/9783110727357-004

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  49

gung der Befunde, wie sie so bei einem expansiven Verfahren, das, je umfänglicher der zu bewältigende Stoff, desto eher auf bloßes Katalogisieren hinauszulaufen droht, schwerlich möglich sein dürfte. Eine sprachwissenschaftliche Arbeit, die sich wie die hier vorgelegte als philologische versteht, kann es nicht bei einer einfachen Erhebung sprachlicher Gegebenheiten bewenden lassen; sie hat vielmehr den Anspruch an sich zu stellen, das einzelne sprachliche Faktum in seiner Besonderheit wie in seiner funktionalen Wertigkeit zu erfassen, der in ihm sich verwirklichenden Ausdrucksabsicht innezuwerden und seine perlokutionäre Potenz abzuschätzen. Dabei muss der Raum, der einem sprachlichen Moment in der Untersuchung gewährt wird, in direkter Relation zu dem Gewicht stehen, das jenem zugestanden wird. Wo die Darlegung um Sachprobleme kreist, die in den Fachwissenschaften, etwa in Nationalökonomie und Philosophie, diskutiert werden, nimmt sie – bei wechselnder Akzentuierung – primär an der formalen Dimension der sprachlichen Konstituierung des jeweiligen Gegenstandes und an deren konzeptuellem Hintergrund Interesse. Was die drei Großabschnitte voneinander unterscheidet, ist die jeweilige Stoßrichtung der Textdeutung: Sie zielt vor allem im ersten Teil, der Marxens zeichentheoretischen Räsonnements über das Geld gewidmet ist, auf die Entfaltung übergreifender Reflexionszusammenhänge aus einem textuellen Segment heraus, das sie wie eine Stichprobe behandelt. Dabei sucht sie Prämissen und Implikate der Aussagen eines Passus auszubuchstabieren, die in ihnen sedimentierten gedanklichen Gehalte zu ergründen und ihren Stellenwert im schwer durchschaubaren Gefüge des ganzen Textes zu bestimmen. Die Exegese ist in diesem Falle auf Kontextualisierung und Systematisierung der einzelnen Textkomponente bedacht und demzufolge in ihrer Verfahrensweise extensiv. Sie steht im Dienste einer themenbezogenen Erörterung, die ihre Aufgabe darin hat, den geistigen Horizont und die gedankliche Tiefendimension ihres Inhaltes kenntlich zu machen. In der zweiten Abteilung, die sich aus exemplarischen Textdeutungen aufbaut, ist ein intensiver Ansatz vorherrschend, insoweit sprachliche Parameter darauf angesehen werden, welche Qualitäten sie den inhaltlichen Momenten mitteilen, also insofern deren Profilierung, Nuancierung und Differenzierung durch die ihnen zugeteilten sprachlichen Kennungen in Rede steht. Während die extensive Textarbeit die Integration des punktuellen Inhaltselements in ein konzeptuelles Ganzes intendiert, rückt die intensive die Spezifizierung des Elements durch die Art seiner Versprachlichung ins Zentrum. Im dritten Komplex, der dem Motiv der ‹Warensprache› vorbehalten ist, werden das extensive und das intensive Verfahren kombiniert; an eine stiltheoretische Einheit, die die Verwendung einer be-

50  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

stimmten rhetorischen Figur (der Prosopopoeia) bei Marx zum Gegenstand hat, schließt sich eine auf sprachliche Details gerichtete Stelleninterpretation an.

4.1.2 Abriss der Forschung Das Œuvre von Marx wurde lediglich sporadisch unter einem philologischen oder sprachwissenschaftlichen Blickwinkel beleuchtet, obwohl seine Diktion früh die Aufmerksamkeit der Kommentatoren auf sich zog. Schon Engels hat sich in seinen Vorbemerkungen zu den postumen Auflagen des „Kapitals“, teilweise unter Berufung auf Selbstzeugnisse von Marx, über dessen Sprache, namentlich über Fragen der Darstellung und die Zitationspraxis geäußert.47 Daneben liegen einige – unleugbar tendenziöse – Arbeiten vor, die unter der Ägide des „Bibliographischen Instituts Leipzig“ in der Zeitschrift „Sprachpflege“ veröffentlicht wurden und von denen etwa ein Aufsatz Eduard Kurkas (Kurka 1983) besonderes Interesse verdient: Diese Studie wendet sich phatischen, adressatenbezogenen Sprachfiguren bei Marx zu, um ihnen schließlich maßgeblichen Anteil an seiner eminenten Wirkmacht zu bescheinigen; der Verfasser ist an anderer Stelle auch auf die Metaphorik im „Manifest der Kommunistischen Partei“ eingegangen (Kurka 1973). Das Besondere der Schriften von Marx ist nach seinem Dafürhalten in ihrer bald unterschwelligen, bald augenfälligen dialogisch-interaktiven Anlage zu suchen. Kurka gibt von Marxens Sprache eine umfassende Charakteristik und spannt auf diese Weise den Rahmen auch für die hier im Anschluss zu entwickelnden Überlegungen auf; sein Urteil wird freilich insgesamt mit einiger Vorsicht aufzunehmen sein, da es einer ideologisch grundierten Apologetik verdächtig ist. Es kommen folgende, ausgiebig durch Belege illustrierte Punkte zur Behandlung: „Marx’ reicher, vielgestalteter Wortschatz aus der Muttersprache und meh-

 47 „Schließlich noch ein Wort über Marx’ wenig verstandne Art zu zitieren. Bei rein tatsächlichen Angaben und Schilderungen dienen die Zitate [. . .] selbstredend als einfache Belegstellen. Anders aber da, wo theoretische Ansichten andrer Ökonomen zitiert werden. Hier soll das Zitat nur feststellen, wo, wann und von wem ein im Lauf der Entwicklung sich ergebender ökonomischer Gedanke zuerst klar ausgesprochen ist. Wobei es nur darauf ankommt, daß die fragliche ökonomische Vorstellung für die Geschichte der Wissenschaft Bedeutung hat, daß sie der mehr oder weniger adäquate theoretische Ausdruck der ökonomischen Lage ihrer Zeit ist. Ob aber diese Vorstellung für den Standpunkt des Verfassers noch absolute oder relative Geltung hat, oder ob sie bereits ganz der Geschichte verfallen, darauf kommt es ganz und gar nicht an. Diese Zitate bilden also nur einen der Geschichte der ökonomischen Wissenschaft entlehnten laufenden Kommentar zum Text und stellen die einzelnen wichtigen Fortschritte der ökonomischen Theorie nach Datum und Urheber fest“ (Engels 1883, 34f.).

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  51

reren Fremdsprachen sowie seine präzise, aber gleichzeitig variantenreiche und farbige Verwendung“, „der dem Inhalt und seiner gedanklichen Struktur angemessene und auch kommunikativ ausgerichtete Satzbau“, „die vielfältigen Mittel der Verdeutlichung und Einprägsamkeit“, „Konkretisierung und Veranschaulichung (Metonymie, Verwendung des ,Teiles fürs Ganze‘)“, „die Veranschaulichung und Verdeutlichung durch Vergleiche und metaphorische Mittel“, das „Auslösen sinnlicher, ästhetischer Anschauung mittels einer poetisch-künstlerischen Sprache mit reichem metaphorischen Gehalt und rhythmischen Elementen der Syntax“ (Kurka 1983, 33, sämtliche Markierungen im Original). Hervorgehoben werden erstens „Ansprechformen zur Einbeziehung verschiedener Adressaten und als Aufforderung zur Auseinandersetzung“ (Kurka 1983, 34), zweitens „[b]ekräftigende (rhetorische), denkanregende und orientierende Fragestellungen sowie dialogische Formelemente“ (Kurka 1983, 35), drittens „Orientierungen für den Erkenntnis- und Aneignungsprozeß“ (Kurka 1983, 37). Kurkas Deutungen, die ausgewählte Textpassagen weniger analytisch durchdringen denn kommentarartig umschreiben, sind zwar überaus konzise, aber, wie die zitierten Formulierungen zeigen, in einem recht sperrigen Nominalstil vorgetragen und gelangen letztlich auch kaum über den Status ingeniöser Aperçus hinaus: Es fehlt der große interpretative Bogen, es fehlt eine durchgängige argumentative Linie, es fehlt ferner – und dies vor allem wird man problematisch finden – eine Aufschlüsselung und Legitimierung der normativen Maßstäbe, auf die Kurka seine ungebrochen affirmative Betrachtung gründet. Starke, der das Augenmerk auf die „Antithetik“ bei Marx legt, hat von dessen schriftstellerischer Leistung eine ähnlich hohe Meinung wie Kurka: „Alle, die sich gründlich mit dem Werk von Karl Marx beschäftigt haben“, so notiert er zu Beginn seiner Studie, „sind sich darüber einig, daß er die Sprache [. . .] meisterhaft beherrschte und ein vorbildlicher Stilist war“ (Starke 1983, 38). Starke konzediert Marxens Schriften bestechende Klarheit und führt diese Qualität, durch die insbesondere die Darstellung verwickelter gesellschaftlicher Widersprüche und Konflikte exzellieren soll, auf eine gekonnte Handhabung antithetischer Strukturen zurück. Die Antithese wird allem Anschein nach als ein Prinzip verstanden, das nicht nur in das propositionale Gefüge, sondern praktisch in alle sprachlichen Komponenten der Texte hineinwirkt, will heißen: das Zusammenspiel semantischer, syntaktischer und morphologischer Aufbauelemente dirigiert und sich auch in der Bündelung bzw. planvollen Choreografierung rhetorischer Mittel bemerkbar macht. Der Historiker Hirsch nimmt sich eines formalen Phänomens an, das er als „bis zur Syntax reichende Durchdringung verschiedener Sprachen“ (Hirsch 1983, 304) etikettiert und dem er in Briefen und Entwürfen von Marx öfter zu begegnen glaubt. Er insinuiert dabei eher en passant, also ohne in eine systematische

52  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Auseinandersetzung mit einschlägigem Quellenmaterial einzutreten, dass dieser sprachliche Synkretismus in der weit verästelten Intertextualität der publizierten Schriften – es ist von „Früchten einer beispiellosen Belesenheit“ (Hirsch 1983, 304) die Rede – eine Parallele habe. Erwähnung finden weiter „die an den Stil hervorragender Advokaten erinnernde, jede sich bietende Denk- und Ausdrucksmöglichkeit ausnutzende, von der jeweiligen konkreten Situation ausgehende, im wesentlichen negative Analyse oppositioneller Positionen“ (Hirsch 1983, 304), die „rückläufige oder spielerisch-dialogisch nebenherlaufende Betrachtungsweise und die gelegentliche Vernachlässigung gewisser für den lesenden Laien nützlicher Darstellungstechniken“ (Hirsch 1983, 304f.). Für die Durchschlagskraft der Marx’schen Texte soll die „Amalgamierung professoraler und publizistischer Methoden (im nichtpejorativen Sinn der Adjektive)“ (Hirsch 1983, 305) ursächlich sein. Hirschs Konklusionen sind durchweg luzide, doch lässt ihre essayistisch ungefüge Darbietung bisweilen an Genauigkeit zu wünschen übrig; sie zeugen eher von eminentem Spürsinn und frappierender Beobachtungsgabe denn von einer genuin philologischen Kompetenz. Ein außergewöhnliches Sprachgefühl legt Adorno in einigen skizzenhaften Einlassungen an den Tag, die auf die stilistische Physiognomie von Marxens Schriften Bezug nehmen; sie sind in den Prosastücken enthalten, die unter dem Titel „Bibliographische Grillen“ publiziert wurden. Adorno behauptet, allerdings ohne sich mit passenden Belegen abzusichern, dass die Werke von Marx ihre Keimzelle in Glossen oder Marginalien hätten, die der Denker in die von ihm gelesenen Bücher eintrug, und dass ihr formales Insigne diese Entstehungsumstände durchschimmern lasse. Adorno ist sogar der Auffassung, dass sich in der improvisierenden Präsentationsweise eine autochthone ästhetische Praxis vorbereite: „[. . .] [V]ielfach“, so heißt es über Marx, lesen sich seine Texte, als wären sie mit fliegender Hast an den Rand der Werke geschrieben, die er durchstudierte, und in den Mehrwerttheorien ist daraus beinahe eine literarische Form geworden (Adorno 1974a, 351).

In einer solchen Schreibart melde sich ein kritischer Impetus an, der gegen die diskursiven Normen der institutionalisierten Wissenschaft opponiere und sich nachgerade zu einer „ihrer selbst unbewußte[n] konspirative[n] Technik“ auswachse, die im Unwillen des Autors, „die Gedanken säuberlich dort vorzubringen, wo sie hingehören“ (Adorno 1974a, 351), ihre Entsprechung haben soll. Laut Adorno sind Marxens Arbeiten gegen eine selektive Lektüre immun, die ihre kritisch-subversive Grundtendenz verkennt und sie auf eine Reihe von Gnomen zu reduzieren sucht, um aus diesen eine eindeutig-positive Ideologie herauszupräparieren; Marx wird denn auch einer wesensmäßigen „Sprödigkeit“ gegenüber einem jeden ge-

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  53

ziehen, der aus seinen Werken „zitieren möchte“ (Adorno 1974a, 351). Adorno verzichtet wie gesagt darauf, seine Thesen philologisch zu untermauern, doch ist nicht zu leugnen, dass er mit großer Sicherheit etwas für Marx Spezifisches trifft.48 Anders als in den eben referierten Räsonnements, die zwar keinen unverhohlen apologetischen Tenor haben, aber durchaus Wertschätzung für den Urheber des „Kapitals“ erkennen lassen, nimmt Adorno in einer späten Notiz eine dezidiert kritische Haltung ein; ja, er scheint hier zu einer regelrechten Abrechnung mit Marx ausholen zu wollen, die freilich sein Tod vereitelte, so dass, wenn nicht über ihre argumentative Hauptlinie – diese zeichnet sich bereits in früheren Schriften ab –, so doch über die Tragweite, die sie hätte bekommen sollen, Unklarheit herrscht. Sie wäre aber wohl doch grundsätzlicher Natur gewesen. Für eine sprachwissenschaftliche Marx-Rezeption ist die Aufzeichnung insofern von Belang, als die in ihr projektierte kritische Bestandsaufnahme an Marxens Diktion hätte ansetzen sollen. Damit ist letztlich impliziert, dass an Marxens „Sprachmanieren“, an seiner „Rhetorik“ und „Metaphorik“ (Adorno 2003, 38), welche die Zielscheibe von Adornos Attacken abgeben, gedankliche, wohl auch argumentative Bruchkanten auszumachen seien, die auf Marxens positive Aussagen und sein dogmatisches Koordinatensystem einen Schatten werfen.49 Glaubt man Backhaus, der sich im Ausgang von Adornos Bemerkungen zu Marx mit der gedanklichen Fundierung und terminologischen Rahmung der neueren Ökonomie beschäftigt, so finden Inkonsistenzen, wie Adorno sie glossiert, ihre Erklärung darin, dass Marxens Programm zwischen Nominalismus und Realismus changiert, ohne diesen inwendigen Widerspruch analytisch zu fixieren, geschweige denn mit begrifflichen Mitteln aufzulösen: Adorno soll der Erste gewesen sein, der die unterschwellige Ambivalenz der Marx’schen Theorie und ihren Einfluss auf Begriffsbildung und argumentative Logik wahrgenommen hat. Backhaus  48 Eine eigene Notiz verdient ein in dieser Synopse nur schwer unterzubringender textgrammatischer „Kommentar“, den Weinrich zu einem Auszug aus Marxens „Thesen über Feuerbach“ geschrieben hat. Das Hauptgewicht fällt in diesem Text auf Passivkonstruktionen, deren teils recht komplexe Adjunkte nicht in der Verbalklammer platziert, sondern ins Nachfeld ausgelagert sind. Weinrich stuft dieses Prinzip als strukturelles Aufbauelement eines „hochkomprimierten“ oder auch „extremen“ Nominalstils (Weinrich 1993, 179 bzw. 180) ein, den er als dominantes Merkmal von Marxens Handschrift ansieht. In einem Falle, der hier nicht eigens nachvollzogen werden soll – es handelt sich um eine Fügung, in der „die Menschen“ als passive Subjekte figurieren –, attestiert er Marx, ein grammatisches Mittel so eingesetzt zu haben, dass es „gut zum Gesamtsinn des Textabschnittes paßt“ (Weinrich 1993, 179), und deutet auf diese Weise an, dass hier die sprachliche Form den Inhalt unterstreicht und somit mimetische Qualität gewinnt. Weinrich lässt ein bemerkenswertes Gespür für einen hervorstechenden Zug des Marx’schen Personalstils erkennen. 49 Vgl. auch das Referat in Braunstein 2011, 238f.

54  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

gelangt im Rahmen weitläufiger wissenschaftsgeschichtlicher Studien zu dem Schluss, dass der nationalökonomischen Terminologie insgesamt ein „,antinominalistisches‘, antipositivistisches Moment“ innewohne, „das vom positivistischen Hauptstrom permanent verdrängt wird“ (Backhaus 2004, 32) und von daher, wie man ergänzen kann, latent und mutmaßlich unreflektiert in ihm fortdauert. Einzig die metaökonomische Perspektive, die Simmel in seiner „Philosophie des Geldes“ eröffnet, soll es vermögen, jenes prä-diskursive Implikat aus seiner Verstecktheit zu holen und seine Bedeutung voll zur Geltung zu bringen. Über das bis hierher Ausgeführte hinaus meint Backhaus noch feststellen zu können, dass sich der Marxens Denken durchstimmende Antagonismus in einer Dynamisierung der begrifflichen Systematik, also in einem Vorgang bekundet, in dessen Zuge sich die Terminologie ein Stück weit von ihrem theoretisch-weltanschaulichen Überbau abkoppelt oder diesen nach verschiedenen Seiten fortschreibt:50 Der interne Ordo des begrifflichen Repertoires wird instabil, fluid, so dass die Relationen zwischen dessen Konstituenten uneindeutig, mehrsinnig anmuten.51 Ein Verweis auf Derridas breit rezipierte Monographie „Marx’ Gespenster“ darf in diesem Forschungsbericht nicht fehlen, auch wenn es ein Ding der Unmöglichkeit sein dürfte, den ideellen Kern dieses komplexen und hermetischen Buches in ein paar Sätzen herauszuschälen; eine eingehende Auseinandersetzung würde den Rahmen dieser Übersicht sprengen. Es soll darum lediglich ein Aspekt in Anschlag gebracht werden, der für das Nachfolgende ganz unmittelbar von Relevanz ist, nämlich Derridas Konzept der ‹Spektralität›, das so etwas wie das Gravitationszentrum seiner Überlegungen bildet und dem die gedankliche Ausformung des ‹Zwieschlächtigkeits›-Gedankens in den vorigen Kapiteln entscheidende Impulse verdankte; auch bei der Marx-Interpretation, die gleich im Anschluss in Angriff genommen werden soll, wird gelegentlich auf Derrida zurückzukommen sein. Unter dem Neologismus Spektralität firmiert bei ihm ein reflexives Prinzip, das von analytisch nur schwer einzukreisenden Grenzphänomenen zwischen Realität und Idealität abgezogen ist, deren Muster die Ware in ihrer Bestimmung durch Marx abgibt. Dessen Warentheorie wertet Derrida als ersten Vorstoß, jenes Prinzip, das zu Marxens Zeit gleichsam in der Luft gelegen haben soll, dingfest zu machen und intellektuell zu bewältigen, so dass er es besagter Theorie als strukturellen Fluchtpunkt zuordnet, auf den sie orientiert ist, ohne dass ihre Hauptlinien durch ihn hindurchliefen, und von dem ihre mannigfachen

 50 Vgl. Backhaus 2004, 32f. 51 Dieses Phänomen hat Adorno 1973/74 einer ausgiebigen, jedoch wenig stringenten, geschweige denn systematischen Betrachtung unterzogen; mit begriffswissenschaftlichen Mitteln ist es bislang allenfalls in Ansätzen eruiert worden.

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  55

Aporien herrühren. Das ‹Spektrale› oder ‹Gespenstische› à la Derrida ist vereinfacht ausgedrückt das Resultat der Verwandlung einer geistigen Größe, die ihrer primären sinnlichen Manifestationsform entkleidet wird und sie gleichwohl weiterhin als Surplus oder virtuellen Exponenten bei sich führt: „Die Ware“, so reformuliert Derrida ein elementares Marx-Axiom, ist ein ,Ding‘ ohne Phänomen, ein flüchtiges Ding, das die Sinne übersteigt [. . .]; aber diese Transzendenz ist nicht ganz spirituell [. . .]. Was die Sinne übersteigt, bewegt sich noch vor uns in der Silhouette des sinnlichen Leibs, der ihm dennoch fehlt oder uns unzugänglich bleibt (Derrida 2004, 206).

In den hier konturierten Zusammenhang gehört schließlich noch eine Abhandlung von Hamacher, der Marxens Konzeption einer ‹Warensprache› erörtert und zum Referenzmodell für eine sprachtheoretisch akzentuierte Derrida-Exegese erweitert. Der Aufsatz gipfelt in einer tiefschürfenden Analyse der für Derrida essentiellen Begriffe des ‹Versprechens› und des ‹Messianischen›, die auch deren geistesgeschichtlichen Resonanzraum mitberücksichtigt; Sprachwissenschaftler dürften etwa an Hamachers Ausführungen zu Derridas Einwänden gegen die Sprechakttheorie – sie kommen darauf heraus, dass dieses Paradigma die Sprache zum bloßen Vollzugsorgan sozialer Normen stempeln und eine plausible Erklärung für ihre performative Effizienz schuldig bleiben soll – Interesse nehmen. Es muss nun einstweilen bei diesen summarischen Bemerkungen sein Bewenden haben; einige der Thesen Hamachers werden unten eine detailliertere Behandlung erfahren.

4.1.3 Zwei interpretative Miniaturen 4.1.3.1 K 189. Zweidimensionaler Untersuchungsbereich Nachdem der Marx-Komplex eröffnet worden ist, wenden wir uns nun der Aufgabe zu, anhand einzelner Textstellen formale Spezifika des „Kapitals“ ins Blickfeld zu rücken, die sich mit dem Leitthema der vorliegenden Arbeit, ‹Zwieschlächtigkeit›, in Verbindung bringen lassen. Das geschieht in der Erwartung, dass es einer Untersuchung mit schmaler Textbasis gelingen dürfte, sprachliche Charakteristika des Marx’schen Werkes fassbar zu machen und nach mehreren Seiten hin zu erhellen. Dieses – wie oben erläutert, genuin philologische – Verfahren soll einzelne sprachliche Konstituenten als Kristallisationen großflächiger formaler Strukturen ausweisen und diese aus ihnen herauslesen. Das betrifft zunächst die für Marx typische Praxis, den Text auf der Mikro- wie auf der Makroebene aus heterogenen Komponenten aufzubauen, so dass er in seiner Formgestalt ein montageartiges Gepräge annimmt. In einer Passage, die nun etwas näher betrachtet

56  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

werden soll, ist dieses kompositorische Prinzip in äußerster Verdichtung, also gewissermaßen in nuce erkennbar: Die Konsumtion der Arbeitskraft, gleich der Konsumtion jeder andren Ware, vollzieht sich außerhalb des Markts oder der Zirkulationssphäre. Diese geräuschvolle, auf der Oberfläche hausende und aller Augen zugängliche Sphäre verlassen wir daher, zusammen mit Geldbesitzer und Arbeitskraftbesitzer, um beiden nachzufolgen in die verborgene Stätte der Produktion, an deren Schwelle zu lesen steht: No admittance except on business. [Eintritt nur in Geschäftsangelegenheiten.]52 Hier wird sich zeigen, nicht nur wie das Kapital produziert, sondern auch wie man es selbst produziert, das Kapital. Das Geheimnis der Plusmacherei muß sich endlich enthüllen (K 189).53

Diese Sequenz zeichnet sich, wie eben vorweggenommen wurde, durch Diversifikation in der sprachlichen Form aus; diesem gestalterischen Zug mag die Funktion zukommen, Polyvalenz und Mehrsinnigkeit des Sujets, also Merkmale, die ihm Opazität mitteilen, in die Präsentation hineinzuspiegeln, ihnen gestalterische Analoga zu verschaffen. Nach Maßgabe dieser Deutung ist die Komposition auf eine Art von Vario-Optik oder perspektivischer Überblendung abgezweckt. Verleihen die in gedrängter Reihe nebeneinander stehenden terminologischen Prägungen Konsumtion der Arbeitskraft, Ware, Markt bzw. Zirkulationssphäre dem ersten Satz das Ansehen überaus konzentrierter Diskursivität, so ist im zweiten, der im Verhältnis zu ihm wie ein Kontrapunkt anmutet, gerade durch die Wendung in die verborgene Stätte der Produktion eine Mystifizierung des Gegenstandes angebahnt: wohl mit dem Ziel, seinen irrationalen Facetten Rechnung zu tragen. Indessen ist schon durch das reflexive Verb im ersten Satz (sich vollziehen) angedeutet, dass die „Konsumtion“ von den Akteuren separiert und so als selbsttätiges, womöglich eigengesetzliches Geschehen gedacht wird; dieser bedeutsamen konzeptuellen Weichenstellung geht ein analoger Abstraktionsprozess voran, der die Leistung des Arbeiters von demselben abspaltet, indem er sie über die Apposition gleich der Konsumtion jeder andren Ware mit der Ware synchronisiert. Die von Marx beobachteten Vorgänge werden als offen einsehbar, gleichsam als äußere Hülle einer mehrschichtigen wirtschaftlichen Realität bzw. als diejenige Seite an ihr charakterisiert, die sie den Menschen zukehrt: Es ist von einer „geräuschvolle[n], auf der Oberfläche hausende[n] und aller Augen zugängliche[n] Sphäre“ die Rede. Vielleicht soll mit dem Attribut geräuschvoll insinuiert werden, dass das Bild, das die Ökonomie nach außen bietet, die Aufmerksamkeit des Sub 52 Diese deutsche Übersetzung erscheint in der Ausgabe des „Kapitals“, nach der hier zitiert wird – sie ist in der Bibliographie aufgeführt –, in einer Fußnote. 53 Diese Sigle bezieht sich auf den ersten Band der Edition, auf die in der vorigen Anm. Bezug genommen wird.

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jekts bindet – zumal wenn es direkt in sie verstrickt ist – und es so daran hindert, zu den tatsächlich konstitutiven Prozeduren vorzustoßen, die gewissermaßen hinter der Fassade, im Geheimen ablaufen. Das Konkrete, für alle Wahrnehmbare wird derart tendenziell zu dem Nicht-Evidenten als dem Faktischen, als der nicht unmittelbar zugänglichen, erst zu erschließenden Wirklichkeit in Kontrast gesetzt: Das Tatsächliche ist – um auf das im Text genannte Attribut zurückzugreifen – ein ‹Verborgenes›, zu dem Unberufene, das heißt andere als „Geldbesitzer und Arbeitskraftbesitzer“, die im Wirtschaftssystem als Akteure fungieren, keinen Zutritt erhalten, das demzufolge hermetisch ist. In diesem arkanen Moment zeichnet sich ein obskurantistischer Zug von Ökonomie und Gesellschaft ab, wie Marx ihn wenigstens indirekt registriert, indem er, wenn auch in einem anderen inhaltlichen Zusammenhang, von „kabbalistischen Geheimzeichen“ (K 106, Markierung von M.A.) spricht und sich damit einer Wendung bedient, die mit der Fügung Geheimnis der Plusmacherei kongruiert. Diese Tendenz soll die von Marx ersonnene „Inschrift“ vor Augen stellen oder versinnbildlichen: Der wirtschaftliche Betrieb hat sich nicht zufällig, sondern im Laufe einer nachgerade intentionalen, von einem Kalkül getragenen Entwicklung in einen von außen zugänglichen und in einen abgeschotteten Bereich aufgespalten, welche beiden in eins zu bringen oder aufeinander zu beziehen das Anliegen von Marxens Analyse ist. Allerdings fördert diese – das wird aus dem zu erörternden Passus ebenfalls klar – nichts anderes zutage als ein Geheimwissen, das die kapitalistischen Unternehmer miteinander teilen und den ihnen verpflichteten Arbeitskräften voraushaben. Die Zweiteilung scheint hier einen starken Akzent zu tragen und durch die Bezugnahme auf das Bild der Schwelle spielerisch ins Mythische hinübergebogen. Wenn Marx andernorts ökonomischen Konstituenten wie der Ware und dem Arbeitsprodukt einen „mystische[n]“ bzw. „rätselhafte[n] Charakter“ (K 85/86) attestiert, so dürften Textpassagen wie die hier in Rede stehende darauf abgestellt sein, einen solchen zu evozieren, also das vorher expressis verbis Mitgeteilte zu veranschaulichen und auf eine figurative Ausdrucksebene zu heben. Die Art jedoch, wie Marx einen exklusiven inneren Bezirk, der allein den Produzenten qua ,Eingeweihten‘ zugänglich ist und in dem die verzweigten ökonomischen Zusammenhänge nachvollziehbar werden, als Widerpart zur allgemeinen Erfahrungswirklichkeit exponiert, mutet einigermaßen forciert an, so dass sich die Frage erhebt, ob es Marx tatsächlich darum zu tun ist, die Proposition zu verstärken, auf einen inhaltlichen Fluchtpunkt transparent zu halten, oder ob die überspitzende Diktion sie alterieren soll, ob ihr also womöglich ein zumindest latentes paro-

58  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

distisches Element beigemischt ist. Indessen: Handgreifliche Ironie-Signale finden sich tatsächlich nicht,54 auch wenn die von Marx fingierte Inschrift55 in ihrer Profanität Erwartungen oder Assoziationen konterkarieren dürfte, die von einer Wendung wie verborgene Stätte hervorgerufen werden könnten. Mit ihrer Tendenz zur Stilisierung erweckt die Textpartie insgesamt den Eindruck, als werde die innere Sphäre nicht einfach nur von der äußeren abgerückt, sondern zugleich zu einem Sanktum überhöht, und zwar mit solcher Entschiedenheit, dass die Antithese einen Spannungsgrad erhält, der eine Vermittlung der beiden Glieder unmöglich machen dürfte. Was die Einsichtnahme in die Herzkammer der ökonomischen Produktion betrifft, so ist es erwähnenswert, dass sie vermittels eines reflexiven Verbs (sich zeigen im Futur) annotiert wird und dass sodann ein Satz mit dem Prädikat muß sich endlich enthüllen folgt, in dem das – ebenfalls reflexive – sich enthüllen durch das Zusammenspiel mit Modalverb und Adverb einen dringlichen Klang bekommt. Daraus kann gefolgert werden, dass so wie die gewinnreiche Exploitation von Arbeitskraft auch deren Ergründung etwas Selbsttätiges oder dass die Erkenntnis im Kern nichts Anderes als ein Offenbarwerden ihres Gegenstandes ist. Die Befunde, zu denen eine Analyse kapitalistischer Verwertungslogik gelangt, scheinen so auf diese Logik selbst projiziert, als sei ihnen allein dadurch, dass sich das Subjekt der Untersuchung (wir) an die Produzenten hält, Evidenz zugewachsen und der Mechanismus sistiert, der die wirtschaftlichen Zusammenhänge verschleiert und ihnen das Signum eines Geheimnisses aufprägt. Das vom Verb abhängige wie-Komplement – [. . .] nicht nur wie das Kapital produziert, sondern auch wie man

 54 Anders in einer Stelle, die, nach einem Absatz, an die besprochene anschließt und von polemisch gefärbter Ironie durchdrungen ist: „Die Sphäre der Zirkulation oder des Warenaustausches, innerhalb deren Schranken Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte. Was allein hier herrscht, ist Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware, z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben. Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen Äquivalent für Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das Seine. Bentham! Denn jedem von den beiden ist es nur um sich zu tun. Die einzige Macht, die sie zusammen und in ein Verhältnis bringt, ist die ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen. Und eben weil so jeder nur für sich und keiner für den andren kehrt, vollbringen alle, infolge einer prästabilierten Harmonie der Dinge oder unter den Auspizien einer allpfiffigen Vorsehung, nur das Werk ihres wechselseitigen Vorteils, des Gemeinnutzens, des Gesamtinteresses“ (K 189f.). 55 Dass sie auf Englisch abgefasst ist, könnte sich daraus erklären, dass die ökonomische Realität, wie Marx sie zeichnet, an den Verhältnissen in Großbritannien, dem Land der Industriellen Revolution, modelliert ist.

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  59

es selbst produziert, das Kapital – gibt ein Hauptergebnis der Betrachtung zu Protokoll, dem die Doppelung (Epanalepse) des Schlüsselwortes Kapital, das den Kern des Marx’ schen Programms benennt, zu einem plastischen Ausdruck verhilft. In dieser Repetitio verschränken sich lexikalische Gleichheit und grammatische Verschiedenheit auf programmatische Weise. Das Nomen Kapital fungiert im ersten Teil des Nebensatzes als Subjekt und im zweiten als (ausgeklammertes) Objekt; als solches rekurriert es auf die voraufgehende Proform (es), die solcher Ergänzung eigentlich nicht bedürfte: Nach rein formalen Maßstäben geurteilt, ist das Wiederaufgreifen des Nomens unökonomisch, doch wäre es kurzsichtig, wenn man es bei einer solchen Einschätzung bewenden ließe; demgegenüber ist es nicht übertrieben, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass hinter der nominalen Dublette in diesem inhaltlich gewichtigen, thesenhaft verdichteten Passus eine gestalterische Absicht steckt, dass etwas gezeigt, die Aussage rhetorisch verstärkt werden soll. Der Wechsel der grammatischen Funktion des Ausdrucks Kapital indiziert eine Art Rollentausch; das zugehörige Signifikat wird zunächst als Produzierendes, sodann als Produziertes ausgewiesen, ohne dass man darum statuieren dürfte, es habe sich grundlegend gewandelt – dagegen spricht die lexikalische Identität. Das Kapital qua Referent stellt sich als präexistente Wirkkraft und als Bewirktes dar; es initiiert die Produktion ebenso, wie es ihr entspringt. Solche Selbigkeit in der Andersheit lässt sich als Manifestationsform von ‹Zwieschlächtigkeit›56 im ökonomischen Kontext einstufen. Der Akkumulation, in der sich die Janusgesichtigkeit des Kapitals decouvriert, eignet in der Darstellung bei Marx ebenfalls eine gewisse Ambivalenz: Zum einen erhält sie mit dem Ausdruck Plusmacherei eine bündige Formel, die beinahe etwas Denunziatorisches hat oder die Sache wenigstens profaniert, zum anderen schlägt die Bezeichnung Geheimnis in Kombination mit dem Prädikat muß sich endlich enthüllen eine Brücke zum Motiv der Mystifizierung. Die Akkumulation hat zwei Seiten, insofern sie als intentionales Phänomen an sich leicht fasslich, nicht aber gegen ihre strukturelle Disposition durchsichtig ist. Das am Prozess direkt Wahrzunehmende bzw. sensu pleno Evidente – so zum Beispiel der Gewinn in Gestalt eines Kapitalzuwachses – ist mit etwas anderem versetzt, auf das ein aus der Erfahrungswirklichkeit abgeleitetes Kriterium wie Evidenz offenkundig

 56 Im Falle des produzierten Kapitals, so könnte man mutmaßen, hätte man es mit etwas Greifbarem zu tun, nämlich insofern es als effektiver Gewinn zu Buche schlägt, wohingegen sein Wirken als Triebfeder, seine produktive Seite mithin, weitaus schwerer zu erfassen und bestimmen sein dürfte. Vielleicht kann man hier ein Ineinander von Evidentem und Ungreifbarem ansetzen: Es deutet sich eine Brechung des Wahrzunehmenden durch eine ideell-funktionale Wirklichkeitsdimension an.

60  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

keine Anwendung findet. Ein Realitätsmodus solcher Couleur, der nicht uneingeschränkt oder auch gar nicht mehr als empirisch gewertet werden kann, der sich zwar nach einer Seite hin überaus eindeutig ausnimmt, aber dennoch gegen eine befriedigende kategoriale Einordnung sperrt, ist nach Marx für wesentliche Erscheinungen und Einrichtungen des Kapitalismus symptomatisch; er wird im weiteren Verlauf der Untersuchung eine herausragende Rolle spielen. Die Erörterung soll, nachdem sie bis zu diesem Punkt gediehen ist, durch einen Kommentar zu einem weiteren Textsegment abgerundet werden, das als inhaltliches Komplement zu der bisher behandelten Passage zu lesen und von ihr lediglich durch eine Sequenz getrennt ist, welche sich der „Sphäre der Zirkulation“ widmet; die Stelle ist unter textstrukturellen Aspekten bedeutsam, insofern sie das vierte Kapitel und zugleich auch den zweiten Abschnitt des „Kapitals“ beschließt: Beim Scheiden von dieser Sphäre der einfachen Zirkulation oder des Warenaustausches, woraus der Freihändler vulgaris Anschauungen, Begriffe und Maßstab für sein Urteil über die Gesellschaft des Kapitals und der Lohnarbeit entlehnt, verwandelt sich, so scheint es, schon in etwas die Physiognomie unsrer dramatis personae. Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter; der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei (K 190f.).

Hier verdient zunächst die Kennzeichnung der ökonomischen Funktionsträger oder Parteien als „dramatis personae“ Beachtung: Sie impliziert, dass zumindest die „Sphäre der einfachen Zirkulation“, in der die Subjekte als „Geld-“ bzw. „Arbeitskraftbesitzer“ figurieren, eine Bühne, der Warenaustausch ein Drama oder ein Spiel mit festgelegten Rollenprofilen sei, das sich über den Köpfen der Protagonisten hinweg entrollt und ihnen jeweils den Stempel einer sprechenden „Physiognomie“ aufdrückt. Dass die ihnen beigelegten Komposita mit dem gleichen Bestandteil (-besitzer) enden, zeigt an, dass sich die Akteure grundsätzlich auf Augenhöhe befinden und dass sich in der Zirkulation zunächst tatsächlich ein Egalitätsprinzip behauptet, wie es unmittelbar zuvor eine Textpartie, die in der Auslegung übersprungen, aber in Anm. 54 wiedergegeben wurde, in einem erkennbar mokanten Duktus heraufbeschwört. Die Aufhebung der Gleichheit, die außerhalb des bloßen Austauschs statthat, wird durch einen Rollenwechsel symbolisiert, der sich vorerst freilich nur in einer physiognomischen Metamorphose, im Weiteren aber auch in einer Verschiebung im gegenseitigen Verhältnis der Beteiligten beurkundet. Wie das reflexive Verb sich verwandeln andeutet, vollziehen sich diese Veränderungen selbsttätig, sobald die Subjekte in dem von Marx entworfenen Zwei-

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Sphären-Modell vom äußeren Bereich in den inneren überwechseln. Wenn also der Geldbesitzer seine angestammte Charaktermaske mit der des „Kapitalisten“ und der „Arbeitskraftbesitzer“ die seine mit der des Arbeiters vertauscht, so ist darin vor allem anderen die Umdisponierung einer dramaturgischen Grundkonstellation zu erblicken. Marx pointiert diese Entwicklung in dem Parallelismus Der ehemalige Geldbesitzer schreitet voran als Kapitalist, der Arbeitskraftbesitzer folgt ihm nach als sein Arbeiter, indem er die von beiden Akteuren übernommenen Partien als zugleich gegensinnige und komplementäre beschreibt. Aus der Formulierung erhellt obendrein, dass sich die Profile des ‹Kapitalisten› und des ‹Arbeiters› primär über die veränderte Stellung definieren, die die beiden zueinander einnehmen und die sich in der semantischen Relation der Prädikate abzeichnet: Das legt den Gedanken nahe, dass der Geldbesitzer zum Kapitalisten avanciert, indem er vor dem Arbeiter ‹voranschreitet› und dieser wiederum durch sein ‹Folgen› zu seiner Rolle gelangt; dann würden sich aus der Abhängigkeit des Letzteren vom Ersteren, welche auf eine Interdependenz hinauslaufen dürfte,57 die ökonomischen Positionen, die sie markieren, allererst herauskristallisieren. Marx begnügt sich gleichwohl nicht damit, den ‹Kapitalisten› und den ‹Arbeiter› gegeneinander zu kontrastieren, sondern gibt von beiden jeweils eine kurze, überspitzende Charakteristik, welche die zuvor konstatierte Verwandlung in der Physiognomie ausbuchstabiert und damit die von Marx ins Auge gefassten Zusammenhänge vollends literarisiert: der eine bedeutungsvoll schmunzelnd und geschäftseifrig, der andre scheu, widerstrebsam, wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei.

Diese – rein pragmatisch genommen – dysfunktionalen, weil redundanten Ausführungen wirken darauf hin, dem Geschehen das Ansehen eines Schauspiels zu verleihen und so die durch die Bezeichnung dramatis personae entbundene Tendenz mit gestalterischen Mitteln zu verstärken: dadurch nämlich, dass sich die Erörterung für einen Augenblick selbst einem literarischen Figurenporträt anähnelt. Die zitierte Partie dient demnach dazu, den Typen zu größerer Plastizität zu verhelfen und sie durch Nennung bestimmter Eigenschaften zu individualisieren. Indem er den ‹Kapitalisten› als Ausbeuter, den ‹Arbeiter› als Ausgebeuteten hinstellt, nimmt der Passus nicht nur eine Rollenverteilung vor, die an Klarheit nicht

 57 Zwar erweckt das Possessivpronomen den Anschein, dass der ‹Arbeiter› dem ‹Kapitalisten› gehorcht, ihm also untergeordnet ist, doch wird man leicht einsehen, dass der ‹Kapitalist› nicht voranschreiten könnte, wenn es niemanden gäbe, der ihm nachfolgt, dass er also seinerseits auf den anderen angewiesen ist.

62  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

zu wünschen übrig lässt, sondern spitzt er die Beziehung der Protagonisten nachgerade holzschnittartig zu einem Antagonismus zu. Das Nachdrücklich-Forcierte der Entgegensetzung gewährt einem kritischen Impetus Raum: Die analytische Bestimmung der wirtschaftlichen Grundkonstellation mündet in eine polemische Gebärde, nämlich den Vergleich wie jemand, der seine eigne Haut zu Markt getragen und nun nichts andres zu erwarten hat als die – Gerberei: eine Einschaltung, die ein strukturelles Ungleichgewicht zu generellem Unrecht deklariert und dabei nicht verhehlt, dass die Untersuchung nicht im üblichen Sinne objektiv, sondern tendenziös, ja sogar von der Absicht getragen ist, ihr Sujet zu demontieren und einem durch die ökonomischen sowie die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst bedingten, tief in den wissenschaftlichen Diskurs hineinreichenden Obskurantismus Einhalt zu gebieten. Indem Marx vorgibt, eine Veränderung in den Physiognomien der Figuranten eines ökonomischen Theaters zu registrieren, demaskiert er diese Letzteren und das Geschehen, in das sie involviert sind: Er holt in ein dem Prinzip nach selbstbezügliches, auf imaginären Setzungen fußendes Spiel den nur allzu realen Ernst, den jenes Geschehen heraufgerufen haben soll, als Hintergrund herein. 4.1.3.2 K 344. Strukturlogik von Darstellung und Gegenstand In der zweiten Stelle, die im Rahmen dieses Prologs herangezogen werden soll, kommt Marx – wenn auch eher nebenher und ziemlich flüchtig –auf die von ihm gewählte Präsentationsform und ihre konzeptuellen Prämissen zu sprechen: Die Ökonomie der Produktionsmittel ist überhaupt von doppeltem Gesichtspunkt zu betrachten. Das eine Mal, soweit sie Waren verwohlfeilert und dadurch den Wert der Arbeitskraft senkt. Das andre Mal, soweit sie das Verhältnis des Mehrwerts zum vorgeschoßnen Gesamtkapital, d.h. zur Wertsumme seiner konstanten und variablen Bestandteile, verändert. Der letztre Punkt wird erst im ersten Abschnitt des Dritten Buchs dieses Werks erörtert, wohin wir des Zusammenhangs wegen auch manches schon hierher Gehörige verweisen. Der Gang der Analyse gebietet diese Zerreißung des Gegenstands, die zugleich dem Geist der kapitalistischen Produktion entspricht. Da hier nämlich die Arbeitsbedingungen dem Arbeiter selbständig gegenübertreten, erscheint auch ihre Ökonomie als eine besondre Operation, die ihn nichts angeht und daher getrennt ist von den Methoden, welche seine persönliche Produktivität erhöhen (K 344).

Es heißt zunächst, dass man, um dem zu verhandelnden Sujet gerecht zu werden, zwei verschiedene Perspektiven einnehmen müsse. Einzig unter dieser Voraussetzung – um das eben in einer ziemlich thetischen Formulierung Zusammengedrängte etwas breiter auszuführen – gewinnt man eine zutreffende Vorstellung von der strukturellen Doppelbödigkeit wirtschaftlicher Prozesse (will heißen: der „Ökonomie“), die aus den Wechselwirkungen zwischen den „Produktionsmit-

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teln“ resultiert. Mit dem Wort Gegenstand, das weiter unten steht, wird besagten Vorgängen Zusammenhangscharakter, wohl auch Geschlossenheit supponiert. Diese Sinnesimplikate machen sich gewissermaßen ex negativo dadurch geltend, dass Marx zufolge das Ziel der Erörterung, der Aufweis der strukturellen Disposition des „Gegenstands“, dessen „Zerreißung“ verlangt: Hierin könnte man eine Absage an eine analytische Mimesis erblicken, die der sachlichen Einheitlichkeit der zu erforschenden Materie ein formales Analogon auf der Textebene verschafft. Gegen diesen Modus der Darbietung, der auf Kongruenz von Text und Objekt ausgeht, würde eine Art freier oder künstlicher Strukturbeschreibung ins Feld geführt, die an übergeordneten Maßstäben ausgerichtet ist, welche aus theoretischen Erwägungen fließen und nicht vom Objekt selbst abgezogen sind. Zwingend indes ist eine solche Deutung nicht, denn es könnte auch das Gegenteil der Fall sein: nämlich dies, dass sich eine Erörterung des Gegenstandes, die ihn, um einen Begriff von ihm zu geben, nach zwei Seiten unterscheidet, mithin so behandelt, als sei er ‹zwieschlächtig›, nicht auf seine Verfasstheit stützen kann, dass sie also etwas ihm Äußerliches auf ihn überträgt. Dann wäre der dissoziative Impuls, den das Lexem Zerreißung annonciert, nicht gegen die Sache selbst, sondern gegen deren konzeptuelles Äquivalent, das, auch wenn es dem Augenschein gemäß sein mag, keineswegs mit ihr kongruieren muss, also letztlich gegen die sie konstituierende Darstellung gerichtet: Um ihrer Objektivität willen müsste die Analyse darauf verzichten, ihr Sujet unter zwei Aspekten zu beleuchten, obwohl sie ihrer eigenen Anlage gemäß davon ausgeht, dass es zweiwertig ist, und sich vorerst auf eine einseitige Betrachtung beschränken. Favorisiert man diese Lesart, so ließe sich die semantische Ambivalenz des Ausdrucks Gegenstand, der sowohl die ökonomische Materie wie die Erörterung meinen kann, zu diesem Dilemma, mit dem die Untersuchung konfrontiert ist, in Beziehung setzen; man könnte die Doppeldeutigkeit dahin interpretieren, dass dem Sujet ein Problem angelastet wird, das die Analyse sich selbst auferlegt hat. Es spricht einiges dafür, dass es wenig zielführend ist, die beiden Lesarten, wie soeben geschehen, als alternative einander entgegenzusetzen. So werfen ökonomische Sachverhalte per se vier grundsätzliche Fragen auf (denen sich natürlich zahlreiche weitere hinzufügen ließen, worauf hier jedoch verzichtet werden soll): was an ihnen real oder doch wenigstens intersubjektiv wahrnehmbar, was auf das Konto eines theoretischen Paradigmas zu buchen, also konstruiert sei und schließlich: wo und wie sich hier überhaupt eine Grenze ziehen lasse. Keine der Antworten, die man auf derlei Fragen geben könnte, wäre von theoretischen Vorannahmen unabhängig, die etwas über die „Gegenstände“ präjudizieren. In Marxens Formulierung der beiden Gesichtspunkte, auf die er die Darlegung vermittels des modalen Infinitivs ist überhaupt von doppeltem Gesichtspunkt

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zu betrachten verpflichten möchte, wirken die sachlichen Momente, um derentwillen sie in Ansatz gebracht werden, von vornherein gedanklich überformt; dieser Eindruck rührt etwa von der Konjunktion soweit her. Die Passage gibt darüber hinaus zu verstehen, dass mit der ersten Sichtweise der Wahrnehmung einer der in die Produktion involvierten Parteien Rechnung getragen wird: derjenigen des ‹Arbeiters› nämlich, der nach Marx insofern von der Verbilligung der Waren betroffen ist, als diese „den Wert der Arbeitskraft“ vermindert. Dass Marx derjenigen Seite der Produktion den Vorrang einräumt, von der sie der ‹Arbeiter› ansehen soll, lässt erkennen, dass für die von ihm gewählte Präsentationsweise Standortunabhängigkeit kein Kriterium ist: Ein naturwissenschaftliches, gar positivistisches Verständnis des Objekts als einer Gegebenheit, die sich vollends von den Handlungen ökonomischer Akteure ablöst, ist demnach auf die Produktion, wie Marx sie denkt, nicht applizierbar. Besteht das dekonstruktive Merkmal der Untersuchung, wie soeben notiert, darin, dass die Erscheinungsform priorisiert wird, unter der die ‹Arbeiter› die Produktion vor Augen haben, so heißt das freilich nicht, dass es Marx einzig darum zu tun wäre, eine bestimmte Sicht auf die Dinge um ihrer selbst oder um der Subjekte willen, die in ihrem Handeln durch diese Wahrnehmung beeinflusst sind, zu ihrem Recht kommen zu lassen. Seine Präferenz für die zweite Perspektive ist seiner Auffassung nach dem ‹Gang der Analyse›, also der prozeduralen Logik der Reflexion geschuldet, was ein sehr deutlicher Hinweis darauf ist, dass das ‹zwieschlächtige› Untersuchungsobjekt zumindest vorerst stärker durch seine ideelle Seite, die aus seiner konzeptuellen Modellierung hervorgeht, als durch sein ontisches Substrat – die Probleme, die dessen Auszeichnung bereiten mag, einmal beiseite gelassen – determiniert ist. Im Folgenden ist indes ebenso davon die Rede, dass die ‹Dissoziation› der Produktion, wie sie im Interesse der Darstellung liegt, zugleich noch einen sachlichen Rückhalt habe bzw., um an den Wortlaut bei Marx anzuknüpfen, einem in den wirtschaftlichen Verhältnissen waltenden ‹Geist› korrespondiere. Dass hier ausgerechnet dieser an Hegel gemahnende Ausdruck Geist gebraucht wird, könnte man als Signal dafür nehmen, dass es sich bei der Größe, die nun in den Blick gerät, weniger um ein abstraktes Regulativ, das als gedankliches Konstrukt analytisch unschwer einzuholen ist, denn um eine Art Wirkkraft oder zumindest um ein autonomes Prinzip handelt. Geist wäre so gesehen lexikalisches Ferment einer Intellektualisierung und Animifizierung der Produktion. Diese Auslegung kann sich auf den nachgeschalteten Satz berufen, in dem verlautet, dass der ‹Arbeiter› der „Ökonomie“ seiner „Arbeitsbedingungen“ entfremdet sei, insofern er etwas in ihr gewahrt, das nicht in den „Methoden, welche seine persönliche Produktivität erhöhen“, folglich auch nicht in ihm selber sei-

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nen Ursprung hat: Sie soll sich ihm als „eine besondre Operation“ präsentieren, die ihm mitsamt den „Arbeitsbedingungen selbständig“, als sei sie von seinem Handeln abgespalten, gegenübertritt. Mit der emphatischen Kausalkonstruktion Da hier nämlich wird zwischen diesem Umstand und der diskontinuierlichen Darstellung ein Konnex geschaffen; die Letztere ist trotz ihrer Bedingtheit durch die strukturelle Disposition der Erörterung dem Gegenstand nicht äußerlich, vielmehr schließt sie eine Tiefendimension desselben auf, insofern sie besagten ‹Geist› ins Licht setzt. Indem er erläutert, in welcher phänomenalen Gestalt sich die Produktion dem ‹Arbeiter› darbietet, und sie solcherart vereinseitigt, meint Marx Ausblick auf eine Ausprägung ihrer geistigen Triebfeder gewinnen zu können: Offenkundig drängt das in der Produktion wirksame Prinzip den ‹Arbeiter› dazu, die „Ökonomie“ der „Arbeitsbedingungen“ in der Weise zu verobjektivieren, dass sie als ein Anderes, Fremdes seiner Kontrolle entzogen ist. Die „Zerreißung des Gegenstands“ kehrt demzufolge das Innere der kapitalistischen Verhältnisse hervor: Indem die Erörterung aus der Vorstellung, die der ‹Arbeiter› von seiner Tätigkeit und seinen Mitteln hat, gestalterische Konsequenzen zieht, fängt sie eine unterschwellige intentionale Qualität ein, die in die mentale Repräsentation der Vorgänge hineinspielt. Das dekonstruktive Moment kommuniziert demnach mit der kategorialen Uneindeutigkeit der Sache und avanciert zum Ausdruck ihrer aporetischen Konstitution: Marxens Text beschreibt nicht einfach eine eindeutige ontische Gegebenheit, sondern transfiguriert eine Phänomengruppe, an der sich empirische Anteile von ideell-konzeptuellen nicht scharf trennen lassen, und zwar mit dem Ziel, die Analyse auf ein dem Objekt zugrunde liegendes Agens abzustimmen, das zwar realitätshaltig, nicht aber augenfällig ist – andernfalls bedürfte es des dekonstruktiven Ansatzes nicht. Die gedankliche Formatierung soll also eine reale Entität in den Gesichtskreis bringen, wozu eben die verändernde Darstellung notwendig ist. Diese macht sich fürs Erste die Perspektive des ‹Arbeiters› zu eigen, und zwar nicht seinetwegen, nicht um Partei für ihn zu ergreifen – und damit auch nicht aus einer sachfremden pragmatischen Absicht heraus –, sondern weil sich in der sie kennzeichnenden Anschauungsform das kapitalistische Movens enthüllt, auf das Marx die Betonung legt. Die Produktion soll also von zwei Seiten her und durch zwei im Kern konvergierende gedankliche Prozesse – durch Reflexion auf ein geistiges Substrat, die, wie im Vorigen ausgeführt, in der Komposition der Untersuchung mitvollzogen wird, und durch Einfühlung in die Erfahrungswirklichkeit des ‹Arbeiters› – eingezirkelt werden, wobei Marx die ideelle wie auch die pragmatisch-epistemische (auf die soziale Handlungsrealität bezügliche) Dimension augenscheinlich mit der ontischen synkopiert.

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Der Ermittlung des Propriums der wirtschaftlichen Bestimmung, die in der strukturellen Tiefendimension derselben ihre Einsatzstelle hat, dürfte durch den dekonstruktiven Einschlag im Text die Richtung vorgezeichnet sein: Um die aporetische Verfasstheit des Gegenstands und die Zusammenhänge, in die er sich einfügt, direkt an ihm selbst aufweisen zu können, sprengt die Betrachtung ihn regelrecht auf. Der diskontinuierliche Darstellungsmodus ist antagonistisch zu Attributen wie ‹Geschlossenheit›, ‹Integrität› und ‹Kohärenz›, die sich der Manifestationsform eines Tatbestands wie der Produktion oder überhaupt der sozialökonomischen Oberflächenrealität anheften lassen und auf apperzeptive Konstanten referieren, wie sie der Positivismus unbesehen verabsolutierte, um sie den ontischen Gegebenheiten als deren Eigenschaften gutzuschreiben. Werden diese Konstanten auf die gesellschaftliche Prozesswirklichkeit zurückgespiegelt, so gewinnt diese Konsistenz und Eindeutigkeit und scheint sie dadurch mit der Erfahrungswirklichkeit analogisiert. Insofern die wirtschaftlichen Sachverhalte nach natürlichen modelliert sind, muten sie unabänderlich an, so als unterstünden sie Gesetzen, denen die gleiche Geltungskraft zukommt wie Naturgesetzen. Die „Zerreißung des Gegenstands“ destruiert diesen Schein, durch den Stabilität mit unbedingter Notwendigkeit assoziiert ist; Marxens kompositorische Strategie ist in diesem Sinne Ferment einer sich als Entlarvung verstehenden Kritik.

4.1.4 ‹Zwieschlächtigkeit› in der ökonomischen Zeichentheorie 4.1.4.1 Kategoriale ‹Zwieschlächtigkeit› des Geldes Nach Marx wird an den Gold und Silber inhärenten Merkmalen deren Eignung als Zahlungsmittel evident. Damit liegt der Gedanke nahe, dass sich von ihrer materiellen Beschaffenheit zwanglos auf die geistigen oder ideellen Bestimmungen extrapolieren lasse, die das Wesen des Geldes ausmachen, oder dass diese Bestimmungen sich in der stofflichen Qualität andeuteten. Gehen, wie das „Kapital“ verlautbart, die „Natureigenschaften“ (K 104) der Metalle mit den abstrakten des Geldes konform,58 so herrscht eine innere Beziehung zwischen dem Zahlungsmittel und dem ideellen Wert,59 den es repräsentiert, wird dieser ‹Wert› folglich

 58 „Daß nun, ,obgleich Gold und Silber nicht von Natur Geld, Geld von Natur Gold und Silber ist‘, zeigt die Kongruenz ihrer Natureigenschaften mit seinen Funktionen“ (K 104). 59 Der ökonomische ‹Wert› als Referent des entsprechenden Lexems stellt eine konzeptuelle Einheit vor; wo in unserer Betrachtung auf diese verwiesen wird, kommen gemäß Anm. 1 durchgängig einfache Guillemets zum Einsatz, während der materiell-physische, durch Wiegen ermittelte Wert als ontische Größe behandelt wird.

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  67

zumindest teilweise von seinem stofflichen Träger abgegolten: Er hat eine substantielle Unterlage oder aber ist gewissermaßen schon im Ansatz versinnlicht. Tatsächlich jedoch sind der monetäre ‹Wert› und sein empirisch-stoffliches Pendant nicht zur Deckung zu bringen, weil für den Ersteren nicht der faktische Metallanteil an der Legierung, aus der die Münze besteht, ausschlaggebend ist, sondern weil sich umgekehrt „[d]er Metallgehalt der Silber- oder Kupfermarken“ „willkürlich durch das Gesetz bestimmt“ und „[i]hre Münzfunktion“ „von ihrem Gewicht, d. h. von allem Wert“ (K 140), bzw. von der faktischen Quantität des Goldes absondert. Die kategoriale ‹Zwieschlächtigkeit› des Geldes, welche die klassische Ökonomietheorie zu eskamotieren suchte, indem sie einseitig entweder das materiell-substantielle oder das immateriell-nominelle Moment betonte, hat eben hierin ihre Wurzel. Der die Ideengeschichte durchziehende Konflikt zwischen Nominalismus und Realismus lehrt, dass die beiden Seiten sich schwerlich zusammendenken oder synthetisieren lassen, ja dass ihre reflexive Durchdringung sie eher noch gegeneinander polarisiert und zu antithetischen Größen stempelt. Erblickt man den Gründungsakt des kapitalistischen Betriebs darin, dass das „Münzdasein des Goldes“ sich „völlig von seiner Wertsubstanz“ (K 140) oder „Leiblichkeit“ (K 142)60 emanzipiert, so dürfte man einer nominalistischen Position zuneigen oder zumindest das Wort reden. (Dabei werden dem vorgeblich abstraktideellen Geldwesen freilich auch substantielle Merkmale zugeschrieben, die der empirischen Welt entlehnt sein dürften.) Das genuin Nominalistische bestünde, um es auf eine möglichst knappe Formel zu bringen, in der Verselbständigung der nominellen Valenz gegenüber der reellen, die sie verdrängt oder ersetzt, wie es beim Papiergeld der Fall ist, wenn nämlich Scheine, also „[r]elativ wertlose Dinge“, anstelle des Goldes „als Münze funktionieren“ (K 140).61 Dass das Medium eines ‹Wertes› diesem nicht einmal einen rudimentären Ausdruck verschafft, dass es folglich vergegenwärtigt, womit es als materielles Objekt selbst nicht in Verbindung steht, erlaubt es, dem Geld einen „rein symbolische[n] Charakter“ (K 140) zu attestieren. Dabei verdient es Erwähnung, dass diese, wenn man so möchte, monetäre Konzeption des Symbolischen in ihrer gedanklichen

 60 In seiner „Leiblichkeit“ muss das Gold vorhanden sein, wenn es als „Geldware“ fungieren soll; Materialität oder Repräsentierbarkeit in physischer Gestalt ist, wie an dem bei Marx kurrenten Ausdruck Warenkörper erkennbar, die Grundbedingung dafür, dass ein Gut als Ware figurieren kann. In K 147 wird „der Besitz von Gold- und Silberwaren“ als „ästhetische Form“ des Schatzes bezeichnet. 61 Vgl. hierzu das Folgende: „Wenn der Goldumlauf selbst den Realgehalt vom Nominalgehalt der Münze scheidet, ihr Metalldasein von ihrem funktionellen Dasein, so enthält er die Möglichkeit latent, das Metallgeld in seiner Münzfunktion durch Marken aus andrem Material oder Symbole zu ersetzen“ (K 140).

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Stoßrichtung mit den zeichentheoretischen Paradigmen eines Peirce oder Saussure harmoniert: Das wird zum Beispiel daran ersichtlich, dass sich nach Marx die Symbolizität des Geldes völlig erst im Papiergeld enthüllt – dort mithin, wo der nominelle ‹Wert› vom stofflichen seines Trägers völlig unabhängig ist –, während sie in den Münzen „noch einigermaßen versteckt“ (K 140f.) sein soll. Daraus wäre wiederum zu folgern, dass die zuvor vermerkte „Kongruenz“ der Spezifika eines Edelmetalls mit dessen Gebrauch als Zahlungsmittel sprachlich so gefasst wird, als sei sie geeignet, das Proprium des Geldes zu verdunkeln oder zu verheimlichen: Dürfte sie doch zu der Vermutung Anlass geben, dass die materielle und die immaterielle Seite des Geldes prinzipiell oder wenigstens in den strukturellen Grundzügen einander äquivalent sind bzw. dass der einer Münze zugeordnete ökonomische ‹Wert› auf ihren materiellen Eigenschaften (etwa auf ihrer Masse) beruht, obwohl es sich im Ganzen besehen tatsächlich um eine Ausnahme handelt. Ein Phänomen, das der Intuition oder einer vorwissenschaftlichen Ansicht gemäß scheint, wird demnach als atypisch klassifiziert; es soll obendrein trügerisch sein, indem es zu falschen Schlüssen über die innere Beschaffenheit des Geldes verleitet. Demgegenüber stuft Marx eine minder eingängige Erscheinung, die Entqualifizierung des Zahlungsmittels, als für die ökonomischen Verhältnisse kanonisch ein.62 Das leistet dem Eindruck Vorschub, als wolle er darauf hinaus, dass Gold letztlich nur in einem eingeschränkten Sinne Geld sei, weil nämlich dessen funktionale Eigenschaften und wohl auch Möglichkeiten sich primär von seiner Symbolizität herschreiben. Mit dieser auch hängt es zusammen, dass das Quantum des in der Münze enthaltenen Metalls per äußere Verordnung, von der man bloß weiß, dass ihr unbedingte Verbindlichkeit zukommt, deren Rechtsgrund aber dunkel ist, oder, in anderen Worten, „willkürlich“ stipuliert wird. Dieser Gedanke präludiert der für Saussure elementaren Arbitraritätsthese (vgl. de Saussure 1967, 79f.). „Das Papiergeld“, erklärt Marx, „ist Goldzeichen oder Geldzeichen“ (K 142), und zwar – so ist anzunehmen – in weitgehender Analogie mit dem Wort im Saussure’schen Paradigma, also mit dem sprachlichen Repräsentanten einer Größe, die an sich mit diesem nichts gemein hat. Zwar spricht Marx den Scheinen jeglichen Eigenwert ab, doch misst er ihnen insoweit Relevanz für den Zahlungsverkehr bei, als er durch sie diejenige Menge von „Goldquantis“ „symbolisch sinnlich dargestellt“ sieht, in der „ideell“ die „Warenwerte“ „ausgedrückt“ (K 142) sind: Ihnen soll es zu verdanken sein, dass ein primär virtuelles Moment, Ergebnis einer gedanklichen Taxierung, Ge-

 62 „Sein [i.e. des Geldes] funktionelles Dasein absorbiert sozusagen sein materielles. Verschwindend objektivierter Reflex der Warenpreise, funktioniert es nur noch als Zeichen seiner selbst und kann daher auch durch Zeichen ersetzt werden“ (K 143).

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genständlichkeit erlangt und sich so als ökonomisches Faktum, als Objekt wirtschaftlicher Praxis etabliert. Ist es an sich auch unscheinbar, so dient doch das Papier, als das sich ein Geldschein nach außen präsentiert, der Konkretisierung abstrakter ‹Wertfixierungen›, bereitet es deren Verallgemeinerung und Konventionalisierung den Boden. Diese Leistungen sollten der stofflichen Seite des Geldes eine gewisse Bedeutung sichern, weil die Goldmengen qua reflexive Setzungen ohne sie keine Bezeichnung hätten, jene aber für den ökonomischen Betrieb lediglich unter der Bedingung Produktivität gewinnen, dass sie nicht nur wahrnehmbar, sondern auch unveränderlich oder doch zumindest für alle Akteure die gleichen sind, dass also der Käufer sie bei einer Transaktion nicht anders veranschlagt als der Verkäufer. Vor diesem Hintergrund ist das Geld nicht einfach nur Zeichen, sondern materielles Substrat einer rein ideellen Größe, die sich ohne dinglichen Träger verflüchtigen würde. Diesen für den Zeichenbegriff essentiellen Zusammenhang scheint Marx in der Folge jedoch zu vernachlässigen, woran wiederum der nominalistische Einschlag in seinem Denken spürbar wird und womit er im Übrigen auch den Fluchtpunkt einer der hervorgehobenen Entwicklungslinien in der gegenwärtigen Ökonomie angibt: Ist doch im Zuge der fortschreitenden Quantifizierung aller ‹Handelswerte› materielles Geld für viele Wirtschaftssegmente oder Märkte, beispielsweise – und besonders – für den Börsenhandel, ganz offenbar entbehrlich geworden, weil jene ‹Werte› in der Regel vorwiegend spekulativer Natur sind und keine stoffliche Deckung besitzen, solcher auch nicht mehr bedürfen. Die ökonomische Praxis konzentriert sich nunmehr in einer Weise, die in Marxens Theorie vorausgedacht ist, auf „Wertquanta“ (K 142), in welchen sich der ‹Wert› seiner stofflichen Unterlage gegenüber dermaßen verabsolutiert hat, dass diese vollends aus dem Blickfeld verschwindet. „Nur sofern das Papiergeld Goldquanta repräsentiert“, so Marx, „die, wie alle andren Warenquanta, auch Wertquanta, ist es Wertzeichen“ (K 142). Das bisher Festgehaltene drängt zu dem Schluss, dass ‹Werte› letztlich auch ohne Rückkoppelung an die gegenständliche oder empirisch-fassbare Wirklichkeit ökonomisch real (nicht unbedingt aber, wie hier eingeschaltet sei, reell) sind, während wiederum Münzen oder Scheine nur in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten von ‹Werten› Bedeutung besitzen, so dass in diesem Falle anders als in der Sprache, in der das Bezeichnete den Zeichenkörper braucht, um sich mitteilen zu können, keine wechselseitige Abhängigkeit zwischen materiellem und immateriellem Moment besteht. Tatsächlich ist die erstere Komponente der letzteren in puncto strukturelle Relevanz unterlegen und so lediglich eine subsidiäre Größe, was auch damit zusammenhängt, dass das Verhältnis zwischen Geld und ‹Warenwert› anders beschaffen, nämlich weniger direkt bzw., um zu einer pointierteren

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Formulierung zu greifen, vermittelter ist als das zwischen signifiant und signifié: Das Geld geht nicht auf die Ware oder deren materiellen Wert, sondern auf die „Goldquantis“, in denen Letzterer „ideell“ (K 142) zur Darstellung gelangt. Für das Geld ist kategoriale ‹Zwieschlächtigkeit› insofern konstitutiv, als in ihm ein konkretes, materielles Bezugsobjekt und dessen geistig-konzeptuelle valeur voneinander abgehoben sind, während das sprachliche Zeichen beide Größen, sinnlichen Ausdruck und ideellen Inhalt, zum Einstand kommen lässt. Die prinzipielle Uneigentlichkeit des monetären Referenzzusammenhangs, so wäre hieraus abzuleiten, überträgt sich auf die Substantialität des Geldes als des Zeichenkörpers und depotenziert sie. 4.1.4.2 Entqualifizierung als Folge semiotischer Absorption Im Weiteren soll sich die Erörterung dem folgenden Textauszug zuwenden: Es fragt sich schließlich, warum das Gold durch bloße wertlose Zeichen seiner selbst ersetzt werden kann? Es ist aber, wie man gesehn, nur so ersetzbar, soweit es in seiner Funktion als Münze oder Zirkulationsmittel isoliert oder verselbständigt wird. Nun findet die Verselbständigung dieser Funktion zwar nicht für die einzelnen Goldmünzen statt, obgleich sie in dem Fortzirkulieren verschlissener Goldstücke erscheint. Bloße Münze oder Zirkulationsmittel sind die Goldstücke grade nur, solang sie sich wirklich im Umlauf befinden. Was aber nicht für die einzelne Goldmünze, gilt für die vom Papiergeld ersetzbare Minimalmasse Gold. Sie haust beständig in der Zirkulationssphäre, funktioniert fortwährend als Zirkulationsmittel und existiert daher ausschließlich als Träger dieser Funktion. Ihre Bewegung stellt also nur das fortwährende Ineinanderumschlagen der entgegengesetzten Prozesse der Warenmetamorphose W – G – W dar, worin der Ware ihre Wertgestalt nur gegenübertritt, um sofort wieder zu verschwinden (K 142f.).

Der an sich durchaus zentralen Frage, „warum das Gold durch bloße wertlose Zeichen seiner selbst ersetzt werden kann“ (K 142), weicht Marx zumindest anfangs aus; man könnte auch sagen, dass er im Verlaufe des Beantwortens von ihr abschweift. Er schickt ihr nämlich keinen Kausal-, sondern einen Restriktivsatz – Es ist aber [. . .] nur so ersetzbar, soweit es in seiner Funktion als Münze oder Zirkulationsmittel isoliert oder verselbständigt wird (K 142) – hinterher, durch den die Substituierbarkeit des Goldes näher erläutert wird. Allerdings wird zu diesem Zweck die Konjunktion soweit aufgeboten, die an sofern in dem der Frage vorangehenden Satz anklingt, jedoch nicht recht mit so im vorgeschalteten Hauptsatz kompatibel scheint, das eher ein dass-Komplement erwarten lässt. Dem Satz kann man entnehmen, dass das Geld nicht an die Stelle des Goldes als solchen mitsamt seinen materiellen Eigenschaften, sondern einer ideellen Setzung tritt, welche im Gold lediglich ihre Unterlage hat. Das Geld ist auf ein reflexives Abstraktionsprodukt bezogen, das nur von ungefähr auf das wirkliche Gold zurückverweist, nämlich

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auf dessen „Funktion“ im Zahlungsverkehr, die als „isoliert[e]“, will heißen: von ihrem materiellen Substrat abgespaltene oder, wie bei Marx verlautet, „verselbständigt[e]“ begriffen wird. Darin, dass in ihrem Materialwert nivellierte oder, mit Marx gesprochen, „verschlissene“ (K 142) Goldmünzen als Zahlungsmittel im Umlauf sind, wird die Emanzipation der ökonomischen Bestimmung des Goldes von ihrer dinglichen Fassung aktenkundig, oder, um den Akzent zu verlagern: An einem Phänomen, das unter anderen als wirtschaftlichen Gesichtspunkten paradox, ja sinnwidrig anmutet, gelangt die Unterschiedlichkeit von ökonomischer und empirischer Realität in ihrer vollen Tragweite zur Evidenz. In der Wirtschaft sind die Dinge, wie das Beispiel der Wertgegenstände lehrt, von ihrer funktionalen Valenz beherrscht, die sich indes kaum einmal ungebrochen an ihrer phänomenalen Erscheinung bemerkbar macht, im Gegenteil nicht selten zu ihr konträr sein dürfte. Das Gold als Edelmetall und das Gold, das in Form von Münzen zirkuliert, sind also zweierlei. In Hinblick auf die hier diskutierte Problematik hat es mit dieser ‹Janusköpfigkeit› die Bewandtnis, dass das Gold nicht ausschließlich oder an und für sich, sondern lediglich in der Zirkulationssphäre ein ökonomischer Faktor ist, durch entsprechende Verwendung folglich erst in einen solchen Faktor umgewandelt werden muss. „Bloße Münze oder Zirkulationsmittel“, so wird dieser Umstand von Marx gefasst, „sind die Goldstücke grade nur so lang sie sich wirklich im Umlauf befinden“ (K 142f.). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Münzen aufgrund ihrer Substantialität prinzipiell auch außerhalb des ökonomischen Bereichs Existenzfähigkeit besitzen, während Geldscheine von vornherein und einzig als ‹Wertzeichen› fungieren und, sowie sie diese Rolle nicht mehr auszufüllen vermögen, unbrauchbar geworden sind und höchstens noch antiquarische Interessen befriedigen. Spielgeld, wie es bei Monopoly zum Einsatz kommt, ist nicht geeignet, diesen Befund zu entkräften, da das Szenario, dem es als Requisit zugehört, eine spielerische Imitation oder Verfremdung ökonomischer Abläufe bezweckt und somit nichts imaginiert, was fundamental vom bereits Gegebenen differierte. Das hier über die Geldscheine Ausgeführte trifft im Übrigen auch auf das sprachliche Zeichen zu, das außerhalb des Sprachsystems oder sprachähnlicher Zusammenhänge keine sinnvolle Verwendung erfährt. Zur Charakterisierung des Geldscheins als eines Zeichens gehört die Festlegung seines Referenten. Marx erblickt ihn, wie bereits notiert, in jener virtuellen „Minimalmasse Gold“ (K 143), die laut ihm als Recheneinheit zur Stipulation des ‹Warenwertes› dient und „beständig in der Zirkulationssphäre“ (K 143) anwesend ist, sich in ihrer Eigenschaft als deren wichtigstes Aufbauelement schlechterdings nicht von ihr absondern lässt. Sie ist ein „Zirkulationsmittel“ und „existiert daher ausschließlich als Träger dieser Funktion“ (K 143), und das, obwohl es sich um

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ein uneigentliches, abstraktes Moment, um eine reine Denkgröße handelt. Marxens Beschreibung liest sich so, als gelte sie eher dem Papiergeld als dem von diesem Dargestellten, was darauf hindeuten könnte, dass die Grenze zwischen dem Papierschein und dessen ideellem Signifikat eingeebnet oder jener von diesem aufgezehrt ist. Eine solche Synchronisierung der zwei Seiten eines Zeichens, wie sie zumindest auf der Folie des bilateralen Zeichenmodells von Saussure in der Sprache undurchführbar wäre, mutet als Idee durchaus plausibel an, wenn man die verschwindend geringe Eigenwertigkeit des Papiergeldes in Rechnung stellt. Ist das Geld in seiner Substanz solchermaßen reduziert, dass es vor seinem Designat verblasst, so überträgt sich seine Verweiskraft auf dieses, sind Designat und Designans nicht mehr unterscheidbar. Für die wirtschaftliche Praxis oder konkreter: für den Zahlungsverkehr besagen diese Darlegungen, dass das Geld im Grunde verzichtbar ist, weil sich nämlich die virtuelle Goldmenge auch ohne dingliches Medium, zumal ohne eines von minderer Substantialität, also selbsttätig in der „Zirkulationssphäre“ (K 143) zu konstituieren vermag, die sie – um einen weiteren Schlüsselbegriff von Marx anzubringen – in „Bewegung“ (K 143) setzt und erhält, also mit der nötigen ökonomischen Aktivierungsenergie versieht. Das dürfte am Rande bemerkt in besonderem Maße auf die Ära der neuen Medien zutreffen, welche Formen des virtuellen Handelsverkehrs gezeitigt hat, für die eine allgemeine Beschleunigung der internen Abläufe zum einen und fortschreitende Entpersonalisierung sowie Entqualifizierung zum anderen typisch sind und die somit tatsächlich den Anschein erwecken, als seien sie jeder äußeren Steuerung entzogen, will heißen: autopoietisch. In diesem Kontext wären zum Beispiel ausschließlich durch spezielle Computerprogramme vollzogene Währungsspekulationen oder Transaktionen zu nennen. Es gilt nun aber den theoretischen Leitfaden dieser Überlegungen wiederaufzugreifen und noch ein wenig ausgiebiger zu untersuchen, was genau es mit jener „Bewegung“ der virtuellen Goldmenge auf sich hat, die mit der sichtbaren Zirkulation einhergeht und aufs Ganze besehen in einem Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit zu ihr stehen dürfte. Dies Element erhält bei Marx deshalb großes Gewicht, weil ebenso wie das ökonomische Geschehen auch dessen innere Struktur dynamischer Natur ist: Die für jeglichen Tausch elementare „Warenmetamorphose W – G – W“ (K 143), also die Transformation eines Verkaufsobjektes in ein gedankliches Goldquantum, die nötig ist, um es als einem – materiell völlig anders beschaffenen – Kaufobjekt adäquat betrachten zu können, entspringt „entgegengesetzten Prozesse[n]“, die in „fortwährendem Ineinanderumschlagen“ (K 143) begriffen sind. Die Goldmenge ist zwar als „Wertgestalt“, also in seiner Eigenschaft als unsinnliche, gleichwohl konzise, eingängige und somit „selbstän-

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  73

dige Darstellung des Tauschwerts der Ware“, Dreh- und Angelpunkt des Handels, aber auch „flüchtiges Moment“, insofern sie der Ware „nur gegenübertritt, um sofort wieder zu verschwinden“ (K 143). Sie ist folglich ‹zwieschlächtig› in dem Sinne, dass ihre funktionale Valenz nicht mit ihrer ephemeren, fluiden Phänomenalität kongruiert; Ambiguität eignet demnach auch und gerade jener Größe, durch deren Vermittlung sich heterogene Güter einander angleichen. Man darf vermuten, dass ihre Unscheinbarkeit mit ihrer Uneigentlichkeit, Substanzlosigkeit in direktem Zusammenhang steht.63 Was Marx anlangt, so liegt die Schlussfolgerung nicht fern, dass die „Wertgestalt“ (K 143) die wechselseitige Assimilation der Waren gerade deshalb ermöglicht, weil sie keine substantielle, handfeste Größe ist, die Eigengewicht besäße und sich zwischen die Güter schöbe. Indem sie fortwährend denkbar verschiedene Dinge auf sich ausrichtet, um sie kommensurabel zu machen, ohne dabei Aufmerksamkeit auf sich selbst zu ziehen, vollbringt sie eine Leistung, zu welcher eine gegenständliche Größe, die in ihrem Sosein persistiert, schwerlich imstande wäre: Sie ist von solcher Art, dass sie vollends in die „Warenmetamorphose“ aufgeht, gleichsam von ihr aufgesogen wird. Die uneingeschränkte Flexibilität der virtuellen Goldmenge, die es buchstäblich zwingend erscheinen lässt, ihr Immaterialität beizumessen, zugleich aber auch die Frage aufwirft, inwieweit ihr überhaupt noch Gestaltqualität zukommen kann, wird Marx zufolge durch ihren gegenständlichen Träger, das Geld, indiziert: Zu diesem gehöre ganz wesentlich, dass „es beständig aus einer Hand in die andre entfernt“ werde und dass „[s]ein funktionelles Dasein“ auf lange Sicht „sein materielles“ „absorbier[e]“ (K 143), was wiederum bedeutet, dass seine physische Gegenwart minimal, ja im Grunde unnötig ist: „Verschwindend objektivierter Reflex der Warenpreise, funktioniert es nur noch als Zeichen seiner selbst und kann daher auch durch Zeichen ersetzt werden“ (K 143). Allerdings, so fügt Marx hinzu, bedarf die signifikative Wertigkeit des Geldes gesellschaftlicher Normierung, damit sie verbindlich werde; sie ist also nicht Er-

 63 Die Reziprozität dieser beiden Attribute wird nach und unabhängig von Marx wiederum in einer Konzeption mit sprachtheoretischer Essenz, nämlich in Walter Benjamins „Lehre vom Ähnlichen“, zum Tragen kommen: Benjamin zufolge walten zwischen manchen sprachlichen Gebilden und dem von ihnen Gemeinten „unsinnliche Ähnlichkeiten“ vor, die lediglich „blitzartig“ zur Erscheinung gelangen und darum analytisch nicht recht einzuholen sind. Namentlich der Schrift sollen regelrechte „Vexierbilder“ (Benjamin 1977, 209) eingesenkt sein, an denen in bestimmten Momenten ein nur mehr mittelbarer, ein anderer als augenfälliger Bezug zwischen der Konfiguration der Grapheme und dem Designat merklich wird; das Zeichengefüge erlangt für kurze Dauer Gestaltcharakter, ohne dass erkennbar würde, was konkret in ihm Gestalt annimmt. Vgl. hierzu Attig 2016.

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gebnis des Warentausches, sondern über einen „Zwangskurs“ festgelegt, der ihre „objektiv gesellschaftliche Gültigkeit“ (K 143) verbürgt. Daraus erhellt, dass das Geld, auch wenn es am Ende seine Relevanz für die Zirkulation verliert, die Einrichtung von Institutionen erfordert, die seine an sich freisteigende semiotische Kraft regulieren, und dass es trotz seiner minimalen Substantialität größeren Einfluss auf die Ausgestaltung des ökonomischen Bereichs übt, als die materiellen Tauschgüter selbst es tun, sie demnach – wenn auch allein von dieser funktionalen Seite angesehen – an Realitätshaltigkeit überbietet. Man hat sich den ‹Zwangskurs›, so schwer wiederum auch die Bestimmung seines ontischen Stellenwerts fallen mag, als hypostasierten Rechtsgrund einer Auslegung der Geldzeichen zu denken, die sich als unhintergehbar und obligatorisch versteht; er ist folglich konventionalisiert. Der Sprache, deren Zeichenhaftigkeit ihrerseits „objektiv gesellschaftliche Gültigkeit“ besitzt, fehlt – Wörterbücher einmal ausgenommen – eine vergleichbare Instanz, in der sich Statute arbiträrer Semantisierung als soziale verobjektivieren. Zum Ende dieses Untersuchungsabschnitts soll noch kurz auf das soeben gleichsam en passant annotierte Verb absorbieren eingegangen werden; es beansprucht Aufmerksamkeit, weil es laut Frerichs einen der konzeptuellen Angelpunkte von Marxens Vorhaben anzeigt, strukturelle Relationen zwischen Geld und Ware unter einem semiotischen Gesichtswinkel zu beleuchten. Frerichs ist offenbar der Ansicht, dass die zentralen Argumentationslinien bei Marx tatsächlich an diesem Punkt vorbeilaufen, meint hier jedoch gleichwohl eine einschneidende Zäsur in der Geschichte der Zeichentheorie situieren zu können. Zu einem in sich konsistenten Theorem ist Frerichs zufolge die Denkfigur einer „tendenziellen Absorption des Symbolisierten durch das Symbol“ (Frerichs 2002, 356, Markierung im Original) erst bei Simmel gediehen, doch findet sie sich in ähnlicher Formulierung und überdies in Gestalt einer Gnome oder eines Leitsatzes, das heißt mit diskursivem Oberton, bereits im „Kapital“.64 Dass sie Marxens opus summum hinsichtlich seiner gedanklichen Substanz der „Philosophie des Geldes“ hintanstellt, könnte man Frerichs Studie als Manko ankreiden, tut ihrem Rang indes keinen Abbruch; sie bleibt für jedwede Beschäftigung mit Marx, die es sich herausnimmt, über den Tellerrand der Ökonomie zu blicken, instruktiv. Im Übrigen ist sie richtungsweisend auch insofern, als sie der Idee der ‹Autoreferentialität des Geldzeichens›, wie Marx sie exponiert, einen scharfen Umriss gibt und sie dem Absorptionsmotiv als Korrelat zuordnet; gleichwohl soll auch sie ihre paradigmatische Ausprägung erst bei Simmel er 64 Frerichs führt auch den einschlägigen Passus – „Sein [i.e. des Geldes] funktionelles Dasein absorbiert sozusagen sein materielles“ (siehe oben) – auf.

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  75

halten haben. Es hat jedoch den Anschein, dass die Formel, in der Frerichs die Vorstellung der semiotischen Selbstbezüglichkeit zusammenfasst – „Aliquid vertritt aliquo als etwas, das von aliquid vertreten wird“ bzw. aliquid „verweist durch aliquo hindurch auf sich selbst zurück“, so dass dieses sich nur mehr als „dasjenige etwas“ präsentiert, „das von jenem etwas vertreten“ wird (Frerichs 2002, 356, Markierungen im Original) –, auch den Kern der Überlegungen von Marx herausschält. 4.1.4.3 Imaginäre Resubstantialisierung von Ware und Geld als Gegenbewegung zur Entqualifizierung Die nachfolgenden Ausführungen sollen einen Bogen zum Ausgangspunkt der Erörterung schlagen, indem sie die Frage aufwerfen, inwiefern gerade Edelmetalle wie Gold und Silber zur Verwendung als Zahlungsmittel prädestiniert sind bzw. worin genau sich ihre „Natureigenschaften“ mit der ihnen oktroyierten ökonomischen Funktion berühren. Den Schlüssel zur Klärung dieses Problems liefert eine Bemerkung von Marx, wonach „Gold und Silber, wie sie aus den Eingeweiden der Erde herauskommen“ – das bedeutet gerade in ihrer Materialität –, „die unmittelbare Inkarnation aller menschlichen Arbeit sind“ (K 107). Man kann das dahingehend verstehen, dass sich die ökonomische Bestimmung der Metalle nicht von deren stofflicher Qualität abscheiden lässt, sondern im Gegenteil auf sie abstrahlt oder ihr gewissermaßen gutzuschreiben ist, und zwar als eine Art funktionalgeistiges Apriori. Da es sich so gut wie sonst kein anderer Stoff zur Repräsentation der monetären ‹Wertgestalt› eignet, ist Edelmetall, auch wenn es nach außen so wirkt, als sei sein ‹Wert› in seiner Materialität beschlossen, auf ein ideelles Moment, nämlich ‹Produktion› in ihrer abstraktesten Form, transparent. Seine Substantialität und sein funktional-sekundärer ‹Wert› sind, wie der folgenden Konstatierung zu entnehmen ist, in der ökonomisierten Gesellschaft wechselseitig oder dialektisch aufeinander verwiesen: Eine Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die andren Waren allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld ist (K 107).

Im Kapitalismus ist den Dingen, insoweit sie in die Zirkulationssphäre eintreten können, ihr potentieller Warencharakter bzw. ihre ökonomische Fungibilität als – empirisch allerdings nicht recht fasslicher – Index eingetrieben und somit präjudiziert; die Dinge werden ‹zwieschlächtig› in dem Sinne, dass ihre Verwertbarkeit sich in ihnen niederschlägt, gar als von ihnen unablösliche Determinante in sie eingeht.

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Die Prozedur, in deren Verlauf Gold zur Ware wird, ist zu jener gegenläufig, die es zum Zahlungsmittel macht: Ist es für die letztere Operation wesentlich, dass sich die Funktion der Substanz bemächtigt, sie regelrecht dissoziiert, verhält es sich bei der ersteren gerade so, dass die Materialität, die für die Wahrnehmung des Gegenstands bestimmend ist, seine „Naturalform“ die „vermittelnde Bewegung“ (K 107) eskamotiert, welche ihn in sich einbegreift und in einen abstrahierenden Reflexionszusammenhang eingliedert. Es ist dies eine Verdinglichung, die danach trachtet, den allgemeinen Tendenzen ‹Funktionalisierung› und ‹Rationalisierung› Gegensteuer zu geben, die für die Warenrelation strukturbildende „Bewegung“ nach der entgegengesetzten Seite umschlagen zu lassen, ehe sie sich einpendelt. Das Proprium dieses Vorgangs, gegen den Marx vehement opponiert, streicht wohl stärker noch als die diskursive Darlegung, welche die Perspektive auf seine (vorgeblich) obskurantistische Wirkung verengt, ein Lexem heraus, das in einer zu Beginn dieses Unterkapitels zitierten Äußerung (K 107) auftaucht und einen Themenkreis anreißt, der vorerst nicht weiter ausgeführt wird: Und zwar handelt es sich um den Ausdruck Inkarnation.65 Das Attribut unmittelbar emphatisiert das

 65 In K 81 wird das Lexem Inkarnation zur Spezifizierung von Körperform und in Verbindung mit dem Attribut sichtbar benützt; die Apposition allgemeine gesellschaftliche Verpuppung aller menschlichen Arbeit dient der näheren Erläuterung. Eine inhaltliche Präzisierung des von Inkarnation angeschlagenen religiösen Motivs unterbleibt an dieser Stelle; es erhält somit keinen herausgehobenen argumentativen Status, wird jedoch weiter unten prominent, in einer Passage, die über eine Metamorphose virtuell-geistiger ‹Wertrepräsentation› in handfest materielle handelt, was angesichts der Dominanz ideeller Darstellungsformen bei Marx etwas Frappierendes hat: „Um also praktisch die Wirkung eines Tauschwerts auszuüben, muß die Ware ihren natürlichen Leib abstreifen, sich aus nur vorgestelltem Gold in wirkliches Gold verwandeln, obgleich diese Transsubstantiation ihr ,saurer‘ ankommen mag als dem Hegelschen ,Begriff‘ der Übergang aus der Notwendigkeit in die Freiheit oder einem Hummer das Sprengen seiner Schale oder dem Kirchenvater Hieronymus das Abstreifen des alten Adam“ (K 117f.; das Wort Transsubstantiation fällt u.a. auch in K 122). Im Rahmen dieser Anmerkung können lediglich einzelne Merkmale dieser sperrigen Sequenz hervorgehoben werden. Erwähnenswert ist etwa die Reihung denkbar disparater Bezugsgrößen zu dem Komparativ saurer, die auf Ironisierung mit scharf polemischem Unterton ausgerichtet scheint. Die Zielscheibe von Marxens Spott gibt zunächst der – wie saurer in distanzierende Anführungszeichen gesetzte – ‹Begriff› bei Hegel ab, doch werden in Gestalt des „Kirchenvater[s] Hieronymus“ wohl ebenso auch Religion und Theologie aufs Korn genommen. Eine eingehendere Betrachtung verlangt außerdem die Wendung muß die Ware ihren natürlichen Leib abstreifen, weil sie die durchgreifende Umwandlung des ideellen Mediums in ein reelles so fasst, als ob die Ware, durch ihre ökonomische Funktion, ihre physische Originalgestalt ablegte bzw. ihre Verwertung selbst in Gang setzte – wenn auch unfreiwillig. Das liest sich ausnehmend paradox, weil als Körperlichkeit gedachte ‹Eigentlichkeit› und geistige ‹Vermitteltheit› unbesehen miteinander verklammert werden. Durch Transsubstantiation, so wäre abschließend zu notieren, wird die Metamorphose sakralisiert, mit dem Zentralgeschehen

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  77

Gemeinte und lässt ebenso auch anklingen, dass man das Substantiv wörtlich zu nehmen hat, obwohl an sich eine metaphorische Lesart stichhaltiger sein dürfte, da hier ja lediglich von Gegenständen, von Metallen, die Rede ist. Das Adjektiv rückt Gold und Silber in die Nähe Jesu Christi, des Fleisch gewordenen Wortes Gottes, identifiziert sie gar mit ihm. Marx senkt den Edelmetallen in typischer Manier, nämlich polemisch überspitzend, eine sakrale Komponente ein, die ihre Gegenständlichkeit transzendiert oder – um eine allgemeinere Formulierung beizubringen – wiederum mit einem ideellen Inhalt belehnt. Indem er Gold und Silber als „unmittelbare Inkarnation“ anspricht, stuft er sie zu Konstituenzien einer gesellschaftlichen Ersatzreligion auf, die eine nicht-rationale Haltung gegenüber den „Produktionsverhältnissen“ (K 108) zur raison d’être einer vollends von der Wirtschaft durchdrungenen Sozietät erklärt; diese mythifiziert ihr Grundprinzip und verunmöglicht dessen gedanklichen Nachvollzug. Die Mythifizierung wird im „Kapital“ nicht bloß analytisch eingekreist, sondern auch durch die Darstellung eingefangen, die sie mancherorts nachzuempfinden scheint; als Beispiel mag die metaphorische Genitivphrase Eingeweide der Erde dienen, die dem lateinischen viscera terrae nachgebildet ist, das sich etwa in den „Metamorphosen“ des Ovid findet. Das oben ins Spiel gebrachte gesellschaftliche Grundprinzip besagt, dass die Fiktion einer ‹exakten Äquivalenzbeziehung›, auf welcher der Tausch beruht und die er kraft seiner eigenen Verbindlichkeit zu einer ökonomischen Tatsache erhebt, eine „gesellschaftliche Natureigenschaft“ (K 107) sei.66 Mit diesem Oxymoron referiert Marx ein weiteres Mal und unübersehbar auf die kategoriale ‹Zwieschlächtigkeit› von Geld und Wirtschaft, in der die Metaökonomie ihren neuralgischen Punkt hat. Den konzeptuellen Hintergrund dieser Wendung kann man dahingehend beschreiben, dass sich Marxens Untersuchungsobjekte – die von ihm durchleuchteten „Produktionsverhältnisse“ (K 108) – durch eine unmittelbar zwingende suggestive Außenwirkung das Ansehen von facta bruta verschaffen, so als ob sie

 der Eucharistie gleichgeschaltet. Hiermit könnte impliziert sein, dass die Verwandlung von gedachtem Gold in reales in einem der wichtigsten Dogmen der katholischen Kirche ihr Vorbild hat. Gleichzeitig aber affiziert die bereits erwähnte ironische Brechung der Aussage auch das so inhaltsschwere Wort Transsubstantiation. – Zum konzeptuellen Komplex der Körperhaftigkeit von Waren gehört weiter noch, dass sie als Invariante bei der gesellschaftlichen Konstituierung von Verkaufsgütern etwas Paradoxes, ja sogar handgreiflich Widersinniges hat. Vgl. K 90: „Wenn ich sage, Rock, Stiefel usw. beziehen sich auf Leinwand als die allgemeine Verkörperung abstrakter menschlicher Arbeit, so springt die Verrücktheit dieses Ausdrucks in Auge“. 66 „Wir sahen, wie schon in dem einfachsten Wertausdruck, x Ware A = y Ware B, das Ding, worin die Wertgröße eines andren Dings dargestellt wird, seine Äquivalentform unabhängig von dieser Beziehung als gesellschaftliche Natureigenschaft zu besitzen scheint“.

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alles Artifizielle abgelegt hätten und jede Spur des Gemachtseins an ihnen getilgt wäre.67 Demzufolge muten sie nach außen hin naturhaft, wie Elemente der empirischen Welt an, die deren Ordnung, also Naturgesetzen von unverbrüchlicher Geltungskraft gehorchen. Marx zufolge haftet diese durchaus übliche Sichtweise an einem „falschen Schein“ (K 107), dessen Wirkung darin bestehen soll, dass sich gesellschaftliche und ökonomische Einrichtungen wie etwas schlechterdings Gegebenes ausnehmen und dass ihre komplexe strukturelle Disposition im Dunkeln bleibt. Den handgreiflichsten Ausdruck dieser kollektiven Machination, von der bereits die „alten Natur- und Volksreligionen“ (K 94) künden und deren Bann auf lange Sicht allein durch eine gesellschaftlich-politische Umwälzung gebrochen werden kann, gewahrt Marx in eben jenen Vorgängen, nach deren Vollzug Gold in ein Zahlungsmittel verwandelt und „die allgemeine Äquivalentform mit der Naturalform einer besondren Warenart verwachsen oder zur Geldform kristallisiert“ (K 107) sein soll. Freilich zielt die Selbsttäuschung der sozialen Subjekte, die Marx als ‹Fetischisierung› qualifiziert, am Rande bemerkt wohl nur in zweiter Linie darauf, die wirtschaftliche Prozess- und Beziehungswirklichkeit gerinnen und sie solcherart natürlich – das heißt dann auch unabänderlich – erscheinen zu lassen. Ihre vordringliche, gleichwohl uneingestandene Absicht dürfte eher darin liegen, den Verlust einer ursprünglichen, vorgesellschaftlichen Materie, von der das Zeit 67 Ökonomische Größen nehmen demnach im Kapitalismus das Gepräge „unstrittige[r], allseits akzeptierte[r] Fakten“ (Felder 2013, 14), das heißt von Daten, an: Sie stellen Fakten dar, an denen in der kollektiven Wahrnehmung nichts mehr auf ihr Gemachtsein hindeutet. – Diese Lesart wird auch durch folgenden Passus aus dem „Kapital“ gestützt, in dem wiederum ein Kompositum mit Natur- als Determinans vorkommt: „Die Formen, welche Arbeitsprodukte zu Waren stempeln und daher der Warenzirkulation vorausgesetzt sind, besitzen bereits die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens, bevor die Menschen sich Rechenschaft zu geben suchen nicht über den historischen Charakter dieser Formen, die ihnen vielmehr bereits als unwandelbar gelten, sondern über deren Gehalt“ (K 89f., Markierung von M.A.). Für die hier nachvollzogenen Zusammenhänge ist ferner eine Partie von Relevanz, die besagte Formen als „gesellschaftlich gültige, also objektive“ (K 90) kennzeichnet, was sich dergestalt auslegen lässt, dass ‹Objektivität› als Emanation eines sozialen Ratifizierungsvorgangs begriffen wird. Andernorts insinuiert Marx sogar, dass die „Formen, welche im praktischen Verkehr, im Produktenaustausch erscheinen“, in ihrer Eigenschaft als Repräsentationsmodi des „doppelten gesellschaftlichen Charakter[s]“ von „Privatarbeiten“ dem „Gehirn der Privatproduzenten“ (K 88) entsprängen. Das läuft dann zuletzt darauf hinaus, dass sie sich wie kognitive Größen ausnehmen bzw. zum epistemischen Inventar kapitalistischer Gesellschaften gehören. Vgl. auch K 86, wo die habituelle Apperzeption zum Sehvorgang ins Verhältnis gesetzt wird: „Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. So stellt sich der Lichteindruck eines Dings auf den Sehnerv nicht als subjektiver Reiz des Sehnervs selbst, sondern als gegenständliche Form eines Dings außerhalb des Auges dar“.

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alter des Kapitalismus keinen Begriff, sondern lediglich eine traumbesetzte Imago hat, zu kompensieren, indem sie diese Letztere, die Fiktion der Sehnsucht, auf die abstrakt gewordene Welt zurückspiegelt. Insofern das vergegenständlichte Geld mit diesen vorbewussten Reflexen kommuniziert, wohnt ihm eine gewisse „Magie“ (K 107) inne; in ihm ist die Erfahrung eines existentiellen Mangels sedimentiert, der auf die ökonomischen Verhältnisse abstrahlt und sich darum auch wieder zugunsten wirtschaftlicher Interessen in Regie nehmen lässt. Die irrationale Seite des Geldes, auf welche die ‹Fetischisierung› anspricht, modelliert Marx im Ausgang von Einzelmerkmalen, die nicht klar aufeinander beziehbar oder in eine kontinuierliche Rangfolge zu bringen sind, sondern sich zu einer Konstellation ordnen, die um den Begriff des ‹Phantasmagorischen› zentriert ist. Mit Blick auf die Textpassagen, die in diesem Zusammenhang zu konsultieren wären, also aus philologischer Perspektive, könnte man diesen Befund so reformulieren, dass das ‹Phantasmagorische› eine untergründige konzeptuell-semantische Invariante oder einen isotopischen Generalnenner vorstellt, durch den einzelne, über das gesamte „Kapital“ verstreute Partien miteinander verbunden sind. Dass das Sujet nicht in einer einheitlichen Textsequenz in seine Facetten zergliedert und von mehreren Seiten her erfasst, also nicht in einem durchgehenden Zuge erschöpfend behandelt wird, trägt seiner Disposition ebenso Rechnung wie der Gestalt, in der es dem Betrachter begegnet: Man ist mit einer verwirrenden Fülle von Phänomene konfrontiert, die sich nicht zu einem stimmigen Ganzen fügen, so dass sich ein Notieren mit einem gewissermaßen impressionistischen Einschlag, das Querverbindungen höchstens in feinen, durchbrochenen Linien skizziert, als die ihnen adäquateste Präsentationsweise empfiehlt, wobei Angemessenheit hier zuvörderst als Kongruenz der Form mit den Haupteigenschaften des Sujets zu verstehen ist. Eine Erörterung, die einen stringent durchkomponierten, linearen Argumentationsgang durchläuft, würde die Disparatheit all der inhaltlichen Aspekte, die unter den Begriff des ‹Magischen› fallen, und so denn auch die offenkundig irrationalen Elemente, die bereits die ökonomischen Grundbestimmungen aufweisen, kaschieren. Die Inklination zum Fragmentarischen, die in Marxens Text allenthalben anzutreffen ist, legitimiert sich durch seinen Vorwurf. Das Sujet drängt auf eine textuelle Gestaltung, die seinem Spezifischen Raum gewährt, weil eine diskursive Darstellung mit vorgefertigten, schablonierten Schlussformeln es weder einholen noch ihm gegenüber sich behaupten könnte.

80  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

4.1.5 Exemplarische Ausprägungen von ‹Zwieschlächtigkeit› 4.1.5.1 Medialisierung als autonomes Geschehen Die erste für den hier zu behandelnden Inhaltskomplex einschlägige Stelle, die zwecks Vertiefung des oben Gesagten näher in Augenschein genommen werden soll, hat die Etablierung des wirtschaftlichen Kreislaufes durch die Schaffung seiner fundamentalen Kategorien zum Thema:68 Die historische Ausweitung und Vertiefung des Austausches entwickelt den in der Warennatur schlummernden Gegensatz von Gebrauchswert und Wert. Das Bedürfnis, diesen Gegensatz für den Verkehr äußerlich darzustellen, treibt zu einer selbständigen Form des Warenwerts und ruht und rastet nicht, bis sie endgültig erzielt ist durch die Verdopplung der Ware in Ware und Geld (K 102).

An dieser Partie ist bemerkenswert, dass das Subjekt des zweiten Satzes, das Abstraktum Bedürfnis, auf ein von individuellen Akteuren abgespaltenes, in sich substantielles Prinzip referiert, das durch die ihm beigelegten Prädikate – treibt sowie ruht und rastet nicht – als überaus energische Wirkkraft designiert wird, während man dasjenige, worauf es zielt, als Procedere der medialen Formatierung eines – vorerst rein ideellen – Substrats der Warenwirtschaft qualifizieren könnte. In dem genannten Prinzip scheint die Intention der Menschen in ähnlicher Weise aufgesogen wie der materielle Gegenstand in seinem ökonomischen Surrogat, also in der Warenform: Das persönliche Interesse geht in einem überindividuellen Agens auf, das, wenngleich unpersönlich, nachgerade verlebendigt und, wie die alliterierende, idiomatisch gefärbte Wendung ruht und rastet nicht ventiliert, durch frappierende Persistenz gekennzeichnet ist. Die Zielstrebigkeit des auf Repräsentation des „Gegensatz[es] von Gebrauchswert und Wert“ bzw. auf Medialisierung hinwirkenden Geschehens – ein Merkmal, das die Prägung endgültig erzielt demonstrativ bekräftigt – wird über die Prädikate gesteigert: Das Planund Absichtsvolle ist offenbar dynamisch und so zu einem fortdauernden, nicht mehr abklingenden Handlungsreiz, zu einem darstellerischen Elan geworden, der in seiner Intensität dem Zug zur Abstraktion, das heißt dem Spezifikum der ökonomischen Grundkonstellation, die Waage hält. Die Medialisierung nimmt sich  68 Das Irrationale an diesem Vorgang wird zumindest indirekt auch in der folgenden Äußerung, die an der semiotischen Interpretation ökonomischer Größen Kritik übt, annonciert: „Es war dies beliebte Aufklärungsmanier des 18. Jahrhunderts, um den rätselhaften Gestalten menschlicher Verhältnisse, deren Entstehungsprozeß man noch nicht entziffern konnte, wenigstens vorläufig den Schein der Fremdheit abzustreifen“ (K 106). Nebenbei sei bemerkt, dass Marx, wenn er von einer Dechiffrierung des fraglichen Prozesses redet, diesem unter der Hand ein zeichenhaftes Element supponiert.

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  81

demnach als Nötigung aus, zu deren Erklärung die Partikularinteressen ökonomischer Subjekte allem Anschein nach nicht hinreichen und die somit allgemeineren, überpersönlichen Wesens, weil durch sachliche, objektive Gegebenheiten innerhalb der Zirkulationssphäre bedingt sein dürfte. Interesse verdienen weiterhin das Kompositum Warennatur und das Partizip schlummernde im vorangehenden Satz; beide bilden sie Aufbauelemente einer attributiven Bestimmung der Fügung Gegensatz von Gebrauchswert und Wert. Im Kompositum, das auf die „Natureigenschaften“ zurückverweist, ist die bereits umrissene Auffassung sedimentiert, dass die Konstituenzien der ökonomischen Verhältnisse Merkmale besitzen, die ihnen nicht beigelegt, sondern von vornherein inhärent, will sagen: apriorisch sein sollen.69 Das Wort Warennatur macht somit realistische Obertöne in Marxens Untersuchung vernehmlich. Was das Partizip betrifft, so schreibt es dem strukturbildenden „Gegensatz“ ‹Latenz› als Determinante zu, in welcher auch das nachher angesprochene Bestreben nach Medialisierung seine sachliche Veranlassung hat. Gleichzeitig kann man schlummernd als lexikalischen Reflex einer zumindest unterschwelligen Personifikation ansehen, über deren Motiv der zitierte Passus keinen rechten Aufschluss gibt. Wenn man sie nicht als rhetorisches Beiwerk ohne nennenswerten semantischen Eigenwert abtut, reichert sie den „Gegensatz“ mit einem Sinnesimplikat an, das unentfaltet bleibt, insofern es keine diskursive Auffächerung erhält und demnach auch nicht in die Argumentation eingebracht wird. Man könnte den Inhalt, der dem Gegensatz durch das Partizip hinzugefügt wird, in der Weise ausbuchstabieren, dass der historische Entwicklungsprozess, auf den der thematisierte Satz eingeht, eine transtemporale Größe zum Objekt hat, der Marx gleichsam in einem Atemzug ‹Verborgenheit› und ‹Belebtheit› attestiert, und dass es sich hierbei um ein potentielles Element handelt, dessen Aktualisierung einer Beschwörung, Erweckung gleichkommt. Nach dieser Lesart bilden Momente wie ‹Vorgegebensein›, ‹Latenz› und ‹Virtualität› Einsatzstellen für die Animifizierung einer ökonomischen Strukturdominante, die den Eindruck entkräftet, als sei diese Letztere nur ein gedankliches Konstrukt, und die der Zirkulationslogik solchergestalt Züge von ‹Autonomie› und ‹Substantialität› eintreibt. So angesehen, verleiht das Partizip womöglich stärker noch als der Ausdruck Warennatur der Stelle einen begriffsrealistischen Anstrich.

 69 Sie können demgemäß wiederum als Daten sensu Felder angesehen werden. Vgl. Anm. 67.

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4.1.5.2 Mythisierung Die nachfolgende Passage, in der das Motiv der Medialisierung oder der monetären Repräsentation ideeller ökonomischer Bestimmungen ebenfalls auftaucht, eignet sich in besonderer Weise zur Vertiefung der allgemeinen Ausführungen im vorigen Abschnitt: Der Name einer Sache ist ihrer Natur ganz äußerlich. Ich weiß nichts vom Menschen, wenn ich weiß, daß ein Mensch Jacobus heißt. Ebenso verschwindet in den Geldnamen Pfund, Taler, Franc, Dukat usw. jede Spur des Wertverhältnisses. Die Wirre über den Geheimsinn dieser kabbalistischen Zeichen ist um so größer, als die Geldnamen den Wert der Waren und zugleich aliquote Teile eines Metallgewichts, des Geldmaßstabs, ausdrücken. Andrerseits ist es notwendig, daß der Wert im Unterschied von den bunten Körpern der Warenwelt sich zu dieser begriffslos sachlichen, aber auch einfach gesellschaftlichen Form fortentwickle (K 115f.).

Im ersten der zitierten Sätze ist das Saussure’sche Arbitraritätsprinzip präfiguriert, wobei dessen Kerngedanke, dass zwischen signifié und signifiant prinzipiell kein intrinsischer Zusammenhang besteht, durch das Adverb ganz plakativ zugespitzt scheint. Es fällt der wiederholte Gebrauch des Lexems Name ins Auge, das womöglich insofern nicht ganz am Platze ist, als ihm zunächst, in der allgemein gehaltenen Eröffnung der Sequenz, eine „Sache“ zugeordnet wird. Indes tritt im zweiten Satz, der den Grundgedanken exemplifiziert, sogleich der „Mensch“ auf den Plan, ohne dass diese stillschweigende Vertauschung des signifié gedanklich vermittelt oder auch nur annonciert würde. Es liegt nun im Ermessen des Interpreten, ob er die geschilderte Problematik für allzu geringfügig ansieht, als dass es sich lohnte, ihr Aufmerksamkeit zu schenken, oder ob er meint, sie bewältigen zu müssen. Im letzteren Falle wird er den Wechsel von der „Sache“ zum „Menschen“ entweder als gedankliche Inkonsistenz bzw. als Sprung oder als Bestandteil der Proposition begreifen, um dann etwa den Schluss zu ziehen, dass der Referent hier schwankend, ergo nicht dingfest zu machen ist und dass dies mit der semiotischen Qualität von Namen zusammenhängt. Tatsächlich hat die Vermutung manches für sich, dass der Begriff des ‹Namens› aus dem Grunde verwendet wird, weil es den Anschein haben könnte, dass in ihm die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens in besonderer Weise zum Tragen kommt,70 und weil Marx dem Geldzeichen jene in einer markanten Aus 70 Dieses Moment potenziert sich dadurch, dass ‹Geldnamen› wie z.B. Pfund oder Unze ursprünglich ‹Gewichtsnamen› sind, von denen sie sich sukzessive „trennen“ (K 114), so dass sich Homonymie herausbildet: Die Ablösung der Geldzeichen von ihrem originären Signifikat ist Marx zufolge ihrerseits eine – historisch gewachsene – „Volksgewohnheit“ (K 115), so dass ihrer konzeptuellen Rekonfigurierung aus ihrer referentiellen Vorprägung keine Hindernisse erwachsen.

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formung supponieren möchte, um von seiner Disposition eine klare Vorstellung zu geben. Der dritte Satz scheint diese Annahme prima facie zu bestätigen, denn in ihm vollzieht sich die Synchronisierung des sprachlichen Zeichens mit der Währungseinheit, also jene Prozedur, die sprachlich in dem Kompositum Geldname kondensiert ist. Als argumentativer Schritt wirkt die Übertragung einer aus der Sprache geschöpften zeichentheoretischen Denkfigur auf das Geld an der bewussten Stelle ziemlich unvermittelt; man empfängt den Eindruck, als werde die Analogie durch das eigens geprägte Kompositum, das die Bereiche von Sprache und Geld miteinander verschränkt, im Verein mit dem einleitenden Adverb ebenso beinahe schon handstreichartig oktroyiert. Die willkürliche Zuordnung eines signifiant zu einem signifié erfolgt im genannten Satz mit solcher Konsequenz, dass das Letztere im Ersteren „verschwindet“, was auf den oben angeschnittenen Absorptionsgedanken zurückführt, der in der Neutralisierung der materiellen Qualität eines Gutes, das zur Ware wird, und der des Geldes seinen konkretesten erfahrungsmäßigen Rückhalt haben dürfte. Er ist demnach der tragende Pfeiler der ökonomischen Semiotik à la Marx, insofern er den Schlüssel zur analytischen Durchdringung des Geldwesens liefert. Auf ihn als auf ihren gedanklichen Fluchtpunkt hin sind auch die hier beleuchteten Erläuterungen zum Namen gespannt, woraus klar wird, dass sie nicht vor einem sprach-, sondern vor einem wirtschafts- bzw. geldtheoretischen Horizont zu lesen sind.71 Die Synkopierung von Geld und Sprache, die durch die lexikalischen Signale Name und Geheimzeichen angestoßen wird, ist, wie die sprachliche Gestaltung der hier behandelten Textsequenz erkennen lässt, im Wesentlichen assoziativ und allenfalls in einzelnen Ansätzen reflexiv gerahmt. Mag die apodiktische Formulierung bei Marx auch ein Stück weit über den Improvisationscharakter dieser  71 Eine sprachwissenschaftliche Bewertung des hier angeschnittenen Zusammenhangs müsste differenzierter ausfallen; unsere Darlegung ist holzschnittartig und einseitig, weil sie im Dienst der Argumentation steht. Andreas Gardt gibt in seinem Gutachten zur vorliegenden Schrift zu bedenken, dass manche Vor- und Nachnamen, zum Beispiel Gerhard oder Müller, sprachlich motiviert und so zumindest aus diachroner Sicht nicht als arbiträr einzustufen sind. Den Gegenpol zu der oben dargelegten Auffassung bezeichnet eine mythifizierende Namenstheorie, wie sie sich mitsamt ihren dialektischen Brechungen im Sprachdenken der griechischen Antike ausgeprägt hat: „Das, was griechisch ὄνομα meint, kann nur verstanden werden, wenn man die ursprüngliche (archaische) – und so gerade unreflektierte – Zusammengehörigkeit von ,Sache‘ und ,Gedanke‘ im Eigennamen mitberücksichtigt. Der Eigen-Name hat anfänglich beschwörende Kraft im zwischenmenschlichen Bereich, was aber zugleich einschließt, daß in dieser Beschwörung des Anders- und Fremdsein, das Unfaßliche des Beschworenen selbst (in späterer Zeit mit: ,individuum est ineffabile‘ ausgedrückt) miterscheint“ (Mayr 1968, 608, Anm. 72, Markierung im Original).

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Engführung hinwegtäuschen, so kommt doch im Folgenden zutage, dass sie etwas Inkonsequentes hat und zugunsten einer näheren Darstellung der Eigenart der ökonomischen Verhältnisse aufgegeben wird. Das deutet darauf hin, dass die Vergleichsmöglichkeiten von Sprache und Geld trotz augenfälliger äußerer Parallelen beschränkt sind. Tatsächlich ist der Referent des Geldzeichens – „das Wertverhältnis“ oder in einer anderen Formulierung: „de[r] Wert der Waren und zugleich aliquote Teile eines Metallgewichts, des Geldmaßstabs“ (K 115f.) – eine rein konzeptuelle, unsinnliche und dabei desto komplexere Größe, bei der fraglich ist, wie sie gedanklich zu Signifikaten von Wörtern, gar zu Namensträgern in Relation gesetzt werden soll. Denn schließlich handelt es sich beim ‹Wert› als dem Bezugsobjekt der ‹Geldnamen› um nichts anderes als um ein artifizielles, in seiner Komplexität nachgerade sophistiziertes Zeichen, das Marx vermittels der Nominalphrase im Unterschied von den bunten Körpern der Warenwelt (K 116) scharf gegen sein dingliches Korrelat, die Ware, kontrastiert, indem er den Akzent auf deren Materialität legt, und dem er überdies bescheinigt, dass es die semiotische Konstellation verdunkle und die Interpretierbarkeit der Geldzeichen beeinträchtige. Die Schwierigkeit des Zeicheninhalts, die durch die eben angeführte differenzierende Doppelformel Wert der Waren und zugleich aliquote Teile eines Metallgewichts eher registriert denn vermindert, geschweige denn behoben wird, schlägt sich unmittelbar im Zeichenausdruck nieder und verleiht dem Verweiszusammenhang eine ausgesprochen intransparente, ja enigmatische Anmutung. Die opaken Züge des Geldes werden im Text durch die Fügung Wirre über den Geheimsinn dieser kabbalistischen Zeichen annonciert. Diese stark orchestrierte Wendung, die aufgrund der Kombination der Substantive Wirre und Geheimsinn etwas Forciertes hat, gibt der Währungsbezeichnung denkbar nonchalant, nämlich lediglich durch Einsatz eines Demonstrativpronomens, ein Analogon an die Seite, durch das sie in die Sphäre kultischer Beschwörung eingerückt, zum Medium esoterischer Praktiken gestempelt und so mittelbar, durch Implikation, um ein irrationales Element ergänzt wird.72 Die in der Darstellung zusammengeballten Inhaltsmomente oder semantischen Informationen werden abermals nicht weiter aufgeschlüsselt, so dass es den Anschein hat, als sei Marx daran gelegen, ein Schlaglicht auf das Mysteriöse am Geld, auf dasjenige zu werfen, was eine Ergründung seiner Disposition behindert. Man kann auch auf die Idee kommen, dass Marx, wenn er das Geld mit uralten kabbalistischen Spekulationen in Parallele bringt, insinuieren möchte, dass es eine sakrale Tiefendimension besitze oder  72 Diese Seite des Ökonomischen manifestiert sich in unterschiedlichen lexikalischen Figurationen; so ist zum Beispiel in K 127 von der „alchimistische[n] Retorte der Zirkulation“ die Rede.

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zumindest in zentralen Punkten mit kultischen oder religiösen Vorstellungen kommuniziere und dass diese Beziehung auf seine strukturellen Eigenschaften abstrahle. Es dürfte Marx dementsprechend nicht nur darum zu tun sein, das Geld als Objekt religiöser Verehrung hinzustellen: Eher annotiert der Verweis auf eine Geheimlehre eine korrespondierende Facette des Geldes selbst, die zu seiner exoterisch-gesellschaftlichen Seite mit ihrem dezidiert rationalen Gepräge antithetisch ist. Auf den Konnex, den Marx zwischen Religion und Wirtschaft stiftet, wird im Übrigen später näher einzugehen sein. Vorerst soll erörtert werden, warum Marx es eigentlich dabei belässt, eine Gedankenverbindung zu exponieren, ohne die ihr zugrunde liegenden Zusammenhänge transparent zu machen, geschweige denn weiter auszuführen. Diese Frage ist womöglich dahin zu beantworten, dass der – so nur angerissenen – irrationalen Seite des Geldes anders zu viel Raum gewährt würde, eine ausgiebigere Behandlung also das innere Gleichgewicht der Darstellung störte und von ihrem Sujet ein verzerrtes Bild böte; sind doch die elementaren Rätsel, vor welche das Geld die Ökonomen stellt, erkennbar nicht von solcher Art, dass sie seiner Funktionstüchtigkeit Abbruch täten. In dem zu betrachtenden Textsegment bildet die Beschreibung des ‹Wertes› als „begriffslos sachliche[r], aber auch einfach gesellschaftliche[r] Form“ einen inhaltlichen Widerpart zum Attribut des ‹Arkan-Hermetischen›, ‹Kabbalistischen›, das dem ‹Geldnamen› beigelegt wird und auf ein Merkmal referiert, das dieser ‹Name› vonseiten seines Signifikats empfängt. Ein besonderes Augenmerk soll hier den Merkmalen ‹begriffslos sachlich› und ‹einfach gesellschaftlich› zugewendet werden: In der zitierten Wendung mit dem Parallelismus bringt das Junktim dieser Größen, die durch das – in seinem Bezug zunächst nicht ganz durchsichtige – Demonstrativpronomen dieser an den vorigen Satz angeschlossen werden, zur Anzeige, dass im ‹Wert› bzw. genauer: in dessen konzeptueller Fassung ‹Sachlichkeit› oder, wie man wohl auch sagen darf: ‹Rationalität›, vielleicht auch ‹Objektivität› auf der einen und ‹Sozialität› auf der anderen Seite miteinander verschränkt sind. Obendrein zeigt das adversative Bindeglied aber an, dass die beiden Momente zueinander in Spannung stehen. Es sieht so aus, als nehme hier eine weitere Spielart von ‹Zwieschlächtigkeit› Gestalt an, und zwar, wie so oft bei Marx, einstweilen ohne dass sie genauer beschrieben würde. Es ist gleichwohl zu konstatieren, dass mit der „Form“ auch die zueinander antagonistischen Bestimmungsgrößen ‹begriffslos sachlich› und ‹einfach gesellschaftlich› den Waren in ihrer Materialität, im Wortlaut: „den bunten Körpern der Warenwelt“ entgegengesetzt sind. Wenn man etwa, um mit der letzteren Größe anzufangen, danach fragt, inwiefern die Gesellschaftlichkeit der ideellen ‹Wertform›, welche sich im Geld verobjektiviert, durch ‹Einfachheit› determiniert sei, so muss man sich folglich vor Augen führen, dass die ‹Wertform› als

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gesellschaftliche in diesem Zug von den mannigfach-,buntscheckigen‘,73 nach ihrer äußeren, stofflichen Seite völlig disparaten Gütern abweicht: Das Lexem hebt so verstanden darauf ab, dass die erfahrungsmäßige Heterogenität der Waren auf einer ideellen Ebene von einer einheitlich-durchgängigen ‹Wertform› überspielt werden soll, auf welche äußere Faktoren und ökonomische Imponderabilien wie rein subjektive, grundlose Einschätzungen keinen Einfluss üben und die sachlich ist in dem Sinne, dass sie keinen willkürlichen, unmotivierten Schwankungen unterliegt. Sie definiert sich demnach durch strukturelle Konsistenz. Man kann darüber hinaus die Lesart in Ansatz bringen, dass das ‹Wertverhältnis› im Geld auf einfache Weise Soziabilität erlangt oder dass das Geld als Elementargestalt ökonomischer Vergesellschaftung zu qualifizieren ist. Tatsächlich aber bietet der hier kommentierte Passus keine Handhabe für Aussagen, die über eine Feststellung wie die, dass das Wort gesellschaftlich durch das adverbial gebrauchte einfach näher charakterisiert wird, also über eine bloße Explikation der grammatischen Beziehung dieser Größen im Satz, hinausgehen. Ja, tatsächlich wäre zu erwägen, ob man das Lexempaar nicht auch als Kopulativkompositum auffassen könnte, bei dem einfach das Attribut gesellschaftlich nicht determiniert, sondern mit ihm auf einer gemeinsamen hierarchischen Stufe angesiedelt ist. Es gibt offenkundig bereits für die rein formale Qualifizierung des sprachlichen Phänomens einen gewissen Spielraum, was die inhaltlichen Erhebungen, die eben vorgenommen wurden, vollends als spekulativ erweist. Demnach kann man als vorläufiges Fazit festhalten: Es liegt eine schwer zu entziffernde Abbreviatur einer reflexiven Vermittlungsleistung vor, von der hier lediglich die Glieder angeführt sind, an welchen sie sich vollzieht, so dass man meinen könnte, es würden disparate Momente synkopiert. Was die Formel begriffslos sachlichen betrifft, so nimmt sich die Unterscheidung zwischen ‹Wert› und konkreter Ware zumindest prima facie nicht so aus, als liefere sie den Schlüssel zur Erklärung der Funktion des Adverbs. Man wird sich vorerst mit dem Befund begnügen müssen, dass nicht das handgreifliche Objekt, die gegenständliche Ware, sondern eine im Geld sinnlich gewordene, materialisierte ‹Wertform› für die ökonomischen Verhältnisse maßgeblich ist und deren strukturelle Disposition ins Bild holt. Das Lexem begriffslos lässt durchblicken, dass das Konzept der ‹Wertform› weder aus dem Geld an sich noch aus dessen Figurationen, wie die Geldnamen sie designieren, herzuleiten ist; dass dafür die Letzteren, die als sprachliche Zeichen doch begrifflicher Natur sind, keine Anknüpfungspunkte bieten, erklärt sich eben daraus, dass sie, wie oben herausge 73 Das Attribut bunt taucht auch in K 62 und K 113 auf; in K 112 ist von „der wirren Buntheit der Warenkörper“ die Rede.

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arbeitet wurde, als arbiträr gelten müssen und nichts über das ‹Wertverhältnis› mitteilen. Die Dinge werden obendrein noch dadurch verkompliziert, dass die ‹Wertrelation› sich in der Weise, wie ein „Geldname“ sie präsentiert, aus zwei Komponenten, nämlich aus dem ‹Wert› der Waren und aus „aliquote[n] Teile[n] [. . .] des Geldmaßstabs“, zusammensetzt, inhaltsseitig genommen also alles andere als ,einfach‘ ist! Im Mangel an Durchsichtigkeit oder, semiotisch gewendet, an indexikalischer Potenz aufseiten der monetären Signifikanten liegt die Ursache dafür, dass sie wie „kabbalistische Geheimzeichen“ anmuten: Sie bringen nichts von ihrem signifié zur Darstellung. Wie bereits ausgeführt, kommt noch hinzu, dass die „Geldnamen“ „begriffslos“, also nicht auf Fixierung der konzeptuellen Eigenschaften des Signifikats, geschweige denn auf dessen Medialisierung ausgelegt sind. Wenn aber das ‹Wertverhältnis› von seinen Zeichen verdeckt oder eskamotiert wird, so könnte man daraus auch folgern, dass es ausschließlich oder zumindest vornehmlich ideeller Regulator des ökonomischen Geschehens, diesem also seinerseits entzogen ist und von realen Veränderungen in seinen Konstitutionsbedingungen, soweit sie am Geld vonstatten gehen, unberührt bleibt. Diese Konklusion ist analog zu derjenigen, die auf der vorigen Seite oben in kursiver Schrift festgehalten wurde. Abschließend soll – als weiteres inhaltliches Aufbauelement der hier nachzuvollziehenden Zusammenhänge – das Verb sich fortentwickeln zur Sprache kommen, das in dem von notwendig abhängigen dass-Komplement als Prädikat fungiert. Die Reflexivkonstruktion kann so gedeutet werden, dass sie dem Subjekt Wert semantische Informationen wie ‹Selbsttätigkeit›, gar ‹Autonomie› einsenken soll, um zu supponieren, dass der ‹Wert› selbst den Prozess seiner konzeptuellen Ausdifferenzierung in Gang setzt, die von einer strikten Entfaltungslogik gesteuert wird. Die Signifikanten, aus denen Marx das Wertsignifikat herauspräpariert, also die „Geldnamen“, sind, so opak sie auch anmuten, unschwer als Resultat eines von diesem Referenten selbst eingeläuteten geschichtlichen Verlaufs zu identifizieren, der nicht nur folgerichtig, ja regelrecht evolutionär, sondern auch „notwendig“ ist und dem man – insofern der ‹Wert› im Geld eine zugleich „sachliche“ und „gesellschaftliche“ Gestalt gewinnt – das Schlagwort Rationalisierung zuordnen kann. Das Präfix fort- könnte wiederum darauf abstellen, dass Anfang und Ende besagten Geschehens nicht in eins zu bringen sind, dass mithin der ‹Wert› im Verlauf seiner Entwicklung einer Verwandlung unterliegt und die „Form“, in die er sich einfindet, sowohl zur materiellen Ware als auch zu seinem originären Modus – wie immer er beschaffen gewesen sein mag – antagonistisch ist. Nach dieser Lesart sind in sich fortentwickeln gewissermaßen vorreflexiv oder im Sinne einer Anweisung an das Denken die beiden Größen ‹Differenz› (hier verstanden

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als Konzentrat eines geschichtlichen Vorgangs) und ‹Kontiguität›, wie sie als Präsupposition im Entwicklungsgedanken steckt, aufeinander geblendet. Wie sich aus dem Vorigen ergibt, führt der bei Marx reichlich flüchtig skizzierte Progress vom signifié auf den signifiant. Vor diesem Hintergrund dürfte die Annahme plausibel sein, dass die eben notierte ‹Zwieschlächtigkeit› auch in das wechselseitige Verhältnis der beiden Zeichenkonstituenten hereinreicht. Dies vorausgesetzt, kann man zu der Einschätzung kommen, dass ihre Separierung, die als gedankliche Bewegung mit der Verklammerung von ‹Name› und ‹Geld› anhebt und dann alsbald forciert oder auf die Spitze getrieben scheint, in einem gewissen Grad wieder zurückgenommen oder relativiert wird.74 Was den ‹Wert› selbst anlangt, so soll der Vollständigkeit halber, und um bereits Mitgeteiltes nochmals zu pointieren, angemerkt werden, dass Marx ihn nach zwei Seiten, nämlich gegen die Waren als Konkreta von „bunter“ Verschiedenheit bzw. gegen ihre Dinglichkeit und gegen die ‹Form›, die historisch gewachsene Repräsentationsgestalt, zu welcher der ‹Wert› sich „fortentwickeln“ soll, abgrenzt. Näher angesehen ist der ‹Wert› zum einen eine Konstituente der Inhaltsseite des ‹Geldnamens› und verhält er sich zum anderen zeichenhaft in Beziehung auf die Waren. Der Konnex zwischen dem Geld und den materiellen Gütern ist durch den ‹Wert› vermittelt: Er fungiert als metaempirisches Scharnier im ökonomischen Verweiszusammenhang und wirkt, wie sich im Laufe der Untersuchung zeigte, auf seine eigene Darstellung hin, ohne dass er in dieser kenntlich bliebe.

 74 Hier wird es zweckmäßig sein, daran zu erinnern, dass im vorangehenden Satz die Repräsentationsfunktion des „Geldnamens“ gestreift und in diesem Kontext das Verb ausdrücken benützt wird; der Akzent der Ausführungen, die oben im Mittelpunkt des Interesses standen, liegt auch hier auf dem Bezeichneten, das in seiner Komplexität gleichwohl unscharf bleibt. Dem genannten Verb wird man entnehmen dürfen, dass sich das signifié im ‹Geldnamen› mitnichten verflüchtigt hat, sondern durch ihn hindurch Geltung zu verschaffen vermag und – wie indirekt auch immer – bemerkbar macht. Diese Schlussfolgerung breitet einen Schatten über den ersten Satz des Textauszugs, denn sie lässt sich schwerlich mit der dort aufgestellten Behauptung vereinbaren, dass das Bezeichnete von seinem Medium eskamotiert werde: Es erweist sich nachträglich, dass diese Aussage allzu forcierend, ja übertreibend ist. Die oben vermerkte Restaurierung des ‹Wertes›, von dem es zuvor hieß, er sei „verschwunden“ – „Ebenso verschwindet in den Geldnamen [. . .] jede Spur des Wertverhältnisses“ – erfolgt also nicht unvorbereitet; tatsächlich strebt der Passus diesem Resultat in einem klar herausmodellierten argumentativen Spannungsbogen zu.

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4.1.6 ‹Zwieschlächtigkeit› als inhaltlich-textuelle Figur: ‹Warensprache›, Rhetorizität der Darstellung und ihre Funktion 4.1.6.1 Die Prosopopoeia und ihr ‹Ausdruckscharakter› bei Marx Marx selbst präzisiert die semiotischen Referenzgrößen oder Korrelate seiner Konzeption, die in ihren wichtigsten Facetten auszuleuchten Aufgabe der vorgelagerten Darlegungen war, in der Weise, dass er wirtschaftliche Entitäten metaphorisch oder auch buchstäblich mit Sprache verklammert. Hierauf wird im Weiteren näher einzugehen sein. Dabei sollen durch eine Verengung des Gegenstandsbereichs Grundlinien des Marx’schen Denkens ebenso wie einzelne Punkte, die oben in den Blick kamen, schärfer herausgearbeitet werden, als es im Rahmen einer globalen Betrachtung möglich ist. Herrschte bislang die Absicht vor, Marxens Geldtheorie im Allgemeinen auf ihre wesentlichen ideellen Voraussetzungen zurückzuführen und ihre Ambiguität als Hauptmerkmal in den Vordergrund zu rücken, gewinnt nun das gegenläufige Bestreben nach Konkretisierung und damit nach Erkundung des Ganzen vom Detail her Auftrieb. Für den Fortgang der Untersuchung wird folgende Sequenz eine Schlüsselrolle einnehmen: Man sieht, alles, was uns die Analyse des Warenwerts vorher sagte, sagt die Leinwand selbst, sobald sie in Umgang mit andrer Ware, dem Rock, tritt. Nur verrät sie ihre Gedanken in der ihr allein geläufigen Sprache, der Warensprache. Um zu sagen, daß die Arbeit in der abstrakten Eigenschaft menschlicher Arbeit ihren eignen Wert bildet, sagt sie, daß der Rock, soweit er ihr gleichgilt, also Wert ist, aus derselben Arbeit besteht wie die Leinwand. Um zu sagen, daß ihre sublime Wertgegenständlichkeit von ihrem steifleinenen Körper verschieden ist, sagt sie, daß Wert aussieht wie ein Rock und daher sie selbst als Wertding dem Rock gleicht wie ein Ei dem andern. Nebenbei bemerkt hat auch die Warensprache, außer dem Hebräischen, noch viele andre mehr oder minder korrekte Mundarten. Das deutsche „Wertsein“ drückt z.B. minder schlagend aus als das romanische Zeitwort valere, valer, valoir, daß die Gleichsetzung der Ware B mit der Ware A der eigne Wertausdruck der Ware A ist. Paris vaut bien une messe! (K 66f.)

Mit der Behauptung, die Leinwand sage, wenn sie zum Tauschobjekt werde, so gut etwas aus wie die auf sie gerichtete ökonomische Analyse, verklammert Marx die ‹Wertrelation› mit Sprache. Er schreibt dieser Verschränkung, die sich in Form des Kompositums Warensprache noch zu einer veritablen Gleichsetzung steigert, vermittels des generalisierenden Man sieht Evidenzcharakter zu und zeichnet so ein Moment, das nicht allein der diskursiven Ebene vorbehalten, folglich auch nicht gedanklich aufgegliedert und fixiert, sondern, wie noch zutage treten wird, mit rhetorischen Mitteln gestaltet, figürlich realisiert ist, als eindeutig und unwiderleglich aus. Indem Marx das Ergebnis der Untersuchung auf die Ware überträgt und so suggeriert, dass sie selbst es mitteilt – etwa durch ihre Verfasstheit –, scheint er zu unterstellen, dass die wissenschaftliche Betrachtung nichts anderes

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macht als die ökonomischen Verhältnisse zum Sprechen bringen und eine in sie eingesenkte Aussage transkribieren. Die Theorie inszeniert sich derart als Aktualisierung einer ihrem Sujet innewohnenden sprachlichen Potenz. Der hier beleuchtete Passus hat in einem anderen eine Parallele, in dem die Ware ebenfalls als redende dramatis persona auftritt:75 Könnten die Waren sprechen, so würden sie sagen, unser Gebrauchswert mag den Menschen interessieren. Er kommt uns nicht als Dingen zu. Was uns aber dinglich zukommt, ist unser Wert. Unser eigner Verkehr als Warendinge beweist das. Wir beziehn uns nur als Tauschwerte aufeinander (K 97).

Derrida kommentiert die Stelle folgendermaßen: Marx tut so, als würde der Ökonom diese fiktiven oder gespenstigen Worte der Ware naiv reflektieren oder reproduzieren, als wenn er der Bauchredner sei (Derrida 2004, 215).76

Pott sieht hier eine „Schwelle“ sich abzeichnen, „die Marx und seine Zeitgenossen erahnten und in gewissem Sinn auch erkannten, für die aber keine zureichende Begrifflichkeit zur Verfügung stand“ (Pott 2007, 592): Mit der „Übertragung menschlicher Eigenschaften auf die Dinge“ sei eine nur unzulänglich artikulierbare Er 75 Das Marktgeschehen scheint auf einer Bühne angesiedelt; seine Modellierung als szenischer Ablauf stellt eine Strategie der Visualisierung dar, der sich weitere an die Seite setzen lassen. Es soll lediglich summarisch auf einen Textbeleg verwiesen werden, an dem zwei Facetten hervorzuheben wären: Zum Ersten nimmt er den Körper als konzeptuellen Referenzpunkt für die Formatierung der ‹Gebrauchswert›-Dimension der Ware, zum Zweiten wartet er mit jenen personifizierenden, ja animifizierenden Elementen auf, die bei Marx notorisch sind und hier der abschließenden Engführung des Verhältnisses von Rock und Leinwand mit der Beziehung zweier Individuen präludieren (vgl. dazu die kursivierten Stellen im nachstehenden Zitat). Zu Beginn der Partie verlautet über den Rock, es sei „menschliche Arbeit in ihm aufgehäuft“: „Nach dieser Seite hin ist der Rock ,Träger von Wert‘, obgleich diese seine Eigenschaft selbst durch seine größte Fadenscheinigkeit nicht durchblickt. Und im Wertverhältnis der Leinwand gilt er nur nach dieser Seite, daher als verkörperter Wert, als Wertkörper. Trotz seiner zugeknöpften Erscheinung hat die Leinwand in ihm eine stammverwandte schöne Wertseele erkannt. Der Rock kann ihr gegenüber jedoch nicht Wert darstellen, ohne daß für sie gleichzeitig der Wert die Form eines Rockes annimmt. So kann sich das Individuum A nicht zum Individuum B als einer Majestät verhalten, ohne daß für A die Majestät zugleich die Leibesgestalt von B annimmt und daher Gesichtszüge, Haare und manches andre noch mit dem jedesmaligen Landesvater wechselt“ (K 66, Markierungen von M.A.). Man könnte aus dieser Äußerung folgern, dass Marx von Anfang an bald mehr, bald minder diskret versucht, den ökonomischen Vorgängen das Ansehen einer illusionistischen Aktion zu geben. 76 Derrida nimmt hier auf den Satz Bezug, an den die vorige Anm. anknüpfte und dem Marx selbst Zitate aus zwei ökonomischen Schriften hinterherschickt: „Man höre nun, wie der Ökonom aus der Warenseele heraus spricht“ (K 97).

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kenntnis angebahnt, die „in der Form des Gespenstischen geistert, was ja eine Vorform von Geist ist“, die Erkenntnis nämlich, dass „der Tausch, der auf dem Geldverkehr beruht, in der Tat autonom, unabhängig vom menschlichen Willen sich vollzieht“ (Pott 2007, 592). Pott, der – mit Hamacher – die Figur der redenden Leinwand unter den Begriff der Prosopopoeia rubriziert, ist der Meinung, dass die rhetorische Größe hier eine Vorstellung von „Systemautonomie“ (Pott 2007, 592) anschlägt, also etwas antizipiert, das gedanklich noch nicht eingeholt, geschweige denn konzise verbalisiert worden ist. In diesem Rahmen, so deutet Pott an, nimmt die Imago einer sich menschlichen Ausdrucksbedürfnissen entziehenden Sprache Konturen an. „Die Warensprache“, lässt Pott verlauten, „ist für menschliche Motive nicht mehr erreichbar ebenso wenig wie für die Eigenschaften der Dinge“ (Pott 2007, 592). Man könnte unter Berufung auf diese recht unvermutete und deshalb aus dem argumentativen Kontext hinausragende Äußerung folgende Hypothese formulieren: In der Prosopopeia erhält der Marx’sche Gedanke, dass der Mensch in der Zirkulationssphäre Handlungskraft und Autonomie eingebüßt habe, dass diese von den Waren gewissermaßen aufgesogen worden seien, ein formales Korrelat. Das rhetorische Register verhilft einer, wie Derrida schreibt, „anthropomorphische[n] Projektion“ (Derrida 2004, 215) als einer kollektiven Autosuggestion der in den Warenkreislauf verstrickten Subjekte zur Erscheinung und stellt die dabei wirksamen psychologischen Mechanismen in den Mittelpunkt. Jene Projektion „ist es, die die Waren inspiriert, die ihnen Geist einhaucht, menschlichen Geist, den Geist einer Rede und den Geist eines Willens“ (Derrida 2004, 215). Eine andere Bemerkung Derridas legt prima vista etwas outrierend den Nachdruck auf die Irrationalität dieses Vorgangs: Die Person (Hüter oder Besitzer des Dings) wird ihrerseits heimgesucht, und zwar konstitutiv, von dem Spuk, den sie im Ding hervorbringt, indem sie ihre Rede und ihren Willen darin ansiedelt wie Hausbewohner (Derrida 2004, 216).

Hamacher gibt zu bedenken, dass der Versuch, die Eigenart der hier zu sichtenden Marx-Passage auf dem Wege einer formalen Bestimmung, gar unter Heranziehung rhetorischer Vokabeln, zu erfassen, am exklusiven ontischen Status der Waren scheitere; er lehnt einen solchen Vorstoß freilich auch nicht rundweg ab.77 Sein Argument besagt im Kern, dass sich die Größen, die Marx mit Artikulationsvermögen belehnt, in ihrer Qualität fundamental von denjenigen unterscheiden, an denen die Prosopopoeia üblicherweise ansetzt, und zwar darin, dass sie nicht  77 Er fällt mit Blick auf ihn das salomonische Urteil: „That would not be wrong, but still less would it be right“ (Hamacher 1999, 175).

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eigentlich „natürlich“, sondern verobjektivierte, wahrnehmbare Ausgestaltungen einer paradoxen Disposition sind,78 deren Besonderheit sich, wie an dieser Stelle zu ergänzen wäre, vermittels der herkömmlichen Kategorisierungsmuster, die empirisch-konkrete Wirklichkeit und reflexiv-abstrakte Setzungen einander konfrontieren, nicht beschreiben lässt: Die Entitäten, die hier in den Blick genommen werden, sind nach Hamacher dadurch charakterisiert, dass sie „auf eine sinnliche Weise übersinnlich (supra-sensuous in a sensuous way)“ (Hamacher 1999, 175) sind und über relative Selbständigkeit verfügen. Man kommt ihnen letztlich bloß dann bei, wenn man sie als in der Art einer Prosopopopeia strukturierte,79 das heißt eben als redende Dinge, begreift: „The cloth“, so lautet der entscheidende Satz, „does not speak figuratively but, because it is a commodity and hence a figure, it actually speaks“ (Hamacher 1999, 175).80 Zur Untermauerung seines Diktums führt Hamacher an, dass die Sprache hinsichtlich ihrer strukturellen Beschaffenheit der Ware korrespondiert, insofern sie ihrerseits sowohl „abstrakt“ als auch „materiell“ und, wie er etwas überraschend, ohne gedankliche Überleitung hinzufügt, „the incarnated form of man’s expression“ und „the form of organization of his labor“ ist (Hamacher 1999, 175). Hamacher scheint Marx so zu lesen, als treffe er zumindest Anstalten, ein rhetorisches Mittel zu einem erkenntnisstiftenden Medium umzufunktionieren, und zwar indem er es durch eine Art von Transfiguration in ein sprachliches Analogon zu einer ideellen Aporie verwandelt. Im Verhältnis zu dieser Interpretation mutet die Einschätzung, zu der Bajorek gelangt, recht kurzsichtig an: It is one thing to say [. . .] that commodities speak their own language, but what matters from the standpoint of both present and future possibilities for transformation is less Marx’s use of prosopopeia than the kind of language this prosopopeia puts in the commodity’s mouth (Bajorek 2009, 45).

Es dürfte angemessener sein, die Prosopopeia als Platzhalter für eine noch unentwickelte Terminologie und damit auch für eine imaginäre diskursive Ordnung zu verstehen, welche die starren Demarkationslinien auf dem Feld der Begriffslogik als einer theoretische Grundfragen traktierenden Metawissenschaft ausstreicht. Es  78 Vgl. Hamacher 1999, 175. 79 Vgl. Hamacher 1999, 175: „Marx thus not use a metaphor or a prosopopoeia, but the commodity of which he speaks is itself structured as a prosopopeia“. 80 Ebenso Pott 2007, 593, wo explizit auf Hamacher verwiesen wird: „Die Ware spricht [. . .] selbst figürlich, sie ist fictio personae“. Bajorek trägt diesen Befund im Ton einer bündigen, gleichsam selbstverständlichen oder prosaischen Feststellung („[. . .] the commodity functions as a figure or according to a figural logic“) vor und verkennt sein spezifisches Gewicht; auch ist seine reflexive Tragweite bei ihr allenfalls skizzenhaft bezeichnet (vgl. Bajorek 2009, 45).

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spricht nämlich einiges dafür, dass, wie Derrida schreibt, die „Grenzen der Phantasmagorisierung“, der Marx seine Aufmerksamkeit zuwendet, „sich nicht mehr durch die einfache Entgegensetzung von Anwesenheit und Abwesenheit, Wirklichkeit und Unwirklichkeit, Sinnlichem und Übersinnlichen kontrollieren oder anweisen lassen“ und es daher „einer andere[n] Annäherung“ (Derrida 2004, 222) an die kategorialen Unterscheidungen oder einer strukturellen Veränderung des wechselseitigen Verhältnisses der Kategorien selbst bedarf.81 Diese Synopse ist aus dem Grunde eingeschaltet worden, weil die referierten Überlegungen für den Fortgang der Untersuchung belangvoll sind. Sie soll mit der Beobachtung schließen, dass die Formulierung der Marx-Passage, auf die Derrida, Hamacher und Pott rekurrieren – „Könnten die Waren sprechen, so würden sie sagen [. . .]“ –, ihre Aussage zwischen Potenzialität und Irrealität oszillieren lässt: Es wird zur Kenntnis gegeben, dass die Waren in Wirklichkeit eben „nicht sprechen können“ (Derrida 2004, 215), dass eine programmatische Fiktion lanciert wird, die darauf abzielen dürfte, nicht nur eine elementare ökonomische Konstellation, sondern auch den Fiktionscharakter des kapitalistischen Wirtschaftens an sich und seiner Setzungen zu verdeutlichen – als reiche es nicht aus, ihn auf der propositionalen Ebene des Textes förmlich auszuzeichnen. Derrida im Übrigen bemerkt, dass es Marx hier darum zu tun sei, jenen Ökonomen eine Lehre [zu] erteilen, die glauben [. . .], wenn eine Ware ›Ich spreche‹ sagt, sei das schon ausreichend, damit der Satz auch wahr sei und die Ware eine Seele habe, eine tiefgründige Seele, die ihr eigen wäre (Derrida 2004, 215).

Diese in theoretischer Hinsicht recht vertrackte und voraussetzungsreiche Einlassung, die obendrein nur eine verhältnismäßig sparsame argumentative Rahmung erhält, erschließt sich lediglich im Gesamtzusammenhang von Derridas Marx-Monographie und kann darum hier nicht weiter erörtert werden. Es soll stattdessen wieder die oben auf S. 89 dargebotene Passage (K 66f.) in den Vordergrund treten, die den eigentlichen Gegenstand der Untersuchung bildet.

 81 Aus Gründen der Billigkeit muss an dieser Stelle noch hinzugefügt werden, dass der oft missverstandene Derrida am genannten Ort ausdrücklich nicht danach trachtet, die tradierten, für Marx jedoch nicht mehr zuständigen „analytischen Bestimmungen auszulöschen“ (Derrida 2004, 222), sondern etwas im Sinn hat, das man als deren ,Überschreibung‘ titulieren könnte.

94  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

4.1.6.2 Interpretation von K 66f. 4.1.6.2.1 Funktionen der Prosopopoeia in der Darstellung: Personifizierung, Homogenisierung, Differenzierung Der fragliche Textabschnitt führt als prototypische Waren, die Licht über die ökonomische Realität zu Marxens Lebzeiten oder genauer: über den damaligen Stand der Industrialisierung verbreiten, Leinwand und Rock ins Feld. Deren Behandlung ist ein Exempel dafür, wie Marx durch ein Widerspiel von abstrahierender Typisierung und versinnlichender Personifizierung die paradoxe Struktur seines Sujets auszumessen sucht. Leinwand und Rock werden zu illustrativen Zwecken aufgeboten,82 will sagen: Es wird ein wirtschaftlicher Funktionszusammenhang, der unsinnlich und obendrein überaus komplex ist, auf sie gespiegelt und somit seinerseits vergegenständlicht, nämlich auf die in ihm einbegriffenen Dinge zurückgebogen, wie wenn er sich unmittelbar in ihnen auskristallisierte. Hiermit – so kann man in Anknüpfung an die eben referierten Ausführungen Hamachers statuieren – bringt die Darstellung zugleich die Art der Transformation zur Evidenz, der die Dinge unterliegen, wenn sie ökonomisiert werden.

 82 Auch wenn sich keine klaren Belege beibringen lassen, darf vermutet werden, dass Marx die Leinwand nicht ohne ein gewisses Kalkül als Beispiel gewählt hat: Bildet sie als materieller Träger von Malerei doch nachgerade das Paradigma der leeren Fläche, die sich beliebig füllen lässt, mithin als reines Medium gelten kann, das die Darstellung nicht nach einer bestimmten Seite hin beeinflusst, geschweige denn den Bereich des Darstellbaren eingrenzt. In diese Richtung deutet die deutsche Übersetzung von Derridas Schrift, indem sie für das französische écran (i.e. Bildschirm im Deutschen) das polyseme Nomen Leinwand setzt und so eventuell mit Bedacht einen Rückverweis auf Marx schafft; hätte Derrida den von diesem gemeinten Stoff im Sinn gehabt, so hätte er wohl eher toile schreiben müssen: „Alle Phantasmen werden auf die Leinwand dieses Phantoms projiziert (das heißt auf etwas Abwesendes, denn die Leinwand selbst ist phantomatisch, wie das Fernsehen von morgen, das auf die Unterstützung durch den Bildschirm verzichten können und seine Bilder [. . .] direkt ins menschliche Auge projizieren wird [. . .])“ (Derrida 2004, 140). Gleich darauf liest man Folgendes: „[. . .] [E]ine Leinwand ist im Grunde, im Grunde dessen, was sie ist, immer eine Struktur der verschwindenden Erscheinung (de l’apparition disparaissante)“ (Derrida 2004, 141). Diese Dikta lassen die Annahme durchschimmern, dass Marx die Leinwand aus dem Grunde bemüht, weil sie einen Gegenstand abgibt, der sich in besonderem Maße zur Repräsentation einer anderen Größe, rein gedanklicher Bestimmungen etwa, eignet und dessen materielle Solidität durch solche latente Zeichenhaftigkeit von vornherein als reduziert erscheint. Die Leinwand, so wäre wiederum mit Derrida zu sagen, figuriert als Paradigma der Ware, insofern sie eine Projektionsfläche für deren Idee bzw. für den Warencharakter ist, der „sich in voller Länge“ auf ihr „ausschreibt“ (Derrida 2004, 220). Hamacher, der Derridas Bemerkungen über die Leinwand eine separate Anmerkung widmet, zieht folgendes Resümee: „The screen, the cloth is the ground-figure which appears only in disappearing and in which disappearing appears, thus the abyss as ground and the figure as none“ (Hamacher 1999, 210).

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  95

Die rhetorische Transfiguration83 macht die materiellen Güter transparent auf das abstrakte Geschehen, dessen Träger sie sind und über das ihre äußere Anmutung umso eher hinwegzutäuschen vermag, als es, wie bereits bemerkt, das etablierte kategoriale Gefüge mit seinen klaren Dichotomien wie der von Faktizität und Fiktionalität aus den Angeln hebt. Die Prosopopeia lässt die Dinge beredt in dem Sinne erscheinen, dass sie den Dreh- und Angelpunkt jeder Tauschhandlung markieren. In ihr verlängert sich eine Bestimmung derjenigen Seite der Ware, die durch ihren ‹Gebrauchswert› gebildet wird, die „Personifizierung der Sache“ – ihr steht als Umschreibung des ‹Wertes› die Formel „Versachlichung der Personen“ (K 128, Markierung von M.A.) gegenüber84 –, in ein Formelement des Textes hinein, in welchem die begrifflich schwer fixierbare Eigenschaft, auf die sie ausgeht, eine indiskursive Ausprägung, nämlich eine veranschaulichende Manifestationsgestalt, erhält. Die Prosopopeia wirkt in Kombination mit einigen formalen Merkmalen der Passage – zumal mit der Anapher in Gestalt der beiden Satzgefüge, die durch den erweiterten Infinitiv um zu sagen eröffnet werden – obendrein darauf hin, dass die Darstellung einen ostentativen Klang annimmt. Die ostinatoartige Wiederholung des elementarsten und allgemeinsten verbum dicendi, nämlich von sagen, mag

 83 Vgl. Kaiser 2003, 71. Dieser Beitrag setzt sich – freilich unter Bezugnahme nicht auf das „Kapital“, sondern auf die „Politische Ökonomie“ – unter anderem mit der Frage auseinander, inwieweit bei Marx eine transfigurative Schreibweise ausgebildet ist. In einer Anmerkung wendet sich Kaiser ausgehend von einem Aperçu Walter Benjamins, in dem das Wort von der „Entstellung ins Allegorische“ fällt, dem Spannungsverhältnis von „Transfiguration“ und „Disfiguration“ zu und kommt in diesem Kontext auch auf die Prosopopeia zu sprechen: „Es steht zu vermuten, daß die ,Entstellung ins Allegorische‘ Effekt ist dieses Versuchs, sich reproduzierend ein Gesicht zu verleihen bzw. dem Akt der Prosopopeia, die dem Gesichtslosen und Unsichtbaren durch Figuration ein Gesicht gibt, sich verdankt. Das hieße, daß für Benjamin Reproduktion, Reflexion und (Dis-)Figuration ineinander verstrickt sind“ (Kaiser 2003, 71, Anm. 13). Kaiser zieht seinerseits in Erwägung, dass die Prosopopeia nicht nur einem figurativen Moment der Ware korrespondieren, sondern in ihrer verzerrenden Wirkung auch die Pseudomorphose versinnlichen könnte, die das Ding im Zuge seiner Ökonomisierung erfährt. 84 Ein Zug zur Versachlichung ist laut Marx gerade an ökonomischen Rollen wie der des Warenbesitzers ablesbar, insofern dieser, wenn er andere als seinesgleichen anerkennt, ein „Willensverhältnis“ zu ihnen eingeht, in welchem „sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt“ (K 99): Bei den „ökonomischen Charaktermasken der Personen“, so wird im Weiteren erläutert, handelt es sich lediglich um „die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse [. . .], als deren Träger sie sich gegenüberstehen“ (K 100). Mit diesem Bescheid kann man das Folgende in Parallele stellen: „Wie dieselbe Ware die zwei umgekehrten Wandlungen sukzessive durchläuft, aus Ware Geld und aus Geld Ware wird, so wechselt derselbe Warenbesitzer die Rollen von Verkäufer und Käufer. Es sind dies also keine festen, sondern innerhalb der Warenzirkulation beständig die Personen wechselnden Charaktere“ (K 125).

96  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

diese Wahrnehmung bestärken. Dass sowohl dem Erkenntnisziel der „Analyse“ als auch der semiotischen Qualität der Ware, von der Marx ohne Einschaltung argumentativer Zwischenglieder auf einen regelrechten Sprachcharakter extrapoliert, das gleiche Lexem beigelegt wird, und das auch noch direkt nacheinander, scheint die nicht unumwunden ausgesprochene These – dass die Untersuchung und ihr Sujet kongruieren – zu unterstreichen oder vielleicht auch zu präjudizieren. Die Diskrepanz zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung von sagen wird durch die Verwendung des Verbs, die keine semantische Spezifizierung erkennen lässt oder einer solchen geradezu entgegenarbeitet, vorerst eingeebnet; es ist hier demnach eine der Tendenz nach homogenisierende Präsentationsform konstatierbar. Unmittelbar im Anschluss jedoch wird der Differenz der Bedeutungen durch die Wendung in der ihr allein geläufigen Sprache offengelegt, die auf die Leinwand gemünzt ist und der ein einräumendes nur vorangeht. So ist das Verhältnis zwischen der „Sprache“ der Leinwand und der Sprache der Analyse einstweilen uneindeutig.85 Wird demjenigen, was die Leinwand in der ihr eigenen ‹Sprache› zur Mitteilung bringt, die Bezeichnung Gedanken beigegeben, so mutet die Ware nicht nur anthropomorphisiert, sondern auch intentionalisiert und intellektualisiert an;86 sie scheint im Innersten mit einer reflexiven Kraft imprägniert. Über das Prädikat verraten wird besagten ‹Gedanken› das semantische Merkmal des ‹Arkanen› attribuiert, was zum notorischen Motiv der ‹Intransparenz der ökonomischen Verhältnisse› passt, das regelmäßig mit einer Art Rätsellexik unterlegt ist. Gleichsam in einem gedanklichen Kurzschluss soll dem Gegenstand als inhärentes Merkmal gutgeschrieben werden, was er als funktionales Element im wirtschaftlichen System und durch seine Verwertung an Spezifika allererst erwirbt. In Entsprechung dazu – und mit einem nicht minder deutlichen Zug zur Personifizierung, gar Beseelung (Animifizierung) – wird bereits zuvor der Anschein hervorgerufen, als sei der Umstand, dass zwei Dinge in Relation gebracht werden, die an sich, von ihrer materiellen Seite her, eigentlich keine Ansatzpunkte dafür bieten, ihrer Disposition oder zumindest einer ihnen immanenten Neigung geschuldet: Marxens Formulierung lässt die Vorstellung zweier Akteure anklingen, die in einem sozialen Raum miteinander in Kontakt treten, so dass die ‹Wertbezie 85 Hamacher bringt die hier notierte Ambiguität auf eine bündige Formel: „Marx’s language is the language of cloth when he says ,Cloth speaks.‘ But in the language of Marx, this language of the cloth is at the same time translated into the analytical – and ironic – language of the critique of the very same political economy that defines the categories of cloth-language“ (Hamacher 1999, 170). 86 Dieses Moment kommt auch in der finalen Infinitivkonstruktion um zu sagen, die einen teleologischen Zusammenhang involviert, zum Tragen.

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  97

hung› wie das Resultat einer kommunikativen Handlung wirkt.87 Die Wendung in der abstrakten Eigenschaft menschlicher Arbeit lässt darauf schließen, dass, wenn ein Gegenstand zur Ware geworden ist, die Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Momenten bei ihm nicht mehr greift, weil seine wirtschaftlichen Bestimmungen ihm in einer Art und Weise zugewachsen sind, dass sie nicht mehr von ihm abgeschieden werden können, er also im Verlaufe seiner Ökonomisierung eine umfassende Verwandlung erfahren hat.88 An dieser Stelle ist es angezeigt, auf den anaphorischen Komplex mit dem erweiterten Infinitiv um zu sagen zurückzukommen und auf diesem Wege den Ausdruckscharakter der Ware, das heißt eigentlich: des Gegenstands, der zur Ware wird, noch einmal schärfer zu belichten. Es wurde bereits festgehalten, dass die lexikalische Identität des erweiterten Infinitivs um zu sagen und des Hauptsatzprädikats sagt (sie) einer Assimilierung des Ausdruckscharakters der Güter und desjenigen der menschlichen Sprache den Boden bereitet. Nun drängt sich die Frage auf, wie die formale bzw. grammatische Verschiedenheit der Lexeme inhaltlich einzuschätzen ist. Es soll hier die Deutung vorgeschlagen werden, dass sich durch das sprachliche Phänomen hindurch leise ein Moment der Differenzierung annonciert, das zur semantischen Äquivalenz antithetisch ist und sich weiterhin in der Phrase in der ihr allein geläufigen Sprache explizit bekundet. Es prägt sich zum Dritten auf der propositionalen Ebene aus, insofern dasjenige, was da gesagt werden soll, und das tatsächlich Gesagte an sich nicht als gleichsinnig gelten können und wohl auch nicht in dieser Weise apperzipiert würden, wenn nicht die beiden dass-Komplemente, die über die Mitteilungsabsicht und das Mitgeteilte Auskunft geben, an das – wie eben gesehen, freilich nur in semantischer Hinsicht – identische Lexem angeschlossen wären. Man kann demnach konstatieren, dass die inhaltliche und die formale Ebene des Textes ineinander geschoben sind und in ihrer Interferenz das paradoxe Konzept einer von Unterscheidungsmerkmalen durchschossenen Gleichheit zweier Größen evozieren. Fühlbar wird diese Spannung auch an einer Stelle, wo die Repräsentationen des Warenausdrucks in verschiedenen Nationalsprachen als

 87 Vgl. hierzu wiederum Hamacher, der den Befund folgendermaßen erweitert: „[. . .] [I]t [i.e. the cloth] speaks and thinks exclusively in the exchange with other commodities, with its own kind, with regard to them and to the possibility of finding in them its echo or its reflex“ (Hamacher 1999, 170). Ebenso Pott 2007, 593: „Die Ware kommuniziert nur mit ihresgleichen und unterschlägt, dass sie das Produkt menschlicher Arbeit und ihrer Organisation ist“. 88 Hier klingt ein Motiv an, das sich am konzisesten in dem Oxymoron gesellschaftliche Natureigenschaften artikulieren dürfte, von dem in der nachfolgenden Untersuchung ausgiebig die Rede sein wird.

98  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

„Mundarten“ einer universellen ‹Warensprache› bezeichnet,89 also gleichzeitig enggeführt und gegeneinander kontrastiert sind. Die zuletzt genannte ‹Warensprache› mutet wie eine Metasprache an, die alle Einzelsprachen überwölbt, derselben aber auch bedarf, um sich zu aktualisieren, und die, wie die Kennzeichnung dieser Sprachen als mehr oder minder korrekte[r] ventiliert, an ihnen Medien von unterschiedlicher Güte oder Verlässlichkeit hat. Freilich ist das Ausdrucksspektrum hier auf einen einzigen Inhalt verengt: nämlich auf die Angleichung an sich völlig disparater Gegenstände, wie sie durch die Hypostasierung des ‹Wertes› ermöglicht wird,90 mithin auf eine ökonomische Kernoperation, die sich in ihrer verbalen Form nachgerade als ein deklarativer Sprechakt präsentiert. 4.1.6.2.2 ‹Sprachcharakter› der Ware und Verhältnis von Sprache und Religion Die Nationalsprachen und die Art, wie sie die Relation der Waren artikulieren, sind bei Marx metonymisch miteinander verschaltet.91 Die allegorische Konstruktion, die die Leinwand reden und so ins Phantastische oder, wie in Anlehnung an Derrida zu sagen wäre, ins ,Gespenstische‘ hinübergleiten lässt, wird durch den Rekurs auf die sprachliche Konkretisierung der ‹Wertbeziehung› mit einem nicht-metaphorischen Moment angereichert, so dass man meinen könnte, sie sei ab einem gewissen Punkt vielleicht doch wörtlich zu verstehen bzw. – hier schwenkt die Interpretation auf die von Hamacher bezeichnete Linie ein – unmittelbar auf die ökonomische Realität hin konstruiert. Für die dramaturgische Logik des zu erläuternden Textabschnitts ist diese zumindest partielle Aufkündigung der metaphorischen Schreibweise insofern belangvoll, als sie zu einem impromptuartigen sprachkritischen Exkurs überleitet. Dieser wird, wie das eröffnende nebenbei bemerkt anzeigt, mit betonter Beiläufigkeit vorgetragen und soll augenscheinlich nicht nur eine – im Übrigen ziemlich pauschal wirkende und argumentativ nicht weiter untermauerte – Aussage transportieren, sondern auch den Nachweis erbringen, dass in die Allegorie ein Reflex der ökonomischen Wirk 89 Man könnte, um einen sprachwissenschaftlichen Terminus anzubringen, auch von Varietäten reden. – Eine Parallele findet sich in der Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“. Das Geld, so liest man dort, „spricht verschiedene Landessprachen und trägt verschiedene Nationaluniform“ (Marx 1961/1971, 87). Vgl. auch Derrida 2004, 145f. 90 So auch Hamacher 1999, 170: „It [i.e. the cloth] speaks an abstract language limited to a single statement, value, and a single grammatical structure, equation [. . .]“. Auch folgende Äußerung ist hier bedeutsam: „Commodity-exchange-language is accordingly restricted to a grammaticalsyntactic minimum in which only propositions of equality can be formed“ (Hamacher 1999, 170). 91 Das geschieht in erster Linie dadurch, dass die sogenannten „Mundarten“ tatsächlich anhand konkreter Nationalsprachen, zuerst des Hebräischen, später auch des Deutschen und Französischen exemplifiziert werden. Näheres dazu unten.

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  99

lichkeit, insoweit sie sich sprachlich auskristallisiert, hereingenommen ist. Es lohnt sich, in diesem Kontext bei der Erwähnung des Hebräischen zu verweilen, bei der es sich unbeschadet des soeben Ausgeführten weniger um ein philologisches oder philologisch qualifiziertes Aperçu als um ironisierende Polemik handelt: Denn wenn Marx das Hebräische zur ersten oder auch kanonischen ‹Mundart› der ‹Warensprache› erhebt, so impliziert er wohl, dass der Kapitalismus bei den Juden seine paradigmatische Gestalt angenommen habe. Womöglich spielt er zumindest unterschwellig mit einem antisemitischen Stereotyp, das den Juden zum skrupellosen Geschäftemacher stempelt.92 Was er damit bezweckt, ob er die Juden, die Antisemiten oder aber beide aufs Korn zu nehmen gedenkt, das bleibt nun allerdings unklar: Aus dem in Rede stehenden Satz lässt sich lediglich ersehen, dass das Hebräische vollends auf die eine Eigenschaft reduziert wird, der ‹Warensprache› zu einer maßgeschneiderten Manifestationsgestalt zu verhelfen – ganz so, als ob es, wie bereits oben in Bezug auf die ‹Warensprache› im Allgemeinen festgehalten wurde, nichts anderes angäbe als eine Produktionslogik in ihrer kardinalen Form. Freilich sind dabei Erläuterungen, inwiefern oder vermittels welcher sprachlichen Merkmale das geschehen soll, im Text ausgespart, so dass Marxens Räsonnement hier jede Konkretheit vermissen lässt. Denkt man an das schwerlich zu überschätzende Prestige, das das Hebräische als Sprache der Bibel nicht nur innerhalb der Philologie genießt, so nimmt sich seine Charakterisierung durch Marx extrem provokant, wenn nicht blasphemisch aus.93 Ob man sie unter der bei Marx kurrenten Religi-

 92 Es wird u.a. auch in K 169 aufgerufen: „Der Kapitalist weiß, daß alle Waren, wie lumpig sie immer aussehn oder wie schlecht sie immer riechen, im Glauben und in der Wahrheit Geld, innerlich beschnittne Juden sind und zudem wundertätige Mittel, um aus Geld mehr Geld zu machen“. 93 Gilman gibt für die Wahl des Hebräischen folgendes Motiv an: „The language of haggling, the language of the Jews, is ,Hebrew,‘ not Yiddish. It is the idealized language of the Jews when they supposedly had a role in the historical process, or at least, to refer back to Heine’s mythology of language, when they lived at one with their Moorish neighbors during the golden age of Spanish Jewry“ (Gilman 1999, 34). Er hält außerdem fest: „The Jews’ language is a reflex of their essence, an essence formed by their historic and economic circumstances, but an essence which becomes imprinted on the Jew as an outward mark of Cain“ (Gilman 1999, 36). Dem Verweis auf Heine, mit dem Marx in Paris bekannt war, müsste an anderer Stelle nachgegangen werden. Die in den hier dargebotenen Kommentaren sich profilierende Anschauung, dass die den Juden unterstellte Geschäftstüchtigkeit auf das Hebräische abgefärbt habe, macht sich im Übrigen auch in Achim von Arnims Erzählung „Das Majorat“ geltend. In ihr ist das Hebräische die Sprache der Feilscher, so dass ihre Beherrschung einen nicht zu überschätzenden Geschäftsvorteil darstellt; es wird demnach vorausgesetzt, dass das Hebräische zum einen sein spezifisches Gepräge vom ökonomischen Gebrauchskontext empfängt und zum anderen restlos in einer Verwertungspraxis aufgeht.

100  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

onskritik zu verbuchen hat, ist damit aber noch nicht ausgemacht; man könnte sich auch vorstellen, dass Marx das Hebräische nicht aus bloßer Ranküne ins Spiel bringt, sondern um auf ein etwaiges religiös-eschatologisches Substrat im kapitalistischen System hinzudeuten,94 wie es die Forschung am Marxismus bzw. am historischen Materialismus selbst in Gestalt eines unterschwelligen Messianismus oder Chiliasmus gewahren zu können meint.95 Dieser Heilsglaube lässt sich auf die Formel herunterbringen, dass letztlich alles auch anders sein könne, als es ist, und dass der Glaube, gesellschaftliche Zustände seien ebenso wenig aufzuheben wie allgemein existenzielle und natürliche, seine Ursache in einer subtilen, manipulativen Indoktrinierung mit restaurativer Grundtendenz hat. Dass die Verspannung von Ökonomie und Religion gerade mit dem ‹Sprachcharakter› der Ware zusammenhängt, in dem ihre strukturelle Disposition, wie oben ausgeführt, die ihr am ehesten gemäße gedankliche Fassung erhält, ist wiederum bei Hamacher prägnant herausgearbeitet. Dieser buchstabiert das Konzept der ‹Warensprache› solchermaßen aus, dass ihr real-ökonomisches Korrelat den Subjekten zusichert, ein Ding komme einem anderen an ‹Wert› gleich, und zwar unabhängig davon, ob dieses Ding existiert oder nicht, denn die ‹Warensprache› soll die Gegenstände nicht als ontische, sondern als funktionale Größen behandeln: gleichsam als Variablen in einem Kalkül, das in jedem Falle eine Äquivalenzaussage zum Ergebnis hat. „Yet the claim of universal validity of this arithmetical communication amongst equal“, so ist weiterhin zu lesen, means that commodity-language is structured as a functional suggestion of equality, and that its propositions of equivalence [. . .] only speak, in principle, by feigning the equivalence of their elements. In speaking with one another, commodities promise one another their exchangeability [. . .] (Hamacher 1999, 170f., Markierung im Original).

Den Propositionen der ,realen‘ ‹Warensprache› bescheinigt Hamacher eine funktionale Zweideutigkeit, aus der sie ihre performative Kraft beziehen: Sie sollen konstativ sein und doch auch „simulations, projections, announcements“ oder „claims“ vorstellen (Hamacher 1999, 171). Als selbstreferentielles System, dem sich kein ihm fremder, institutioneller Ordo oktroyieren lässt, eröffnet die ‹Waren-

 94 Die ökonomische Analyse, zumal die Marx’scher Couleur, und die theologische Spekulation sind aufgrund ihrer Stoffkreise einander affin. Diese ähneln sich in struktureller Hinsicht darin, dass sie jeweils um Imaginationen zentriert sind, die unmittelbar in die Wirklichkeit einbrechen und einen eminenten objekthaft-figürlichen Niederschlag haben sollen. 95 Man könnte somit auf den Gedanken verfallen, dass der latente Glaube an etwas Numinoses, den Marx registriert, wenn er an einigen Zügen des Kapitalismus Residuen von Religiosität wahrnimmt, seiner Ideologie selbst zugehört, dass hier folglich eine theoretische Projektion vorliegt.

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sprache› nach Hamacher zudem einen – wenn auch vagen – Ausblick auf einen Zustand, mit dem gesellschaftliche Freiheit heraufkommen soll, insofern er deren Ermöglichungsbedingungen augenfällig macht: Commodity-language is [. . .] a language of equalization, socialization and autonomization and hence of the promise of further liberations from the burdens, on the one hand, of isolation and on the other, of hierarchical organization – even of the liberation from concepts of freedom determined by commodity-language. This involves above all the messianic promise of liberation made by Judeo-Christianity. Religion does this [. . .] within the boundaries of the speculative proposition of commodity-language (Hamacher 1999, 173).

Pott apostrophiert „Religion und Religionskritik“ als „das Paradigma der Exegese der Ware“ (Pott 2007, 594) und stellt fest: „Die ,Nebelregionen‘ des Religiösen und Ökonomischen durchdringen einander“ (Pott 2007, 591). Damit greift er eine Einlassung von Marx auf, wonach man, um die Verdinglichung des sozialen Verhältnisses der Menschen im Warentausch treffend versinnbildlichen zu können, „in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten“ muss (K 86).96 Derrida, auf den Hamacher und Pott in ihren Darlegungen fortdauernd rekurrieren, widmet den eschatologischen Untertönen in Marxens Denken tiefschürfende und elaborierte, bisweilen aber auch obskur anmutende Betrachtungen. Er verficht die These, dass das „Religiöse“ nicht einfach nur eine passende und darum exemplarische Analogie, sondern das „Referenzparadigma“ (Derrida 2004, 227)97 für die Konstituierung von Waren bereitstellt, in deren Zuge konzeptuelle Größen von ihren materiellen Trägern abgelöst und als verselbständigte, vagierende in einen „anderen, artefakthaften“ oder „prothetischen Leib“ (Pott 2007, 174), das ist in diesem Falle die Ware, hineingebannt werden.98 Man kann Derridas Argumentation also dahin zusammenfassen, dass Marx sich bei der Beschreibung des ‹zwieschlächtigen› Wesens der Ware einer Denkfigur bedient, die in der Religion ihren angestammten

 96 Diesem Aperçu wäre ergänzend ein anderes an die Seite zu stellen, dem zufolge die Religion diejenige Art der Anschauung befestigt, die gesellschaftliche Erscheinungen für naturgegeben nimmt. Insofern die Religion hier als eine Instanz behandelt wird, die ökonomische und soziale Verhältnisse als unveränderlich hinstellt, sie geradezu verabsolutiert und so jede Möglichkeit einer produktiven Veränderung ausschaltet, hat dieser Passus einen religionskritischen Impetus. 97 Es wird darüber hinaus proklamiert, dass in der „Bezugnahme auf die religiöse Welt“ eine ideologische Formation erfassbar werde, die zum Ersten durch einen emanzipatorischen Zug, zum Zweiten durch „Verleiblichung in Dispositiven“ gekennzeichnet ist, in denen „Autonomie“ die Gestalt von „Automatizität“ (Derrida 2004, 225) annimmt. Zusammenfassend auch Pott 2007, 594. 98 Hier ist anzumerken, dass diese transformative Rematerialisierung einer entmaterialisierten Idee das strukturelle Insigne von Elementen bildet, die Derrida unter den Begriff des ‹Gespenstigen› rubriziert.

102  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Platz hat und die er zugleich in einer Art Subtext auf ihre spezifische Logik hin untersucht, ohne ihr auf analytischem Wege beikommen zu können. Diese nur schlaglichtartig beleuchteten Momente umreißen den gedanklichen Horizont, in den man Betrachtungen von Marx zu rücken hat, die Religiöses oder angrenzende Themenfelder streifen, auch wenn besagte Momente in ihnen höchstens flüchtig aufgerufen oder sogar komplett ausgespart sein sollten. Das hier gewählte Deutungsverfahren versteht sich demgemäß als eines der Glossierung, das Textsequenzen lesbar zu machen sucht, indem es Leerstellen ausfüllt, wie sie sich hier und da auftun. Tatsächlich entfällt innerhalb der Textkomplexion des „Kapitals“, für die Implizitheit in der Aussage oder genauer: auf die propositionale Ebene ausstrahlende semiotische Unterbestimmtheit überhaupt charakteristisch ist, ein beachtlicher Anteil auf inhaltlich lückenhafte Gebilde. Formen der Inkohärenz stehen Modi einer Orchestrierung der sprachlichen Parameter gegenüber, die explizit Mitgeteiltes, das als das einzig Belangvolle anzusehen wäre, wenn man das „Kapital“ ausschließlich an den Kriterien messen wollte, die eine normativ orientierte Fachsprachenforschung aufgestellt hat, einer expressiven Nuancierung exponiert, welche suggestiven und evokativen Effekten Raum gibt, um Unwägbarkeiten, Grenzerscheinungen oder vollends indefiniten Phänomenen in der Wirklichkeit zu respondieren.99 Bisweilen auch verändert diese Art der Modulierung die Aussage; sie erweist sich dann als „transkriptiv“ in dem Sinne, den Jäger (2002a, 2002b, 2004a, 2004b u.a.) diesem Attribut unterbreitet hat. 4.1.6.3 Gehalt der ‹Warensprache› 4.1.6.3.1 ‹Uneigentlichkeit› als Signans ökonomischer Phänomenalität Die Auslegung des in Rede stehenden Passus ist unvollständig, solange sie nicht auf dasjenige eingeht, was neben den Gütern auch der ‹Warensprache› im Allgemeinen als „Mitteilung“ zugeschrieben wird. Dies überaus relevante Element ist in den vorigen Betrachtungen mit ihrer Schwerpunktsetzung auf die Figurationen, in denen sich die Engführung von Ware und Sprache ausformt, ein wenig ins Hintertreffen geraten. Dass die „Warensprache“ genannte Wirkgröße Gegenständen, die an sich disparat sind, einen gemeinsamen ‹Wert› supponiert, fand bereits Erwähnung; ebenso wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Art, wie die

 99 Dieses von Marx des Öfteren genutzte Darstellungsregister kann an dieser Stelle nicht näher in Augenschein genommen werden. An ihm ließe sich dartun, dass das „Kapital“ sprachliche Techniken für die Bedeutungskonstitution erschließt, die in Fachtexten sonst in der Regel selten anzutreffen sind, weil sie eine Form der indirekten Aussage kultivieren, welche den in der Fachkommunikation herrschenden Konversationsmaximen nicht gemäß ist.

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Ware diese Hypostasierung zum Ausdruck bringt, aus ihrer tatsächlichen Aussage erschlossen werden muss. In dieser Letzteren buchstabiert Marx das aus, was er an der Ware ablesen zu können meint, und gibt so zu verstehen, dass die ökonomische Valenz an ihr in einem verminderten Grad, mithin nicht unverstellt, zur Anschauung gelangt, dass also das von ihr Gesagte nicht unbedingt mit ihrem Sein kongruiert. Tatsächlich verbreitet ein Objekt, wenn es zur Ware wird, einen Schein um sich, indem es vorgibt, dass es als wirtschaftliches Gut, das heißt hinsichtlich seines monetären ‹Wertes›, einem anderen Gegenstand „gleicht wie ein Ei dem anderen“. Das Motiv der ‹Uneigentlichkeit› dessen, was man prima vista wahrzunehmen meint, deutet sich in der Partie, aus der soeben zitiert wurde, insofern an, als sie, obwohl im Ganzen auf die Anmutung von Identität abhebend, zweimal die Vergleichspartikel wie aufbietet, die eine paradigmatische Verschränkung von Gleichheit und Differenz indiziert. Für die Formulierung des faktisch Gegebenen oder, vorsichtiger gesprochen, des analytischen Befundes, den Marx in spielerischer Mystifikation der Ware als Mitteilungsabsicht regelrecht diktiert, ist dieses Motiv geradezu zentral; es bildet den thematischen Resonanzboden der Prädikation (verschieden sein), welche die ökonomische und die materielle Qualität der Ware voneinander sondert. In diesem Zusammenhang ist es angezeigt, die Prägung Wertgegenständlichkeit näher ins Auge zu fassen: Sie ordnet dem spezifisch wirtschaftlichen Erscheinungsmodus der Ware eine phänomenologische Zuständlichkeit zu, die, wie das Morphem -gegenständlich durchblicken lässt, das handfest Physische streift und durch das Suffix -keit zugleich als etwas Verallgemeinertes, somit wohl auch als Abstraktionsprodukt, etikettiert ist. Nimmt der ‹Wert› von dieser Seite her betrachtet einen Zug ins Virtuelle an, so wird man ebenso festhalten müssen, dass ihm doch auch Materialität sui generis oder mittelbare Substantialität konzediert wird und seine Konzeption demzufolge einen stark antinominalistischen Einschlag zeigt. Hierin, so könnte man sagen, kommuniziert Marxens Theorie mit der gesellschaftlichen Tendenz der ‹Verdinglichung›, der sie eigentlich entgegenarbeitet; nach außen hin nämlich intendiert sie als kritische Analyse die Aufhebung dieser Tendenz, insofern sie sie sonst bloß indirekt oder unter Vorbehalt als Faktum ratifiziert und somit als Wirklichkeit hinstellt, in die von vornherein ein sie depotenzierendes Pseudos eingesprengt ist. Der kritische Ansatz von Marxens Programm meldet sich in der Profilierung der spezifisch ökonomischen Phänomenalität gegenüber der empirischen Wirklichkeit an und ebnet folgerichtig einer – im Kern relativistischen – Ausdifferenzierung von Begriffen wie ‹Dinglichkeit› und ‹Realität› den Weg. Unter diesen Prämissen hat es seinen Sinn, dass Marx in die Darstellung des ‹Wertes› auch die konzeptuelle Fassung desselben hineinspiegelt und so die Kategorienbildung

104  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

durch ihre sprachliche Realisierung einer perspektivischen Brechung aussetzt. Zu dieser leistet das Epithet sublim Beisteuer, indem es die Vorstellung von ‹Besonderem› oder auch von ‹Raffiniert-Verfeinertem› anklingen lässt; da das Lexem dem „Deutschen Wörterbuch“ zufolge vornehmlich auf geistige Fertigkeiten gemünzt ist,100 liegt die Schlussfolgerung nicht fern, dass es hier die Gegenständlichkeit des ‹Wertes› als illustres Denkergebnis designieren soll. Zumindest aber ist erkennbar, dass an der semantischen Konfigurierung des Lexems – so unscharf sie im Ganzen wirken mag – auch das Attribut steifleinen teilhat, welches das Konzept ‹unmittelbarer, durch keinerlei reflexive ,Sublimierung‘ überformter Materialität› aufrufen dürfte; dieses letztere Konzept gibt zu den Inhalten, die sublim umschreibt, den Widerpart ab. Der Gegensatz wird über das Substantiv Körper, bei dem es sich um eine maximal unspezifische Bezeichnung für eine physische Größe handelt,101 die auf eine naturwissenschaftliche Perspektive hindeuten könnte und sich klar von dem sophistizierten Kompositum Wertgegenständlichkeit abhebt, nachgerade zur Antithese gesteigert. Hier besitzt bereits der sprachliche Unterschied zwischen Elementarwort und hochdifferenziertem Abstraktum programmatische Qualität, denn er trägt dazu bei, die komplexe gesellschaftliche Wirklichkeit, deren ‹zwieschlächtig›-aporetische Grundstruktur sich nicht in ein statisches Kategorienschema einpassen lässt, gegen den Augenschein mit seiner trügerischen Suggestion von Eindeutigkeit auszuspielen. 4.1.6.3.2 Ausdruck der ‹Wertrelation›: il vaut An die sprachkritische, pseudo-philologische Sequenz schließt sich übergangslos ein Diktum in französischer Sprache – Paris vaut bien une messe! (K 67) – an, das prima facie zwecks Veranschaulichung des vorher Skizzierten in die Darlegung eingeschaltet ist, ohne dass es kontextualisiert, geschweige denn erläutert würde. Tatsächlich ist es alles andere als naheliegend, die interpolierte Äußerung als sprachliche Realisation der ‹Wertbeziehung› im Ökonomischen, gar noch als beispielhafte, einzustufen – es sei denn, man sieht die ‹Wertbeziehung› ausgedrückt, wo immer die Fügung il vaut begegnet, unabhängig vom textuellen Umfeld, in

 100 Vgl. Grimm, Bd. 20, Sp. 815. 101 In K 56 figuriert das Kompositum Warenkörper augenscheinlich als Synonym zu Gebrauchswert, ebenso in K 62, wo es im anliegenden textuellen Umfeld mit den Fügungen hausbackene Naturalform und Gebrauchsgegenstände in Verbindung gebracht und wo außerdem das Motiv der ‹Materialität› durch die Wendung sinnlich groben Gegenständlichkeit pointiert wird. Es ist ebenda auch von „bunten Naturalformen“ die Rede. Insoweit eine Ware auf ihren „Gebrauchswert“ angesehen wird, bereitet sie der Analyse keine Schwierigkeiten, treten Verhältnisse ins Blickfeld, die Marx zufolge „sonnenklar“ sind (K 85).

‹Zwieschlächtigkeit› der Geld- und Wirtschaftstheorie im „Kapital“ von Karl Marx  105

welchem das geschieht. Ganz allgemein gesagt, mag sich in dieser aus mikrologischen Elementen aufgebauten Montage, deren signifikative Kraft von keiner diskursiven Überformung alteriert wird und somit unbestimmt bleibt, eine neuerliche perspektivische Verschiebung vollziehen, die auf eine transkriptive Prozedur hinausläuft. Da deren Stoßrichtung zunächst nicht deutlich wird, dürfte es geboten sein, zu prüfen, inwieweit eine kommentarphilologische Beleuchtung des Zitats, die auf seinen Sachgehalt ausgeht und es zunächst behandelt, als ob es für sich stünde, die Zusammenhänge aufzuhellen vermag. Freilich ist ein solches Verfahren bereits deshalb problematisch, weil das Zitat nicht als solches gekennzeichnet ist, so als gehe es darum, zu suggerieren, dass die reproduzierte Äußerung als Medium für die Ausdrucksintention des Textes dienstbar gemacht und ihm in funktioneller Hinsicht nachgerade assimiliert worden sei. Dass sie mit einem Ausrufungszeichen versehen wird, gibt ihr obendrein den Anschein, als bekräftige sie etwas, als sei der argumentative Fluchtpunkt der Sequenz in sie hereingeschoben oder als borge Marx sich eine fremde Stimme, um in eigener Sache zu sprechen. Dass der Text das Diktum vereinnahmt, lässt sich folglich von dessen Sinn nicht ablösen und muss bei der Auslegung in Anschlag gebracht werden; es ist jedoch nicht minder wichtig, Marxens Aneignungsstrategie als solche zu enttarnen und in diesem Zuge auch die originäre Aussage des entlehnten Textes zu eruieren: Es handelt sich um ein geflügeltes Wort, das Henri IV anlässlich seiner primär machtpolitischen Interessen geschuldeten Konversion zum Katholizismus geprägt haben soll, das aber in Wirklichkeit apokryph ist. Die Verrechnung des nur allzu profanen Kalküls gegen die zumindest gespielte Subordination unter die kirchliche Autorität, wie sie der Besuch der Messe nach außen hin bekundet, erfolgt durch das ostinatoartige il vaut, das tatsächlich eine ‹Wertrelation› in einem strikt außerwirtschaftlichen Sinne artikuliert und demnach kaum als Argument, geschweige denn als Beleg für die zuvor gefallene Behauptung aufgefasst werden kann, die ökonomische Gleichschaltung zweier Güter konkretisiere sich im Deutschen minder adäquat als in den romanischen Sprachen. So ergeben sich denn drei zueinander in Korrelation stehende Fragen: Was der Beweggrund für die Einschaltung des Zitats ist, was genau es transportiert oder zumindest aufruft und weshalb dieser wie immer beschaffene Inhalt (zunächst) keine diskursive Formulierung erhält, durch die er auf der propositionalen Oberfläche des Textes greifbar würde. Die ersten beiden dieser Fragen lassen sich zusammenziehen und dahingehend beantworten, dass mit dem Einschub möglicherweise eine unterschwellige Entökonomisierung oder Transzendierung der Äquivalenz im Warenverkehr intendiert ist. Diese Annahme stützt sich auf die Überlegung, dass der Ausdruck des ‹Wertes› kraft seiner metonymischen Engfüh-

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rung mit einer Sprache von vornherein auf etwas Allgemeineres, auf ein übergeordnetes Totum abgetönt ist, auch wenn er sich nicht mehr klar als Teil desselben identifizieren lässt, sondern es nachgerade verdeckt. Dass sie im Kern eine konzeptuelle Synekdoché ist, vermag die Vorstellung einer ‹Warensprache› dessen ungeachtet nicht zu verleugnen, denn das Ganze des Sprachsystems überragt die einzelne Mitteilung, zu der es zusammengeschrumpft ist, doch immer noch als ideeller Verweisungshorizont. Man wird aber auch umgekehrt in Erwägung ziehen müssen, dass besagtes Totum seinerseits vom Teil affiziert wird, die elementare Prädikation über die ökonomische Äquivalenz verschiedener Güter also auf die Sprache im Allgemeinen abfärbt und auch auf ihrer strukturellen Ebene einen Niederschlag findet. In der Konsequenz könnte das heißen, dass die Sprache unter der Ägide des Kapitalismus von sich aus einer funktionalen Assimilierung heterogener Subjekte und Dinge Vorschub leistet, also vollends in der Grundlinie des sie umfangenden Ideenkomplexes liegt und zugleich die ihm gehorchende Praxis katalysiert. Somit wäre jede Sprache ihrer Tendenz nach ‹Warensprache› und umgekehrt die Erzeugung ökonomischer Gleichheit eine sprachliche Handlung.102 Unter diesen Prämissen ist zu vermuten, dass sprachlich induzierte gedankliche Kategorien und Schemata letztlich dem Vorbild der ökonomischen Assimilierung von Arbeitsprozessen mittels materieller Surrogate folgen und demnach als – ungegenständliche – Emanationen universaler Verdinglichung anzusehen sind. Demgegenüber sind die Überlegungen Derridas und Hamachers von der Erwartung getragen, dass sich die Sprache, wenn es denn einmal glücken sollte, ihrer Beeinflussung durch die ökonomische Gleichschaltung ein Ende zu bereiten, zum Medium der Ausdifferenzierung oder auch Relativierung der perpetuierten kategorialen Bestimmungen und gedanklichen Statute, mit denen sie imprägniert ist, umfunktionieren ließe: Sie dürfte so einen Gegenentwurf zum erfahrbaren status quo mit seinen immensen Beharrungskräften abgeben. Wäre sie nicht länger auf eine strukturelle Grundfigur eingenordet, die sie in Form, Inhalt und pragmatischer Wertigkeit determiniert, so könnte die Sprache emanzipatorische Kräfte mobilisieren und die apriorischen Setzungen einer Kulturgemeinschaft samt ihrem epistemischen Ordo überschreiben.  102 Einen Wink in diese Richtung gibt Hamacher, indem er die eigentliche Sprache mit der der Waren synkopiert, so als ob zwischen ihnen keine Differenz mehr bestünde: „Their language forms them – the ,humans‘ as well as the ,things‘ – into commodities“ (Hamacher 1999, 173). Marx selbst vergleicht den Akt menschlicher Identitätsstiftung mit dem der Assimilierung von Gütern im Tausch, unterstellt gar, dass die Ausbildung des Ego durch die ‹Warensprache› erfolge. Bei Hamacher ist dieses Thema, das hier nicht vertieft werden kann, weiter ausgeführt (Hamacher 1999, 172f.).

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Diese Betrachtungen, die sich wie gesagt an den Schriften Derridas und Hamachers anlehnen – freilich ohne deren Gehalt in seiner ganzen Tiefe ausloten zu wollen103 –, führen auf eine Radikalisierung der Transkriptivität sensu Jäger, also verstanden als sprachliches Konstituens: Sie treiben diese Konzeption auf die Spitze, indem sie der Sprache das Vermögen zuerkennen, ihr gnoseologisches Referenzsystem, das sie von der externen Realität abzieht, und die in diesem System fundierten gedanklichen Strukturen zu transzendieren. Damit nährt die Sprache auch die freilich vage Hoffnung, dass man dereinst gerade über vermeintlich zementierte Tatsachenzusammenhänge in Geschichte und Gesellschaft hinausgelangen und die von Marx so getauften „gesellschaftlichen Natureigenschaften“ verändern könne. Im Rekurs auf eine Formel Hamachers könnte man sagen, dass Sprache der Schlüssel zum – durchaus auch revisionistischen – Nachvollzug einer Geschichte ist, die in ihrem Ablauf voreilig für notwendig erklärt wurde;104 infolge dieser Dynamisierung wird die Deckschicht des Realen gegen das Mögliche durchlässig. In Marxens Schreibweise könnte man vor dem Hintergrund dieser Reflexionen einen Vorstoß in Richtung auf die letztlich wohl utopische Idee einer Sprache erblicken, die sich von der strukturell bedingten Steuerung durch das Prinzip der Homogenisierung und der Identifizierung verschiedener Größen dispensiert, – ein Prinzip im Übrigen, das marxistisch gedacht eine Verbreitung des Tausches über seinen angestammten Ort hinaus bewirkt und das sich im Kapitalismus zu unhintergehbarer gesellschaftlicher Praxis etabliert haben soll. Die stilistische Heterogenität des „Kapitals“ nähme unter diesem Gesichtspunkt den von Marx proklamierten Bruch mit einer egalisierenden Logik qua struktureller Determinante der sozialen Realität, die durch die ökonomische Theorie bestätigt und zum Apriori des Wirtschaftens verabsolutiert wird, auf formaler Ebene vorweg; in ihr gelangte somit eine radikal kritische Haltung ohne Abmilderung zum Ausdruck: Sie erführe eine Art performativer Einlösung, erwiese mithin ihre Möglichkeit oder ihre Praktikabilität und schiene so zu suggerieren, dass sie sich dereinst in konkrete Praxis werde umsetzen lassen.

 103 Das ist schon deshalb nicht möglich, weil hier nur solche Momente von ihnen beachtet werden können, die in den zu erörternden Problemzusammenhang gehören, und weiter ausgreifende Überlegungen, wie sie gerade für die Sprachtheorie Hamachers prägend sind – etwa die Partien seiner Schrift, die sich mit der ‹Spektralität› à la Derrida und der performativen Qualität des Versprechens beschäftigen –, unberücksichtigt bleiben müssen. 104 Vgl. Hamacher 1999, 195, wo des Weiteren auch von einer Markierung und Öffnung der Geschichte gesprochen wird („[t]his marking of history, which in actuality is its opening and nothing less than the historizing of history“).

108  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Inhaltlich hätte die Überhöhung der Prädikation il vaut, die man nachträglich in dem Attribut sublim sich abzeichnen sehen könnte, so als handle es sich bei diesem um einen semantischen Reflex, etwa die Funktion, die ‹Wertrelation› auf einen durchweg opaken religiösen Sinn zu spannen. Tatsächlich hat Derrida der Marx’ schen Werttheorie ‹Religion› als strukturelle Blaupause, nach der sie gearbeitet sein soll, unterlegt. Marx insinuiert, dass es einen gedanklichen Konnex von ökonomischen und religiösen Grundbestimmungen gebe; die Erörterung stellt einen solchen andernorts expressis verbis her, indem sie dem Warenverkehr eine mystifizierende Tendenz attestiert, welche im Warenfetisch ihre markanteste Manifestationsgestalt erlangen soll. Die ‹Fetischisierung› gewährt der Vermutung Raum, dass im vermeintlich durchrationalisierten Gefüge der Wirtschaft versprengte Reste von vorrationalen kultischen Praktiken innerviert sein könnten, die sich gerade in den Konstitutionsbedingungen bemerkbar machen und somit wohl auch als Quellpunkte des über jedweden Warentausch sich verbreitenden Scheins zu gelten haben. Dieses Junktim von Ökonomie und Religion wird durch das Zitat gewissermaßen glossiert. Am Beispiel von Henri IV zeigt sich, dass der Glaube mitsamt seinen Ritualen in einen Verwertungszusammenhang verschlungen ist105 und dass solche Profanierung auch mit seiner dogmatischen Unterlage in Verbindung steht, insofern er seine Adepten zu einer bestimmten Haltung nötigt, mittels deren sie sich das Heil zu erkaufen vermögen.106 Diese eschatologische Ökonomie teilt sich dem Warenhandel mit und immunisiert ihn gegen kritische Reflexion, so dass er mitsamt seinen theoretischen Setzungen geradezu sakrosankt anmutet. In Marxens leitmotivischer Religionskritik sind die oben referierten Räsonnements von Derrida, die auf ein strukturelles Dependenzverhältnis von Religion und Wirtschaft abstellen, buchstäblich ins Profane gewandt, insofern sie supponiert, dass der Glaube dem Handel von vornherein affin und auf seine eigene ökonomische Funktionalisierung ausgelegt sei oder doch zumindest zu ihr einlade.

 105 Bei Pott 2007, 591, heißt es, dass Henris „Konversion zum Katholizismus die Konvertierbarkeit von Religion und Ökonomie im Interesse des Staates und der Politik“ demonstriere. Dieses Aperçu ist bis in den Wortlaut hinein einer Bemerkung von Hamacher verpflichtet, wonach das Henri zugeschriebene Diktum den Konfessionswechsel „with the convertibility of value which is to reside in French capital and its political functions“ vereinigt (Hamacher 1999, 174). 106 Gilman 1999, 35, schreibt: „The conversion for gain, false conversion such as practiced by the speakers of the Jews’ language, is but another sign of the relationship between the realities of the world (commerce) and their mode of articulation“. Eine im Inhalt konvergierende, jedoch gleichzeitig prägnantere und allgemeinere Formulierung bringt Hamacher 1999, 173: „The messianism of Christianity is [. . .] the messianism of commodity-language, its promise of redemption the promise of commodities“.

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An der Rahmung des Diktums von Henri IV – „Das deutsche ,Wertsein‘ drückt z. B. minder schlagend aus als das romanische Zeitwort valere, valer, valoir, daß die Gleichsetzung der Ware B mit der Ware A der eigne Wertausdruck der Ware A ist“ – wird kenntlich, dass diese Verhältnisse wenigstens zum Teil, wenn nicht gar im Ganzen, sprachlich induziert sein sollen. Hamacher liest demgemäß aus dem Verb valere sowohl eine „politische“ wie eine „theo-ökonomische Botschaft“ (Hamacher 1999, 173f.) heraus und geht dabei so weit, das Zitat zu einer „Formel theo-ökonomischer Transsubstantiation“ und des „Messianismus“ zu erheben, wie er der Handelssprache immanent sein soll. Es ist angezeigt, hier nochmals daran zu erinnern, dass Marx deren Paradigma wie selbstverständlich im Hebräischen zu finden meint, in welchem einem vormals kurrenten, von Antisemitismus imprägnierten Topos zufolge Religion und Geldwirtschaft miteinander vermengt sind107 und in dem sich demnach unabhängig vom Inhalt etwas genuin Jüdisches vernehmen lassen soll. Gilman treibt das Heikle, Verfängliche an diesem Stereotyp heraus, indem er es mit folgenden Worten pointiert: The Jews’ language is a reflex of their essence, an essence formed by their historic and economic circumstances, but an essence which becomes imprinted on the Jew as an outward mark of Cain (Gilman 1999, 36).108

4.1.6.3.3 Indiskursivität der Darstellung Bleibt nun noch zu klären, warum diese und womöglich noch weitere thematische Zusammenhänge nicht auf der propositionalen Ebene des Textes aufgerollt werden. Dass sie sich tatsächlich aus der hier thematisierten Stelle herausentwickeln lassen oder, um eine etwas stärkere Formulierung anzubringen, dass sie in dieser Letzteren reflexartig zur Erscheinung gelangen, legt die – im Vorigen teils bereits herangezogene – Sekundärliteratur nahe, welche eine Exegese, die sich auf das bei Marx nur implizit Gesagte konzentriert, zum Maßstab nehmen kann. Erfahren Inhalte wie die eben entfalteten keine begrifflich-diskursive Behandlung, so wird dafür eine spezifische Ausdrucksabsicht, der eine den Konventionen wissenschaftlichen Schreibens gehorchende Erörterung nicht genügt, konkret das Bestreben, etwas nicht bloß an- oder auszusprechen, sondern zu demonstrieren und performativ auszuprägen, ursächlich sein.

 107 Hamacher 1999, 174, tituliert das Hebräische im Nachvollzug der Marx’schen Argumentation als „holy language and language of the tradesman“. 108 Gilmans Studie zeigt auf, inwieweit sich bei dieser Kennzeichnung des Hebräischen Heines Einfluss auf Marx bemerkbar macht.

110  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Es kommt demgemäß im Text ein deiktisches oder auch gestisches Element zum Tragen. So gesehen wäre dem Henri-Zitat schließlich wohl doch Belegcharakter zu konzedieren, insofern es eine Art gedanklichen Substrats der voraufgehenden Sätze blitzartig aufleuchten lässt und die Reflexion überholt. Marx gibt durch die Einschaltung zu verstehen, dass er auf eine durchgängige diskursive Einhegung seines Themas Verzicht leistet. Das dürfte sich daraus erklären, dass er zum einen eine solche als unpassend oder inadäquat einschätzt und zum anderen ostentativ mit den sprachlichen Gepflogenheiten einer Wissenschaftskultur brechen möchte, die er verdächtigt, den herrschenden ökonomischen Verhältnissen das Wort zu reden, anstatt sie zu durchdringen, geschweige denn zu hinterfragen, und deren Repräsentanten nach Derrida als „Bauchredner“ der Ware auftreten.109 Die epistemischen Schablonen dieser Tradition fallen in den Gegenstandsbereich der kritischen Analyse, und darum hat es seinen Sinn, dass Marx sie bei der Verschriftlichung seiner Reflexionen meidet, was im Übrigen Blanchot bewogen hat, das „Kapital“ als „wesentlich subversives Werk“ zu titulieren, das „einen Modus des theoretischen Denkens einschließt, der die Idee des Wissenschaft selbst umstürzt“: In der Konsequenz soll dann „die Wissenschaft sich [. . .] als radikale Transmutation ihrer selbst“ erweisen (Blanchot 1971, 116, übersetzt von M.A.). So ist die nicht selten recht plakativ inszenierte Preisgabe des stilistischen Insignes der ökonomischen Schulen, die Marx befehdet, keineswegs bloß polemischen Charakters, sondern – freilich nirgends klar artikulierten und vielleicht

 109 Von der Frage, inwieweit Marx es vermag, sich bereits in der Diktion von Ökonomielehren abzusetzen, die sich seines Erachtens in einer unkritischen Reproduktion der wirtschaftlichen Verhältnisse erschöpfen, nehmen die Überlegungen Hamachers ihren Ausgang. Er pointiert diese Frage zu Beginn seiner Studie mit einem unüberhörbaren skeptischen Unterton: „[. . .] [D]oesn’t the critique of political economy remain under the spell of this very economy?“ (Hamacher 1999, 168). Ihm zufolge wäre die Aufgabe, die Marx sich selber stellt, bewältigt, wenn es gelänge, die ‹Warensprache› in die Erörterung hereinzunehmen oder zumindest in ihr vernehmlich werden zu lassen, also gleichsam einem noch unverwirklichten Zustand vorzugreifen; eben hierin könnte man auch das Motiv für die Einführung der Prosopopeia sehen. In letzter Instanz wird also die Forderung nach einer strukturellen Verschiebung innerhalb des theoretischen Diskurses erhoben, die auf eine stärker objektsprachliche Ausrichtung führt und dem metasprachlichen Primat ein Ende bereitet. Bei Hamacher selbst ist von einer „allocategory“ die Rede, deren Form den Kategorien der politischen Ökonomie inkommensurabel sein müsse, doch verleiht er seiner Aussage, wohl auch in der Absicht, ihrem paradoxen Inhalt Rechnung zu tragen, vermittels einer Reihe von Modalausdrücken vorerst das Gepräge einer Hypothese: „It would not be the language ,of‘ the cloth, but instead, for example, a language in which a cloth and ,its‘ language first come into existence. Not, perhaps, a talking thing, perhaps a thing which does not – or does not simply – speak, something which, still unspeaking, nonetheless promises itself an language in advance of itself“ (Hamacher 1999, 169).

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auch nicht zu Ende gedachten – metatheoretischen Erwägungen geschuldet, deren ideeller Fluchtpunkt eine Umwälzung der „herkömmlichen Vorstellung“ (Derrida 2004, 55)110 von Wissenschaft ist. Im fraglichen Fall aber benützt Marx das Diktum des französischen Königs wohl auch, um etwas anzuzeigen, das, wie man mutmaßen könnte, durch eine diskursiv gebundene Erläuterung nicht klar genug herausgebracht oder gar verwässert würde. Es ist dies die semantische Polyvalenz des ‹Wertausdrucks›, welche die Darstellung unterhalb der propositionalen Oberfläche mit einer hybriden Form der polyphonen Rede erwidert. Dem Zitat ist zu entnehmen, dass im ‹Wertausdruck› Religion, Politik und Wirtschaft ineinander oszillieren, und zwar indem es diese Gebiete prismatisch bündelt, so dass sich ein undifferenziertes, vages Ineinander ergibt. Dergestalt wird ein wesentliches Merkmal der ökonomischen Komplexion ins Licht gesetzt: dies nämlich, dass in sie eingegangene außerökonomische Konstituenten ein Stück weit neutralisiert oder im Hegel’schen Sinne aufgehoben, nämlich in integrale Bestandteile eines übergreifenden Funktionszusammenhangs verwandelt sind. Indem sie die Gegensätze einebnet und Verschiedenes aufeinander blendet, vollzieht die Darstellung die Egalisierung aller wesentlichen gesellschaftlichen Bereiche unter dem Primat der Wirtschaft an sich selber nach. Ihre Undeutlichkeit und ihr kapriziöses, mutwilliges Abgleiten ins Obskure könnten demnach dem Bestreben anzurechnen sein, die Undurchdringlichkeit der ökonomisierten Gesellschaft in den Text hineinzuspiegeln oder sogar möglichst ungefiltert spürbar zu machen. Im Verfolg der hier eingeleiteten Auseinandersetzung mit Formgebung und Stil des „Kapitals“ können wir nicht umhin, noch einmal die für Marx symptomatische Neigung zu Karikatur und Parodie anzuschneiden, die bereits zur Sprache kam, ohne dass der funktionale Wert dieser Darstellungsformen, welche im vermeintlich objektiven wissenschaftlichen Diskurs sonst nicht eben wohlgelitten sind, berücksichtigt worden wäre. Nimmt man das in einem weiteren Sinne mimetische Moment der Darstellung, wie es eben erörtert wurde, als gedanklichen Bezugspunkt, so ließe sich die nun zu behandelnde Tendenz als Komplementärerscheinung von ihm abgrenzen: Es steht ein gestalterischer Modus in Rede, der den Gegenstand, anstatt sich in ihm anzuverwandeln, überspielt und verzerrt, also einen Verfremdungseffekt zeitigt, durch welchen Züge an der Sache herausgeschärft werden sollen, die man für problematisch oder dubios erachten kann. Der Gestus der Übertreibung lässt gleichzeitig erkennen, dass sich die Darlegung von ihrem Sujet distanziert oder ihm gar entgegensetzt, ohne dass sie ihren ideellen Standort angäbe, wenngleich es ein Leichtes sein dürfte, ihn im Rekurs  110 Indessen gibt Derrida selben Orts mit Recht zu bedenken, dass das sich bei Marx formierende alternative „Denken des Wissens“ Wissenschaftlichkeit keineswegs ausschließe.

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auf andere Passagen des „Kapitals“ zu ermitteln, in denen Marxens Theorie und Dogmatik entwickelt werden. Entscheidend ist aber, dass aggressive Stellen wie die oben betrachtete jedes explizite Bekenntnis zu einer bestimmten Position vermeiden, weil die Ranküne aus solcher – wenn auch nur augenblicksweise eingenommenen – Haltung ideologischer Unverbindlichkeit enorme Schubkraft und gedankliche Beweglichkeit gewinnt. Die Polemik mutet darum nicht nur gleichermaßen allumfassend und fulminant an, sondern scheint zwanglos zwischen mehreren Perspektiven zu wechseln und den Gegenstand, an dem sie sich abarbeitet, in seinen verschiedenen Facetten zu überschauen, wobei ihr auch vermeintlich ephemere, tatsächlich aber durchaus signifikante Einzelheiten nicht entgehen. Insgesamt wird in der Impulsivität der Tiraden und der Vehemenz des Affektes, den sie ausagieren, aktenkundig, dass Marx über das einzelne Moment hinaus auf den ökonomischen Betrieb als Ganzes und auf seine strukturelle Basis abzielt. Die Polemik würde wohl kaum über die hierfür notwendige Reichweite verfügen, wenn sie in ihrer Negativität nicht etwaige Versuche vereitelte, sie auf einen weltanschaulichen Gehalt zu verpflichten und dabei in einen reflexiven Zusammenhang mit der bekämpften Ideologie zu bringen –, Versuche, die zumindest die Möglichkeit eröffneten, manchen Gegensatz zu entschärfen oder gar zu überwinden, das hieße letztlich auch die inhaltliche Angemessenheit der Kritik zu hinterfragen. Auf diese Kritik aber fällt bei Marx der stärkste Nachdruck, weil es ihm zum einen um die Dekonstruktion bislang unerschütterter Überzeugungen, mithin um Grundsätzliches, zu tun ist und er zum andern davon ausgeht, dass die vor-marxistische Ökonomie eine Schreibweise etabliert hat, mit der sie die Inkonsistenzen in ihren gedanklichen Grundlagen und fragwürdige wie dysfunktionale Abläufe in der wirtschaftlichen Praxis systematisch verschleiert. Der aufdringlich mokante Ton, in dem Marx vorgeblich oder tatsächlich Fragwürdiges akzentuiert, ist wie auch die Wucht seiner Attacken darauf zurückzuführen, dass dasjenige, was ihm suspekt ist, gemeinhin für faktisch gegeben, für unabänderlich erklärt wird und er danach strebt, eine kollektive Machination als solche, als in mancherlei Hinsicht pseudo-religiöse, idolatrische Verkehrung von Schein und Wirklichkeit zu entlarven, anstatt ihren Geltungsanspruch unbesehen zu ratifizieren, wie es in anderen ökonomischen Konzeptionen geschehen soll. Bei der Verfremdung knüpft die Darstellung an typische Zügen der Außenseite des Ökonomischen an, da sie es ist, was über seinen Fiktionscharakter hinwegtäuscht: Die Erörterung durchbricht die empirische Oberfläche, um die darunter liegenden konzeptuellen Setzungen zu ergründen. Wie sich am Beispiel der Anthropomorphisierung der Ware zeigte, findet dabei auch das Mittel der Groteske Verwendung; sie mag den Zweck haben, das latent ‹Irrationale› ökonomischer Kernbestimmungen durch seine Potenzierung in seiner vollen Tragweite offenbar

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werden lassen. Es soll hier bei diesen allgemeinen Überlegungen zu den parodistischen Elementen im „Kapital“ sein Bewenden haben; sie wurden primär der Textpassage wegen vorgetragen, die als Plattform für die Erörterung diente – eine differenzierte Betrachtung, die sich ihren einzelnen Ausprägungen zuwendet, muss ferneren, detaillierteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. Die Karikatur als Gestaltungsmittel hat in diesem Kapitel insofern ihren Platz, als sie etwas hervorzuheben, sichtbar zu machen sucht, um derart solchen Merkmalen Recht zu verschaffen, die eine diskursiv gebundene Auseinandersetzung unterschlüge.

4.1.7 Zusammenfassung (I) Der erste größere Komplex innerhalb des exegetischen Teils der vorliegenden Arbeit versammelte Elemente einer ökonomischen Zeichentheorie, die sich bei Marx finden, und konkretisierte die Denkfigur der ‹Zwieschlächtigkeit› am Beispiel des Geldes, in welchem ein materiell-substantielles und ein immaterielles bzw. nominelles Moment enthalten sind. Wie sich zeigte, lässt sich dieses Ineinander genauer auch so auffassen, dass das Geld das materielle Substrat einer rein ideellen Größe darstellt, wobei das Erstere – der stoffliche Signifikant – der Letzteren strukturell untergeordnet und somit lediglich subsidiären Charakters ist. Im Falle des Papiergelds, bei dem die materielle Seite nur mehr einen minimalen Eigenwert besitzt, wirkt sich dieses Ungleichgewicht dahin aus, dass der Geldsignifikant vor seinem immateriellen Referenten verblasst und seine Verweiskraft auf denselben überträgt. Eine nähere Betrachtung der „Warenmetamorphose W – G – W“, bei der ein virtuelles Goldquantum, das im Geld seinen stofflichen Träger hat, eine reale Ware ersetzt, um diese einem gänzlich anderen Gut anzugleichen, führte auf einen ähnlichen Befund: Die ‹Wertgestalt›, durch deren Vermittlung unterschiedliche Dinge miteinander verrechnet werden können, ist im Interesse ihrer Fungibilität, will heißen: damit sie sich den Waren gegenüber nicht verselbständigt, ephemer und fluide. Marx zufolge schlägt sich das im Geld solcherart nieder, dass dessen „funktionelles Dasein“ auf lange Sicht „sein materielles“ aufsaugt. Eine hierzu gegenläufige Bewegung ist zu beobachten, wenn Edelmetall wie Gold seinerseits als Ware gehandelt wird; in diesem Falle hat es den Anschein, als würden die ökonomische Bestimmung des Metalls und mit ihr der funktionale Vorgang, in dem sie zutage tritt, dem materiellen Wert gutgeschrieben und so verdinglicht. Indem Marx mit Blick auf diese zweite Bewegung das Gold zur „unmittelbare[n] Inkarnation“ deklariert, deutet er an, dass die stoffliche Seite in der Gesellschaft nachgerade sakralisiert und ihrerseits mit ideellen Inhalten aufge-

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laden wird. In solcher Mythisierung scheint die kapitalistische Generaltendenz der ‹Fetischisierung›, die den ökonomischen Gegebenheiten ein gleichsam naturhaftes Ansehen verleiht, auf die Spitze getrieben. Sie ruft des Weiteren Phantasmagorien, also scheinhaft-irrationale Wahrnehmungen am Geld hervor, welche Marx zufolge die realgesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen des Ökonomischen verschleiern. Auf diese allgemein gehaltenen Erläuterungen folgten zwei exemplarische Interpretationen kürzerer Textauszüge, deren Ziel darin bestand, einigen der im Vorigen bezeichneten Momente größere Tiefenschärfe zu geben: In diesem Rahmen wurde zunächst die Medialisierung struktureller Determinanten des Ökonomischen thematisch; hieran anknüpfend nahm sich die Untersuchung weiter eines Passus an, in dem Marx das sprachliche Zeichen und die Währungseinheit unter dem Stichwort Geldname exemplarisch zueinander ins Verhältnis setzt. Dabei wurde als Befund festgehalten, dass Komplexität und Intransparenz der Verweisbeziehung, wie sie der Namensbegriff involviert, dem Geld opake Züge eintreiben, die zu seiner rational-gesellschaftlichen, als „sachlich“ designierten Seite konträr sind; bei dem Junktim dieser beiden Momente handelt es sich um eine elementare Form von monetärer ‹Zwieschlächtigkeit›. Ein dritter größerer Abschnitt rückte das Konzept der ‹Warensprache› und den bei Marx prominenten Vergleich von Ökonomie und Religion in den Mittelpunkt. Die Darlegung nahm ihren Ausgang von einer Textpartie, die durch eine auffällige, wenn nicht idiosynkratische Verwendung der Prosopopoeia gekennzeichnet ist, und rekurrierte bei der Untersuchung dieser rhetorischen Strategie auf Denkfiguren von Derrida und Hamacher: Es wurde die These formuliert, dass das gestalterische Element insofern programmatische Kraft besitzt, als es einigen theoretischen Setzungen eine der analytischen gegenläufige, indiskursive Ausdrucksform verschafft. Gleichzeitig wurde darauf abgestellt, dass die Prosopopoeia auch ein nicht-bildliches Moment in sich birgt, das begrifflich als Sprachcharakter der Ware zu fassen ist und somit ein konzeptuelles Analogon zur Zeichenhaftigkeit des Geldes abgibt. Von der Idee, dass die Ware im Kern eine sprachähnliche Disposition aufweist bzw. dass Äquivalenz als gedankliches Axiom des Warentauschs sprachliche Qualität besitzt, lässt sich, wie ebenfalls deutlich wurde, eine direkte Verbindungslinie zu dem Junktim von Ökonomie und Religion ziehen: Die Letztere soll Derrida zufolge den ideellen Horizont der gedanklichen Operationen bilden, die bei der Konstituierung von Waren im Spiele sind; in diesem Kontext kam namentlich die Ablösung konzeptueller Größen von ihren materiellen Trägern in den Blick. Anschließend wurde das Konstrukt einer ‹Warensprache› in seinen unterschiedlichen Facetten beleuchtet; dabei wandte sich das Interesse auch seiner

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  115

inhaltlichen Ausführung in dem Passus, den die Untersuchung zum Ansatzpunkt wählte, zu. Einer der Aspekte, die in diesem Zuge in Rechnung gestellt wurden, war die an lexikalischen Merkmalen der Textpartie nachvollziehbare Abgrenzung einer spezifisch ökonomischen Phänomenalität von der empirischen Wirklichkeit. Es wurde zudem noch die Frage aufgeworfen, inwieweit das Prinzip der ökonomischen Assimilation auf die Sprache selbst einwirke oder ob diese sich als Medium der Ausdifferenzierung gegen jenes in Stellung bringen lasse. Funktion und Ausdrucksgehalt der von Marx gewählten allegorisierenden Schreibweise mit ihrem parodistischen Duktus fanden ebenfalls Beachtung; die Argumentation ging dahin, sie als Versuch zu verstehen, eine an sich aporetische Sachlage so in die Darstellung hineinzuspiegeln, dass sie kenntlich wird.

4.2 Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis 4.2.1 Einleitende Bemerkungen Die nachfolgende Betrachtung ist dem Text gewidmet, den Weber seinen „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ vorangestellt hat. Diese „Vorbemerkung“ zielt darauf ab, dem modernen Kapitalismus okzidentaler Prägung eine konzeptuelle Repräsentationsgestalt zu verschaffen, die dessen Spezifikum, will heißen: dasjenige, wodurch er qualitativ über seine Vorstufen hinausgelangt ist, ins Blickfeld rückt. Aus diesem Ansinnen, der Essenz des neuzeitlichen Kapitalismus habhaft zu werden, erklärt es sich denn auch, dass die Darlegung über weite Strecken einen definitorischen Gestus annimmt; die Aufgabenstellung wirkt sich, wie der weitere Verlauf unserer Untersuchung zeigen wird, unmittelbar auf die strukturelle Disposition des Textes aus. Ihrem eigenen Anspruch gemäß trifft die „Vorbemerkung“ zumindest Vorbereitungen zu einer begrifflichen Bestimmung und hat dadurch etwa die Aufmerksamkeit Adornos auf sich gelenkt, der in einigen sehr gedrängten und skizzenhaften Ausführungen auch die formale Beschaffenheit der Arbeit ins Licht setzte: Jedenfalls hat die Annahme einige Wahrscheinlichkeit für sich, dass Adorno, wenn er schreibt, Weber habe die Frage nach der Definition des Kapitalismusbegriffs aufgeworfen und sei dabei „der Schwierigkeit historischer Begriffe so deutlich inne geworden wie vor ihm nur Philosophen“ (Adorno 1973, 167), weniger an die berühmte Abhandlung „Über den ,Geist‘ des Kapitalismus und die protestantische Ethik“ als an die „Vorbemerkung“ denkt, auf die sie gleich als erster der „Gesammelten Aufsätze“ folgt. Diesen Schluss legt Adornos kritische Einlassung nahe, dass Weber sich allzu einseitig auf die herausragende Rolle konzentriere, die das Rationalitätsprinzip

116  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

bei der historischen Ausbildung des Kapitalismus spielt, und demgegenüber die Wirkkraft des „durch den Äquivalententausch hindurch sich reproduzierenden Klassenverhältnis[ses]“ unterschätze (Adorno 1973, 168). Tatsächlich stößt man in der „Vorbemerkung“ auf Äußerungen, in denen Weber zu verstehen gibt, dass er im rationalen Disponieren, das eine ihm entsprechende Praxis der Rationalisierung zeitigen soll, das Besondere des modernen Kapitalismus oder genauer: dasjenige Moment desselben gewahrt, durch das er sich von allen vorkapitalistischen Wirtschaftsformen wie auch von denen seiner eigenen Frühphase unterscheidet. Allerdings verläuft die Argumentation, auch wenn sie dramaturgisch stringent, nämlich von Beginn an auf ‹das Rationale› als auf ihren gedanklichen Zielpunkt ausgerichtet ist, keineswegs geradlinig. Sie durchmisst vielmehr einen Kreis von Phänomenen, die dem Kapitalismus als kennzeichnend zugeordnet oder als Emanationen des ‹Rationalen› identifiziert werden, und weist ihnen den Rang akzidenteller Merkmale zu. Umso dringlicher erhebt sich die Frage, was die Ingredienzien des Kapitalismus seien. Der Darlegung ist es nun eigentümlich, dass sie die Klärung dieser Frage fortwährend hinauszögert, eine Antwort gleichzeitig zu liefern und zu relativieren, zurückzuziehen scheint;111 dabei gewinnen die jeweils zur Behandlung kommenden inhaltlichen Details eine immer größere Schärfe der Umrisse, so dass man durchaus den Eindruck empfängt, es werde gleichsam in konzentrischen Kreisbewegungen der Kern des Problems herausgeschält. Die „Vorbemerkung“, so könnte man summarisch festhalten, lässt zwar eine systematisierende Grundtendenz erkennen, begegnet jedoch der Schwierigkeit, aus den Aufbauelementen des phänomenalen Kapitalismus das Prinzip des ‹Kapitalistischen› herauszudestillieren, mit unermüdlicher, im Ganzen geradezu obsessiv anmutender gedanklicher Differenzierung, so als biete einzig eine minuziöse Sichtung der einzelnen Faktoren wenn nicht die Gewähr, so doch die Chance, dem „Geist“ des Kapitalismus auf die Spur zu kommen. Die Auseinandersetzung mit diesen Faktoren hat nun aber als Erstes den Effekt, dass sich die Definition zu einem potentiell unendlichen Progress zerdehnt, weil die Fülle an Merkmalen, die auf den Kapitalismusbegriff projiziert werden, dessen konzeptuellen Zuschnitt verdeckt. Darum soll auf der Basis des eben genannten Befundes von Adorno die These aufgestellt werden, dass Weber mit seiner Kritik an den Usancen der wissenschaftlichen Begriffsbildung ernst macht, indem er den Kapitalismusbegriff unterminiert und damit die definitorische Praxis im Allgemeinen, also in ihrer Eigenschaft als Ratifizierungsverfahren der Fachkultur, ins Visier

 111 Auf dieses strategisch angewandte Verfahren hebt Mittelmeier ab, wenn er von „ständige[n] Selbstkorrekturen“ spricht, die daher rührten, dass „sich die Wirklichkeit in das Begriffsgebäude“ fresse (Mittelmeier 2013, 236f.).

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  117

nimmt. Die folgenden Unterkapitel haben die Aufgabe, Argumente für diese Präsumtion beizubringen und die Suspendierung der Definition an deren textueller Faktur nachzuvollziehen bzw. als Funktion spezifischer kompositorischer Qualitäten auszuweisen. Die Interpretation wird sich dabei in erster Linie solchen sprachlichen Erscheinungen zuwenden, die auf der Mikro- oder auf der Makroebene der „Vorbemerkung“ zu situieren sind, und den Versuch unternehmen, die Befunde systematisch zueinander in Relation zu setzen. Zuvor sollen indes in einem separaten Abschnitt noch das Verhältnis Adornos zu Weber sowie dessen methodologische Überlegungen zur sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung beleuchtet werden.

4.2.2 Exkurs: Das Verhältnis Adornos zu Weber und dessen eigene Begriffskonzeption Adorno nimmt Weber gegenüber eine grundsätzlich kritische Haltung ein, die er mit den übrigen Exponenten der Frankfurter Schule teilt und für die eine selektive, ideologisch vorbelastete Rezeption des Weber’schen Œuvres den Nährboden bildet.112 Wie der Kommentar in der „Negativen Dialektik“ zeigt, hat jedoch der späte Adorno zumindest Anstalten gemacht, seine Position abzumildern oder auch zu relativieren, und sich dem ihm suspekten Theoretiker in manchen Belangen sogar überraschend weit angenähert. Auch das pauschale Verdikt, die „zuinnerst positivistischen Voraussetzungen“ (Institut für Sozialforschung 1956, 107)113 seines Denkens hätten Weber daran gehindert, vom empirischen Material zu abstrahieren, blieb davon nicht unberührt, obwohl Adorno sich niemals förmlich von dieser Ansicht lossagte, die innerhalb seines wissenschaftlichen Netzwerkes gängige Münze war. Dass er gleichwohl von ihr abrückte, ist daran ersichtlich, dass er in seiner „Einführung in die Dialektik“ Weber einen „antipositivistischen“ (Adorno 1958/2010, 258) Verstehensbegriff zu konzedieren bereit war. Wie einig er sich, wohl ohne es recht wahrzunehmen oder aber wahrhaben zu wollen, in manchen meta- und begriffstheoretischen Fragen mit Weber war, wird deutlich, wenn man dessen methodologische Überlegungen, denen er etwa in seiner Abhandlung „Die  112 Breuer hat sich in seiner unlängst erschienenen Monographie über die Kritische Theorie ausführlich mit deren Weber-Exegese beschäftigt. Dabei gelangt er in Hinsicht auf Adorno, dem hier als einem der wichtigsten Repräsentanten der Frankfurter Schule die Rolle des Gewährsmannes übertragen werden soll, zu folgendem Befund: „Die Entwicklung von Adornos Verhältnis zu Weber läßt sich [. . .] als allmähliche Relativierung einer gesinnungsmäßig begründeten Ablehnung durch ein zunehmend differenzierteres Verständnis fassen [. . .]“ (Breuer 2016, 219). 113 Vgl. auch Breuer 2016, 213, wo auf die zitierte Wendung Bezug genommen wird.

118  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

,Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ eine paradigmatische Darstellung gegeben hat, mit thematisch ähnlichen Partien in der „Negativen Dialektik“ vergleicht. Dem „Objektivitäts“-Aufsatz zufolge soll die Begriffsbildung einer „sichere[n] Zurechnung einzelner konkreter Kulturvorgänge der historischen Wirklichkeit zu konkreten historisch gegebenen Ursachen“ (Weber 1985b, 168114), wie sie sich die Kulturwissenschaft auf die Fahnen schreibt, den Weg bereiten. In „Wirtschaft und Gesellschaft“ räumt Weber ein, es liege in der Logik des von ihm verfochtenen Verfahrens, dass die ihm entspringenden Begriffe „gegenüber der konkreten Realität des Historischen relativ inhaltsleer sein“ müssten, und führt im Gegenzug „gesteigerte Eindeutigkeit“ (Weber 2013, 170) auf der Habenseite an. Je reichhaltiger und heterogener die empirischen Gegebenheiten, die in einen theoretischen Entwurf eingespeist werden sollen, desto schwerer lassen sie sich unter einen Begriff fassen, weshalb man, wie Weber dekretiert, fortwährend danach trachten muss, „immer neue Seiten der Bedeutsamkeit durch neue Bildung idealtypischer Begriffe zum Bewußtsein zu bringen“ (Weber 1985b, 198). Demgegenüber ist es inopportun – hier werden die nominalistische Untertöne von Webers Begriffsreflexion vernehmlich –, die Begriffe als in sich substantiell oder realitätshaltig in dem Sinne anzusehen, dass sie ein Konzentrat „der geschichtlichen Wirklichkeit“ (Weber 1985b, 195), also deren innersten Gehalt oder deren Essenz darböten. Ebenso meint Weber sich dagegen verwahren zu müssen, dass man die Begriffe zu einem „Prokrustesbett“ für die Geschichte (Weber 1985b, 195) umfunktioniere oder als Kristallisationen von Ideen deute, um wiederum diese zu einer „hinter der Flucht der Erscheinungen stehende[n] ,eigentliche[n]‘ Wirklichkeit“, zu „reale[n] ,Kräfte[n]‘“ zu hypostasieren, „die sich in der Geschichte auswirkten“ (Weber 1985b, 195). Gegenüber der Historischen Schule der Nationalökonomie, die „unter dem doppelten Einfluß des Hegelschen Panlogismus und der emanistischen Volksgeistlehren der Romantik“ (Breuer 2016, 194)115 stand und deren Exponenten der Überzeugung anhingen, von den Begriffen führe ein direkter Weg in die Wirklichkeit, gleichsam als gehe diese aus jenen hervor, beharrte der dem Neukantianismus pflichtige Weber darauf, dass Begriffe rein theoretischen Charakters seien  114 Sofern nicht anders angegeben, finden sich die typographischen Hervorhebungen im Original, und zwar in Form von Sperrungen. 115 Übereinstimmend hiermit auch Lichtblau 2006, 252f., sowie Schluchter 1989, 75, wo die „begriffsgebundenen idealtypischen Entwicklungskonstruktionen“ als Kontrastfolie zu einem „emanatistischen (begriffslogischen) oder organizistischen (biologisch-teleologischen)“ Modell angesehen werden. Zum Weber’schen ‹Idealtypus› und zu den darin verarbeiteten Einflüssen vgl. auch Steinert 2010, 184–188, ein Werk, auf das mich Helmuth Kiesel hingewiesen hat.

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  119

und lediglich die perspektivischen Voreinstellungen des ihnen zugehörigen Denksystems zur Anzeige brächten, also in letzter Instanz mehr über Wahrnehmung und intellektuelle Formierung der Wirklichkeit aussagten als über diese selbst.116 Diese Prämisse veranlassen ihn dazu, den bündigen Bescheid zu geben, „[g]roße begriffliche Konstruktionsversuche“ hätten in den Sozialwissenschaften „ihren Wert regelmäßig gerade darin gehabt, daß sie die Schranken der Bedeutung desjenigen Gesichtspunktes, der ihnen zugrunde lag, enthüllten“ (Weber 1985b, 207). Im Lichte solcher Räsonnements müssen Äußerungen von Angehörigen des Frankfurter Kreises, die Webers Aversion „gegen jede Ontologisierung oder Hypostasierung von ,Kollektivbegriffen‘“ (Weiß 1989, 16)117 wenigstens indirekt zum Ausweis fehlenden Methodenbewusstseins stempeln, als unbegründet und verfälschend gelten. In der an Kontroversen durchaus nicht armen soziologischen Weber-Forschung dürfte denn auch die Auffassung, dass Weber von seiner „individualistische[n] Grundanschauung“ nicht daran gehindert worden sei, sich „des öfteren einer sowohl institutionen- als auch struktur- oder systemtheoretischen Begrifflichkeit und Argumentationsweise zu bedienen“ (Weiß 1989, 16), spätestens in den 1980er Jahren Gemeingut geworden sein. Gleichwohl ist augenfällig, dass die Weber’schen „Grundbegriffe“ allen Ambitionen, aus ihnen eine holistische Konzeption des Sozialen als solchen herauszuschälen,118 einen Riegel vorschieben und dass Webers Absage an einen Begriffsrealismus im engeren Sinne des Wortes für die Disponierung seiner Termini unmittelbare Konsequenzen hat. Im Falle des bei Weber überaus prominenten Rationalitätsbegriffes, der auch in der nachfolgenden Erörterung einen herausgehobenen Stellenwert erhalten

 116 Der Neukantianismus ist dadurch gekennzeichnet, dass er den Begriff als zentrales Aufbauelement der wissenschaftlichen Theoriebildung qualifiziert. Bei Weber, der bereits während seiner Heidelberger Studienzeit durch Vermittlung vonseiten Kuno Fischers mit neukantianischem Denken Fühlung nahm, begegnet eine solche Nobilitierung des Begriffs im „Objektivitäts“-Aufsatz in gesteigerter, nachgerade forcierter Form, wenn nämlich die Konfigurierung des Terminus mit der Entwicklung einer Theorie synchronisiert wird. Der spätere Weber hat demgegenüber bei der Entwicklung eines eigenen Kanons von soziologischen Grundbegriffen wesentliche metatheoretische Vorannahmen des Neukantianismus verabschiedet. Dieser Problemkomplex ist bei Lichtblau in seinen Hauptzügen klar herausgearbeitet. 117 Die „Kollektivbegriffe“, zumindest in einigen Fällen noch dem alltäglichen Sprechen verhaftet (vgl. Weber 1985b, 212), sind antithetisch zu den „genetischen Begriffen“, die durch das idealtypische Verfahren gewonnen wurden. 118 Weber leugnet gar, dass der Begriff des ‹Sozialen› der Erkenntnis förderlich sei; verdanke er seinen vermeintlich „ganz allgemeinen Sinn“ doch lediglich „seiner Unbestimmtheit“: „Er bietet eben, wenn man ihn in seiner ,allgemeinen‘ Bedeutung nimmt“, so erläutert Weber weiter, „keinerlei spezifische Gesichtspunkte, unter denen man die Bedeutung bestimmter Kulturelemente beleuchten könnte“ (Weber 1985b, 166, Markierung im Original).

120  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

wird, drängt sich sogar der Verdacht auf, dass Weber es darauf abgesehen haben könnte, die traditionelle Begriffsbildung auszuhebeln, wenn nicht zu destruieren. Feststehen dürfte zumindest dies: Als Konstrukte, die den ihnen zugeordneten empirischen Daten inkommensurabel sind und denen somit eine gewisse semantische Eigenwertigkeit bzw. ein Informationsgehalt zukommt, welcher nicht aus der Menge der ihnen subsumierten oder subsumierbaren Merkmale abgeschöpft ist, bedürfen die Begriffe einer Klärung, die, wie gerade am Beispiel des um den ‹Kapitalismus› zentrierten Themenkreises ersichtlich wird, auf eine regelrechte Dechiffrierung hinausläuft. Mit ihrer eben skizzierten Eigenart hängt es auch zusammen, dass, wenn man die Weber’schen Termini als einzigen Ansatzpunkt für die Betrachtung wählt, die sehr weit ausgreifenden und von ihrer materiellen Basis nicht wirklich mehr ablösbaren Theoreme, die sie überwölben, höchstens in Ausschnitten erfasst werden können. Die Begriffe eignen sich eher dazu, die Sachgebiete zu kartographieren, auf die jene Reflexionen sich erstrecken, als dazu, deren ideellen Horizont zu umreißen. Da sie mithin nicht recht als Leitfaden für eine Weber-Exegese taugen, hat es den Anschein, als böten Webers Texte keine Handhabe, die ihnen inskribierten „Einsichten“ derart „zu ,kodieren‘, daß man sie aus einigen wenigen Grundüberlegungen ableiten kann“ (Döbert 1989, 210). Einer „reflexive[n] Systematisierung“ (Döbert 1989, 210) der Untersuchungen Webers erwachsen aus dessen Begriffsarbeit bis heute schier unüberwindliche Hindernisse, weil in ihr der Konflikt zwischen den Prozeduren einer pragmatischen, operativen Terminologisierung und dem übergeordneten Ziel, die Begriffe gegen ihre Merkmalsmatrix geöffnet zu halten – und zwar so, dass sie auch Umschichtungen in dieser Letzteren nachvollziehbar machen, wie sie aus historischen Umwälzungen resultieren –, ungehemmt zum Austrag kommt. In der Weber-Forschung wird bis heute um einen adäquaten methodologischen Umgang mit dieser Sachlage gerungen; dabei hat sich Döbert deutlich gegen die Option eines philologisch-hermeneutischen Ansatzes positioniert.119 Es wäre an der Sprachwissenschaft, zu prüfen, ob diese Festlegung nicht doch voreilig war und ob man, wie wiederum Döbert insinuiert, tatsächlich gehalten ist, Webers Texten und ihrem Wortlaut gegenüber Distanz zu wahren,120 wenn man Einsicht  119 Vgl. Döbert 1989, 210. – In ähnlicher Manier kontrastiert Swedberg einen verstehenden Nachvollzug von Webers Denken mit einer am Wortlaut orientierten Lektüre seiner Schriften: „Der Hauptaufwand sollte nicht so sehr dem gelten, was Max Weber wirklich gesagt hat, sondern der Art und Weise, wie er gedacht hat“ (Swedberg 2010, 10). 120 An besagtem Ort heißt es: „Es gilt, aus einer gewissen Distanz zu ,konstruieren‘, damit die Weber’sche Begrifflichkeit in ihrer Logik und inneren Notwendigkeit transparent wird“ (Döbert 1989, 210). – Philologisch, auf Modi der Semantisierung abstellend ist die Weber-Lektüre Steinerts.

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  121

in ihre konzeptuelle Unterlage erlangen möchte. Hieran anknüpfend wäre zu fragen, ob man nicht gerade der schwankenden Terminologie bei Weber, die eine Sondierung der reflexiven Tiefendimensionen seiner Schriften erschwert, neue Impulse für eine Auseinandersetzung mit denselben abgewinnen, sie beispielsweise zum Anlass nehmen könnte, sich bei der Lektüre von eingeschliffenen diskursiven Routinen und den durch sie tradierten Denkschablonen zu dispensieren.121 So hat Weiß sich 1989 in seinem Vorwort zu einer westdeutschen Inventur der Forschung vorsichtig gegen Ansätze abgegrenzt, die sich darum bemühen, „störende Zweideutigkeiten der Weber’schen Begrifflichkeit und Argumentation zu beseitigen oder verdeckte Voraussetzungen offenzulegen, um auf diesem Wege ein eindeutiges und definitives Verständnis des Gemeinten zu erreichen“ (Weiß 1989, 21): Weiß hält dem entgegen, dass die „Ambivalenzen und vergleichsweise diffusen Konnotationen bestimmter Begriffe“ gewisse „Anschlussmöglichkeiten“ (Weiß 1989, 21) für die Deutung darböten, die aber zumindest bei ihm nicht weiter ausbuchstabiert werden. Sich näher mit ihnen zu beschäftigen, dürfte für eine Weber-Philologie, auf die diese Bezeichnung passt, ein lohnendes Unterfangen sein. Es empfiehlt sich an dieser Stelle, noch etwas länger bei Webers – bisher lediglich in den großen Linien umrissenen – Überlegungen zur Begriffsbildung zu verweilen, wie sie im „Objektivitäts“-Aufsatz entfaltet werden. Das kann freilich nur im Rahmen einer Synopse geschehen, bei der es vorrangig auf Stringenz abgesehen ist; um dieses Zieles willen nimmt die Erörterung hier eine verhältnismäßig einseitige Schwerpunktsetzung und eine holzschnittartige Darstellung in Kauf. Es wurde bereits festgehalten, dass man Weber zufolge den Begriff – es wäre zu präzisieren: in den Kulturwissenschaften – nicht als Konzentrat der empirischen Realität, sondern lediglich als Medium ihrer gedanklichen Formatierung anzusprechen hat. Unter diesem Aspekt drückt sich die kognitive Disposition des Menschen in ihm ab. Im Ganzen ist er durch eine operative Funktion bestimmt, die ihn, wie weiter zu folgern wäre, zu einem überwiegend pragmatischen Gebrauch zu prädestinieren scheint. Es hieße ihn in seinen Anwendungsmöglichkeiten überschätzen, wenn man in ihm ein Instrument zur „Darstellung des Wirklichen“ (Weber 1985b, 190), gar zur Ermittlung und Isolierung einer die Realität durchdringenden Kraft, erblickte. Er reicht lediglich dazu hin, „der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel [zu] verleihen“ (Weber 1985b, 190) und das allgemeinmenschliche Bedürfnis nach „Veranschaulichung“ (Weber 1985b, 191)122 zu befriedigen. Im Weiteren ist bei Weber verschiedentlich davon die Rede, dass der Begriff darauf abgezweckt sei, die „Kulturbedeutung“ (Weber 1985b, 192, 198) gewisser Realien oder auch um 121 Sie ließe sich demnach als transkriptives Potential von Webers Texten ansehen. 122 Er nennt es gleichsam in einem Atemzug mit dem nach „Erforschung“.

122  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

fänglicher Phänomengruppen „zum Bewußtsein zu bringen“ (Weber 1985b, 198 u.a.), wozu freilich ein Ausdruck allein schwerlich vermögend ist: Nicht selten handelt es um ein Moment mit mehreren Facetten, von denen ein einzelner Terminus nur einige abdeckt, so dass er durch andere ergänzt oder auch korrigiert werden muss.123 Der Begriffsbildung räumt Weber in seinen Ausführungen einen großen Platz ein, um Zuschnitt und Verwendungssinn, wie sie dem Begriff in einem kulturund erfahrungswissenschaftlichen Methodenzusammenhang zugedacht sind, in Abgrenzung gegen Begriffstypen in anderen Fächern, namentlich in den Naturwissenschaften, zu exponieren. Das formale Spezifikum der von Weber propagierten Praxis der Verbegrifflichung lässt sich herausarbeiten, wenn man klärt, was unter jener „Bedeutung“ zu verstehen ist, die es „scharf zum Bewußtsein zu bringen“ gilt: Es ist damit nicht das „Gattungsmäßige“ an kulturellen Gegebenheiten, das „empirischen Erscheinungen Gemeinsame“, sondern deren „Eigenart“ (Weber 1985b, 202) gemeint, die sich aus der Wahl eines die Betrachtung beherrschenden Gesichtspunktes ergibt (vgl. Weber 1985b, 162). So nimmt Weber, wenn er „Vorgänge des religiösen Lebens“ (Weber 1985b, 162) unter der Fragestellung beleuchtet, inwieweit sie zur Ausbildung des modernen Kapitalismus beigetragen haben, eine Perspektive ein, die das Sujet selbst nicht nahelegen mag und die an ihm denn auch bloß eine von mehreren Bedeutungsdimensionen, und nicht einmal eine entscheidende, hervortreten lässt. Das heißt konkret, dass Weber sich vorrangig auf solche Eigentümlichkeiten der besagten Vorgänge konzentriert, die zu deren wirtschaftlichen Folgeerscheinungen in Relation zu setzen sind. Daran zeigt sich, dass der kulturwissenschaftliche Begriff nicht den „Durchschnitt“ aller erfassbaren Merkmale eines Phänomens repräsentiert, denn er wird „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen“ gewonnen, die sich den „einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen“ (Weber 1985b, 191). Von einem Begriff ist demnach nicht ein sozusagen geläutertes, weil von allen Kontingenzen bereinigtes Bild der Wirklichkeit zu erwarten, das zeitunabhängige  123 Das geht aus dem Passus hervor, dem die letzte der oben angeführten Wendungen entnommen ist und der hier zur besseren Orientierung vollständig zitiert werden soll: „Je umfassender die Zusammenhänge sind, um deren Darstellung es sich handelt, und je vielseitiger ihre Kulturbedeutung gewesen ist, desto mehr nähert sich ihre zusammenfassende systematische Darstellung in einem Begriffs- und Gedankensystem dem Charakter des Idealtypus, desto weniger ist es möglich, mit einem derartigen Begriffe auszukommen, desto natürlicher und unumgänglicher daher die immer wiederholten Versuche, immer neue Seiten der Bedeutsamkeit durch neue Bildung idealtypischer Begriffe zum Bewußtsein zu bringen“ (Weber 1985b, 198).

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Invarianten kenntlich machte oder gar so etwas wie ihr Wesen aufscheinen ließe. Tatsächlich gelangt man mit begrifflichen Mitteln noch nicht einmal zur adäquaten Bezeichnung eines einzelnes Realitätssegments, worunter mit Weber zu verstehen wäre, dass dasselbe „in seiner (stets mindestens intensiv) unendlichen Differenziertheit gegen alle übrigen“ (Weber 1985a, 5) zur Geltung kommt. Es kann sich einzig darum handeln, ein spezielles „Erkenntnisinteresse“ durch die Implementierung eines „Ideal-“ oder „Gedankenbild[es]“ (Weber 1985b, 190, 191) zu befriedigen, das unmittelbar angesehen „den Charakter einer Utopie an sich“ (Weber 1985b, 190) tragen soll, für die Auseinandersetzung mit intransparenten und amorphen Realitäten gleichwohl in dem Maße instruktiv sein kann, wie aus ihm erhellt, „was und wieviel an Allgemeinem im Besonderen steckt und wie singulär eine bestimmte Erscheinung ist“ (Breuer 2016, 219). Weber teilt dem ‹Idealtypus› den Rang „eines rein idealen Grenzbegriffes“ zu, dessen Nutzen darin liegen soll, dass „die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter bedeutsamer Bestandteile ihres empirischen Gehaltes“ an ihm „gemessen“ bzw. mit ihm „verglichen“ werden kann (Weber 1985b, 194).124 Indem man ein empirisches Moment in dieser Weise an einen idealtypischen Begriff hält, soll sich der „typologische“ Stellenwert des Ersteren taxieren lassen, wobei dieser Status durch die Beziehung des Erfahrungsgehaltes zum „theoretisch konstruierten Typus“ determiniert ist (Weber 1947b, 537).125 Breuer ist der Ansicht, dass die Begriffskonzeptionen Webers und Adornos eine strukturelle Ähnlichkeit aufweisen, die dem Letzteren freilich verborgen geblieben zu sein scheint; die beiden Theorien sollen sich gerade in den Prinzipien berühren, auf die sie die Konfigurierung der Begriffe gründen. Als Beleg führt Breuer einen Passus aus Adornos Vorlesung über „Philosophie und Soziologie“ an, in welchem – wohl in Anknüpfung an ein Aperçu von Walter Benjamin – verlautet, „daß Begriffe eigentlich immer nur sinnvoll von ihren Extremen her gebildet werden können und in ihren extremen Formulierungen festzuhalten sind“ (Adorno 2011, 263). Tatsächlich mag man sich durch diese Stelle an Webers Erklärung erinnert fühlen, dass das idealtypische Verfahren auf einer „gedankliche[n] Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit“ (Weber 1985b, 190) beruhe, zumal wenn man das Attribut einseitig hinzunimmt, das in thematisch ähnlichen  124 Die beiden Verben werden offenkundig synonym gebraucht. 125 Nach Alfred Schütz, so sei hier ergänzt, sind die Soziologie, die sich des idealtypischen Verfahrens bedient, und die gesellschaftliche Erfahrungswirklichkeit bei aller grundsätzlichen Disparität doch in mancherlei Hinsicht miteinander verschränkt, wobei das Bindeglied gerade das Procedere der Typisierung sein soll. Schütz ist nämlich der Ansicht, „daß die wissenschaftliche Begriffs- bzw. Typenbildung lediglich die Struktur unserer alltäglichen typologischen Begriffsbildungen reflektiert bzw. widerspiegelt“ (Endreß 2006, 36).

124  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Zusammenhängen begegnet.126 Adorno und Weber gehen, wie der Textvergleich erkennen lässt, zumindest darin konform, dass sie für eine hochgradig selektive Begriffsbildung votieren, die nicht einfach möglichst unterschiedliche Einzelgrößen zu vereinheitlichen sucht, sondern an markanten Erscheinungen ansetzt, welche nicht als für die jeweilige Phänomengruppe einschlägig anzusehen sind und auf Kosten anderer – man könnte sagen: durchschnittlicher – priorisiert werden. Es kommt hinzu, dass die Terminologisierung die empirischen Elemente in eine konzeptuelle Gestalt überführt, in der bestimmte, dem jeweils dominierenden „Gesichtspunkt“ entsprechende Merkmale isoliert und wiederum andere unterdrückt sind, dass folglich die gedankliche Formatierung der Wirklichkeit, die mit der Modellierung von Begriffen synchron läuft, nicht auf wechselseitige Angleichung heterogener Aspekte, sondern auf Profilierung und Pointierung eines stark limitierten Bestands von Einzelinformationen abgezweckt ist. Hier scheint am Rande bemerkt eine gerade Linie von Webers „einseitiger Steigerung“ zu Adornos „extremen Formulierungen“ zu verlaufen; es mag sich so verhalten, dass die komparative Verfahrenslogik des Ersteren beim Letzteren von ihrem Kulminationspunkt her gedacht ist, also gewissermaßen eine superlativische Fassung bekommt. Eine weitere Korrespondenz zeichnet sich ab, wenn man auf die oben angeführten Ausdrücke Ideal- bzw. Gedankenbild rekurriert, die Weber heranzieht, um das Ganze des Begriffes von seinen Komponenten abzuheben: Bei diesem Ganzen handelt es nicht einfach nur um eine Merkmalskomplexion, in der sich ein gedanklicher Ordo auskristallisiert, sondern um etwas Geschlossenes, Bruchloses und in sich Gerundetes, in dem eine unmittelbarere, bildhafte Vorstellungsart, wenn auch wohl in vielfach sublimierter Gestalt, so doch in ihrem Kern unangetastet, fortdauert. Der Begriff dient also prinzipiell der Veranschaulichung und ist an einen kognitiven Modus gekoppelt, der auch vor und unabhängig von der Begriffsbildung da ist und den Weber wie eine unhintergehbare anthropologische Tatsache behandelt. Die Terminologisierung wirkt somit auch nicht auf die Umwälzung eines präreflexiven Repräsentationsformats, geschweige denn auf die Inaugurierung einer neuen epistemischen Praxis hin. Die „diskursive Natur unseres Erkennens“ (Weber 1985b, 195) konstituiert sich nicht erst im begrifflichen Denken, sondern ist diesem vorgeschaltet und folglich zumindest auf struktureller Ebene mit einer Form der Wahrnehmung kongruent, die aus einer „Kette von Vorstellungsveränderungen“ (Weber 1985b, 195)

 126 So schreibt Weber zum Beispiel, es lasse sich „die ,Idee‘ des ,Handwerks‘ in einer Utopie zeichnen, indem man bestimmte Züge, die sich diffus bei Gewerbetreibenden der verschiedensten Zeiten und Länder vorfinden, einseitig in ihren Konsequenzen gesteigert zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammenfügt [. . .]“ (Weber 1985b, 191).

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  125

resultiert und bei der „die Bedeutung [von Gedankenbildern] zunächst nur anschaulich empfunden, nicht klar gedacht wird“ (Weber 1985b, 193). Wenn Weber diese – von ihm für universal erachtete – Form diskontinuierlicher Perzeption, die dem Verstehen vorangeht,127 als „Begriffsstenographie“ apostrophiert (Weber 1985b, 195),128 so wird darin aktenkundig, dass sie mit der Verbegrifflichung in engster Verbindung steht, ja geradezu in dieser innerviert ist. Eine Terminologie, die sich am idealtypischen Prinzip orientiert, gleicht somit aufs Ganze besehen einem System von Chiffren, in dem individuelle wie intersubjektive Erfahrung aufgespeichert ist, und zwar so, dass deren Genese, die Abfolge der Eindrücke, denen sie entwuchs, nachvollziehbar bleibt oder auch allererst artikulierbar wird. Was nun die genannte Gemeinsamkeit mit Adorno betrifft, so wird man gerade das bildhaft-anschauliche Begriffsverständnis Webers als solche einschätzen können: In seiner ideellen Anlage gemahnt es nämlich an die gestalthafte, figürliche Begriffstheorie, zu der sich in der „Negativen Dialektik“ wenigstens Ansätze finden,129 etwa dort, wo Adorno den Gedanken anbringt, die Bedeutung von Begriffen lasse sich transzendieren, indem man diese in eine „Konstellation“130 überführe oder, wie man wohl auch sagen könnte, zu einer Begriffsfigur anordne.131 Auf diesem Wege werde die subsumptive Grundtendenz des begrifflichen Denkens, das individuelle Exemplare nivelliert, durch ein – freilich sehr verdünntes – Element von Bildhaftigkeit bzw. durch ein mimetisches Residuum kontrapunktiert und zugleich gebändigt. Man kann Adornos Programm dahingehend resümieren,  127 Die Gegenstände dieser Wahrnehmung sind somit „vorverstanden“ und bedürfen der „soziologischen Rekonstruktion“ (Seyfarth 1989, 389), wobei der Begriff in erster Linie dies zur Aufgabe hat, die Wahrnehmung in ihrem Verlauf in das Wahrgenommene hereinzuholen und unübersichtliche Schichtungen von Eindrücken strukturierend zu durchdringen. 128 Hierzu erläuternd Rehbinder 1989, 509. Seyfarth macht darauf aufmerksam, dass diverse begriffliche Prägungen bei Weber selbst das Ansehen „stenogrammartig[r] Formeln“ (Seyfarth 1989, 374) haben, doch nimmt diese Äußerung, die ohnehin eher aperçuartigen Charakters ist, zumindest nicht erkennbar auf das Weber’sche Kompositum Begriffsstenographie Bezug. 129 Vgl. Adorno 1973, 167f., sowie Attig 2015b, 34, Anm. 8. 130 Dieser für Adorno wichtige Ausdruck, der Benjamins Schrift über den „Ursprung des Trauerspiels“ (vgl. hierzu auch Szondi 1978c, 201) entlehnt ist, taucht des Öfteren in den Arbeiten Webers auf, ist bei ihm aber nicht auf ein Prinzip der Gruppierung von Begriffen, sondern auf die eine „Kulturerscheinung“ kennzeichnende Anordnung einschlägiger „,Faktoren‘“ (Weber 1985b, 164 u.a.), also der Merkmale, aus denen die Begriffe herauspräpariert werden, gemünzt. 131 Lichtblau attestiert Marx eine in der Zielsetzung weitgehend deckungsgleiche Begriffsverwendung, freilich ohne dass eine Verbindungslinie zu Adorno sichtbar würde: Laut seiner Darstellung hat Marx „im Rahmen seiner Ökonomiekritik“ „keine neuen Begriffe“ geschaffen, sondern es dabei belassen, „den überlieferten Begriffen der klassischen politischen Ökonomie durch eine dialektische Form der Darstellung eine völlig neue, nämlich ideologiekritische und damit zugleich auch kapitalismuskritische Bedeutung abzugewinnen“ (Lichtblau 2006, 246).

126  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

dass Begriffe durch ihre Handhabung im Text „eine Inklination zu den von ihnen avisierten Zusammenhängen“ erhalten „oder sich um einen bestimmten Gehalt wie um eine semiotische Leerstelle herum gruppieren“ (Attig 2016, 79, Anm. 44) sollen. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass Adorno einem textuellen Arrangement von Begriffen dasjenige als – freilich höchst erwünschten – funktionalen Überschuss zubilligt, was für den idealtypischen Begriff nach Weber von vornherein spezifisch ist. Dabei ist der Bildcharakter, von dem der Letztere ausgeht, bei Ersterem wie erwähnt zu hochabstrakter Bildhaftigkeit depotenziert, in der sich eine zumeist ausgeblendete, nicht-semiotische Komponente der Sprache anmelden soll. Das Anschauliche, das Weber dem Einzelbegriff als Leistung des idealtypischen Konstruktionsverfahrens gutschreibt, muss laut Adorno den Begriffen durch ihre Gruppierung im Text erst noch – oder aber wieder – zugeführt werden, und es bleibt, auch wo dies gelingen mag, doch wohl immer von Idealität alteriert. Man kann demgemäß festhalten, dass sich die Parallele zwischen den beiden Theoretikern auf Denkeinheiten unterschiedlicher Größenordnung, nämlich auf den einzelnen Begriff (Weber) und auf das terminologische Gefüge (Adorno), erstreckt.132 Im Weiteren – und damit soll dieser Einschub schließen – hat sich das Utopische, das Weber dem Begriffsinhalt beilegte, bei Adorno der Begriffsform und dem diskursiven Denken selbst eingesenkt, und zwar als ein Zug, der über den operativen Begriffsgebrauch hinausdrängt.

4.2.3 ‹Zwieschlächtigkeit› in der „Vorbemerkung“ zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ 4.2.3.1 Zum Stellenwert der „Vorbemerkung“ in Webers Werk Die Datierung der „Vorbemerkung“ ist in der Forschung nicht ganz unumstritten, doch ist man sich weitgehend darin einig, dass dieser Text Webers spätester Schaffensphase zugehört; Winckelmann vermutet gar, dass er der letzte ist, den Weber vor seinem Tod im Juni 1920 zum Abschluss brachte.133 Es werden hier die  132 Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, sei hinzugefügt, dass das idealtypische Konstruktionsverfahren sich selbstredend nicht in einer bestimmten Art der Modellierung einzelner Begriffe erschöpft, sondern als Prinzip etwa auch in Webers Vorhaben, „diffuse und amorphe Phänomene durch komplexe Ketten möglichst eindeutiger Begriffe aufzuschlüsseln“ (Seyfarth 1989, 389), kenntlich bleibt. Aus diesem Ansatz resultiert ein „multiperspektivische[s] Analyseverfahren“ (Seyfarth 1989, 389). Für die Faktur der „Vorbemerkung“ sind mehrgliedrige Begriffsketten, wie Seyfarth sie erwähnt, von struktureller Relevanz. 133 Diese Hypothese bringt er in seiner Weber-Ausgabe vor (Winckelmann 1956, 535).

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  127

großen gedanklichen und problemgeschichtlichen Linien abgesteckt, die sich durch die nachfolgenden Studien, namentlich durch die Abhandlung „Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus“, ziehen, so dass die Arbeit gleichsam als Leseschlüssel fungiert. Nelson geht so weit, sie als „master clue“ nicht nur für die Aufsätze, in die sie einleitet, sondern für Webers wichtigste Programme und Theoreme zu titulieren. Er beruft sich auf Parsons, der im Verlaufe seiner vieljährigen Auseinandersetzung mit Webers Œuvre zu der Einschätzung gelangte, dass in der „Vorbemerkung“ Zentralmotive des Weber’schen Denkens intoniert würden,134 behauptet dabei jedoch, dass sein Gewährsmann ebenso wie Winckelmann den Stellenwert der Schrift zu gering veranschlagt habe. Sie sei darum von überragender Bedeutung, weil in ihr „Einsichten“ mitgeteilt würden, die bei Weber sonst nur ansatzweise zur Sprache kämen: The „Introduction“ offers us insights afforded only obliquely and intermittently elsewhere in his work as to the ways in which he had come to interpret the meanings of his life-long effort at the zenith of his career (Nelson 1974, 271).

Weiterhin interpretiert Nelson den Text als Webers nachdrücklichstes Plädoyer für eine Soziologie, die ihre Gegenstände in einen universalgeschichtlichen Horizont stellt.135 Indem die „Vorbemerkung“ die Probe aufs Exempel macht und demonstriert, wie hierbei zu verfahren sei, und den vielschichtigen Komplex der Ermöglichungsbedingungen des Kapitalismus auseinanderlegt, führt sie die in den Einzeluntersuchungen ausgebreiteten Erkenntnisse zusammen und deutet, wie Nelson freilich eher zwischen den Zeilen denn unumwunden zur Kenntnis gibt, auf eine bislang noch ausstehende Integrations- und Systematisierungsleistung voraus, welche gleichsam den perspektivischen Fluchtpunkt von Webers kulturwissenschaftlich und komparatistisch akzentuierten Konzeptionen bildet, den man vor Augen haben muss, um die reflexive Spannkraft der Letzteren ermessen zu können. Der Kapitalismus ist als Thema somit auch in werkbiographischer Hinsicht von Belang, insofern er Weber als Sprungbrett für eine abschließende methodologische Kraftanstrengung, für die definitive Synthesis seiner Theoreme diente. Vor dem Hintergrund des hier Ausgeführten ist die „Vorbemerkung“, die trotz Nelsons emphatischer Fürsprache seitens der Forschung wieder oder aber noch immer wenig Aufmerksamkeit erfährt, für die Weber-Rezeption von prinzipiellem Interesse: Bietet sie doch zumindest in der Lesart Nelsons den Aufriss eines durchgehenden gedanklichen Zusammenhangs, der die disparaten Einzelschriften We 134 Nelson verweist besonders auf Parsons 1970, 1971, 1972. 135 Vgl. Nelson 1974, 271.

128  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

bers umfängt und dessen Vorhandensein einzig auf der Basis des Befundes zu leugnen, dass die Weber’schen Termini semantisch unscharf seien, wohl doch voreilig ist.136 Der Umstand, dass Weber mit seiner Einleitung einen ultimativen Vorstoß unternahm, die Quintessenz aus seinen vielfältigen Forschungen zu ziehen, und zwar obendrein anhand einer Wesensbestimmung des Kapitalismus, dürfte das im Weiteren zu verfolgende Vorhaben, gerade diesen Text einer sprachwissenschaftlichen Untersuchung zuzuführen, hinreichend legitimieren. Zwar hat die einseitige Konzentration auf die „Vorbemerkung“ zur Folge, dass anderes, für den übergeordneten Stoffkreis der vorliegenden Schrift unmittelbar einschlägiges Material aus dem Blick gerät, doch ist das Maß an Gründlichkeit und Tiefenschärfe, das die Vorlage aufgrund ihrer immensen Komplexität erfordert, letztlich nur um den Preis solcher Begrenzung zu erlangen.137

 136 Dem hat Tenbruck 1975 Rechnung getragen, indem er den – tatsächlich oder nur prima facie disparaten – Textgruppen im Œuvre Webers einen „gestaltbildenden Sinnzusammenhang“ (Gerhards 1989, 336) unterlegt, um unterschwellige inhaltliche Relationen zwischen ihnen hervortreten zu lassen und als funktional bedeutsam auszuweisen. 137 Es soll nicht verschwiegen werden, dass Segre die „Vorbemerkung“ in einer für die hier und im Folgenden vorzutragenden Überlegungen relevanten Studie mit dem Titel „Max Webers Theorie der kapitalistischen Entwicklung“ sonderbarerweise unerwähnt lässt. Im Gegenzug führt er ein, wie er schreibt, „kurze[s], aber theoretisch höchst wichtige[s] Kapitel“ (Segre 1989, 446) von Webers „Wirtschaftsgeschichte“ ins Feld, dessen Abfassung wie die der „Vorbemerkung“ in Webers letzte Lebensphase fällt und das eine gedankliche Fixierung des Kapitalismus abendländischer Prägung, notabene „nicht des Kapitalismus überhaupt“ (Segre 1989, 447), anstrebt; soweit es eine „Theorie“ des Letzteren präsentiert, hält diese sich „sehr im Unbestimmten“ (Segre 1989, 447). Inhaltlich sind dieser Text und die „Vorbemerkung“ weitgehend kongruent: Es dürfte also unwahrscheinlich sein, dass Weber vor seinem Tod daran dachte, alternative Erklärungskonzepte zu erproben oder ein Modell zu erarbeiten, in dem sich auseinanderlaufende Gedankenstränge zusammenführen lassen. Eine Verengung des Untersuchungsbereichs auf die „Vorbemerkung“ ist demnach zumindest unter inhaltlichen Gesichtspunkten legitim; die einseitige Konzentration auf eine Arbeit, die Nelson immerhin als eine Art Referenztext etikettiert, der mehrere Schlaglichter auf Webers Denken wirft, kommt der Präzision und analytischen Kraft der Betrachtung zugute. Eine Verbreiterung der Textbasis würde zu einem stärker selektiven Vorgehen nötigen, so dass sich zuletzt nur ein ausschnittartiges Bild von Webers definitorischer Praxis böte, in welchem deren prozedurale Logik undeutlich bliebe.

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  129

4.2.3.2 Z. 1–14. Zeichen gedanklicher Vermitteltheit Der Text138 setzt mit der folgenden, zweifelsohne programmatisch gemeinten Bemerkung ein: Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen (Z. 1–6).

In dieser Eröffnung sind zwei Aspekte synkopiert, die an sich einen Gegensatz bilden, welchen die Darlegung in der Folge auch auszutragen haben wird: zum einen die ‹Verabsolutierung von Phänomenen durch eine Theorie›, die sie derart aus ihren konkreten Manifestationen herausmodelliert, dass ihr mutmaßlicher historischer Stellenwert an ihnen kenntlich wird, und die dabei ihre fernere Entfaltung als perspektivischen Fluchtpunkt in sie hereinnimmt, zum anderen die ‹Bedingtheit dieser Phänomene durch zeit- und ortsabhängige Gegebenheiten› („Umstände“). Vermittels der Adverbialgruppe unvermeidlicher- und berechtigterweise wird ein Verfahren, das dem letzteren Moment Rechnung trägt und die empirische Konstitutionsbasis von Kulturerscheinungen sondiert, welche globale Geltung erlangt und sich somit gegen diese Basis verselbständigt haben, gleichzeitig als sachlich zwingend ausgewiesen und legitimiert. Indem Weber den Forscher als „Sohn der modernen europäischen Kulturwelt“ tituliert, bezeichnet er den Standort der Untersuchung und zugleich den Horizont des wissenschaftlichen Subjektes, das seiner eigenen kulturellen Identität wegen den genannten Untersuchungsansatz für den einzig adäquaten erachtet: Er ist in seiner Art genuines Produkt einer hochentwickelten Kulturepoche, die sich selbst absolut setzt, und trägt deren geistiges Signum. Nach Weber ist es für diese Methode, die aus der Moderne selbst erwachsen ist, symptomatisch – in der Tat ist es das für die Disposition der Begriffsbestimmung nicht minder –, dass sie die Umstände, denen der Kapitalismus sich verdankt, nicht voneinander isoliert, sondern das Eigentümliche ihrer „Verkettung“ auszumitteln versucht, so als sei diese, die ‹Konfiguration› der Faktoren,139 die einzeln auch andernorts wirksam gewesen sein mochten, das letzthin Ausschlaggebende.

 138 Er wird im Anhang noch einmal vollständig und mit durchgehender Zeilennummerierung abgedruckt. 139 Das Lexem Konfiguration wird wie in der Folge Lagerung von mir, M.A., in der Absicht eingebracht, den konzeptuellen Horizont von Verkettung zu umreißen.

130  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Wenn Weber den Begriff konsequent auf seine empirisch gegebenen Merkmale zurückzubeziehen trachtet und diese minuziös registriert, so mag das nach außen tatsächlich wie ein positivistischer Reflex anmuten. Weber begnügt sich indessen ausdrücklich nicht damit, wirtschafts- oder auch allgemeiner: kulturgeschichtliche facta bruta zu protokollieren, ergo als solche stehen zu lassen, sondern weitet das Blickfeld auf eine Ebene oberhalb der Tatsachen aus, indem er an deren spezifischer ‹Lagerung› („Verkettung“) Interesse nimmt. In dieser formt sich etwas Anderes, Immaterielles ab, in dem man weit eher als in den einzelnen Konkreta das Insigne des modernen Kapitalismus, mithin dasjenige, was durch dessen Begriff herausgeschärft werden soll, zu vermuten hat. Dass Weber die für die Begriffsbildung belangvollen Faktoren als über sich hinausweisende versteht, hat eine transzendierende Wirkung auch auf den Text, die zunächst dahingehend umschrieben sei, dass das empirische Material nicht bloß inventarisiert, sondern auch transfiguriert, auf ein immaterielles, ideelles Surplus ausgerichtet wird. So wäre zugleich ein Prozess des Verstehens angebahnt, der mit Adorno gesprochen antipositivistisch oder, um es allgemeiner zu fassen, nicht ausschließlich evidenzgeleitet ist. Für den registrierenden Zug der Definition, der ihr wiederum eine positivistische Note verleiht, ist der folgende, direkt an das schon Zitierte anschließende Passus beispielhaft, insofern hier der Gestus der differenzierenden Aufzählung als des Gegensatzes zur summarischen eine konzise Ausdrucksgestalt erhält. „Nur im Okzident“, so Weber, gibt es „Wissenschaft“ in dem Entwicklungsstadium, welches wir heute als „gültig“ anerkennen. Empirische Kenntnisse, Nachdenken über Welt- und Lebensprobleme, philosophische und auch – obwohl die Vollentwicklung einer systematischen Theologie dem hellenistisch beeinflußten Christentum eignet (Ansätze nur im Islam und bei einigen indischen Sekten) – theologische Lebensweisheit tiefster Art, Wissen und Beobachtung von außerordentlicher Sublimierung hat es auch anderwärts, vor allem: in Indien, China, Babylon, Aegypten, gegeben (Z. 7–14).

Hier kommt dem zweiten Satz strukturelle Bedeutung für das Textganze zu, indem er ein syntaktisches Muster einführt, das im Folgenden die Oberhand gewinnen wird, und mit der unpersönlichen Wendung x hat es gegeben überdies ein allenfalls sparsam variiertes und darum formelhaftes Leitmotiv anschlägt, das die ganze Erörterung durchzieht und jeweils die Einsicht darein besiegelt, dass die Untersuchung des Kapitalismus weniger auf dessen einzelne Momente denn auf eine diese überspielende Größe auszugehen hat. In der genannten Konstruktion ruht das Schwergewicht eindeutig auf der Nominalgruppe an der Spitze des Satzes; der Verbalkomplex nimmt sich demgegenüber in semantischer Hinsicht verhältnismäßig profillos oder zumindest unspezifisch aus. Das erweckt ebenso wie die

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  131

parataktische Reihung den Anschein, als seien die Satzsubjekte von gedanklicher Überformung weitgehend freigehalten und als nehme der Theoretiker sich gleichsam zurück, indem er prätendiert, sich auf bloße Feststellungen zu beschränken. Indessen handelt es sich bei den nominalen Fügungen in Wirklichkeit nicht um Bezeichnungen positiver Tatbestände, die auf materielle Größen gegründet wären und problemlos dingfest gemacht werden könnten, sondern um höchst verdichtete Abbreviaturen schwer durchschaubarer Phänomene und Entwicklungen, die im Verlauf einer – sprachlich allenfalls flüchtig angerissenen, nicht aber förmlich durchgeführten – Epochenreflexion eruiert worden sind. Der Tatsachencharakter der Momente, die am Satzanfang vermerkt sind, ist suggestive Wirkung der Formulierung, nicht zuletzt der Prädikation, die dem Eindruck Vorschub leistet, es seien die fraglichen Größen so, wie sie aufgeführt sind, geradewegs aus der empirischen Realität herausgegriffen und demnach sachhaltig: Die diskursive Elaboration des Sachhaltigen, die in einem bestimmten theoretischen Referenzrahmen statthat, welcher sich auch präzise abstecken ließe, wird durch die sprachliche Ausgestaltung ihrer Ergebnisse als Fakten ein Stück weit kaschiert. In die verbalen Kennungen der Fakten ist gleichwohl ein Aufriss des sie übergreifenden Reflexionszusammenhangs eingraviert. Vielen der Weber’schen Termini ist es eigentümlich, dass sie eine recht weitgehende gedankliche Vermitteltheit der Intension erkennen lassen: Es ist zum Beispiel möglich, ihrer morphologischen Struktur Aufschlüsse über das Abstraktionsniveau der gedanklichen Fühlungnahme mit der außersprachlichen Wirklichkeit, mit den Sachverhalten abzugewinnen. Es kann einstweilen bilanziert werden, dass sich dem von Weber benützten Fachwortschatz die Tendenz zur Formalisierung der Signifikate gleichwie eine semiotische Funktionskomponente eingesenkt ist. In seinen Bestandteilen finden die Prozeduren, denen eine Entität im Zuge ihrer Zurüstung zum wissenschaftlichen Objekt unterliegt und die in ihrer Wirkung auf eine reflexive Verfremdung der Ersteren hinauslaufen, einen sprachlichen Niederschlag. Von daher wäre Seyfahrt in seiner Einschätzung beizupflichten, dass Weber selbst eine „Begriffsstenographie“ kultiviert habe. Tatsächlich bringen seine Termini in denkbar gedrängter Weise etwas von der diskursiven Präparierung der Untersuchungsobjekte, der sie entwachsen sind, zur Anzeige. Dass dabei Repräsentationsmodelle Verwendung finden, die alles andere als anschaulich sind, liegt auf der Hand. Diese Bemerkungen, die hier auf lexikalische Konstituenten – so auf die nicht selten terminologisch verwendeten Nomina oder Nominalkonstruktionen von der Art der weiter unten vorkommenden Fügung eingeschulte[n] Fachmenschentum[s] (Z. 64f.), das heißt auf solche, deren extensionaler Bereich einen denkbar engen und scharfen Zuschnitt hat – gemünzt sind, lassen sich auf weitere Parameter von

132  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Webers Diktion übertragen: so auf die gedrängt-kompakte, gleichwohl fein differenzierende Syntax, die gedankliche Komprimiertheit und nachgerade überbordende Reflexivität transportiert. Auch dort, wo sie größtmögliche Sachlichkeit zu verbürgen und von jeder subjektiven Einfärbung freigehalten scheint, ist diese Schreibweise „personhaltig“ in dem Sinne, den Scherner 1984, 99, diesem Attribut unterbreitet, indem sie suggeriert, dass sich in ihr eine umfassend informierte, alles überblickende und darum zur allseitigen Unterrichtung des Rezipienten befähigte Instanz – ein Pendant dessen, was in der Narrotologie unter dem Etikett auktorialer Erzähler firmiert – ausdrücke. Offenbar soll die emphatisierende Zurschaustellung eminenten Wahrnehmungsvermögens, das der soeben erwähnten auktorialen Stimme im Text zuzurechnen wäre, Korrektheit und wissenschaftliche Dignität der Aussage wie auch Vollständigkeit des Inventars von Phänomenen, auf das sie sich stützt, verheißen. Die Darbietung dürfte dann den Zweck verfolgen, ihren Inhalten Validität zu verschaffen und so ihre Ratifizierung durch den Leser zu präjudizieren. Auf die Gegenwart eines allwissenden Subjekts deutet – um zu dem Passus zurückzukehren, von dem die Betrachtung ihren Ausgang nahm – weiter noch die Auflistung von Insignien des Wissenschaftlichen hin, die laut Weber auch an vorkapitalistischen Kulturen ohne voll entfalteten Wissenschaftsbetrieb, der dem modernen ebenbürtig wäre, zu gewahren sind. Hier ist nämlich in die Reihe von Nominalkonstruktionen, die die Subjektgruppe bilden (Nomina, Phrasen mit nominalem Kopf und nominalisierte Verben), ein konzessiver Nebensatz140 eingeschoben, der in eine syntaktisch rudimentäre, stichwortartig komprimierte Parenthese ausläuft. Man kann in dieser Interpolation eine orientierende Anmerkung erblicken, die vorgreifend das vorletzte Glied der Reihe (theologische Lebensweisheit tiefster Art) glossiert, indem sie dessen Geltungskraft bemisst, und an welcher somit ersichtlich wird, dass es sich bei der Aufstellung um das Erzeugnis eines souverän und nicht minder auch aktiv über seinen Stoff disponierenden Wissenschaftlers handelt. Dessen Erkenntnisleistung teilt sich nicht oder nicht primär in den Prädikaten, sondern in Selektion, Arrangement und sprachlicher Fixierung der Konstituenten der Betrachtung, hier also in der Ausgestaltung der Subjektgruppe, mit; die einem bestimmten Beweisziel verpflichtete gedankliche Auskultation der elementaren Einzelgrößen ist in deren sprachlicher Präsentation gewissermaßen kondensiert.

 140 „[. . .] obwohl die Vollentwicklung einer systematischen Theologie dem hellenistisch beeinflußten Christentum eignet (Ansätze nur im Islam und bei einigen indischen Sekten) [. . .]“ (Z. 9–11).

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  133

Diesen Exkurs soll ein Versuch beschließen, die soeben ausgespannten Zusammenhänge grafisch zu veranschaulichen. Es wird zu diesem Zweck auf eine Abbildung zurückgegriffen, die ich andernorts (Attig 2018) in Anlehnung an die terminologiewissenschaftliche Adaption des semiotischen Dreiecks konzipiert habe und nun in einer der von ihr bezeichneten Dimensionen, nämlich der sprachlichen, erweitere. Dass die emphatische Indizierung von Fachlichkeit sich möglicherweise nicht nur als Versicherung von wissenschaftlicher Solidität, sondern auch als Responsion auf eine Facette der außersprachlichen Wirklichkeit, wie sie bei Weber annotiert ist, etwa auf eine das Materielle überformende ideelle Größe, interpretieren lässt, soll hier lediglich nebenbei erwähnt werden. Dieser Gedanke bleibt für spätere Versuche aufgespart. Abstraktionsstufe

Sprachlicher Ausdruck Lexik sowie grammatische Einheiten ober- und unterhalb der Wortebene

Außersprachliche Referenz

R e s ü m e e – Im ersten Teil der Interpretation traten zwei formale Aspekte in den Vordergrund: zum einen die Parataxe als syntaktisches Muster, das den Anschein erweckt, als seien die Satzsubjekte von gedanklicher Überformung weitgehend freigehalten und als präge sich in der Erörterung eine positivistische Tendenz aus, zum anderen Nomina, welchen komplexe Wortbildungsprozesse zugrunde liegen und die nicht so sehr auf konkrete Tatbestände denn auf Denkfiguren verweisen, mithin ein Gegengewicht zu dem ersteren Moment bilden. Indem sie ihre Signifikate als reflexiv vermittelte kennzeichnen, stimmen diese nominalen Fügungen zu dem Ansatz, kulturhistorisch bedeutsame Erscheinungen, die mit dem Kapitalismus in Verbindung stehen, als Komponenten eines sie überspielenden Zusammenhangs zu begreifen, also auf ein ideelles Surplus zu beziehen.

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4.2.3.3 Z. 14–88. Sprachliche Entfaltung der Konzepte ‹Rationalität› und ‹Rationalisierung› Im Folgenden wird sich die Untersuchung den Sätzen zuwenden, die sich an das oben behandelte Textsegment anschließen. Sie können insofern als inhaltliches Scharnier angesprochen werden, als sie das ‹Rationale› zum letztlich bestimmenden Attribut des Kapitalismus erheben: Aber: der babylonischen und jeder anderen Astronomie fehlte – was ja die Entwicklung namentlich der babylonischen Sternkunde nur um so erstaunlicher macht – die mathematische Fundamentierung, die erst die Hellenen ihr gaben. Der indischen Geometrie fehlte der rationale „Beweis“: wiederum ein Produkt hellenischen Geistes, der auch die Mechanik und Physik zuerst geschaffen hat. Den nach der Seite der Beobachtung überaus entwickelten indischen Naturwissenschaften fehlte das rationale Experiment: nach antiken Ansätzen wesentlich ein Produkt der Renaissance, und das moderne Laboratorium, daher der namentlich in Indien empirisch-technisch hochentwickelten Medizin die biologische und insbesondere biochemische Grundlage. Eine rationale Chemie fehlt allen Kulturgebieten außer dem Okzident (Z. 14–24).

Diesem Abschnitt ist nicht nur der Rang eines gedanklichen Aufbauelements, sondern auch der eines textuellen Formativs einzuräumen: Führt er doch wie der vorige Passus eine musterartige lexikalische Kennung ein, durch die, wie die Lektüre zeigt, eine Vielzahl an Texteinheiten aufeinander bezogen werden kann, so dass sie als für die „Vorbemerkung“ spezifisches Kohäsionsmittel zu klassifizieren ist. Kontrapunktisch zu der Wendung hat es gegeben, welche die Schnittmenge des modernen Kapitalismus und vorgängiger Wirtschaftssysteme umreißt, designiert das selektive [Dativ] fehlt(e) [Nominativ] die Satzsubjekte als kulturelle Ermöglichungsbedingungen einer rationalen ökonomischen Praxis. Die beiden Prädikationen installieren ein grundständiges Gliederungs- und Ordnungsschema der Erörterung, dem im Folgenden vornehmlich die Rekurrenz der Formulierungen das Ansehen einer strukturellen Invariante verleiht. Daran dürfte im Übrigen auch der syntaktische Parallelismus beteiligt sein, der lediglich im letzten Satz des Textauszugs aufgegeben ist: In diesem sind den vorigen Sätzen gegenüber die Positionen von Subjekt und Objekt vertauscht, so dass ein Chiasmus entsteht.141 Die weitgehende syntaktische Gleichförmigkeit prägt den hier dargebotenen Denkeinheiten ein Repetitives als reflexiven Gestus ein, der die ganze Untersuchung über mit rigider Konsequenz beibehalten wird und von dem diese ihr spezifisches Insigne, bisweilen gar den Charakter eines intellektuellen Exerzitiums empfängt, das sich der beinahe ausschließlichen Handha 141 Die durchgängig vorkommende Konstellation Objekt – Verb – Subjekt wird hier umgekehrt: Subjekt – Verb – Objekt.

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bung eines elementaren gedanklichen Procedere verschrieben hat, welches sich in der Durchdringung des Stoffes bewährt. Es soll dessen disparate Facetten und Gesichtspunkte auf einen gemeinsamen Nenner bringen und aus ihnen derart eine Idee von Rationalität als solcher destillieren. Für dieses Verfahren ist in struktureller Beziehung ein analytischer Binarismus maßgeblich, wie er sich sprachlich in semantisch gegenläufigen Prädikationen konkretisiert, beispielhaft etwa in folgender Partie: Spitzbogen hat es als Dekorationsmittel auch anderwärts, in der Antike und in Asien, gegeben; angeblich war auch das Spitzbogen-Kreuzgewölbe im Orient nicht unbekannt. Aber die rationale Verwendung des gotischen Gewölbes als Mittel der Schubverteilung und der Ueberwölbung beliebig geformter Räume und, vor allem, als konstruktives Prinzip großer Monumentalbauten und Grundlage eines die Skulptur und Malerei einbeziehenden Stils, wie sie das Mittelalter schuf, fehlen anderweitig (Z. 49–55).142

Die Gegenüberstellung eines positiven und eines negativen Prädikats dürfte darauf schließen lassen, dass Weber der Ansicht zuneigt, es seien bei der Taxierung des kulturgeschichtlichen Stellenwertes einer Epoche deren Errungenschaften ex post ebenso eindeutig zu bezeichnen wie die Grenzen, die ihrer Innovationsfähigkeit gezogen waren. Unter dieser Voraussetzung müsste man präzise ermitteln können, was zu einem bestimmten Zeitpunkt geleistet wurde und was nicht. Diese perspektivische Voreinstellung wirkt durch die schematische Diktion regelrecht zementiert und trägt durch solche Art der sprachlichen Umsetzung zugleich entscheidend zur Ausbildung eines kompositorischen Prinzips bei, senkt sich in letzter Instanz auch in die Faktur des Textes ein: Sie wird strukturbildend. Der Fortgang der Erörterung rückt sie gleichwohl ins Zwielicht; man kann sich schwerlich des Eindrucks erwehren, dass das Konstituens des Kapitalismus zu den Posten, die auf der Soll- und Habenseite vorkapitalistischer Gesellschaften zu verbuchen sind, lediglich indirekt in Beziehung steht und dass man seiner demnach auch nicht innewird, wenn man sich darauf beschränkt, diese Posten miteinander zu verrechnen. In inhaltlicher Hinsicht ist zu der Sequenz (Z. 14–24), auf die hier das Augenmerk gelegt wird, zu bemerken, dass sie sich ihrem Oberthema, dem ‹Rationalen› als abstrakter Größe oder dem ‹Rationalen› als solchen,143 durch Auflistung von  142 Das Nomen Stil ist im Original markiert; die Verben hingegen sind von mir, M.A., hervorgehoben. 143 Webers Rationalitätsverständnis ist in der Forschung vielfach behandelt worden. Es haben sich an diesem Stoffkreis ebenso wie an seiner Erschließung durch Habermas Kontroversen entzündet, die sich etwa um die Frage drehten, ob es möglich sei, den Begriff der Rationalität so zu fassen, dass er die gesamte thematische Bandbreite der auf das Sujet bezüglichen Überle-

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dessen Manifestationsgestalten anzunähern sucht, die in bestimmten Zeiträumen in verschiedenen Bereichen begegnen. Dabei dominieren zunächst die Naturwissenschaften (einschließlich der Mathematik), bei denen sich das ‹Rationale› im methodologischen Unterbau, in archetypischen Formen des Erkennens sowie solchen der Verallgemeinerung und Ratifizierung der Befunde anmeldet. Nach der Exposition durch die Fügung die mathematische Fundamentierung – hier indiziert

 gungen Webers abdeckt. Schimank, der bei Weber eine konzeptuelle Spannung zwischen einem einheitlichen Prinzip und heterogenen Ausprägungen in unterschiedlichen Sphären ausmacht und die Position vertritt, dass Homologien und Divergenzen sich in etwa die Waage halten (vgl. Schimank 2010, 229), trifft im Grunde die gleiche Aussage wie Weber selbst, wenn er zu der Einschätzung kommt, „das Verständnis von Rationalität, Rationalismus und Rationalisierung“ sei bei jenem „von tiefgreifenden Uneindeutigkeiten geprägt“, „sodass es vielerlei inkompatible Deutungsangebote hervorgerufen hat“ (Schimank 2010, 227). Greve meint, „ein einheitlicher Begriff der Rationalität“ sei bei Weber nicht erkennbar, räumt aber seinerseits ein, dass dessen Texte immerhin eine „Identifikation unterschiedlicher Facetten“ (Greve 2006, 115) erlaubten, wobei der von ihm eingeschaltete Literaturüberblick demonstriert, dass sich die Exegeten über die Zahl dieser „Facetten“ uneins sind. Des Weiteren – um eine von Greve vorgenommene lexikalische Differenzierung wenigstens zu streifen – ist nicht einmal klar, was genau man unter Facette auf der einen und unter Dimension auf der anderen Seite zu verstehen hat: Manches spricht dafür, dass hier wie auch bei anderen Autoren etwas in Rede steht, wofür ein sprachwissenschaftlicher Terminus wie Kontextbedeutung eine konzise Bezeichnung sein dürfte. Tatsächlich begegnet man dem Ausdruck Bedeutung auch in der Forschung, so bei dem von Schimank wie von Greve genannten Brubaker, der dem Attribut rational sechzehn „apparent meanings“ unterbreitet und dabei en passant auch das Begriffspaar Denotation und Konnotation ins Spiel bringt: „[. . .] [T]he reader may well be perplexed by what appears to be a baffling multiplicity of denotations and connotations“ (Brubaker 1984, 2). Freilich gibt zumindest die zitierte Stelle keinen klaren Aufschluss darüber, ob die fraglichen Vokabeln im sprachwissenschaftlichen oder in einem allgemeineren, weniger bestimmten Sinne gebraucht sind (intuitiv scheint Letzteres näherliegend). Sollte Brubaker an die analytischen Kategorien der lexikalischen Semantik anknüpfen, so bleibt jedenfalls offen, inwieweit diese sich einer semantischen Klärung von Webers Rationalitätsverständnis dienstbar machen lassen. Es liegt darüber hinaus eine Reihe von Arbeiten vor, die in – zumeist kritischer – Auseinandersetzung mit Habermas die heterogenen Komponenten des Weber’schen Rationalitätskonzeptes in ein geschlossenes Schema einzutragen suchen. Für diese durchaus prominente Traditionslinie, auf der sich – um hier bloß einen Namen einzuwerfen – der schon erwähnte Döbert bewegt, ist kennzeichnend, dass die zu Beginn dieser Anm. formulierte Frage, ob sich die Rationalitätselemente, die Weber in den Blick nimmt, in einen regulären Begriff integrieren ließen, grundsätzlich bejaht und lediglich um den Weg, der dabei zu beschreiten sei, gestritten wird, dies aber auch durchaus lebhaft. Döbert vertritt die Position, dass ‹Rationalität› bei Weber „auf drei Ebenen kodiert“ (Döbert 1989, 246) sei und dass mittels systematisierender Rekonstruktion aus der Vogelschau zum einen die drei ‹Rationalitätsstufen› deutlich voneinander abgehoben, zum anderen die zwischen ihnen herrschenden Beziehungen nachgezeichnet werden könnten (vgl. Döbert 1989, 246). Eine Erläuterung der Bedeutung von Kodierung bleibt Döbert schuldig.

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die deverbale Abstraktbildung, dass eine in sich geregelte und stringente Praxis einen systematischen Zug annimmt und durch Ablösung vom Einzelfall zu einem Tatbestand oder einer „Gegebenheit“ avanciert – findet das ‹Rationale› in den Wendungen der rationale „Beweis“ und das rationale Experiment erstmals explizit Erwähnung. Freilich fungiert es nicht als ein Definiendum, sondern als determinierendes Attribut, das nach Weinrich dem Rezipienten die „Anweisung“ erteilt, bei der Ergründung „der genaue[n] Textbedeutung“ der nominalen Basis eine zusätzliche semantische Information, das ist im vorliegenden Falle eben ‹rational›, „als verdeutlichenden Gesichtspunkt heranzuziehen“ (Weinrich 1993, 478). Die Substantive Beweis und Experiment sind mithin unter dem Aspekt ihres ‹Rationalitätscharakters› in Augenschein zu nehmen;144 für den dritten Beleg, der hier anzuführen wäre – rationale Chemie –, gilt Entsprechendes. Die drei Nomina ordnen sich in ein gemeinsames Wortfeld – das der Naturwissenschaften – ein, sind aber auf unterschiedlichen Stufen des durch die Lexeme repräsentierten konzeptuellen Gefüges anzusiedeln: Ist mit Chemie eine ganze Disziplin bezeichnet, so referieren Beweis und Experiment auf Kernbestandteile des Methodenrepertoires, von dem die Naturwissenschaften in der Moderne ihr spezifisches Profil beziehen, für das auch die „mathematische Fundamentierung“ essentiell ist. Die Formulierung dieses letzteren Faktors kann als erster Vorstoß zu einer Erläuterung des Rationalitätsbegriffs angesehen werden, die auf das Wort rational selbst verzichtet. Auf die eben präsentierten Belege lässt sich indes  144 Wenn Weber das erste der beiden Lexeme in Anführungszeichen setzt, so lässt das vermuten, dass er das Nomen als Komponente des naturwissenschaftlichen Diskurszusammenhangs begreift und die hier anzusetzende Bedeutung, ohne näher auf sie einzugehen, von der standardsprachlichen abheben möchte. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass sich hier ein zumindest unterschwelliger Vorbehalt dem fachlichen Sprachgebrauch gegenüber bzw. ein diskreter Zweifel an der Einlösbarkeit des Anspruchs, der durch den Ausdruck an den Gegenstand herangetragen wird, anmeldet. Zum Dritten könnte man auf die Idee verfallen, dass zumindest die Möglichkeit einer Diskrepanz zwischen Zeichen und Bezeichnetem annonciert werden soll, um die Rolle des Attributs rational aufzuwerten, etwa solcherart, dass betont wird, es sei dessen Referent dasjenige, wovon der Beweis seine Beweiskraft empfängt. Diese Deutungen bewegen sich freilich notgedrungen alle im Bereich des Spekulativen. – Die Funktion der bei Weber häufig anzutreffenden Anführungszeichen ist in der Forschung bisweilen schlaglichtartig beleuchtet worden; Seyfahrt erblickt ihre Funktion darin, begriffliche Prägungen oder terminologisierte Ausdrücke als Indices „vielschichtige[r] und in sich spannungsreiche[r] Phänomene“ auszuzeichnen. Sie künden dieser Lesart zufolge davon, dass Weber Termini, wie Seyfahrt schreibt, „in höchst unterschiedlicher und kontextabhängiger, oft einfach alltags- bzw. bildungssprachlicher Weise“ gebraucht (Seyfarth 1989, 374). Nach Lichtblau haben die Anführungsstriche bei Weber die Aufgabe, die fraglichen Begriffe als Entlehnungen aus den Werken anderer Denker kenntlich zu machen und zugleich anzuzeigen, dass Weber sie nicht in der Bedeutung benützt, die ihnen jene Autoren unterlegt haben, sondern sie „umzudefinieren“ trachtet (Lichtblau 2006, 246).

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die These stützen, dass eine Begriffsklärung unter Aussparung des Begriffs selbst nicht ohne Weiteres möglich und das ‹Rationale› – weil im vollen Sinne unhintergehbar – nicht anders denn im Rekurs auf es selbst erfassbar ist. Im Übrigen kann man den genannten Stellen bei einer Sichtung der ersten Textseiten eine Vielzahl weiterer beigesellen, welche ein überaus breites thematisches Spektrum zeigen, in das Wissenschaft und Kunst einbeschlossen sind. Dabei finden wiederum Einzeldisziplinen und Kunstarten ebenso Berücksichtigung wie deren strukturelle Konstituenten: „die rationalen Begriffe“ (Z. 27) (als Signum und zugleich Bedingung einer systematischen Staatswissenschaft), „eine rationale Rechtslehre“ (Z. 27f.), „[a]lle unsere rationalen Tonintervalle“ (Z. 37), „rationale harmonische Musik“ (Z. 38), „in rationaler Form“ (Z. 40f.), „die rationale Verwendung des gotischen Gewölbes“ (Z. 51) u.a. Diese Aufstellung legt die Vermutung nahe, dass das Attribut nicht nur die Funktion besitzt, die Substantive semantisch zu spezifizieren, sondern auch die, sie inhaltlich miteinander zu verklammern; es leistet dies, indem es ein Merkmal aus ihnen herausfiltert, das sie aller Differenzen unbeschadet miteinander teilen sollen. Das ‹Rationale› wird in Umkehrung des üblichen Verfahrens durch seine Kontextualisierung, konkreter dadurch, dass die nominalen Determinanda auf seine lexikalische Repräsentation – auf das Attribut – zurückstrahlen und so an seiner semantischen Modellierung mitwirken, inhaltlich ausbuchstabiert; förmlich bzw. regelrecht definiert wird es demnach nicht: Hier liegt vielmehr eine konzeptuelle Setzung vor, die erst allmählich Kontur gewinnt. Man kann auch zu der Auffassung gelangen, dass das ‹Rationale› vermittels der minuziösen Aufzählung seiner Manifestationsgestalten in seinem konzeptuellen Kern wohl nicht getroffen, aber doch eingekreist wird: Diese Formulierung soll der Zirkularität des Weber’schen Verfahrens, die hier ihre produktive Kehrseite zeigt, Rechnung tragen. Unter den oben versammelten Wendungen sticht die – gemessen an den übrigen – sehr expansive Genitivphrase rationale Verwendung des gotischen Gewölbes heraus, die den Kopf eines ausladenden Nominalkomplexes bildet.145 Dieser Beleg divergiert von den anderen darin, dass das Attribut mit einer deverbalen Abstraktbildung kombiniert ist und dementsprechend der Charakterisierung nicht mehr einer statischen Größe, die, wenn auch rein gedanklicher Natur, so doch in sich konsistent ist, sondern einer Tätigkeit dient, die gewissermaßen Selbstän-

 145 „[. . .] die rationale Verwendung des gotischen Gewölbes als Mittel der Schubverteilung und der Ueberwölbung beliebig geformter Räume und, vor allem, als konstruktives Prinzip großer Monumentalbauten und Grundlage eines die Skulptur und Malerei einbeziehenden Stils, wie sie das Mittelalter schuf [. . .]“.

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digkeit erlangt, sich als Faktum etabliert hat und derart eine Praxis der „Rationalisierung“ heraufführt, wie sie im nachfolgenden Satz namhaft gemacht wird: Ebenso aber fehlt, obwohl die technischen Grundlagen dem Orient entnommen waren, jene Lösung des Kuppelproblems und jene Art von „klassischer“ Rationalisierung der gesamten Kunst – in der Malerei durch rationale Verwendung der Linear- und Luftperspektive – welche die Renaissance bei uns schuf (Z. 55–59).

Darf man vermuten, dass Weber von einem bewussten, kalkulierten Disponieren über ein architektonisches Gestaltungsmittel auf eine Wirkkraft an sich, will heißen: auf eine solche, die von individuellen Akteuren vollends entkoppelt ist,146 extrapoliert? Der Aufbau des von Z. 55 bis 59 reichenden Satzgebildes scheint eher nahezulegen, dass es sich umgekehrt verhält, denn es wird dem Lexem Rationalisierung, das ein Resultat zweier Wortbildungsprozesse – der Nominalisierung eines deadjektivischen Verbs – und damit ein sprachliches Fixativ zweistufiger Abstraktion ist,147 die Fügung rationale Verwendung hinterhergeschickt, die bereits im vorigen Satz figurierte, und, wie aus der instrumentalen Präposition durch erhellt, der ‹Rationalisierung› als Mittel oder als Ermöglichungsbedingung zugeordnet. Mit Blick auf den von Weber durchschrittenen Stoffkreis wäre zu sagen, dass eine reflexiv kontrollierte ästhetische Verfahrensweise sich in einer Kunstgattung so lange verbreitet, bis sie von dieser nicht mehr zu trennen, ja zu einem sie konstituierenden Faktor geworden ist. Die argumentative Logik des Textes betreffend, kann man zu der Einschätzung gelangen, dass die Dynamisierung des ‹Rationalen› innerhalb der Darlegung eine einschneidende Zäsur vorstellt, insofern sie den gedanklichen Fluchtpunkt aufdeckt, auf den das Vorige – die Aufzählung der ‹Rationalitätsmomente› in einer bestimmten Reihenfolge – eingenordet war: Um die

 146 Die Interpretation ist in Ansatz und Durchführung den sogenannten „Textgrammatischen Kommentaren“ von Weinrich verpflichtet, insofern sie einer grammatischen Form einigermaßen konsequent eine Ausdrucksfunktion beizumessen sucht. Sie geht jedoch darin über ihr Vorbild hinaus, dass sie die Prozeduren der Wortbildung, die die jeweilige Form hervorbringen, ihrerseits auf ein Motiv zurückzuführen sucht und derart als Reflexe gedanklicher Prozesse versteht, bei deren Kennzeichnung sie sich allerdings notgedrungen mit Hypothesen behilft. Im hier vorliegenden Fall bedeutet dies, dass den Effekten der deverbalen Nominalisierung konzeptuelle Korrelate an die Seite gestellt werden, die in ihnen wenigstens ansatzweise zur Ausprägung gelangen sollen. 147 Hier kann man von einer denkbar knappen, geradezu chiffrierten Annotation des Sujets durch Anführungszeichen sprechen: Ob es sich um eine Referenz an eine – sei es allgemeine, sei es spezifische – Redeweise oder um angedeutete Distanzierung handelt, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden.

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Größen, die um das Stichwort rational zentriert sind, in ihrer Besonderheit erfassen zu können, muss man sie als Kondensate oder Kristallisationen einer Praxis oder, grundsätzlicher, eines sich in kollektivem Handeln offenbarenden Prinzips interpretieren. Dieses Prinzip wird man sich so vorstellen können, dass ihm eine irreduzible performative Qualität innewohnt, und es mag zum ungeschriebenen Programm gehören, das Weber mit seiner Begriffsmodellierung verfolgt, das zunächst primär auf seinen Gehalt hin angesehene Prinzip in eine ihm zugehörige Prozessgestalt zu überführen, es durch eine Figur zu umschreiben. Damit ist auch der gedankliche Spannungsbogen der Kapitalismusdefinition im Ganzen nachgezeichnet, von der das Motiv der ‹Rationalisierung› einen – auch strukturell bedeutsamen – Baustein bildet, obwohl es für sich genommen noch keine deutliche Vorstellung von Abstraktionsniveau und thematischer Reichweite der Darlegungen Webers vermittelt. Ehe sich die Erörterung mit dem Fortgang der „Vorbemerkung“ beschäftigt, sollen noch einige der Momente ins Auge gefasst werden, die der Text in den Zusammenhang der ‹Rationalisierung› eingruppiert oder auch direkt zur inhaltlichen Schärfung dieses Konzeptes aufbietet. Manche einschlägige Informationen lassen sich der Fügung rationalen und systematischen Fachbetrieb der Wissenschaft: das eingeschulte Fachmenschentum (Z. 64f.) entnehmen, aus der – zwecks Anschlusses an die vorige Betrachtung – die beiden Attribute vor Fachbetrieb herausgegriffen werden sollen. Zwar muss das gegenseitige Verhältnis der Adjektive als unbestimmt gelten, weil die Stelle neben dem semantisch blassen und keine zusätzliche Partikel enthält, die eine inhaltliche Differenzierung bewerkstelligte, doch dürfte dessen ungeachtet die Schlussfolgerung opportun sein, dass die Attribute mehr miteinander verbindet als das Substantiv, auf das sie sich beziehen. Das hieße dann, dass systematisch Licht auf das als „rational“ Apostrophierte wirft; diese Weiterung wird wohl zusätzliche Plausibilität gewinnen, wenn man als gedanklichen Hintergrund präsent hält, was eben über das Signifikat ‹Rationalisierung› ausgeführt wurde.148 Darüber hinaus dürfte systematisch in seiner Semantik auch mit der Determinationsbasis (Fachbetrieb) kongruieren, wenn man nämlich voraussetzt, dass  148 Die Aspekte der ‹Rationalität› und ‹Systematizität› wurden bereits vorher, nämlich im Kontext der Bemerkung über die „asiatische[] Staatslehre“, nebeneinander gestellt – „eine der aristotelischen gleichartigen Systematik und die rationalen Begriffe überhaupt“ (Z. 26f.) –, jedoch ohne dass sich ein greifbarer inhaltlicher Konnex abgezeichnet hätte. Ferner verbucht die oben angeführte konzessive Interpolation obwohl die Vollentwicklung einer systematischen Theologie dem hellenistisch beeinflußten Christentum eignet (Z. 9–11) das ‹Systematische› in Anlage und Ausführung als Eigentümlichkeit des Christentums, dem in Gestalt der Theologie eine eigene Wissenschaft angegliedert und auf das somit letztlich auch der ‹Rationalitätsmaßstab› anzuwenden ist.

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durch das Morphem -betrieb im Kompositum die Vorstellung durchorganisierten und stringent choreographierten Handelns angeschlagen wird. Adjektiv und Substantiv führen somit auf zentrale Facetten des Rationalisierungsbegriffs. Die Apposition das eingeschulte F a c h m e n s c h e n t u m – nicht nur verdeutlichende Variation des Ausdrucks, sondern erläuternde Annotation, wie am Doppelpunkt als diskursiver Geste ersichtlich wird149 – hebt darauf ab, dass die wissenschaftliche Praxis ihren Sachwaltern ein Signum aufdrückt, das diese fortan beibehalten und das zugleich den Ankerpunkt für die theoretische Verallgemeinerung markiert, welche in Gestalt des Kompositums eine sprachliche Abbreviatur erhält. ‹Fachmenschentum› ist eine Art Gattungsbegriff, der die ihm untergeordneten gesellschaftlichen Akteure auf die eine Eigenschaft reduziert, Vollstrecker oder auch lediglich Personifikationen der Rationalisierung als einer abstrakten, übergesellschaftlichen Tendenz zu sein. Das Folgende rückt einen – gewiss paradigmatischen – Repräsentanten des ‹Fachmenschen›, der dem Begriff subsumiert werden kann, sofern man dessen Geltungsbereich über die Wissenschaft hinaus erweitert, nämlich den sogenannten „Fachbeamten“, ins Gesichtsfeld. Tatsächlich figuriert dieser Typus als Scharnier zwischen der Wissenschaft auf der einen und dem Staatswesen sowie der Wirtschaft auf der anderen Seite, da das Kompositum, das den Typus codiert, über das Morphem Fach- anaphorisch mit der Fügung Fachmenschentum verklammert ist und jener zugleich als tragender Pfeiler der modernen Organisationskultur tituliert wird. Der Fachbeamte ist demnach für die systematische Verflochtenheit der genannten Sphären im modernen Okzident, für die Existenz einer diese Sphären überdachenden Totale, von welcher Art sie auch sein mag, dokumentarisch. Tatsächlich kann man in dem ausladenden Syntagma die absolut unentrinnbare Gebanntheit unserer ganzen Existenz, der politischen, technischen und wirtschaftlichen Grundbedingungen unseres Daseins, in das Gehäuse einer fachgeschulten Beamtenorganisation (Z. 71–74) einen ersten deutlichen Fingerzeig auf jenes den einzelnen Typen übergeordnete Abstraktum erblicken, dem hier über die Metapher Gehäuse eine verhältnismäßig konkrete konzeptuelle Repräsentationsgestalt zugeteilt wird. Das deverbale Substantiv Gebanntheit zielt darauf ab, die Bindung moderner Existenz an den Ordo des ‹Rationalen› zum Faktum zu erheben oder – um seine textgrammatische Funktion zu bezeichnen – diesen Aspekt als wissenschaftliches

 149 In der Tat ist die Interpunktion bei Weber nicht selten erläuternden Charakters; sie gibt Auskunft über logische Abhängigkeitsverhältnisse und andere Beziehungen zwischen einzelnen Momenten.

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Sujet zu umreißen bzw. zu rhematisieren.150 Von der semantischen Seite her angesehen ist dieses Nomen – zumal in Kombination mit der attributiven Fügung absolut unentrinnbare – gleichwohl zumindest prima vista irritierend, weil es mythisierenden Assoziationen Raum gewährt, die mit dem Rationalitätskonzept kaum verträglich sein dürften. Dieser Befund ist indes mitnichten singulär, denn es wird späterhin noch die – wiederum superlativische – Wendung mit der schicksalsvollsten Macht (Z. 89) auftauchen, die den in Rede stehenden evokativen Gehalt nachgerade explizit macht. Die Fixierung an einen streng durchrationalisierten Strukturzusammenhang, so ist zu konstatieren, unterliegt unbedingter und demgemäß logisch nicht mehr erklärbarer Notwendigkeit, oder aber – um eine etwas vorsichtigere Formulierung anzubringen – die Erörterung ist dort, wo sie dies Thema anschneidet, von einem Vokabular infiltriert, das den Rationalitätsbegriff mit semantischen Komponenten anreichert, die nicht durch ihn gedeckt oder sogar zu ihm konträr sein dürften. Es handelt sich um einen Befund, den man, dem für diese Studie leitenden Wortgebrauch entsprechend, als ‹zwieschlächtig› einschätzen kann. Das eben Festgehaltene lässt sich dahingehend deuten, dass Webers Text zumindest auf der semantischen Ebene Anstalten macht, dem ‹ens rationale› auf den Grund, vielleicht auch dahinter zurückzugehen, so als stehe zu erwarten, dass sich derart noch etwas Anderes aufspüren lasse. Es würde allerdings zu weit führen, wollte man behaupten, dass dieser Impetus Verschiebungen innerhalb der Argumentation zum Ergebnis habe oder selbst thematisch werde, denn es ist schwer vorstellbar, wie das geschehen könnte, ohne dass die Untersuchung insgesamt von ihrem gedanklichen Kurs abschwenken würde. Erhebt sie den Anspruch, der „Grundbedingungen“ der modernen „Existenz“ gewahr geworden zu sein, wäre es ungereimt, wenn nun an den Tag kommen sollte, dass diesen Bedingungen eine Größe von ganz anderer Qualität vorgelagert ist. Somit wird man vorerst nur davon sprechen können, dass ein rudimentäres oder auch apokryphes Reflexionssubstrat vorliegt, bei dessen näherer Bestimmung man sich, zumindest soweit es Webers Text betrifft, notgedrungen wieder auf dem Boden von Mutmaßungen bewegt. Gleichwohl kann man sagen, dass es mitunter den Anschein hat, als laufe in der „Vorbemerkung“ etwas mit, das keine diskursive Behandlung er 150 Der Ausdruck ist hier in dem Sinne zu verstehen, den ihm Weinrich unterbreitet. Dieser handhabt einer stilbildenden textlinguistischen Richtung folgend die Termini Thema und Rhema als Mittel zur Differenzierung zwischen weniger auffälligen und auffälligeren Informationen (vgl. Weinrich 1993, 25). Die Begriffe geben jedoch augenscheinlich nur zentrale Merkpunkte auf einer breiten Skala von Abstufungsmöglichkeiten ab, die sich durch Einsatz aufmerksamkeitssteuernder sprachlicher „Signale“ und deren Kombinationen aktualisieren lassen (vgl. hierzu Weinrich 1993, 26).

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fährt, also nicht begrifflich gefasst wird. Nimmt man Webers Text so wahr, tendiert er in seiner Lexik über die reflexiven Inhalte hinaus bzw. sind nicht alle der in ihm enthaltenen Informationen gedanklicher Durchdringung und argumentativer Verarbeitung zugeführt. Zur Ausgestaltung des ‹Rationalitätsprinzips› gehört darüber hinaus – um nochmals auf die Rolle des Beamten zurückzukommen –, dass den genannten „Grundbedingungen“ jeweils ein korrespondierender Funktionsträger zugeordnet wird; man könnte meinen, dass in jedem der Typen, die Weber aufbietet, eine wesentliche Facette der sozialen Wirklichkeit personifiziert ist. Dabei sollen offenkundig der Aspekt der Spezialisierung und, davon untrennbar, eben dasjenige Moment, dem die Charakterisierung des Beamten als eines Funktionsträgers zum Ausdruck verhilft, das genuin Moderne und Westliche ausmachen. Danach151 wird das Motiv der ‹Organisiertheit›, das in den Ausführungen über die Beamtenschaft zum Tragen kam, präzisiert und weiter ausgesponnen, wie am Attribut ständisch (Z. 77), das durch die typographische Hervorhebung von Weber als rhematische Information ausgewiesen ist, und am inhaltlichen Ausgreifen auf „politische[] und soziale[] Verbände“ (Z. 77) ersichtlich wird. Gegen diese Manifestation eines ‹Organisierungswillens›, in dem das Streben nach ‹Rationalisierung› eine beispielhafte Ausprägung erlangt, wird der „Ständestaat“ (Z. 78) als eine ausschließlich okzidentale Erscheinungsform ausgespielt, wobei freilich die lexikalische Übereinstimmung zwischen dem ersten Bestandteil des Kompositums und dem soeben erwähnten Attribut an einen strukturellen oder auch genetischen Zusammenhang denken lässt. Ein Verweis auf das Parlament als institutionelles Organon repräsentativer Herrschaft leitet über zu einer Betrachtung des modernen Staates im Allgemeinen und eines zu ihm gehörigen Phänomens, durch das er sich von seinen Vorformen fundamental unterscheiden soll und das sprachlich in der Adjektivphrase

 151 Die im Anschluss vorgetragenen Überlegungen beziehen sich auf folgendes Textsegment: „Ständische Organisation der politischen und sozialen Verbände ist weit verbreitet gewesen. Aber schon den Ständestaat: ,rex et regnum‘, kannte im okzidentalen Sinn nur der Okzident. Und vollends Parlamente von periodisch gewählten ,Volksvertretern‘, den Demagogen und die Herrschaft von Parteiführern als parlamentarisch verantwortliche ,Minister‘ hat – obwohl es natürlich ,Parteien‘ im Sinn von Organisationen zur Eroberung und Beeinflussung der politischen Macht in aller Welt gegeben hat – nur der Okzident hervorgebracht. Der ,Staat‘ überhaupt im Sinn einer politischen Anstalt, mit rational gesatzter ,Verfassung‘, rational gesatztem Recht und einer an rationalen, gesatzten Regeln: ,Gesetzen‘, orientierten Verwaltung durch Fachbeamte, kennt, in dieser für ihn wesentlichen Kombination der entscheidenden Merkmale, ungeachtet aller anderweitigen Ansätze dazu, nur der Okzident“ (Z. 77–88).

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rational gesatzt152 (Z. 84) sedimentiert ist. Deren Wiederholung in dem Segment „Der ,Staat‘ überhaupt im Sinn einer politischen Anstalt, mit rational gesatzter ,Verfassung‘, rational gesatztem Recht und einer an rationalen, gesatzten Regeln: ,Gesetzen‘, orientierten Verwaltung [. . .]“ (Z. 84–86) legt auf das zu erläuternde Moment besonderen Nachdruck und weist es außerdem als eine die verschiedenen staatlichen Einrichtungen umfangende Spielart des ‹Rationalen› aus. Das Bild des Staates als, wie es im Text heißt, „politischer Anstalt“ (Z. 84), will sagen: als institutioneller Rahmung regelhaft sich vollziehenden politischen Handelns, formt sich in der reihenden Aufzählung einiger seiner exemplarischen Organe ab, die durch einheitliche Attribuierung miteinander verfugt und auf diese Weise als gleichsinnig designiert sind. Das uniforme Prinzip, das das Gemeinwesen in allen seinen Einheiten bis zu seiner Unterlage hinab durchherrschen soll, ist folglich durch eine lexikalische Invariante hervorgetrieben. In der Reihenform ist wiederum eine weitere, womöglich noch gewichtigere Mitteilung, die man als Scheitelpunkt der Argumentation ansehen kann, dass es nämlich eine für Herausbildung und Bestand des Staates „wesentliche[] Kombination“ von „entscheidenden Merkmale[n]“ (Z. 87) gebe, präfiguriert, was hier im buchstäblichen Sinne: als gestalthafter Vorgriff auf das Element des Kombinatorischen zu verstehen ist. Damit erhält dasjenige, was den Einzelmomenten übergeordnet ist und auch von einer an diesen vorrückenden Begriffsmodellierung berücksichtigt werden muss, eine lexikalische Füllung, die den Akzent nun aber auf das Miteinandervorkommen der Details fallen und nichts weiter darüber verlauten lässt, inwieweit es sich um ein Ganzes mit einem spezifischen Eigengewicht handelt. Dessen ungeachtet geht aus den Darlegungen etwa zur Beamtenschaft deutlich hervor, dass das Resultat der Verbindung sich zumindest der auktorialen Instanz des Textes, wenn nicht allen Bürgern, in einer ganz konkreten institutionellen Gestalt, nämlich, wie es oben hieß, als „Gehäuse“ (Z. 73), präsentiert. Dass man in dem Stadium, in das die Erörterung an diesem Punkt eingetreten ist, die Gruppierung der Merkmale als das einzig Ausschlaggebende zu beurteilen hat, das folgt daraus, dass der Theoretiker, wenn er die empirischen Komponenten des modernen Staates voneinander isoliert, von jenen unmöglich auf diesen selbst, auf seine konzeptuelle Verfasstheit zu extrapolieren vermag. Das gilt auch dann, wenn man darauf verzichtet, die einzelnen Größen in eine Rangfolge zu bringen und so ihr wechselseitiges Verhältnis festzulegen. Schwierigkeiten, wie sie bei dem Versuch auftreten, Einsicht in die innere Struktur des modernen Kapitalismus zu gewinnen, sind somit auch dann zu gewärtigen, wenn man zu einer  152 Hier wie auch an anderer Stelle werden Attribute (oder Phrasen, die solche enthalten) zwecks besserer Lesbarkeit in unflektierter Form dargeboten.

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Definition des modernen Staates als eines mit dem Kapitalismus innig verschränkten Gebildes ansetzt. Der aporetische Grundzug der wirtschaftlichen Ordnung teilt sich allen mit dem Staat verflochtenen Erscheinungen mit, so dass diese bei einer streng oder ausschließlich analytischen Behandlung in analoger Weise zerfallen wie jene Ordnung selbst. R e s ü m e e – Der zweite Teil der Interpretation von Webers „Vorbemerkung“ war dem Stoffkreis ,Rationalität und Rationalisierung‘ gewidmet. Es zeigte sich, dass das Attribut rational nicht einer regulären Definition zugeführt, sondern durch Kontextualisierung – dadurch nämlich, dass die nominalen Determinanda, mit denen es in Beziehung steht, auf das Wort zurückwirken und so zu seiner semantischen Konfigurierung beitragen – aufgeschlüsselt wird. Der Begriff der ‹Rationalität› lässt sich ebenso wenig bündig bestimmen wie der des ‹Kapitalismus›. Es ergab sich ferner, dass die um ‹rational› gruppierten Momente auf ein Prinzip der ‹Rationalisierung› zurückgehen, das eine von ihm nicht abtrennbare performative Qualität aufweist, der Weber ebenso gerecht zu werden sucht wie seinem Inhalt. Zum Dritten wurde deutlich, dass die Erörterung dem Rationalitätsbegriff semantische valeurs einsenkt, die sich augenscheinlich nicht ohne Weiteres mit seinem Bedeutungskern in Übereinstimmung bringen lassen. Viertens fand Webers Behandlung institutioneller Grundlagen der ‹Rationalität›, insbesondere solcher im modernen Staat, Berücksichtigung.

4.2.3.4 Z. 89–162. Gedanklich-sprachliche Figuren aporetischer Theoriebildung Mit der nachfolgenden Konstatierung, die Bilanzcharakter trägt – „Und so steht es nun auch mit der schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens: dem Kapitalismus“ (Z. 89f.) –, wird der inhaltliche Hauptstrang der Erörterung wieder aufgenommen; die auktoriale Instanz gibt zugleich zu verstehen, dass sie sich anschickt, in die Konstitutionsbedingungen des ‹Kapitalismus› hineinzuleuchten. Die Feststellung fällt demnach als markanter Punkt auf der thematischen Verlaufskurve des Textes ins Auge. Die anaphorische Deixis [u]nd so bringt in Verbindung mit nun auch zur Anzeige, dass die Erläuterungen zur ‹neuzeitlich-westlichen Rationalität› mit ihrer Quintessenz dem, was nun kommt, den Boden bereitet oder den Fortgang der Darlegung sogar präjudiziert haben. Es wird angekündigt, dass sich die wirtschaftstheoretischen Ausführungen, die ein Fixativ der Begriffskomposition ergeben sollen, in einen sich weit über das rein Ökonomische hinaus dehnenden Erklärungszusammenhang einreihen werden, der sowohl das Bedürfnis nach enzyklopädischer Breite, wie es dem kulturwissenschaftlichen Movens der Untersuchung entspricht, als auch das nach methodologischer Stringenz abgilt und die Darlegung in entscheidenden Zügen exponiert. Weiterhin darf die Stelle aus inhaltlichen Gründen Aufmerksamkeit beanspruchen, denn es handelt sich um die im Vorigen bereits erwähnte, in der We-

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bers Vorstellung vom Kapitalismus explizit mit einer mythischen oder numinosen Kraft („Macht“) gleichgeschaltet und so überaus emphatisch als schlichtweg unabwendbares Widerfahrnis apostrophiert wird. So scheint, wie oben angemerkt wurde, dem modernen Wirtschaftsbetrieb, in welchem doch das ‹Rationale› seine konsequenteste praktische Umsetzung gefunden und sich auf das Äußerste verfestigt haben soll, eine zumindest unterschwellige Inklination zum ‹Irrationalen› beigemessen. Dabei dürfte die sehr pointierte Fügung schicksalsvollste Macht, die eine solche Wirkung zeitigt, zu dem Zweck gebraucht sein, den Kapitalismus qua Phänomen ein Stück weit von den zuvor genannten Faktoren, denen er sich verdanken mag, mithin von seinen mutmaßlichen historischen Grundlagen, abzurücken. So ist dem Umstand Rechnung getragen, dass seine Ermöglichungsbedingungen, die Anhaltspunkte für seinen Entwicklungsverlauf liefern, seine Entstehung nicht hinreichend zu motivieren scheinen und dass er sich in der Gestalt, die er in der Moderne erlangt hat, nicht mehr an konkrete Formative – solche, die die Forschung eruiert – zurückbinden lässt. Er entwächst einem Prozess, den er qualitativ übersteigt, wie wenn er einen Schub empfangen hätte, der ihn über seine Entwicklungsbahn, wie sie von der Kulturgeschichtsschreibung nachgezeichnet wird, hinausträgt. Nach Weber mutet der ‹Kapitalismus› in der Gestalt, in der er das gesellschaftliche Leben beherrscht, also im Zustand größter Potenzierung, nachgerade verabsolutiert an, was gewissermaßen Reversbild einer analytischen Problematik ist, die im Kern darin besteht, dass es nicht glücken will, eine Wirkung zwingend auf die als Ursachen in Frage kommenden Gegebenheiten zurückzuführen. Misslingt es, Phänomene, die mit der Mobilisierung immer neuer wirtschaftlicher und sonstiger ‹Rationalitätsmittel› zusammenhängen und die sich dem Stichwort ,Verselbständigung des Kapitalismus‘ subsumieren lassen, mittels bewährter wissenschaftlicher Ätiologie in ihrer inneren Logik zu begreifen, so spielen diese Phänomene ins ‹Irrationale› hinüber, wenn sie nicht gleich vollends einen opaken Anstrich erhalten. Die Mythisierung des Kapitalismus in dem hier zu erläuternden Satz wirft auf dieses Moment ein Schlaglicht; es wird jedoch nicht expliziert oder begrifflich ausgeführt und verlangt deshalb nach einer Interpretation, die es aus der Aussage herausdestilliert. Zu solcher Implizitheit könnte ein rhetorisches Kalkül, etwa das Bestreben, das fragliche Sujet von seiner äußeren Manifestation her in den Blick zu nehmen, oder auch die Befürchtung, eine diskursive Behandlung könne den Argumentationsstrang verwirren, den Anstoß gegeben haben. Womöglich aber liegen die Dinge auch so, dass hier etwas nur angerissen, nicht zur vollen gedanklichen Entfaltung gebracht ist, weil es durch die Maschen des terminologischen Netzes schlüpft oder eher: weil seine Erklärung mit Anlage und Zielsetzung der Untersuchung in Konflikt geriete. Der Möglichkeit eines dialektischen Umschlags

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  147

des ‹Rationalitätsprinzips›, die hier am Horizont aufschimmert, ist Weber durchaus innegeworden. Als Nächstes setzt eine Sequenz ein, die in Fortführung des bereits erprobten Verfahrens Faktoren, die ex eventu als Pfeiler des ‹Kapitalismus› apostrophiert wurden, aus der Reihe seiner Attribute ausstreicht: „Erwerbstrieb“, „Streben nach Gewinn“, nach Geldgewinn, nach möglichst hohem Geldgewinn hat an sich mit Kapitalismus gar nichts zu schaffen. Dies Streben fand und findet sich bei Kellnern, Aerzten, Kutschern, Künstlern, Kokotten, bestechlichen Beamten, Soldaten, Räubern, Kreuzfahrern, Spielhöllenbesuchern, Bettlern: – man kann sagen: bei „all sorts and conditions of men“, zu allen Epochen aller Länder der Erde, wo die objektive Möglichkeit dafür irgendwie gegeben war und ist. Es gehört in die kulturgeschichtliche Kinderstube, daß man diese naive Begriffsbestimmung ein für allemal aufgibt. Schrankenloseste Erwerbsgier ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus, noch weniger gleich dessen „Geist“ (Z. 91–100).

„Erwerbsgier“, so kann man resümieren, ist Weber zufolge nicht als strukturelle Voraussetzung für den ‹Kapitalismus› aufzufassen – eine These, die mit durchaus beträchtlichem darstellerischen Aufwand lanciert und verfochten wird. Das lässt im ersten der zitierten Sätze bereits die mehrgliedrige Auszeichnung des in Rede stehenden Phänomens (in textgrammatische Terminologie übertragen: des Rhemas), die als Klimax gestaltet ist – „Erwerbstrieb“, „Streben nach Gewinn“, nach Geldgewinn, nach möglichst hohem Geldgewinn [. . .] –, erkennen. Offenbar geht es um mehr als um den Abruf kurrenter Stichwörter oder ökonomischer Gemeinplätze, die durch die Anführungszeichen als Zitate, als Einsprengsel aus einem fremden, nicht näher bestimmten Diskurszusammenhang gestempelt sind, der auch im weiteren Verlauf bisweilen noch aufschimmern wird. Tatsächlich wird in einer Art mimetischen Reflexes das Besondere des Signifikats in den Ausdruck hereingeholt, nämlich durch sprachliche Akkumulation, durch eine Steigerung, der im Nachfolgenden die apodiktisch vorgetragene Behauptung, es sei dies Moment für den ‹Kapitalismus› nicht von Relevanz, gewissermaßen Einhalt gebietet. Die Konstruktion dürfte mithin abermals auf einen dramaturgischen Effekt berechnet sein: etwa auf eine Zuspitzung des Kontrastes zwischen vermeintlicher Repräsentativität eines Phänomens und seiner tatsächlichen Marginalität, wie sie erst einer tiefschürfenden, dem bloßen Augenschein misstrauenden Analyse aufgeht. Die Entwertung desjenigen Moments, das bei anderen Forschern den Hauptakzent trägt, wird mit darstellerisch-rhetorischen Mitteln instrumentiert und nimmt dabei das Gepräge einer expressiven Gebärde an, so dass man meinen könnte, es seien hier latente Affekte im Spiel. Auch im folgenden Satz scheint die sprachliche Darbietung sich nicht auf die passgenaue Artikulation des propositionalen Gehaltes zu beschränken, son-

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dern diesen sogleich in einen breiten und reich orchestrierten argumentativen Durchführungsteil mit polemischer Intonation einzubetten. Jedenfalls empfängt man den Eindruck, dass die Mitteilung der theoretischen Einsicht mit subsidiären Informationen angereichert ist, die in ihrer Fülle über ihren vordergründigen Zweck – die Exemplifizierung oder Veranschaulichung der These – hinausreichen. Diese Einschätzung ist insbesondere auf die recht umfängliche Liste von Akteuren gemünzt, welche die für den Satz zentrale Aussage – dass der Wunsch nach Vermehrung materiellen Gewinns „bei ,all sorts and conditions of men‘ [. . .]“ (Z. 95) anzutreffen sei – präjudizieren, das heißt: sie im Sinne einer vorgeschalteten Beleggruppe als zutreffend erweisen soll. Die Reihung mutet aufgrund ihrer schieren Länge ebenso minuziös wie erschöpfend an und stellt Akkuratesse somit durchaus strategisch als Gebärde zur Schau, um den mit der denkbar pauschalen Äußerung erhobenen Geltungsanspruch zu rechtfertigen. An der Aufzählung ist weiter noch die Neigung zur Nivellierung sozialer und sonstiger Unterschiede hervorzuheben: Es werden ohne ersichtliche hierarchische Abstufung die disparatesten Typen nacheinander aufgeführt,153 wobei solche, die einen regulären, gesellschaftlich geachteten Beruf ausüben, zum Beispiel Ärzte, ihren Platz neben sozial Stigmatisierten oder prekären Existenzen finden. Dass dabei „bestechliche Beamte“ direkt neben „Kokotten“ figurieren und darüber hinaus ausgerechnet „Bettler“ das letzte Glied der Kette bilden, wird schwerlich ein Zufall sein; das Arrangement hat vielmehr das Ansehen, als wirke ein – inhaltlich schwer fassbarer – polemischer Impetus im Hintergrund, der zuweilen ins Mokante oder gar in Ranküne abgleitet. Es mag sein, dass Weber es darauf anlegt, die übliche Auffassung, gegen die er sich wendet, nicht nur argumentativ zu entkräften, sondern auch zu karikieren, durch Zuspitzung ihre Kurzsichtigkeit darzutun, indem er suggeriert, dass sie ausgerechnet einen Zug als Hauptcharakteristikum des Kapitalismus verbucht, den Kokotten, bestechliche Beamten und Spielhöllenbesucher, sämtlich doch wohl dubiose Gestalten, miteinander gemein haben – wie wenn diese Musterbilder des umsichtig disponierenden ‹Kapitalisten› verkörperten. Die für das Verständnis keineswegs erforderliche Aufstellung gewönne durch eine solche Deutung einen funktionalen Wert, würde auf ihre tendenziöse Absicht transparent.

 153 Eventuell hat Weber es bei der Ausgestaltung der Reihe zumindest am Rande auch auf Klangwirkungen wie die vierfache Alliteration in der Trias Kutschern, Künstlern, Kokotten angelegt; die Frage, ob und inwieweit man den phonetischen Korrespondenzen eine Ausdrucksfunktion konzedieren kann, kann an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden.

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  149

Die Kritik, die sich hier anbahnt und sodann unüberhörbar im Vorwurf der Naivität äußert,154 gipfelt in einer Reprise des Weber’schen Arguments, die der traditionellen Ansicht vermittels demonstrativer Negationsformeln (nicht im mindesten, noch weniger) eine unmissverständliche Absage erteilt. Den Grund dafür liefert der nachfolgende Satz – Kapitalismus kann geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung, dieses irrationalen Triebes (Z. 100f.) –, indem er das Gewinnstreben als ‹triebhaft› und in eins damit als ‹irrational› etikettiert, um im Gegenzug die Dämpfung und Steuerung von ‹Trieben› zum Insigne des ‹Rationalen› zu erheben: Dessen ideelles Profil wird folglich durch Kontrastierung geschärft. Die Modalisierung der Proposition durch können signalisiert gleichwohl,155 dass die tatsächlichen Verhältnisse damit noch nicht recht getroffen sind und die Erörterung sich ihnen lediglich annähert oder sie auch umschreibt; das Modalverb treibt der Einlassung einen weniger spekulativen als orientierenden Zug ein, stellt sie als richtungsweisend hin. Zwar räumt Weber unmittelbar im Anschluss ein, der ‹Kapitalismus› sei „identisch mit dem Streben nach Gewinn“ (Z. 102), schickt dem jedoch die präzisierende Angabe im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb (Z. 102f.) hinterher, aus der erhellt, dass jenes ‹Streben› anderen Wesens ist als der im Vorfeld erwähnte ‹irrationale› ‹Trieb›. Im Terminus Rentabilität kristallisiert sich dieser spezifische Unterschied sprachlich aus; er bildet demnach das Schlussglied einer Differenzierungsreihe und mag auf eine dem gebändigten oder ‹rationalisierten›, gedanklich durchdrungenen ‹Streben› angemessene Form des Gewinns als dessen Objekt referieren. In dem Satz Allerdings ist Kapitalismus identisch mit dem Streben nach G e w i n n , im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb: nach immer e r n e u t e m Gewinn: nach „Rentabilität“ (Z. 101–104) wirkt etwas von der akkumulativen Konstruktion jener Partie nach, die dem ungezähmten Drang nach Bereicherung gewidmet war, doch ist die Reihung nun erkennbar auf die Ausleuchtung des Gegenstands abgezweckt156 und hat somit unmittelbar am thematischen Progress des

 154 Weber spricht von einer „naive[n] Begriffsbestimmung“. 155 Der Passus deutet darauf hin, dass eine Definition des ‹Kapitalismus› auch mit Modalisierungen arbeiten muss, so als sei auf der phänomenalen Ebene das Faktische auf schwer durchschaubare Weise mit Potentiellem oder auch allgemeiner: mit deontischen Bestimmungen versetzt. 156 Dieses Bestreben meldet sich bereits in Interpunktion und Typographie an, die wie auch andernorts bei Weber als Ausdrucksreserven nachgerade systematisch für die Sinnstiftung aufgeboten und als Informationsträger benützt werden. Die Diktion nimmt so bis zu ihren nichtsignifikanten Einheiten hinunter ein diskursiv-analytisches Gepräge an, was zur Folge hat, dass das auktoriale Subjekt des Textes denkbar dezent als steuernde Instanz in Erscheinung tritt. Die konsequente, nachgerade totale Funktionalisierung der sprachlichen Parameter, wie sie im Rahmen eines positiven Statuts wie des hier beigebrachten zu beobachten ist, steht zur Redundanz

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Textes teil. Zum Vorigen – zur Desavouierung der Meinung, ‹Erwerbsstreben› sei für den ‹Kapitalismus› prägend, und zur Erklärung, dieser könne unter Umständen mit der ‹rationalen› Disziplinierung jenes ‹Triebes› deckungsgleich sein – verhält sich der Satz wie die Synthese zu These und Antithese. Man kann in der sich so ergebenden Trias eine elementare argumentative Organisationseinheit erblicken, die dem Moment der Differenzierung eine kanonische Gestalt verleiht. Was die Synthese betrifft, so wäre zu ihr auch der Potentialis Innerhalb einer kapitalistischen Ordnung der gesamten Wirtschaft würde ein kapitalistischer Einzelbetrieb, der sich nicht an der Chance der Erzielung von Rentabilität orientierte, zum Untergang verurteilt sein (Z. 104–106) hinzuzunehmen, der in dem hier umrissenen Kontext deshalb instruktiv ist, weil die Formulierung indirekt näheren Aufschluss über das kapitalismusspezifische ‹Gewinnstreben› bietet: Dass das Stichwort Rentabilität in einem Genitivus subiectivus (der Erzielung von Rentabilität) steht, der von Chance abängig ist, charakterisiert das Signifikat als etwas mehrfach Vermitteltes, reflexiv Gesteuertes. Heißt es, die Aufmerksamkeit sei der Gelegenheit zugewandt, Gewinn zu erwirtschaften, so ist damit das gerade Gegenteil zu impulsoder triebgesteuertem Handeln, das sofortige Befriedigung erheischt, nämlich ein vorausschauend-abwägendes, ein intentionales Gespanntsein namhaft gemacht. Der Äußerung im Potentialis wird nach einer Zäsur, die durch einen Gedankenstrich ausgedrückt ist, ein Hortativ beigefügt, welcher den assertiven Akt, der das funktionale Gravitationszentrum des Textes abgibt, das Definieren, erstmals direkt anschneidet, und zwar im Sinne einer Initiative, die nun, an der fraglichen Stelle, ergriffen werden soll: Definieren wir zunächst einmal etwas genauer als es oft geschieht (Z. 106f.). Weber lässt verhältnismäßig dezent157 verlauten, dass der anvisierte definitorische Schritt zu anderen ins Verhältnis gesetzt werden kann und sich durch größere Exaktheit vor ihnen auszeichnen soll,158 womit er impliziert, dass frühere Begriffsbestimmungen dem Referenzobjekt nicht genügt hätten; genauere Informationen zu den Ansätzen, die er hierbei im Auge hat, bleibt er schuldig. Es wird evident, dass weniger eine semantische Determinierung denn eine Sondierung oder auch eine Paraphrasierung des Rentabilitätsbegriffs beabsichtigt und die definitorische Praxis somit von einem übergeordneten Differenzierungszusammenhang umfangen ist. Die metasprachliche Einschaltung gibt ferner zur Kenntnis, dass mit dem Ausdruck Rentabilität nun schließlich doch ein Fixpunkt ausgemittelt worden ist, von dem aus man Einblick in das Innerste, in

 des Vortrags von Thesen, die widerlegt werden sollen, in Spannung. Vielleicht darf man diesem formalen Gegensatz programmatische Bedeutung konzedieren. 157 Diesen Eindruck ruft namentlich das abschwächende etwas hervor. 158 Weber impliziert hier, dass schon kursierende Definitionen ungenügend seien.

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  151

die funktionale Logik des ‹Kapitalismus› zu nehmen vermag. Dieser glaubt Weber in Anknüpfung an die vorausgegangenen Überlegungen eine prägnante sprachliche Kennung verleihen zu können, die freilich durch das Adverb zunächst, wenn auch eher nebenher, als provisorisch etikettiert, mithin in ihrem Geltungsanspruch eingeschränkt wird: Ein „kapitalistischer“ Wirtschaftsakt soll uns heißen zunächst ein solcher, der auf Erwartung von Gewinn durch Ausnützung von Tausch-Chancen ruht: auf (formell) friedlichen Erwerbschancen also. Der (formell und aktuell) gewaltsame Erwerb folgt seinen besonderen Gesetzen und es ist nicht zweckmäßig (so wenig man es jemand verbieten kann) ihn mit dem (letztlich) an Tauschgewinn-Chancen orientierten Handeln unter die gleiche Kategorie zu stellen (Z. 107–113).

Dieses Statut, das ganz in einem von den Akteuren abstrahierenden Nominalstil gehalten ist, läuft wie das Vorige auf eine Polarisierung des ‹Strebens nach Gewinn› in eine ‹kapitalistische› und eine ‹außerkapitalistische› Form hinaus, bedient sich dabei im Übrigen einer Strategie, die zu der oben registrierten in Analogie steht: Ist die Beschreibung der ersteren Form dadurch charakterisiert, dass sie eine Handlung, wie sie im Segment Ausnützung von Tausch-Chancen (Z. 109) zur Geltung gelangt, dem Primat einer intentionalen Größe unterordnet, die durch das recht prononcierte Nomen Erwartung (Z. 108) ausgedrückt ist, so stempelt die Darlegung – das geht aus dem Attribut gewaltsam (Z. 110) hervor – die zweite Form zu einer forcierenden Tat ohne gedanklichen Horizont. Diese soll Gesetzen unterstehen, über die ferner nichts mehr verlautet, wie wenn sie, einmal genannt, gleich wieder aus dem Stoffkreis der Betrachtung ausgeschieden werden sollten. Der „kapitalistische ,Wirtschaftsakt‘“ hat nicht in erster Linie den Gewinn, sondern dessen Möglichkeiten oder Bedingungen, die es produktiv zu machen gilt, zum Gegenstand; der Gewinn wird folglich über einen Umweg erreicht oder als Integrale über zweierlei Komponenten – einer potentiellen Größe („Tausch“- bzw. „Erwerbschancen“ [Z. 109f.]) und deren Aktualisierung („Ausnützung“) – interpretiert. Dass solcher Erwerb, der sich dem passgenauen Ergreifen von Gelegenheiten verdankt, die ihn, wie das Kompositum Tauschgewinn-Chancen durchblicken lässt, gewissermaßen präjudizieren, zu seinem ‹außerkapitalistischen› Pendant konträr ist, wird durch das Widerspiel der Attribute friedlich (Z. 109) und gewaltsam (Z. 110) nochmals auf lexikalischer Ebene bekräftigt, ehe die Erörterung in einem weiteren Schritt die vorausgegangenen allgemeinen Ausführungen konkretisiert. So zieht das Motiv des Ausgerichtetseins auf „Tauschgewinn-Chancen“ (Z. 112), das das Ende des Satzes nochmals anschlägt, ein zweites nach sich, das durch das Partizip orientiert (Z. 114) mit ihm verwoben ist: nämlich die Rückbindung von „Erwerb“ an „Kapitalrechnung“: „Wo kapitalistischer Erwerb rational erstrebt wird, da ist das entsprechende Handeln orientiert an Kapitalrechnung“ (Z. 113f.).

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Die inhaltliche Synkopierung, die durch die lexikalische Rekurrenz bewerkstelligt wird (das Partizip kam unmittelbar zuvor in Z. 112 vor), lässt sich dahin deuten, dass die das wirtschaftliche Handeln regierende reflexive Haltung durch das zweite Moment eine nähere Bestimmung erfährt: Wird das dem Handeln vorgelagerte Interesse als ‹rational› qualifiziert, so zeigt das an, dass der Teil der Untersuchung, der sich der inneren Struktur des ‹Kapitalismus› widmet, mit demjenigen verfugt ist, der um den Rationalitätsbegriff kreist. Die „Kapitalrechnung“, das Rhema der Äußerung, ist denn auch in die Reihe von Figurationen des ‹Rationalen› aufzunehmen, dessen Eigenart herauszuschälen Ziel des Vorigen war. Es schließen sich Ausführungen zu den konstitutiven Eigenschaften des soeben exponierten Sujets an, deren schierer Umfang bereits die Wichtigkeit erahnen lässt, die dem Letzteren zugestanden wird. Die Erörterung nähert sich dem Wesen des ‹Kapitalismus› an, indem sie eine bestimmte ‹kapitalistische Praxis› in ihren einzelnen Komponenten schildert und dabei zum Paradigma des Ersteren ausbaut. Es soll aus dieser überaus konzentrierten, mit ökonomischen Termini gespickten Passage lediglich ein Satz zur näheren Betrachtung herausgegriffen werden, der die bereits proklamierte These, es komme der „Kapitalrechnung“ eminente Bedeutung zu, wiederholt – und dabei wohl auch gleich schon für besiegelt erklärt: Einerlei ob es sich um einen Komplex von in natura einem reisenden Kaufmann in Kommenda gegebenen Waren handelt, deren Schlußertrag wiederum in erhandelten anderen Waren in natura bestehen kann, oder: um ein Fabrikanwesen, dessen Bestandteile Gebäude, Maschinen, Vorräte an Geld, Rohstoffen, Halb- und Fertigprodukten, Forderungen darstellen, denen Verbindlichkeiten gegenüberstehen: – stets ist das Entscheidende: daß eine Kapitalrechnung in Geld aufgemacht wird, sei es nun in modern buchmäßiger oder in noch so primitiver und oberflächlicher Art (Z. 122–129).

Diese Stelle ist symptomatisch, insofern sie, wie sich im einleitenden Einerlei ankündigt, verschiedenartige, ja dichotomische Größen egalisiert, um an ihnen ein allgemeineres, die Differenzen überspielendes Prinzip kenntlich zu machen. Als gegensätzlich sind die beiden Fälle, die hier synchronisiert werden, im Hinblick auf die miteinander verrechneten Posten einzuschätzen, denn es handelt sich zum einen um Naturalien, zum anderen um „Forderungen“ (Z. 126) und „Verbindlichkeiten“ (Z. 127), womit zwei weit auseinanderliegende Punkte auf der Entwicklungsskala des ‹Kapitalismus› bezeichnet sind. Das dürfte dramaturgischen Motiven geschuldet sein, denn mittels der Bezugnahme auf Transaktionen, die der Früh- und der Hochphase des ‹Kapitalismus› zuzuzählen sind, also zwei konträre Manifestationsgrade repräsentieren, soll die Universalität der ‹Kapitalrechnung› in der ‹rational› organisierten Wirtschaft dargetan werden. Die Beschreibung der beiden im Zitat erwähnten Geschäftsvorgänge ist solchermaßen angelegt, dass sich zwischen ihnen eine strukturelle Homologie pro-

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filiert, die von der Unterschiedlichkeit der Mittel, die sie zu ihrer Verwirklichung gebrauchen, unbeeinträchtigt bleibt. Eine solche Homogenisierung bereitet die assertive Setzung vor, die mit der zentralen Wendung stets ist das Entscheidende (Z. 127f.) vollzogen wird und am treffendsten mit einer Formulierung wie Überbrückung der empirischen Polarität ‹modern buchmäßig› vs. ‹primitiv und oberflächlich› durch Rekurs auf eine allgemeinere Gemeinsamkeit paraphrasiert sein dürfte. Es folgt weiter eine Erläuterung der Kapitalrechnung als eines Phänomens – sie beläuft sich im dieser Arbeit beigegebenen Abdruck der „Vorbemerkung“ auf dreizehn Zeilen (Z. 129–142) –, in deren Zuge ihre drei wesentlichen Komponenten (Anfangsbilanz, Kalkulation, Nachkalkulation und Abschlussbilanz) benannt und mithilfe von Beispielen schärfer konturiert werden. Breite und Exaktheit dieser Beschreibung lassen noch einmal erkennen, dass mit der ‹Kapitalrechnung› ein für die Analyse essentielles Moment in den Blick geraten ist. Der Satz, mit dem die zitierte Passage endet,159 gliedert die Darlegung in den übergeordneten Problemkreis ein, dessen Mittelpunkt das ‹Rationale› bildet. Diesem, so erweist sich nun, ist mit der ‹Kapitalrechnung› ein ‹kapitalistisches› Paradigma an die Seite gestellt worden, an welchem sich demonstrieren lässt, dass hier in der Tat ein Prinzip in Rede steht, das entweder aktualisiert ist oder nicht, das in seiner Verwirklichung weder Vorstufen noch Übergangserscheinungen kennt und für das mithin auch das Niveau seiner empirischen Ausprägung und die Konsequenz seiner Handhabung unerheblich sind. Eine Weber’sche Formulierung lässt es denn auch opportun erscheinen, das bisher angewandte Ausdrucksregister zu variieren und nicht mehr von einem Prinzip der ‹Rationalität›, sondern von einem „Rationalitätsfall“ (Z. 137) zu sprechen, der als solcher entweder eingetreten ist oder nicht. Daraus wäre wiederum zu folgern, dass das ‹Rationale› ein Stück weit vom Augenscheinlichen, von der phänomenalen Oberfläche abgekoppelt ist, weniger in gewissen Prozeduren als in deren struktureller Disposition seinen Niederschlag findet und dass man sich bei der Ermittlung der Eigenschaften des ‹Kapitalismus› an eben diese strukturelle Tiefendimension, nicht jedoch an den – geringeren oder höheren – Abstraktionsgrad einer Tauschhandlung zu halten hat. Das Ausmaß der Formalisierung, in dem die Geschäfte des reisenden Kaufmanns und des Fabrikanten divergieren, ist für die Forschung hingegen lediglich als historischer Standindex belangvoll. Die eben referierten Zusammenhänge werden sodann nochmals gerafft und verallgemeinert, gewissermaßen in eine Elementargestalt gekleidet und auf das

 159 „Aber das sind Punkte, die nur den Grad der Rationalität des kapitalistischen Erwerbs betreffen“ (Z. 141f.).

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primäre Darstellungsinteresse des Textes – die Modellierung des Kapitalismusbegriffes unter dem Gesichtspunkt der ‹Rationalität› – zurückbezogen: Es kommt für den Begriff nur darauf an: daß die tatsächliche Orientierung an einer Vergleichung des Geldschätzungserfolges mit dem Geldschätzungseinsatz, in wie primitiver Form auch immer, das wirtschaftliche Handeln entscheidend bestimmt (Z. 143–146).

Mit dem unmittelbar sich anschließenden Satz aber schlägt die Erörterung eine Volte, indem sie – in der bereits bekannten schematischen Diktion – mit einem Mal die Erkenntnismächtigkeit, also auch die Relevanz der Überlegungen zur ‹Kapitalrechnung› für jene übergeordnete Intention in Zweifel zieht; heißt es doch: In diesem Sinne nun hat es „Kapitalismus“ und „kapitalistische“ Unternehmungen, auch mit leidlicher Rationalisierung der Kapitalrechnung, in allen Kulturländern der Erde gegeben, soweit die ökonomischen Dokumente zurückreichen (Z. 146–149).

Der relativierende Gegenstoß wird, wie die stark, ja geradezu ostentativ pointierenden Wendungen in diesem und auch in anderen Sätzen (in a l l e n Kulturländern der Erde, soweit die ökonomischen Dokumente zurückreichen) bekunden, mit großer Entschiedenheit geführt; er ist in seiner Vehemenz auf die apodiktische Tonlage der vorausgegangenen Passagen abgestimmt. Er gipfelt nach einer Aufzählung in der bilanzierenden Konstatierung, dass „die kapitalistische Unternehmung“ (Z. 156f.) und ihre Akteure, das heißt diejenigen, die sie dauerhaft betreiben, „höchst universell verbreitet“ (Z. 159) gewesen seien, was die Frage aufwirft, inwieweit man dem auf ‹Kapitalrechnung› basierenden und somit ipso facto ‹rationalen Kapitalismus› überhaupt noch etwas Besonderes und Charakteristisches zuschreiben kann: Denn es sieht so aus, als erweise sich das, was vorher zum Spezifikum deklariert wurde, nunmehr als ein Allgemeines. Vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, dass die Lexeme Kapitalismus und kapitalistisch in dem soeben zitierten Satz in Anführungszeichen gesetzt sind, so als gelte es, zu signalisieren, dass die Ausdrücke nicht vollends das Richtige treffen und dass hier noch von einer rudimentären Stufe oder einer uneigentlichen Form des ‹Kapitalismus› gehandelt wird. Nun finden jedoch die Anführungszeichen nicht durchgängig oder konsequent Verwendung, so dass sich zum Zweiten die Frage erhebt, inwieweit hier eine Trennung zwischen einem ‹Kapitalismus› im strengen und einem im weiteren Sinne des Wortes,160 also eine Differenzierung,  160 Dazu passt Segres Befund, dass Weber in dem Kapitel der „Wirtschaftsgeschichte“, das oben in Anm. 137 erwähnt wurde, ein zweistufiges Kapitalismusmodell vorlegt, das sich aus „eine[r] sehr im Unbestimmten bleibende[n] Theorie des Kapitalismus überhaupt“ und „eine[r] viel bestimmter gehaltene[n] Theorie des modernen Kapitalismus“ zusammensetzt (Segre 1989, 447).

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die das Vorige gerade auszuschließen scheint, vorgenommen oder wenigstens angedeutet wird: im Sinne einer Idee, die keine nähere Ausführung erhält. Womöglich liegen die Dinge gar so, dass der Terminus durch seine Bestimmung mit zwei Bedeutungen versehen und demnach auch problematisiert werden soll, das Definieren also den Kriterien zuwiderläuft, die in der Wissenschaft gemeinhin an die Begriffsbildung herangetragen werden. Jedenfalls wird man nicht umhin können, sich mit dem Gedanken zu arrangieren, dass der phänomenale Komplex, von dem der Begriff abgezogen werden soll, noch nicht in seinem Innersten erfasst ist, wenn man die ‹Kapitalrechnung› durchleutet hat, und dass man nach einem anderen Definiens Ausschau halten muss. Dass mit den bisherigen Erkenntnissen noch kein adäquates Verständnis des ‹Kapitalismus› in seiner modernen Ausprägung gewonnen ist, gelangt im unmittelbar folgenden Satz zur Evidenz, dessen inhaltliches Verhältnis zu dem soeben kommentierten durch das adversative aber angezeigt wird: Nun hat aber der Okzident ein Maß von Bedeutung und, was dafür den Grund abgibt: Arten, Formen und Richtungen von Kapitalismus hervorgebracht, die anderwärts niemals bestanden haben (Z. 160–162).

Hier ist eine primär oder auch ausschließlich ideell-abstrakte Größe („ein Maß von Bedeutung“ [Z. 160]), die theoretischen Überlegungen entspringt, mit eher empirischen Manifestationen („Arten, Formen und Richtungen“ [Z. 161])161 des ‹Kapitalismus› verschränkt, die, wie aus dem Einschub „was dafür den Grund abgibt“ erhellt, zusammengenommen entweder die gedankliche Voraussetzung oder die phänomenale Basis der Ersteren ausmachen; es wäre hierbei freilich zu erwägen, ob sich nicht ebenso gut ein Verhältnis des Sowohl als auch ansetzen ließe. Das hieße aber, dass die phänotypische Beschaffenheit des ‹Kapitalismus› im Okzident dessen Disposition und Gestalt strukturell verändert. Ging die Stoßrichtung der Argumentation bislang dahin, den ‹Kapitalismus› als einen Systemkomplex auszuzeichnen, auf dessen Integrität Niveauunterschiede in seinen empirischen Ausprägungen keinen nennenswerten Einfluss haben und der sich folglich auf sämtlichen Entwicklungsstufen gleich bleibt, so kommt nun offenkundig die hiermit schwer verträgliche Auffassung zum Tragen, dass der ‹Kapitalismus› als Prinzip und die Weisen seiner Konkretisierung, zumindest wenn diese in ihrem Innovationsgrad die tradier-

 161 Diese allgemeinen Größen werden im Weiteren anhand der folgenden Merkmale konkretisiert: „rationale Betriebsorganisation“, „Trennung von Haushalt und Betrieb“ und „rationale Buchführung“. Diese Einrichtungen sind nach Weber ihrerseits nicht völlig neu, doch soll ihre Ausbildung im ‹modernen Kapitalismus› ein solches Maß an Konsequenz zeigen, dass sie sich qualitativ von ihren Präfigurationen abheben.

156  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

ten Maßstäbe aushebeln, nicht voneinander zu isolieren sind. So zeigt sich, dass die zuvor praktizierte Trennung zwischen konzeptueller und phänomenaler Ebene künstlich oder doch zumindest anfechtbar ist.162 R e s ü m e e – Dem dritten Teil der Untersuchung lag ein Textpensum zugrunde, in dem mehrere heterogene Motive angeschlagen oder durchgeführt werden. Dabei kam zunächst ein konzeptuelles Element zur Behandlung, das allenfalls reflexhaft im sprachlichen Ausdruck aufglänzt und im Vorigen als unterschwellige ‹Mythisierung› des ‹Kapitalismus› apostrophiert wurde. Es dürfte mit den notorischen Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man die Entstehungsgründe dieses Letzteren aufzuhellen sucht, in direktem Zusammenhang stehen. Weiter richtete sich der Blick auf Stellen, in denen Aufbauelemente des modernen ‹Kapitalismus› benannt wurden; in diesem Kontext wuchs den Stichwörtern Rentabilität und Kapitalrechnung besondere Bedeutung zu. Zugleich wurden Aporien in der konzeptuellen Unterlage von Webers Erörterung erkennbar, die letztlich die strukturelle Beziehung zwischen dem ‹Kapitalismus› qua Prinzip und seinen einzelnen Manifestationen betreffen; hierbei gewann die Frage, wie sich der ‹Kapitalismus okzidentaler Prägung› zu seinen Vorstufen verhält, an Brisanz.

4.2.3.5 Z. 162–Ende. Verhältnis von phänomenaler Einzelkomponente und funktional-abstraktem Ganzen Die am Ende des letzten Abschnittes nachvollzogene Intervention bildet den Auftakt zu einer umfangreichen Sequenz,163 die vermeintlich genuin ‹kapitalistische› Akteure, Erscheinungen und Institutionen aneinanderreiht, um sodann zu behaupten, dass sie universell seien, und zwar unter Verwendung des bekannten

 162 Hierzu äußert Schluchter recht apodiktisch, die „Arten, Formen und Richtungen“ beträfen „sowohl den ,Geist‘ wie die ,Form‘“ (Schluchter 2015, 290). 163 „Es hat in aller Welt Händler: Groß- und Detailhändler, Platz- und Fernhändler, es hat Darlehensgeschäfte aller Art, es hat Banken mit höchst verschiedenen, aber doch denjenigen wenigstens etwa unsres 16. Jahrhunderts im Wesen ähnlichen Funktionen gegeben; Seedarlehen, Kommenden und kommanditeartige Geschäfte und Assoziationen, sind auch betriebsmäßig, weit verbreitet gewesen. Wo immer Geldfinanzen der öffentlichen Körperschaften bestanden, da erschien der Geldgeber: in Babylon, Hellas, Indien, China, Rom: für die Finanzierung vor allem der Kriege und des Seeraubes, für Lieferungen und Bauten aller Art, bei überseeischer Politik als Kolonialunternehmer, als Plantagenerwerber und -betreiber mit Sklaven oder direkt oder indirekt gepreßten Arbeitern, für Domänen-, Amts- und vor allem: für Steuerpacht, für die Finanzierung von Parteichefs zum Zwecke von Wahlen und von Kondottieren zum Zweck von Bürgerkriegen und schließlich: als ,Spekulant‘ in geldwerten Chancen aller Art. Diese Art von Unternehmerfiguren: die kapitalistischen Abenteurer, hat es in aller Welt gegeben. Ihre Chancen waren – mit Ausnahme des Handels und der Kredit- und Bankgeschäfte – dem Schwerpunkt nach entweder rein irrational-spekulativen Charakters oder aber sie waren an dem Erwerb durch Gewaltsamkeit, vor allem dem Beuteerwerb: aktuell-kriegerischer oder chronisch-fiskalischer Beute (Untertanen-Ausplünderung), orientiert“ (Z. 162–180).

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  157

Schemas: Weber signalisiert bereits durch die Formulierung (genauer durch die Prädikate Es hat . . . gegeben und . . . sind weit verbreitet gewesen), dass er die hier aufgebotenen Größen jenen zugeordnet wissen will, die lediglich scheinbar typisch sind und von denen somit irrtümlich angenommen wird, sie führten auf das ‹Kapitalistische› an sich. Es drängt sich der Schluss auf, dass der ‹moderne Kapitalismus› und ‹vorkapitalistische Gesellschaften›, deren Verhältnis zu dem Ersteren sich offensichtlich gegen eine gedankliche Präzisierung sperrt, entscheidende Akteure und Institutionen miteinander teilen und dass sich hieraus eine recht weitreichende Ähnlichkeit ergibt, die sich über die phänomenale Oberfläche hinaus auf strukturelle Zusammenhänge erstreckt. Ein Reflex davon ist der paradoxe Umstand, dass von „kapitalistischen Abenteurer[n]“ geredet wird, deren Handeln nicht den Kriterien, die Weber an das ‹kapitalistische› Wirtschaften anlegt, sondern im Gegenteil „Chancen [. . .] rein irrational-spekulativen Charakters“ Rechnung trägt oder sich vollends im „Erwerb durch Gewaltsamkeit“ erschöpft. Es ist wohl kaum eine übertreibende Zuspitzung, wenn man sagt, es würden einem ‹Kapitalisten› ohne ‹Kapitalismus› präsentiert, was den schon angesprochenen Eindruck bekräftigt, dass die Definition den Kapitalismusbegriff eher verdunkelt, ja dissoziiert, anstatt ihn einer Klärung zuzuführen: Tatsächlich wird er auf Phänomene gespiegelt, auf die er nach Maßgabe der von Weber aufgestellten Bestimmungen keine Beziehung haben dürfte. In solcher pointierenden Ausbildung einer bereits sichtbar gewordenen Aporie, die sie gleichsam festschreibt und gegen den Begriff selbst wendet, dessen Konstituierung sie mit sich bringt, mag man auch das Hauptziel der an dieser Stelle primär illustrativen Darlegung erblicken. Sie rufen den Anschein hervor, dass sich der ‹Kapitalismus›, je weiter die Untersuchung zu seinen Wurzeln vordringt, umso entschiedener einer analytischen Fixierung verweigert und letztlich als dem diskursiven Ordo konsistenten Reflektierens inkommensurabel erweist. Das Folgende164 bündelt die Phänomene, die nur im uneigentlichen Sinne ‹kapitalistisch› zu nennen sind, aber augenscheinlich durch den Begriff abgedeckt werden sollen, vermittels des Demonstrativpronomens unter dem Abstraktum Gepräge (Z. 183) und misst dem ‹Kapitalismus› „der okzidentalen Gegenwart“ (Z. 183), über welchen vorher prädiziert wurde, dass er sondergleichen sei, eine  164 „Der Gründer-, Großspekulanten-, Kolonial- und der moderne Finanzierungskapitalismus schon im Frieden, vor allem aber aller spezifisch kriegsorientierte Kapitalismus tragen auch in der okzidentalen Gegenwart noch oft dies Gepräge und einzelne – nur: einzelne – Teile des internationalen Großhandels stehen ihm, heute wie von jeher, nahe. Aber der Okzident kennt in der Neuzeit daneben eine ganz andere und nirgends sonst auf der Erde entwickelte Art des Kapitalismus: die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit. Nur Vorstufen dafür finden sich anderwärts“ (Z. 181–188).

158  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Qualität zu, in der jene Phänomene kondensiert sind. Die Argumentation nimmt gegenüber dem Vorigen eine Wende, indem sie den qualitativ andersgearteten ‹westlichen Kapitalismus› nun ebenfalls mit seinen Vorstufen synchronisiert; sie tut das insofern, als sie unterstellt, diese seien mit jenem simultan oder gar ihm zugehörig. Mehr noch: Der ‹irrationale Kapitalismus› wird nicht bloß mit dem ‹rationalen› in Parallele gebracht, sondern in ihn hineinprojiziert, dergestalt dass dieser ein ‹zwieschlächtiges›, ja ein antithetisches Ansehen gewinnt. Der Adversativsatz Aber der Okzident kennt in der Neuzeit daneben eine ganz andere und nirgends sonst auf der Erde entwickelte Art des Kapitalismus: die rational-kapitalistische Organisation von (formell) f r e i e r Arbeit (Z. 185–187) trägt diesen Gegensatz in der Anlage des ‹modernen Kapitalismus› durch eine hyperbolische Intonation („eine ganz andere und nirgends sonst auf der Erde entwickelte Art des Kapitalismus“ [Z. 185f., Markierung von M.A.]), wie sie bereits des Öfteren begegnete, auf und gibt zugleich dem zweiten Pol einen schärferen sprachlichen Zuschnitt. Die Kennung rational-kapitalistisch evoziert den ‹Kapitalismus› im Sinne eines Prinzips, als das er direkt zuvor angeschlagen wurde, noch einmal adjektivisch und setzt ihn so als Determinans zumindest für den Augenblick zu einer anderen thematischen Größe – „Organisation von (formell) freier Arbeit“ – in Relation. Des Weiteren wird das ‹Kapitalistische› inhaltlich in einer Weise mit dem Moment des ‹Rationalen› verschränkt, als sei es mit diesem kongruent oder zumindest gedanklich nicht mehr sinnvoll von ihm abzuspalten: Das teilt sich durch das Bindestrich-Kompositum mit. Das ‹Kapitalistische› gelangt demzufolge an der gedanklichen Durchdringung einer einzelnen, jedoch bedeutsamen Facette eines breitgefächerten Phänomenkomplexes – nämlich der Arbeit – zur Evidenz, beherrscht diesen aber anders, als man zunächst hätte annehmen können, augenscheinlich nicht in seiner Gesamtheit.165 Die Erörterung wendet sich der genuin ‹kapitalistischen› Flexion einer einzelnen Größe zu, die man unter einem globalen Maßstab zu den tatsächlichen oder vermeintlichen Merkmalen des ‹Kapitalismus› hätte zählen können, nämlich der ‹Arbeitsorganisation›. In diesem Sinne kann man sagen, dass sich hier eine perspektivische Verschiebung vollzieht, insofern die Erörterung nun nicht mehr fortlaufend und geradezu mechanisch einzelne Aspekte abhaspelt, um zu prüfen, inwieweit sie sich zur Veranschaulichung eines Abstraktum eignen, sondern, nachdem die Probe so oft negativ ausfiel, den Skopus schließlich doch auf ein

 165 Zumindest könnte man den Passus „die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit. Nur Vorstufen dafür finden sich anderwärts“ so lesen, als impliziere er, dass es auch ‹nicht-rationale Arbeit› gebe. Freilich handelt es sich hier um eine konsequent philologische, ausschließlich auf die Formulierung sich gründende Deutung ohne ökonomische Expertise.

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  159

bestimmtes Element verengt, dem ein symptomatischer Wert attestiert wird. Dieses Element ist in seiner spezifischen gedanklichen Fassung auf dem Wege der Polarisierung des ‹Kapitalismus› in zwei Haupttendenzen, einer ‹rationalen› und einer ‹irrationalen›, in den Blick geraten und avanciert nun zum Paradigma der ersteren Seite. Die weiteren Ausführungen haben denn auch vorrangig das Ziel, Einzigartigkeit und Symptomatizität der ‹rational-kapitalistischen Arbeitsorganisation› zu unterstreichen, während diese selbst durch Konfigurierung analoger und konträrer Momente in ‹protokapitalistischen›, als „Vorstufen“ (Z. 187) titulierten Praktiken eingekreist, nicht aber förmlich definiert wird. Die Untersuchung nähert sich dem in Rede stehenden Phänomen an, indem sie aus den älteren ökonomischen Organisationsformen Züge heraustreibt, die es zu antizipieren scheinen, jedoch zugleich auch das Abweichende in Rechnung stellt, freilich ohne eine scharfe Grenze zwischen moderner und vormoderner Ökonomie zu ziehen. Den Schlüssel zu ihrer Unterscheidung liefert eine qualitative Abstufung des Rationalitätsbegriffs, der sich nun anders, als Webers vorige Äußerungen vermuten ließen, als Insigne nicht einer absoluten Qualität oder eines völlig eindeutigen Falles, sondern eines theoretischen Differentials ausnimmt, das es gestattet, qualitative Diskrepanzen zwischen Erscheinungen zu registrieren, die als in einem morphologischen Zusammenhang stehend zu begreifen sind. Wird dementsprechend die Divergenz zwischen dem ‹modern-okzidentalen Kapitalismus› und seinen Vorläufern auf ein Mehr oder Weniger an ‹Rationalität› zurückgeführt,166 so sieht das einer grundlegenden Umdisponierung der Konzeptgestalt der Letzteren gleich; in der Folge verschwimmt auch der Umriss des zugehörigen Begriffs. Zu dieser argumentativen Pointe tritt noch eine weitere hinzu, wenn nämlich die Betrachtung auf den Stellenwert der ‹rationalen Organisation› rekurriert und dieser den Rang einer „Sondererscheinung“ (Z. 201) einräumt.167 Das dürfte zwei

 166 So etwa in folgender Stelle, die drei sprachliche Formen der Gradierung erkennen lässt: „Selbst die Organisation unfreier Arbeit hat ja nur in den Plantagen und, in sehr begrenztem Maß, in den Ergasterien der Antike eine gewisse Rationalitätsstufe erreicht, eine eher noch geringere in den Fronhöfen und Gutsfabriken oder grundherrlichen Hausindustrien mit Leibeigenen- oder Hörigenarbeit in der beginnenden Neuzeit“ (Z. 188–192, außer bei unfreier alle Markierungen von M.A.). 167 Vgl. hierzu die nachstehende Sequenz: „Für freie Arbeit finden sich selbst eigentliche ,Hausindustrien‘ außerhalb des Okzidents nur vereinzelt sicher bezeugt und die natürlich überall sich findende Taglöhnerverwendung hat mit sehr wenigen und sehr besonders, jedenfalls aber: sehr abweichend von modernen Betriebsorganisationen gearteten Ausnahmen (besonders: Staatsmonopolbetrieben) nicht zu Manufakturen und nicht einmal zu einer rationalen Lehrorganisation des Handwerks vom Gepräge des okzidentalen Mittelalters geführt. Die an den Chancen des Gü-

160  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Lesarten gestatten: Der ersten zufolge ist das betreffende Phänomen ein exklusives Merkmal des ‹okzidentalen Kapitalismus›, was sich ohne Weiteres dem vorher gespannten argumentativen Bogen unterordnet,168 während die zweite Deutung es als Ausnahme, als etwas von der Regel Abweichendes behandelt. So wirkt es, als werde die Manifestation des ‹Kapitalismus› in seiner Grundform, wie der Text sie eingangs auf einer allgemeinen Ebene konzipierte, in ein Reservat abgeschoben, das von anderen Gegebenheiten umstellt ist, die, hält man sich an die theoretische Hinführung zum ‹Kapitalismus›, wiederum als ökonomische Atavismen anzusprechen wären: Die ausgereifteste empirische Repräsentation des ‹rationalen› Wirtschaftsaktes scheint von rückständigeren Pendants an den Rand gedrängt, eine kongeniale Aktualisierung kultureller und technischer Entwicklungsmöglichkeiten der Moderne, das unter kulturgeschichtlichem Blickwinkel Typische, also nur mehr selten zu gewärtigen sein. Der Text lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei der ‹rationalen Betriebsorganisation› lediglich um eine von mehreren ‹kapitalistischen› „Sondererscheinungen“ im eben dargelegten Doppelsinne handelt. Es werden ihr weiterhin „die Trennung von Haushalt und Betrieb“ (Z. 203f.) sowie „die rationale Buchführung“ (Z. 205) als strukturell homologe und nicht minder wirkmächtige ökonomische Faktoren hinzugefügt, die jedoch, wie sich sogleich im Anschluss zeigt, wohl nicht auf derselben Stufe wie jene erste „Sondererscheinung“, sondern – darauf deutet zumindest die ihnen beigegebene Bezeichnung Entwicklungselemente (Z. 203) hin – eher auf einer unteren Etage rangieren. Die Erörterung konturiert sie ihrerseits im Rückgriff auf ihre Vorläufer, um sodann herauszuarbeiten, was sie von denselben trennt: dies nämlich, dass sie auf eine „Verselbständigung der Erwerbsbetriebe“ (Z. 210) hinwirken, womit ein weiteres, für den argumentativen Progress belangvolles Stichwort gefallen ist. Das deverbale Substantiv Verselbständigung nimmt auf eine verabsolutierte Prozesswirklichkeit oder auf eine zum Phänomen gewordene Tätigkeit Bezug, durch die der Entflechtung der Wirtschaft von der Individualität und von den Lebensumständen der ökonomischen Akteure ihre prototypische Form zuwächst. Der Weber’sche Nominalstil wäre demnach womöglich als sprachliches Kondensat einer für das Themengebiet essentiellen Tendenz zur Entsubjektivierung zu lesen.

 termarktes, nicht an gewalt-politischen oder an irrationalen Spekulationschancen, orientierte, rationale Betriebsorganisation ist aber nicht die einzige Sondererscheinung des okzidentalen Kapitalismus“ (Z. 192–201). 168 Vertritt man diese Position, so kann man sich außerdem darauf berufen, dass später (Z. 218) das Lexem Besonderheiten in Kombination mit dem anaphorischen diese begegnet.

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  161

In Parenthese sei erwähnt, dass der Vorgang der „Verselbständigung“ im nächsten Satz mit seinem Resultat, der „Selbständigkeit“, gleichgeschaltet wird, und zwar über das Demonstrativpronomen in der Fügung die i n n e r e n Mittel dieser Selbständigkeit (Z. 211).169 So kann man den Eindruck gewinnen, als solle beides – Prozess und Phänomen – zumindest im Ansatz zusammengezogen werden, ohne dass dies eine nähere Behandlung in Form einer diskursiven Aussage erführe. Die Darlegung fächert das in Rede stehende allgemeine Sujet, das ja seinerseits aus einem Entwicklungselement ‹moderner Organisationskultur› herausmodelliert wurde, auf, indem sie ihm konkrete Momente – „rationale Betriebsbuchführung“ (Z. 211f.) sowie „rechtliche Sonderung von Betriebsvermögen und persönlichem Vermögen“ (Z. 212f.), die nun als genuine Insignien der ökonomischen Moderne kenntlich gemacht werden170 – als einander zugehörige „innere[] Mittel“ (Z. 211) subsumiert. Sie grenzt diese Momente von äußerlich ähnlichen Einrichtungen in der Vergangenheit als strukturell andersartig ab und billigt ihnen so einen gewissen Eigenwert zu. Durch diese Betonung einer qualitativen, analytisch genau fixierbaren Differenz zwischen einer modernen wirtschaftlichen Praxis und ihren Präfigurationen in der Vergangenheit weicht die Argumentation deutlich von der Linie der vorigen Ausführungen ab, die das Unterscheidende relativierten oder gleich vollends fließende Kontinuen ansetzten. Wie hier neuerlich sichtbar wird, geht die Konsequenz, mit welcher der Text die phänomenale Oberfläche nach immer dem gleichen Muster zergliedert, um sie gegen die ideell-funktionale Tiefenschicht hinter ihr transparent zu halten, nicht notwendigerweise mit Stringenz einher: Man könnte im Gegenteil meinen, dass eine reflexive Einstellung vor einem allzu forcierten Ausschlagen in eine bestimmte Richtung bewahrt, ja geradezu kontrapunktiert werden soll. In diesem Sinne nimmt Weber die Aufwertung der genannten Innovationen in einer gegenläufigen Bewegung wieder zurück:

 169 Vollständig lautet das oben in Augenschein genommene Segment wie folgt: „Oertliche Trennung der Werk- oder Verkaufsstätten von der Behausung findet sich auch sonst (im orientalischen Bazar und in den Ergasterien anderer Kulturgebiete). Und auch die Schaffung von kapitalistischen Assoziationen mit gesonderter Betriebsrechnung findet sich in Ostasien wie im Orient und in der Antike. Aber: gegenüber der modernen Verselbständigung der Erwerbsbetriebe sind das doch nur Ansätze. Vor allem aus dem Grunde, weil die inneren Mittel dieser Selbständigkeit: sowohl unsre rationale Betriebsbuchführung wie unsre rechtliche Sonderung von Betriebsvermögen und persönlichem Vermögen ganz fehlen oder nur in Anfängen entwickelt sind“ (Z. 205–214). 170 Das geschieht namentlich durch das Possessivpronomen der ersten Person Plural.

162  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Ihre heutige Bedeutung aber haben alle diese Besonderheiten des abendländischen Kapitalismus letztlich erst durch den Zusammenhang mit der kapitalistischen Arbeitsorganisation erhalten.

Diese Äußerung fügt den Neuerungen, die Weber unter das Lexem Besonderheiten rubriziert, das an den Ausdruck Sondererscheinungen anknüpft, eine ideelle Komponente zu, die im Weiteren als extrinsisch ausgewiesen und in die das eigentlich Ausschlaggebende, die tatsächliche Innovationskraft, hineinverlegt wird. So ist der intrinsische Wert der „Betriebsbuchführung“ und der „rechtliche[n] Sonderung“ von Betriebskapital und Privatvermögen, welchen Einrichtungen bescheinigt wird, dass sie weit über die Entwicklung hinaustendieren, die sie hervorgebracht hat, nachgerade annulliert und damit auch die vorige Aussage kassiert. Bahnbrechend sind die „Besonderheiten“ nicht an sich, sondern lediglich insoweit, als sie mit einem allgemeinen Prinzip kommunizieren. Mit der Einführung der Wendung ihre heutige Bedeutung erfährt die konzeptuelle Rahmung der thematisierten Momente eine einschneidende Veränderung: Die Größen werden so dargestellt, dass sie zu etwas Anderem, Allgemeinerem inklinieren, was in diesem Falle, da sie nicht mehr in sich substantiell sind und ihre herausgehobene Stellung einbüßen, einer gedanklichen Umdisponierung, einer Vertauschung des funktionalen Exponenten gleichkommt. Damit regrediert der Text auf den Standpunkt, den er einnahm, als er die Besonderheiten dem Prinzip der ‹Organisation› als Mittel oder „Entwicklungselemente“ unterordnete. Man kann dabei freilich mit einigem Recht die These vertreten, dass die Verhältnisbestimmung nunmehr allgemeinerer Natur ist als eine Unterordnung, denn es ist ja lediglich vage von einem „Zusammenhang“ die Rede. Unter dem Stichwort Kommerzialisierung (Z. 220f., 224) werden zwei weitere Elemente in besagten Zusammenhang eingeschoben – „die Wertpapierentwicklung und die Rationalisierung der Spekulation: die Börse“ (Z. 221f.)171 –, wobei das letztgenannte nochmals jenen Zug anreißt, von dem man vorher annehmen durfte, er solle zum Proprium des ‹Kapitalismus› ausgerufen werden, ehe sich zeigte, dass er dafür ungeeignet ist, weil man ihn laut Weber auch an der ‹vorkapitalisti-

 171 „Auch das, was man die ,Kommerzialisierung‘ zu nennen pflegt: die Wertpapierentwicklung und die Rationalisierung der Spekulation: die Börse, steht damit im Zusammenhang. Denn ohne kapitalistisch-rationale Arbeitsorganisation wäre dies alles, auch die Entwicklung zur ,Kommerzialisierung‘, soweit überhaupt möglich, nicht entfernt von der gleichen Tragweite. Vor allem für die soziale Struktur und alle mit ihr zusammenhängenden spezifisch modern-okzidentalen Probleme“ (Z. 220–226).

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  163

schen› Vergangenheit gewahren kann.172 Die Erörterung konturiert die Idee eines die einzelnen Erscheinungen überdachenden Systems, das sich aus deren Rückbindung an ein und dasselbe Prinzip herausbildet und ihnen einen neuen ideellen Horizont verschafft, wodurch sie in puncto Wirkmacht ihre Prototypen aus früheren Epochen bei weitem übertreffen. Das Surplus, das sie dadurch erhalten, dass ihnen eine funktionale Logik oktroyiert wird, findet in der Vergrößerung ihrer „Tragweite“ (Z. 225) einen wenn nicht unmittelbaren, so doch erkennbaren Niederschlag. Es tritt aber die Schwierigkeit auf, das als „Arbeitsorganisation“ (Z. 228) apostrophierte Leitprinzip inhaltlich gegenüber den Momenten, die an ihm orientiert sind, zu profilieren, da es zumindest mit dem zweiten – der „Rationalisierung der Spekulation“ (Z. 221f.) – eben das problematisch gewordene ‹Rationale› als Determinans gemein hat und sich vor ihm schwerlich durch größere Allgemeinheit auszeichnet: Das wirft die Frage auf, worin nun eigentlich der Prinzipiencharakter der ‹Organisation› gründen mag; vorerst lässt sich nur so viel festhalten, dass es sich um eine Besonderheit handelt, die sich von den anderen durch einen höheren Grad an struktureller Relevanz unterscheidet. Im Übrigen wird das Attribut rational im nächsten Satz – „Denn ohne kapitalistisch-rationale Arbeitsorganisation wäre dies alles, auch die Entwicklung zur ,Kommerzialisierung‘, soweit überhaupt möglich, nicht entfernt von der gleichen Tragweite“ (Z. 222–225) – ebenso wie oben, als die Organisationskultur – „die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit“ (Z. 187) – Beachtung fand, mit kapitalistisch fusioniert; freilich erscheinen die beiden Ausdrücke in umgekehrter Reihenfolge. Diese Abweichung dürfte gleichwohl nicht allzu stark ins Gewicht fallen, weil sich die Konstruktion als Kopulativkompositum deuten lässt, was besagt, dass das letztere Glied nicht durch das erstere valorisiert wird; gleichwohl ist die Divergenz vor dem Hintergrund der ansonsten uneingeschränkten lexikalischen Übereinstimmung mit dem anderen Passus durchaus auffällig. Sie mag auf eine Akzentverschiebung in dem Sinne hindeuten, dass die moderne ‹Organisationskultur› primär unter dem Gesichtspunkt ihrer ‹kapitalistischen› Disposition in Augenschein genommen und ihre ‹Rationalität› gewissermaßen von dieser her gedacht wird: Diese perspektivische Neueinstellung wurde von dem oben eingeblendeten Satz, der das Motiv des ‹Zusammenhangs› anschlug,173 inso-

 172 Es hat etwas Frappierendes, dass eine nicht eben unwichtige Information wie die, dass sich die ökonomische ‹Rationalisierung› in der Börse geradezu institutionalisiert, hier en passant und ohne weiteren Kommentar eingestreut wird. 173 „Ihre heutige Bedeutung aber haben alle diese Besonderheiten des abendländischen Kapitalismus letztlich erst durch den Zusammenhang mit der kapitalistischen Arbeitsorganisation erhalten“.

164  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

fern präjudiziert, als dort vor Arbeitsorganisation lediglich kapitalistisch stand. Im Weiteren erhält die Relevanz der Letzteren noch eine zusätzliche Betonung, wenn darauf abgehoben wird, dass die wirtschaftlichen Vorgänge durch Vermittlung der ‹Arbeitsorganisation› ein neues Maß an Bedeutung für die soziale Struktur, also für den Aufbau der Gesellschaft, erlangt hätten und darüber hinaus wenigstens einen indirekten Einfluss auf die „spezifisch modern-okzidentalen Probleme“ (Z 226) übten.174 Die Interferenzen zwischen Ökonomie und Gesellschaft werden damit in Verbindung gebracht, dass „exakte Kalkulation“ als Fundamentalprinzip einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen erfordern soll, wie er sich erst in der Moderne herausgebildet habe: Eine exakte Kalkulation: – die Grundlage alles andern, – ist eben nur auf dem Boden freier Arbeit möglich. Und wie – und weil – keine rationale Arbeitsorganisation, so – und deshalb – hat die Welt außerhalb des modernen Okzidents auch keinen rationalen Sozialismus gekannt. Gewiß: ebenso wie Stadtwirtschaft, städtische Nahrungspolitik, Merkantilismus und Wohlfahrtspolitik der Fürsten, Rationierungen, regulierte Wirtschaft, Protektionismus und Laissez-faire-Theorien (in China), so hat die Welt auch kommunistische und sozialistische Wirtschaften sehr verschiedener Gepräge gekannt: familiär, religiös oder militaristisch bedingten Kommunismus, staatssozialistische (in Aegypten), monopolkartellistische und auch Konsumentenorganisationen verschiedenster Art. Aber ebenso wie – trotzdem es doch überall einmal städtische Marktprivilegien, Zünfte, Gilden und allerhand rechtliche Scheidungen zwischen Stadt und Land in der verschiedensten Form gab, – doch der Begriff des „Bürgers“ überall außer im Okzident und der Begriff der „Bourgeoisie“ überall außer im modernen Okzident fehlte, so fehlte auch das „Proletariat“ als Klasse und mußte fehlen, weil eben die rationale Organisation freier Arbeit als Betrieb fehlte (Z. 226–242).

Damit, dass eine ökonomische Grundlage auf eine gesellschaftliche zurückprojiziert wird – das Vokabular kehrt den Basischarakter von Kalkulation und „freier Arbeit“ unübersehbar hervor und fächert ihn zugleich auf175 –, zeichnet sich eine doppelte Bedingtheit des ‹kapitalistischen› Ordo ab, die durch das Folgende hellere Beleuchtung empfängt. Es wird davon ausgegangen, dass das formale Organisationsprinzip zum einen und bestimmte ideologische Strömungen sowie aus diesen resultierende politische Bewegungen zum anderen einander korrespondieren, ja dass zwischen beiden Seiten ein Verhältnis direkter Abhängigkeit besteht,

 174 Das geht aus der dem soeben zitierten Passus hinterhergeschickten Bemerkung „Vor allem für die soziale Struktur und alle mit ihr zusammenhängenden spezifisch modern-okzidentalen Probleme“ hervor, die syntaktisch von dem Segment „nicht entfernt von der gleichen Tragweite“ abhängig ist. 175 Hier ist auf die Nomina Grundlage und Boden zu verweisen: „Eine exakte Kalkulation: – die Grundlage alles andern, – ist eben nur auf dem Boden freier Arbeit möglich“ (Z. 226f.).

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wobei indes die Rollenverteilung keineswegs klar ist.176 Lässt sich der eben herausgegriffenen Aussage entnehmen, dass „die rationale Organisation“ nur unter ihr gemäßen politischen Verhältnissen aufrechtzuerhalten ist, so legen andere Stellen die Konklusion nahe, dass die Letzteren an wirtschaftliche Faktoren geknüpft sind. Diese Sichtweise meldet sich am deutlichsten an, wenn Weber sich anschickt, den ‹Sozialismus› ohne Umschweife aus der für den ‹Kapitalismus› paradigmatischen Praxis zu deduzieren, und ihm obendrein seinerseits das Schlüsselwort rational beigibt, ihn somit – und hierin wird man eine verblüffende, auch wohl irritierende Pointe erblicken können – als Korrelat des ‹Kapitalismus› versteht:177 Und wie – und weil – keine rationale Arbeitsorganisation, so – und deshalb – hat die Welt außerhalb des modernen Okzidents auch keinen rationalen Sozialismus gekannt (Z. 228–230).

Es liegt in der Logik der hier verfolgten Argumentation, dass mit dem ‹Sozialismus› auch die Problematik, an der er sich entzündete, und seine realgesellschaftliche Unterlage, das „,Proletariat‘ als Klasse“, ebenso wie die komplementären Schichten ‹Bürgertum› und ‹Bourgeoisie› für Folgeerscheinungen der ‹kapitalistischen Arbeitskultur› und ihrer institutionellen Form (nämlich des ‹Betriebs›) erklärt werden. Im Ganzen gesehen könnte man auf die kommentierte Sequenz die These gründen, dass der ‹Kapitalismus› und die ihm adäquaten gesellschaftlichen Zustände reziprok sind, doch nehmen die Ausführungen, die die sozialen Faktoren aus der modernen Betriebsstruktur herauspräparieren, solchen Raum ein, dass sie den einen Satz, der „freie Arbeit“ als Bedingung ‹exakter Kalkulation› namhaft macht – „Eine exakte Kalkulation: – die Grundlage alles andern, – ist eben nur auf dem Boden freier Arbeit möglich“ (Z. 226f.) –, inhaltlich völlig überlagern dürften und so den Anschein hervorrufen, als werde letztlich doch ein einseitiger Einfluss angenommen. Weiter unten stößt man hingegen auf einen Passus, in dem die hier schattierte Relation eine allgemeinere, auch vagere gedankliche Fassung bekommt.178 Man  176 Das sozialökonomische Junktim tritt auch in der später fallenden Wendung „Entstehung des bürgerlichen Betriebskapitalismus mit seiner rationalen Organisation der freien Arbeit“ (Z. 254f.) hervor. 177 Beide Systeme sind konsequent zueinander in Parallele gebracht, wobei auch die – freilich sehr viel bescheidener proportionierte – Synopse über Vorstufen des ‹Sozialismus› bzw. ‹Kommunismus› bis in die Diktion hinein an den Rückblick auf ‹protokapitalistische› Erscheinungen angelehnt ist. Weber statuiert, dass sich ein konsequent durchgestalteter ‹Sozialismus› erst nach der Entstehung des ‹okzidentalen Kapitalismus› habe etablieren können. 178 Seine Eröffnung ist im Übrigen wiederum für die Auseinandersetzung mit der Frage, wie man den wirtschaftsgeschichtlichen Stellenwert des ‹Betriebskapitalismus› zu veranschlagen ha-

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liest dort, dass „die Entstehung des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart [. . .] mit der Entstehung kapitalistischer Arbeitsorganisation zwar im nahen Zusammenhang“ stehe, „aber natürlich doch nicht einfach identisch“ (Z. 256– 259) sei. Dieses Diktum fällt im Verlauf einer abermaligen begrifflichen Schärfung des „Betriebskapitalismus“, der die konsequente ‹Organisation› von Arbeit involviert und als „bürgerlich“ (Z. 254f.) bezeichnet wird. Die Erörterung stellt darauf ab, dass die Genese „des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart“ (Z. 256f.) in den Blick trete, sobald man vom Standort des Wirtschaftshistorikers abrückt und der Untersuchung eine kulturgeschichtliche Tiefendimension verleiht. Das könnte darauf herauskommen, dass es von der Perspektive, die man einnimmt, abhängig ist, ob man dem ökonomischen oder dem gesellschaftlichen Aspekt Aufmerksamkeit schenkt, ohne dass damit gesagt wäre, sie seien deckungsgleich. Indessen wird danach in der schon bekannten Manier notiert, dass bereits das ‹vorkapitalistische› Zeitalter „,Bürger‘179 im ständischen Sinn“ (Z. 259) gekannt habe, wenn auch „nur im Abendlande“ (Z. 260f.). Es kann dieser Behauptung entsprechend das ‹Bürgertum›, wenn es – in wie rudimentärer Gestalt auch immer – vor dem ‹modernen Betriebskapitalismus› da gewesen sein soll, nicht den alleinigen Ausschlag für die Ausbildung desselben oder auch nur für die Etablierung der ‹Kalkulation› als des ‹kapitalistischen› Gravitationszentrums gegeben haben. Es waren nach Weber auch „technische Möglichkeiten“ mitbeteiligt, wobei die adverbiale Bestimmung zunächst offenkundig im starken Maße eine hierarchische Stufenleiter implementiert, auf welcher der nun benannte Faktor weit oben an-

 be und in welchem Verhältnis dieser zu den ihm vorgelagerten ‹kapitalistischen› Praktiken stehe, instruktiv. Diese Letzteren werden unter der Wendung überall nur in der Form wechselnde Entfaltung kapitalistischer Betätigung summarisch zusammengefasst, so dass sie eine Einheit bilden, gegen die der Erstere kontrastiert werden kann. Dabei fällt auf, dass das Substantiv Kapitalismus für das ‹modern-okzidentale Stadium› aufgespart, die Gesamtheit seiner Vorstufen demgegenüber mit der umschreibenden Formel kapitalistische Betätigung bedacht wird. Das kann man als Indiz dafür nehmen, dass dem, was aus geschichtlicher Perspektive als Sondererscheinung anzusehen wäre, strukturell gesehen der Rang eines Paradigmas zukommt, in dem das Prinzip seine ausgereifteste und die ihm am ehesten gemäße Manifestationsgestalt hat. 179 Dass Weber das Wort mit Anführungszeichen versieht, ließe sich dahingehend interpretieren, dass er dem ‹Bürger› gleichsam nur einen hybriden Status zuerkennen, ihn als ‹Bürger› im uneigentlichen Sinne etikettieren möchte, was denn bedeutete, dass der Bürger erst unter der Ägide des ‹Kapitalismus› die ihm beigelegte Idee (oder das Konzept des ‹Bürgerlichen›) voll verkörpert. Die Anführungszeichen erfüllen dieser Lesart zufolge den gleichen Zweck wie oben bei den Ausdrücken kapitalistisch und Kapitalismus, bringen mithin einen nicht verbalisierten Vorbehalt zur Anzeige.

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zusiedeln ist.180 Dieser jedoch kann – so macht das Partizip mitbestimmt klar –für sich nicht als Ursache angesetzt werden; er ist erklärungsmächtig nur dann, wenn er im Verein mit anderen Momenten betrachtet wird. Es zeichnet sich demnach wie oben, als die ‹rationale Arbeitsorganisation› in den Vordergrund rückte, die Vorstellung ab, dass eine ‹kapitalistische› Ätiologie sich einer verkürzenden Sichtweise schuldig macht, sofern sie sich auf einzelne Wirkkräfte konzentriert, anstatt sie in einen „Zusammenhang“ zu bringen. Es ist damit denn auch eine der wesentlichen konzeptuellen Prämissen von Webers Begriffsarbeit bezeichnet. Das Folgende präzisiert die im Vorigen getroffene Feststellung dahingehend, dass die technischen Momente nicht als solche, sondern in ihrer „Berechenbarkeit“ (Z. 263f.) der „exakte[n] Kalkulation“ (Z. 264f.) zugeschlagen werden, nämlich als deren „Unterlagen“ (Z 264); dieses Lexem schließt an dasjenige an, das oben bei der Einführung der ‹Kalkulation› als Praxis Verwendung fand: Grundlage. ‹Technik› ist für Weber denn auch nicht eigentlich, wie der vorausgegangene Satz insinuierte, für sich genommen oder aber als ökonomisches Potential belangvoll. Es ist lediglich ein einzelner Aspekt an ihr, was sein Interesse auf sich zieht, nämlich ihre ‹Berechenbarkeit› oder vielleicht auch: ‹Kontrollierbarkeit›, dies also, dass sie sich einem ökonomischen Kalkül unterwerfen lässt und für übergeordnete Zwecke einsetzbar ist. Solche von Reflexion beherrschte ‹Technik› ist als Konstituens jener Entwicklungsstufe der ‹Rationalität› anzusprechen, die das Insigne der Moderne ausmacht, wie Weber zumindest durchblicken lässt, indem er zu dem Adverb heute (Z. 263) greift. Es erscheint hier wieder die Frage am Horizont, ob diese Art von ‹Rationalität› oder von ‹Rationalisierung›, die von dem Aufschwung begünstigt wird, den die Naturwissenschaften seit der Frühen Neuzeit erlebten, mit jener, die es vorher gegeben hat, überhaupt noch kommensurabel sei oder ob sie die letztere nicht durch etwas qualitativ Neues übertreffe.181 Ehe dieses Problem nochmals aufgerollt wird, soll ein Schlaglicht auf Webers Bemerkungen zu den Naturwissenschaften in der Moderne fallen, deren Besonderheit nach dem inzwischen eingeschliffenen sprachlichen Muster ausbuchstabiert wird, nämlich auf der Folie der wissenschaftlichen Praxis in ‹vorkapitalistischen›

 180 Der betreffende Satz lautet: „Der spezifisch moderne okzidentale Kapitalismus nun ist zunächst offenkundig in starkem Maße durch Entwicklungen von technischen Möglichkeiten mitbestimmt“ (Z. 261–263). 181 Dass die Wissenschaften in der Neuzeit hinsichtlich der Ausprägung, die in ihnen die ‹Rationalität› erlangt, von allem Früheren divergieren, wird aus dem Satz deutlich, der alsbald auf den in der vorigen Anm. wiedergegebenen folgt: „Das heißt aber in Wahrheit: durch die Eigenart der abendländischen Wissenschaft, insbesondere der mathematisch und experimentell exakt und rational fundamentierten Naturwissenschaften“ (Z. 265–267).

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Epochen, zumal in ihrer Entstehungszeit.182 Dabei macht Weber das Einzigartige der neuzeitlichen Wissenschaft gerade in der ökonomischen Verwertung ihrer Resultate aus: Die Entwicklung dieser [i.e. der mathematisch und experimentell exakt und rational fundamentierten Natur-]Wissenschaften und der auf ihnen beruhenden Technik erhielt und erhält nun andererseits ihrerseits entscheidende Impulse von den kapitalistischen Chancen, die sich an ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit als Prämien knüpfen (Z. 267–270).

Er geht dabei gleichwohl nicht so weit, einen direkten Einfluss des ‹Kapitalismus› auf die Herausbildung neuer Forschungszweige und ihres methodologischen Apparats in Erwägung zu ziehen: „Zwar nicht die Entstehung der abendländischen Wissenschaft ist durch solche [i.e. kapitalistische] Chancen bestimmt worden“ (Z. 270–272).183 Diese Wendung ist argumentativ durchaus verfänglich, zumindest wenn man voraussetzt, dass es Weber hier nach wie vor darum zu tun ist, Konstituenzien des ‹modernen Kapitalismus› aufzuspüren; wird doch in der Quintessenz eben dieser dem Faktor, der ihn erklären soll, wohl nicht zugrunde gelegt, aber als Formativ oder zumindest als Katalysator zur Seite gestellt, womit die Betrachtung zumindest unterschwellig einen zirkulären Charakter annimmt. Im Übrigen äußert dieser sich im unmittelbaren Vorfeld ganz unverhohlen, wenn nämlich die Erörterung auf das Proprium der Naturwissenschaften ausgeht, um so zum Kern von ‹Rationalität› vorzustoßen, aber zur Charakterisierung dieser Wissenschaften wiederum die Wendung rational fundamentiert aufbietet.184 Anschließend engt Weber den Problemkreis auf die ‹kapitalistische› Funktionalisierung der Naturwissenschaften ein, die, wie sich zeigte, ihrerseits erläuterungsbedürftig ist. Er verweist in diesem Kontext wiederum auf „ökonomische Prämien“, die „aus der Eigenart der Sozialordnung des Okzident“ hervorgegangen

 182 „Gerechnet, mit Stellenzahlen gerechnet, Algebra getrieben haben auch die Inder, die Erfinder des Positionszahlensystems, welches erst in den Dienst des sich entwickelnden Kapitalismus im Abendland trat, in Indien aber keine moderne Kalkulation und Bilanzierung schuf. Auch die Entstehung der Mathematik und Mechanik war nicht durch kapitalistische Interessen bedingt“ (Z. 272–276). 183 Vgl. hierzu auch den Satz, mit dem das Zitat in der vorigen Anm. schließt; er lässt an Klarheit nicht zu wünschen übrig. 184 Um die Argumentation nachvollziehbar zu halten, wird der entsprechende Passus hier noch einmal zusammenhängend zitiert: „Seine [i.e. des Kapitalismus] Rationalität ist heute wesenhaft bedingt durch Berechenbarkeit der technisch entscheidenden Faktoren: der Unterlagen exakter Kalkulation. Das heißt aber in Wahrheit: durch die Eigenart der abendländischen Wissenschaft, insbesondere der mathematisch und experimentell exakt und rational fundamentierten Naturwissenschaften“ (Z. 263–267).

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sein sollen, hält freilich am einmal eingeschlagenen Kurs fortlaufender Eingrenzung und Zerlegung des Themas fest, indem er ankündigt, einzelne „Bestandteile“ besagter „Eigenart“ selegieren zu wollen.185 Er führt „die rationale Struktur des Rechts und der Verwaltung“ (Z. 283) ins Feld, als welcher besondere Aufmerksamkeit gebührt, weil sie garantiert, dass die ‹Kalkulation› von störenden äußeren Einflüssen frei bleibt. Heißt es ferner, das Rechts- und Verwaltungswesen habe sich im Okzident zu vormals ungekannter „rechtstechnische[r] und formalistische[r] Vollendung“ (Z. 290) aufgeschwungen, so ist damit – der Rekurs auf das Epithet technisch zeigt es an – eine Paraphrase der juristischen Manifestation von ‹Rationalität› gegeben. Indessen sollen „kapitalistische Interessen“ (Z. 292) wie bei der Vervollkommnung der Naturwissenschaften, so auch bei der Professionalisierung des modernen Rechts im Spiele gewesen sein, obwohl Weber durchaus prononciert, ja expressiv „noch ganz andre Mächte“ (Z. 296) als Ursachen dieser Entwicklung herbeizitiert und dabei das Ungenügende einer Erklärung betont, die ausschließlich mit den ökonomischen Wirkkräften argumentiert.186 Diese Pointe ist für den Text insofern typisch, als hier eine in der Diktion sehr präzise Passage, deren analytische Spannkraft sich unmittelbar in terminologischen Stufungen187 zu bekunden scheint, von einem summarischen Verweis auf indefinite, opake Qualitäten abgeschnitten wird, einstweilen ohne dass Näheres über dieselben mitgeteilt würde:188 Die Untersuchung schwenkt nämlich sogleich wieder auf die vorher verfolgte Linie ein, indem sie auf das ‹Rationale› in  185 Die Stelle, auf die das oben Ausgeführte Bezug nimmt, knüpft unmittelbar an den Passus in Anm. 182 an: „Wohl aber wurde die technische Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse: dies für die Lebensordnung unsrer Massen Entscheidende, durch ökonomische Prämien bedingt, welche im Okzident gerade darauf gesetzt waren. Diese Prämien aber flossen aus der Eigenart der Sozialordnung des Okzidents. Es wird also gefragt werden müssen: aus welchen Bestandteilen dieser Eigenart, da zweifellos nicht alle gleich wichtig gewesen sein werden“ (Z. 276–282). 186 „Woher hat er [i.e. der Okzident] jenes Recht? wird man also fragen müssen. Es haben, neben anderen Umständen, auch kapitalistische Interessen ihrerseits unzweifelhaft der Herrschaft des an rationalem Recht fachgeschultem Juristenstandes in Rechtspflege und Verwaltung die Wege geebnet, wie jede Untersuchung zeigt. Aber keineswegs nur oder vornehmlich sie. Und nicht sie haben jenes Recht aus sich geschaffen. Sondern noch ganz andre Mächte waren bei dieser Entwicklung tätig“ (Z. 291–297). 187 Hier wären vor allem die Prägungen Betriebskapitalismus (Z. 284) auf der einen sowie Abenteurer-und spekulativer Händlerkapitalismus (Z. 286) und politisch bedingte[r] Kapitalismus (Z. 287) auf der anderen Seite hervorzuheben. 188 Das geschieht gegen Ende der „Vorbemerkung“, unmittelbar bevor Weber dazu übergeht, die Aufsätze zu exponieren: „Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun gehörten in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen. Von diesen ist in den nachstehend gesammelten und ergänzten Aufsätzen die Rede“ (Z. 326–330).

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„der okzidentalen Kultur“ (Z. 303) regrediert, das sie mit dem – freilich in Anführungszeichen stehenden – Lexem Rationalismus (Z. 303) einer semantischen Differenzierung unterzieht: „Denn es handelt sich ja in all den angeführten Fällen von Eigenart offenbar um einen spezifisch gearteten ,Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“ (Z. 302f.). Es mag sein, dass hier in dem Suffix -ismus dasjenige kondensiert ist, worauf das Attribut spezifisch geartet (Z. 303) referiert. Die Wahl des fraglichen Nomens dürfte von dem Ansinnen zeugen, die immer wieder heraufbeschworene Exklusivität und Eigenwertigkeit ‹okzidentaler Rationalität› der sprachlichen Kennung selbst gutzuschreiben, doch wird dieser Vorstoß in der üblichen Manier durch eine gegensinnige gedankliche Bewegung konterkariert, die in die leitmotivisch gewordene Formel der Zurücknahme – „Rationalisierungen hat es [. . .] auf den verschiedenen Lebensgebieten in höchst verschiedener Art in allen Kulturkreisen gegeben“ (Z. 312–314) – einmündet. Vor dem Hintergrund des Leitinteresses der Darstellung, das sich auf begriffliche Klärung richtet, mag man es verwirrend finden, dass das erwähnte Dementi mit dem Zugeständnis anhebt, es könne unter dem „Wort“ Rationalismus „höchst Verschiedenes verstanden werden“ (Z. 304), was, wie Weber ankündigt, die gesammelt publizierten religionssoziologischen Aufsätze in der Folge „wiederholt verdeutlichen werden“ (Z. 305), womöglich auch – diese Lesart ist freilich spekulativ – verdeutlichen sollen. Als sei dieses Bekenntnis zur semantischen Mehrwertigkeit des Rationalismusbegriffs noch nicht genug, macht Weber sodann auch geltend, dass selbst ‹irrational› anmutende Momente einen Prozess der ‹Rationalisierung› durchlaufen können, wobei das Lexem selbst zunächst wiederum in Anführungszeichen erscheint, also wohl unter Vorbehalt steht: Es gibt z.B. „Rationalisierungen“ der mystischen Kontemplation, also: von einem Verhalten, welches, von anderen Lebensgebieten her gesehen, spezifisch „irrational“ ist, ganz ebenso gut wie Rationalisierungen der Wirtschaft, der Technik, des wissenschaftlichen Arbeitens, der Erziehung, des Krieges, der Rechtspflege und Verwaltung. Man kann ferner jedes dieser Gebiete unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und Zielrichtungen „rationalisieren“, und was von einem aus „rational“ ist, kann, vom andern aus betrachtet, „irrational“ sein (Z. 305–312).

Der Rationalitätsbegriff, der solcherart eingeführt wurde, dass er die Erwartung schürte, er präsentiere die Essenz des ‹Kapitalistischen›, und dessen semiotisches Profil trotz seiner lexikalischen Präzisierung in der Folge immer mehr an Schärfe verlor, scheint im Zitat massiv ausgeweitet, ja nachgerade dekonstruiert: Ihm werden semantische Invarianten rundweg abgesprochen. Das kommt der Behauptung gleich, dass er seine Bedeutung ausschließlich von der jeweiligen Situation empfange, auf die er Anwendung findet, wobei den möglichen Gebrauchssituationen ebenfalls keinerlei inhaltliche Restriktionen auferlegt werden. Obendrein

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unterlässt es Weber, auf Ähnlichkeiten oder Parallelen in den Rationalisierung genannten Vorgängen auszuweichen, die sie trotz der Disparatheit der Domänen, in welchen sie sich vollziehen, etwa noch zeigen könnten. Die Diversifizierung seiner Bedeutung durch historische Kontextualisierung entleert den Terminus in solchem Maße, dass er ganz unübersehbar in Widerstreit mit den Normen gerät, die vonseiten der Wissenschaften selbst an Fachbegriffe herangetragen werden. Sollen diese gemeinhin klar definiert sein, so sticht der Ausdruck Rationalismus durch offenkundige inhaltliche Beliebigkeit hervor, wobei die apodiktisch-zuspitzende Diktion, mit der Weber jenen destruiert, jeden Weg zu einer Entschärfung des Gegensatzes verbaut. Lässt man diese Beobachtungen Revue passieren, scheint es müßig, zu fragen, ob die Rationalitätsphänomene sich in der ‹kapitalistischen Moderne› so sehr von allem, was ihnen vorausging, abhöben, dass sie nicht mehr dem zugehörigen Begriff subsumiert werden können und folglich zu dessen Neukonfigurierung nötigten, oder ob der Terminus im Gegenteil nicht erst auf dieser ‹Rationalitätsstufe› die ihm gemäße Referenzgröße habe. Dergleichen Gedankenspielen ist mit der radikalen Entgrenzung seines extensionalen Bereichs vorerst ein Riegel vorgeschoben. Für die Erörterung ergibt sich daraus eine nochmalige Verengung des Gesichtsfeldes, insofern nun „die besondere Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus“ (Z. 316f.) den vorrangigen Gegenstand ihres Interesses bildet, ohne dass dieses Spezifikum mehr von konzeptuell-sprachlichen Prägungen wie Rationalität oder Rationalismus her erfassbar wäre. Zwischen dieser Besonderheit, die in dem Ausdruck Lebensführung wiederum einen expansiven Signifikanten erhält, und dem Ökonomischen besteht ein von Weber vorerst nur streiflichtartig angerissenes, für eine spätere Behandlung aufgespartes Interdependenzverhältnis: [. . .] [W]ie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig (Z. 321–324).

Mit der Erwähnung lebensweltlicher Aspekte, die an der Entstehung des „ökonomischen Rationalismus“ in der von Weber angezeigten Richtung teilhaben, kommt die allgemeine Darlegung zum Abschluss. Sie geht in eine Synopse der nachfolgend dargebotenen Aufsätze über, die unter dem Gesichtspunkt der Gestaltung, die die genannte Wechselbezüglichkeit jeweils in ihnen erfährt, umrissen werden. Weber trachtet nach einer „einigermaßen eindeutige[n] kausale[n] Zurechnung derjenigen Elemente der okzidentalen religiösen Wirtschaftsethik, welche ihr im Gegensatz zu andern eigentümlich sind“ (Z. 343–345). Diese gedrängte Formulierung knüpft an einen der argumentativen Hauptstränge der „Vorbemerkung“

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an, indem sie statuiert, dass die Eigentümlichkeit eines übergreifenden Ganzen (hier der Wirtschaftsethik) nicht an diesem selbst oder seinem Zuschnitt, sondern an einzelnen Komponenten sichtbar werde, wobei das einschränkende Adverb einigermaßen ein Element der gedanklichen Unschärfe anklingen lässt, das anzuerkennen selbst eine denkbar minuziös und systematisch verfahrende Untersuchung nicht umhinkommt. Eine definitive Klärung dessen, was man sich unter ‹Kapitalismus› zu denken hat, steht indes noch aus und ist auf dem beschrittenen Wege auch wohl nicht erreichbar: Die geradezu unerbittliche Konsequenz, mit der Weber Erscheinungen, die gewöhnlich dem ‹Kapitalismus› auf die Rechnung geschrieben und dabei so behandelt werden, als seien sie untrennbar mit ihm verwoben, daraufhin befragt, inwieweit und ob sie überhaupt für ihn symptomatisch sind, hat zu einer Aushöhlung des Konzepts geführt oder es doch zumindest unmöglich gemacht, ihm eine stabile und klar strukturierte Merkmalsmatrix mit Basis und Randbereich zuzuweisen. Es zeigt sich, dass der widersprüchliche oder, vorsichtiger ausgedrückt, facettenreiche Rationalitätsbegriff, wenn alle ihm subsumierten oder subsumierbaren Elemente auf ihn zurückgespiegelt werden, unter dem Andrang heterogener Wirklichkeitspartikel regelrecht diffundiert. Man könnte diesen Befund aber auch dahin wenden, dass er besagt, es werde die herkömmliche Praxis der Begriffsbestimmung zu einem Kompositionsprozess umfunktioniert, der eine montageartigkonstellative Gruppierung der Merkmale zum Ergebnis hat und in dem Maße, wie er auf die Einzelmomente und ihre wechselseitigen Beziehungen ausgerichtet ist, das eigentliche Ziel, die Definition, in den Hintergrund treten lässt. Von dieser Seite angesehen darf die Auffassung, dass das von Weber gewählte Ausschlussverfahren „operativen Zwecken“ entgegen ist, als durchaus stichhaltig gelten, denn an der Destabilisierung des Rationalitätsbegriffs, die auf dessen Auflösung hinzuarbeiten scheint, wird deutlich, was für Konsequenzen seine fortwährende Kontextualisierung mit sich bringt: Die Darlegung verwirft analytische Unterscheidungen als der Sache inadäquat und konterkariert die Modi orientierender, auf taxonomische Schemata gegründeter Erkenntnis, indem sie vorführt, dass der Sache mit analytischen Mitteln allein nicht Herr zu werden ist. Die „Vorbemerkung“ figuriert somit ein Denken, das man als „antilogisch“ in dem Sinne apostrophieren kann, in dem von Weizsäcker das Wort gebraucht – ein Denken nämlich, das auf Erweiterung eines vielfach vorgeprägten, instrumentell gebundenen Verständnisses von Logik oder prozeduraler Diskursivität abzielt, das in der Regel stillschweigend als solches vorausgesetzt, nicht aber daraufhin analysiert wird, welchen außerlogischen Einflussfaktoren oder Normvorstellungen es unterworfen ist. Der eingeschliffene Logikbegriff ist ein vielfach bedingter, und es können, wie von Weizsäcker gezeigt hat, unterschiedliche Ausprägungen von Lo-

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gischem in Konjunktion treten, ohne dass dieser Prozess gedanklich nachvollzogen würde.189 Um nun wieder auf Weber zurückzukommen, so mag es gerade der eben bezeichneten Haltung entsprechen – und nicht allein dem Bestreben geschuldet sein, einen dramaturgischen Effekt zu erzielen –, dass er höchst akribisch einzelne Merkmale zusammenstellt und sie daraufhin als für die übergeordnete Fragestellung unerheblich verwirft. Tatsächlich sind die versammelten Elemente unbeschadet dessen, dass man ihnen keine Repräsentativität für den ‹Kapitalismus› oder für die ‹Rationalität› zubilligen kann – soweit beides sich überhaupt voneinander trennen lässt –, noch immer eng mit den genannten Prinzipien verklammert, mithin ebenso wenig als kontingent wie als für die Letzteren konstitutiv oder essentiell einzustufen. Stattdessen kann man annehmen, dass etwas von den Prinzipien, denen sie unterstehen, auf die phänomenale Qualität der von Weber aufgeführten ideellen und materiellen Entitäten abstrahlt und dass Letztere mit Adorno gesprochen „die zunehmende Integrationstendenz des kapitalistischen Systems“ bezeugen, insofern sie sich als Glieder eines sich immerfort verdichtenden „Funktionszusammenhang[s]“ (Adorno 1973, 168) erweisen. Ihre permanente ökonomische Verwertung ist für sie in einem Grade kennzeichnend geworden, dass sie sich ihnen eingeprägt hat, sie mithin an und für sich als verwertbar erscheinen. Webers Ausführungen legen obendrein den Schluss nahe, dass es sich beim ‹Kapitalismus› – um die Betrachtung auf diesen zuzuspitzen – letztlich um nichts anderes als um eine spezifische Gemengelage aus grundsätzlich unspezifischen Elementen oder um etwas Ideell-Abstraktes handelt, das Phänomene im Gefolge hat, welche ihm, etwa soweit es seine Struktur betrifft, äußerlich sind, aber doch wohl zumindest in lockerer Beziehung zu ihm stehen. Der ‹Kapitalismus› ist, ohne dass ein Grund dafür namhaft zu machen wäre, also nach außen hin unwillkürlich, aus einer bestimmten Schichtung von Faktoren hervorgegangen, von denen man lediglich in der Retrospektive sagen kann, dass sie ein ‹kapitalistisches› Gepräge angenommen haben, weil sie auf das übergeordnete gedankliche Prinzip wie auf ein Gravitationszentrum ausgerichtet schei-

 189 Von Weizsäcker gibt die Devise aus, es könne nicht im Vorfeld statuiert werden, dass „als ,logisch‘ nur eine bestimmte Art von Logik bezeichnet und annehmbar gälte“. Direkt im Anschluss erläutert er: „Formale, transzendentale, ontologische Logik entstehen ungleichzeitig in der Geschichte der Philosophie; Aristoteles, Thomas, Kant, Hegel, Logistik sind hier als mögliche Beispiele eines Rückgriffes gegeben; grammatische, mathematische, dialektische, dialogische Anlehnungen sind alle nur erlaubt, nicht gefordert; die positivistische, empirische, formalistische, metaphysische Haltung, auch das ästhetische, moralische, psychologische oder politische Bedürfnis können sich einmischen, ohne daß wir es gleich gewahr werden“ (von Weizsäcker 2005, 404).

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nen – so als seien sie es immer schon gewesen. Indem Weber sich auf Details konzentriert, die an sich wenig charakteristisch sind, solche aber in reicher Fülle ausbreitet, und zwar in der Weise eines infiniten Progresses, gibt er zumindest mittelbar auch eine Vorstellung von dem eminenten, potentiell wohl unbegrenzten Absorptionsvermögen des ‹Kapitalismus›, wie es sich beispielhaft darin manifestiert, dass kaum ein kulturelles Phänomen gegen dessen Wirkung vollends immun ist: Der ‹Kapitalismus› überträgt sich auf ganze Realitätssegmente, welche, wie Webers Untersuchungen lehren, dazu nicht prädestiniert sein müssen, und zwar gleichsam unterschiedslos und ohne dass er auf erkennbare Grenzen stieße. An diese Valorisierung, die das Einzelne durch seine Eingruppierung in ein funktionales System erfährt, rührt Weber, indem er zeigt, dass die von ihm erörterten Aspekte nicht an sich schon ‹kapitalistische› Qualität besitzen, auch wenn sie gemeinhin für einschlägig gelten. Ihnen wächst dies Gepräge durch eine strukturelle Konversion zu, wie Weber sie impliziert, ohne sie eingehender zu behandeln, geschweige denn zu erforschen. Indessen präpariert er allein dadurch, dass er das Moment der ‹Funktionalisierung› an einzelnen Größen sichtbar macht, zuletzt doch noch ein Proprium des ‹Kapitalismus›, vielleicht sogar das eigentlich für ihn Wesentliche heraus. R e s ü m e e – Der letzte Teil der Weber gewidmeten Untersuchung setzte es sich zum Ziel, am Beispiel von Entwicklungen und Einrichtungen, die eng mit dem Kapitalismus verflochten sind, Webers Darstellung des Spannungsverhältnisses zwischen phänomenaler Einzelkomponente und funktional-abstraktem Ganzen nachzuvollziehen und in ihrer gedanklichen Anlage zu erfassen. Diese Darstellung hat die Besonderheit, dass sie die innere Struktur der ‹kapitalistischen› Praxis mittels eines analytischen Verfahrens zu erschließen sucht und gleichzeitig unverhohlen einbekennt, dass Inventarisierung und Kontextualisierung von Bausteinen und Wirkkräften das vermeintliche Hauptanliegen der „Vorbemerkung“ – Phänomene wie den modernen Kapitalismus und Rationalismus von bestimmenden Eigenschaften her zu verstehen und begrifflich zu fixieren – nicht befördern. Es werden nämlich gerade nicht Erscheinungen versammelt, die den Rang von Konstituenzien des ‹Kapitalismus› einnehmen, sondern im Gegenteil solche, die als Determinanten in Frage kommen könnten, systematisch aus dem Kreis der Kandidaten ausgeschlossen. Dessen ungeachtet drängt sich der Eindruck auf, dass sie deshalb nicht schon als vollends kontingent betrachtet werden müssen; sie sind weder für den ‹Kapitalismus› elementar noch ohne jeden strukturellen Zusammenhang mit ihm. Der Erörterung deutet so auf eine kategoriale Antinomie hin, in der man das eigentliche Charakteristikum der neuzeitlich-westlichen Wirtschaft erblicken kann.

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4.2.4 Vergleich von Weber und Marx Die „Vorbemerkung“ hat ein eher konfiguratives denn konstellatives Ansehen, weil die einander zugeordneten Termini ostentativ in einen textuellen Zusammenhang eingebettet sind bzw. dieser Letztere sprachlich recht auffällig designiert, man könnte wohl auch sagen: zur Geltung gebracht ist. Im Gegensatz zu Marx, dessen Argumentation in ihrer sprachlichen Darstellung einen Zug ins Intermittierende und Oszillierende hat oder auch erst annimmt, betont Weber das Prozesshafte an der Reflexion in einem solchen Maße, dass diese über ihre gedanklichen Knotenpunkte hinausdrängt: Sie ist durch die sprachliche Gestaltung der „Vorbemerkung“, vor allem durch deren Syntax, als fortlaufend-zwingende Bewegung inszeniert. Diese persistente Kontinuierlichkeit rückt dadurch, dass sie solchergestalt indiziert wird, als keineswegs randständiges Konstituens der Theoriebildung in den Gesichtskreis: Bei Weber dringt in der Form ein reflexiver Gestus, der dem sich entfaltenden Gedanken vorgeordnet und womöglich wie bei Marx affektiv besetzt ist, an die Oberfläche, jedoch ohne dass er von der Argumentation selbst eingeholt und sodann gesteuert würde. Dasjenige am Gedanken, was sich durch die Form hindurch vom Gesagten abscheidet – er mag solcher Abstoßungsprozesse bedürfen, um sich zu konsolidieren –, entschlüpft ihm, ist nicht oder nur im Ansatz den Inhalten wieder zuzuführen, die ebenso wie den Operationsraum der Argumentation auch das Hoheitsgebiet der durch Letztere repräsentierten begrifflich-diskursiven Logik abstecken. Dass die eben umschriebene Bewegung die Faktur des Weber’schen Textes prädeterminiert – und zwar in einem solchen Grad, dass sie ihm eine nachgerade physiognomische Qualität zuteilt –, erlaubt die Schlussfolgerung, dass sie das Spezifische von Webers Denken bezeichnet oder, anders gesagt: dass dieses sich nicht in der Ausfaltung einer Terminologie erschöpft. Gleichzeitig wird man annehmen dürfen, dass sich in der skizzierten Formgestalt, die womöglich allzu einseitig auf die Rechnung der reflexiven Dynamik bei Weber gesetzt wurde, auch etwas vom Gegenstand der Auseinandersetzung niederschlägt: ein Moment, das sich nicht aussagen, nicht als Proposition fixieren lässt. Vielleicht, dass das Weber’sche Denken von der Fragestellung oder von deren Sujet einen Anstoß empfängt, sich in seiner Eigentümlichkeit voll auszuprägen, dass das Gedachte und die Art seiner Durchführung einander wechselseitig bedingen und hier demnach ebenso wenig wie bei Marx auseinanderdividiert werden können. Das Fragmentarische der spätesten Schrift über „Wirtschaft und Gesellschaft“ ist der sprachlichen Realisierungsform der Weber’schen Argumentation, welcher der Totalitätsanspruch, der Ehrgeiz, sämtliche Facta einzusammeln, zu durchdringen und in einen Zusammenhang einzugliedern, gleichsam eingeschrieben

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ist, im Grunde ungemäß. Vielleicht darf man sagen, dass das Einzelne einer Art reflexiver Deklination unterliegt, die als solche erkennbar bleibt, weil das System, das ihren ideellen Hintergrund bildet, durch einen Text wie die „Vorbemerkung“ präsent gehalten wird: Die enorme Dichte der sprachlichen Präsentation ist der Absicht geschuldet, die Momente nicht zu verklammern, sondern bereits in dem von Weber selbst designierten Kompositionsprozess das fertige Produkt, also das Komponierte, aufscheinen zu lassen, als sei sich der Autor der Gefahr bewusst, dass es keine kenntliche Gestalt annehmen oder uneingelöst bleiben könnte, wenn es als ein Konkretum gedacht würde. Die Eigentümlichkeiten der kleineren Arbeiten Webers, namentlich das Überartikulierte und Gedrängte der Diktion, stehen im Horizont der Utopie des totalen Werkes. Die Konfigurationen bei Weber sind in sich gerundet, sie lassen keine Lücken zurück; in ihnen scheinen nachgerade entfesselte gedankliche Bindekräfte wirksam geworden zu sein.

4.2.5 Zusammenfassung (II) Das Folgende soll noch einmal die wichtigsten Etappen der oben vorgetragenen Überlegungen Revue passieren lassen und auf diesem Wege das Prinzip, das im Vorigen unter dem Lexem konfigurativ firmierte, aus dem Textmaterial herausschälen, also in seinen Manifestationsgestalten sichtbar machen. Dabei wird eine Darstellung angestrebt, die sich – gemessen an der stark verdichtenden Hinführung zum einen und an der detailreichen Textuntersuchung zum anderen – auf einem mittleren Abstraktionsniveau bewegt. Die Unterpunkte sind mit den Seitenzahlen versehen, auf die sich die jeweiligen Ausführungen beziehen. 4.2.5.1 S. 129–133 Mit dem Attribut konfigurativ soll das zentrale Charakteristikum eines Procedere der Begriffsklärung bezeichnet werden, das auf eine indefinite Größe ausgeht, welche sich aus einer spezifischen „Verkettung von Umständen“ ergibt und auf einer höheren Ebene situiert ist als die einzelnen Gegebenheiten selbst. Weiterhin wird von dieser außersprachlichen Größe auf ein Moment extrapoliert, das in analoger Weise der Gruppierung begrifflicher Merkmale als residuale reflexive Bestimmung entspringt und als ihnen übergeordnet zu denken ist. Dem konfigurativen Zug, der bei Weber auch für die Textkomposition produktiv gemacht wird, erwächst in Gestalt der Reihung, der um Vollständigkeit bemühten Inventarisierung der einzelnen inhaltlichen Aspekte, die zumindest vordergründig positivistische Impulse auszusenden scheint, eine Gegentendenz. Dieser Eindruck wird prima facie durch syntaktische Formationen gestützt, in de-

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nen der Schwerpunkt auf den Subjekten ruht und die Prädikation sich verhältnismäßig blass ausnimmt; als Beispiel wäre die Konstruktion [Dativ] fehlt [Nominativ] heranzuziehen. Freilich erweist es sich bei näherem Hinsehen, dass in den Nomina hochkomplexe Formalisierungsprozesse sedimentiert sind und es sich bei jenen mitnichten nur um Designatoren für empirische Daten handelt. Das positivistische Element, das der konfigurativen Anlage der Definition die Waage hält, wird folglich durch Webers terminologische Prägungen selbst, als welche von einem hohen Maß an gedanklicher Vermitteltheit künden, abgeschwächt. 4.2.5.2 S. 134–145 Nach der Erörterung der eben festgehaltenen Befunde kam ein Passus zur Behandlung, in dem die leitmotivisch wiederkehrende Konstruktion [Dativ] fehlt [Nominativ] auf exemplarische Weise zur Anwendung gelangt und mit dem Epitheton rational ein inhaltliches Konstituens der „Vorbemerkung“ namhaft gemacht wird. Was die prädikative Formel anlangt, so avanciert sie ebenso wie das semantisch gegenläufige hat es (auch anderwärts) gegeben zu einem argumentativen Scharnier des Textes. In dem Alternieren von Sequenzen, die sich aus dem einen oder anderen der beiden antagonistischen Verbalkomplexe aufbauen, wird ein logischer Binarismus dokumentarisch, dem zufolge etwas entweder vorhanden oder nicht vorhanden ist und der somit der Option eines dritten Zustandes zwischen den beiden Polen, geschweige denn der vermittelnder Durchgangsstadien keinen Raum lässt. Was das Konzept des ‹Rationalen› anlangt, so bereitet es, wie alsbald deutlich wird, dem Verständnis vergleichbare Schwierigkeiten wie der ‹Kapitalismus›; somit steht zu erwarten, dass seine gedankliche Durchführung eine Blaupause für die Erörterung des ihm übergeordneten Themas liefert. Dass sich der Rationalitätsbegriff gegen eine präzise Bestimmung sperrt, ist daran zu ersehen, dass ihm zunächst indirekt, nämlich über die Nomina, die das Attribut rational determiniert, semantische valeurs angeheftet werden; seine Bedeutung empfängt so durch die Angabe von Aspekten Beleuchtung, auf die er bezüglich ist. Diese inhaltliche Annäherung an das ‹Rationale›, das sich im Verlauf der Erörterung als strukturelle Dominante der okzidentalen Moderne erwiesen hat, gravitiert auf die Denkfigur der ‹Rationalisierung› hin, in der es das Ansehen einer freischwebenden Wirkkraft gewinnt, welche den Anstoß zur Ausbildung bürokratischer Systeme in verschiedenen, letztlich wohl in sämtlichen gesellschaftlichen Segmenten gegeben hat. Die hier ausgebreiteten Beobachtungen stehen zu anderen in Spannung, die den Anschein erwecken, als unternehme Weber Manöver zu einer semantischen Destabilisierung des Begriffs, indem er ihm Momente beilegt, die mit den im Vo-

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rigen herausmodellierten inhaltlichen Grundzügen kaum in Übereinstimmung zu bringen sind. So könnte man beispielsweise aus Prägungen wie Gebanntheit oder absolut unentrinnbar mythisierende Untertöne heraushören. Allerdings münden solche unterschwelligen Nuancierungen und Insinuationen nicht in Statute oder auch nur in Hypothesen und Spekulationen ein; die von ihnen angeschlagenen Motive werden höchstens im Ansatz artikuliert. Über das im Vorigen Aufgezeichnete hinausgehend wäre zu fragen, ob Bedeutungssubstrate, die von der inhaltlichen Generaltendenz des Rationalitätsbegriffs divergieren, durch das – in der „Vorbemerkung“ freilich nirgends aufgeschlüsselte – Nomen Geist abgedeckt sein könnten, welches den ‹Rationalismus› oder auch den ‹Kapitalismus› zu animifizieren scheint. Der Letztere – auch das brachte die Interpretation zutage – wird durch den Superlativ schicksalsvollste Macht seinerseits in die Nähe einer numinosen Kraft gerückt und erhält so eine ausgesprochen obskure Note. Es wurde dies als möglicher Reflex einer Verselbständigung des ‹Kapitalismus› in der Moderne gewertet, die zur Konsequenz hat, dass dieser sich von seinen historischen Bedingungen abspaltet und es nicht mehr möglich ist, ihm einzelne Faktoren als Ursachen zuzuschreiben. Es wurden weiterhin von Weber behandelte Erscheinungsweisen bzw. Materialisationen des ‹Rationalen›, namentlich der moderne Staat und seine Organe, beleuchtet. Dabei ergab sich, dass Webers Räsonnements auch an diesem Punkt ein konfiguratives Gepräge annehmen und so diejenige Form der Darstellung, mit der die „Vorbemerkung“ auf die Schwierigkeiten respondiert, wie sie eine Kapitalismusanalyse zu gewärtigen hat, der Theorie des modernen Staatswesens oktroyieren. Mit dessen Genese nämlich soll der Aufstieg des ‹Kapitalismus› untrennbar verwoben sein. Weber rechtfertigt diese Ausweitung des konfigurierenden Verfahrens mit dem Statut, dass Entwicklung und Fungibilität des Staates sich einer für ihn „wesentliche[n] Kombination“ von „entscheidenden Merkmalen“ verdankten. 4.2.5.3 S. 145–156 Im Anschluss an seine Bemerkungen über den Staat und dessen Einrichtungen fährt Weber mit der Erörterung seines Hauptgegenstandes fort. Die exegetischen Bemühungen um die entsprechenden Partien der „Vorbemerkung“ konzentrierten sich besonders auf die Themenentwicklung und ihre konzeptuelle Unterlage – Prämissen, Implikationen – sowie auf ihre lexikalischen Kristallisationspunkte; es wurde überdies versucht, die wichtigsten Stadien der inhaltliche Ausfüllung des konfigurativen Verfahrens nachzuvollziehen. Zunächst fiel auf, dass Weber den Schwerpunkt seiner Ausführungen mehr und mehr auf die Auseinandersetzung mit kurrenten Hypothesen die Ingredienzien des ‹Kapitalismus› betreffend

Der konfigurative Kapitalismusbegriff Max Webers und seine konzeptuelle Basis  179

verlagert: So wird zum Beispiel ein psychologisches Movens wie „Erwerbstrieb“ zugunsten eines gedanklich vermittelten Handelns, das sich von „der Chance der Erzielung von Rentabilität“ leiten lässt, aus dem Kreis potentieller Konstitutionsbedingungen ausgeschlossen. Im Gegensatz zu Strömungen, die die ‹kapitalistische› Praxis ohne vermittelnde Zwischenschritte aus psychischen Impulsen oder Dispositionen zu erklären suchen, schreibt Weber ihr dies als Kennzeichen zu, dass sie solche Triebfedern vergeistigt, diszipliniert und zuletzt in kalkulierende Vorausschau aufgehen lässt, mithin eine allgemeinen Retardierung des Handelns bewirkt. Demgemäß ist mit dem Stichwort Rentabilität ein Orientierungspunkt für eine Betrachtung eingekreist, die über die interne Logik eines ökonomischen Systems hinaus auch dessen ideelle Substanz und die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge, die sich in ihm verdichten, ans Licht heben möchte. Das Lexem wird schließlich noch zu dem Zweck gebraucht, die Entfaltung des Kapitalismusbegriffs in einen umfassenden Differenzierungsprozess einzubetten, der in wirtschaftshistorischer wie -theoretischer Hinsicht erkennbar revisionistische Züge trägt und für den, wie aus dem Folgenden erhellt, neben dem Gesichtspunkt der ‹Rentabilität› auch das inhaltlich auf ihn bezogene Moment der „Kapitalrechnung“ von überragender konzeptueller Bedeutung ist. Dies Element wird im Fortgang der Darlegung inhaltlich ausbuchstabiert und zudem an die Diskussion des Wesens des ‹Rationalen› zurückgebunden, das in ihm offensichtlich eine beispielhafte Ausprägung erlangt. Indessen heißt es gleich darauf, dass ein auf ‹Kapitalrechnung› basierendes Wirtschaften als universales und somit nicht als genuin ‹kapitalistisches› Phänomen anzusprechen sei. Im weiteren Verlauf erhebt sich die Frage, ob ‹Rationalität› eine Kategorie darstelle, auf welche Modus und Güte ihrer phänomenalen Manifestation keinen Einfluss haben und die im Sinne des Binarismus entweder in Geltung steht oder nicht, oder ob man anders Erscheinungen mit geringerem und höherem ‹Rationalitätsgrad› ansetzen müsse. Es handelt sich textstrukturell gesehen um die Reprise einer konzeptuellen Aporie, welche bereits die allgemeinen Ausführungen über den ‹Kapitalismus› (vgl. Punkt 4.2.5.2) grundierte. 4.2.5.4 S. 157–164 Obendrein stößt man im Text nunmehr auf Einlassungen, die der oben vorgeschlagenen Lesart, wonach Weber für ein strukturelles Junktim von ‹Kapitalismus› und ‹Rationalität› bzw. ‹Rationalismus› plädiert, mit einem Mal den Boden zu entziehen scheinen: Es wird dem Kapitalismusbegriff ein spontanes, gar gewaltsames Ausnützen von Gewinnchancen, das auf ‹Kalkulation› weitgehend Verzicht leistet, als Merkmal zugeschlagen – ein Handeln mithin, gegen das vor allen ein

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solches, wie es sich in modernen Organisationsstrukturen verkörpert, kontrastiert wurde. Die unvermittelte Umdisponierung des Begriffs führt so weit, dass der ‹rationalistische Kapitalismus› der Moderne, der zuvor als kanonisch gelten durfte, schließlich als singuläres Phänomen rangiert und somit in seinem Stellenwert geradewegs umgekehrt wird. Durch seine exemplarische Spielart, den ‹Betriebskapitalismus›, erfährt er eine inhaltliche Konkretisierung, so dass die Leitfrage der „Vorbemerkung“, was das Wesen des ‹Kapitalismus› ausmache, auf eine seiner Manifestationsgestalten, jedoch offenkundig nicht auf eine sonderlich repräsentative, zugespitzt ist. Diese wird im Weiteren in der bereits bekannten Manier durch die Auszeichnung signifikanter „Entwicklungselemente“ aufgeschlüsselt, wobei über die Letzteren verlautet, dass sie in ihrer Wirkung durch den „Zusammenhang“ mit einem weiteren Prinzip, mit „der kapitalistischen Arbeitsorganisation“, bestimmt würden: Sie empfangen ihre funktionale Valenz in der ökonomischen Praxis demnach erst von einem Allgemeineren, das sie absorbiert, und bilden allein kraft ihres Verwiesenseins auf ein Anderes, Abstraktes eine Konfiguration von Merkmalen aus, in der sich das Konzept des ‹Kapitalismus› konturiert. Bei der Beschäftigung mit den auf dieses Thema bezüglichen Sequenzen zeigte sich, dass die sprachliche Charakterisierung der ‹Arbeitsorganisation› zum einen und der einzelnen Größen, die von ihr umfangen sind, zum anderen es erschwert, beide klar voneinander abzugrenzen. Das ‹Kapitalistische›, so kann man resümieren, ist wie das ‹Rationale› anders als im Rekurs auf die Momente, denen es seine funktionale Logik unterbreitet, nicht erfassbar; gleichzeitig gibt keines für sich allein den Entwicklungsgrund des modernen ‹Kapitalismus›, also den Schlüssel zu seiner Eigenart, ab. Die Erläuterung ist in ihrer Anlage zirkulär, was sich auf der lexikalischen Ebene des Textes unter anderem darin niederschlägt, dass ‹Rationalität› der ‹Arbeitsorganisation› ebenso wie der modernen Buchführung als eine ihrer Komponenten attribuiert und wiederum über kopulative Adjektivkomposita mit dem ‹Kapitalismus› verklammert wird. 4.2.5.5 S. 164–170 Als Nächstes trat ein Passus in den Blick, der um das Verhältnis von staatlichgesellschaftlicher und ökonomischer Ordnung kreist. Dabei wurde als Fazit festgehalten, dass in der Darstellung zwei Einflussrichtungen angegeben und beide Sphären demnach augenscheinlich als wechselseitig einander bedingend anzusehen sind. Eine stärker vertiefende Textlektüre bot indessen Anlass, diese These dahin zu abzuschwächen, dass es eine Frage der Perspektive ist, welcher Ebene man den Primat zuerkennt, denn die Untersuchung kreist zunächst um eine komplexe, ja unübersichtliche kulturhistorische Gemengelage, der eine sich fortwäh-

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rend verstärkende Tendenz zu Assimilation und Integration an sich heterogener Momente zu attestieren ist. Die Erörterung führt auf die Feststellung, dass sich ein Faktor wie die Vervollkommnung der ‹Kalkulation›, die im Gefüge von Aufbauelementen des ‹modernen Kapitalismus› einen herausgehobenen Platz behauptet, nicht direkt aus politischen und sozialen Entwicklungen ableiten lässt, sondern dass unter die kulturellen Ermöglichungsbedingungen dieses Faktors auch die Entwicklungs- und Innovationsfähigkeit der Technik zu rubrizieren ist. Der Sondierung dieses Themenfelds dient als Orientierungspunkt der Aspekt der gedanklichen Kontrollierbarkeit der Technik, deren wirtschaftliche Funktionalisierung zur Voraussetzung hat, dass die Ausnützung ihrer Potentiale mit der allgemeinen ‹Rationalisierung› konform geht. In diesem Kontext findet auch die Naturwissenschaft in ihren neuzeitlichen Ausprägungen Berücksichtigung; Weber bringt deren Modernisierung mit der ökonomischen Exploitation ihrer Erkenntnisse in Parallele, setzt dabei jedoch wiederum keinen unidirektionalen Kausalnexus an. Insoweit die Erläuterungen zu den Naturwissenschaften einer Schärfung des Rationalitätsbegriffes dienen sollen, nimmt die Darlegung von Neuem einen zirkulären Zug an; die Zweige der Naturforschung werden nämlich ihrerseits mit einer Kennung wie rational fundiert versehen. Im Weiteren wird die Fragestellung auf die Bedingungen der wirtschaftlichen Instrumentalisierung der Naturwissenschaften eingegrenzt, wobei „die Eigenart der Sozialordnung des Okzident“ sowie von dieser entbotene „ökonomische Prämien“ besonderes Gewicht erhalten. Die soziale Verfasstheit des Westens, die auf dem Recht als auf einem ihrer Hauptpfeiler ruht, ist von Einflüssen des ‹Kapitalismus› nicht frei und zeitigt eine Form der ‹Rationalisierung›, die der wirtschaftlichen Entwicklung respondiert. 4.2.5.6 S. 170–174 In der Folge werden Anläufe zu einer Präzisierung der Besonderheit moderner ‹Rationalität›, wie sie der Terminus Rationalismus auf morphologischer Ebene (nämlich vermittels des Suffixes) annonciert, durch eine semantische Depotenzierung eines Lexems wie Rationalisierung unterbunden: Der extensionale Bereich des Wortes erfährt eine derart massive Ausdehnung, dass er disparate, ja konträre Signifikate, also ausdrücklich auch Vorgänge, die als ‹irrational› zu qualifizieren sind, in sich einschließt und dass sein inhaltliches Profil, wie es im Vorigen umrissen wurde, mit einem Mal vollends verwischt ist. Damit ist eine Konsequenz der kulturgeschichtlichen Kontextualisierung der Begriffsbildung berührt, welche den Sachwaltern einer diskursiven Praxis, die klar definierten und semantisch stabilen Termini pflichtig ist, höchst suspekt sein muss.

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Weber reagiert auf diese Problematik, indem er in eine gedankliche Bewegung eintritt, die das operative Feld demarkiert und somit zur semiotischen Diffusion von Rationalisierung antithetisch ist: Sie hat dies zum Ergebnis, dass sich der Untersuchungsradius um „die besondere Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus“ zentriert. Diesem ‹Rationalismus› wird das Attribut ökonomisch beigelegt, was so viel besagt, wie dass ihm der ‹neuzeitliche Kapitalismus› als Erscheinungsform von eigener Güte zuzurechnen sein soll. Außerdem heißt es, dass bei seiner Entwicklung auch lebensweltliche Aspekte oder schlichtweg „andere Mächte“ im Spiele gewesen seien; die Erörterung endet einigermaßen abrupt mit einem Ausblick auf die beigefügten Aufsätze, deren gedanklicher Fluchtpunkt die Ermittlung derjenigen Merkmale der religiösen Wirtschaftsethik ist, durch die sie auf die Genese des ‹modernen Kapitalismus› Einfluss nahm. Damit wird die Fragestellung des Textes zwecks weiterführender Behandlung im Rahmen einzelner Spezialstudien noch einmal entscheidend modifiziert. Indem Weber dem Thema nicht eine geschlossene Monographie, sondern eine Aufsatzsammlung widmet, erteilt er der Prätention, es lasse sich in einen stringenten, systematischen Erklärungszusammenhang einpassen, auch auf formaler Ebene eine Absage. Im Gegenzug wird der konfigurative Darstellungsmodus zum Regulativ für die Gestaltung eines transtextuellen Arrangements und somit zu einem kompositorischen Aufbauelement erhoben. Im Kern, so scheint es, versteht die „Vorbemerkung“ den ‹Kapitalismus› als spezifische Konstellation aus an sich ganz unspezifischen Umständen, die, sobald die ökonomische Idee sie affiziert hat, als integrale Bestandteile in die von ihr beherrschte Handlungswirklichkeit eingegliedert werden. Auf die damit einhergehende funktionale Determinierung der einzelnen Größen fällt bereits durch die Anlage von Webers Erläuterungen Licht; indem die Untersuchung bei der Erhebung der Phänomene die Qualität, die diese unter der Ägide des ‹Kapitalismus› erlangen, mit dem Gepräge konfrontiert, das sie in ‹vorkapitalistischen› Zeiten trugen, vollzieht sie jene Transformationen nach, die die Ausbreitung wirtschaftlichen Denkens in praktisch allen Bereichen der Erfahrungswirklichkeit begleitet haben.

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4.3 Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis 4.3.1 Einleitende Bemerkungen: Inhaltliche Einordnung des Chartalismus Der dritte Komplex innerhalb der exegetischen Abteilung der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich mit dem „Staatliche Theorie des Geldes“ betitelten chef d’œuvre des Ökonomen Georg Friedrich Knapp, der zwischen 1905 und 1923 in vier Auflagen erschienen ist. Es werden zwei Momente im Zentrum des Interesses stehen: zum einen die Funktion, die fachsprachlichen Ausdrücken für Knapps Argumentation zukommt, und damit verbunden die Frage, inwieweit die Termini an der Komposition des Textes im Ganzen teilhaben, zum anderen die textuelle Gestaltung definitorischer Verfahren, welche die Fachbegriffe einer inhaltlichen Ausdifferenzierung zuführen. Die Interpretation wird mithin einen lexiko-semantischen und einen textlinguistischen Schwerpunkt aufweisen. Ihr sollen einige orientierende Bemerkungen zum Inhalt und zum theoriegeschichtlichen Stellenwert des Werkes vorausgeschickt werden, die sich freilich weitgehend auf die Darlegung elementarer Thesen beschränken, folglich darauf verzichten, solche unter nationalökonomischen Aspekten zu diskutieren. Das ist deshalb legitim, weil Knapps Anschauungen in einschlägiger Fachliteratur bereits ausgiebig erörtert worden sind. 4.3.1.1 Konzeptuelle Grundlinien des Chartalismus Mit der Veröffentlichung seiner Monographie avancierte Knapp zum Hauptvertreter des sogenannten Chartalismus, der seither untrennbar mit seinem Namen verbunden ist und sich auf ihn als primus inventor beruft.190 Er hat einem ökonomischen Paradigma, dessen Anfänge bisweilen auf Platon191 zurückdatiert werden und das in der jüngeren Vergangenheit unter dem Etikett Modern Money Theory eine gewisse Renaissance erlebte,192 zu bislang ungekannter Breitenwirkung und Durchschlagskraft verholfen, indem er sein gedankliches Grundgerüst in ein maßgeschneidertes begriffliches Koordinatensystem einzeichnete und in seinen inhaltlichen Hauptzügen systematisch entfaltete. Seine Arbeit hat, wie sich beispiel-

 190 Vgl. Kraemer/Nessel 2015, 11. 191 Hier wäre auf das zweite Buch der „Politeia“ zu verweisen, wo Platon das Geld als „Zeichen“ anspricht (vgl. Obst 1923, 32, Anm. 1, präzisierend und relativierend auch Salin 1923, 1ff., wo erörtert wird, inwieweit Platon und Aristoteles auf neuzeitliche Wirtschaftstheorien Einfluss genommen haben). 192 Vgl. Braunberger 2012.

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haft in „Wirtschaft und Gesellschaft“ zeigt, bei Weber großen Anklang gefunden. Die Kernaussagen des Chartalismus sind im dreigliedrigen Eröffnungssatz der „Staatlichen Theorie“ zusammengedrängt, der sogleich den apodiktischen Ton anschlägt, in dem die ganze Erörterung gehalten ist: Das Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung; es ist im Laufe der Geschichte in den verschiedensten Formen aufgetreten; eine Theorie des Geldes kann daher nur rechtsgeschichtlich sein (O 1).193

Von diesem Statut schreibt sich die Gegnerschaft der Chartalisten gegen den Metallismus her, der sich auf der Überzeugung aufbaut, dass die funktionalen Eigenschaften des Geldes mit seinem materiellen Träger in einem strukturellen Zusammenhang stehen. Demgegenüber vertreten die Chartalisten die Position, dass Geldmünzen oder -scheine keinerlei intrinsische Merkmale besitzen, durch die sie zur Verwendung als Zahlungsmittel prädestiniert sind, sondern ihre „Geltung“ von außen, per staatliche Verordnung empfangen: Der Staat „erklärt“ in Ausübung seiner Rolle „als Pfleger des Rechts“, „daß die Eigenschaft, Zahlungsmittel zu sein, an bestimmten gezeichneten Stücken als solchen hafte, und nicht am Stoff der Stücke“ (O 32). Der Gebrauchswert eines Zahlungsmittels wird qua Nennwert vom Staat „proklamiert“ (O 24) und ist von daher dem „sogenannten ,inneren Wert‘ der Geldstücke“ (O 25) – dass Knapp sich von dieser Bezeichnung distanzieren möchte, geht aus den hier verwendeten sprachlichen Signalen (dem adjektivischen sogenannten und den Anführungszeichen) unmissverständlich hervor – inkommensurabel. Das heißt, dass etwa im Falle einer Münze die Valenz derselben – der Metallwert – für ihre ökonomische Funktionalisierung keine Relevanz besitzt und dass ihr demnach zumindest theoretisch nicht einmal eine subsidiäre Rolle zu konzedieren ist. Bleibt noch hinzuzufügen, dass das Konzept im Ansatz dem Saussure’schen Zeichenmodell oder doch zumindest dessen kanonischer Form mit einseitiger Betonung des Arbitraritäts- und Konventionalitätsaspekts korrespondiert (de Saussure 1967, 79f., 135). Es lässt sich folgende Analogie konstruieren: Wie laut Knapp der reelle Nenn- vom Stoffwert des Geldes unabhängig ist und vonseiten des Staates festgelegt wird, so sind nach Saussure einem Symbol keine Merkmale immanent, aus denen sich sein semantischer Wert destillieren ließe, muss es diesen also von einer Norm beziehen, die willkürlich an das Zeichen herangetragen wird und von der nicht vorauszusetzen ist, dass sie ihm in irgendeinem Punkt entspricht.

 193 Zu Zitation und Quellenangabe s. oben.

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Es könnte der Eindruck entstehen, dass der Vergleich von Geld- und Zeichentheorie hier deshalb eingeschaltet worden ist, weil sich der Interpret gehalten sieht, nach Berührungspunkten zwischen den Grundlagen des Knapp’schen Paradigmas und denen seiner eigenen Disziplin zu suchen, um jenes in diese hereinzuholen. Tatsächlich aber wird der Vergleich, der, wie oben demonstriert, bereits bei Marx begegnet, nicht nur durch die eben herausgearbeitete strukturelle Parallele, die ihn sachlich untermauert, sondern auch durch die Richtung, die Knapps Erläuterungen nehmen, nahegelegt: Denn diese bringen dort, wo sie auf das Spezifikum der sogenannten Chartalverfassung abstellen, den Begriff des ‹Zeichens› in Ansatz. Die Geldstücke werden als „Marken“ etikettiert, welche „Zeichen tragen, die von der Rechtsordnung genau vorgeschrieben sind“ (O 26f.) und deren Sinn nicht an ihnen selbst ablesbar ist, „sondern durch Einsicht in die Rechtsordnung erkannt“ (O 27) wird. Knapp hebt außerdem hervor, dass man „Gegenstände, die in solcher Weise gezeichnet sind“, füglich als „Symbole“ apostrophieren könnte,194 erachtet diese Ausdrucksweise aber für deplatziert, weil sie seiner Ansicht nach irreführende „Nebengedanken“ hervorruft: „insbesondere den, als wenn solche Zahlmittel nur an bessere, echtere Zahlmittel zu erinnern hätten ohne selber gut und echt zu sein“ (O 27). Das chartale Zahlungsmittel, so ergibt sich daraus, repräsentiert den Wert direkt und nicht auf Umwegen, will sagen: nicht in dem Sinne, dass es die Vorstellung eines Zahlungsmittels anschlüge, bei dem der nominale Wert durch den stofflichen gedeckt ist und für das es als Surrogat figuriert. 4.3.1.2 Reflexhafte Gegentendenzen zum Nominalismus Knapps Ausführungen – so dürfte der vorige Aufriss verdeutlicht haben – dulden keinen Zweifel daran, dass der Verfasser als Chartalist einem strikten Nominalismus huldigt. Diese Grundhaltung hat im Vokabular seines Werkes – man denke nur an das für seine Theorie so wichtige Kompositum Nennwert – allenthalben ihren Niederschlag gefunden und auch der Rezeption des Chartalismus den Weg gewiesen. Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass sich Knapp bereits im Vorwort, wo er auf die Ziele seiner Arbeit zu sprechen kommt, einer metaphorischen Wendung bedient, die mit der Einstellung, die er sonst an den Tag legt, nicht recht zu harmonieren scheint: „[. . .] [W]enn man finden sollte“, so schreibt er, „daß hier der Versuch unternommen wird, die Seele des Geldes zu entdecken, so hätte ich nichts dagegen einzuwenden“ (O VII). Diese Tendenz zur Animifizie-

 194 Vielleicht rekurriert Knapp, ohne es kenntlich zu machen, auf die in Anm. 191 genannte Stelle der „Politeia“; Singer meint hier bereits „den reinen Begriff der Chartalität“ gewahren zu können (Singer 1920/2015, 372).

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rung des Geldes drückt sich auch auf den ersten Seiten der Erörterung aus; es ist dort von der „Seele des Geldwesens“ die Rede, die „nicht im Stoffe der Platten, sondern in der Rechtsordnung“ aufzusuchen sei, „welche den Gebrauch regelt“ (O 2). Diese inhaltliche Figur lädt zu Spekulationen darüber ein, ob Knapp nicht gelegentlich doch dazu neigen könnte, dem Geld ein leicht opakes Moment beizumischen, gar eine gewisse Eigenwertigkeit zuzubilligen, dergestalt dass es mitsamt der „Rechtsordnung“, die es determiniert, bisweilen einen Grad an Selbsttätigkeit anzunehmen scheint, wie er im Chartalismus an sich nicht vorgesehen ist. Dementsprechend würde auch nicht die Gesamtheit der Facetten des Geldes ins Blickfeld kommen, wenn man es ausschließlich als deklarative Größe ohne eigenes Substrat behandelte.195 Über die Triftigkeit dieser Mutmaßung kann zunächst weiter nichts gesagt werden, weil sich der Gedanke einer Autonomie des Geldes, der die reine nominalistische Lehre konterkarieren würde, bei Knapp nirgends ausgeführt findet. Es lässt sich lediglich das Motiv der Beseelung ermitteln, das vorerst jedoch als rhetorisch einzuschätzen ist, da die „Staatliche Theorie“ sonst keine Signale aussendet, die es sekundierten oder verstärkten und so eine Handhabe böten, ihm einen unverkennbaren semantischen Impuls abzugewinnen. Indessen räumt Knapp ein, dass bei Goldmünzen das Metall eine suggestive, ins Ästhetische spielende Wirkung auf die Menschen auszuüben vermag und somit zu einem ihm eigentlich nicht gebührenden Maß an Bedeutung zu gelangen, gar die Geldfunktion zu tangieren scheint, von der die Theorie es doch strikt getrennt wissen will: Konkret spricht Knapp etwa von einem „geheime[n] koloristische[n] Reiz“ und rührt damit, wie er selbst meint, an einen jener Umstände, „die ganz außerhalb jeder Verstandesübung liegen“ (O 344), also mit affektiven, von der ratio abgekoppelten Regungen des Menschen in Konjunktion treten. Dergleichen psychologischen Nebeneffekten glaubt aber der Chartalismus nicht Rechnung tragen zu müssen, weil sie seinem Verständnis nach nicht so

 195 In diesem Zusammenhang wäre noch das Nomen Geschöpf im bereits wiedergegebenen Einleitungssatz des ersten Paragraphen – „Das Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung [. . .]“ – zu erwähnen. Es konvergiert mit Seele, insofern es dem Geld unterschwellig, das heißt hier: vermittels einer subsidiären semantischen Information, das Merkmal des ‹Kreatürlichen› unterbreitet. Weiter könnte man einen Passus heranziehen, der sich, wenn man den Ausdruck wunderbar möglichst schwer nimmt, dahingehend deuten lässt, dass er dem Geld selbst etwas Mirakulöses attestiert. Allerdings ist dem Kontext zu entnehmen, dass damit keineswegs dem Eindruck Vorschub geleistet werden soll, als stehe hier etwas Unerklärliches im Raume: „Wie wunderbar, daß die Chartalität des Geldes, diese Errungenschaft hoher Weisheit, diese kostbare Erscheinung des sozialen, staatlich geordneten Lebens, aus einer so niedrigen Wurzel entsprossen ist“ (O 76).

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stark ins Gewicht fallen, dass man den Auslöser, mithin das Metall, in den Rang eines monetären Faktors zu erheben hätte.196 Es wäre in diesem Kontext auch auf einen Passus zu verweisen, in dem Knapp dem „Anfänger“ mit gönnerhafter Attitüde konzediert, dass es verständlich sei, wenn er zu der Meinung gelangt, „als sei hinter dem ,Werte des Geldes‘ ein tiefes Geheimnis verborgen, das auf Lösung warte“ (O 445). Freilich lässt Knapp keinen Zweifel daran, dass für diese Wahrnehmung nicht die ökonomischen Phänomene – so diffus und obskur sie auch sein mögen –, sondern der herkömmliche Wertbegriff und seine sprachliche Realisierung durch „einen undeutlichen, weil unvollständigen Ausdruck“ (O 445) ursächlich seien. Verwirrend oder enigmatisch anmutende Züge am Geld werden nicht als dessen Ingredienzien begriffen, sondern auf die Rechnung von analytischen Schwächen der monetären Theorie gesetzt, für die sprachliche Unschärfen wie zum Beispiel begriffliche Polysemie symptomatisch sein sollen. In Knapps relativ sparsamen Kommentaren zu Aspekten, die einer Mystifizierung des Geldes Vorschub leisten könnten, macht sich ein teils recht vehementer aufklärerischer Impetus bemerkbar; sie taugen demnach nicht als Belege für eine etwaige anti-rationalistische Unterströmung in seiner Konzeption. Damit soll nun aber nicht behauptet werden, dass Knapp davon ausginge, ein streng sachorientierter Theoretiker verfüge über unbeschränkte Erkenntniskraft und wisse alle wirtschaftlichen Antinomien zu schlichten. Dass dem nicht so ist, zeigt sich darin, dass Knapp eine abschließende Definition des Begriffs des ‹Zahlungsmittels›, immerhin einer essentiellen Komponente der ökonomischen Nomenklatur, schuldig bleibt und somit eine auffällige analytische Leerstelle in Kauf nimmt: Eine wirkliche Definition des Zahlungsmittels dürfte schwerlich zu geben sein; ebenso wie man in der Mathematik nicht sagen kann, was eine Linie oder was eine Zahl ist, oder in der Zoologie, was ein Tier ist (O 6).197

 196 Gleichwohl öffnen sie Knapp zufolge auch der publizistischen Propaganda Tür und Tor, da sie die Einsatzstelle für Techniken der psychologischen Manipulation bilden. 197 Vgl. hierzu Backhaus 2011, 308: „Geld wird jenen mathematischen Gebilden gleichgesetzt, deren menschliche Genesis als fragwürdig behauptet werden kann“. – Nach Auskunft Elsters, dessen Äußerungen über Knapp einen apologetischen Akzent tragen, war dieser der Meinung, „den Begriff des Zahlungsmittels, dessen Definition ihm nicht gelingen will, als einen jener letzten, ursprünglichen Begriffe betrachten zu sollen, die keiner weiteren Definition mehr zugänglich sind“ (Elster 1920, 4f.). Der Verzicht auf eine reguläre Begriffsklärung tut nach Elsters Dafürhalten dem Erkenntniswert der Knapp’schen Darlegungen keinen Abbruch; er scheint hierin primär ein formales Problem zu sehen und merkt in der Folge an, dass Knapp es nicht bei der bloßen „Feststellung“ grundsätzlicher Undefinierbarkeit belasse (vgl. Elster 1920, 5). Der kriti-

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Unter Berufung auf dieses augenscheinliche testimonium paupertatis hat Backhaus Knapp seine vorgeblich „agnostizistische Position“ zum Vorwurf gemacht (Backhaus 2004, 61 [Anm. 31]).198

4.3.2 Sprachreflexive Momente in der „Staatlichen Theorie des Geldes“ von Georg Friedrich Knapp 4.3.2.1 Stilistische Selbstreflexion Eine im weitesten Sinne philologische Beleuchtung des sprachlichen Gewandes, das Knapp seinen Überlegungen gibt, ist an sich, das heißt unabhängig von jedem Bestreben nach einer paradigmengeschichtlichen Einordnung, ein lohnendes Unterfangen, weil die Form des Vortrags zum einen eng mit dem Inhalt verschränkt und zum anderen durch eine auffällige Eigenprägung gekennzeichnet ist. Sie ist stark fachsprachlich markiert und der Selbsteinschätzung des Autors gemäß streng funktional gebunden, also in erster Linie auf passgenaue, kongeniale Übermittlung der Theorie abgezweckt. Auf Gefälligkeit und Eingängigkeit will Knapp im Interesse der Sache selbst keinen Wert gelegt haben, so als sei es ihm darum zu tun gewesen, seine Argumente von suggestiven Untertönen freizuhalten, damit sie für sich selbst sprächen und durch inhaltliche Schlagkraft, nicht durch rhetorischen Dekor oder, wie Knapp formuliert, durch „die Vorzüge einer lobenswerten Schreibart“ (O VII) überzeugten. Die Strategie, den Leser durch eine gefällige, ja glanzvolle Darstellung oder feuilletonistische Diktion zu blenden, imputiert Knapp einer agitatorischen Publizistik, die nach seinem Dafürhalten auf die Verwirklichung eines wirtschaftspolitischen Programms hinarbeitet und zu diesem Zweck allgemeinmenschliche Triebe und Strebungen anspricht. Indem Knapp des Öfteren gegen diese Publizistik polemisiert, bedient er sich ihrer als einer negativen Kontrastfolie, die es ihm ermöglichen soll, sich als Sachwalter einer ,reinen‘ Lehre in Szene zu setzen, die jedem strategisch-politischen Kalkül abhold ist und sich einzig der objektiven Beschreibung und analytischen Durchdringung ökonomischer Gegebenheiten verpflichtet glaubt. Dass die „Staatliche Theorie des Geldes“ das Spannungsverhältnis zwischen ‹publizistischen› und ‹wissenschaftlichen Ansätzen› im Ökonomiediskurs mit einigem rhetorischen Aufwand – und im Übrigen deutlich ten-

 schere Soda wiederum stellt zumindest mittelbar die Vergleichbarkeit ökonomischer und mathematischer Elementarbestimmungen in Frage; er hält es für zweifelhaft, dass der Terminus Zahlungsmittel gleichermaßen „fundamental und unumstößlich“ sei wie Linie (Soda 1907, 339f.). 198 Vgl. Backhaus 2011, 319.

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denziös – zu einem starren Antagonismus zuspitzt, gibt neben manchen anderen folgende Einlassung zu erkennen: Der Publizist hat nach Gründen zu suchen, die willkommene Nebenvorstellungen auslösen, denn die Massen werden durch Auslösung von Empfindungen bewegt. Wenn der Theoretiker etwa auf das völlig Unzulängliche der Gründe hinweist, so kann der Publizist stets erwidern: ich spiele auf einem anderen Instrumente als du. Ich versetze die Seele meiner Zuhörer in Stimmungen; wie ich das zustande bringe, das ist meine Sache. Du aber wendest dich an den Verstand; möge es dir gelingen, ihn ebenso sicher zu beherrschen, wie es mir bei den Herzen gelingt. Sechs Takte meiner Musik genügen, um die Hörer in gleichen Schritt zu versetzen; wie lange brauchst du, um deine Beweise zur Wirkung zu bringen, und bei wie vielen gelingt es dir? (O 344)

Knapp, so kommt hier zutage, stilisiert Sprödigkeit der sprachlichen Darbietung, wie er sie bewusst auch um den Preis verminderter Breitenwirkung, ja der Hermetik in Kauf genommen haben will, zum Ausweis wissenschaftlicher Integrität, das heißt in diesem Zusammenhang vor allem: sachlicher Angemessenheit. Im Vorwort zu seiner Schrift gibt Knapp der Hoffnung Ausdruck, dass ihm der Verzicht auf „die Vorzüge einer lobenswerten Schreibart“, den er, wie er beteuert, „mit einigem Bedauern“ geleistet habe, „den größeren Vorzug einer theoretischen Behandlung“ (O VII) eintrage. Damit meint er konkret eine Betrachtung, die „klar und sicher herausschälen soll, was den pragmatischen Einrichtungen eigentlich zugrunde liegt“, und die vermögend ist, „alle Erscheinungen im Gebiete des Geldwesens einheitlich zu erklären [. . .]“ (O 273). Der pragmatische Zweck des von Knapp entwickelten Funktiolekts, den er selbst eine „ausgebildete Kunstsprache“ (O VI) nennt, besteht weiter darin, der chartalistischen Theorie analytische Tiefenschärfe und ein eigenes sprachliches Register zu verleihen, damit sie auch in puncto Artikulationsvermögen mit dem Metallismus, der seinerseits über ein ausgereiftes Idiom verfügt, in Konkurrenz treten kann. Zudem macht Knapp geltend, dass die chartalistische Fachsprache, für die Neologismen mit griechischer oder lateinischer Wurzel stilbildend sind, auch Experten zugänglich sei, die das Deutsche nicht beherrschen. Sie soll so der Ausbildung einer internationalen wirtschaftlichen Verkehrssprache den Weg bereiten: Wie man sich leicht vorstellen kann, handelt es sich hier um eine Idee, der eine Theorie, die ein globales Phänomen zum Gegenstand hat, zusätzlichen Auftrieb verschafft. „Ob man“, so schreibt Knapp über seine Termini, die neuen Ausdrücke in deutscher Sprache hätte bilden können, weiß ich nicht. Viel wichtiger schien es mir für dies Wissensgebiet, das gar nichts Nationales an sich hat, Ausdrücke zu schaffen, die leicht in jede Sprache übergehen können, weil sie, wie ich zugebe, gelehrt und nicht volkstümlich sind (O VI).

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Inwieweit diese Ambition verwirklicht wurde oder bloße Imago blieb, muss unsere Untersuchung offen lassen, weil ihr die zur Prüfung dieser Frage nötigen Mittel fehlen. 4.3.2.2 Knapps Verständnis von Termini und Fachsprache Aus den soeben herangezogenen Selbstkommentaren Knapps kann man den Schluss ziehen, dass er einer Sprachkonzeption folgt, in der die Lexik stärker gewichtet ist als die übrigen verbalen Parameter. Tatsächlich erwähnt er Aspekte wie Syntax oder Textkomposition zumindest in der „Staatlichen Theorie“ mit keiner Silbe, was freilich nicht bedeutet, dass er sie bei der Abfassung des Buches stiefmütterlich behandelt oder als Ausdrucksträger außer Betracht gelassen hätte. Die hier vorgetragenen Bemerkungen sind nun vorerst auf solche Textabschnitte gemünzt, die die sprachliche Gestalt der Erörterung zum Thema haben. Dergleichen sprachreflexiven Annotationen also kann man entnehmen, dass Knapp der Überzeugung ist, die Inhalte, die er zur Mitteilung bringen möchte, ließen sich ohne Schwierigkeiten Fachbegriffen einsenken, die auf sie abgestimmt sind, und ohne Einbuße wieder aus ihnen herauslesen. Der augenscheinlich vorbehaltlose Glaube an Funktionalität und Praktikabilität der Fachlexik, durch den sich Knapp von Weber abhebt, lässt für Suppositionen wie die, dass die syntaktischen oder transphrastisch-textuellen Zusammenhänge, in denen die Termini stehen, an ihrer semantischen Konfigurierung teilhaben oder dass eine vom Kotext induzierte Valorisation in den Dienst der Aussage tritt, keinen Raum. Es wird denn auch nicht in Erwägung gezogen, dass für die Formulierung eines Gedankens noch andere sprachliche Konstituenten als die lexikalischen von Relevanz sind und dass sich – vom Autor unbemerkte – semantische Unschärfen einstellen könnten: Die Terminologie ist nach Knapp nicht einfach nur von einem bestimmten „Gedankenbau“ (O VII) abgezogen, sondern dessen getreue Widerspiegelung, dergestalt dass sich im Begriffssystem die spezifische Denkungsart der Theorie genau reproduziert. Insgesamt also stimmt Knapp in seinem Sprachverständnis mit der früheren linguistischen Terminologiewissenschaft überein. Mit Weber – und in diesem Falle ipso facto auch mit Adorno – ist sich der Chartalist demgegenüber darin einig, dass sich der Theoretiker bei der inhaltlichen Schärfung eines Terminus nicht daran orientieren solle, was die communis opinio – sei’s in der Wissenschaft, sei’s in der ökonomischen Praxis – für prototypisch oder repräsentativ erklärt. Zuschreibungen, wie sie sich in den beiden gerade aufgebotenen Attributen bekunden, fließen nämlich stets aus wissenschaftlichen Leitvorstellungen und markieren so den geistigen Horizont, vor dem die Konstituierung des Objektbereichs einer Theorie erfolgt. Deren methodologische Fundierung und die Formatierung ihrer

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phänomenalen Gegenstände lassen sich nicht voneinander trennen. So argumentiert Knapp bei der Erörterung der Frage, wie man die ökonomische Bedeutung des Papiergelds einzustufen habe, dahingehend, dass, nur weil dieses als „abnorm“ gestempelt werde, es das „nicht an sich“ schon sei. Er schickt eine rhetorische Frage hinterher: Kann es denn abnorme Erscheinungen an sich geben? Abnorm sind sie doch nur insofern sie unsern gehegten Erwartungen widersprechen. Das unstoffliche Chartalstück ist anders eingerichtet als es die Schulmeinungen fordern (O 43).

Gerade dem auf Papiergeld beruhenden Zahlungsverkehr, den er zur Ausnahme deklariert, bescheinigt Knapp, dass er auf das Wesentliche führe;199 in ähnlicher Manier, so ergaben die vorherigen Untersuchungen, erklärten Weber und Adorno, dass die Bildung von Begriffen nicht an den Zügen, in denen sich die ihnen zu subsumierenden Phänomene überschneiden, sondern an peripheren oder extremen Größen ansetzen solle. Eine eingehende Diskussion dieser Prämissen, die im Kern besagen, dass man sich eher an das Untypische denn an das Typische halten möge, um strukturelle Zusammenhänge in den Blick zu bekommen, muss hier unterbleiben. Produktiv nimmt sich diese Anschauung am ehesten dann aus, wenn man sie nicht so sehr als holzschnittartige Antithese zu der gemeinhin dominanten Vorstellung, dass es die mehreren Einzelgrößen gemeinsamen Merkmale seien, über die man Einsicht in eine metaempirische, funktionelle Tiefenschicht unterhalb der Ebene der Phänomene erlangen kann, denn als Mahnung begreift, sich dessen bewusst zu werden, dass wer sich konsequent von der Devise leiten lässt, man habe alles auf einen Nenner zu bringen, vieles summarisch preisgibt, ohne es auf seine Relevanz befragt zu haben. Ebenso ist zu bedenken, dass jemandem, der lediglich dem „praktisch Wichtige[n]“ (O 40) Aufmerksamkeit zuwendet, Facetten verborgen bleiben können, welche für das Ganze, dessen man innewerden möchte, alles andere als belanglos sind: „[D]em Theoretiker“, so dekretiert Knapp, „muß es gestattet sein, auch an Fernliegendes zu denken“ (O 271); nur unter dieser Bedingung vermag er an „das Wesen des Zahlungsverkehrs“ zu rühren und „den einheitlichen Grundgedanken zu finden“ (O 271). Der Behauptung, dass man bei unvoreingenommener, „kaltblütiger“ Musterung gewisser Erscheinungen nachgerade automatisch zu

 199 So wird von der „unstofflichen Chartalverfassung“ behauptet, sie berge „eben nichts als das nackte, normale Gestell“ (O 43). Emphatisierende oder insistierende Partikeln wie eben und markierte Negationen wie nichts als geben der Knapp’schen Diktion einen apodiktischen Klang.

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den „Feststellungen“ gelangen soll,200 die der Chartalismus präjudiziert, wird man demgegenüber mit einiger Reserve begegnen. Abgesehen davon, dass der Nachdruck, den Knapp auf die vermeintliche Selbstevidenz seines Paradigmas legt, etwas Verräterisches hat, nährt der hohe Stellenwert, welcher der Gestaltung der Terminologie für die Entfaltung der Theorie zukommt, den Verdacht, dass der Chartalismus eminenten Konstruktionscharakter besitzt. 4.3.2.3 Begriffstheoretische Aspekte 4.3.2.3.1 Semiotische Qualität von Termini und deren Verhältnis zu standardsprachlicher Lexik Neben der Form der sprachlichen Präsentation finden bei Knapp auch Modalitäten der Begriffsbildung Berücksichtigung. Solche metasprachlichen Äußerungen, in denen der Autor erläutert, wie er zu bestimmten Prägungen gelangte und warum er sie für nötig erachtete, knüpfen bisweilen direkt an neugebildete Termini an oder fallen bereits im Rahmen ihrer Exposition, können aber auch allgemeiner gehalten sein. Die Auslegung soll an einem Passus ansetzen, der bei der Erörterung eines konkreten Falles auf konzeptuelle Prinzipien ausgreift: „Nur die Benennung“, so heißt es im Zuge einer semantischen Klärung des Kompositums Kurantgeld, dem die Ausdrücke Scheide- und schlechthin fakultative[s] Geld gegenübergestellt werden, sei „auf Verabredung gegründet“, „die Umstände“ indes, „nach denen wir unterscheiden“, lägen „in der Natur der Sache“, und weiter gebe die „Sache“ die Zahl der Merkmale vor, nach denen sich die Unterscheidung richte (O 91). Das kann man dahin verstehen, dass für das Verhältnis von Begriffszeichen und Referenzgröße nicht allein Willkürlichkeit, wie das Modell Saussures sie prominent macht, sondern auch ein zumindest latentes Moment von Isomorphie bestimmend ist. Die Partikel nur vor die Benennung soll womöglich insinuieren, dass man dies letztere Element höher zu veranschlagen hat als den Umstand, dass der hochgradig formell anmutende Signifikant nicht an sich auf das Signifikat hindeutet, sondern analog zum nominellen Wert des Geldes proklamiert und als Bezeichnungsnorm in Umlauf gesetzt werden muss. Von dieser inneren Konvergenz zwischen der Theorie und ihrem Sujet wird unten noch zu handeln sein. Vorerst ist entscheidend, dass der Terminus, der an sich nichts vom Gemeinten transportiert und allein kraft innerfachlicher Übereinkunft lesbar ist, einem Re-

 200 Vgl. O 129: Hier geht einer dem Paradigma entsprechenden Erläuterung die Formel [. . .] ist für den kaltblütigen Beobachter folgendes festgestellt voraus.

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flexionszusammenhang angehört, welcher – so der Anspruch des Ökonomen – die strukturellen Eigenschaften der ontischen Wirklichkeit in sich hereingenommen hat. Insoweit sich derartige gedankliche Operationen im Begriffssystem als Ganzem und in einzelnen Begriffsketten, die sich darein fügen – so eben in der Trias Kurant-, Scheide- und rein fakultatives Geld201 –, auskristallisieren, kann man sagen, dass Inhalts- und Ausdrucksseite einander korrespondieren: Die arbiträre begriffliche Einzelkomponente ist von einem Zeichengefüge umfangen, zwischen dessen Einheiten – seien sie einfacher oder komplexer Art – Beziehungen herrschen, die mit denen im ökonomischen System und weiter auch mit dessen gedanklicher Repräsentation zur Deckung kommen. In dieser Position weicht Knapp von Weber ab, insofern dieser statuiert, dass die Konfigurierung eines (idealtypischen) Begriffs weit mehr durch das Erkenntnisinteresse des Theoretikers als durch den Gegenstand selbst bedingt sei. Unter der oben berührten Prämisse, dass sich von den hervorstechenden oder charakteristischen Merkmalen eines Phänomens nicht notwendigerweise auf dessen strukturelle Grundzüge extrapolieren lässt, verbietet sich freilich die Annahme, das für eine Erscheinung Elementare sei direkt an ihr ersichtlich und das terminologische System gleichsam am Wahrnehmungskomplex entlang zu konstruieren.202

 201 Scheidegeld ist im Übrigen ein Beispiel für einen Begriff, der Knapp zufolge einem eingeschliffenen „Sprachgebrauche“ verpflichtet ist; die Terminologisierung ist in diesem Falle mit Bestimmung und Ratifizierung der Konditionen besagter Wortverwendung gleichbedeutend. Knapp unterstreicht, dass es sich hierbei um eine willkürliche Stipulation handelt, die auf Abmachung beruht. Vgl. O 89: „Man nennt gegenwärtig in Deutschland diejenigen Geldarten, deren obligatorische oder fakultative Eigenschaft von einem kritischen Betrage der Zahlung abhängt, ziemlich allgemein: Scheidegeld [. . .]. An diesem Sprachgebrauche wollen wir festhalten. Das Scheidegeld ist also hierdurch als ein funktioneller Begriff festgelegt. Dies ist nicht an sich notwendig, sondern muß verabredet werden, was hiermit geschieht“. 202 Das kann man auch aus dem Grunde nicht unbesehen voraussetzen, weil die Terminologie eine autoreferentielle Note besitzt, insofern die Begriffe nicht allein auf ihren Referenten bezogen, sondern auch aufeinander abgestimmt sind und sich in ihrer Bildung wechselseitig beeinflussen. Dass dem so ist, liegt auch in der darstellerischen Absicht begründet, geschlossene Begriffsgruppen mit einer klaren hierarchischen Struktur zu gewinnen, die eine graphische Umsetzung gestattet. Darüber hinaus sollen in einigen Fällen die gedanklichen Verhältnisse zwischen den einzelnen Größen augenscheinlich auch durch morphologische Korrespondenzen identifizierbar sein. Eine solche Lesart erlaubt unter anderem folgende Stelle: „Die Tätigkeit nun, durch welche der intervalutarische Kurs mitunter befestigt wird [. . .][,] wollen wir exodromisch nennen. Ein intervalutarisches Pari, wenn es sich dauernd hält, ist stets die Frucht einer exodromischen Verwaltung. ǀ Die Wahl dieses Ausdruckes empfiehlt sich durch die Kürze und noch mehr wegen des Anklanges an die ,hylodromische‘ Verwaltung: beide Tätigkeiten haben viel Verwandtes [. . .]“ (O 210). In diesem Kontext ist zum Zweiten auf eine Textpartie zu verweisen, die nahelegt, dass bei der Begriffsbildung zumindest manchmal auch eine phonetische Homologie mit einem bereits

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Es ist nämlich denkbar, dass ein Phänomen seine konstitutiven Eigenschaften gar nicht deutlich hervorkehrt. Das „Wesentliche“, an dessen Bestimmung Knapp gelegen ist, tritt in solchen Fällen erst dann in den Gesichtskreis, wenn man vom Augenscheinlichen, vom unmittelbar sich darbietenden phänomenalen Prototyp abstrahiert und so den Gegenstand um eine konzeptuelle Tiefendimension erweitert. Ein Beispiel dafür, das späterhin noch eingehender erörtert werden soll, ist der Zahlungsverkehr, dessen Normalform, die in der „Übertragung von Sachen“ besteht, Knapp zufolge den Blick auf sein eigentliches Definiens verstellt, denn die materielle Transaktion kann für die Konfigurierung eines Begriffs, der auch auf Zahlungsarten anwendbar sein soll, die wie der Giroverkehr keine Verschiebung von Gütern involvieren, nicht als Ausgangspunkt dienen. Knapp zieht daraus folgende Konsequenz: Wenn es einen einheitlichen Begriff der Zahlung geben soll, der die Zahlung in Stücken ebenso umfaßt wie die Girozahlung, so darf die Übertragung von Sachen kein wesentliches Erfordernis der Zahlung sein. Das wesentliche Merkmal aller Zahlung kann also nur bei der Girozahlung gefunden werden, muß aber im Verborgenen auch bei der Stückzahlung nachweisbar sein (O 138).

Was die Termini als einzelne betrifft, so sind sie zwar, wie oben angegeben, prinzipiell arbiträr, doch zielt ihre Modellierung gleichwohl darauf ab, sie als sprachliche Kristallisationen203 des Chartalismus gegen den konzeptuellen Hintergrund

 installierten Terminus angestrebt ist; es geht darum, eine ökonomische Relation sprachlich zu annoncieren: „Die intervalutarischen Verhältnisse sind ungefähr das, was man gewöhnlich als Wechselkurs bezeichnet. Der neue Ausdruck hat aber vor dem alten vieles voraus, schon weil er die Hindeutung auf die valutarische Geldart in sich schließt; und ferner, weil er den Begriff des Wechsels nicht enthält, der hierbei nicht wesentlich ist“ (O 200). Dieses Diktum unterrichtet außerdem darüber, dass die begriffliche Fügung durch ihre Ausrichtung auf eine andere zugleich eine inhaltlich-gedankliche Disposition zur Anzeige bringt; die Kehrseite davon ist, dass Momente, die als irrelevant oder irreführend gelten, kaschiert oder ausgeblendet werden. 203 Dieser Kristallisationscharakter wird etwa daran ersichtlich, dass sich zumindest manche Fachwörter oder terminologische Wendungen als Abbreviaturen vielgliedriger Gedankenketten lesen lassen. Diesen Zug kann man als konzeptuelle Konvergenz zwischen Knapp und Weber buchen; hat doch der Letztere die idealtypischen Prägungen wie im Vorigen ausgeführt zu Stenogrammen deklariert. Als Beleg für diese Parallele mag das Folgende dienen: „[. . .] [D]er intervalutarische Kurs zwischen zwei Ländern erklärt sich pantopolisch. Das Wort soll bedeuten, daß es sich um eine Preisbildung handelt; die valutarische Geldart des einen Landes erhält an der Börse des anderen Landes einen Preis; dieser aber bestimmt sich durch die Gesamtheit der Zahlungsverpflichtungen und durch die Stimmungen, welche jeder Preisbildung zugrunde liegen. All dies soll zusammengefaßt werden in dem Ausdrucke: der intervalutarische Kurs ist eine pantopolische Erscheinung“ (O 206).

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der Theorie transparent zu halten oder auch deren wesentliche Gesichtspunkte semantisch fassbar zu machen. Dafür empfiehlt sich etwa die Strategie, sich bei der Begriffsbildung an mehr oder minder geläufigen Ausdrücken zu orientieren, die neuen sprachlichen Prägungen so zu gestalten, dass sie auf standardsprachliche Größen beziehbar bleiben. Das ist, wenn man Knapp glauben will, bei dem Lexem Chartalismus in nachgerade exemplarischer Manier der Fall. Der Neologismus resultiert aus mehreren Wortbildungsverfahren, die, wie bereits erwähnt, den lateinischen Ausdruck charta zur Grundlage haben: „Vielleicht“, so Knapp, gestatte dieses Wort den Sinn von Marke; wenn es nicht der Fall sein sollte, so fordern wir es, und zwar hauptsächlich, weil wir daraus ein allgemein verständliches, wenn auch neues Adjektivum bilden können: chartal (O 26).

Diese Äußerung schließt folgerichtig an eine andere an, die besagt, dass sich das Proprium des Geldes, wie es der Chartalismus versteht, am adäquatesten durch den Ausdruck Marke bezeichnen lässt, welcher in der Weise gedeutet wird, dass er auf „bewegliche, geformte Sachen, die Zeichen tragen, und die in der Rechtsordnung eine vom Stoff unabhängige Verwendung finden“ (O 26), referiert. Für diese Aufschlüsselung des Signifikats, die eine klar fachgebundene Perspektivierung des Ontischen erkennen lässt, wird in Anspruch genommen, dass sie auch mit Bedeutungszuschreibungen, die außerhalb der ökonomischen Sphäre kursieren, in Einklang zu bringen sei. Dass Knapp das lateinische Wort bevorzugt, legt jedoch die Annahme nahe, dass das Nomen Marke in seinen Augen einige Wünsche offen lässt: So weist es Charta gegenüber den Nachteil auf, dass es nur in begrenztem Maße Derivationen gestattet und der Terminologisierung, soweit sie auf solche Formen der Wortbildung rekurriert, demnach von vornherein Beschränkungen auferlegt. Für die Wahl des lateinischen Lexems soll denn auch, wie aus dem oben beigebrachten Zitat erhellt, in erster Linie dies den Ausschlag gegeben haben, dass man aus ihm leicht ein Adjektiv ableiten kann, was bei Marke in der Tat nur durch wenig elegante Behelfskonstruktionen wie markenmäßig zu erreichen ist. Dieser Umstand fällt deshalb ins Gewicht, weil nicht das Substantiv selbst, sondern das Adjektiv Ausgangspunkt für weitere Wortbildungsprozesse ist. Es bietet eine Handhabe, unterschiedliche Inhaltsmomente an den gedanklichen Kern der Theorie rückzubinden oder in sie zu integrieren, indem es sich ihnen – um einen Terminus aus der Textgrammatik zu verwenden – als Determinans voranstellen lässt. Übertrifft also Charta das deutsche Wort Marke hinsichtlich der morphologischen Abwandlungsmöglichkeiten, dergestalt dass sich der lateinische Ausdruck durch größere Flexibilität als Operator für die Begriffsmodellierung empfiehlt, so

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lässt Knapp gleichwohl leise Zweifel verlauten, ob seine denotative Bedeutung und das Konzept, das er bezeichnen soll, vollständig übereinkommen: Es fragt sich, ob Charta tatsächlich als Äquivalent für Marke fungieren kann; das Wörterbuch bestätigt kaum, dass die Gleichsetzung beider Lexeme zwingend ist, wenngleich man attestieren kann, dass Marke sich nicht grundlegend von den unter dem Lemma aufgeführten deutschen Entsprechungen unterscheidet.204 Der potentiellen Abweichung, die, weil eben bloße Eventualität, in ihrer Tragweite schwer abzuschätzen ist, begegnet Knapp, indem er das Wort im Sinne eines Postulats oder aber seinerseits „proklamatorisch“, als könne er nach eigenem Gusto über die Sprache verfügen, auf die gewünschte Bedeutung einnordet. Er vollzieht diese fachsprachliche Appropriation von Charta, die das Nomen einer bestimmten Ausdrucksabsicht anpasst, ostentativ als performative Handlung, die er freilich in einem solchen Grade vom tatsächlichen Inhalt des Wortes gedeckt wähnt, dass er das Adjektiv, das das erste Ergebnis der Terminologisierung vorstellt, als „ein allgemein verständliches“ apostrophieren zu können meint. Das lässt vermuten, dass die soeben explizierte semantische Transkription des Lexems als nicht gar so weitgehend einzuschätzen ist: Soll doch der Neologismus, der aus ihr hervorgeht, augenscheinlich inner- wie außerhalb der Fachkultur rezipierbar, will heißen: von solcher Beschaffenheit sein, dass seine Bedeutung an ihm abgelesen werden kann. An die hier nachvollzogenen Überlegungen schließt sich ein Zusatz mit definitorischem Gestus an, in welchem chartal zum Ersten als Morphem in einem Kompositum und zum Zweiten abermals als Adjektiv figuriert, der mithin offenkundig die Funktion erfüllt, den eben geprägten Neologismus durch variierende Wiederholung fest in der Erörterung zu verankern: Unsere Zahlungsmittel haben die Marken- oder Chartalverfassung: nur mit Zahlmarken, mit chartalen Stücken, kann man bei den Kulturvölkern unserer Zeit Zahlungen leisten (O 26, Markierung im Original).

Das Substantiv Verfassung dürfte so viel besagen wie „Eigenschaft“, ruft aber zugleich auch das Moment des Ordo – hier in denkbar allgemeiner Gestalt – herauf; es fungiert als zentrale Bezeichnung für die ökonomische Logik, die sich in Knapps Theorie entfaltet, und wird durch die Bildung des Kompositums so mit dem At-

 204 Die 1909 erschienene neunte Auflage des Handwörterbuches von Karl Ernst Georges, auf die Knapp hätte zurückgreifen können und die darum an dieser Stelle herangezogen werden darf, bietet folgende semantische Informationen: „Blatt“, „Papier“ als Grundbedeutung sowie „Schrift“, „Brief“, „Papier“ u.Ä. als metonymische Varianten und als übertragene Bedeutung „(dünne) Platte“, „Tafel“.

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tribut chartal verschmolzen, dass ihm dieses, wie oben angemerkt, als Determinans voransteht. In einer dritten Passage wird dem Adjektiv durch Nominalisierung ein Terminus für die kategoriale Eigenart abgewonnen, die Knapp in den Zahlungsmitteln sich manifestieren sieht; darin, dass dies bei der Formulierung einer pointierenden These geschieht, wird man einen programmatischen Zug gewahren können: Die Chartalität der Zahlungsmittel wird wohl niemals verschwinden, selbst dann nicht, wenn einmal die Münzen abgeschafft werden sollten [. . .] (O 26).

Zur Exposition des Begriffs der ‹Chartalität›, der den vorläufigen Schlusspunkt der hier bloß flüchtig umrissenen Bestimmungen bildet, rechnen weiterhin Ausführungen, die den Inhalt des Terminus schärfen, ihn mit anderen in Verbindung bringen oder seine Einführung legitimieren. Es sollen im Folgenden einzelne Stellen in Augenschein genommen werden, die auf dergleichen Zielvorgaben hindeuten. Die erste trägt den Begriff in ein terminologisches Gradnetz ein und setzt dazu an, einige wesentliche Begriffsbeziehungen in ihren Grundlinien herauszuarbeiten: „Chartalität und pensatorische Verwendung schließen einander aus, ebenso wie Morphismus und Amorphismus“ (O 28). Zur Ausdifferenzierung des wechselseitigen Verhältnisses der Begriffe trägt ferner der Nachweis bei, dass zwischen Chartalität und anderen Lexemen Referenzidentität oder doch wenigstens semantische Ähnlichkeit bzw. strukturelle Abhängigkeit vorliegt. Solche Klärungen bieten Anlass, die zuvor gelieferte Definition derart zu modifizieren, dass sie auf andere Termini rekurriert, oder – das ist eine schwächere Variante – solche um den Ausdruck Chartalität zu gruppieren, damit dessen konzeptuelles Profil an Deutlichkeit gewinnt. Hierfür können diese Beispiele herangezogen werden: [. . .] [D]ie Chartalität ist nichts anderes als die proklamatorische Verwendung geformter Zahlungsmittel (O 29). Die Chartalität fordert nicht autogenische Zahlungsmittel, sondern läßt dieselben, ebenso wie die hylogenischen, zu (O 31). In dem Augenblicke, als durch die Entscheidung des Richters die Chartalität der Zahlungsmittel entstand, wurde virtuell (nicht aktuell) auch die Autogenität der Zahlungsmittel geschaffen (O 30).

In einem anderen Passus werden zumindest Anstalten zu einer Begründung für die Wortbildung Chartalität getroffen; Knapp prätendiert dort, dass mit diesem Terminus einer bisher noch unterbelichteten oder auch unbemerkten Größe eine ihr gemäße verbale Kennung zugeteilt, also eine Lücke im ökonomischen Vokabular geschlossen und eine bislang nur unzureichend gewürdigte Erscheinung ins Licht gesetzt werde:

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Während der Morphismus auf eine technische Erfindung zurückgeht – auf die Ausmünzung des früher pensatorisch verwendeten Metalls – hat sich die Chartalität unmerklich eingeschlichen, so unmerklich, daß sie bisher nicht einmal einen Namen besessen hat (O 28).205

4.3.2.3.2 Kategoriale Qualität des Zeicheninhalts Die Textstelle, die am Ende des vorigen Teilkapitels dargeboten wurde, erweckt den Eindruck, dass der Terminus ganz unmittelbar, ohne ersichtliche Rückbindung an den konzeptuellen Rahmen der Theorie, auf reale wirtschaftliche Verhältnisse, gleichsam auf ein Phänomen sui generis gespiegelt wird und so den Charakter einer bloßen Benennung verliert, folglich eine essentialistische oder substantialistische Note erhält. Die gleiche Wirkung geht im Übrigen auch von der im Vorfeld angeführten Sequenz aus, laut der Chartalität durch eine richterliche Entscheidung in die Welt gekommen ist. Das Lexem Chartalität stellt sich nicht als Ferment theoretischen Konstruierens, sondern als Mittel analytischen Registrierens dar; demgemäß hat es den Anschein, als sei der nominalistische Grundton abgedämpft. Was wiederum Chartalität als konkrete Gegebenheit anlangt, so hebt sie sich in Knapps Darstellung klar vom Morphismus ab, sofern sie das Ansehen einer freisteigenden, in ihrem Ursprung nicht weiter erklärbaren Qualität gewinnt, während der Letztere als Produkt technischer Innovation, das heißt als Artefakt, figuriert. Dem eben erwähnten Zitat auf der vorigen Seite (O 30) können weitere mit konvergenter inhaltlicher Stoßrichtung, das meint hier: mit begriffsrealistischer Grundierung, hinzugefügt werden – solche also, die den Terminus und die Entität, auf die er referiert, zu synchronisieren scheinen. Es wäre ein Diktum anzubringen, das die Lesart nahelegt, dass die Etablierung einer chartalen Logik in der wirtschaftlichen Praxis unmittelbar an den Begriff der ‹Chartalität› selbst gebunden ist, der allein schon dadurch, dass über ihn prädiziert wird, er sei „aufgetreten“, wie ein Wirkprinzip oder wie eine ontische Größe anmutet. Der Begriff, so könnte

 205 Dieser Satz hat eine Parallele in einem Passus, der eine Leerstelle im juristischen Vokabular anspricht und als vermeintlich natürliches Pendant die Fügung eventuale Gegenforderung ins Spiel bringt: „Der Begriff einer nur eventualen Gegenforderung fehlt in unserer Jurisprudenz, während der Begriff der absoluten Gegenforderung ganz geläufig ist. [. . .] Von nur eventualer Gegenforderung aber redet der Jurist nie. Weshalb aber soll dieser Begriff nicht eingeführt werden? Indem wir es tun, haben wir den Vorteil, uns so ausdrücken zu können“ [. . .] (O 140f.). Weiter wäre nochmals auf die in Anm. 203 angeführte Fügung pantopolische Erscheinung zu rekurrieren, die Knapp zur Bezeichnung eines eher diffusen, nur vage umrissenen psychologischen Moments kreiert: „Um nun für jene psychologische Auffassung einen Namen zu schaffen, der an die Gesamtheit der merkantilen Beziehungen erinnert, sagen wir: der intervalutarische Kurs zwischen zwei Ländern erklärt sich pantopolisch“ (O 206).

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  199

man meinen, entlässt eine reale Entwicklung, hier die Verbreitung von Zahlungsmitteln mit spezifischem funktionalen Profil, aus sich; bei dieser Sichtweise wäre er als Substrat einer Prozesswirklichkeit anzusprechen, für die eine Umdisponierung in der strukturellen Basis der Wirtschaft wesentlich ist. Das ließe sich auch dahingehend interpretieren, dass der konzeptuelle Begriffsgehalt uneingeschränkt mit der ökonomischen Wirklichkeit gleichgesetzt wird: Ist aber der Begriff der Chartalität einmal aufgetreten, so eröffnet sich die Möglichkeit von Zahlungsmitteln, die nicht mehr hylogenisch sind, und die wir kurz als autogenisch bezeichnen wollen (O 29).

In den sich hieran anschließenden Sätzen fällt nur mehr das Wort Chartalität; die Aussparung von Begriff verstärkt den bereits formulierten Eindruck, dass der Inhalt der Prägung vollends – freilich nicht expressis verbis, sondern unbesehen – zu einer ontischen Gegebenheit avanciert: Autogenische Zahlungsmittel müssen keineswegs, aber sie können dann, und erst dann entstehen. Denn durch die Chartalität wird der stoffliche Gehalt der Stücke zu einem nur begleitenden Umstand, der vielleicht bedeutende Wirkungen ausübt, der aber nicht mehr wesentlich ist für die Geltung des Stückes (O 29).

In den durch die Zitate konturierten Zusammenhang reiht sich außerdem eine Aussage ein, die unvermittelt eine geschichtliche Dimension anreißt, wodurch die Projektion des begrifflichen Schemas auf die ökonomische Praxis nicht nur weiterbetrieben, sondern nachgerade ratifiziert wird; der diachronische Ansatz bringt beides in eins: Wenn aber die Chartalität sich entwickelt hat, dann ist in der Beschreibung der gezeichneten Stücke ein neues Mittel gegeben, um die Zahlungsmittel auffindbar zu machen, denn der Staat sagt: so und so sehen die Stücke aus und diese Stücke gelten proklamatorisch. Es ist also hier nicht die Angabe eines Stoffes an sich, sondern es ist die Beschreibung der geformten Stücke, wodurch die Zahlungsmittel auffindbar werden (O 29).

Ein eindeutig retrospektives, historisierendes Element liegt in Gestalt eines von uns oben schon wiedergegebenen Satzes vor: In dem Augenblicke, als durch die Entscheidung des Richters die Chartalität der Zahlungsmittel entstand, wurde virtuell (nicht aktuell) auch die Autogenität der Zahlungsmittel geschaffen.

Knapp schneidet nun erstmals, wenn auch verallgemeinernd und unter Verzicht auf eine erkennbare geschichtliche Rahmung, die Genese des Prinzips an, indem er es mit einem bestimmten, folglich bestimmbaren Ereignis verschränkt. Das Dik-

200  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

tum ist auch darum von Interesse, weil es, freilich wieder en passant, als erübrige sich eine nähere Erläuterung, zwischen zwei Wirklichkeitsmodi differenziert, was die Konklusion nahelegt, dass mit der Chartalität qua Prinzip Verhältnisse geschaffen wurden, deren kategoriale Einordnung Schwierigkeiten aufwirft oder gar auf Aporien führt: Weder trägt der Konnex, der hier zwischen zwei begrifflichen Bestimmungen hergestellt wird, eindeutig den Exponenten der Faktizität noch ist er lediglich Ergebnis einer begriffslogischen Operation, dem man als solchem nominalen Charakter zu attestieren hätte. Das adverbiale virtuell, dem die bekräftigende Parenthese nicht aktuell beigegeben ist, umschreibt eine Zustandsvariante zwischen den beiden Polen ,faktischer Wirklichkeit‘ und ,begrifflicher Konstruktion‘, ein Drittes, das weder das eine noch das andere ist, ein potentielles, sich allererst ausprägendes Realitätsmoment. Diese – von Knapp wie gesagt bloß annotierte, gedanklich nicht weiter ausgeführte – Suspendierung des logischen Binarismus, wie sie ebenfalls, freilich um einiges nachdrücklicher von Marx im „Kapital“ ins Werk gesetzt wird, überträgt sich auch auf die klar artikulierte – oder, wie sich nun zeigt, wohl doch eher präjudizierte – begriffslogische Ausrichtung des Chartalismus. Eine Verschränkung von Begriff und Sache bzw. ökonomischer Realität hat an weiteren Stellen unter anderen Vorzeichen statt. So macht sich bei Knapp recht – womöglich auch auffallend – häufig die Tendenz bemerkbar, die theoretische Konstruktion und die staatlich-juristische Konstitution wirtschaftlicher Grundlagen so miteinander zu verklammern, dass man zu der Meinung gelangen könnte, der Akt der Proklamation, durch welchen dem Geld der Status eines Zahlungsmittels zuerkannt wird, sei ohne sichtbare reflexive Vermittlung von den definitorischen Statuten der Untersuchung abgezogen.206 Chartalität würde demnach so gefasst,  206 Es heißt lediglich, dass ökonomische Statute des Staates nicht aus „philosophische[r] Reflexion“ hervorgingen. Das wird in einer Passage erläutert, in der Knapp die oben dargestellten Zusammenhänge in charakteristischer Manier behandelt: „Die Nominalität der Werteinheit wird [. . .] vom Staate geschaffen, in seiner Eigenschaft als Hüter und Pfleger der Rechtsordnung; aber nicht auf dem Wege der philosophischen Reflexion, sondern ganz anders; der Staat sieht sich aus diesen oder jenen Gründen genötigt, statt der früheren Zahlungsmittel gelegentlich neue einzuführen, während er bestehende Schulden wenigstens in ihrer relativen Höhe zueinander schonen will. Mit dieser Tatsache hat die Jurisprudenz zu rechnen. Die Jurisprudenz ist es, die nun jene Reflexion in Tätigkeit treten läßt und notgedrungen die Vorstellung der juristischen Nominalschuld an Stelle der Realschuld setzt, weil sie sich auf keine andere Weise dem geschaffenen Tatbestande anbequemen kann“ (O 31). Rechtliche Bestimmungen von ökonomischen Größen wiederum entspringen ihrerseits nicht interesselosem Sachverstand, geschweige denn tieferer Einsicht in wirtschaftliche Belange, sondern stehen im Dienste des Staates; sie haben ihre Aufgabe vorrangig darin, das Handeln der staatlichen Institutionen auf eine normative Basis zu stellen. So ist nominelles Geld letztlich nur darum zu einem legalen Zahlungsmittel geworden,

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dass sie mitsamt ihren konstitutiven Faktoren gleichzeitig Konzept und wirtschaftliche Tatsache ist. Unter dieser Voraussetzung wäre der Begriff nicht bloß sprachliche Repräsentation der gedanklichen Spezifizierung eines Phänomens, sondern, dem nominalistischen Grundverständnis gerade entgegen, dies Phänomen selbst, weil es – hierin liegt die Pointe des Gedankens – seinerseits nominalistisches Gepräge trägt. Die Idee, dass zwischen der Erörterung und ihrem Gegenstand eine Analogie bestehen soll, klingt bereits zu Beginn der Knapp’schen Darlegung an, insofern nämlich die Formierung wirtschaftlicher Sachverhalte so beschrieben wird, als gehe es um eine ebensolche Prozedur der semantischen Konfigurierung von Bezeichnungen oder „Namen“, wie sie für die Begriffsmodellierung grundlegend ist. Exemplarisch dafür sind Knapps Erläuterungen zum Status und zum rechtlichen Verständnis von Schulden, welche durch unterschiedliche Werteinheiten repräsentiert werden können, von denen der Staat eine für verbindlich erklärt, etwa auch dergestalt, dass er eine andere durch sie ersetzt. Knapp veranschaulicht diese Nominalität der Schulden anhand eines hypothetischen Szenarios, in dem Erz als Werteinheit durch Silber abgelöst wird, und exponiert sie als gedankliches Motiv, indem er die verbale Kennung der Schulden als „Namen“207 apostrophiert. Das soll anhand einer Sequenz gezeigt werden, die sich wie häufig bei Knapp in textuelle Einzelkomponenten untergliedert, welche wiederum aus – hier durch Semikola voneinander abgetrennten – Teilsätzen aufgebaut sind: Der Vorgang, den wir meinen, ist Änderung des Zahlungsmittels durch Einführung eines neuen stofflichen Zahlgutes an Stelle des alten; es werden dann zwei Zeiträume voneinander getrennt durch den Zeitpunkt, in welchem der Staat erklärt: von nun an zahlt man nicht mehr durch Zuwägen von Erz, sondern durch Zuwägen von Silber. Hierdurch werden die Schulden, die aus dem älteren Zeitraum stammen, in der merkwürdigsten Weise verändert; sie lauten auf Pfunde Erz – und der Staat erklärt, daß sie tilgbar sind durch einige Lot Silber; er gibt ein Verhältnis an, wieviel Silber einem Pfund Erz ent-

 weil der Staat es so verfügte und der Jurisprudenz damit den Auftrag erteilte, eine entsprechende Rechtstatsache zu inaugurieren: „Wenn einmal das Geld allen stofflichen Inhalt abgeworfen hat, was keineswegs immer geschieht, sondern nur geschehen kann, so pflegt man ihm vorzuwerfen, daß es keine wirkliche, eigentliche, wahre Zahlung mehr bewirke. Gewiß nicht, wenn man unter Zahlung nur eine stoffliche Zahlung versteht! Aber die Jurisprudenz hat sich der politischen Macht zu fügen; unsere Rechtsordnung erkennt mitunter solche Zahlungen an, also sind sie für den Juristen wahre Zahlungen – nur wird die Jurisprudenz genötigt, den früher engeren Begriff der Zahlung entsprechend zu erweitern“ (O 40). Vgl. auch Anm. 205. 207 In diesem Substantiv ist der chartalistische Grundgedanke gewissermaßen kondensiert; ist es doch dem Namen eigentümlich, dass ihm eine potentiell unbegrenzte Zahl an Trägern zugeordnet werden kann, ohne dass diese etwas miteinander gemein haben müssten. Es ist bei dieser Gelegenheit an die Ausführungen zum Ausdruck Geldname bei Marx zu erinnern.

202  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

spreche; wobei er sich vielleicht nach dem Preise richtet, welchen das Silber an jenem Tage im älteren Zahlungsmittel – Erz – erzielte. Der Staat behandelt also die älteren Schulden so, als wenn die Werteinheit „Erz“ nur ein Name sei, durch dessen Gebrauch die relative Größe der Schulden angedeutet wird, – der aber nicht bedeutet, daß wirklich Erz zu liefern sei; vielmehr behält sich der Staat vor, zu befehlen, daß der Name „Pfund Erz“ jetzt bedeute, daß die und die Gewichtsmenge Silber zu zahlen sei (O 10f., Markierungen von M.A.).

Neben dem Lexem Name sind hier die Verben andeuten und bedeuten hervorzuheben, denn augenscheinlich soll durch sie eine Ausdifferenzierung der signifikativen Wertigkeit und des semantischen Gehalts der Bezeichnungen Erz und Pfund Erz angebahnt werden. Die Verschiedenartigkeit ihrer Designate – im ersten Falle handelt es sich um die deskriptive Angabe der „relative[n] Größe der Schulden“, im zweiten um die Anweisung einer Zahlung in einer spezifischen „Gewichtsmenge“ – wirkt sich auf die Referenzfunktion selber aus, und zwar im Sinne einer Diversifizierung, die freilich abermals bloß lexikalisch annonciert, nicht eigentlich aber reflektiert und ausbuchstabiert wird. Die Formulierung dieser Zusammenhänge, welche im einleitenden als wenn und im Konjunktiv ihre wesentlichsten Merkmale hat, gibt allerdings zu verstehen, dass staatliche Praxis nicht ohne Weiteres, geschweige denn vollständig, in das Vokabular für Prozeduren der semantischen Auskleidung von Begriffen transponierbar ist. Die Analogiesierung mit einem semantischen Statut lässt die operative Logik der Praxis hervortreten, verleiht ihr jedoch ebenso wenig eine definitive gedanklich-konzeptuelle Gestalt, wie sie zwingend oder unabweislich wäre. Die analytische Fixierung des Handelns, die dessen Voraussetzungen und Motive ausleuchtet, ist etwas anderes als das Handeln selbst, da sie dieses nur ex post erfasst, ihm jedoch nicht im Augenblick seines Vollzugs zu folgen vermag. Indessen scheint Knapp den soeben betonten Unterschied bisweilen auch mutwillig verwischen oder vollends nivellieren zu wollen. Dieser Eindruck drängt sich etwa dort auf, wo die Denkfigur der historischen Definition zur Behandlung kommt: Diese hat nicht als theoretische Konstruktion zu gelten, welche um der Ermittlung morphologischer oder struktureller Merkmale willen von der phänomenalen Oberfläche abstrahiert, sondern ist mit einem deklarativen Akt identisch, der auf die Rechtsordnung gründet „[. . .] [D]ie Werteinheit“, so Knapp, welche von nun an in Gebrauch treten soll, wird definiert, indem festgesetzt wird, wie sie sich zur vorigen Werteinheit verhält; sie wird also historisch definiert. Eine andere als die historische Definition der neuen Werteinheit gibt es im allgemeinen nicht [. . .] (O 17).

Etwas weiter unten liest man:

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  203

Die Definition der neuen Werteinheit besteht also darin, daß angegeben wird, wie viele neue Werteinheiten juristisch äquivalent sind einer alten Werteinheit (O 17).

Die Definition ist als essentielles Aufbauelement der theoretischen Rekapitulation des ökonomischen Geschehens offenkundig ohne jede gedankliche Spezifikation auf eine – freilich modellhaft gezeichnete – gesellschaftliche Wirklichkeit geblendet, so als stelle sie an und für sich bei deren Konstituierung einen ebenso belangvollen wie handgreiflichen Faktor vor. Sie wird demnach als gängiges Artikulationsformat institutioneller Setzungen qualifiziert, deren Ratifizierung durch die Rechtssprechung als Medium einer reflexiven Selbstvergewisserung des Staates ein ideelles Fundament erhält.208 Man könnte auch sagen, dass es sich bei der Definition um ein Scharnier zwischen Theorie und Praxis handelt, insofern sich laut Knapp der „theoretische“ und der „technische Mensch“ wie auch die staatlichen Organe um Begriffsbestimmungen bemühen, welche demnach als Kristallisationspunkte ökonomischen Wissens und Handelns anzusehen sind, durch die beides miteinander korreliert ist. Diese These wird dadurch gestützt, dass sich auf der lexikalischen Ebene des Textes keine erkennbaren Indizien dafür finden, dass zwei Definitionsbegriffe mit scharf voneinander abgegrenzten Anwendungsbereichen – Theorie vs. institutionelle Realität (Staat und Recht) – lanciert oder auch nur Vorbereitungen zu einer semantischen Differenzierung des Wortes Definition getroffen würden.209 Es spricht vielmehr alles dafür, dass Knapp den Ausdruck bei der Modellierung wissenschaftlicher Konzepte im gleichen Sinne benützt wie dort, wo er sich der Regulierung des Ökonomischen durch staatliche Dekrete widmet. Vor dem hier umrissenen gedanklichen Horizont sind weiterhin Passagen zu lesen, in denen dem Staat als einer dramatis persona über das elementare verbum dicendi, das Knapps Schrift geradezu wie ein ostinato durchzieht, eine analytische Reformulierung währungspolitischer Maßnahmen förmlich in den Mund gelegt wird; man wird hierin eine strukturelle Analogie zur Prosopopeia bei Marx gewahren dürfen. Dass zwischen der staatlichen Handlungsabsicht und ihrer Artikulation durch die Theorie eine Diskrepanz bestehen könnte, wird in solchen Partien offenbar noch nicht einmal im Ansatz in Erwägung gezogen, oder aber die refle-

 208 Dieser Zusammenhang entspannt sich in einer Äußerung wie der folgenden: „Die Jurisprudenz arbeitet nur die Begriffe aus, welche nötig sind, um die Forderungen der Rechtspolitik logisch durchzuführen. Überall und immer geht die juristische Begriffsbildung aus von einem Tatbestande, den die Politik geschaffen hat“ (O 32). 209 Es stellt sich freilich die Frage, ob bei Größen wie derjenigen, die Knapp als „Rechtsordnung“ etikettiert, oder ob im juristischen Kontext überhaupt eine trennscharfe Unterscheidung von Theorie und Praxis möglich ist.

204  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

xive Vermittlungsleistung, die beides harmonisiert, ist, sofern sie denn erfolgte, nicht in den Text hereingenommen, zwecks Vereinfachung unterdrückt. Zur Illustration soll hier die Schilderung eines exemplarischen Währungswechsels herangezogen werden, die mehrere Teilprozeduren voneinander abgrenzt, sie aber auch jeweils auf einen Sprechakt zurückführt: Erstens, der Staat beschreibt das neue Zahlungsmittel, indem er etwa sagt: es soll aus dem Metall Silber bestehen; zweitens, der Staat sagt: die neue Einheit heißt „Pfund Silber“; und für die Benennung des neuen Zahlungsmittels stellt er [. . .] die Regel auf, daß man sie durch das physikalische Experiment der Wägung finde. [. . .] drittens, der Staat sagt: die Einheit „Pfund Silber“ tritt an die Stelle von so und so vielen früheren Einheiten, sagen wir beispielsweise von fünfzig „Pfunden Erz“. Das ist die juristische Definition der neuen Einheit. Sobald dies alles geschehen ist, hat sich der Übergang vom Erze zum Silber vollzogen (O 18).

Allenfalls die Partikel etwa könnte insinuieren, dass bei der Verschränkung des Gegenstands mit seiner Beschreibung ein Moment der Unschärfe oder eine Art perspektivischer Brechung ins Spiel kommt. Wenn dem tatsächlich so sein sollte, so erwachsen für die Darlegung daraus keine fühlbaren Konsequenzen; dass vor dem verbum dicendi, wenn es zum zweiten Mal fällt („zweitens, der Staat sagt [. . .]“), kein etwa mehr steht, ist in diesem Zusammenhang geradezu sinnbildlich, wohingegen man den konjunktivischen Vergleich, der sich in dem oben kommentierten Diktum fand, für ein differentielles Element nehmen könnte. Nun ist aber nicht zu leugnen, dass bei Knapp eine Reihe von Bemerkungen fällt, die den eben vorgetragenen Überlegungen ganz offenkundig den Boden entziehen, insofern sie klar signalisieren, dass das ökonomische Geschehen und seine Analyse voneinander zu trennen sind. Weshalb andernorts der Gegenstand und sein theoretisches Korrelat synkopiert wurden, ob es sich da womöglich um eine verkürzende Darstellung handelte, bleibt freilich im Dunkeln. In einer der für diesen Zusammenhang einschlägigen Textpartien wird wiederum das verbum dicendi aufgeboten und gleichsam im selben Atemzug zurückgenommen, später dann durch das allgemeinere, auf eine geistig-gedankliche Tätigkeit zielende auffassen ersetzt: [. . .] [W]as das Zahlungsmittel betrifft, so sagt der Staat, daß er dies von Zeit zu Zeit ändern werde. Oder vielmehr der Staat sagt es nicht, er tut es nur; der Rechtshistoriker hingegen sagt rücksichtslos, was der Staat tut. Der Staat faßt also die frühere Einheit des Zahlungsmittels, (Pfund Erz) so auf, als habe sie nur den Sinn, ein Name für die damalige Einheit des Zahlungsmittels zu sein, ohne daß die technische Beschaffenheit jenes Zahlungsmittels von Wichtigkeit sei. (O 11f.).

An diesen Sätzen wird ersichtlich, dass die Untersuchung das staatliche Handeln nicht in eine ihm genauestens angepasste sprachliche Formel bannt, sondern es

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  205

in Vokabeln übersetzt, die nicht seine eigenen sind, und dabei obendrein noch „rücksichtslos“ verfährt. Das kann man so verstehen, als melde sich ein aufklärerischer Impetus an und als werde zur Kenntnis gegeben, dass die analytische Fixierung der Praxis etwas umschreibt, das ihren Trägern nicht oder zumindest nicht vollends zu Bewusstsein gelangt ist, womöglich auch nicht ihren Vorstellungen entspricht und aus diesem Grunde verschleiert wird.210 Tatsächlich suggeriert Knapp andernorts, dass die Institutionen sich über die volle Tragweite ihres Tuns nicht immer im Klaren sind und ihre Wirksamkeit demnach auch nicht durchweg intentional gesteuert ist. So geschieht es denn, dass Entscheidungen Folgen nach sich ziehen, die „völlig unabhängig sind von dem ursprünglichen gehegten Zweck“ und „erst später“ so behandelt werden, „als wenn sie, historisch betrachtet, als Zweck vorgeschwebt hätten“ (O 76).211 Es obliegt der Wissenschaft, genauer der Rechtsgeschichte, solche „ungewollten und übermächtig werdenden Folgen“ (O 76) eines institutionellen Handelns ins Licht zu rücken, dessen gedankliche Rahmung und Ratifizierung, wie bereits bemerkt, im Recht inkorporiert ist: Dieses verleiht einem vom Staat geschaffenen Tatbestand eine terminologische Fassung und so zugleich eine konzeptuelle Tiefendimension, die dessen kategoriale Taxierung erlaubt; es fungiert mithin als reflexives Bewusstsein derjenigen staatlichen Organe, die ausschließlich auf die Aktion verwiesen sind. Dem analytischen Vermögen des Rechts sind aber insofern Grenzen gezogen, als es auf die Operationalisierung konkreter wirtschaftspolitischer Statute ausgelegt und damit an heuristische Vorgaben gebunden ist; eine Klärung fundamentaler geldtheoretischer Fragen wie etwa der, was die Werteinheit an sich ist oder was sie in einem strukturellen Sinne ausmacht, muss die Jurisprudenz schuldig bleiben.212 Es ist darum auch der Theorie vorbehalten, dem Gesetzgeber die Konsequenzen seines Tuns vor Augen zu führen oder doch zumindest im Allgemeinen gedankliche Ungereimtheiten und vorgeblich verbreitete Irrtümer aufzuweisen,

 210 Dass Knapp der Auffassung zuneigt, es verhalte sich so, erhellt aus seinen Darlegungen zur Finanzpolitik Österreich-Ungarns; hier beteuert er beispielsweise, dass er „Umstände“, die er für augenfällig erachtet, „ohne verhüllende Redensarten von silbergesättigtem Verkehr, von Metalldeckung, von Überfülle papierener Noten und dergleichen vorgetragen“ habe (O 403). 211 Vgl. hierzu auch O 199, wo ein wirtschaftspolitisches Kalkül kurzerhand für „unbewußt“ erklärt und der Theorie indirekt aufgetragen wird, eine politische Handlungslogik auf einen allen sekundären Erwägungen vorgeordneten, entscheidenden Beweggrund zurückzuführen, was fallweise auf eine Entlarvung vermeintlicher oder vorgeschobener Intentionen hinausläuft: „Wie die Chartaltheorie nicht zugibt, daß die Geltung der Münzen vom Gehalte abhängt, so leugnet sie auch, daß die lytrische Politik durch Eigenschaften der Metalle bestimmt werde. Das wirkliche, allerdings unbewußte Ziel dieser Politik liegt vielmehr in dem Zahlungsverkehr von Staat zu Staat“. 212 Vgl. Anm. 206.

206  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

wie sie nicht nur politischen Akteuren, sondern auch interesselosen Außenstehenden unterlaufen sollen, die, anders als die Praktiker und Entscheidungsträger, in ihrer Wahrnehmung von institutionell gerahmten Handlungsroutinen und strategischen Erwägungen unbeeinflusst sind.213 Einen offenkundig notorischen Trugschluss umschreibt Knapp mit den Worten, dass der Gesetzgeber „fast immer“ glaube, „er definiere die Werteinheit, wenn er die hylogenische Norm aufstellt. Das“, so verlautbart er im Weiteren reichlich nonchalant, hat aber nichts zu bedeuten. Denn der Gesetzgeber hat nur so lange das Wort, als er befiehlt; sobald die Definition in Frage kommt, hört seine Macht auf und die des Theoretikers fängt an (O 58).

Diese Stelle hat in einer anderen eine Parallele, der zufolge „die Rechtsverordnung sich begnügt, die Zahlungsmittel zu beschreiben, zu benennen und in rekurren-

 213 Bisweilen legt Knapp es bei der Untersuchung finanzpolitischer Bestimmungen auch darauf an, handfeste Täuschungsmanöver zu enthüllen und diskursive oder argumentative Scheinzusammenhänge aufzulösen. Er verfällt dabei in einen nicht nur polemisch-spitzen, sondern geradezu entlarvenden Tonfall, so etwa wiederum in den Ausführungen zu Österreich-Ungarn. Er prätendiert sogar, er verstehe sich darauf, inoffizielle, das heißt nicht fürs Protokoll bestimmte Entscheidungsabläufe in einschlägigen Gremien zu rekonstruieren, gleichsam als könne er in die Köpfe der politischen Akteure hineinsehen und nach außen hin verheimlichte Kalküle beim Namen nennen. So prägt er Narrative wie das folgende: „Da haben nun die leitenden Staatsmänner gedacht: die papierenen Staatsnoten sollen unseretwegen verschwinden, sonst meinen ja die Leute, es wäre alles mißglückt: aber man kann sie ja durch anderes notales Geld ersetzen, besonders durch solches mit silbernen Platten. Dann ist dem Volke sein Wille geschehen [. . .]. Solche Vorgänge kann man nicht aktenmäßig nachweisen, aber aus dem ganzen späteren Gange des Reformwerkes ergibt sich mit Sicherheit, daß etwas Ähnliches geschehen sein muß“ (O 398). – Einige Seiten vorher spürt der Text unausgesprochenen Betrachtungen oder Erwägungen des Gesetzgebers nach, wobei sich über das negierte verbum dicendi ein im Wortsinne detektivisches Movens mitteilt: Die Theorie ermöglicht es, diffusen Überlegungen auf den Grund zu gehen, indem sie ihnen oder genauer: indem sie Entwicklungen, auf die sie Bezug nehmen, mit ihrem terminologischen Inventar allererst adäquate Ausdrucksmöglichkeiten verschafft; die analytische Grunddisposition, so scheint es, gewährt auch psychologisch informiertem Einfühlungsvermögen Raum: „Ferner schwebte die Vorstellung im Geiste des Gesetzgebers, daß diesem neuen baren Gelde die valutarische Stellung zu verschaffen sei: gesagt wurde es nicht, denn es fehlte dieser Begriff: getan wurde es vorläufig auch nicht, aus Gründen, die wir später zu betrachten haben: aber es schwebte vor [. . .]“ (O 390). Wenn Knapp also erklärt, er lege mit seiner Konzeption eine „staatliche“, will heißen: dem „Standpunkte des Staates“ (O 405) verpflichtete Theorie vor, so besagt das nicht, dass seine Ausführungen auf den Gesichtskreis der politisch Verantwortlichen verwiesen wären. Wie bei Marx werden auch deren Absichten zur Zielscheibe einer analytischen Kritik, die sich die Destruktion politisch-gesellschaftlicher Illusionen und die Ausleuchtung der faktischen Verhältnisse auf die Fahnen schreibt.

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  207

ten Anschluß zu bringen. Niemals“, so fährt Knapp fort, indem er abermals auf das verbum dicendi zurückgreift, sagt die Rechtsordnung, daß die Werteinheit diese oder jene Stoffmenge sei, sondern sie gibt ihr einen Namen und beschreibt das Zahlungsmittel; letzteres ist anfangs real und später chartal. Was dann die Werteinheit an sich sei, das überläßt die Rechtsordnung denen, die aus den gegebenen Tatsachen die Folgerungen ziehen, also den Theoretikern (O 44).

Hier werden die sprachlichen Handlungen, in denen sich die Verwirklichung eines Ansinnens staatlicher Instanzen vollzieht und die insgesamt in die Proklamation aufgehen, der Definition mit wissenschaftlichem Anspruch gegenübergestellt. Für den deklarativen Akt scheint also charakteristisch, dass seine Urheber sich über die innere Gesetzmäßigkeit, die Eigenlogik ihrer Hervorbringungen täuschen, weil sie sich von pragmatischen Gesichtspunkten leiten lassen und die Wirklichkeit lediglich selektiv wahrnehmen. Man kann somit bilanzieren, dass das Verhältnis von Begriffsbildung und staatlicher Verordnung mehrdeutig und wohl auch widersprüchlich anmutet, insofern die beiden Momente, die hier in Rede stehen, bald einander angenähert oder sogar miteinander verschränkt, bald voneinander abgegrenzt werden: Manche Passagen behandeln das Dekret als eine Art von Definition und insinuieren, dass es im Recht tatsächlich durch eine reguläre Begriffsbestimmung ausbuchstabiert wird; andere Ausführungen legen die Deutung nahe, dass die Proklamation gegen die begriffliche Explikation ausgespielt werden solle. Zum Dritten baut, wie gerade an der Exposition des konstitutiven Terminus Charta ersichtlich wurde, auch die wissenschaftliche Begriffsarbeit auf Statuten auf, so dass man auf die Idee verfallen könnte, dass etwas von der staatlichen Entscheidungspraxis, wie sie die Theorie versteht, auf deren sichtbarste, markanteste Züge zurückgespiegelt ist.

4.3.3 Exemplifizierung und Vertiefung am Beispiel der Definition des ‹Zahlungsmittels› 4.3.3.1 Hinführung Wie bereits ausgeführt, sind begriffliche Setzungen für die chartalistische Theoriebildung konstitutiv. Knapp kreiert eigene Fachwörter, um seine Überlegungen auf eine konzise sprachliche Formel zu bringen, doch ist die Funktion dieser terminologischen Kennungen nur vordergründig auf Verdichtung oder Verschlagwortung von Gedanken beschränkt: Tatsächlich wirken sie häufig gleichsam katalysierend auf die argumentative Durchführung mancher Thesen, und zwar nicht selten solcher von besonderer Wichtigkeit, hin. Sie prägen der Erörterung ein spezifi-

208  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

sches prozedurales Insigne auf, das sie in Disposition und Spannweite bestimmt. Ein wesentliches Kriterium, nach dem sich die Praktikabilität der Begriffe bemisst, ist nun dies, dass sie in ihrem Inhalt eindeutig sind bzw. ein klar umrissenes Bedeutungsprofil zeigen; dementsprechend spielt ihre semantische Konfigurierung im Rahmen von Definitionen bereits für die Grundlegung der Theorie eine entscheidende Rolle. Knapp geht bei der semantischen Valorisierung der Termini häufig ziemlich pragmatisch zu Werke, etwa indem er sich wie im Falle des Neologismus Chartalität mit der Forderung begnügt, dass sie in diesem oder jenem Sinne zu verstehen seien; solche Definitionen proklamatorischer Art handelt er denn auch rasch, und ohne ihren Statutcharakter zu verschleiern, ab. Das Definieren kann sich, wie an Zahlungsmittel ersichtlich wird, gleichwohl zu einem ausladenden und hochkomplizierten Procedere auswachsen, das am Ende ein bestenfalls vages Ergebnis zeitigt; auf der Makroebene ist Knapps Analyse in struktureller Hinsicht ähnlich gelagert wie Webers „Vorbemerkung“. Nicht zuletzt die Konklusionen, in die unsere Deutung des letzteren Textes mündete, nähren die Vermutung, dass den gestalterischen Eigenschaften von Knapps Darlegungen zu seinem Konzept des ‹Zahlungsmittels› eine reflexive Tiefendimension inhäriert, dass ihre Faktur womöglich gar mit konzeptuellen Aspekten des Chartalismus im Allgemeinen in Zusammenhang steht. Die nachfolgende Untersuchung soll diese Hypothese untermauern. Sie ist philologisch, insofern sie sich eng an den Text hält und ihn in seiner argumentativen Entfaltung nachvollzieht, nimmt gewisse Partien aber auch zum Anlass für Räsonnements, die über den gedanklichen Horizont der einzelnen Befunde hinausreichen und sich der „Staatlichen Theorie“ im Ganzen sowie ihrer konzeptuellen Basis zuwenden. Es soll gezeigt werden, wie sich eine an der textuellen Mikroebene orientierte Exegese mit einer tendenziell holistischen Interpretation synchronisieren lässt, die von der propositionalen Oberfläche der Schrift her deren gedanklichen Unterbau ins Auge zu fassen sucht. Den sprachlichen Anknüpfungspunkt für dieses Verfahren bilden die von Knapp lancierten Termini. 4.3.3.2 Interpretation 4.3.3.2.1 Lesarten der Begriffe Zahlungsmittel und Tauschgut. Definition als differentielles Verfahren Den begriffstheoretischen Status des ‹Zahlungsmittels› berührt Knapp bereits in der Exposition seines Buches; im Rahmen von Betrachtung zum Geld im Allgemeinen fällt gleich auf der zweiten Seite folgende Bemerkung: Innerhalb der Rechtsgeschichte bildet sich der Begriff des Zahlungsmittels aus, von einfachen Formen beginnend und zu verwickelten Arten fortschreitend (O 2).

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  209

Das reflexive Verb schlägt das Motiv einer Selbsttätigkeit des Begriffes an, der die nachgeschaltete Partizipialgruppe den Anstrich einer progressiven Bewegung gibt, wie wenn hier ein sich regelhaft entfaltendes ideelles Prinzip in Rede stünde. Diese Insinuationen erwecken Assoziationen an hegelianisches Gedankengut und kehren ein essentialistisches Moment von Knapps Begriffsverständnis hervor, das dessen – des Öfteren auch ostentativ ausgestellte – nominalistische Grundausrichtung konterkariert und von dem einzelne Ausprägungen im Vorigen bereits zur Sprache kamen. Dies Moment wird in den Erläuterungen, die an den eben dargebotenen Satz anknüpfen,214 freilich nicht eigens thematisiert; Knapp geht im Folgenden auf das Verhältnis zwischen den zentralen Größen ‹Zahlungsmittel› und ‹Geld› ein und rückt dabei rein begriffslogische Fragen in den Mittelpunkt. Er liefert einen metasprachlichen Kommentar zu einem Axiom, das der zitierten Stelle vorausgeschickt wird und das besagt, dass Geld „nur ein besonderer Fall des Zahlungsmittels überhaupt“ sei.215 Damit wird stipuliert – und genau hier setzt die metasprachliche Erörterung ein –, dass das ‹Zahlungsmittel› den „obere[n] Begriff“ bilde, „welchem der des Geldes untergeordnet ist“; diesem Diktum ist des Weiteren eine ganz allgemein gehaltene Begründung („[. . .] denn es gibt Zahlungsmittel [. . .]“) beigefügt. Es folgt ein Absatz, der signalisiert, dass ein neues Textsegment beginnt, dass mithin dasjenige, was im Weiteren vorgetragen wird, als eigenständiges Glied im argumentativen Zusammenhang anzusehen ist. Auch die Konjunktion aber in der Frage, mit der diese neue textuelle Sequenz anhebt – „Was aber ist ein Zahlungsmittel?“ (O 2) –, hat etwas von einer Zäsur, indem sie das Sujet der nun eröffneten Erörterung – textgrammatisch gesprochen: das Rhema – kontrapunktisch zum Vorigen als dem thematischen Hintergrund setzt. Die Gestaltung des Textes, so kann vorläufig festgehalten werden, zielt offenkundig darauf, reflexive Einheiten in einem kausalen Gefüge voneinander abzuheben, anstatt sie einzuebnen und derart etwa den Gedankengang als organisches, in sich gerundetes Ganzes zu profilieren: Sicherlich soll die Absatzschaltung die Rezeption erleichtern, ist mithin ihre Primärfunktion eine pragmatische, doch wird an ihr ebenfalls kenntlich, dass die gedankliche Linearität der Erörterung eine Auffächerung ihrer Binnenstruktur, die den einzelnen textuellen Komponenten dem Gefüge als solchem gegenüber Gewicht verschafft, nicht ausschließt.

 214 Sie lauten wie folgt: „Das Zahlungsmittel ist der obere Begriff, welchem der des Geldes untergeordnet ist; denn es gibt Zahlungsmittel, welche noch nicht Geld sind; später solche, die Geld sind; noch später solche, die nicht mehr Geld sind“ (O 2). 215 „Alles Geld, sei es aus Metall oder aus Papier geformt, ist aber nur ein besonderer Fall des Zahlungsmittels überhaupt“ (O 2).

210  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

In der zitierten Frage ist implizit ein Programm für den Fortgang der Erörterung enthalten:216 Es soll eine nähere Bestimmung des ‹Zahlungsmittels› erfolgen, und zwar, wie aus dem Weiteren erhellt, nach dem Vorbild der Charakteristik des ‹Geldes›, also in der Weise, dass dem Definiendum ein Hyperonym zugeordnet wird, das freilich erst gefunden sein will. Das in solchen Fällen übliche Vorgehen ist laut Knapp ein Regress auf die „Vorstellung des sogenannten Tauschgutes“, wobei die Formulierung des Konzeptes vermittels des Attributs sogenannt bereits als Denomination gekennzeichnet wird, die es terminologisch fixiert und die zugleich insoweit analytisch ist, als sie es auf die ihm zugrunde liegenden „Anschauungen“ „Tausch“ und „Gut“ zurückbezieht. Der Rekurs auf diese beiden Größen soll gewährleisten, dass man beim Definieren „festen Fuß gewinnt“. Indem er das indefinite Adverb irgendwo einschiebt, gibt Knapp indes von vornherein zu verstehen, dass es sich hier um zwei Ausgangspunkte handelt, die zwar „elementar“, doch auch einigermaßen willkürlich gewählt sind. Direkt im Anschluss an diese prinzipiellen Ausführungen setzt Knapp zu einer Prüfung an, inwieweit ‹Tauschgut› als Oberbegriff für ‹Geld› geeignet ist; diese Probe, so verlautet mit Bestimmtheit und nach einem neuerlichen Absatz, fällt negativ aus, da man Klassen von Zahlungsmitteln kenne, die kein ‹Tauschgut› sind, und vice versa.217 Eine eher aperçuhafte Einlassung, der zufolge unter gewissen Bedingungen sowohl Silber gegen Getreide als auch dieses gegen jenes ausgetauscht werden kann, leitet zu einer Aufspaltung des Lexems Tauschgut in zwei grundständige Bedeutungseinheiten über, die mit den Fügungen im weiteren und engeren Sinne (O 3) umschrieben werden.218

 216 Der oben kommentierte Passus wird hier en bloc wiedergegeben: „Was aber ist ein Zahlungsmittel? Gibt es einen oberen Begriff, dem sich das Zahlungsmittel unterordnen läßt? Gewöhnlich greift man zur Vorstellung des sogenannten Tauschgutes zurück und erklärt mit dessen Hilfe die Zahlungsmittel – wobei also der Begriff des Gutes und der des Tausches vorausgesetzt wird [sic]. Irgendwo muß man festen Fuß fassen, wenn Definitionen gegeben werden sollen. Sowohl das Gut als der Tausch sind Anschauungen, die man wohl als elementar genug betrachten könnte; wir wollen es einmal wagen“ (O 2). 217 „[. . .] [W]ir treffen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung auf Zahlungsmittel, welche durchaus kein Tauschgut im eigentlichen Sinne des Wortes sind. Daraus folgt, daß der Begriff des Tauschgutes nicht der gesuchte obere Begriff sein kann, denn es lassen sich nicht alle Zahlungsmittel diesem Begriffe unterordnen. | Wenn wir aber umgekehrt sagen: jedes Tauschgut ist ein Zahlungsmittel, dann sind wir ebenfalls nicht am Ziel; denn es gibt Tauschgüter, die nicht Zahlungsmittel sind [. . .]“ (O 2f.). 218 „[. . .] [W]er sein Getreide gegen eine Gewichtsmenge Silbers austauscht, für den ist Silber ein Tauschgut; wer sein Silber gegen Getreide austauscht, für den ist Getreide ein Tauschgut – nämlich jedesmal in diesem einen Tauschgeschäft. In diesem weiten Sinne ist also der Begriff Tauschgut noch nicht brauchbar für unseren Zweck [. . .]“ (O 3). – „Wenn sich aber in einem

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  211

Der konzeptuelle Rahmen dieser semantischen Differenzierung ist zwischen zwei konträre perspektivische Voreinstellungen gespannt: zwischen eine ausschließlich strukturell orientierte Sichtweise, die auf das Argument führt, dass Silber und Getreide an sich beide die Rolle des ‹Tauschguts› übernehmen können, und einen Ansatz, der den ‹Tausch› als etablierte Form des „sozialen Verkehrs“ einschätzt, bei der das Silber von vornherein als ‹Tauschgut› gilt, weil dieser Status ihm „zuerst durch Sitte, dann durch Recht“ (O 3) zuteilgeworden sein soll. Der ersteren Betrachtungsart entspricht bei Knapp das Verständnis des ‹Tauschmittels› „im weiteren“, der letzteren, der eigentlich chartalistischen, das „im engeren Sinne“: Sie wird auch durch die Wendungen allgemeines und „gesellschaftlich“ anerkanntes Tauschgut apostrophiert, und allein durch sie empfängt der Begriff des ‹Tauschgutes› „eine notwendige Beziehung zum Begriff des Zahlungsmittels“ (O 3). Den Umkehrschluss, dass jedes ‹Zahlungsmittel› „gesellschaftlich anerkanntes Tauschgut“ sei, weist Knapp indes als falsch zurück, weil er es für „fraglich“ erachtet, ob das ‹Zahlungsmittel› „immer ein Gut“ (O 3), das heißt: ob es auch außerhalb des gesellschaftlichen Bereichs, in dem es als ökonomischer Operator dient, fungibel, als rein stoffliche Größe verkehrsfähig sei. Hiermit wird eher nebenher der konzeptuelle Inhalt des Lexems Gut glossiert; er ließe sich allgemein mit einer Wendung wie Verwendbarkeit in unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern diesseits der staatlichen Rechtsordnung umschreiben. Das Papiergeld mutet in diesem Zusammenhang wie ein Grenz- oder sogar ein Zweifelsfall an, denn Knapp scheint sich nicht vollends darüber im Klaren zu sein, ob der Begriff des ‹Gutes› auf seinen materiellen Träger, nämlich auf „Papierblätter“, anwendbar ist, wie sie einzig noch übrig bleiben, wenn man das Geld unter anderen als wirtschaftlichen Gesichtspunkten in den Blick nimmt.219 Knapp hat dabei in erster Linie die technische Verwertbarkeit jenes Papiers im Sinn. Das erklärt sich daraus, dass seiner Auffassung nach für die Technik ausschließlich die materiellen Eigenschaften der Güter, die sie verarbeitet, von Belang sind, so als ob diese Güter eben nichts anderes wären als Stoff. Die Technik, der Knapp solcherart, ohne es eigens auszusprechen, konzediert, dass in ihr

 gesellschaftlichen Kreise, zum Beispiel in einem Staate, die Sitte ausbildet und nach und nach von der Rechtsordnung anerkannt wird, daß man alle Güter, die umgetauscht werden sollen, gegen bestimmte Mengen eines bestimmten Gutes austauscht, zum Beispiel gegen bestimmte Mengen Silbers: dann ist das Silber in einem engeren Sinne Tauschgut geworden“ (O 3). 219 „Um ein Gut zu sein“, so statuiert er, „müßte es [i.e. das Zahlungsmittel] auch bei Verwendung außerhalb der Rechtsordnung noch brauchbar, also brauchbar im Sinne der Technik sein: und das ist nicht bei allen Zahlungsmitteln der Fall. Die Papierblätter [. . .] sind ein Beispiel einer Sache, welche im Sinne der Technik kaum mehr brauchbar heißen dürfte; sie sind also kein Tauschgut, wohl aber Tauschmittel“ (O 3).

212  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

ein bestimmtes Realitätsverständnis kanonisch wird, bildet den Gegenpol zur juristisch regulierten Wirtschaft, die dem Geld den Status eines ‹Zahlungsmittels› oktroyiert und dabei dessen materielle Beschaffenheit völlig außer Betracht lässt. In der Technik beurkundet sich somit eine primär stofforientierte und damit konsequent materialistische Wahrnehmung, welche die Folie für die semantische Spezifizierung der Idee des ‹Gutes› abgibt; in dem Konzept der ‹technischen Brauchbarkeit› kristallisiert sich dessen Bedeutung aus. Es ist denn auch kaum vorstellbar, wie sich der Begriff des ‹Tauschgutes› in das gedankliche Koordinatensystem des Chartalismus eintragen lassen sollte, liegt er doch nicht auf dessen zentraler Achse, der Linie des Nominalismus; er dürfte bereits aus diesem Grunde schwerlich als Hyperonym für das ‹Zahlungsmittel› verwendbar sein. Und in der Tat bilanziert Knapp im Sinne eines Zwischenfazits, gesellschaftlich anerkanntes ‹Tauschgut› sei nicht als „Definition“ des ‹Zahlungsmittels›, sondern lediglich als „Beispiel“ für dasselbe anzusprechen und bilde als solches obendrein „den einfachsten [Fall], den man sich vorstellen kann“ (O 4). Daraus erhellt, dass Knapp von der oben referierten konventionellen Position abrückt, der gemäß ‹Tauschgut› dem ‹Zahlungsmittel› als allgemeinere oder abstraktere Größe übergeordnet werden müsse (I), ja dass er das gedanklich-strukturelle Verhältnis zwischen den beiden Momenten, wie es gemeinhin gezeichnet wird, komplett umdeutet, indem er das ‹Tauschgut› für eine wesentliche Konkretisierungsstufe des ‹Zahlungsmittels› erklärt (II). (I)

(II) ‹Tauschgut›

Hyperonym

‹Zahlungsmittel›

Hyponym

‹Zahlungsmittel›

‹Tauschgut›

Zu bestimmendes Konzept

Konkretes Beispiel

Es nehmen nun allerdings die weiteren Erläuterungen ihren Ausgang gerade von diesem einen beispielhaften Fall.220 Das ‹Tauschgut› wird – um eine bereits herangezogene textgrammatische Größe nochmals anzubringen – rhematisiert, was in Hinblick auf das Ganze des hier beleuchteten Textabschnitts besagt, dass die

 220 Die Äußerung, aus der oben auf der Seite zitiert wurde, hat folgende Fortsetzung: „Nehmen wir an, dies Tauschgut bestehe aus einem Metall – was wieder nicht gerade notwendig, aber weitaus der wichtigste Fall ist, so wollen wir dieser einfachsten Form des Zahlungsmittels einen Namen geben: es hat die autometallische Verfassung“ (O 4)

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  213

Definition in ein Verfahren der Exemplifizierung einmündet, wie der programmatische Satz [W]ir haben in dem gesellschaftlich anerkannten Tauschgut nichts anderes vor uns, als ein Beispiel des Zahlungsmittels (O 4) es intoniert. Dies Procedere ist ein spezifizierendes oder differentielles. Nachdem mit dem ‹Tauschgut› das simpelste Beispiel für ein ‹Zahlungsmittel› Erwähnung fand, führt die Untersuchung jenes nun ebenfalls auf seine verbreitetste „Form“ – die metallische – zurück, die vermittels des „Namens“ autometallische Verfassung dingfest gemacht, somit als Tatsache oder herausragende Erscheinung im Bereich des Ökonomischen ratifiziert und in das terminologische Inventar des Chartalismus eingespeist wird. Das Abstraktum Autometallismus erhebt die Disposition des Metallgeldes gleich in der Folge in den Rang eines Prinzips, das eine ganze Praxis unter sich fasst, deren Behandlung ein größeres Textsegment (O 4f.) vorbehalten ist. ‹Autometallismus›

Hyperonym für die zuvor bestimme Klasse von „Fällen“

‹Metallisches Tauschgut›

Hyponym/„Fall“

‹Gesellschaftlich anerkanntes Tauschgut›

Hyperonym

Den konzeptuellen Rahmen für den ‹Autometallismus› spannt die Konstatierung auf, dass das Metall hier „nur als Stoff“ Beachtung erfährt, der dem Empfänger in einer bestimmten Menge „zugewogen“ (O 4) wird, während die „Form“ seiner einzelnen Manifestationsgestalten unerheblich ist: Der Gesichtspunkt, unter dem sie Relevanz erlangt, ist der des Rechts, dessen realitätsstiftende Kraft der Metallismus schlichtweg nicht auf der Rechnung haben soll, weil er seiner physikalistischen Grundhaltung gemäß lediglich dem empirisch Fass- und Quantifizierbaren Aufmerksamkeit widmet.221 Indessen verdankt er diesem eindimensionalen Wirklichkeitsverständnis laut Knapp besondere Eingängigkeit, weil es den Erfahrungshorizont der meisten Menschen bezeichnen und weil der Metallismus sich aufgrund dieser seiner Kongruenz mit eingeschliffenen Wahrnehmungsformen dazu eignen soll, das Spezifische des ‹Zahlungsmittels› hervorzutreiben – freilich nicht im All-

 221 Der Passus, auf den diese Ausführungen Bezug nehmen, lautet wörtlich wie folgt: „Der Autometallismus kennt das Metall nur als Stoff, ohne jede juristische Rücksicht auf die Form, in welcher die Stücke dieses Stoffes auftreten; gemessen wird die Menge dieses Stoffes nur auf physikalische Weise: beim Metall durch Wägung“ (O 4).

214  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

gemeinen, sondern nur insoweit es sich sichtbar machen lässt. Das Proprium des ‹Zahlungsmittels›, so zeigt sich hier, kann nicht an sich bestimmt und verbalisiert, sondern lediglich an seiner geläufigsten Manifestationsgestalt herausgeschärft werden; sowie man von der einzelnen Erscheinung absieht, ist es nur schwer zu greifen, weil nicht mehr mit gängigen außertheoretischen Repräsentationsformaten kommensurabel.222 Die Begriffsklärung ist damit zu einem steten Rekurs auf die phänomenale Ebene angehalten, von der sie ihre konzeptuellen Gehalte bezieht. Der ‹Autometallismus› fungiert im Zusammenhang von Knapps Erörterung als Demonstrationsobjekt.223 Vertritt man nun aber die Position, dass einzig Ausnahmen, Epiphänomene die Wahrnehmungsschwelle überschreiten, so wird man zu der Einschätzung gelangen, dass ein analytisches Verfahren, das an punktuellen oder kontextlosen Beobachtungen haftet, das Regelhafte verfehlt und so auch nachgerade blind für die nicht-materiellen Attribute seines Objektes ist – für solche, von denen die dingliche, wahrnehmbare Außenseite eines ‹Zahlungsmittels› nichts verrät. Dieser argumentativen Linie folgt Knapp, indem er gegen ein prozedurales Wissen, das als hochgradig selektive Heuristik vorgeblich bei der – trügerischen – Oberfläche des Geschehens stehen bleibt, einen wissenschaftlichen Ansatz in Stellung bringt, dessen Adepten das Erscheinungsbild der ökonomischen Verhältnisse zwar nicht ignorieren, sich bei der Reflexion auf das ,Eigentliche‘, auf die tieferen Zusammenhänge jedoch auch nicht von ihm leiten lassen: Die Validität der ökonomischen Theorie bemisst sich nicht nach dem Grad ihrer Übereinstimmung mit dem Commonsense, der sich auf ganz spezifische Segmente der Praxis – auf solche eben, für die er empfänglich ist – beruft, sondern nach gedanklicher Kohärenz, Umfang des Anwendungsbereichs und Erklärungskraft. Dass der Chartalismus sich nun gerade im Falle des ‹Zahlungsmittels› nicht vom konkreten Beispiel lösen kann, zugleich aber konsequent über dieses hinauskonstruiert, ohne dass seine Weiterungen in einer Definition terminierten, stellt ein regelrechtes Dilemma dar. Hiervon wird später noch zu reden sein.

 222 „Es hat wohl keine Schwierigkeit, sich den Autometallismus vorzustellen; im Gegenteil, schwierig sind nur diejenigen Zahlungsmittel, welche nicht mehr autometallistisch sind (zum Beispiel das Geld)“ (O 4). 223 So liest man denn auch unmittelbar nach dem in der vorigen Anm. angeführten Zitat: „Daher benutzen wir den Autometallismus, um an ihm zu zeigen, was das Charakteristische des Begriffes Zahlungsmittel ist“ (O 4).

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  215

4.3.3.2.2 Der Begriff des ‹Autometallismus›. Schwierigkeiten der Verbalisierung als Hindernis für eine Definition Den soeben kommentierten Ausführungen werden Erläuterungen zu kardinalen Zügen des ‹Zahlungsmittels›, wie sie am ‹Autometallismus›, zumal in seinen Manifestationen als Form und Prinzip, zu gewahren sein sollen, hinterhergeschickt. Das Metallgeld bringt eine, wie Knapp vermerkt, „notwendige und hinreichende Eigenschaft jedes Zahlungsmittels“ offenbar besonders eindrücklich zur Geltung, nämlich die „zirkulatorische Befriedigung“ (O 5), die ‹Einlösbarkeit des Zahlungsmittels gegen andere Güter›, die als strukturelle Disposition zur bloß ‹technischen Nutzbarkeit› die Antithese bildet. Eine gewisse thematische Akzentverschiebung deutet sich in einer weiteren Äußerung an, laut der die „zirkulatorische Verwendung“, also eine konkrete Art der Funktionalisierung, allererst „die Eigenschaft des ,Zahlungsmittels‘ hervorruft“ (O 5).224 Diese Gebrauchsweise – und nicht etwa ein konkretes Merkmal – ist demnach als das eigentliche Konstituens des Letzteren, ja, wie das Verb hervorrufen durchblicken lässt, geradezu als dessen Ursache einzuschätzen. Seine argumentative Valenz wird diesem Statut mittels der einleitenden Formel Es ist von höchster Wichtigkeit, diesen Punkt festzuhalten zugeteilt. Anders als man erwarten könnte, benützt Knapp das Moment der ‹zirkulatorischen Brauchbarkeit› nicht, um das Procedere des Definierens voranzutreiben, wie er es etwa tun könnte, wenn er jenes Moment förmlich als Definiens auszeichnen würde. Vielmehr hebt er nach der mahnenden Eröffnung Aber vergessen wir nicht (O 6) nochmals auf den Beispielcharakter des ‹Autometallismus› ab, wie er ihn sich denkt, und entzieht so jeder verallgemeinernden Weiterung den Boden. Die Erörterung schwenkt von der gedanklichen Linie ab, deren Ausgangspunkt das ‹Zahlungsmittel› ist, und verengt den thematischen Skopus auf den ‹Autometallismus› und dessen Charakterisika. Das ist daran zu bemerken, dass die Frage aufgeworfen wird, unter welche Erscheinung man ihn zu rubrizieren hat, und dass sich ihm derart das für Knapp kennzeichnende taxonomische Interesse zuwendet. Die vom griechischen hyle abgeleitete Prägung Authylismus wird dem Begriff des ‹Autometallismus› als Hyperonym vorgeordnet und als interimistisches Glied in den gedanklichen Konnex zwischen jenem und dem ‹Zahlungsmittel› eingeschoben. Das Junktim wirkt durch die so geleistete Binnenergänzung der Begriffspyramide differenzierter, doch hat es zugleich den Anschein, als vergrößere

 224 „Es ist von höchster Wichtigkeit, diesen Punkt festzuhalten: auch beim Autometallismus, bei der einfachsten Form des Zahlungsmittels, ist es erst die zirkulatorische Verwendung, welche die Eigenschaft des ,Zahlungsmittels‘ hervorruft“. Man beachte, dass Knapp den Terminus hier als metasprachliche Größe kennzeichnet, was er sonst nur selten tut.

216  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

sich das kategoriale Gefälle zwischen den beiden Größen, die durch ihn aufeinander verwiesen sind: Aber vergessen wir nicht, daß der Autometallismus nur ein Beispiel des Zahlungsmittels ist. Überall da, wo ein Stoff als solcher, nach physikalischer Messung verwendet, als anerkanntes Tauschgut dient, wollen wir die Verfassung authylisch nennen („Hyle“ bedeutet Stoff). Der Autometallismus ist nur das wichtigste Beispiel des Authylismus; und der Authylismus selber ist nur ein Beispiel des Zahlungsmittels [. . .] (O 6).

Den letzten der wiedergegebenen Sätze kann man dahingehend interpretieren, dass das Verhältnis von ‹Autometallismus› und ‹Authylismus› auf der einen und das Verhältnis von ‹Authylismus› und ‹Zahlungsmittel› auf der anderen Seite unterschiedlicher Art sind: Zwar ist in beiden Fällen das erste Glied für das zweite exemplarisch, doch scheint es, wie sich aus dem Superlativ wichtigste[s] vor Beispiel erschließen lässt, bei der ersteren Beziehung ein Surplus an Repräsentativität zu zeigen. Das Wort nur, das beide Male vorkommt und durch die Wiederholung einen insistenten Klang annimmt, soll womöglich verhindern, dass die Termini Autometallismus und Authylismus die Erwartung wecken, sie ließen sich für übergeordnete definitorische Interessen, so für die Bestimmung des Konzepts des ‹Zahlungsmittels›, dienstbar machen. Die Partikel würde demnach darauf abzielen, epistemische Produktivität und konstruktive Kraft der beiden Größen, mithin auch ihren operativen Nutzen für die begriffliche Fixierung ökonomischer Grundgegebenheiten zu relativieren. Unter solchen Prämissen erscheint es von vornherein fraglich, ob die schließlich doch erfolgende Wiederaufnahme der zuvor sistierten Definition des ‹Zahlungsmittels› – die Reprise hebt mit der Frage Was ist aber nun ein Zahlungsmittel? (O 6) an – Erfolg verspricht. Knapp trägt mit dem von ihm gewählten Verfahren der vorausgegangenen Analyse des ‹Autometallismus› Rechnung, insofern er die ‹zirkulatorische Verwendbarkeit› zur differentia specifica erhebt und ihr in Gestalt der Fügung eine bewegliche Sache ein eher unscharfes genus proximum, also eine nominale Bezugsgröße, voranstellt, der sich jene ‹Verwendbarkeit› als Prädikat beilegen lässt. Indessen heißt es gleich darauf, dass mit dem wie eine Definition gebauten Satz Das Zahlungsmittel ist eine bewegliche Sache, welche jedenfalls zirkulatorisch verwendbar ist lediglich „im allgemeinen angedeutet werden“ solle, „was Zahlungsmittel ist [sic]“ (O 6), welche Formulierung man doch wohl nur so verstehen kann, dass es sich hier allenfalls um eine Vorstufe zu einer regulären Definition handelt. Das Verb andeuten mag so viel besagen, wie dass das Wesen des ‹Zahlungsmittels› höchstens berührt oder gestreift, nicht jedoch in seinem Kern getroffen ist, dass, um dies Ziel zu erreichen, noch vieles zur ‹zirkulatorischen Verwendbar-

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  217

keit› hinzugedacht werden muss. Des Weiteren verlautet, es solle „betont sein, daß die reale Verwendbarkeit nicht in die Definition Eingang finden darf“, um sogleich den peremptorischem Bescheid hinterherzuschicken: Höchst falsch wäre es, dieselbe zu fordern; aber nicht minder falsch wäre es, sie auszuschließen; das einzig Richtige ist, sie absichtlich unerwähnt zu lassen (O 6).

Mit dieser hochkomplexen Aussage wird der Rahmen der Begriffskonstruktion abgesteckt, nämlich angegeben, dass, um es vorsichtig zu formulieren, ein bestimmtes Merkmal für sie unwesentlich ist, auch wenn es einem prominenten Repräsentanten des ‹Zahlungsmittels›, dem Metallgeld, innewohnt. Hier zeigt sich also, dass die Darlegung über inhaltliche Vorarbeiten zu einer Definition tatsächlich nicht hinausgelangt, nachdem es eben noch das Ansehen hatte, als solle eine solche selbst geliefert werden. Bei diesen Präliminarien tut sich eine eminente Schwierigkeit auf: Es muss der komplizierten Sachlage Rechnung getragen werden, dass das Moment der ‹realen Verwendbarkeit› nicht zum strukturellen Profil des ‹Zahlungsmittels›, will heißen: nicht zu seinen konstitutiven Eigenschaften, gehört, beim Metallgeld aber offenbar keineswegs nebensächlich ist, sondern im Gegenteil zumindest an der Oberfläche in solcher Deutlichkeit zum Vorschein kommt, dass es die ‹zirkulatorische› Seite in den Hintergrund drängt. Dass es Knapp misslingt, eine allgemeine Formulierung zu finden, die sich auf einen paradoxen Einzelfall wie diesen – das Hervortreten eines kontingenten Elements – beziehen lässt, ist eben der kritische Punkt, an dem die Vorbereitungen zur Begriffsmodellierung ins Stocken geraten. Indem Knapp den Schluss zieht, „das einzig Richtige“ sei, das betreffende Element „absichtlich unerwähnt zu lassen“, streckt er vor dem geschilderten Problem, das er seinerseits klar benennt, die Waffen: Bräuchte es für eine regelrechte Definition doch eine sprachliche Formel, die jenes Element auf eine höhere Abstraktionsstufe hebt und aus der man es gleichsam strukturell entwickeln könnte. Dazu ist indes erforderlich, auch das Moment der ‹realen Brauchbarkeit› und seinen Stellenwert in Worte zu kleiden, anstatt es zu verschweigen, denn es fragt sich, ob der bewusste Verzicht auf eine Benennung dieses Merkmals nicht doch auf seinen Ausschluss aus der Begriffsbestimmung und somit auf eine Option, die Knapp selbst für inopportun erklärt, hinausläuft. Es hält demnach schwer, den aporetischen Befund, wie er eben am Metallgeld als dem geläufigsten aller ‹Zahlungsmittel› ausgezeichnet wurde, auf eine allgemeine Begrifflichkeit zu bringen. Hierin wird man auch das Motiv für die Absage an eine reguläre Definition des ‹Zahlungsmittels› zu suchen haben, die der Beginn des nachfolgenden Abschnitts – „Eine wirkliche Definition des Zahlungsmittels dürfte schwerlich zu geben sein“ (O 6) – in noch etwas gewundener Diktion annonciert.

218  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

Dieses Umstands ungeachtet spricht Knapp dem Terminus seine axiomatische Geltung keineswegs ab; er legt im Gegenteil auf sie besonderen Nachdruck, indem er jenen mit Elementarbegriffen der Mathematik und der Zoologie in Parallele setzt, welche, wenn man sie inhaltlich bis ins Letzte auskonkretisieren wollte, an praktischem Nutzen verlören. Sie können der Entfaltung eines theoretischen Programms zugutekommen, wenn man sich damit begnügt, sie „zunächst nur in einem besonderen Beispiel als bekannt“ vorauszusetzen – wie Knapp selbst es bei der Erläuterung der ‹zirkulatorischen Befriedigung› im Rückgriff auf das Metallgeld tat –, um in der Folge an ihre „Erweiterung“ (O 6) heranzugehen.225 Den ‹Autometallismus› will Knapp als ein impulsgebendes Exempel in diesem Sinne, das heißt als Stützpunkt für einen Aufriss des Begriffs des ‹Zahlungsmittels›, der seine Grundzüge hervortreten lässt, verstanden wissen. In der Darstellung, die Knapp ihm widmet, ist der ‹Autometallismus› von einem einzelnen, wenngleich frequenten und darum alles andere als unwichtigen Phänomen abgezogen und fungiert er seinerseits als Medium, in dem sich die essentielle Eigenschaft einer übergeordneten Größe herauskristallisiert. Dass man aber, wenn man die Letztere einfach auf dieser empirischen Grundlage aufträgt, nicht dahin gelangt, sie an und für sich kenntlich zu machen, mag als Erklärung dafür dienen, dass das Definiens an das Beispiel gebunden bleibt, an dem es manifest geworden ist: Der Begriff, auf den es orientiert ist, erweist sich als unbestimmt, so dass es nicht von diesem her gedacht werden kann; es fehlt ihm eine geschlossene ideelle Rahmung. 4.3.3.2.3 Der Begriff der ‹Werteinheit›. Definition als semantische Analyse Unbeschadet der hier nachvollzogenen Überlegungen, die das geläufige Procedere der Begriffsklärung dekonstruieren, führt Knapp im Folgenden eine weitere Option für eine Definition des ‹Zahlungsmittels› ins Treffen, so als sei noch nicht zur Genüge demonstriert, dass eine solche nicht ins Werk gesetzt werden kann: Wenn man etwa sagen wollte: Zahlungsmittel ist eine bewegliche Sache, welche von der Rechtsordnung aufgefaßt wird als Trägerin von Werteinheiten, ‒ so wäre dies ganz in unserem Sinne gesprochen (O 6).

 225 „Eine wirkliche Definition des Zahlungsmittels dürfte schwerlich zu geben sein; ebenso wie man in der Mathematik nicht sagen kann, was eine Linie oder was eine Zahl ist, oder in der Zoologie, was ein Tier ist. Man begnügt sich stets mit den einfachsten Fällen (gerade Linie; ganze positive Zahl) und schreitet von da zur Erweiterung des Begriffes vor, der zunächst nur in einem besonderen Beispiel als bekannt vorausgesetzt wurde. Das ist der Dienst, den uns der Begriff des Autometallismus leisten soll.“

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  219

Hier wird spielerisch, unter Verwendung des Potentialis, eine anonyme Instanz aufgeboten, von welcher sich der Theoretiker durch das Possessivpronomen der 1. Person Plural abgrenzt, um ihr zugleich eine Formulierung in den Mund zu legen, der er konzediert, dass sie das von ihm Gemeinte treffe. Es wird auf solche Weise – wenn auch nur vage – Dialogizität oder Interaktion simuliert, durch die Insinuation nämlich, dass der Autor etwas aufgreife, das von anderer Seite an ihn herangetragen wurde. Dieser Schachzug einer temporären perspektivischen Verdopplung ermöglicht es Knapp, einen neuerlichen Vorstoß zu einer Begriffsklärung zu unternehmen und ihn – trotz inhaltlicher Angemessenheit – im gleichen Atemzug zu konterkarieren.226 Tatsächlich kommt der Volte hier wohl hauptsächlich eine kompositorische Funktion zu, indem sie eine gedankliche Verschiebung, eine Schwerpunktverlagerung anbahnt; ist sie doch Anlass, einen weiteren ökonomischen Zentralbegriff zu exponieren, der sich als nicht minder undurchsichtig denn der des ‹Zahlungsmittels› entpuppt, nämlich den Begriff der ‹Werteinheit›. Das imaginäre Gegenüber tritt hier also nicht als Widerpart, der die (bisherige) Argumentation kritisch hinterfragen könnte, sondern als Stichwortgeber auf den Plan. Das Problem, das die hier gleich wieder zurückgezogene definitorische Variante aufwirft, ist, dass sie „die Werteinheit als eine selbstverständliche Vorstellung behandelt“, obwohl sie tatsächlich auf einen „vielumstrittenen Begriff“ (O 6) ausweicht, der nicht minder unscharf ist als der, zu dessen semantischer Fixierung er verhelfen soll. Er ist in der Handhabung augenscheinlich sogar in einem solchen Maße schwierig, dass Knapp gleich zu Beginn seiner Exposition ostentativ von einer grundständigen, systematischen Erörterung Abstand nimmt und sich mit Angaben begnügt, die „für den vorliegenden Zweck“ – ergo für die Erörterung des ‹Zahlungsmittels› und darüber hinaus der Grundvoraussetzungen des Chartalismus – „durchaus erforderlich“ (O 6) sind. Er redet mithin einer pragmatischen Begriffsverwendung das Wort und gibt so zu erkennen, dass ihm zumindest für den Augenblick am funktionellen Nutzen des Terminus mehr gelegen ist als an dessen semantischer Profiliertheit oder Konzisität. Einen konkreten Ausdruck findet dieser Primat der Operationalität darin, dass Bedeutungsfacetten des Begriffes selegiert und als strukturelle Scharniere in die Diskussion eingelassen werden; sie steuern ihren Verlauf, insoweit sie jeweils eine mehr oder minder weitreichende Rhematisierung erfordern.

 226 Er tut dies sehr bestimmt, wenn er einwirft: „Aber es sei ferne, dies als Definition auszugeben; denn dabei wird die Werteinheit als eine selbstverständliche Vorstellung behandelt – was sie gar nicht ist“ (O 6).

220  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

„Zuerst“, so heißt es im Text als Nächstes, „sei hervorgehoben, daß die Werteinheit für uns nichts anderes ist als die Einheit, in welcher man die Größe der Zahlungen ausdrückt“ (O 6f.). Mit diesem Dekret, das die Einschaltung für uns klar als perspektivisch gebunden designiert, hat es indes nicht sein Bewenden; vielmehr bildet es den Auftakt zu einer detaillierten, mit Beispielen angereicherten Auseinandersetzung, in der mehrfach und gerade gegen Ende das Wort Name fällt und deren Fluchtpunkt – das scheint jedenfalls dies repetitive Moment nahezulegen – in solcher Weise lexikalisch eingekreist wird. Die Wendung [i]m gewöhnlichen Leben, die den Passus eröffnet, suggeriert, dass das – zunächst seinerseits im Rahmen eines exemplum entfaltete – Sujet direkt aus der intersubjektiven Erfahrungsrealität entlehnt ist: Im gewöhnlichen Leben erkundigt sich jeder Reisende, der ein neues Land betritt, nach dem Namen dieser Einheit [i.e. der Werteinheit]: rechnet man hier nach Mark, nach Franken, nach Kronen, nach Pfund Sterling? Wenn diese Frage beantwortet ist, so erkundigt sich der Reisende, wie die üblichen Zahlungsmittel aussehen, und was sie in der Einheit jenes Landes gelten [. . .]. Man sieht, die Werteinheit hat überall einen Namen, der sich in einigen Ländern Jahrhunderte lang nicht ändert (Pfund Sterling), in anderen Ländern aber, wie Österreich, absichtlich geändert wird („Krone“ seit 1892). Jedenfalls ist aber ein Name da. Es fragt sich nun, was der Name bedeute (O 7).

Dieser letzteren Frage kann man entnehmen, dass die Analyse dessen, was hier unter Namen verstanden wird, zum neuralgischen Zentrum der Erörterung vorstößt, um das sich die im Vorfeld explizierten Inhaltskomponenten lagern. Die von Knapp gebrauchte Formulierung lässt erwarten, dass die ökonomischen Zusammenhänge gerade in ihrer Zuspitzung auf den axiomatischen Grundbestand des Chartalismus ein konzeptuelles Gepräge erhalten, für dessen metasprachliche Auszeichnung sich die Bezugnahme auf sprachwissenschaftliches Gedankengut und Vokabular empfiehlt. Die Definition – dieser von Knapp fortwährend problematisierte, aber, wie nun offenbar wird, gleichwohl nie gänzlich verworfene Modus der inhaltlichen Auskleidung von Begriffen – zeigt hier einige Ähnlichkeit mit einer semantischen Analyse, insofern ihr Objekt als „Name“ apostrophiert und ihr die Ermittlung der Bedeutung dieses Namens aufgetragen wird. Dabei ist weit mehr als der konkrete semantische Gehalt die kategoriale Qualität der Bedeutung von Interesse, da es von dieser Qualität abhängt, ob überhaupt ein bestimmter Gehalt im Sinne einer klar umrissenen extensionalen Größe in Ansatz gebracht werden kann. Auf diesen Zusammenhang weist eine Einlassung, die durch einen Absatz von dem im Vorigen Zitierten getrennt ist und die oben ganz allgemein gehaltene Frage nach der Bedeutung des Namens der ‹Werteinheit› ausbuchstabiert:

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  221

Kann er [i.e. der Name] im Sinne der Technik definiert werden, zum Beispiel so, daß es hieße: die Mark ist der 1395. Teil eines Pfundes Gold?

Dem folgt im Sinne einer indirekten Verneinung der Bescheid „Das ist die Meinung der Metallisten“ (O 7) auf dem Fuße. Knapps Deutung der Bezeichnung Mark richtet dieselbe auf die äußere stoffliche Beschaffenheit des ‹Zahlungsmittels› aus und legt ihr ein genau fixierbares Quantum von dessen materiellem Substrat als Signifikat bei. „Technisch“ ist diese Bedeutungszuschreibung insofern, als sie ein physikalisches Faktum zur Grundlage nimmt, das (vermeintlich) objektiv, eben durch technische Mittel, erfasst worden ist. Sie spiegelt die ‹Werteinheit› streng metallistisch auf die stoffliche Seite des ‹Zahlungsmittels› zurück und impliziert so, dass dessen ökonomische Funktion von seiner Materialität her zu denken oder gar durch diese bedingt sei. Die Rückkopplung wirtschaftlicher Operatoren wie der ‹Werteinheit› an die physische Wahrnehmungsrealität ist von der Überzeugung geleitet, dass das Ökonomische mess- und somit berechenbar nicht nur im buchstäblichen, sondern auch im übertragenen Sinne des Wortes sowie auf handfeste, gegenständliche Entitäten bezüglich ist. Den Brückenschlag zwischen der rein funktionalen und der materiellen Dimension vollzieht die semiotische Konfigurierung des Namens der ‹Werteinheit›, die ihn an einen dinglichen Referenten bindet, oder, in Knapps eigenen Worten, die „technische“ Definition der Metallisten, die mithin nicht nur, wie oben erwähnt, eine analytische Lesart ist, sondern auch an der Konstituierung des Definiendum teilhat. Die eben angeführte Frage erhält, nach einem weiteren Absatz, eine Ergänzung, die das Moment der Definierbarkeit selbst anschneidet: Oder kann jener Name gar nicht im Sinne der Technik definiert werden – und in welchem Sinne ist er dann noch definierbar? Das ist die Sorge der Nominalisten (O 7).

Dieser Passus ist nicht nur in inhaltlicher Hinsicht bemerkenswert, etwa weil er – sehr vorsichtig im Übrigen – andeutet, dass es eine Alternative zur ‹technischen Definition› womöglich gar nicht gibt; er verdient auch des Lexems Sorge wegen Beachtung, das an sich schon vermuten lässt, dass es sich hier um eine Schlüsselstelle der „Staatlichen Theorie“ handelt. Das Wort ruft den Eindruck hervor, als stehe ein gedanklicher Komplex zur Debatte, dessen Klärung für die Theoriebildung oder überhaupt für die gedankliche Bewältigung des Ökonomischen von solcher Wichtigkeit ist, dass der Autor es für angezeigt hält, subjektive Involviertheit, gar Betroffenheit zumindest durchscheinen zu lassen. Für die Tauglichkeit der nominalistischen Auffassung ist entscheidend, ob es ihr gelingt, die Möglichkeit einer anderen als der ‹technischen› Begriffsbestimmung im oben beschriebenen Sinne aufzuweisen. Denn der Folgerung, dass die metallistische Lesart der

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‹Werteinheit› nach Knapp grundsätzlich nicht valide ist, ist wohl bereits durch die hier thematisierten Räsonnements, besonders aber durch die Frage nach einer weiteren Option die Bahn bereitet. Der Schluss, dass es eines anderen Ansatzes bedarf, wird nach einem erörternden Segment, das hier im Folgenden ausgeblendet werden soll, auch förmlich gezogen, und zwar im Rückgriff auf jenes Papiergeld, das Knapp „das eigentlich echte“ (O 8) nennt.227 Hier signalisiert besonders das adverbiale eigentlich, dass nicht phänomenale Oberflächenmerkmale, sondern strukturelle Konstituenzien im Lichtkegel der Betrachtung stehen sollen. Am Beispiel des Guldens wird ersichtlich, dass der Name einer ‹Werteinheit› fortdauern kann, auch wenn die materielle Beschaffenheit des ‹Zahlungsmittels› eine tiefgreifende Wandlung erfahren hat. Laut Knapp wird der Gulden, wie er zu seiner Zeit in Österreich kursiert, durch einen Satz wie den, dass der Gulden „der 45. Teil eines Pfundes Silber“ sei, nicht in seiner aktuellen Eigenart getroffen, da solchermaßen „zwar ein Gulden, aber nicht derjenige Gulden definiert wird, in welchem man zahlt; sondern derjenige, in welchem man nicht zahlt“ (O 8). Diese pointierte Formulierung reißt die Aporie an, in die sich eine technischmetallistische Modellierung des Guldens verstrickt, ohne ihrer gewahr zu werden. Knapp stellt heraus, dass es zweierlei Gulden gibt – einen aktuellen und einen obsolet gewordenen, der im Zahlungsverkehr keine Verwendung mehr findet. Die Metallisten richten das Augenmerk auf ein anderes ‹Zahlungsmittel›, als sie behaupten und wohl auch meinen, auf ein abwesendes nämlich, dessen Platz – das ist der Kern der Knapp’schen Argumentation – materialiter ebenso wie idealiter ein zweites eingenommen hat, das freilich unter dem gleichen Namen firmiert. Die Bezeichnung Gulden geht nicht mehr auf eine Silbermünze, sondern auf einen Papierschein, der, allein nach seiner äußeren Erscheinung geurteilt, nichts mit der Münze gemein hat, sondern nur mehr in einem nominellen Verhältnis zu ihr steht. Folglich liegt hier zumindest in der synchronen Betrachtungsdimension

 227 „Aber es gibt Zahlungsmittel, welche über diese einfache Form [i.e. den Vergleich mit einem allgemein anerkannten Tauschgut] hinausragen; solche also, die außerhalb der Rechtsordnung betrachtet gar nicht mehr Güter sind. Der wichtigste Fall bleibt das eigentliche echte Papiergeld. Der Name für die Werteinheit (z.B. Gulden, in Österreich) lebt dann fort – aber es ist nicht möglich, dafür eine technische Definition zu geben (etwa: Gulden ist der 45. Teil eines Pfundes Silber), denn es ist jedem Beobachter klar, daß hierdurch zwar ein Gulden, aber nicht derjenige Gulden definiert wird, in welchem man zahlt; sondern derjenige, in welchem man nicht zahlt. Es soll aber doch die Einheit des üblichen Zahlungsmittels definiert werden – und dies ist in unserm Falle dem Metallisten unmöglich“ (O 8).

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Homonymie vor: Ein Ausdruck meint zwei differente Größen, die konzeptuell indes kaum gänzlich voneinander zu scheiden sind.228 Laut Knapp verkennt die metallistische Anschauung diese Sachlage, indem sie dem gebräuchlichen ‹Zahlungsmittel› einzig der Ausdrucksidentität wegen den gleichen Referenten supponiert wie demjenigen, an dessen Stelle es getreten ist. Es wird mithin in einer Art von semiotischem Kurzschluss so getan, als sei mit der Bezeichnung auch das Bezeichnete identisch geblieben, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass Silbermünze und Papiergeld ganz augenfällig und unleugbar disparate Dinge sind. Eine solche Einschätzung kann man zuletzt wohl einzig unter der Voraussetzung treffen, dass die Beibehaltung eines Namens Gewähr für die Fortdauer der ihm beigelegten Sache bietet, dass diese mit dem Namen konserviert oder zumindest mittelbar präsent gehalten wird. Dies ist eine genuin essentialistische Position, die den semiotischen Grundgedanken der Repräsentation (gleich ,Wiedervergegenwärtigung‘) wörtlich nimmt, sich aber nach Knapps Auffassung über die ökonomischen Tatsachen hinwegsetzt: Sie statuiert die Präsenz eines ‹Zahlungsmittels›, das in der Praxis eben keinerlei Rolle mehr spielt – „in welchem man nicht zahlt“ –, und lässt „die Einheit des üblichen Zahlungsmittels“ (O 8), an welchem der Theorie eigentlich gelegen ist, also die Fundamente dieser Praxis, außer Acht. Diesen ihren paradoxen Folgewirkungen zum Trotz steht Knapp nicht an, der „Ansicht, man könne die Werteinheit als Metallmenge definieren“, „ganz ungeheuere Verbreitung“ (O 8) zu konzedieren, was man nicht anders deuten kann, als dass die unauflöslichen gedanklichen Verwicklungen, die ihre Konsequenzen mit sich bringen, zumindest fürs Erste unbemerkt bleiben. Tatsächlich wird im Text die metallistische Perspektive mit den landläufigen Vorstellungen des sogenannten „Laien“ oder, wie Knapp ihn mit rousseauschem Akzent ebenfalls tituliert, des „natürliche[n] Mensch[en]“ (O 8) verschränkt, der intuitiv, wohl aber auch unter dem Eindruck des Fortbestands von Bezeichnungen wie Gulden der Überzeugung ist, die Ära des ‹Autometallismus› dauere an, und damit die Tragweite von Entwicklungen unterschätzt, in deren Verlauf der Zahlungsverkehr grundlegend umdisponiert worden sein soll. Der Meinung, dass sich an den ökonomi 228 Es wäre zu überlegen, ob sich das gedankliche Verhältnis zwischen Papiergeld und Münze präziser fassen lässt, wenn man es als symbolisches ansieht: Letztere wäre dann ideelles Substrat des Ersteren. Eine solche Position wird freilich durch die ökonomische Praxis kaum bestätigt, denn damit Papiergeld von der Art des Guldens seine Funktion erfüllt, muss man nicht voraussetzen, dass es durch virtuelles Metallgeld gedeckt ist, oder anders gesagt: Es empfängt seinen Verwendungssinn nicht von der Erinnerung an Münzen, die einmal anstatt seiner im Umlauf waren und die sich ihm dadurch, dass es von ihnen den Namen übernommen hat, gleichsam eingekörpert haben.

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schen Verhältnissen prinzipiell nichts geändert habe, hängen Knapp zufolge „alle Laien“ an, allerdings, wie er hinzufügt, „im geheimen[,] und unbewußt“ (O 8), so als handle es sich um eine stillschweigende communis opinio, die in den bislang bezeichneten Schwierigkeiten noch keine Herausforderung erblickt hat. 4.3.3.2.4 Aporie der Evidenz Dem „natürlichen Menschen“ stellt Knapp den „theoretischen“ gegenüber, der, wie er meint, regelrecht dazu „genötigt“ ist, „Nominalist zu werden“.229 Die Wortwahl impliziert zweierlei: erstens, dass der Wissenschaftler sich nicht unumwunden, nicht ohne innere Reserve zum Nominalismus bekennt, und zweitens, dass er damit objektiven Gegebenheiten Rechnung trägt. Der Nominalismus wird so als ein Paradigma stilisiert, das direkt auf die realen Verhältnisse anspricht, sich gleichsam auf deren Anstoß hin aufbaut, dabei indes zu allem, was man intuitiv, beim bloßen Augenschein annehmen könnte, in Spannung steht;230 seine Inhalte

 229 „Der natürliche Mensch ist Metallist; der theoretische Mensch hingegen ist genötigt, Nominalist zu werden, denn es ist nicht allgemein möglich, die Werteinheit als Metallmenge zu definieren“ (O 8). 230 Knapp spricht diese Diskrepanz selbst unumwunden an, auch wenn er sich hierbei eines fingierten Zitats bedient und somit vorgibt, auf einen Einwurf von außen Bezug zu nehmen: „,Aber der Autometallismus wäre doch viel einfacher, faßlicher, greifbarer!‘ Gewiß wäre er das; aber was kann der Theoretiker dafür, daß er nicht mehr da ist! Nicht die Theoretiker haben ihn abgeschafft, sondern die geschichtliche Entwicklung hat es getan. Die Theorie hat nur zu zeigen, was daraus folgt, und wie man sich in die neue Lage zu schicken hat“ (O 215f.). Das passive oder defensive Moment, das die Rede von der Nötigung evoziert, kommt im letzten der hier angeführten Sätze von Neuem zum Tragen: Der Chartalist nimmt für sich in Anspruch, den einzig gangbaren Weg aufzuzeigen, wie man sich mit der Realität arrangieren könne. Noch pointierter ist die folgende Sequenz, die wiederum mit einem Einwurf beginnt, der den Metallisten in den Mund gelegt wird: „Eine so durchaus bewährte Geldart, wie das bare Geld ist, soll in eine akzessorische Stellung getreten sein, also in eine ganz untergeordnete Stellung? [. . .] Das ist gegen alle Ordnung! ǀ Darauf ist zu erwidern: es mag gegen alle Zweckmäßigkeit verstoßen; aber es ist so, die Not hat es erzwungen. Es ist nicht gegen alle Ordnung, sondern es ist die neue Ordnung, die aus der Notlage entsprungen ist“ (O 130). Demgegenüber lässt ein anderes Diktum durchblicken, dass bei der chartalistischen Theoriebildung mehr im Spiele ist als nur Zwang, dass sie auch positive Affekte kennt und dass bei ihrer Durchführung extrinsische Motive wirksam sind: Ja, Knapp verhehlt nicht, dass ihm die Bestätigung seiner Hypothesen durch ökonomische Tatsachen, die er gleichsam vorausgedacht haben will, Befriedigung verschafft. Im Übrigen macht er sich zu Beginn der Äußerung, wenn auch unverkennbar in einem überspitzenden, ja karikierenden Duktus, wiederum den Standpunkt der Metallisten zu eigen: „Wo in aller Welt erlaubt sich eine andre Wissenschaft, irgend einen Vorgang, dessen Wirklichkeit offenkundig ist, als anomal zu bezeichnen, weil er einer herrschenden Theorie widerspricht? Das Anomale ist allerdings vorhanden, aber es liegt in der metallistischen Theorie des Geldes. Für die Chartaltheorie liegt hier gar nichts

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  225

sollen von der Wirklichkeit abgezogen, aber doch nicht ohne Weiteres einleuchtend sein. Die Aussage erscheint durch die Wendung genötigt sein gewissermaßen forciert, denn ähnlich wie bei Sorge hätten hier auch weniger pointierte, sit venia verbo neutralere Ausdrücke wie dahin gelangen oder Ähnliches Verwendung finden können. Fragt man sich, warum das nicht geschah, so wäre eine mögliche Antwort die, dass Knapp es darauf anlegte, das Votum für den Nominalismus als unausweichlich hinzustellen, mithin zu insinuieren, dass es schlichtweg nicht anders geht, so wenig die Konzeption auch mit der Gestalt, in der sich die wirtschaftlichen Verhältnisse nach außen präsentieren, mit ihrer üblichen Wahrnehmung zusammenstimmt. Indem Knapp den „natürlichen“ gegen den „theoretischen“ Menschen ausspielt, dabei aber dem ersteren zugesteht, dass seine Betrachtungsweise dem Commonsense gemäß sei und auf intersubjektiv geteilten Eindrücken fuße, zerspaltet er in genauer Analogie zu Marx die ökonomische Wirklichkeit: in eine phänomenale Oberfläche, die etwas Ephemeres und Trügerisches haben, und in eine ideelle Unterlage, die ihr Eigentliches ausmachen und von der kein intuitives Verständnis mehr zu gewinnen sein soll. Vor dem Forscher entrollen sich bereits, ja sogar erst recht, wenn er sich der Konstitutionsbedingungen des Geldes annimmt, intransparente gedankliche Zusammenhänge, in die er Licht bringen muss, um jene Bedingungen aus ihrer Entlegenheit und Verstecktheit holen zu können. Der Chartalismus gemahnt so gesehen bisweilen förmlich an eine Geheimwissenschaft, worin man ebenfalls eine Parallele zu Marx erkennen kann, der das Ökonomische in seiner Essenz bisweilen durchaus mystifiziert, auch wenn er seinem eigenen Verständnis zufolge das Programm verfolgt, ökonomisch-gesellschaftliche Blendungsmechanismen zu destruieren: Tatsächlich ist aber bereits die konzeptuelle Fundierung des Zahlungsverkehrs bei Marx allzu aporetisch, als dass sie auf direktem Wege, das heißt ausschließlich begrifflich, ohne metaphorisierende Umschreibung, nachvollzogen werden könnte. Knapps Verzicht auf eine reguläre Aufschlüsselung des Begriffs des ‹Zahlungsmittels› gibt der Annahme Raum, dass er auf vergleichbare Hindernisse stößt, auch wenn sein Vertrauen in die Tragfähigkeit einer konsequent wissenschaftlichen, terminologisch gebundenen Behandlung seiner Materie davon nicht erschüttert wird. Er stört sich auch nicht daran, dass die Theorie, die er für alternativlos erklärt, aus der Warte des „natürlichen Menschen“, also eines, der auf undialektische Erklärungsansätze und Denkmodelle vertraut, die an seiner Wahrnehmung

 Auffallendes vor; sie sieht hier nur den einfachsten Fall ihrer Anwendung. Beinahe könnte man sagen: sie freut sich, daß endlich einmal das unmetallische Geld auftritt, dessen Möglichkeit ihr längst vorgeschwebt hat“ (O 129).

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entlang konstruiert sind, keine Evidenz für sich beanspruchen kann. Etwaige Zweifel, die man hieran hegen könnte, schaltet Knapp aus, indem er die naive oder vorsichtiger: die vortheoretische Anschauung mit dem Metallismus, also mit einem theoretischen Entwurf, synchronisiert, von dem er behauptet, dass er wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genüge, weil er gerade wesentlichen Phänomenen nicht auf den Grund zu gehen verstehe. Knapp diskreditiert den convenu, indem er ihn mit einem Ideengebäude von Theoretikern gleichsetzt, deren Blickfeld ihm zufolge nicht über die kontingente und obendrein täuschende Außenseite der Phänomene hinausreicht und die derart – um das Argument im Sinne von Marx zu wenden – deren Schein verfallen: Als Kontrollinstanz oder als mögliches Korrektiv für die Theoriebildung taugen die Anschauungen des „natürlichen Menschen“, der auf das Sichtbare schwört, nicht. Anders formuliert, sind sie für eine perspektivische Vertiefung des Zahlungsverkehrs, die seinen ideellen Hintergrund ins Bild holt, kein Maßstab, weil sie für ebenso selektiv und standortabhängig zu gelten haben wie der Metallismus, der sich in ihrem Fahrwasser bewegt. Sie versagen ökonomischen Prozeduren, die in der Erlebniswirklichkeit des natürlichen Menschen nur mehr einen undeutlichen, mittelbaren Niederschlag finden, oder auch Erscheinungen wie dem so prominenten Papiergeld, solchen also, denen mittels einer intuitiven Logik nicht beizukommen ist, ihr Recht. Dass der Chartalismus von der metallistischen Linie abschwenkt und die Validität der mentalen Repräsentation wirtschaftlicher Zusammenhänge bei Laien und Praktikern radikal bezweifelt, kann man dahin auslegen, dass er das naturwissenschaftlich zu denkende Evidenzpostulat verabschiedet. Das entspricht seiner Absicht, über die geläufigen Manifestationsgestalten des Ökonomischen hinauszugelangen und dessen ideell-funktionale Konstituenten kenntlich zu machen. Demgemäß gewinnt das nominalistische Movens der Begriffsbildung Auftrieb, weil es schlichtweg keine Phänomengruppen im üblichen Sinne gibt, die bei der Modellierung der chartalistischen Termini herangezogen und mit denen die Merkmalsmatrices derselben abgeglichen werden müssten. Das hat man freilich nicht in dem Sinne zu verstehen, dass der Nominalismus Knapp’scher Prägung auf eine spekulative Ausdeutung sich nur reflexhaft zeigender Vorgänge hinausliefe; bekundet er doch gerade durch sein fortwährendes Streben nach terminologischer Differenzierung, dass er sich nicht damit begnügt, lediglich vage auf opake wirtschaftliche Gegebenheiten Bezug zu nehmen. Er erweckt vielmehr den Eindruck, als wolle er diesen eine Darstellung von geradezu naturwissenschaftlicher Exaktheit zuteilwerden lassen; auch ist in Knapps Diktion ein positivistischer Tenor nicht zu überhören.

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Es wird behauptet, dass die Theorie über eine systematische Betrachtung mit diachroner Ausrichtung sowie über kohärente Schlussketten Zugang zur trans- oder auch metaphänomenalen Ebene des Ökonomischen erlange und demnach vermögend sei, die konzeptuellen Größen derart präzise auszuzeichnen, als seien sie wenn nicht sinnlich, so doch analytisch vollends fassbar: Offenbar geht Knapp stillschweigend von der Voraussetzung aus, dass Evidenz dem Wortsinne entgegen als Kriterium nicht nur für den Bereich des Augenfälligen, sondern auch für den ideellen Unterbau des wirtschaftlichen Geschehens Geltung habe und – das ergibt sich daraus – dass dieser Letztere völlig transparent gemacht werden könne. Eine solche Konklusion ist jedoch anfechtbar, wenn man sich vor Augen hält, dass es offenbar nicht ohne Weiteres möglich ist, zu sagen, wodurch ein ‹Zahlungsmittel› ,eigentlich‘, in abstracto oder hinsichtlich seiner Struktur, gekennzeichnet ist. Die Termini zeugen von dem Glauben, dass persistierende Analyse auch vermeintlich arkane Bereiche erschließen, von außen nicht Einsehbares ins Licht rücken kann; andernteils wird an ihnen – und nachgerade exemplarisch an den Komplikationen, die bei der semantischen Füllung des konzeptuellen Formulars des ‹Zahlungsmittels› auftreten – eine Problematik der chartalistischen Erkenntnis manifest: Die Begriffe bringen Aporien der Theoriebildung zur Anzeige. Dass sich der theoretische Mensch, wie Knapp schreibt, „genötigt“ sieht, sich auf die Seite der Nominalisten zu schlagen, ist geradewegs auf das Zentralproblem der Untersuchung zurückzuführen, darauf nämlich, dass es „nicht allgemein möglich“ sein soll, „die Werteinheit als Metallmenge zu definieren“ (O 8) oder, semiotisch gewendet, einer Metallbezeichnung, die Teil ihrer verbalen Kennung ist, das entsprechende Metall als Referenten zuzuweisen. In einem eigenen Textabschnitt versucht Knapp aufzuzeigen, dass es sich selbst bei einer ‹autometallistischen› Verfassung, das heißt bei jener ökonomischen Ordnung, die, wenngleich obsolet, als geistiges Substrat weithin für die Vorstellung vom Geldwesen verbindlich ist, nicht anders verhält. Was Knapp genau bezweckt, indem er seinem Befund die superlativische Wendung Und am allerseltsamsten ist vorausschickt – sie folgt als Schlusspunkt einer lediglich angedeuteten Klimax auf das komparative Was aber viel erstaunlicher ist (O 8)231 – bleibt im Dunkeln. Es ist ebenso wohl denkbar, dass er den Standpunkt der Metallisten bloß zum Schein einnimmt,  231 Der hier beleuchtete Passus lautet vollständig: „[. . .] [E]s ist nicht allgemein möglich, die Werteinheit als Metallmenge zu definieren. Man kann es schon im angeführten Falle des echten Papiergeldes nicht. Was aber viel erstaunlicher ist: man kann es überhaupt nicht, wenn die Zahlungsmittel Geld sind, was ja beim Autometallismus noch nicht zutrifft. Und am allerseltsamsten ist dies: auch bei Autometallismus, sobald ein anderes Metall gewählt wird als bisher, wird der Begriff der Werteinheit unabhängig vom früheren Metall, nämlich technisch unabhängig davon. Denn die Werteinheit ist stets ein historischer Begriff“ (O 8f.).

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um sie als Theoretiker zu desavouieren, sie als überfordert hinzustellen, wie dass er das von ihm artikulierte Befremden tatsächlich selbst verspürt, es mithin als sachlich begründet versteht. Für die Lesart, dass es sich um eine rein rhetorische Zuspitzung handelt, spricht, dass das Rätsel, als das die ‹Werteinheit› sich prima facie präsentiert, geradezu schlagartig in einem einzigen, noch dazu sehr bündigen Satz aufgelöst wird: „Denn die Werteinheit ist stets ein historischer Begriff“ (O 9). Hiermit ist ein Stichwort gefallen, dessen Knapp sich bedient, um nebenher eine Alternative zur ‹technischen› Begriffsbestimmung zu lancieren, die er bislang mit der Definition im Allgemeinen vermengt oder als deren notwendige Bedingung angesehen zu haben scheint. Er nimmt gleich im Anschluss eine kausale Einordnung dieses Kontraposts vor, indem er ihn an ein Faktum der Lebenswirklichkeit knüpft: Der Grund dafür, daß die Werteinheit nicht immer technisch, aber ohne alle Ausnahme, bei jeder Verfassung des Zahlungsmittels, auf andere Weise, nämlich historisch definiert ist, liegt in der Tatsache, daß es Schulden gibt (O 9).

Konkret wird über die „historische Definition“ zunächst tatsächlich nur so viel ausgesagt, dass sie eine andere Disposition hat als die technische und letztlich universal verbreitet ist. An dem Zustandspassiv [ist] definiert, das ein fait accompli anzeigt und sich auffallend von Wendungen im Vorfeld abhebt, die die Möglichkeit einer allgemeinen Definition leugnen,232 wird obendrein deutlich, dass Knapp den von ihm benannten definitorischen Modus ebenso wie sein Pendant hier wohl nicht als theoretisches Elaborat, sondern als Gegebenheit verstanden wissen will, ohne dass diese perspektivische Drehung – man könnte auch von einer gedanklichen Volte reden – thematisiert, geschweige denn näher erläutert würde.233 Die theoretischen Begriffsdifferenzierungen sollen demgemäß so gestaltet sein, dass sie ökonomische Zusammenhänge bloßlegen oder auch auskonstruieren. Bei den Termini handelt es sich nicht um Instrumente zur Formatierung wirtschaftlicher Konstitutionsbedingungen, welche in erster Linie auf übergeordnete Theorieentwürfe verwiesen und somit zumindest nicht ausschließlich auf die ökonomischen Tatbestände selbst ausgerichtet wären, sondern um Glieder eines Repräsentationssystems, das sein Objekt unverändert lassen soll. So hat es das

 232 Vgl. etwa den ersten der in der vorigen Anm. zitierten Sätze. 233 Im Lichte dieses Befundes könnte man dem reflexiven Verb sich ausbilden, auf das die Untersuchung am Anfang näher einging, eine programmatische Note zuschreiben, auch wenn die Lesart, dass es der Substantialisierung des Begriffs präludiert, zugegebenermaßen recht forciert ist. Indem es ein Moment von Autonomie anklingen lässt, dürfte das Verb aber doch implizieren, dass der Begriff hier nicht als rein operative Größe gewertet wird.

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Ansehen, als nähmen die Begriffe unmittelbar auf Größen Bezug, die ihnen analog sind, und als sei die Wirtschaft in ihren Grundlagen ihrerseits begrifflich konstituiert. Dies Ergebnis lässt sich konstruktivistisch, das bedeutet in dem Sinne wenden, dass der Theoretiker seine Begriffe auf seinen Gegenstand projiziert und dann vorgibt, sie aus ihm herausgelesen zu haben. Die Prägungen Metallismus und Nominalismus hat man laut Knapp nicht so aufzufassen, als seien sie differierenden ökonomischen Gegebenheiten, Lehren oder Entwicklungsstufen willkürlich angeheftet worden, sondern als stimmten sie mit ihren Referenten überein; Ausdrucks- und Inhaltsseite sollen bei ihnen also voll zur Deckung kommen. Was nun den Satz betrifft, der auf der vorigen Seite zitiert wurde, so erhellt aus ihm weiterhin, dass das ‹technische› und das ‹historische› Moment als Größen nicht auf der Beschreibungs-, sondern auf der Objektebene klar auseinanderzuhalten, zugleich aber prinzipiell miteinander verträglich, ja in der Vergangenheit öfter auch synchron gelaufen sind. Dabei werden – der vortheoretischen Ansicht des ‹natürlichen Menschen› gerade entgegen – das ‹technische› Begriffsverständnis als Variante und das ‹historische› als Konstante, ja als Universalie, mithin als Normalfall designiert: Knapp legt auf diesen Punkt besonderen Nachdruck, indem er ihn weiter ausführt, so in der folgenden Stelle: Die Nominalität der Werteinheit [. . .] ist nicht etwa eine neue, sondern eine uralte Erscheinung, die noch heute fortbesteht und ewig bleiben wird; sie ist mit jeder Beschaffenheit des Zahlungsmittels vereinbar [. . .] (O 15).

Diese Überzeitlichkeit, der die ‹Werteinheit› ihren Status als ideelle Integrale über den augenscheinlich recht fluiden und metamorphen Geldarten im Verlaufe der Geschichte verdankt und die ihr beinahe schon eine metaphysische Aura verleiht, wird, wie wiederum dem Zitat zu entnehmen ist, an dem das hier Vorgetragene ansetzt, aus der Existenz von Schulden hergeleitet. Dass es solche gibt, ist Knapp zufolge als „Tatsache“ (O 9) einzuschätzen und mag darum eine Stufe im argumentativen Gefüge markieren, auf der man „festen Fuß“ gewinnt, weil hier etwas Unstrittiges bezeichnet sein dürfte bzw. weil die Gültigkeit von Zahlungsverpflichtungen über den Zeitpunkt hinaus, da man sie eingeht, unbestreitbar im Erfahrungshorizont des sogenannten „natürlichen Menschen“ steht. Indem Knapp hier unterschwellig einen intersubjektiven, lebensweltlichen Gehalt aufruft, restituiert er unversehens das Kriterium der Evidenz, doch ist es nun nicht mehr auf den Bereich des subjektiv Wahrnehmbaren, sondern auf das deklarative Wissen bezogen, das über jenes hinausgreift. Der Rekurs auf die Schulden erschließt der Denkfigur der perennierenden ‹Werteinheit›, welche an sich die kognitiven Potenzen des Menschen maximal strapazieren dürfte, einen Fond an Plausibilität.

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Ist es ohne Weiteres einsichtig, dass Schulden Bestand haben, wenn sie nicht beglichen werden, so kann man das von Knapps Aussage, dass dieses Faktum auf den Nominalcharakter der ‹Werteinheit› führe, schwerlich behaupten. Die letztere Schlussfolgerung hat zur Voraussetzung, dass Schulden, weil dauerhaft, ebenso wenig wie das Substrat der ‹Werteinheit› als primär materielles Phänomen interpretiert werden können. Das lässt erwarten, dass dasjenige, was eben unter dem Etikett historische Definition rangierte, anhand der Schulden in die Lebenswirklichkeit des ‹natürlichen Menschen› hereingeholt und schärfer umrissen oder auch besser ausgedeutet werden kann.234 Und in der Tat konkretisiert Knapp sein Sujet, indem er unversehens auf den „Staat als Ordner des Rechtes“ zu sprechen kommt und vermittels der noch eher vagen Prädikation, Letztere habe eine „bestimmte Stellung“ zu den Schulden, zu dem Befund gelangt, dass diese eine „nicht technische sondern juristische Erscheinung“ (O 9) seien: So bringt er rechtlich induzierte Faktizität als Alternative zur ‹technischen› Wirklichkeit mit dem Konzept des ‹historischen Begriffs› in Parallele. An die sehr komprimierte sprachliche Darbietung dieser Zusammenhänge, die die Wendung nicht technische sondern juristische Erscheinung an das Ende des hier kommentierten Satzes setzt und so als Thema im Sinne Weinrichs exponiert, schließt sich eine rhematisierende Äußerung an, die zugleich die zuvor erwähnte „Stellung des Staates“ zu den Zahlungsverpflichtungen konkretisiert: „Durch sein Gerichtswesen hält der Staat bestehende Schulden aufrecht“ (O 9).235 Das ist nun nicht so zu lesen, als trage der Staat dafür Sorge, dass eine Schuld in einem genau festgelegten Zahlstoff gezahlt werde, von dem sich, zumal wenn es sich um ein Edelmetall wie Erz handelt, „zunächst“ leicht denken ließe, er sei „unveränderlich“.236 Tatsächlich verhält es sich so, dass der Staat, indem er „die Zahlungsmittel von Zeit zu Zeit ändert“, lediglich die „relative Größe“ (O 10) der Schulden  234 Tatsächlich bilden die Schulden als Beispiel für eine nicht-dingliche ‹Wertgröße› ein Aufbauelement in der argumentativen Konstituierung des Chartalismus; das geht zum Beispiel aus der oben bereits zitierten Einlassung hervor, die die ‹nicht-technische› Definitionsart als für die Erklärung der Existenz von Schulden unentbehrlich hinstellt: „Der Grund dafür, daß die Werteinheit nicht immer technisch, aber ohne alle Ausnahme, bei jeder Verfassung des Zahlungsmittels, auf andere Weise, nämlich historisch definiert ist, liegt in der Tatsache, daß es Schulden gibt“ (O 9). 235 Die oben beigebrachten Wendungen finden sich in folgendem Passus: „Aber es gibt auch bleibende Verpflichtungen zum Zahlen, wenn die Zahlung nicht augenblicklich geleistet worden ist, also Schulden; und der Staat als Ordner des Rechtes hat eine bestimmte Stellung zu dieser nicht technischen sondern juristischen Erscheinung. Durch sein Gerichtswesen hält der Staat bestehende Schulden aufrecht“ (O 9). 236 „[. . .] [M]an ist verpflichtet, so oder so viel Getreide zu liefern, wenn Getreide der Zahlstoff ist; oder so und so viel Erz, wenn Erz der Zahlstoff ist, den wir uns zunächst als unveränderlich vorstellen“ (O 9).

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  231

garantiert, sie folglich in einer solchen Art und Weise fixiert, dass sie realiter in unterschiedlichen Zahlungsmitteln einlösbar sind.237 4.3.3.2.5 ‹Universalität›, ‹Potentialität› und ‹Implizitheit› als konzeptuelle Attribute des Nominalismus Wechsel des Zahlungsmittels geraten nach Knapp erst unter der Bedingung in den Blick, dass man eine diachrone Perspektive einnimmt und das Handeln des Staates als des „Hüter[s] der Rechtsordnung“ „im Laufe der Geschichte“ (O 10) verfolgt. Mit dieser Formulierung der Prämisse ist eine argumentative Vermittlung der Attribute historisch und juristisch geleistet, die sich, wie dargetan, oben zunächst nur insofern gleichsinnig ausnahmen, als sie beide mit dem Merkmal ‹technisch› kontrastiert wurden. Das Recht wird im Lichte der „geschichtliche[n] Erfahrung“ betrachtet, was laut Knapp dem Juristen „weniger geläufig“ erscheint, weil er „von einem bestehenden, für ihn unveränderlichen Zustande des Rechts auszugehen“ (O 10) pflegt. Diese idealisierende Haltung, die Knapp zweifelsohne stark überzeichnet, konvergiert im Kern mit der des Technikers, der Schulden als reale und absolute begreift – als solche mithin, die in einem ganz bestimmten Zahlungsmittel einzulösen seien. Damit figuriert der Jurist, der eine einmal sanktionierte rechtliche Verfügung im Grundsatz für irreversibel hält, bei Knapp als Komplize oder als Gewährsmann des Autometallisten wie auch des „natürlich“ genannten Menschen. Der Ansatz, die ‹Werteinheit› vom Stoff des Zahlungsmittels her zu denken, geht mit der angeblich kurrenten Meinung einher, dass eine unverrückbare, statische, eine übergeschichtliche Rechtsordnung die Schulden als „absolute Größe“ (O 10) anspreche. Hiergegen verwahrt sich Knapp in einer exclamatio, deren Inhalt er mit rhetorischem Nachdruck, etwa durch Verwendung der Partikel doch, als intuitiv einleuchtend hinstellt: Wenn der Staat, anstatt des Erzes, nunmehr Silber zum Zahlstoff erklärt, so bleibt zwar die relative Größe der bestehenden Schulden unverändert – aber daß die Schulden, nach dem Erz beurteilt, sich geändert haben, sieht doch jeder ein! (O 10)

Damit tut Knapp nichts anderes als das Evidenzprinzip, das sich im Vorfeld zumindest als belastet erwies, ins Treffen führen, um die von ihm stark betonte communis opinio zu disqualifizieren,

 237 „[. . .] [D]er Staat hält stets nur die relative Größe der Schulden fest, während er die Zahlungsmittel von Zeit zu Zeit ändert. Dies tut er zuweilen auch dann, wenn er noch im Autometallismus verharrt, aber ein anderes Metall, als das vorige, in lytrische Verwendung bringt“ (O 10).

232  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

es sei überhaupt der Grundsatz aller Rechtsordnungen, daß die absolute Größe der Schulden, nach dem ursprünglichen Zahlstoff beurteilt, stets unverändert bleibe (O 10).

Dieses Manöver, mit dem Knapp zumindest indirekt andeutet, dass er der Meinung ist, „[f]ast alle Leute“ (O 10) hätten vor Offensichtlichem die Augen verschlossen, harmoniert jedoch nicht recht mit Knapps summarischem Diktum, dass die Konvertierung alter Schulden in ein neues monetäres Medium vom Staat „in der merkwürdigsten Weise“ (O 11) durchgeführt werde – unter der Voraussetzung, dass mit dieser Äußerung nicht etwa die Perspektive der Metallisten oder der Laien eingenommen ist, wofür der Kontext keine Indizien liefert.238 Dass die Umwandlung der Schulden statthat, „lehrt“, so Knapp, die Rechtsgeschichte, die – so gibt eine bereits im Vorigen beleuchtete Äußerung zu verstehen239 – die staatliche Praxis, die anders unartikuliert bliebe, als Sachwalterin des rigidesten Rationalismus „rücksichtslos“ (O 11) beim Namen nennt. Es ist somit zu konstatieren, dass hier das Moment der Mystifizierung, von dem die Erörterung andernorts imprägniert ist, in sein gerades Gegenteil umschlägt. Die unüberwindlichen Hindernisse, auf welche die Analyse vorher gestoßen ist, sollen ihre Erklärung darin haben, dass Letztere eine idealisierende, nämlich ahistorische Ausrichtung zeigt, so als wirke sich ein gedankliches Prärogativ aus, das man für selbstverständlich, unhintergehbar zu nehmen hat und das dementsprechend nicht zur Disposition gestellt wird. Die Anschauungen, auf die eine rechtshistorisch orientierte Reflexion führt, werden, wie bei Knapp üblich, in typographisch voneinander abgehobenen, aber durch Partikeln verschalteten Textsequenzen weiter aufgefächert; das hat die Anmutung, dass ein Gedanke in einer Serie von Variationen an Profil und Facettenreichtum wie auch an Tiefenschärfe gewinnt. Von den Inhalten, die in diesem Zuge verhandelt werden, soll hier lediglich einer Berücksichtigung finden, welcher in den oben durchschrittenen Problemkreis gehört, der im Evidenzkriterium sein Zentrum hat: die Wahrnehmbarkeit der Nominalität von Schulden, von der Knapp sagt, sie trete bereits unter der Ägide des Autometallismus hervor,

 238 Die Passage, der diese Wendung entnommen ist, lautet: „[. . .] [E]s werden [. . .] zwei Zeiträume voneinander getrennt durch den Zeitpunkt, in welchem der Staat erklärt: von nun an zahlt man nicht mehr durch Zuwägen von Erz, sondern durch Zuwägen von Silber. | Hierdurch werden die Schulden, die aus dem älteren Zeitraum stammen, in der merkwürdigsten Weise verändert; sie lauten auf Erz – und der Staat erklärt, daß sie tilgbar sind durch einige Lot Silber [. . .]“ (O 11). 239 Vgl. oben, S. 204.

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  233

aber freilich nur in dem Augenblick, in welchem der Zahlstoff vom Staate geändert wird, sonst wäre eine Änderung dieser Art ganz unmöglich, da ja die alten Schulden aufrecht erhalten werden müssen (O 13).240

Die Nominalität der Schulden, so liest man im Weiteren, sei nicht antagonistisch zur „Stofflichkeit der Zahlungsmittel“, sondern bilde lediglich „dazu den Gegensatz, daß der Zahlstoff unverändert bleibe“ (O 13). Aus diesen Räsonnements erhellt, dass der Nominalismus nur in einzelnen Phasen aktuell wird, als reale Größe ins Spiel tritt und sich in einer Transformation des Zahlungsgutes weithin sichtbar bekundet, ansonsten aber als Möglichkeit solcher Verwandlung lediglich potentiell, als Anlage vorhanden ist und darum eine genetische Betrachtungsart erfordert, die sich auf ökonomie- und rechtsgeschichtliche Umschlagpunkte, also auf Zäsuren im Entwicklungsgang einer Volkswirtschaft, konzentriert, wie sie in-

 240 Es soll bei dieser Gelegenheit noch ein Textsegment gestreift werden, das sich direkt an die soeben nachvollzogenen Erörterungen anschließt. In der bewussten Sequenz gruppiert Knapp ein weiteres Element in die Denkfigur des Nominalismus ein, die sich im Vorigen aus den beiden Größen ‹Werteinheit› und ‹Nominalschulden› konstituierte, welche, wie dargelegt, zuletzt zu rein konzeptuellen Setzungen zusammengeschmolzen sind: Es handelt sich um den ‹Wert› materieller Güter. Für dessen Taxierung ist laut Knapp „die nominale Werteinheit“ völlig genügend; er ist demnach seinerseits rein ideeller Art und ergibt sich nicht daraus, dass Güter tatsächlich zueinander in Relation treten. Bemerkenswerterweise räumt Knapp ausdrücklich ein, dass diese Folgerung ihn vormals kontraintuitiv angemutet, es ihm „[l]ange“ „im Innersten widerstanden“ habe, sie „anzuerkennen“, und er so einem „Irrtum“ erlegen sei, der, wie er meint, „der Irrtum fast aller“ ist. Damit stempelt Knapp seine eigenen Überlegungen als sperrig, als antithetisch zu einer ursprünglicheren gedanklichen Inklination, die zwar in die falsche Richtung weist, aber intersubjektiv geteilt wird und hier umso exponierter scheint, als Knapp gesteht, ihr selber nachgegeben zu haben. Um die den Nominalismus bedingenden Strukturzusammenhänge in den Blick zu bekommen, bedarf es also offenkundig einiger geistiger Anstrengung, weil man sich über das, was man zuerst anzunehmen geneigt ist, hinwegsetzen muss. Knapp statuiert, dass die „Nominalität der Werteinheit“ durch „Erscheinungen[,] wie das echte Papiergeld“ gleichwohl „erfahrungsmäßig gefestigt“ sei, und stellt sie auf diese Weise in den Erlebnishorizont des ‹natürlichen Menschen›, soweit dieser als ökonomischer Akteur in Erscheinung tritt. Nicht anders liegen die Dinge bei den sogenannten „Tatsachen der lytrischen Rechtsgeschichte“, die über das Papiergeld, dessen Existenz sie bestätigt, konzeptuell mit der Nominalität verklammert sind. Die theoretische Konstruktion zielt mithin direkt auf die Erklärung des Papiergeldes ab, will sagen: Sie hat an dieser ihren zentralen Prüfstein und präjudiziert bereits durch ihre Anlage stillschweigend, dass mit dem Papiergeld der archimedische Punkt des ganzen ökonomischen Systems ermittelt ist oder – um das Argument diachron zu wenden – dass die wirtschaftliche Entwicklung in ihm kulminiert und damit womöglich notwendig auf ihn zusteuert. Inwieweit diese perspektivische Voreinstellung den wirtschaftlichen Gegebenheiten zu Knapps Zeit angemessen war, soll hier als Frage, die in erster Linie von wirtschaftsgeschichtlichem Interesse ist, ausgespart werden. (Alle Zitate O 13.)

234  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

folge staatlich verordneter Ablösung eines realen Zahlungsmittels durch ein anderes zu verzeichnen sind. In letzter Konsequenz jedoch ist das konkrete Ereignis gegenüber seinen strukturellen Ermöglichungsbedingungen nur mehr von nachrangiger Bedeutung, so dass im Sinne der pro-nominalistischen Argumentation sein faktischer Eintritt sogar als entbehrlich einzuschätzen ist. „Die Nominalität der Schulden“, so Knapp, besteht nicht etwa darin, daß der Staat das Zahlmittel mehr oder weniger häufig ändert, sondern darin, daß er eine solche Änderung grundsätzlich für möglich erklärt, ob er nun davon Gebrauch mache oder nicht (O 15).

Unter einem pragmatischen Gesichtswinkel verdient dieses Zitat insofern Beachtung, als es das Deklarative in Statuten aufgehen lässt, die nicht direkt in die Wirklichkeit eingreifen, sondern lediglich Handlungsoptionen eröffnen, also die Disponierung einer Praxis zum Zweck haben. Dieses Moment kommt auch zum Tragen, wenn Knapp schreibt, „[d]as Bleibende an den lytrischen Schulden“ sei „nicht das Zahlungsmittel, sondern der Grundsatz, daß diese Schulden, in alten Werteinheiten ausgedrückt, alle auf die gleiche Weise in neue Werteinheiten umgerechnet werden“ (O 16), folglich nicht die reale Veränderung des Zahlungsmittels, sondern die staatliche Setzung, die sie ermöglicht und die den allgemeinen Spielraum für einzelfallbezügliche Regelungen absteckt.241 Sieht man von Ereignissen ab, in denen er gleichsam akut wird, ist der Nominalismus seiner Potentialität wegen unsinnlich, nicht direkt wahrnehmbar. Indem Knapp ihn darüber hinaus als wichtigen Bestandteil in die ökonomische Konstitutionsbasis integriert und sich auf ihn als notwendige Voraussetzung der Geldentwicklung beruft, qualifiziert er ihn als etwas Selbstverständliches, Prinzipielles242 und zugleich Universelles, von dem man nicht erwarten dürfe, dass es durch äußere Manifestationen auf sich aufmerksam mache: Im Gegenteil muss eine Abweichung vom Nominalismus als Suspendierung des Normalfalls sprachlich markiert werden.243 Artikuliert, beim Namen genannt und ins Blickfeld gerückt  241 „Nach welcher Regel“ die „Umrechnung“ alter Werteinheiten in neue „geschehen soll, das wird bei jeder Änderung der Werteinheit vom Staate vorgeschrieben“ (O 16). 242 Vgl. O 16. 243 Wenn man Knapp glauben möchte, so verfügt der Staat, dass „eine Schuld, die auf Mengen eines Stoffes lautet, welcher bei Begründung der Schuld Zahlungsmittel war“, als „nominale lytrische Schuld“ definiert und eine metallistische Interpretation, die sie als Realschuld begreift, nur bei einer „Klausel“ zulässig sei, „welche dies ausdrücklich verlangt“ (O 16): Eine nicht-nominalistische Lesart ist demnach eine Ausnahme, die förmlich annonciert werden muss. Zusammenfassend heißt es: „Die Realität der Schulden muß also ausdrücklich erklärt werden; die Nominalität der lytrischen Schulden wird im Zweifelsfalle vom Staat vorausgesetzt“ (O 17).

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  235

wird diese Norm allererst von der chartalistischen Theorie; in der Praxis ergibt sie sich aus staatlichem Handeln, über dessen Folgen sich die Urheber häufig nicht im Klaren sind und mit dem auch Instanzen, denen sein reflexiver Nachvollzug obliegt, also z.B. das Recht, nicht Schritt zu halten vermögen. Tatsächlich bringen die staatlichen Akteure den Nominalismus nicht hervor; vielmehr agieren sie von vornherein in seinem Geiste, lassen sie sich von ihm lenken, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, ja ohne sich dessen bewusst zu sein. Dieses Moment ist wie auch das der ‹Implizitheit› komplementär zu dem der ‹Universalität›: Knapp könnte den Nominalismus nicht für unbedingt erklären, wie er es doch tut, wenn dieser erst förmlich inthronisiert, sprachlich gesetzt werden müsste. Stellt man das bisher Bemerkte in Rechnung, kann einer theoretischen Modellierung der öffentlichen Prozesswirklichkeit, die deren einzelne Momente jeweils an deklarative Sprechakte knüpft, lediglich der Status einer Behelfskonstruktion zuerkannt werden; im Übrigen passt sie nicht recht auf die zu beschreibenden Phänomene. Die Rückübersetzung wirtschaftlicher Entwicklungen und Verlaufsprozesse in Dekrete, die sie ihnen als Wirkursachen supponiert – es ist dies eine im Kern genuin pragmalinguistische Operation –, wirft so eine prinzipielle gedankliche Schwierigkeit auf, weil unklar ist, wie sie mit der Verabsolutierung des Nominalismus in Einklang gebracht werden soll. Es kommt noch das spezifischere Problem hinzu, dass bei diesem Verfahren nur das Vokabular der Theorie Verwendung findet, diese somit unbesehen auf die Praxis projiziert wird. Dass Knapp seinen Ansatz, gewisse Vorgänge direkt auf förmliche Proklamationen zurückzubeziehen, selbst mit einem Vorbehalt versieht oder gar widerruft,244 deutet darauf, dass er zumindest Bedenken trägt, ihn konsequent durchzuführen. Ob er gewahrt, dass der Nominalismus nicht den Stellenwert besitzen könnte, den er ihm beimisst, wenn Erscheinungen, in denen er sich manifestiert, mit solchen Worten explizit gemacht würden, wie er sie den staatlichen Akteuren in den Mund legt, darüber ist aus seinen Ausführungen zunächst kein eindeutiger Aufschluss zu

 Es wird damit auch eine Regel geliefert, wie die „doppelsinnig“ (O 16) verwendeten Bezeichnungen, die dem Schema Gewichtseinheit plus Metallname folgen, zu lesen seien: als Anweisung nicht auf das jeweilige Metall, als ob es tatsächlich beschafft werden sollte, sondern auf ein Zahlungsmittel, das durch das Metall nur mehr symbolisiert wird. 244 Namentlich in dem an anderer Stelle (S. 205) kommentierten Einwurf: „Oder vielmehr der Staat sagt es nicht, er tut es nur“. Weiter wäre ein Passus heranzuziehen, der vorgeblich, und zwar gewissermaßen in direkter Rede, eine „Präsumtion“ des Staates reformuliert und sich dabei der von Knapp entwickelten Terminologie bedient: Der Staat, so heißt es hier, führe besagte Präsumtion zwar „nicht bewußt“ durch, doch sei „aus seiner Handlungsweise erkennbar“, dass er es tut (O 16). Über den Inhalt der Verordnungen, um die es hier geht, orientiert die vorstehende Anm.

236  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

gewinnen. Eine Klärung dieser Frage würde ausgedehnte Forschungen erfordern, für welche diese Arbeit nicht den geeigneten Rahmen bietet.

4.3.4 Undefinierbarkeit als Folge der kategorialen Verfasstheit des Nominalismus. Zwei Spielarten von ‹Zwieschlächtigkeit› Der finalen Charakteristik des Nominalismus, die dessen Proprium aus seiner Virtualität herausschärft,245 lässt Knapp einen Passus folgen, der den Schwerpunkt der Erörterung auf das Geld verlagert, insofern es Letzteres, wiederum textgrammatisch gesprochen, als Rhema gegenüber dem Moment der ‹Nominalität› der Schulden und der ‹Werteinheit› profiliert und diesen inhaltlichen Komplex auf die Rolle des Themas verweist. Damit ist der Auftakt zu einer Beschreibung eines elementaren Zuges des Geldes gegeben.246 Diese Darstellung wird freilich durch die eröffnende Formel Vom Gelde sei vorläufig nur das gesagt, die impliziert, dass noch mehr und anderes zu erwähnen wäre, als provisorisch und heuristisch gestempelt, so als gelte es zu signalisieren, dass keine reguläre Definition angestrebt ist: Die Erläuterung wird in ihrer Ankündigung schon relativiert; dass die konstitutiven Merkmale des Geldes summarisch unter das negierte Prädikationsnomen kein nur stoffliches gebracht werden, hat den gleichen Effekt. Die Darlegung – das indiziert die Kopula – ist in einer Art Reprise wieder bei dem Punkt angelangt, von dem sie ausging, nämlich bei der zu Beginn sistierten Definition des Geldbegriffs, der sich die kategoriale Unbestimmtheit des Zahlungsmittels (verstanden als ökonomische Größe) entgegenstellte. Dieses hat insofern etwas Opakes, als es nicht materiell ist und seine Qualität sich offenbar nicht ohne Weiteres konkretisieren bzw. sprachlich auszeichnen lässt. Dass Knapp bereits auf den ersten Seiten seines Werkes zu der Einschätzung kommt, das eigentlich Wesentliche am Zahlungsmittels sei mittels einer begrifflichen Analyse nicht dingfest zu machen, wird erst im Horizont seiner Leitthese verständlich, dass das Zahlungsmittel nicht als gegenständliche Größe anzusprechen bzw. dass bei seiner begrifflichen Fixierung von seinen stofflichen Eigen-

 245 Vgl. oben, S. 234f. 246 Sie setzt mit diesen Sätzen ein: „Vom Gelde sei vorläufig nur das gesagt, daß es ein Zahlungsmittel, aber kein nur stoffliches ist; es ist also jedenfalls ein anders geartetes Zahlungsmittel als das nur stoffliche des Authylismus. Dies aber genügt bereits: jede Änderung des Zahlmittels setzt voraus, daß die Werteinheit mindestens im Augenblicke des Übergangs als nominal betrachtet werde“ (O 15).

Chartalistische Paradigmenbildung im Spannungsfeld von Theorie und Praxis  237

schaften abzusehen sei.247 Zwar kommt im Anschluss das Adjektiv nominal als verbale Kennung jener Art von Immaterialität ins Spiel, die Knapp hier im Sinn hat, doch gibt seine prädikative Verwendung in Kombination mit dem Konjunktiv betrachtet werde zu verstehen, dass das Lexem nicht auf ein faktisches Moment gemünzt ist, sondern dass sich in ihm lediglich eine tragfähige, weil für die gedankliche Bewältigung der realen Vorgänge hinreichende, mit anderen Worten: pragmatische Interpretation kondensiert. Diese Deutung ist obendrein, wenn auch ersichtlich im Bestreben nach Generalisierbarkeit, vom „Augenblick des Übergangs“ her entwickelt, fasst demnach das Nominale zunächst als etwas Punktuelles, so dass man sich fragen muss, inwieweit es für ontisch und – das wäre die Konsequenz daraus – für sprachlich repräsentierbar gelten kann. Offenbar existiert ‹Nominalität›, wie Knapp sie versteht, nur zu den Zeitpunkten, zu denen sie sich nach außen hin manifestiert, also der Erfahrung der Menschen zugänglich wird. Dieser Schluss wird freilich im Folgenden entkräftet, wenn nämlich die Erörterung eine Veränderung des Geldes als Aktualisierung der ‹Nominalität› und diese selbst wiederum als bloße Handlungsmöglichkeit apostrophiert, ihr somit, wie oben ausgeführt, den Rang einer potentiellen Reserve zuteilt.248 Die argumentative Entfaltungslogik verrät, dass der

 247 In diesem Sinne lässt die „juristische Definition“, die als für die Einführung eines neuen Zahlungsmittels unabdingbar gilt – in ihr dürfte wiederum ein Statut des Staates niedergelegt sein, das als Sprechakt gedacht wird und zuletzt auf eine bloße Gleichung (etwa von „Pfund Silber“ und „Pfund Erz“) herauskommt –, die materielle Seite des Zahlungsmittels unberücksichtigt: Sie „enthält nur eine Beziehung der neuen zur alten Werteinheit“ (O 18). Quantitative Einheiten wie Pfund auf der Ausdrucksseite korrelieren der chartalistischen Anschauung gemäß nicht mit tatsächlichen Gewichten; die „Benennung des Zahlmittels nach Einheiten“ resultiert demnach auch nicht aus dem „physikalische[n] Experiment der Wägung“ (O 18), das die physische Präsenz einer bestimmten Stoffmenge verbürgt, in welcher der Autometallismus das Signifikat der Benennung gewahrt. Das mag nach Knapp bisweilen zwar der Fall sein, doch handle es sich bei der Benennung „[i]m allgemeinen“ um „ein[en] autoritative[n] Akt der Rechtsordnung“ (O 18), für welche die physikalischen Merkmale des Geldes, doch immerhin des zentralen ökonomischen Operators, jeglicher Relevanz entbehren und die darum, vorsichtig gesprochen, eine Rückkopplung der monetären Bezeichnungen an konkrete Referenten müßig erscheinen lässt. Das tritt ganz unverhüllt zu Tage, wenn Knapp in apodiktischem Duktus verlautbart, „[d]er Übergang von einem zum anderen Zahlungsmittel“ sei „nicht an die reale Darstellbarkeit“ – hier wäre zu ergänzen: der alten wie der neuen Werteinheit – „gebunden“ (O 19). Das soll darin seinen Grund haben, dass diese Repräsentierbarkeit „nur ein besonderer Fall“ sei, „den man nicht fordern darf, der vielmehr nur zulässig ist“ (O 19). 248 „Ist einmal Geld geschaffen, so kann es wieder nur dadurch verändert werden, daß man die Nominalität der Werteinheit in Anwendung bringt, die ja durchaus nur darin besteht, daß das Zahlmittel vom Staate geändert werden kann, während die relative Größe bestehender Schulden aufrecht erhalten wird“ (O 15).

238  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

‹Nominalismus› als ökonomischer Wirkfaktor aus greifbaren, phänomenalen Ausprägungen der Nominalität deduziert wird; er ist demzufolge Ergebnis einer gedanklichen Operation, die von der kategorialen Beschaffenheit der Erscheinungen, auf die sie sich gründet, konsequent abstrahiert. Wie oben bereits demonstriert wurde und wie sich auch an weiteren Textsequenzen belegen ließe, behandelt Knapp einzelne nominale Konstituenten von der Art des Papiergeldes oder der auf einer abstrakteren, nicht mehr phänomenalen Stufe anzusiedelnden ‹Werteinheit› als Hervorbringungen von Statuten, die er dem Staat und seinen Organen, vornehmlich der Justiz, in präzisen Formulierungen in den Mund legt. Historische Definitionen wie die eines bestimmten ‹Zahlungsmittels› laufen unter dieser Prämisse auf eine bloße Wiedergabe oder auch Paraphrasierung von deklarativen Sprechakten hinaus, die die nominalen Erscheinungen inaugurieren, und differieren darum von begrifflichen Operationen, die Entitäten jedweder Couleur auf einer Metaebene zu anderen ins Verhältnis setzen. Knapps Analyse etwa des Begriffs des ‹Zahlungsmittels› vollzieht dessen Entstehung nach und erfasst ihn nach seiner funktionalen Seite hin, anstatt eine Bestimmung zu liefern, die so allgemein wäre, dass sie auf alle Ausprägungen des Gemeinten zutrifft, und zugleich so tiefschürfend, dass sie seine kategoriale Qualität feststellt – was offenbar ohnehin nicht zu leisten ist. Es mag an der deskriptiven Ausrichtung der Analyse liegen, dass Knapp selbst deren Resultate ausdrücklich nicht als reguläre oder vollgültige Definitionen anerkennt; die theoretische Klärung von Größen und Verhältnissen, die deren Potentialität und ständige Veränderlichkeit mitdenkt, kann schwerlich etwas Definitives an sich haben. Insofern die Untersuchung mit ihrem Gegenstand Fühlung hält und in einem Übergangsbereich zwischen Theorie und Praxis angesiedelt ist – mit der Folge, dass Medium und Objekt der Beschreibung nicht mehr auseinanderzudividieren sind –, ist sie offenkundig so wenig autark, dass sie einer doppelten Rückbindung an die institutionelle Handlungsrealität, zu der auch die ökonomischen Grundfaktoren gehören sollen, wie an die intersubjektive Erfahrungsrealität bedarf: Denn einen Bezug auf die Letztere gibt es augenscheinlich auch, und zwar einen recht stabilen, was sich freilich nur schwer mit dem von Knapp mehrfach vorgetragenen Befund vereinbaren lässt, dass der Nominalismus dem Commonsense oder, vorsichtiger gesprochen, einer allseits beobachtbaren intuitiven Präferenz für eine metallistische Sichtweise zuwiderläuft. Knapp attestiert den von ihm eröffneten Zusammenhängen Evidenz und spricht ihnen diese Eigenschaft doch auch wieder ab: Sie sollen augenfällig sein, werden indes zugleich als „merkwürdig“ bezeichnet und zuweilen gar noch mystifiziert. Damit ist eine den Chartalismus insgesamt durchziehende Spannung, ein von seiner axiomatischen Basis ausstrahlendes Moment von ‹Zwieschlächtigkeit› notiert.

Aporien der juristischen Textexegese bei Radbruch  239

Ambivalent ist Knapps Programm zum Zweiten insoweit, als die vorgeblich wirklichkeitsstiftenden Dekrete, die mit den begrifflichen Bestimmungen kongruieren, verschiedentlich das Gepräge eines Erklärungsformats annehmen, das von den Vorgängen in der Realität völlig abgetrennt ist: Sie wirken so in ihrem Geltungsanspruch erheblich relativiert, was jedoch von Knapp nicht vertieft oder auch nur näher erörtert wird und für die Darstellung darum ohne substantielle Folgen bleibt. Das kann man befremdlich finden, denn es sieht nicht nur danach aus, dass die Dekrete etwas artikulieren, das in Wirklichkeit ungesagt bleibt, sondern es kommt auch an den Tag, dass sie vielgliedrige Prozessketten in institutionellen Verbünden auf einen reflexiven Horizont ausrichten, der überpersönlich, also nicht mit dem der beteiligten staatlichen Organe, geschweige denn der einzelnen Akteure gleichzusetzen ist. Diese nämlich sind über das Geschehen, an dem sie teilhaben, letztlich nur unzulänglich orientiert und schreiben ihm falsche Motive zu, so dass es sich ihnen und ihren eigenen Handlungsabsichten gegenüber verselbständigt. Bei den Statuten, von denen es heißt, dass sie ökonomische Entwicklungen, namentlich Innovationen bewirken, handelt es sich also um künstliche Repräsentationsmodelle, welchen man an sich keinen faktischen Gehalt bescheinigen kann; durch sie wird die ökonomische Praxis zumindest stellenweise in die Theorie hereingeholt. Das steht mit einer Reihe von Äußerungen im Konflikt, die sich auf die ganze „Staatliche Theorie“ verteilen und den Tenor haben, dass in dem sprachlichen Gewand, das die Theorie den Dekreten verleiht, realitätsstiftende Prozeduren nicht nur explizit gemacht, sondern auf ihre eigentliche Gestalt zurückgeführt seien.

4.4 Aporien der juristischen Textexegese bei Radbruch 4.4.1 Einleitung Wie eingangs angekündigt, soll der exegetische Komplex der vorliegenden Studie mit einer Untersuchung zur „Rechtsphilosophie“ von Gustav Radbruch schließen, den die Herausgeber eines unlängst erschienenen Sammelbandes als „Deutschlands berühmteste[n] und wichtigste[n] Rechtsphilosoph[en] des 20. Jahrhunderts“ preisen. Seinen „gehaltvollen, aber auch spannungsreichen Schriften“ (Borowski/ Paulson 2015, V) – mit dem zweiten Adjektiv fällt ein Stichwort, das für die im Folgenden nachzuzeichnende Radbruch-Lektüre wesentlich sein wird – bescheinigen sie eine substantielle Nachwirkung bis in die jüngste Gegenwart hinein. Radbruchs „Rechtsphilosophie“ verdient laut Dreier, der die Quintessenz des in ihr ausgebreiteten Stoffes darlegt, aufgrund ihres Stellenwertes für die Paradigmenbildung in Rechts- und Normtheorie Beachtung und ist darüber hinaus auch

240  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

von dokumentarischem Interesse; in ihr sollen nämlich „Neigungen und Begabungen“ (Dreier 2015, 189) des Autors einen sichtbaren Niederschlag gefunden haben. Unter den von Dreier erwähnten Charakteristika seien hier Radbruchs musische Neigungen, seine „Problemsensibilität“ und „seine an den Werken großer Schriftsteller (Goethe, Stifter, Fontane) geschulte Formulierungsgabe“ hervorgehoben – Letztere deshalb, weil sie „seinem Werk immer wieder eine weit über den Kreis seiner Fachkollegen hinausgehende Aufmerksamkeit verschafft“ (Dreier 2015, 189). An diesen Ausführungen wird deutlich, dass Radbruchs Arbeiten auch für die Sprachwissenschaft einige Relevanz besitzen und gerade für rechtslinguistische Forschungen, die sich der Konstituierung juristischer Zusammenhänge zuwenden, ein ertragreiches Sujet darstellen dürften. Dreiers Bemerkungen legen des Weiteren die Annahme nahe, dass etwas an Radbruchs Texten den Eindruck erweckt, der Autor habe bei ihrer Niederschrift dem Ausdruck besondere Sorgfalt zuteilwerden lassen, und es sei ihm, ebenso wie Marx, Weber und Knapp, zuzutrauen, dass er mit der sprachlichen Präsentation seiner Inhalte konkrete gestalterische Absichten verfolgt habe. Die Durchsicht der Forschungsliteratur fördert indes zutage, dass die rechtstheoretische Interpretation des Radbruch’schen Opus, gerade auch seiner Kardinalaussagen, den Exegeten gewöhnlich nicht unerhebliche Anstrengungen abverlangt und sich seit jeher im Spannungsfeld divergenter Thesen bewegt. Die Radbruch-Rezeption ist sowohl durch polarisierende Intervention als auch durch vermittelnde Konsensbildung geprägt und lässt in dieser ihrer lebhaften Diskursivität auf Momente von Uneindeutigkeit, auf paradoxe und antinomische Zeichenkonstellationen in Radbruchs Schriften schließen.249 Es wäre bei solchen Unklarheiten auf der Ausdrucksebene in jedem einzelnen Fall zu fragen, wodurch sie veranlasst sind und in welchem Verhältnis sie zum Dargestellten stehen: ob ein korrespondierendes Inhaltselement für sie ursächlich ist oder ob im Gegenteil ein solches allererst aus ihnen resultiert. Hierüber wie über den Funktionssinn entsprechender Erscheinungen könnte eine systematische sprachwissenschaftliche Betrachtung – zu der das vorliegende Teilkapitel aufgrund seines Zuschnitts und seiner Zielsetzung kaum mehr als eine Vorstufe bildet – Licht verbreiten. Für unsere exegetischen Bemühungen um Radbruch

 249 So konstatiert Kirste: „Radbruchs Denken entbehrt nicht der Brüche. Nicht alles ist logisch konsequent“ (Kirste 2011, 82). Einige Autoren, auf die Kirste seinerseits verweist (vgl. Kirste 2011, 77, Anm. 98), gehen gar so weit, Radbruchs Ansatz expressis verbis als „antinomisch“ zu apostrophieren: so Gurvitch 1932, Baratta 1959, 512, Kaufmann 1987, 29, vgl. auch Wolf 1959, 419, und Kim 1966, 220, wo es freilich heißt, die Radbruch zunächst attestierte „polare Denkweise“ erweise sich bei genauerem Hinsehen als eine „heterothetische“ sensu Rickert.

Aporien der juristischen Textexegese bei Radbruch  241

ist wiederum das Credo bestimmend gewesen, dass man einem Autor gegenüber ‹hermeneutische Billigkeit› üben solle; sie begreifen sich als Kontrastprogramm zu einer einseitig inhaltsorientierten Auslegung, welche die überaus rigide wie fragwürdige Richtlinie von Funke als für sich maßgeblich erachtet: Sämtliche Aussagen Radbruchs müssen den Test ihrer innersystematischen Stimmigkeit absolvieren. Konkret: Unklare Textstellen [. . .] müssen im Lichte der Gesamtkonzeption gelesen und interpretiert werden; notfalls sind sie zu verwerfen (Funke 2015, 26).

4.4.2 Der ‹Gesetzgeber› als überindividueller Urheber der Sinnstiftung Radbruch postuliert, dass sich der Inhalt eines Rechtssatzes nicht in dem „vom Gesetzesverfasser gemeinten“ (R 110250) Sinn erschöpfe, und gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass „an jedem Gesetzeswerk eine Vielheit von Urhebern beteiligt“ (R 110) sei.251 In der Tat wird man nicht eben zu der Annahme neigen, dass all die Autoren, die da ihre Hand im Spiele haben, in ihren Ansichten und Intentionen konform gingen oder dass differierende Lesarten einander wechselseitig ausglichen und es ein Leichtes sei, Kompromissformeln zu finden, die die  250 Die Sigle bezieht sich auf die in der Bibliographie aufgeführte Ausgabe der Radbruch’schen „Rechtsphilosophie“; die Seitenangaben richten sich nach der Erstausgabe von 1932, deren Paginierung in der späteren Edition mitberücksichtigt ist. 251 Vgl. hierzu Radbruch 1914, 34 (Anm. 1), Kelsen 1960, 271ff., sowie Funke 2013 und 2015, 31, wo es sinngemäß heißt, dass Radbruchs Auffassung von einem überpersönlichen ‹Gesetzgeber› „den Realitäten der modernen Rechtsproduktion“ Rechnung trage. Des Weiteren handle es sich bei Radbruchs „Verständnis der juristischen Interpretation“ um „eine mehr als naheliegende, schlüssige Konsequenz der transzendental-philosophischen Stellung des Rechtsbegriffs“, wobei sich indes die Frage erhebe, „warum es in gewissen Fällen doch darauf ankommen sollte, welche Ziele und Vorstellungen [. . .] die Personen haben, die die Gesetze verabschieden“ (Funke 2015, 32). Dieses Problem soll hier nur als solches bezeichnet, nicht aber weiter vertieft werden. – Radbruchs Überlegungen kommen mit der im öffentlichen Leben weit verbreiteten oder sogar allgemein gewordenen „Erwartung“ überein, dass, wie Meyer-Seitz schreibt – man beachte die durchgängige Verwendung des Indikativs im dass-Satz, wo auch der Konjunktiv stehen könnte – ein Gesetz „aus überpersönlicher Quelle stammt, weil es vom Souverän beschlossen worden ist“ (Meyer-Seitz 2013, 40). Ferner verlautet am selben Ort: „Wird diese Erwartung enttäuscht, ist die Autorität des Gesetzes gefährdet. Die Anonymität der Verfasser sichert die Akzeptanz des Gesetzes“, hat aber auch zur Folge, dass „die intellektuellen, kommunikativen und psychologischen Rahmenbedingungen für den Entstehungsprozess von Gesetzen“ (Meyer-Seitz 2013, 40) schwer zu erfassen sind. Vgl. auch die Ausführungen zur Entindividualisierung der Rechtssprechung bei Lorz 2013, 88, denen zufolge „ein Großteil der juristischen Ausbildung und Arbeitstechnik“ in kontinentaleuropäischen Civil Law-Systemen darauf zielt, „die unvermeidlich vorhandenen individuellen Vorverständnisse der Rechtsanwender soweit wie möglich auszuschalten“.

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Unterschiede nivellieren und in denen sich ein überparteilicher Standpunkt abzeichnet – im Gegenteil. Radbruch lässt nun aber weiter noch verlauten, dass sich inhaltliche Pluralität eines Gesetzestextes nicht mit den Erfordernissen der juristischen Praxis vertrage, weil eine verlässliche „Rechtsanwendung“ nur dann gewährleistet sei, wenn in der „juristischen Auslegung“ (R 110) eines Gesetzestextes Einigkeit herrscht. Dass ein Rechtssatz in allen Fällen gleich aufgefasst wird, hat nach Radbruch zur Voraussetzung, dass man zu einem Verständnis seines Gehaltes gelangt, das von individuellen Ausdeutungen oder gar von Willensbekundungen seitens der Interpreten unbeeinflusst ist.252 Im Unterschied zur Philologie strebt die juristische Exegese danach, von den Wirkabsichten der faktischen Autoren gewissermaßen abduktiv auf eine unpersönliche Triebfeder zu extrapolieren, als welche für den „Wille[n] des Gesetzgebers“ (R 111) erklärt wird, der wiederum mit dem Staat qua Institution identisch sein soll. Die juristische Fiktion dieses Willens ist jedoch von gänzlich anderer Qualität als etwa die Vorstellung, dass sich aus den individuellen Motiven der Urheber ein „Kollektivwille der an der Gesetzgebung Beteiligten“ (R 111) oder, in sprachwissenschaftlichen Kategorien gedacht, eine überindividuelle Illokution herauspräparieren und als Integrale über beliebige Einzelillokutionen legen lasse, wie sie den Verfassern eines Gesetzes zugeordnet werden können, soweit sie als Akteure in einer juristischen Aushandlungspraxis in Erscheinung treten.  252 Dieser Tendenz zur Verobjektivierung des Gesetzestextes kontrastiert bei Radbruch jedoch mit der Bestimmung der Rechtswissenschaft als einer „individualisierende[n]“ (R 119 u.a.); hierunter dürfte, wie Kim meint, in erster Linie Konkretisierung, Bezugnahme auf den Einzelfall, in dem ein Gesetz Anwendung findet, zu verstehen sein: „Das ,individualisierende‘ Verfahren ist [. . .] nichts anderes als ein Versuch, dem konkreten, dem mannigfaltigen Sachverhalt möglichst gerecht zu werden; sie [sic] verhindert gerade deshalb die Gefahr einer Erstarrung zum juristischen Dogmatismus, die sonst eine systematisierende Tendenz leicht zur Folge hat“ (Kim 1966, 108; der hier kursiv gedruckte Ausdruck erscheint im Original in gesperrter Schrift, M.A.). Dem von Kim herausgearbeiteten Moment entspricht ein zweites, für das Radbruch im Anschluss an andere Rechtsdenker den Begriff des ‹Idiographischen› geprägt hat: eine Individualitätskonstruktion von juristischen Einzeldokumenten her: „Idiographisch ist es, daß die Rechtswissenschaft eine einzige konkrete Totalität zu ihrem Gegenstande hat. [. . .] Idiographisch wird von der Rechtswissenschaft dieses Ganze in seine einzelnen Teile zerlegt: die allgemeinen Rechtssätze, die selbst wieder konkrete Tatsachen sind – Netze, ausgeworfen, um die Einzelfälle darin zu fangen. Idiographisch wird die Jurisprudenz ihre Arbeit bis zu den kleinsten Teilen jener umfassenden Totalität: eben den die Einzelfälle regierenden konkreten Rechtssätzen fortsetzen müssen. Sie tut es auch: die Vertragsurkunden, die Urteile, die Verwaltungsbescheide, die mannigfaltigen Registereinträge, welche das juristische Schicksal jedes einzelnen Menschen in seinen wichtigsten Umrissen festhalten, sind unter diesem Gesichtspunkt die konkretesten Ausläufer rechtswissenschaftlicher Tätigkeit“ (Radbruch 1914, 209f.).

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Aus dem soeben Dargelegten folgt, dass der ‹Gesetzgeber› bei Radbruch kein der schriftlichen Kodifizierung des Rechts untergeschobenes Substrat, das man auf die individuellen Urheber zurückbeziehen könnte, sondern von diesen strikt geschiedene, rein ideelle Hypostase und somit unanfechtbare, weil allem diskursiven Ringen um Sinn enthobene Autorität sein soll. In ihm aktualisiert sich ein genuin begriffsrealistisches Element, insofern er ein terminologisches Konstrukt bezeichnet, das in der sozialen, institutionell-staatlichen Realität verankert ist, und dergestalt behandelt wird, als ob es nicht nur wirklich wäre, sondern auch die Fungibilität der Rechtspraxis verbürgte. Radbruch geriert sich in diesem Punkt als Parteigänger der sogenannten objektiven Auslegungslehre, die sich etwa auch das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Urteilsbegründungen zu eigen gemacht hat253 und die supponiert, „daß es einen vom Willen des ursprünglichen Gesetzgebers unabhängigen Sinn und Zweck von Rechtsnormen gibt, der sich auch isoliert feststellen läßt“ (Lorz 2013, 93). In dieser Prämisse artikuliert sich die Überzeugung, „daß sich ein Gesetz nach seinem Erlaß vom Willen des Gesetzgebers lösen und zu einem Eigenleben im Sinne eines objektiven Daseins finden“ könne (Lorz 2013, 94).254 Man kann Radbruchs Gedanken eine zeichentheoretische Pointe geben, indem man ihn dahingehend reformuliert, dass der Wille des ‹Gesetzgebers› einen aus den rechtssprachlichen Semiosen,255 den situativ gebundenen Prozessen der (text-)semantischen Konfigurierung sprachlicher Zeichen hinausgerückten Fixpunkt bildet, der diese auf sich ausrichtet, indem er dem Gesetzestext eine kanonische Referenz oktroyiert, also eine Anweisung auf einen ganz bestimmten, dauerhaften Textsinn erteilt. Bei Radbruch liest man: Der Wille des Gesetzgebers fällt zusammen mit dem Willen des Gesetzes. Er bedeutet nur die Personifikation des Gesamtinhalts der Gesetzgebung, den Gesetzesinhalt reflektiert in ein fingiertes Einheitsbewußtsein (R 111).

Die zwingende Autorität dieser Fiktion256 wird von „der apriorischen Notwendigkeit einer systematisch-widerspruchslosen Auslegung der gesamten Rechtsord 253 Vgl. Funke 2013, 175f., wo reiches Quellenmaterial (BVerfGE 1, 299 [312]; 11, 126 [129]; 36, 342 [362];119, 96 [179]) beigebracht wird. 254 Vgl. auch Ruthers, der mit sehr kritischem Akzent von einer „scheinobjektive[n] Methode“ spricht, die kaschieren solle, dass richterliche Entscheidungen „subjektiven, außergesetzlichen Regelungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen“ entspringen (Ruthers 2009, 262). 255 Vgl. hierzu unten, Anm. 263. 256 Von der „Fiktion eines einheitlichen und unsterblichen Gesetzgebers“ ist, freilich mit pejorativem Unterton, noch bei Baldus 2013, 9, die Rede; ebenso bei Lorz 2013, 98, wo die Wendung rechtliche Fiktion auf die Rede vom „normative[n] Wille[n]“ appliziert und der „Begriff des Ge-

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nung“ hergeleitet, die in ihr, das heißt wohl vornehmlich in ihrem Gebotscharakter, ihren „Ausdruck“ haben soll (R 111): Der ‹Gesetzgeber› repräsentiert eine conditio sine qua non, das unhintergehbare Regulativ einer institutionellen Praxis und greift als solches in deren Fundierung – eben in die Rechtsdeutung – hinein. Er versinnbildlicht somit eine hermeneutische Norm, die durch die Nötigung vonseiten der Rechtspraxis unversehens faktisch wird und derart auch auf die Perpetuierung des institutionellen Rechts hinwirkt. Man kann somit als erstes Ergebnis festhalten, dass Faktizität und Normativität hier kongruieren, und zwar ausgerechnet in einer begrifflichen Fiktion, die als denknotwendig eingeschätzt wird und darum tatsächlich uneingeschränkten Gebotscharakter besitzt. Diese Verhältnisse lassen sich laut Radbruch in der Weise beschreiben, dass die Rechtswissenschaft ermitteln soll, „wie das Recht zu verstehen ist, nicht notwendig, wie es gemeint war“ (R 110) – man beachte das normative Moment, das der modale Infinitiv (zu verstehen ist) intoniert. Die juristische Interpretation hat in ihrem nachgerade bedingungslosen Trachten nach Verobjektivierung wesentlich daran teil, dass ein „sinnhafter Imperativ“ den Status eines institutionell gerahmten oder aber erst noch zu rahmenden Gesetzes erlangt. Ihre spezifische Leistung besteht darin, dass sie die sprachliche Äußerung aus jeder situativen Bindung herauslöst und sie von ihrer Inhaltsseite her idealisiert.

4.4.3 Exkurs über den Imperativ im Recht Den im Vorigen entfalteten Zusammenhängen verleiht Radbruch im Rahmen einer Betrachtung, die bei der sprachlichen Beschaffenheit von Imperativen ansetzt, in denen er offenkundig die Normalform von Rechtssätzen erblickt, größere Konturenschärfe. Wie in der zuletzt zitierten Wendung bereits das Adjektiv sinnhaft andeutet – und wie es der Stoßrichtung seiner Erörterung entspricht –, ist nach Radbruchs Dafürhalten ein Imperativ freilich weniger durch seine grammatische Gestalt als durch seinen Inhalt definiert. Ungeachtet der auch hier konsequent durchgehaltenen Priorisierung der signifié-Ebene widmet Radbruch dem Moment der Sprachlichkeit bzw. der Medialität imperativischer Rechtssätze Aufmerksam setzgebers“ selbst „als Metapher“ bezeichnet ist, „die alle am Prozeß der Gesetzgebung beteiligten Personen in unterschiedlicher Form einbezieht“. Ähnlich Bydlinski/Bydlinski 2018, 42, wo die Betonung freilich auf dem Wirklichkeitscharakter des signifié des Begriffes liegt: „,Der Gesetzgeber‘ ist [. . .] am besten als Kurzbezeichnung für alle informell und formell an dem betreffenden Gesetzgebungsakt beteiligten realen Menschen zu verstehen. Der ,Wille des Gesetzgebers‘ ist ein durchaus realer menschlicher Wille, nämlich der Wille eines oder mehrerer der Menschen aus diesem Kreis, der sich im Gesetzgebungsprozess in der problemrelevanten Frage durchgesetzt hat“.

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keit. Er geht dabei von mündlichen Proklamationen oder Dekreten aus, scheint solche indes nicht oder doch zumindest nicht grundsätzlich von schriftlich fixierten Gesetzen abheben zu wollen. Da aber Gesetze in aller Regel in Textform niedergelegt und überliefert werden, mutet es prima facie nicht recht schlüssig an, wenn Radbruch dort, wo er über Sprache als Medium handelt, das Augenmerk ausgerechnet auf mündliche Befehle lenkt. Der Grund dafür dürfte in einem dramaturgischen Kalkül, will sagen: im Bemühen um eine erkennbare Kontrastwirkung, zu suchen sein. Ausdruck und Inhalt sollen als Pole einander gegenübergestellt werden, was wohl nur dann wirklich schlagend ist, wenn man sich an eine mündliche Äußerung, also an ein ephemeres Schallereignis, hält, um es in der Folge gewissermaßen metonymisch mit Sprache an und für sich gleichzuschalten: Ein solches Ereignis nämlich ist, wenn es einmal eingetreten ist, sogleich vorüber und bietet unmittelbareren Aufschluss über den Sprecher als schriftliche Zeichen.257 Dieses argumentative Movens enthüllt sich in einem Diktum, das sich an die – als Beispiel herangezogene – Aufforderung Tue deine Pflicht! anschließt: Wenn man in diesem Satze den Sinn von seinem Träger, das Ausgesprochene vom Ausspruch loslöst, so erhält man auf der einen Seite ein Seinsgebilde, zeitlich und räumlich bestimmt, kausal verursacht und weiterwirkend, eine Lautfolge, die jetzt hier erklingt, diesem psychophysischen Prozesse im Sprechenden entspringt und jenen andern im Hörer hervorruft: auf der andern Seite einen unzeitlichen, unräumlichen, unkausalen Bedeutungsgehalt, eine sittliche Notwendigkeit, die unabhängig vom Ort, vom Zeitpunkt, von der Wirksamkeit dieses Ausspruches gilt (R 41).

In diesem Satz fällt die Betonung zum einen auf den Aspekt raumzeitlicher Kontingenz, zum anderen – und wichtiger noch – auf den der Urheberschaft, die Radbruch an ein individualpsychologisches Faktum, an einen Ablauf knüpft, in welchem Psychisches sich direkt in physische Aktion umsetzt – konkret ist wohl die mit den Artikulationsorganen erzeugte Sprache gemeint –, so dass Autorschaft gemessen an den Passagen, die oben Berücksichtigung fanden und in denen sie systematisch nivelliert wurde, nunmehr hochgradig personalisiert und damit em-

 257 Es ist außerdem darauf hinzuweisen, dass der Phonozentrismus, dem Radbruch hier huldigt, in der Rechtswissenschaft nachgerade topischen Charakters und bereits in Ausdrücken wie Rechtssprechung angelegt ist. Vgl. hierzu Augsberg 2009, 77: „Das juridische Urteil soll [. . .] die Einheit des Gehörten und Verstandenen garantieren. An der Valenz dieser stimmzentrierten Perspektive zeigen nicht einmal ansonsten avancierte methodologische Ansätze Zweifel. Die Perspektive wird vielmehr ausdrücklich sogar bekräftigt: ,Der Richter lauscht und liest nicht, sondern der Richter schreibt und spricht. [. . .] Der Richter buchstabiert das Gesetz nicht aus. Er spricht sich zum Gesetz aus‘ (Müller/Christensen/Sokolowski 1997, 83, 86)“.

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phatisiert scheint. Darüber hinaus kommt hier jene Dualität von Sender und Empfänger zum Tragen, der Bühler 1934/1999 ihren für die Sprachwissenschaft kanonischen Modus verliehen hat. Die vom Sprecher realisierte Lautfolge wirkt kausal auf den Rezipienten ein, indem sie etwas in ihm „hervorruft“, das sich offenbar analog oder komplementär zu dem (vorsprachlichen) Vorgang verhalten soll, der die Äußerung des Sprechers verursacht hat. Das erhellt daraus, dass die Wendung psychophysische[r] Prozess auch auf die eben beschriebene korrespondierende Erscheinung, auf das im Rezipienten Ausgelöste bezüglich ist, wobei indes nicht unterschlagen werden soll, dass das attributive jenen andern diesen Effekt zugleich unmissverständlich von dem ursächlichen Geschehen abhebt. (Eine weitere Spezifizierung erfolgt im Übrigen nicht.) Der verbalisierte Gehalt ist im Text durch die alliterierende Trias von Attributen mit dem Negationspräfix -un – unzeitlichen, unräumlichen, unkausalen – geradezu holzschnittartig gegen die parole kontrastiert; es wird dem Ausgesagten summarisch ausgerechnet dasjenige aberkannt, was für die Letztere bezeichnend ist, und so kann es in einem Akt der Verabsolutierung seiner illokutiven Wertigkeit unbesehen als „sittliche Notwendigkeit“ apostrophiert werden. Diese rhematische Fortspinnung vollzieht sich in einer Apposition, das heißt ohne weitere gedankliche Vermittlung, und rekurriert thematisch auf die negativen Attribute, die das Präpositionalgefüge im Relativsatz – unabhängig vom Ort, vom Zeitpunkt, von der Wirksamkeit [dieses Ausspruches], wiederum ein triadischer Komplex – wohl nicht einfach nur paraphrasiert, sondern auf eine positive Formel bringt. Zur semantischen Umakzentuierung, wie sie eben notiert wurde, dürfte dies den Anstoß gegeben haben, dass hier gerade solche Bestimmungen zur Behandlung kommen, die als Konstituenzien „sittliche[r] Notwendigkeit“ figurieren und an denen zugleich aufgezeigt werden soll, dass sie ‹zwieschlächtig› sind, insofern Inhalt und Ausdruck sich in ihrem Fall nicht harmonisieren lassen. Den Antagonismus, den diese beiden bilden, buchstabiert Radbruch in mehreren sentenziös verdichteten Wendungen aus, indem er ihn in das Spannungsverhältnis von Realität und Idealität hineinprojiziert. Dieses führt er in einer Serie prägnanter Gegensatzpaare einer semantischen Ausdifferenzierung zu, die bisweilen – der hier im Folgenden präsentierte Versuch einer Verschlagwortung lässt es deutlich werden – ans Tautologische grenzt und sich eng an dem sprachlichen Zusammenhang von wirken und Wirklichkeit orientiert. − −

‹Imperativ› vs. ‹Norm›258 ‹sein, wirken› vs. ‹bedeuten, gelten›

 258 Zu dieser Differenz vgl. auch das bündige Referat bei Paulson 2015, 164.

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− − −

‹sich durchsetzendes Wollen› vs. ‹sich setzendes Sollen› ‹wirken wollende Wirklichkeit› vs. ‹zu verwirklichende Nichtwirklichkeit› ‹Mittel› vs. ‹Zweck›

In Hinblick auf die Diktion fallen an den Erläuterungen, die hier im Zentrum stehen, die unpersönlichen Formulierungen ins Auge, die den ‹Imperativ› als Medium des Ausdrucks und die ‹Norm› als Ausgesagtes gänzlich von den Sprechern und ihren Intentionen abkoppeln: So heißt es vom Imperativ, dass er gewissermaßen durch sich selbst „wirkt“ und, insoweit er als Norm betrachtet wird, dass er „bedeutet“ und „gilt“ (R 41).259 Es sind dies autonome, subjektlose Tätigkeiten, in die Produzent und Rezipient involviert sein mögen, die indes nicht von diesen inauguriert werden. Darüber hinaus lässt sich an den substantivierten Infinitiven Wollen und Sollen, die für Radbruchs Denken insofern eine Schlüsselfunktion besitzen dürften, als entscheidende konzeptuelle Setzungen in ihnen kondensiert sind, ablesen, dass allgemein-anonyme Prinzipien aufgerufen werden, die eine ‹Wirklichkeit des Wertes› konstituieren, welche von ebensolcher Unbedingtheit ist wie die Wirklichkeit des Faktischen: Von „sittlicher Notwendigkeit“ könnte man nicht sprechen, wenn man dabei ein Gebot im Sinn hätte, das von einer bestimmten Instanz oder Person mit Partikularinteressen erlassen wird. Der ‹Wert›, dem, um eine Radbruch’sche Formulierung ins Spiel zu bringen, die Rechtswirklichkeit dienen soll, muss von anderer Güte sein als die Kriterien, die in ihren persönlichen Absichten und Obliegenheiten befangene Individuen an sie herantragen; soll ihm Objektivität zukommen, so geht es nicht an, ihn aus subjektiven Impulsen oder Motiven abzuleiten. Ein auffälliges Gegengewicht zu der – wie eben erläutert, sachlich begründeten – Depersonalisierung des Rechtssatzes, die sich bereits in der Charakteristik niederschlägt, die Radbruch von dessen sprachlicher Faktur gibt, bildet der Bescheid, dass von „rechtlichen Normen, rechtlichem Sollen, rechtlicher Geltung, Rechtspflichten erst dann die Rede sein kann, wenn der rechtliche Imperativ vom Einzelgewissen mit moralischer Verpflichtungskraft ausgestattet wird“ (R 43), das Individuum sich also ein ihm übergeordnetes ‹Wollen› zu eigen macht oder zumindest anerkennt.260 Man kann vor diesem Hintergrund zu der Einschätzung

 259 „Jener Satz [i.e. Tue deine Pflicht!, M.A.] ist nun ein Imperativ, sofern er ist und wirkt, eine Norm, sofern er bedeutet und gilt, Imperativ, sofern sich durch ihn ein Wollen durchsetzt, Norm, sofern sich in ihm ein Sollen setzt – beides zwar in dem vorliegenden Satz, aber keineswegs immer verbunden“. 260 Zu dem hier sich abzeichnenden Spannungsverhältnis zwischen ‹Rechtsbegriff› und ‹Rechtsgeltung› vgl. Neumann 2015.

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kommen, dass das Wertbezogene, damit es Faktizität erlangt, letztlich doch des einzelnen Subjektes bedürfe, das es verinnerlicht und sich mit ihm identifiziert. Diese Schlussfolgerung ließe sich zunächst auch darauf stützen, dass Radbruch der rechtlichen ‹Wirklichkeit› eine „psychologische Natur“ konzediert bzw. dass er sie zu den vom ihm sogenannten „psychologische[n] Tatsächlichkeiten“ (R 33) zählt. Freilich – und das hat nun wohl doch etwas Irritierendes – versteht er unter „psychologisch“ lediglich dies, dass „Maßstäbe“ angelegt und „Anforderungen“ gestellt werden (R 33), wobei er diesen Tätigkeiten wiederum keine identifizierbaren Urheber zuweist, sie also gerade nicht auf ein individualpsychologisches Moment zurückspiegelt; dergleichen Momente sind, so sie denn mitgedacht werden, offenkundig in einem abstrakt-überpersönlichen Prinzip aufgehoben. Das der wertbezogenen ‹Wirklichkeit› zugrunde liegende ‹Psychische› ist diesem Verständnis zufolge nicht-subjektiver Art.261

4.4.4 ‹Zwieschlächtigkeit› der juristischen Textinterpretation Nach diesem Exkurs über die Inhaltsseite von Imperativen im Recht sollen nun wieder die allgemeinen gedanklichen, vor allem aber die sprachtheoretischen Voraussetzungen ihrer Interpretation wie auch die Modi der lexikalischen Konfigurierung dieser Prämissen beleuchtet werden. Als Plattform für die weitere Erörterung dieses Themas möge der folgende Bescheid dienen: So ist die juristische Auslegung nicht Nachdenken eines Vorgedachten, sondern Zuendedenken eines Gedachten (R 111).

Das Hauptinteresse liegt an dieser Stelle auf der antithetischen Infinitiv-Fügung, die über die Kopula direkt als Definiens der juristischen Exegese ausgezeichnet ist; bei den nominalisierten Infinitiven wie auch bei den mit ihnen verbundenen Genitivattributen handelt es sich um Derivate von denken, die zu Komposita erweitert und durch bestimmte Morpheme einander semantisch entgegengesetzt sind.

 261 Den hier skizzierten Zusammenhang berührt auch dieser Passus: „Der von seiner psychologischen Grundlage losgelöste Sinn eines Wollens ist ein Sollen, der aus der Tatsächlichkeit des Befehlsvorganges sauber herauspräparierte Inhalt des Imperativs – eine Norm“ (R 76). Das ‹Psychologische› bezeichnet ein x, über das lediglich so viel verlautet, dass es fundamental sein soll, und von dem die Darlegung abstrahiert, ohne es näher in Augenschein zu nehmen. Da Radbruchs Rechtsphilosophie primär am Sinn oder an der extensionalen Funktion des ‹Wollens› interessiert ist, liegen dieses selbst und seine phänomenalen Ausprägungen außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches.

Aporien der juristischen Textexegese bei Radbruch  249

Das Besondere der juristischen Textlektüre kommt zum einen in dem Genitivattribut eines Gedachten und zum anderen in dem Morphem -zuende- zum Tragen; diesen Größen sind in der negierten Wendung, die, auch wenn es nicht explizit gesagt wird, Radbruchs Philologieverständnis exponieren dürfte, als Analoga das Attribut eines Vorgedachten und das Morphem nach- zugeordnet. Inhaltlich lässt sich dem Passus entnehmen, dass die Beschäftigung mit Gesetzen ihren Gegenstand nicht als etwas Vorgängiges, das lediglich nachvollzogen werden müsste, sondern als etwas Offenes, Affizierbares begreift, das sie weiter zu entfalten, zu aktualisieren, vielleicht auch in seiner Qualität zu steigern hat. Nicht soll das Sujet gedanklich eingeholt werden; es ist vielmehr als Einsatzstelle für die Reflexion zu wählen. Der Kontrast zwischen philologischer und juristischer Textbehandlung, wie er sich hier ausdrückt, ließe sich am bündigsten wohl mit der Formel ,‹rezeptiv› vs. ‹produktiv›‘ umschreiben. Radbruch illustriert diese fundamentale Differenz, nachdem er sie mit begrifflichen Mitteln herausgeschärft hat, im weiteren Verlauf durch einen verhältnismäßig ausführlichen Vergleich mit analoger, also ebenfalls antithetischer Struktur: Sie [i.e. die juristische Auslegung] geht von der philologischen Interpretation des Gesetzes aus, um bald über sie hinauszugehen – wie ein Schiff bei der Ausfahrt vom Lotsen auf vorgeschriebenem Wege durch die Hafengewässer gesteuert wird, dann aber unter der Führung des Kapitäns auf freier See den eigenen Kurs sucht (R 111).

Wenn Radbruch sich hier eines solchen bildhaften Vergleichs bedient und damit wenigstens kurzzeitig die diskursiv-fachliche Schreibweise transzendiert, so könnte das darauf hindeuten, dass er die von ihm beigebrachten gedanklichen Bestimmungen für unzureichend erachtet, seine Ausdrucksabsicht vollends abzugelten. Es ist jedoch auch denkbar, dass er den lexikalischen und stilistischen Rahmen aus dem Grunde aufsprengt, weil er nicht nur sein Repertoire von Darstellungsmitteln mit zusätzlichen gestalterischen Optionen anreichern, sondern dartun möchte, dass die juristische Textbetrachtung ihrerseits nicht auf das diskursive Register limitiert ist und die Kriterien von Fachlichkeit oder Wissenschaftlichkeit in formaler Beziehung genauso außer Kurs setzt wie in inhaltlicher. Folgt man dieser letzteren Lesart, so kongruiert der Vergleich mit einer Äußerung, die besagt, dass die juristische Interpretation ein „unlösbares Gemisch“ sei, das auch „überwissenschaftliche Elemente“ (R 111) enthalte, was man vielleicht so auffassen kann, dass die Exegese zumindest unterschwellig einen spekulativen Zug hat, durch den sie nicht nur über den Wortlaut der Gesetze, sondern auch über die eigene Fachkultur mit ihren Konventionen und ihrer Methodologie, kurzum: über die rechtliche Rationalitätsnorm hinaustendiert. So verstanden, ist der Auslegung ein Merkmal immanent, dem man – wie dem Kapitalismusbegriff We-

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bers – die Vokabel antilogisch in dem Sinne beilegen kann, in dem von Weizsäcker sie gebraucht. Es drängt sich auch die Erinnerung an die Wendung übertheoretischer Glaube bei Simmel auf, welche oben in einem der sprachwissenschaftlichen Kommentare (2.3.2.2) Beleuchtung fand; Radbruch wird seine Überlegungen im Weiteren auch noch auf ein Simmel-Zitat stützen, das unten an passender Stelle eingeschaltet werden soll. Macht man sich die Position von Felder262 zu eigen, wonach die rechtswissenschaftliche Exegese ein Ensemble von „Sprachspielen“ sensu Wittgenstein bildet, so kann man zu der Ansicht neigen, dass dasjenige, was Radbruch als Kontrapost zur juristischen Textdeutung apostrophiert und gleichwohl zu ihr hinzurechnet, buchstäblich mit einem Element des ,Spielerischen‘, Improvisatorischen gleichzusetzen sein dürfte, wie es einem kreativen, auf Geschick, Erfahrung und Esprit gestellten Umgang mit Regeln, einer prozeduralen Fertigkeit, einem nichtoperationalisierten Können inhäriert. In seiner Sprachgebundenheit ist das Recht ‹zwieschlächtig›, von gegensätzlichen Tendenzen beherrscht, insofern die interpretatorischen Prozeduren wie auch die deklarativen Setzungen der Akteure gleichermaßen methodische Strenge und spekulative Offenheit, „Präzision“ und „Vagheit“ (Felder 2008) erkennen lassen. Felder bringt diesen Antagonismus wie folgt auf den Begriff: Sprachliche Zeichen im Rechtskontext sollten einerseits Hort der Stabilität, Zuverlässigkeit, Verlässlichkeit und vor allem (in gewissem Maße) der Voraussagbarkeit bzw. Erwartbarkeit sein. Andererseits ist dessen ungeachtet die Verwendung sprachlicher Zeichen im Rechtskontext durch Protagonisten – um es vorsichtig zu formulieren– nicht frei von Überraschungen, so dass die insinuierte Stabilität der rechtlichen Zeichenbedeutungen zu relativieren ist (Felder 2018, 275).

 262 Vgl. Felder 2017, 55: „Folgt man [. . .] dem Ansatz der pragma-semiotischen Bedeutungsexplikation, so kann die juristische Textarbeit als akteursbezogene, zeichengebundene Tätigkeit bzw. als eine Form des kommunikativen Handelns aufgefasst werden, dem in verschiedenen Situationskontexten unterschiedliche Lebensformen oder ,Sprachspiele‘ (Wittgenstein 111997, § 7, § 19, § 23) zugrunde liegen“. Felder beruft sich seinerseits auf Müllers linguistisch informierte „Strukturierende Rechtslehre“: Dieses Paradigma erlaubt es, das diskursive, im häufig spannungsreichen Zusammenwirken diverser Akteure und Instanzen sich vollziehende Verstehen eines Rechtstextes in einzelne Sprachspiele zu zergliedern, „die sich“ – in Felders eigener Formulierung – „im Gesamthorizont“ eines „durch die Verfassung gezogenen größeren Sprachspiels bewegen“ (Felder 2008, 79; vgl. auch Müller 1994, 147, 374ff.) und die „durch spezifische Regeln (sprachliche Verwendungsweisen) konstituiert“ (Felder 2008, 81) sind, deren analytische Bestimmung sich grundsätzlich am Wittgenstein’schen Regelbegriff orientiert. Der Logik dieses Ansatzes zufolge ist auch der „Rationalitätsmaßstab“, dem die Rechtstheorie gehorcht, kein der Rechtspraxis vorgängiger oder äußerlicher, sondern ein „sprachspielimmanenter“ (Müller/Christensen/ Sokolowski 1997, 15).

Aporien der juristischen Textexegese bei Radbruch  251

Das Moment des Unwägbaren, das Felder in diesem Diktum anschlägt – er bindet es an eine der Sprache ureigene Disposition zurück, die bei ihm unter dem Schlagwort Semiose263 firmiert –, kommt mit dem plus ultra, dem Gedanken der Transzendierung bei Radbruch überein, der sich in dem Verb hinausgehen artikuliert. Er wird im Vergleich durch das Bild des Schiffes, das die „Hafengewässer“ hinter sich lässt und in offene See sticht, veranschaulicht und zugleich auch reicher facettiert. Heißt es nämlich, die Auslegung suche sich ihren eigenen Kurs, anstatt einer vorgezeichneten Route zu folgen, so werden ihr Autonomie, Dynamik und Offenheit attribuiert und der Philologie per implicationem solche Merkmale abgesprochen; als Kapitän übernimmt der Jurist die Führung, legt er den Weg indes nicht in Eigenregie fest. Die Richtung ergibt sich vielmehr aus dem Zusammenspiel einer der Tätigkeit selbst immanenten Tendenzhaftigkeit und der Absichten des Akteurs. Diese für die juristische Interpretation wesentliche ‹Zwieschlächtigkeit› wird im weiteren Fortgang in einer Reihe von Attributen ausbuchstabiert, die wie bei Radbruch häufig in polare Paarformeln abgeteilt sind. Es handelt sich um eine Passage, die oben bereits berührt wurde: Die Auslegung, so Radbruch, sei ein unlösbares Gemisch theoretischer und praktischer, erkennender und schöpferischer, reproduktiver und produktiver, wissenschaftlicher und überwissenschaftlicher, objektiver und subjektiver Elemente (R 111).

Dass hier die Serie der adjektivischen Bestimmungen im Dualismus von ‹objektiv› und ‹subjektiv› kulminiert, hat etwas Frappierendes, wenn man sich vor Augen hält, dass vorher die Losung ausgegeben wurde, man müsse bei der Beschäftigung mit Gesetzen deren Sinn von der Mitteilungsintention des individuellen Autors ablösen und somit auf eine ‹übersubjektive› Bedeutung ausgehen. Es hat nunmehr den Anschein, als liege der Schlüssel zur Erfüllung dieser Zielvorgabe darin, ‹Objektives› und ‹Subjektives› zu synchronisieren, oder als sei die konzeptuelle Prägung des ‹Übersubjektiven› dadurch gekennzeichnet, dass beides in sie hereingenommen wird. Es ist zu ergänzen, dass das transzendierende Moment der Exegese, das Radbruch in der Folge noch einmal eigens aufschlüsselt, indem er

 263 Semantische Offenheit ergibt sich als logische Konsequenz daraus, dass der mit diesem Terminus gemeinte Prozesszusammenhang, das wechselseitige aufeinander Verweisen sprachlicher Zeichen, nicht von selbst zum Abschluss kommt, sondern willkürlich abgebrochen wird. „Der Prozess der Semiose“, so Felder, „wird zwar durch jede rechtsgültige Entscheidung unterbrochen, aber nicht zwingend beendet bzw. erst dann beendet, wenn der Rechtsweg nicht mehr weiter beschritten werden kann“ (Felder 2018, 276). Bei Felder ist jedoch auch herausgearbeitet, dass für Sprache ebenso wie ein „Vagheits-“ auch ein „Präzisionspotential“ (Felder 2008, 73) elementar ist.

252  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

die Adjektive von ihren Korrelaten abtrennt – merkwürdigerweise bleibt subjektiv dabei ausgespart –, mit den, wie es heißt, „sich wandelnden Rechtsbedürfnissen“ (R 111), also mit einem dynamischen Element der Rechtswirklichkeit, verwoben ist. Diesem trägt Radbruch dadurch Rechnung, dass er in das Konstrukt des ‹Gesetzgebers›, dessen Willen herauszupräparieren Ziel der Interpretation ist, metamorphe Züge hineinprojiziert und auf diese Letzteren ein Postulat der Variabilität sowie der Differenzierbarkeit und damit auch der Offenheit gründet, wie sie als Motiv bereits mit dem Bild des Schiffes, das nicht eigentlich Kurs hält, sondern seine Richtung erst noch finden muss, eingeführt worden ist: Der Wille des Gesetzgebers, dessen Feststellung ihr Ziel und ihr Ergebnis ist, wird deshalb nicht durch die Auslegung auf einen bestimmten Inhalt für alle Zeit fixiert, sondern bleibt fähig, auf neue Rechtsbedürfnisse und Rechtsfragen veränderter Zeitverhältnisse mit neuen Bedeutungen zu antworten, er ist nicht zu denken als der einmalige Willensvorgang, der das Gesetz hervorgerufen hat, sondern als der das Gesetz tragende wandelbare Dauerwille (R 112).

Dieser Bemerkung ist Folgendes zu entnehmen: Die juristische Exegese divergiert von der philologischen auch darin, dass die Bedeutungen, die sie den Gesetzestexten einsenkt, etwas Indefinites, Unscharfes behalten, das sie weiterer Konkretisierung fähig und bedürftig macht und das unter diesem Blickwinkel nicht mit der ihnen wesentlichen Normativität harmonieren dürfte: Diese Konklusion hat zumindest etwas intuitiv Naheliegendes. Nach Radbruch hätte der Rechtswissenschaftler die Texte so anzusehen, als sei ihr Sinn noch nicht oder aber noch nicht vollends aktuell geworden, als seien sie mithin weniger durch einen faktischen Inhalt, der als solcher klar benennbar wäre, denn durch semantische Potenzen charakterisiert, die es bei der Lektüre nicht nur zu erfassen, sondern auch zu entbinden, zu mobilisieren gilt.264 Transkription ist als konstitutive Prozedur innerhalb der rechtlichen Interpretationspraxis – die kraft ihrer Sprachgebundenheit in einen Zusammenhang der Semiose verstrickt ist, aus dem sie nicht hinauszutreten vermag – solchergestalt auf den Normtext zurückgespiegelt, dass sie durch eine besondere Disposition desselben bedingt scheint, als welche an seiner Faktur nachgewiesen werden kann.

 264 Diesen Passus könnte man als semantische Formulierung der konzeptuellen Fassung verstehen, die die Hauptprämisse der objektiven Auslegung bei Bydlinski/Bydlinski erhält: „,Objektiv‘ ist [. . .] die Ermittlung des problemrelevanten Gehaltes des Gesetzes, den man in sorgfältiger und sachkundiger Beurteilung dem kundgemachten Text des Gesetzes in seinem Zusammenhang mit Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse entnehmen kann“ (Bydlinski/Bydlinski 2018, 35; Markierung im Original).

Aporien der juristischen Textexegese bei Radbruch  253

Der Fortschreibung von Gesetzen durch ihre Deutung darf man nun insofern ein Attribut wie überwissenschaftlich zuteilen, als sich keine unverrückbaren Regeln aufstellen lassen, wie genau der Exeget zu verfahren habe; hier mag der subjektive Faktor wirksam werden, den Radbruch einmal flüchtig zu streifen scheint, um ihn ferner unerwähnt zu lassen. Der Primat virtueller Bedeutungsreserven vor den manifest gewordenen Propositionen drückt sich bei Radbruch darin aus, dass er einen „nur im Gesetze selbst lebenden ideellen Gesetzgeber“ (R 112) ins Treffen führt, dem der empirische zu weichen hat. In ihrer gedanklichen Stoßrichtung gemahnt diese Konzeption der ‹Überwissenschaftlichkeit› an Überlegungen, die Scherner vorgetragen und in der These zusammengedrängt hat, dass der Text eine „Anweisungsmenge“ (Scherner 1984, 159 et passim) sei, die Rezipienten in Gestalt von Lesarten aktualisieren und mit Bedeutung auffüllen: Sie sollen das jedoch tun, ohne dass die Resultate, zu denen sie gelangen, durch die sprachlichen Ausgangsgrößen determiniert wären und von einer (text-)semantischen Theorie vorweggenommen werden könnten.

4.4.5 Paradigmengeschichtliche Montage als Aufbauelement einer Kontextualisierung der juristischen Exegese Den bis hierher nachvollzogenen allgemeinen Betrachtungen Radbruchs schließt sich ein recht umfänglicher kompilatorischer, mit reichem Material versehener Teil an, der eine paradigmengeschichtliche Rahmung der juristischen Textdeutung zum Zweck haben dürfte. Deren Disposition und spezifischen ideellen Zuschnitt will Radbruch dadurch ins Klare bringen, dass er sie in einer thematisch weit ausgreifenden Synopse zu außerrechtlichen Paradigmen unterschiedlicher Couleur ins Verhältnis setzt. Die Erörterung nimmt so ein transdisziplinäres Gepräge an, was wiederum bedeutet, dass das Moment der ‹Überwissenschaftlichkeit›, das Radbruch ihr attestiert, durch den Text selbst nicht nur verdeutlicht oder erläutert, sondern vermöge eines mimetischen Darstellungsmodus regelrecht konstituiert wird. Im Nachfolgenden sollen die einzelnen Theoreme aufgelistet werden, die Radbruch als Vergleichsgrößen heranzieht, um namentlich die transzendierende Komponente seines Ansatzes, auf die er ihn im Vorigen zugespitzt hat, mitsamt ihren konzeptuellen Voraussetzungen schärfer fassen zu können. 4.4.5.1 Vor- und protowissenschaftliche Ansätze Zunächst werden „Formen der Auslegung“ angeschnitten, die „ungleich“ älter sein sollen als die „philologische Interpretation“, und, reichlich summarisch, „ursprüngliche Zeiten“ heraufbeschworen, die „dem Wort eine von den Gedan-

254  Konzeptuelle Formen und textuelle Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit›

ken dessen, der es spricht, unabhängige, gleichsam magische Kraft“ (R 112) zugemessen haben sollen. Radbruch ist in diesem Punkt dem Erbe der Romantik verpflichtet, bewegt sich jedoch, ohne es kenntlich zu machen, ebenso auch auf einer sprachmagischen Diskurslinie, welche durch zeitgenössische Theoreme – so durch die Benjamins, der bei ihm ungenannt bleibt – läuft. Diese Richtung wird in einem Annex (Nr. 105), der zu einem vom eigentlichen Fußnotenapparat separierten Block mit Marginalien rechnet, von denen einige wie Exzerpte anmuten, als animistische ausgezeichnet; daneben figuriert in einer Anmerkung noch ein Zitat aus Goethes „West-östlichem Divan“,265 das augenscheinlich als Beleg in Anspruch genommen wird, ohne dass sein inhaltlicher Stellenwert für die angerissenen Reflexionsmomente ersichtlich wäre. Darüber hinaus führt Radbruch das „Orakelwort“ an, das er als „Behälter eines verborgenen Sinnes“ tituliert, „den, dem Uneingeweihten unerkennbar, erst seine Verwirklichung blitzartig beleuchtet“ (R 112). Mit dieser Einlassung ist – wiederum über den Marginalienteil – eine bibliographisch nicht exakt aufgeschlüsselte Novalis-Stelle verschaltet, die womöglich weniger als Surrogat für einen Quellenbeleg denn als Resonanzverstärker fungiert, insofern sie Sprache metonymisch mit Delphi, der antiken Orakelstätte, identifiziert.266 Es werden, so kann man einstweilen festhalten, frühgeschichtliche und vorwissenschaftliche, dem Mythos verhaftete Anschauungen aufgegriffen, denen zufolge Sprache kultischen Ursprungs ist und eine nicht- bzw. übermenschliche, numinose Instanz in ihr vernehmlich wird. Deren Verlautbarungen sind nicht aktiv, durch einen verstehenden Vollzug zu dechiffrieren, sondern sollen ihren Sinn als schon realisierten enthüllen: Angeblich geschieht das wiederum nur „blitzartig“, so dass selbst die Eingeweihten dieses Sinnes nicht eigentlich habhaft werden, sein Offenbarwerden vielmehr die Anmutung eines von außen nicht beeinflussbaren, kontingenten Ereignisses hat. Hiermit ist ebenso nachdrücklich wie prägnant der Widerpart zu einer säkularen, rationalistischen Sprachkonzeption bezeichnet; die Referate Radbruchs berühren sich, wie soeben angedeutet, mit sprachtheoretischen Räsonnements von Benjamin oder auch Adorno: mit Vorstellungen, die zum Esoterischen inklinieren und darauf hinauslaufen, dass ein nicht-rationalistisches, aus rituellen Ur 265 „Wie das Wort so wichtig dort war, / Weil es ein gesprochen Wort war“ (Goethe 2007, 520). Radbruch zitiert diese Verse, die dem Gedicht „Hegire“ entnommen sind, so, als ob es sich um Prosa handelte. 266 „Die Sprache ist Delphi“. Das Diktum, für das die Herausgeber der „Rechtsphilosophie“ in ihren „Editorischen Anmerkungen“ keine exakte Quellenangabe bieten – bei Radbruch selbst findet sich lediglich die Notiz „Novalis, Fragmente Nr. 2057“ (Markierung im Original) –, ist Novalis’ „Allgemeinem Brouillon“ entnommen (Novalis 1983, 263), das wie Goethes „West-östlicher Divan“ im Literaturverzeichnis dieser Arbeit unter der Rubrik „Sekundärquellen“ aufgeführt ist.

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sprüngen datierendes expressives Surplus als Residuum oder als Potenz in der Sprache fortdauert und sich demnach auch restaurieren lässt.267 Dieses sprachmagische Moment trägt Radbruch gleich in der Folge und ohne argumentative Vermittlung an Märchen heran, von denen er viele „auf den dem Sprechenden unbewußten Doppelsinn seiner Worte gegründet“ (R 112) sieht; jedenfalls kann der bestimmte Artikel den als anaphorischer Verweis auf die vorigen Erläuterungen interpretiert werden: Aus dieser Perspektive käme die semantische Ambiguität als Emanation sprachlicher Selbsttätigkeit, die vom menschlichen Bewusstsein entkoppelt ist – es handelt sich hier im Übrigen um eine Denkfigur, in der gleichsam reflexhaft ein dekonstruktivistisches Movens aufleuchtet –, mit einer nicht-rationalen Seite der Sprache zur Deckung. Darüber hinaus lässt sich der Artikel so verstehen, dass er Ambiguität als Ingredienz der Sprache, mithin als etwas nicht zu Leugnendes designiert. Das Attribut unbewußt taucht auch noch in der Wendung die unbewußte und willenlose Natur auf, wobei es von Letzterer heißt, dass sie „in primitiven Zeiten“ „als Träger von Sinnbedeutungen“ und als „Gegenstand anthropomorpher Auslegung“ (R 112) erscheine; als Gewährsmann für diese Anschauung, die auf eine Symbolisierung der Natur führt, wird neben Augustinus einmal mehr Goethe aufgeboten. 4.4.5.2 Scholastik und Kasualrede Nach einem Absatz schickt sich Radbruch an, die Scholastik mit ihrer Lehre vom vierfachen Schriftsinn unbesehen und – vorsichtig gesprochen – überaus spekulativ in einen ideengeschichtlichen Zusammenhang mit den nicht-rationalistischen Konzeptionen zu stellen, indem er der Ersteren konzediert, diese Letzteren „zu einer wissenschaftlichen Methode erhoben“ (R 113) zu haben. Diese Juxta-

 267 Vgl. etwa Benjamin 1977, Adorno 1973, 418, auch Adorno 1974b. Die Parallelen zwischen Benjamin und Radbruch erstrecken sich über Prinzipielles, das heißt über die Vorstellung hinaus, dass in der Sprache deren kultische Ursprünge nachhallten, auf das nicht unwesentliche Detail, dass dieses Moment sich einzig in Gestalt einer flüchtigen, „blitzartigen“ Erscheinung offenbaren soll (vgl. Anm. 63). Hier sind sogar Konvergenzen im Wortlaut erkennbar; schreibt Benjamin doch: „So ist der Sinnzusammenhang, der in den Lauten des Satzes steckt, der Fundus, aus dem erst blitzartig Ähnliches mit einem Nu aus einem Klang zum Vorschein kommen kann“ (Benjamin 1977, 209). Es ist bei ihm des Weiteren davon die Rede, dass es ein „Zeitmaß“ gebe, „in welchem Ähnlichkeiten“, wie sie auch die Sprache kennt, „aus dem Fluß der Dinge hervorblitzen“ (Benjamin 1977, 209). Inhaltlich vergleichbare Aussagen wären auch bei Adorno zu finden. Um den sprachmythischen Theoriekomplex bei Radbruch aufzuarbeiten und die Einflüsse, denen er sich verdankt, bzw. die in ihm fortlaufenden geistesgeschichtlichen Linien ans Licht zu heben, bedürfte es ausgedehnter Forschungen. Hier liegt, soweit ich sehe, ein Desiderat vor. Vgl. auch Attig 2016.

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position erfolgt vermittels der Fügung diese auf den überbewußten Sinn gerichtete Auslegungsweise (R 112f.), die – im Übrigen ohne jede Erklärung – überbewußt als Äquivalent für unbewußt in die Argumentation einbringt und damit einen Fingerzeig darauf gibt, dass die um das Epithet unbewußt gruppierten Erläuterungen dem Zweck dienen, das für die Deutung von Rechtstexten relevante Motiv der ‹Transzendierung von Wissenschaftlichkeit›, wie es auch bei von Weizsäcker prominent ist, zu profilieren. Radbruch fasst die Scholastik in dem Sinne auf, dass dasjenige, was er für „un-“ und „überbewußt“ erklärt, in ‹Gott› eine weitere konzeptuelle Konkretisierungsform erhält. Unter den Referenzgrößen, die Radbruch der juristischen Interpretation beigesellt, kommt der Theologie – und zwar in ihrer womöglich wirkmächtigsten Gestalt, welche in ihrer diskursiven Genormtheit gleichsam das Inbild jener Art von Wissenschaftlichkeit ist, über die Radbruchs Paradigma hinauswill – der Status eines Komplements zu den spekulativen Ansätzen zu, die in einer Mythifizierung der Sprache gipfeln. Nach der Scholastik findet das Genre der „geistliche[n] Kasualrede“ Berücksichtigung, die dahin charakterisiert wird, dass sie „unter dem Eindruck der Situation, der sie gilt, die einzelnen Worte heiliger Schriften ohne Rücksicht auf ihren ursprünglichen Sinn in immer neuen Bedeutungen aufleuchten“ (R 113) lasse. Eben „dem Reichtum dieser Deutungsfähigkeit“ verdankt sich nach Radbruch „die unzerstörbare Lebendigkeit des Bibelwortes“ (R 113), wie ja auch – es liegt nahe, diese Parallele zu ziehen – die übersituative Anwendbarkeit, die Aktualisierbarkeit des Gesetzestextes an seine Interpretationsbedürftigkeit gebunden ist. Dieser Darlegung zufolge wohnt dem einzelnen Lexem in seiner textuellen Realisation ein fixierbarer Inhaltswert inne, der originär, das heißt zumindest: vor der Exegese da ist und somit nicht erst durch sie hervorgebracht wird. Bis hierher verficht Radbruch eine im Kern realistische Position. Das ändert sich in der Folge: Die Interpretation soll den Ausdruck so remodellieren, dass diese uniforme Ausgangsbedeutung zurücktritt, und ihn wie in einer Serie von Momentaufnahmen zwischen – fortlaufend restituierten – semantischen Figurationen oszillieren lassen. Die von Radbruch benutzte Wendung aufleuchten lassen, die semantisch an blitzartig beleuchten anknüpft, schlägt die Vorstellung einer Art von Illumination an, durch die ein Wort das Ansehen einer kaleidoskopischen Folge semantischer valeurs bekommt, auf welche, um im Bild zu bleiben, ein Lichtkegel gerichtet ist, der einzelne von ihnen heraushebt. Welche dies sind, ist wenigstens zum Teil vom pragmatischen Kontext der Auslegung, von einem okkasionell gebundenen Interpretationsziel abhängig, wobei die Präpositionalphrase unter dem Eindruck den Grad der Bedingtheit eher zurückhaltend-vorsichtig taxiert. Es ist abgesehen davon, dass sie nichts mit dem den Worten inskribierten Sinn zu schaffen haben

Aporien der juristischen Textexegese bei Radbruch  257

sollen, auch nicht klar, in welchem Verhältnis die „immer neuen Bedeutungen“ zu dem Wort selber stehen sollen: Zwar mag es plausibel sein, sie für projektiv zu erachten und so als interpretative Setzungen zu behandeln, doch gibt Radbruch eine solche Anschauung nirgends explizit zur Kenntnis; eine Formulierung wie in immer neuen Bedeutungen aufleuchten lassen könnte man auch so verstehen, dass die semantischen Varianten in den Lexemen bereits angelegt sind oder in diesen auf rudimentäre Korrelate treffen. Mit dem deadjektivischen Substantiv Deutbarkeit, das auf ein herausragendes Merkmal des „Bibelworts“ Bezug nimmt, von dem sich seine Dauerhaftigkeit herleiten soll, werden ‹semantische Pluralität› und ‹Variabilität› wiederum auf das Konto der Wörter gebucht, so dass man sie gar für deren intrinsische Qualitäten halten könnte. Ob den Bedeutungen, auf welche die Auslegung abstellt, semantische Korrelate zugeordnet werden können, die dem Ausdruck ebenso wie diejenigen Inhaltskomponenten, aus denen sich „der ursprüngliche Sinn“ herauskristallisiert, von vornherein eingeschrieben sind – darüber ist durch die Stelle freilich kein näherer Aufschluss zu gewinnen. Das ihr folgende sentenziöse Aperçu, das ein weiteres Diktum Goethes aus dem „West-östlichen Divan“ und ein diesem nachgeschobenes Simmel-Zitat annotiert – „Aber auch profanen Worten entlockt spielender Tiefsinn gern hinter dem gemeinten einen tieferen Sinn“ (R 113) –, sowie die Phrase mehrfache[r] Sinn, mit der die Goethe-Stelle268 glossiert wird, lassen sich demgegenüber so lesen, als stehe hier eine Inhaltsgröße in Rede, die zwar nicht eben augenfällig oder explizit, aber – in welcher Weise auch immer – doch vorhanden, in der semantischen „Anweisungsmenge“ des Textes inbegriffen ist. Realistisches und konstruktivistisches Denken, so könnte man hieraus folgern, sind bei Radbruch solchermaßen nuanciert, dass sie nicht wie sonst üblich einen unversöhnlichen Gegensatz bilden. Radbruchs Einschaltung mutet ausnehmend tautologisch an, weil Subjekt und Objekt, die Art der Lektüre und ihr Resultat, sprachlich einander angeglichen sind: „spielender Tiefsinn“ und „tiefere[r] Sinn“. Das erregt den Verdacht, dass die Art der Textbetrachtung das Interpretament präformieren, somit auch die Apperzeption des Gegenstandes stärker beeinflussen könnte, als Radbruch in seiner Bemerkung glauben machen möchte; es wird außerdem deutlich, dass der Umgang mit dem Text auf den gewünschten Effekt ausgerichtet ist und so auf sein Sinnkonstrukt auch etwas von sich selbst übertragen dürfte. Das Adjektiv spielend mag

 268 „Das Wort ist ein Fächer! Zwischen den Stäben / Blicken ein paar schöne Augen hervor. / Der Fächer ist nur ein lieblicher Flor [. . .]“ (Goethe 2007, 536). Zur Zitation vgl. Anm. 265. Die Herausgeber nennen die Fundstelle; die Quelle des Simmel-Zitats, auf das hier nicht eingegangen werden soll, gibt Radbruch selbst an, um dann noch weiterführende Literaturhinweise beizubringen.

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auf einen spekulativen Modus gehen, der zu methodisch stringenter, philologischer Textarbeit antagonistisch, nämlich experimentell und explorativ, freier in der Behandlung des Gegenstandes und gleichsam ergebnisoffen ist: Mit diesen Merkmalen könnte zumindest eine Facette dessen ausbuchstabiert sein, was die Darlegungen zur juristischen Exegese unter das Stichwort überwissenschaftlich rubrizieren. 4.4.5.3 Rhetorik Die beiden zuletzt ins Licht gerückten Teilstücke von Radbruchs sprachtheoretischer Erörterung heben sich insofern von den voraufgegangenen ab – und das verdient hier noch eigens angemerkt zu werden –, als in ihnen die leitmotivischen Epitheta un- und überbewußt ausgespart bleiben. An den Ausführungen zur geistlichen Kasualrede ist zudem auffällig, dass sie mit der Erwähnung der „Situation“ den außersprachlichen Kontext der Auslegung und deren pragmatische Funktion akzentuieren, die, weil anlassspezifisch, die subjektive Darstellungs- oder Wirkabsicht des Exegeten übersteigt. Diese inhaltliche Präferenz erlaubt den Schluss, dass der von den betreffenden Attributen umschriebene konzeptuelle Komplex hier unter einem weiteren Aspekt in Augenschein genommen, dass Momenten wie dem ‹Überindividuellen› und ‹Überwissenschaftlichen› nach der ‹Autonomie der Sprache› das äußere, etwa auch das institutionelle Gefüge, in das die Auslegung eingebettet ist, als Surrogat, Variante oder Supplement an die Seite gestellt wird. In diesen Kontext gehört eine Abwandlung von Intentionalität, bei der persönliche Motive, Interessen und Zwecke durch Vermittlung mit äußeren, sachlichen, situationsbezogenen Gegebenheiten ins Überpersönliche transponiert sind und die nach Radbruch für die Rhetorik oder genauer: für deren Nutzanwendung bei den Sophisten beispielhaft ist. Ein Konditionalsatz, aus dem nicht recht ersichtlich wird, inwieweit seiner Aussage Faktizität zukommen soll, bringt die „wissenschaftliche Logik“ mit dem „Unterricht der Sophisten“ in Verbindung: Wenn aber der Ursprung der Logik in dem rhetorischen Unterricht der Sophisten lag, dann ist wissenschaftliche Logik ursprünglich vor allem Advokatenlogik; denn Rhetorik ist die Kunst des Beweisens und Widerlegens in der Wechselrede, vor allem in der Gerichtsrede. Solche logische Kunst des Beweisens und Widerlegens aus dem Gesetze aber fragt nicht: was hat der Gesetzgeber sich gedacht?, sondern: Was läßt sich für diese Sache aus dem Wortlaut des Gesetzes herausholen? Sie sucht nicht den vom Gesetzgeber wirklich gedachten, sondern einen ihm ansinnbaren Sinn, einen Sinn also, der dem Gesetze entnommen wird, obgleich er nicht hineingelegt wurde (R 113f.).

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An dieser Sequenz sei hervorgehoben, dass die persuasive, auf argumentative Schlagkraft abgestellte „Gerichtsrede“, unter deren Maßstab sich, wenn man Radbruch glauben will, der genuin wissenschaftliche Reflexionsmodus herausgebildet haben soll, als Paradigma der Redekunst einen ästhetischen Exponenten erhält; fällt doch das Wort Kunst hier gleich zwei Mal. Damit könnte impliziert sein, dass sich ein wirkmächtiger Rhetor nicht nur durch Souveränität in der Handhabung von Schlussfiguren, durch analytisch-intellektuelle Kapazität, sondern auch durch Kreativität, Virtuosität auszeichnet – Vorzüge, die ihm dazu verhelfen sollen, ein wahres Kunststück fertigzubringen, nämlich eine Bedeutung aus dem Gesetz herauszulesen, welche so nicht schon in ihm steckt, ihm aber augenscheinlich auch nicht nach Gutdünken, unter Absehung von seinem „Wortlaut“ aufgepfropft wird. Das Suffix in der Prägung ansinnbar signalisiert, dass der „Sinn“, der dem Text implementiert wird, nicht außer jedem Verhältnis zu seinen Propositionen stehen, sondern sich mit ihnen vermitteln lassen soll. Das kann man gedanklich wiederum dahin wenden, dass der Inhalt des Gesetzes Ergänzungsmöglichkeiten oder Leerstellen hat, an denen die Deutung anknüpft – es sei auf das Präfix von ansinnbar aufmerksam gemacht –, um sie gewissermaßen auszukonstruieren, wobei der Exeget sich selbst die Lizenz erteilt, den Ausdruckswillen des Gesetzgebers (soweit er denn erkennbar ist) nicht mehr in dem Grad für verbindlich zu erachten, dass die dem Text eingesenkten semantischen Größen klar auf ihn zurückführbar sein müssten. Der Auslegung wird die Richtung vielmehr von der „Sache“ vorgezeichnet, in deren Dienst sie sich stellt, das heißt konkret: von einem Kalkül, einer argumentativen Strategie des Advokaten, die er als Interessensvertreter einer Partei vor Gericht, nicht als persönlich Involvierter, sondern in Ausübung seiner beruflichen Rolle, mithin als juristische Instanz verfolgt. Seine Konklusionen sind demnach auf die Rechnung einer Intention zu setzen, welche insoweit für ‹überpersönlich› gelten kann, als sie in der „Sache“ bzw. in einem institutionellen Zusammenhang aufgeht, der die Sache überformt und zugleich das Verhalten der ihm zugehörigen Funktionsträger reguliert. Das eben erwähnte Moment bleibt in der zitierten Passage allerdings weitgehend ausgespart: Sie bietet dementsprechend auch keine greifbaren Indizien dafür, dass das Leitmotiv des ‹Überbewussten›, wie eben angedeutet, tatsächlich mit Fallbezogenheit und Bedingtheit durch den pragmatischen Kontext (dem wiederum der institutionelle Ort als integraler Teil beizählt) verschränkt werden kann. Diese Faktoren mögen Radbruch gleichwohl bestimmt haben, die Auslegung als „rational“ zu deklarieren und so – im Übrigen recht nachdrücklich – zu den vorher aufgeführten „intuitiven Formen“ (R 113) in Kontrast zu bringen. Das rationale Ferment ist für die juristische Exegese von solcher Wichtigkeit, dass es mit einem

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Mal so wirkt, als seien die vor- oder nicht-wissenschaftlichen Interpretationsformen, die doch herangezogen wurden, um zu ermitteln, in welchen Punkten die juristische Auslegung von der philologischen abweicht, mit jener gar nicht recht verträglich. Jedenfalls grenzt Radbruch die Erschließung eines Gesetzestextes in einem ziemlich entschiedenen, ja zuspitzenden Tonfall gegen die anderen Deutungspraktiken ab und führt dabei das ‹Rationale› als entscheidende Differenz an, akzentuiert es gar noch vermittels der Wendung durchaus rationale Natur: Freilich unterscheidet sich die juristische Auslegung von jenen intuitiven Formen der Auslegung durch ihre durchaus rationale Natur. Sie ist nicht magische oder mystische Auslegung, nicht ein Spiel des Tiefsinns, sondern logische Interpretation“ (R 113).

Mit dieser so prononcierten Negation scheint der Lesart, die bislang für die hier vorgenommene Untersuchung maßgeblich war, ein für alle Mal der Boden entzogen. Indessen wurde den intuitiven Verfahrensweisen vorher allzu viel Raum gewährt, wirkt die Darlegung in der Stoßrichtung insgesamt doch auch zu affirmativ, als dass es nun mit der Schlussfolgerung sein Bewenden haben könnte, es sei Radbruch lediglich daran gelegen, zu zeigen, was juristische Texterklärung alles nicht sei; wenn es sich so verhielte, müsste man die hier nachvollzogenen Schritte der Erörterung als dysfunktional ansprechen. Im Übrigen fiel oben auch die Äußerung, die Exegese von Gesetzen sei den mythisierenden, vor- und prototheoretischen Sprachauffassungen „viel näher verwandt“ als der Philologie. Hält man die soeben erwähnte Negation dagegen, so ergibt sich ein handfester Widerspruch. Eine Kompromissformel, vermittels deren er sich schlichten ließe, könnte etwa dahin lauten, dass der juristische Zugriff auf Texte mit spekulativ-ungebundenen, auf Eingebung gestellten Deutungsroutinen zwar manches gemein hat – namentlich die Neigung zur Transzendierung von Wortlaut, zutage liegendem Sinn und propositionaler Oberfläche, Kategorien, die nicht als unhintergehbar, sondern eher als Einsatzstelle der Texterklärung betrachtet werden –, sich von ihnen aber auch unterscheidet, insofern er sich zu Nachvollziehbarkeit, methodologischer Stringenz und Über-Subjektivität verpflichtet sieht: Es handelt sich um eine Prozedur, die zum einen nach Rationalität trachtet und zum anderen ein Sensorium für ein plus ultra hat, die einem logischen Objektivismus huldigt und zugleich bereit ist, den Gesetzestext gewissermaßen zu überschreiben, mithin bei der Auslegung den empirischen Autor als intentionale Instanz zu kassieren. Sie versammelt demnach Eigenschaften, die sich einer Vokabel wie nicht-rational subsumieren lassen, und bestätigt so ein Diktum Viktor von Weizsäckers, wonach es problematisch sein dürfte, vorauszusetzen, daß nur die wissenschaftliche Form des Weltbildes die logische oder rationale, die magische und mythische aber die alogische oder irrationale wäre. In beiden und weiteren Arten

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des Weltbildes kann Logik und Ratio mit ihren Negationen gemischt sein, obwohl die Mischung von unterschiedlicher Art und Bedeutung sein mag (von Weizsäcker 2005, 403f.).

Der von Radbruch propagierte Ansatz ist dem eben Ausgeführten gemäß durch strukturelle ‹Zwieschlächtigkeit› charakterisiert, wobei aus der „Rechtsphilosophie“ nicht hervorgeht, wie die ihn beherrschende Grundspannung in der Praxis ausgetragen werden kann oder soll. Im Übrigen scheint es, als seien die zwei Seiten, nach denen Radbruch an dieser Stelle polarisiert, zu Beginn der Darlegung weniger scharf gegeneinander gesetzt; wurde doch auch behauptet, dass die ungeregelte, rhapsodische Fortschreibung eines Textes durch die Scholastik eine methodologische Fundierung erfahren habe, und so jene vorrationale exegetische Tradition in die Wissenschaftsgeschichte selbst hereingenommen. 4.4.5.4 Biblizismus und Literaturwissenschaft Nachdem er statuiert hat, dass die Erschließung eines Gesetzes von anderer Güte sei als die spekulativen Interpretationspraktiken „ursprünglicherer Zeiten“, kommt Radbruch auf den „Biblizismus der altprotestantischen Theologie“ zu sprechen, der, wie er angibt, „nichts ohne die Heilige Schrift und alles auf die Heilige Schrift begründen wollte“ (R 114), ohne dass er dieses Paradigma näher thematisierte. Zwar führt er es als engsten Verwandten der juristischen Exegese auf und räumt ihm so eine prominente Stellung ein, doch erklärt er es ohne Federlesens für obsolet – er geht gar so weit, die Homologie, die zwischen ihm und jener bestehen soll, als eine „fragwürdige“ (R 114) zu bezeichnen, wie wenn sie den Juristen zu diskreditieren drohte. Danach wendet sich Radbruch literaturwissenschaftlichen Strömungen zu, in denen er Analogien zu seiner eigenen Konzeption ausmachen zu können meint. Diese argumentative Volte hat insofern etwas Überraschendes, als, wie oben demonstriert, der juristische Zugang zuvor noch gegen den philologischen ausgespielt worden ist. Die Charakterisierung einer nach Radbruchs Dafürhalten innovativen (oder produktiven) Beschäftigung mit Poesie ist von vornherein darauf ausgerichtet, das ihr zugrunde liegende Programm mit seinem eigenen in Parallele zu bringen: Sie ziele auf eine „Erforschung des objektiv gültigen Sinnes der Dichtung“ und stufe diesem gegenüber „den subjektiv gemeinten Sinn“ als nachrangig ein (R 114). Dasjenige, was als Meinung oder Ausdrucksabsicht eines Autors an der propositionalen Oberfläche seines Textes abzulesen ist, also dessen referentielle Primärebene, wird zugunsten einer sie überlagernden sekundären Bedeutungsschicht vernachlässigt, die Radbruch für das tatsächliche, will sagen: für das eigentlich verbindliche oder definitive Inhaltssubstrat erachtet. Der kategoriale Stellenwert eines impliziten Textsinns, der sich erst im Verlaufe einer Interpretation ausprägt,

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wird höher veranschlagt als der des Wortlauts, der in Radbruchs Darstellung denn auch vergleichsweise ephemer anmutet. Folglich muss die Lektüre diesen Letzteren als Anknüpfungspunkt oder Hebel nehmen, um auf etwas anderes auszugreifen, ohne dass der Text dafür eine eindeutige Richtung wiese: Dies läuft wie die rechtliche Erhebung der Mitteilungsabsicht des überindividuellen Gesetzgebers auf ein abduktives Procedere mit ungewissem Ergebnis hinaus, was sich auch daran ersehen lässt, dass Dichter laut Radbruch bei einer nachträglichen Beschäftigung mit ihren Werken häufig auf „neue ungeahnte Bedeutungen“ geraten. Diese Wendung gemahnt wiederum an den „über-“ bzw. „unbewußten Sinn“ (R 114). Es kommen demnach semantische Elemente in den Blick, die einem Text von seinem Urheber zumindest nicht wissentlich oder mit einer konkreten Absicht eingesenkt worden sind. Es soll denn auch bei der Ermittlung des Inhalts seiner Hervorbringungen der Verfasser selber aus dem Spiele bleiben. Daraus ergibt sich für die Interpretation die Maßregel, dass sie konsequent text- oder auch werkimmanent verfahren, dabei jedoch – dies sei hier nochmals in Erinnerung gerufen – nicht an der lexikalischen Oberfläche ihres Gegenstandes haften soll. Nicht minder paradox als dieses Doppelpostulat mutet die weitere Schlussfolgerung an – zumindest wenn man ihre Tragweite bedenkt –, dass die Exegese offenbar gerade, indem sie den Autor als Gewährsmann oder Autorität unberücksichtigt lässt, „eine neue Form der Biographik“ (R 114) inauguriert: Sie soll nämlich bei strikter, ja ausschließlicher Orientierung am einzelnen Text oder am Gesamtwerk eines Dichters eine Handhabe bieten, seiner „Persönlichkeit“ (R 114) Relief zu verleihen. Darüber, was man unter „Persönlichkeit“ zu verstehen habe, unterrichtet gleich in der Folge ein Passus, in dem es anknüpfend an Gundolf und Simmel heißt,269 die biographisierende Werkbetrachtung müsse des „ewige[n] Dichter[s] oder Denker[s]“ innewerden, der in seinen Schriften „lebt, sich wandelt, solange er lebt, und auf die neuen Fragen neuer Zeiten neue Antworten gibt“ (R 115). Im Anschluss daran wird ein solches ideelles Autorenkonstrukt mit der Figur des Gesetzgebers als desjenigen synkopiert, „durch dessen Autorität“ das Gesetz „fortfährt, Gesetz zu sein“ (R 115), sich die performative Kraft eines Rechtstextes perpetuiert. Man darf annehmen, dass diese gedankliche Gleichschaltung den archimedischen Punkt des Exkurses bildet, dieser somit auf das Ziel hin angelegt ist, das Profil des Gesetzgebers qua interpretativer Hypostase durch Analogisierung mit einer unpersönlichen Autorenfiktion zu schärfen. Indem man vom Urheber eines dichterischen Werkes oder eines Gesetzes sämtliche Merkmale empirischer Individualität fortschattiert, gelangt man zu ei 269 Diese Quellen können hier vernachlässigt werden; die Herausgeber haben die Fundstellen ermittelt.

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ner konzeptuellen Imago von Autorschaft, in der Transtemporalität und Variabilität, Permanenz und Dynamik miteinander harmonisiert sind und strukturelle ‹Zwieschlächtigkeit› dementsprechend zu einem Modus des Ausgleichens wird. Das Überdauern eines Textes hängt daran, dass er sich in immer neue pragmatische Kontexte eingliedern und in seiner Bedeutung nach Belieben an äußere Faktoren anpassen lässt, jedoch in seinen situativ gebundenen Varianten stets durch eine transzendente Autorintention gedeckt ist. Diese Letztere soll die virtuellen Multiplikationsmöglichkeiten der semantischen Anweisungsmenge wie eine Klammer umfangen und nimmt in den Figurationen, die ihr im Weiteren zugeschrieben werden, ein noch allgemeineres und elementareres Gepräge an: Das geschieht dadurch, dass die sinnstiftende Instanz, auf deren konzeptuelle Repräsentation die Exegese hinarbeitet, nicht als individueller Urheber gedacht, also entpersonalisiert wird. Diese finale Achsendrehung in Radbruchs Räsonnement führt vom individuellen „Geist“, in dem die Identität des Verfassers verdampft, zu dem „einen“ ‹Geist›, aus dem Hegel allen geschichtlichen Wandel erklärt (vgl. R 115). In Radbruchs Perspektive gestattet es Hegels Vorstellung vom ‹Geist›, die Reflexion über alle Epochen hinweg als autonome, überpersönliche, zugleich aber regelhafte, in ihrem Verlauf notwendige Bewegung zu fassen, das heißt konkret: die „geschichtliche Folge“ heterogener Weltanschauungen und philosophischer Systeme als „logischen Prozeß“ zu identifizieren, so „als habe sie sich in einem einzigen Bewußtsein vollzogen“ (R 115). Dieses Einheitsbewusstsein, aus dem sich geschichtliche Abläufe als teleologische herausprozessieren lassen sollen, wird bei Radbruch umstandslos auf den Gesetzgeber übertragen. Als dynamisch-selbsttätiger ‹Geist›, auf den alle (adäquaten) Auslegungen beziehbar sind, so disparat sie sich auch ausnehmen mögen, soll er Gewähr dafür bieten, dass die einander ablösenden Lesarten nicht unzusammenhängend sind, sondern im zeitlichen Wechsel Knotenpunkte einer kontinuierlichen Deutungsgeschichte darstellen: Die Variationen des Sinnes eines Gesetzes unterstehen einem Ordo, der sich im Gesetzgeber verkörpert; ihre Sukzession wiederum ist sinnvoll, insofern die Lesarten des fraglichen Gesetzes erst in ihrer Gesamtheit dem ‹Geist› des Gesetzgebers und seinem Wollen zur Objektivierung verhelfen. Dabei nimmt dieses Wollen, wie bereits festgestellt, die Gestalt eines Sollens an. 4.4.5.5 „Einfache Beispiele“ als Indices einer transzendenten Origo der Sinnstiftung Bei Hegels Geistphilosophie handelt es sich um den letzten Baustein eines breit angelegten interpretationsgeschichtlichen Exkurses, der die Aufgabe hat, die Disposition der juristischen Textbetrachtung zu verdeutlichen, indem er diese zu

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Paradigmen ins Verhältnis setzt, deren ideelle Grundlinien sich mit den ihren in einem gemeinsamen Fluchtpunkt zu treffen scheinen. Die Übersicht lässt immer neue Referenzmodelle kaleidoskopisch aufeinander folgen und suggeriert so, dass die juristische Behandlung von Gesetzen heterogene Spracherfahrungen und Interpretationsformen absorbiert und dabei sogar die Kluft zwischen rationalem, wissenschaftlichem Vorgehen und rein intuitiver Spekulation überwölbt: So wird der Rechtslehre mit dem Prädikat der ‹Überwissenschaftlichkeit› eine synthetische Potenz größten Maßstabes bescheinigt. Radbruch lässt freilich dahingehend Skepsis verlauten, ob die Aufstellung von Ansätzen, die zumindest partielle Konvergenzen mit dem juristischen aufweisen, den Rezipienten davon zu überzeugen vermag, dass das, was in der Auseinandersetzung mit dem Gesetzestext geleistet werden soll, möglich und nicht einfach nur „ein Zauberkunststück“ sei, dass man „einem Geisteswerk“ (R 115) also tatsächlich „einen Sinn entnehmen“ könne, „der von seinem Urheber nicht hineingelegt wurde“ (R 116). Radbruch sucht seinem Theorem, das die eben zitierte Fragestellung nochmals resümierte, eine zusätzliche Legitimationsbasis zu verschaffen, indem er der Erfahrungsrealität entlehnte „[e]infache Beispiele“ (R 116) aufbietet, die ihm zufolge jedem etwaigen Zweifel an der Durchführbarkeit seines Programms den Boden entziehen. Als Erstes nennt er das Rätsel, das neben der ihm von seinem Urheber zugedachten Lösung noch eine zweite haben könne, „die genau so richtig ist“ (R 116); zweitens führt er das Schachspiel an, bei welchem ein Spielzug „möglicherweise“ „einen ganz andern Sinn“ als den annehmen könne, den der Spieler vorsah, um seine volle Tragweite dann erst „im Zusammenhange des Spieles“ zu offenbaren (R 116). Mit dem Spielzug läuft bei Radbruch die sprachliche Einheit des Satzes synchron: Im Sprechen, so heißt es in einer für einen Juristen bemerkenswerten Formulierung, trete ein Gedanke „in eine Gedankenwelt“ von „besonderer Eigengesetzlichkeit“ (Markierung von M.A.) ein;270 mit jedem „Ausspruch“ stifte ein Sprecher „begriffliche Beziehungen“, die er „nicht entfernt zu übersehen vermag“ (R 116). Hier scheint sich aus Inhalt und Ausdruck eine schwer zu durchdringende Komplexion herauszubilden, wobei die Darlegung freilich auf die konkrete Äußerung (die parole) abhebt und diese mittels eines neuerlichen Goethe-Zitats zu „notwendig wirkenden Naturkräften“ (R 116) in Relation setzt, mithin als ein zugleich elementares und selbsttätiges Prinzip konturiert, das die Sprechenden beherrscht. Radbruch assoziiert die Naturkräfte im Anschluss und ohne erkennbare argumentative Herleitung mit „Naturgesetzen“ (R 116), zu denen er unter Verwendung  270 Dem Lexem Gedanken wird im Weiteren Begriff als Synonym hinterhergeschickt, was den Schluss nahelegt, dass Inhalts- und Ausdruckseite hier interferieren sollen.

Aporien der juristischen Textexegese bei Radbruch  265

der ersten Person bemerkt, man liefere sich ihnen aus, indem man sich ihrer bedient. Der Mensch, so impliziert die Synchronisierung von Sprache und Natur, ist ebenso wenig im Besitz der letzten Deutungshoheit über die verbalen Zeichen, die er gebraucht, wie er die Naturgesetze gänzlich, soll heißen: so, dass sie keine Macht mehr über ihn hätten, unter Kontrolle zu bringen vermag. Im gleichen Sinne lässt sich Radbruch über „logische Gesetze“ vernehmen,271 die er so ihrerseits für die semantische Valorisierung von „Sprache“ (R 116) über den Kotext nutzbar macht, um das Augenmerk daraufhin ganz unvermittelt auf die sprachliche Äußerung zurückzulenken: Er gibt an, dass sich ihr „Sinn“ in einen übergreifenden „Sinnzusammenhang“ einfüge, und zwar dergestalt, dass er sich als „Teilsinn“ (R 116) desselben präsentiere. Das könnte man so auffassen, dass die objektive Bedeutung, zu der die Interpretation vordringen muss, mit einem der jeweiligen Äußerung übergeordneten Referenzsystem in Einklang steht, in das ein Sprecher verstrickt ist, ohne es in den Blick bekommen zu können, und das sowohl seine Mitteilungsabsicht wie auch sein sprachliches Bewusstsein überspielt: So ist es ihm denn auch nicht ohne Weiteres möglich, selbst auf dieses System zu extrapolieren. Eine weitere Erschwernis besteht darin, dass die einzelne Sprachhandlung innerhalb des besagten Zusammenhangs „unübersehbare Wirkungen hervorruft“ (R 116), also eine für den Sprecher nicht taxierbare Einflussgröße ist. Die Totale, in die diese Größe einrückt, wird anscheinend mit der Gesamtheit der Natur- oder der logischen Gesetze analogisiert, in welcher sich das Wirken eines ‹objektiven Geistes› à la Hegel gewissermaßen sedimentiert hat, und zwar wiederum ohne dass diese konzeptuelle Synkopierung explizit gemacht, geschweige denn argumentativ untermauert würde. Indessen zitiert Radbruch das Heine-Wort „Was er webt, daß [sic] weiß kein Weber“ herbei, womit er den Eindruck erweckt, seine verkürzt oder gedrängt anmutenden Überlegungen stützen zu wollen, indem er sich auf vor- oder außertheoretisches Wissen beruft; dass er das Diktum ohne Nennung des Urhebers anführt, könnte so gedeutet werden, dass er suggerieren möchte, es spiegele intersubjektive Erfahrungswirklichkeit wider und sei zu gängiger Münze geworden. Die Exempel und Belege, die Radbruch in seiner extensiven ideen- oder paradigmengeschichtlichen Montage miteinan 271 Die hier und im Anschluss zitierten Wendungen sind folgendem Diktum entnommen: „Indem ich mich der Naturgesetze bediene, liefere ich mich ihnen zugleich aus – so werden auch die logischen Gesetze über mich Herr, sobald ich mich ihrer bediene. Der Sinn, den meine Äußerung haben sollte, ist deshalb unter Umständen durchaus nicht der Sinn, den sie hat – und zwar keineswegs etwa nur deshalb, weil es mir nicht gelungen ist, den gewollten Sinn zum Ausdruck zu bringen, vielmehr deshalb, weil jeder Sinn nur Teilsinn in einem unendlichen Sinnzusammenhang ist und in diesem Sinnzusammenhang unübersehbare Wirkungen hervorruft: ,Was er webt, daß [sic] weiß kein Weber‘“ (R 116).

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der verklammert, haben somit letztlich wohl den Zweck, ein fundamentales Erlebnis greifbar zu machen, das sich in heterogenen Lebensbereichen und bei den unterschiedlichsten Tätigkeiten wiederholen, mithin wohl auf eine anthropologische Konstante führen soll: das Erlebnis nämlich, dass man im Handeln wie im Denken einem transdiskursiven, unhintergehbaren Ordnungsprinzip gehorcht, das sich in den mannigfachsten Formen ausprägt und alles Eigene in einer Weise affiziert, dass es zu einem Anderen wird, das als solches nicht mehr einholbar ist. Mit dem ihr inhärenten „Sinnzusammenhang“ (R 116) gibt die Sprache ein Paradigma einer Bewusstsein und Reflexionsvermögen der einzelnen Individuen übersteigenden, determinierenden Metastruktur allen Denkens ab; eine solche soll sich offenkundig auch in derjenigen Textbedeutung auskristallisieren, die nicht auf das Konto des Autors zu buchen ist. Indem Radbruch zur Charakterisierung dieser für seine Argumentation wesentlichen Größe auch die logischen Gesetze heranzieht und sie als transtemporale Emanation eines ‹Geistes› apostrophiert, in der Objektivität sich gleichsam versinnbildlicht, erhält sie das Signum absoluter Notwendigkeit und unverbrüchlicher Gültigkeit. Diese Prädikate sollen auch dem unpersönlichen Gesetzgeber zukommen, womit dieser seinerseits in die Reihe der beispielhaften Figurationen der von Radbruch anvisierten transzendenten, geistigen Entität tritt. Ihm soll im Falle des Gesetzes auch der sprachliche Sinnzusammenhang, dem Radbruch ja seinerseits nötigende Kraft bescheinigt, unterworfen sein, dergestalt dass der Gesetzgeber als unanfechtbare Autorität das Letzterem innewohnende Gedanken- und Begriffssystem in Regie nimmt und somit – weil unter ihm die Sprache ihre Eigenprägung einbüßt – im Gesetzestext ganz ungebrochen Gestalt annimmt. Um ihn in seinem Aussagewillen zu erfassen, bedarf es nach Radbruch einer Zahl von Gesetzen, die von ebensolcher Unbedingtheit sind wie er selbst, die mithin „logisch“ (R 116) genannt werden können, wobei Radbruch dieses Attribut interessanterweise in Anführungszeichen setzt, so als gebrauche er es im übertragenen Sinne: Er mag damit signalisieren wollen, dass die Vorgaben, die die Ermittlung der objektiven Gesetzesbedeutung zu erfüllen hat, zwar nicht mit denen der Logik identisch, aber dessen ungeachtet von schlechterdings maximaler Verbindlichkeit sind. Die Konfigurierung dieser interpretativen Regeln obliegt der Rechtswissenschaft. In der Gesamtschau der oben präsentierten Beobachtungen und Schlussfolgerungen kann jedoch bilanziert werden, dass die Ergründung des „objektiven Sinn[es]“ (R 116) von Gesetzen nicht nur mit methodischer Strenge und nach quasi-logischen Kriterien verfährt, durch die ihr Ablauf genau vorgezeichnet ist, sondern auch eine andere, spekulative, ja spielerische Seite hat: Indem er vom Wortlaut abstrahiert, denkt der Exeget improvisierend über die Dispositive von Wissenschaftlichkeit, auch über die juristischen, hinaus. So stark die Rationali-

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tät dieser Interpretationsart betont wird, so unabweisbar scheint es, dass zu ihr ein anders geartetes Komplement gehört, das indes nicht klar zu bezeichnen ist und dessen Vorhandensein Radbruch, auch wenn er es exponiert, offenbar nicht vorbehaltlos anerkennen möchte. Ein Indiz dafür ist, dass er diese Größe lediglich indirekt anspricht, indem er diverse Referenzparadigmen um sie wie um ihre virtuelle Mitte gruppiert und sich dabei einer montagehaften Darstellungsform bedient, die ihrerseits etwas Unmethodisches, Rhapsodisches, Aperçuhaftes anklingen lässt. Man kann aber auch zu der These gelangen, dass solche textuellen Züge selbst ganz schlagend demonstrieren, was man unter ‹Überwissenschaftlichkeit› verstehen könnte, dass das problematische, diskursiv kaum fixierbare Sujet der Darlegung in deren sprachliche Gestaltung hereingenommen ist, diese folglich phasenweise performative Qualität gewinnt.

4.4.6 Die sprachliche Valorisierung des „objektiven Sinns“. Abschließende Synopse Dem oben Vorgetragenen soll nun noch eine Übersicht über die wichtigsten Facetten der Darstellung hinterhergeschickt werden, die Radbruch von jenem inhaltlichen Substrat gibt, das dingfest zu machen seiner Meinung nach das Geschäft der juristischen Texterklärung ist. Es werden dabei Partien, die sich direkt mit dieser Sonderform der Auslegung befassen, ebenso Berücksichtigung finden wie Erläuterungen zu den als Vergleichs- oder Bezugsgrößen dienenden Anschauungen und Denkfiguren. Denn unbeschadet der Tatsache, dass sich über den Grad an Ähnlichkeit oder Übereinstimmung nichts Definitives sagen lässt, wird man voraussetzen dürfen, dass Radbruch den von ihm genannten exegetischen Verfahren außerhalb des Rechts eine Schlüsselfunktion für die konzeptuellen Disponierung jenes „objektiven Sinnes“ einräumt, der die Ausdrucksintention des empirischen Gesetzgebers transzendieren soll und der sich zunächst wie eine qualitas occulta ausnimmt, mithin einer referentiellen Bestimmung bedarf, wie sie nur durch Kontextualisierung erfolgen kann. Das bedeutet, dass das indefinite Element ein semantisches Profil erhält, indem ihm systematisch sprachliche Korrelate beigefügt werden. Zuvörderst sollen zwei prominente Züge des Radbruch’schen Gesetzesverständnisses hervorgehoben werden: Erstens ist der „objektive“ bzw. „objektiv gültige Sinn“ (R 110), der sich im Rechtssatz dokumentieren soll, eine Anweisung darauf, „wie das Recht zu verstehen ist“. Zweitens äußert sich in ihm der „Wille“ eines über-individuellen Gesetzgebers, welcher zur „Personifikation des Gesamtinhalts der Gesetzgebung“ bzw. zu einem „fingierte[n] Einheitsbewußt-

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sein“ deklariert wird, in das der „Gesetzesinhalt“ gewissermaßen hineinprojiziert ist (R 111). Darüber hinaus ist festzuhalten, dass Radbruch die Philologie nicht als adäquates Muster für die juristische Exegese anerkennt und diese weitaus enger auf „ungleich ältere“ (R 112), später auch als „intuitiv“ (R 113) etikettierte Formen der Auslegung“ denn auf jene Erstere bezogen sieht. Der eher flüchtige Aufriss dieser vage auf „[u]rsprüngliche Zeiten“ (R 112) zurückdatierten Interpretationsweisen akzentuiert diverse, im Kern jedoch homologe Auffassungen von „Sinn“ und „Bedeutung“, wobei hier unentschieden bleiben soll, ob diese Vorstellungen den Deutungspraktiken tatsächlich zugrunde liegen oder ihnen supponiert werden. Von Relevanz ist an dieser Stelle lediglich, dass ihre sprachliche Charakterisierung jene Elemente liefert, die Licht über das juristische Sinnverständnis verbreiten oder ihm gar zu semantischer Ausdifferenzierung verhelfen; sie sind im Folgenden durch KAPITÄLCHEN hervorgehoben. Als Erstes wird das „Orakelwort“ ins Feld geführt und als „Behälter EINES VERBORGENEN SINNES“ apostrophiert, „den, dem Uneingeweihten unerkennbar, erst seine Verwirklichung blitzartig beleuchtet“ (R 112). Danach finden in einem Zuge sowohl Märchen, in denen ein „dem Sprechenden UNBEWUSSTE[R] DOPPELSINN seiner Worte“ notorisch werden soll, als auch frühzeitliche Vorstellungen Erwähnung, denen das Wort als „Naturspiel“ gilt, das „von UNBEWUSSTER UND UNGEWOLLTER BEDEUTUNG durchdrungen“ (R 112) ist. In diesem Rahmen wird die Strömung einer „anthropomorphe[n] Auslegung“ annonciert, die „Naturerscheinungen als Symbole“ versteht und dabei auf „DEN ÜBERBEWUSSTEN SINN“ abzielt (R 112), der aus der nicht-intentionalen Natur extrahiert wird. Diese sprachmagisch imprägnierten Ansätze, die eines methodologischen Unterbaus entbehren, sollen wissenschaftliche Dignität erst durch die Scholastik empfangen; in ihr teilt sich jenes inhaltliche Moment, das über das Bewusstsein und die Aussageabsicht der Autoren der Bibel hinausgeht und dabei obendrein direkt auf „die wirklich gedachten Gedanken“ Gottes leiten soll, in den „VIERFACHEN SCHRIFTSINN“ (R 113). Unmittelbar im Anschluss wird als außerwissenschaftliches Pendant zur scholastischen Textbetrachtung die anlassgebundene Kasualrede namhaft gemacht, als welche „die einzelnen Worte heiliger Schriften OHNE RÜCKSICHT AUF IHREN URSPRÜNGLICHEN SINN IN IMMER NEUEN BEDEUTUNGEN AUFLEUCHTEN“ (R 113) lassen soll. In der Folge ist von „spielendem Tiefsinn“ die Rede, der Lexemen und durch sie konstituierten Äußerungen auch da, wo andere als sakrale Texte zur Behandlung kommen, „hinter dem gemeinten EINEN TIEFEREN SINN“ entlocken soll (R 113). Dieser Gedanke wird mittels eines Zitats von Simmel pointiert, das auf Fälle abstellt, in denen „DAS UNSINNIGE DEN RAHMEN FÜR EINEN SINN hergab, von dem es sich nichts träumen ließ“ (R 113). Den rationalen Widerpart zu solcher spekulativen Texterklärung soll die funktionale „Advokatenlogik“ (R 113) bilden, wie sie in der Ge-

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richtsrede zur Entfaltung gelangt und in welche Radbruch gar die Anfangsgründe der „wissenschaftliche[n] Logik“ (R 113f.) verlegt: Ihr sei es nicht um „den vom Gesetzgeber wirklich gedachten“, sondern um „EINEN IHM ANSINNBAREN SINN“ (R 114) zu tun. Die Vergleichsfolie für die juristische Textuntersuchung wird durch den Verweis auf eine literaturwissenschaftliche Richtung vervollständigt, die sich in Analogie zu jener um die Erschließung eines „OBJEKTIV GÜLTIGEN SINNES DER DICHTUNG“ bemüht, welcher deren „subjektiv gemeinte[m]“ (R 114) gegenübergestellt wird; das Verfahren, das ihn fixieren soll, ist Radbruch zufolge ein strikt werkimmanentes. In ihm realisiert sich eine „Biographik vom Werke aus“ (R 115), die nicht dessen realem Autor nachspürt, sondern einen „ewige[n] Dichter oder Denker, wie er in seinen Schriften „lebt“ und „sich wandelt“ (R 115), porträtieren will. Dieses Konstrukt synkopiert Radbruch unbesehen mit dem überindividuellen Gesetzgeber, von dessen Absicht Kenntnis zu erlangen „Auslegungsziel“ (R 111) der Gesetzesinterpretation sein soll. Radbruch designiert diese Art von Biographik als „individuelle [. . .] Geistesgeschichte“ und stellt ihr eine „kollektive“ (R 111) an die Seite, welche die dem historischen Wandel des Denkens zugrunde liegende Logik sichtbar macht und als Ausfluss eines „objektiven Geistes“ (R 111) angesprochen wird, wie er bei Hegel figuriert; in diesem „Geist“ hat Radbruchs idealer Gesetzgeber denn wohl auch sein eigentliches, originäres Vorbild. Das montageartige paradigmengeschichtliche Tableau wird zuletzt um einige – wie Radbruch sie nennt – „[e]infache Beispiele“ (R 116) ergänzt, die der allgemeinen Erfahrungswelt entnommen sind: Zuerst ist von Rätseln die Rede, für welche es neben der einen Lösung, die ihr Autor vorgesehen hat, „NOCH EINE ZWEITE VON IHM NICHT BEDACHTE“ (R 116) geben soll. Sodann richtet sich der Blick auf das Schachspiel, bei dem ein einzelner Zug „im Zusammenhange des Spieles möglicherweise EINEN GANZ ANDERN SINN“ annimmt, „ALS IHN IHM DER SPIELER BEILEGTE“ (R 116). Analog dazu soll der „gewollte Sinn“ einer Äußerung „NUR TEILSINN IN EINEM UNENDLICHEN SINNZUSAMMENHANG“ sein, in dem er „unübersehbare Wirkungen“ (R 116) auslöst. Es wird in Anknüpfung an ein Aperçu von Goethe obendrein noch die Sprache bzw. ein einzelnes Wort mit „Naturkräften“ und „Gesetzen“ (R 116) sowohl der Natur wie der Logik enggeführt. In dieser Schlusswendung könnte man eine thematische Reprise des vorwissenschaftlichen, das heißt von der formalen Logik unberührten Natursymbolismus gewahren, auf den zu Beginn der hier untersuchten Textpartien ein Schlaglicht fiel.

5 Synthese: ‹Zwieschlächtigkeit› bei Marx, Weber, Knapp und Radbruch Die Funktion dieses Kapitels besteht darin, eine Übersicht über die Figurationen von ‹Zwieschlächtigkeit› zu bieten, die in den voraufgegangenen Interpretationen herausgearbeitet wurden. Es sollen dabei dem Leitprinzip der Untersuchung entsprechend sowohl die Inhalts- als auch die Ausdrucksseite der herangezogenen Schriften von Marx, Weber, Knapp und Radbruch in den Blick genommen werden. Von diesen Texten lässt sich im Rekurs auf eine oben angeführte Bemerkung Viktor von Weizsäckers sagen, dass ein Logik- und Rationalitätsideal, das sich vom naturwissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts und seinen paradigmengeschichtlichen Weiterungen herschreibt, für die Beurteilung ihrer theoretischen Validität kein Maßstab sein kann: Die Autoren gewähren alogischen oder – um auf ein Wort von Weizsäckers zurückzugreifen – „antilogischen“ Denkund Argumentationsmustern Raum, die der Erörterung dazu verhelfen sollen, ein Sujet von paradoxer, das heißt analoger Konstitution fassbar zu machen und zugleich ihr Verhältnis zu demselben zu bestimmen.

5.1 Marx Bei einer abschließenden Würdigung der Beobachtungen, die in den Studien zum „Kapital“ zusammengetragen wurden, ergibt sich folgendes Bild: Der Kapitalismus ist nach Marx in seinen ideellen Fundamenten, aus welchen sich seine Praxis erklären soll, von Dichotomien durchzogen, die dem Konzept der ‹Zwieschlächtigkeit› als paradigmatische Manifestationsgestalten zugeteilt werden können. Es sind dies bei einem hohen Abstraktionsgrad der Betrachtung die Antagonismen ,‹Konstruiertheit› vs. ‹Gegebensein›‘ und ,‹Gesellschaftlichkeit› vs. ‹Naturwüchsigkeit› der wirtschaftlichen Verhältnisse‘ sowie ,‹Materialität/Substantialität› vs. ‹Immaterialität/Nominalität des Geldes›‘, wie sie aus dessen Zeichenhaftigkeit resultiert. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass das Kapital als essentieller ökonomischer Operator seiner Struktur nach antithetisch ist, insofern man es ebenso als ‹Wirkkraft› wie als ‹Bewirktes› zu nehmen hat und sein allgemeinstes Merkmal auf die Formel ,‹Selbigkeit in der Andersheit›‘ bringen kann. Es lassen sich zumindest zwei Antinomien als Kristallisationen dieser Doppelnatur des Geldes kennzeichnen: ,‹Symbolizität des Geldes› vs. ‹Kongruenz der Spezifika eines Geldmetalls mit dessen Gebrauch als Zahlungsmittel›‘ und ,‹Sichtbarkeit/Empirizität› vs. ‹strukturelle Wertigkeit›‘ bzw. ,‹Häufigkeit/Typizität› vs. ‹Repräsentativität einer ökonomischen Erscheinung›‘. Als paradigmatisch ist ferhttps://doi.org/10.1515/9783110727357-005

Weber  271

ner eine Reihe von Relationen einzuschätzen, die nicht klar aus den genannten Elementarbestimmungen abzuleiten und zugleich von derart prinzipieller Bedeutung sind, dass es nicht angehen dürfte, sie diesen zu subsumieren. Es handelt sich um die folgenden: ,‹materielle Beschaffenheit› vs. ‹ökonomische Fungibilität der Güter›‘, ,‹Funktionalisierung› vs. ‹Verdinglichung des Goldes›‘, ,‹Rationalität› vs. ‹Irrationalität›‘ und, damit verbunden, ,‹Rationalisierung› vs. ‹Mystifizierung, auch Sakralisierung wirtschaftlicher Verhältnisse›‘, welchem Punkt man noch den Dualismus ,‹Personifizierung der Sache› vs. ‹Versachlichung der Personen›‘ zuschlagen müsste. Auch die Oppositionen ,‹Kontrolliertheit› vs. ‹Autonomie›‘ und ,‹Soziabilität› vs. ‹Hermetik›‘ gehören in diesen Zusammenhang. Zur Form von Marxens chef d’œuvre ist zu bemerken, dass es sich durch komplementäre Schreibweisen auszeichnet, die nebeneinander herlaufen, bisweilen aber auch synchronisiert sind, wodurch Mikrosequenzen, wie sie im Mittelpunkt der Erörterung standen, ein nicht weniger heterogenes Ansehen annehmen, als es die großflächigen Strukturen mit ihrer Tendenz zur montagehaften Verschränkung unterschiedlicher Textkomponenten zeigen. Hier ist in erster Linie die Dichotomie von wissenschaftlich-diskursiver, terminologisch gebundener, theoretisierender und rhetorisch akzentuierter Darstellung zu nennen. Ihr kann das Kontrastpaar ,abstrahierende Typisierung vs. versinnlichende Personifizierung‘ an die Seite gestellt werden, das der eben aufgeführten gedanklichen Zweiheit ,‹Personifizierung der Sache› vs. ‹Versachlichung der Personen›‘ korrespondiert und sich ebenso auch mit der basalen Antithese ,‹Homogenisierung› vs. ‹Differenzierung›‘ in Verbindung bringen lässt. Man kann schließlich noch den Widerstreit zwischen deskriptiv-registrierender Erfassung eines ökonomisch-gesellschaftlichen status quo auf der einen und transkriptiven Darstellungstechniken wie Metaphorisierung und parodistischer Überspitzung auf der anderen Seite anführen: Im diskursiven und im nicht-diskursiven Stil, die hier als zentrale Pole anzusetzen sind, nehmen offenkundig zwei divergierende Haltungen gegenüber dem Sujet Konturen an.

5.2 Weber Im Ganzen gesehen ist das theoretische Insigne, das der Kapitalismus in Webers „Vorbemerkung“ erhält, durch ‹Zwieschlächtigkeit› determiniert, insofern das moderne Wirtschaftssystem einerseits von beispielhaften Einzelphänomenen her ins Auge gefasst, andererseits als eine Art qualitas occulta gedacht wird, die nicht befriedigend durch analytisch fixierbare Faktoren zu erklären ist und für die sich kein klares Definiens findet. Webers Kapitalismusbegriff ist somit gleichermaßen abstrakt und phänomenbezogen: Seinem Referenten werden gegensinnige Attri-

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bute wie ‹absolut›, ‹unbedingt›, ‹zeit- und ortsabhängig› sowie ‹in seiner Besonderheit kenntlich bzw. sprachlich fassbar und verstellt› zugeordnet; Entwicklungen, die der Kapitalismus im Gefolge hat, gelten gleichermaßen als ‹symptomatisch› und ‹kontingent›. Die Paradoxie des Prinzips wird obendrein dadurch verschärft, dass Weber bei seiner diachronischen Betrachtung dem ‹neuzeitlich-okzidentalen, rationalen› einen ‹nicht- bzw. irrationalen› Kapitalismus vorschaltet, ‹Rationalität› jedoch auch als Kriterium für die Identifizierung eines wirtschaftlichen Systems als eines kapitalistischen ins Treffen führt. Webers Konzeption von ‹Rationalität› ist wiederum insofern spannungsvoll, als ihr bald Prinzipien-, bald Ereignischarakter supponiert wird. ‹Rationalismus› wird erst so konzipiert, als sei er entweder vorhanden oder nicht, ohne dass der Grad seiner Ausbildung von Relevanz wäre, und daraufhin wie eine Größe behandelt, die sich in vielfachen quantitativen Abstufungen präsentiert. Zudem oszilliert die inhaltliche Durchführung des Begriffs zwischen einer engen, pointierten Lesart, in der er auf eine neuzeitlich-okzidentale Ausprägung des Signifikats ausgelegt ist, und einer allgemeineren Deutung, nach der er sich mit irrationalen Erscheinungen verträgt (insofern er auf einzelne Züge derselben geht): Einer semantischen Spezialisierung steht eine nachgerade dekonstruktivistisch anmutende Expansion des Terminus gegenüber, die seine konzeptuelle Zerstreuung zur Folge hat. Nach seiner kompositorischen Seite lässt Webers Text eine elementare Spannung erkennen, deren Ursache darin liegt, dass zum einen – und zwar in durchaus emphatischem Duktus – eine erschöpfende begriffliche Ausdifferenzierung des Kapitalismus unternommen und zum anderen die Definition als deren kanonischer Modus im Verlaufe ihrer sprachlichen Realisierung ausgehebelt wird: Sie macht sukzessive einem kontextualisierenden Vorgehen Platz. In der Darstellung konfligiert ein positivistischer, registrierender Gestus mit einem Zug zu terminologischer Überformung und konfigurativer Gruppierung inhaltlicher Details, in dem sich ein für Weber konstitutives reflexives Procedere anmeldet: Das sequentielle Moment des Textes, die additive Reihung einzelner Größen, die Weber als solche, das heißt als Daten, stehen lässt, ohne sie gedanklich zu modulieren, trifft auf einen Ansatz, der ihre Integration in einen übergeordneten Zusammenhang zum Ziel hat, wie er in der Terminologie sedimentiert ist. Deren Einheiten wiederum können als ‹zwieschlächtig› apostrophiert werden, weil sich zum einen ein überaus ambitionierter Erkenntnisanspruch an sie knüpft, der auf das Eigentliche einer Erscheinung gerichtet ist, und weil sie zum anderen hochgradig spezialisiert, auf ein denkbar schmales Realitätssegment verengt und zugleich standortabhängig sind. Der Begriff ist bei aller Artifizialität gegen einen reflexiven Gestus durchsichtig gehalten und deutet mittelbar auf ein dem Denken vorgängiges kog-

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nitives Substrat hin; in ihm machen sich ein konstruktivistischer Impuls und ein Regulativ der Reflexion, das sich dieser selbst entzieht und den Rang einer anthropologischen Universalie innehat, bemerkbar.

5.3 Knapp In Knapps „Staatlicher Theorie des Geldes“ finden sich Merkmale von ‹Zwieschlächtigkeit› inner- wie auch unterhalb der Aussage, zum Beispiel in der Disposition der Argumentation, in den ihr zugrunde liegenden Anschauungen, die gedanklich nur gelegentlich eingeholt werden, also in einem präreflexiven Ordo des Chartalismus. Als inhaltliche Größe erhält ‹Zwieschlächtigkeit› ihr Relief zunächst in der Verknüpfung von wissenschaftlicher Definition und institutionellem Dekret: Die dabei entstehende Relation ist unscharf, insofern die beiden Momente bald einander angeglichen, bald voneinander abgehoben werden. Einmal scheint die Proklamation als deklarativer Sprechakt an der theoretischen Begriffsbestimmung modelliert und ihr ein anderes Mal entgegengesetzt; zum Dritten werden Statute wie diejenigen, auf denen das staatliche Handeln beruht, der Begriffsklärung selbst als operative Komponente zugeschrieben. Das Verhältnis von institutioneller, politischer und wissenschaftlicher Bedeutungsstiftung schillert demnach zwischen Identität und Unterschiedenheit. Aporetisch mutet überdies die Knapp’sche Variante des Nominalismus an: Für sie wird reklamiert, dass sie die wirklichen, das heißt: die tatsächlichen ökonomischen Verhältnisse zutage bringt, über welche die phänomenalen offenbar systematisch hinwegtäuschen sollen; aus diesem Anspruch erwächst für den Theoretiker die Konsequenz, dass er es allenthalben mit kontraintuitiven Weiterungen aufzunehmen hat. Die Wirtschaft teilt sich nach Knapp in eine trügerische Oberflächenrealität und in eine meta- oder transphänomenale Basis, auf deren Verständnis alles ankommt, zu der man sich jedoch bloß unter großen Mühen einen gedanklichen Zugang zu verschaffen vermag. Die Anschauungen des Laien, die sich unter dem beherrschenden Eindruck der materiellen Außenseite des Geldes herausgebildet haben und denen der Metallismus das Wort redet, sind nicht per se unrichtig, wohingegen die Befunde des chartalistischen Nominalismus keine Evidenz besitzen oder sich sogar „anormal“ ausnehmen, weil sie an die ideelle Tiefenschicht der Phänomene gebunden sind: Bei Knapp sind die stoffliche und die ideelle Schicht ökonomischer Momente antithetisch. Zugleich aber wird suggeriert, dass die im metaökonomischen Unterbau situierten Größen letztlich ebenso klar seien wie empirische, das Kriterium der Evidenz also auf gedankliche Modelle angewendet werden könne, auch wenn sie nicht ohne Weiteres auf die empiri-

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sche Erfahrungswirklichkeit projizierbar sind. Damit aber wird der Evidenzbegriff an sich problematisch. Etwas ‹Zwieschlächtiges› haftet darüber hinaus dem Nominalismus an, denn es bleibt dunkel, inwieweit er als konzeptuelle Repräsentationsfolie für die wirtschaftliche Realität gedacht und inwieweit er mit dieser gleichgesetzt ist. Die Antinomie, die am Verhältnis von Definition und Dekret konstatiert wurde, lässt sich mithin auf den allgemeineren Konnex von Theorie und Wirklichkeit übertragen: Sie reicht tief in die Konstitutionsbasis des Chartalismus hinein und wird zumindest bei Knapp nicht näher thematisiert. Eine analytisch schwer zu durchdringende Ambivalenz eignet auch der Kategorie der ‹Nominalität› selbst, insofern sie zwischen Aktualität und Potentialität changiert, woraus folgt, dass nominale Größen nicht unbesehen für ontisch erklärt werden können. Das expansive terminologische System von Knapp ist ebenfalls durch strukturelle Antagonismen charakterisiert, die nur selten auf die Ebene der Aussage gehoben werden. Einerseits bekundet sich in dem massiven Begriffsapparat eine rationalistische Gesinnung oder konkreter: die Vorstellung, dass die Wirtschaft mitsamt ihren Kernbestimmungen und Konstituenten in allen Stücken intellektuell zu bewältigen sei. Andererseits verzichtet Knapp auf eine definitorische Klärung der Bedeutung des Lexems Zahlungsmittel und nimmt somit eine auffällige Leerstelle im konzeptuellen Unterbau seiner Theorie in Kauf, woran sich zeigt, dass der Anspruch auf geistige Ergründung der ökonomischen Praxis nicht restlos erfüllt werden kann. Hier wird dem Glauben an Erkenntnismächtigkeit und Produktivität der Terminologisierung durch eine agnostizistische Gebärde der Schein von Unbedingtheit genommen, jedoch nach wie vor an der Prämisse festgehalten, dass dem Begriff axiomatische Gültigkeit zukommt. Die Terminologie ist obendrein in ihrer konzeptuellen Unterlage zwischen Arbitrarität und Artifizialität – Eigenschaften, die auf ein konstruktivistisches Movens der Theoriebildung hindeuten – und einem strukturellen Isomorphismus von fachsprachlichem Zeichen und Bezeichnetem gespannt. Knapps erklärte Absicht, lesbare Begriffe zu liefern, die verstellte Zusammenhänge in den Lichtkegel ziehen oder deren gedankliche Gehalte gar mit ökonomischen Substraten identisch sind, wird von der Wirkung der Begriffsbildung durchkreuzt: Knapp selbst muss eingestehen, dass die Diktion buchstäblich die Anmutung einer Kunstsprache erhält.

5.4 Radbruch Dass es auch in der Rechtswissenschaft Erscheinungen gibt, die als Ausformungen struktureller ‹Zwieschlächtigkeit› gewertet werden können, erhellt aus einer näheren Betrachtung der rechtstheoretischen Überlegungen von Radbruch. Am-

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bivalenz in der für diese Arbeit einschlägigen Gestalt lässt die juristische Exegese gerade in der Darstellung, die Radbruch von ihr vorlegt, erkennen. Das hängt zunächst damit zusammen, dass Rechtstexten, vor allem Gesetzen, ein überzeitlichabsoluter Geltungsanspruch konzediert wird, ihre Konstituierung aber in ihren einzelnen Stadien – Niederschrift, Auslegung und Anwendung – auf Instanzen mit individuellem Erfahrungshorizont und spezifischer wissenschaftsgeschichtlicher Prägung zurückführbar ist. Diese Janusköpfigkeit des Schrifttums im Recht findet offenbar auf seiner Ausdrucksseite bzw. auf der parole-Ebene einen Niederschlag: Die intentionale, perspektivische und situative Gebundenheit von Gesetzen ist konzeptuell mit ihrer Textualität verklammert; ihre mediale Verfasstheit bildet einen Kontrapunkt zu der ihnen beigemessenen Autorität und illokutionären Wirkabsicht. Diese hier recht stark pointierten Untersuchungsergebnisse werden durch Äußerungen relativiert, die darauf abzielen, Gesetze von ihren Urhebern abzulösen und aus ihrem Entstehungskontext hinauszurücken. Es hat aber doch auch den Anschein, als solle ihnen qua Texten grundsätzliche, das heißt strukturelle ‹Zwieschlächtigkeit› zugewiesen werden; Radbruch buchstabiert diese Denkfigur aus, indem er sie mit dem Verhältnis von Realität und Idealität verschränkt. Er gelangt dabei zu einer Reihe von Gegensatzpaaren, denen unsere Studie jeweils eine konzise begriffliche Fassung zu verleihen suchte: − − − − −

‹Imperativ› vs. ‹Norm› ‹sein›, ‹wirken› vs. ‹bedeuten›, ‹gelten› ‹sich durchsetzendes Wollen› vs. ‹sich setzendes Sollen› ‹wirken wollende Wirklichkeit› vs. ‹zu verwirklichende Nichtwirklichkeit› ‹Mittel› vs. ‹Zweck›

Radbruch spricht der juristischen Textdeutung ebenfalls eine antagonistische Disposition zu, durch die sie ihrem Gegenstand, genauer: seiner Transtemporalität und Dynamik, korrespondiert. Sie soll sich zum einen durch Objektivität und methodologische Stringenz auszeichnen, zum anderen aber auch den Wortlaut der Gesetze und die diskursiven Erkenntnisprozeduren der Rechtswissenschaft überspielen: Unter diesen Voraussetzungen ist sie transkriptiv insofern, als sie die Reflexion über den sie fundierenden Ordo und das überkommene Objektivitätspostulat hinaustreibt. Sie birgt somit zumindest unterschwellig auch ein nichtrationales Moment in sich. Radbruch konkretisiert die für die Auslegungspraxis konstitutive ‹Zwieschlächtigkeit›, indem er jene als „unlösbares Gemisch theoretischer und praktischer, erkennender und schöpferischer, reproduktiver und

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produktiver, wissenschaftlicher und überwissenschaftlicher, objektiver und subjektiver Elemente“272 tituliert. Indem sie den Wortlaut eines Gesetzes überschreibt und sich von der Mitteilungsabsicht des empirischen Autors bzw. von der Pflicht zu deren Ermittlung dispensiert, stellt die Interpretation die Anwendbarkeit des Textes auf die unterschiedlichsten Ereignisse und in eins damit die Legitimität seines überzeitlichen Geltungsanspruchs unter Beweis. Die Normativität von Rechtssätzen ist derart gerade durch deren semantische Potentialität bedingt, die sie produktiv macht und die man prima facie für den gedanklichen Kontrapost zum Anspruch auf Verbindlichkeit erachten könnte; dieses Merkmal ließe sich ebenfalls zur Figuration von ‹Zwieschlächtigkeit› in der textuellen Verfasstheit der Gesetze deklarieren. Die Aktualisierung ihrer Bedeutungsreserven, die im Ermessen des Interpreten liegt, soll in letzter Instanz von einem überpersönlichen Gesetzgeber gedeckt sein, der mit dem empirischen nicht in eins zu setzen ist.

 272 Der Nachweis des Zitates findet sich oben auf S. 251.

6 Schluss: Rückschau und Ausblick Nachdem nun die wichtigsten Befunde dieser Studie ausgebreitet worden sind, dürfte es zweckmäßig sein, noch einmal deren Hauptlinien nachzuzeichnen und ihren theoretischen Hintergrund zu umreißen. Es soll darum auf den nächsten Seiten möglichst konzise rekapituliert werden, was im Vorigen gewollt, getan und geleistet wurde; bei der Darstellung der Resultate ist es darauf abgesehen, ihre Relevanz für die philologische Textauslegung im Allgemeinen und für eine geistesund kulturgeschichtlich orientierte Sprachwissenschaft im Besonderen, das heißt für die zwei der großen Paradigmen, in deren Schnittpunkt die Arbeit steht, zu erweisen. Weiterhin ist hier der Ort, einige der Fragen zu streifen, die sich erst bei einer solchen Rückschau auftun und die nach einer weiterführenden, vertiefenden Erörterung verlangen, zu der freilich nur mehr einzelne Anstöße geliefert werden können. Das eingangs ausgegebene Ziel darf als erreicht gelten: Es wurden vier ausgewählte Schriften auf Aporien bzw. auf widersprüchliche und spannungsvolle Merkmalsbündel untersucht, die sich mit verschiedenen Ausprägungen sprachlicher Unterbestimmtheit in Zusammenhang bringen lassen, und es gelang, Antinomien und Inkonsistenzen in ihren Manifestationsgestalten auf der Ausdrucksseite auszumachen und Aufschluss über ihre konzeptuellen Voraussetzungen zu gewinnen. Eine geordnete Aufstellung der Elemente, auf die hierbei Licht fiel, findet sich im fünften Kapitel; es ist nicht nötig, sie hier noch einmal einzeln zu benennen. Das Augenmerk richtet sich gleichermaßen auf Form und Inhalt; es wurde der Versuch unternommen, beide Konstituenten als wechselseitig aufeinander einwirkende zu beschreiben und dabei Verfahrensweisen der Text- und Diskurslinguistik zum einen an philologische Deutungstraditionen zurückzubinden, zum anderen in einen hermeneutischen Problemhorizont zu rücken. Die Beschäftigung mit der Form hatte in erster Linie zur Aufgabe, markante und strukturell bedeutsame gestalterische Details auf den Ebenen von Argumentationsaufbau, Lexik, Rhetorik, Stilistik, Syntax und Textkomposition – soweit möglich – in einen inhaltlichen Kontext einzustellen, zu motivieren und in ihrem Funktionspotential zu bestimmen. Das Interesse wandte sich in diesem Rahmen vor allem solchen textuellen Formationen zu, die auf den Leser exponiert wirken und an die darum die Kategorie der poetische Funktion, wie Jakobson sie gefasst hat, herangetragen werden kann: Solche Gebilde ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers auch deshalb auf sich, weil ihr Gebrauchssinn sich unter einer ausschließlich pragmatischen Perspektive nicht oder nur ansatzweise aufhellen lässt und weil sie den Inhalt zu verklausulieren scheinen und so das Verständnis erschweren, kommunikativen https://doi.org/10.1515/9783110727357-006

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Maßstäben, die für gewöhnlich an funktionale Texte angelegt werden, folglich zumindest nach außen hin zuwiderlaufen. In Hinblick auf die Referenzdimension ist festzuhalten, dass die Beschäftigung mit den formalen Parametern die Frage aufwarf, welcher kategoriale Status den an sie gebundenen Inhalten zu attestieren sei, zumal dann, wenn deren Konfigurierung den Eindruck erweckt, dass sich die Aussage nicht oder nur zum Teil mit dem mitzuteilenden Gedanken deckt und der sprachliche Ausdruck somit nicht nur Medium einer vor- oder außersprachlichen Größe ist, sondern einen gewichtigen Beitrag zu der Konstituierung des Darzustellenden leistet. Diese Frage hat weitere im Gefolge, von denen hier nur solche angeführt werden sollen, die für die Betrachtung von besonderem Belang gewesen sind: Was artikuliert sich, neben dem diskursiven, propositionalen Sinn, in den Texten, die im Vorigen thematisiert wurden, noch? Kann man sagen, dass zu konzeptuellen Momenten, die in der Bedeutung eines Ensembles von sprachlichen Zeichen gleichsam abgebildet bzw. satz- und textsemantisch aktualisiert sind, zusätzliche semantische Informationen oder Inhaltskomponenten treten, die als latent oder virtuell zu apostrophieren sind? Und wenn dem so ist: Wie ist es um das Verhältnis von propositionalem Sinn und semantischem Potential bestellt? Steht hier wirklich eine qualitative, nicht eher eine graduelle Differenz in Rede? Darauf kann man erwidern, dass es zwar dem derzeit vorherrschenden konstruktivistischen Paradigma gemäß ist, Bedeutung ausnahmslos als interpretatives Artefakt und nicht als objektiv Gegebenes anzusehen, das sich direkt an einem Text ablesen lässt, dass es aber etwa im Falle wissenschaftlicher Abhandlungen, von denen gemeinhin Verständlichkeit und Konsistenz erwartet werden, stichhaltig sein mag, zwei Idealtypen der Darstellung einander entgegenzusetzen: Formate, bei denen vom Wortlaut geradewegs auf das Gemeinte geschlossen werden kann, und solche, die beträchtliche exegetische Anstrengungen erfordern, jedoch nicht auf eine den Sinn ihrer Vorlage vollends ausschöpfende, zwingende Auslegung führen. Zum ersten Typus zählen terminologisch gebundene Äußerungen, deren Proposition im Wesentlichen aus lexikalischen Konstellationen mit klarer Bedeutung herausgeschält werden kann, zum zweiten semantisch unscharfe Gebilde, implizite oder insinuierende Mitteilungen, die sich im interpretativen Nachvollzug nur bedingt – und immer vorläufig – in eine begriffliche Armatur oder in eine diskursive Formulierung einpassen lassen. Verkürzt gesprochen, kann man semantisch bestimmte von semantisch unterbestimmten Textgestalten abgrenzen: Letzteren wurden in dieser Arbeit alle Erscheinungen zugeordnet, bei denen die begriffliche Kondensierung konzeptueller Komplexe von figurativen Momenten, also zum Beispiel von rhetorischen Mitteln, überlagert oder durch antithetische Präsentationsformen mit der Tendenz zur semantischen Veränderung und Öff-

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nung von Termini ersetzt ist. (Die hier vorgenommene Unterscheidung ist nota bene eine rein heuristische und dient vornehmlich operativen Zwecken.) Der Schwerpunkt des exegetischen Teils der Arbeit lag auf der Darstellung und Erläuterung nicht-diskursiver Formationen wie der soeben erwähnten. Das Lexem Zwieschlächtigkeit diente dabei zur Bezeichnung einer charakteristischen Spielart sprachlicher Unterbestimmtheit, wie sie, mannigfach nuanciert, an sämtlichen der konsultierten Schriften zu gewahren ist. Das Nomen wurde von Marx entlehnt, der es gebrauchte, um eine dominante Eigenschaft ökonomischer Größen anzuzeigen; man darf bei einem derart sprachbewussten Schriftsteller wie Marx getrost davon ausgehen, dass das, was er meinte, von keinem Ausdruck so gut getroffen wird wie von dem, den er prägte, was es denn auch rechtfertigt, die Metasprache der Untersuchung, wie es im Vorigen geschah, auf dem Wort Zwieschlächtigkeit aufzubauen. Es wurde auf formale Merkmale des „Kapitals“, einer Weber’schen Kapitalismusdefinition und eines paradigmatischen Dokuments des Chartalismus appliziert, die sich jeweils als sprachliche Responsionen auf die aporetischen Züge des Gegenstandsbereichs der Texte und der in ihnen entfalteten Konzepte verstehen lassen. Dieses Verfahren, das Inhalts- und Ausdrucksebene systematisch ineinanderspiegelt, fand zwecks Ausweitung des Stoffkreises in der Folge auch auf Radbruchs „Rechtsphilosophie“ Anwendung: auf ein Werk, das ebenfalls von unüberbrückbar anmutenden inhaltlichen Spannungen und Widersprüchen durchzogen scheint. Als terminologische Kennung bot Zwieschlächtigkeit eine Handhabe, zerstreute konzeptuelle und sprachliche Momente, die nach außen disparat anmuten mögen, im Kern aber gleichsinnig sind, zusammenzufassen und auf eine diskursive Grundfigur zurückzuführen, die den gemeinsamen Nenner verschiedener individueller Denkstile bildet und für deren strukturelle Analogie ursächlich ist. Damit kommt, wenn man das Textkorpus en bloc in den Blick nimmt, eine diskurssemantische Konstante zum Vorschein; konzentriert man sich auf die einzelnen Texte, lassen sich so Formen einer flächigen Bedeutungsbildung sensu Gardt ermitteln und beschreiben. Zum einen rücken also strukturelle Besonderheiten von Schriften in den Vordergrund, die bislang nicht unter einem philologischen Aspekt beleuchtet und auf ihre gestalterischen Qualitäten angesehen worden sind; in der konzeptographischen und diskurssemantischen Betrachtungsdimension profiliert sich zum anderen eine ideengeschichtliche Traditionslinie, deren perspektivischer Fluchtpunkt ein im Innersten sprachgebundenes, metatheoretisches Denken ist, das sich von den überkommenen logischen Kategorien und Ordnungsprinzipien losgesagt hat und in seiner Innovationskraft für die Ausdifferenzierung geisteswissenschaftlicher Reflexionsmuster im 20. Jahrhundert von kaum zu überschätzender Tragweite ist.

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Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher-und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen? Nur im Okzident gibt es „Wissenschaft“ in dem Entwicklungsstadium, welches wir heute als „gültig“ anerkennen. Empirische Kenntnisse, Nachdenken über Welt- und Lebensprobleme, philosophische und auch – obwohl die Vollentwicklung einer systematischen Theologie dem hellenistisch beeinflußten Christentum eignet (Ansätze nur im Islam und bei einigen indischen Sekten) – theologische Lebensweisheit tiefster Art, Wissen und Beobachtung von außerordentlicher Sublimierung hat es auch anderwärts, vor allem: in Indien, China, Babylon, Aegypten, gegeben. Aber: der babylonischen und jeder anderen Astronomie fehlte – was ja die Entwicklung namentlich der babylonischen Sternkunde nur um so erstaunlicher macht – die mathematische Fundamentierung, die erst die Hellenen ihr gaben. Der indischen Geometrie fehlte der rationale „Beweis“: wiederum ein Produkt hellenischen Geistes, der auch die Mechanik und Physik zuerst geschaffen hat. Den nach der Seite der Beobachtung überaus entwickelten indischen Naturwissenschaften fehlte das rationale Experiment: nach antiken Ansätzen wesentlich ein Produkt der Renaissance, und das moderne Laboratorium, daher der namentlich in Indien empirisch-technisch hochentwickelten Medizin die biologische und insbesondere biochemische Grundlage. Eine rationale Chemie fehlt allen Kulturgebieten außer dem Okzident. Der hochentwickelten chinesischen Geschichtsschreibung fehlt das thukydideische Pragma. Macchiavelli hat Vorläufer in Indien. Aber aller asiatischen Staatslehre fehlt eine der aristotelischen gleichartigen Systematik und die rationalen Begriffe überhaupt. Für eine rationale Rechtslehre fehlen anderwärts trotz aller Ansätze in Indien (Mimamsa-Schule), trotz umfassender Kodifikationen besonders in Vorderasien und trotz aller indischen und sonstigen Rechtsbücher, die streng juristischen Schemata und Denkformen des römischen und des daran geschulten okzidentalen Rechtes. Ein Gebilde ferner wie das kanonische Recht kennt nur der Okzident. Aehnlich in der Kunst. Das musikalische Gehör war bei anderen Völkern anscheinend eher feiner entwickelt als heute bei uns; jedenfalls nicht minder fein. https://doi.org/10.1515/9783110727357-007

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Polyphonie verschiedener Art war weithin über die Erde verbreitet, Zusammenwirken einer Mehrheit von Instrumenten und auch das Diskantieren findet sich anderwärts. Alle unsere rationalen Tonintervalle waren auch anderwärts berechnet und bekannt. Aber rationale harmonische Musik: – sowohl Kontrapunktik wie Akkordharmonik, – Bildung des Tonmaterials auf der Basis der drei Dreiklänge mit der harmonischen Terz, unsre, nicht distanzmäßig, sondern in rationaler Form seit der Renaissance harmonisch gedeutete Chromatik und Enharmonik, unser Orchester mit seinem Streichquartett als Kern und der Organisation des Ensembles der Bläser, der Generalbaß, unsre Notenschrift (die erst das Komponieren und Ueben moderner Tonwerke, also ihre ganze Dauerexistenz überhaupt, ermöglicht), unsre Sonaten, Symphonien, Opern, – obwohl es Programmusik, Tonmalerei, Tonalteration und Chromatik als Ausdrucksmittel in den verschiedensten Musiken gab, – und als Mittel zu dem alle unsre Grundinstrumente: Orgel, Klavier, Violine: dies alles gab es nur im Okzident. Spitzbogen hat es als Dekorationsmittel auch anderwärts, in der Antike und in Asien, gegeben; angeblich war auch das Spitzbogen-Kreuzgewölbe im Orient nicht unbekannt. Aber die rationale Verwendung des gotischen Gewölbes als Mittel der Schubverteilung und der Ueberwölbung beliebig geformter Räume und, vor allem, als konstruktives Prinzip großer Monumentalbauten und Grundlage eines die Skulptur und Malerei einbeziehenden Stils, wie sie das Mittelalter schuf, fehlen anderweitig. Ebenso aber fehlt, obwohl die technischen Grundlagen dem Orient entnommen waren, jene Lösung des Kuppelproblems und jene Art von „klassischer“ Rationalisierung der gesamten Kunst – in der Malerei durch rationale Verwendung der Linear- und Luftperspektive – welche die Renaissance bei uns schuf. Produkte der Druckerkunst gab es in China. Aber eine gedruckte: eine nur für den Druck berechnete, nur durch ihn lebensmögliche Literatur: „Presse“ und „Zeitschriften“ vor allem, sind nur im Okzident entstanden. Hochschulen aller möglichen Art, auch solche, die unsern Universitäten oder doch unsern Akademien äußerlich ähnlich sahen, gab es auch anderwärts (China, Islam). Aber rationalen und systematischen Fachbetrieb der Wissenschaft: das eingeschulte Fachmenschentum, gab es in irgendeinem an seine heutige kulturbeherrschende Bedeutung heranreichenden Sinn nur im Okzident. Vor allem: den Fachbeamten, den Eckpfeiler des modernen Staats und der modernen Wirtschaft des Okzidents. Für ihn finden sich nur Ansätze, die nirgends in irgendeinem Sinn so konstitutiv für die soziale Ordnung wurden wie im Okzident. Natürlich ist der „Beamte“, auch der arbeitsteilig spezialisierte Beamte, eine uralte Erscheinung der verschiedensten Kulturen. Aber die absolut unentrinnbare Gebanntheit unserer ganzen Existenz, der politischen, technischen und wirtschaftlichen Grundbedingungen unseres Daseins, in das Gehäuse einer fachgeschulten Beamten-

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organisation, den technischen, kaufmännischen, vor allem aber den juristisch geschulten staatlichen Beamten als Träger der wichtigsten Alltagsfunktionen des sozialen Lebens, hat kein Land und keine Zeit in dem Sinn gekannt, wie der moderne Okzident. Ständische Organisation der politischen und sozialen Verbände ist weit verbreitet gewesen. Aber schon den Ständestaat: „rex et regnum“, kannte im okzidentalen Sinn nur der Okzident. Und vollends Parlamente von periodisch gewählten „Volksvertretern“, den Demagogen und die Herrschaft von Parteiführern als parlamentarisch verantwortliche „Minister“ hat – obwohl es natürlich „Parteien“ im Sinn von Organisationen zur Eroberung und Beeinflussung der politischen Macht in aller Welt gegeben hat – nur der Okzident hervorgebracht. Der „Staat“ überhaupt im Sinn einer politischen Anstalt, mit rational gesatzter „Verfassung“, rational gesatztem Recht und einer an rationalen, gesatzten Regeln: „Gesetzen“, orientierten Verwaltung durch Fachbeamte, kennt, in dieser für ihn wesentlichen Kombination der entscheidenden Merkmale, ungeachtet aller anderweitigen Ansätze dazu, nur der Okzident. Und so steht es nun auch mit der schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens: dem Kapitalismus. „Erwerbstrieb“, „Streben nach Gewinn“, nach Geldgewinn, nach möglichst hohem Geldgewinn hat an sich mit Kapitalismus gar nichts zu schaffen. Dies Streben fand und findet sich bei Kellnern, Aerzten, Kutschern, Künstlern, Kokotten, bestechlichen Beamten, Soldaten, Räubern, Kreuzfahrern, Spielhöllenbesuchern, Bettlern: – man kann sagen: bei „all sorts and conditions of men“, zu allen Epochen aller Länder der Erde, wo die objektive Möglichkeit dafür irgendwie gegeben war und ist. Es gehört in die kulturgeschichtliche Kinderstube, daß man diese naive Begriffsbestimmung ein für allemal aufgibt. Schrankenloseste Erwerbsgier ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus, noch weniger gleich dessen „Geist“. Kapitalismus kann geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung, dieses irrationalen Triebes. Allerdings ist Kapitalismus identisch mit dem Streben nach Gewinn, im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb: nach immer erneutem Gewinn: nach „Rentabilität“. Denn er muß es sein. Innerhalb einer kapitalistischen Ordnung der gesamten Wirtschaft würde ein kapitalistischer Einzelbetrieb, der sich nicht an der Chance der Erzielung von Rentabilität orientierte, zum Untergang verurteilt sein. – Definieren wir zunächst einmal etwas genauer als es oft geschieht. Ein „kapitalistischer“ Wirtschaftsakt soll uns heißen zunächst ein solcher, der auf Erwartung von Gewinn durch Ausnützung von Tausch-Chancen ruht: auf (formell) friedlichen Erwerbschancen also. Der (formell und aktuell) gewaltsame Erwerb folgt seinen besonderen Gesetzen und es ist nicht zweckmäßig (so wenig man es jemand verbieten kann) ihn mit dem (letztlich) an Tauschgewinn-Chancen orientierten Han-

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deln unter die gleiche Kategorie zu stellen1. Wo kapitalistischer Erwerb rational erstrebt wird, da ist das entsprechende Handeln orientiert an Kapitalrechnung. Das heißt: es ist eingeordnet in eine planmäßige Verwendung von sachlichen oder persönlichen Nutzleistungen als Erwerbsmittel derart: daß der bilanzmäßig errechnete Schlußertrag der Einzelunternehmung an geldwertem Güterbesitz (oder der periodisch bilanzmäßig errechnete Schätzungswert des geldwerten Güterbesitzes eines kontinuierlichen Unternehmungsbetriebs) beim Rechnungsabschluß das „Kapital“: d.h. den bilanzmäßigen Schätzungswert der für den Erwerb durch Tausch verwendeten sachlichen Erwerbsmittel übersteigen (bei der Dauerunternehmung also: immer wieder übersteigen) soll. Einerlei ob es sich um einen Komplex von in natura einem reisenden Kaufmann in Kommenda gegebenen Waren handelt, deren Schlußertrag wiederum in erhandelten anderen Waren in natura bestehen kann, oder: um ein Fabrikanwesen, dessen Bestandteile Gebäude, Maschinen, Vorräte an Geld, Rohstoffen, Halb- und Fertigprodukten, Forderungen darstellen, denen Verbindlichkeiten gegenüberstehen: – stets ist das Entscheidende: daß eine Kapitalrechnung in Geld aufgemacht wird, sei es nun in modern buchmäßiger oder in noch so primitiver und oberflächlicher Art. Sowohl bei Beginn des Unternehmens: Anfangsbilanz, wie vor jeder einzelnen Handlung: Kalkulation, wie bei der Kontrolle und Ueberprüfung der Zweckmäßigkeit: Nachkalkulation, wie beim Abschluß behufs Feststellung: was als „Gewinn“ entstanden ist: Abschlußbilanz. Die Anfangsbilanz einer Kommenda ist z.B. die Feststellung des zwischen den Parteien geltensollenden Geldwertes der hingegebenen Güter, – soweit sie nicht schon Geldform haben –, ihre Abschlußbilanz die der Verteilung von Gewinn oder Verlust am Schluß zugrunde gelegte Abschätzung; Kalkulation liegt – im Rationalitätsfall – jeder einzelnen Handlung des Kommendanehmers zugrunde. Daß eine wirklich genaue Rechnung und Schätzung ganz unterbleibt: rein schätzungsmäßig oder einfach traditionell und konventionell verfahren wird, kommt in jeder Form von kapitalistischer Unternehmung bis heute vor, wo immer die Umstände nicht zu genauer Rechnung drängen. Aber das sind Punkte, die nur den Grad der Rationalität des kapitalistischen Erwerbs betreffen. Es kommt für den Begriff nur darauf an: daß die tatsächliche Orientierung an einer Vergleichung des Geldschätzungserfolges mit dem Geldschätzungseinsatz, in wie primitiver Form auch immer, das wirtschaftliche Handeln entscheidend bestimmt. In diesem Sinne nun hat es „Kapitalismus“ und „kapitalistische“ Unternehmungen, auch mit leidlicher Rationalisierung der Kapitalrechnung, in allen Kulturländern der Erde gegeben, soweit die ökonomischen Dokumente zurückreichen. In China, Indien, Babylon, Aegypten, der mittelländischen Antike, dem Mittelalter so gut wie in der Neuzeit. Nicht nur ganz isolierte Einzelunternehmungen, sondern auch Wirtschaften, welche gänzlich auf immer neue kapi-

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talistische Einzelunternehmungen eingestellt waren und auch kontinuierliche „Betriebe“, – obwohl gerade der Handel lange Zeit nicht den Charakter unsrer Dauerbetriebe, sondern wesentlich den einer Serie von Einzelunternehmungen an sich trug und erst allmählich innerer („branchenmäßig“ orientierter) Zusammenhang in das Verhalten gerade der Großhändler hineinkam. Jedenfalls: die kapitalistische Unternehmung und auch der kapitalistische Unternehmer, nicht nur als Gelegenheits-, sondern auch als Dauerunternehmer, sind uralt und waren höchst universell verbreitet. Nun hat aber der Okzident ein Maß von Bedeutung und, was dafür den Grund abgibt: Arten, Formen und Richtungen von Kapitalismus hervorgebracht, die anderwärts niemals bestanden haben. Es hat in aller Welt Händler: Großund Detailhändler, Platz- und Fernhändler, es hat Darlehensgeschäfte aller Art, es hat Banken mit höchst verschiedenen, aber doch denjenigen wenigstens etwa unsres 16. Jahrhunderts im Wesen ähnlichen Funktionen gegeben; Seedarlehen, Kommenden und kommanditeartige Geschäfte und Assoziationen, sind auch betriebsmäßig, weit verbreitet gewesen. Wo immer Geldfinanzen der öffentlichen Körperschaften bestanden, da erschien der Geldgeber: in Babylon, Hellas, Indien, China, Rom: für die Finanzierung vor allem der Kriege und des Seeraubes, für Lieferungen und Bauten aller Art, bei überseeischer Politik als Kolonialunternehmer, als Plantagenerwerber und -betreiber mit Sklaven oder direkt oder indirekt gepreßten Arbeitern, für Domänen-, Amts-und vor allem: für Steuerpacht, für die Finanzierung von Parteichefs zum Zwecke von Wahlen und von Kondottieren zum Zweck von Bürgerkriegen und schließlich: als „Spekulant“ in geldwerten Chancen aller Art. Diese Art von Unternehmerfiguren: die kapitalistischen Abenteurer, hat es in aller Welt gegeben. Ihre Chancen waren – mit Ausnahme des Handels und der Kredit- und Bankgeschäfte – dem Schwerpunkt nach entweder rein irrational-spekulativen Charakters oder aber sie waren an dem Erwerb durch Gewaltsamkeit, vor allem dem Beuteerwerb: aktuell-kriegerischer oder chronisch-fiskalischer Beute (Untertanen-Ausplünderung), orientiert. Der Gründer-, Großspekulanten-, Kolonial- und der moderne Finanzierungskapitalismus schon im Frieden, vor allem aber aller spezifisch kriegsorientierte Kapitalismus tragen auch in der okzidentalen Gegenwart noch oft dies Gepräge und einzelne – nur: einzelne – Teile des internationalen Großhandels stehen ihm, heute wie von jeher, nahe. Aber der Okzident kennt in der Neuzeit daneben eine ganz andere und nirgends sonst auf der Erde entwickelte Art des Kapitalismus: die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit. Nur Vorstufen dafür finden sich anderwärts. Selbst die Organisation unfreier Arbeit hat ja nur in den Plantagen und, in sehr begrenztem Maß, in den Ergasterien der Antike eine gewisse Rationalitätsstufe erreicht, eine eher noch geringere in den Fronhöfen

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und Gutsfabriken oder grundherrlichen Hausindustrien mit Leibeigenen- oder Hörigenarbeit in der beginnenden Neuzeit. Für freie Arbeit finden sich selbst eigentliche „Hausindustrien“ außerhalb des Okzidents nur vereinzelt sicher bezeugt und die natürlich überall sich findende Taglöhnerverwendung hat mit sehr wenigen und sehr besonders, jedenfalls aber: sehr abweichend von modernen Betriebsorganisationen gearteten Ausnahmen (besonders: Staatsmonopolbetrieben) nicht zu Manufakturen und nicht einmal zu einer rationalen Lehrorganisation des Handwerks vom Gepräge des okzidentalen Mittelalters geführt. Die an den Chancen des Gütermarktes, nicht an gewaltpolitischen oder an irrationalen Spekulationschancen, orientierte, rationale Betriebsorganisation ist aber nicht die einzige Sondererscheinung des okzidentalen Kapitalismus. Die moderne rationale Organisation des kapitalistischen Betriebs wäre nicht möglich gewesen ohne zwei weitere wichtige Entwicklungselemente: die Trennung von Haushalt und Betrieb, welche das heutige Wirtschaftsleben schlechthin beherrscht und, damit eng zusammenhängend, die rationale Buchführung. Oertliche Trennung der Werk- oder Verkaufsstätten von der Behausung findet sich auch sonst (im orientalischen Bazar und in den Ergasterien anderer Kulturgebiete). Und auch die Schaffung von kapitalistischen Assoziationen mit gesonderter Betriebsrechnung findet sich in Ostasien wie im Orient und in der Antike. Aber: gegenüber der modernen Verselbständigung der Erwerbsbetriebe sind das doch nur Ansätze. Vor allem aus dem Grunde, weil die inneren Mittel dieser Selbständigkeit: sowohl unsre rationale Betriebsbuchführung wie unsre rechtliche Sonderung von Betriebsvermögen und persönlichem Vermögen ganz fehlen oder nur in Anfängen entwickelt sind2. Die Entwicklung hat überall sonst dazu geneigt, Erwerbsbetriebe als Teile eines fürstlichen oder grundherrlichen Großhaushalts (des „Oikos“) entstehen zu lassen: eine, wie schon Rodbertus erkannt hatte, bei mancher scheinbaren Verwandtschaft doch höchst abweichende, geradezu entgegengesetzte, Entwicklung. Ihre heutige Bedeutung aber haben alle diese Besonderheiten des abendländischen Kapitalismus letztlich erst durch den Zusammenhang mit der kapitalistischen Arbeitsorganisation erhalten. Auch das, was man die „Kommerzialisierung“ zu nennen pflegt: die Wertpapierentwicklung und die Rationalisierung der Spekulation: die Börse, steht damit im Zusammenhang. Denn ohne kapitalistisch-rationale Arbeitsorganisation wäre dies alles, auch die Entwicklung zur „Kommerzialisierung“, soweit überhaupt möglich, nicht entfernt von der gleichen Tragweite. Vor allem für die soziale Struktur und alle mit ihr zusammenhängenden spezifisch modern-okzidentalen Probleme. Eine exakte Kalkulation: – die Grundlage alles andern, – ist eben nur auf dem Boden freier Arbeit möglich. Und wie – und weil – keine rationale Arbeitsorganisation, so – und deshalb – hat die Welt außerhalb des modernen Okzidents auch keinen rationalen Sozia-

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lismus gekannt. Gewiß: ebenso wie Stadtwirtschaft, städtische Nahrungspolitik, Merkantilismus und Wohlfahrtspolitik der Fürsten, Rationierungen, regulierte Wirtschaft, Protektionismus und Laissez-faire-Theorien (in China), so hat die Welt auch kommunistische und sozialistische Wirtschaften sehr verschiedener Gepräge gekannt: familiär, religiös oder militaristisch bedingten Kommunismus, staatssozialistische (in Aegypten), monopolkartellistische und auch Konsumentenorganisationen verschiedenster Art. Aber ebenso wie – trotzdem es doch überall einmal städtische Marktprivilegien, Zünfte, Gilden und allerhand rechtliche Scheidungen zwischen Stadt und Land in der verschiedensten Form gab, – doch der Begriff des „Bürgers“ überall außer im Okzident und der Begriff der „Bourgeoisie“ überall außer im modernen Okzident fehlte, so fehlte auch das „Proletariat“ als Klasse und mußte fehlen, weil eben die rationale Organisation freier Arbeit als Betrieb fehlte. „Klassenkämpfe“ zwischen Gläubiger- und Schuldnerschichten, Grundbesitzern und Besitzlosen oder Fronknechten oder Pächtern, Handelsinteressenten und Konsumenten oder Grundbesitzern, hat es in verschiedener Konstellation überall längst gegeben. Aber schon die okzidental-mittelalterlichen Kämpfe zwischen Verlegern und Verlegten finden sich anderwärts nur in Ansätzen. Vollends fehlt der moderne Gegensatz: großindustrieller Unternehmer und freier Lohnarbeiter. Und daher konnte es auch eine Problematik von der Art, wie sie der moderne Sozialismus kennt, nicht geben. In einer Universalgeschichte der Kultur ist also für uns, rein wirtschaftlich, das zentrale Problem letztlich nicht die überall nur in der Form wechselnde Entfaltung kapitalistischer Betätigung als solcher: des Abenteurertypus oder des händlerischen oder des an Krieg, Politik, Verwaltung und ihren Gewinnchancen orientierten Kapitalismus. Sondern vielmehr die Entstehung des bürgerlichen Betriebskapitalismus mit seiner rationalen Organisation der freien Arbeit. Oder, kulturgeschichtlich gewendet: die Entstehung des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart, die freilich mit der Entstehung kapitalistischer Arbeitsorganisation zwar im nahen Zusammenhang steht, aber natürlich doch nicht einfach identisch ist. Denn „Bürger“ im ständischen Sinn gab es schon vor der Entwicklung des spezifisch abendländischen Kapitalismus. Aber freilich: nur im Abendlande. Der spezifisch moderne okzidentale Kapitalismus nun ist zunächst offenkundig in starkem Maße durch Entwicklungen von technischen Möglichkeiten mitbestimmt. Seine Rationalität ist heute wesenhaft bedingt durch Berechenbarkeit der technisch entscheidenden Faktoren: der Unterlagen exakter Kalkulation. Das heißt aber in Wahrheit: durch die Eigenart der abendländischen Wissenschaft, insbesondere der mathematisch und experimentell exakt und rational fundamentierten Naturwissenschaften. Die Entwicklung dieser Wissenschaften und der auf ihnen beruhenden Technik erhielt und erhält nun anderer-

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seits ihrerseits entscheidende Impulse von den kapitalistischen Chancen, die sich an ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit als Prämien knüpfen. Zwar nicht die Entstehung der abendländischen Wissenschaft ist durch solche Chancen bestimmt worden. Gerechnet, mit Stellenzahlen gerechnet, Algebra getrieben haben auch die Inder, die Erfinder des Positionszahlensystems, welches erst in den Dienst des sich entwickelnden Kapitalismus im Abendland trat, in Indien aber keine moderne Kalkulation und Bilanzierung schuf. Auch die Entstehung der Mathematik und Mechanik war nicht durch kapitalistische Interessen bedingt. Wohl aber wurde die technische Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse: dies für die Lebensordnung unsrer Massen Entscheidende, durch ökonomische Prämien bedingt, welche im Okzident gerade darauf gesetzt waren. Diese Prämien aber flossen aus der Eigenart der Sozialordnung des Okzidents. Es wird also gefragt werden müssen: aus welchen Bestandteilen dieser Eigenart, da zweifellos nicht alle gleich wichtig gewesen sein werden. Zu den unzweifelhaft wichtigen gehört die rationale Struktur des Rechts und der Verwaltung. Denn der moderne rationale Betriebskapitalismus bedarf, wie der berechenbaren technischen Arbeitsmittel, so auch des berechenbaren Rechts und der Verwaltung nach formalen Regeln, ohne welche zwar Abenteurer-und spekulativer Händlerkapitalismus und alle möglichen Arten von politisch bedingtem Kapitalismus, aber kein rationaler privatwirtschaftlicher Betrieb mit stehendem Kapital und sicherer Kalkulation möglich ist. Ein solches Recht und eine solche Verwaltung nun stellte der Wirtschaftsführung in dieser rechtstechnischen und formalistischen Vollendung nur der Okzident zur Verfügung. Woher hat er jenes Recht? wird man also fragen müssen. Es haben, neben anderen Umständen, auch kapitalistische Interessen ihrerseits unzweifelhaft der Herrschaft des an rationalem Recht fachgeschultem Juristenstandes in Rechtspflege und Verwaltung die Wege geebnet, wie jede Untersuchung zeigt. Aber keineswegs nur oder vornehmlich sie. Und nicht sie haben jenes Recht aus sich geschaffen. Sondern noch ganz andre Mächte waren bei dieser Entwicklung tätig. Und warum taten die kapitalistischen Interessen das gleiche nicht in China oder Indien? Warum lenkten dort überhaupt weder die wissenschaftliche noch die künstlerische noch die staatliche noch die wirtschaftliche Entwicklung in diejenigen Bahnen der Rationalisierung ein, welche dem Okzident eigen sind? Denn es handelt sich ja in all den angeführten Fällen von Eigenart offenbar um einen spezifisch gearteten „Rationalismus“ der okzidentalen Kultur. Nun kann unter diesem Wort höchst Verschiedenes verstanden werden, – wie die späteren Darlegungen wiederholt verdeutlichen werden. Es gibt z.B. „Rationalisierungen“ der mystischen Kontemplation, also: von einem Verhalten, welches, von anderen Lebensgebieten her gesehen, spezifisch „irrational“ ist, ganz ebenso

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gut wie Rationalisierungen der Wirtschaft, der Technik, des wissenschaftlichen Arbeitens, der Erziehung, des Krieges, der Rechtspflege und Verwaltung. Man kann ferner jedes dieser Gebiete unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und Zielrichtungen „rationalisieren“, und was von einem aus „rational“ ist, kann, vom andern aus betrachtet, „irrational“ sein. Rationalisierungen hat es daher auf den verschiedenen Lebensgebieten in höchst verschiedener Art in allen Kulturkreisen gegeben. Charakteristisch für deren kulturgeschichtlichen Unterschied ist erst: welche Sphären und in welcher Richtung sie rationalisiert wurden. Es kommt also zunächst wieder darauf an: die besondere Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus zu erkennen und in ihrer Entstehung zu erklären. Jeder solche Erklärungsversuch muß, der fundamentalen Bedeutung der Wirtschaft entsprechend, vor allem die ökonomischen Bedingungen berücksichtigen. Aber es darf auch der umgekehrte Kausalzusammenhang darüber nicht unbeachtet bleiben. Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig. Wo diese durch Hemmungen seelischer Art obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung auf schwere innere Widerstände. Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun gehörten in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen. Von diesen ist in den nachstehend gesammelten und ergänzten Aufsätzen die Rede. Es sind dabei zwei ältere Aufsätze an die Spitze gestellt, welche versuchen, in einem wichtigen Einzelpunkt der meist am schwierigsten zu fassenden Seite des Problems näher zu kommen: der Bedingtheit der Entstehung einer „Wirtschaftsgesinnung“: des „Ethos“, einer Wirtschaftsform, durch bestimmte religiöse Glaubensinhalte, und zwar an dem Beispiel der Zusammenhänge des modernen Wirtschaftsethos mit der rationalen Ethik des asketischen Protestantismus. Hier wird also nur der einen Seite der Kausalbeziehung nachgegangen. Die späteren Aufsätze über die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ versuchen, in einem Ueberblick über die Beziehungen der wichtigsten Kulturreligionen zur Wirtschaft und sozialen Schichtung ihrer Umwelt, beiden Kausalbeziehungen soweit nachzugehen, als notwendig ist, um die Vergleichspunkte mit der weiterhin zu analysierenden okzidentalen Entwicklung zu finden. Denn nur so läßt sich ja die einigermaßen eindeutige kausale Zurechnung derjenigen Elemente der okzidentalen religiösen Wirtschaftsethik, welche ihr im Gegensatz zu andern eigentümlich sind, überhaupt in Angriff nehmen. Diese Aufsätze wollen also nicht etwa als – sei es auch noch so gedrängte – umfassende Kulturanalysen gelten. Sondern

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sie betonen in jedem Kulturgebiet ganz geflissentlich das, was im Gegensatz stand und steht zur okzidentalen Kulturentwicklung. Sie sind also durchaus orientiert an dem, was unter diesem Gesichtspunkt bei Gelegenheit der Darstellung der okzidentalen Entwicklung wichtig erscheint. Ein anderes Verfahren schien bei dem gegebenen Zweck nicht wohl möglich. Aber es muß zur Vermeidung von Mißverständnissen hier auf diese Begrenztheit des Zweckes ausdrücklich hingewiesen werden. Und noch in einer anderen Hinsicht muß wenigstens der Unorientierte vor einer Ueberschätzung der Bedeutung dieser Darstellungen gewarnt werden. Der Sinologe, Indologe, Semitist, Aegyptologe wird in ihnen natürlich nichts ihm sachlich Neues finden. Wünschenswert wäre nur: daß er nichts zur Sache Wesentliches findet, was er als sachlich falsch beurteilen muß. Wie weit es gelungen ist, diesem Ideal wenigstens so nahezukommen, wie ein Nichtfachmann dazu überhaupt imstande ist, kann der Verfasser nicht wissen. Es ist ja ganz klar, daß jemand, der auf die Benützung von Uebersetzungen und im übrigen darauf angewiesen ist, über die Art der Benutzung und Bewertung der monumentalen, dokumentarischen oder literarischen Quellen sich in der häufig sehr kontroversen Fachliteratur zu orientieren, die er seinerseits in ihrem Wert nicht selbständig beurteilen kann, allen Grund hat, über den Wert seiner Leistung sehr bescheiden zu denken. Um so mehr, als das Maß der vorliegenden Uebersetzungen wirklicher „Quellen“ (d.h. von Inschriften und Urkunden) teilweise (besonders für China) noch sehr klein ist im Verhältnis zu dem, was vorhanden und wichtig ist. Aus alledem folgt der vollkommen provisorische Charakter dieser Aufsätze, insbesondere der auf Asien sich beziehenden Teile3. Nur den Fachmännern steht ein endgültiges Urteil zu. Und nur weil, begreiflicherweise, fachmännische Darstellungen mit diesem besonderen Ziel und unter diesen besonderen Gesichtspunkten bisher nicht vorlagen, sind sie überhaupt geschrieben worden. Sie sind in einem ungleich stärkerem Maß und Sinn dazu bestimmt, bald „überholt“ zu werden, als dies letztlich von aller wissenschaftlicher Arbeit gilt. Es läßt sich nun einmal, bei derartigen Arbeiten, ein solches vergleichendes Uebergreifen auf andere Fachgebiete, so bedenklich es ist, nicht vermeiden; aber man hat dann eben die Konsequenz einer sehr starken Resignation in bezug auf das Maß des Gelingens zu ziehen. Mode oder Literatensehnsucht glaubt heute gern den Fachmann entbehren oder zum Subalternarbeiter für den „Schauenden“ degradieren zu können. Fast alle Wissenschaften verdanken Dilettanten irgend etwas, oft sehr wertvolle Gesichtspunkte. Aber der Dilettantismus als Prinzip der Wissenschaft wäre das Ende. Wer „Schau“ wünscht, gehe ins Lichtspiel: – es wird ihm heut massenhaft auch in literarischer Form auf eben diesem Problemfeld geboten4. Nichts liegt den überaus nüchternen Darlegungen dieser der Absicht nach streng empirischen Studien ferner als diese Gesinnung. Und – möch-

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te ich hinzusetzen – wer „Predigt“ wünscht, gehe ins Konventikel. Welches Wertverhältnis zwischen den hier vergleichend behandelten Kulturen besteht, wird hier mit keinem Wort erörtert. Daß der Gang von Menschheitsschicksalen dem, der einen Ausschnitt daraus überblickt, erschütternd an die Brust brandet, ist wahr. Aber er wird gut tun, seine kleinen persönlichen Kommentare für sich zu behalten, wie man es vor dem Anblick des Meeres und des Hochgebirges auch tut, – es sei denn, daß er sich zu künstlerischer Formung oder zu prophetischer Forderung berufen und begabt weiß. In den meisten andern Fällen verhüllt das viele Reden von „Intuition“ nichts anders als eine Distanzlosigkeit zum Objekt, die ebenso zu beurteilen ist wie die gleiche Haltung zum Menschen. Der Begründung bedarf es, daß für die hier verfolgten Ziele die ethnographische Forschung entfernt nicht so herangezogen ist, wie es bei deren heutigem Stand für eine wirklich eindringende Darstellung insbesondere der asiatischen Religiosität natürlich unumgänglich wäre. Es geschah dies nicht nur deshalb, weil menschliche Arbeitskraft ihre Grenzen hat. Sondern vornehmlich schien es deshalb erlaubt, weil es hier gerade auf die Zusammenhänge der religiös bestimmten Ethik jener Schichten ankommen mußte, welche „Kulturträger“ des betreffenden Gebiets waren. Um die Einflüsse, welche deren Lebensführung geübt hat, handelt es sich ja. Es ist nun völlig richtig, daß auch diese in ihrer Eigenart nur wirklich zutreffend zu erfassen sind, wenn man den ethnographisch-volkskundlichen Tatbestand damit konfrontiert. Es sei also nachdrücklich zugestanden und betont: daß hier eine Lücke besteht, welche der Ethnograph mit gutem Recht beanstanden muß. Einiges zu ihrer Ausfüllung hoffe ich bei einer systematischen Bearbeitung der Religionssoziologie tun zu können. Den Rahmen dieser Darstellung mit ihren begrenzten Zwecken hätte ein solches Unternehmen aber überschritten. Sie mußte sich mit dem Versuch begnügen, die Vergleichspunkte zu unseren okzidentalen Kulturreligionen tunlichst aufzudecken. Schließlich sei auch der anthropologischen Seite der Probleme gedacht. Wenn wir immer wieder – auch auf (scheinbar) unabhängig voneinander sich entwickelnden Gebieten der Lebensführung – im Okzident, und nur dort, bestimmte Arten von Rationalisierungen sich entwickeln finden, so liegt die Annahme: daß hier Erbqualitäten die entscheidende Unterlage boten, natürlich nahe. Der Verfasser bekennt: daß er persönlich und subjektiv die Bedeutung des biologischen Erbgutes hoch einzuschätzen geneigt ist. Nur sehe ich, trotz der bedeutenden Leistungen der anthropologischen Arbeit, z.Z. noch keinerlei Weg, seinen Anteil an der hier untersuchten Entwicklung nach Maß und – vor allem – nach Art und Einsatzpunkten irgendwie exakt zu erfassen oder auch nur vermutungsweise anzudeuten. Es wird gerade eine der Aufgaben soziologischer und historischer Arbeit sein müssen, zunächst möglichst alle jene Einflüsse und Kausalketten

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aufzudecken, welche durch Reaktionen auf Schicksale und Umwelt befriedigend erklärbar sind. Dann erst, und wenn außerdem die vergleichende Rassen-Neurologie und -Psychologie über ihre heute vorliegenden, im einzelnen vielversprechenden, Anfänge weiter hinausgekommen sind, wird man vielleicht befriedigende Resultate auch für jenes Problem erhoffen dürfen5. Vorerst scheint mir jene Voraussetzung zu fehlen und wäre die Verweisung auf „Erbgut“ ein voreiliger Verzicht auf das heute vielleicht mögliche Maß der Erkenntnis und eine Verschiebung des Problems auf (derzeit noch) unbekannte Faktoren. Anmerkungen

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1 Hier wie in einigen anderen Punkten scheide ich mich auch von unserem verehrten Meister Lujo Brentano (in dessen später zu zitierenden Werk). Und zwar zunächst terminologisch. Weiterhin aber auch sachlich. Es scheint mir nicht zweckmäßig, so heterogene Dinge, wie den Beuteerwerb und den Erwerb durch Leitung einer Fabrik unter dieselbe Kategorie zu bringen, noch weniger: als „Geist“ des Kapitalismus – im Gegensatz zu anderen Erwerbsformen – jedes Streben nach Erwerb von Geld zu bezeichnen, weil mit dem zweiten m.E. alle Präzision der Begriffe, mit dem ersten vor allem die Möglichkeit: das Spezifische des okzidentalen Kapitalismus gegenüber anderen Formen herauszuarbeiten, verloren wird. Auch in G. Simmels „Philosophie des Geldes“ ist „Geldwirtschaft ,und‘ Kapitalismus“ viel zu sehr gleichgesetzt, zum Schaden auch der sachlichen Darlegungen. In W. Sombarts Schriften, vor allem auch der neuesten Auflage seines schönen Hauptwerks über den Kapitalismus, tritt – wenigstens von meinem Problem aus gesehen – das Spezifische des Okzidentes: die rationale Arbeitsorganisation, sehr stark zugunsten von Entwicklungsfaktoren zurück, welche überall in der Welt wirksam waren. 2 Natürlich darf der Gegensatz nicht absolut gefaßt werden. Aus dem politisch orientierten (vor allem: dem Steuerpacht-)Kapitalismus sind schon in der mittelländischen und orientalischen Antike, aber wohl auch in China und Indien, rationale Dauerbetriebe erwachsen, deren Buchführung – uns nur in kümmerlichen Bruchstücken bekannt – „rationalen“ Charakter gehabt haben dürfte. Auf das engste berührt sich ferner der politisch orientierte „Abenteuer“-Kapitalismus mit dem rationalen Betriebskapitalismus in der Entstehungsgeschichte der zumeist aus politischen, kriegerisch motivierten, Geschäften entstandenen modernen Banken, auch noch der Bank von England. Der Gegensatz der Individualität Patersons z.B. – eines typischen „promoter“ – zu jenen Mitgliedern des Direktoriums, welche den Ausschlag für dessen dauernde Haltung gaben und sehr

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bald als „The Puritan usurers of Grocers’ Hall“ charakterisiert wurden, ist dafür bezeichnend, ebenso die Entgleisung der Bankpolitik dieser „solidesten“ Bank noch gelegentlich der South Sea-Gründung. Also: der Gegensatz ist, natürlich, ganz flüssig. Aber er ist da. Rationale Arbeitsorganisationen haben die großen promoters und financiers ebensowenig geschaffen wie – wiederum: im allgemeinen und mit Einzelausnahmen – die typischen Träger des Finanz- und politischen Kapitalismus: die Juden Sondern das taten (als Typus!) ganz andere Leute. 3 Auch die Reste meiner hebräischen Kenntnisse sind ganz unzulänglich.

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4 Ich brauche nicht zu sagen, daß darunter nicht etwa Versuche wie die von K. Jaspers (in seinem Buch über „Psychologie der Weltanschauungen“, 1919) oder andererseits Klages (in der „Charakterologie“) und ähnliche Studien fallen, die sich von dem hier Versuchten durch die Art des Ausgangspunktes unterscheiden. Zu einer Auseinandersetzung wäre hier nicht der Raum. 5 Die gleiche Ansicht sprach mir vor Jahren ein sehr hervorragender Psychiater aus.

8 Bibliographie 8.1 Quellen 8.1.1 Primärquellen Knapp, Georg Friedrich (1923): Staatliche Theorie des Geldes. 4., durchgesehene Aufl. München/Leipzig: Duncker und Humblot. Marx, Karl (2012/13): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. 3 Bde. Hrsg. von der RosaLuxemburg-Stiftung. Unveränderte Nachdrucke von Aufl. aus den Jahren 1962 und 1963. Berlin: Dietz (folgt der von Friedrich Engels veranstalteten Ausgabe [Hamburg 41890, 2 1893, 11894]). Radbruch, Gustav (1999): Rechtsphilosophie. Studienausgabe. Hrsg. von Ralf Dreier und Stanley L. Paulson. Heidelberg: Müller. Simmel, Georg (1989): Philosophie des Geldes. Hrsg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= Gesamtausgabe. Hrsg. von Otthein Rammstedt, Bd. 6). Sohn-Rethel, Alfred (1978): Warenform und Denkform. Mit zwei Anhängen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Weber, Max (1947a): Vorbemerkung, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. 4., photomechanisch gedruckte Aufl. Tübingen: Mohr (Siebeck), S. 1–16.

8.1.2 Sekundärquellen Goethe, Johann Wolfgang (2007): Sämtliche Gedichte. Mit einem Nachwort von Karl Eibl. Frankfurt a.M./Leipzig: Insel. Marx, Karl (1961/1971): Zur Kritik der politischen Ökonomie. 7. Aufl. 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. von 1961. Ostberlin: Dietz (= Marx-Engels-Werke [MEW], Bd. 13). Novalis (1983): Das philosophische Werk II. Hrsg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. 3., von den Hrsg. durchgesehene und revidierte Aufl. Stuttgart/Berlin: Kohlhammer (= Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. 2., nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Aufl.). Radbruch, Gustav (1914): Grundzüge der Rechtsphilosophie. Leipzig: Quelle & Meyer. Weber, Max (1947b): Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, S. 536–573. Weber, Max (1985a): Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. 6., erneut durchgesehene Aufl. Tübingen: Mohr, S. 1–145. Weber, Max (1985b): Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 146–214.

https://doi.org/10.1515/9783110727357-008

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8.2 Wörterbücher Georges = Kleines lateinisch-deutsches Handwörterbuch von Karl Ernst Georges. 9., verbesserte und vermehrte Aufl. von Heinrich Georges. Hannover/Leipzig: Hahn 1909. Grimm = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig: Hirzel 1854–1961. Quellenverzeichnis Leipzig 1971.

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Register Adorno, Theodor W. 5, 9, 13, 32, 52ff., 115ff., 123ff., 130, 173, 190f., 254f.,294, 296, 298f., 302 Antilogik, antilogisch 7, 30, 172, 250, 270 Antinomie, antinomisch 1, 7f., 27f., 30, 44, 174, 187, 240, 270, 274, 277, 298 aporetisch, Aporie 1, 3, 6, 9ff., 18, 29, 38, 40, 42, 54, 65f., 92, 104, 115, 145, 156f., 179, 200, 217, 222, 224f., 227, 239, 273, 277, 279 Backhaus, Hans-Georg 8ff., 30f., 43f., 53f., 187f., 294 Bär, Jochen A. 4, 7, 28, 33, 37f., 43, 299, 301 Begriff, begrifflich 2, 4, 7ff., 12, 15f., 18, 24f., 29ff., 34ff., 40ff., 53ff., 60, 63, 69, 72, 76, 79, 82, 86, 90, 92, 95, 101, 103, 109, 114−126, 130f., 135ff., 140−146, 150, 152, 154f., 157, 159, 164, 166f., 170ff., 174− 181, 183, 185, 187, 190ff., 197−203, 206− 212, 214−220, 225, 227ff., 236, 238f., 241ff., 247, 249f., 264, 271f., 274f., 278, 280, 283, 286, 291, 294f., 298ff. – Terminus 4, 35, 40, 48, 98, 119f., 122, 128, 131, 136f., 142, 149, 152, 155, 171, 175, 181, 183, 188ff., 192, 194f., 197f., 207f., 215f., 218f., 226ff., 251, 272, 279 – Begriffsbildung, Terminologisierung, Verbegrifflichung 11, 29, 40, 53, 116ff., 120ff., 130, 137, 155, 181, 192f., 195f., 203, 207, 226, 274, 294 – Begriffssystem, Terminologie, terminologisch 44f., 54, 92, 121f., 125, 147, 175, 190, 192ff., 197, 205ff., 210, 213, 225f., 235, 243, 266, 271f., 274, 278f., 291, 299 – Modellierung von Begriffen 124, 126, 140, 144, 154, 194f., 201, 217, 226 definieren, Definition, definitorisch 11, 13, 25, 33f., 44, 61, 86, 115ff., 128, 130, 137f., 140, 145, 149f., 155, 157, 159, 171f., 177, 181, 183, 187f., 196f., 200, 202ff., 206ff., 210, 212−224, 227f., 230, 234, 236ff., 244, 272ff., 279, 282

https://doi.org/10.1515/9783110727357-009

– Begriffsbestimmung 129, 147, 149f., 172, 203, 207, 217, 221, 228, 273, 282 de Saussure, Ferdinand 68, 72, 82, 184, 192, 300 Derrida, Jacques 54f., 90f., 93f., 98, 101, 106ff., 110f., 114, 295 Diskurs 11, 30f., 33, 35, 40, 62, 110f., 137, 147, 254, 279, 300f., 303 – diskursiv, Diskursivität 7, 32, 35, 42, 47, 52, 56, 74, 76, 79, 81, 89, 92, 105, 109ff., 113, 121, 124, 126, 131, 141f., 146, 149f., 157, 161, 172, 175, 181, 206, 240, 243, 249, 250, 256, 267, 271, 275, 278f., 300 – Diskurslinguistik, diskurslinguistisch 2, 30f., 277, 300 – diskurssemantisch 279 evident, Evidenz 14, 57ff., 66, 71, 89, 94, 130, 150, 155, 158, 192, 224ff., 229, 231f., 238, 273f. exemplifizieren, Exemplifizierung 25, 82, 98, 148, 207, 213 Felder, Ekkehard 4, 30, 32f., 35, 37f., 47, 78f., 81, 83, 250f., 299ff. Figur 19, 40, 50, 61, 89, 91f., 94, 106, 114, 125, 140, 145, 156, 186, 259, 262, 269, 279, 284 – Denkfigur 11f., 17, 38, 47, 74, 83, 101, 113, 133, 177, 202, 229f., 233, 255, 267, 275 – Figuration 3, 31ff., 48, 84, 86, 95, 102, 115, 152, 155, 161, 172, 256, 263, 266, 270, 276 – figurativ, figürlich 57, 89, 92, 95, 278 – Konfiguration, konfigurativ, Konfigurierung 1, 10f., 57, 73, 82, 104, 115, 119, 123, 129, 145, 159, 171, 175−180, 182, 190, 193f., 201, 208, 221, 243, 248, 266, 272, 278 – Transfiguration, transfigurieren 65, 92, 95, 130 Gardt, Andreas 14, 29f., 32, 35ff., 83, 279, 299, 301 Hamacher, Werner 55, 91ff., 96ff., 100f., 106ff., 114, 295 Hermeneutik, hermeneutisch 2, 31, 33, 36, 38, 120, 241, 244, 277, 299ff.

Register  305

idealtypisch, Idealtypus 118f., 122f., 125f., 193f., 278 indiskursiv, Indiskursivität 95, 109, 114 Interpretation, interpretativ, interpretatorisch, interpretieren 2f., 11, 13, 19f., 28ff., 34, 36, 38, 41f., 47f., 50f., 54f., 63, 80, 82, 84, 94, 98, 114, 117, 127, 133, 139f., 145f., 151, 166, 178, 183, 199, 208, 216, 230, 234, 237, 240f., 244, 248ff., 255ff., 259ff., 265ff., 276, 278, 299ff., 303 – Auslegung 11, 28, 31, 35ff., 60, 64, 74, 78, 102, 105, 192, 226, 241ff., 248f., 251ff., 255ff., 262ff., 267ff., 275, 277f., 297f. – Deutung 2, 4, 19, 21, 28, 31, 37f., 40, 43, 49, 51, 56, 63, 97, 102, 118, 121, 136f., 142, 148, 152, 158, 160, 163, 186, 195, 207f., 212, 221, 223, 226, 230, 237, 242, 244, 250, 253, 256f., 259f., 263f., 266, 268, 272, 275, 277, 281, 299 – Exegese, exegetisch 12, 28, 32, 37, 40, 42, 49, 101, 109, 113, 120, 136, 178, 183, 208, 239f., 242, 248ff., 256, 258ff., 263, 267, 275, 278f. – Textbehandlung-, -betrachtung, -erklärung, -erschließung, -untersuchung 29f., 38, 176, 249, 257, 260f., 263, 267ff. Knapp, Georg Friedrich 1, 3, 41, 43ff., 183− 240, 270, 273f., 293f., 297 Konstellation, konstellativ 26, 33, 61f., 79f., 84, 93, 125, 134, 172, 175, 182, 240, 278, 286 Kontextualisierung 11, 31, 38, 49, 104, 138, 145, 171f., 174, 181, 253, 267, 272 Marx, Karl 1, 3ff., 9ff., 28, 40ff., 46−85, 87− 96, 98−115, 125, 128, 175, 185, 200f., 203, 206, 225f., 240, 270, 279, 293ff., 302 Metaökonomie, metaökonomisch 1, 7, 9, 11ff., 16, 20, 31, 34, 41−47, 54, 77, 273, 294 Mimesis, mimetisch 2, 53, 63, 111, 125, 147, 253, 299 Nominalismus, nominalistisch 9, 28, 44f., 67, 69, 118, 186, 198, 201, 209, 221, 224, 226f., 234

Philologie , philologisch 2, 28, 31f., 37, 39ff., 49f., 52f., 55, 79, 99, 104f., 120f., 158, 188, 208, 242, 249, 251ff., 258ff., 267, 277, 279, 299, 302 Radbruch, Gustav 1, 3, 41, 45ff., 239−270, 274f., 279, 293, 297f. Rationalität 2, 4, 6, 9, 12f., 15ff., 85, 114ff., 119, 134−147, 149−155, 157−165, 167− 173, 177ff., 249f., 259f., 264, 266, 268, 270ff., 280−288, 291f., 295 – Rationalisierung 17, 76, 87, 108, 116, 134, 136, 139ff., 145, 149, 154, 162f., 167, 170f., 177, 181f., 271, 281, 283, 285, 287f., 290, 296 – Rationalismus, rationalistisch 6, 136, 170f., 174, 178ff., 187, 232, 254, 272, 274, 287 Realismus, realistisch 9, 30, 40, 53, 67, 81, 256f., 301 – Begriffsrealismus 9, 81, 119, 198, 243, 299 Simmel, Georg 2, 8, 10ff., 20−27, 44f., 54, 74, 250, 257, 262, 268, 291, 293, 301 Sohn-Rethel, Alfred 2, 12−21, 43, 293 Stil, stilistisch 6, 32, 34f., 44f., 49, 51ff., 107, 110f., 135, 138, 142, 151, 160, 188f., 249, 271, 279, 281, 300ff. Transkription, transkriptiv 11, 31, 102, 105, 107, 121, 196, 252, 271, 275, 302 unterbestimmt, Unterbestimmtheit 1f., 29f., 37, 102, 277ff. Valorisation, Valorisierung 163, 174, 190, 208, 265, 267 Weber, Max 1, 3, 6, 40ff., 46ff., 115−133, 135−143, 145−151, 153ff., 159ff., 165− 179, 181f., 184, 190f., 193f., 208, 240, 250, 270ff., 279f., 293ff., 299 zwieschlächtig, Zwieschlächtigkeit 1−7, 10, 12, 15ff., 20, 22, 25, 28ff., 39ff., 45f., 48, 54f., 59, 63f., 66f., 70, 73, 75, 77, 80, 85, 88f, 101, 104, 113f., 126, 142, 158, 236, 238, 246, 248, 250f., 261, 263, 270− 276, 279